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German Pages [608] Year 2014
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Hartmut Krones (Hg.)
Geächtet, verboten, vertrieben Österreichische Musiker 1934 _ 1938 _ 1945
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Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg am Institut für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien
Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg Herausgegeben von Hartmut Krones
Band 1
Hartmut Krones (Hg.) Geächtet, verboten, vertrieben Österreichische Musiker 1934 _ 1938 _ 1945
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Geächtet, verboten, vertrieben Österreichische Musiker 1934 _ 1938 _ 1945
Herausgegeben von Hartmut Krones
BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR
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Gedruckt mit Unterstützung durch die MA 7 – Kulturamt der Stadt Wien – Wissenschafts- und Forschungsförderung sowie die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
Redaktion: Maria Helfgott und Hartmut Krones Satz und Layout: Brigitte Grünauer und Maria Helfgott Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar ISBN 978-3-205-77419-8 Umschlagabbildung: Konzentrationslager Natzweiler, Stacheldraht (Photo Erich Hartmann), unterlegt von einem Brief Ignaz Steiners, Wien, vom 14. November 1940 an seinen Sohn Karl Steiner, Shanghai
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2013 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Prime Rate kft., Budapest
Inhalt Vorwort des Herausgebers.............................................................................................. 9 HARTMUT KRONES (Wien) 12. Februar 1934 bis 27. April 1945. 4092 Tage Ächtung, Verbot, Vertreibung und Ermordung österreichischer Musik(er)......................................... 13 MANFRED PERMOSER (Wien) „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles“. Schönberg, Webern und die Arbeitermusikbewegung – ein ambivalentes Verhältnis............................. 29 HARTMUT KRONES (Wien) „[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...] freihändig zu veräussern“. Das Schicksal der Arbeitersänger im Austrofaschismus........................................... 39 ANITA MAYER-HIRZBERGER (Wien) …tausende Emigranten in allen benachbarten Ländern… Zur Auswanderung „linker“ Musiker in der Zeit des österreichischen Ständestaates ................................................................................................................. 117 MATTHIAS SCHMIDT (Basel) Freiheit und Legitimität Ernst Krenek und die Kulturpolitik des Ständestaates........................................... 129 MANFRED WAGNER (Wien) Die Nazis verstanden die Musik der Wiener Schule............................................... 143 LYNNE HELLER (Wien) Von der Staatsakademie zur Reichshochschule für Musik in Wien..................... 153 HARTMUT KRONES (Wien) AKM, STAGMA und die „Arisierung“ der Urheberrechte.................................. 173 HERBERT VOGG (Wien) Ein paar Bemerkungen (nicht nur) zum Singen in der NS-Zeit........................... 193 HUGO SCHANOVSKY (Linz) Linz zur Zeit des Nationalsozialismus...................................................................... 197
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Inhalt
THOMAS PHLEPS (Gießen) Zwölftöniges Theater – „Wiener Schüler“ und Anverwandte in NS-Deutschland............................................................................................................ 211 CLAUDIA MAURER ZENCK (Hamburg) Einige Überlegungen zur musikwissenschaftlichen Exilforschung...................... 251 HORST WEBER (Essen) Exilforschung und Musikgeschichtsschreibung....................................................... 259 LEON BOTSTEIN (New York) Die Wieder-Erfindung des eigenen Lebens und der Karriere: Die Gefahren der Emigration..................................................................................... 285 STEFAN JENA (Wien) Zwischen Resignation, Sehnsucht und Sarkasmus Die Utopie der Freiheit in verbotener Musik........................................................... 295 CLEMENS HÖSLINGER (Wien) Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie............................................. 315 HARTMUT KRONES (Wien) „Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen.“ Arnold Schönbergs „Bibliotheken“ 1934–1939 (bzw. 1941)................................ 335 ROBERT DACHS (Wien) Nicht „Lebwohl“ und nicht „Adieu“ ... Zur Vertreibung der „Leichten Muse“...................................................................... 357 MARION THORPE, geb. STEIN (London) Erinnerungen................................................................................................................. 373 JUTTA RAAB HANSEN (Issigau) „Become Englishmen!“............................................................................................... 387 ERIK LEVI (London) Egon Wellesz und Großbritannien in den Jahren 1906–1946.............................. 401 OTTO BIBA (Wien) Kurt Roger und Peter Stadlen.................................................................................... 413
Inhalt
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DAVID DREW (London) Eminenzen und Graue Eminenzen. Zur Rolle der Emigranten in Verlagswesen und Konzertleben................................................................................ 423 MANFRED PERMOSER (Wien) „Man stellt sich um ...“ Die österreichische Kleinkunst-Szene im amerikanischen Exil............................ 435 MANUELA SCHWARTZ (Magdeburg) Arnold Schönbergs pädagogischer Einfluß und seine Rezeption in den USA.................................................................................................................... 453 CHRISTOPHER HAILEY (Princeton) „[Ich] Liebe jetzt den Ozean“ Ernst Kanitz, Los Angeles und die „errungene“ Weite des Exils......................... 479 WERNER HANAK (Wien) „Adolf Hitler, die Sonne und meine Großmutter“ Notizen zum Komponisten Erich Zeisl (1905–1959)............................................ 489 MARCUS G. PATKA (Wien) Ernst Römer Die erstaunliche Karriere eines Schönberg-Verehrers im mexikanischen Exil....................................................................................................... 503 HARTMUT KRONES (Wien) Marcel Rubin und das österreichische Exil in México............................................ 521 ELENA OSTLEITNER (Wien) „Fremd bin ich eingezogen ...“ Anmerkungen zum Alltag österreichischer Musiker im lateinamerikanischen Exil............................................................................................ 551 EDELGARD SPAUDE (Freiburg) Überlebensstrategie versus Tarnung des Terrors Musik der Avantgarde in Konzentrationslagern...................................................... 563 PETER ANDRASCHKE (Gießen) Weisen von Leben und Tod. Das Vokalschaffen von Viktor Ullmann im KZ Theresienstadt.................................................................................................. 575 PODIUMSDISKUSSION.................................................................................................. 593
Vorwort des Herausgebers Der Band „Geächtet, verboten, vertrieben. Österreichische Musiker 1934 – 1938 – 1945“ faßt die Ergebnisse einer Reihe von Symposien zusammen, die das am Institut für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien beheimatete „Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg“ in den Jahren seit 1997 (teilweise noch unter seinem früheren Namen „Arnold-Schönberg-Institut“) in Wien (Jüdisches Museum, Universität für Musik und darstellende Kunst, beide Male in Zusammenarbeit mit der Internationalen Schönberg-Gesellschaft), Linz (Design Center, im Rahmen der vom „Förderverein Interkultur“ veranstalteten „Chorolympiade Linz 2000“), New York („Mannes College of Music“ an der „New School University“), México D. F. (Universidad Nacional Autónoma de México, Conservatorio Nacional de Música) und Jalapa (Universidad Veracruzana) durchgeführt hat. Vorrangiges Thema dieser Symposien war die 1938 bis 1945 stattfindende Ächtung, Vertreibung und Ermordung zahlreicher österreichischer Musikerinnen und Musiker bzw. Komponistinnen und Komponisten durch die nationalsozialistische Diktatur, die etliche in Deutschland Wirkende bereits 1933 traf – wie Arnold Schönberg oder Hanns Eisler1, die sofort den Weg in die Emigration fanden, bzw. wie Alexander Zemlinsky2 oder Hans Gál3, die zuerst in ihre Heimat zurückkehrten, ehe sie endgültig vertrieben wurden. Neben den Verbrechen der Nationalsozialisten wurde in den genannten Symposien aber auch immer wieder der Entzug sämtlicher Lebensgrundlagen in den Blick genommen, unter dem die in einem Naheverhältnis zur österreichischen Sozialdemokratie stehenden österreichischen Komponisten (wie etwa Anton Webern4 oder Paul Amadeus Pisk) sowie Interpretinnen und Interpreten (wie Olga Novakovic, Erwin Stein5, Georg Knepler oder Rita Kurzmann-Leuchter und Erwin Leuchter) 1
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Zur Vertreibung und Rückkehr Hanns Eislers siehe u. a. Peter Schweinhardt, Fluchtpunkt Wien. Hanns Eislers Wiener Arbeiten nach der Rückkehr aus dem Exil, Wiesbaden–Leipzig–Paris 2006, sowie Hartmut Krones (Hg.), Hanns Eisler – Ein Komponist ohne Heimat ? (= Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg, hrsg. von Hartmut Krones, Bd. 6), Wien–Köln–Weimar 2012. Zu Alexander Zemlinsky sowie zu seiner Situation im amerikanischen Exil siehe u. a. Horst Weber, alexander zemlinsky (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts 23), Wien 1977, sowie Hartmut Krones (Hg.), Alexander Zemlinsky. Ästhetik, Stil und Umfeld (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis, hrsg. von Hartmut Krones, Sonderband 1), Wien–Köln–Weimar 1995. Zum Schicksal von Hans Gál im britischen (schottischen) Exil siehe Eva Fox-Gál (Hg.), Musik hinter Stacheldraht. Tagebuchblätter aus dem Sommer 1940 von Hans Gál (= Exil Dokumente verboten verbrannt vergessen 3), Bern etc. 2003, sowie Wilhelm Waldstein, hans gál (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts 5), Wien 1965, S. 29. Zur Einbindung Anton Weberns in die sozialdemokratische Kulturpolitik sowie insbesondere zu seiner inneren Emigration seit dem Februar 1934 siehe Hartmut Krones (Hg.), Anton Webern. Persönlichkeit zwischen Kunst und Politik (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis, hrsg. von Hartmut Krones, Sonderband 2), Wien–Köln–Weimar 1999. Zur Emigration von Erwin Stein sowie zu seiner beruflichen Laufbahn in Großbritannien siehe Thomas Brezinka, Erwin Stein. Ein Musiker in Wien und London (= Schriften des Wissenschaftszentums Arnold Schönberg, hrsg. von Hartmut Krones, Band 2), Wien–Köln–Weimar 2005.
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schon ab 1934 zu leiden hatten (und die sie zum Teil sogar in die Emigration trieben), wobei die Verbotsgesetze des „Ständestaates“ und die (in rassistischen Diskriminierungen und Verfolgungen gipfelnden) Greueltaten des Nationalsozialismus keineswegs (womöglich wertend) verglichen werden sollen. Die Zeit von 1934 bis 1938 wurde nicht zuletzt auch deshalb thematisiert, weil jedwede Musik gleichsam „tot“ ist, wenn sie nicht gespielt wird (bzw. werden darf), und weil dies erst recht auch für die Schöpfer und Interpreten dieser Musik gilt, wenn sie keine Auftrittsmöglichkeiten besitzen. Und hier hat der „Ständestaat“ ganze Arbeit geleistet: In seiner Ära war ein durchaus repräsentativer Teil der Musik der Wiener Schule oder ihr nahestehender Komponisten „tot“, weil er – und dies aus rein politischen Gründen – seiner Lebensgrundlagen beraubt wurde. Daß die „links“ stehenden Musiker selbst am Leben blieben, haben sie nur ihrer Abstinenz von der Tagespolitik zu verdanken, wurden doch einige politisch aktive und somit in prononcierter Form als kämpferisch andersdenkend hervortretende Sozialdemokraten im Februar 1934 „standrechtlich“ gehängt. Nach den Beiträgen über den „Austrofaschismus“ werden zunächst die Mitte März 1938 eintretenden Zustände in Österreich mit der hier vor sich gehenden Vernaderung, Entlassung, Enteignung und Vertreibung vor allem jüdischer Mitbürger thematisiert, ehe sich der Blick nach Deutschland richtet und neben der Situation von dort wirkenden „Wiener Schülern“ die Lebensumstände der in den Konzentrationslagern internierten Musikerinnen und Musiker sowie die dortigen „musikalischen Bedingungen“ betrachtet. Schließlich leiten zwei grundsätzliche Überlegungen zur Exilforschung sowohl einen wissenschaftsgeschichtlichen und methodologischen Diskurs als auch einige allgemeine Betrachtungen zur Problematik des Lebens (und selbst des erfolgreichen Lebens) in einer neuen, fremden Umwelt und der damit notwendigen „Wieder-Erfindung“ der eigenen Persönlichkeit ein. In einem letzten großen Abschnitt richtet der Band den Blick auf die Schicksale einiger in die Emigration getriebener Komponisten, wobei sich die Betrachtungen vorwiegend auf die Exil-Länder Großbritannien6, USA7 und México konzentrieren.8 Dabei erscheinen die bisweilen sich ergebenden neuen Karrieren und Erfolge gegen 6
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Zur österreichischen und deutschen Exil-Szene in Großbritannien siehe vor allem Wolfgang Muchitsch, Österreicher im Exil. Großbritannien 1938–1945: Eine Dokumentation, Wien 1992, sowie Jutta Raab Hansen, NS-verfolgte Musiker in Großbritannien: Spuren deutscher und österreichischer Musiker in der britischen Musikkultur, Hamburg 1996. Zum Exil deutschsprachiger Musiker in den USA siehe vor allem: Horst Weber / Manuela Schwartz (Hg.), Quellen zur Geschichte emigrierter Musiker 1933–1950, Bd. I: Kalifornien, München 2002, sowie Horst Weber / Stefan Drees (Hg.), Quellen zur Geschichte emigrierter Musiker 1933-1950, Band II: New York, München 2005. Zum Schicksal des nach Shanghai geflüchteten Wiener Pianisten Karl Steiner (sowie weiterer dort Zuflucht suchender Musiker) siehe neuerdings Hartmut Krones (Hg.), An: Karl Steiner, Shanghai. Briefe ins Exil an einen Pianisten der Wiener Schule (= Schriften des Wissenschaftszentums Arnold Schönberg, hrsg. von Hartmut Krones, Band 4), Wien–Köln–Weimar 2013. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang noch auf folgende Publikationen: Gerd Kaminski und Else Unterrieder, Von Österreichern und Chinesen, WienMünchen-Zürich 1980, hier S. 775-812, sowie Elisabeth Buxbaum, Transit Shanghai. Ein Leben im Exil, Wien 2008.
Vorwort des Herausgebers
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die Verzweiflung und Depression jener gestellt, die – aus welchen Gründen auch immer – in den Exilländern nicht Fuß fassen konnten. Doch unabhängig von der jeweiligen Meisterung oder Nicht-Meisterung des Schicksals überwog bei allen Flüchtlingen das Gefühl der Heimatlosigkeit und Entwurzelung bei weitem die Freude über ein eventuelles neues Glück, was die (hoffentlich) bis heute währende Betroffenheit über die erschreckenden Ereignisse jener Zeit nur noch größer macht – über Ereignisse, die im Falle eines Nicht-Gelingens der Flucht in zahlreichen Fällen in der Inhaftierung oder schließlich in der Ermordung der Musikerinnen bzw. Musiker „gipfelten“. Daß dadurch, abgesehen von den unfaßbaren persönlichen Schicksalen, dem österreichischen Kulturraum und insbesondere der österreichischen Musikszene ein Aderlaß bereitet worden ist, von dem sich unser Land bis heute nicht erholt hat und wahrscheinlich nie wirklich erholen wird, sei als zusätzliches trauriges und zu betrauerndes Ergebnis jener Zeiten vermerkt. Der vorliegende Band setzt die Reihe der zahlreichen Publikationen zum Thema der Ächtung, Vertreibung und Ermordung österreichischer Geistigkeit und österreichischer Kulturschaffender fort und kann dies ebenfalls nur an Hand von allgemeinen Fallstudien und partiellen Aufarbeitungen von Einzelschicksalen versuchen. Daß es sich dabei in einem besonders hohen Maß um die Darstellung der Lebensumstände von Vertriebenen in den USA, in México sowie in anderen lateinamerikanischen Ländern handelt, ergab sich nicht zuletzt durch die dort angesiedelten Kooperationspartner bzw. durch den jeweiligen Veranstaltungsort der Symposien. Allen diesen (oben genannten) Partnern sei hiemit noch einmal der Dank für die wunderbare Zusammenarbeit ausgesprochen, ein Dank, der die österreichischen Kulturinstitute in México D. F. sowie in New York ebenso einschließt wie die Internationale Schönberg-Gesellschaft mit ihrem Präsidenten o. Univ.-Prof. Dr. Manfred Wagner. Insbesondere gedankt sei aber noch der (damaligen) Abteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung des Magistrates der Stadt Wien unter Senatsrat Univ.-Prof. Dr. Hubert Christian Ehalt, weiters Herrn Sektionschef i. R. Raoul F. Kneucker (von der damaligen Abteilung I/D/9 im Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr) sowie dem ehemaligen Rektor meiner Universität, o. Univ.Prof. Erwin Ortner, die die Bedeutung unserer repräsentativen Symposien in México D. F. und in den USA für das Ansehen Österreichs erkannt und sich voll und ganz für das (vor allem auch finanzielle) Gelingen dieser Unternehmungen eingesetzt haben. Großer Dank ausgesprochen sei aber auch den Referentinnen und Referenten unserer Symposien, die uns ihre (hier zum Teil wesentlich erweiterten) Beiträge zur Verfügung gestellt und mit großer Geduld die jahrelange Verzögerung der Drucklegung ertragen haben, die sich zunächst vor allem durch die verspätete Abgabe von einzelnen Manuskripten ergeben hat,9 schließlich aber auch durch die Notwendigkeit, andere Publikationen vorzuziehen, deren Finanzierung an unaufschiebbare 9
Einige Beiträge stellen persönliche Erlebnisberichte, Zusammenfassungen von Interviews o. Ä. dar und weisen daher keinen wissenschaftlichen Apparat auf.
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Termine gebunden war. (Die von den Autorinnen und Autoren 2010 durchgeführte Aktualisierung der Artikel wurde im Erscheinungsjahr nur mehr durch Hinweise auf neue Entwicklungen in der Forschungslandschaft sowie auf wichtige neue Publikationen ergänzt.) Nicht zuletzt sei Frau MMag. Dr. Maria Helfgott für die akribische Redaktion des Bandes sowie ihr und Frau Brigitte Grünauer für das Layout der Beiträge sowie für zahlreiche Hilfestellungen beim Herstellen der Druckvorlage gedankt. Es verbleibt uns zu hoffen, daß die nun gegebene Vollständigkeit des thematischen Spektrums der Symposien alle für das lange Warten entschädigt. Schließlich sei noch der Wissenschafts- und Kulturförderung der Stadt Wien sowie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Dank für die Bereitstellung der Geldmittel für die Drucklegung dieses Bandes ausgesprochen. Er möge nicht nur ein Ausweis für die (in einem weit höheren Maß als allgemein bekannt existente) musikalische Exilforschung in Österreich sein, sondern auch eine weitere Warnung vor Intoleranz, Rassismus, Radikalisierung und Unmenschlichkeit. Wien, im September 2013
Hartmut Krones
HARTMUT KRONES (Wien)
12. Februar 1934 bis 27. April 1945 4092 Tage Ächtung, Verbot, Vertreibung und Ermordung österreichischer Musik(er) Am Montag, dem 12. Februar 1934, beschloß der außerordentliche Ministerrat der Regierung Dollfuß die sofortige Auflösung der sozialdemokratischen Partei Österreichs sowie die Auflösung des Gemeinderates und Landtages von Wien; gleichzeitig setzte er auch den Bürgermeister und Landeshauptmann sowie den Stadtsenat ab. An die Stelle des Bürgermeisters Karl Seitz trat der frühere Vizekanzler und damalige Minister für Soziale Verwaltung Richard Schmitz, der als „Bundeskommissär“ für Wien mit nahezu diktatorischen Vollmachten eingesetzt wurde. (Später, am 7. April 1934, ernannte man ihn sogar zum Bürgermeister von Wien.) Und um sowohl Andersdenkende gewaltsam einzuschüchtern als auch, um sich an jenen Sozialdemokraten, die womöglich Widerstand leisten würden, auch ordentlich rächen zu können, hatte die Regierung „das standrechtliche Verfahren, in dem schon seit dem [10.] November 1933 die Todesstrafe auf Mord, Brandstiftung und boshafte Sachbeschädigung ausgesprochen werden konnte, durch eine Notverordnung auf den Tatbestand ,Aufruhr‘ ausgedehnt“1.
Am 13. Februar floh der Führer der Sozialdemokraten, Dr. Otto Bauer, der gemeinsam mit Julius Deutsch vom George-Washington-Hof im 10. Bezirk aus die Kämpfe gegen die Einsatzkräfte der Regierung geleitet hatte, zusammen mit einigen Getreuen in das tschechoslowakische Brünn, von wo aus er nun den Widerstand gegen den Dollfußschen „Austrofaschismus“ zu unterstützen trachtete. In Wien hingegen wurden (insbesondere in großen Gemeindebauten wie dem KarlMarx-Hof in Heiligenstadt) die blutigen Kämpfe zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten zunächst vehement fortgeführt, bis Bundeskanzler Engelbert Dollfuß am 14. Februar einen Appell an die Sozialdemokraten richtete, die Waffen niederzulegen, und dafür milde Strafen bzw. Straffreiheit zusicherte. Diesem Aufruf wurde nach kurzer Bedenkfrist auch Folge geleistet, sodaß am 15. Februar der Widerstand nach und nach erlahmte. Trotz des versprochenen „Pardons“ wurden in den nächsten Tagen neun führende Sozialdemokraten standrechtlich zum Tod verurteilt und zum Galgen geführt, darunter am 14. Februar der Gruppenführer im Hietzinger (sozialdemokratischen) 1
Manfred Scheuch, Der Weg zum Heldenplatz. Eine Geschichte der österreichischen Diktatur 1933–1938, Wien 2005, S. 100.
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„Schutzbund“ Karl Münichreiter, am 15. Februar der Feuerwehrkommandant sowie Kommandant des Floridsdorfer Schutzbundes Georg Weissel sowie am 19. Februar der Führer des Schutzbundes von Bruck an der Mur, Koloman Wallisch. Sowohl Kardinal Theodor Innitzer als auch Bundespräsident Wilhelm Miklas hatten die Gnadengesuche für Münichreiter, der bei den Kämpfen schwer verletzt worden war, unterstützt, doch Justizminister Kurt Schuschnigg leitete die Gesuche ganz bewußt nicht an den Bundespräsidenten weiter. Und um Koloman Wallisch hinrichten zu können, der als aufrechter Demokrat 1921 in Bruck an der Mur sogar den von seinem ungarischen Putsch-Versuch zurückkehrenden letzten HabsburgerKaiser Karl vor der Lynch-Justiz gerettet hatte, erstreckte Schuschnigg sogar die (schon beschlossene) Ablaufsfrist des Standrechtes (und somit der Todesstrafe) für die Steiermark um einige Tage.2 Am 16. Februar „annullierte“ die sich selber als „autoritäre Regierung“ bezeichnende Dollfuß-Diktatur dann die Nationalratsmandate der Sozialdemokratischen Partei und beschlagnahmte zudem das Vermögen der Partei sowie aller ihr nahestehenden Organisationen, darunter auch des Österreichischen ArbeiterSängerbundes.3 Die in Österreich nunmehr gänzlich verbotene Arbeiter-Zeitung, über die allerdings bereits am 22. März 1933 auf der Basis des „Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes“ die Vorzensur verhängt worden war und die seit dem 20. Jänner 1934 nicht mehr öffentlich verkauft werden durfte, meldete sich dann erstmals am 25. Februar 1934 aus Brünn, wohin ein Teil der sozialdemokratischen Führer geflohen war und das – großteils von Otto Bauer verfaßte – Blatt von dort aus in Österreich verbreitete. Unter dem Doppel-Titel „Nach dem Kampf ! Unseren Toten !“ ist dort u. a. zu lesen: „Unser erster Gedanke gilt unseren Ge fallenen und unseren stand rech tlich Gemor d e te n. Ihnen das Gelöbnis: Sie dürfen nicht umsonst gestorben sein. Die Befreiung der Arbeiterklasse – für die sie gelebt haben und gefallen sind –, sie muß errungen werden. Das Vermächtnis unserer Toten zu vollziehen, den Sieg der Freiheit zu erkämpfen – das ist die heilige Aufgabe, der wir Überlebenden uns weihen. [...] auf die Dauer werden nicht dreißig Prozent des Volkes über siebzig Prozent, wird nicht das Dorf über die Großstadt, nicht der Klerikalismus über ein zu zwei Dritteln nichtklerikales Volk herrschen können. [...] Die erste Notwendigkeit ist: Or ganisatio n. [...] Heute brauchen wir Geheimorganisationen nach Fünfergruppen. [...] Achtung vor Spitzeln und Naderern ! 2
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Zum Gedenken an Wallisch verfaßte Bertolt Brecht die Koloman-Wallisch-Kantate, in der es u. a. heißt: „[...] Und als man wollt des christlichen / Kanzlers Meinung hören / Da war halt der Kanzler beim Beten / Da durfte ihn keiner stören. [...] Im Februar vierunddreißig / Der Menschlichkeit zum Hohn / Hängten sie den Kämpfer / Gegen Hunger und Fron / Koloman Wallisch / Zimmermannsohn. [...].“ Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. Supplementband IV. Gedichte aus dem Nachlaß 2, Frankfurt a. M. 1982, S. 385–395, hier S. 394. Zu den Schikanen der „christlichsozialen“ Regierung gegenüber den Arbeitersängern und deren spätere Enteignung siehe den Artikel des Herausgebers „[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...] freihändig zu veräussern“ in vorliegendem Bd., S. 39–116.
12. Februar 1934 bis 27. April 1945
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In die neue Organisation sind nur Genossen aufzunehmen, die den Mut zu i llegaler Ar be it haben. [...]. Die Genossen, denen es gelungen ist, über die Grenze zu kommen, haben in Brünn ein „Ausland sbür o öste r r e ic hischer Soziald emokraten“ (abgekürzt: Alös) errichtet. [...]. Das Alös stellt sich die Aufgabe, den Kampf der Genossen in Österreich durch Sendung von Zeitungen, von Flugschriften und Broschüren zu unterstützen. [...] Die Soziald e mokr atie le bt we ite r ! Die Nazis sind heute viel stärker, als sie zur Zeit der Auflösung ihrer Partei waren. Was den Nazis gelungen ist, muß auch uns gelingen. [...] L asset Euch nicht aus Haß ge ge n Fe y und Dollfuß von d en Nazis einfangen ! Hitler ist der Todfeind der deutschen Arbeiter und darum auch unser Todfeind. Eine Naziherrschaft in Österreich könnte dauerhafter, innerlich fester und darum gefährlicher sein als die Diktatur des blutigen Palawatsch des Austrofaschismus. Die österreichischen Arbeiter dürfen unter keinen faschistischen Einfluß kommen — weder unter austro- noch unter nazifaschistischen. Sie waren, sind und bleiben Sozialdemokraten ! Sie bleiben es jetzt erst recht !“4
Wie als Antwort bzw. zur Bestätigung dieses Aufrufs ließ die Regierung Dollfuß in der März-Nummer ihres Mitteilungsblattes Vaterländische Front folgende Kundmachung abdrucken: „Die autoritäre Regierung Dollfuß hat mit dem Marxismus aufgeräumt. Tatsachen. Der Sozialdemokratische Republikanische Schutzbund hat, aufgehetzt von den marxistischen Führern, einen verbrecherischen Putschversuch in ganz Österreich unternommen, der eine ungeheure Zahl von Menschenleben gekostet hat. Die autoritäre Regierung Dollfuß hat diesen verbrecherischen Anschlag in drei Tagen niedergeschlagen. In Österreich wurde das Standrecht proklamiert und die Standgerichte haben eine Reihe von Todesurteilen gesprochen und durchgeführt. Die sozialdemokratischen Führer sitzen in Haft. Die zwei Haupträdelsführer, Dr. Otto Bauer und der Schutzbundgeneral Julius Deutsch, sind feig geflüchtet. Die Sozialdemokratische Partei wurde verboten. Der Wiener Gemeinderat wurde aufgelöst. Der bisherige rote Bürgermeister Seitz befindet sich in Polizeigewahrsam. Im Wiener Rathaus amtiert Bundesminister Schmitz als Regierungskommissär. Sämtliche Gemeindeämter Wiens befinden sich in vaterlandstreuer Verwaltung. Sämtliche sozialdemokratischen Organisationen und Vereine sind aufgelöst. Der Austromarxismus ist gewesen !“5
Die gewaltsam an die Macht gekommene österreichische Regierung unter ihrem Führer Engelbert Dollfuß hatte sich also nicht nur selbst als „autoritär“ bezeichnet, sondern – insbesondere gemäß der Meinung der Angehörigen und Freunde der „standrechtlich“ Ermordeten sowie insgesamt der vom Verbot Betroffenen – auch 4 5
Zitiert nach: Widerstand und Verfolgung in Wien 1934–1945, hrsg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. 1934–1938. Bd. 1, 2. Auflage Wien 1984, S. 23f. Zitiert nach: Theodor Veiter, „Das 34er Jahr“. Bürgerkrieg in Österreich, Wien–München 1984, S. 160f.
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endgültig als österreichische Variante des Faschismus etabliert. Basierte „die österreichische Diktatur“ doch „auf dem Bündnis von autoritären Christlichsozialen mit der in wesentlichen Teilen faschistischen Heimwehr“, die sich damals, „im Strahlenkranz des Sieges“, auch „in ihrer faschistischen Rhetorik überbot“6. Die Heimwehr war es auch, die seit etlichen Jahren „keinen Zweifel daran [gelassen hat], daß sie nach der Macht im Staate strebte, sei es auch mit Umsturz und Gewalt“7, und sie hatte sich fallweise sogar mit den Nationalsozialisten verbündet, um gegen sozialdemokratische und kommunistische Arbeiter vorzugehen.8 Dementsprechend lautete es in ihrem „Korneuburger Gelöbnis“ vom 18. Mai 1930 u. a. auch: „Wir wollen Österreich von Grund auf erneuern ! [...] Wir wollen nach der Macht im Staate greifen und zum Wohle des gesamten Volkes Staat und Wirtschaft neu ordnen. Wir müssen eigenen Vorteil vergessen, müssen alle Bindungen und Forderungen der Parteien unserem Kampfziel unbedingt unterordnen, da wir der Gemeinschaft des deutschen Volkes dienen wollen ! Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat ! [...] Jeder Kamerad fühle und bekenne sich als Träger der neuen deutschen Staatsgesinnung; er sei bereit, Gut und Blut einzusetzen, er erkenne die drei Gewalten: den Gottesglauben, seinen eigenen harten Willen, das Wort seiner Führer !“9
Noch deutlicher wurde der Bundesführer der Heimwehr, Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg, in seinem Neujahrsaufruf von 1934, in dem er sich „für die uneingeschränkte Durchsetzung der faschistischen Ideenwelt“ sowie für die „restlose Niederwerfung des Austrobolschewismus“10 aussprach. Und er war es auch, der den von der Heimwehr geplanten „Volksstaat“ ganz im Sinne der Rassengesetze der Nationalsozialisten einschränkend interpretierte: „Unter Volksgenossen meine ich nur jene, die die Rasseninstinkte der Deutschen tragen, in deren Adern deutschen Blut fließt. Mit dem Volk meine ich nicht jene fremden, plattfüßigen Parasiten aus dem Osten, die uns ausbeuten.“11
Vor der Auflösung aller sozialdemokratischen Vereine waren die politisch Andersdenkenden aber schon in verschiedenster Weise bedrängt worden, und nach und nach hatte man ihnen ein Stück Recht nach dem anderen genommen. Nachdem Bundeskanzler Engelbert Dollfuß am 5. März 1933 eine „Absage an den Parlamentarismus“ proklamiert hatte und zwei Tage später im Ministerrat der Beschluß gefaßt worden war, nach dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz vom 24. Juli 1917 zu regieren, wurde zunächst die Pressefreiheit eingeschränkt und ein Aufmarschverbot erlassen. Am 1. Mai 1933 schließlich riegelte Militär die Wiener 6 7 8 9 10 11
Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (= Österreichische Geschichte 1890–1990, hrsg. von Herwig Wolfram), Wien 1994, S. 313. Veiter (Anm. 3), S. 55. So am 10. April 1929 in Liesing. Vgl. Walter Kleindel, Österreich. Zahlen. Daten. Fakten, hrsg., bearbeitet und ergänzt von Isabella Ackerl und Günter K. Kodek, Wien 2004, S. 336. Zit. nach ebenda S. 337. Zit. nach ebenda S. 347. Zit. nach Scheuch (Anm. 1), S. 186.
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Innenstadt ab, um den traditionellen Maiaufmarsch zu verhindern. (Am 26. Mai 1933 wurde dann die Kommunistische Partei Österreichs aufgelöst, am 19. Juni 1933 die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ verboten.) Am 23. April 1933 konnten die Arbeitersänger, die kurz zuvor einen Aufruf an alle „klassenbewußten Arbeitersänger“ gerichtet hatten, die „Pflichten als Parteigenossen“ zu erfüllen und „durch das freie Lied“ das „Nachtgespenst der Reaktion“ zu „verscheuchen“12, noch ungestört den „Tag der Musikpflege“ feiern, wobei sich dieser zu einem machtvollen „Konzert der Vierzigtausend“ sowie zu einer Demonstration „für Freiheit und die Zurückgewinnung der Demokratie“13 ausgeweitet hatte. Die 40-Jahr-Feier des ASB Alsergrund vom 8. Oktober 1933 führte dann allerdings zum Eklat: 60.000 Zuhörer hatten sich um 15 Uhr im Wiener Stadion eingefunden, darunter nahezu der gesamte Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Österreichs sowie eine Delegation des internationalen Gewerkschaftsbundes. Bürgermeister Karl Seitz hielt die Festansprache, eine Verherrlichung der Demokratie sowie Absage an jedwede totalitären Gelüste, der Vertreter des internationalen Gewerkschaftsbundes, der Holländer Walter Schevenels, sekundierte und überbrachte die Grüße der sozialdemokratischen „Internationale“. Und auch die vom „Gau Wien“ (unter der Leitung der Gauchorleiter Franz Leo Human und Hubert Hoppel) sowie vom ASB Alsergrund selbst (unter der Leitung von Kurt Pahlen) gesungenen Freiheitschöre boten „ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Sozialismus“14, das von dem als „einstimmiger Massenchor mit Orchester“ vorgetragenen „Solidaritätslied“ Hanns Eislers eine weitere, „kraftvoll=kühne“15 Verstärkung erfuhr. – Bereits am Tag danach (!) verfügte die „Bundes-Polizeidirektion in Wien“ (Dr. Fröhlich) die „Einstellung der Tätigkeit des Arbeitersängerbundes Alsergrund“16, und zwar mit der Begründung, „der Verein habe seinen statutarischen Wirkungskreis dadurch überschritten, daß verschiedene Personen (Seitz und der Vertreter des Internationalen Gewerkschaftsbundes Genosse Schevenels) politische Reden gehalten hätten“17. Weiters wurden laut der polizeilichen „Niederschrift“ vom 9. Oktober die „2 doppeltürigen [Archiv-]Kästen“ des Vereines versiegelt „sowie ein Klavier sichergestellt“. Und als der Verein gegen die Sistierung Einspruch erhob, gab Bundeskanzler Dollfuß am 20. Oktober 1933 selbst [!] die Weisung, den Verein aufzulösen.18 12 13 14 15 16 17
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Österreichische Arbeitersänger-Zeitung XXXII (1933), Nr. 4, 1. April, S. 37. Vgl. Helene Maimann (Hg.), Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918–1934. Katalog zur Ausstellung vom 23. Jänner bis 21. Juni 1981, Wien 1981, S. 278f. Lotte Pinter, 100 Jahre Lied der Arbeit. Festschrift, Wien 1968, S. 25. David Josef Bach, Massenfest – Massenfreude – Massenwille, in: Arbeiter-Zeitung, 9. Oktober 1933. Gemäß der „Niederschrift“ der Bundes-Polizeidirektion; siehe S. 66. Richard Fränkel, 80 Jahre Lied der Arbeit. Geschichte der Österreichischen Arbeitersängerbewegung, Wien 1948, S. 56f. Vgl. Helmut Brenner, „Stimmt an das Lied ...“. Das große österreichische Arbeitersänger-Buch, Graz– Wien 1986, S. 155. Weitere Details siehe auf den S. 66–80 im Artikel des Herausgebers „[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...] freihändig zu veräussern“. Vgl. Pinter (Anm. 14), S. 25f.
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Parallel mit diesen Ereignissen verspürten auch die „Sozialdemokratische Kunststelle“ sowie die von ihr betriebenen „Arbeiter-Sinfonie-Konzerte“ den wachsenden Druck. Trotzdem veranstaltete man weiter Konzert um Konzert, und insbesondere Anton Webern hatte hier als Hauptdirigent der Konzerte eine künstlerische Heimstatt gefunden, die den Wienern unter anderem exemplarische und unvergessene Aufführungen der Symphonien Gustav Mahlers, aber auch von Werken Alban Bergs, Hanns Eislers, Ernst Kreneks und Arnold Schönbergs bescherten. Damit war es ab dem 12. Februar 1934 plötzlich und endgültig vorbei. – Am 11. Februar, einem Sonntag, fand das letzte Arbeiter-Sinfonie-Konzert statt. Es stand unter der Leitung von Erwin Leuchter und wies u. a. folgende Programmpunkte auf: Volkslieder in Bearbeitungen durch Paul Amadeus Pisk, Johann Sebastian Bachs Konzert für vier Klaviere a-Moll, Tagesneuigkeiten von Darius Milhaud, das Violoncellokonzert von Arthur Honegger sowie „Musik zu einem Tonfilm“ aus der Feder des in Berlin lebenden Wiener Schönberg-Schülers Hanns Eisler. Nach dem Konzert zogen zahlreiche Arbeiter aus der Zuhörerschaft zum Parlament, um dort gegen die Tagesereignisse und insbesondere auch gegen die allgemeine Unterdrückung sowie gegen offensichtlich vor der Tür stehende diktatorische Maßnahmen zu protestieren. – Im übrigen war gerade Paul Amadeus Pisk als Kulturredakteur der Arbeiter-Zeitung ein Hauptopfer der Ereignisse; die Zeitung wurde bekanntlich verboten, und der arbeitslose „Illegale“ Pisk emigrierte 1936, um nicht zu verhungern, in die USA. Dasselbe Schicksal traf Erwin Leuchter, den Dirigenten des letzten ArbeiterSinfonie-Konzertes, sowie seine Frau, die Pianistin und Klavierpädagogin Rita Kurzmann-Leuchter. Leuchter, den Michael Gielen „eine der entscheidenden Personen meiner Entwicklung“ nannte, war laut ihm „Assistent von Webern bei den Arbeitersymphoniekonzerten und den großen Arbeiterchören in der von Dr. David Bach geleiteten sozialdemokratischen Kulturorganisation gewesen – und hatte nach der Ausschaltung der Sozialdemokratie durch den Austro-Faschismus von Dollfuß und Starhemberg jedwede Berufsaussicht und seine Existenzgrundlage verloren. Das Ehepaar Leuchter emigrierte 1935 nach Argentinien und hatte sich 1940 schon eine angesehene Position erarbeitet.“19
Sie alle wissen, wie die Geschichte weiterging, und daß der österreichischen Arbeiterschaft – aber nicht nur dieser – noch schrecklichere Ereignisse ins Haus standen. Dennoch ist es an der Zeit, und dies insbesondere im Hinblick auf die vielen aktuellen politischen Diskussionen der letzten Zeit, an jene vier Jahre zu erinnern, die den nicht genehmen Künstlern und Intellektuellen Österreichs von heute auf morgen den Boden unter den Füßen wegzogen, Auftritts- und Publikationsmöglichkeiten beschnitten und somit auch das tägliche Leben erschwerten, wenn nicht nahezu unmöglich machten. Und es sei daran erinnert, daß selbst für die sozialdemokratischen „Kinderfreunde“ bereits am 13. Februar 1934 ein Auflösungsbescheid ausge19
Michael Gielen, „Unbedingt Musik“. Erinnerungen, Frankfurt a. M.–Leipzig 2005, S. 48.
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stellt wurde, mit welchem nicht zuletzt die Beschlagnahmung von deren „nicht unbeträchlichem Vermögen“ verbunden war. „Lokale, Sport- und Spielplätze und andere Einrichtungen zur Betreuung der Kinder, die mit Hilfe von Tausenden freiwilligen Mitarbeitern errichtet worden waren, verfielen der Beschlagnahme.“20
Die selbst rein humanitär ausgerichtete „linke“ Vereinigungen und Ideen mit unendlichem Haß verfolgende Politik der Regierung von Engelbert Dollfuß brachte es sogar mit sich, daß jeder als sozialistisch oder gar kommunistisch denkend entlarvte Künstler des Auslandes bald als unerwünscht galt und daß z. B. die Dichtungen eines André Gide sehr schnell aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt oder doch zumindest dem lesenden Zugriff der Bürger entzogen wurden. Auch auf dem Gebiet der Musik hatte der diktatorische Ständestaat einschlägige Auswirkungen. So standen in den Saisonen 1933/34 bis 1937/38 in den Orchesterkonzerten der Gesellschaft der Musikfreunde keine Werke von Arnold Schönberg oder Anton Webern auf dem Programm, hingegen konnte man – neben unendlich vielen Schöpfungen des ehemaligen (1933–1935) Präsidenten der deutschen Reichsmusikkammer, Richard Strauss – einen ganzen Abend, noch einmal zwei Einzelwerke sowie schließlich die Uraufführung des Oratoriums Das Buch mit sieben Siegeln von Franz Schmidt erleben, jenes Franz Schmidt, der dann knapp vor der Vollendung seiner Kantate „Deutsche Auferstehung“ (mit dem Schlußjubel „Wir wollen unsren Führer sehn !“ samt „Sieg ! Heil !“), starb (am 11. Februar 1939). Weiters wurde ein Werk des später als „kommissarischer Leiter“ des Österreichischen Komponistenbundes sowie als Musikkritiker des Völkischen Beobachters wirkenden Friedrich Bayer gespielt, aber auch ein Werk des in den Jahren 1938–45 unendlich oft aufgeführten Joseph Marx sowie ein Werk des dann ähnlich propagierten Friedrich Reidinger, den Gauleiter Josef Bürckel, „Der Beauftragte des Führers für die Volksabstimmung in Österreich“, sofort im März 1938 zum „kommissarischen Leiter“ der „A.K.M.“, der österreichischen (Urheberrechts-)Gesellschaft für Autoren, Komponisten und Musikverleger“ ernannte. Dagegen stehen lediglich die knapp vor dem Tod des Komponisten gespielten „Symphonischen Stücke“ aus der Oper Lulu von Alban Berg sowie die 4. Symphonie von Gustav Mahler auf der Habenseite; doch auch Felix Mendelssohn Bartholdy wurde – gleichsam im Vorgriff auf die Jahre 1938–1945 – nur einmal gespielt.21 Ganz ähnlich verhielt es sich bezüglich der „Wiener Schule“ in den Konzerten der Wiener Philharmoniker, die in dem besagten Zeitraum lediglich einmal ein Werk von Berg programmiert hatten. Auch hier wurden Schönberg und Webern totge20 21
Leopold Spira, Sie hielten die Treue – Die Zeit der Illegalität, in: 75 Jahre Kinderfreunde. 1908–1983. Skizzen • Erinnerungen • Berichte • Ausblicke, hrsg. von Jakob Bindel, Wien–München 1983, S. 129–152, hier S. 129. Hiezu siehe Hartmut Krones, Die Konzertpolitik der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien in den Jahren 1938 bis 1945, in: Die Wiener Schule und das Hakenkreuz. Das Schicksal der Moderne im gesellschaftspolitischen Kontext des 20. Jahrhunderts (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 22), hrsg. von Otto Kolleritsch, Wien–Graz 1990, S. 188–201.
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schwiegen, während Gustav Mahler – zur Ehre der Musiker sei es gesagt – einige Male zu Wort kam. Im Februar 1938 wurden zudem durch Bruno Walter Egon Wellesz’ „Fünf symphonische Stücke nach Shakespeares Der Sturm“, Prosperos Beschwörungen, aus der Taufe gehoben. Daß damals allerdings nach jedem Satz Scharen von Abonnenten den Saal verließen, sei ebenso wenig verschwiegen wie die Tatsache, daß die Wiener Philharmoniker Anfang Juli 1938 in München im Rahmen der Veranstaltungen zum „Tag der deutschen Kunst“ neben dem Festlichen Präludium des selbst dirigierenden Richard Strauss auch die Burgenländischen Tänze von Friedrich Bayer auf das Programm setzten. In den Jahren des Austrofaschismus florierte aber auch eine österreichische Spezies des (angesichts der „jüdischen Jesus-Mörder“ von der katholischen Kirche zumindest nicht bekämpften) Antisemitismus, die sich zwar nicht todbringend, aber doch deutlich lebenserschwerend für die Betroffenen auswirkte. Um dies an Hand eines auch politisch relevanten Zeugnisses zu dokumentieren, seien einige Sätze aus dem am 29. November 1926 beschlossenen Parteiprogramm der Christlichsozialen Partei zitiert: „Die christlichsoziale Partei hält an der Überzeugung fest, daß das Zusammenwirken von Kirche und Staat und deren gegenseitige Förderung im Interesse beider gelegen ist [...]. Als national gesinnte Partei fordert die christlichsoziale Partei die Pflege deutscher Art und bekämpft die Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiete [...].“22
In dem am 3. November 1926 in Linz beschlossenen Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Partei Österreichs ist neben antikapitalistischen sowie allgemein gesellschaftspolitischen Anliegen zwar eine durchaus vergleichbare deutschnationale Ausrichtung vorhanden, keineswegs aber die seit den Zeiten des christlichsozialen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger von seiner Partei offen bekundete antisemitische Komponente: „Mächtige Kartelle diktieren dem ganzen Volk die Warenpreise. Große Industriekonzerne, die ganze Produktionszweige stillzulegen vermögen, zwingen den Regierungen und Volksvertretungen ihren Willen auf. Die Großbanken beherrschen die Produktion, sie üben auf Staat und Gesellschaft den stärksten Einfluß. Das ganze arbeitende Volk gerät so unter die drückende Herrschaft einer kleinen Zahl von Kapitalsmagnaten [...]. Die sozialistischen Arbeiterparteien haben [...] die Aufgabe, die Arbeiter aller Länder zum gemeinsamen Kampfe zu vereinigen, sie zu lehren, einander in ihren Kämpfen beizustehen und die Sonderinteressen der Arbeiter jedes einzelnen Landes ein- und unterzuordnen den Gesamtinteressen der internationalen Arbeiterklasse [...]. Die Sozialdemokratie betrachtet den Anschluß Deutschösterreichs an das Deut-
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Zit. nach Kleindel (Anm. 8), S. 332.
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sche Reich als notwendigen Abschluß der nationalen Revolution von 1918. Sie erstrebt mit friedlichen Mitteln den Anschluß an die Deutsche Republik.“23
Als dann Anfang des Jahres 1933 die Machtübernahme Adolf Hitlers in Deutschland erfolgte und zu ersten Gewaltmaßnahmen (nicht zuletzt gegen Sozialdemokraten sowie gegen sozialdemokratische Vereinigungen) führte, strich der vom 14. bis 16. Oktober 1933 stattfindende Parteitag der österreichischen Sozialdemokraten diesen letzten Passus: „Angesichts der durch den Faschismus im Deutschen Reich veränderten Lage des deutschen Volkes [wird] aus dem 6. Abschnitt des Parteiprogrammes der Punkt 4, der den Anschluß Deutschösterreichs an das Deutsche Reich fordert, gestrichen.“24 Am Wochenende vom 11. bis 13. März 1938 übernahm dann das nationalsozialistische Deutsche Reich, das pikanterweise von einem Österreicher ,geführt‘ wurde, durch einen militärischen Handstreich die Macht in Österreich, und nun setzte in unserem Land auf jedem erdenklichen Gebiet eine zweite große ,Säuberung‘ ein – jetzt allerdings wurde das Land primär von Juden sowie von den bis dahin herrschenden Christlichsozialen gesäubert. Am ersten Werktag – Montag, den 14. März – trat der mit unglaublicher Akribie und seit langem ausgearbeitete Plan in Kraft, sämtliche bedeutende staatliche Stellen sowie auch alle staatlich beeinflußten oder geförderten Organisationen unter Kontrolle bzw. unter eine eigene, der NSDAP nahestehende Leitung zu bringen. Nicht zuletzt hatten sich auch die kulturellen Einrichtungen und Vereinigungen sofort den neuen Machthabern zu beugen und politisch mißliebige Personen vor die Türe zu setzen. Sehr schnell waren von diesen Maßnahmen die jüdischen Lehrer und Schüler sowie insgesamt der Alltag in den Schulen betroffen. Bereits am 25. März 1938 verfügte das Unterrichtsministerium in einem Erlaß, daß „Lehrer und Schüler einander innerhalb und außerhalb der Schule den Deutschen Gruß (Hitler-Gruß) [erweisen]: Der Lehrer tritt zu Beginn der Unterrichtsstunde vor die stehende Klasse, grüßt als erster durch Erheben des rechten Armes und die Worte ,Heil Hitler‘; die Klasse erwidert den Gruß durch Erheben des rechten Armes und die Worte ,Heil Hitler‘. Der Lehrer beendet die Schulstunde, nachdem sich die Schüler erhoben haben, durch Erheben des rechten Armes und die Worte ,Heil Hitler‘; die Schüler antworten in gleicher Weise. Hiezu wird noch bemerkt, daß nichtarische Schüler den Deutschen Gruß nicht zu leisten haben [...].“25
Als dann noch in der ersten Woche nach dem „Anschluß“ alle Schulleiter und Lehrpersonen auf das neue Regime vereidigt wurden, durften jüdische Pädagogen schon nicht mehr an der Zeremonie teilnehmen; wenig später wurden sie gänzlich außer Dienst gestellt. Denn wie die Christlichsozialen „bekämpften“ auch die Na23 24 25
Ebenda S. 331. Ebenda. Zit. nach Oskar Achs / Eva Tesar, Schule und Erziehung, in: Wien 1938 [Katalog]. Historisches Museum der Stadt Wien. 110 Sonderausstellung 11. März bis 30. Juni 1988, Wien 1988, S. 163.
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tionalsozialisten „die Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiete“. – Bereits am 27. April folgte der Erlaß, daß jüdische Mittelschülerinnen und Mittelschüler (also Schüler an Allgemeinbildenden Höheren Schulen) in eigenen Schulen zusammengefaßt und somit von „arischen“ Schülern getrennt wurden, im Mai trennte man in gleicher Weise die Schüler der Pflichtschulen. Und obwohl bereits im März 1938 zahlreiche Mitglieder der Katholischen Lehrerschaft ihres Amtes als Schulleiter enthoben worden waren, solidarisierte sich die Leitung dieser Vereinigung – zumindest offiziell – voll und ganz mit dem neuen nationalsozialistischen Stadtschulratspräsidenten und gab (per Flugblatt) folgenden Aufruf an ihre Mitglieder heraus: „Voll und ganz vorbehaltlos werden wir die Anordnungen der Behörden und im besonderen die Weisungen der Schulbehörden erfüllen, nicht nur weil dies selbstverständliche Pflicht ist, sondern aus voller Erkenntnis unserer Verantwortung den Eltern, dem Stande, dem Volke, dem Reich und Gott gegenüber. Gern geben wir als Kinder deutscher Erde dem großen Vaterland und unserer Heimat, was ihrer ist. In diesem Sinne kann jeder Katholik das Hoheitszeichen unseres Reiches, das Hakenkreuz, tragen.“26
Um die Jugend gleichsam rund um die Uhr der nationalsozialistischen Propaganda auszusetzen, wurde schließlich ab 25. März 1939 jede(r) Jugendliche Zwangsmitglied einer Parteiorganisation: Knaben von 10 bis 14 im „Deutschen Jungvolk“ (DJ), dann bis 18 in der „Hitler-Jugend“ (HJ), Mädchen von 10 bis 14 im „Jungmädelbund“ (JM) und danach bis 18 im „Bund Deutscher Mädel“ (BDM). Das setzte sich in den Universitäten fort, die ebenfalls schon bald nach dem „Anschluß“ „judenrein“ waren und deren Professoren am 22. März 1938 ihren Diensteid auf den „Führer“ abzulegen hatten: Und die Studierenden wurden mit der Immatrikulation automatisch Mitglied der gleichgeschalteten „Deutschen Studentenschaft“. Daß die Nationalsozialisten sofort nach dem „Anschluß“ die führenden Positionen im Polizeiapparat, in der Justiz sowie in den Ministerien mit Vertrauensleuten besetzten, kann nicht überraschen, darüber hinaus wurden aber auch sämtliche Beamte bereits am 18. März neu, und zwar auf Hitler persönlich, vereidigt; „fremdrassige sowie politisch unzuverlässige Elemente“27 wurden zwei Monate später entlassen. Einen bedeutenden Aderlaß erlitten dadurch die Personalstände des Burgtheaters und der Wiener Staatsoper, da in diesen Häusern ein großer Anteil des künstlerischen Personals jüdische Vorfahren hatten.28 Und neben zahlreichen anderen Künstler-Vereinigungen aus den Bereichen von Literatur, bildender und angewandter Kunst stand auch der Österreichische Komponistenbund auf der ,Abschußliste‘ der politischen Machthaber, im speziellen auf der des Landeskulturleiters der NSDAP in Wien, Hermann Stuppäck. Hatte bereits das mit 17. Mai 1938 erlassene 26 27 28
Zit. nach ebenda, S. 168. Helfried Pfeifer, Die Ostmark. Eingliederung und Neugestaltung, Wien 1941, S. 30f. Siehe den Artikel von Clemens Höslinger, Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie, in vorliegendem Bd., S. 315–333.
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„Gesetz über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden“ mit der Eigenständigkeit des ÖKB (der Friedrich Bayer als kommissarischen Leiter zugeteilt erhielt) aufgeräumt, so wurde die Vereinigung am 12. Oktober 1938 explizit aufgelöst, und zwar, weil sie „zu demokratisch, zu liberal und ohne Rassenunterschiede funktionierte“29, aber auch wegen ihres langjährigen Eintretens für die („entarteten“) Komponisten der„Wiener Schule“. An ihre Stelle trat nun der „Bund deutscher Komponisten aus Österreich“, dessen Leitung man wieder Friedrich Bayer überantwortete, jenem Mann, der bereits vier Jahre zuvor eine „Gegenvereinigung“ gegen die IGNM (die Internationale Gesellschaft für Neue Musik) mitbegründet hatte: den nationalsozialistischen „Ständigen Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten“, dem Richard Strauss als Präsident vorstand;30 galt doch auch die IGNM schon viele Jahre lang als Hort der „Entartung“ auf dem Gebiete der Musik. (Auch die AKM, die Verwertungsgesellschaft österreichischer Autoren, Komponisten und Musikverleger, wurde zunächst ab 22. März 1938 „kommissarisch geleitet“, ehe am 23. August die zwangsweise Auflösung sowie die Überleitung in die deutsche STAGMA folgten.31) Neben den Komponistenvereinen, den Universitäten, Schulen und freien Bildungsanstalten waren selbstverständlich auch die großen Konzerthäuser Zielpunkte ähnlicher Säuberungen. Franz Schütz z. B., kommissarischer Leiter der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde sowie später auch der Akademie für Musik und darstellende Kunst, verlieh gleich am 15. März seiner „unwandelbaren Verehrung und Treue für Euere Exzellenz, unseren erhabenen Führer“32 (Adolf Hitler nämlich) schriftlichen Ausdruck, setzte das „unzuverlässige“ Direktorium der genannten Gesellschaft ab und berief ein neues ein. Und im Stab der Mitarbeiter blieb selbst die Musikwissenschaft nicht verschont, wie Schütz der Wiener Landeskulturleitung der NSDAP berichtete: „Der Archivkustos Dr. Karl Geiringer (Volljude) wurde ebenfalls vom Dienste suspendiert und wird, da seine Wiedereinstellung nicht in Frage kommt und seine Tätigkeit vollkommen entbehrlich ist, mit 1. April d. J. gekündigt.“33
Von Franz Schütz stammt im übrigen die bislang einzige erhaltene Formulierung durch einen Berufsmusiker, was denn nun „entartete Kunst“ auf dem Gebiet der Musik sei. Um Stellungnahme zu einem mit 15. September 1940 datierten Ansuchen von Friedrich Wildgans gebeten, der die von ihm seinerzeit alternierend mit 29 30 31 32
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Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt a. M. 1982, S. 178. Zu dieser Vereinigung siehe ebenda S. 209. Hiezu siehe den Artikel von Hartmut Krones, AKM, STAGMA und die „Arisierung“ der Urheberrechte, in vorliegendem Bd., hier S. 190f. Brief vom 15. März 1938 an „Euere Exzellenz ! hochgeehrter Führer !“. Durchschlag im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde. Kompletter Wortlaut zitiert bei Krones, Konzertpolitik (Anm. 21), S. 189f. Brief vom 26. März 1938 an die Wiener Landesleitung der NSDAP. Durchschlag im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde. Kompletter Wortlaut zitiert bei Krones, Konzertpolitik (Anm. 21), S. 194f. Aus Berichten von Zeitgenossen geht allerdings hervor, daß Geiringer in dem Archiv trotzdem seinen Forschungen nachgehen durfte.
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Marcel Rubin geleitete Konzertreihe „Musik der Gegenwart“34 wieder ins Leben rufen wollte, schrieb er in seiner Expertise unter anderem: Die von dem Genannten angeführte „Internationale Gesellschaft für neue Musik“ war ein gänzlich verjudeter Betrieb, welcher es sich zur Aufgabe stellte, die höchst fragwürdigen atonalen Erzeugnisse jüdischer Autoren zur Aufführung zu bringen. Diese vor 10 Jahren noch eifrig blühende „Kunstrichtung“ war dazu angetan, jedes gesunde musikalische Empfinden in der heranwachsenden Jugend gründlich auszurotten, und wenn sich auch jüdische Dirigenten wie Stiedry, Leuchter usw. für diese Richtung einzusetzen versuchten, so waren die Darbietungen doch von einer derartigen Kläglichkeit, dass sogar dieser immerhin gross aufgezogenen jüdischen Spekulation ein bleibender Erfolg versagt blieb. Subventioniert zum großen Teil von der Gemeinde Wien unter der Schirmherrschaft des roten Juden David Bach, bewiesen die zur Aufführung gelangenden Kompositionen zur Genüge, dass ihre Verfasser sich krampfhaft bemühten, den Stil Gustav Mahlers35 fortzusetzen, und, da sie bei weitem nicht über das technische Rüstzeug verfügten, um auch nur einen einfachen vierstimmigen Satz richtig aufschreiben zu können, so wurde von dieser Gesellschaft alles das negiert, was uns seit jeher von Bach bis Reger und Pfitzner heilig ist. Meines Wissens handelte es sich damals ausschliesslich um Juden, die zur Aufführung gelangten und als Parade-Goi wurde Josef Matthias Hauer zugelassen, dessen barer Irrsinn in der Behauptung bestand, dass es logarithmisch errechnet 424 Millionen möglicher Kombinationen in der Musik gäbe, die er und seine Schüler nun bestrebt seien, aufzuarbeiten. [...]. Was nun die Konzerte als solche betrifft, so hat die Gesellschaft der Musikfreunde bereits in der Spielzeit 1938/39 und auch 1939/40 eine Reihe von Abenden mit Werken zeitgenössischer Komponisten veranstaltet, die in ihrem ideellen Ergebnis alles andere als zufriedenstellend waren. Ich habe damals Wünschen nachgegeben, die in einer sehr bestimmten Form an mich herangetragen wurden, deren Durchführung uns jedoch einerseits eine unverhältnismässig hohe Summe Geldes kostete und die uns andererseits ebensoviele Feinde brachte, denn die Zahl der eingereichten Werke war eine ganz überwältigend grosse und in den 10 oder 12 Abenden konnte nur ein Bruchteil dieser Kompositionen zur Aufführung gelangen. Für die Dauer des Krieges habe ich diese Art 34 35
Zu ihr siehe Hartmut Krones, marcel rubin (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts 22), Wien 1975, S. 19ff. In diesem Zusammenhang von Interesse scheint, nach welchen Kriterien Mahler einen (Ton-)Satz beurteilte: „Das Wichtigste in der Komposition ist der reine Satz, daß jede Stimme wie beim Vokalquartett, das der Prüfstein, die Goldwage [!] dafür ist, gesanglich sei. Beim Streichkonzert ist das noch durchsichtig genug. Immer weniger, je größer das Orchester wird, obwohl es doch da ganz ebenso gilt. Wie sich bei der Pflanze aus der Grundform des einfachen Blattes das höchste Gebilde, die Blüte, und der ganze tausendfach entfaltete Baum entwickelt; wie das Haupt des Menschen nichts anderes als ein Wirbelknochen ist: so müssen die Gesetze, die bei der reinen Führung des Vokalsatzes walten, bis in das komplizierte Stimmengewebe des reichsten Orchestersatzes festgehalten werden. / Bei mir muß auch das Fagott, die Baßtuba, ja selbst die Pauke gesanglich sein. Und dies galt für alle echten Künstler, ganz besonders auch für Richard Wagner. [...].“ Zitiert nach Herbert Killian, Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner mit Anmerkungen und Erklärungen von Knud Martner. Revidierte und erweiterte Ausgabe, Hamburg 1984, S. 76.
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von Konzerten eingestellt; ich werde sie jedoch nach Kriegsschluss in einem vernünftigen Ausmasse wieder aufnehmen und mir vorbehalten, nur die Werke zur Aufführung zu bringen, denen künstlerisch ein entsprechendes Niveau zuzusprechen ist und deren Struktur ein hinreichendes technisches Können aufweist. Es sind dies Werke von Uray, Reidinger usw. Eine Subventionierung des in Aussicht genommenen Zyklus unter der Leitung von Herrn Wildgans erscheint m. E. daher überflüssig, umsomehr, als Wildgans als Komponist eine Erscheinung ist, die sich seinerzeit durch seine ganz im Schönberg’schen Stil gehaltenen, durchaus atonalen Kompositionen wohl das Recht verwirkt hat, als geeignete Persönlichkeit für die Übernahme der Leitung von Konzerten mit Programmen der neuen deutschen Stilrichtung gelten zu können. Die Gesellschaft der Musikfreunde wird es sich in ihrem eigenen Wirkungskreis stets angelegen sein lassen, eine sinngemässe Pflege der neuzeitlichen Literatur durchzuführen. Heil Hitler!
„Von Prof. Franz Schütz, kommissarischer Leiter der Staatsakademie“, besitzen wir seit kurzem ein weiteres Dokument, das sich im Nachlaß von Marcel Rubin gefunden hat und mit 11. März 1939 datiert ist. Offensichtlich hat Schütz einen Rundbrief an alle Angehörigen der Akademie verfaßt, der (u. a. ?) in (mindestens) drei Folgen der (als hektographiertes Flugblatt verbreiteten) „Mitteilungen der Studentenführung der Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst[,] Gau Wien“ erschien – die „3. Folge“ hat sich erhalten: „Wir, die illegale Garnitur, mussten diesem Treiben schweigend zusehen. Es war nun auch hier unsererseits bestens vorgesorgt und die betreffenden Referenten, sei es in der Anstalt selbst oder auch im Ministerium, haben uns recht oft die hilfreiche Hand gereicht. Und doch möchten wir die Erinnerung an diese Zeit, die dem Kampf um unser Deutschtum geweiht war, nicht missen. Erinnert ihr euch noch, Kameraden, wenn wir in einer verschwiegenen Ecke der Anstalt die Saarmünzen mit Inschrift verkauften: ,Die Saar hats bewiesen, die Ostmark wirds beweisen, Volk will zu Volk!‘ Oder wenn zu Weihnachten die Hakenkreuzschillinge auftauchten und ich in Sorge war um eure Zukunft und zu grösserer Vorsicht mahnen musste, um dann nach dem Vorspiel einer Bachschen Orgelfuge, wenn wir in den Katakomben halbwegs sicher waren, auch meinen Tribut für das WHW [Winterhilfswerk] zu entrichten? Und als die jüdisch-klerikale Interessengemeinschaft, einträchtig zusammenarbeitend gegen alles, was uns heilig war, endlich zerschlagen wurde, wisst ihr noch um unser Frohlocken auf den Gängen und in den Klassen? Dies alles wollen wir als wertvollste Erinnerung für unser ganzes Leben behalten. Herausgegeben von der Studentenführung Stelle für Presse und Propaganda. Verantwortlich: Kurt Schmidek“
Kurt Schmidek (1919–1986), ab 1955 Solokorrepetitor in zwei Klassen (von Erik Werba und Ernst Reichert) für „Lied und Oratorium“ an der Wiener Akademie für
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Musik und darstellende Kunst sowie ab 1961 bzw. 1962 gemeinsam mit Erik Werba Leiter einer solchen Klasse, wurde 1976 zum ordentlichen Hochschulprofessor ernannt und war dann einige Jahre auch Leiter der Abteilung „Sologesang und Musikdramatische Darstellung“ der Wiener Hochschule (jetzt Universität) für Musik und darstellende Kunst. Vom Studienjahr 1935/36 bis zum Studienjahr 1939/40 hatte er an der (damaligen) Akademie Klavier sowie ab dem Studienjahr 1937/38 zusätzlich Musiktheorie (zunächst bei Friedrich Hartmann, dann bei Friedrich Reidinger) studiert, Juni 1940 wurde er zum Militärdienst eingezogen. Im Wintersemester 1945/46 setzte er seine beiden Studien fort, „Musiktheorie“ belegte er nun bei Alfred Uhl. Am 19. Juni 1947 legte er die Reifeprüfung aus diesem Fach mit „gut“ ab.36 Inzwischen hatten auf Grund eines ministeriellen Erlasses vom 14. März 1947 alle Studierenden einen Fragebogen zu ihrer NS-Vergangenheit ausfüllen und spätestens am 17. April abgeben müssen. Zwar hatte ein zuvor eingesetzter „pol. Überprüfungssenat“ Schmidek (laut der Matrikel) am 1. März zunächst „zum weiteren Studium zugelaßen“, doch nach der Auswertung seines Fragebogens und den damit wohl verbundenen Recherchen zählte Schmidek schließlich zu jenen 28 Studierenden, die „als Registrierungspflichtige unter das NS-Gesetz“ [vom 17. II. 1947] fielen „und daher ihr Studium an der Akademie mit Ende des Sommersemesters 1947 abbrechen“ mußten: „Das Semester wird angerechnet und kann zensuriert werden. Ein Wiedereintritt der Genannten im Herbst 1947 ist nicht mehr möglich.“37 – Schmidek wirkte dann in den Jahren 1947–1955 als freier Musiker (Korrepetitor, Klavierbegleiter und Komponist), ehe er an der Akademie für Musik und darstellende Kunst angestellt wurde. Zurück zu den Ereignissen des Jahres 1938. Angesichts der ,Säuberungen‘ der Programme aller großen (und auch kleinen) Veranstalter von Konzerten sei nicht verschwiegen, daß nur ganz wenige Programmänderungen durchgeführt werden mußten, da in Österreich schon in den Jahren zuvor kaum „entartete“ Musik gespielt worden war. Die Werke der „Wiener Schule“ Arnold Schönbergs oder Anton Weberns etwa waren nämlich bereits im Februar 1934 geächtet worden: So wurden die von prononciert modernen Werken durchsetzten „Arbeiter-Sinfonie-Konzerte“ sofort nach der Machtübernahme eingestellt, und auch andere kulturelle Veranstaltungen im Umkreis der Sozialdemokratie durften nicht mehr stattfinden. Daher konnten die Nationalsozialisten einen Weg fortsetzen, der im Ansatz schon vorhanden war, und das ,gesunde Volksempfinden‘, das bekanntlich bis heute allzu oft avantgardistischen oder experimentellen Kunstformen abhold ist, vermochte sich ungehemmt durchzusetzen. (Daß dieses „gesunde Volksempfinden“ kaum etwas
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Angaben laut der Akademie-Matrikel Schmideks. „Rundschreiben an alle Hauptfachlehrer und Leiter der Abteilungen“, Zl. 421/47, vom 10. Juni 1947, ausgefertigt vom Leiter der Akademie, „Dr. [Hans] Sittner“. Für ihre Hilfe bei den Recherchen im Archiv der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sei dessen Leiterin Lynne Heller herzlich gedankt.
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anderes darstellt an das, was man im ORF heute „Einschaltquote“ nennt, sei am Rande, aber mit voller Überzeugung gesagt.) Der Aderlaß, der das österreichische Musikleben dann in den sieben Jahren der nationalsozialistischen Diktatur traf, ist ein derart enormer, daß man mit Fug und Recht sagen kann, daß sich die Musikszene insbesondere in Wien zwischen 1938 und 1945 völlig gewandelt hat. Lassen wir nur die wichtigsten Namen jener Komponisten Revue passieren, die Österreich verlassen mußten, so wird der Verlust klar, den das kulturelle Leben des Landes erlitten hat, ein Verlust, der nach dem Krieg nicht mehr wettgemacht werden konnte und der auch nie wieder wettzumachen ist: Paul Abraham, Karl Alwin, Leo Ascher, Ralph Benatzky, Max Brand, Nicholas Brodszky, Hans Gál, Bruno Granichstaedten, Wilhelm Grosz, Joseph Horowitz, Emmerich Kálmán, Ernst Kanitz, Robert Katscher, Hugo Kauder, Ernst Krenek, Rudolf Kolisch, Erich Wolfgang Korngold, Fritz Kreisler, Hermann Leopoldi, Egon Lustgarten, Leonhard Märker, Paul Mann, Hans May, Kurt Pahlen, Bernhard Paumgartner, Ferdinand Piesen, Karl Rankl, Rudolf Réti, Alfred Rosé, Marcel Rubin, Hans J. Salter, Rudolf Serkin, Fritz Spielmann, Leopold Spinner, Peter Stadlen, Karl Steiner, Robert Stolz, Oscar Straus, Erwin Weiss, Stefan Weiss, Karl Weigl, Egon Wellesz, Hugo Wiener, Paul Wittgenstein, Erich Zeisl, Alexander Zemlinsky und Herbert Zipper. Hinzuzuzählen sind noch die „Theoretiker“ bzw. Musikmanager Rudolf Bing, Kurt Blaukopf, Otto Erich Deutsch, Karl Geiringer, Hans Heinsheimer, Georg Knepler, Paul Nettl, Hans Ferdinand Redlich, Willi Reich, Paul Stefan, Richard Stöhr und Eric Werner, hinzuzuzählen ist der im KZ umgekommene Viktor Ullmann, und hinzuzuzählen sind eigentlich auch jene Österreicher, die bereits 1933 aus Deutschland in die Emigration gehen mußten und dabei auch ihre Kontakte zu Österreich hinter sich ließen: Hanns Eisler, Walter Jurmann, Karol Rathaus, Arnold Schönberg, Franz Schreker und Ernst Toch. Die Liste ist keineswegs vollständig, und eigentlich ist ihr noch Anton Webern hinzuzufügen, der im September 1945 Opfer eines schießwütigen amerikanischen Besatzungssoldaten wurde und somit letzten Endes an den Folgen des von Hitler initiierten Krieges starb.
MANFRED PERMOSER (Wien)
„Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles“ 1 Schönberg, Webern und die Arbeitermusikbewegung – ein ambivalentes Verhältnis „Mit Anfang 20 hatte ich Freunde, die mich in die marxistischen Theorien einführten. Als ich dann Tätigkeiten als Chormeister – Leiter von Männerchören – fand, nannte man mich Genosse. Und damals, als die Sozialdemokratie für eine Erweiterung des Rechtes auf freie Wahlen kämpfte, hatte ich starke Sympathie für einige ihrer Ziele [...].“2
Der diese Zeilen unter dem englischen Originaltitel My attitude towards politics am 16. Februar 1950 niederschrieb, hieß Arnold Schönberg und lebte seit seiner Emigration 1933 in den USA. – Anlaß für die eben zitierten biographischen Notizen dürfte wohl die unrühmliche Aktivität des sogenannten „Kongreßausschusses zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeiten“ gewesen sein, dem bereits der ehemalige Schönberg-Schüler Hanns Eisler zum Opfer gefallen war – er mußte bekanntlich 1948 das Land verlassen. Schönberg betonte im oben zitierten Schreiben ausdrücklich „niemals ein Kommunist gewesen zu sein“, vielmehr sah er sich in den zwanziger Jahren bis zu seiner Emigration als „stiller Anhänger“ der untergegangenen Habsburger-Monarchie. In seiner Jugendzeit allerdings folgte Schönberg sozialistischen Idealen und stellte sich alsbald in den Dienst der Arbeiter-Musikbewegung. Arbeiterchöre benötigten junge engagierte Musiker, und Schönberg kam diese erste künstlerische Herausforderung gerade recht. So übernahm er die musikalische Leitung des MetallarbeiterSängerbundes Stockerau 1895/1896 und im folgenden Jahr jene des ArbeiterGesangvereines „Freisinn“ in Mödling.3 Die junge sozialdemokratische Arbeiterbewegung verstand sich in ihren Anfängen als Kulturbewegung und verdankte Männern wie Schönberg – sein Vater galt sogar als „anarchistischer Schöngeist“4 – ihren Aufstieg. Bürgerliche Herkunft, liberale Gesinnung und politischer Idealismus brachte Schönberg auch mit zwei der wichtigsten Funktionäre der Arbeiter-Musikbewegung 1
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Schlußzeile aus Rainer Maria Rilkes Gedicht Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth, zugleich letzte Eintragung in Weberns Notizbuch 1945, zit. nach Hans u. Rosaleen Moldenhauer, Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich 1980, S. 564. Arnold Schönberg, Meine Haltung zur Politik, zit. nach Hans Heinz Stuckenschmidt, Schönberg. Leben – Umwelt – Werk, Zürich 1974, S. 507. Siehe dazu Albrecht Dümling, „Im Zeichen der Erkenntnis der socialen Verhältnisse“, in: ÖMZ 36 (1981), S. 65ff., sowie Walter Szmolyan, Schönberg in Mödling, in: ÖMZ 29 (1974), S. 189ff. Zit. nach Stuckenschmidt, Schönberg (Anm. 2), S. 15.
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in Kontakt: David Josef Bach, den späteren Initiator der Arbeiter-Symphoniekonzerte und Organisator der Sozialdemokratischen Kunststelle, sowie Josef Scheu, den eigentlichen Begründer der österreichischen Arbeiter-Sängerbewegung. Letzterem verdankt Schönberg seine Anstellung als Chorleiter des MetallarbeiterSängerbundes in Stockerau.5 – Schönberg wie Bach und Scheu verband ein durchaus wertkonservatives Musikverständnis. Nach dem Motto „Wissen ist Macht“ galt ihnen die Vermittlung des traditionellen bürgerlichen Kulturerbes als vorrangiges Ziel. Vor diesem Hintergrund muß wohl auch Schönbergs frühes Interesse an den Arbeiten des damals populären Lyrikers Richard Dehmel gesehen werden.6 In Dehmel hatte die in den achtziger und neunziger Jahren an Verbreitung zunehmende Arbeiterlyrik einen genialen, die Aktualität der gesellschaftlichen Spannungen klar erfassenden Wortführer gefunden. Seine 1896 erschienene Gedichtesammlung Weib und Welt dürfte Schönberg mit Begeisterung gelesen haben, sein erstes Dehmel-Lied Mädchenfrühling entstand bald darauf. Weitere Lieder nach Dehmel folgten in opp. 2, 3 und 6, hinzu kam das bekannte Streichsextett nach dem Gedicht Verklärte Nacht aus Weib und Welt. Schönbergs Tätigkeit als Chormeister von Arbeiterchören stand also durchaus im Einklang mit seiner damaligen politischen und sozialen Ausrichtung. Seine freundschaftliche Verbindung mit Bach und Scheu bewirkte auch eine vermehrte Auseinandersetzung mit sozialistischem Gedankengut, wie dies an Hand der Korrespondenz mit Bach nachgewiesen werden konnte.7 Allerdings sollte Schönbergs politische Ausrichtung jener Zeit vor 1900 nicht überbewertet werden: Dümlings Einschätzung, Schönbergs Berufswahl (gemeint ist jene des Chorleiters von Arbeiter-Gesangvereinen) „entsprach logisch seiner politisch-ästhetischen Zielsetzung die aus der ‚Erkenntnis der socialen Verhältnisse‘ resultiere“8,
dürfte einer vorrangig politisch motivierten Handlungsweise doch etwas zuviel Bedeutung beimessen. Aber ebenso wenig kann von bloß materiellen Beweggründen gesprochen werden, eine Version, wie sie von Schönbergs Schwester Ottilie Blumauer-Felix überliefert ist.9 – Viel mehr dürfte Schönberg die Möglichkeit der praktischen künstlerischen Arbeit gereizt haben. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang auch das Moment der Geselligkeit. Das Anknüpfen neuer Sozialkontakte – eine wesentliche Triebfeder eines funktionierenden Vereinslebens – gefiel auch dem jungen Schönberg. Wie sehr diese künstlerische wie gleichermaßen pädagogische Arbeit der frühen Jahre auch noch viel später in positiver 5 6
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Siehe Willi Reich, Arnold Schönberg oder der konservative Revolutionär, Wien 1968, S. 18. Siehe Stuckenschmidt, Schönberg (Anm. 2), S. 33f. und Christian Heitler, Richard Dehmel – Rezeption im Musikschaffen der Jahrhundertwende, Diplomarbeit: Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 1996, S. 52. Siehe Albrecht Dümlings diesbezügliche Ausführungen in: ÖMZ 36 (Anm. 3), S. 65ff. Dümling zitiert hier aus einem Brief Schönbergs an David Josef Bach vom 25. Juli 1895, in: ebenda S. 68. Siehe Stuckenschmidt, Schönberg (Anm. 2), S. 27.
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Erinnerung verblieb, beweist die Tatsache, daß Schönberg 50 Jahre nach seiner Tätigkeit beim Mödlinger Arbeiter-Gesangverein „Freisinn“ noch brieflichen Kontakt zu ehemaligen Chormitgliedern unterhielt.10 Schönbergs praktisch-musikalische Tätigkeit als Chorleiter folgte wohl einer betont pragmatischen Einschätzung sozialdemokratischer Kulturarbeit, wie sie im übrigen auch von Josef Scheu vertreten wurde. In dessen programmatischen Ausführungen zu den Aufgaben der Arbeitersänger heißt es unter anderem: „In rein musikalischen Dingen streben wir ja nichts anderes an, als was jeder gut geleitete Gesangverein sich als Ziel vorsetzt [...].“ 11 –
Auch die Auswahl des zu singenden Repertoires orientierte sich weitgehend am traditionellen bürgerlichen Vorbild: „Einfache, sinnige Volkslieder, kräftige Freiheits- und Arbeitslieder.“ Schließlich wird sogar einer Politisierung künstlerischer Arbeit eine eindeutige Absage erteilt: „Wir haben weder Lust noch Zeit, uns an unseren Übungsabenden mit Politik zu befassen“
stellt Scheu klar.12 Diese Einstellung deckte sich weitgehend wohl auch mit jener Schönbergs, dessen Programmwahl sich nicht vom Repertoire anderer Arbeiter-Gesangvereine unterschied. Dies bedeutete im wesentlichen die Übernahme der gängigen Literatur bürgerlicher Vereine (also von schlichter Liedertafelei bis zu anspruchsvollen Chorwerken von Schubert, Brahms usw.), erweitert um sogenannte „Freiheits-Chöre“, die Ideale der Revolution von 1848 besingend und nun im Sinne der eigenen Weltanschauung umgedeutet.13 – Noch in den oben erwähnten Ausführungen zu seiner politischen Einstellung – also 50 Jahre später – vermerkt Schönberg: „Sogar in meinen frühen zwanziger Jahren war ich nie aktiv in der Politik. Ich hielt niemals Reden, trieb keine Propaganda und versuchte nicht, Leute zu bekehren [...]“.14
Jedenfalls dürfte Schönbergs jugendliche Begeisterung für sozialistisch-marxistische Zielsetzungen spätestens Ende der neunziger Jahre erloschen und einer bürgerlichkonservativen Weltsicht gewichen sein. Äußeres Zeichen mag die Übernahme des bürgerlichen Männergesangvereines „Beethoven“ in Heiligenstadt sein.15 Zur gleichen Zeit wurde sich der Komponist seiner bürgerlichen Provenienz deutlich bewußt: 10 11 12 13 14 15
Ebenda S. 448. In einem Gespräch, welches der Autor dieses Artikels mit Schönbergs Tochter Nuria Nono Schoenberg am 14. Oktober 1998 führen konnte, teilte diese die dargelegte Sichtweise. Josef Scheu, Die Aufgaben der Arbeiter-Gesangvereine, in: Oesterreichische Arbeiter=Sängerzeitung 1 (1902), S. 2f. Zit. nach Herbert Steiner, Die Gebrüder Scheu, Wien 1968, S. 37f. Zu Schönbergs Tätigkeit im Mödlinger Gesangverein siehe: Szmolyan, Schönberg (Anm. 3), S. 190. Arnold Schönberg, Meine Haltung zur Politik, 16. Februar 1950, zit. nach Stuckenschmidt, Schönberg (Anm. 2), S. 507. Siehe Dümling, „Im Zeichen der Erkenntnis der socialen Verhältnisse“ (Anm. 3), S. 72.
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„Aber noch bevor ich 25 war, hatte ich schon den Unterschied zwischen mir und einem Arbeiter entdeckt; ich hatte dann herausgefunden, daß ich ein Bourgeois war und wandte mich ab von allen politischen Beziehungen [...].“ 16
Trotz der Absage an ein politisches Engagement blieb aber die Freundschaft zwischen David Josef Bach und Arnold Schönberg weiterhin intensiv. Mit ein Grund für das friktionsfreie Funktionieren der Beziehung war wohl auch der Umstand, daß sich trotz nunmehr weltanschaulicher Differenzen die kulturpraktischen Ansichten Bachs kaum von denen Schönbergs unterschieden, sie blieben von konservativ bürgerlichen Wertmaßstäben geprägt (im übrigen ein Spezifikum der österreichischen Arbeiter-Musikbewegung von Beginn an, man erinnere sich an Scheus Ausführungen weiter oben). In Schönbergs Umfeld dürfte auch der junge Anton Webern die ersten Kontakte zu David Josef Bach geknüpft haben. Webern lernt Schönberg 1904 kennen und wird noch im selben Jahr dessen Privatschüler.17 – Im Folgejahr läßt sich jedenfalls eine Mitwirkung Weberns – gemeinsam mit Alexander Zemlinsky, Oskar Adler und Heinrich Jalowetz – an einer Kulturveranstaltung der Sozialdemokraten nachweisen. Es handelte sich dabei um eine Schiller-Feier der Wiener Arbeiterschaft – im übrigen der direkte Anlaß zur Begründung der Arbeiter-Symphoniekonzerte; diese sollten später für Webern noch große Bedeutung erlangen. Anders als bei Schönberg dürfte aber jener erste Kontakt mit sozialdemokratischen Kulturaktivitäten keine nachhaltigen Spuren bei Webern hinterlassen haben. Aufgewachsen im wohlbehüteten Klima einer gutbürgerlichen Familie, von existentiellen wirtschaftlichen Nöten zunächst unbehelligt, vom streng autoritären Vater wertkonservativ und patriotisch erzogen, war für sozialutopische und revolutionäre Ideen weder Platz noch Interesse vorhanden. Dafür widmete sich der junge Webern vorerst ganz seinem Studium der Musikwissenschaft und stürzte sich begeistert ins Wiener Kulturleben. Tagebucheintragungen zeugen von überschäumendem Idealismus in Kunstfragen, aber genauso von autoritär geprägter Kompromißlosigkeit. So etwa meinte er über die „elenden Programme der Virtuosen“: „[...] Kommt so ein Virtuose mit einem schrecklichen, stillosen Programm – dann hinaus mit ihm. [...] Gibt’s denn keine Kritik die sich gegen so ein – Verbrechen zornerfüllt erhebt?“18
Glühender Idealismus, Idealisierung hierarchisch autoritärer Strukturen (man denke in diesem Zusammenhang auch an das ausgeprägte Meister-Schüler-Verhältnis des Schönberg-Kreises) bis hin zu naiv blinder Ideologieanfälligkeit kennzeichnen auch jene weit verbreitete Kriegseuphorie, der sich auch Webern nicht entziehen mochte. Seine bedingungslose deutsch-nationale Gesinnung dokumentiert ein Schreiben an den ebenfalls kriegsbegeisterten Schönberg vom 8. September 1914: 16 17 18
Arnold Schönberg, Meine Haltung zur Politik (Anm. 2), S. 507. Zur Webern-Literatur siehe die umfangreiche aktualisierte Bibliographie von Neil Boynton, A Webern Bibliography, in: Webern Studies, hrsg. von Kathryn Bailey, Cambridge 1996. Zit. nach Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 43.
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„Ich kann meine Einberufung nicht erwarten. Mich verfolgt Tag und Nacht der Wunsch: kämpfen zu können für diese große, hehre Sache. Nicht wahr, dieser ungeheure Krieg hat doch keine politischen Ursachen? Es ist der Kampf der Engeln mit den Teufeln [...].“19
Die mit Kriegsverlauf einsetzende Ernüchterung ließ bald auch Webern wieder von seiner chauvinistisch nationalen Einstellung abrücken. In die unmittelbare Nachkriegszeit fällt auch der neuerliche Kontakt zu Kreisen der Arbeiter-Musikbewegung. Die freundschaftlichen Beziehungen zu David Josef Bach waren aufrecht, die bekennenden Sozialdemokraten Paul Amadeus Pisk und Josef Polnauer gehörten wie Webern dem engeren Schönberg-Kreis an (Pisk, Komponist und Chorleiter, arbeitete auch als Funktionär der Sozialdemokratischen Kunststelle sowie als Musikrezensent der Arbeiter-Zeitung, Polnauer leitete unter anderem ab 1922 den ASB Brigittenau und verwaltete das Archiv der Kunststelle). Wiederum war es David Josef Bach, mittlerweile zum Hauptorganisator sozialdemokratischer Kultur- und speziell Musik-Arbeit aufgestiegen – seit 1919 leitete er unter anderem die neu gegründete Sozialdemokratische Kunststelle mit ihrer Unterorganisation der Arbeiter-Symphoniekonzerte –, der Webern die Gelegenheit bot, im Rahmen der Arbeiter-Symphoniekonzerte als Orchesterdirigent aufzutreten. Dieses erste Engagement Weberns erfolgte 1922. Webern dirigierte am 27. Mai 1922 Mahlers Dritte Symphonie im Konzerthaus. Die Aufführung geriet zum großen künstlerischen Erfolg, das Publikumsecho fiel ausgesprochen positiv aus.20 – Die Folge war der Beginn intensiver künstlerischer Zusammenarbeit und einer lebenslangen Freundschaft mit Bach. Wiederholt übertrug Bach Webern die Leitung der Symphoniekonzerte. 1923 wurde der Komponist außerdem zum Chormeister des kurz zuvor gegründeten Singvereins der Kunststelle berufen. Wer nun meint, daß enge Freundschaft und intensive künstlerische Arbeit im Rahmen jener sozialdemokratischen Kultureinrichtungen auch Weberns persönliche politisch-weltanschauliche Perspektiven nachhaltig verändert hätten, irrt. Politische Agitation war seinem Wesen fremd, die ihm anerzogene Geisteshaltung des intellektuellen Bildungsbürgers ließ ihn trotz aller Sympathie und Verbundenheit stets mit angemessener Distanz zur sozialdemokratischen Partei stehen. Mehr denn je zeigt sich Weberns konservativ beharrendes Wesen, seine ihm eigene Introvertiertheit tat ihr übriges. Auch dürfte der autoritäre Einfluß Schönbergs Weberns Welt-
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Ebenda S. 189f. Siehe Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 222, sowie Werner Jank, Arbeitermusik zwischen Kunst, Kampf und Geselligkeit, phil. Diss. Universität Wien 1982, S. 646f. Auf die Tätigkeit Weberns im Rahmen der Sozialdemokratischen Kunststelle, speziell als Dirigent von Arbeiter-Symphoniekonzerten bzw. ab 1923 als Chorleiter des angeschlossenen Singvereines, kann hier nicht näher Bezug genommen werden, zumal dies bereits ausführlich in der einschlägigen Literatur bei Werner Jank, Hans und Rosaleen Moldenhauer sowie neuerdings Hartmut Krones behandelt wurde: Hartmut Krones, Anton Webern, die „Wiener Schule“ und die Arbeiterkultur, in: Anton Webern – Persönlichkeit zwischen Kunst und Politik, hrsg. von Hartmut Krones (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis, Sonderband 2), Wien 1999, S. 51–85.
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anschauung stärker bestimmt haben als bisher angenommen. So bekennt Schönberg, daß er sich „nach dem unglücklichen Ausgang dieses Krieges und viele Jahre danach als ein Monarchist“
betrachtete.21 – Tatsächlich finden sich auch bei Webern zu dieser Zeit ähnliche Ansichten, seine aristokratische Herkunft dürfte dafür mitverantwortlich sein.22 Grundsätzlich aber versuchte man sich möglichst von politischen Themen fernzuhalten, Schönbergs Einfluß auf seinen Schüler ist in diesem Zusammenhang wohl kaum zu überschätzen. So meint der Lehrer: „[...] Ich wandte mich ab von politischen Beziehungen. Ich war viel zu beschäftigt mit meiner eigenen Entwicklung als Komponist, und ich bin sicher, ich hätte nie die von mir entwickelte technische und ästhetische Kraft erworben, wenn ich irgendwelche Zeit für Politik verwendet hätte. [...] Ich hielt niemals Reden, trieb keine Propaganda und versuchte nicht, Leute zu bekehren. [...] Mit anderen Worten: ich mußte stillhalten und schweigen. Das habe ich immer als meine Lebensregel betrachtet.“23
Es scheint, als ob Webern sich diese Sichtweise seines Lehrers und Freundes zu eigen gemacht hat. Sein persönliches Engagement im Rahmen sozialdemokratischer Kulturinstitutionen beschränkte sich ausschließlich auf seine künstlerische Tätigkeit, in politischen Dingen ging sie nie über unverbindliche Sympathiekundgebungen hinaus, politische Vereinnahmung vermied er strikt. Der Partei oder einer ihr angeschlossenen Organisation ist er nie beigetreten. Die oft in einschlägiger Literatur vertretene Ansicht, Bach hätte Webern die Leitung der Arbeiter-Symphoniekonzerte übertragen, entspricht nicht den Tatsachen. Auch hatte er nie einen institutionalisierten Posten in der Kunststelle inne. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die von Paul Amadeus Pisk überlieferte Bemerkung, daß Webern gegenüber immer ein gewisser Respektabstand gewahrt blieb, von ihm nie anders als vom „Doktor Webern“ gesprochen wurde. Ausgeprägter Individualismus, bildungsbürgerliche Attitüde und aristokratische Herkunft machten es Webern offensichtlich unmöglich, sich uneingeschränkt dem Sozialismus zu verschreiben. Die bei Moldenhauer zitierte, allgemein bekannte Anekdote, der zufolge sich Webern gegenüber der Anrede „Genosse“ mit den Worten verwahrt haben soll: „Wenn schon ‚Genosse‘ Webern, dann bitte ‚Genosse‘ von Webern!“24 bestärkt diese Annahme. Ein weiteres Indiz spricht für Weberns strikte Ablehnung parteipolitischer Vereinnahmung: Im April 1929 wurde Webern eine sehr gut dotierte Position in der Musikabteilung der RAVAG in Aussicht gestellt. Er aber lehnte ab. Der Grund für seine Weigerung war Angst vor einem Verlust der persönlichen und künstlerischen 21 22 23 24
Siehe Schönberg, Meine Haltung zur Politik (Anm. 2), S. 507. Siehe Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 225. Schönberg, Meine Haltung zur Politik (Anm. 2), S. 507. Siehe Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 255.
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Integrität, die Befürchtung politischer Stigmatisierung. Deutlich wird dies in einem diesbezüglichen Brief an Schönberg vom 18. April 1929: „Da die Sache [der Anstellung in der RAVAG, d. V.] einen politischen Anstrich hat (ich soll als ‚Vertrauensmann‘ der ‚sozialdem. Partei‘ funktionieren), habe ich abgelehnt. [...] Nein, ich kann mich nicht in eine Stellung begeben, die mir für meine Arbeit nahezu keine Zeit mehr läßt. Ich möchte doch das Gegenteil: nur mehr arbeiten zu können!“25
Trotzdem erhielt Webern im März 1930 den Posten eines musikalischen Dramaturgen bei der RAVAG, eine Funktion, die er vermutlich aufgrund politischer Intervention ein halbes Jahr später wieder los war, wie diesbezügliche Protestbriefe vermuten lassen. So steht unter anderem zu lesen: „[...] gegen Webern spricht offenbar erstens sein künstlerisches Ansehen und zweitens die Tatsache, daß er es wagt, der Chormeister einer sozialistischen Chorvereinigung zu sein [gemeint ist der Singverein der Sozialdemokratischen Kunststelle, d. V.].“26
Auch Pisk in seiner Funktion als sozialdemokratischer Vertreter im Radio-Komitee der RAVAG erklärte sich mit Webern solidarisch und teilte mit, nicht mehr in der Radio-Kommission mitarbeiten zu wollen. Als Grund gab er „das Nichteingreifen bei der Affaire Dr. Anton Webern“ an27. Trotz Weberns Verweigerung, parteipolitische Funktionen zu übernehmen, sah die Partei in Webern offenkundig einen der Ihren. Denkbare Gründe für dieses Verhalten gäbe es mehrere: War es bloß die Anerkennung der unstreitbar herausragenden künstlerischen Arbeit im Singverein der Kunststelle und in den ArbeiterSymphoniekonzerten, oder galt Webern den sozialdemokratischen Kulturfunktionären auch als willkommenes Aushängeschild für die eigenen kulturideologischen Zukunftspläne? Oder war es etwa lediglich die freundschaftliche Verbundenheit zu David Josef Bach und weitgehende Übereinstimmung in musikalisch-ästhetischen Fragen? Oder aber bekannte sich Webern – zumindest kurzfristig – doch deutlicher zur Sozialdemokratie als bisher angenommen? Ein im Archiv des Vereins für die Geschichte der Arbeiterbewegung in Wien aufgefundener Brief Weberns würde letztere Vermutung nahelegen. In diesem, wenn auch sehr formellen Dankschreiben anläßlich seines fünfzigsten Geburtstages unterzeichnete Webern an den „Genossen Paul Richter“ mit den Worten
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Zit. nach Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 301f. Zu vermuten ist, daß David Josef Bach und Paul Amadeus Pisk, der Mitglied des Radio-Komitees für Musik war, Webern für diese Funktion vorgeschlagen haben; siehe dazu Jank, Arbeitermusik (Anm. 20), S. 653. Dieser zitierte Brief blieb allerdings unsigniert, es handelt sich bei dem Verfasser möglicherweise um David Josef Bach; siehe dazu ebenda S. 654f. Siehe ebenda.
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„mit der Versicherung treuester Ergebenheit und herzlichstem Parteigruß verbleibe ich Ihr Anton Webern. 16. 12. 1933.“28
Komplex, widersprüchlich, ambivalent, so präsentiert sich also auch nach eingehender Beschäftigung Weberns Verhältnis zum Sozialismus. Die Februar-Ereignisse des Jahres 1934 bedeuteten für die österreichische Sozialdemokratie und damit auch für alle angeschlossenen Kulturorganisationen das abrupte Ende. Unter dem Eindruck des brutalen Vorgehens der Dollfuß-Regierung mußte Otto Bauer im tschechischen Exil resignierend erkennen, daß „alles, alles, was die Arbeiterbewegung an kostbarster Arbeit für die Massenkultur geleistet hat, zu Ende ist.“29
Die Liquidierung sozialdemokratischer Organisationen traf in gleichem Maße die Dachorganisation des Arbeiter-Sängerbundes wie die Sozialdemokratische Kunststelle, bedeutete das Ende des Singvereins ebenso wie der populären ArbeiterSymphoniekonzerte – somit verlor auch Anton Webern seine wesentliche Existenzgrundlage. Trotzdem hielt Webern weiterhin Kontakt zu seinen Freunden Bach, Pisk, Polnauer und anderen. In dieser Situation fand seine ehemalige Verbindung zum zweiten Paradechor der Arbeiterschaft, der „Freien Typographia“ (dem Branchenchor der Buchdrucker und Schriftsetzer), neue Belebung.30 Zum Unterschied von den meisten Arbeiterchören gelang es der „Freien Typographia“ nach kurzfristigem Verbot die Wiederzulassung im Februar 1935 zu erwirken, allerdings erst, nachdem man die Autorität eines vom austrofaschistischen Regime eingesetzten Verwaltungsausschusses anerkannt hatte. Mit der Entscheidung, auch unter dem faschistischen Regime weiterwirken zu wollen, stellte man sich aber gegen die ausgegebene Weisung der nach Brünn emigrierten sozialdemokratischen Führung, die Tätigkeit nicht wieder aufzunehmen, und setzte sich damit in der Folge vehementer Kritik aus den eigenen Reihen aus. Der damalige Obmann des Chores, Hans Oettle, versuchte die Beweggründe für das umstrittene Verhalten zu rechtfertigen: „Die Brünner Parolen propagieren die Abstinenz, erklären es als Verrat, wenn die Arbeiterschaft versucht, unter den gegebenen Verhältnissen zu retten, was aus den Trümmern noch zu retten ist. In unserem Falle: viereinhalb Jahrzehnte haben die Buchdrucker die ‚Freie Typographia‘ erhalten, haben die ausübenden Mitglieder [...] den Chor auf eine künstlerische Höhe gebracht, die von keinem 28 29 30
Ebenda S. 663. Otto Bauer, Der Aufstand der österreichischen Arbeiter, Prag 1934, zit. nach: „Mit uns zieht die neue Zeit“ – Arbeiterkultur in Österreich 1918–1934 (Katalog), Wien 1981, S. 270. Auf Vermittlung von David Josef Bach leitete Webern die „Freie Typographia“ erstmals zwischen 1928 und 1929. Der damals an die 300 Sänger und Sängerinnen und mehr als 3000 unterstützende Mitglieder zählende Chor sang unter Weberns Leitung u. a. Schönbergs Friede auf Erden und wirkte wiederholt bei Werken Gustav Mahlers (insbes. der Zweiten Symphonie) im Rahmen von Arbeiter-Symphoniekonzerten mit. Diese bei Moldenhauer kaum erwähnte Zusammenarbeit erfuhr mittlerweile ausführliche Dokumentation: Siehe Manfred Permoser, Chorvereinigungen der Wiener Buchdruckerschaft, phil. Diss. Wien 1988, sowie ders., Anton Webern und die „Freie Typographia“, in: Krones (Hg.), Anton Webern (Anm. 20), S. 95ff.
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anderen Verein erreicht wurde. [...] Dies soll alles verloren gehen, weil eine Diktatur die Macht an sich gerissen hat? [...] Uns ist es durch diese Taktik möglich geworden, das gesamte Vermögen, Inventar und Archiv vor dem Zugriff der Behörden zu retten. [...] Kein Notenblatt ging in Verlust, nichts wurde konfisziert.“31
Gleichzeitig bot sich die „Freie Typographia“ auch als eine Art Auffanglager für die Mitglieder des aufgelösten Singvereines der Sozialdemokratischen Kunststelle an32, ebenso wurde das gesamte Notenmaterial des Singvereines aus der Konkursmasse um 100 Schilling erworben.33 In dieser schwierigen politischen Situation wandte sich der damalige Obmann der „Freien Typographia“, Hans Oettle, an den ihm seit seiner kurzfristigen Tätigkeit bei der Chorvereinigung freundschaftlich verbundenen Anton Webern mit der Bitte, abermals den Chor zu leiten. Daß Webern dieses Angebot annahm, verweist wohl auch auf sein weitgehendes Desinteresse an politisch-ideologischen Belangen. Jedenfalls wog die Aussicht auf den Chormeisterposten und damit auf eine Aufbesserung seiner wirtschaftlich prekären Situation schwerer als etwaige Bedenken in bezug auf die umstrittene Haltung der „Freien Typographia“. Weberns Engagement dauerte allerdings wiederum nur knapp ein Jahr, von September 1934 bis September 1935. Das erste Konzert des Chores nach 1934 am 14. April 1935 sollte zugleich Weberns letztes öffentliche Auftreten als Chordirigent sein34. Die aufgrund der politischen Verhältnisse doch sehr eingeschränkten künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten ließen Webern wohl bald von einer Fortsetzung seiner Tätigkeit absehen. Diese Entscheidung dürften ungünstige Rahmenbedingungen zusätzlich beschleunigt haben: so die geringe finanzielle Entschädigung von 100 Schilling, die allgemein angespannte wirtschaftliche Situation des Vereins35 und wohl auch wiederholt persönliche, menschliche Verständigungsprobleme. Demzufolge vertraute Webern David Josef Bach im Februar 1935 an, daß „es ihm niemals gelungen sei, jene Art von Kontakt zu den Mitgliedern der ‚Freien Typographia‘ herzustellen, die seine Arbeit mit dem Singverein so fruchtbar hatte werden lassen.“36
Jedenfalls lassen sich in den bekannten Quellen keinerlei Hinweise finden, daß Webern aus politischen Erwägungen demissioniert hätte. Zu David Josef Bach blieb die intensive Freundschaft also auch nach 1934 erhalten, blieb dies auch noch, als die Nazis 1938 Österreich annektierten. Weberns unverbrüchliche Loyalität gegenüber seinen verfolgten jüdischen Freunden Polnauer oder Bach stand nie in Frage. Moldenhauer berichtet, daß Webern nach den grauenvol31 32 33 34 35 36
Siehe Georg Skudnigg, 80 Jahre „Freie Typographia“ 1890–1970. Chronik eines Buchdrucker-Gesangvereines, unveröffentl. Typoskript (Privatbesitz des Verfassers), Wien 1970, S. 141. Siehe Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 379. Skudnigg, 80 Jahre „Freie Typographia“ 1890–1970 (Anm. 31), S.141. Siehe Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 405. Siehe Skudnigg, 80 Jahre „Freie Typographia“ 1890–1970 (Anm. 31), S. 145. Siehe Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 405.
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len Ereignissen der „Kristallnacht“ schon am frühen Morgen zu den Wohnungen von Bach und Polnauer eilte, um sich zu vergewissern, ob beide unversehrt seien.37 Ambivalentes, schwer verständliches Verhalten aber auch jetzt. Trotz prinzipieller Ablehnung von Gewalt und Inhumanität, trotz persönlich erfahrener Ausgrenzung und künstlerischer Diffamierung, konnte sich Webern dennoch nicht den Indoktrinierungen des Nationalsozialismus entziehen. Anerzogenes, strikt autoritätsgläubiges Obrigkeitsdenken gepaart mit einer aus heutiger Sicht kaum erklärbaren Naivität in politischen Dingen (man denke an den weiter oben zitierten Brief an Schönberg vom 8. September 1914!) dürfte auch ausschlaggebend für Weberns Ideologieanfälligkeit gewesen sein. Weberns problematische partielle Hinwendung zum Nationalsozialismus ist aber nicht mehr Thema dieser Überlegungen, zumal dieser komplexe Themenkreis bereits ausführlich bei Moldenhauer, Gertraud Cerha und Fred K. Prieberg behandelt wurde.38 Was Webern als einer, der meinte, daß „Kunst mit Politik nichts zu tun habe“, getan und gedacht hat, hinterläßt jedenfalls einen äußerst zwiespältigen, aber auch zutiefst menschlichen Eindruck. Hin- und hergerissen einerseits zwischen seinen Loyalitätsprinzipien als Mensch und als Künstler, festhaltend an den Idealen der Freiheit der musikalischen Sprache und der vollkommenen Unabhängigkeit des Künstlers und der Kunst, sah sich Webern andererseits konfrontiert mit seinem bedingungslosen Patriotismus, seinem Hang zur Subordination, seinem Bedürfnis nach Harmonie, Sicherheit und Ordnung, um deretwillen, wie er seinem Schüler Karl Amadeus Hartmann anvertraute, „jede Obrigkeit zu respektieren sei und der Staat, in dem man lebt, um jeden Preis anzuerkennen sei.“39
„Wegschauen“ – diese auch typisch österreichische Form der Lebensbewältigung (oder besser Verdrängung) schien auch Anton Webern als vermeintliche Konfliktlösung zweckmäßig zu sein. Am Tag des Einmarsches der Hitler-Truppen in Österreich saß der Komponist über seinem esoterischen Streichquartett op. 28 und schrieb an die befreundeten Humpliks: „Ich bin ganz in meiner Arbeit und mag, mag nicht gestört sein.“40 Wie ein zusammenfassendes Credo liest sich da auch die allerletzte Eintragung des Komponisten in sein Notizbuch aus dem Jahr 1945. Es sind die Schlußworte von Rainer Maria Rilkes Gedicht Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“41
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Ebenda S. 470. Gertraud Cerha, Zum Verhältnis von Idee, Ideal, Ideologie und Wirklichkeit in der Welt Anton von Weberns, in: ÖMZ 43 (1988) bzw. Fred K. Prieberg, Musik und Macht, Frankfurt am Main 1991. Siehe Moldenhauer, Anton von Webern (Anm. 1), S. 491f. Ebenda S. 434. Ebenda S. 564.
HARTMUT KRONES (Wien)
„[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...] freihändig zu veräussern“ Das Schicksal der Arbeitersänger im Austrofaschismus Zur Vorgeschichte 1930–1933 Sonntag, den 18. Mai 1930 fand im Anschluß an den „Heimwehraufmarsch“ im niederösterreichischen Korneuburg, unweit von Wien, die Delegiertenversammlung der niederösterreichischen „Heimwehr“ statt, der paramilitärischen Teilorganisation der „Christlichsozialen Partei Österreichs“. Der Landtagsabgeordnete Ing. Julius Raab, nach dem Zweiten Weltkrieg (1953–1961) österreichischer Bundeskanzler, wurde zum Landes-„Führer“ von Niederösterreich gewählt, der erste Bundes„Führer“ Dr. [Richard] Steidle „verkündete die [...] neuen Ziele der Bewegung“, zu denen eine Absage an das „liberale System der französischen Revolution“ zählte, „das, was heute auch die anderen bürgerlichen Parteien korrumpiert hat. [...] Wollen die Heimwehren wie bisher auf dem Standpunkt stehen, daß die Heimwehr nichts ist als der Eintreiber für die Parteien, oder wollen sie sich [...] für das faschistische System erklären? [...] Wir haben bisher nur ein Ziel gehabt: dem Marxismus die Stirne zu bieten, ihm die Arbeiterschaft zu entreißen [...]. Aber es genügt uns nicht, daß wir bloß diese Aufgabe zu erfüllen haben. Diese Rolle ist uns zu wenig, nicht aus Ehrgeiz und nicht, weil die Vertreter der Parteien uns nicht gefallen, sondern aus fanatischer Liebe zur Erneuerung der Heimat und weil wir unserem deutschen Volk in Oesterreich endlich einen neuen, einen besseren Staat geben wollen.“
Über zwei Jahre vor dem Sieg des Hitler-Faschismus im Deutschen Reich war hier ein Bekenntnis zu dieser dezidiert antidemokratischen Staatsform ausgesprochen worden, das in dem gleich danach verkündeten „Programm“ der Heimwehr eine zahlreiche ideologische sowie auch agitatorische Einzelheiten einbringende Präzisierung fand: „Wir wollen Oesterreich von Grund aus erneuern. Wir wollen den Volksstaat der Heimatwehren. Wir fordern von jedem Kameraden: Den unverzagten Glauben ans Vaterland, den rastlosen Eifer der Mitarbeit und die leidenschaftliche Liebe zur Heimat. Wir wollen nach der Macht im Staate greifen und zum Wohle des gesamten Volkes Staat und Wirtschaft neu ordnen. Wir müssen eigenen Vorteil ganz vergessen, müssen alle Bindungen und Forderungen der Parteien unserem Kampfziele unbedingt unterordnen, da wir der Gemeinschaft des ganzen deutschen Volkes dienen wollen.
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Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteistaat. Wir wollen an seine Stelle die Selbstverwaltung der Stände setzen und eine starke Staatsführung, die nicht aus Parteienvertretern, sondern aus den führenden Personen der großen Stände und aus den fähigsten und bewährtesten Männern unserer Volksbewegung gebildet wird. Wir kämpfen gegen die Zersetzung unseres Volkes durch den marxistischen Klassenkampf und durch die liberal kapitalistische Wirtschaftsgestaltung. Wir wollen auf berufsständischer Grundlage die Selbstverwaltung der Wirtschaft verwirklichen. Wir werden den Klassenkampf überwinden, die soziale Würde und Gerechtigkeit herstellen. Wir wollen durch eine bodenstarke und gemeinnützige Wirtschaft den Wohlstand unseres Volkes heben. Der Staat ist die Verkörperung des Volksganzen; seine Macht und Führung wacht darüber, daß die Stände den Notwendigkeiten der Volksgemeinschaft eingeordnet bleiben. Jeder Kamerad fühle und bekenne sich als Träger der neuen deutschen Staatsgesinnung: er sei bereit, Gut und Blut einzusetzen, er erkenne die drei Gewalten: Den Gottesglauben, seinen eigenen harten Willen, das Wort seiner Führer.“ 1
Der offenkundig zur Schau getragene Faschismus der „Christlichsozialen“ wurde von der österreichischen Bevölkerung nur teilweise goutiert; jedenfalls ging aus den noch im selben Jahr, am 9. November 1930, stattfindenden Wahlen in den Nationalrat die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ mit 41,1 % der Stimmen als stärkste Kraft hervor. Die „Rechtsparteien“, die am 24. April 1927 noch eine gemeinsame „Einheitsliste“ von „Christlichsozialer Partei“, „Großdeutscher Volkspartei“, nationalsozialistischer „Riehl- und Schulzgruppe“ (die NSDAP selbst erhielt nur 0,02 %) sowie anderen kleinen Gruppierungen gebildet und insgesamt 48,20 % der Stimmen erhalten hatten, schnitten diesmal mit insgesamt 56,5 % noch besser ab (Christlichsoziale Partei und Heimwehr 35,7 %, Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund [„Schoberblock“] 11,6 %, Heimatblock [Heimwehr um Ernst Rüdiger Starhemberg] 6,2 %, Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei 3 %). Im Vorfeld der Wahl hatten Kurt Schuschnigg, Hans Bator und einige weitere „Rechte“ in Innsbruck die „Ostmärkischen Sturmscharen“ gegründet, eine „katholische kulturpolitische [!] Erneuerungs- und Schutzbewegung“, die dann ab 1932 eine eigene Wehrformation aufstellte und im Februar 1934 mit fast 5.000 Mann an der Niederschlagung des sozialdemokratischen Widerstandes gegen die Ausschaltung des Parlaments und der oppositionellen Parteien beteiligt war. Im Bewußtsein der Stärke bildete dann der „Christlichsoziale“ Otto Ender im Dezember 1930 gemeinsam mit dem „Schoberblock“ die neue Regierung, der am 20. Juni 1931 Karl Buresch mit einer neuen Formation folgte, und ebenfalls im Bewußtsein der Stärke unternahm der (mit der NSDAP sympathisierende) steirische Heimwehr-„Führer“ Walter Pfrimer am 12. und 13. September 1931 einen Putschversuch: Er rief sich zum 1
[Nicht gezeichnet], Heimwehrkundgebungen am Sonntag, in: Reichspost 37 (1930), Nr. 137 (19. Mai), S. 2. Die zahlreichen Sperrungen des Originals sowie aller folgenden Originale sind in diesem Artikel durch Unterstreichung wiedergegeben.
„[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...]“
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„Staatsführer“ aus, erhielt allerdings von den „Heimwehr“-Verbänden der anderen Bundesländer keine Unterstützung, sodaß das Unternehmen mißlang. Trotzdem wurde Pfrimer am 18. Dezember 1931 vom Versuch des „Hochverrats“ freigesprochen! Die erhitzte Atmosphäre führte nun am 29. Jänner 1932 zu einem Regierungswechsel. Karl Buresch wurde zum zweiten Mal Bundeskanzler (einer Minderheitsregierung, da ihm die „Großdeutschen“ die Gefolgschaft verweigerten), als welcher er u. a. eine Kampagne zur Wiedereinführung der Todesstrafe startete, die allerdings erfolglos blieb. Er scheiterte überhaupt sehr bald, und am 20. Mai 1932 bildete Engelbert Dollfuß, nun gemeinsam mit dem „Landblock“ und dem „Heimatblock“, eine neue Regierung – die Mandatsverteilung im Parlament war 83 gegen 82 (72 Sozialdemokraten und 10 Großdeutsche). Und der Abbau der Demokratie begann: Am 1. Oktober 1932 wandte die Regierung Dollfuß zum ersten Mal das alte Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (vom 24. Juli 1917) an, als Justizminister Kurt Schuschnigg auf Grund der Pleite der Creditanstalt Verordnungen bezüglich der Haftung erließ. Die Sozialdemokraten protestierten und bezogen in ihren Protest auch die zahlreichen Versammlungsverbote ein, die sowohl immer wieder von Dollfuß nahestehenden Landesregierungen als schließlich auch von der Bundesregierung selbst für Wien erlassen wurden.
Abbildung 1: „Konzert der Fünftausend“ vom 18. September 1932.
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Knapp vorher, am 18. September 1932, hatte im Wiener Stadion ein vom „Gau Wien“ des Österreichischen Arbeiter-Sängerbundes aus Anlaß seines 40jährigen Bestehens veranstaltetes „Konzert der Fünftausend“ stattgefunden, wie es offiziell auf dem Programm genannt wurde (Abbildung 1). 80 Chöre des ASB wirkten ebenso mit wie 20 „Arbeiter-Kindersingschulen Wien“2 und andere befreundete Vereinigungen, es spielte das „Wiener Sinfonie-Orchester (120 Musiker)“, Dirigenten waren Heinrich Schoof (Chorleiter der „Freien Typographia“ und früherer Bundeschormeister) und Franz Leo Human (Gauchormeister Wien). Auf dem Programm standen unter anderem Webers Freischütz-Ouvertüre, der Festgesang von Josef Scheu, Der Mensch ist unterwegs von Egon Lustgarten, das Gebet aus dem 20. Jahrhundert von Paul Amadeus Pisk, Hanns Eislers Solidaritätslied sowie, als „Massengesang“ der ungefähr 50.000 Besucher des Stadions, Scheus Lied der Arbeit.3 Die Kinder sangen unter Humans Leitung u. a. Schritt um Schritt von Viktor Korda sowie Humans Lied der kleinen Kinderfreunde sowie „ergreifend schön“ die 2. Strophe von Pisks Gebet aus dem 20. Jahrhundert.4 Und der Wiener Bürgermeister Karl Seitz warnte vor den „Gefahren des heraufdämmernden Faschismus“5: „Vierzig Jahre lang habt ihr unseren Kampf begleitet mit eurem Lied. [...] Die Sänger haben ihre Organisation begonnen in der Zeit des finsteren Ausnahmezustandes, wo man das freie Wort des Dichters nicht sprechen und nicht singen durfte. Man mußte sich verständigen mit den Augen, mit dem Blick, wenn man statt des Textes einfach lalala sang. Und wir haben uns verstanden. Das Proletariat steht heute neuen Gegnern gegenüber. Es ist nur Schein. Denn in Wirklichkeit ist es immer derselbe Feind. Solange es einen Kapitalismus gibt, wird es Ausgebeutete und Ausbeuter geben. Dieser Kampf wird nicht enden, bevor nicht die kapitalistische Gesellschaft beseitigt ist, der Sozialismus die neue Gesellschaft formt. Da heißt es kämpfen und abermals kämpfen, und dieser Kampf muß begleitet werden vom Kampflied des Sängers. [...]. Nur die äußere Erscheinungsform des Feindes hat sich geändert, nicht die Sache. Der Feind erscheint uns heute in Form des Faschismus. Das Proletariat des Deutschen Reiches führt heute den großen Kampf, ob der deutsche Mensch sein wahres Selbstbestimmungsrecht gewinnen kann oder ob das deutsche Volk im eigenen Land als ein Volk von Sklaven beherrscht und regiert werden soll von einigen Wenigen [...]. Wenn wir diese Massen hier im Stadion sehen, wenn wir an die größere Masse des Proletariats in unserem kleinen Deutschösterreich denken, da ist uns um die Beantwortung dieser Frage nicht bange.“6 2
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Zu den „Arbeiter-Kindersingschulen Wien“ sowie der Kinder- und Jugendarbeit im ÖASB siehe Hartmut Krones, „Der Gau Wien umfaßte 1929 [...] 12 Jugend- und 12 Kinderchöre.“ Elementare Musikerziehung im Österreichischen Arbeitersängerbund 1904–1934, in: Kunst Kontext Kultur. Manfred Wagner. 38 Jahre Kultur- und Geistesgeschichte an der Angewandten, hrsg. von Gloria Withalm, Anna Spohn und Gerald Bast, Wien–New York 2012, S. 163–188. Hiezu siehe Lotte Pinter, 100 Jahre Lied der Arbeit. Festschrift, Wien 1968, S. 23. Josef Pinter, Die Feier im Stadion, in: Österreichische Arbeitersänger-Zeitung [ÖASZ] XXXI (1932), Nr. 10 (1. Oktober), S. 131. Helmut Brenner, „Stimmt an das Lied ...“. Das große österreichische Arbeitersänger-Buch, Graz–Wien 1986, S. 152. Josef Pinter, Die Feier im Stadion (Anm. 4), S. 131f.
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Nach der Ansprache des Bürgermeisters sangen die 50.000 „unsere alte und ewig junge wahre Volkshymne“, das „Lied der Arbeit“ von Josef Zapf (Text) und Josef Scheu (Musik). Offensichtlich reizte die gegen alle totalitären Bestrebungen gerichtete Veranstaltung die Dollfuß-Regierung, jedenfalls bekamen auch die Arbeitersänger die Wut der als deren Schergen fungierenden Polizei-Organe zu spüren, die sich am 16. Oktober 1932 im Zuge eines „Naziüberfall[s] auf das Simmeringer Arbeiterheim“ beispiellose Übergriffe gegen Sozialdemokraten und ihr Eigentum leisteten. Nach den Kämpfen (zwischen den Nationalsozialisten und der Polizei), die drei Todesopfer forderten, wollten die Polizisten auch das Ziel des Angriffs, das Arbeiterheim, durchsuchen. Doch ohne auf das Eintreffen des sozialdemokratischen Bezirkssekretärs zu warten, der den Schlüssel bringen sollte, haben sie das Tor sofort „mit Hilfe einer eisernen Gartenbank mit wilder Gewalt erbrochen“ und den ohnehin rasch herbeieilenden Sekretär schwer verletzt. Danach wurden die zum Schutze des Heimes versammelten Sozialdemokraten mit Gummiknüppeln niedergeschlagen, „verhaftet und abtransportiert“. Und schließlich „fuhren vier Ueberfallautos mit Schulmannschaft vor und [es] begann eine geradezu vandalische Zerstörungsorgie: Mit Beilpiken wurden Türen, Kasten und Schreibtische aufgesprengt. Bilder und Uhren wurden von den Wänden gerissen und mit den Stiefelabsätzen zertreten, die Telephone auf die Erde geworfen und zerschlagen, die Büsten Viktor Adlers, Widholz’ und Reumanns von den Postamenten heruntergeschlagen und zertrümmert, Fenstersimse und Mauerwerk aufgerissen, Heizrohre herausgerissen, Gasöfen umgestürzt, der Fußboden aufgerissen und der Linoleumbelag zerfetzt. Dies alles, nachdem die Polizisten aufmerksam gemacht worden waren, daß die eigentliche Hausdurchsuchung schon vorüber sei! So wurde nicht einmal im Krieg im eroberten Feindesland gehaust!“7
Die Arbeitersänger-Zeitung berichtete dann – unter der Überschrift „Amtspersonen als Fahnenschänder“ – ebenso empört von dieser Amtshandlung: „Die Schulabteilung der Polizei hat die Haussuchung vorgenommen. Unter anderem wurde der Fahnenkasten der Kulturorganisationen aufgesprengt, wahrscheinlich um die in den Fahnen eingenähten Maschinengewehre zu konfiszieren. Da diese Aktion danebengegangen war, ließen sich die vielversprechenden Amtshandler ihre Wut an den Fahnen aus. Die Fahnen wurden herausgerissen und zu Boden geworfen. Besonders auf die Fahne unseres ,Stahlklang‘ hatten sie es abgesehen: sie wischten sich an ihr die dreckigen Stiefel ab; die Spuren waren deutlich erkennbar. Dieser in der Geschichte Österreichs beispiellose Vorfall kann nicht einmal den Schein einer sachlichen Berechtigung erbringen; die Herren Amtshandler haben die Hochspannung ihrer amtlichen Gefühle an den Symbolen der der hohen Regierung nicht genehmen gegnerischen Partei, sagen 7
[N. N.], Blutiger Sonntag in Simmering, in: Arbeiter=Zeitung 45 (1932), Nr. 288 (17. Oktober), S. 1f.
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wir höflich, abreagiert. [...] Man muß schon sagen: die alte Monarchie hätte solche Leute keinen Tag geduldet; in diesem verbürgerblockten Österreich steht ihnen aber sicherlich eine schöne Karriere bevor. [...] Die Polizei hatte noch die Kühnheit, den Bezirkssekretär Genossen Medwed als den Verantwortlichen eines Flugblattes zu klagen. Medwed, welcher selbst durch einen Säbelhieb eines Musterpolizisten schwer verletzt wurde, bot den Wahrheitsbeweis für das kritisierte Verhalten der Polizei an; der Wahrheitsbeweis wurde zugelassen. Wenn der Staatsanwalt nicht früher davonlauft, wird man Gelegenheit haben, über diese ,beste Polizei der Welt‘ noch einiges im Gerichtssaale zu hören.“ 8
Die Zustände im „christlichsozialen“ Österreich wurden noch schlimmer: Am 4. März 1933 kam es durch die Rücktritte aller drei Präsidenten des Nationalrates zur sogenannten „Selbstausschaltung des Parlamentes“, die Dollfuß zur Installierung einer faschistischen Diktatur benutzte. Bereits am 5. März 1933 proklamierte er bei einer Kundgebung christlicher Bauern in Villach eine „Absage an den Parlamentarismus“, zwei Tage später wurde im Ministerrat der Beschluß gefaßt, nach dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz zu regieren und das Parlament nicht mehr einzuberufen. Zudem schränkte man die Pressefreiheit ein und erließ ein Aufmarschverbot, am 16. März wurde in Tirol der sozialdemokratische „Republikanische Schutzbund“ verboten, am 30. und 31. März wurde er bundesweit aufgelöst. Daraufhin verbot der Wiener Bürgermeister Karl Seitz in Wien die Heimwehr, welcher Erlaß aber durch das Veto der Bundesregierung ungültig wurde. Die Situation spitzte sich weiter zu: Am 14. April 1933 etwa ordnete das Landesgericht für Strafsachen Wien I „auf Antrag der Staatsanwaltschaft“ die Beschlagnahme der Zeitung „Der jüdische Arbeiter“ Nr. 15/16 vom 15. April 1933 „gemäss § 38 Pr.G. (§§ 98,143 St.P.O.)“ an, weil der Artikel „Kratzfuss vor Dollfuss“ in einigen Stellen „den Tatbestand der Uebertretung nach §§ 491,495 St.G. begründet“. Und die Bundespolizeidirektion in Wien stellte fest, daß in der Redaktion des Blattes, Wien II., Blumauergasse 1, „zur Zeit der Beschlagnahme“ von der „angeblich 700 Stück“ umfassenden Auflage 680 Stück „vorgefunden und beschlagnahmt“ wurden, und übermittelte den diesbezüglichen Bericht „gleichlautend an den Herrn Bundeskanzler, an den Herrn Staatssekretär [Emil] Fey, an das Bundeskanzleramt, (Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit) Abt.G.D.1 und Abt.G.D.2. und an das Bundesministerium für Justiz,Abteilung 4“.9 – Der inkriminierte Artikel berichtet zunächst, daß in Deutschland „die durch Hitler geweckte Bestialität der durch Krieg und Not verrohten Massen [hemmungslos] tobt“ und geht dann auf die Zustände in Österreich über: Unter diesem Gesichtspunkte lenken die Vorgänge in Österreich die Aufmerksamkeit Europas auf sich. Hier steht die Arbeiterschaft völlig isoliert im Kampfe gegen den Faschismus und für die Demokratie; das Bürgertum, zumindest 8 9
J.[osef] P.[inter], Amtspersonen als Fahnenschänder, in: Österreichische Arbeitersänger-Zeitung [ÖASZ] XXXI (1932), Nr. 12 (1. Dezember), S. 155. Archiv der Republik, Bundespolizeidirektion in Wien [Zl. 934 G.P.P./33], Sign. 145.682-33. Für Auskünfte und Hinweise ist der Autor Herrn Amtsdirektor Reg.-Rat Heinz Placz zu Dank verpflichtet.
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sofern es organisiert auftritt, steht im Lager der Reaktion, oder sieht dem Kampfe untätig zu. [ab hier konfisziert:] Optimisten – und solche gibt es insbesondere in Wien viele – geben sich der Hoffnung hin, daß die Politik der österreichischen Regierung Dollfuß: die Ausschaltung des Parlaments, die unaufhörlichen Provokationen der Arbeiterschaft, den Faschismus von Österreich fernhalten wird. Wer aber die Entwicklung in Deutschland verfolgt hat und die innere Logik der diktatorischen Politik der Regierung Dollfuß erkennt, muß einsehen, daß diese Taktik einzig und allein die Voraussetzungen für den vollen Sieg des Faschismus schafft. [ab hier freigegeben:] Dollfuß glaubt vielleicht noch zu schieben, aber er wird schon längst vom Faschismus geschoben. Der Konkurrenzkampf im Lager des Faschismus zwischen Heimwehr und Hakenkreuz mag eine österreichische Variation sein, [ab hier konfisziert:] aber es ist außer Zweifel, daß nach Ausmerzung des letzten Restes der Demokratie der siegreiche Faschismus seine Einigung vollziehen, daß sich dann Starhemberg mit Frauenfeld verständigen wird, um politisch und geistig den Anschluß an das Hitler-Deutschland zu vollziehen. [ab hier freigegeben:] Das ist die Linie der Entwicklung, der wir in Österreich entgegensehen. Es kann nur von Nutzen sein, die Situation möglichst klar zu sehen. Was ein Sieg des Faschismus für die Juden Österreichs bedeuten würde, bedarf wohl nicht erst einer Erörterung. Man sollte meinen, daß auch die bürgerlichen Zionisten Österreichs die Ereignisse in Deutschland zu deuten vermögen, aber weit gefehlt! In würdelosester Art bemühen sich sowohl die Revisionisten Robert Strickers (siehe Neue Welt, Nr. 290) als auch die Allgemeinen Zionisten (Die Stimme, Nr. 273), sich der Regierung Dollfuß anzubiedern. Dollfuß als Retter vor dem Faschismus und dem Judenhaß! In der Art eines Ma-Jufis-Juden bemüht man sich, den Puritz davon zu überzeugen, daß wir Juden brave Bürger sind, daß wir, Gott behüte, mit dem Marxismus nicht identifiziert werden dürfen. „Es ist aber unrichtig und wir sagen es zur Steuer der Wahrheit, daß die Juden in Wien der sozialdemokratischen Partei angehören. Das ergibt sich am klarsten aus dem Ausgang der Wahlen in die Kultusgemeinde. Am 4. Dezember 1932 haben die Wiener Juden eine zionistische Mehrheit gewählt und die Sozialdemokraten bilden eine kleine Minderheit.“ („Stimme“ vom Nr. 273.) Hier spricht die „Stimme“ des Herrn Dr. Grünbaum gegen ihr besseres Wissen. Es dürfte ihm bekannt sein, daß von den 36 Mandataren der Kultusgemeinde sich 8 zur Sozialdemokratie bekennen. Das ist wohl keine kleine Minderheit. Die Zahl der Sozialdemokraten in der Wiener Kultusgemeinde wäre noch erheblich höher, wenn wir das allgemeine Wahlrecht hätten und wenn von den „Werktätigen“ bei den letzten Kultuswahlen durch den Pakt mit der „Union“ der Sozialismus nicht verraten worden wäre. Aber, abgesehen davon, wie würdelos ist das Bemühen, dem Dollfuß und dem Kunschak beweisen zu wollen, daß die Juden keine Marxisten sind, daß sie also den Wegbereitern des Faschismus in Österreich als „koscher“ erscheinen! Den Juden Deutschlands predigen sie: Wahret die Würde! Schweiget zumindest, sie
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aber kratzen dem Dollfuß das Kinn, in der Erwartung, daß er ihren Kampf gegen den Marxismus im jüdischen Leben reichlich belohnen wird. [ab hier wieder konfisziert:] Zwei Tage nach Erscheinen dieser Anbiederungsversuche hielt der Bundeskanzler eine Rede, in welcher er über die Juden in demselben gehässigen Tone gesprochen hat wie die Hitler, Goering und Göbbels. Vergeblich sucht man in den beiden jüdischen Zeitungen Wiens auch nur ein einziges kritisches Wort über diese rednerischen Ausschreitungen. Wenn irgendein Sozialdemokrat ein abfälliges Wort über Juden fallen ließe, würden die „Verteidiger des Judentums“ aufmarschieren und die Roten Mores lehren, aber den Bundeskanzler muß man mit äußerster Schonung behandeln. Im Aufruf der „Jüd. Volkspartei“, der von den Herrn Stricker und Dr. Grünbaum gezeichnet ist, findet man nicht die geringste Andeutung über die Gefahr, die der Judenhaß der Christlichsozialen für uns bildet, [ab hier wieder freigegeben:] sondern abermals nur die Aufforderung, sich vom Vorwurf des „Jüdischen Marxismus“ „Jüdischer Kirchenzerstörer“ reinzuwaschen. Diese „klassenlose“ Politik aus der seligen Zeit der „Wiener Morgenzeitung“ ist uns noch in guter Erinnerung. Die Herren werden heute wie damals mit dieser Politik wenig Glück haben, sie erweisen den Juden und dem Zionismus einen schlechten Dienst, wenn sie sich den Antimarxisten einreihen. [...].10
Am 1. Mai 1933 verhinderte die Regierung durch die Abriegelung der Innenstadt (durch das Militär) den traditionellen 1.-Mai-Aufmarsch, am 10. Mai schloß Engelbert Dollfuß die Mitglieder des „Landbundes“ aus seiner Regierungs-Mannschaft aus, die dann (zunächst befristet, schließlich aber dauerhaft) die Gemeinderats- und Landtagswahlen verbot und den Eid der Beamten nicht mehr auf die „demokratische Republik“ ablegen ließ. (Der Bundesparteitag der Christlichsozialen Partei Österreichs vom 5.-7. Mai hatte sich zuvor mit der Politik der Regierung Dollfuß solidarisch erklärt.) Am 20. Mai wurde die paramilitärische „Vaterländische Front“ gegründet, die alle „regierungstreuen Österreicher“ vereinigen sollte, und binnen Monatsfrist folgte sogar das Verbot zweier oppositioneller Parteien: am 26. Mai der KPÖ und am 19. Juni der NSDAP (samt dem „Steirischen Heimatschutz“).11 1933. Die Situation in Deutschland... Bekanntlich waren auch im Deutschen Reich – hier schon am 4. Februar – „zum Schutze des deutschen Volkes“ – sehr schnell zahlreiche Notverordnungen erlassen worden, die nach dem Brand des Reichstages (am 27. Februar) in der Notverordnung (vom 28. Februar) zum „Schutz von Volk und Staat“ und gegen „Verrat am 10 11
L. K., Kratzfuss vor Dollfuss, in: Der jüdische Arbeiter. Organ der Vereinigten zionistisch-sozialistischen Arbeiterorganisation Poale Zion-Hitachduth in Österreich 10 (1933), Nr. 15/16 (15. April), S. 1. Die historischen Eckdaten der Zeit sind wiedergegeben nach: Walter Kleindel, Österreich. Daten zur Geschichte und Kultur, Wien 1978, S. 336–347. Vgl. auch Walter Kleindel, Österreich. Zahlen. Daten. Fakten, hrsg., bearbeitet und ergänzt von Isabella Ackerl und Günter K. Kodek, Wien 2004.
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deutschen Volk und hochverräterische Umtriebe“12 gipfelten. Deutliche Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und zahlreiche Inhaftierungen Oppositioneller (vor allem von Sozialdemokraten und Kommunisten) waren die Folge. Nach den von den Nationalsozialisten siegreich geschlagenen Reichstagswahlen vom 5. März nahm der Reichstag dann am 23. März das „Ermächtigungsgesetz“ an, womit endgültig die Ausschaltung aller demokratischen Spielregeln gegeben war. Und das am 31. März und 7. April in Etappen beschlossene „Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ setzte die nationalsozialistische Zentralgewalt auch in den Ländern durch,13 deren Parlamente schließlich am 30. Jänner 1934 vollends aufgelöst wurden. Die Situation im nunmehr nationalsozialistischen Deutschen Reich war also überaus ähnlich mit den Begebenheiten in Österreich, und so befaßte sich der vom 15. bis 17. April 1933 (Ostern) in Wien stattfindende 3. Bundestag des Österreichischen Arbeiter-Sängerbundes selbstverständlich mit „den tief betrüblichen Berichten aus dem Deutschen Reiche, welche dem Bundestage zur Kenntnis gebracht wurden“.14 Und man sah es als Hauptaufgabe „unserer Bewegung“ an, „alles daranzusetzen, um hier deutsche Verhältnisse unmöglich zu machen. Arbeitersang ist Kampfgesang! Dies war der Grundton dieses Bundestages.“ 15
In der Mai-Nummer der Österreichischen Arbeitersänger-Zeitung kommentierte dann ein Artikel „Wie sieht es in Deutschland aus?“ einen „ebenso erschütternden wie aufrüttelnden Bericht“ eines Korrespondenten und stellte fest: „Nie wird es möglich sein, in einem Lande ohne Meinungsfreiheit, mit schablonisierter Presse und dadurch uniformierter öffentlicher Meinung die tatsächlichen Verhältnisse zu erkennen. Eines nur ist deutlich sichtbar: die systematische Zerstörung aller von der sozialistischen Arbeiterschaft in Jahrzehnten geschaffenen Kulturwerte. Kein Dementi kann die Tatsache aus der Welt schaffen, [...] daß in den Volksbuchhandlungen, in den Privatbibliotheken der Arbeiter gefundene und beschlagnahmte wertvollste Literatur verbrannt wird.“
Weiters sprach der Artikel auch die persönlichen Probleme an, die jeder „NichtNazi“ angesichts der Notwendigkeit hatte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten: „Wer einer marxistischen Organisation oder ihren Nebenverbänden angehört – wird entlassen. Wer den genannten Organisationen als Helfer oder Unterstützender nahesteht – wird entlassen. Wer als freier Gewerkschafter sich in den Betrieben bekennt – wird entlassen. Kann sich irgendein wirtschaftlich abhängiger
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Zit. nach: [Harenberg-Verlag], Chronik des 20. Jahrhunderts, Dortmund 1983, S. 461. Ebenda S. 464f. Eine ausführliche Darstellung siehe bei Hartmut Krones, „Die bürgerlichen Sänger triumphieren.“ 1933 und 1934: Das „Aus“ für den Arbeitergesang in Deutschland und Österreich, in: Musik-Kontexte. Festschrift für HannsWerner-Heister, hrsg. von Thomas Phleps und Wieland Reich, Münster 2011, 1. Bd., S. 428–454. Österreichische Arbeitersänger-Zeitung [ÖASZ] XXXII (1933), Nr. 5, 1. Mai, S. 54 (Sperrungen, wie auch in der Folge, immer durch Unterstreichungen ausgewiesen).
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Mensch vor den Maschen eines solchen Netzes bewahren? Nein! Jeder muß damit rechnen, gefangen zu werden [...].“
Und nach massiven Vorwürfen gegen das deutsche „Bürgertum“, das immer schon „als Klasse dem Arbeiter alles verweigert“ habe und nun endgültig die Macht der „sozialistischen Bewegung“ brechen wolle, kam man zu dem Schluß: „Nachdem auch Sportvereine, Gesangvereine der Vernichtung verfallen, ist offensichtlich, wie die Gleichschaltung vorgenommen werden soll: Ganz Deutschland will man zwingen, nationalsozialistisch zu sein. [...] Jede freie Meinung und damit Freiheit überhaupt ist unterdrückt. Jede bewußte Arbeiterbewegung ist unterdrückt. Alles (Presse, Kunst, Literatur, Schule usw.) wird schematisiert – man sagt gleichgeschaltet. Jede Überprüfung öffentlicher Vorgänge ist ausgeschaltet. Es gibt nur eine Wahrheit: die der Regierung. Es gibt nur eine Gerechtigkeit: die der Regierung. Es gibt nur eine Meinung: die der Regierung [...].“16
... und in Österreich (am Beispiel der Arbeitersänger) Unmittelbar anschließend an diesen Bericht aus dem nationalsozialistischen Deutschland liest man in derselben Nummer der ÖASZ von einer in einem Wiener Vorort brutal durchgeführten „Waffensuche in Archiven von Arbeitergesangvereinen“, welche Meldung durch ein Photo von aufgebrochenen Kästen und herausquellenden Mappen unterstrichen wurde (Abbildung 2): „Der gegenwärtig noch herrschende Kurs macht auch vor der friedlichen Arbeit unserer Vereine nicht halt; wie sicher sich die Herren fühlen, die vermeinen, auf den Spitzen von Bajonetten sitzen zu können, beweist die unausgesetzte Suche nach Waffen. Das nebenstehende Bild zeigt den Archivkasten des Vereines in Liesing bei Wien. Man wird den Herrschaften noch beibringen, daß man mit dem schwer erworbenen Eigentum von Arbeitern so sorgfältig umzugehen hat, als man es bei einem Bourgeois von selbst machen würde. Schwerer Sachschaden wurde angerichtet – gefunden wurde nichts! Das gleiche gilt vom ASB. Wien-Alsergrund; ohne den Obmann zu verständigen, wurde der Kasten aufgebrochen und beträchtlicher Sachschaden angerichtet. [...] Die unterschiedlichen Behörden mögen zur Kenntnis nehmen, daß die Archivkästen unserer Vereine schon räumlich nicht geeignet sind, Waffen welcher Art immer aufzunehmen; unsere Waffe ist das freie Lied, welches mehr denn je von unseren Vereinen anzuwenden wäre. Keine Versammlung ohne das freie Lied !“ 17
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Ebenda S. 54ff. ÖASZ XXXII (1933), Nr. 5, 1. Mai, S. 56 (Fettdruck original).
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Abbildung 2: Waffensuche in Archivkästen von Arbeitersängern. Im Protokoll-Buch des Arbeiter-Sängerbundes Alsergrund ist zu dem oben berichteten Vorfall folgendes zu lesen: „Weiters hat von der Polizei eine Hausdurchsuchung stattgefunden wo bei [!] unser Archiwarkasten beträchtlich beschädigt wurde. Gen. Pinter [der Obmann des Vereines sowie 2. Obmann des Österreichischen Arbeiter-Sänger-bundes] hat deshalb an die Polizei Direktion einen Brief geschrieben worin er um Schadenersatz ansucht weil man den Gen. Obmann hätte verständigen können und man derweil die Schlüssl [!] hätte herschaffen können was man aber unterlassen hat. Weiters wurde berichtet daß das Bundessängerfest welches im Jahre 1934 hätte stattfinden sollen auf unbestimmte Zeit hinaus verschoben wird. [...] Es wurde von den Mitgliedern an den Chormeister das Ersuchen gestellt ein genaues Festprogramm für die 40 jährige Bestand-Feier des Vereines aufzustellen worauf sich Gen. Pahlen bereit erklärte bis zur nächsten Sitzung eine genaue Aufstellung des (Vereines) Programmes zu geben.“ 18 18
Protokoll über die abgehaltene Ausschußsitzung am 28. IV. 1933 in der Schule IX. Marktgasse 2, in: Protokoll-Buch für den Arbeiter Sängerbund – Alsergrund. 19-27 [bis 1933], o. S. Der Autor dankt Frau Helga Müller, der
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Fünf Tage vorher, am 23. April, hatte sich vor dem Wiener Rathaus jenes „Konzert der Vierzigtausend“ entwickelt, das, als Feier zum „Tag der Musikpflege“ geplant, zu einer Demonstration gegen die autoritäre Regierung geworden war.19 „Zehntausende“ besuchten das um 10.30 Uhr stattfindende „Platzkonzert“ vor dem Wiener Rathaus, wo das Kinderfreundelied ebenso erklang wie der Walzer An der schönen blauen Donau. Bürgermeister Seitz wurde mit „Freiheit!“-Rufen empfangen und bejubelt, und schließlich sangen die Massen die „Internationale“ – „spontan, ganz von selbst. Eine Kundgebung von hinreißender Gewalt, ein einzigartiges Bild, dieser Wall hochgestreckter Arme, an jedem die Hand zur Faust geballt. Zehntausende Gesichter, ernst, hart und von eiserner Entschlossenheit. Und dasselbe hinreißende und begeisternde Bild beim Lied der Arbeit, mit dem die herrliche, unvergeßliche Feier beendet wird. [...]. Der Heimmarsch wäre, so wie die Feier selbst, zweifellos ohne jeden Zwischenfall verlaufen, wenn nicht ein paar Scharfmacher unter den Polizeioffizieren auf den Gedanken verfallen wären, sich rasch, bevor sich noch alles in Ruhe und Ordnung auflöste, in Positur zu bringen. [...]. Vor den Museen und in der Babenbergerstraße kam die Polizeikavallerie zur ,Entfaltung‘. Dort wurden die friedlichen Spaziergänger auseinandergetrieben. Die Polizeiattacke wurde mit einer ,Forschheit‘ geritten, die jeder Beschreibung spottet. Frauen mit Kindern wurden unbarmherzig angeritten, und wer nicht schneller als die Pferde war, auf den sauste der Gummiknüttel nieder. [...] aber noch lange hörte man aus der Mariahilfer Straße die Freiheitrufe der nach Hause gehenden Spaziergänger.“20
Bereits am Samstag davor, am 22. April, hatten sich acht Chöre des Wiener Arbeiter-Sängerbundes mit Konzerten an den Veranstaltungen des „Tages der Musikpflege“ beteiligt: der ASB. Alsergrund, die „Chorgruppe Blitzrad, Ferrowatt, Gräf und Stift“, der Frauenchor des ASB. Kagran,21 der ASB. Stephenson, der ASB. Staatsdruckerei, der „MGV. der städtischen Straßenbahner und Frauenchor“ und der ASB. Brauhaus der Stadt Wien; weiters fand im Kleinen Musikvereinssaal (heute Brahmssaal) ein „Lehrer= und Schülerkonzert des Vereines für volkstümliche Musikpflege“ statt.
19 20 21
Tochter des späteren Bezirksvorstehers des IX. Bezirkes (Alsergrund), Karl Schmiedbauer, für die leihweise Überlassung des Protokollbuches. Schmiedbauer hat das Buch nach dem Zweiten Weltkrieg von Josef Pinter, dem seinerzeitigen (am 21. Jänner 1933 gewählten) Obmann des Vereines sowie langjährigen Mitglied des Bundesvorstandes, erhalten. – Dr. Kurt Pahlen war am 20. Jänner 1932 zum Chormeister der Vereinigung gewählt worden. Zu diesem „Konzert“ siehe auch den Eröffnungs-Artikel von Hartmut Krones, hier S. 17. [N. N.], Riesenkundgebung vor dem Rathaus, in: Arbeiter=Zeitung 46 (1933), Nr. 112 (24. April), S. 1. Über die schon im 19. Jahrhundert erfolgte breite Einbeziehung von Frauen in den Arbeitersängerbund (auch in vielen gemischten Chören) siehe Hartmut Krones, „Wir gestehen den Frauen dieselben Rechte wie den Männern zu.“ Arbeiterinnengesang in Österreich, in: Frauen hör- und sichtbar machen ... 20 Jahre „Frau und Musik“ an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien [Festschrift Elena Ostleitner], hrsg. von Sarah Chaker und Ann-Kathrin Erdélyi, Wien 2010, S. 85–105. – Hier sei daran erinnert, daß der („bürgerliche“) „Ostmärkische [!] Sängerbund“ (später Österreichischer Sängerbund) Frauen erst ab der Saison 1932/33 zum Singen „zuließ“, sie aber nach wie vor von allen Funktionen ausschloß.
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Die Regierung, die soeben (am 21. April) ein allgemeines Streikverbot erlassen hatte und der das nun zur „Riesenkundgebung“ umfunktionierte „Konzert der Vierzigtausend“ ein Dorn im Auge war, wurde noch autoritärer, wie die nun folgende Verhinderung des 1.-Mai-Aufmasches und die ersten Parteien-Verbote deutlich dokumentieren (siehe oben). Selbst kleine Chor-Vereinigungen in den Bundesländern wurden Ziel der Schikanen. So nahm am 25. Juni 1933 ein Polizist einem Sänger des AGV. Rohrbach an der Lafnitz in einem Gasthaus, in dem eine „christlichsoziale“ Versammlung stattfand, das „Bundessängerabzeichen“ des ÖASB weg; „wenn er es wieder haben wolle, dann solle er auf den Posten kommen. Er könne dann S 20.- zahlen oder einige Tage eingesperrt werden! Der Sangesgenosse hat eine Beschwerde an die Bezirkshauptmannschaft Friedberg gerichtet, welche bis jetzt nicht erledigt wurde. Wir wollen dem Eifer der Bezirkshauptmannschaft ein wenig nachhelfen und vor allem feststellen, daß unser Abzeichen behördlich genehmigt wurde.“22
In St. Pölten hinwiederum verbot die Behörde anläßlich der Sonnwendfeier das Solidaritätslied von Hanns Eisler, und „von dem uralten Arbeiterchor ,Arbeitergruß‘ [...] wurde die zweite Strophe untersagt! Anscheinend ist in St. Pölten die Bundesverfassung gänzlich unbekannt, welche ausspricht: ,Jede Zensur ist aufgehoben.‘ Der Beamte, der dieses vollkommen gesetzwidrige Verbot aussprach, hat sich gar nicht die Mühe genommen, festzustellen, wie alt der ,Arbeitergruß‘ eigentlich ist, sonst wäre er daraufgekommen, daß dieses Lied schon in der dunkelsten Monarchie unbeanstandet gesungen werden durfte. Das ,Solidaritätslied‘ wurde in Hunderten von Veranstaltungen – auch nach Aufbruch der ,erwachenden Österreicher‘ – anstandslos auch in Anwesenheit von Polizeibeamten vorgetragen! Verantwortlich für diese gesetzlich kaum zu rechtfertigende Weisung ist der Sicherheitsdirektor für Niederösterreich, Dr. Karwinsky, welcher den überwachenden Polizeirat Dr. Haushofer auf dessen Anfrage beauftragte, die Aufführung der beiden Chöre ganz, beziehungsweise teilweise zu verhindern. Da nur der Text, nicht aber die Melodie verboten wurde, so wäre dem Vortrage der Melodie nichts im Wege gestanden. Mancher Chor hört sich auf ,la, la‘ auch ganz schön an [...].“ 23
Die Schikanen nahmen kein Ende. In ihrem Sinne forderte Engelbert Dollfuß am 11. September 1933 im Rahmen einer auf dem Wiener Trabrennplatz stattfindenden Kundgebung der „Vaterländischen Front“, als dessen Symbol jetzt das „Krukkenkreuz“ fungierte, einen „sozialen, christlichen und deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage und starker autoritärer Führung“24. Am 21. September 1933 bildete er seine Regierung um, die nun zu einem überwiegenden Maß aus Mitgliedern der „Vaterländischen Front“ und der „Heimwehr“ bestand, zwei Tage später beschloß diese Regierung die Verordnung zur „Errichtung von Anhaltela22 23 24
ÖASZ XXXII (1933), Nr. 8 (1. August), S. 115. Ebenda. Zit. nach Kleindel, Österreich. Daten zur Geschichte und Kultur (Anm. 11), S. 343.
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gern zur Internierung politischer Häftlinge“, deren erstes – im niederösterreichischen Wöllersdorf – bereits im Oktober die ersten Häftlinge aufnahm. (Am 1. Mai 1934 etwa, nach dem Verbot aller sozialdemokratischen Vereinigungen, befanden sich dann 508 Sozialdemokraten und Kommunisten sowie 323 Nationalsozialisten in dem Lager. Im übrigen war der niederösterreichische Hofrat Rudolf Sieczynski, der auch als Präsident des Komponistenbundes hervortrat und u. a. das Lied Wien, Wien, nur du allein verfaßt hatte, der Leiter der „Internierungsstation“ dieses Lagers.) Im Oktober 1933 galt es dann, das 40jährige Bestehen des ASB Alsergrund zu feiern; die Vorbereitungen hiezu sind im Vereins-Protokoll nachzulesen: „Nachdem Gen. Dr. Pahlen soeben erschienen ist, wird der Punkt: 40 Jahrfeier vorverlegt und Gen. Pinter sowie der gesamte Ausschuß sprechen ausführlich darüber, worauf Gen. Drewo [er war „Subkassier“] den Antrag stellt, das FestKonzert abzuhalten, was 1stimmig angenommen wurde. Gen Dr. Pahlen wurde beauftragt den Saal der Gastgewerbe-Angestellten so billig als möglich für einem [!] Sonntag, Ende November oder Anfang Dezember anzufragen und eventuell aufzunehmen. Auch wurde von der beiziehung eines Orchester abstand genommen. Dr. Pahlen berichtet ausführlich über das künstlerische Programm: eine Abteilung für ,Frohsinn und Schwermut‘ und eine Abteilung über ,Die Entwicklung des österr. Freiheitsliedes‘[.] Gen. Pinter spricht im Anschlusse über die Durchführung einer Massenveranstaltung, um für den Verein zu werben und zugleich auch für das kommende Konzert Propaganda zu machen. Er entwickelt in kurzen Zügen das Projekt: die Veranstaltung müsse bald stattfinden und zwar im Stadion. Gen. Pinter schlägt den 8. Oktober vor. Da der Verein aus eigenen Kräften zu schwach ist, um eine solche Massenveranstaltung durchzuführen, habe er sich mit dem Askö. welcher in Massenveranstaltungen große Erfahrung besitzt, in Verbindung gesetzt, um den technischen und finanziellen Apparat zu Verfügung zu erhalten. Sekretär Gastgeb habe ihm weitestgehendste [!] Unterstützung zugesagt, desgleichen die Gauleitung Wien des Ö.A.S.B. Der Gau wirke in seiner Gesamtheit mit. Mit der Organisation Wien der Partei habe Gen. Pinter ebenfalls verhandelt; Nat. Rat Richter habe zugesagt, das [!] die Karten durch die Sektionen der Partei, in ganz Wien vertrieben werden. Außerdem wird eine Tanzgruppe und die Arbeiter-Trachtenvereine Wiens, ferner die beiden Straßenbahnermusiken mitwirken. An Kosten welche er detailliert bekanntgibt, seien S 8.000.- vorgesehen, denen an Einnahmen bei niedersten Eintrittspreisen S 9.000.- gegenüberstehen. Ein Betrag als Reingewinn ergibt, der dem Verein auf mehrere Jahre einen Zuschuß zu seinen laufenden Ausgaben ermöglicht. Gen. Pinter verweist noch auf die grossen Propagandamöglichkeiten dieser Veranstaltung für den Verein und die ArbeiterSängerbewegung. Diese Anregung ergibt eine lebhafte Debatte, an der sich der gesamte Vorstand beteiligt. Es werden verschiedene Bedenken laut, ob der Verein finanziell dieser Sache gewachsen ist. Pinter erwidert auf alle Anfragen und Bedenken in eingehendster Weise. Schließlich wurde die Anregung zum Antrag auf Durchführung dieser Veranstaltung erhoben, was einstimmig angenommen wurde. Gen. Pinter wurde ermächtigt, die notwendigen Verhandlungen namens des Vereines zu
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führen und fallweise Bericht zu erstatten. Die Eintrittspreise werden, um eine Massenbeteiligung sicherzustellen, wie folgt festgesetzt: Stehplätze 10 gr [Groschen] Sitzplätze 30 gr.“25
Sechs Tage später fand die nächste Sitzung statt, und auch hier „referiert [Gen. Pinter] eingehend [über die] Feier im Stadion [und] über die bisherigen Vorarbeiten und schlägt im Einvernehmen mit der Gauleitung folgendes Festprogramm vor: ,Das junge Wien in Lied und Tanz‘ Mitwirkend: 2 Straßenbahner Musikkapellen, Arbeitertrachten-Verein Gau Wien des Ö.A.S.B., Tanzgruppen. Festredner: Bürgermeister Seitz. I. Musik II. Die Arbeit (Männerchor) III. Tanzvorführungen nach den [!] Morgenblätter-Walzer IV. Solidaritätslied Festrede V. Trotzlied (Männerchor) VI. Volkstänze in Originaltracht VII. An der schönen blauen Donau (Männerchor) VIII. Tanzvorführung ,Rosen aus dem Süden‘ IX. Fahnenschwur (Gemischter Chor) X. Brüder zur Sonne, zur Freiheit. (Massenlied) XI. Kinderfreundemarsch XII. Kinderfreundemarsch (Massenchor.) Alle in Betracht kommenden Mitwirkenden haben zugesagt, desgleichen Bürgermeister Seitz als Festredner. Gen. Pinter berichtet ferner, daß er nunmehr die Anmeldung zur Lustbarkeitsabgabe und die Anzeige bei der Polizei durchführen wird. Das Stadion wurde bereits für den 8 Oktober aufgenommen und kostet S 1.500.- Einige Mitglieder des Festausschußes [!] der Olympiade werden die technischen Arbeiten durchführen.“26
In der nächsten Sitzung vom 27. September, in der Pinter über die „erledigten Vorarbeiten für das Festkonzert und über den künstlerischen Teil“ berichtete, wurde nur mehr beschlossen, daß der Verein vor der Festrede den Chor Morgenrot von Otto de Nobel singen werde, was auch die Zustimmung „vom Dr. Pahlen“ fand. Für das Festkonzert „im Saale der Gastgewerbeangestellten“ wurde der 14. Jänner 1934 festgesetzt. Doch zu diesem sollte es nicht mehr kommen. Das ebenfalls in dem Protokollbuch erhaltene „Protokoll über die Sitzung des Festkomitees für das Konzert im Stadion“ ist nicht datiert, es dokumentiert die Zuständigkeiten für die Auftritte der verschiedenen Vereinigungen wie der „ArbeiterTrachtler“ oder der „Turnerinnen“ (die „eine Probe mit dem Kapellmeister“ benötigen), legt die Vereinbarungen mit den Kapellmeistern der mitwirkenden Musiker sowie bezüglich der Transporte ebenso nieder wie die Absprachen zur Bedienung der Lautsprecheranlage sowie zu den Ordnerdiensten. Beschlossen wurde weiters, daß die Programmtexte gedruckt werden, daß der „Gau Wien der Arbeitersänger“ S 1.000.- für Fahrscheine erhält und daß die 200 Ordner diese (zusätzlich) vergütet bekommen.
25 26
Protokoll über die am 14. September [1933] abgehaltene Ausschußsitzung in der Schule IX. Marktgasse 2, in: Protokoll-Buch für den Arbeiter Sängerbund – Alsergrund (Anm. 18), o. S. Protokoll über die am 20. September [1933] nach der Übung abgehaltenen [!] außerordentlichen Ausschußsitzung in der Schule. Ebenda.
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Am 4. Oktober 1933 erschien – unter der Überschrift „Ein Fest der Arbeitersänger und der Partei“ – in der Arbeiter=Zeitung ein ausführlicher Artikel von Josef Pinter, im Anschluß daran wurden noch Details des „Festes“ bekanntgegeben (Abbildung 3). Pinters hymnische Vorschau lautet: „Nächsten Sonntag feiert einer unserer ältesten Arbeitergesangvereine, der Arbeitersängerbund Alsergrund, seinen vierzigjährigen Bestand. Es ist ein Stück verkörperte Parteigeschichte, ein Symbol des kulturellen Aufstieges der Arbeiterklasse. Den steilen und mühevollen Weg der Partei im neunten Bezirk von den bescheidensten Anfängen bis zum Sieg hat der jubilierende Verein in guten und bösen Tagen begleitet; im Wandel der Generationen immer treu dem Wahlspruch der Gründer: Die Partei über alles! Dieser Leitspruch hat ihn vor dem Abgleiten in die Kunstpflege nach Art der bürgerlichen Liedertafler bewahrt. Dem Arbeitersängerbund Innere Stadt verdankt der Verein sein Entstehen, aber wenige Jahre später erfolgte die Verschmelzung beider Vereine; unser alter Oskar Schröder stand auch bei dieser Gründung Pate. Die Mitglieder des Vereines waren nicht Sänger schlechtweg, sie waren die eifrigsten und unermüdlichsten Agitatoren der Partei. Es gab ebensowenig eine Aktion wie eine festliche Veranstaltung, wo nicht die Sänger in gewohnter Pflichtreue zur Stelle gewesen wären; sie vergaßen aber auch nicht, ihre Pflicht als Gewerkschafter und Mithelfer aller Zweigorganisationen der Partei zu erfüllen. Die alten Genossen erkannten den ungeheuren propagandistischen Wert des freien Liedes; was die Herrschenden dem Redner verboten, das mußten die in Töne gebannten Dichterworte sagen. Die Nachkriegszeit, die der Partei so viel an Werbemöglichkeiten brachte, ließ den Arbeitersang in seinem politischen Wirken ein wenig in den Hintergrund treten. Kurzsichtige wähnten die Freiheit schon endgültig gewonnen, der Arbeitersang wurde auf rein künstlerisches Gebiet verwiesen, und nur bei Parteifesten erinnerte man sich, daß Arbeiterdichter und =komponisten nachgerückt sind und der Masse in neuer Form und neuer Sprache Neues zu sagen haben. Die Alsergrunder Arbeitersänger haben sich der neuen Zeitströmung anzupassen gewußt; ihre Führer waren da ihre Chormeister, der unvergessene, 1920 gestorbene Karl Cizek, dann Eduard Kolbe und jetzt Dr. Kurt Pahlen. Ihrem Wirken ist es zuzuschreiben, wenn heute der Sängerbund Alsergrund den besten Vereinen Wiens zuzuzählen ist. Aber über dem Studium der Werke großer Meister und der modernen Literatur haben die Alsergrunder Sänger niemals vergessen, daß die Wurzel ihrer Kraft in der Partei ruht. Sie eilen von Versammlung zu Versammlung, um mit einem Freiheitschor die Kämpfenden anzueifern; unermüdlich propagieren sie die Aktion ,Massenlied‘, die von den Alsergrunder Arbeitersängern als erste in die Tat umgesetzt wurde. In Dutzenden Sektionsabenden schulten sie vor allem die junge Parteimitgliedschaft im freien Lied mit dem Erfolg, daß heute in diesem Bezirk das freie Lied wieder seine Heimstätte gefunden hat. Viele Nörgler, welche im Arbeitersang nur eine Form müßiger Zerstreuung gesehen haben, wurden durch die harten Tatsachen eines Besseren belehrt: daß der Arbeitersang zum Kampfinstrument der Partei werden kann, wenn man es versteht, dieses
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Instrument auch richtig anzuwenden, wie es die Alten in den Anfängen der Partei so trefflich verstanden haben. So wird sich die große Gemeinde der Wiener Sozialdemokratie am 8. Oktober mit dem jubilierenden Verein im Stadion zum gemeinsamen Glaubensbekenntnis vereinigen: Treu der Partei, treu der Sache des Sozialismus! Es lebe der Trotz und die Kraft – mit uns das Volk, mit uns der Sieg! J. P.“27
Abbildung 3: Aus der Ankündigung des Konzertes vom 8. Oktober 1933 in der Arbeiter=Zeitung vom 4. Oktober 1933.
Zwei Tage später machte Hans Gastgeb in der Arbeiter=Zeitung unter der Überschrift „Wie ein Sängerfest entsteht“ eine groß aufgemachte Werbung für die Veranstaltung: „Wer könnte sich dem gewaltigen Eindruck entziehen, den das vollbesetzte Stadion auf die Besucher macht! Wenn die Massen den Akteuren zujubeln, denkt kaum jemand an die Arbeit und die Sorgen, die einer solchen Veranstaltung vorausgehen, sozusagen als notwendiges Uebel. Wer wagt, gewinnt! Zuerst der Beschluß: Die Vierzigjahrfeier des Arbeitersängerbundes Alsergrund wird am 8. Oktober im Stadion abgehalten. Ein solcher Beschluß ist rasch gefaßt, die Ausführung aber zieht sich ein wenig in die Länge. Zuerst muß man das Stadion mieten. Die Schwierigkeiten beginnen. Für diesen Tag ist das Stadion bereits vergeben. Sehr peinlich. An wen ist es vergeben? An den Askö 28, der an diesem Tage ein Sportfest veranstalten will. Eine Erleichterung. Arbeiterorganisationen verständigen sich leicht. Der Askö verzichtet zugunsten der Arbeitersänger und er sagt obendrein seine Unterstützung bei der Feier zu. Es geht ja um eine gemeinsame Veranstaltung, denn wenn die Arbeitersänger eine Vierzigjahrfeier haben, so ist das eine Sache der gesamten Wiener Arbeiterschaft. Die Arbeitersänger laden alle ein, an ihrem Jubelfest teilzunehmen. [...]. Das Programm ist mit Hilfe des Gaues Wien der Arbeitersänger bald zusammengestellt. Massenchöre! Wie schön sich das anhört. Aber viertausend Sänger und Sängerinnen wollen verständigt sein. Vor der Aufführung findet noch eine Verständigungsprobe statt; der Gesang von viertausend Menschen muß zu27 28
Josef Pinter, Ein Fest der Arbeitersänger und der Partei, in: Arbeiter=Zeitung 46 (1933), Nr. 274 (4. Oktober), S. 7. Arbeiterbund für Sport und Körperkultur in Österreich.
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sammenklingen, aber diese Sorge fällt den Gauchormeistern zu. Um die Veranstaltung auszuschmücken, haben sich auch die Turnerinnen des Wiener Arbeiter=Turn= und Sportvereines zur Verfügung gestellt; sie werden einen Tanz vorführen. Eine einfache Sache scheint dies zu sein, sie muß aber geprobt werden. Die Zusammenarbeit zwischen Kapellmeister und Darstellenden erfordert Zeit. Die Mitglieder der Arbeitertrachtenvereine werden Volkstänze aufführen. Auch hier wieder gibt es eine Unmenge von Vorbereitungen [...]. Tragt das eure dazu bei, daß die Augen dieser Braven am 8. d. leuchten können, und auch eure Herzen höher schlagen, wenn das dichtgefüllte Stadion gemeinsam singt: Brüder, in eins nun die Hände, Brüder, das Sterben verlacht, Ewig der Knechtschaft ein Ende, heilig die letzte Schlacht.“29
Abbildung 4: Programm des Festkonzertes vom 8. Oktober 1933.
29
G.[astgeb], Wie ein Sängerfest entsteht, in: Arbeiter=Zeitung 46 (1933), Nr. 276 (6. Oktober), S. 5.
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Um erneut auf das Fest hinzuweisen, erschien in der Arbeiter=Zeitung vom 7. Oktober noch ein Artikel „Aus der Heldenzeit des Arbeitersanges“, aus dem ebenfalls Teile zitiert sein sollen: „Am Sonntag findet im Stadion die Vierzigjahrfeier des Arbeitersängerbundes Alsergrund statt. Da sitzen wir an einem Kaffeehaustisch beisammen. Der Mann mir gegenüber ist ,nur‘ ein Arbeitersänger, allerdings einer, der dieser Bewegung seit vier Jahrzehnten dient – noch länger, als er der Arbeiter=Zeitung gedient hat –, ein berühmter Baß der Freien Typographia: Josef Wipplinger. Das Jubiläum des Arbeitersängerbundes Alsergrund ist Anlaß genug, über die Arbeitergesangvereine zu reden. [...]. In der Zeit des Ausnahmezustandes war die k. k. Polizei gewaltig hinter den ,subversiven Elementen‘ und ,gemeingefährlichen Agitatoren‘ der Arbeiterschaft her. [...]. Konnte die Polizei dieser friedlichen Tätigkeit auch nichts anhaben, so ahnte sie doch, daß sich da irgendwelche verbotenen Dinge abspielten: Polizei und Staatsgewalt wurden nervös. Sie begannen herumzuschnüffeln und kamen also darauf, daß es Freiheitslieder gibt, die eine Versammlungsrede mindestens aufwiegen. Das Reden aber war verboten. Also mußte auch das Singen verboten oder doch zumindest eingeschränkt werden. Es begann das Konfiszieren der Liedertexte. Daß eine hohe k. k. Behörde das öffentliche Singen der dritten Strophe des Liedes ,Noch ist die Freiheit nicht verloren‘ verbot, wird man begreifen, wenn man den Text kennt, der lautet: Laßt euch die Kette nicht bekümmern Die noch an eurem Arme klirrt Zwing=Uri liegt in Schutt und Trümmern, sobald ein Tell geboren wird. Die blanke Kette ist für Toren, für freie Männer ist das Schwert. Noch ist die Freiheit nicht verloren, Solang ein Herz sie noch begehrt. [...] Den Vogel aber schoß jener Regierungsvertreter ab, der am 28. November 1891 mit einem Konfiskationsbescheid bei der Gründungsliedertafel der Freien Typographia erschien und unter anderm das Singen der Kavatine aus der alten, berühmten Oper von Halévy, ,Die Jüdin‘, verbot. Die konfiszierte Stelle lautete: Wenn ew’ger Haß, blühende Rache Sie Christenpflicht verachten lehrt, Werde, so schwer sie sich vergangen, Mein Gott, ihnen Gnade von dir gewährt. Würdig der heiligen Lehre zu sein, Soll jeder Christ auch dem Feinde verzeihn. Das Erinnern der Christen an diese Christenpflicht – war staatsgefährlich!
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[...]. So gingen heitere, aber viel mehr schwere Tage über die Gesangvereine hin. Wer sich aus ihrer Geschichte erzählen läßt, der hört ein Stück Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. [...]“30
Weiters wurde berichtet, daß der Obmann der „Freien Typographia“, Karl Höger, der „hohen Statthalterei“ daraufhin eine – hier vollständig zitierte – Eingabe sandte, die von Erfolg gekrönt war: Das Verbot wurde mit Bescheid vom 26. Juli 1892 aufgehoben. Am 8. Oktober 1933, „um 9–11 Uhr“, mußte Josef Pinter laut polizeilicher Ladung durch das Bezirks-Polizeikommissariat Alsergrund vom 7. Oktober noch „zwecks Auskunft beim Journalbeamten Kommissariat Prater31 bestimmt erscheinen“, ehe um 15 Uhr das unter dem Motto „Das junge Wien in Lied und Tanz“ stehende „Festkonzert im Stadion“ (Abbildung 4) mit dem Einleitungs-Marsch beginnen konnte. Nach der Hymne „Die Arbeit“, dem Männerchor „Wer ist frei?“, „Tanzvorführungen nach dem ,Morgenblätter-Walzer‘ von Johann Strauß“, dem vom „Massenchor“ (Abbildung 5) gesungenen „Solidaritätslied“ und dem gemischten Chor „Morgenrot“ begrüßte Josef Pinter im Namen des jubilierenden Vereins:
Abbildung 5: Der „Massenchor“ singt Hanns Eislers Solidaritätslied. 30 31
–j– [Hans Bujak], Aus der Heldenzeit des Arbeitersanges, in: Arbeiter=Zeitung 46 (1933), Nr. 277 (7. Oktober), S. 2. Über die vorgestempelte Adresse (des Kommissariats Alsergrund) „Boltzmanngasse 20“ wurde hs. „Ausstellungsst.“ eingefügt. – Die hier und in der Folge wiedergegebenen, den ASB. Alsergrund betreffenden Polizei-Dokumente befinden sich ebenso wie die Kopie der Begrüßungs-Ansprache von Josef Pinter sowie die ohne Seitenangabe zitierten Zeitungsartikel im Protokoll-Buch für den Arbeiter Sängerbund – Alsergrund. 19–27 (Anm. 18).
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„Parteigenossinnen und Genossen! Werte Festgäste! Namens des ASB Alsergrund, der heute auf seinen 40jähr. Bestand zurückblickt, begrüsse ich Sie alle auf das herzlichste. Unser besonderer Gruss gilt den in grosser Zahl anwesenden Mandataren der Partei, den Mitgliedern des Parteivorstandes; aber auch einige Delegierte des Internationalen Gewerkschaftsbundes mit dem Generalsekretär Gen. Schevenels (Holland) an der Spitze weilen in unserer Mitte; wollen die Genossen angesichts dieser grandiosen Festversammlung in ihrer Heimat berichten, dass das Wiener Proletariat trotzig und ungebeugt dasteht, trotz alledem. Ich begrüsse unsere treuen Mitkämpfer, die künstlerischen Wegbahner unseres Vereines, die Chormeister Gen. Mayer und Kolbe, unseren Veteran, den Gen. [gestrichen: Oskar] Schröder; allen Mitwirkenden an unserem heutigen Feste, den Strassenbahnermusikern, den Turnern und den Tänzern der Volkstrachtenvereine, dem Arbeiter-Radiobund und nicht zuletzt dem Gau Wien unserer Arbeitersänger sei Dank und Gruss entboten. 40 Jahre Arbeitersang bedeutet 40 Jahre Parteiarbeit, ist 40 Jahre Dienst an der musikalischen Erziehung und Geschmacksbildung des Proletariats, ist 40 Jahre redlichsten Strebens nach Aufwärts und Vorwärts! So soll uns dieser festliche Tag mahnen, in der Rückschau über die zurückgelegte Wegstrecke der Arbeit für die Zukunft zu gedenken. Vor dieser riesigen Festgemeinde, deren Gegenwart uns Ehre und Ansporn zugleich ist, wollen wir gleich unseren Gründern und Vorkämpfern das vor 40 Jahren abgelegte Gelöbnis erneuern und wiederholen: Treu der Partei, treu dem Sozialismus! Mit besonderer Freude begrüssen wir den Vorsitzenden des Parteivorstandes, unseren frei gewählten Führer Bürgermeister Gen. Seitz in unserer Mitte; er hat sich bereit erklärt, die Festrede zu halten. Ich bitte ihn, das Wort zu nehmen:“
Nach seiner „Festrede“ (Abbildung 6), deren Inhalt der weiter unten zitierte Bericht der Arbeiter=Zeitung zusammenfaßt, heftete Bürgermeister Seitz ein von der Wiener Organisation der Sozialdemokratischen Partei Österreichs gestiftetes Fahnenband an die Fahne des jubilierenden Vereines (Abbildung 7). Dann entbot der Generalsekretär des internationalen Gewerkschaftsbundes, der Belgier Walter Schevenels, „in flüssiger deutscher Rede die Grüße des internationalen Gewerkschaftsbundes“32. Schließlich richtete noch der Obmann der SPÖ Alsergrund, Hans Schabes, einige Worte an den jubilierenden Verein, ehe die weiteren Punkte des musikalischen und tänzerischen Programms das Fest abrundeten.
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[N. N.], Eine imposante Arbeiterfeier, in: Der Morgen 24 (1933), 9. Oktober 1933.
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Abbildung 6: Festrede von Bürgermeister Karl Seitz, vor ihm der ASB. Alsergrund.
Abbildung 7: Bürgermeister Karl Seitz heftet ein rotes Fahnenband an die Fahne des ASB. Alsergrund.
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David Josef Bach, ab 1919 Leiter der „Sozialdemokratischen Kunststelle“, berichtete am nächsten Tag in der Arbeiter=Zeitung auf der 1. Seite mit hymnischen Worten über das Festkonzert. Er hatte die Rechnung aber ohne die „Christlichsoziale“ Zensur gemacht, die sowohl die Überschrift des Artikels als auch zwei Passagen aus der Rede des Wiener Bürgermeisters Karl Seitz „konfiszierte“.33 So erschien die Arbeiter=Zeitung wieder mit jener Kopfzeile auf der Titelseite, die schon einige Male notwendig wurde – so auch am Vortag, als ein Absatz aus einem Bericht über die in Wien tagende „Gewerkschaftsinternationale“ „konfisziert“ und durch einen weißen Fleck ersetzt wurde: „Unter verschärfter Vorlagepflicht Nach der Konfiskation 2. Auflage“ Und unter dem Titel Arbeiter=Zeitung (samt Untertitel „Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs“) sowie den Angaben zu Verkaufspreisen und Schriftleitung prangte ein breiter weißer Streifen, der die „konfiszierte“ Überschrift des Artikels ersetzte: „Massenfest – Massenfreude – Massenwille“ Dieser, der autoritären „christlichsozialen“ Regierung nicht genehmen und von ihren Befehlsempfängern verbotenen Überschrift folgte Bachs Bericht: „Das war gestern ein großes Erlebnis, ein größeres, gestehen wir es, als viele von uns von einem Arbeitersängerfest erwartet hatten. Mit diesem Massenfest voll Massenfreude und Massentrotz hat der Arbeitersang den Ehrenplatz in der Arbeiterbewegung wiedergewonnen, den er in den Zeiten härtesten Kampfes stets innegehabt hat. Sechzigtausend Menschen an einem strahlenden Sonntag im ragenden Rund des Stadions zu vereinen bloß durch das Lied – und sie wirklich zu vereinen, zu verschmelzen zu einer Einheit, einer Gemeinsamkeit des Kampfwillens und des Kulturwillens: das ist eine gewaltige Leistung, die den Veranstaltern alle Ehre macht, die aber auch der Hörerschaft, dieser durch die Sozialdemokratie erzogenen, dieser kulturwilligen, feinfühligen, wunderbar disziplinierten Wiener Arbeiterschaft zum höchsten Ruhm gereicht. Und was das Lied, unterbrochen nur durch einzelne erfreuliche Darbietungen für das Auge, von den Gefühlen dieser Wiener Arbeitermassen ausdrückte, das fand seine gesteigerte Zusammenfassung in der prachtvollen Festrede des Bürgermeisters Seitz. Selten hat ein Mann so kraftvoll und zu gleich so fein gesagt, was Sechzigtausend hören wollten; und vielleicht noch nie ist es einem Redner gelungen, eine so ungeheure Masse derart zum Mitschwingen zu bringen, daß kein einziges Wort einer aus Leidenschaft und Ironie sorgfältig abgewogenen Rede in dem riesigen Stadion verloren ging. Wie diese Massen jede Anspielung verstanden und durch Beifall unterstrichen; wie dann der Vertreter der Internationale, Schevenels, den Wiener Arbeitern die Solidarität des Weltproletariats aussprach; und wie das Lied der Arbeit, inbrünstiger gesungen als je, die Massen zu einer gewaltigen Einheit verband; wie schließlich die Menge nach Schluß des 33
Ein „unkonfiszierter“, also vollständiger Abzug des Artikels findet sich im Protokoll-Buch für den Arbeiter Sängerbund – Alsergrund (Anm. 18).
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Festes dem Bürgermeister des roten Wien eine beispiellose Kundgebung der Liebe und Treue bereitete und die Menschen dann mit frohen Gesichtern und ermutigten Herzen heimwärtszogen – da hatte die Masse wieder sich selber gefühlt und es war ein Tag des Stolzes und der Freude gewesen. Das Festkonzert im Stadion. Der Arbeitersängerbund Alsergrund hat mit seinem Fest Glück gehabt. An dem Ehrentag seines vierzigjährigen Bestandes hat er nicht nur strahlend schönes Wetter, nicht nur ein Publikum von 60.000 festesfrohen Menschen in der schönsten und größten Arena Wiens zu Gast gehabt und nicht nur ein erlesenes künstlerisches Programm geboten, sein Fest ist zugleich der Anlaß einer prächtigen Kundgebung des Gesamtproletariats geworden. Außer den Vertretern der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen Oesterreichs konnten die Festveranstalter auch ausländische Gäste begrüßen [...]. Die Rede an die Massen. Der Gauobmannstellvertreter des Gaues Wien der Arbeitersänger Josef Pinter, in dessen rührigen und bewährten Händen die Leitung der Veranstaltung lag, begrüßte den jubilierenden Verein und die Gäste. Die Festrede hielt Seitz. Er war vom Sprecher mit den Worten begrüßt worden: ,Das Wort hat nun unser freigewählter Führer Seitz‘, worauf Seitz, beinahe nach jedem Satz vom Beifall der Sechzigtausend unterbrochen, ausführte: Ich bin kein ,Führer‘, ich bin nur heute euer Sprecher. (Lebhafter Beifall.) Ich werde auch keine neuen großen Parolen geben und mich nicht mit hochtrabenden Redensarten aufspielen. Ich werde hier nur aussprechen, was Sie alle empfinden, und was noch wichtiger ist in dieser Zeit, was Sie alle wollen. (Minutenlang andauernde brausende Rufe: Freiheit, Freiheit, Freiheit!) Und ich werde aussprechen, wozu Sie alle entschlossen sind. Wir feiern hier das Fest eines Arbeitergesangvereines eines Bezirkes von Wien. Man kann sagen ein schöner, sonniger Sonntag hat diese sechzigtausend Menschen hierher gelockt. Aber die Massen in der größten Arena dieser Stadt, sie sind gekommen, weil vor kurzem andre ,Massen‘ hier waren (Stürmische Rufe: Nieder mit dem Fascismus!), denen nun gezeigt werden soll, daß es noch ein größeres Wien gibt, das rote Wien. (Jubelnder Beifall.) Solange es eine Menschheitsgeschichte gibt, hören wir, daß der Gesang die Massenbewegungen begleitet, die Gefühle der Massen, ihre Ideale, ihre Kampfbereitschaft zum Ausdruck bringt. Besonders beim deutschen Volke erfüllt die Massen beim Freiheitskampf das Lied, der deutsche Männersang, entstanden vor allem in jenen Zeiten, als das deutsche Volk darniederlag in Unfreiheit, bedroht von feindlichen Gewalten. Da fand es neuen Schwung im Liede, da erglühte die Idee der Freiheit in den Tönen des Gesanges[.] Den Weg des Proletariats vom geknechteten, ausgebeuteten, verachteten Arbeitstier, den gingen wir, begleitet vom Arbeitersang hinauf zum freien Menschen, und wir werden ihn weiter gehen mit ehernen Schritten. (Stürmischer Beifall.) Ja aber, wird man mir sagen, das deutsche Volk ist doch wieder geknechtet, dieses Volk der geistigen, technischen, künstlerischen Vielgestaltigkeit ist doch wieder in die graue Einförmigkeit des Zuchthauses eingeschlossen und muß sich
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beugen unter einem ,Führer‘, was nichts andres heißt als Despot. Wie soll es da gelingen, den Weg zur Freiheit wiederzugewinnen? Nicht heute wollen und können wir das beantworten. Aber das eine weiß ich: [der folgende Absatz wurde „konfisziert“:] Mag da sein und kommen, was immer, hier in diesem Oesterreich wird das Proletariat sein Recht, sein Stück freies Land, seine Zukunft verteidigen mit allen Mitteln. [ab hier wieder freigegeben:] (Brausender Beifall.) Wir sagen unseren Freunden von der gewerkschaftlichen und politischen Internationale, die jetzt zu uns gekommen sind (Lebhafter Beifall.): Seid getrost, die Grenze ist gesichert! Was da herübergeschossen wird an Wortgranaten, das kann hier keine Beunruhigung hervorrufen. Wenn sie uns heute von drüben, jenseits der Grenze her, zurufen: Warte nur österreichisches Volk, auch dir wird ein ,Führer‘ werden, dann lachen wir. Oder sie schleudern uns von drüben her die geistigen Wortgranaten von der ,Autorität‘ ins Land. Was uns da von drüben her als ,Autorität‘, autoritärer Kurs usw. angepriesen wird, das ist aufgeblasener Schwindel. (Stürmischer Beifall.) Oder es kommt die Granate: Weg mit dem Klassenkampf! Recht so, wir begrüßen das. Solange es wissenschaftlichen Sozialismus gibt, ist unsere Bewegung eine Bewegung gegen den Klassenkampf gewesen, weil sie eine Bewegung gegen die Ursachen des Klassenkampfes, gegen die Klassenscheidung von Besitzenden und Besitzlosen ist und gerade zur Ueberwindung dieser Ursachen, zur Ueberwindung des Klassengegensatzes, den Sozialismus anstrebt. Aber die kleinen Schwindler von drüben, wollen die wirklich den Klassenkampf beseitigen durch Beseitigung seiner Ursachen? Nein, sie wollen nur ihr schmutziges Klassengeschäft gegen das Proletariat führen. (Tosender Beifall.) Die Entwicklung geht vom Arbeitstier zum Menschen, geht von der Barbarei über verschiedene Gesellschaftsordnungen und zum Schluß über die kapitalistische Gesellschaftsordnung empor zum Sozialismus. Ein kleines Stück gehst du mit, sterblicher Mensch. Nimm deine ganze Kraft zusammen, um in diesem kleinen Stück der Zeit, an diesem kleinen Punkt zu wirken als Teil des Ganzen, damit neue Menschen nach dir kommen, die in einer besseren menschenwürdigen Gesellschaftsordnung leben. An diesem herrlich schönen Sonntag soll jeder von uns geloben, daß er nichts ist und nichts sein will als ein Teil des Proletariats, das sich erhebt und die Welt emporträgt zu neuem Glück und neuer Freude! (Brausender Beifall.) Reden wir nicht viel, seien wir entschlossen! (Neuer tosender Beifall.) Proletariat von Wien, du hast in deiner Geschichte viele Ehrentage, und deine Ehrentage sind auch deine Heldentage. [der folgende Absatz wurde „konfisziert“:] Proletariat von Wien und Oesterreich, du wirst zeigen, daß es hier noch einen Wall, einen unübersteiglichen Wall gegen Fascismus und Barbarei gibt. Du wirst zeigen, daß du der Rolle würdig bist, die dir die Geschichte der Menschheit zugeteilt hat. [ab hier wieder freigegeben:]
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(Minutenlanger Beifallssturm.) Nun heftete der Bürgermeister mit einem wohlverstandenen Hinweis auf das rote Band ein Fahnenband, das die Organisation Wien gestiftet hatte, an die Fahne des jubilierenden Vereines. Hierauf sprach der Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes Walter Schevenels: (mit großem Beifall begrüßt): Sie wissen ja, welche Gründe uns veranlaßt haben, die außerordentliche Ausschußsitzung der Gewerkschaftsinternationale nach Wien einzuberufen. Wie unser Freund und Genosse Seitz bereits gesagt hat, ist jetzt nicht der Moment, viel zu reden und Phrasen zu dreschen. Es müssen Beschlüsse gefaßt werden, positive und konkrete Beweise der internationalen Zusammenarbeit geliefert werden. Aus verständlichen Gründen ist es hier heute nicht möglich, das zu sagen, was wir im Herzen fühlen. Aber ich möchte diese große und gewaltige Feier nicht vorübergehen lassen, ohne Ihnen zu sagen, welche Freundschaft und Liebe die gesamte Internationale für das auch in diesen schweren Tagen unbeugsame und tapfere österreichische Proletariat empfindet. (Stürmischer Beifall.) Wir rechnen auf die österreichische Arbeiterschaft so fest wie eh und je. Wir wissen, die österreichische Arbeiterschaft wird ihre Pflicht tun und wir werden die unsere tun. (Tosender Beifall.) Für die Bezirksorganisation Alsergrund übergab der Obmann Schabes mit einigen kernigen Worten dem jubilierenden Verein ein Ehrenband für seine Fahne. Das künstlerische Fest. Die künstlerischen Vorträge des Festes waren unter dem Titel ,Das junge Wien in Lied und Tanz‘ zusammengefaßt. Der Gedanke, das Freiheitslied, den einstimmigen Massengesang, den Tanz, ja sogar eine Trachtenschau zusammenzufassen, wurde glücklich verwirklicht [...]. Einstimmige Massengesänge, wie das kraftvoll=kühne ,Solidaritätslied‘ Eislers, das sich im Sturm die Massen erobert hat, und gar erst ,Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!‘, sind ja schon wirkliche Volkslieder geworden, in die die Hörer begeistert einstimmten. [...] Die Gauchormeister Hoppel und Human leiteten die singenden Massen von einer Tribüne aus mit bemerkenswerter Sicherheit und Deutlichkeit. Volle Anerkennung verdient auch das Begleitorchester, der Erste Musikverein der Straßenbahner und die Hauptwerkstätte der Straßenbahner, die unter den Kapellmeistern Kastner und Bradac Einleitung und Schluß der Feier besorgten. [...] Die ganze Veranstaltung war durchweg von unseren eigenen Kräften, Arbeitern und Arbeiterinnen, getragen. Das zeigt, daß dieser Weg zur Eroberung der praktischen Kunstausübung der richtige ist und daß sich der Kontakt zwischen den Ausführenden und der Masse sofort einstellt. Der Beifall kam nach allen Stücken aus vollem Herzen und steigerte sich oft zum Jubel.“34
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N. N. [David Josef Bach], Massenfest – Massenfreude – Massenwille, in: Arbeiter=Zeitung 46 (1933), Nr. 279 (9. Oktober), S. 1f.
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Gänzlich anders lautete es im christlichsozialen Wiener Montagblatt, das die Ansprache des Bürgermeisters Seitz als „Kampfrede“ und als „böse Entgleisung“ sowie als „Höhepunkt an Taktlosigkeit und an Volksverhetzung“ bezeichnete. Weiters war zu lesen: „Zunächst glaubte Herr Bürgermeister Seitz sagen zu müssen, die Massen, die da vor ihm im Stadion säßen, ,seien gekommen, weil dort vor kurzem andere Massen waren‘, worauf die Parteigenossen des Wiener Bürgermeisters mit dem Rufe antworteten ,Nieder mit dem Faschismus‘, ,Nieder mit der Heimwehr!‘ Und wozu der Herr Bürgermeister dann noch bemerkte, ,diesen anderen Massen müsse nun gezeigt werden, daß es auch noch ein größeres Wien, nämlich das rote Wien, gebe‘. Da im Stadion in der letzten Zeit keine faschistische und keine Heimwehrveranstaltung stattfand, konnte Herr Bürgermeister Seitz mit ,jenen‘ anderen Massen nur die Katholikentagsteilnehmer meinen. Herr Seitz befindet sich aber in einem katastrophalen Irrtum, wenn er glaubt, mit dieser unerhörten Vernaderung und Verleumdung einer rein religiösen Kundgebung den ungeheuren Eindruck des Katholikentages irgendwie abschwächen zu können, oder wenn er meint, mit solchen lächerlichen Ueberheblichkeiten die ungeheuerliche Blamage zu verwischen, die sich die roten Wiener Stadtväter durch ihr Verhalten bei den Gedenkfeiern des Katholikentages zugezogen haben. Zu einer regelrechten Hetze steigerte sich dann die pathetische Kampfrede des Herrn Bürgermeisters, als er an das Proletariat von Wien und Oesterreich appellierte, ,zu allem entschlossen zu sein, auch zur Gewalt‘. Es ist nichts Neues mehr, daß Herr Bürgermeister Seitz und die übrigen Austromarxistenführer noch immer nicht begreifen können, welcher grundstürzende Wandel in Oesterreich sich vollzogen hat. Wenn er absolut nicht einsehen will, daß die Zeiten endgültig vorbei sind, wo der Austromarxismus mit so großmauligen Worten herumwerfen konnte, dann tut er das Schlimmste, was einem Politiker passieren kann: er lädt den Fluch der Lächerlichkeit auf sich.“35
Die Regierung Dollfuß reagierte schnell auf die von ihr als Provokation empfundene Veranstaltung: Noch am Montag, also (nahezu) zeitgleich mit der „Konfiszierung“ der Arbeiter=Zeitung, erhielt Josef Pinter eine „Ladung“ vom BezirksPolizeikommissariat Alsergrund: „Sie werden aufgefordert, unter Mitnahme dieser Ladung in Angelegenheit des Vereines: Arbeitersängerbund ,Alsergrund‘ sofort mit dem Überbringer bei diesem Amte [eingestempelt:] Boltzmanngasse 20, I. Stock, persönlich zu erscheinen.“
Offensichtlich unabhängig vom Ausgang der „Ladung“ wurden Amtsorgane in Marsch gesetzt, die am 9. Oktober um 15 Uhr am Sitz des ASB. Alsergrund, laut „Niederschrift“ (Abbildung 8) des Kommissariats Alsergrund an der Adresse „IX., Marktgasse 2“ eine „Amtshandlung“ setzten. „Gegenstand“ war die „polizeiliche 35
[N. N.], Eine „Kampfrede“ des Bürgermeisters Seitz, in: Wiener Montagblatt 6 (1933), 9. Oktober 1933.
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Sicherstellung aus Anlaß der Einstellung der Tätigkeit des Arbeitersängerbundes Alsergrund“, die zu folgendem Ergebnis führte: „Es werden 2 in Zimmer 11 obigen Hauses befindliche doppeltürige Kästen (versiegelt) sowie ein Klavier sichergestellt.“
Abbildung 8: „Niederschrift“ der polizeilichen Amtshandlung gegen den ASB. Alsergrund vom 9. Oktober 1933.
Und ebenfalls schon mit 9. Oktober 1933 datiert ist ein mit der Anschrift „Arbeiter-Sängerbund Alsergrund; Einstellung der Tätigkeit“ [!] versehener Bescheid der „Bundes-Polizeidirektion in Wien“ (V.B. 3506/33), der „an die Leitung des ,Arbeiter-Sängerbundes Alsergrund‘ mit dem Sitze Wien 9., Marktgasse, zu Handen des Obmanns Josef Pinter / Wien, IX., D’Orsaygasse 5,III/IV, Tür 13“ erging: „Die Bundes-Polizeidirektion erlässt nachstehenden Bescheid: Spruch: Die Tätigkeit des Vereines ,Arbeiter-Sängerbund Alsergrund‘ wird gemäss § 25, Abs. 2 und § 28 des Gesetzes vom 5. November 1867 R.G.Bl.Nr. 134 über das Vereinsrecht bis zur endgültigen Entscheidung über die gleichzeitig beim Wiener Magistrate als Amt der Landesregierung, Abt. 49, beantragte behördliche Auflösung des Vereines eingestellt. Einer allfälligen gegen diesen Bescheid eingebrachten Berufung wird die aufschiebende Wirkung gemäss § 64, Abs. 2, A.V.G. aberkannt. Begründung: Gemäss § 2 der Statuten bezweckt der Verein ,Arbeiter-Sängerbund Alsergrund‘ ausschliesslich die Pflege des Gesanges, der Musik und der geselligen Unterhaltung.
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Der Verein ,Arbeiter-Sängerbund Alsergrund‘ hat nun für den 8. Oktober l. J. anlässlich seines 40 jährigen Bestandes ein ,Festkonzert‘ im Wiener Stadion im II. Bezirke zur Anmeldung gebracht, das auch behördlich zur Kenntnis genommen wurde. Hiebei wurde jedoch die Vereinsleitung ausdrücklich aufmerksam gemacht, dass dieses Fest unter keinen Umständen den Charakter einer politischen Kundgebung annehmen dürfe. Trotz dieses ausdrücklichen Vorhaltes wurden von verschiedenen Personen Reden politischen Inhaltes gehalten. Dadurch hat der Verein eine politische Tendenz gezeigt und sich insbesondere mit den eingangs erwähnten statutarischen Bestimmungen in direkten Widerspruch gesetzt. Der Verein entspricht daher nicht mehr den Bedingungen seines rechtlichen Bestandes. Da der massgebende Sachverhalt von vornherein feststeht, konnte gemäss § 56 A.V.G. von der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens gemäss §§ 37 und 38 A.V.G. Abstand genommen werden. Rechtsmittelbelehrung: Gegen diesen Bescheid kann gemäss § 63 des Gesetzes vom 21. Juli 1925, B.G.Bl.Nr. 274 über das allgemeine Verwaltungsverfahren binnen zwei Wochen nach erfolgter Zustellung bei der Bundes-Polizeidirektion in Wien schriftlich oder telegrafisch die Berufung eingebracht werden. Dr. Seydel m.p.“36
Einen Tag später, am 10. Oktober, sandte die Wiener Bundes-Polizeidirektion an „den Wiener Magistrat als Amt der Landesregierung, Abteilung 49“ unter der Zahl V.B. 3506/33 den „Antrag auf behördliche Auflösung“ des ASB. Alsergrund: „Der Verein ,Arbeiter-Sängerbund Alsergrund‘ besteht seit dem Jahre 1893 und gründet seinen derzeitigen Rechtsbestand auf den Erlass des Wiener Magistrates als Amtes der Landesregierung, Abteilung 49, vom 28. Oktober 1924 Zahl 8824. An der Spitze des Vereines, der seinen Sitz in Wien IX., Marktgasse Nr. 2 hat, steht Josef Pinter, IX. D’Orsaygasse No. 5 III/13 als Obmann. Nach § 2 der Statuten bezweckt der Verein ,die Pflege des Gesanges, der Musik und der geselligen Unterhaltung‘ und wird dies bewirkt a) durch regelmässige, behördlich bewilligte Gesangsübungen, b) durch periodische Lehrkurse für Anfänger und Anfängerinnen; c) durch Abhaltung von Liedertafeln, Sängerfahrten, Vergnügungsabenden und sonstigen, die Interessen des Vereines fördernden Unternehmungen nach Erwirkung der hiezu erforderlichen behördlichen Genehmigung‘ [!]. Der Verein ,Arbeiter-Sängerbund Alsergrund‘ hat nun am 8. Oktober l. J. anlässlich seines 40 jährigen Bestandes ein ,Festkonzert‘ im Wiener Stadion im II. Bezirke veranstaltet. Aus diesem Anlasse wurde die Vereinsleitung zum Amte vorgerufen und ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass die Veranstaltung unter keinen Umständen den Charakter einer politischen Kundgebung annehmen dürfe. 36
Archiv der Republik, Bundespolizeidirektion, Sign. 222.636/33.
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Trotz dieses ausdrücklichen Vorhaltes wurden während des Festes von verschiedenen Personen Reden ausgesprochen politischen Inhaltes gehalten. Dadurch hat der Verein eine politische Tendenz gezeigt und sich mit den eingangs erwähnten statutarischen Bestimmungen in Widerspruch gesetzt. Er entspricht somit nicht mehr den Bedingungen seines rechtlichen Bestandes. Die Bundes-Polizeidirektion beehrt sich daher den Antrag auf Auflösung des Vereines gemäss § 24 des Gesetzes vom 15. November 1867 R.G.Bl.No. 134 zu stellen. Die Tätigkeit des Vereines wurde unter einem mit dem abschriftlich beigelegten Bescheide der Bundespolizeidirektion vom 9. Oktober 1933 eingestellt. Dr. Seydel m.p.“37
Hatten am 9. Oktober alle wichtigen Zeitungen von dem Festkonzert und der sich aus ihm ergebenden „Riesenkundgebung“38 berichtet, so folgten am 10. Oktober Artikel über die von der Polizeidirektion verfügte „Einstellung“ der Tätigkeit des ASB. Alsergrund und die zu erwartende folgende „Auflösung“. Besonders empört war die Arbeiter=Zeitung, nicht zuletzt, weil über sie am selben Tag ein „Verbreitungsverbot“ verhängt wurde – sie durfte einen Monat lang nur durch die Post zugestellt werden.39 Dementsprechend wütend fiel der auf der ersten Seite erscheinende Bericht aus, dem noch Photographien aus dem von „60.000 Wiener Sozialdemokraten“ bevölkerten Wiener Stadion (Abbildung 9) nachgeschickt wurden: „Vereinsauflösung und Verbreitungsverbot. Sechzigtausend Menschen haben am Sonntag die Vierzigjahrfeier des Arbeitergesangvereines Alsergrund gefeiert. Die Antwort: die Tätigkeit des Arbeitergesangvereines Alsergrund ist gestern von der Polizeidirektion eingestellt worden. Solche Einstellung der Tätigkeit eines Vereines ist in der Regel der Vorbote seiner behördlichen Auflösung. Wir haben Samstag Geschichten ,Aus der Heldenzeit des Arbeitersanges‘ erzählt. Wir haben erzählt, wie in der Zeit des Ausnahmezustandes, in der Zeit der feudalen k. k. Regierung Taaffe die Arbeitersänger durch Verbot und Konfiskation von Liedertexten schikaniert wurden. Aber damit hat man sich in der Zeit des Ausnahmezustandes begnügt. Aufgelöst hat man Arbeitergesangvereine auch in der Zeit des Ausnahmezustandes nicht. Vereine können nach österreichischem Recht aufgelöst werden, wenn sie ,staatsgefährlich‘ sind. Daß es staatsgefährlich sei, wenn Arbeiter und Arbeiterinnen zusammenkommen, um zu singen – dieser Meinung ist die k. k. Regierung Taaffe auch in der Zeit des Ausnahmezustandes nicht gewesen. Jetzt wird der Arbeitergesangverein Alsergrund offenbar als ,staatsgefährlich‘ aufgelöst. Wodurch ist er staatsgefährlich geworden? Offenbar durch das Fest im 37
Ebenda. Siehe auch Richard Fränkel, 80 Jahre Lied der Arbeit. Geschichte der Österreichischen Arbeitersängerbewegung, Wien 1948, S. 56f., sowie Helmut Brenner, „Stimmt an das Lied ...“ (Anm. 5), S. 155. 38 [N. N.], Riesenkundgebung im Stadion, in: Abend 19 (1933), 9. Oktober. Die Arbeiter=Zeitung ergänzte am 10. Oktober mit einem umfangreichen Bildbericht. 39 Über den eigenartigen (und rechtlich nicht nachvollziehbaren) Verlauf bzw. Aktenlauf des Beschlusses zur Konfiszierung der Rede des Bürgermeisters Karl Seitz berichtete die Arbeiter=Zeitung am 11. Oktober.
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Abbildung 9: Das Wiener Stadion am 8. Oktober 1933. Stadion. Wodurch war das Fest im Stadion ,staatsgefährlich‘? Durch die Lieder, die da gesungen wurden? Oder durch die Reigentänze, die da getanzt wurden? Offenbar nicht. Wodurch also? Offenbar durch die Rede, die der Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien, der Chef der Wiener Regierung, dort gehalten hat! Ein Arbeitergesangverein wird also aufgelöst, weil der Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien bei seiner Vierzigjahrfeier eine Festrede gehalten hat! An demselben Tage ist noch etwas andres geschehen. Der Bundeskanzler hat über die Arbeiter=Zeitung das Verbreitungsverbot verhängt. Das heißt: Die Arbeiter=Zeitung darf einen Monat lang nur durch die Post zugestellt, sie darf weder in den Trafiken noch in anderen Verkaufsstellen verkauft und nicht durch Austräger zugestellt werden. Auch das ist noch niemals geschehen. Die ,Gleichheit‘, die Vorgängerin der Arbeiter=Zeitung, ist auch in der Zeit des Ausnahmezustandes erschienen. Man hat sie damals oft konfisziert. Aber man hat niemals ihre Verbreitung in den Trafiken und Verkaufsstellen, niemals ihre Zustellung durch Austräger verboten. Ebenso war es in der Zeit des Krieges. Die Arbeiter=Zeitung hat auch damals, wenngleich sie unter Zensur gestellt war wie alle anderen Zeitungen, ebenso verbreitet werden können wie alle andern Blätter. Warum wird diese Maßregel jetzt über die Arbeiter=Zeitung verhängt? Weil wir in der letzten Zeit wiederholt konfisziert wurden. Warum sind wir konfisziert worden? Man sehe sich die letzten drei Konfiskationen an! Zuerst wurden wir konfisziert, weil wir die Rede wiedergegeben haben, die der Bundesrat Dr. Schärf im Bundesrat gehalten hat. Seit dem Jahre 1867 war es in Oesterreich Rechtens, daß wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen der gesetzgebenden Körperschaften nicht verfolgt und nicht konfisziert werden können. Im Vertrauen auf eine Auslegung des Gesetzes, die sechsundsechzig Jahre alt ist, haben wir die Rede des Bundesrates Schärf wiedergegeben. Wir wurden konfisziert.
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Zweitens wurden wir konfisziert, weil wir das offizielle, von Citrine, dem Führer der englischen Gewerkschaften, und Schevenels, dem Generalssekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes, redigierte Kommuniqué über die Sitzung des Internationalen Gewerkschaftsbundes in Wien wiedergegeben haben. Dieses Kommuniqué ist von der Gewerkschaftlichen Korrespondenz an alle Zeitungen ausgeschickt worden. Gleichzeitig mit uns haben folgende Wiener Tageszeitungen das Kommuniqué wörtlich abgedruckt: die ,Neue Freie Presse‘, die ,Reichspost‘, das ,Neue Wiener Journal‘ und die ,Volks=Zeitung‘. In keiner dieser vier Zeitungen ist das Kommuniqué konfisziert worden. In der Arbeiter=Zeitung wurde es konfisziert. Die ,Reichspost‘ hat das Kommuniqué in Fettdruck auf der ersten Seite unter eigenem großen Titel wiedergegeben; sie wurde nicht konfisziert. In der Arbeiter=Zeitung wurde derselbe Wortlaut konfisziert. Drittens sind wir gestern konfisziert worden, weil wir die Rede wiedergegeben haben, die der Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien in der Festversammlung im Stadion gehalten hat. Wir waren der Meinung, daß die Wiener erfahren dürfen, was ihr Bürgermeister und Landeshauptmann, der Chef der von zwei Dritteln des Wiener Volkes eingesetzten Landesregierung zu ihnen spricht. Das sind unsere letzten drei Konfiskationen. Wegen dieser drei Konfiskationen wurde das Verbreitungsverbot über die Arbeiter=Zeitung, über das Zentralorgan der größten Partei Oesterreichs, über das Organ der Partei, die im Auftrag von zwei Dritteln des Volkes von Wien unsere Stadt verwaltet, verhängt. Der ,Kampf gegen den Marxismus‘ wird also verschärft. Arbeitergesangvereine werden aufgelöst. Ueber die Arbeiter=Zeitung wird das Verbreitungsverbot verhängt. Hunderte Arbeiter sitzen in den Arresten. Wir registrieren diese Tatsachen. Sie zu kommentieren, ist uns verwehrt. Die Arbeiter und Angestellten werden sich sie selbst kommentieren. Aber zur Ueberlegung seien alle nachdenklichen Menschen ohne Unterschied der Partei auf folgende Tatsachen aufmerksam gemacht: Wenn heute freie Wahlen wären, so bekämen die Nazi kaum weniger als fünfundzwanzig Prozent der Stimmen, die Sozialdemokratie mindestens vierzig Prozent der Stimmen – die beiden Oppositionsparteien zusammen zwei Drittel aller Stimmen. Die beiden Regierungsparteien, die Christlichsozialen und die Hahnenschwänzler, hatten bei den letzten Wahlen zusammen neununddreißig Prozent der Stimmen und hätten heute, da sowohl die Christlichsozialen als auch die Hahnenschwänzler einen Teil ihrer Wähler an die Nazi verloren haben, sicherlich beträchtlich weniger – höchstens also ein Drittel der Stimmen. Bei dieser Sachlage hält es die Regierung für unerläßlich, in derselben Zeit, in der sie einen nicht leichten Abwehrkampf gegen die Nazi führt, den Kampf gegen den ,Marxismus‘ zu verschärfen. Alle nachdenklichen Menschen werden sich selbst ihre Gedanken über die Lage bilden, die aus diesem Zweifrontenkrieg entsteht.“40 40
[N. N.], Vereinsauflösung und Verbreitungsverbot, in: Arbeiter=Zeitung 46 (1933), Nr. 280 (10. Oktober), S. 1f.
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Auf der Seite der Regierung stehende Blätter sahen die Verbote naturgemäß positiv. Im Neuen Wiener Journal etwa wird die Sachlage unter der Überschrift „Warum der Arbeitersängerbund Alsergrund aufgelöst wurde“ völlig anders beschrieben: „Die Wiener Polizeidirektion hat gestern die Einstellung der Tätigkeit des Arbeitersängerbundes Alsergrund verfügt und an das Staatssekretariat für das Sicherheitswesen den Antrag auf Auflösung dieses Vereins gestellt. Wir erfahren hiezu folgende Einzelheiten: Der Arbeitersängerbund Alsergrund hatte bei der Wiener Polizeidirektion ein Vereinsfest als Jubiläumsfeier für den vergangenen Sonntag im Wiener Stadion im Prater angemeldet. Da sich die Funktionäre des Vereins verpflichtet hatten, im Programm der vorgesehenen Feierlichkeiten, die im Rahmen eines Konzerts stattfinden sollten, jede politische Manifestation zu vermeiden, lag für die Polizeidirektion kein Grund vor, diese ordnungsgemäß angemeldete Veranstaltung zu verbieten. Bei dem Konzert der Arbeitersänger im Stadion zeigte es sich allerdings, daß die verantwortlichen Leiter der Veranstaltung die der Sicherheitsbehörde gegenüber eingegangenen Verpflichtungen nicht einhielten. Gleich bei Beginn der Darbietungen wurde es klar, daß der Arbeitersängerbund Alsergrund seinem Fest einen rein politischen Charakter gegeben hatte. Abgesehen davon, daß während des Konzerts an verschiedenen Punkten des Stadions wie auch an den verschiedenen Zufahrtsstraßen zu demselben Flugzettel politischen Inhalts verteilt wurden, die sogar offen zum Generalstreik aufforderten, legten die marxistischen Redner eine aufreizende politische Haltung zutage. Schließlich hielt der Austromarxistenführer Seitz eine Ansprache, die den Gipfelpunkt der Verhetzung der Massen darstellte und eine ganze Anzahl von Schmähungen gegen die Regierung enthielt. Auf Grund dieses Tatbestandes wurde gestern nachmittag der Vereinsleitung des Arbeitersängerbundes Alsergrund der Beschluß der Wiener Polizeidirektion zur sofortigen Einstellung der Vereinstätigkeit zugestellt. Der Obmann des Arbeitersängerbundes, der Privatbeamte Alfred Pinter, erhielt durch Kriminalbeamte die Verständigung zugestellt, sofort im Vereinslokale, das sich in einem Gemeindebau im 9. Bezirk befindet, zu erscheinen. In seiner Anwesenheit und im Beisein mehrerer anderer Vereinsfunktionäre wurde durch Beamte der politischen Polizei in den Vereinslokalitäten eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Bei dieser kam es zur Beschlagnahme verschiedener Drucksorten und einer Anzahl von Vereinsakten, die zur Polizeidirektion gebracht wurden, wo sie derzeit von den mit der Untersuchung betrauten Beamten studiert werden. Die Leitung der Staatspolizei hat noch am gestrigen Nachmittag einen eingehenden Bericht an den Staatssekretär für das Sicherheitswesen Hofrat Dr. Karwinski erstattet. In diesem Bericht wird der Antrag auf die Auflösung des Arbeitersängerbundes Alsergrund gestellt und eingehend begründet. Der Arbeitersängerbund Alsergrund zählt ungefähr sechshundert Mitglieder und ist einer der ältesten und stärksten marxistischen Lokalvereine dieser Art in Wien. Er feierte am vergangenen Sonntag sein vierzigjähriges Bestandsjubiläum. Der Wiener Polizeidirektion, die die verschiedenen marxistischen Vereinigungen, die nach der Auflösung des republikanischen Schutzbundes in Wien bestehen blieben, ständig durch eigene Organe überwachen läßt, waren schon vor
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längerer Zeit verschiedentliche Anzeigen zugekommen, daß besonders der Arbeitersängerbund Alsergrund eine weit über die ihm zustehenden Rechte reichende Vereinstätigkeit entfalte. Daraufhin wurden verschiedene Erhebungen eingeleitet, die jedoch noch nicht abgeschlossen waren und kein positives Resultat ergeben hatten. Mittlerweile war die Genehmigung zu den festlichen Veranstaltungen am vergangenen Sonntag im Wiener Stadion erfolgt. Da keine direkte Handhabe gegen die Vereinsleitung bestand, konnte ein Verbot des Festes nicht erfolgen. Die Leitung des Arbeitersängerbundes Alsergrund hat zwar gegen die Einstellung der Vereinstätigkeit wie auch gegen den Antrag auf Auflösung des Vereines noch am gestrigen Abend bei der Wiener Polizeidirektion den Rekurs erhoben und eine schriftliche Begründung desselben auch an den Staatssekretär für das Sicherheitswesen Hofrat Dr. Karwinski übermitteln lassen. Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren, besteht keine Aussicht, daß die Austromarxisten, die unter dem Deckmantel eines harmlosen Festes eines Gesangvereins politische Verhetzung betreiben, mit ihren Rekursen Erfolg haben werden. Die definitive Auflösung des Vereins ,Arbeitersängerbund Alsergrund‘ dürfte heute verfügt werden.“41
Abgesehen davon, daß zahlreiche Einzelheiten dieser Schilderung nicht der Wahrheit entsprachen42 und das Neue Wiener Journal am 2. November eine Berichtigung bringen mußte, blieben sowohl der hier angesprochene, noch am 9. Oktober erhobene Rekurs gegen die „Einstellung“ der Aktivitäten des ASB. Alsergrund als auch die Einwendungen gegen die Sistierung des Vereines vom 10. Oktober tatsächlich ohne Erfolg; das Neue Wiener Journal hatte offensichtlich beste Beziehungen zu „zuverlässigen“ (christlichsozialen) Quellen. Das mutet fast eigenartig an, gingen Eingabe und Ablehnung doch folgendermaßen vor sich: „Gegen die Sistierung des Vereines hat die Vereinsleitung am 10. Oktober beim Amte der Wiener Landesregierung in einem ausführlichen Schriftsatze Einwendungen erhoben. Insbesondere wurde die Auffassung der Polizeidirektion bekämpft, daß der Verein seinen statutarischen Wirkungskreis dadurch überschritten hätte, daß „verschiedene Personen Reden politischen Inhaltes“ gehalten hätten. Wir enthalten uns, trotzdem die Kritik dieser Anschauung geradezu verlokkend wäre, jeder Polemik und zitieren nur einen der besten Kenner des Vereinsrechtes, Magistratsrat R. Radler [Fußnote: „Wie gründe und führe ich einen Verein?“ Deutscher Verlag für Jugend und Volk, Wien, I., Burgring 9.], welcher in seinem Kommentar zum Vereinsgesetze über die Auslegung des § 24 schreibt: ,Ein Verein kann eine Statutenüberschreitung nur durch jene Organe begehen, durch welche er statutenmäßig handelt. Ein statutenwidriges Verhalten einzelner Vereinsmitglieder oder Gruppen von Mitgliedern ist kein Auflösungsgrund. Es kann dem Vereine auch nicht eine Handlung des Obmannes zugerechnet wer41 42
[N. N.], Warum der Arbeitersängerbund Alsergrund aufgelöst wurde, in: Neues Wiener Journal 41 (1933), 10. Oktober 1933. Pinter, dessen Vorname Josef lautete, hatte alle mit ihm vereinbarten Verpflichtungen eingehalten, weiters mußte er im Polizeikommissariat Alsergrund erscheinen, und in seiner Anwesenheit erfolgte auch keine Beschlagnahme.
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den, zu deren Vornahme der Vereinsausschuß zuständig ist. Für Handlungen oder Unterlassungen seiner Organe kann ein Verein nur dann verantwortlich gemacht werden, wenn diese als seine Organe auftreten‘ (Seite 55). Zu dieser Auffassung bekannten sich bisher alle Instanzen bis zum Verwaltungsgerichtshof. Es steht wohl im gegenständlichen Falle außer Streit, daß weder der Verein, noch Teile seiner Mitglieder oder die statutenmäßig hierzu berechtigten Vereinsorgane Handlungen gesetzt oder unterlassen haben, welche die Auflösung rechtfertigen würden; für die Handlungen vereinsfremder Personen kann man unmöglich den Verein zur Verantwortung ziehen. Mit dem gleichen Rechte könnte man einen Fußballklub auflösen, weil es bei seinem Match durch Zuseher zu wörtlichen oder tätlichen Exzessen gekommen ist und dadurch die öffentliche Ruhe und Ordnung gestört wurde. Da die Polizei das in den §§ 37 und 38 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrens-Gesetzes vorgeschriebene Ermittlungsverfahren unterlassen hat, liegt zweifellos ein Nichtigkeitsgrund vor; aus dieser Unterlassung allein wäre der Bescheid aufzugehen [!, recte: aufzuheben ?] gewesen. Die Landesregierung kam nun gar nicht dazu, in eine meritorische Erledigung des Falles einzugehen; sie erhielt vielmehr am 20. Oktober vom Bundeskanzler gem. § 103 BVG. die Weisung, den Verein aufzulösen. Dieser Weisung mußte entsprochen werden, der Verein hat nun an das Bundeskanzleramt Einspruch erhoben. Gegen dessen Entscheidung gibt es keine Berufung mehr, der Instanzenzug im Verwaltungsverfahren ist damit erschöpft. Da aber von Haus aus Verfahrensmängel vorliegen, kann Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden.“43
Auch das Mitteilungsblatt des Gaues Wien des Österreichischen Arbeiter-Sängerbundes vom Oktober 1933 wurde beschlagnahmt, und zwar am 16. Oktober 1933, als „die auf 4.500 Stück veranschlagte Auflage bereits gedruckt und zur Gänze zur Verbreitung geliefert“ war. Allerdings konnten „beim Gau Wien [...] 1.000 Stück vorgefunden und saisiert“44 [beschlagnahmt] werden. Die inkriminierte Stelle lautet: „Der ASB. Alsergrund – aufgelöst! Nach 40jähriger emsiger Tätigkeit auf kulturellem Gebiete wurde am 9. Oktober, einem Tage nach seiner grandiosen Bestandsfeier, der ASB. Alsergrund mittels eines Federstriches erledigt. Glauben unsere Gegner wirklich, daß jahrzehntelange gemeinsam geleistete Kulturarbeit, daß jahrzehntelanges solidarisches Beisammensein damit ausgelöscht werden kann? Die Hände kann man knebeln, Geist und Stimme keineswegs. Singen wir nicht in einem Vereinslokal, so singen wir in vielen Lokalen und Wohnungen!45
Auch im (noch) nicht nationalsozialistischen deutschen Ausland – wie dem unter der Verwaltung des Völkerbundes stehenden Saarland – wurde man auf die Zustände im faschistischen Österreich aufmerksam. So berichtete die Saarbrückener 43 44 45
Josef Pinter, Eine Konfiskation, in: ÖASZ XXXII (1933), Nr. 12 (1. Dezember), S. 141f. Archiv der Republik, Sign. 226.764/33, Schreiben der Bundes-Polizeidirektion in Wien an das Bundeskanzleramt, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit, Abteilung GD 2. [Red.], Aus dem Gau, in: Mitteilungsblatt des Gaues Wien des Österreichischen Arbeiter-Sängerbundes VII (1933), Nr. 10 (Oktober), S. 3.
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Neue Freiheit am 12. Oktober unter dem Titel „Austro-Faschismus wird aktiv“ ausführlich über die Ereignisse: „Bundeskanzler Dollfuß hat am Sonntag einen Erholungsurlaub angetreten. Die Regierungsgeschäfte führt in seiner Abwesenheit Vizekanzler Fey, führendes Heimwehrmitglied. Die kurze Kampfespause, die durch das Attentat auf Dollfuß geschaffen wurde, holt der Heimwehrfaschismus gründlich auf durch eine breit angelegte Offensive gegen die Sozialdemokratie und die freien Gewerkschaften. Am Sonntag fand im Wiener Stadion eine von 60 000 Personen besuchte Kundgebung zu Ehren des 40jährigen Bestehens des Arbeitersängerbundes statt. Bürgermeister Seitz hielt dabei eine große politische Rede, worin er u. a. ausführte, daß die Arbeiterschaft das rote Wien mit allen Mitteln gegen faschistische Vergewaltigung schützen werde. Wegen der Veröffentlichung dieser Rede wurde die ,Arbeiterzeitung‘ am Montag zum 27. Mal seit Beginn der gegenwärtigen Regierungsära konfisziert, während die bürgerliche Presse die Rede von Bürgermeister Seitz ebenfalls veröffentlichte. Auflösung des Arbeitersängerbundes Doch nicht genug mit der Kneblung der ,Arbeiterzeitung‘, die schon am Sonntag konfisziert worden war, hat die Regierung am Montag den Arbeitersängerbund als aufgelöst erklärt mit der Begründung, daß er mit der Jubiläumsfeier vom Sonntag gezeigt habe, daß es sich um eine ,politische Organisation‘ (!) handle. Seit den 90er Jahren hat man es in Oesterreich nicht erlebt, daß kulturelle Arbeiterorganisationen verboten wurden. Aktionsbereitschaft der Eisenbahner Wie bereits gemeldet wurde, hat die Regierung die Eisenbahner gezwungen, unter Androhung des Gehaltsentzuges, der ,Vaterländischen Front‘ beizutreten. Wie am Samstag weiter verlautete, sollten die Eisenbahner auch gezwungen werden, aus den freien Gewerkschaften auszutreten und die Zugehörigkeit zur Sozialdemokratischen Partei sollte ihnen verboten werden. [...]. Verbreitungsverbot gegen ,Arbeiterzeitung‘ Wie in letzter Stunde verlautet, hat die Regierung gegen die ,Arbeiterzeitung‘ das Verbreitungsverbot auf die Dauer von 4 Wochen verhängt. Die ,Arbeiterzeitung‘ darf für diese Dauer in keinem Kiosk in ganz Oesterreich und auch nicht auf der Straße verkauft werden. Die Zustellung an die Abonnenten kann nur durch die Post unter Entrichtung der doppelten Gebühr erfolgen [...].“46
Ein Tag später erschien in der Saarbrückener Neuen Freiheit ein weiterer, die Gesamtsituation in Österreich äußerst kritisch in den Blick nehmender Artikel: „Die Krise in Oesterreich Krieg gegen die Arbeiterbewegung Ein Nazi hat auf Dollfuß geschossen; die Folgen des Attentates, für das die Nazipartei verantwortlich ist, sind höchst seltsam. Die Regierung ruft: ,Keine Rache!‘ und läßt die getarnten Naziblätter weiter erscheinen und die getarnten Na46
[N. N.], Austro-Faschismus wird aktiv, in: Neue Freiheit, Saarbrücken, 12. Oktober 1933.
„[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...]“
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zi=Organisationen wie den Deutschen Turnerbund und den ,Deutschen Schulverein Südmark‘ weiter bestehen. Und während die Kolporteure die getarnten Naziblätter ausrufen und die Regierung ihre Losung ,Keine Rache!‘ verkündet, wird die Bundesregierung auf einmal dennoch energisch. Sie irrt sich nur in der Richtung, sie geht gegen die Arbeiterbewegung los. Erstens gegen die Eisenbahner, den Vortrupp der Gewerkschaften; ehe ein Eisenbahner sein kärgliches Monatsgehalt nehmen darf, hat er sich in die ,Vaterländische Front‘ einzuschreiben [...]. Zweitens: in ganz Oesterreich machte man durch Vorzensur der Arbeiterpresse unmöglich, den Kontakt mit Organisationen und Parteimitgliedern aufrecht zu halten. Die Folge dieser Maulsperre sind illegale Flugblätter [...]. Die Regierung nimmt sinnlose Verhaftungen vor. Folge: Streiks und die Partei wird von der tapferen (tapfer wenns nicht gegen Braun geht) Regierung gebeten, die Dummheit in Ordnung zu bringen. Es ist selbstverständlich, daß aus jedem dieser lokalen Streiks eine Massenbewegung und der Bürgerkrieg entstehen kann. Drittens: der Gewerkschaftsbund hält eine Tagung in Oesterreich ab. Im Wiener Stadion, das 60 000 Personen faßt, veranstaltet die Partei eine Riesenkundgebung [...]. Folge: Am nächsten Tag wird der Gesangverein aufgelöst, die ,Arbeiterzeitung‘, die des Bürgermeisters Rede bringt, wird ebenso konfisziert wie ihr Bericht einen Tag früher über die Tagung des IGB. [...] folgende Sätze verfielen der Beschlagnahme; ,Er (Genosse Citrine) wird im klassischen Land der Preßfreiheit und Demokratie nur zu erzählen brauchen, wie es in Oesterreich seinen eigenen Mitteilungen über die Ausschußsitzung der internationalen Organisation, deren Vorsitzender er ist, ergangen ist – und die englischen Arbeiter werden das Nötige wissen. Wer bringt also eigentlich dem Ausland eine unvorteilhafte Meinung über Oesterreich bei, Herr Staatsanwalt?‘ [...]. All das, weil ein Nazi und kein ,Marxist‘ auf den Kanzler geschossen hat und der ,Marxist‘ als Mörder hätte doch so gut gepaßt, daß ein Wiener christlichsoziales Blatt zuerst verkündete, ein ,Roter‘ hätte auf Dollfuß geschossen. Es war ein Nazi! – aber man wollte die ,Roten‘ verfolgen und verfolgt sie eben statt der Nazi. Es kann keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die Regierung Krieg gegen die Arbeiterbewegung will. [...].“47
Die Österreichische Arbeitersänger-Zeitung vom 1. November 1933 wurde dann ebenfalls „konfisziert“48, wodurch die ausgelieferten Exemplare von der Überschrift „Nach der Konfiskation 2. Auflage“ (Abbildung 10) geziert wurden. Einem langen
47 48
[N. N.], Die Krise in Oesterreich, in: Neue Freiheit, Saarbrücken, 13. Oktober 1933. Die „Gerichtliche Pressestelle“ der Polizei-Direktion Wien meldete dem Bundeskanzleramt, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit, Abteilung G.D.2, am 24. Oktober 1933 unter der Zahl G.P.P. 3279/33, daß „das Landesgericht für Strafsachen Wien I mit dem Beschlusse vom 23. Oktober 1933, Zahl 26 d VR 7357/33 die Beschlagnahme und Verwahrung der etwa vorfindlichen Exemplare der ,Oesterreichischen Arbeitersänger-Zeitung‘ Nr. 11 vom 1. November 1933 gemäss § 38 Pr.G. (§§ 98, 143, St.P.O.) angeordnet“ habe, da in zwei Artikeln des Heftes insgesamt fünf Stellen „den Tatbestand des Vergehens nach § 300 ST.G. begründen“. Die fünf „Stellen“ (siehe oben) sind dem Schreiben, von einem Herrn Kotslinsky maschinschriftlich abgetippt, beigelegt. Archiv der Republik, Polizeidirektion Wien, 230.340/33.
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Bericht über „40 Jahre Arbeiter-Sängerbund Alsergrund“ folgten auch hier Kommentare zu den Geschehnissen: „Der ASB. Alsergrund ist einer der ältesten Wiener Vereine; als er zu seiner 40Jahr-Feier die Arbeiterschaft aufrief, war es daher kein Wunder, daß eine wahre Völkerwanderung ins wunderbare Wiener Stadion einsetzte. Tagelang vor dem 8. Oktober war in Wien keine Karte mehr zu haben; Zehntausende, welche sich in der Hoffnung gewiegt hatten, dennoch Einlaß zu finden, mußten unverrichteter Dinge nach Hause gehen. Nach Schätzung bürgerlicher Blätter waren 60.000 Menschen im Stadion versammelt; ein wundervoller Herbsttag erhöhte die festliche und erwartungsvolle Stimmung der Massen. Der gesamte Gau Wien wirkte auf Einladung des Jubelvereines mit; es war eine glückliche Idee der Gaufunktionäre, den Chor (im Vergleiche zur 40-Jahr-Feier des Gaues im Vorjahre) mehr gegen die Mitte der Längsseite zu zu postieren. Die Klangwirkung wurde gewaltig gebessert, die Stimmen klangen überaus schön und volltönend [...].
Abbildung 10: Österreichische Arbeitersänger-Zeitung vom 1. November 1933.
„[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...]“
Nach dem vom Jubelvereine gesungenen gemischten Chor ,Morgenrot‘ von de Nobel begrüßte Genosse Pinter als Obmann des Vereines die zahlreich erschienenen Ehrengäste. [...] Nach sehr hübschen Tanzvorführungen der Turner und der Trachtenvereine kamen wieder Gesamtchöre, und zwar ,An der schönen blauen Donau‘, welcher unter leichten Unstimmigkeiten mit dem Orchester der Straßenbahner litt; [...]. Nach dem Kinderfreundemarsch wurde das ,Lied der Arbeit‘ angestimmt; mit wahrhaft inbrünstiger Hingabe gesungen, erhob es alle zur Weihestimmung, bestärkte es alle in dem festen Glauben an den Sieg unserer gerechten Sache. Minutenlange währten die begeisterten Zurufe, die Huldigungen an den Genossen Seitz und an die gesamte Sängerschaft, welche unter Leitung der Gauchormeister Hoppel und Human eine wirkliche Meisterleistung vollbracht hat. Den ungeheuren Fortschritt unserer Bewegung mag man an der Tatsache erkennen, daß diesmal keine gesonderten Proben abgehalten wurden; eine Verständigungsprobe im Ausmaße von einer knappen Stunde genügte, um ein klagloses und prächtiges Gelingen aller Chöre zu ermöglichen. Es ist schwer zu entscheiden, ob dem Männer- oder dem gemischten Chor die Palme gebührt; alles war schön und die Disziplin der Wiener Sängerschaft fand ihren Lohn in der ungeheuren Begeisterung der Massen und in dem Gefühle, Zeuge eines historischen Moments gewesen zu sein. * Und noch eine bemerkenswerte Tatsache: der Arbeitersang wurde neu entdeckt! Vor allem von der ,Arbeiter-Zeitung‘ [...]. * [Die nächste Passage wurde ,konfisziert‘:] Wo alles liebt, kann die Polizei nicht hassen. Es wird noch die Zeit kommen, wo eine frei gewordene Presse es möglich machen wird, zu erzählen, wie liebevoll man um diese Feier höchsten Ortes besorgt war. [Jetzt nicht konfisziert; weiter im gleichen Absatz:] Genosse Pinter als Leiter der Veranstaltung kam dadurch in engsten Kontakt mit den Polizeibeamten, welche ein sehr korrektes Benehmen an den Tag legten, jedoch über Weisung vom Schottenring den strengen Auftrag gaben, daß keine politischen Reden gehalten, insbesondere aber weder die Regierung noch die Regierungsparteien einer Kritik unterzogen werden dürfen. Ein solches Versprechen zu geben, oder gar eine Verantwortung für die Einhaltung dieser Weisung zu geben, lehnte Pinter entschieden ab; schließlich ist er nicht der Hofmeister des Genossen Seitz, von dem alle Welt, also auch die Polizei weiß, daß er seine Worte wohl abwägt. Es wurde aber tatsächlich weder die Regierung noch deren Parteien angegriffen, die Weisung wurde also befolgt. [Die nächste Passage wurde konfisziert; im selben Absatz hieß es weiter:] Der grandiose Verlauf dieser Feier, diese wahrhaft tiefe und echte Massenbegeisterung, die Tatsache, daß Massen da waren, während man die Sozialdemokratie gerne als mausetot hinstellt, scheint nun gewisse Herrschaften um den letzten Rest politischer Vernunft gebracht zu haben, denn anders läßt es sich nicht erklären, daß man dem Genossen Pinter knappe 20 Stunden nach der Feier, als noch ganz Wien unter ihrem wuchtigen Eindrucke stand, einen vom Polizeipräsidenten Seydl unterschriebenen Bescheid durch einen Kriminalbeamten zustellen ließ, wonach die Tätigkeit des Vereines mit sofortiger Wirksamkeit sistiert
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wurde. Gleichzeitig mußte Pinter einer sofortigen Ladung zum Kommissariat Folge leisten, wo man sich lebhaft um das Vermögen des Vereines interessierte. Schließlich wurden die Archivkästen versiegelt. Gegen den Bescheid wurde in einem ausführlichen Schriftsatz Einspruch erhoben; der Verein ist fest entschlossen, bis zum Verwaltungsgerichtshof zu gehen, falls ihm nicht schon vorher sein Recht wird. [Jetzt nicht konfisziert; im selben Absatz weiter:] Das niederträchtigste, schäbigste und korrupteste Blatt von Wien, das ,Neue Wiener Journal‘, wußte neben anderen Märchen auch zu berichten, daß die Regierung der Berufungsinstanz, der Landesregierung Wien, eine Weisung zur Auflösung des Vereines geben wird. Wir zählen gewiß nicht zu den Freunden des gegenwärtigen Regimes; aber solches, was ihm dieser Preßköter da zumutet, getrauen wir uns denn doch nicht anzunehmen. Die freie und unbeeinflußte Rechtsprechung ist ein so hohes Gut, daß es auch dem schärfsten Gegner heilig sein muß. [Die nächste Passage wurde konfisziert; im selben Absatz hieß es weiter:] Die Sistierung des Vereines hat in der gesamten Arbeiterschaft böses Blut gemacht, eine Rechtsprechung im Sinne dieses Preßreptils würde nur manche Erinnerungen an Nationalratsdebatten wachrufen und das Vertrauen an eine objektive Beurteilung des Falles volkommen untergraben.“49
Dieselbe Nummer der ÖASZ vom November 1933 informiert uns unter der Überschrift „Die staatsgefährliche Fahne“, daß die österreichischen Arbeitersänger sogar bei Begräbnissen schikaniert wurden: „Anläßlich der Leichenfeier für unseren Obrist erkundigte sich der ASB. Währung beim Polizeikommissariat Währing, ob gegen das Tragen der Vereinsfahne Einwände bestehen. Das Kommissariat fragte bei der Polizeidirektion an und erhielt die Weisung, das offene Tragen der Fahne im Trauerzug zu untersagen. Wir haben unserem Freund mit geschlossener Fahne das letzte Geleite gegeben; er hätte über den behördlichen Übereifer nur sein bekannt überlegenes Lächeln übrig gehabt. Aber dennoch müssen wir sagen, daß dieses Verbot im krassen Widerspruch zur Notverordnung über das Fahnenverbot steht. Die Fahne der Währinger ist goldbestickt, daher ist die Fahne nicht mehr rot, sondern rot-gold gehalten. Wir werden gegen dieses Verbot Beschwerde an das Bundeskanzleramt führen [...].“50
Zu diesem Bericht „paßt“ die Wiedereinführung der Todesstrafe, die von der christlichsozialen österreichischen Regierung am 10. November beschlossen wurde. Zudem wurde „wegen des Weihnachts- und Neujahrsfriedens“ ein zunächst bis 15. Jänner 1934 geltendes, dann aber bis 31. Jänner ausgeweitetes „Versammlungsverbot“ erlassen, wodurch in diesem Zeitraum auch die üblichen Jahresversamm-
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ÖASZ XXXII (1933), Nr. 11 (1. November), S. 134f. Ebenda S. 140. Josef Obrist, der 1896 den ASB. Währing gegründet hatte und ihm viele Jahre als Obmann vorstand, war am 13. September 1933, sieben Monate nach seinem 90. Geburtstag, gestorben.
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lungen verboten waren.51 Und auch die Texte der gesungenen Chöre mußten immer wieder „der Polizei, Gendarmerie oder Bezirkshauptmannschaft“ vorgelegt werden, was in der ÖASZ folgendermaßen kommentiert wurde: „Wir bringen allen Anfragern zur Kenntnis, daß eine gesetzliche Verpflichtung hierzu nicht besteht. Die provisorische Nationalversammlung hat am 30. Oktober 1918 beschlossen: ,Jede Zensur ist aufgehoben.‘ Dieser Beschluß ist eine Verfassungsbestimmung; eine solche kann durch einen Verwaltungsakt nicht aufgehoben werden. Sollte dennoch von irgendwelcher Seite ein solches Verlangen gestellt werden, so ist die Erteilung eines schriftlichen, mit einer Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheides zu verlangen; dieser Bescheid samt dem Zustellungskuvert ist sogleich dem Bundessekretariat einzusenden, damit die Einspruchsfrist nicht versäumt wird. Wir werden einen solchen Bescheid in allen Instanzen, wenn es sein muß, bis zum Verwaltungsgerichtshofe anfechten, weil es nicht angeht, von hinten herum die Zensur einzuführen.“52
Von speziellem Interesse erscheint aber ein Bericht über den Fortgang der Verfahren bezüglich der Auflösung des ASB. Alsergrund, der ein juristisches ,Kabinettstück‘ der autoritären Dollfuß-Regierung enthüllt: „Eingestellte Strafverfahren Sowohl gegen den Genossen Pinter (,Arbeitersänger-Zeitung‘) als auch gegen den Genossen Pechek (Mitteilungen des Gaues Wien) wurden im Zuge der Beschlagnahme der Blätter ein Strafverfahren wegen des Vergehens der Aufwiegelung (§ 300 StG.) eingeleitet. Nunmehr wurden beide verständigt, daß die Staatsanwaltschaft von der strafgerichtlichen Verfolgung zurückgetreten ist. Daraus kann man Schlüsse nach der Richtung hin ziehen, wie berechtigt die Beschlagnahme war. Wir haben uns sofort an das Gericht mit der Anfrage gewendet, ob nunmehr die beschlagnahmten Stellen verbreitet werden können. Die Anfrage scheint im ersten Augenblick unverständlich, ist es aber mit Rücksicht auf die neu entstandenen Auslegungen des Preßrechtes durchaus nicht. * Am 20. Dezember erhielten wir von der Abt. 26d des Landesgerichtes Wien I zur Zahl 7357/33 folgende Antwort: ,In bezug auf die dortige Anfrage vom 8. Dezember 1933 teile ich mit, daß auf Grund der Einstellung des gegen Josef Pinter eingeleiteten Verfahrens die seinerzeit verfügte Beschlagnahme nicht mehr wirksam ist. Dies hindert aber bei einer neuerlichen Veröffentlichung der seinerzeit beschlagnahmten Stellen weder die neuerliche Einleitung eines Strafverfahrens noch die neuerliche Beschlagnahme.
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Siehe ÖASZ XXXIII (1934), Nr. 1 (1. Jänner), S. 6, sowie ÖASZ XXXIII (1934), Nr. 2 (1. Februar), S. 15f. Hier auch der folgende Kommentar: „Was rechtlich zu dieser Sache zu sagen ist, hat Bundesrat Schärf in der Sitzung des Verfassungsausschusses des Bundesrates (abgedruckt in der ,Arbeiter-Zeitung‘ vom 17. Jänner 1934) mit aller Deutlichkeit gesagt.“ („Bundesrat Schärf“ ist der spätere, von 1957 bis 1965 amtierende österreichische Bundespräsident Dr. Adolf Schärf.) ÖASZ XXXIII (1934), Nr. 1 (1. Jänner 1934), S. 6.
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Die Einstellung des Verfahrens bedeutet an und für sich noch nicht die Freigabe der beschlagnahmten Stellen zur neuerlichen Veröffentlichung. Unterschrift unleserlich.‘ Wir haben diese Mitteilung lange Zeit hindurch intensiv studiert, haben sie auch zünftigen Juristen gezeigt; letztere äußerten sich derart unehrerbietig, daß es konfiskationsreif wäre, wollte man ihr Gutachten abdrucken. Als Prüfungsgegenstand sei obige Mitteilung in Ehrfurcht den juridischen Fakultäten aller österreichischen Universitäten gewidmet. Unsere ganz bescheidene und ganz gewöhnliche, durch keine Rechtskunststücke verbildete Meinung ist, auf eine kurze Formel gebracht: das verstehe, wer kann ...! Wir können es nicht! Da aber der Staatsanwalt, allerdings etwas verspätet, aber dennoch festgestellt hat, daß die beschlagnahmten Stellen doch nicht den Tatbestand des § 300 StG. bilden, dann sollte man meinen, daß die Beschlagnahme seinerzeit irrtümlich erfolgte und daher nunmehr nach Zurückziehung des Strafantrages der Veröffentlichung nichts mehr im Wege stehe. Unsere vorsichtige Anfrage hat also ihren Lohn in vielfacher Hinsicht gefunden: der Fachmann staunt und der Laie wundert sich. ... Wer sich aber keinesfalls wundert, ist der gelernte Österreicher, er hat das Wundern bereits verlernt.“53
Josef Pinter hatte bereits unmittelbar nach der Sistierung des ASB. Alsergrund auf seine Weise reagiert: Am 11. Oktober 1933 fand im Probelokal des ASB. (Wien IX., Marktgasse 2) die „gründende Generalversammlung“ des „Volkschores Alsergrund“ mit dem Namen „Lassallia“ statt, die von Bundesrat Schabes „als Vertreter der Arbeiter-Organisationen des 9. Bezirkes“ begrüßt wurde, ehe das Vorhaben durch „Gen. Schleifer“ seine Darstellung fand. Das Statut des Chores sei „behördlicherseits bereits genehmigt“ worden, seine Aufgabe sei es, „die einzelnen Gesangvereine des Bezirkes auf eine gemeinsame Basis zu bringen, um so einen grossen und leistungsfähigen Chor zu schaffen. Er betont, dass diese Vereinsgründung mit der behördlichen Sistierung des ältesten Bezirksvereines, des ASB. Alsergrund[,] nichts zu tun hat; die Gründung war schon Wochen vorher geplant und wurde nur durch die Ereignisse des 8. bzw. 9. Oktober gefördert. Es kann sich also keinesfalls um die Fortsetzung der Tätigkeit des derzeit sistierten Vereines handeln; im Gegenteile, man müsse ganz von Vorne aufbauen. Wenn sich alte Sänger des ASB. Alsergrund einfinden, so wird man sie gerne aufnehmen, leider sei nur ein kleiner Teil gekommen.“
Offensichtlich hatte ein Großteil der Mitglieder des (ehemaligen) ASB. Alsergrund Angst vor Repressalien durch die Regierung, war die Funktion des „Volkschores“ als Nachfolger des ASB doch allzu deutlich. In der Generalversammlung sprach „Gen. Pinter“ jedenfalls „in eingehender und fesselnder Weise über die Aufgaben der Volkschöre; er betont, dass dieser Chorart eine ungeheure volksbildnerische Bedeutung zukommt, wenn Chormeister und Sänger einträchtig zusammenwirken. Die Arbeiter53
Ebenda. Fettdruck original.
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Sängerschaft des 9. Bezirkes, welche sich derzeit auf 3 Vereine zersplittert, zu einem Grosschor zusammenzuschliessen, sei schon aus künstlerischen Gründen zu begrüssen, da der Grosschor weitaus leistungsfähiger sei.54 Nach einer Darstellung der behördlichen Massnahmen gegen den ASB Alsergrund, dessen Obmann der Referent war[,] gab er die Zusicherung, dass sich dieser Verein für den Fall, als der Bescheid der Polizeidirektion aufgehoben wird, und auch rechtskräftig wird, selbst auflösen und dem Volkschor Lassallia anschliessen wird. Er ermahnt die Versammlung, stets ihrer Pflichten gegenüber der Partei eingedenk zu sein und sichert vollste Unterstützung durch den Oest. ASB zu.“ 55
In der Sitzung des Ausschusses vom 26. Oktober 1933 wurde dann eine große Werbeaktion beschlossen, da der Chor „derzeit“ nur 48 ausübende und 92 unterstützende Mitglieder zähle. Weiters wurde berichtet, daß „der gewählte Chormeister Rudolf Brauner“ das Amt wegen „geschäftlicher Verhinderung“ nicht annehmen konnte, daß aber der „frühere Chormeister des ASB Alsergrund“, Dr. Pahlen, bereit sei, „den Verein wieder zu übernehmen“. In der Folge verliefen sowohl der Probenbetrieb als auch die Aktivitäten der dem Verein angeschlossenen (vom ASB. Alsergrund übernommenen) „Kindersingschule“ zufriedenstellend, am 4. Jänner wurde ein Konzert veranstaltet, für den 18. Februar wurden sowohl ein weiteres Chorkonzert als auch das Auftreten der Kindersingschule beschlossen. Am 10. Februar fand schließlich eine außerordentliche Generalversammlung statt, bei der Kurt Pahlen noch über „unsere künstlerischen Aufgaben für das Jahr 1934“ sowie „über das kommende Konzert am 18. Feber“ sprach, dann setzten die politischen Ereignisse auch dieser Aktivität ein baldiges Ende (siehe unten). Den letzten „politischen“ Meldungen vor dem Verbot der Österreichischen Arbeitersänger-Zeitung, die auf der letzten Seite der Nummer vom Februar 1934 zu lesen sind, kann man weder einen kabarettistischen Zug noch die offene Häme der Redaktion absprechen: „Polizeimaßnahmen gegen Gesangvereine. Wie die ,Ostmärkische Sängerzeitung‘56 berichtet, erstreckt sich die liebevolle Fürsorge der Staatsgewalt nunmehr auch auf die bürgerlichen Vereine, welche in Verdacht stehen, daß ihre Mitglieder getarnte Nazis wären. So wurde von Fällen berichtet, daß das Gehen in Zweierreihen im Trauerzuge verboten wurde; gewisse Chorvorträge wurden verboten, wobei es sich um Lieder handelt, welche seit Jahrzehnten gesungen wurden. Das Tragen der Sängerkappen wurde unter Hinweis auf das Uniformverbot untersagt, kurz: alle Register der unzähligen ,Vurschriften‘ bekommen 54
55 56
Bereits der „Singverein der sozialdemokratischen Kunststelle“ war von David Josef Bach (und Anton Webern) als „Volkschor“ gegründet worden. Hiezu siehe Hartmut Krones, „... daß wir den Tag des Anschlusses sehnlichst erwarten“. Nationale, sozialistische und kulturelle Ambitionen des Österreichischen Arbeitersängerbundes 1918–1934, in: Nationale Musik im 20. Jahrhundert. Kompositorische und soziokulturelle Aspekte der Musikgeschichte zwischen Ost- und Westeuropa. Konferenzbericht Leipzig 2002, hrsg. von Helmut Loos und Stefan Keym, Leipzig 2004, S. 471–503. Protokoll [-Buch des Volkschores „Lassalle“]. Dieses Protokollbuch wurde dem Autor ebenfalls von Frau Helga Müller zur Verfügung gestellt (siehe Anm. 18). Die Zeitschrift des „bürgerlichen“ „Ostmärkischen Sängerbundes“.
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nunmehr auch die bürgerlichen Sänger zu verspüren. Vielleicht wird nun so manchen von ihnen aufdämmern, daß das vielgeschmähte Parlament doch weitaus besser als das ,autoritäre‘ Regieren war; zumindest gab es Schutz vor der entfesselten Bürokratie und bot die Garantien eines Rechtsstaates. Dem Deutschen Sängerbunde sind im letzten Jahre angeblich 200.000 Mitglieder zugewachsen. Das Bündnis mit der Hitlerei hat also seinen Lohn gefunden; deutsches Lied und amtlicher Terror im innigen Bunde vereint – fürwahr, ein unfehlbares Brechmittel!“57
12. Februar 1934. Das Verbot Im Jänner 1934 wurde der Faschismus der Regierung Dollfuß noch offenkundiger, wie u. a. ein Aufruf des Heimwehrführers und späteren Vizekanzlers Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg vom 10. Jänner bezüglich der Ziele des österreichischen Heimatschutzes erkennen läßt: „Unser Kampf ist die uneingeschränkte Durchsetzung der faschistischen Ideenwelt in einer unserem Vaterland entsprechenden Art und Weise.“ Zehn Tage später, am 20. Jänner, wurde der öffentliche Verkauf der Arbeiter=Zeitung endgültig verboten, und am 11. Februar sagte Heimwehrführer und Vizekanzler Emil Fey für den nächsten Tag voraus: „Wir werden morgen an die Arbeit gehen und wir werden ganze Arbeit leisten.“ An diesem 11. Februar 1934 fand im Großen Musikvereinssaal das letzte ArbeiterSinfonie-Konzert statt.58 Der ASB Landstraße, der ASB Favoriten, der Jugendchor Favoriten, die Wiener Symphoniker sowie sechs Solistinnen bzw. Solisten brachten unter der Leitung von Erwin Leuchter, dem (1936 nach Argentinien emigrierten) Chormeister des ASB. Favoriten, Werke von Gottfried Heinrich Stölzel, Paul Amadeus Pisk, J. S. Bach, Darius Milhaud, Arthur Honegger und Hanns Eisler zur Aufführung, und angesichts der bevorstehenden Ereignisse erscheint es schicksalhaft, daß Hanns Eislers Musik zu einem Tonfilm den letzten Programmpunkt dieses Konzertes darstellte – sie schloß mit dem „Solidaritätslied“ und daher (laut dem Abendprogramm des Konzertes) mit den Worten: „Vorwärts, und nicht vergessen unsre Straße und unser Feld! / Vorwärts und nicht vergessen: / Wessen Straße ist die Straße, wessen Welt ist die Welt?“ – Nach dem Konzert zogen zahlreiche Zuhörer vor das Parlament, demonstrierten gegen die Diktatur und sangen – für über 11 Jahre zum letzten Mal öffentlich – das „Lied der Arbeit“. Die Ereignisse des 12. Februar sind bekannt: In Linz drang die Polizei gewaltsam in das Arbeiterheim ein, worauf es zu ersten Kämpfen kam, die sich wie ein Flächenbrand in viele weitere Städte ausbreiteten, in Wien ging die Exekutive gegen Arbeiterheime und Gemeindebauten vor. Gegen Mittag riefen die Sozialdemokraten 57 58
ÖASZ XXXIII (1934), Nr. 2, 1. Februar 1934, S. 16. Fettdruck original. Hiezu siehe auch Henriette Kotlan-Werner, Kunst und Volk. David Josef Bach 1874–1947 (= Materialien zur Arbeiterbewegung 6), Wien 1977, S. 108–110.
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einen Generalstreik aus,59 am Nachmittag erteilte Bundeskanzler Dollfuß die Zustimmung zum Einsatz des Bundesheeres. Die Organisationen der Sozialdemokratischen Partei wurden ebenso wie der Wiener Gemeinderat aufgelöst, der Wiener Bürgermeister Seitz seines Amtes enthoben – ein christlichsozialer Minister stand der Stadt nun als „Bundeskommissär“ vor. Einige Tage tobten blutige Kämpfe, bis der Bundeskanzler am Abend des 14. Februar „Pardon“ versprach, wenn die Waffen niedergelegt würden. Sie wurden niedergelegt – der „Pardon“ blieb aber aus: Neun Arbeiterführer wurden auf der Basis des „Standrechtes“ hingerichtet, das erst am 21. Februar seine Aufhebung erfuhr; am 19. Juni 1934 führte die Regierung die Todesstrafe aber endgültig wieder ein. Die Reichspost, als „Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk“ geführt, hatte bereits am 13. Februar gejubelt: „Die rote Revolte ist niedergeschlagen, ein großes Unglück von Oesterreich abgewendet. In unbegreiflicher Verblendung hatte der Austromarxismus zu einem entscheidenden Schlag gegen unser Vaterland ausgeholt. [...] Die Regierung und die Leitung der staatlichen Exekutive sind von diesem größten Verbrechen, das je gegen die Sicherheit des Staates verübt wurde, nicht überrascht worden. [...] Der Spuk der marxistischen Bonzen [...] hat in dieser Nacht sein Ende gefunden.“60
Und einen Tag später lautete es: „An den Ecktürmen des Wiener Rathauses flattern die Fahnen der österreichischen Heimat und senden ihren Farbengruß über die kampfdurchtobte Millionenstadt hin. Die rote Bastille ist erstürmt, das Vorwerk des Bolschewismus in Mitteleuropa, diese Herausforderung und Drohung in Permanenz, ist aus der Bundeshauptstadt verschwunden [...].“61
Die „Verordnungen“ der Bundesregierung vom 12. Februar, die einen Tag später in einem Bundesgesetzblatt (Abbildung 11) ausgegeben wurden, waren ebenso diktatorisch wie weitreichend: Gemäß 77. Verordnung wurde „im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit“ ein „Bundeskommissär für die Bundeshauptstadt Wien“ bestellt, der diktatorische Macht besaß, da die Befugnisse sämtlicher Gremien „einschließlich des gesamten Wirkungskreises des Stadtschulrates und des Fortbildungsschulrates“ auf ihn übergingen und er zudem berechtigt war, „jeden Bediensteten mit sofortiger Wirksamkeit vom Dienst zu entheben“. Und in der 78. Verordnung wurde 59
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Am 12. Februar 1934 erschien eine Extraausgabe der Zeitung Arbeiterwille. Organ des arbeitenden Volkes für Steiermark und Kärnten mit folgenden Schlagzeilen auf der Titelseite: „Alarm! Alles heraus zum Endkampf gegen den Faschismus! [/] Generalstreik in ganz Oesterreich ausgerufen!“ Und weiter unten lesen wir: „[...] Arbeiter! Angestellte! Republikaner! Sozialisten! Nun gilt es den Endkampf gegen Dollfuß und seine Faschisten! Den Endkampf gegen Kapitalismus, Wirtschaftsnot und Bedrückung aufzunehmen und zum Siege zu führen. [...].“ [N. N.], Letzter Putsch und Untergang des Austromarxismus, in: Reichspost. Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk 41 (1934), Nr. 42 (13. Februar), S. 1. [N. N.], Der Wandel im Wiener Rathause, in: ebenda Nr. 43 (14. Februar), S. 1.
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„zur Abwehr der mit einer Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verbundenen wirtschaftlichen Gefahren [...] § 1. Der Sozialdemokratischen Partei Österreichs [...] jede Betätigung verboten. Die bestehenden Organisationen dieser Partei sind aufgelöst, die Bildung neuer solcher Organisationen ist verboten. Es ist jedermann untersagt, sich auch außerhalb dieser Organisationen irgendwie für diese Partei zu betätigen. Das Tragen von Abzeichen dieser Partei ist untersagt. § 2. Die Ausübung eines Mandates im Sinne der Sozialdemokratischen Partei gilt als Betätigung für die Sozialdemokratische Partei und unterliegt dem Verbot des § 1.
Abbildung 11: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich vom 13. Februar 1934.
„[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...]“
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§ 3. (1) Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften des § 1 werden – unbeschadet der allfälligen strafrechtlichen Verfolgung – von der politischen Bezirksbehörde, im Amtsgebiet einer Bundespolizeibehörde von dieser, mit Geldstrafe bis zu 2000 S oder mit Arrest bis zu sechs Wochen bestraft; diese Strafen können auch nebeneinander verhängt werden. Auch kann diese Behörde auf den Verfall der Gegenstände, auf die sich die strafbare Handlung bezieht, erkennen, und zwar ohne Rücksicht darauf, wem die vom Verfall betroffenen Gegenstände gehören. [...].“62
Am 2. März 1934 erließ die Regierung Dollfuß eine Verordnung über die Errichtung einer Einheitsgewerkschaft, am 24. April sogar – durch eine Verordnung nach dem „Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz“, die am 30. April durch den nach dem Verbot aller oppositionellen Parteien nur mehr als „Rumpf-Parlament“ existierenden Nationalrat abgesegnet wurde – eine neue Verfassung, die dann (in bewußter Symbolik) am 1. Mai in Kraft trat und mit folgender Präambel begann: „Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk für seinen christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung.“
Die tatsächliche Regierungsgewalt sicherte man aber weiterhin vor allem durch Verordnungen und Erlässe ab, die nun nicht zuletzt die Arbeitersänger voll trafen. Die Chöre galten zunächst ja alle als aufgelöst, wenn sie offiziell als Mitglieder des Arbeiter-Sängerbundes geführt worden waren. (Daher mußte gegen viele von ihnen auch nicht mehr „ermittelt“ werden; siehe unten.) Und so gingen innerhalb von wenigen Wochen den sozialdemokratischen Chören Auflösungs-Bescheide zu, selbstverständlich auch dem von Anton Webern geleiteten und im Rahmen der Arbeiter-Sinfonie-Konzerte mit großen klassisch-romantischen Werken hervorgetretenen „Singverein der sozialdemokratischen Kunststelle“,63 der dadurch just mitten in der Probenarbeit für Bachs Johannespassion aufgelöst wurde.64 Zudem beschlagnahmte die Polizei sofort das Eigentum der Arbeitersänger-Chöre. Die Geldmittel wurden eingezogen, Notenarchive „verbracht“, vernichtet oder von „bürgerlichen“ bzw. „vaterländischen“ Vereinen requiriert (bzw. ihnen per Verordnung zugeteilt).65 Dasselbe geschah mit allfällig vorhandenem Mobiliar sowie mit 62 63
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Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich Jahrgang 1934 24. Stück Ausgegeben am 13. Februar 1934. Zu Weberns Arbeit mit dem „Singverein“ sowie insgesamt in der sozialdemokratischen Kulturarbeit siehe Hartmut Krones, Anton Webern, die „Wiener Schule“ und die Arbeiterkultur, in: Anton Webern. Persönlichkeit zwischen Kunst und Politik, hrsg. von Hartmut Krones (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis, Sonderband 2), Wien–Köln–Weimar 1999, S. 51–85. Hiezu siehe Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich 1980, S. 369. So lesen wir in einem Schreiben der Bundes-Polizeidirektion Linz vom 5. November 1934 an den „Gesangsverein ,Liedertafel Sängerlust St. Peter-Linz‘“, daß dadurch, daß dieser Chor „den Grossteil der Angehörigen des aufgelösten Vereines ,Arbeitergesangverein St. Peter-Linz‘ als Mitglieder übernommen“ habe, „die Voraussetzungen gegeben sind, unter denen Sachbestände ehemaliger Arbeiterbildungsvereine an eine gleichartige, vaterländische Nachfolgeorganisation unentgeltlich überlassen wer-
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den Instrumenten; sehr oft kam auch die Weisung, diese zu verkaufen und den Erlös abzuliefern. Die Funktionäre der Chöre wurden zudem bezüglich ihrer politischen Gesinnung untersucht und (wie u. a. auch der Bundesobmann Richard Fränkel) nicht selten inhaftiert, wenn die „Ermittlungen“ ergaben, daß sie sich an den Februarkämpfen beteiligt oder dem Republikanischen Schutzbund angehört hatten. Wollten die Chöre weiterbestehen, so mußten sie ihren Namen ändern und sich bereit erklären, ab nun auf „vaterländischer Basis“ zu wirken, was einige versprachen; sie standen nun aber unter verschärfter Beobachtung, mußten Programme und Lied-Texte kontrollieren bzw. zensurieren lassen und wurden, falls sie in den Verdacht einer weiterhin sozialdemokratischen „Gesinnung“ gerieten, bald endgültig „aufgelassen“. Die wenigen unter ihrem Deckmantel (bzw. unter neuem Namen) überlebenden Vereine wurden 1938 von den Nationalsozialisten in ihren „Deutschen Sängerbund“ eingegliedert oder erfuhren dann 1939 ihre „Auflösung“. – In der Folge sollen nun einige „typische“ Ereignisse, nach Bundesländern geordnet, ihre Darstellung erfahren. Wien Nach dem 12. Februar begann die Regierung Dollfuß noch in derselben Woche mit ihren Aktionen gegen sämtliche sozialdemokratischen Vereinigungen und somit auch gegen die Arbeitersänger. So hält z. B. das Protokollbuch des ASB „Freie Typographia“ folgendes fest: „Die Kanzlei wurde Samstag, den 17, Februar, gesperrt und versiegelt, nach wenigen Tagen die Türschlösser ausgetauscht. Der Kassier Sturm, der zur behördlichen Schließung telephonisch berufen wurde, lieferte am Kommissariat einen Betrag von über 200 S ab [...]. Am 26. Februar protestierte der Obmann in einer Eingabe gegen die Sperre der Kanzlei. Der schriftliche Bescheid der Polizeidirektion über die Einstellung der Tätigkeit des Vereines, vom 26. Februar datiert, erreichte uns erst am 6. März. Der Einstellung der Tätigkeit folgte einige Tage später der Bescheid des Sicherheitskommissärs des Bundes für Wien auf Auflösung des Vereines. Die Vereinsleitung protestierte, rekurierte [!] und legte gegen die Auflösung durch alle Instanzen Berufung ein. Ohne Erfolg. Die Eingaben stehen natürlich stark unter dem Einfluß der Begebenheiten. Jedes offene Wort, gesprochen oder geschrieben, hatte die Perlustrierung und wochen- und monatelange Einziehung zur Folge. Gegen diese brutale Gewalt konnte man nur mit List und kluger Taktik operieren. Das mag manches in den Eingaben erklären.“
Noch schlimmer traf es die Mitglieder des ASB Hietzing, wie in einer handschriftlichen Chronik des Chores unter der Rubrik „Ereignisse der 30er Jahre“ zu lesen ist: „1934 wurden die Sänger während der Probe an einem Montag ca 20.00 im Gasthaus Merk verhaftet und 24 Stunden im Polizeikommissariat Hietzing eingesperrt. Hausdurchsuchungen bei einzelnen Spitzenfunktionären gab es auch.“ den können“ (Unterstreichungen original). Siehe Helmut Brenner, „Stimmt an das Lied ...“ (Anm. 5), S. 169; dort auch eine Abbildung des Schreibens.
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Der „Amtsweg“ ging folgendermaßen vor sich: Bei eindeutig als sozialdemokratisch identifizierten Chören legte die „Bundespolizeidirektion in Wien“ bereits am 22. bzw. 23. Februar 1934 dem „Sicherheitskommissär f.d. Gebiet der Bundeshauptstadt Wien“ auf hektographiertem Vordruck einen Akt „Einstellung der Tätigkeit und Antrag auf Auflösung des Vereines“ vor (Abbildung 12)66, in dem der auszustellende Bescheid vorformuliert war. Für den „Arbeiter-Sängerbund des städtischen Gaswerkes Leopoldau“67 sah dies folgendermaßen aus (die den Verein betreffenden maschinschriftlichen Einfügungen sind kursiv wiedergegeben): „Ad I.) und II.) gleichlautend: Der Verein (siehe Betreff) mit dem Sitze in Wien, XXI. Gaswerk Leopoldau, der seinen gegenwärtigen Rechtsbestand auf den Erlaß des Mag. Abt. 49. 5468-29 vom 9. IX. 29. gründet, bezweckt nach § 2 seiner Satzungen: (abschreiben inclusum rote Klammer aus dem zuliegenden Statut von ,die Pflege bis Genehmigung.‘) Nun hat die Bundesregierung gemäß der Verordnung vom 12. Februar 1934 B.G.Bl.Nr. 78 ex 1934 der ,Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs‘ jede Betätigung in Österreich und insbesonders auch die Bildung irgendwelcher Parteiorganisationen verboten. Im Hinblick darauf entspricht der in Rede stehende Verein (siehe Betreff), von dem amtsbekannt ist, dass er im Sinne dieser Partei tätig war und noch ist, nicht mehr den Bedingungen seines rechtlichen Bestandes. Die Bundespolizeidirektion ad I.) beehrt sich deshalb den Antrag auf behördliche Auflösung dieses Vereines im Grunde des § 24 des Gesetzes vom 15. November 1867 R.G.Bl.Nr. 134 mit dem Beifügen zu stellen, daß sie gleichzeitig mit ihrem abschriftlich beigeschlossenen Bescheide gleichen Datums V.B. Zl. 2248/34 die Tätigkeit dieses Vereines unter Ausschluß einer aufschiebenden Wirkung einer allfälligen Berufung eingestellt hat. ad II.) stellt hiemit die Tätigkeit des Vereines (siehe Betreff) mit dem Sitze in Wien XXI. Gaswerk Leopoldau gemäß § 25 Absatz 2 und 28 des Gesetzes vom 15. November 1867 R.G.Bl.Nr. 134 über das Vereinsrecht bis zur endgültigen Entscheidung über die gleichzeitig beim Wiener Herrn Sicherheitskommissär f. d. Gebiet der Bundeshauptstadt Wien [durch den ms. Einschub überklebt: Magistrate als Amt der Wiener Landesregie-]rung, Abteilung 49, beantragte behördliche Auflösung eines Vereines ein. Einer allfälligen gegen diesen Bescheid eingebrachten Berufung wird die aufschiebende Wirkung gemäß § 64 Absatz 2 A.V.G. aberkannt. Ad I.) und II.) gleichlautend: Da der maßgebende Sachverhalt von vornherein feststeht, kann gemäß § 56 A.V.G. von der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens gemäß §§ 37 und 38 A.V.G. Abstand genommen werden. Ad II.) 66
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Archiv der Republik, XV 2592, V.B. 1244/34. Die Auswahl der Abbildungen wurde nicht nach inhaltlichen Kriterien, sondern auf Grund des Erhaltungszustandes getroffen; inhaltlich sind die Akten ohnehin identisch. Archiv der Republik, XV 9951. V.B. 2248/2/34. Die Unterstreichungen sind original.
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Abbildung 12: Antrag der BundesPolizeidirektion in Wien auf Auflösung des ASB Hernals. Rechtsmittelbelehrung: Gegen diesen Bescheid kann gemäß § 63 des Gesetzes vom 21. Juli 1925 B.G.Bl. Nr. 274 über das allgemeine Verwaltungsverfahren binnen nach 2 Wochen erfolgter Zustimmung [hs. über die Buchstaben ,imm‘: ell] bei der Bundespolizeidirektion Wien schriftlich oder telegraphisch die Berufung eingebracht werden. III a.) Bericht: (fortlaufend zu schreiben auf einer Abschrift des Berichtes I.) Wird dem Bundeskanzleramte, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit, Abteilung G.D.2, zu Handen Seiner Hochwohlgeboren Herrn Ministerialrat Raoul Allgayer in Wien zur gefälligen Kenntnisnahme vorgelegt. III b.) (fortlaufend zu schreiben auf einer Abschrift des Berichtes I.) Wird dem Bundeskanzleramte, Staatspolizeiliches Bureau, in Wien zur gefälligen Kenntnisnahme vorgelegt. IV.)
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An den Herrn Stadthauptmann Floridsdorf. Der zuliegende Bescheid wird mit Rücksicht auf den Vereinssitz zur umgehenden Zustellungsveranlassung gegen datierten und vidierten Zustellschein übermittelt. Eine Liste der letzten Vorstandsmitglieder liegt bei. Gleichzeitig wollen die, die Einstellung der Vereinstätigkeit und die Erfassung des gesamten Vereinsvermögens sichernden Maßnahmen – wie Inventarisierung, Aufnahme der bezüglichen Niederschriften mit den erforderlichen Durchschlägen, Sperre von Contis etc. – im Einvernehmen mit dem Vorstande des V.B. durchgeführt werden. Eine Abschrift der Inventarisierung ist dann sofort auch an den Vorstand des L.St. vorzulegen. V.) An den Vorstand des L.St. (fortlaufend auf einer Abschrift des Berichtes I.) zur gefälligen Kenntnisnahme übermittelt mit Rücksicht auf die eventuell zu verfügenden [!] Vermögensbeschlagnahme. Das Koat Floridsdorf wurde angewiesen eine Abschrift der aufzunehmenden Inventarisierungsniederschrift an dortamts vorzulegen.“
Innerhalb weniger Tage (in den eingesehenen Akten vor allem am 26. Februar) wurde dann der Bescheid unterfertigt und den Chören Anfang März zugesandt (Abbildung 13)68. Der (wieder aus dem Akt des „ASB des städtischen Gaswerkes Leopoldau“69 zitierte) „Spruch“ lautete (maschinschriftliche Einfügungen sind kursiv wiedergegeben): „Der Verein ,Arbeiter Sängerbund des städtischen Gaswerkes Leopoldau‘[,] der seinen Rechtsbestand auf den h.ä. Bescheid vom 9. IX. 29, Zl. 49/5468 gründet, wird gemäss § 24 des Vereinsgesetzes vom 15. November 1867, RGBL.Nr. 134 aufgelöst. Einer allfälligen Berufung gegen diesen Bescheid wird die aufschiebende Wirkung gemäss § 64, Absatz 2 AVG. aberkannt. Begründung: Mit Verordnung der Bundesregierung vom 12. Februar 1934, BGBl.Nr. 78 wurde der sozialdemokratischen Partei jede Betätigung verboten. Jedermann ist untersagt, sich irgendwie für diese Partei zu betätigen. Es ist nun amtsbekannt, dass der im Spruche angeführte Verein im Sinne dieser Partei bis zur Einstellung seiner Tätigkeit durch die Bundespolizeidirektion tätig war. Durch das erlassene Betätigungsverbot entspricht er nicht mehr den Bedingungen seines rechtlichen Bestandes und war daher aufzulösen. Da der massgebende Sachverhalt von vorneherein feststand, konnte gemäss § 56 AVG. von der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens Abstand genommen werden. Es ist unstatthaft, den organisatorischen Zusammenhang zwischen den Mitgliedern dieses hiemit aufgelösten Vereines weiterhin aufrecht zu erhalten. 68 69
Archiv der Republik, XV 2592, M.Abt. 49/1807/34. Archiv der Republik, XV 9951, M.Abt.49/3135/34. Die Unterstreichungen sind original.
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Abbildung 13: Auflösungs-Bescheid an den ASB Hernals. Die weitere Aufforderung oder Anwerbung zu dem aufgelösten Verein oder die Fortsetzung der Wirksamkeit dieses Vereines begründet, sofern die Handlung nicht unter die strengeren Bestimmungen der §§ 286 und 288 St.G. fällt, den Tatbestand des Vergehens nach § 297 St.G. und wird mit Arrest, im Wiederholungsfalle mit strengem Arrest von 3 – 6 Monaten bestraft; die Teilnahme an einem solchen Verein ist gemäß § 298 St.G. als Übertretung mit Geldstrafe bis zu 2.500 S oder mit Arrest von 1 – 3 Monaten bedroht. Alle sonstigen Übertretungen oder Umgehungen dieses Bescheides werden nach § 36 des Gesetzes vom 15. November 1867, BGBl.Nr. 134 in der Fassung des Artikels V der Strafgesetznovelle vom Jahre 1932, von der Bundespolizeibehörde mit Arrest bis zu sechs Wochen oder mit Geldstrafe bis zu 2.500 S geahndet. Allfällige, auf Grund der Ministerialverordnung vom 26. Februar 1917, BGBl.Nr. 79, erteilte Genehmigungen für die Vereinsuniform und das Ver-
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einsabzeichen des aufgelösten Vereines werden durch den vorstehenden Auflösungsbescheid hinfällig. Rechtsmittelbelehrung: Gegen diesen Bescheid kann binnen zwei Wochen nach Zustellung bei der Magistrats-Abteilung 49 die Berufung eingebracht werden. Für den Sicherheitskommissär des Bundes für Wien: Stollewerk m.p.“
Bei einigen Chören wurde (noch vor dem „Bericht“ und dem folgenden „Bescheid“) die „politische Einstellung“ ihrer Funktionäre überprüft. Auch hier gab es ein hektographiertes Formular, in das dann die Namen und Adressen von Obmann, Kassier und Schriftführer sowie ihrer Stellvertreter eingetragen wurden. Die Nachfrage ging von der „Bundes-Polizeidirektion Wien | Vereins-Bureau“ an den „Herrn Stadthauptmann“ des jeweiligen Bezirkes und lautete folgendermaßen: „Der obgenannte Verein mit dem Sitze in Wien, ... [Adresse] soll im Sinne der sozialdemokratischen Partei tätig gewesen, bezw. noch tätig sein. Unter Hinweis auf die unten stehenden Daten der letzten Wahlanzeige zur gefälligen umgehenden Bekanntgabe allfälliger dortiger Wahrnehmungen, bezw. Einleitung von Erhebungen und sofortigen Berichterstattung.“70 [Es folgen die Namen und Adressen der Funktionäre.]
Wenn sich das Vereins-Bureau der Polizeidirektion bezüglich der „politischen Einstellung“ eines Chores und seiner Funktionäre nicht sicher war, lautete die Anfrage (in unserem Fall bezüglich des Chores „Arbeiter-Sängerbund Freiheit“ in Hakking/Hietzing) anders: „Ist der obgenannte Verein als einer jener Vereine anzusehen, die im Sinne der sozialdemokratischen Partei tätig gewesen sind? Hier sind als Funktionäre dieses Vereines nach der letzten hieramts erliegenden Wahlanzeige vorgemerkt: [...] ad 1) Zur entsprechenden dringenden Erhebung und allfälligen Antragstellung.“71
In dem wenige Tage später folgenden „Bericht“ sind die Ergebnisse der „Erhebung“ genauestens festgehalten: „Der fragliche Gesangsverein ist ausgesprochen sozialdemokratisch und gehörten auch die angeführten Mitglieder der der [!] soz.dem. Partei an. – Der angeführte Sitz XIII., Hackingerstrasse 55 befand sich in einem soz.-dem. Lokal und wurde dieses Lokal auch auf Grund der dort ständig abgehaltenen soz.dem. Versammlungen und sonst. derartiger Belustigungen von h.a. amtlich gesperrt. – [Unterschrift unleserlich]“72
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Aus dem Akt des ASB Döbling. Archiv der Republik, XV 5461, V.B. 2889/2/34. Anfrage vom 4. April 1934. Der „Bericht“ stammt vom 9. April (Unterstreichungen original). Archiv der Republik, XV 6320, V.B. 2554/34. Im Falle des ASB Aspern hieß es bei einem Funktionär folgendermaßen: „Karl Graf war Mitglied des Republikanischen Schutzbundes, Abt. XXI. Bezirk.“ Archiv der Republik, XV 10008, V.B. 3234/34.
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Bei der „amtlichen Sperrung“ des „soz.-dem. Lokales“ sowie der Beschlagnahmung der dort verwahrten Gegenstände war auch eine Trommel in die Hände der Polizei gefallen, die das Privateigentum von Franz Bernard war, der nun am 16. März 1934 dem Polizeikommissariat Hietzing folgendes Schreiben sandte, das in einer Abschrift erhalten ist: „Infolge polizeilicher Sperrung des Vereinslokales des soz. dem. Gesangsvereines ,Freiheit‘, XIII., Hackingerstrasse 55 erscheint unter anderem eine grosse Trommel beschlagnahmt. Die Gefertigten ersuchen als Eigentümer derselben um Freigabe des Instrumentes und führen zur Begründung ihres Ansuchens folgendes an: Seinerzeit hat die Salonkapelle Karl Flere über Intervention desselben ihre Orchesterproben in obgenannten [!] Lokale abgehalten. Laut getroffener Vereinbarung hat der Verein ,Freiheit‘ der Kapelle für die Anschaffung von Musikinstrumenten Geld zur Verfügung gestellt, das von seitens [!] der Orchestermitglieder in der Form zurückerstattet wurde dass sie sich für Zwecke des Vereines kostenlos bezw. zu ermässigten [!] Honorar zu Musikaufführungen zur Verfügung gestellt haben. Die Orchestermitglieder haben ausser dieser einen geschäftlichen, keine wie immer geartete Verbindung mir dem Verein ,Freiheit‘ aufrechterhalten und waren auch weder Mitglieder desselben, noch haben sie irgend welche Beiträge zu Gunsten dieses Vereines geleistet, und ersuchen nunmehr die verbliebenen gefertigten Orchestermitglieder auf Grund des Vorangeführten um Herausgabe der im oben erwähnten Lokale deponierten und nunmehr beschlagnahmten grossen Trommel Hochachtungsvoll Schopper Karl, Obsieger Franz und zwei unleserliche Unterschriften“
Ob die Trommel zurückgegeben wurde, geht aus dem vorhandenen Akt nicht hervor. – Einige nicht prononciert sozialdemokratisch agierende Vereine wurden nicht sofort aufgelöst, sondern mit der Aussicht auf einen möglichen Weiterbestand geködert, den man für den Fall einer „vaterländischen“ Umorientierung zusagte. (Andernfalls, so hieß es, würde das Vereinsvermögen jedoch einem „vaterländischen“ Chor zufallen.) Im Protokollbuch des Volkschores „Lassalle“, der im Oktober 1933 als Nachfolge-Vereinigung des aufgelösten ASB Alsergrund gegründet wurde (siehe oben), lesen wir diesbezüglich im Protokoll über die Ausschuß-Sitzung vom 21. Februar 1934 folgendes: „Die Vorsitzende Frau Wagner berichtet, daß der Vereinsobmann Gemeinderat Schleifer in Haft ist. Nun wird über das weitere Schicksal des Vereines beraten. In der sehr eingehenden Debatte wird festgestellt, das [!] an einen Weiterbestand des Vereines unter den gegebenen politischen Verhältnissen nicht zu denken ist. Da auch der Österr. Arb. Sängerbund vor der Auflösung steht und der GauWien bereits aufgelöst ist, müsse man selbständig handeln.“
Danach wurde sowohl die Auflösung des „Volkschores“ beschlossen als auch des weiteren, daß das
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„gesammte [!] Vereinsvermögen einem auf vaterländischer Grundlage neuzubildenden Vereine im neunten Bezirke zufallen soll, wenn sich ein solcher binnen Jahresfrist findet. Zur Abwicklung der Vermögensbestände wird ein Liquidator und ein dreigliedriges Komitee eingesetzt. [...]. Das Archiv geht einstweilen in Verwaltung des Liquidators über, dessen Verwertung ist für den Fall, als nicht ein neuer Verein gebildet werden kann, aussichtslos. Gleichzeitig wird beschlossen, einen neuen Verein auf vaterländischer Grundlage zu schaffen um die Arbeiterschaft für den Wiederaufbau des Landes zu gewinnen, was auch im Interesse der Arbeiterschaft liegt. Ein Beitritt zu einem bestehenden bürgerlichen Vereine kommt aus dem Grunde nicht in frage, da im neunten Bezirk ein gemischter Chor überhaupt nicht besteht und anderseits die Mitglieder kaum einem solchen Vereine beitreten würden, da das gesellschaftliche Milieu ihnen nicht zusagt.“
Und schließlich heißt es in der Sitzung des Liquidationsausschusses vom 7. März 1934, daß die Satzungen der „neuzugründenden“ Chorvereinigung „Alsergrund“ „auf dem Führerprinzip der Vaterländischen Front aufgebaut“ sein müßten. Eine solche Chorvereinigung scheint dann allerdings nie gegründet worden zu sein. – „Vaterländisch“ umorientiert hat sich hingegen – zumindest nach außen hin – der ASB Nordbahnbund, nachdem in der Plenarversammlung vom 22. März 1934 bekanntgegeben wurde, daß ein weiteres Bestehen des Chores nur möglich sei, „wenn er auf vaterländische Grundlage gestellt wird“. Als sich die Vereinigung hiezu bereit erklärte, wurde sie am 12. Juni 1934 mit der folgenden Einschränkung genehmigt: „Das Tragen der Vereinsabzeichen ist jedoch nicht gestattet.“73 Die „aufgelösten musikalischen Verbände und Einrichtungen“ erhielten nun, nachdem die Auflösung rechtskräftig geworden war, in der Person von Prof. Dr. Karl Lugmayer einen „treuhändigen Verwalter“ zugeteilt, und dieser konnte – falls er die „Neutralitäts-Versprechungen“ der Chöre für glaubwürdig hielt – beim Vereinsbüro der Bundespolizeidirektion „um Einleitung der Amtshandlung zwecks Rücknahme des seinerzeit erflossenen Auflösungsbescheides“ sowie um „Aufhebung der polizeilichen Sperre des Vereinsvermögens“ ansuchen. Im Falle des „ASB des städtischen Gaswerkes Leopoldau“ (siehe oben) war dies am 5. Oktober 1934 der Fall: Der Chor würde nun „Gesangsverein ,Leopoldau‘“ heißen und „eine Tätigkeit entfalten [...], die in keiner Weise den politischen Tendenzen der Regierung zuwiderläuft und sucht dieser als Sektion sachliche Fühlungnahme mit dem Verein ,Wiener Bildungswerk‘. Als Ueberwachungspersonen beantrage ich nunmehr die Einsetzung eines Verwaltungsausschusses gemäss § 5 der Verordnung vom 3.III. 1934, R.G.Bl.Nr. 130/34 bestehend aus nachstehenden Herren: Vorsitzender: Herr Prof. Dr. Karl Lugmayer, 16., Funkengerng. 31 “ Stellv.: Herr Dr. Hans Jancik, 17., Hernalsergürtel 31, Beisitzender: Herr Kapellmeister Louis Seidel, 5., Margareten-Gürtel 126.“
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Zit. nach einer maschinschriftlichen Chronik des ASB Nordbahnbund.
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Der Chor mußte dann über ein Jahr auf eine Bearbeitung der Eingabe warten; erst am 10. Dezember 1935 fanden im „Vereins-Bureau“ der Polizeidirektion Wien die diesbezüglichen Gespräche statt, und am 19. Dezember verordnete ein Bescheid den „Widerruf der behördlichen Auflösung und Einsetzung eines Verwaltungsausschusses“, der – wie bei (wohl) allen „aufgelösten musikalischen Verbänden und Einrichtungen“ – aus den Herren Lugmayer, Jancik und Seidel bestand. Die Begründung für diese Maßnahme ist beste faschistische Tradition: „Da jedoch die frühere Vereinsleitung nicht die Gewähr bietet, daß sie die Geschäfte in einer mit den Interessen der Allgemeinheit übereinstimmenden Weise führen wird, musste sie enthoben und zur Sicherung einer die allgemeinen Interessen berücksichtigenden Geschäftsführung ein Verwaltungsausschuss bestellt werden.“
Dem von den Regierungsstellen eingesetzten Verwaltungsausschuß mußten die Chöre u. a. die geplanten Programmpunkte von Konzerten zur Genehmigung vorlegen, und dieser hielt die Stücke (besser gesagt: die Texte) dann für „tragbar“ oder „nicht tragbar“. So hielt Karl Lugmayer Ende Mai 1937 bezüglich der vom ASB Hietzing (XIII., Hütteldorferstrasse74 122) zur Aufführung vorgesehenen Chöre Festgesang (von Josef Scheu, Text: Alfons Petzold), Morgenrot (von Otto de Nobel, Text: Dirk Troelstra) und Zur Erntezeit (von Hans Urbanek ?) sogar Rücksprache mit dem „Pol.Koär Dr. Erwin Fröhlich“ von der Polizei-Direktion, der das Problem seinerseits weitergab. Schließlich kam das „Preß-Bureau“ der „BundesPolizeidirektion in Wien“ am 31. Mai 1937 zu dem Schluß, daß diese drei Chöre „nach h.ä. Auffassung [...] insbesondere bei Aufführung im Rahmen eines soz.dem. Vereines als geeignet [scheinen], politische Demonstrationen hervorzurufen.“75
Der ASB Favoriten hingegen konnte am 30. April 1937 unter ihrem Chormeister Erwin Weiss eine „Akademie“ abhalten, bei der u. a. Die Hoffnung von Josef Scheu (Text: Emanuel Geibel), das Gebet aus dem 20. Jahrhundert von Paul Amadeus Pisk (Text: Josef Luitpold Stern) sowie Das Große von Leo Human (Text: Alfons Petzold) erklangen. Allerdings waren Zensurbeamte im Saal, um bei einer allfällig beginnenden Demonstration sofort die Weiterführung des Konzertes zu unterbinden.76 Auch bezüglich ihrer (tatsächlichen oder auch nur vermuteten) politischen Aktivitäten standen die Arbeiterchöre unter ständiger Überwachung, und dies nicht nur durch die Polizei, sondern auch durch andersdenkende Mitbürger. So verfaßte am 15. November 1935 ein Mitglied des Bezirks-Kommissariates Hernals auf Grund von anonymen Anzeigen den folgenden Bericht über den ASB Hernals:
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Damals XIII. Wiener Gemeindebezirk. Archiv der Republik, XV 2515, V.B. 1206/34 bzw. P.B 25/108/37. [Festschrift] 65 Jahre Arbeitersang in Favoriten 1890–1955, S. 25.
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„Wie dem Gefertigten bekannt ist, sind fast alle Mitglieder des instehenden Vereines früher Sozialdemokraten gewesen und sind die Personen auch den Hausparteien nicht dem Namen nach, aber doch vom Sehen aus bekannt, daß sie früher sozialdemokratisch eingestellt waren. Im Hause Hauptstraße 79 wohnen diverse Parteien, die in dem Vereine eine getarnte Betätigung vermuten, daß das Lokal als Vereinssitz nicht angemeldet ist und erscheint es erklärlich, daß die Hausparteien anonyme Anzeigen erstatten, die den Verein als getarnt hinstellen. Schon der Name Arbeiter-Sängerbund gilt für die Haus-Parteien als verfänglich und ausserdem die ihnen vom Sehen aus bekannten ehemaligen Sozialdemokraten, daher die Vermutung, daß es sich um einen getarnten Verein handelt. Der Obmann wurde seinerzeit schon vom Gefertigten darauf aufmerksam gemacht, daß sich alle Mitglieder streng nach den bestehenden Vorschriften zu verhalten haben, ansonsten Schwierigkeiten erwachsen möchten, die für den Verein nicht von Vorteil sein würden. Dzt. konnte von einer illegalen Betätigung, (Singen von sozialistischen Liedern etz.) nichts beobachtet werden.“77
Da beim Vereins-Bureau selber keine Anzeigen eingetroffen waren, wurde von diesem zunächst einmal nichts unternommen. In Hernals brachen aber weitere Streitereien zwischen dem Chor und einigen Hausparteien aus, die sich durch das Singen gestört fühlten und insbesondere über den von den Mitgliedern des Jugendchores und des Kinderchores verursachten Lärm klagten. Weitere Anzeigen folgten, und als auf Grund einer solchen vom Bezirks-Polizei-Kommissariat festgestellt wurde, daß von den ca. 50 Mitgliedern des Jugendchores des ASB Hernals „mehr als 20 durch die komm.[unistische] Jugend erfasst waren“ und weitere „ebenfalls aus Linkskreisen stammten“, beantragte der Ottakringer Stadthauptmann am 23. Dezember 1936 die Auflösung des Vereines, dem sich am 19. Jänner 1937 das Bezirks-Polizei-Kommissariat Hernals anschloß und dies folgendermaßen begründete: „Der ,Arbeiter Sängerbund Hernals‘, der schon in der Zeit vor der Revolte im Jahre 1934 im Bezirke Hernals als radikal sozialdemokratisch eingestellter Verein galt, hat nach dem Jahre 1934 unter einem Verwaltungsausschuss mit dem Sitze XVII Hernalser Hauptstrasse 79a seine Tätigkeit fortgesetzt und haben seit dieser Zeit aus den Kreisen der vaterländischen Bevölkerung im Bezirke, die Klagen, dass in diesem Vereine bei den gelegentlichen Zusammenkünften und Uebungen eine regelrechte Propagandatätigkeit im Sinne der verbotenen sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien weiter fortgeführt werde, immer wieder den Weg teils zum Kommissariate, teils zur Bezirksstelle der V.F. [Vaterländischen Front], teils auch ins Kanzleramt gefunden. Es wurde immer dabei bedeutet, dass die Vereinsmitglieder diese illegale Tätigkeit nur dann betrieben, wenn die Mitglieder des Verwaltungsausschusses nicht zugegen, bezw. die Kontrollorgane des Kommissariates die wiederholt die Tätigkeit überwachten, nicht anwesend waren. Die Bezirksstelle der V.F. XVII teilte sogar mit, dass anfänglich ihren Organen das Recht zum Betreten der Vereinslokale verwehrt worden war, sodass sie erst nach Belehrung der Vereinsfunktionäre im hiesigen Amte in 77
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der Lage waren, die ihnen gesetzlich zustehende Ueberwachungstätigkeit der politischen Gebahrung des Vereines auszuüben. Das Vereinslokal, das im zweiten Hofe des genannten Hauses gelegen ist und sowohl einen Eingang vom Hof, als auch einen rückwärtigen Eingang vom Stiegenhaus besitzt, bot hiezu reichlich Gelegenheit. Wenn sich auch die Vereinsmitglieder bei den gelegentlichen Ueberwachungen in ihrem Vereinslokale, sowie auch bei den offiziell angemeldeten Veranstaltungen jedweder offenen illegalen Betätigung enthielten, so konnte doch immer wieder die Wahrnehmung gemacht werden, dass die Vereinsmitglieder und deren Anhang, sich vielfach aus bekannten, ehemaligen Parteigängern der sozialdemokratischen Partei zusammen setzten. Der Nachweis für eine Betätigung konnte allerdings erst durch die Amtshandlung des Kommissariates Ottakring erbracht werden, bei der festgestellt wurde, dass von ca 50 Mitgliedern des Jugendchores dieses Vereines 20 Mitglieder organisatorisch durch die K.P. erfasst waren, während sich die anderen Mitglieder des Jugendchores der kommunistischen Partei gegenüber tolerant verhielten. Die Aufsichtsperson des Jugendchores, also offenbar eine Person, die mit Wissen und Willen des Gesamtvorstandes des Vereines bestellt war, (Johann Mertl, Verkäufer, XVII Blumengasse 75 wh) wurde selbst als Kassier einer kommunistischen Jugendzelle entlarvt und mit Erkenntnis des Koates Ottakring unter Pst 7325/36 am 29. XII. 1936 mit 3 Monaten Arrest bestraft. Dieses Kommissariat hat ferner im Zuge dieser ihrer Amtshandlung festgestellt, dass eine Reihe vereinsfremder Personen als ,Gäste‘ im Vereinsheim verkehrten und ihre kommunistischen Geschäfte dort abwickelten. Da es nach dieser Sachlage wohl auf der Hand lag, dass alle diese Vorgänge, wenn nicht unter Mitwirkung, so doch mindestens unter Duldung des Vereinsvorstandes vor sich gingen, die Mitglieder der Jugendgruppe sich doch vornehmlich aus den Kindern oder jugendlichen Verwandten der übrigen Vereinsmitglieder aus der Frauen und Männergruppe rekrutierten, erscheint bei einer blosen [!] Auflösung der Jugendgruppe wohl keineswegs die Gewähr geboten, dass für den Fall des Bestehens der Gruppe der Erwachsenen, diese illegale Tätigkeit nicht weiter fortgesetzt werden würde. Aber auch die Verlegung des Vereinssitzes in einen anderen Raum, dessen Ueberwachung vielleicht besser durchgeführt werden könnte, erscheint aus dem gleichen Grunde nicht zureichend. Da aber eine ständige Ueberwachung eines Vereinsbetriebes, die nach den geschilderten Verhältnissen wohl unerlässlich wäre, weder von h.ä. Organen noch auch durch Mitglieder eines Verwaltungausschusses möglich erscheint, wird von h.a. die Auflösung des Vereines konform mit dem Antrag des Kommissariate [!] Ottakring (wie dies von dieser Stelle auf Grund einer h.ä. Anfrage am 14.I.1937 mitgeteilt wurde) beantragt, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass Kapellmeister Seidl anlässlich einer Vorsprache beim Koate Ottakring mitgeteilt hat, dass der Verein selbst die Auflösung beschliessen werde.“78
Am 12. März fand dann um 8 Uhr früh im Gasthaus Sula, dem Sitz des ASB Hernals, „über amtlichen Auftrag“ unter der Leitung von „Kr.Ray.insp. Karl Mikstein“ die „Sicherstellung von sämtlichen [!] Inventar d. Arbeiter-Sängerbundes Hernals“ 78
Archiv der Republik, XV 2592, V.B. 4169/13/37 (Unterstreichungen original).
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statt, bei der neben dem Kassabuch (Kassastand: 5 Schilling, 74 Groschen) der Inhalt von sieben Kästen „in Verwahrung genommen“ wurde: „I. Kasten: Eine kompl. Fahne mit 30 Bänder, einen Junkerrock mit zwei Hüte [!] und eine Junkerschleife. Ferner eine kleine Kinderchorfahne, mit Schrift Kinderchor XVII. II. Kasten: 16 Mappen mit diversen Noten für Kinderchor, 50 Stück Bücherl ,Singende Jugend‘ II Band. 59 “ - “ - ,Singende Jugend‘ I. Band. Ferner diverse Schreibutesilien [!] und Christbaumschmuck. III. Kasten 59 Stück Mappen mit ca. 314 Chöre[!], (Männerchöre) I. und II. Band ,Donau zum Rhein‘ (I. Band 69 Stück, II. Band 67 Stück) und Wiener Liederbücher (Männerchor 37 Stück.) Diverses Schriftführermaterial, 19 Stück Deutsche Liederbücher ist Privateigentum d. Sänger. und eine kleine eiserne Handkassa. IV. Kasten 30 Bände mit gemischten Chor. V. Kasten Kinderspielsachen. VI. Kasten Theatergarderobe und diverse Kostüme. VII. Kasten nur leere Mappen. Ferner einen Konzertflügel (Marke Gottfried Cramer Wien). Weiters noch 7 Stück Bilder mit Rahmen und Glas im Klublokal. Weiters zwei Bund Schlüsseln mit 14 Stück Schlüsseln zu den Kästen.“
Der die Amtshandlung rechtfertigende Bescheid trug dann das Datum 24. Mai 1937 sowie den Titel „Vermögensbeschlagnahme“ und listete vor der „Begründung“ das „sichergestellte“ Eigentum des ASB Hernals noch einmal summarisch auf: „Die Beschlagnahme umfaßt 7 Kasten mit verschiedenen [!] Vereinsinventar, zahlreiche Noten für Chöre und Theatergarderobe sowie Kinderspielsachen, ferner einen Konzertflügel, Marke Gottfried Cramer Wien, bar S 5'74, insgesamt im Werte unter 1000 S, sowie alle sonstigen Vermögenswerte dieses Vereines, auch soweit sie der Bundes-Polizeidirektion noch nicht bekannt sind. Begründung. Mit der Verordnung der Bundesregierung vom 12. Februar 1934 BGBl. Nr. 78, wurde der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs jede Betätigung verboten, die bestehenden Organisationen dieser Partei sind aufgelöst. Jedermann ist es untersagt, sich irgendwie für diese Partei zu betätigen. Durch die behördlichen Erhebungen wurde festgestellt, daß viele im Bezirke als linksgerichtet bekannte Personen in dem Vereine verkehrten. Im Vereinsheime wurden ganz offen illegale Schriften vertrieben und es verkehrten dortselbst viele vereinsfremde Personen, welche in einer Weise ihre politischen Geschäfte abwickelten, daß dies nur mit Wissen und Zustimmung der Vereinsmitglieder möglich sein konnte. Hieraus ergibt sich, daß der seinerzeit von der Vereinsbehörde bestellte Verwaltungsausschuß nicht ausreichte, um bei diesem Vereine eine mit den Interessen der Allgemeinheit übereinstimmende Geschäftsführung zu sichern; die Vereinsbehörde sah sich deshalb genötigt, die Auflösung des Vereines zu verfügen. [...]
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Da der maßgebende Sachverhalt im Zuge der Erhebungen festgestellt wurde, die zur Auflösung führten, konnte gemäß § 56 AVG. von der Durchführung eines Ermittlungsverfahrens gemäß § 37 und 38 AVG. Abstand genommen werden. [...] Dingliche Rechte an dem beschlagnahmten Vermögen und Bestandrechte, sowie die gegen das beschlagnahmte Vermögen zu Recht bestehenden Forderungen samt Nebengebühren, sind innerhalb eines Monates vom Anschlag dieses Beschlagnahmebescheides an der Amtstafel von den Berechtigten oder Gläubigern bei der Bundes-Polizeidirektion in Wien (Liquidierungsstelle, I., Bräunerstrasse 5) unter Anführung der Zeit der Entstehung der Forderung, ihres Rechtsgrundes, ihrer Höhe, des Zeitpunktes der Fälligkeit und der allenfalls für sie bestehenden Sicherungen, schriftlich anzumelden.“79
Die wenigen bis zum März 1938 „überlebenden“ sozialdemokratischen Chorvereinigungen wurden dann sämtlich am 30. November 1939 „behördlich aufgelöst“, und zwar „über Antrag des vom Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich bestellten Stillhaltekommissar [!] für Vereine, Organisationen und Verbände gemäß § 3 des Gesetzes über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden, vom 17. Mai 1938, GBl.f.d. Land Österreich Nr.136/38“.80 Niederösterreich Auch in Niederösterreich wurden sowohl die unter dem Befehl der faschistischen Regierung stehende Polizei als auch die Leitungen der Gemeinden sehr schnell tätig. So „übernahm“ die „Gemeinde=Vorstehung Obergrafendorf“ bereits am 19. Februar 1934 sämtliche „Vermögensbestände von der Sozialdem. Organisation Arb.Ges.u.Musikverein Ob.Grfd.“, zu der auch der ASB „Sängerlust“ Obergrafendorf zählte, darunter sämtliche Musikalien und Instrumente (Abbildung 14): „263 Stk. Chöre, 42 Stk. Liederbücher, 2 Kasten, Fahne samt Bänder 12 Stück, 31 Notenständer, 2 Taktstöcke, 20 Lampions, 1 Notentasche, Briefpapier und Kuverts, 1 Trinkstiefel, Vereinsstampiglie und 2 Gummitypen, 1 Glocke, 7 m Rusch, Postkartenalbum, 1 Mottotafel, 1 Tafel mit den 10 Geboten der Sänger, 1 Holzkassa, 2 Fahnenjunkerhüte, 6 Straußfedern, 2 Junkerblusen, 2 Junkerbänder, Fahnenhülle, Fahnenkasten, 1 Kassabuch, 1 Protokollbuch, Notenpapier und Einladungen, Instrumente: 1 B Bass, 1 F Bass, 1 Flügelhorn, grosse und kleine Trommel, 1 Paar Cinellen, 102 Stk. Musikstücke, Musikstab und Koffer, Bargeld S. 9.43, 1 Tonangeber, 46 Sängerzeichen, 200 Mitgliedkarten“.
Die Instrumente, „Musikstücke“ und Notenständer sowie Musikstab, Koffer und „Notenkasten“ übergaben die Behörden dann am 6. Juni 1934 der „Ortsgruppe Obergrafendorf des Heimatschutzverbandes Niederösterreich“, was der „mil. Leiter 79 80
Ebenda (Unterstreichungen und Kursivierungen original). Solche Bescheide wurden in den Akten über die umbenannten oder (angeblich) „vaterländisch“ umgepolten Chöre „ASB der Städtischen Gaswerke Leopoldau“, „ASB Freiheit [Hacking]“ sowie “ASB Margarethen [Schuh und Leder]“ aufgefunden.
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und Kompagniekommandant“ sowie der „Ortsführer“ amtlich bestätigten. Der Bescheid der Bezirkhauptmannschaft St. Pölten, daß das „Vermögen des Vereines ASB ,Sängerlust‘ Obergrafendorf“ beschlagnahmt wird, ist dann mit 17. März 1934 datiert.81
Abbildung 14: Enteignung des „Arbeiter-Gesang- und Musikvereins Obergrafendorf“. 81
Für die Auffindung und Übermittlung der Ober-Grafendorfer Materialien danke ich Herrn Ewald Rammel. Zu ähnlichen Ereignissen des Jahres 1934 siehe auch Hartmut Krones, „Wir wollen Alles, was die Chorliteratur Schönes enthält, [...] uns zu eigen machen“ (Josef Scheu). Zu Geschichte und Ideologie des Arbeitergesanges in Österreich, in: 125 Jahre „Eintracht“ Innsbruck – 125 Jahre sozialdemokratische Kulturarbeit in Tirol, hrsg. von Gabi Rothbacher, Hartmut Krones und Martin Ortner, Renner-Institut Tirol, Innsbruck 2009, S. 61–88, hier S. 80f.
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Auch die Polizei war schnell aktiv. So erging am 27. Februar 1934 unter der Zahl 1606 folgendes Schreiben des Bundes-Polizeikommissariates Wiener Neustadt an den „Arbeiter-Gesangsverein Freiheitssturm“ in Berndorf: „Sie werden hiemit in Kenntnis gesetzt, dass das Vermögen des aufgelösten Vereines Arbeiter Gesangsverein Freiheitssturm im Sinne der Verordnung der Bundesregierung vom 16. 8. 1933 B.G.Bl. Nr. 368, § 2 von h.a. zur Gänze beschlagnahmt wird. Die Verweigerung der Herausgabe des beschlagnahmten Vermögens, dessen Verheimlichung, Verbringung, boshafte Beschädigung oder Zerstörung, sowie jede sonstige Behinderung oder Erschwerung dieser Beschlagnahme wird unbeschadet einer allfälligen strafgerichtlichen Verfolgung von h.a. mit einer Geldstrafe bis zu 2000 S oder mit Arrest bis zu 3 Monaten bestraft. Diese Strafen können auch nebeneinander verhängt werden. Die von der Beschlagnahme betroffenen Vermögensstücke, insbesondere auch Bargeld, Sparkassebücher u.s.w. sind unweigerlich dem von h.a. bestellten treuhändigen Verwalter, der durch Bestellungsdekret ausgewiesen ist, zu überantworten.“
In den fallweise vor dem Zugriff der (österreichischen wie deutschen) Faschisten geretteten Chroniken der Chöre lesen wir immer wieder Ähnliches: „1934 wurde, nachdem es ein Arbeiterverein war, der Verein aufgelöst und das gesamte Vereinsvermögen beschlagnahmt. Nur die Vereinsfahne wurde [...] bis 1945 versteckt gehalten [...].“82 „Im Februar 1934 wurde[n] Obmann Karl Eichberg und Herr Johann Böhm [Chormeister] wegen ihrer politischen Tätigkeit in der Arbeiterbewegung verhaftet, womit die Vereinstätigkeit wieder [wie schon im Ersten Weltkrieg] endete.“83 – „Die Jahre des Austrofaschismus und auch die folgenden Jahre der NS.Zeit konnten den überzeugten Vertreter des ,Demokr. Sozialismus‘ nicht beugen und er blieb auch in diesen Jahren der Arbeiterschaft treu. Für OSR. Böhm waren dies sehr harte Jahre [...].“84 „1934 wurde der Verein verboten. Das Notenmaterial wurde aber von einigen Sängern zu Hause aufbewahrt und dadurch gerettet.“85 „Als im Jahre 1934 der Heimwehrfaschismus in Oesterreich an die Macht kam, wurde unser Arbeitergesangsverein selbstverständlich aufgelöst. Das vorhandene Notenmaterial sowie unsere Vereinsfahne konnten zeitgerecht an einem sicheren Ort verwahrt werden. Dort überlebte unser Inventar unversehrt die Jah82
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Chronik des „Arbeiter Sängerbundes Morgenrot Bad Vöslau“. Die hier und im folgenden zitierten, einzelne Chöre betreffenden Dokumente wurden dem Autor teils direkt von den Chören übermittelt, teils stammen sie aus der umfangreichen Material-Sammlung von Helmut Brenner, die dieser im Zuge der Vorbereitung seines Buches „Stimmt an das Lied ...“. Das große österreichische Arbeitersänger-Buch (Anm. 5) angelegt hat (einige der erwähnten Chöre existieren inzwischen nicht mehr). Helmut Brenner sei an dieser Stelle für die Überlassung der Materialien, die nunmehr dem Archiv des Österreichischen Arbeitersängerbundes übergeben werden, der Dank ausgesprochen. Chronik des Arbeitergesangvereines „Freiheit“ Heidenreichstein. Ebenda: Kurze Lebensgeschichte des OSR. Böhm (hs.). Arbeitergesangverein „Einigkeit“ Großau. Vereinschronik zum Siebzigjährigen Gründungsfest 1980.
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re 1934–1945. [...] Auch unseren örtlichen Arbeiter-Turn- und –Sportverein ereilte das Schicksal der Auflösung [...]. 5 Schutzbündler aus Hohenberg waren im Kreisgericht St. Pölten inhaftiert, weitere 5 Mann wegen illegaler Betätigung in Schutzhaft in Wöllersdorf. Der sozialistische Bürgermeister von Hohenberg Franz Gollinger musste 1934 sein Amt zurücklegen.“86 „[...] Das damals herrschende System fiel auch unseren Verein an. Durch die Gendarmerie ließ man das Vereinsinventar beschlagnahmen, die Arbeiterliederbücher vernichten.“87 „Von da an [1934] fand der Verein nur kurzen Bestand, durfte nicht ArbeiterSängerbund, sondern Neusiedler Sängerrunde heißen [Papierfabrik], bis das endgültige Verbot kam. Auch bei den Nazis endgültiges Verbot.“88
Oberösterreich „In den Wirren des Jahres 1934 kam es schließlich zur Auflösung des Vereins. Der gesamte Archivbestand wurde beschlagnahmt und vernichtet. Der ASB Gleichheit Traun hatte somit, außer einer illegalen Tätigkeit, für 12 Jahre, aufgehört zu bestehen. Von 1934 bis 1938 war der Verein aus politischen Gründen verboten, von 1938 bis 1946 ermöglichte der unselige 2. Weltkrieg kein geregeltes Vereinsleben.“89
Offensichtlich empfand der Verfasser der Festschrift 80 Jahre ASB Gleichheit Traun 1900–1980 nur das Verbot des Jahres 1934 als solches, da ja 1938 kein Verbot mehr stattfinden mußte, und das Jahr 1938 wurde wohl schon als Vorbote des Zweiten Weltkrieges angesehen. Jedenfalls geben diese Zeilen ein besonders unrühmliches Bild von der faschistischen Diktatur im Österreich der Jahre 1934-1938, wie es in Kreisen der Sozialdemokratie tatsächlich herrschte und bis heute herrscht. – Weiter oben (Anm. 65) wurde bereits von der Beschlagnahme sämtlicher „Sachbestände“ des ASB „Liedertafel Sängerlust St. Peter-Linz“ durch die Bundes-Polizeidirektion Linz (Schreiben vom 5. November 1934) berichtet, und nun möge eine „Referatsbeilage“, die ein „Teil einer Meldung des Gend. Postenkommandos Steyr vom 11. Dezember 1934, E.Nr. 115 Res. an die B.H. in Steyr“ war und dem „h.o. Geschäftsstücke Z. 331858 entnommen wurde“, ein Licht auf die weitere Überwachung politisch mißliebiger und mußmaßlich „illegaler“ Vereinigungen werfen. Die Beilage schlägt vor, die folgende Meldung an „den Herrn Sicherheitsdirektor für das Bundesland Oberösterreich in Linz“ ergehen zu lassen und schließt „eine anzufertigende Abschrift der Referatsbeilage“ an: „Einer Meldung des Gend. Postenkommandos Steyr an die B.H. Steyr vom 11. Dezember 1934, E. Nr. 115 res., ist zu entnehmen, dass die Anhänger marxistischer Parteien im Bezirke Steyr bestrebt sind, sich in Gesangs- und anderen
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Ereignisse der 30er Jahre, in: Chronik des AGV „Frohsinn“ Hohenberg. Ereignisse der 30er Jahre, in: Fragebogen an den „AGV Groß-Siegharts und Umgebung“. ASB Ulmerfeld-Hausmening. Vereinsgeschichte. [Festschrift] 80 Jahre ASB Gleichheit Traun 1900–1980, S. 5.
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Geselligkeitsvereinen zusammenzuschliessen und auf diese Weise die Möglichkeit illegaler Betätigung für die marxistischen Parteien zu gewinnen. Eine Teilabschrift dieser Meldung wird mit der Einladung übermittelt, anher zu berichten, mit welchen Massnahmen die Bezirksverwaltungsbehörde den in Rede stehenden Bestrebungen entgegengetreten ist. [unleserliches hs. Kürzel] Dezember 1934.“90 [Referatsbeilage] „Sozialdemokraten u. Kommunisten: Unter den Mitgliedern dieser verbotenen Parteien wurde schon seit Wochen für den Beitritt zu den bestehenden Gesangs- u. sonstigen erlaubten Geselligkeitsvereinen der Arbeiter geworben. Die Überwachung der Tätigkeit eines bestimmten Vereines in St. Ulrich, der sich nur aus früheren Sozialdemokraten rekrutiert und bis jetzt nicht verboten wurde, hat nun die interessante Feststellung ergeben, daß sich die Mitglieder dieses Vereines in der letzten Zeit verdoppelt haben und daß die neueingetretenen Personen fast lauter frühere Schutzbündler sind. Der schon seit dem Jahre 1927 bestehende Verein entwickelte, wie erst jetzt in Erfahrung gebracht werden konnte, in den letzten Wochen und Monaten eine nie gekannte Tätigkeit, die sich in der Abhaltung von Klubabenden gipfelt, die unangemeldet in einem Privathause an der Stadtgrenze in der Ortschaft Jägerberg, Gemeinde St. Ulrich, das einem an der Februarrevolte beteiligten Schutzbündler gehört, abgehalten werden. Wenn auch bis nun nicht festgestellt werden konnte, was in diesen Klubabenden vorgegangen ist, so liegt doch klar auf der Hand, daß diese Vereinsabende, die unter den vorgeschilderten Umständen ohne Wissen der Behörde und deren Organe abgehalten werden, nur zur Fortsetzung der unerlaubten Parteibetätigung benützt werden. Wenn es sich nur um diesen Verein alleine handeln würde, ließe sich ja die Tätigkeit desselben bei den Vereins- u. Klubabenden schließlich durch einen Konfidenten, der Mitglied dieses Vereines werden würde oder durch eine eventuelle Auflösung dieses Vereines kontrollieren oder unterbinden. Beides hätte aber keinen praktischen Wert, da die ganz gleichen Verhältnisse auch in anderen Orten dieselben sind. Als Beispiel führe ich den soz.dem. Arbeitergesangsverein ,Lyra‘ in St. Ulrich an, der nach der Februarrevolte aufgelöst wurde. Kurze Zeit darauf gründeten die gleichen Personen den Gesangsverein ,Echo‘ in St. Ulrich, deren Bildung von der Landesregierung nicht untersagt und daher deren Bestand rechtskräftig wurde. Dieser umgetaufte Verein hat lediglich der Behörde andere Vorstandsmitglieder namhaft gemacht, die den Verein nach Außen hin vertreten, während die geistigen Führer die alten Genossen des aufgelösten Vereines sind. Dasselbe Verhältnis besteht auch beim aufgelösten soz.dem. Sängerbund ,Vorwärts‘ in Neuzeug, Gemeinde Sierning, der sich in Volkshort ,Einigkeit‘ umgetauft hat und unter diesen Decknamen auch die Genehmigung bekam. Auch dieser Verein hat einen Zuzug von Seite der Schutzbündler erhalten, soweit diese nicht schon früher Mitglieder desselben waren. 90
Hier sind im Zuge des Aktenlaufs zwei datierte hs. Unterschrifts-Kürzeln angeschlossen: DrP. [?] 29./12. sowie M [?] 30/XII. Die in der Referatsbeilage vorhandenen Unterstreichungen sind ebenfalls handschriftlich.
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Solche und ähnliche Verhältnisse bestehen aber auch in allen anderen Orten, ein Umstand, den sich nicht nur die Sozialdemokraten und Kommunisten sondern auch die Nationalsozialisten zunutze machen, was bei den derzeit im Bezirke Steyr bestehenden und behördlich erlaubten 499 Vereinen nicht schwer fällt. Um eine wirksame Überwachung der illegalen Tätigkeit der verbotenen Parteien zu ermöglichen, wäre vorerst notwendig, alle nicht ausgesprochen vaterländisch eingestellte Gesangs- u. sonstige Geselligkeitsvereine aufzulösen. Weiters, die Nichtanmeldung von Vereinsversammlungen bei den bestehenbleibenden Vereinen mit einer empfindlichen Strafe zu belegen, um so die Vorstände zu zwingen, die Abhaltung einer Vereinsversammlung vorschriftsmäßig anzumelden, wodurch auch die Behörden in die Lage versetzt werden würden, bedenkliche Vereinsversammlungen entsprechend überwachen zu lassen. Der Postenkommandant: Martl, e.h., Rev.Jnsp. Steyr, am 11. Dezember 1934.“
Salzburg Besonders schnell wurde auch „Der Sicherheitsdirektor für das Bundesland Salzburg“ tätig, der dem Salzburger Gesangverein „Typographia“ bereits am 22. Februar 1934 den folgenden, auch hier auf einem hektographierten Vordruck ausgefüllten Bescheid zusandte: „Der Verein ,Gesangverein ,Typographia‘ Salzburg‘ mit dem Sitze in Salzburg, wird im Grunde des § 24 des Gesetzes vom 15. November 1867, R.-G.-Bl. Nr. 134, aufgelöst. Einer allfälligen Berufung gegen diesen Bescheid wird gemäß § 64 (2), A.-V.-G., die aufschiebende Wirkung aberkannt. Begründung: Gemäß der Verordnung der Bundesregierung vom 12. Februar 1934, B.-G.-Bl. Nr. 78, wurde der Sozialdemokratischen Partei Oesterreichs jede Betätigung verboten. Jedermann ist es untersagt, sich irgendwie für diese Partei zu betätigen. Es ist amtsbekannt, daß der vorstehend erwähnte Verein im Sinne dieser Partei tätig war bezw. noch ist. Durch das erlassene Betätigungsverbot entspricht er nicht mehr den Bedingungen seines rechtlichen Bestandes und war daher gemäß § 24 des zit. Gesetzes, vom Amts wegen aufzulösen. [...] Durch die verfügte Auflösung des Hauptvereines gehören [,ge‘ händisch durchgestrichen] auch alle Zweigvereine, Ortsgruppen und sonstige Zweigorganisationen zu bestehen auf. Es ist unstatthaft, den organisatorischen Zusammenhang zwischen den Mitgliedern aller dieser hiemit aufgelösten Vereine weiterhin aufrecht zu erhalten. [...] Alle sonstigen Uebertretungen oder Umgehungen dieses Bescheides werden nach § 36 des Gesetzes vom 15. November 1867, R.-G.-Bl. Nr. 134, in der Fassung des Art. V der Strafgesetznovelle vom Jahre 1932, von der politischen Bezirksbehörde (Bundes-Polizeibehörde) mit Arrest bis zu 6 Wochen oder mit Geldstrafe bis zu 2500 S geahndet.
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Allfällige, auf Grund der Ministerial-Verordnung vom 26. Februar 1917, R.-G.Bl. Nr. 79, erteilte Genehmigungen für eine Vereinsuniform des aufgelösten Vereines oder seiner Zweigvereine werden durch vorstehenden Auflösungsbescheid hinfällig. [...] Dieser Bescheid ergeht gleichlautend an: 1.) den Verein ,Gesangverein ,Typographia‘ Salzburg‘ zu Handes des Herrn Ludwig Döttl, Salzburg – Parsch 80 2.) Bundes-Polizeidirektion Salzburg, zur Kenntnis und Zustellungsveranlassung. Der Sicherheitsdirektor: Dr. Scholz m. p.
Auch in Salzburg fanden bei den sozialdemokratischen Chören Razzien statt, Waffen wurden sogar „in unseren Instrumenten“91 gesucht (und nicht gefunden), Archivschränke entweder entleert oder versiegelt, was zu wie folgt beschriebenen Aktionen führte: „Ludwig Putscher war es, der mit einigen beherzten Sängern bei Nacht und Nebel die Rückwand des versiegelten Archivschrankes demontierte, um wenigstens die wichtigsten Chöre zu retten. Alle, auch [...], riskierten, für diese Rettungsaktion verhaftet zu werden.“92
Tirol Auch in Tirol, wo bereits am 16. März 1933 der „Republikanische Schutzbund“ verboten worden war, ging die Polizei sofort gegen die sozialdemokratischen Vereinigungen vor, wenngleich das Standrecht hier nicht angewendet wurde, d. h., daß keine Hinrichtungen stattfanden.93 So wurde der 1881 bzw. (amtlich) 1882 gegründete ASB „Eintracht“ Innsbruck, einer der ältesten Arbeitergesangsvereine Österreichs, gleich im Februar aufgelöst und jener Teil der Materialien sowie des Inventars, die nicht früh genug versteckt werden konnten, beschlagnahmt. Ab 1935 existierte der Chor „durch das Wohlwollen des Konsumgenossenschaftsdirektors Klupp“ wieder, und zwar „unter dem Tarnnamen ,Genossenschaftschor‘, war aber nahezu aller Auftrittsmöglichkeiten beraubt, konnte erst recht keine ,Republikfeier‘ mehr abhalten und mußte 1938 die Arbeit endgültig einstellen. Lediglich ein neu gegründeter Kinderchor sorgte für eine gewisse Präsenz.“94
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Ereignisse der 30er Jahre, in: Rückblick im Fragebogen an den AGV Bischofshofen, wo auch von der „Notenbeschlagnahme“ berichtet wird. Vereine der Stadt Hallein, in: [Festschrift] 750 Jahre Hallein, Hallein 1980, S. 86. Es handelt sich um den damaligen AGV „Frohsinn“, der heute den Namen „Robert-Schollum-Chor“ trägt. Hiezu siehe Wolfgang Schreiber, Die Geschichte der Tiroler Sozialdemokratie im Überblick, in: Rainer Hofmann / Wolfgang Schreiber (Hg.), Sozialdemokratie in Tirol. Die Anfänge, Krailing-Innsbruck 2003, S. 45– 51. Gabi Rothbacher, 125 Jahre Chorgemeinschaft „Eintracht“ Innsbruck – Vergangenheit und Zukunft, in: 125 Jahre „Eintracht“ Innsbruck – 125 Jahre sozialdemokratische Kulturarbeit in Tirol (Anm. 81), S. 110-132, hier S. 121f.
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Ähnlich erging es dem „AGV ,Alpenklang‘ Hall“, dessen „Vermögen [...], wie Noten, Vereinsschriften, Mobilar [!] etc. eingezogen“95 wurde, und dem „AGV ,Edelweiß‘ Lienz“, aus dessen Chronik wir auch Einzelheiten erfahren: „Das Regime Dollfuß ließ schon in den ersten Wochen des Jahre 1934 die Auflösung aller sozialdemokratischen Organisationen erkennen. Doch kurz vor der Auflösung der Sozialdemokratischen Partei und ihrer Nebenorganisationen konnte das wichtigste an Vereinsvermögen treuhändig an Mitglieder übergeben werden und so der Beschlagnahmung entgehen. Auch der [!] Flügel und das Pianino übernahmen Sänger zu treuen Händen. Die Fahne wurde in die Obhut von Sängerschwester Mizzi Kramer, der Gesellschafterin der Besitzerin von Schloß Bruck, übergeben. Diese wertvollen Stücke des Vereins konnten so über die schwere Zeit hinübergerettet werden. Ein Großteil des Archives dagegen fiel in die Hände der wie Vandalen hausenden Besetzer des Arbeiterheimes.“
Ein handschriftlicher Bericht ergänzt: „Vor allem Flügel, Pianino und Fahne wurden über Terrorzeit hinübergerettet. Großteil des Archives wurde von den das Arbeiterheim besetzenden DollfußSchergen vernichtet. In Folgezeit Versuche, unter Decknamen zu singen wie ,Eisschützen Goldener Fisch‘ und nachher ,GÖC‘ (Großeinkaufsgesellschaft österreichischer Konsumvereine). Jedoch von BH Lienz untersagt. Einzige Möglichkeit war Mitsingen beim Sängerbund bis zur Wiedergründung.“ 96
Steiermark Auch aus der Steiermark sollen einige Stimmen zu Wort kommen. Dem „A.G.V. ,Liedesfreiheit‘ Knittelfeld“ etwa wurden laut seiner Chronik im Februar 1934 „Fahne und Notenmaterial verbrannt, Klavier und Geld enteignet“, dem „AGV ,Wach auf‘ Weiz“ insgesamt – neben der Beschlagnahme des Bargeldes – „die Fahne samt Bänder, Klavier, Harmonium, Baßgeige, Schubertbild und fast sämtliche Freiheitschöre, sowie die Arbeiterliederbücher weggeschleppt“.97 Noch mehr ins Detail geht die Chronik des AGV ,S’Kohlröserl‘ Proleb: „Obmann Koller nahm am Februarputsch im Jahre 1934 teil und wurde in der Folge eingesperrt. Während er in Haft war, wurde der Verein aufgelöst und das Notenmaterial, bis auf die Bücherln von der Donau zum Rhein, beschlagnahmt.“
In der Steiermark achtete man im Gegensatz zu Wien, wo alle Bescheide auf maschinschriftlichen oder maschinschriftlich ausgefüllten hektographierten Formularen ausgestellt wurden, sogar in besonderer Weise auf die äußere Form und ließ die Formulare in schöner, „offiziell“ wirkender Fraktur-Schrift drucken, wie uns ein
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Überblick über unseren Verein im Fragebogen an die Vereinigung. Ereignisse der 30er Jahre (hs.), im Fragebogen an den AGV „Edelweiß“. Vereinschronik [1947] des Arbeiter–Gesangs–Vereines „Wach auf“ in Weiz, S. 3.
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dem AGV „Einigkeit“ von Leibnitz unter dem Datum 25. April 1934 zugestellter Auslösungsbescheid zeigt (Abbildung 15). Kärnten Die Akten aus Kärnten sind zum Teil besonders brisant, da sie den Fortbestand faschistoider Ideen auch über das Jahr 1945 hinaus dokumentieren. So ist in der Chronik des AGV Kühnsdorf folgendes zu lesen: „Da 1934 neben allen Noten auch das Harmonium des AGV Kühnsdorf beschlagnahmt wurde, standen wir bei der Wiedergründung 1945 ohne entsprechendes Instrument da. So durften wir vorerst das Harmonium des ÖVPVereines benutzen. Als wir dann jedoch slowenische Lieder sangen, wurde uns die Benutzungserlaubnis wieder entzogen.“98
Abbildung 15: Auflösungs-Bescheid an den AGV „Einigkeit“ Leibnitz vom 25. April 1934.
Den Mitgliedern eines anderen sozialdemokratischen Chores aus diesem Ort, des „AGV Volksliedchor Kühnsdorf“, wurden 1934 sogar Entlassungen für den Fall 98
Erinnerung von Franz Schweinzer, Kühnsdorf, in den Unterlagen zur Chronik der Vereinigung.
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angedroht, daß sie nicht aus der Vereinigung austreten, sodaß sich der Verein von selbst auflöste. Die Chronik des „Volksliedchores Treibach-Althofen“ hinwiederum weiß zu berichten, daß 1934 „sämtliche Unterlagen und ein Teil des Archivs beschlagnahmt“ wurde, und über den „AGV ,Einigkeit‘ Wolfsberg“ lesen wir: „Viele Mitglieder arbeitslos, erhielten vom Verein finanzielle Unterstützung. Fast alle Sänger gehörten dem Schutzbund an. Im Februar 1934 erfolgte die zwangsweise Auflösung des Vereines, damit verbunden die Beschlagnahme des Vereinsvermögens und der Mitgliederkartei. Die vorhandene Chronik wurde aus Sicherheitsgründen vernichtet. Die Mitglieder des Vereinsvorstandes wurden mehreren Verhören unterzogen. Die Mitglieder trafen sich bei Ausflügen in die umliegenden Bergdörfer zum gemeinsamen Singen der alten Kampflieder. [...] Sämtliche, der Sozialdemokratischen Partei nahestehenden Vereine wurden aufgelöst, Funktionäre verloren ihre Arbeitsplätze. Angehörige des Schutzbundes wurden nach den schweren Kämpfen in Wolfsberg 1934 verhaftet. (Wolfsberg war 2 Tage lang in der Hand der faschistischen Putschisten – 15 Todesopfer.)“99
Besonders genau konnten die Vorgänge in Ferlach rekonstruiert werden, wo der 1893 gegründete „AGV ,Stahlklang‘ Ferlach“ (der sich mittlerweile „Stadtchor Ferlach“ nennt) sofort nach dem 12. Februar offiziell verboten wurde. Danach konnten noch bis 1935 dreizehn Sänger des Chores „illegale Proben in der Wohnung der Familie Fuchs abhalten“, ehe es ihnen 1935 gelang, sich bei der Bezirkshauptmannschaft Klagenfurt als „Konsumvereins-Sängerrunde“ anzumelden, „um unter diesem Deckmantel doch einigermaßen existieren zu können“; 1940 wurde schließlich auch diese verboten.100 – Im Zuge der „gewaltsamen Auflösung“ des Chores im Jahre 1934 war sofort auch das Klavier beschlagnahmt worden, dessen Rückstellung nach dem Krieg mit Schwierigkeiten verbunden war, wie wir einer Eingabe des „AGV ,Stahlklang‘ Ferlach“ an das „Bürgermeisteramt der Stadt Ferlach“ vom 23. Oktober 1947 entnehmen:101 „Der Arb.Ges.Verein Stahlklang in Ferlach hat in Erfahrung gebracht, dass sein Klavier, welches ihm im Jahre 1934 anlässlich der gewaltsamen Auflösung des Vereines beschlagnahmt wurde, beim Bezirksgerichte in Ferlach in Verwahrung steht. Dieses Klavier ist Eigentum des genannten Gesangsvereines und wird von diesem zurückgefordert. Das Klavier wurde schon vor zwei Jahren beim Bezirksgerichte in Ferlach gesehen, von Funktionären des Arb.Gesangsvereines klar als dessen Eigentum erkannt und war seither spurlos verschwunden. Nachdem nun dem Verein der genaue Verwahrungsort des Instrumentes bekannt ist, wird das Bürgermeisteramt der Stadt Ferlach gebeten, dem Verein seine Unterstützung zur Wiedererlangung des Klaviers zu gewähren.“ 99 100 101
Ereignisse der 30er Jahre (handschriftlich), in: Arbeiterchor-Chronik Arbeitergesangverein Wolfsberg [damals AGV „Einigkeit“ Wolfsberg]. Laut der Festschrift 90 Jahre Arbeitergesangsverein „Stahlklang“ Ferlach. Für die Auffindung der im folgenden zitierten Quellen aus diversen Ferlacher Vereins-Archiven, für die Übermittlung der Kopien sowie für die Befragung zahlreicher alter Mitglieder dieser Vereinigungen ist der Autor Frau Heike Esterle zu besonders herzlichem Dank verpflichtet; erste Hinweise waren von Helmut Ebner gekommen.
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„Vor zwei Jahren“, genau am 4. Februar 1946, hatte sich der „Stahlklang“102 bei der „Bezirksbergestelle Klagenfurt“ nach dem Verbleib und dem Zustand des im Februar 1934 beschlagnahmten Klaviers erkundigt und mit Datum vom 11. Februar 1946 vom „Bergeamt Klagenfurt“ die folgende Antwort (Gz.111/BK/46) erhalten: „Auf Ihre Anfrage [...] wird Ihnen mitgeteilt, dass Sie mit der Schätzung des Klaviers einen beeid. Sachverständigen aus Klagenfurt beauftragen können. Der beeid. Schätzmeister des ,Dorotheum‘ führt derartige Schätzungen durch. Bezüglich etwaiger Ersatzansprüche von Schäden, die Ihrem Vereinsvermögen während der Zeit des Nationalsozialismus entstanden sind, wollen Sie sich an die Landesregierung-Wiedergutmachungsausschuss wenden. I.V. [hs. Unterschrift] (Zenkl)“
Man schob die „Schäden“ also den Nationalsozialisten zu, obwohl die Beschlagnahmung bereits 1934 stattgefunden hatte. Und danach wurde das Klavier offensichtlich gemeinsam mit anderem „politischen Diebsgut“ in Depots des Ferlacher Bezirksgerichtes gebracht, um von diesem versteigert zu werden. Der damalige Chorleiter des „Stahlklang“, Oberschulrat Thomas Sorgo, erkannte das Instrument jedoch vor der Versteigerung, worauf Bürgermeister Josef Schönlieb es dem Chor zurückgab, der es im Frühsommer 1950 reparieren ließ; das Klavier ist noch heute im Besitz des Chores und in regelmäßiger Verwendung. – Noch skurriler stellt sich das Schicksal einer beschlagnahmten Trommel dar, die der Verein am 4. März 1949 von Johann Kropiunig, damals Mitglied der „Arbeitermusikkapelle Volksklang“, zurückforderte: „Anläslich [!] der Jahresversammlung des A.G.V. Stahlklang, haben mehrere Musikvereins-Mitglieder angegeben, wie auch Sie persönlich zugeben sollten, das [!] sich in Ihrem Besitze eine Trommel befindet, welche Eigentum des obg. Vereines ist. Wir ersuchen Sie daher freundlichst, dieselbe bis am 15. März 1949 zurückstellen zu wollen.“
Die Antwort der „Arbeitermusikkapelle Volksklang“ vom 13. März wirft einmal mehr ein bezeichnendes Licht auf die kriminellen Aktionen der austrofaschistischen Regierung, die bar jedweden Rechtsempfindens war: „Wir haben Ihr Schreiben [...] erhalten. Es ist richtig, daß die besagte Trommel vor dem Jahre 1934 dem Verein Stahlklang gehörte. Wie Ihnen aber bekannt sein dürfte, wurde diese Trommel im Jahre 1934 durch die Behörden der Dollfuß-Diktatur beschlagnahmt. Kropiunik Johann hat sich damals an die Gendarmerie um die Herausgabe der Trommel gewandt. Man erklärte ihm, er würde die Trommel nur unter der Bedingung erhalten, wenn er sie zu einer Trommel für eine Tanzkapelle umbauen 102
Laut dem Tagebuch von Hans Ressmann, dem Kapellmeister der „Bauernkapelle Ferlach“, hat der AGV Stahlklang am 15. September 1945 wieder mit der Probenarbeit begonnen. Der Autor dankt Herrn Helmut Ressmann für die Möglichkeit, in das Tagebuch seines Vaters Einsicht zu nehmen.
„[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...]“
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würde. So hat Johann Kropiunik die Trommel umgebaut. An der Trommel wurde damals alles umgebaut, so daß eigentlich von der alten Trommel nur das Blech allein übrig geblieben war. Die Felle und die Reifen sind alle durch den Kam. Kropiunik erneuert worden. Er besitzt heute noch alle Originalbelege über die einzelnen Einkäufe. Wir könnten Ihnen darum lediglich, falls Sie auf die Rückgabe der Trommel weiterhin reflektieren, nur das Blech rückerstatten. Wir sind aber auch bereit Ihnen das Blech zu bezahlen. Vielleicht ist das der Weg, daß sie unter solchen Bedingungen auf die Rückgabe verzichten könnten.“
Der AGV „Stahlklang“ bestand aber weiterhin auf der Rückgabe und bekundete seine Bereitschaft, „alle entstandenen Kosten nach Vorlage der Originalbelege“ zu ersetzen. Nun schlug die Kapelle „Volksklang“ ihrerseits vor, der „Stahlklang“ möge „uns das Blech in Rechnung stellen“, weil dessen Preis viel niedriger als „all die Umarbeitungskosten mit Material“ sei. Offensichtlich fand man dann bei einer am 9. Juli 1949 stattfindenden persönlichen Aussprache eine Lösung. Ebenfalls am 4. März 1949 hatte der AGV „Stahlklang“ von einem anderen Musiker die Rückgabe einer Klarinette gefordert, die man als aus dem beschlagnahmten „Eigentum des Vereines“ stammend ansah. Auch die Antwort auf dieses Schreiben ist von hoher Brisanz: „[...] Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß ich vom ,Stahlklang‘ noch nie etwas Leihweise [!] oder sonst etwas erhalten habe. Die Klarinette die ich, sowie noch andere Musiker in der ,Naziregime‘ von der ehemaligen S. A. Kapelle ausgefolgt bekommen haben, waren diese Klarinetten und sonstige Blechinstrumente Eigentum der seinerzeitigen S. A. Brigade bzw. der Propagandaleitung der N.S.D.A.P. nicht aber Eigentum des A.G.V. Stahlklang. Ich habe schon seinerzeit bei der Auflösung der S. A. Kapelle zugleich mit den andere [!] Musikern meine Klarinette zurückerstattet.“
Es ist natürlich anzunehmen, daß die „S. A. Kapelle“ die vom Dollfuß-Regime beschlagnahmten Instrumente in Besitz genommen hatte, und es ist durchaus möglich, daß der gemahnte Musiker nicht wußte, wem die Klarinette ursprünglich gehörte. Es bleibt allerdings die Frage offen, wem er sie „bei der Auflösung der S. A. Kapelle“ zurückerstattete. Die von Heike Esterle durchgeführten Recherchen in Ferlacher Archiven haben auch zahlreiche Details zu weiteren sozialdemokratischen Musiker-Vereinigungen des Ortes zutage gebracht. So verfielen die im folgenden aufgelisteten Musikalien und Instrumente des „Arbeitergesangsverein Kohlrösl“ in Unterloibl sehr bald (vor dem 28. März) der Beschlagnahme (Schreibweisen gemäß dem Original): Konzertstücke: Wiener Marschpotpouri, Musikalisches allerlei, Aus der Hoamat, Wiener Melodienstrauß, Mit sang und klang, Allweil lustig fesch u. munter, Der Freischütz, Schubertiana, Schlager Parade, Almrausch und Edelweiß, Lustspiel Ouvertüre, Fest Ouvertüre, Prinz Methusalem, Regina, Kaiserwalzer, Bei uns z. Haus,
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Herbstklänge, Gebirgsklänge, Retreite, Stefanie Gavotte, Schenkt man sich Rosen, Frühlings Erwachen, Vogerl flieg in die Welt hinaus, Mei Muaterl war a Wienerin, O Bitt Euch liebe Vögelein, Ampoß Polka [!], Salzburger Schlittenpost, Wiener Blut, Die Wache der Königin, Militär Marsch, Von Wien durch die Welt, Hans im Glück, Feodora, Nobukodonisor, Ständchen, Mutterlied, Lustig u. fidel, Wo die Egger [!] rauscht, Carnevalsnacht in Venedig, Wiener Marschpotpori, Migonette, Härbstblatter [!], Tanzperlen, Marianka, Alpenklänge, Mit Herz und Hand, Melodien aus Kärnten Nicht Vollständig: Nachtschwärmer, An der schönen bl. Donau, Aus dem Hochwald, Goldne Rose Märsche: Abend am Wörthersee, Aus dem Kaisertal, Wach auf, Bundeshimne [!], Freudesgruß, Alte Kameraden, Hoch und Deutschmeister, Frisch ans Wärk [!], Unter der Siegesfahne, Schönfeld Marsch, Kaiserschützen, Frühlingsbotschaft, Khefenhüller, Treu dem Kärntnerland, Tiroler Holzhakerbuam, Reiner - Vorwarts Marsch, Wiener Tanzweisen, Lebe wohl du kl. Monika, 28 blaue Marschbücher, 28 schwarze Ledertaschen 3 Klarinetten 1150, 3 Flügelhörner 1200, 2 Baßflügelhörner 1200, 1 Euvonium 800, 2 Posaunen 1000, 3 Waldhörner 1800, 3 Trompeten 900, 3 Bäße 2600, 1 Oboe 200, 1 Flöte 200, 1 Schlagzeug 800 [Summe:] 11.800 [recte: 11.850] Notenmaterial 1.000 S.
Offensichtlich waren die Instrumente aber großteils Eigentum der „Arbeiterkapelle“ (auch als „Musikkapelle“ bezeichnet) von Ferlach, denn am 28. März 1934 übernahm Valentin Veratschnig „für das vom Verein ,Ferlacher Musikkapelle‘ entliehene Instrument (Es Trompete) die volle Haftung“. Und am 10. März 1936 erging „an die Stadtgemeindevorstehung in Ferlach“ unter dem Betreff „Beschlagnahme und Realisierung des beschlagnahmten Vermögens“ der Auftrag (Zl. 21.341) der Bezirkshauptmannschaft Klagenfurt (Abbildung 16), „die dem Verein ,Arbeiterkapelle in Ferlach‘ gehörenden Musikinstrumente freihändig zu verkaufen. Es handelt sich hiebei um: 2 Stück Trompeten[,] 3 Stück Flügelhörner[,] 1 F Bass[,] 2 Bassflügelhörner[,] 1 Posaune. Die Gegenstände befinden sich derzeit noch im Besitze der einzelnen Mitglieder, die sich dem Gendarmerieposten schriftlich verpflichtet haben, diese Gegenstände herauszugeben. Es sind daher im Einvernehmen mit dem Postenkommandanten diese Mitglieder festzustellen und zu verhalten, die Gegenstände herauszugeben. Sollte ein Verkauf nicht oder nur so möglich sein, dass er einer Wertverschleuderung gleichkäme, ist anher zu berichten. Ein allfälliger Erlös ist anher zu überweisen.“
„[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...]“
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Abbildung 16: Anordnung zum Verkauf der Musikinstrumente des Vereines „Arbeiterkapelle in Ferlach“.
Auch die tatsächlich dem AGV „Kohlrösl“ gehörenden Dinge, „die im Schulhaus in Unterloibl in Verwahrung sind“, sollten „freihändig“ verkauft werden: „1 Harmonium (angeblicher Wert S 280.-), 2 Hängekasten (angeblicher Wert S 60.-), diverses Notenmaterial“. Und wieder sollte „anher“ berichtet werden. – Der Bürgermeister von Ferlach bot das Harmonium darauf der „Maresch-Wittgensteinschen Gutsverwaltung“ zum Kauf an (Zl. 1134/36), das Resultat ist uns allerdings nicht bekannt. Der mögliche Verkauf einer Klarinette um „den Betrag von S 20.-“ wurde dann Mitte Mai 1937 der BH Klagenfurt angezeigt (Zl. I 901/1/37/W), von dieser nicht beeinsprucht (Zl. 30.590) und dann am 3. Juni durchgeführt (Zl. 2.463/I/37/W). Später bewilligte die BH Klagenfurt über eine erneute Anfrage aus Ferlach (Zl. 3257) auch (am 31. Juli 1937) den Verkauf eines „Blasflügelhornes“ [!] um S 30.-, „falls dieser [Betrag] tatsächlich angemessen erscheint“ (Zl. 38.179). Die Durchführung des Verkaufs des „Bassflügelhorns (Euphonium)“ wurde schließlich am 9. August durch den Ferlacher Bürgermeister bestätigt (Zl. 3341/I/37). In gleicher Weise wie bei den Instrumenten der Musikvereine erging am 10. März 1936 der Auftrag (als „Beschlagnahme und Realisierung des Vermögens“), „die
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beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines Arbeiterdilettantenbühne in Ferlach freihändig zu veräussern“, die sich „im Arbeiterheim Dobrowa“ befanden. Hier handelte es sich um folgende Gegenstände: 3 Kleiderkasten, 1 Schubladkasten, 3 viereckige kleine Tische, 7 weisse Stühle (4 Stück gepolstert), 3 runde Tische, 4 braune Stühle (gebeizt), 3 Korbsessel, 2 kl. Blumentische, 1 Koffer mit 52 Stück Glühbirnen, 1 Karton mit 26 St. färbigen Glühbirnen, 1 kl. Kiste mit 4 Flaschen Glühlampenlack, 1 eiserner Waschtisch, 1 hoher Lehnstuhl, 14 St. Holzkulissen, 3 Hintergrundwände, 6 St. Seitenkulissen, 4 Leinensoffitten, 1 Schachtel mit alten Sitznummern.
Hier sind uns keine „Erfolge“ der Aktion bekannt. Von den Instrumenten hören wir hingegen wieder in einem Schreiben des „Bundesstaatlichen Volksbildungsreferenten für Kärnten“ vom 17. Jänner 1938, in dem dieser „um Mitteilung ersucht, welche Musikinstrumente nicht verkauft wurden“, da diese laut einem Erlaß des Bundeskanzleramtes (Zl. 377.455 G.D.S./36) vom 31. Dezember 1936 „dem Volksbildungsreferat für Kärnten zu überlassen sind“ (Abbildung 17). Der Ferlacher Bürgermeister, der offensichtlich nicht willens war, sämtliche noch vorhandenen („beschlagnahmten“) Instrumente dem von der faschistischen Regierung eingesetzten Volksbildungsreferenten zu überlassen, gab am 23. Februar 1938 der Bezirkshauptmannschaft Klagenfurt lediglich bekannt (Zl. 2160/I/37), daß
Abbildung 17: Nachfrage des „Bundesstaatlichen Volksbildungsreferenten für Kärnten“ vom 17. Jänner 1938.
„[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...]“
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Abbildung 18: „Übernahme“ der von den Austrofaschisten beschlagnahmten Instrumente durch die „NSDAP Ortsgruppe Ferlach“. „von den seinerzeit vom Sozialdemokratischen Verein ,Arbeiterkapelle in Ferlach‘ beschlagnahmten Musikinstrumenten 1 Klarinette verkauft wurde. Der Betrag von S 15.- wurde am 15. Feber l. J. mittels Erlagschein an die Bezirkshauptmannschaft in Klagenfurt überwiesen.“
Und er ließ sich vom Gendarmeriepostenkommando Ferlach eine „Empfangsbestätigung über nachangeführte Musikinstrumente“ geben, „welche das Stadtgemeindeamt Ferlach, als von der Arbeiterkapelle Ferlach beschlagnahmt über Auftrag der Bezirkshauptmannschaft Klagenfurt Zl. 21.341 v. 10.3.1936 vom Gendarmerieposten Ferlach übernommen hat und zwar: 2 Bässe, 3 Flügelhörner, 2 Baßflügelhörner, 1 Es Clarinette, 1 Trompete, 11 Notenständer“.
Tatsächlich waren dies nicht alle damals „übernommenen“ Instrumente, sondern wahrscheinlich nur die im Februar 1938 noch vorhandenen. Die mit 24. Februar 1938 datierte „Empfangsbestätigung“ trägt dann den Eingangsstempel „Stadtgemeinde Ferlach | Eingelangt am: 12. März 1938 | Nr. 863/I mit ... Blg.“, sie wird
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(zunächst) aber wohl nicht mehr an den „Bundesstaatlichen Volksbildungsreferenten für Kärnten“ weitergesandt worden sein. – Mit 17. März 1938 datiert ist schließlich eine weitere Empfangsbestätigung, und zwar „über die Nachangeführten Musikinstrumente, welche Josef Nagele von der Stadtgemeinde Ferlach entliehen hat und für die er die volle Haftung übernimmt. 2 Bässe, 3 Flügelhörner, 2 Passflügelhörner [!], 1 Es-Klarinette, 1 Trompete, 12 Stück Notenständer“.
Vielleicht war diese Weitergabe ein Versuch, die Instrumente vor dem in ähnlicher Weise fordernden Zugriff der nationalsozialistischen Faschisten zu retten, ein Versuch, der allerdings nicht gelang. Denn am 21. Mai 1938 meldete der „Gemeindeverwalter“ [Josef] Hambrusch dem (neuen?) Bundesstaatlichen Volksbildungsreferenten für Kärnten folgendes (Abbildung 18): Zum dortigen Schreiben vom 17.1.1938, Zl. 155/A38, wird mitgeteilt, dass die bei dem aufgelösten Verein Ferlacher Arbeiterkappele [!] noch vorhandenen beschlagnahmten Musikinstrumente und zwar: 2 Bässe, 3 Flügelhörner, 2 Bassflügelhörner, 1 Es Klarinette, 1 Trompete und 12 Stück Notenständer von der NSDAP Ortsgruppe Ferlach am 17.5.1938 übernommen wurden.
Immerhin blieben die Instrumente in Ferlach, wo sie sich zum Teil noch heute befinden. Wie und in welchem Ausmaß die Rückerstattung nach dem Krieg vor sich ging, ist im Falle der „Arbeiterkapelle“ leider nicht dokumentiert.
Neuanfang 1945 Wie die sozialdemokratischen Musikkapellen mußte auch der österreichische Arbeiter-Gesang weitere sieben Jahre schweigen und konnte schließlich erst „fast zwölf Jahre“ nach der „Zertrümmerung unserer Sängerorganisationen“103, „nach dem grünen und dem braunen Faschismus, der uns manch tiefe Wunde geschlagen“, wieder seine „hehre Kulturarbeit“104 beginnen. Als die Arbeiter-Gesangvereine nach dem Kriegsende versuchten, ihr 1934 beschlagnahmtes Eigentum zurückzubekommen, erklärten sich die staatlichen Stellen dann für nicht zuständig. Besonders deutlich geht das aus einem Schreiben des Sicherheitsdirektors für Kärnten vom 2. Juni 1947 (Geschäfts-Zeichen: 16.146/SD=47/Dr. Sch) an das Amt der Kärntner Landesregierung, Herrn Landesrat Mathias Krassnig, im Hause, hervor. Es bezieht sich auf eine Eingabe des AGV „Freundschaft an der Gurk“ (Zl. 1025/Kra/W) vom 22. April 1947 und betrifft das 1934 beschlagnahmte „Vereinsvermögen“ der Vereinigung. 103 104
R. F. [Richard Fränkel], Josef Seyfried – 75 Jahre, in: Mitteilungsblatt des Gaues Wien des Österreichischen Arbeiter-Sängerbundes VIII, Nr. 2 (Jänner 1946), S. 3. H. P. [Hans Pechek], Arbeitersingen nach dem Krieg, in: ebenda S. 2.
„[...] die beweglichen Sachen des sozialdem. Vereines [...]“
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„Nach durchgeführter Erhebung wird in obiger Angelegenheit berichtet, daß das Vereinsvermögen des Arbeitergesangvereines ,Freundschaft an der Gurk‘ in Rain mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Klagenfurt Zl. 16.651/34, vom 26. März 1934, beschlagnahmt wurde. Das gesamte beschlagnahmte Gut wurde in ein Verzeichnis aufgenommen und in einem Kasten [...] in Pirk, Gemeinde Grafenstein versperrt. Der Schlüßel zum Kasten wurde am Gendarmerieposten Grafenstein verwahrt. Nach der Machtübernahme durch die NSDAP im Jahre 1938 wurde Ende April oder Anfang Mai 1938 das beschlagnahmte Vereinsvermögen des Arbeitergesangvereines durch die Hocheitsträger [!] der NSDAP in Pirk übernommen. Der weitere Verbleib dieses Vermögens und dessen Verwertung konnte bisher nicht geklärt werden, weil wie allgemein bekannt, Vermögenswerte von Vereinen und Körperschaften der österreichischen Einrichtung vom Liquidator des Deutschen Reiches eingezogen wurde. In diesem Falle handelt es sich um eine Vermögensentziehung, die in die Zeit von 1934 bis 1938 fällt und einer besonderen bundesgesetzlichen Regelung harrt (B.G.Bl.53 vom 27.3.1947). Ob im Zusammenhange mit der tatsächlichen Einziehung durch den Liquidator des Deutschen Reiches die Verantwortlichkeit des jetzigen Gendarmeriepostenkommandanten besteht, so ist ein Vorliegen dieses Umstandes nicht gegeben.“
Und wie hier verliefen auch andere Versuche, die von den österreichischen Faschisten (also der österreichischen Regierung) beschlagnahmten Werte zurückerstattet zu bekommen, im Sande. Die richtigen Worte hiefür fand Anfang Februar 1959 Josef Pinter, 1933 Obmann des aufgelösten AGV Alsergrund und bald nach 1945 Bundesvorsitzender des Österreichischen Arbeiter-Sängerbundes sowie „Leitender Redakteur“ der Zeitung der Arbeitersänger, und mit ihnen wollen wir schließen: „In wenigen Tagen jährt sich sich zum fünfundzwanzigsten Male der Tag, an dem das eidbrecherische Regime Dollfuß-Miklas den Schlußstein in seine unausgesetzte Reihe von Verfassungsbrüchen und nackten Gewalttaten setzte; [...]. Die ganze Welt bewunderte unsere heldenhaften Kämpfer und trauerte mit uns. Die heimische Reaktion jubelte; da die Arbeiterschaft des (angeblichen) Terrors der Sozialdemokratie los und ledig geworden sei, werde sie sich freudigen Herzens in die Arme der Vaterländischen Front, der neuen Einheitspartei nach faschistischem Muster, stürzen. Diese Rechnung, wie so manche Rechnung anderer Stellen, ging nicht auf; nur wer unter schwerstem wirtschaftlichem Druck stand, trat ihr bei. Was Terror in Wirklichkeit ist, haben wir damals kennengelernt ... Und die Arbeitersänger? Sämtliche Vereine, unser Bund, die Gauleitungen und der Chormeisterbund wurden schlagartig aufgelöst – das funktionierte so prompt, daß nur eine eingehende, monatelange Vorbereitung diesen prächtigen Galopp des sonst so schwerfälligen österreichischen Amtsschimmels erklärbar machen konnte. Unser Eigentum wurde restlos beschlagnahmt; dabei hausten manche Amtsorgane und die ihnen assistierende Heimwehr geradezu vandalisch; sie demolierten Klaviere, sie verwüsteten und verheizten das Notenmaterial, das mühsam genug angeschafft worden war. [...]
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Haben die Schuldtragenden wenigstens versucht, die materiellen Folgen ihrer Untat gutzumachen? Mitnichten! Seit 1945 erwarten und verlangen wir immer wieder die Wiedergutmachung, die man den Schuldtragenden von 1934 und 1938 sehr weitherzig gegeben hat. Für die gestohlenen und vernichteten Vermögenswerte unserer Bewegung gibt es bisher keine Ersatzleistung. Was das Adenauer-Regime in Westdeutschland bewilligte, das unseren Chören Wiedergutmachung zubilligte, verhindert in Österreich der stärkere Koalitionspartner und Schuldige des 12. Februar 1934. [...]“105
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J. P. [Josef Pinter], 12. Februar 1934, in: Der Österreichische Arbeitersänger 57 (1959), Nr. 2, 1. Februar, S. 9f. Sperrungen sind durch Unterstreichung wiedergegeben.
ANITA MAYER-HIRZBERGER (Wien)
…tausende Emigranten in allen benachbarten Ländern… Zur Auswanderung „linker“ Musiker in der Zeit des österreichischen Ständestaates 1936 reiste Paul Amadeus Pisk auf Einladung von Frederick Jacobi nach New York, um bei CBS Musik österreichischer Komponisten zu spielen. Ein Brief, der in einer Abschrift im österreichischen Staatsarchiv vorliegt,1 zeigt, daß er diesen Auftritt auch dazu nutzte, sich in Österreich als guter Staatsbürger zu präsentieren. In diesem Schreiben unterrichtete er den Generalkonsul in New York von seinem Konzert und betonte, daß er ausschließlich Kompositionen österreichischer Komponisten spielen werde: „Ausser meinen eigenen Stücken (vielleicht ist Ihnen mein Name als oesterreichischer Komponist nicht gänzlich unbekannt) spiele ich Werke von: Staatsrat Joseph Marx, Universitätsprof. Egon Wellesz und Josef Matthias Hauer.“
Weiters bat er, diese Mitteilung, „die sicherlich die oesterreichischen Zentralstellen interessieren wird,“2 an entsprechende Personen nach Österreich weiterzuleiten. Doch Pisk benötigte diese Imagewerbung nicht mehr, denn er beschloß, in Amerika zu bleiben. Die Freiheit im politischen und kulturellen Leben, die er in Amerika verspürte und die ihm im ständestaatlichen Österreich fehlte, sowie die Befreiung von der Bedrohung des Nationalsozialismus, der sich im benachbarten Deutschland bereits durchgesetzt hatte,3 nannte er als Gründe, die USA als neuen Aufenthaltsort zu wählen. Wie Pisk gab es viele österreichische Musiker, die bereits vor dem Anschluß Österreichs an Deutschland emigrierten, vor allem wenn sie – wie er – Juden waren, dem „linken“ politischen Lager angehörten und dem musikalischen Kreis um Arnold Schönberg zugeordnet wurden. In Österreich war es schwierig geworden. Zunächst muß die räumliche Enge der jungen Republik genannt werden, die die Musiker auch schon vor 1933/34 ins Ausland drängte. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie gab es im verbleibenden Österreich eben nur noch begrenzte Arbeitsmöglichkeiten für aufstrebende junge Musiker. 1 2 3
Brief von Paul Pisk, New York, 21. Dezember 1936, ÖStA, Unterrichtsministerium, 1455/36. Ebenda. Elliott Antokoletz, A Survivor of the Vienna Schönberg Circle: Paul A. Pisk, in: Tempo. A quarterly Review of Modern Music 154 (September 1985), S. 15–21, hier S. 20.
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Anita Mayer-Hirzberger
Die katastrophale wirtschaftliche Lage zu Beginn der Dreißigerjahre verschlimmerte die Situation zusätzlich. Die Arbeitslosigkeit als Folge der Weltwirtschaftskrise hatte zu Ende des Jahres 1934 mit 770.000 Menschen -38,5% aller Arbeitnehmer – ihren Höhepunkt erreicht.4 Besonders schlimm wurde es für jene – in erster Linie jüdische – Musiker, die 1933 aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Österreich remigrierten. Briefe von Friedrich Deutsch (im amerikanischen Exil Frederick Dorian) an seinen ehemaligen Lehrer Joseph Marx geben eine Vorstellung von der Lage, in der sich jene österreichischen Musiker befanden. Als Jude in Berlin5 war ihm im August 1933 klar, daß er nicht mehr lange bleiben werde können: „Dass ich hier in kurzer Zeit fliege, wird Sie nicht überraschen, und ich habe in selbstverständlicher Voraussicht dieser Lage schon alles Erdenkliche versucht, um im Ausland irgendwas zu finden. Umsonst. Es gibt tausende Emigranten in allen benachbarten Ländern, und nach Palaestina zu gehen, habe ich – kein Geld!“
Mit Arbeitsmöglichkeiten in Österreich rechnete er offensichtlich nicht. Dort sah er sich arbeitslos an der „zwar schon sehr dürftige[n], aber immerhin noch existente[n] elterliche[n] Futterkrippe. […] aber mit 31 Jahren als arbeitsloser Musiker durch die Stadt laufen, in der schon hunderte hochbegabte Kollegen dieses Los teilen, das ist auch nicht sehr verlockend.“6
In seiner verzweifelten Situation wandte sich Deutsch an Joseph Marx, damit dieser wegen einer Stelle in der Türkei7 interveniere und schrieb von der Hoffnung, daß er „irgendwo als irgendwas unterzubringen wäre, als Kapellmeister, Musikwissenschaftler, Bibliothekar, als Lehrer vielleicht für Theorie, als Chordirigent (da hab ich ja wirklich viele Jahre Praxis) als Hotelportier wenn es sein muss – wenns nur irgend etwas ist.“8
Von ähnlichen Bedingungen erzählte rückblickend Georg Knepler.9 Er meinte, daß seine Emigration aus Österreich im Jahr 1934 „gewissermaßen ökonomisch be4
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Hans Kernbauer / Fritz Weber, Von der Inflation zur Depression. Österreichische Wirtschaft 1918–1934, in: „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, hrsg. von Emmerich Tálos und Wolfgang Neugebauer, Wien 1984, S. 1–30, hier S. 1. Er arbeitete von 1929–1934 als Musikkritiker bei der Berliner Morgenpost und als Dirigent des Chores Groß-Berlin. Walter Pass / Gerhart Scheit / Wilhelm Svoboda, Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik von 1938 bis 1945, Wien 1995, S. 253. Friedrich Deutsch an Joseph Marx, 22. August 1933 aus Berlin, Musikerbriefe, Nationalbibliothek 809/ 45–3. Marx hatte von der türkischen Regierung den Auftrag erhalten, beim Aufbau des Kulturlebens und der musikalischen Ausbildungsstätten mitzuwirken. Dies wird in der Publikation Oswald Ortner / Joseph Marx, Betrachtungen eines romantischen Realisten, Wien 1947, erwähnt. Friedrich Deutsch an Joseph Marx, 22. August 1933 aus Berlin, Musikerbriefe (Anm. 6). Ein Interview aus dem Jahr 1992 wurde als wichtige Quelle verwendet, in: Pass / Scheit / Svoboda, Orpheus im Exil (Anm. 5), v. a. S. 54ff.
…tausende Emigranten in allen benachbarten Ländern…
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dingt“ war.10 Wie Friedrich Deutsch sah sich auch Knepler 1933 gezwungen, von Deutschland nach Österreich zurückzukehren. Für letzteren, der 1933 in die KPÖ – kurz vor deren Auflösung – eingetreten war, kam noch erschwerend hinzu, daß er sich im illegalen Widerstandskampf gegen das Dollfuß-Regime engagiert hatte, weshalb er im Februar 1934 verhaftet wurde.11 Für „Politische“ war es in Österreich mittlerweile besonders heikel geworden. Seit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 wurde immer deutlicher, daß der Kanzler Engelbert Dollfuß die auf dem Parteiwesen funktionierende Demokratie durch ein ständestaatliches System unter autoritärer Führung ablösen wollte. Bis zur offiziellen Einführung der ständestaatlichen Verfassung am 1. Mai 1934 gab es bereits eine Reihe von neuen Verordnungen, die ein Vorgehen gegen „politisch problematische“ Staatsbürger erleichterten. Im folgenden soll darauf näher eingegangen werden, um zu zeigen, womit ein österreichischer Staatsbürger, der sich wie Georg Knepler parteipolitisch engagierte, zu rechnen hatte. Wie er selbst sagte, war die Niederschlagung seines Verfahrens vor allem dem Geschick des von seinen Eltern engagierten Anwalts zu verdanken.12 Die bekanntesten Verordnungen waren die Verbote der Parteien: der Kommunistischen Partei am 26. Mai 1933 (BGBl. 200/1933), der Nationalsozialistischen am 19. Juni 1933 (BGBl. 240/1933) und schließlich der Sozialdemokratischen am 12. Februar 1934 (BGBl. 78/1934). Nach dem Verbot der ersten beiden Parteien wurde im August 1933 das Vorgehen zu den Vermögenswerten von verbotenen Parteien geregelt. Mit der Verordnung „über die Beschlagnahmung und den Verfall des Vermögens verbotener politischer Parteien“ (BGBl. 368 vom 16. August 1933) hatte die Regierung Zugriff auf die gesamten Vermögenswerte bis zum Inventar. Dazu kamen Verordnungen, die es ermöglichten, gegen „staatsfeindliche“ Personen schärfer als bisher vorgehen zu können. Bereits in der Verordnung vom 23. September 1933 wurde die Errichtung von Anhaltelagern (Konzentrationslagern) (BGBl. 431) geregelt: „Der Bundeskanzler und über dessen Ermächtigung die Sicherheitsdirektoren (in Wien der Polizeipräsident) können Personen, die im begründeten Verdachte stehen, staatsfeindliche oder sonstige die öffentliche Sicherheit gefährdende Handlungen vorzubereiten oder die Vergehen oder die Vorbereitung solcher Handlungen zu begünstigen, zu fördern oder dazu zu ermutigen, zwecks Hintanhaltung von Störungen der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete verhalten.“13
1934 (6. September 1934, BGBl. 232) wurde diese Verordnung auf eine illegale politische Betätigung ergänzt: 10 11
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Ebenda S. 55f. Die Verhaftung passierte nicht während der Februar-Kämpfe, sondern bereits zuvor, weil Knepler mit einigen Heften der illegalen Zeitschrift Rote Fahnen aufgegriffen wurde. Pass / Scheit / Svoboda, Orpheus im Exil (Anm. 5), S. 54f. Ebenda. Bundesgesetzblatt 431/1933.
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Anita Mayer-Hirzberger
„[…] insbesondere aber Personen, die sich zu einer politischen Partei bekennen, der die Betätigung in Österreich untersagt wurde, oder von denen auf Grund nachgewiesener Handlungen oder Unterlassungen mit Grund angenommen werden kann, daß sie den Bestrebungen einer solchen Partei Vorschub leiste.“14
Das gleiche Datum (16. August 1933) wie die Regelung zur Beschlagnahmung des Parteivermögens trägt eine Verordnung (BGBl. 369/1933), die eine Ausbürgerung aus politischen Gründen ermöglichte, wenn ein österreichischer Staatsbürger im Auslande offenkundig, auf welche Weise immer, österreich-feindliche Handlungen unterstützt, fördert oder an derartigen Unternehmungen teilnimmt.15 Desgleichen konnte die Ausbürgerung jene Personen treffen, die sich ohne Ausreisebewilligung in einen Staat begeben, für den eine solche vorgeschrieben ist.16 Diese Verordnung, deren Vorbild das vier Wochen zuvor erlassene reichsdeutsche Ausbürgerungsgesetz darstellte, zielte zunächst in erster Linie auf die österreichischen Nationalsozialisten ab, die sich in München der sogenannten „Österreichischen Legion“ angeschlossen hatten. Zuvor war eine Ausbürgerung nur möglich, wenn eine Person eine fremde Staatsangehörigkeit erwarb oder freiwillig in den öffentlichen Dienst oder Militärdienst eines fremden Staates eintrat.17 11.650 Ausbürgerungen sind für das damalige Regime nachgewiesen.18 Mehrheitlich waren davon Nationalsozialisten betroffen, von denen allerdings viele amnestiert wurden und Anträge auf Wiedereinbürgerung stellten, vor allem nach dem Juli-Abkommen 1936 mit dem nationalsozialistischen Deutschland.19 Die Gründe der Ausweisung mußten von der ausbürgernden Behörde erbracht werden, was eine Intensivierung der Überwachung und eine Verschärfungen der Meldepflicht von politisch Verdächtigen nach sich zog. Im österreichischen Staatsarchiv befinden sich auch über Musiker Berichte, die das Unterrichtsministerium von der Bundespolizeidirektion Wien angefordert hat. So wurden beispielsweise die Teilnehmer der Sängerreise Hlinak auf ihre nationalsozialistische Betätigung in Österreich und während ihres Auslandsaufenthaltes hin überprüft.20 Weiters gab es eine mit „Streng vertraulich“ versehene Information
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Bundesgesetzblatt 232/1934. Ilse Reiter, Nationalstaat und Staatsbürgerschaft in der Zwischenkriegszeit: AusländerInnenausweisung und politische Ausbürgerung in Österreich vor dem Hintergrund des Völkerrechts und der europäischen Staatenpraxis, in: Sylvia Hahn / Andrea Komlosy / Ilse Reiter (Hg.), Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung in Europa 16.–20. Jahrhundert (= Querschnitte 20), Innsbruck–Wien etc. 2006, S. 193–218 (hier S. 215f.). Diese Bewilligung brauchte man seit dem 1. Juni 1933 für Deutschland, weil Kurierdienste bzw. der Schmuggel von Waffen und Propagandamaterial unterbunden werden sollten. Vgl. Reiter, Nationalstaat und Staatsbürgerschaft in der Zwischenkriegszeit (Anm. 15), S. 213. Ebenda S. 212. Ebenda S. 214. Unter den Ausbürgerungslisten, die zur Zeit in einem Projekt untersucht werden, befanden sich nur vier Personen, die als Musiker bezeichnet wurden (laut freundlicher Mitteilung von Ilse Reiter): Josef Bielovsky, Alois Funka, Rudolf Guritzer, Georg Wulz. ÖStA/AdR, Erhebung der Bundespolizeidirektion in Wien zur „Sängerreise Hlunak“[sic!], Bundesministerium für Unterricht, 29715/34. Für den Leiter Kurt Hlinak finden sich dabei Angaben bis zu Wohnungsgröße, Miethöhe und Jahresgehalt.
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über Leopold Reichwein, dessen Verbindungen zum Nationalsozialismus bekannt waren.21 Die Sozialdemokraten und Kommunisten waren vor allem während und nach den Februarunruhen 1934 betroffen. Die Zahlen der Opfer, Verhaftungen, Todesurteile und vollstreckten Hinrichtungen sind hinreichend bekannt.22 Mit der darauf folgenden Welle der Emigration23 – zunächst vor allem in die Tschechoslowakei – beschäftigt sich zur Zeit ein Forschungsprojekt.24 Für die Dollfuß-Regierung bedeuteten die Niederschlagung der Februarunruhen von 1934 und das anschließende Parteiverbot einen Sieg des „Ordnungs- über das Revolutionsprinzip“.25 Für die linke Arbeiterschaft bedeutete es nicht nur die Zerstörung ihrer politischen Bewegung, sondern auch einer jahrzehntelang aufgebauten Kulturarbeit. Mit der Partei waren alle damit im Zusammenhang stehenden Kultureinrichtungen von der Volksbildung über Büchereien bis zu den Arbeiterchören und Arbeiterorchestern verboten worden. Die Arbeit der sozialdemokratischen Kunststelle, aber auch eine weitere Durchführung der damals bereits zur Tradition gewordenen Arbeiter-Sinfonie-Konzerte, war unmöglich geworden. Die Verordnung zur Regelung der Vermögenswerte bedeutete für die musikalischen Vereine, daß das vorgefundene Notenmaterial und die Instrumente beschlagnahmt wurden. Sogar der 1. Mai, als „Tag der Arbeit“ gefeiert, wurde umgedeutet und in den vier Jahren der ständischen Regierung als Tag der ständischen Verfassung gefeiert. Wie alle anderen derartigen Aktionen wurde auch dies als Akt der Befriedung dargestellt,
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ÖStA/AdR, Information über Leopold Reichwein der Bundes-Polizeidirektion Wien vom 2. Februar 1936, Bundesministerium für Unterricht 4935/36. Wolfgang Maderthaner, 12. Februar 1934: Sozialdemokratie und Bürgerkrieg, in: Österreich im 20. Jahrhundert, Bd.1, hrsg. von Rolf Steininger und Michael Gehler, Wien 1997, S. 153–202. Ilse Reiter nennt die Zahl von 1900 Flüchtlingen in Brünn nach den Februarunruhen, von denen 700 in die Sowjetunion, einige in die Schweiz, nach Schweden und Frankreich emigrierten. Vgl.: Reiter, Nationalstaat und Staatsbürgerschaft in der Zwischenkriegszeit (Anm. 15), S. 21. Das Projekt „Politisch motivierte Migration: Emigration bzw. Flucht aus Österreich, politische Ausbürgerungen im austrofaschistischen Wien 1933–1938 und die Wiedereinbürgerungspraxis insbesondere nach 1945“ unter der Leitung von Ilse Reiter-Zatloukal und unter Mitarbeit von Christiane Rothländer vom Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte wurde vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien für die Österreichische Akademie der Wissenschaften gefördert und 2006 abgeschlossen. Siehe Ilse ReiterZatloukal, Migration und politisch motivierter Staatsbürgerschaftsentzug im 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich 1/2011, hrsg. von Julia Dahlvik, Wien– Göttingen 2012, S. 75–90. – Den Arbeiten an dem Projekt sind inzwischen folgende Publikationen entwachsen: Ilse Reiter, Die Ausbürgerungsverordnung vom 16. August 1933, in: Tagungsband des 7. Zeitgeschichtetages in Innsbruck 2008 (erscheint März 2010); Christiane Rothländer, Die Ausbürgerungspraxis der Wiener Bundespolizeidirektion, in: ebenda; Ilse Reiter, Ausbürgerung. Politisch motivierter Staatsbürgerschaftsverlust im Austrofaschismus, Teil I, in: juridikum. zeitschrift im rechtsstaat 4/2006, S. 173–176; Christiane Rothländer, Ausgebürgert. Politisch motivierter Staatsbürgerschaftsverlust im Austrofaschismus, Teil II, in: juridikum. zeitschrift im rechtsstaat 1/2007, S. 21–25; Ilse Reiter, Nationalstaat und Staatsangehörigkeit in der Zwischenkriegszeit – AusländerInnenausweisung und politische Ausbürgerung in Österreich vor dem Hintergrund des Völkerrechts und der europäischen Staatenpraxis, in: Sylvia Hahn / Andrea Komlosy / Ilse Reiter (Hg.), Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung in Europa (16.–20. Jahrhundert) (= Querschnitte 20), Innsbruck–Wien–Bozen 2006, S. 193–218. Hubert Beuve-Mery (Pseud. Sirius), Empor zur Vernunft. Ein Weckruf an die Arbeiter und Angestellten, Wien 1936, S. 47.
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wie dies der Staatssekretär Hans Rott in der Zeitschrift „Der Gewerkschafter“ den Arbeitern klar zu machen versuchte: „Der 1. Mai ist zum Feiertag des ganzen Volkes geworden. Er ist nicht nur Tag der Arbeit, sondern auch der Gedenktag an die Neuschaffung dieses Staates. Die Arbeiterschaft darf stolz darauf sein, daß dieser Tag zum Festtag der Volksgemeinschaft geworden ist.“26
Die Ereignisse vom Februar 1934 veranlaßten nicht nur die damals direkt Beteiligten aus der sozialdemokratischen Bewegung zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen. David Josef Bach etwa, der zuvor eine wichtige Rolle im Kulturleben jener Partei gespielt hatte27, schrieb in Anbetracht des Umgangs mit Sozialdemokraten offene Postkarten, wofür er sich bei seinem Freund Arnold Schönberg entschuldigte: „Die mir jetzt auferzwungene Sparsamkeit und auch andere Gründe bestimmen mich, nur offene Karten zu schreiben; fasse dies also nicht als Unhöflichkeit auf.“28
Musiker wie Paul Amadeus Pisk oder Erwin Leuchter dachten an eine Ausreise. Pisk hatte dies offensichtlich sehr bald getan, denn Arnold Schönberg antwortete ihm diesbezüglich am 7. März 1934: „[…] es hat keinen Sinn dass ich Ihnen irgend etwas verspreche, das ich nicht halten kann. Amerika ist überfüllt mit arbeitslosen Musikern, ich selbst bin bereits von vielen Deutschen um dasselbe angegangen worden […]. Aber ich versichere Ihnen, dass ich, wenn ich etwas höre oder eine Möglichkeit finde, an Sie denken werde (wie ich bereits an Sie und Web. und Poln. und Bach gedacht habe).“29
Erwin Leuchter wandte sich im November 1934 an das Emergency Commitee30 in New York. Als letzte Position gab er „musikalischer Leiyer [sic!] in der Arbeiterkulturbewegung des [sic!] oestr. sozialdemokratischen Partei“
an,31 als Grund für seine Entlassung das Verbot der sozialdemokratischen Partei. Das noch vorhandene Vermögen reiche noch „ueber die Wintermonate“.32 Bei den Ausreiseländern zeigte sich Leuchter nicht wählerisch. Er bevorzugte zwar „Russ26 27 28 29 30
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Hans Rott, Maientag!, in: Der Gewerkschafter. Organ der österreichischen Arbeiter und Angestellten (Mai 1937), S. 1. Zu David Josef Bach: Henriette Kotlan-Werner, Kunst und Volk. David Josef Bach 1874–1974, Wien 1977. David Josef Bach an Arnold Schönberg, 27. März 1934 (Arnold Schönberg Center, Wien). Schönberg an Pisk, 7. März 1934 (Arnold Schönberg Center). Das Emmergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars Records wurde 1933 in New York gegründet, um europäischen Wissenschaftlern zu helfen, die aus religiösen oder politischen Gründen aus ihrer Heimat flüchteten. Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars / Manuscripts and Archives Division / The New York Public Library / Astor Lenox and Tilden Foundations: Fragebogen Erwin Leuchter (Box 77, folder Len-Leu). Ebenda.
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land (suedliche Gebiete) – Palaestina – England – Frankreich“, hatte aber auch nichts gegen sein später tatsächlich gewähltes Exil in Südamerika einzuwenden. Lediglich die Tropen lehnte er aus klimatischen Gründen ab.33 Die Härte der Vorgehensweise im Februar 1934 und in den Monaten danach erregte allerdings Empörung im In- und Ausland, und den meisten Vertretern der ständestaatlichen Regierung wurde klar, daß dieser Umgang mit der linken Arbeiterschaft alles andere als vertrauenerweckend war. Selbst in regierungsfreundlichen Kreisen wurde Kritik laut. Ernst Karl Winter schrieb ein halbes Jahr nach der Ermordung des Kanzlers Engelbert Dollfuß, daß diese Tat als „Sühne für den Weg vom 7. März 1933 bis zum 12. Februar 1934“34 aufgefaßt werden könne. Winter war maßgeblich an der versuchten Aussöhnung mit der Arbeiterschaft beteiligt.35 Eine seiner Forderungen war, die verbotenen Arbeiterkulturverbände zu reaktivieren.36 In vertrauter Umgebung sollte versucht werden, Einfluß auf diesen Teil der österreichischen Bevölkerung zu nehmen. Die Reaktivierung fand allerdings sehr zögerlich und vorsichtig statt. Noch 1936 empfahl Hubert Beuve-Mery geduldige Propagandaarbeit, um die ehemaligen Sozialdemokraten für sich zu gewinnen. Er unterschied in der Schrift Empor zur Vernunft37 vier Gruppen der österreichischen Arbeiterschaft, mit denen sich die Machthaber des österreichischen Ständestaates auseinandersetzen müßten.38 Die größte Gruppe hätte sich bereits dem „neuen Werden“ angeschlossen und lasse sich „vom Vergangenheitsspuk nicht mehr narren.“39 Die zweite sei zwar noch unschlüssig, aber vom alten „Parteistaat schwer enttäuscht“. Diese Erfahrungen machten sie mißtrauisch gegenüber den „Märchenerzählern des Austromarxismus“40, aber auch gegen alles Neue. Die Menschen der dritten Gruppe waren für Beuve-Mary die Sentimentalen, die dem „Früheren nach[trauern], ohne zu prüfen, ob das Heute nicht besser sei.“41 Unermüdliche Überzeugungsarbeit sei notwendig, um die beiden Letztbeschriebenen für den „neuen Staat“ zu gewinnen. Wirklich problematisch sei lediglich die letzte Gruppe, die als „unverbesserliche Moskowiter“ bezeichnet wurden, die „auf einen gewaltsamen Umsturz“ setzen würden.42 Die zögerliche Haltung bei der Wiedererrichtung der Kulturvereinigungen lag zum einen an der Angst, daß diese Institutionen als Ort der illegalen politischen Betätigung mißbraucht werden könnten, zum anderen war der Hintergedanke für die 33 34 35
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Ebenda. Ernst Karl Winter, Dollfuß, in: Wiener Politische Blätter 2/2 (1934), S. 113–119, hier S. 114. Winter war sehr um einen Ausgleich mit der Arbeiterschaft bemüht und veranstaltete Gesprächsabende mit Arbeitern (Aktion Winter). Ernst Karl Winter / Karl Hans Heinz, Ein Katholik zwischen Österreichs Fronten 1933–1938, Wien 1984. Winter, Dollfuß (Anm. 34), S. 123. Hubert Beuve-Mery (Pseud. Sirius), Empor zur Vernunft. Ein Weckruf an die Arbeiter und Angestellten, Wien 1936. Ebenda S. 45ff. Ebenda S. 45. Ebenda S. 46. Ebenda. Ebenda.
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Bemühungen einer Wiederbelebung der ehemaligen Kultureinrichtungen zu offensichtlich.43 Sie sollten nun als Stätten der Erziehung im ständestaatlichen Sinne dienen. Entsprechend wurden sie umgestaltet, wie dies etwa Franz Liska im Aufsatz Die Arbeitnehmerschaft als Kulturfaktor beschrieb. Für ihn war es „selbstverständlich“, daß „dabei Lebensunfähiges und den Allgemeininteressen Zuwiderlaufendes ausgeschaltet werden muß.“44
Diese „Entproletarisierung“ betraf natürlich insbesondere die ehemaligen tonangebenden Persönlichkeiten der Sozialdemokratie, wie in der Arbeiter-Woche zu lesen war: „Zwar gibt es andere Männer an der Spitze, aber die Schulen […] blieben.“45
Eveline Möller hat etwa die Übernahme des ehemaligen „Konservatoriums für volkstümliche Musikpflege in Wien“ beschrieben46, das aus einer Initiative der sozialdemokratischen Kunststelle gegründet worden war. Die Idee der musikalischen Volksbildung, die dieser Einrichtung zu Grunde lag, paßte auch zur Kulturpolitik des Ständestaates, und Karl Lugmayer, der als treuhändiger Verwalter der aufgelösten musikalischen Vereine und Einrichtungen eingesetzt war, setzte David Josef Bach (den Obmann des inzwischen aufgelösten „Vereins für volkstümliche Musikpflege“) von der Widerrufung der Auflösung in Kenntnis und machte ihm gleichzeitig klar, daß die frühere Vereinsleitung ihrer Geschäfte enthoben sei, da sie nicht „die Gewähr bietet, dass sie die Geschäfte in einer mit den Interessen der Allgemeinheit übereinstimmenden Weise führen wird.“47
Die ehemals verantwortlichen Personen mußten „regierungstreuen“ weichen, darunter auch Paul Amadeus Pisk, der von 1930 bis 1934 das Kammerorchester des Vereins für volkstümliche Musikpflege leitete.48 Auch im Bereich der Volkshochschulen wurde Pisk allem Anschein nach nicht mehr beschäftigt. Das letzte Mal wurde er am 3. Februar 1934 beim Stefan-George-Gedenkabend genannt.49 Andere, offensichtlich als weniger problematisch eingestufte Menschen erhielten auch weiterhin Engagements: Erwin Weiss wirkte am 29. Jänner 1936 bei einem Altösterreichischen Abend und am 5. Mai 1936 bei einem Konzertabend (Meister der Roman43
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Vgl. Anita Mayer-Hirzberger, The Takeover of Social Democratic Musical Institutions by the Austrian „Corporate State“, in: Culture and Politics in Red Vienna, hrsg. von Judith Beniston und Robert Vilain (= Austrian Studies 14), Leeds 2006, S. 291–309. Franz Liska, Die Arbeitnehmerschaft als Kulturfaktor, in: Werksgemeinschaft berufsständische Ausschüsse Schlichtungswesen Soziale Arbeitsgemeinschaft (=Österreichischer Aufklärungsdienst 4), Wien 1937, S. 20–25, hier S. 21. Musikalische Maiwünsche, in Arbeiter-Woche Jg. 2/18 (1936), S. 23. Eveline Möller, Die Musiklehranstalten der Stadt Wien und ihre Vorläufer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Diss.), Wien 1994, S. 139–143. Schreiben vom 25. September 1934/ ÖStA/AVA Akt des Bundeskanzleramtes Gz. 368.041/34 zit. nach Möller, Die Musiklehranstalten der Stadt Wien (Anm. 46), S. 142. Ebenda S. 149f. Laut Datenbank Theseus des österreichischen Volkshochschularchivs.
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tik) mit.50 Erwin Leuchter war durchgehend bis zum Schuljahr 1936/37 mit der Leitung des Chores der Volkshochschule Volksheim betraut, übernahm Übungen für Mandolinenspiel und Orchester und wird 1934 beim Freikonzert Österreichischer Musik anläßlich des Tages der Musik angeführt. Im Vergleich zur Zeit vor 1934 betreute Leuchter allerdings weniger Veranstaltungen.51 Bei einigen stieg die Anzahl der Lehrtätigkeit. So etwa bei Kurt Pahlen, dessen Aufstieg zum Volksmusikerzieher in jener Zeit begann.52 Obwohl er bereits vor Etablierung des Ständestaates über Leuchter zur Arbeitermusik gekommen war, kann keine besondere Nahbeziehung zur Sozialdemokratie festgestellt werden. In der Autobiographie des aus bürgerlichen Kreisen stammenden Pahlen ist zu lesen, daß er bei jener Probe, bei der er Erwin Leuchter vertrat, das erste Mal in die „äußersten Außenbezirke“ der typischen Arbeiterwohngegenden gekommen war. In der Folge wurde er zwar ein begeisterter Leiter von Jugend- und Arbeiterchören, allerdings waren es vor allem die begeisterten Sänger, weniger die sozialdemokratische Idee, die ihn faszinierten. Im Ständestaat führte er diese Tätigkeit weiter und wurde auch für eine redaktionelle Tätigkeit in der 1935 gegründeten Arbeiter-Woche53 angestellt, um über Arbeitermusik zu berichten. Neben ihm schrieb auch Hans Jancik54, der im Kulturreferat der Vaterländischen Front für den Bereich der „Volkstümlichen Musik“ zuständig war.55 Von den früher führenden Persönlichkeiten der Arbeitermusikbewegung beziehungsweise der musikalischen Volksbildung war dort nichts zu lesen. Das, was im Ständestaat an Möglichkeiten zur musikalischen Bildung und Betätigung der Arbeiterschaft geboten wurde, konnte aber auf keinen Fall den Verlust der ehemaligen sozialdemokratischen Einrichtungen ersetzen. Den Kulturverantwortlichen fehlte teilweise auch das nötige Gespür für die Arbeiterschaft. Als Beispiel dafür sollen die „Werkkonzerte“ erwähnt werden, die 1937 und 1938 von der Freizeitorganisation der Vaterländischen Front „Neues Leben“ gemeinsam mit der RAVAG veranstaltet und teilweise sogar als Fortführung der Arbeiter-SinfonieKonzerte verstanden wurden. Diejenigen, die tatsächlich ein Wiedererstehen der Arbeiter-Sinfonie-Konzerte erwartet hatten, wurden enttäuscht. Ein Leserbriefschreiber der Arbeiter-Woche meinte, „geohrfeigt“ aus dem Konzert gekommen zu sein.56 Eine Rundfunkaufnahme von Werken der „Leichten Muse“ wurde gleichzeitig als Konzert für Arbeiter genutzt, was auch die Kleidung und das Auftreten des 50 51 52
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Ebenda. Ebenda. Erwin Leuchter hatte Pahlen gebeten, ihn bei einer Probe eines Arbeiterjugendchores in Ottakring zu vertreten. Kurt Pahlen, Ja, die Zeit ändert viel. Mein Jahrhundert mit der Musik, Stuttgart–München 2001, S. 217f. Arbeiter-Woche. Organ für das Interesse der Arbeiter in Staat und Wirtschaft, 1935–38. Jancik war auch zunächst im Verwaltungsausschuß und von 1936–1938 als Direktor des Konservatoriums für volkstümliche Musikpflege tätig. Vgl. Möller, Die Musiklehranstalten der Stadt Wien (Anm. 46), S. 148. Anita Mayer-Hirzberger, „... ein Volk von alters her musikbegabt“. Der Begriff „Musikland Österreich“ im Ständestaat (Habilitationsschrift), Wien 2006, S. 53. Arbeiter-Woche, Jg. 3/11 (1937), S. 13.
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Dirigenten, der Musiker und Sänger57 deutlich zeigte. Bei diesen Veranstaltungen war von der ursprünglichen Idee des Mentors der Arbeiter-Sinfonie-Konzerte David Josef Bach wenig zu spüren. Nicht mehr die Bildung, sondern die Unterhaltung der Arbeiter stand im Vordergrund. Für David Josef Bach waren die damaligen Ereignisse besonders schmerzlich. Alles, was er aufgebaut hatte, beziehungsweise woran er mitgearbeitet hatte, gab es nicht mehr. Auch er dachte bereits in der Zeit des Ständestaates an Emigration.58 Der politische Umsturz von 1934 hatte ihn in eine Lebenskrise gebracht. 1934 war Bach59 bereits 60 Jahre alt. Mit Ende des Jahres 1933 war er offensichtlich aus gesundheitlichen Gründen als Redakteur der Arbeiterzeitung ausgeschieden.60 Zwar erhielt er eine Rente, mit der er aber seinen gewohnten Lebensstandard nicht mehr halten konnte. Bereits im März 1934 erwähnte er in einer Karte an Arnold Schönberg seine finanziell schwierige Lage und schrieb von der Hoffnung, daß Schönbergs Kontakte ihm beim Verkauf eines seiner Filme61 dienlich sein könnten.62 Alle bisherigen Tätigkeiten waren mit der Arbeiterbewegung verbunden, und der Verkauf des Filmes schien ihm die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ende des Jahres hatte er die Reise bereis geplant und bat Schönberg nochmals um Intervention. Auch in diesem Brief klagte Bach über seinen finanziellen Engpaß: „Dass ich selber nach Hollywood komme, wage ich kaum zu hoffen, die Fahrt ist sehr teuer, selbst wenn man nur mit dem Autobus fährt. Ich suche eine Beziehung zu den Greyhound-Lines wegen einer Freikarte, bin aber da sehr skeptisch.“63
1935, als er wegen der zuvor beschriebenen Angelegenheit in Amerika war, sprach er davon, daß seine Pension („wie alle Pensionen“) weiter gekürzt worden sei. „Davon können wir beim besten Willen nicht leben!“64
Das Filmprojekt, von dem er sich Hilfe erwartet hatte, kam nicht zustande. Das alles war jedoch nur ein kleiner Vorgeschmack zu dem, was David Josef Bach nach dem Anschluß erwartete. Um nach England emigrieren zu dürfen, mußte er 57 58 59 60
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Die Musiker waren in „Straßenkleidung“ erschienen, die Sängerin saß mit einer Thermoskanne auf der Bühne. Mayer-Hirzberger, The Takeover of Social Democratic Musical Institutions (Anm. 43), S. 300ff. Ein Brief Arnold Schönbergs vom 13. März 1935 gibt Hinweise darüber. Nuria Nono-Schoenberg, Arnold Schönberg 1874–1951. Lebensgeschichte in Begegnungen, Klagenfurt 1992, S. 350. * 13. August 1874. Der Artikel von Chairmian Brisons nennt dafür eine Quelle aus dem Londoner Büro der österreichischen Sozialisten des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (17 859/230). Chairmian Brisons, „Nach soviel Glanz“. David Josef Bach in British Exile, in: Culture and Politics in Red Vienna (= Austrian Studies 14), Leeds 2006, S. 305–316, hier S. 306. Bach beschäftigte sich damals mit den Filmprojekten Das Buch des Lebens, Vienna Melody und Die Kraft des Reigens, die er 1938 in: Der Kugelmensch. Die Filmfläche: Phantasien und Gedanken (Wien 1938), veröffentlichte. Karte an Arnold Schönberg vom 27. März 1934 (Arnold Schönberg Center). David Josef Bach an Arnold Schönberg, 1. Dezember 1934 (Arnold Schönberg Center). David Josef Bach an Schönberg vom 10. März 1935 aus New York (Arnold Schönberg Center).
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schließlich auf seine Pensionsrechte verzichten65 und war schließlich auf Hilfe angewiesen. Das Wissen, von anderen abhängig zu sein, verschlechterte Bachs ohnehin angeschlagene Gesundheit. Die Ärzte in England nannten als Ursache für seinen körperlich schlechten Zustand psychische Gründe. 1945 schrieb Bach an Schönberg, daß an diesem „Nervenfrass“ das Gefühl schuld sei, „keine Arbeit zu finden, und im wesentlichen von einem mitleidlosen Mitleid abzuhängen.“66
Doch es war nicht nur die materielle Seite, die Bach zusetzte. Am 11. Februar, einen Tag, bevor jene bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen begannen, fand das letzte Arbeiter-Sinfonie-Konzert statt.67 Mit dem Ende der Arbeitermusikbewegung war der ehemals umtriebige Schreiber und Organisator, der eine wichtige Position im kulturellen Leben Wiens eingenommen hatte, gezwungen, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen: „Ich glaube, ich haette manches leisten können, mindestens so gut, wie andere, wenn schon nicht besser; mein Groessenwahn ist noch immer nicht geheilt.“68
Daß David Josef Bach und sein Kreis nach dem Februar 1934 durchaus versuchten, an der Gestaltung des Musiklebens teilzuhaben, zeigt ein Brief vom 10. Mai 1934, in dem er sowie Anton Webern Ernst Krenek um eine Unterredung baten, um die Situation des „Vereins für Neue Musik“ (IGNM-Sektion Österreich) zu besprechen. Die Sorge, ob diese Institution im Sinne ihrer bisherigen führenden Persönlichkeiten auch in ihrem Sinn weitergeführt werden könnte, war durchaus berechtigt, was an der dort propagierten Musik und an der angeblichen Gesinnung der Proponenten lag. Die Mitglieder wurden in die Nähe zur sozialdemokratischen Bewegung gebracht, wie der Autobiographie Ernst Kreneks zu entnehmen ist. Obwohl er es eigentlich besser hätte wissen müssen, beschrieb er den „Verein für Neue Musik“, zu dem er 1932 erstmals geladen wurde, als „eingeschworene Anhänger der Musik Schönbergs […]. All diese Männer waren Sozialisten und wahrscheinlich Mitglieder der Partei von Dr. Bach.“69
Die Vorstellung einer Verbindung der Gruppe um Arnold Schönberg mit der sozialistischen Bewegung war bereits etabliert. Schon längst wurden jene Komponisten als „Musikbolschewisten“ bezeichnet.70 Als problematisch wurde auch die dort propagierte Musik gesehen. Zumindest in Deutschland bis 1933 sowie in Österreich 65 66 67 68 69 70
Jared Armstrong / Eduard Timms, Souvenir of Vienna, in: Culture and Politics in Red Vienna (Anm. 60), S. 63–100, hier S. 66. Brief David Josef Bach an Arnold Schönberg, 2. März 1945 (Arnold Schönberg Center). Henriette Kotlan-Werner, Kunst und Volk. David Josef Bach 1874–1947, Wien 1977, S. 108ff. Brief David Josef Bach an Arnold Schönberg, 2. März 1945 (Arnold Schönberg Center). Ernst Krenek, Im Atem der Zeit. Erinnerung an die Moderne. Aus dem Amerikanischen von Friedrich Saathen. Revidierte Übersetzung von Sabine Schulte, Hamburg 1998, S. 902f. Vgl. Eckhard John, Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938, Stuttgart 1994, S. 47ff.
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und in der Tschechoslowakei bis 1938 wurde die IGNM als Ort gesehen, wo tatsächlich „bahnbrechende neue“ und nicht nur zeitgenössische Musik gefördert werden sollte.71 Unter einem Regime, das ein traditionelles, katholisches Österreich vertrat, hatte diese Art von Musik keinen leichten Stand, da sie mit der vorherrschenden Vorstellung von der „musikalischen Sendung Österreichs“ nicht in Einklang gebracht werden konnte. Ein wichtiger Pfeiler der damaligen Ideologie war die Vorstellung von der „österreichischen Sendung“. Gemeint war damit, daß Österreich aufgrund seiner Vergangenheit als Vielvölkerstaat und als Erbe des Heiligen römischen Reiches als einziger europäischer Staat Träger der abendländischen Idee sei und daher berufen wäre, in der als kritisch angesehenen Zeit als Leitbild zu wirken. Als Ausdruck der vermeintlichen Krise wurde die Situation der Musik angesehen, und auch hier glaubte man Österreich, das sich als „Musikland“ verstand, als berufen, dem zeitgenössischen kompositorischen Schaffen den entscheidenden Impuls zu geben.72 Als Musik der Krise wurde die sogenannte „atonale“ Musik verstanden, was sich etwa im Bild vom „Trümmerfeld der atonalen Musik“73 deutlich zeigt. Dem wurde eine „zukunftsweisende“ Musik gegenübergestellt, die entsprechend der Idee der musikalischen Sendung Österreichs in der Tradition des Landes stehen müsse, worunter eine Verwurzelung in der Musik der Vergangenheit und der Volksmusik verstanden wurde. Die Förderpolitik des Staates etwa zeigt eine deutliche Bevorzugung der „Traditionalisten“. Diese Tatsache mußten auch jene erkennen, die zunächst den Ständestaat begrüßten, wie der Komponist Ernst Krenek74. Er hoffte unter dieser Regierung, die er als positiven Gegensatz etwa zu nationalsozialistischen, marxistischen, aber auch demokratischen Formen sah, auf ideale Bedingungen für die Neue Musik.75 1937, ein Jahr nach Paul A. Pisk, flüchtete auch Krenek vor der kulturellen Enge Österreichs.
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Anton Haefeli, Die Emigranten und ihr Einfluß auf die IGNM, in: Musik in der Emigration 1933–1945. Verfolgung . Vertreibung . Rückwirkung. Symposium Essen, 10. bis 13. Juni 1992, hrsg. von Horst Weber, Stuttgart– Weimar 1994, S. 136–152, hier S. 138. Vgl. Mayer-Hirzberger, „... ein Volk von alters her musikbegabt“ (Anm. 55), S. 245–254. Roland Tenschert, Musik der jungen Generation, in: Die Pause, Jg. 2/3 (1936), S. 5f., hier S. 5. Zu Ernst Krenek: Claudia Maurer-Zenck, Ernst Krenek – ein Komponist im Exil, Wien 1980. Mayer-Hirzberger, „... ein Volk von alters her musikbegabt“ (Anm. 55), S. 252f.
MATTHIAS SCHMIDT (Basel)
Freiheit und Legitimität Ernst Krenek und die Kulturpolitik des Ständestaates Am 11. März 1938, dem Tag des Rücktritts von Bundeskanzler Schuschnigg und des Einmarsches reichsdeutscher Truppen in Österreich, hält sich Ernst Krenek gerade in Brüssel auf und wartet auf Visa für sich und seine Frau zur gemeinsamen Ausreise in die Vereinigten Staaten. Er notiert in sein Tagebuch: „Katastrophenmeldung aus Wien. Finis Austriae. Das Letzte und Äußerste. Innerlich vollkommen vorbereitet, leider nicht ebenso äußerlich. Tiefste Schmach und Finsternis. Andrerseits ein wenig so, als ob ein geliebter Kranker nach unausdenklichen Qualen gestorben wäre, ausgelitten hätte. Obgleich die Leiden ja jetzt erst anfangen; aber das ist nicht mehr Österreich, das ist jener unwürdige Haufen tierischer Troglodyten, die es nicht besser gewollt und verdient haben, und ganz wenige, die sich nicht retten können. Alles jetzt konzentriert auf die eigene Rettung. Ein fieberhafter, unwirklicher Zustand beginnt“.1
Am Tag darauf muß Krenek mit der belgischen Sängerin Ré Koster ausgerechnet seinen Liederzyklus Reisebuch aus den österreichischen Alpen in einer Radiosendung spielen. Das Lied mit dem Titel Politik in diesem Reisebuch, das in „sentimentalen, ironischen und philosophischen Skizzen“2 sein Leiden an, wohl auch seine Liebe zu Österreich verrät, enthielt bei seiner Entstehung weniger als zehn Jahre zuvor eine offensichtliche Aufforderung an seine Landsleute: „Wir waren ausersehn, Hirten zu sein für die vielen Völker des Ostens und Südens, die mit uns vereint waren. Wir haben die Aufgabe nicht erfüllt, die Prüfung nicht bestanden, von schlechten Lehrern schlecht vorbereitet. Die Strafe war fürchterlich“;
später heißt es: „Ihr Brüder, schickt den blutigen Hanswurst endlich heim, beendet die Todesmaskerade, denn es ist genug jetzt! Oder es kommt noch schlimmer, und wir werden untergehen [...]. Brüder, hört, es ist die höchste Zeit!“
Diese hellsichtigen Worte stammen aus dem Jahr 1929; kein Wunder, daß Krenek bei der jetzigen Wiederholung des Zyklus ein „widerwärtiges Gefühl“ 1 2
Ernst Krenek, Die amerikanischen Tagebücher 1937–1942. Dokumente aus dem Exil, hrsg. von Claudia Maurer Zenck, Wien u. a. 1992, S. 52. Ders., Selbstdarstellung, Zürich 1948, S. 26.
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nicht unterdrücken konnte. Und einige weitere Tage später, Hitler hatte den Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich bereits proklamiert, trifft er sich noch einmal mit Ré Koster. Gemeinsam spielen sie Schubert-Lieder – wie Krenek wörtlich in seinem Tagebuch vermerkt – „zum Trost“.3 Die Tatsache, daß ein Komponist, der im Jahrzehnt zuvor unter größten Anstrengungen eine politische Idee im Namen eines christlich-universalen Österreich gegen äußere Einflüsse zu verteidigen gesucht hat, nun erkennen muß, daß dieses Land sich unter dem Jubel eines Großteils seiner Bevölkerung dem Nationalsozialismus willfährig macht, und dann „zum Trost“, gleichsam als begleitenden Kondukt zum Begräbnis seiner Hoffnungen in dieses Gemeinwesen, Lieder des von ihm so emphatisch auf seine Heimat bezogenen Schubert spielt, scheint nicht frei von einer gewissen verzweifelten Ironie. Ein zeitlich rückwärtsgewandtes „Heimweh“, eine „Sehnsucht“ nach dem Unwiederbringlichen, welche Krenek in so vielen Werken Schuberts unterschwellig oder offen aufscheinen sah,4 hatte dessen Kompositionen einige Jahre zuvor zum wesentlichen Attraktionspunkt seiner musikalischen Poetik werden lassen. Er selbst verstand Schuberts Begriff von „Heimat“, wie er ihn in dessen Liedern wiederzufinden meinte, stets nur als einen distanziert erinnerten, ja einen in der Geistigkeit des Erinnerns bestehenden. Denn nirgends war auch für ihn Schubert – nach Theodor W. Adornos Formulierung – „der Erde ferner, als wo er sie zitiert“.5 Krenek bewies mit seinem wahrscheinlich kaum wirklich tröstlichen Schwanengesang auf die verlorene „Idee“ der Heimat, daß er sich ihres endgültigen Verlustes bewußt war, daß er diesen teilweise vorausgesehen, zumindest aber einberechnet hatte. Ernst Kreneks künstlerisches und politisches Denken in der kurzen Zeitspanne des ständestaatlichen Österreich soll im folgenden als in gewissem Sinne beispielhafte, innerhalb der österreichischen Kulturszene aber auch besonders hervorstechende Fallstudie vorgestellt werden: in einigen Bemerkungen zu einem Komponisten, der vielleicht wie kaum ein anderer die grundlegenden Widersprüche der kulturpolitischen Verhältnisse im Österreich der dreißiger Jahre und ihr Scheitern an der Grundproblematik von künstlerischer Freiheit und politischer Legitimität spiegelt. Kreneks Engagement für dasjenige, was er später die „österreichische Idee“ nannte, beginnt, auf dem Höhepunkt seines internationalen Ruhmes, in der Folge der beispiellosen Erfolgsgeschichte der Oper Jonny spielt auf. Seine Werke noch der mittleren zwanziger Jahre prägt eine „nützlich, praktisch, unterhaltend“ ausgerichtete Musik6, die Krenek vor allem in als „Zweckkunstwerke“7 verstandenen Kompositionen für das Theater verwirklichte. Diese Publikumsorientierung soll3 4 5 6 7
Ders., Die amerikanischen Tagebücher (Anm. 1), S. 53. Vgl. etwa Peter Gülke, Franz Schubert, Laaber 1991, S. 145. Theodor W. Adorno, Schubert (1928), in: ders., Moments musicaux, Frankfurt am Main 1964, S. 35. Krenek, Selbstdarstellung (Anm. 2), S. 18. Ders., Musik in der Gegenwart, in: 25 Jahre neue Musik, Jahrbuch 1926 der Universal-Edition, hrsg. von Hans Heinsheimer und Paul Stefan, Wien 1926, S. 55.
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te sich aber bald differenzieren: Jonny spielt auf stellte in der Folge der Uraufführung zwar einen der größten Sensationserfolge der Operngeschichte dar, die eigentlichen Adressaten, welche der Komponist und Textdichter erreichen wollte, fühlten sich indes offenbar kaum angesprochen. Seine Oper versuchte die von ihm damals als gehemmt und zweiflerisch empfundene Intellektualität der mitteleuropäischen Avantgarde zu einer öffnenden Selbstbefreiung aufzufordern. Ein gewichtiger Grund für dieses Scheitern war wohl nicht zuletzt der dominante Charakter, der einem Massengeschmack entgegenkommenden leichten Sphäre von „Jazz“- und Tanzmusik Jonnys, welche die spannungsreichere und anspruchsvollere Musik der grüblerischen Gegenfigur Max weitgehend verdrängte. So fand sich Krenek nach dem Erfolg eines – für ihn – gewichtigen Mißverständnisses plötzlich zwischen allen Stühlen wieder: von der Avantgarde (wegen des auf den Zeitgeist zugeschnittenen Sujets und musikalischen Materials) als „Reaktionär“ und „Erfolgjäger“ beargwöhnt, von den konservativen Kritikern (etwa wegen der positiv besetzten Hauptfigur, des schwarzen Jazz-Band-Geigers Jonny, der so ziemlich alle Vorurteile intolerant gesonnener Kreise auf sich zu ziehen mochte) als „Kulturbolschewik“ beschimpft, vom Publikum, das endlich eine „moderne“ Musik hörte, die es anstrengungslos und unterhaltend goutieren konnte, letztlich ungewollt bejubelt.8 Daß just dieses Mißverständnis des Jonny Krenek den Blick dafür eröffnete, daß in einer Gesellschaft freier Individuen wirksamer der Einzelne und nicht mehr die „Masse“ anzusprechen sei9, prägte sein künstlerisches Selbstverständnis der folgenden Jahre.10 Kreneks Reaktion war zunächst eine vermeintlich konservative: Musikalisch richtete sich sein Denken zunehmend auf eine Auseinandersetzung mit Franz Schubert aus. Was den Komponisten an Schuberts Persönlichkeit anzog, war ihre historisch höchst eigenständige Position, die weder einer Fortschrittsideologie zu dienen noch unmittelbar massenwirksam zu sein schien, sondern gerade in ihrer äußeren sozialen Begrenzung später umso stärkere, wiewohl zunächst verborgene Wirksamkeit entfalten konnte.11 Als Publizist formulierte Krenek Pole8 9 10
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Vgl. Kreneks Einleitung zu einem geplanten Buch mit eigenen gesammelten Aufsätzen, ca. 1935 (Manuskript im Krenek-Archiv der Wienbibliothek). Vgl. Kreneks Beantwortung der Fragen des Musikpsychologen Julius Bahle von 1931 (Wienbibliothek). Das Mißverständnis fand „Randbemerkungen“ – vgl. Krenek, Selbstdarstellung (Anm. 2), S. 23 – mit drei Einaktern Kreneks, die kurz darauf komponiert wurden und nicht nur inhaltlich drei Möglichkeiten des Umgangs mit individueller Freiheit, sondern auch musikalisch diejenigen der Freiheit gegenüber einem verbindlichen Stil aufzeigen (dem „expressionistischen“ Diktator stehen der „Jazz“Ton von Schwergewicht und der „romantische“ des Geheimen Königreiches gegenüber); vgl. dazu auch Wolfgang Ruf, Kreneks drei Einakter von 1928, in: Ernst Krenek, hrsg. von Otto Kolleritsch, Wien– Graz 1982, S. 133–143. In seinem Schubert-Vortrag spricht Krenek von der „Unauffälligkeit des äußeren Habitus“ (Ernst Krenek, Franz Schubert und wir, in: Bericht über den internationalen Kongress für Schubertforschung, Wien 25. bis 29. November 1928, Augsburg 1929, S. 69–76, hier S. 73) und dem „Mangel an Ideologie“ (ebenda S. 76) in Schuberts Musik.
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miken gegen einen „als technischen Fortschritt maskierten Ruin“12, welchen er um 1930 vor allem in einem „aufklärerischen und im Fortschrittswahn befangenen Liberalismus“13 in Deutschland sich verwirklichen sah, und er begann gleichsam im Gegenzug hierzu, Gefallen an der alten österreichischen „Reichs“-Idee und dem Ständestaat-Gedanken zu finden, die bereits in den zwanziger Jahren seitens der Christlich-Konservativen in Österreich diskutiert wurden.14 Er hoffte, in diesem Österreich ein Refugium jenes „alten universalen, übernationalen Reiches“ entdecken zu können, dessen „politische Seele [...] unnationalistisch“ war15 und die Utopie von einer Gemeinschaft vertrat, welche „nichts Politisches“, „sondern etwas Geistiges, eine Gemütshaltung, ein Weltbild, ein seelisches Verhalten“16 darstellte. Die Hoffnung auf einen übernationalen Föderalismus und auf einen Vorrang des Individuums vor den Interessen der Gemeinschaft war die eine versteckte Sehnsucht des demokratiemüden Österreich der späten zwanziger Jahre. Die andere erfüllte das Ständestaat-Modell zugleich auch: diejenige nach einer autoritären Gesamtführung. Diese beiden Aspekte freilich realpolitisch verbinden zu wollen, war, wie sich später herausstellen sollte, ebenso problematisch, wie die Idee des Universalreiches von vornherein nur als geistige, im weitesten Sinne kulturpolitische „Sendung“ auszulegen, da die machtpolitische Bedeutung Österreichs seit dem Ende der Monarchie erheblich geschwächt war. Eine „persönliche, individuelle Verantwortung“17 in der Ablehnung „kollektivistischer Ideologien“, mit der Krenek eigentlich seinem Vorbild und Freund Karl Kraus zu folgen trachtete (der bekanntlich zu den politischen Ereignissen der dreißiger Jahre in seiner Art kompromißlos „Entfernung“ und nicht „Stellung“ nehmen wollte18), bewog ihn 12
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Ernst Krenek, Karl Kraus und Arnold Schönberg [1934], in: ders., Zur Sprache gebracht. Essays über Musik, hrsg. von Friedrich Saathen, München 1958, S. 172–174, hier S. 172; ähnliche Hinweise finden sich verstärkt bereits seit 1925, nachdem Krenek den Begriff zu Beginn der zwanziger Jahre – wie erwähnt – noch durchaus positiv konnotiert hatte: Im Schubert-Aufsatz spricht Krenek etwa vom „Wahnbegriff“ Fortschritt (Ernst Krenek, Schubert [1929], in: ders., Zur Sprache gebracht, S. 35–41, hier S. 41), etwas später dann zum Beispiel vom „leeren Fortschrittsrummel“. (Vgl. ders., Von der Aufgabe, ein Österreicher zu sein [1931], in: ders., Gedanken unterwegs, München 1959, S. 13–23, hier S. 22). Ernst Krenek, Karl Kraus †, in: Der Christliche Ständestaat 3 (1936), S. 593f. Vgl. dazu etwa Claudia Maurer Zenck, Ernst Krenek, Wien 1980, S. 54ff. Vgl. Krenek, Selbstdarstellung (Anm. 2), S. 36. Ders., Von der Aufgabe, ein Österreicher zu sein (Anm. 12), S. 14. Vgl. ders., Zur heutigen Situation der Neuen Musik, in: ders., Im Zweifelsfalle. Aufsätze zur Musik, Wien 1984, S. 240–247, hier S. 246. Karl Kraus, Die dritte Walpurgisnacht, München 1952, S. 20. Krenek deutete Kraus’ Werk dennoch als in der Perspektive einer „unverrückbaren Idealvorstellung von der österreichischen Sendung“ stehendes (Vgl. Krenek, Karl Kraus (Anm. 13), S. 593). So sprach Krenek etwa davon, daß „niemand [...] intensiver und unbeirrbarer an Engelbert Dollfuß glauben [konnte] als Karl Kraus“ (zum „Dollfußkult“ vgl. etwa die Begräbnisrede Kardinal Theodor Innitzers in St. Stephan [Wiener Zeitung vom 29. Juli 1934], des weiteren auch den Briefwechsel Ficker-Krenek, vgl. Ludwig v. Ficker, Briefwechsel 1926–1939, hrsg. von Ignaz Zangerle [u. a.], Innsbruck 1991, S. 242, S. 253, S. 257, S. 419). Krenek fand für seine Thesen allerdings durchaus auch Bestätigung in Äußerungen von Kraus selbst, wie etwa in dessen Zustimmung zu einem entsprechenden Aufsatz Kreneks von 1934, der Kraus auch
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angesichts dieser Hoffnungen dennoch dazu, „einen aktiven Beitrag zum Leben und zur Kultur Österreichs zu leisten“.19 1928 kehrte Krenek – trotz des dringenden Abratens zahlreicher Freunde – in das konservative Wiener Kulturklima Wiens zurück, wo ihn, wie zu erwarten war, zunächst eine „glorreiche Einsamkeit“20 empfing. Krenek hatte Wien 1920 verlassen und als ungemein erfolgreicher Komponist zumeist in Deutschland, auch in der Schweiz gelebt. Sein Schritt zurück nach Wien nun war ein durchaus emphatischer und zielte, wie er sagte, „bewußt außerhalb und gegen die Zeit“.21 Wien zeigte sich tatsächlich kaum offen gegenüber dem Neuen: Bei der Wiener Erstaufführung von Jonny spielt auf, die noch dazu die Fledermaus von ihrem sakrosankten Platz am Silvesterabend 1927 in der Staatsoper verdrängte, formierten sich in fataler Einmütigkeit wütende Nazi-Proteste gegen die „jüdisch-negerische Besudelung“22 des Hauses am Ring und eine harsche Kritik der bürgerlichen Presse gegen eine vermeintlich platte, die hehre Kulturmission der Wiener Oper verhöhnende „Jazz“-Musik.23 Als im Frühjahr 1930 ein Auftrag des Wiener Staatsoperndirektors Clemens Krauss für eine Oper „historischen Inhalts“ an Krenek24 erging, entschied sich der Komponist für das Sujet Karl V. Die politisch-theologische Intention des Werkes, von dem sich Krenek unmittelbare Wirkung erhoffte25, läßt bereits eini-
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als Verkörperung einer „österreichischen Sendung“ beschreibt (vgl. Krenek, Karl Kraus und Arnold Schönberg (Anm. 12), S. 172ff.), und gestand seinem Schaffen – welches er mehr als das eines „Religionsstifters“ denn als das eines „politischen Führers“ (Ernst Krenek, Erinnerung an Karl Kraus [1936], in: ders., Zur Sprache gebracht (Anm. 12), 229–240, hier S. 236) deutete –, den Charakter einer „Heilslehre“ zu (ders., Karl Kraus (Anm. 13), S. 594). Elias Canetti vermutete, daß durch Kraus’ Billigung der Regierungspolitik von Dollfuß seine Verehrer „wirklich alle von ihm abgefallen waren“ (Elias Canetti, Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937, Frankfurt am Main 1988, S. 267). Das traf aber keineswegs auf die Wiener Anhänger – im Gegensatz etwa zu den schockierten Reaktionen der deutschen Avantgarde (etwa von Brecht) – zu. Kraus wurde seinem lebenslang verfolgten „Radikalismus der Mitte“ auch hier gerecht: Krenek etwa betonte, daß Kraus’ „gefährlichster Feind und das zentrale Objekt seines Kampfes“ ein „halbschlächtiger, aufklärerischer und im Fortschrittswahn befangener Liberalismus“ (Krenek, Karl Kraus (Anm. 13), S. 593) und ihm Positionierungen im Sinne von „links“ und „rechts“ stets egal gewesen seien. Krenek, Selbstdarstellung (Anm. 2), S. 36. Ebenda S. 25. Ders., Selbstporträt, in: Melos 37, 9 (1970), S. 340–346, hier S. 341. In diesem Sinne befindet Krenek 1931 gegenüber Gubler die „Unscheinbarkeit und Verborgenheit des Größten, die lange Zeit, das Wartenkönnen“ als „Wesenszug des Österreichischen“, der durch „die heutige Entwicklung zertrampelt“ werde (Brief an Friedrich T. Gubler vom 12. September 1931, in: Der hoffnungslose Radikalismus der Mitte. Der Briefwechsel Ernst Krenek – Friedrich T. Gubler 1828–1939, hrsg. von Claudia Maurer Zenck, Wien u. a. 1989, S. 140). Vgl. Ernst Krenek: Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Matthias Schmidt, Wien 2000, S. 67. Julius Korngold, Das Wiener Operntheater im letzten Dezennium. Historisch-kritischer Rückblick, in: 10 Jahre Wiederaufbau. Die staatliche, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Republik Österreich, hrsg. von Wilhelm Exner, Wien 1928, S. 184. Die zeitliche Präzisierung entstammt einem Gespräch Kreneks mit August M. Knoll (Ernst Kreneks ‚Karl V.‘, in: Die Stunde, Wien, 21. Oktober 1933, S. 7). Vgl. etwa Ernst Krenek, Der „Geistige Mensch“ und die Politik, in: Wiener Zeitung vom 25. Dezember 1934 (Weihnachtsbeilage), S. 3–4, hier S. 3.
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ge der Adressaten ahnen, die der Komponist nach Beendigung des selbst verfaßten Textbuches 1933 mit einem Widmungsexemplar bedachte. Neben Publizisten wie Theodor Haecker und Ludwig von Ficker gehörten dazu etwa auch der österreichische Bundeskanzler Dollfuß und der Wiener Kardinal Innitzer. Die Idee eines Universalreiches ist in Kreneks Bühnenwerk nur als ausschließlich geistiges Vermächtnis auf die Gegenwart übertragen: Der Kaiser wird im Zwiespalt zwischen seiner Aufgabe, einen göttlichen Plan zu erfüllen, und seiner psychologischen Existenz als Subjekt dargestellt. Sein Schwanken zwischen Glaube und Zweifel, dem Festhalten an Veraltetem und dem Vorausweisen auf Neues unterläuft die Logik der Heilsgeschichte, die das Scheitern des christlichen Universalreiches am Schluß an eine unbestimmte Zukunft delegiert. Das Schlußwort ist gerade die paradoxe Aufforderung zum politischen Handeln im Wissen um die Nicht-Einlösbarkeit der in Angriff genommenen Ziele. Karls Schwester Eleonore sagt dort: „Doch bleibt uns ewig [!] aufgegeben, was er heldenhaft versuchte“. Krenek stellte seine Idee des „Universalismus“ im Hinblick auf das von Habsburg ausgehende christliche Weltreich unter die Maxime einer „Freiheit in der Bindung“, deren ästhetisches Pendant er nicht nur in Schuberts bewußt gestalteter Ökonomie, sondern in äußerster Zuspitzung vor allem in der Zwölftontechnik wiederzuerkennen meinte, die dem Werk denn auch als Konstruktionsgrundlage dient. Der Entscheidung, mit Hilfe der Zwölftontechnik zu komponieren, ging eine lange Phase der „Gewissenserforschung“26 voran, und Krenek glaubte schließlich, daß eine – wie er es nannte – „politisch selbstverantwortliche“ Musik27 gerade in ihrer Entfernung von den sozialen Fragestellungen des Publikums, ohne dabei „politisch neutral“ oder „indifferent“ zu sein28, selbst „zum Schauplatz geschichtlicher Entscheidungen“ werden könne. Die Formel von der „Freiheit in der Bindung“ aber war zu allgemein formuliert und der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu wenig angepaßt, als daß seinem Werk der schließlich drohende Konflikt hätte erspart bleiben können: Vor allem gerade wegen der Anwendung der in gewissen Kreisen als „kulturbolschewistisch“ diskreditierten Zwölftontechnik wurde Kreneks Bühnenwerk Opfer einer von der „Heimwehr“ angezettelten Intrige. Wenige Wochen vor der angesetzten Uraufführung wurde eine Pressekampagne gegen das Werk inszeniert, gegen die Clemens Krauss (wohl auch angesichts seiner gefährdeten Karriereaussichten in Deutschland und der gerade verhandelten Vertragsverlängerung in Wien) nicht den Mut hatte, entschlossen genug anzugehen. Die Uraufführung wurde – wie es im offiziellen Sprachgebrauch hieß – „verschoben“ (diese „Verschiebung“ dauerte dann übrigens genau 50 Jahre, das Werk war an der Wiener Staatsoper zum ersten und zum bislang letzten Mal 1984 zu hören). 26 27 28
Ders., Selbstdarstellung (Anm. 2), S. 33. Ders., Das neue Weltbild der Musik (unveröffentlichter Vortrag in: Wienbibliothek). Ders., Freiheit des menschlichen Geistes [1931], in: ders., Zur Sprache gebracht (Anm. 12), S. 122.
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Krenek ließ sich durch die Causa Karl V. dennoch zunächst nicht beirren: seinem ästhetisch kompromißlosen Anspruch stand ein bewußtes Engagement im Kulturleben Wiens gegenüber, das er für eine kurze Zeitspanne in nicht unbedeutender Position mitgestaltete. In einem Brief an Krenek vom Juni 1934 verlieh Ludwig von Ficker in diesem Sinne einer damals recht weit verbreiteten optimistischen Stimmung Ausdruck: „Nun, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr ich es begrüßt habe, daß Ihnen die kompetenten Stellen nun doch die Möglichkeit geschaffen haben, Ihre so wertvolle Kraft als Anreger und Anwalt geistiger Interessen im Bereiche der Kunst für das Aufbauwerk der Regierung in die Waagschale zu werfen. Ich halte das für ein gutes Zeichen. Überall stehen bei uns, in diesem kleinen drangsalierten Staatswesen, jetzt Männer auf, die mit der nötigen Einsicht entsprechende Tatkraft und öffentliches Verantwortungsgefühl verbinden – an sich ein Glücksfall –, und ‚oben‘ scheint man – ein noch seltenerer Glücksfall – bestrebt, sie an den richtigen Platz zu stellen, auch gegen Widerstände im eigenen Machtbereich“.29
Nicht nur war Krenek seit 1933 Mitglied der „Vaterländischen Front“30, Mitte Mai 1934 wurde er unter „lebhafter Akklamation“31 zum Präsidenten der Genossenschaft dramatischer Schriftsteller und Komponisten gewählt, die bei dieser Gelegenheit selbst beschloß, der Vaterländischen Front beizutreten. Seit ebendiesem Mai 1934 arbeitete Krenek gelegentlich für den Christlichen Ständestaat, eine Zeitschrift, die der Komponist als „leidenschaftlich antinazistisch“ bezeichnete und die in deutlicher Unterstützung der „Regierungsphilosophie“ auftrat.32 Krenek schrieb regelmäßig für die Wiener Zeitung, und zusammen mit Rudolf Ploderer, Willi Reich und Alban Berg gründete er eine kritische Musikzeitschrift mit dem Titel Dreiundzwanzig, die nach dem Willen der Herausgeber eine Art „musikalische ‚Fackel‘ “ darstellen sollte. Er engagierte sich seit 1934 im „Verein 29 30
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Brief von Ficker vom 19. Juni 1934 aus Innsbruck, in: Ficker, Briefwechsel (Anm. 18), S. 323. Immerhin gab Krenek im Juli 1933 und mithin einen Monat nach dem Verbot der nationalsozialistischen Partei in Österreich durch Dollfuß zu: „Als Österreicher bin ich heute zu einem parti pris gezwungen, selbst wenn ich dieses nicht vollständig und freiwillig bejahen würde, was ich aber tue. Ich bin Mitglied der Vaterländischen Front, nicht etwa, weil das nützlich ist, sondern ich denke mir auch etwas dabei“ (Brief vom 31. Juli 1933 an Friedrich T. Gubler, in: Zenck (Hg.), Der hoffnungslose Radikalismus der Mitte (Anm. 21), S. 270). (Die Vaterländische Front war nach Kreneks Verständnis im ersten Jahr ihres Bestehens noch kein politisches Instrument, sondern eine Organisation zum Schutz und Widerstand gegen die Bedrohung Österreichs durch den Nationalsozialismus, und es waren bezeichnenderweise Dinge wie die Uniformen, die Krenek offensichtlich Vertrauen einflößten. Er nannte es im Rückblick „psychologisch gut ausgedacht“, daß für die Vaterländische Front die „alten österreichischen Uniformen“ wieder eingeführt wurden. „Ich erinnere mich“, so Krenek, „daß mir der Anblick des ersten Offiziers in der schönen alten Uniform, die mir aus der aktiven Zeit meines geliebten Vaters so vertraut war, einen freudigen Schock versetzte. Wir hatten uns von der ‚Revolution‘ des Novembers 1918 weit entfernt“ (Ernst Krenek, Im Atem der Zeit, Hamburg 1998, S. 826). Bericht der Genossenschaft dramatischer Schriftsteller und Komponisten über das Mitgliedsjahr 1933/34, S. 8. Krenek, Im Atem der Zeit (Anm. 30), S. 851.
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für neue Musik“; von 1934 bis 1937 reiste er als Delegierter zu den Musikfesten der IGNM – dessen österreichische Vertretung der „Verein“ bildete. Bis 1936 hielt er zudem zahlreiche Vorträge (auch über neue Musik) und begann im Sommer 1934 an der musikalischen Planung für ein „Österreichisches Studio“ mitzuarbeiten, wo er die Aufgabe übernommen hatte, Konzerte gleichsam in einem „neutralen Forum“33 für zeitgenössische Musik auf der Basis des Österreich-Gedankens zu präsentieren.34 Der erste Abend wurde Komponisten der älteren Generation in Österreich, den Sechzigjährigen Arnold Schönberg, Julius Bittner und Franz Schmidt, gewidmet, im zweiten ging es um neue geistliche Musik, im dritten wurden Vertreter der europäischen Moderne vorgestellt, im vierten präsentierte Krenek Volkslieder in neuer Bearbeitung35, im fünften schließlich wurden Werke jüngerer Komponisten mit Österreich-Bezug (u. a. Hans Erich Apostel, Robert Leukauf, Ernst Josef Matheis, Egon Wellesz und – als Schüler Bergs – Theodor W. Adorno) zu Gehör gebracht. Der Anteil von Schülern der „Wiener Schule“, die Krenek programmierte, war also nicht gering, die Kombination von sogenannter „gemäßigter“ Moderne und etwa freitonalen oder Zwölftonwerken geschickt austariert. Die Konzerte des Winters 1934/35 fanden offensichtlich „in der Öffentlichkeit sehr günstige Aufnahme“ und wurden dabei „im Ganzen verstanden und begrüßt“, wie Krenek berichtet; „das materielle Ergebnis“ bewertete der Komponist allerdings als „verschwindend“ gering, weswegen die Reihe später auch nicht fortgeführt wurde, um dann hinzuzufügen: „aber wir haben uns längst an mikroskopische Dimensionen gewöhnt“.36 In einem der Konzerte jener Zeit spielte Krenek das nahezu vollständige Reisebuch mit der Sopranistin Herta Glatz im Ehrbar-Saal, bezeichnenderweise auf „jedermanns Rat hin“ mittlerweile ohne das zu Anfang erwähnte Lied „Politik“, weil es „zu polemisch zu sein schien“.37 Auch die „Studio“-Konzerte ließen bereits den deutlichen Zwiespalt zwischen Anspruch und Wirklichkeit spürbar werden: Daß Krenek freitonale Werke jüdischer Komponisten programmieren konnte, durfte ihm als Beweis dafür gelten, daß der Schuschnigg-Staat weit von den kulturpolitischen Ideen Hitler-Deutschlands entfernt zu sein schien, die letztlich geringe öffentliche Wirkung und die zunehmenden Einschränkungen, 33 34
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Ders., Mitteilung über die Studio-Konzerte, in: Dreiundzwanzig 22/23 (1935), S. 31. Kreneks Plan war es hierbei, „Programme anbieten, die spezifisch österreichische Entwicklungen in der modernen Musik betonen sollten, und in diese Programme auch Vertreter der sogenannten konservativen Gruppe mit einbeziehen, nicht so sehr, um sie zu beschwichtigen, sondern vielmehr, um sie vorzuführen, indem ich ihre besten Leistungen mit einigen der besten Produkte der ‚Radikalen‘ kombinierte und konfrontierte und indem ich die verschiedenen Werke durch sorgfältig vorbereitete Einführungsvorträge ins rechte Licht rückte“ (Krenek, Im Atem der Zeit (Anm. 30), S. 101). Vgl. hierzu ausführlich: Echoes from Austria – Musik als Heimat? Ernst Krenek und das österreichische Volkslied im 20. Jahrhundert, hrsg. von Matthias Schmidt, Schliengen 2007. Brief vom 15. November 1934 an Friedrich T. Gubler, in: Zenck (Hg.), Der hoffnungslose Radikalismus der Mitte (Anm. 21), S. 286. Krenek, Im Atem der Zeit (Anm. 30), S. 890f.
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mit denen er sich auseinanderzusetzen hatte, bewiesen aber gleichzeitig auch die gefährliche Nähe zwischen einer autoritären politischen Ideologie und der Einengung künstlerischer Individualität, welche die abstrakt gebliebene „österreichische Sendung“ im einzelnen Fall fast nach Belieben als nazistische „Blut und Boden“-Ideologie oder pluralistische Modernität auslegbar machte. Solches lag im Bereich der Kulturpolitik auch an der kaum einheitlich zu verortenden Gesinnung der staatlichen Entscheidungsträger, deren „schwankende und zweideutige“ Positionen Krenek im Mai 1934 noch gegenüber der „eindeutigen und kraftvollen“ Haltung des politischen Österreich kritisierte.38 Betrachtet man etwa nur die Personen, mit denen Krenek in wichtigen kulturpolitischen Fragen direkt oder indirekt zu tun hatte, so reicht das Spektrum kaum zufällig vom linkskatholischen Wiener Vizebürgermeister und Herausgeber der Wiener politischen Blätter Ernst Karl Winter39 oder dem sozialdemokratisch gesonnenen Bildungsfunktionär der Arbeiterkammer Viktor Matejka über den Schriftsteller Joseph Roth (dessen zunehmend wirklichkeitsferne Unterstützung der Regierungspolitik aus dem Exil eine grundlegende geistige Distanz zum politischen Tagesgeschehen verriet)40 bis zu den nazifreundlichen Heimwehrführern Ernst Rüdiger Starhemberg und Joseph Rinaldini (der ab Mai 1934 im Kulturreferat der Vaterländischen Front die Musikabteilung betreute). Im Bereich der bildenden
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Ernst Krenek, Ravag-Sendung und österreichische Sendung, in: Dreiundzwanzig 15/16 (1934), S. 18–24, hier S. 18. Durch Winter wurde Krenek auf der einen Seite in die „Historisch-soziologische Arbeitsgemeinschaft“ eingeführt, die sich alle zwei Wochen traf. Zwar waren alle Anwesenden erklärte Nazigegner, aber durchaus auch einem „wissenschaftlich skeptischen, distanzierten Standpunkt“ gegenüber der Regierungspolitik verpflichtet. Krenek hielt in diesem Rahmen seinen Vortrag über „Künstlerische und wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung“, in dem er die Dramaturgie seines Bühnenwerkes Karl V. erläuterte. (Der Komponist berichtet übrigens, daß Karl Kraus ihn wiederholt vor Winter „gewarnt“ habe, „denn er mißtraute ihm, weil er selbst unter allen Umständen und um jeden Preis gegen einen Kompromiß mit den Sozialdemokraten war, denen er nicht verzeihen konnte, daß sie ihn in der Bekessy-Affäre im Stich gelassen hatten“ (Krenek, Im Atem der Zeit (Anm. 30), S. 45). Diese Polarisierung zeigt sich etwa deutlich daran, daß Roth bis 1938 an seiner positiven Einstellung etwa zu Kurt Schuschnigg festhielt, indem er ihn etwa als „umsichtigen und guten Staatsmann“ lobte (vgl. Der Christliche Ständestaat vom 6. März 1938, zit. nach: Joseph Roth, Werke, hrsg. von Hermann Kesten, Bd. 4., Köln 1975, S. 727), während Winter etwa schon 1937 von den Regierungsorganen eine stärkere Demokratisierung forderte und Schuschnigg später massiv die Mitschuld an den politischen Fehlentwicklungen vorhalten konnte, ohne selbst unglaubwürdig zu werden (Ulrich Kluge, Der österreichische Ständestaat 1934–1938. Entstehung und Scheitern, Wien 1984, S. 69). Kreneks freundschaftlicher Kontakt zu Roth, den er über Gubler kennengelernt hatte (vgl. Zenck (Hg.), Der hoffnungslose Radikalismus der Mitte (Anm. 21), S. 69 bzw. S. 134), offenbart vor allem immer wieder beider ausgeprägten Hang zu politischer Realitätsferne (vgl. etwa: Joseph Roth, Für Ernst Krenek, in: Dreiundzwanzig 22/23 [Oktober 1935], S. 1–2, oder: Ernst Krenek, Der Dichter Joseph Roth, in: Der Christliche Ständestaat vom 9. Dezember 1934, S. 8–9); so zeigt sich etwa auch Kreneks Rezension von Roths Tarabas (Ernst Krenek, Die verlorene Welt der Väter, in: Wiener Zeitung vom 24. September 1934) geprägt von euphorischen Formulierungen wie „leidenschaftliche Liebe zum wahren, alten, heiligen Reich“, von „Erhellung und Wiederaufrichtung des Gedankens an das alte apostolische Reich, unser wahres Vater-Land“.
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Kunst gehörten zu diesem Spektrum auch Josef Frank41, der in den frühen dreißiger Jahren einflußreiche und der Sozialdemokratie nahestehende jüdische Architekt, der sich schon 1934 zur Emigration gezwungen sah, oder Clemens Holzmeister, der sich als einer der wesentlichen Kulturfunktionäre der Ständestaat-Zeit bald den Titel eines „österreichischen Kunstdiktators“ einhandeln sollte.42 Kreneks Positionierung außerhalb der kulturpolitisch etablierten Lager hatte freilich zur Folge, daß gerade ihn die ideologische Polarisierung zwischen „bodenständiger österreichischer Musik, ihrer Melodiefreudigkeit und reizvollen Harmonik“ und dem „entwurzelten, land- und volksfremden Atonalismus“ Bergs oder Weberns traf, und er auch seine eigenen Zwölftonwerke verteidigen mußte, gegen die Komponisten wie beispielsweise Friedrich Bayer polemisierten.43 Auch das Musikprogramm der RAVAG mit seinem mittlerweile allzu ausschließlichen „Zu-Tode-Leiern“ der Wiener Klassiker und Potpourris aus Folklore, Walzern und Märschen44 bot Krenek Anlaß zu nachdrücklicher Skepsis. So war es offenbar notwendig, daß Krenek im Mai 1935 bei einem Vortrag in der Bezirksstelle Wieden der „Vaterländischen Front“45 noch (oder wieder) werbend für eine Dezentralisierung und Entstaatlichung der Kulturpolitik eintreten und vor provinzialistischer „Bodenständigkeit“ ebenso wie vor antisemitischen Vorurteilen warnen mußte. Die Ständestaat-Politik bestimmte sich bekanntlich durch die Forderung nach dem berufsständischen Aufbau der Gesellschaft, einer antimarxistischen Grundhaltung aus christlichem Antrieb und insbesondere einer nachdrücklich verfochtenen Österreich-Ideologie auch in der Kulturpolitik. Sie sollte Heimatliebe als nationalen Identitätsfaktor verbreiten und das Land deutlich gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland abgrenzen.46 Fatalerweise beharrte diese Kulturpolitik gleichzeitig aber auch darauf, daß das durch den lateinischen Einflußbereich mitgeprägte Österreich ein „deutscher“ Staat mit „deutscher“ Kultur sei und beanspruchte eine dem preußischen Deutschland gegenüber überlegene „Sendung“ der deutsch-österreichischen Kultur erfüllen zu können.47 Schuschnigg betonte 1935 etwa in einer Rede:
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Vgl. hierzu vom Autor: Ernst Krenek und Josef Frank (unveröffentlichtes Vortrags-Ms.). Neuigkeits-Weltblatt Nr. 123, 26. Mai 1935 zur Weltausstellung Brüssel (aus: Katalog zur Ausstellung Kunst und Diktatur, Wien 1994, S. 311). Krenek, Ravag-Sendung (Anm. 38), S. 22. Junius Austriacus, Österreichische Kulturpolitik. Wie sie gemacht und wie sie nicht gemacht wird, in: Der Christliche Ständestaat 3 (1936), S. 954f. Ernst Krenek, Kunstpolitik im neuen Österreich. Vortrag in der Bezirksstelle Wieden der Vaterländischen Front, 14. Mai 1935, in: Wienbibliothek. Anton Staudinger, Austrofaschistische „Österreich“-Ideologie, in: Austrofaschismus. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, hrsg. von Emmerich Tálos und Wolfgang Neugebauer, Wien 41984, S. 287. Ebenda S. 309f.
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„Nicht auf die Masse kommt es an, sondern darauf, daß die geistig Schaffenden den Weg zum Vaterland gefunden haben. Verantwortungsgefühl, Liebe zum Lande muß in Fleisch und Blut übergehen und dieses Wissen um die Bedeutung des Landes und seine Besonderheit und seine ewige Verbundenheit mit der großen deutschen Kultur und insbesondere dieses Wissen um die Möglichkeit seines Wirkens im Interesse des Friedens der Welt, das muß uns allen Selbstverständlichkeit werden“.48
Die Verschränkung vom österreich-zentrierten „Dienst am Volkstum“ und der „Verbundenheit mit der großen deutschen Kultur“ verrieten jene Widersprüche, die die Kulturpolitik der Jahre 1934–1938 aushöhlen sollten und zum wachsenden Mißverhältnis zwischen einem in der Theorie vergleichsweise pluralistischen ständestaatlichen und einem praktisch immer deutlicher den Ideen des Nationalsozialismus entgegenarbeitenden Kunstverständnis führten. Krenek wußte, so erinnert er sich später, die antinationalsozialistische Gesinnung von Dollfuß und Schuschnigg bald genauso zu schätzen, wie er ihre defizitäre kulturpolitische Ausrichtung zunehmend als „reaktionär“ ablehnte.49 Die „doppelte Antistellung gegen liberale Demokratie und totalitäre Diktatur“, von der sich Dollfuß und Schuschnigg seit dem staatsrechtlichen Umbau 1933/34 einen „dritten Weg“ erhofften50, scheiterte aber eben auch an der Tatsache, daß es sich hierbei um das Konstrukt einer geistigen „Sendung“ handelte, die den geschrumpften und politisch gefährdeten Staat Österreich mit einem universalen geistig-kulturellen Anspruch ausstatten wollte, den er nicht erfüllen konnte. Eine solche, die realpolitischen Bedingungen nachgerade verdrängende Haltung verrät etwa eine Äußerung Kreneks vom Mai 1934 (also nach der Absetzung von Karl V.); sie wertet das Ausbleiben der „offiziellsten Kenntnisnahme“ seines intellektuellen Engagements für die „österreichische Sendung“ gerade als „Beweis“ für ihren eigentlichen Sinn und eine „Garantie für die Erhaltung dieser Sendung“, da gerade solche Nicht-Beachtung selbst die „Einsicht der offiziellen Stellen in die wahren Gründe des österreichischen Wesens sein könnte“.51
Solche sichtlich bemühten dialektischen Pirouetten dienten nicht nur Krenek als politischer minor malus, als mehr oder minder konstruierter Hoffnungsträger, mit Hilfe dessen er seine ästhetische Eigenständigkeit, paradoxerweise aber auch deren Nichtbeachtung verantwortbar machen wollte. Krenek empfand dennoch die Zunahme seiner praktischen Zugeständnisse immer deutlicher. Worte wie die 48 49 50 51
Schuschnigg in der Neuen Freien Presse vom 25. Mai 1935, zit. nach: Elisabeth Klamper, Die böse Geistlosigkeit, in: Katalog der Ausstellung Kunst und Diktatur (Anm. 42), Wien 1994, S. 132. Krenek, Selbstdarstellung (Anm. 2), S. 23. Karl Dieter Bracher, Wendezeiten der Geschichte. Historisch-politische Essays 1987–1992, Stuttgart 1992, S. 152. Brief Kreneks an Ludwig von Ficker vom 21. Mai 1934, abgedruckt in: Ficker, Briefwechsel (Anm. 18), S. 254.
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Matthias Schmidt
folgenden, die Schuschnigg im Mai 1935 zur Kulturpolitik Österreichs sprach, verrieten die immer geringer werdende Hoffnung auf ihre tatsächliche Verwirklichung und waren dementsprechend vage formuliert: „Die kulturelle Aufgabe Österreichs ist es, das kostbare Erbgut zu bewahren, aber nicht etwa sich zu begnügen, daß es einmal Generationen gegeben hat, die unerhörte künstlerische und geistige Werte schufen, von deren Ruhm wir zehren, sondern fortwirkend dafür zu sorgen, daß auch das neue Österreich auch heute eine internationale geistige und künstlerische Marke an sich trage. Die kulturelle Aufgabe Österreichs ist es aber auch, irgendwie Kristallisationspunkt zu bleiben für all jene, die letzten Endes mit uns gleich denken“.52
Die Forderung nach einer „katholischen und österreichischen Avantgarde“ im Staat konnte tatsächlich „irgendwie“ und „letzten Endes“ kaum eingelöst werden, das Juli-Abkommen Schuschniggs mit Hitler 1936 bildete nur eine Bestätigung der realpolitischen Entwicklungstendenz (eine Zusatzklausel stellte hierbei in Aussicht, daß die deutsch-österreichischen Kulturbeziehungen im Sinne einer Zusammenarbeit geregelt werden sollten; die Nationalsozialisten konnten so wieder im Rahmen legaler kulturpolitischer Organisationen in Österreich propagandistisch wirksam werden). Krenek verstummte zwar nach diesem Ereignis nicht völlig, aber er hatte sich nun erheblich deutlicher auf die Seite der Skeptiker und Mahner zurückgezogen und veröffentlichte zunehmend kritische Artikel zu den kulturpolitischen Verhältnissen im Land nur mehr unter Pseudonym. Eine Art Abrechnung mit der österreichischen Kulturpolitik unter dem Titel Wie sie gemacht und wie sie nicht gemacht wird findet sich Anfang Oktober 1936 im Christlichen Ständestaat. Krenek bekennt hier unter dem Namen „Junius Austriacus“ in deutlichen Worten, daß eine „sympathische Theorie“ einer weniger sympathischen Praxis unversöhnlich gegenüberstehe. An eine Aufführung der eigenen neuen Kompositionen war nun noch weniger zu denken. Krenek verfaßte in dieser Phase neben komplexer Kammermusik bezeichnenderweise ein Oratorium über den Säulenheiligen „Symeon“ in strenger Zwölftontechnik. Der Text Hugo Balls schildert Symeon als ein Musterbeispiel für einen „Außenseiter und Visionär“, wie Krenek ihn auch in Karl Kraus oder Søren Kierkegaard personifiziert und nicht zuletzt als erstrebenswertes Ideal für sich selbst gesehen haben mochte.53 Damit war auch der musikalische Schritt zu einem Rückzug gesetzt. Und es ist dabei von besonderem Interesse, daß die Zwölftontechnik, deren Gedanke der „Freiheit in der Bindung“ zuvor noch einen ästhetischen Vorschein der Politik des Ständestaates bilden sollte (in einem Schönberg-Artikel der Zeit spricht Krenek vom „Symbol“ 52 53
Kurt Schuschnigg, Ansprache anläßlich des ersten Kulturappells der Vaterländischen Front, in: Kulturdienst Heft 2, Juli 1935, S. 4. Vgl. dazu Kreneks Tagebuch-Bemerkung vom 7. Februar 1940, die Kraus, Kierkegaard und den Styliten ausdrücklich parallelisiert; vgl. Krenek, Die amerikanischenTagebücher (Anm. 1), S. 134f.
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einer „neuen geistigen Haltung“54), nunmehr zur Grundlage abstrakt mathematischer (und mitunter von spekulativ religiöser Zahlensymbolik geprägter) Experimente wurde. Daß Krenek bei seinen politischen Lösungsversuchen – bewußt oder unbewußt – das Risiko eines Scheiterns miteinbeziehen mußte, ja (betrachtet man die zahlreichen und vielfältigen Warnungen seiner Vertrauten55) ein gutes Stück Wirklichkeitsverdrängung von vornherein bewußt in Kauf nahm, ist nicht zu leugnen. Mit dem Akzeptieren einer Verbindung von Antinazismus und autoritärem Staat nahm Krenek – wie Robert Musil dies beschrieben hätte – eine „böse Geistlosigkeit“ an, um den „bösen Geist“ zu verhindern.56 Daß weder das Ständestaat-Ideal noch die von der katholischen Kirche geforderte Sozialordnung in den Jahren bis 1938 verwirklicht werden konnten, mag Krenek enttäuscht, aber kaum wirklich überrascht haben: Politik und Kunst in einem realpolitischen Sinn verbinden zu wollen, schloß für den Komponisten jenen Akt irrationalen Wunschdenkens ein, der ihn – so formuliert er in einer späteren bitteren Selbstdecouvrierung – von zu großen „materiellen Rücksichten“ befreite, die etwa das Eintreten für eine Demokratie gefordert hätten. Dabei, so Krenek im Mai 1941 rückblickend aus dem amerikanischen Exil, war „die österreichische Sache [...] definitiv von Anfang an eine verlorene Sache, eine völlig phantastische Ideologie“.57
Bedenkt man Kreneks zu Anfang erwähntes Verständnis des Begriffs von „Heimat“ als eines ausschließlich „erinnerten“ und des „Reiches“ als eines nur als geistige Vision existierenden, so bedeutete ein solcher Rettungsversuch von vornherein ein eher verzweifeltes denn wirklich hoffnungsvolles Unterfangen. Und Kreneks Versuch, Gesellschaftsbezug und Kunstautonomie radikal miteinander verschränken zu wollen, erwies eigentlich, daß er diese „Heimat“ schon verloren wußte, als er – um mit Kafka zu sprechen – zu den „stehenden Sturmläufen“ ihres Rettungsversuches ansetzte, die ihn schließlich ins amerikanische Exil führten.
54 55
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Ders., Arnold Schönberg [1934], in: ders., Zur Sprache gebracht (Anm. 12), S. 170. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie Friedrich Gubler, Ludwig v. Ficker und Theodor W. Adorno verliehen ihren Bedenken gegenüber seinem politischen Kurs offen Ausdruck; letzterer schrieb etwa an Krenek: „Für Ihre politischen Hoffnungen wünsche ich Ihnen nur das eine, daß Sie nicht enttäuscht werden: was mir freilich unvermeidlich erscheint, solange Sie beides: Freiheit und ‚Legitimität‘ retten wollen“ (vgl. Theodor W. Adorno und Ernst Krenek: Briefwechsel, hrsg. von Wolfgang Rogge, Frankfurt am Main 1974, S. 58, Brief vom 5. November 1934). Robert Musil, Tagebücher, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek 1976, Bd. 1, S. 897. Krenek, Die amerikanischen Tagebücher (Anm. 1), S. 181.
MANFRED WAGNER (Wien)
Die Nazis verstanden die Musik der Wiener Schule In der Musikgeschichte gab es immer wieder berühmte Verbote und Arbeitsverunmöglichungen, legendisiert in Bachs Streit mit den Ratsherren und Mozarts Hinauswurf durch den Erzbischof, in Beethovens Napoleon-Korrektur und Schuberts Nichtaufführungen, Verdis Libretto-Zensuren und Bruckners Verdammung durch einen Teil der Kritiker. Und auch die Nationalsozialisten zeigten als politische Machtträger der Geschichte nirgendwo stärker jene Unerbittlichkeit, mit der sie zumindest einem Teil einer blühenden musikalischen Kultur eines Landes den Garaus zu machen im Sinn hatten. Erstaunlich ist, daß es dabei weniger um Personalentscheidungen ging – auch wenn der Faktor „Jude“ genügte, den Stempel des Nicht-Existenzberechtigten zu erhalten –, daß es auch weniger um musikalische Gattungen ging, sondern daß bis dahin unbescholtene Volksmusiken als Vergiftungsmaterie für die angenommene Volksmentalität aus den Grenzen vertrieben wurden, wohl in der Hoffnung, die Saat zu vernichten, indem man die sie tragenden Halme knickte. Die Nazimachthaber haben – und dies sei ihnen konzediert – den Sprengstoff der ästhetischen Äußerung Musik erkannt, ja fast kleinlich, möchte man sagen, auf deren Irritationskriterien reagiert. Daß dieser Umstand in einer Musikkultur, wie sie in Österreich recht und schlecht zumindest bis in die späten dreißiger Jahre bestand, zum Kahlschlag gerierte, von dem sich meiner Ansicht nach die musikalische Szene bis heute nicht erholt hat, verblüfft in ihrer Akzeptanz durch breite Bevölkerungsschichten. Allerdings auch wieder weniger, als ohnehin eine langsame Zuspitzung der zwei seit 1820 sich gegeneinander aufbauenden Musikrichtungen zu konstatieren war. Auch wenn der von mir seit zwanzig Jahren geäußerten These – vermutlich um die Ästhetik Richard Wagners oder eines Richard Strauss zu schützen – kaum expressis verbis zugestimmt, aber andererseits auch kaum expressis verbis widersprochen wird, bestehe ich auf dieser Dualität zweier entgegengesetzter musikalischer Haltungen: deren eine empfand die musikalische Sprache an sich als Arbeitsgrundlage, die andere hingegen die Erzeugung von außermusikalischer Wirksamkeit, vor allem im emotionalen und identitätsstiftenden Kontext durch Musik. Diese Disparität beruhte einerseits vor allem auf den neu entstandenen volksnationalen Systemen, wie sie Herder (ohne an die Konsequenzen zu denken) formuliert hatte, wodurch verständlicherweise von Anfang an ein gewisser musikalischer Antisemitismus die logische Folge sein mußte, der relativ früh – nämlich 1861 schon – in den Wiener Organisationsformen Selbstverständlichkeit war. Dies ist ebenso ein Beleg wie die anderslaufende Entwicklung, die Eduard Hanslick mit seiner These, Musik sei „tönend bewegte
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Manfred Wagner
Form“, überschrieben hatte und die nach wie vor darauf beruht, im Musikalischen selbst das herausragendste Potential musikalisch verschiedener Denkweisen zu sehen. Letztlich sind die Umarbeitungen Anton Bruckners in die verschiedenen Fassungen stumme Zeugen für jenen Zwiespalt, in den die Komponistengenerationen von 1820, wie ich meine, bis heute getrieben wurden, weil er sich in seinen ersten Fassungen dem musikalischen Material jedenfalls mehr verpflichtet sah als in der Aufweichung der späteren, die nach dem Rat seiner Freunde und oft auch seiner Uraufführungsdirigenten dem inzwischen verschobenen Publikumsgeschmack entgegenkamen. Es war einsichtig, daß die Nazimachthaber prinzipiell der Wirkungsstrategie von Musik mehr Augenmerk zuwenden mußten als diffizilen Werkprozessen, daß sie in der – von heute aus betrachtet – ihnen einzig möglichen Entscheidungsebene zugunsten jener Musikerzeuger verfahren mußten, die ihrer Vorstellung von Affirmation und zielgerichteter, also gesteuerter Gefühlsintensität entsprachen. So sei die Annahme versucht und müßte auch an einzelnen Komponistennamen festzumachen sein, daß nicht primär die jüdische Existenz oder die Versippung mit einer solchen das Verbot der Musik und die Exilierung oder Tötung ihrer Schreiber rechtfertigte, sondern das Produkt selbst als jenes „Gift“ desavouiert wurde, das eine Gefahr für das Denken und die Befindlichkeit breiter Bevölkerungsschichten darstellen mußte. Der Beleg dafür ist im Bereich der bildenden Kunst schlagend, weil dort der Anteil der jüdischen Künstler nur eine verschwindende Minderheit unter den „Entarteten“ ausmachte (gerade 6 von 112, die in der Ausstellung Entartete Kunst dargeboten wurden). Statt dessen ging es um ein ästhetisches Prinzip, das in einer Mischung aus persönlichem Geschmack, darwinistischer Entartungstheorie und einer imaginären Verpflichtungskategorie gegenüber der „deutschen rassischen Tradition“ bestand. In der Deutschen Kunstausstellung vom 18. Juli 1937 zeigte sich, was an positiver Leistung vom Künstler erwartet wurde: die üblichen Klischees von bäuerlichen Genrebildern, realistische Landschaftsmalerei, klassizistische Skulpturen, Soldaten- und Heldenmut, Verherrlichungsaura und nationalsozialistisch affirmierender Realismus. In der Musik, wo dieser positive Anspruch nicht in einem einzigen Darbietungskontext, sondern in vielen Festkonzerten und Parteitagsveranstaltungen gepredigt wurde, ging es, so scheint es, primär um den Erhalt des Melodischen, eine gewisse Volksnähe und die Affirmation zur Herrschaft. In Goebbels’ großer Ansprache anläßlich der Reichsmusiktage in Düsseldorf 1938, gedruckt in den Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer,1 stand das Programm klar fest:
1
5. Jahrgang, Nummer 11, Berlin 1. Juni 1938.
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Abbildung: Zehn Grundsätze deutschen Musikschaffens, 1938.
Knapp zusammengefaßt bedeutet das: 1. die Absage an das Experiment und die Konstruktion 2. Unterhaltungsmusik ist nur dann richtig, wenn sie im Einklang mit der Staatsführung steht 3. deutscher Charakter der Musik 4. Popularmusik als richtungsweisend 5. Popularmusik als schöpfungskongruent 6. Affirmation zur Volksseele
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Manfred Wagner
7. 8. 9. 10.
Absage an den Religionscharakter der Musik Präferenz für historische Musik, wenn sie paßt Musik als stärkerer Gefühlsmotivator Musik deutscher Musiker, die die einzigen Botschaftsträger sind.
Damit war die Systematik der Ausgrenzung festgelegt, bis auf wenige Ausnahmen auch zukunftsbestimmt. Es durfte weder Universalisten geben noch Innovationsträger, keine Grenzüberschreiter, keine Komplexitätsspezialisten. Wer international erfolgreich war, machte sich verdächtig, die Interpreten hatten sich in allen Belangen dieser Gesetzgebung zu unterwerfen, und damit – und nicht nur wegen ihres nichtdeutschen Charakters – waren die Juden in erster Linie, aber nicht in letzter zu verbieten. Doch der Reihe nach: 1. Die Universalisten Universalistische Denkkategorien widersprechen per se dem Modell der ideologischen Zuordnung. Trotz des Wagnerschen Terminus’ vom „Gesamtkunstwerk“, das oft mit einem universalistischen Ansatz verwechselt wird, wo doch nur Totalität in einem schmalen Sektor von Musikproduktion (nämlich der Oper) gegeben scheint, lag die österreichische Variante in einer völlig anderen Umsetzung der integralen Gedankenwelt. Die Lösungsvorschläge zum Ganzen von Liszt bis Schönberg waren immer konkret, immer elementendeterminiert, so daß sie auf den Rausch des In-sich-Aufgehens verzichten mußten. Allein das harmonische Gebäude, das Liszt und später Schönberg errichteten, die musikalische Praxis, die Webern an die Spitze seiner Arbeitergesangsvereine stellte, weisen auf eine realitätsbezogene Einstellung und damit Zeitgebundenheit hin, der das Bemühen um eine konkrete Antwort als Zielparameter galt und Utopie immer als Vorstellungsgedanken beinhaltete. Deswegen haben gerade die Komponisten der Wiener Schule analog ihren musikalischen Vorbildern aus der Mischung von Konstruktivismus und Emotionalität, aus dem Offenlegen der Strukturen und auch deren geschickter Verbergung, aus Beibehaltung konservativ traditioneller Wertungsmuster innerhalb neuester, ebenso konstruktiv erarbeiteter Mechanismen einen Blick für jene Undenkbarkeit einer realen Utopie eröffnet, wie sie die Scheinerreichungen derselben Utopien durch deutsche oder deutschtümelnde Komponistenkollegen relativierten. Universalismus heißt deswegen nicht Integration von Musik, Text und Bühne zu einem freien Ganzen, sondern Ausforschung verschiedenster Denkmöglichkeiten in der Formalsprache ebenso wie in der harmonischen Konstruktion, Beschäftigung mit Interessenssphären, die durchaus einander entgegengesetzt zu sein scheinen, Verwertung der Errungenschaften der Geschichte bis zu Zitat und Collage, und Versuch, aus dieser Materialität heraus eine neue Kombinatorik zu entwickeln.
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Daß dieser Prozeß sich nicht nur auf die Musik selbst bezog, sondern auch auf die Lebensäußerung, ist evident, wenn man die Personalgeschichte Schönbergs und Kreneks nebeneinanderstellt. Schönberg konkurrierte mit den Malern seiner Zeit, entwarf patentreife Zeichnungen für Buchdruckerpressen und Schreibmaschinentische, Fahrscheine für die Berliner Verkehrsgesellschaft und eine eigene Tennissprache für seine Kinder. Kreneks Arbeit war nicht nur die Komposition durchaus schnell verlaufender Stilveränderungen, sondern auch die Reflexion ästhetischer Phänomene, die er in zahlreichen Aufsätzen und Artikeln publizierte und die ihn förmlich dazu zwangen, seine Lebenshaltung für und gegen politische Systeme einzusetzen, nicht nur in der modernen Sprachlichkeit, sondern auch in der Genauigkeit antiker Sprachmodelle wie Latein und Griechisch. Dieser universalistische Ansatz, der nicht nur die musikalische Produktion, sondern auch das Denken an sich betraf, ließ prinzipiell keine einmal sicher getroffene Einstellung oder auch nur ein Bekenntnis zu einer völkisch orientierten Kategorie zu, da immer mit dem Scheitern zu rechnen war, weil der gedankliche Ansatz bzw. seine Grenzen im Versuch des Scheiterns zu erfahren waren. Musik mußte mehr sein als einfache Emotionalisierung, gleichgültig, ob als Repräsentanz oder Affirmation verstanden. 2. Die Botschaftsträger der Innovation Es war schon aus der Konfliktsituation der Jahrhundertwende heraus zu erwarten, daß jene, die auf das nationale Idiom setzten – bevor sie noch Nationalsozialisten hießen, aber dann immerhin eine Volksmehrheit hinter sich hatten –, daß jene, als gute Kenner allgemeiner Stimmungsschübe, jedwede Innovation als Neuheit selbst innerhalb des Emotionalisierungsbereiches Musik als Irritation empfinden mußten. Dabei war relativ gleichgültig, ob diese Innovation im Bereich des Tonsystems (wie in der Wiener Schule) bestand, in der technischen Erzeugung (wie sie Max Brand präferierte), in der anderen Schichtenorientierung (wie sie Hanns Eisler predigte), in der Konzentration auf ein neues Medium (wie sie Henry Krips mit der Filmmusik verlangte), in der Integration fremder Stilelemente (wie sie Ernst Krenek darbot), in einer neuen Interpretationsweise (wie sie Rudolf Kolisch zeigte) oder auch in neuen Organisationsstrukturen (wie sie Erwin Stein verlangte) angelegt war. Jede aus der Norm der einfachsten emotionalen Grundstrukturen ragende Veränderung, jede Revision des Apparats und der Technik, jede andere als dem Naivgeschmack falsch verstandener Folklore nicht entsprechende Äußerung, jedwede Heraufholung abgesunkenen kulturellen Materials, sofern es nicht als deutsch-eigen apostrophierbar war, oder gar die Hereinnahme deutsch-fremder Kulturerrungenschaften – auch im von heute aus erkannten kleinsten Ansatz – galten als Sünde wider die Norm, als Belastung des „naturgegeben Verständlichen“, als Degeneration, als Irrlauf, die der Verfolgung oder dem Verbot anheimfallen mußten.
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3. Die Grenzüberschreiter Grenzüberschreitung, ein Konstitutivum von Universalität und Innovation, mußte suspekt sein, weil die Inbesitznahme der Arbeitsleistung für einen zentralen und vorher bestimmten Zweck nicht gesichert schien. Die Realität der Musikausübung im Nationalsozialismus weist zweifellos nach, daß letztlich nur (wenn überhaupt) der Spezialist innerhalb der ideologischen Ausrichtung gefragt war, der Liederschreiber oder Opernverfasser, der Sinfoniker oder Kirchenmusiker, der Marschkomponierer oder Wagner-Dirigent, der Bruckner-Kenner oder Volksliedsetzer. Alles, was über die Zuordnungskategorien hinauslief, versetzte den Distributionsapparat nicht nur in Schwierigkeiten, sondern galt schon als unberechenbar und damit gefährlich für die Machthaber, weil das Element der Verbergung in einem anderen Medium, der anderen Gattung, der Nichtentsprechung des einmal gefällten Urteils, der Abweichung der kleinen Norm innerhalb des großen Ganzen eine neue Einstellung und damit Veränderung, ja möglicherweise Revision der sicheren Zuschreibung verlangte, die Komplexität in der Vielfalt zu einem schwieriger zu verfolgenden, d. h. schwieriger zu beherrschenden System der Entziehbarkeit von Anwendung geriet. Die Richtschnur für die Machthaber hieß leichte Verständlichkeit – womit sie sich hinter einem vermuteten und wohl auch vorhandenen Publikumswollen verschanzten –, nach der sich die Musikszene als Gefühlsmaschine zu orientieren hatte, wollte sie sich der Gunst des Machtapparates erfreuen, einsetzbar sein oder auch nur dem Verbot entgehen. 4. Die Komplexen Komplexität war damit per se als Risikofaktor zu werten. Diese Komplexität traf nicht nur die Vielfachheit, quasi die Summe einzelner, ja teilweise widersprechender Faktoren, sondern auch die Kompliziertheit des Gestaltungskriteriums selbst, wenn sie aus irgendwelchen Gründen nicht einsehbar war. Deswegen mußte die Wiener Schule eliminiert werden, weil man nicht daran glauben wollte, daß eine melodische Leistung auch die Konsequenz einer numerischen Konstruktion sein konnte und weil man gar nicht verstand, daß der Faktor einer Umstülpung einer zusammengeklappten Harmonik als solcher überhaupt gehört werden kann. Der Vorwurf der „Unnatürlichkeit“, der bis heute auch in ernsthaften Diskussionen immer wieder auftaucht, weil ein willkürlich von Menschen erdachtes System einer angeblichen „natürlichen“ Ordnung widerspricht, konnte dann nicht angenommen werden, wenn man davon ausging, daß Musik eine natürliche Äußerung einer dem Volke innewohnenden, allen verständlichen Kraft sei, die eben durch die Meisterschaft der letzten drei Jahrhunderte bestätigt worden zu sein schien. Von diesem Verdikt wurden nicht nur die Zwölftöner betroffen, sondern prinzipiell alle Neutöner, gleichgültig, ob es (zumindest zu Beginn) um Carl Orff ging oder – in viel heftigerem Ausmaße – um Paul Hindemith.
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5. Die international Erfolgreichen Es ist erstaunlich, daß entgegen jeder logischen Einschätzung das Argument des internationalen Erfolges mit ein Grund für die Aussperrung, das Mißtrauen, ja die Vernichtung einzelner Musiker war. In diesen Sektor fallen vor allem jene Komponisten, die als Operetten-, Film- oder Unterhaltungsmusiker Eingang in die internationalen Standards fanden und somit als Risiko empfunden wurden. Dies mag mit zwei Grundsatzhaltungen der nationalsozialistischen Ära zu tun haben, nämlich einerseits, daß nationalsozialistische Imperialismuspolitik keinesfalls musikalische Imperialismuspolitik bedeutete, also man ohnehin die vereinnahmten Völker als kulturell unwürdig wertete und die Musik in diesem Fall nur als Verschönerungselement des Alltags, aber keineswegs als identitätsstiftend verstehen konnte. Andererseits war auch möglich, daß man Angst hatte, daß die Erfolge der Operetten- und Unterhaltungsmusiker letztlich auch beim deutschen Publikum eine unerwünschte Eigendynamik erzielten, die dem zentralen Gefühlswollen der schmalen Nazi-Ideologie abträglich waren und in einer Art eskapistischen Inselfunktion trotz kaum vorhandener Innovationskriterien Ablenkung erzeugten. Paul Abraham, Edmund Eysler, Richard Fall, Hermann Leopoldi, Oscar Straus und Robert Stolz können als Synonyme für jene angesprochene Komponistengeneration gelten. Jeder von ihnen war bereits international populär, als die Nazimachthaber in Österreich einmarschierten, und sie hätten, oberflächlich betrachtet, von ihrer Kompositionstechnik her kaum Ansätze geboten, die eine reale kulturelle Aggression der neuen Machthaber hätte rechtfertigen können. Andererseits war verständlich, daß Internationalität gleichzeitig auch Verabschiedung des einseitig Deutschen bedeutete und deswegen, ausgesprochen oder nicht, ein Risiko für jeden, der davon betroffen war. Vermutlich ist Robert Stolz’ Exilierung auf seine persönliche Seismographie für jene schwer zu beweisende Frontstellung der beiden Seiten zu interpretieren. Wahrscheinlich spürte er – wie eben die Nazis auch – die Gefährlichkeit einer möglichen Einschränkung, das Mißtrauen gegenüber dem internationalen Erfolg, die mißtrauisch beobachtete Perfektion des für uns heute so unverbindlich Geleisteten, die Eskapismuschance eines Genres – allesamt Faktoren, die innerhalb des streng kontrollierten Machtapparates verfolgungsanfällig hätten werden können. 6. Die Interpreten Sinnvolle Interpretation hängt zweifellos mit einem Verständnis für die primär schöpferische Gestaltung der Musik, also der Komposition, enger zusammen, als dies allenthalben vermutet wird. Das Lexikon der österreichischen Interpreten, die in der Nazizeit (und teilweise auch schon vorher) exiliert wurden oder freiwillig ihren Arbeitsraum verließen, zeigt nicht nur eine große Anzahl jener jüdischen Begabungen, die als Intellektuelle die Spitzenleistungen ihrer Zeit vollbringen
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konnten, sondern auch andere Menschen, die in ihrer Arbeit den vorher aufgeführten Faktoren entsprachen. Gewiß blieb auch eine Reihe bis heute weltberühmter Interpreten aus leicht oder schwerer nachvollziehbaren Gründen dem Regime erhalten, aber merkwürdigerweise doch eher solche, die mit der Emotionalisierung der Musik besser Frieden schließen konnten als mit ihrer Konstruktionsweise. Karl Böhm, der wohl zu den höchsten Musikfunktionären der Nationalsozialisten überhaupt zählt, und Herbert von Karajan, dem man seinen mehrmaligen Beitritt zum Nationalsozialismus auch als Karrieregeilheit auslegen könnte, haben nur selten und eher später aus dieser Verhaftung der emotionalen Struktur herausgefunden und damit, wie auch Wilhelm Furtwängler, eine gewisse Eingeschränktheit ihrer Präferenzen gegenüber Kollegen wie Bruno Walter oder Erich Kleiber bewiesen. 7. Die Juden Der Artikel Das Judentum in der Musik des Musikforschers Hans Koeltzsch (übrigens gleichen Titels mit Richard Wagners 1850 erstmals unter Pseudonym herausgegebener Schrift), veröffentlicht im Handbuch der Judenfrage von Theodor Fritsch (das 1935 schon seine 38. Auflage erfahren hatte), führt als Quelle bereits die Mehrzahl jener Musiker an, die sich der vorher apostrophierten Richtung der Musik verschrieben hatten. Die Beschreibungen, als solche desavouierend gemeint, lesen sich heute als Auszeichnungen und zeigen ohne Zweifel, daß man genau wußte, was man tat, weil alle Attribute und Appositionen eine Aversion verkünden, die – auch von heute aus betrachtet – durchaus zu Recht bestand. Damit war – zumindest im Falle der Kunst, und zwar in allen Ausdrucksformen ihrer Möglichkeiten – gesichert, daß die prinzipielle Gegnerschaft nicht primär eine rassische war, sondern später mit dem Verdikt des Rassismus gerechtfertigt wurde. Dies hat als Erkenntnis eine andere Qualität als die bloße Verschiebung auf rassische Zugehörigkeit, auch wenn es, wie im Bereich der Musik, in vieler Hinsicht danach aussah. Zentrales Anliegen der Nationalsozialisten war, die Gefährdung ihrer Interessen eines kruden Mythos, den Hitler und Rosenberg, Göring und Goebbels mit durchaus unterschiedlichen Nuancen versahen, unangetastet zu lassen, und zwar durch die Benutzung einer in breiten Bevölkerungskreisen bereits vorhandenen und, wie gesagt, seit 1820 immer populärer werdenden nationalistischen Denkweise, die sich zumindest im zentraleuropäischen Raum in eine deutsch-rassische verdichtet hatte. Damit schien die Sicherheit gegeben, den wahrscheinlich nach wie vor unterschätzten Attraktionsfaktor der Ästhetik, der meiner Meinung nach weit mehr als die Ideologie den Massenzulauf besorgte, auf einer Schiene, nämlich schließlich nur mehr auf jener der Emotionalisierung durch Musik, also ihres Wirkungscharakters, zu fahren. Da die Machthaber sehr genau verstanden, was diesem Wirkungscharakter entgegenstand – und sie hatten dies gelernt, indem sie die öffentlichen Diskussionen
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vorher intensiv verfolgten –, war logischerweise die andere Ausrichtung hintanzuhalten, zu verbieten, auszumerzen. Jedwede Tolerierung wäre zur Gefährdung des Systems ausgeartet. Diese Selbstgefährdung konnte man nicht von ihnen erwarten.
LYNNE HELLER (Wien)
Von der Staatsakademie zur Reichshochschule für Musik in Wien Einleitung Im Gegensatz zu den Universitäten und anderen höheren Kunstlehrinstitutionen gibt es vor März 1938 nur wenige Hinweise auf eine starke öffentliche Präsenz von Nationalsozialisten an der Staatsakademie für Musik in Wien. Natürlich gab es illegale Parteigenossen – allen voran der Organist Franz Schütz, der 1938– 1945 die Leitung der Anstalt ausübte –, doch hielten sich öffentliche Sympathiekundgebungen in engen Grenzen. Doch sofort nach dem Anschluß änderte sich das Bild; im Jahresbericht der Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst Wien 1937/38 lautete das Vorwort: „Das Jahr 1938, dessen Ablauf im Rahmen der Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst die folgenden Blätter schildern, ist das größte Jahr in der tausendjährigen Geschichte des Deutschen Reiches und zugleich das glücklichste für unsere Ostmark, da in diesem Jahre der Führer des deutschen Volkes und sein Erretter aus tiefster Not und Schmach seiner ostmärkischen Heimat die Erfüllung eines uralten Traumes bescherte, als er ihre Heimkehr ins Reich verkündete und damit Großdeutschland schuf. So wie nun mit dem Jahr 1938 die Ostmark in eine neue Epoche ihrer Geschichte eingetreten ist, so tritt nun auch die Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst als die am weitesten gegen den europäischen Süd-Osten vorgeschobene musikalische Ausbildungsstätte an neue große Aufgaben heran, um auch ihrerseits an der Erfüllung der Kultursendung mitzuarbeiten, die Großdeutschland obliegt. Die Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst wird sich in dem Gefühl tiefster Dankbarkeit gegen den Führer mit Tatkraft und Freude der Lösung der ihr nunmehr gestellten neuen Aufgaben widmen.“1
Unmittelbar nach dem Anschluß wurden fast alle Leiterposten im österreichischen Kunst- und Kulturbetrieb neu besetzt. Die Entscheidungen über die Neubesetzungen trafen offensichtlich der Leiter des Landeskulturamts Hermann Stuppäck und sein Musikreferent Robert Ernst, die mit dem Musikwissenschaftler und Juristen Dr. Alfred Orel eng befreundet waren. Obwohl Orel keinerlei Verdienste um die „Bewegung“ aufzuweisen hatte – ganz im Gegenteil, er hatte sich stets bester Kontakte sowohl zum sozialdemokratischen Wien als auch zu 1
Jahresbericht der Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst Wien 1937/38.
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Lynne Heller
den Christlich-Sozialen gerühmt –, erhielt zunächst er die kommissarische Leitung der Akademie.2 Die „logische“ Wahl, der langjährige Akademielehrer und illegale Parteigenosse Franz Schütz, wurde mit der kommissarischen Leitung der Gesellschaft der Musikfreunde betraut.3 Ob Schütz die Wahl Orels unterstützt haben könnte, um diesen relativ schwachen, an der Akademie keineswegs beheimateten Mann nach einiger Zeit „beerben“ und später die Leitung sowohl der Gesellschaft der Musikfreunde als auch der Akademie in seiner Hand vereinigen zu können, muß dahingestellt bleiben. Vorgeschichte 1817 fand der erste Unterricht im Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde statt. 1909 übernahm der österreichische Staat das Konservatorium, das bis dahin privat geführt worden war, und damit erstmals die finanzielle Verantwortung für die höchste Musikausbildung im Lande. 1919 kam es zu einer Neuorganisation der Akademie: die von der Lehrerschaft geforderte Mitbestimmung in künstlerischen und pädagogischen Fragen wurde zumindest teilweise eingeführt. 1922 übernahm Joseph Marx die Leitung der Akademie. Um die ungebrochene kulturpolitische Bedeutung des nun so viel kleineren Landes zu dokumentieren, vor allem aber, um nicht hinter den Musikhochschulen im Ausland (vor allem in Deutschland) zurückzustehen und um die Gleichwertigkeit der musikalischen Ausbildung auf höchster Stufe mit den inländischen Hochschulen bzw. Universitäten zu unterstreichen, betonte er die Notwendigkeit, die Akademie in den Hochschulrang zu erheben. Man beschloß, die oberen Jahrgänge abzuspalten, Dozenturen wurden eingerichtet, und klingende Namen wie etwa Richard Strauss und Max Reinhardt wurden eingeladen, wenigstens irgendetwas von „Hochschulrang“ zu unterrichten, um den Anspruch auf diesen Status zu untermauern. 1924 wurden die oberen zwei Jahrgänge von der Akademie abgetrennt und mit der Kapellmeisterschule und dem unter der Leitung Max Reinhardts stehenden Schauspiel- und Regieseminar zu einer Fachhochschule unter der Leitung von Joseph Marx umfunktioniert. Doch das lang erstrebte Ziel scheiterte sowohl an der engen räumlichen als auch personellen Verflechtung der beiden Ausbildungsstätten. Im Zuge einer Reorganisation 1931 wurden die beiden Institute wieder zusammengeführt, die weitreichende Autonomie der Hochschule 2
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Die Bestellung erfolgte durch den Unterrichtsminister. Die Wahl Orels muß verwundern, da er kein Parteigenosse war und als Musikwissenschaftler und Jurist weder Erfahrung mit der Leitung einer künstlerischen Lehranstalt noch an einer solchen unterrichtet hatte. Orel war 1918–38 Leiter der Musiksammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, 1929–45 a. o. Prof. an der Wiener Universität und 1940–45 Leiter des Sonderreferats für Musikforschung im Kulturamt der Stadt Wien. ÖStA/AdR BKA Präsidium Glaise-Horstenau und ÖStA/AdR Inneres Gauakt Schütz. Schütz war als einzige Lehrkraft an der Staatsakademie wegen illegaler Tätigkeit verhaftet worden, 1936 wurde er wegen angeblicher Heil-Hitler-Rufe zu einer Geldstrafe und Arrest verurteilt. Aufgrund von Interventionen aus dem Büro Glaise-Horstenau wurde er vorzeitig entlassen und verlor seine Stelle nicht.
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ging verloren, sämtliche mitbestimmende Gremien wurden aufgelöst. Das Reinhardtsche Seminar wurde auf privater Basis weitergeführt, das Musikpädagogische Seminar reformiert und schließlich 1933 mit der kirchenmusikalischen Abteilung vereint. Die neue Leitung erstrebte eine Hebung der Qualität der Schüler durch die Errichtung von Meisterschulen und -kursen. Nicht zuletzt um Gelder für die Berufung namhafter Künstler zu bekommen, wurden zahlreiche Lehrkräfte „abgebaut“ und die Mehrzahl der Lehrenden nur mehr mit Einjahresverträgen und verringerten Honoraren angestellt. Zur Zeit des Anschlusses basierte die Organisation der Akademie auf einem Bundesgesetz aus dem Jahr 19314 und auf dessen Durchführungsverordnung aus dem Jahr 19335. März 1938 – der „Umbruch“ an der Staatsakademie Unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich wurde eine SS-Nachrichtenabteilung in der Staatsakademie einquartiert, der Unterricht entfiel bis 23. März. Anläßlich der Wiederaufnahme des Unterrichtes gab es am 22. März eine Festvorstellung der Staatsakademie zur „Feier der Heimkehr ins Reich“. Der Leiter der Meisterschule für Schauspiel, Wilhelm Klitsch, trug ein Gedicht von Hermann Stuppäck, Der Führer, vor, und der neu bestellte kommissarische Leiter hielt eine Festrede, gefolgt von einer Aufführung von Minna von Barnhelm unter der Leitung von Klitsch. Bereits am 15. März hatte der bisherige Leiter der Staatsakademie, Dr. Karl Kobald, die Geschäfte dem neu bestellten kommissarischen Leiter, Dr. Alfred Orel, übergeben. Am selben Tag „beurlaubte“ dieser acht Lehrkräfte aufgrund ihrer „rassischen“ Abstammung6 und teilte ihre Schüler anderen Akademielehrkräften zu bzw. beauftragte neue Lehrkräfte mit der Weiterführung des Unterrichtes. Den Staatsopernkapellmeister Josef Krips wies er an, sich zwecks Klärung seiner Stellung bei der Staatsoper – seiner Hauptdienststelle – zu melden. Obwohl Orel sich damit brüstete, eine weitere jüdische Lehrkraft aufgrund eigener Nachforschungen ausfindig gemacht und vom Unterricht ausgeschlossen zu haben, und trotz mehrerer Artikel, die er nach dem 15. März verfaßte und die keine der aufhetzerischen, antisemitischen Klischees ausließen,7 beschränkte er sich bei den Personalentscheidungen zunächst auf das gesetzlich Vorgeschriebene, um den Lehrbetrieb aufrecht zu erhalten und eine Neuorganisation während des laufen4 5 6
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BGBl. 204/31. BGBl. 220/33. Prof. Dr. Max Graf, Prof. Gertrude Bodenwieser, RR. a. o. Prof. Friedrich Buxbaum, Erna Kremer, Prof. Dr. Heinz Schulbaur, Prof. Edgar Schiffmann, RR. Prof. Dr. Richard Stöhr, Erwin Weill. Dabei dauerte die Lösung der Verträge der jüdischen und „jüdisch versippten“ pragmatischen Lehrer mehr als ein Jahr, zumindest theoretisch stand ihnen ihr Gehalt bis zur Pensionierung zu. U. a. Alfred Orel, Das Wiener Musikleben im Neuaufbau, in: Die Musik, Mai 1938, S. 543–545.
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den Schuljahres zu vermeiden. Nach eigenen Angaben beurlaubte er vorerst nur jene Lehrkräfte, die den Eid auf den Führer nicht ablegen durften.8 Diese wurden „unter Wahrung ihrer materiellen Rechte vom Unterricht vorläufig enthoben“ und – ein Hohn – „eingeladen, selbst Urlaubsgesuche einzubringen“.9 Darüber hinaus stellte er Anträge auf Belassung dreier „jüdisch versippter “ Lehrkräfte.10 Personelle Maßnahmen Mitglieder des Lehrkörpers Während die pragmatisierten Mitglieder des Lehrpersonals zunächst offiziell „beurlaubt“ werden mußten, bot sich bei der weitaus größeren Zahl der vertraglichen Lehrkräfte, die mit jährlich kündbaren Verträgen beschäftigt waren, ein viel einfacherer Weg. Hier genügte die formlose Bekanntgabe der Nichterneuerung der Verträge vor dem 31. Mai – in der Regel ohne Angabe von Gründen –, womit die Kündigungsfrist zum 31. August eingehalten wurde. Mit Erlaß des Unterrichtsministeriums vom 25. Mai 1938 wurden die Verträge sämtlicher Lehrkräfte der Staatsakademie am 30. Mai mit Wirksamkeit vom 31. August gekündigt.11 Damit gewann die Akademieleitung nicht nur Zeit, um die Abstammung und politische Zuverlässigkeit aller Lehrkräfte in Ruhe zu überprüfen, sondern auch, um politisch bzw. persönlich motivierten Interventionen Raum zu geben. Diese Regelung brachte große Nachteile für gekündigte Lehrkräfte, die nach Kriegsende ihre Wiedereinstellung anstrebten. Da die Kündigung bzw. gesetzeskonforme Nichterneuerung ihrer Verträge vor dem Inkrafttreten der Verordnung zur „Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“12 erfolgte, galten sie nicht als geschädigt und hatten folglich keinen Anspruch auf Wiedergutmachung.13 8 9 10 11 12
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Gesetzblatt für Österreich 3/1938. Von der Vereidigung waren per Dekret „Volljuden“ und „von drei jüdischen Großeltern abstammende jüdische Mischlinge“ ausgeschlossen. Archiv MDW 92/Res/38. Ebenda. ÖStA/AVA Unterricht 15/2901 23.888/38. Lehrer, mit deren Wiedereinstellung man im Herbst rechnete, wurden gesondert benachrichtigt. Mit 20. Mai 1938 traten die Nürnberger Rassengesetze in Österreich in Kraft, am 31. Mai wurde die Verordnung zur „Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ GBlÖ 160/38 erlassen. Nach §3 waren „jüdische Beamte, Beamte, die jüdische Mischlinge sind, und Beamte, die mit einer Jüdin (einem Juden) oder einem Mischling ersten Grades verheiratet sind“, in den Ruhestand zu versetzen. Dasselbe galt laut §4 für „Beamte, die nach ihrem bisherigen politischen Verhalten nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintreten“. Laut §7 waren die Vorschriften sinngemäß auf Angestellte und Arbeiter anzuwenden. Da Orel den schriftlichen Antrag noch vor der Bekanntgabe der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums verfaßte, gab es zu diesem Zeitpunkt keine andere gesetzlich konforme Kündigungsmöglichkeit. Archiv MDW Personalakt Grete Groß. Laut §4 des Beamtenüberleitungsgesetzes Staatsgesetzblatt für Österreich 134/45 mußten Bedienstete, die auf Grund der Bestimmungen der am 31. Mai 1938 erlassenen Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums (GBlÖ 160/38) gekündigt worden waren, wieder aufgenommen werden. Bedienstete, deren Kündigung vor dem Inkrafttreten des Ge-
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Orels erste offizielle „Abbauliste“ in seinem Reorganisationsplan vom Mai 193814 enthält die Namen von 41 Lehrkräften, deren Verträge für den Herbst nicht verlängert bzw. erneuert oder die sonst abgebaut werden sollten. Bei 17 der Betroffenen führte er „rassische“ Gründe an (elf „Voll-“ bzw. „Halbjuden“, sechs wegen „jüdischer Versippung“), die übrigen Begründungen lauteten vor allem „sachlich nicht mehr geeignet“, „gänzlich veraltet“, „krank und überflüssig“, „vollständig überflüssig“, „unfähig und überflüssig“ oder „politisch untragbar“.15 In seinem nächsten Reorganisationsbericht vom 27. Juli16 gab er bekannt, 37 der Lehrkräfte, deren Verträge zum 31. August gekündigt worden waren, im Herbst wiederbeschäftigen zu wollen, und legte zudem eine Liste mit 67 neu zu verpflichtenden Lehrkräften vor. Weiters beabsichtigte er, ausnahmsweise drei „jüdisch versippte“ Lehrkräfte,17 einen „Mischling I. Grades“18 und einen „Mischling II. Grades“19 im Dienst zu belassen. Wie viele Lehrkräfte tatsächlich aus rassischen Gründen gekündigt wurden, läßt sich u. a. einem Verzeichnis entnehmen, das die Akademie dem Ministerium im Juli übermittelte: dabei handelte es sich um eine Liste der Staatsbediensteten, die am 13. März der Staatsakademie angehört hatten und nach den Nürnberger Gesetzen Juden oder jüdische Mischlinge bzw. mit einem Juden oder jüdischen Mischling I. Grades verheiratet waren. Darin werden 21 Lehrkräfte angeführt, allerdings fehlen Namen wie Gertrude Bodenwieser oder Erwin Weill (beide am 15. März „beurlaubt“), Paul Weingarten (der sich bei der Machtübernahme in Japan befand), Felix Weingartner (dessen Vertrag nicht verlängert wurde) oder Julia Culp-Ginzkey, die am 15. März der Akademie schriftlich mitteilte:
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setzes erfolgt war, hatten hingegen nach Kriegsende keinerlei gesetzliche Ansprüche auf Wiedereinstellung. Archiv MDW 92/Res/38. Ebenda. Im selben Organisationsbericht wird der Verbleib des Bratschisten Ernst Morawec gefordert, obwohl dieser „jüdisch versippt“ war und sich weigerte, sich scheiden zu lassen. Morawec war Mitglied der Wiener Philharmoniker. Nach zwölf Entlassungen von jüdischen oder „jüdisch versippten“ Orchestermitgliedern war das Ensemble kaum mehr in der Lage, schwierige Partituren zu meistern. Wilhelm Furtwängler erreichte Sondergenehmigungen für neun Mitglieder des Orchesters, da man ihr Können in den Dienst des Machtstaates stellen wollte und dort dringend benötigte. Dem Antrag der Wiener Philharmoniker auf Sondergenehmigung für Ernst Morawec schloß sich die Akademie nicht nur an, sie bezeichnete sein Verhalten sogar ausdrücklich als „charaktervoll“ und „anständig“, während zur gleichen Zeit fünf Lehrkräfte wegen desselben „Vergehens“ entlassen wurden. Archiv MDW 98/Res/38. ÖStA/AVA Unterricht 15/2901 315.859/39. Berta Jahn-Beer, Minna Singer-Burian, Ernst Morawec. Anträge auf Belassung der Lehrkräfte erfolgten allerdings nicht aus Gutherzigkeit, sondern ausschließlich im Hinblick auf deren Unterrichtsnotwendigkeit. „Ob Minna Singer-Burian belassen werden kann, hängt wesentlich davon ab, ob für sie ein Ersatz gefunden wird.“ Gustav Donath. Dieser bildete ein „moralisches“ Problem für die Leitung der Staatsakademie, da er in der illegalen Zeit sich besonders für den Nationalsozialismus hervorgetan hatte und erst im Zuge der Nachforschungen für die Herstellung seines Ahnenpasses erfahren hatte, daß er „Mischling I. Grades“ war. Gottfried Freiberg.
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„Gesundheitliche Gründe zwingen mich in die Wälder meiner Heimat zu fahren“.20
Es waren also mindestens 26 Lehrkräfte, die nach den Nürnberger Gesetzen ihre Stelle verlieren sollten,21 nur zwei davon konnten diese auf Dauer behalten.22 Auch wenn die Zahl der Lehrkräfte, die ihre Stelle aus politischen Gründen verloren, wesentlich kleiner war als die der rassisch Verfolgten, gab es mindestens sechs, die vor allem auf Grund ihrer Nähe zum austrofaschistischen Regime ihrer Unterrichtstätigkeit enthoben wurden, so z. B. Karl Rössel-Majdan, der vor dem Anschluß in zahlreichen namentlich gezeichneten Artikeln deutlich vor dem nationalsozialistischen Regime gewarnt hatte.23 Es kam auch vor, daß die Staatsakademie durchaus daran interessiert war, Lehrkräfte zu behalten, aber von anderer Seite daran gehindert wurde. Wilhelm Klitsch, Leiter der Meisterschule für Schauspiel sowie der Meisterschule für Rhetorik und Rezitation, der bei der ersten Festveranstaltung nach dem Umbruch das Festgedicht vorgetragen hatte, war in den Reorganisationsplänen Orels und Schütz’ vorgesehen, jedoch äußerte der damalige Vizebürgermeister der Stadt Wien, Ing. Hanns Blaschke, schwere Bedenken gegen seine Wiedereinstellung und warf ihm vor, Schuschnigg-Freund und Nutznießer des „Systems“ gewesen zu sein; er wurde außerdem auf Grund der ehemaligen Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge als politisch vollkommen untragbar bezeichnet. Nicht zuletzt aufgrund eines negativen Gutachtens des Leiters des Reinhardt-Seminars und nunmehrigen Dozentenführers Hans Niederführ erklärte sich Schütz zuletzt bereit, den Belassungsantrag für Klitsch nicht mehr zu stellen. Viele von den Entlassungen bzw. Versetzungen in den Ruhestand bzw. Nichterneuerungen von Verträgen sind allerdings weder eindeutig der Kategorie „rassisch“ noch „politisch“ zuzuordnen, sie entsprangen vielmehr persönlichen Ressentiments, Antipathien oder auch fachlichen Bedenken. Da sich der Lehrkörper am 13. März aus 92 Personen zusammensetzte, fielen mindestens 28% des Lehrkörpers den rassischen Gesetzen zum Opfer.24 Dazu 20 21 22
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Archiv MDW 84/Res/38. Archiv MDW 1843/38. Die Philharmoniker Gottfried Freiberg („Mischling II. Grades“) und Ernst Morawec („jüdisch versippt“) konnten ihre Stellen behalten. Den Antrag auf Sonderbewilligung stellte das Philharmonische Orchester, die Staatsakademie schloß sich dem an. Da Rössel-Majdan hoch dekorierter Teilnehmer des Ersten Weltkrieges und Ritter des Militär-MariaTheresienordens war, beschränkte man sich „lediglich“ auf die Enthebung von der Unterrichtserteilung. Er konnte zwar in Wien überleben, ohne allerdings seinen Beruf auszuüben, einer seiner Söhne wurde in einem Lager ermordet, der andere verbrachte 4½ Jahre in einem Lager. 1945 kehrte Rössel-Majdan an die Akademie zurück, wo er kurze Zeit auch in maßgeblicher Funktion im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren tätig war. Einige der verfolgten Lehrer konnten emigrieren, manche – wie etwa Josef Krips – in Wien überleben, mindestens eine Lehrkraft – Erna Kremer – wurde im Konzentrationslager ermordet; das Schicksal weiterer gekündigter Lehrer ist unbekannt. Diese Zahl beinhaltet nicht die Lehrkräfte am Reinhardt-Seminar, da es zu diesem Zeitpunkt noch ein privates Lehrinstitut war.
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kamen sechs Lehrkräfte, die als „politisch untragbar“ eingestuft wurden,25 und weitere 17, die aus sonstigen Gründen ihre Stelle verloren. Alles in allem ging mehr als die Hälfte des Lehrkörpers ihres Arbeitsplatzes verlustig. „Säuberung“ der Studierenden Die Zahl der Studierenden, die die Akademie aus rassischen Gründen verlassen mußten, läßt sich nur ungefähr feststellen. In einem Bericht an das Ministerium vom August 1938 schreibt der Leiter der Akademie von 100 Schülern, die davon betroffen waren. 24 von ihnen konnten mit Ende des Studienjahres 1937/38 ihr Studium noch abschließen.26 Die Einstufung der Akademie als Mittelschule bzw. Institut „sui generis“ sorgte zunächst für Unklarheiten in Bezug auf die Zulassung jüdischer Studierender, da die gesetzlichen Regelungen, die für Hochschulen galten, nicht zutrafen. Als Franz Schütz mit 1. September die Leitung der Anstalt übernahm, regte er sogar an, ausländische Staatsangehörige „jüdischer Rassezugehörigkeit“ zum Studium zuzulassen, soweit sie das „Gastrecht“ nicht verletzten. Inländischen jüdischen Musikstudierenden, die bereits an der Staatsakademie mindestens ein Studienjahr als Schüler verbracht hätten, wollte er die Fortsetzung ihrer Studien bis zum Abschluß unter der Voraussetzung gestatten, daß sie keinerlei Begünstigungen für sich in Anspruch nähmen.27 Es ist nicht mehr feststellbar, aus welchem Grund diese „quasi-liberale“ Haltung entstand, die Vermutung liegt aber nahe, daß sonst viele der besten Schüler mit einem Schlag die Lehranstalt hätten verlassen müssen.28 In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, daß der Erfolg von Studierenden auch ihren Lehrenden, zu denen auch der kommissarische Leiter zählte, zugerechnet wurde; und so lag es durchaus in deren Interesse, die besten Studierenden weiter unterrichten zu dürfen. Eine weitere Deutung für Schütz’ Vorschlag mag einer Angst vor der Reduktion der Schülerzahl entsprungen sein, die seine Pläne eines großzügigen Ausbaus erschwert hätte. Den ersten Prognosen über die Verluste von mehr als 10% der inskribierten Studierenden stand zwar eine prophezeite Zunahme von Studierenden aus dem Altreich entgegen, doch nicht zuletzt wegen der schlechteren Einstufung der Akademie wurde diese Hoffnung nicht erfüllt. Die Schülerzahlen sanken zwischen Frühjahrs- und Herbstsemester 1938 von 997 auf 705, eine 25 26
27 28
Dazu gehörte zunächst auch Joseph Marx, über dessen politische Tragbarkeit Orel am 27. Juli schrieb, daß „die Erhebungen noch nicht abgeschlossen“ seien. Namentlich nachweisbar sind 79 Schüler mit mosaischem Glaubensbekenntnis, die ihr Studium 1938/39 nicht mehr fortsetzten. Diese Studierenden konnten durch einen Vergleich des Jahresberichts 1937/38 mit einer Schülerliste aus 1938/39 und einem Einzelvergleich der entsprechenden Matrikel, die die Religionszugehörigkeit beinhalten, erschlossen werden. Nicht gezählt wurden jene Studierenden, die im Schuljahr 1937/38 ihre Reifeprüfung ablegten. Archiv MDW 2264/38. Zudem hatten die jüdischen Studierenden in der Regel keinen Anspruch auf Schulgeldermäßigung, sie waren der Schulleitung als Vollzahler natürlich willkommen.
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Bestätigung findet sich in einem Brief von Schütz, der am 21. November 1938 einem interessierten Bewerber für eine Lehrstelle antwortete: „Fürs erste sehe ich keine Verwendungsmöglichkeit für Ihre geschätzte Person an unserer Anstalt, da der Ausfall der Juden in quantitativer Hinsicht sehr ins Gewicht fällt und wir für den Augenblick Überfluss an Lehrern haben.“ 29
Nicht zuletzt aus diesem Grund gab es bis Kriegsende relativ großzügige Ausnahmegenehmigungen für „Mischlinge“. Eine Liste der zum Studium zugelassenen „Mischlinge“ vom 8. Mai 1944 verzeichnet noch 15 Studierende, wobei die Sonderzulassungen in erster Linie auf den dringenden Bedarf an Studierenden der Streicher- und Bläserklassen zur Aufrechterhaltung der Orchester zurückzuführen sind, die wegen der Einziehung von Studierenden zur Wehrmacht bzw. dem Reichsarbeitsdienst große Verluste erlitten hatten. Ansuchen um parteipolitische Unterstützung Der Zahl der Lehrer, die ihre Stellen aus rassischen oder politischen Gründen verloren, steht eine Flut von Bewerbungen unmittelbar nach dem Anschluß gegenüber. Allein in den ersten sechs Wochen nach ihm langten 126 Bewerbungen um Lehrstellen ein. So sehr Schütz schon vor dem Anschluß gegen fachlich unqualifizierte Lehrkräfte gewütet hatte, „die in der System-Zeit aufgrund politischer Protektion dem Lehrkörper injiziert“ worden seien, so wenig änderte sich diese Praxis mit der Machtübernahme durch die Nazis. Ein besonders aussagekräftiger Fall betrifft einen jungen Pianisten, dessen Mutter die Leitung der Staatsakademie zweimal um einen Lehrauftrag für ihren Sohn ersuchte. Aus dem Schreiben vom 12. Jänner: „Wenn ich mich nicht auf die Freundschaft unseres unvergesslichen Märtyrerkanzlers Dollfuss berufen könnte, hätte ich nicht den Mut, Ew. Exzellenz mit meiner Bitte zu belästigen. Mein heuer verstorbener Mann, Centralinspekteur der DDSG Leopold Harum, hat jahrelang an der Wirtschaftspolitik Oesterreichs mit dem verewigten Herrn Bundeskanzler, noch bevor er diesen Titel trug, gearbeitet, was Sr. Eminenz, Herr Fürsterzbischof Innitzer, Monsignore van Tongelen, Herr Bundeshauptmann Reiter und noch viele Andere bezeugen können [...] schon in Anbetracht dessen, dass sowohl mein verewigter Mann, wie wir alle, Mitglieder der V. F. und treue Oesterreicher sind und bleiben wollen.“30
Zwei Monate später war die Familie plötzlich immer schon nationalsozialistisch gewesen, und dieselbe Frau, die zuvor mit „geb. Baronin“ gezeichnet hatte, jetzt plötzlich nur mehr eine „Centralinspektorswitwe“: 29 30
Archiv MDW 249/Res/38. ÖStA/AVA Unterricht 15/2901 4097/38.
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„Vertrauensvoll wende ich mich an Sie, den hiesigen Vertreter unseres verehrten, geliebten Führers. Sie haben schon so vielen geholfen, ja wahre Wunder geleistet, daß ich mich nicht scheue, Ihnen meine Sorgen zu unterbreiten. Es sind die Sorgen einer schwer ringenden Mutter, die sich nicht mehr im Stande sieht, ihre Kinder, wie bisher, zu erhalten. Wir alle, auch mein guter, vor einem Jahr verstorbener Mann, waren und sind seit Anbeginn treue Parteimitglieder der NSDAP und wir haben in der illegalen Zeit, wenn auch unblutig, doch immerhin viel zu leiden gehabt. [...] meine Kinder haben keine Posten bekommen und wie oft sind bei uns Hausdurchsuchungen vorgenommen worden! Meine Tochter war Funktionärin der Partei, da hatten wir viele kompromittierende Schriften oft an den unmöglichsten Orten zu verstecken und um was ich heute noch trauere − das Buch unseres geliebten Führers, ‚Mein Kampf‘ haben die [...] mir fortgenommen. Niemand hat wohl so viele Freudentränen geweint, wie ich, als endlich die Erlösung aus der Knechtschaft kam.“31
Im übrigen war der betreffende Pianist, Herbert Harum, tatsächlich illegales Mitglied der NSDAP gewesen und bekam mit Herbst 1938 eine Anstellung. Fast allen Bewerbungen aus dieser Zeit waren zahlreiche Befürwortungen von Parteiorganisationen angeschlossen. Diese reichten von dem „Gutachten“ eines Amtsleiters „Pgn. Kittl-Wickenhauser ist vielleicht die erste Klavierkünstlerin der Ostmark und hat wegen der nat. soz. Gesinnung in der Systemzeit viel erduldet und baldigste Hilfe für sie wäre nur ein Gebot der Gerechtigkeit und Dank für ihre jederzeit bekundete Gesinnung als Nationalsozialistin.“32
bis zur Feststellung „Pg. Gustav Moißl ist Sudetendeutscher und entstammt, wie aus seinem Ariernachweis hervorgeht, einem in Egerland ansässig gewesenen Geschlecht von Kantoren und Lehrern, das lückenlos bis zum Urgroßvater zurückreicht, sodaß festgestellt werden kann, daß der genannte schon rein blutmäßig zum Musikerzieher berufen ist.“33
Von den 126 Bewerberinnen und Bewerbern, die im März und April 1938 um eine Anstellung ansuchten, erhielten 18 im Herbst eine Stelle. Reformen in Organisation und Ausbildung Strukturelles Umfeld Während Orel seine Umstrukturierungspläne auf die bestehende Akademie beschränkte, blickte Schütz weiter und strebte die Einbeziehung der Anstalt in ei31 32 33
ÖStA/AVA Unterricht 15/2901 30781/38. Archiv MDW 236/Res/38. Archiv MDW 197/Res/38.
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nen viel größeren Rahmen an. Durch seine jahrelange Konzerttätigkeit und nicht zuletzt dank der Leitung der Gesellschaft der Musikfreunde, die er seit dem 15. März ausübte, verfügte Schütz über Kontakte zu allen maßgeblichen Persönlichkeiten des Wiener Musiklebens. Er strebte die Schaffung einer Verwaltungseinheit an, in der nicht nur die Staatstheater und die Staatsakademie (die bereits in die Theater- und Gebäudeverwaltung des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich eingegliedert waren), sondern auch die Gesellschaft der Musikfreunde, die ehemalige Hofkapelle und die Wiener Sängerknaben zusammengefaßt sein sollten.34 Am 27. November 1939 präzisierte Schütz seine Vorstellung von einer einheitlichen Führung der Wiener musikalischen Kulturinstitute und wollte nun auch die Konzerthausgesellschaft, die Philharmoniker und die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor einbeziehen: „Die hier besprochenen Institute sind […] in ihren organischen Wechselwirkungen aufeinander angewiesen und durch eine alte künstlerische Tradition miteinander seit jeher verbunden gewesen. Diese durch die bodenständigen Verhältnisse bedingte und berechtigte künstlerische Einheit – aus welchen Gründen dies immer geschehen mag – zu zerschlagen wäre nicht nur sinnlos, sondern würde letzten Endes der gesamtdeutschen Kunst auf alle Fälle zum Schaden gereichen. Als Beweis führe ich unter vielem folgendes Beispiel an: Die Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst ist diejenige Anstalt, welche den künstlerischen Nachwuchs für das Staatsopernorchester (Wiener Philharmoniker) seit Jahren stellt. Die Konzertmeister der einzelnen Instrumentalgattungen der Wiener Philharmoniker sind wieder an der Staatsakademie als Lehrer verpflichtet. Die Gesellschaft der Musikfreunde ist der Boden, wo die heranwachsenden Solisten mit der Öffentlichkeit vertraut gemacht werden und wo der studierenden Jugend die Möglichkeit geboten wird, die grossen Konzerte dieses Unternehmens zu besuchen. Ausserdem bietet die Gesellschaft der Musikfreunde […] Gelegenheit, die Lehrer der Akademie für Konzerte zu verpflichten. Die im letzten Jahre trotz schwieriger Verhältnisse in den Räumen der Gesellschaft der Musikfreunde veranstalteten Professorenkonzerte, Schülervortragsabende etc. zeigen dies zur Genüge. Die Wiener Philharmoniker stellen weiters das Orchester der Staatsoper und für die Opernaufführungen der Staatsakademie im Akademietheater und ebenso sind sie zur Bestreitung des musikalischen Teiles der Aufführungen in der Wiener Hofkapelle im Verein mit dem Opernchor und den Sängerknaben verpflichtet. Die Philharmoniker absolvieren ihre laufenden Konzerte im Grossen Musikvereinssaal und hier wie in der Oper sind vielfach Schüler der Staatsakademie als Substituten eingestellt und werden auf diese Weise mit der Opern- und Konzertliteratur vertraut gemacht – eine praktische Schulung
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Schreiben von Schütz an Kajetan Mühlmann von 15. September 1938 in: ÖStA/AdR RStH. III 200.863/38.
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fürs Leben, wie sie sonst wohl kaum irgendwo anders anzutreffen sein wird.“35
Kurz darauf ernannte Gauleiter Josef Bürckel, Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, Wilhelm Furtwängler zum Bevollmächtigten für das gesamte Musikwesen der Stadt Wien. Meisterschulen und Spezialklassen Alfred Orel beschäftigte sich nicht nur mit der Durchführung der rassisch, politisch und persönlich motivierten Personalentscheidungen, er entwarf auch großzügige Pläne für die Ausgestaltung der Akademie. Darin betonte er vor allem die Notwendigkeit, die Staatsakademie auf den Stand der deutschen Musikhochschulen zu heben; als Voraussetzung nannte er die Ausgestaltung der „nur rudimentär vorhandenen“ Meisterschulen und Spezialklassen zu vollständigen Hochschullehrgängen.36 Orel beklagte vor allem, daß der Unterricht in den Orchesterinstrumenten lediglich im Rahmen der Akademieklassen stattfinde. Damit sei zwar die Ausbildung von Orchestermusikern gesichert, keinesfalls aber die höchste künstlerische Vollendung, die auch zahlreiche Nebenfächer „zur Erweiterung des geistigen Horizonts“ im Rahmen von Hochschullehrgängen voraussetzen würde. Daher suchte er um zusätzliche Gelder in der Höhe von RM 140.000 jährlich an, um Meisterlehrkräfte – darunter Wilhelm Backhaus, Friedrich Wührer und Johann Nepomuk David – berufen zu können. Weiters strebte Orel eine Trennung der Kirchen- und Schulmusik und deren jeweilige Eingliederung in den Gesamtaufbau der Akademie an; lediglich die pädagogischen bzw. liturgischen Spezialfächer sollten von eigenen Lehrkräften angeboten werden.37 Er verhandelte auch mit Hans Niederführ, dem neuen Leiter des ehemaligen Reinhardt-Seminars, über eine Angliederung des Instituts an die Akademie. Trotz umfangreicher und ausführlicher Reorganisationspläne wurde Orel Ende August von der Leitung enthoben, mit 1. September übernahm Franz Schütz die kommissarische Leitung der Akademie. Noch mehr als Orel war Schütz ein Verfechter des „Künstlertums“ und strebte in erster Linie eine Anstellung bekannter Virtuosen an. Im Gegensatz zu diesem jedoch plante er die Auflassung sämtlicher bestehender Meisterschulen und Spezialklassen, die er mit der Berufung berühmter Künstler für die Leitung aller Hauptfachklassen überflüssig machen wollte. Auch wenn die Auflösung der Mei-
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ÖStA/AdR Bürckel Mat. Kt. 126 2425/0 Fol. 10–15. Orel bezog sich hier vor allem auf Berlin und Leipzig, wo voll ausgebaute Hochschulen bestanden, während es in Wien lediglich Meisterschulen für Komposition, Klavier, Gesang, Orgel, Dramatische Darstellung, Rhetorik sowie Rezitation und Schauspiel gab. Dazu kamen ein Meisterkurs für künstlerischen Tanz, Spezialklassen für moderne bzw. romantische Klavierliteratur, für Violoncello und für Kammermusik. Archiv MDW 95/Res/38.
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sterklassen mit dem Studienjahr 1938/39 nicht zur Gänze umgesetzt wurde, fiel die Zahl der darin inskribierten Schüler im Herbst auf ein Drittel des Vorjahres. Bereits an seinem dritten Arbeitstag fragte Schütz bei mehreren künstlerischen Persönlichkeiten an, ob sie bereit wären, einen Ruf an die Staatsakademie anzunehmen. Schütz konnte erstaunlich viele dieser Berufungen durchsetzen, die Honorare waren allerdings außerordentlich hoch und betrugen bis zum Zehnfachen der üblichen Gehälter. Eine Schwierigkeit bei der Berufung bildete auch hier die Einstufung der Staatsakademie. Die Verhandlungen mit Paul Grümmer z. B. dauerten längere Zeit an, da ihm untersagt wurde, seine beamtete Berliner Stelle aufzugeben, es sei denn, Wien könnte ihm eine gleichwertige beamtete Hochschulstelle verleihen. Auch Verhandlungen mit Hans Pfitzner zogen sich hin, sie scheiterten letztlich an der offiziellen Absage Berlins. Es waren wohl nicht zuletzt diese Überlegungen, die Schütz – der noch im Herbst 1938 gemeint hatte, es sei unwichtig, welchen Titel die Anstalt führe, ob sie als Hoch-, Mitteloder Schule „sui generis“ eingereiht werde, wichtig sei nur, daß die Lehrkräfte hervorragende Künstler seien – dazu brachten, die Ernennung zur Reichshochschule anzustreben. Erhebung zur Reichshochschule Durch die zunehmende Konkurrenz mit den deutschen Hochschulen wuchs nicht nur das Bedürfnis, sondern auch die Notwendigkeit, eine entsprechende Rangerhöhung für die Wiener Anstalt zu erwirken. Dazu kam, daß mit 8. Juni 1939 das wesentlich kleinere und, wie die Staatsakademie meinte, unbedeutendere Konservatorium Mozarteum aufgrund guter Beziehungen des Reichsstatthalters Rainer zur Reichshochschule erhoben worden war.38 Die Verhandlungen über die Erhebung der Staatsakademie zur Reichshochschule zogen sich über mehr als zwei Jahre dahin. Mit Erlaß vom 9. Oktober 1941 entschied dann das Reichserziehungsministerium, daß die bisherige Staatsakademie als Kunsthochschule des deutschen Reiches mit der Bezeichnung „Reichshochschule für Musik Wien“ geführt werden sollte.39 Beim feierlichen Festakt am 5. November 1941 sprach der Reichserziehungsminister Bernhard Rust: „Der heutige Tag weitet sich nun zu einem Festtag Wiens als eine Metropole der Kunst überhaupt, die bisherige Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst wird zu einer Musikhochschule des Reiches, die Bedeutung dieser Umbenennung – es könnte fast scheinen als ob dies nur eine Umbenennung sei – ist aber nicht bloß eine Formalität, die der Neuordnung des Großdeutschen Reiches entspricht, durch die Zuerkennung des neuen Ranges wird hier vielmehr dem neuen Aufbau des deutschen Musikerziehungswesens Ausdruck gegeben und damit die Aufgabe festgestellt, in Deutschland eine weit38 39
Karl Wagner, Das Mozarteum. Geschichte und Entwicklung einer kulturellen Institution, Innsbruck 1993, S. 220–224, und ÖStA/AdR Bürckel/Mat. 2462/20. Schnellbrief des REM 8. Juni 1939. Archiv MDW 2275/41.
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hingelagerte Musikkultur zu schaffen und aus ihr eine praktische Auslese und Entwicklung aller musikalischen Begabungen und Leistungen zu gewinnen.“40
Rust hob die besondere Bedeutung Wiens als Musikstadt insbesondere seit der „deutschen“ Wiener Klassik hervor und sprach die Hoffnung aus, „daß sie, die Lehrer dieser Reichsmusikschule in Wien, Generationen von so hohem Rang dem deutschen Volk schenken mögen, daß die hohen Schöpfungen der deutschen Musik durch eine immer vollkommenere Wiedergabe von Generation zu Generation wahrhaft ewig leben.“41
Der Festakt wurde musikalisch von den Wiener Philharmonikern unter Leopold Reichwein begleitet. In den Bereichen Schauspiel, Tanz und Musikpädagogik unterschied sich die Staatsakademie bzw. Reichshochschule erheblich von den deutschen Musikhochschulen. Die beiden ersteren Bereiche wurden an den deutschen Hochschulen in der Regel nicht gelehrt, während man in Wien die Musikpädagogik, die in den deutschen Anstalten eine wichtige Rolle spielte, 1938 ausgliederte. Im Zuge der Reorganisation der Anstalt unter nationalsozialistischer Leitung fanden vor allem in den Bereichen Schauspiel, Tanz und Musikerziehung einschneidende Veränderungen statt. Übernahme des Reinhardt-Seminars Zum Zeitpunkt des Anschlusses war das Schauspiel- und Regieseminar Schönbrunn ein von Max Reinhardt geleitetes Privatseminar, dem das Unterrichtsministerium Räumlichkeiten in Schönbrunn als „Naturalsubvention“ überließ. (Von seiner Gründung 1928 bis zur Auflassung der Fachhochschule für Musik 1931 war es Teil der Fachhochschule, die – 1924 aus den letzten beiden Unterrichtsjahrgängen der Akademie gebildet – höchste staatliche Ausbildung geboten hatte.) Nach der Privatisierung des Seminars gab es weiterhin Akademie- und Meisterklassen für Schauspiel an der Akademie, doch hatte das „Reinhardt-Seminar“ den wesentlich besseren Ruf. Sofort nach dem Anschluß übernahm Hans Niederführ, der bisherige Sekretär des Seminars, seit 1933 Mitglied der NSDAP und seit 1937 Stellvertreter des Direktors Emil Geyer, die Leitung. Er entließ mit sofortiger Wirkung zwölf Lehrkräfte, die meisten, weil sie jüdischer Herkunft waren, darunter Emil Geyer, der 1942 in Mauthausen ermordet wurde. In einem Brief an den Reichsdramaturgen und Präsidenten der Reichstheaterkammer Rainer Schlösser rühmte sich Niederführ am 24. März 1938, bereits als stellvertretender Direktor den Prozentsatz jüdischer Schüler von 50% auf 15% gesenkt zu haben.42 40 41 42
Rede Rusts am 5. November 1941. Für eine Abschrift dieser Rede danke ich Dr. Oliver Rathkolb. Ebenda. Peter Roessler, Günter Einbrodt, Susanne Gföller (Hg.), Die vergessenen Jahre. Zum 75. Jahrestag der Eröffnung des Max Reinhardt Seminars, Wien 2004, S. 40.
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In seinem Reorganisationsbericht vom 18. Juli 1938 schrieb Orel, daß er bereits Fühlung mit Niederführ über eine eventuelle Übernahme des ReinhardtSeminars genommen hätte. Er nannte die Möglichkeit der Eingliederung einen „ganz unerwarteten Glücksfall für die Staatsakademie“. Auch Schütz verfolgte dieses Ziel, nicht zuletzt, weil die räumlichen Verhältnisse der Schauspielklassen in der Lothringerstraße unzulänglich waren und das Akademietheater, das als Übungsbühne der Schule gebaut worden war, weitgehend vom Burgtheater beansprucht wurde. Darüber hinaus waren beide Leiter der Schauspielklassen der Staatsakademie entlassen worden (Heinz Schulbaur aus „rassischen“ Gründen, Wilhelm Klitsch als „politisch untragbar“). Damit erschien die Übernahme des Seminars – inklusive des Schönbrunner Schloßtheaters – und die Verlegung des gesamten Schauspielunterrichtes nach Schönbrunn als Ideallösung. Mit Erlaß vom 20. September 1938 wurde das ehemalige Seminar verstaatlicht, in die Staatsakademie eingegliedert und mit den dortigen Schauspielklassen vereinigt. Die räumlichen Voraussetzungen in Schönbrunn waren allerdings ebenfalls äußerst unzureichend. Im Schloßtheater standen lediglich ein Lehrsaal und ein Übungszimmer zur Verfügung, beide wiesen überdies starke Feuchtigkeitsschäden auf. Mit der Übernahme der Schauspielklassen der Akademie stieg die Zahl der Studierenden auf 91, die Suche nach neuen Räumlichkeiten wurde unabwendbar. Nach mehr als einjährigen Verhandlungen wurde schließlich der Mittelbau des Palais Cumberland in unmittelbarer Nähe zum Schloßtheater am 21. November 1939 der Staatsakademie zugewiesen, die feierliche Übergabe erfolgte am 1. Mai 1940. Am 6. April 1941 gab Reichsleiter Schirach in seiner berühmten „Kulturrede“ die Angliederung des Regieseminars an das Burgtheater kund. Die Beweggründe waren wohl propagandistisch, da die führenden deutschen Schauspielschulen (Schauspielschule des Staatstheaters Berlin, Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin, Schauspielschule Staatstheater München) ebenfalls formal großen Bühnen angegliedert waren. Die künstlerische Leitung sollte in den Händen der Leitung des Burgtheaters sein, doch Niederführ gelang es, den Kampf mit dem Direktor des Burgtheaters Lothar Müthel für sich zu entscheiden. Die zunehmende Bedeutung des Films für die Propagandamaschinerie ließ den Gedanken an eine verbesserte Ausbildung für den Film-Nachwuchs aufkommen. Am 7. Oktober 1942 kam ein Vertrag zustande, womit die Wien-Film die Ausbildung ihres Nachwuchses an Filmdarstellern der Schauspielschule des Burgtheaters übertrug und darauf verzichtete, eine eigene Nachwuchsschule ins Leben zu rufen. Die Schauspielschule übernahm für die Wien-Film die Ausbildung, indem sie den Lehrplan und den Unterricht so einrichtete, daß er für Filmdarstellung erweitert wurde und allen Anforderungen für die Ausbildung von Filmdarstellern entsprechen sollte.43 Dafür verpflichtete sich die Wien-Film, RM 40.000.– für das 43
Archiv MDW Z/GK 7599/42 in: 3191/42.
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Studienjahr 1942/43 zu zahlen. Wenige Tage nach der ersten Überweisung am 28. Jänner 1943 kamen der Wien-Film Gerüchte über eine bevorstehende Schließung der Schauspielabteilung zu Ohren. Man wies darauf hin, daß „bei der anerkannten Kriegswichtigkeit der Filmindustrie […] für deren uneingeschränkte Weiterführung gerade jetzt die Nachwuchsfrage von dringlichster Wichtigkeit“44
sei. Der Vertrag lief bis 30. September 1944. Ausbau der Tanzabteilung Vor 1938 bestanden an der Staatsakademie ein Meisterkurs für künstlerischen Tanz unter der Leitung von Grete Wiesenthal sowie das Hauptfach künstlerischer Tanz mit drei Hauptfachlehrkräften. Es gab nur drei Unterrichtsstunden pro Woche für jeden der vier Jahrgänge, die jeweiligen Lehrkräfte unterrichteten nur „ihre“ Richtung, eine einheitliche Ausbildung in allen Tanzstilen und Nebenfächern fehlte. Ab 1938 wurde der Unterricht in künstlerischem Tanz in eine „Ausbildungsstätte für Tanz“ unter der Leitung der Wigman-Schülerin Tonia Wojtek und unter Mitarbeit von Grete Wiesenthal umgestaltet und erheblich ausgebaut. Die Stundenzahl wurde um das Achtfache auf 24 Wochenstunden angehoben und umfaßte die Lehrfächer Deutsche Tanzform, Ballett, Charaktertanz, Volkstanzformen, musikrhythmische Erziehung, Tanzkunde, Stilkunde, Lehrkunde und Körperkunde. Die Studien konnten mit einer Prüfung für Theatertänzerinnen (mit Zulassung für sämtliche deutsche Bühnen), einer Prüfung für Lehrerinnen für tänzerische Körperbildung (Rhythmische Gymnastik) oder einer Prüfung in künstlerischem Tanz (Konzert- und Podiumstanz) abgeschlossen werden. 1941/42 fanden Verhandlungen über eine Berufung von Harald Kreutzberg und den Ausbau zu einer vollwertigen Tanzakademie statt, sie scheiterten aber im letzten Augenblick aufgrund eines Einspruchs aus Berlin. Aus- und Wiedereingliederung der Musikerziehung Eine der ersten wichtigsten Tätigkeiten des kommissarischen Leiters Franz Schütz bestand darin, die Musikerziehung und Schulmusik aus der Akademie auszugliedern. Dabei scheint es erstaunlich, daß in derselben Zeit, in der man an den Musikhochschulen in Deutschland besondere Mühe aufwandte, Institute, Abteilungen oder gar Hochschulen für Musikerziehung zu gründen, Schütz seine ganze Kraft dafür einsetzte, diese von der Akademie in Wien zu verbannen.45 Zwar gibt es 44 45
Archiv MDW 404/43. 1935 erfolgte eine Umgestaltung der Akademie in Berlin, deren Umbenennung in „Staatliche Hochschule für Musikerziehung und Kirchenmusik“ die gewachsene Bedeutung der nun umfassender verstandenen Musikerziehung signalisierte.
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Lynne Heller
keinerlei verbindliche Angaben über die Gründe für die Ausgliederung der Schulmusik, wer aber Kenntnis von Schütz’ Meinung über „Pädagogen“ hat, wird sich über sein Bestreben nicht wundern.46 Die Beibehaltung der Kirchenmusik, die seinen künstlerischen Ansprüchen wohl auch nicht genügte, ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß Schütz Organist war. Schütz plante, die Pädagogik entweder der soeben gegründeten Musikschule der Stadt Wien oder einer zu gründenden Hochschule für Musikerziehung in Graz zu übergeben.47 Letztlich wurden die Agenden im Jänner 1939 von der Musikschule der Stadt Wien übernommen. Das Zwitterwesen des neuen Lehrbetriebes – Erziehung zu staatlich befugten Musiklehrern an einer nicht-staatlichen Musikanstalt – sollte der Musikschule aber laufend Schwierigkeiten bereiten. Durch die Ausbildung der Schulmusiker war die Musikschule der Stadt Wien in diesem speziellen Ausbildungsbereich der Universität gleichgestellt. Noch schwieriger wurde die Lage im Herbst 1940, als die Konstitution der künstlerischen Prüfungsämter an den Sitz einer Hochschule gebunden wurde. Im Frühjahr 1941 verstärkten sich die Bestrebungen aus Berlin, die Abteilung für Schulmusik wieder in die Staatsakademie einzufügen. In Entsprechung des Erlasses des Reichserziehungsministeriums vom 18. März 194148 mußte der Staatsakademie ein Seminar für Schulmusikerzieher angegliedert werden.49 Geplant war jeweils eine Fachgruppe für Schulmusik, für Musikerzieher, für Rhythmische Erziehung und für HJ-Erzieher. Die ersten drei wurden verwirklicht. 1941 erfolgte die Rückverlegung der Seminare an die Staatsakademie als Grundlage für deren Erhebung zur Reichshochschule für Musik, mit 30. Oktober wurde Dr. Erich Marckhl, der bereits die Abteilung für Musikerziehung an der Musikschule der Stadt Wien geleitet hatte, zum kommissarischen Leiter der Fachabteilung für Musikerziehung ernannt. Mit der Wiedereingliederung wurde auch die Frage von Räumlichkeiten für die neue Abteilung virulent. Im September 1941 erhielt die Reichshochschule das Hauptgebäude des ehemaligen sowjetrussischen Generalkonsulates (3. Bezirk, Reisnerstraße 47) als Quartier für die Abteilung für Musikerziehung. Kriegswichtige Einsätze Gerade im Zeichen der Einschränkung der öffentlichen Theateraufführungen in Wien wurde das Seminar immer bedeutender für die Theaterlandschaft, vor allem im Dienst der Betreuungsaufgabe der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ 46
47
48 49
Eine ausführlichere Beschreibung bei Lynne Heller, Vorläufer der Abteilung Musikpädagogik 1896–1947, in: Ewald Breunlich (Hg.), Zur Geschichte der Abteilung Musikpädagogik 1947–1997, Wien 1997, S. 1–58, hier: S. 43. Im Wintersemester 1939/40 wurde die „Staatliche Hochschule für Musikerziehung“ zur Ausbildung von Schulmusikern, Privatmusiklehrern sowie Lehrern an Musikschulen und „Jugend- und Volksmusikleitern“ im Schloß Eggenberg eröffnet. Va 501 (a) vom 18. März 1941. ÖStA/AdR BMfU II Karton 68 Z/GK 1914-Sch/41.
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und der Wehrmachtsbetreuung. Mit Aufführungsserien, die als Arbeitseinsatz zählten, erreichte Seminarleiter Niederführ das öffentlich erklärte Ziel, kulturell wertvolle Aufführungen breiten Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen, wobei die Karten hauptsächlich an Angehörige der Partei und ihrer Unterorganisationen gingen. Auch Wehrmachtsbetreuungsfahrten wurden von Schauspielschülern veranstaltet. Vor allem aber gelang es ihm damit, sogar nach der Ausrufung des Totalen Krieges den Seminarbetrieb aufrechtzuerhalten; bis zum 29. März 1945 fanden regelmäßig Vorstellungen statt. Mit März 1940 wurden die Aufführungen der Schauspiel- und Regieschule im Schönbrunner Schloßtheater in den Dienst der Betreuungsaufgabe der NSGemeinschaft „Kraft durch Freude“ gestellt. Bereits 1941 stieg die Zahl der Aufführungen um 40% und steigerte sich bis zum Kriegsende. Am 10. Februar 1943 gab Reichsstatthalter Schirach bekannt, daß infolge der angespannten militärischen Lage schon bald mit neuerlichen Einrückungen von künstlerischen und technischen Hilfskräften bei den Wiener Theatern zu rechnen wäre. Man befürchtete, dies könnte den Betrieb in den meisten Instituten gefährden, und beantragte, „in kameradschaftlicher Zusammenarbeit alles zu versuchen, um die Weiterführung der Wiener Theater zu sichern.“ 50
Nach Gesprächen mit den Direktoren der Kunsthochschulen gab Schirach die Gründung des „Kulturellen Kriegshilfsdienstes“ bekannt, die es ermöglichen sollte, aushilfsweise zusätzliche Arbeitskräfte für die Wiener Bühnen zu gewinnen. Auch die Reichshochschule wurde zu diesem kulturellen Kriegshilfsdienst herangezogen, und zwar die Schauspielschule des Burgtheaters für den Einsatz von Studierenden der Schauspielklassen, die operndramatische Schule für den Einsatz von Studierenden im Chor und in kleinen Solopartien sowie die Streicher- und Bläserklassen für den Einsatz im Orchester. Für die inländischen Studierenden war dieser kulturelle Kriegshilfsdienst „einer Dienstverpflichtung zu kurzfristigem Notdienst gleichzuhalten“.51 Die Organisation des kulturellen Kriegshilfsdienstes ermöglichte den Bühnenund Orchesterleitern der Staatsoper und -theater, studentische Kräfte zu beanspruchen, wenn durch den Ausfall von ständigen künstlerischen oder technischen Mitarbeitern die Weiterführung des Betriebes tatsächlich in Frage gestellt schien.52 Abgesehen von den Gastauftritten der (in der Regel) männlichen Studierenden bei anderen Wiener Bühnen, spielten die Vorstellungen des Seminars für
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Archiv MDW ME P4 K. Nach Paragraph 3 der Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938, RGBl I. S. 1441. Die Bescheinigungen wurden vom Pg. Kurz, Kulturreferent in der Kulturabteilung des Reichspropagandaamtes, besorgt.
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die NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ sowie für die Wehrmachtsbetreuung selber eine zunehmende Rolle im kulturellen Gefüge der Stadt.53 Auch die Ausbildungsstätte für Tanz trug durch ihre zahlreichen Aufführungen und Tourneen zur Aufrechterhaltung des kulturellen Lebens bei. Obwohl Franz Schütz bei dem Ausbau der Abteilung deren Unterricht wohl nicht im gleichen Ausmaß ernstnahm wie den Instrumentalunterricht, wußte er die Bedeutung bei Veranstaltungen verschiedenster Art richtig einzuschätzen: „Neben dem bereits angeführten Wirkungskreis hätte die Tanzgruppe ferner die Aufgabe, auch außerhalb der Ostmark und besonders im Altreich, Tanzveranstaltungen durchzuführen und damit für das Kulturschaffen der Ostmark zu werben.“54
Spätestens ab 1943 wirkte die Tanzgruppe vermehrt bei zahlreichen Aufführungen – darunter Wehrmachtsveranstaltungen des Reichspropagandaamtes – mit. Eine eigens gebildete Kammertanzgruppe unternahm bis Kriegsende zahlreiche Tourneen ins In- und Ausland. Im Frühjahr 1943 mehrten sich die Gerüchte, die Kunsthochschulen (oder zumindest einzelne Abteilungen) würden geschlossen werden. Verschiedene Stellen wie die Wien-Film oder die DAF, die Dienste der Schauspielabteilung in Anspruch nahmen, wandten sich an offizielle Stellen, um die Schließung des Lehrbetriebes zu verhindern.55 Neben der propagandistischen Bedeutung der Theater- und Tanzaufführungen betrachtete man vor allem die Ausbildung der Musikerzieher und Schulmusiker als kriegswichtig. Nicht zuletzt durch die Wehrmachtseinberufungen wuchs der Bedarf an Musikern und Musiklehrern, auch durch den Wunsch des NS-Staates, daß Hausmusik gepflegt, Dilettantenvereine gegründet, kurz, daß Musik in allen Lebenslagen erklingen und das Volk zu einem „singenden“ werden sollte. 1940 ließ sich der Bedarf an Orchestermusikern nur mehr zu 72% decken.56 Es entstand der Plan, Orchesterschulen in 20 deutschen Städten zu errichten, darunter eine an der Reichshochschule in Wien: Schüler mit 14 Jahren ohne instrumentale Vorbildung sollten in vier Jahren im Instrument zu einer Reife gebracht werden, die ihren Einsatz im Kulturorchester ermöglichen würde. Auch die Tatsache, daß im Herbst 1944, als alle Kunsthochschulen stillgelegt wurden, die Musik- und Kunsterzieher sich weiter ihrer Ausbildung widmen durften, deutet daraufhin, daß man selbst in dieser verzweifelten militärischen Lage nicht bereit war, geschlossene Jahrgänge an Musik- und Kunsterziehern zu opfern, oder, da es sich vorwiegend um weibliche Studierende handelte, ihre Ausbildung auch nur zu
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Archiv MDW 466/43. ÖStA/AVA Unterricht 15/2886 47.983/38. Archiv MDW 466/43 und 404/43. Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982, S. 296.
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sistieren, um ihre dringend benötigte Arbeitskraft in der Rüstungsindustrie nutzen zu können. Im März 1943 wandte sich Marckhl an den Präsidenten der Abt. II der Reichsstatthalterei, um eine UK-Stellung eines Bannmusikreferenten zu erreichen: „Gerade im jetzigen Zeitpunkte sind die Aufgaben des Musikreferenten und des Schulmusikers dringende, schwere und unersetzliche. Angesichts der gesamten kulturellen Nachwuchslage ist ein Ausfall dieser Arbeit im jetzigen Zeitpunkte von geradezu unabsehbaren Folgen begleitet. […] Wir stehen, unabhängig von dem weiteren Kriegsverlauf und der weiteren Dauer, vor einer Kulturkatastrophe sehr großen Ausmaßes, welche in absehbarer Zeit den Fortbestand der Güter und Werte, die wenigstens auf dem Gebiete der Musik das Wesen deutscher Volkheit ausmachen, bedrohen wird. Unter diesen Umständen ist die Arbeit an der Jugend auf diesem Gebiet wirklich als vordringlich zu bezeichnen.“57
Die Ausbildung von Nachwuchs im Musik- und Theaterbereich – und vor allem die Sicherung der Lehrerausbildung – führte dazu, daß der Unterricht in der Abteilung für Musikerziehung bis Kriegsende fortgesetzt wurde. Die letzten künstlerischen Lehramtsprüfungen fanden vom 19. bis 21. März 1945 in den Kellerräumen des Musikvereinsgebäudes statt – im Zeichen des totalen Zusammenbruches.
Abkürzungen: AdR (Archiv der Republik), Archiv MDW (Archiv der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) AVA (Allgemeines Verwaltungsarchiv) BGBl (Bundesgesetzblatt) BKA (Bundeskanzleramt) BMfU (Bundesministerium für Unterricht) DAF (Deutsche Arbeitsfront) DDSG (Donaudampfschiffahrtsgesellschaft) GBlÖ (Gesetzblatt für Österreich) MDW (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) ÖStA (Österreichisches Staatsarchiv) Pg./Pgn. (Parteigenosse/Parteigenossin) REM (Reichserziehungsministerium) RGBl. (Reichsgesetzblatt) 57
Archiv MDW ME P3 S Schreiben Marckhls vom 9. März 1943.
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Lynne Heller
RM (Reichsmark) RR (Regierungsrat) RStH (Reichsstatthalter/Reichsstatthalterei) StGB (Staatsgesetzblatt) UK (unabkömmlich) V.F. (Vaterländische Front)
HARTMUT KRONES (Wien)
AKM, STAGMA und die „Arisierung“ der Urheberrechte Nachdem die Machtübernahme in Österreich durch die deutschen Invasoren und ihre einheimischen nationalsozialistischen Helfer am Wochenende vom 11. bis 13. März 1938 reibungslos vor sich gegangen war, trat am nächsten Tag der mit unglaublicher Akribie und seit langem für den „Tag X“ ausgearbeitete Plan in Kraft, sämtliche bedeutende Organisationen unter Kontrolle bzw. unter eine eigene, der NSDAP nahestehende Leitung zu bringen. Zu den Vereinigungen, die die neuen Machthaber offensichtlich besonders schnell in den Griff bekommen wollten, zählte – fast möchte man sagen: naturgemäß – auch die „A.K.M.“ (wie die Abkürzung des Namens der Gesellschaft damals geschrieben wurde); ging es hier doch nicht nur um ideelle, sondern auch um durchaus ansehnliche materielle Werte, die in die Hand zu bekommen von Interesse war. Daher beschlagnahmte man vorsorglich bereits am 17. März sämtliche Vermögenswerte.1 Und unter dem lapidaren Titel „UMBAU der Staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (A.K.M.) reg.Gen.m.b.H. in Wien vollzogen“2 meldete wenig später „Der Landeskulturleiter der N.S.D.A.P. (Hitlerbewegung) Oesterreich“, Hermann Stuppäck, seiner vorgesetzten Behörde:3 „Durch Verfügung des Herrn Unterrichtsministers wurden im Einvernehmen mit dem Landeskulturleiter der N.S.D.A.P. die Herren Komponist Dr. Friedrich Reidinger4 Komponist Othmar Wetchy und Schriftsteller Dr. Mauriz Hans Heger 1
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Hiezu siehe auch Albrecht Dümling, Musik hat ihren Wert. 100 Jahre musikalische Verwertungsgesellschaft in Deutschland, Regensburg 2003, S. 232. Auch im „Fragebogen“ zu den (zu beschlagnahmenden) Vermögenswerten wird als Datum der „kommissarischen Beauftragung“ von Friedrich Reidinger und Othmar Wetchy der 12. [!] März 1938 angegeben. Die Vermögensbilanz vom 31. März 1938 wies dann RM 6.676.733,90 Vermögen und RM 2.911.432,67 Schulden auf, somit ein „Reinvermögen“ von RM 3.765.301,23. Archiv der Republik [AdR], 04, StiKo Wien, 37–C1 VII, fol. 380 und 318. Kopien der hier ausgewerteten Protokolle sowie der Sitzungs- und Generalversammlungs-Beilagen erhielt der Autor vor mittlerweile etwas über 30 Jahren von Marcel Rubin, dem damaligen Präsidenten der AKM. Zum Teil wurden sie bereits in der Geschichte der AKM sowie in der Geschichte des Österreichischen Komponistenbundes ausgewertet, zum Teil findet ihr Inhalt nun in den vorliegenden Artikel Eingang. Vgl. Hartmut Krones, Die Geschichte unserer Gesellschaft [AKM], in: 100 Jahre AKM. Autoren Komponisten Musikverleger. 1897[–]1997, Wien 1997, S. 10–31, sowie ders., 100 Jahre Österreichischer Komponistenbund. 1913–2013, in: 100 Jahre Österreichischer Komponistenbund, hrsg. von Hartmut Krones, Wien 2013, S. 11–121. Gesperrt geschriebene Worte sind hier sowie im folgenden, wenn nicht anders ausgewiesen, unterstrichen wiedergegeben. Stuppäck hatte Reidinger bereits am 12. März mit eigenhändig unterschriebener Anordnung zum „kommissarischen Präsidenten“ ernannt.
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Hartmut Krones
mit der kommissarischen Leitung der Staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (A.K.M.) reg.Gen.m.b.H. betraut, sowie die Herren Rudolf Tlascal und Dr. Otto Beran zu geschäftsführenden Direktoren dieser Gesellschaft ernannt, welche Bestellung in der Sitzung vom 21. März 1938 in Gegenwart der Herren Staatskommissäre Sektionschef Petrin und Ministerialrat Lissbauer, sowie in Gegenwart des Herrn Delegierten des Reichspropagandaministeriums Regierungsrat Dr. Gast bestätigt worden ist. Die neue Leitung nahm am 22. März 1938 mit den kompetenten Regierungsbehörden persönlich Fühlung. Infolge des Anschlusses Oesterreichs an das grosse deutsche Mutterland war die neubestellte Leitung bereits in ihrer ersten Vorstandssitzung vom 23. März 1938 in der Lage, den Pensionisten, Witwen und Waisen der Autorengesellschaft nicht nur die Pensionen auf die alte Höhe hinaufzusetzen, sondern auch rückwirkend ab 1. Februar 1937 die Differenzbeträge, um welche denselben bisher die Pensionen gekürzt worden waren, in vollem Ausmasse nachzubezahlen. Der Landeskulturleiter der N.S.D.A.P.(Hitlerbewegung) Oesterreich“
Mit einem Schlag war es also mit der Selbständigkeit der AKM vorbei, Marionetten (z. B. Direktor Rudolf Tlascal an Stelle des seit 1931 wirkenden und von den Nationalsozialisten ins amerikanische Exil getriebenen Dr. Rudolf Nissim5) hatten am 21. März endgültig die Führung übernommen, an welchem Tag auch der frühere Vorstand sein Mandat zurücklegte. In der folgenden „1. Präsidial-Sitzung“ vom 26. März 1938 wurden dann zunächst die Regelungen für die Tonfilm-Verrechnung für die Zeit vom 1. April bis 30. November 1937 rückwirkend „dem bei der STAGMA gültigen Schlüssel“6 angepaßt; als Begründung ist zu lesen, daß dieser ja bis jetzt ohnehin bei Verrechnungen aus Deutschland gültig gewesen sei und „unsere Mitglieder“ sich mit dieser Verrechnung „ohne Weiteres einverstanden“ erklärt hätten. – Besonders brisant erscheint hier noch der Bericht, daß eine „Besprechung des Herrn Präsidenten Dr. Reidinger im Reichspropagandaministerium (Reichspropaganda Hauptstelle Österreichs)“ mit „Regierungsrat Dr. Gast“ stattgefunden habe; und Reidinger „übergibt der Direktion den Erlass des Gauleiters Bürckel zwecks termingerechter Beantwortung der darin erhaltenen Fragen“. Äußerst interessant ist, daß der 3. kommissarische Leiter Prof. Dr. Mauriz Hans Heger erst in der „1348.V.S.“ [Vorstandssitzung] vom 21. März 1938 als ordentliches Mitglied der AKM (als Autor) aufgenommen wurde,7 was offensichtlich unter 5 6 7
Zu ihm siehe Österreichische Autorenzeitung 28/1, März 1976, S. 10–12. Protokoll der „1. Präsidial-Sitzung“ vom Samstag, dem 26. März 1938, vormittags, bei der „die Herren“ Reidinger, Wetchy, Heger und Beran anwesend waren. Laut einer „Liste der seit dem 1. Jänner 1938 aufgenommenen ordentlichen Mitglieder“ wurde in der „1348.V.S.“ [Vorstands-Sitzung] vom 21. März 1938 ausschließlich „Heger Mauriz Hans Dr. Prof.“ aufgenommen (als Kurie ist „A“, also Autor, angegeben). In der 1350. Sitzung vom 29. März folgten Dr. Hermann Fohringer („K“, also Komponist), August Pepöck (K), Franz Josef Reinl (K) und Robert
AKM, STAGMA und die „Arisierung“ der Urheberrechte
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politischem Druck geschah. Ein ähnlicher Fall begegnet uns kurze Zeit später, nämlich am 5. Mai, bei dem jetzt als kommissarischer Verwalter fungierenden Dr. Ernst Geutebrück; er wurde an jenem 5. Mai in den Vorstand kooptiert, jedoch erst am 5. Juni vom Vorstand als ordentliches Mitglied (als Komponist) aufgenommen. Bevor wir aber in der Historie weiterschreiten, wollen wir zunächst kurz die in der Folge betrachteten Urheberrechtsvereinigungen vorstellen:8 Am 26. Dezember 1895 hatte „Se. Majestät Kaiser Franz Josef das von beiden Häusern des Reichsrathes votirte“ österreichische „Gesetz über den Schutz des Urheberrechtes“ erlassen, welches das bis dahin bestandene Gesetz „zum Schutz des literarischen und artistischen Eigenthums“ vom 19. Oktober 1846 sowie die auf dieses Gesetz Bezug nehmende Ministerialverordnung vom 27. Dezember 1858 ablöste. Das bedeutete, daß nun „endlich auch den Werken der Literatur und Tonkunst“ jener Schutz zuteil wurde, „welchen Bühnenwerke seit Jahrzehnten“ genossen. Die Bemühungen um die Installierung einer „Gesellschaft der Autoren, Componisten und Musik-Verleger“ (mit Sitz in Wien) führten schließlich am 22. Mai 1897 zur gründenden Sitzung dieser Vereinigung, die von der „k. k. n. ö. Statthalterei“ am 24. Juni jenes Jahres genehmigt wurde. Am 17. Oktober 1897 fand dann deren „constituirende Generalversammlung“ als Verein statt, doch mußte dieser dann aus formalrechtlichen Gründen in eine Genossenschaft übergeführt und neu konstituiert werden, was am 5. Dezember 1897 erfolgte. In Deutschland wurde, nachdem dort das neue Urheberrechtsgesetz am 1. Jänner 1902 in Kraft trat, als erste Urheberrechtsvereinigung am 14. Jänner 1903 die „Genossenschaft Deutscher Tonsetzer“ (G. D. T.) ins Leben gerufen, die ihre Arbeit mit 1. Juli aufnahm. Zuvor war etliche Jahre eine „Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht“ geplant gewesen, deren Bezeichnung für einige Zeit noch als Klammerausdruck hinter dem Namen der tatsächlichen Gründung bestehen blieb: es hieß dann „Genossenschaft Deutscher Tonsetzer (Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht)“.9 Am 16. Dezember 1915 wurde (neben der weiterexistierenden G. D. T.) eine zweite Gesellschaft gegründet, die „GEMA“, die „Genossenschaft zur Verwertung musikalischer Aufführungsrechte“, die zudem am 20. Februar 1916 einen „Verband zum Schutze musikalischer Aufführungsrechte für Deutschland“ ins Leben rief, dem auch die A. K. M. angehörte. Schließlich stellte sich auch die
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Ernst (K), in der 1353. Sitzung vom 7. April Dr. Lothar Riedinger (K), Paul Königer (K), Hans WeinerDillmann (K) und Dr. Armin G. Hochstetter (K), am 13. April (1354.V.S.) Prof. Dr. Victor Junk (K), am 22. April (1355.V.S.) Arnold Röhrling (K), Carl Maria Haslbrunner (A) und Johann Kliment jun. („V“, also Verleger), und in der „1356.V.S.“ vom 5. Juni 1938 folgten Ernst Robert Geutebrück (K), Josef Mayer-Aichhorn (K), Ludwig Krenn (V), Karl Mainau (K), Alois Kreuzberger (K), Oskar Schima (K), Werner Bochmann (K), Günther Franzke (Schwenn) (A), Kiesel & Böhme (V), Alois KlampfererEckhardt (A), Alfred Böhme (V), Ernst Schenk (V), Hans Sikorski (V), Ernst Otto Groh (A), Max Schönherr (K), Karl Hawranek (K), Johann Totzauer (K), Viktor Korzhé (K), Wilhelm Henn (K), Hans Heinz Scholtys (K), Siegfr. Stanberg (V) und Oskar Staudigl (A). Nach Hartmut Krones, Die Geschichte unserer Gesellschaft (Anm. 2), wo auch die aus den Mitteilungen der AKM stammenden Zitate nachgewiesen sind. Zur Geschichte der deutschen Urheberrechts- bzw. Verwertungsgesellschaften siehe speziell Albrecht Dümling, Musik hat ihren Wert (Anm. 1).
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Hartmut Krones
G. D. T. unter diesen Dachverband, dem somit ab 22. Juli 1930 drei Vereinigungen angehörten, bis am 20. September 1933 über Betreiben der Nationalsozialisten „durch Vorstand und Aufsichtsrat der GEMA und das Direktorium der GDT die STAGMA gegründet“ wurde, die „Staatlich genehmigte Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Urheberrechte“; ihre Adresse war bezeichnenderweise Berlin-Charlottenburg 9, Adolf=Hitler=Platz 7/9/11, Deutschlandhaus“. Am 1. Oktober 1933 war sowohl der GEMA als auch der GDT „jede weitere Tätigkeit untersagt“ worden, die AKM „konnte schon seit dem 12. Juli 1933 in Deutschland nicht mehr wirken“.10 Die STAGMA, die laut einem „Vertrag“ mit der GDT vom 15. März 1934 „alle Verpflichtungen der GDT nach innen und außen“11 übernahm, war also eine der vielen Vereinigungen, mit deren Hilfe die Nationalsozialisten in Deutschland das gesamte öffentliche Leben in die Hand bekamen, und ihre Gründung wurde sehr schnell, nämlich bereits am 23. September, „durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ genehmigt. Ihre Satzung wurde dann zwar erst am 15. Oktober 1933 erstellt, erhielt aber schon am 28. Oktober ihre Genehmigung. Mit der GEMA hatte die AKM immer freundschaftliche Beziehungen gepflegt, und sie hatte 1929 mit ihr einen bis zum 30. September 1937 laufenden Gegenseitigkeitsvertrag geschlossen, während mit der „Genossenschaft Deutscher Tonsetzer“ nur eine lose Verbindung bestand. Schließlich war der Streit aber durch jenen für die Zeit vom 1. Oktober 1930 bis 30. September 1937 wirksamen Abschluß eines Freundschaftsvertrages (bzw. auch Dachverbandes) zwischen GEMA, GDT und AKM beigelegt worden, der dann durch den Zusammenschluß von GEMA und GDT zur „Stagma“ eine neue Basis erhalten hatte. Nach dem Auslaufen dieses Vertrages gab es keine neuen Vereinbarungen mehr, im Gegenteil: der Ton, in welchem die STAGMA-Nachrichten von der AKM berichteten, war alles andere als freundschaftlich. Oktober 1937 heißt es dort: „[...] Wir können mit gutem Recht für uns in Anspruch nehmen, daß die AKM in einer vorbildlich fairen und großzügigen Weise abgegolten worden ist. Um so weniger ist es möglich, der AKM vom 1. 10. 1937 ab irgendwelche weiteren Zugeständnisse auf Kosten unserer deutschen Bezugsberechtigten zu machen, die über den Rahmen der Normalbestimmungen hinausgehen, die in den Verträgen mit anderen Auslands=Gesellschaften erhalten sind. Selbstverständlich werden wir stets ein besonderes Freundschaftsverhältnis zur AKM als der Gesellschaft unseres österreichischen Brudervolkes haben, die uns schon infolge eines in vielen Fällen gemeinsamen Repertoires und der gleichen Sprache nahe steht. In wirtschaftlicher Hinsicht kann jedoch den Bezugsberechtigten der AKM nur derjenige Betrag zufließen, auf den sie nach der Programmverrechnung der STAGMA Anspruch haben.“ Und diese Verrechnung war natürlich anders als in der AKM, insbesondere, weil die STAGMA gemäß ihrer seit 1936 gültigen Satzung bereits im Geschäftsjahr 10 11
Laut einem den AKM-Protokollen des Jahres 1938 beiliegenden „Bericht über die Gründung, bezw. Tätigkeit der A.K.M. in Deutschland (Altreich)“. [N. N.], Vertragsabschluß zwischen Stagma und Genossenschaft Deutscher Tonsetzer in Liquid., in: Stagma=Nachrichten Nr. 3, Juli 1934, S. 1. Liquidator der GDT wurde Leo Ritter, der geschäftsführende Direktor der STAGMA. Die Liquidation der GEMA war (ebenfalls durch Leo Ritter) am 17. Dezember 1935 abgeschlossen, die der GDT am 31. Dezember 1935.
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1936/37 nur an „Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit sowie Angehörige der Berufsstände der deutschen Komponisten, der deutschen Textdichter und der deutschen Musikverleger einen Vertrag als Bezugsberechtigte“12 gab, während „Nichtarier“ nur als „Wahrnehmungsberechtigte“ mit weitaus schlechteren Bedingungen geführt wurden und durch die vermehrten Aufführungsverbote bald überhaupt kein Geld mehr erhielten. (1935/36 waren fast alle Juden aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen worden, wodurch die STAGMA auch eine Handhabe hatte, ihre Berechtigungsverträge zu kündigen.) Ab Mai 1939 mußten dann alle deutschen Musikverlage „Werke von jüdischen Autoren aus ihren Katalogen nehmen“13.
Diese Entwicklung hatte sich für die österreichischen Delegierten bereits beim XI. Kongreß der „Confédération Internationale des Sociétés d’Auteurs et Compositeurs“, der vom 26. September bis 3. Oktober 1936 in Berlin stattfand, abgezeichnet. Dort hatte man in der Ansprache des deutschen Staatssekretärs Walther Funk u. a. folgendes zu hören bekommen: „Die nationalsozialistische Staatsführung nimmt [...] eine grundsätzliche Neugestaltung des gesamten Urheberrechtes vor, um auf dem Gebiete des Rechtsschutzes für das geistige Schaffen den nationalsozialistischen Rechts= und Kulturanschauungen Geltung zu verschaffen. [...] Der nationalsozialistische Staat hat mit dem Reichskulturkammergesetz, das ebenfalls schon aus dem ersten Jahre der nationalsozialistischen Staatsführung, nämlich vom September 1933, stammt, dem künstlerischen Schaffen eine völlig neue weltanschauliche, politische, rechtliche und organisatorische Grundlage gegeben. Es wurde ein Kulturstand geschaffen, dem eine staatspolitische Aufgabe gegeben wurde. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda [Joseph Goebbels], der für alle Aufgaben der geistigen Einwirkung auf die Nation zuständig ist, erhält auch die Führung der Kunstpolitik und Künstler. In dieser Gestaltung liegt ein neuer, höchst bedeutungsvoller politscher Gedanke und Wille, die Einheit zwischen Volksaufklärung und Propaganda auf der einen und Kulturführung auf der anderen Seite. Das bedeutet einen Bruch mit den Anschauungen des Liberalismus, nach denen Kunst Selbstzweck und der Künstler sozusagen als der höchste Individualist schaffen soll ,wie der Vogel singt‘. Wozu dieses ungehemmte ,Künstlertum‘ führt, das haben wir in Deutschland in der krassesten Form erleben müssen: zu einer Entartung der Kunst, zu einer Vergiftung des künstlerischen Geschmacks und schließlich zu einer Entfremdung der Kunst vom Volke, dessen gesunder Instinkt sich gegen dieses Seelen= und Geistesgift auflehnt.“ 14 Und der „Reichsminister Dr. Joseph Goebbels [...] erinnerte die Kongreßteilnehmer daran, daß die ungeistigen und meist jüdischen Emigranten, die Deutschland nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus verlassen hätten, nicht müde geworden seien, der deutschen Regierung den Versuch 12 13 14
Dümling, Musik hat ihren Wert (Anm. 1), S. 213. Ebenda S. 219. [N. N.], Der XI. Kongreß der Confédération Internationale des Sociétés d’Auteurs et Compositeurs, in: Stagma=Nachrichten Nr. 9, Oktober 1936, S. 140.
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einer geistigen Knebelung zum Vorwurf zu machen. ,Sie haben in diesen Tagen‘, so sagte Dr. Goebbels, ,Gelegenheit gehabt, dieses von den Emigranten entworfene Bild mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Sie werden unschwer einen tiefen Gegensatz zwischen diesen Behauptungen und der Wirklichkeit festgestellt haben. Es hat sich in Deutschland nichts abgespielt, als ein bewußtes Inschutznehmen des deutschen Geistes! Der deutsche Arbeiter hat in diesen drei Jahren gelernt, seine Freiheit im freiwilligen Dienst am Volkstum zu erkennen und ist damit zum hervorstechendsten Teilhaber am geistigen, seelischen, sozialen und wirtschaftlichen Aufbau der deutschen Nation geworden. Der geistige Arbeiter hat in diesen drei Jahren seinen Weg zum Volke zurückgefunden, er bildet heute in Deutschland nicht mehr eine isolierte Schicht, die mit den breiten Massen keinen Kontakt mehr hat, sondern ist ein Stück lebendigen, ewigen und unvergänglichen Volkstums. Es ist bei uns das seherische Wort des Führers vom Jahre 1921 in Erfüllung gegangen, daß der Arbeiter der Stirn und der Arbeiter der Faust sich wieder kennen und achten lernen würden. Ein neuer deutscher Mensch ist aus dieser Synthese hervorgegangen. Als volksverbundene junge Politiker haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, mit einem gereinigten deutschen Volk einen wertvollen Beitrag zum Aufbau des europäischen Erdteils beizusteuern.‘ “15
Zurück in den März 1938. Herrschten im Protokoll vom 26. März noch eher moderate Töne, so wurde es dann in der „2. Präsidial-Sitzung“ vom 5. April ernst. Im Zuge eines „interurbanen Gesprächs“ mit Direktionsrat Doblreiter16 hatte der kommissarische Leiter Dr. Reidinger laut dem Protokoll erfahren, daß „die 600.000 Schillinge, die jetzt fällig sind, noch nicht ausbezahlt werden dürfen, da das Geld nicht freizubekommen ist [...]. Wenn das Geld aber frei werden sollte, dann darf es nur an Arier zur Auszahlung gelangen.“17 Gleich danach sowie in der 3. Präsidialsitzung vom 6. April (12–16 Uhr) ist dann von einer bevorstehenden Ausschüttung von 400.000.- RM die Rede, die in Form von freien Zuschüssen von ca. 25.000.RM an die „ernsten Komponisten“ verteilt werden könnten; und weiter: „[...] wobei noch zu bedenken ist, dass an jüdische Mitglieder eine Nachzahlung über höhere Weisung zu unterbleiben hat, wodurch sich dieser Betrag noch erhöht“.
Um „jüdische Mitglieder“ auch zweifelsfrei identifizieren zu können, hatte Präsident Reidinger zuvor (6. April, 10-11 Uhr) in einer Konferenz „mit Pg. Ernst der Landesleitung der N.S.D.A.P. [...] die bevorstehende Herstellung eines Judenspie15 16 17
Ebenda S. 146f. (Fettdruck orignal). Josef F. Doblreiter war Leiter des Berliner Büros der AKM. Protokoll vom 5. April 1938, 2 Uhr nachmittags. In der Sitzung wurde auch beschlossen, daß „ausser der statutarisch vorgesehenen Zeichnungsberechtigung, noch eine Zeichnungsvollmacht in der Weise eingeräumt wird, dass das Vorstandsmitglied Herr Dr. Mauriz Hans Heger gemeinsam mit je einem der beiden Kollektiv-Prokuristen, Dr. Otto Beran oder Rudolf Tlascal zeichnungsberechtigt ist.“ Und handschriftlich wurde hinzugefügt: „Die Zeichnungsberechtigung der beiden Prokuristen allein wird widerrufen.“
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gels“18 besprochen. Und jetzt folgt im Protokoll der Sitzung ein Satz, dem wir besondere Aufmerksamkeit widmen wollen: „Bis dahin haben die Herren Professor Damisch und Wobisch als verlässliche Auskunftspersonen der Judenfrage zu gelten.“ 19
Nicht zuletzt zur Klärung der Judenfrage entwarf der Vorstand einen Fragebogen, der an alle Mitglieder und Tantiemenbezugsberechtigten ausgesandt wurde. Er sei hier nach dem Personalakt von Marcel Rubin zitiert – von der Hand des Vaters Erwin Rubin ausgefüllt, dessen Sohn Marcel sich damals bereits in der französischen Emigration befand.20 Das Schriftstück umfaßte folgende Fragen: Fragebogen. Vor- und Zuname: Adresse: Beruf: Seit wann sind Sie Mitglied (Tantiemenbezugsberechtigter) der A. K. M.: Leben Sie ständig in Oesterreich oder in Deutschland: Wenn ja, seit wann: Haben Sie die österreichische (deutsche) Staatsbürgerschaft vor dem 12. November 1918 durch Zugehörigkeit zu einer Gemeinde erworben, welche im November 1918 auf österreichischem (deutschem) Gebiete gelegen ist: Ja oder nein?: 8. Verneinendenfalls, von wo und wann sind Sie nach Oesterreich (Deutschland) eingewandert und auf welche Weise haben Sie die österreichische (deutsche) Staatsbürgerschaft erworben: Durch Option. Einbürgerung?: 9. Welcher Konfession gehören Sie derzeit an und seit wann: 10. Haben Sie seit ihrer Geburt die Konfession gewechselt und in welcher Weise: 11. Sind Sie verheiratet: 12. Abstammung: Deutschblütig, artverwandt oder nichtarisch: 13. Kinder:
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
18
19
20
Einen solchen „Judenspiegel“ der AKM besitzt die Wiener Stadtbibliothek (91314 A / 1937): In einem Mitgliederverzeichnis der AKM (Stand vom 1. Oktober 1937) befinden sich auf der ersten Seite neben einem „STAGMA“-Stempel die handschriftlichen Eintragungen „– [Durchstreichung] = Juden“ sowie „nach dem Stande 10./II. 39“. Näheres hiezu siehe Hartmut Krones, 100 Jahre Österreichischer Komponistenbund. 1913–2013 (Anm. 2), S. 41–43. Diese „Auskunftspersonen“ waren auch im Nachkriegsösterreich hochgeehrte Persönlichkeiten. Heinrich Damisch (1872–1961), 1913–1945 Präsident der Mozartgemeinde Wien, 1917 Mitbegründer der Salzburger Festspielhausgemeinde und 1938 u. a. Verfasser eines Artikels über die „Verjudung des österreichischen Musiklebens“, war auch nach 1945 in der „Internationalen Stiftung Mozarteum“ tätig und erhielt 1956 die „Goldene Medaille der Stadt Salzburg“. Helmut Wobisch (1912–1980) war 1954– 1968 Geschäftsführer der Wiener Philharmoniker, gründete 1969 das von ihm dann bis 1980 geleitete Festival „Carinthischer Sommer“ und erhielt 1967 das „Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“. Hiezu siehe Hartmut Krones, marcel rubin (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts, Bd. 22), Wien 1975, S. 22f., sowie ders., Marcel Rubin in der französischen Emigration, in: Douce France ? Musik-Exil in Frankreich. Musiciens en exil en France. 1933–1945, hrsg. von Michel Cullin und Primavera Driessen Gruber, Wien–Köln–Weimar 2008, S. 131–145 sowie S. 379–392.
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14. Haben Sie den Weltkrieg auf Seite Oesterreichs oder des Deutschen Reiches oder eines der Verbündeten dieser Staaten mitgemacht: 15. Ist Ihr Vater oder ein Sohn im Kriege gefallen oder den Kriegsverletzungen erlegen: 16. Bei welchem Truppenkörper haben Sie gedient: 17. An der Front: 18. In der Etappe: 19. Im Hinterland: 20. Wurden Sie verwundet, wann und wo: 21. Kriegsauszeichnungen: 22. Sind Sie in der Lage, die Richtigkeit der Beantwortung der Fragen 14. bis 21. sofort nachzuweisen: 23. Waren Sie Mitglied einer Freimaurerloge oder der Schlaraffia: 24. Bejahendenfalls, bestand bei dieser Verbindung der Arierparagraph: 25. Waren Sie Mitglied des Heimatschutzes, Richtung Starhemberg: 26. Haben Sie sonst einer militanten Formation der Systemzeit angehört: 27. Haben Sie sich während der Systemzeit aktiv gegen die nationale Idee betätigt: 28. Welcher Partei haben Sie angehört: 29. Waren Sie Mitglied der NSDAP. oder einer ihrer Gliederungen oder angeschlossenen Verbände: 30. Seit wann bis wann: 31. Mitgliedsnummer: 32. Dienstgrad: Fragebogen über die Personaldaten der Eltern und Großeltern: Des Vaters: Zuname: Vorname: Beruf: Wohnort (Adresse): Geburtsort: Geburtsdatum: Sterbeort: Sterbedatum: Konfession: Allfälliger Religionswechsel: Trauungsort: Trauungsdatum:
Der Mutter: Zuname (Mädchenname): Vorname: Geburtsort: Geburtsdatum: Sterbeort: Sterbedatum: Konfession: Allfälliger Religionswechsel:
Der Großeltern väterlicherseits: Väterlicher Großvater: Zuname: Vorname: Beruf:
Väterliche Großmutter: Zuname (Mädchenname): Vorname: Geburtsort:
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Wohnort (Adresse): Geburtsort: Geburtsdatum: Sterbeort: Sterbedatum: Konfession: Allfälliger Religionswechsel:
Geburtsdatum: Sterbeort: Sterbetag: Konfession: Allfälliger Religionswechsel:
Der Großeltern mütterlicherseits: Mütterlicher Großvater: Zuname: Vorname: Beruf: Wohnort (Adresse): Geburtsort: Geburtsdatum: Sterbeort: Sterbedatum: Konfession: Allfälliger Religionswechsel:
Mütterliche Großmutter: Zuname (Mädchenname): Vorname: Geburtsort: Geburtsdatum: Sterbeort: Sterbedatum: Konfession: Allfälliger Religionswechsel:
Ich erkläre ehrenwörtlich, daß ich die obigen Angaben nach bestem Wissen und Gewissen wahrheitsgemäß gemacht habe. .........................., am ....................... 1938.
Unterschrift
NB: Bei Rechtsnachfolgern sind die Daten anzugeben, welche sich auf den Erblasser (das seinerzeitige Mitglied, von dem die Rechtsnachfolger ihre Rechte ableiten) beziehen.
Und nun wieder zu den Tagesereignissen: Am 5. April fand „vormittags im Parlament“ eine Besprechung „zwischen Dr. Reidinger und Herrn Schalk, dem Beauftragten des Stillhaltekommissars Hofmann [recte: Hoffmann]“ statt, in der „Herr Schalk ausdrücklich feststellte“, daß „alle Änderungen von Arbeitsverhältnissen, Änderung in der Bezahlung von Angestellten der kommissarischen Betriebe rückwirkend vom 12. März d. J. durchaus unstatthaft sind. Es müsste denn sein, dass sie vom Reichsamtsleiter Hofmann ausdrücklich in besonderen Fällen genehmigt worden wären. Die A.K.M. gehört nunmehr der Gemeinschaft der Komponisten, Autoren und Musikverleger als einer Dachorganisation höherer Gliederung an, deren kommissarische Leitung auf Grund der Zuschrift vom 4. April 1938 des Gauleiters Bürckel Dr. Reidinger zu übernehmen hat. Letzterer ist berechtigt, den Leitern der ihm unterstellten Verbände Untervollmachten auszustellen. Es wurde hiemit, mit heutigem Tage, Herr Othmar Wetchy zum treuhänderischen VizePräsidenten der A.K.M. von Dr. Reidinger ernannt, und die entsprechende Bestätigung ausgefertigt.“
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In der Sitzung vom 6. April war noch bezüglich der „Ausschüttung“ der bewilligten 400.000.- RM „eine Art Zuschuss-System für die ernste Musik“ angedacht worden. Der anwesende Repartierungsleiter Mason sah hier aber auch die Möglichkeit, ernste Komponisten, „die während der Zeit 1934–1936 keine Aufführungen hatten, mit Zuschüssen zu bedenken. Nach dem System des [...] kämen für freie Zuschüsse ca. 25.000.RM. in Frage, wobei noch zu bedenken ist, dass an jüdische Mitglieder eine Nachzahlung über höhere Weisung zu unterbleiben hat, wodurch sich dieser Betrag noch erhöht.“
Die Idee, wenig gespielte Komponisten mit Zuschüssen zu bedenken, wurde dann sehr bald in die Tat umgesetzt, wobei man in erster Linie nationalsozialistische Kollegen bedachte, deren „Lieder der Bewegung“ in den Jahren des Austrofaschismus nicht aufgeführt bzw. gesendet wurden. Der kommissarische Leiter rief hier eine Kommission ins Leben, die unter dem Vorsitz von Heinrich Strecker erstmals am 25. Juli 1938 tagte.21 Strecker eröffnete die Sitzung mit dem Hinweis, daß sie „gerade auf den Gedenktag der nationalen Erhebung (1934) in Österreich“ falle, worauf „Gauinspekteur Pg. Berner (Niederdonau)“ begrüßte, daß „die A.K.M. nicht nur rein geschäftliche Interessen verfolge, sondern auch die nationalen Interessen zu wahren wisse“. Der Grundsatzbeschluß lautete dann folgendermaßen: „Grundsätzlich sind die in der illegalen Zeit in Österreich geschaffenen Werke höher zu bewerten, als die im Altreich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme geschaffenen Werke. Während die Letzteren durch Staat und Partei im Altreich gefördert worden sind, daher grosse Aufführungszahlen erreichten, was den betreffenden Mitgliedern erhebliche Einnahmen brachte, konnten die in der Verbotszeit in Österreich schaffenden Künstler wohl zur Aufrichtung der Volksgenossen beitragen, haben dafür aber statt Einnahmen Strafen erhalten, wurden boykottiert und deren Werke beschlagnahmt oder vernichtet. Dennoch sind auch diese Mitglieder, die in Deutschland ungehindert Lieder der Bewegung schaffen konnten, zu berücksichtigen, da auch die Stagma seit Jahren für solche Mitglieder Sonderquoten auswirft. Bei der Bemessung der Quote ist darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Stagma die genannten Zuwendungen jährlich vornimmt, während die heutigen Beschlüsse sich auf die Gesamtzeit seit 1933 beziehen. Für die Lieder der Bewegung werden sonach drei Klassen festgesetzt, wobei pro Werk für die Klasse I.................. RM. 3.000.“ II................ “ 1.200.“ III............... “ 600.als Zuschuss bestimmt werden. Die für ein Werk zuerkannte Quote ist zwischen den Bezugsberechtigten zu dritteln.“ 21
Die Protokolle der „Wiedergutmachungs-Sitzungen“ sowie der auf sie Bezug nehmenden Akten befinden sich im Archiv der Republik: AdR, 04, StiKo Wien, 37–C1 V, fol. 225–249, VIII, fol. 474, und IX, fol. 536f.
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Weiters wurden einigen Mitgliedern „Pauschalquoten in der Höhe von RM. 3.000.-, RM. 1.200.- und RM. 600.- zuerkannt“, anderen wieder „Gesinnungsquoten in der Höhe von RM. 600.-, bezw. RM. 300.-“. Von den Austrofaschisten inhaftierte Mitglieder erhielten „eine Entschädigung in der Höhe von je RM. 1.000.-“ bewilligt. Insgesamt bezahlte man RM. 65.700.- an Komponisten von „Liedern der Bewegung“ bzw. als „Wiedergutmachung“ aus, u. a. an Heinrich Strecker (den Vorsitzenden der Kommission) RM. 10.000.-, an Kommissionsmitglied Mauriz Hans Heger RM. 7.400.-, an den kommissarischen Leiter Ernst Geutebrück RM. 4.000.oder an Camillo Horn und Josef Reiter je RM. 3.000.-. „Pauschalbeträge“ von RM. 3.000.- ergingen zusätzlich an Ernst Geutebrück, Mauriz Hans Heger, Camillo Horn, Josef Reiter und Heinrich Strecker, Haftentschädigungen in der Höhe von RM. 1.000.- an Robert Ernst, Ernst Geutebrück, Karl Hawranek, Karl Mainau, Heinrich Strecker und Leopold Welleba. – Der „Klasse I“ der „Lieder der Bewegung“ (RM. 3.000.-) gehörten laut den Protokollen „Wach auf deutsche Wachau“ (Heinrich Strecker / Mauriz Hans Heger), „Deutsche Frau“ (Strecker / Heger) sowie „Es pfeift von allen Dächern“ von Fritz Mahrer an, der „Klasse II“ u. a. „Das ist des Deutschen Vaterland“ (Fritz Spitzer / Heger), „Die deutsche Front marschiert“ (Friedrich Maschner / Heger) oder „Hört ihr den Marsch der Kolonnen“ (Ernst Buder) an. In der zweiten „Sitzung der Wiedergutmachung“ vom 29. Juli 1938 wurden dann „jene Mitglieder und Beamten berücksichtigt“, bei denen nicht aus politischen, sondern aus „sonstigen wirtschaftlichen Gründen“ Schädigungen erfolgten. Hier stechen Beträge für (wieder) Mauriz Hans Heger (RM. 3.550.-), „Kliment Joh. Musikverlag jun.“ (RM. 6.000.-), (wieder) Heinrich Strecker (RM. 3.550.-), Josef Blaha (Kuratorium, RM. 10.000.-) und Universal-Edition (RM. 20.000.-) hervor. Als Begründung für diese zum Teil neuerlichen Zuwendungen lesen wir: „Es wurden Jahre hindurch vom früheren Vorstand, zu Lasten der arischen Mitglieder beträchtliche Zuweisungen an die nichtarischen Mitglieder gemacht und in gleicher Weise auch in der Beamtenschaft die nichtarischen Beamten in auffallendem Masse bevorzugt, während die Hauptarbeit durch die schlecht bezahlten arischen Beamten zu leisten war. Die heutige Wiedergutmachung soll daher in kleinem Umfang jenes Unrecht, das an den in Betracht kommenden Mitgliedern und Beamten durch Jahre hindurch begangen wurde, im Rahmen der eigentlich viel zu geringen, zur Verfügung stehenden Mitteln, einen Ausgleich schaffen.“
Als dann mit 24. August 1938 die „AKM in Liquidation“ in die STAGMA übergeführt worden war, ließ der „Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände“ die „in der Zeit vom 1.4. bis 24.8.1938 gemachten Ausgaben“ überprüfen. Der diesbezügliche Bericht vom 18. Oktober 1938 listete daher auch die „unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten H. Strecker“ beschlossenen „Wiedergutmachungs-Beträge“ auf und schloß „für die Beurteilung der Bewilligungsgründe“ eini-
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ge der in den Anträgen gegebenen Argumente an; die interessantesten von ihnen seien hier (auch aus dem Abschlußbericht von Ernst Geutebrück) angeführt: „Dr. Geutebrück: SS-Sturmbannführer, wurde wegen der Teilnahme an der JuliErhebung 1934 zu sechsjährigem schweren Kerker verurteilt, ist Blutordensanwärter. Komponist symphonischer Kammermusik; über seine Werke wurde Rundfunksperre verhängt, die Aufführungen wurden in Graz verboten. Musste 1936 ins Altreich fliehen. Von Beruf Rechtsanwalt. Heinrich Strecker: Aktiver Kampf gegen die Verjudung der A.K.M., Boykott, Verleumdungsfeldzug, polizeiliche Verhöre, Beschlagnahme der Kampflieder, 1.5.36 verhaftet, zwangsweise Delogierung, Not, Flucht ins Altreich [...]. Komponist von Operetten, Volksliedern, ernster Musik und Liedern der Bewegung. (Drunt in der Lobau – Ja, ja der Wein is guat). Dr. Mauriz Heger: Komponist der Lieder: Wachauf, deutsche Wachau – Das ist des Deutschen Vaterland – Die Deutsche Front marschiert – Deutsche Treue – usw. Ebenfalls langjähriger Kämpfer gegen die Verjudung der Kunst. Prof. Kamillo Horn: Sudetendeutscher, als deutscher Künstler dauernd gegenüber den Tschechen benachteiligt, jahrelange Nichtprogrammierung. Vom Führer durch das Goldene Ehrenzeichen geehrt. Professor Josef Reiter: Trotz seines hohen Alters wurde ihm die Staatszugehörigkeit aberkannt; seine Leistungen wurden durch den Führer mit der Goethemedaille und dem Goldenen Ehrenzeichen anerkannt [...]. Geyer, Karl: Seit 8 Jahren Mitglied der NSDAP, sein Sohn ist Doktor und wurde zweimal eingesperrt. Hauer, Jos. Math. [Zitat:] ,Ich kann nichts dafür, dass meine Werke von Schönberg und seinem Klüngel schlecht nachgeahmt werden, dass meine arischen Schüler die Zwölftonmusik nur halb verstanden haben. Ich fühle mich unschuldig zurückgesetzt. Zwölftonmusik ist eine absolut geniale, eminent positive Leistung, die in erster Linie den Deutschen zugute kommt‘ [Unterstreichungen original]. Hladky, Vinzenz jun.: Wurde wegen NS-Gesinnung aus dem Spielplan der Ravag bis 1936 ausgeschieden. Schulden RM. 6.000.Kolleritsch, Josef: Musste [...] für seinen Bruder, der in Wöllersdorf, Bezirksund Landesgericht war, alle Kosten tragen. Pembauer, Dr., Walter: Wegen Rede in Innsbrucker Gemeinderat 19.1.1934 verhaftet, in Untersuchung, entlassen, 5/4 Jahre stellenlos. Seibt, Oskar: Wird in seinem Modewarengeschäft wegen seiner Gesinnung geschnitten und von den eigenen Leuten zu wenig unterstützt, hat daher Schulden.“
Schließlich stellte der Stillhaltekommissar fest, „dass sich die Herren der kommissarischen Leitung und der Kommission selbst [...] reichlich bedacht haben“. Am 20. Februar 1939 heißt es dann in einem Schreiben an die STAGMA, daß es „auf Grund der dem Dr. Geutebrück als kommissarischen [!] Leiter ausgestellten Vollmacht des Stillhaltekommissars ausser jedem Zweifel [steht], dass derselbe die auf Verteilung des Prozessfonds hinzielenden Beschlüsse ohne Zustimmung des Stillhaltekommissars nicht fassen durfte. Da somit eindeutig fest-
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steht, dass die Verteilung des Prozessfonds zu Unrecht erfolgte, wird es Angelegenheit der Stagma Berlin sein, für die Hereinbringung aller dieser widerrechtlich ausgezahlten Beträge Sorge zu tragen.“
Geutebrück widersprach dann in einem umfangreichen juristischen Gutachten und stellte fest, daß der „Stillhaltekommissär [...] nicht zuständig“ sei, worauf dieser („Reichamtsleiter A. Hoffmann“) in einem Schreiben an den „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, z. Hd. Herrn Vicepräsidenten Barth“ die Kontenance verlor: „Die sachliche Abwicklung der Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (AKM) ist aus der anliegenden Aktennotiz meines persönlichen Referenten zu entnehmen. Meine Zuständigkeit ist also ganz einwandfrei und klar. Es dürfte sich empfehlen, dass Dr. Geutebrück wegen seiner Unverschämtheit vorübergehend der Geheimen Staatspolizei überantwortet wird, damit er einmal hinter Schloss und Riegel darüber nachdenkt, welche Forderung er zu erheben wagt. [...] Seit wann ist es üblich, daß angebliche Nationalsozialisten für ihre angeblich nationalsozialistische Gesinnung bezahlt werden? Ich wäre dankbar, wenn Sie diesen Vorgang dem Gauleiter zur Kenntnis bringen würden. [...] Auch dann, wenn Dr. Geutebrück über hohe und höchste Freunde in den österreichischen Behörden verfügt, habe ich keine Veranlassung, seine geldlichen Machenschaften gutzuheissen und eine einseitige Überprüfung der Bilanzen vorzunehmen.“
Die Angelegenheit verlief dann wohl im Sand, sind doch in den im Archiv der Republik befindlichen Akten nur mehr (vorsichtig formulierte) Stellungnahmen gegen Hoffmanns Ausbrüche zu finden. Dafür spricht auch die Tatsache, daß nach dem Krieg bereits die „2. vorbereitende Arbeitsausschuss-Sitzung der AKM“ vom 11. Juli 1945 im Zuge der „Erfassung“ aller „Vermögenschaften und Vermögensrechte der AKM [...] jene unter dem Titel ,Wiedergutmachungsbeträge‘ widerrechtlich an Mitglieder und Beamte ausgezahlten Gelder“ zurückfordern wollte. Und in der 4. Vorstandssitzung vom 19. September 1945 wurde beschlossen, daß „jene, die unter der Bezeichnung ,Wiener Lieder-Quoten‘ [...] Beträge erhalten haben“, ebenso wie jene, „welche unter der Bezeichnung ,Lieder der Bewegung‘ und ,Wiedergutmachung‘ Beträge ausbezahlt erhielten“, diese zurückzahlen sollten (was dann aber rechtlich nicht hielt, da die AKM 1945 neu gegründet werden mußte). Zurück zur ursprünglichen Chronologie: Am 11. April 1938 fand um 10 Uhr vormittags eine „Konferenz aller kommissarischen Leiter bei Reichsamtsleiter Hoffmann“ statt, „bei der ausdrücklich festgelegt wurde, dass die Stillhalteverfügungen bis auf weiteres – über den 10. April 1938 hinaus – solange zu gelten haben, bis die einzelnen Organisationen und Verbände entsprechend übergeleitet sein werden“.
Das Ende der AKM bzw. deren Überleitung in die STAGMA war also bereits ganz offiziell eine beschlossene, besser gesagt: befohlene Sache. – Denken wir hier kurz
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daran, daß bei dieser „Konferenz aller kommissarischen Leiter bei Reichsamtsleiter Hoffmann“ sicher auch unser „alter Freund“ Franz Schütz anwesend war, der kommissarische Leiter sowohl der Gesellschaft der Musikfreunde als auch der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst; seine einschlägigen „Leistungen“ wurden von mir bereits vor vielen Jahren eingehend gewürdigt,22 sie sind aber auch in vorliegendem Band kurz beleuchtet. In der am 11. April nachmittags tagenden 4. Präsidial-Sitzung beschloß man dann, „um den Mitgliedern gegenüber gedeckt zu sein und die Meinung der verschiedenen Sparten im Rahmen unserer Gesellschaft kennenzulernen, eine Kommission, bestehend aus je 3 Herren der 3 Kurien, unter Berücksichtigung der verschiedenen Spezialgebiete des künstlerischen Schaffens, zu ernennen. Diese Kommission soll vor allem über den Verteilungsplan der STAGMA beraten und Anregungen und Wünsche vorbringen. Herrn Sander [aus Leipzig] wurde von diesem Entschlusse Mitteilung gemacht. Er begrüsste in seiner Eigenschaft als Beiratsmitglied der STAGMA bezw. als Vertreter des DMVV [des Deutscher Musikverleger-Verbandes] diese Massnahme des Vorstandes. Er regt an, zu den Berliner Verhandlungen auch einen Verleger zu entsenden, damit dieser die Spezialwünsche und Anregungen der österreichischen Verleger vorbringen kann.“
Diese Kommission bildeten schließlich Dr. Friedrich Bayer, Hans Heinrich Ritter von Borutzky, Karl M. Jäger, Alois Klampferer-Eckhardt, Johann Kliment jun., Josef Kratochwill, Ludwig Krenn, Musikdirektor Rudolf Pehm und August Pepöck. „Aus Zweckmäßigkeitsgründen“ wurden ferner „je ein Komponist, Textdichter bezw. Verleger aus Berlin nominiert“: „Prof. Robert Heger, bezw. Heinrich Strekker, Günther Franzke und Dr. Sikorski vom Beboton-Verlag“. Am 5. Mai 1938 wurde dann Dr. Ernst Geutebrück zum kommissarischen Verwalter der A.K.M. bestellt (Abbildung 1),23 weiters kooptierte man ihn sowie Heinrich Strecker in den Vorstand, und die bislang den Vorstand anführenden Herren Reidinger, Wetchy und Heger legten ihre Vorstandsmandate zurück; der neue Vorstand dankte diesen daraufhin „für ihre Bemühungen“. Mitglied der A.K.M. wurde Geutebrück aber, wie schon erwähnt, erst in der Sitzung vom 5. Juni; weitere in jenen frühen Wochen nach dem „Anschluß“ ernannte Mitglieder waren (siehe auch Anm. 6) neben Mauriz Hans Heger (21. März) etwa Robert Ernst (29. März), Armin C. Hochstetter und Hans Weiner-Dillmann (7. April), Johann Kliment (22. April) oder (u. a.) Max Schönherr, Hans Heinz Scholtys und Hans Sikorski 22
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Hartmut Krones, Die Konzertpolitik der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien in den Jahren 1938 bis 1945, in: Die Wiener Schule und das Hakenkreuz. Das Schicksal der Moderne im gesellschaftspolitischen Kontext des 20. Jahrhunderts (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 22), hrsg. von Otto Kolleritsch, Wien–Graz 1990, S. 188– 201. Vgl. auch in diesem Bd. S. 23–26. Im Antrag (des „Reichsstatthalters“) für die Ernennung Geutebrücks zum kommissarischen Leiter lesen wir u. a.: „Dr. Ernst Geutebrück ist Parteigenosse seit 1. Juni 1932, Mitgliedsnummer 1,080.964 und SS-Hauptsturmführer. [...] Geutebrück [...] war Mitglied der AKM von 1929 bis Ende 1936 und stellvertretender Leiter der Auslandsstelle in der Reichsmusikkammer vom August 1937 bis heute.“ AdR, 04, StiKo Wien, 37–C1 VII, fol. 403.
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(Sitzung vom 5. Juni). Als neue Tantiemenbezugsberechtigte scheinen übrigens am 12. Jänner 1938 Marcel Rubin und Leopold Walzel, am 26. Jänner Rudolf Jettel und Guido Peters, am 23. Februar Hans Schulhof sowie am 9. März „Berg Alban (Helene)“, Robert Ernst und Wolfgang Russ auf, die somit sämtlich noch zur Zeit der Existenz Österreichs Aufnahme fanden. In der neuen „Ära“ wurden dann u. a. Emmerich Zillner (7. April) oder Alfred Orel (13. April) tantiemenbezugsberechtigt. (Orel war sofort nach dem „Anschluß“ zum kommissarischen Leiter der Akademie für Musik und darstellende Kunst bestellt worden.)
Abbildung 1: Antrag auf Bestellung Ernst Geutebrücks zum kommissarischen Leiter der AKM durch „Reichsstatthalter“ Dr. Otto Wächter.
Am 8. Juni 1938 fand die 41. ordentliche Generalversammlung der A.K.M. statt, die laut dem Protokoll der Zusammenkunft unter anderem Delegierte der STAGMA (aus Berlin) begrüßen konnte. Sie bestellte nach den Berichten über „die Ereignisse seit dem 10. März 1938“ sowie nach den notwendigen Abstimmungen über die Rechnungslegung u. a. zwei neue Kommissionen, und zwar die „Kommission für Werke der Bewegung“ und die „Kommission zur Förderung der österreichischen Volksmusik“. In das Präsidium der Vereinigung wählte die Generalversammlung die Herren Dr. Friedrich Bayer, Dr. Ernst Geutebrück, Franz Lehár, Dr. Lothar
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Hartmut Krones
Riedinger und Heinrich Strecker als Komponisten, Günter Franzke (Schwenn), Otto Emerich Groh, Karl Maria Haslbruner, Dr. Mauriz Hans Heger und Ernst Marischka als Autoren sowie Dr. Alwin Cranz, Johann Kliment jun., Ludwig Krenn, Ernst Schenk (Univ.Edt.) und Hans Sikorski (Beboton-Verlag) als Verleger; Geutebrück wurde zum Präsidenten, Strecker, Heger und Cranz zu Vizepräsidenten bestimmt. Die „Kommission für Werke der Bewegung“ zierten Dr. Mauriz Hans Heger, Ludwig Krenn, Hans Heinz Scholtys, Siegfried Stanberg, Oskar Staudigl und Heinrich Strecker, die „Kommission zur Förderung der österreichischen Volksmusik“ die Herren R. H. Dietrich, Hans Frankovski, Ludwig Gruber, Alois Klampferer-Eckhardt, Johann Kliment jun., Ludwig Krenn und Heinrich Strecker sowie „für die Gaue ausserhalb Wiens“ Hans Heinz Scholtys. – Die Doktoren Geutebrück und Bayer gehörten im übrigen auch der „Kommission zur Förderung der ernsten Musik“ an. Einen offensichtlich besonders wichtigen Punkt im Protokoll wollen wir aber nicht übersehen; er ziert das Ende des lediglich etwas über zwei Seiten umfassenden Schriftstückes: „Antrag Heinrich Strecker: Mit Rücksicht auf die Absendung von BegrüssungsTelegrammen an den Führer und an Dr. Goebbels die nichtarischen Mitglieder zum Verlassen des Saales zu ersuchen. Nach Entfernen dieser Mitglieder Verlesung der vorgeschlagenen Begrüssungs-Telegramme durch Herrn Strecker.“
Die weiteren Ereignisse um die AKM sind schnell aufgezählt. Nachdem per Verordnung vom 11. Juni 1938 das „Gesetz über die Vermittlung von Musikaufführungsrechten“ in Österreich in Kraft trat, trafen STAGMA und kommissarische Leitung der A.K.M. am 17. Juni ein Abkommen, „durch das die Leitung des Einhebungsdienstes der A.K.M. auf die Stagma überging“. Am 23. August 1938 fand dann „im mittleren Saal der Urania“ eine letzte Generalversammlung der A.K.M. statt, bei der neben den eigenen Funktionären (einschließlich „Ehrenpräsident und Vorstandsmitglied Franz Lehar“) „Regierungsrat Dr. Peter Gast für das Reichspropaganda-Amt Wien“, „Pg. Dr. Konrad Pfitzner für den Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände“ sowie „Herr Leo Ritter als Leiter der Stagma“ anwesend waren.24 Und hier erklärte „Präsident Dr. Ernst Geutebrück“, „dass dies die letzte Generalversammlung der staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (AKM) reg. Genossenschaft m.b.H. sein werde, da diese Gesellschaft in die Stagma übergeleitet werden solle. Zweck der Generalversammlung sei es, den Erschienenen zu erklären, wie dies zu geschehen habe [...]. Der Vorstand habe sich bemüht, die Interessen aller Mitglieder [...] bestens zu wahren, diese Arbeit sei ihm aber leicht geworden, weil der Vorstand bei den massgebenden Funktionären der Stagma das grösste Entgegenkommen gefunden habe.“
24
Protokoll der Generalversammlung: AdR, 04, StiKo Wien, 37–C1 VII, fol. 365ff.
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Danach betonte Leo Ritter von der Stagma u. a. folgendes: „Die Tatsache, dass die österreichischen Komponisten nunmehr zur Stagma kommen, sei für diese besonders wertvoll, weil dadurch die Stagma auch die beste Unterhaltungsmusik in ihre eigene Interessensphäre eingliedern könne. Dies wird auch von Vorteil sein für die ganze deutsche Gesellschaft. Auch die nationalsozialistische Partei fordere nach strenger Pflichterfüllung des Tages am Abend Unterhaltung und Entspannung, ein Erfordernis, welchem gerade die ostmärkische Unterhaltungsmusik besonders Rechnung trage. Daher seien gerade die ostmärkischen Komponisten der [durchgestrichen: Partei, hs. darüber:] Stagma sehr willkommen. In Würdigung dieser Tatsache habe Herr Reichsminister Dr. Joseph Goebbels den Ehrenpräsidenten der staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (AHM) reg. Genossenschaft m.b.H., Meister Franz Lehar, in den Beirat der Stagma berufen als den führenden deutschen Unterhaltungskomponisten, ja sogar als den grössten überhaupt lebenden Unterhaltungskomponisten. (Lebhafter Beifall) Er freue sich, der Versammlung mitteilen zu können, dass Meister Franz Lehar dieser Berufung Folge geleistet habe [...].“
Schließlich forderte Ritter die Mitglieder der AKM auf, der Stagma beizutreten, erklärte einige rechtliche Einzelheiten (mögliche Doppelmitgliedschaft, Altersversorgung), gab einen historischen Rückblick, lobte die Leistungen der AKM und schloß mit der Bitte, „ihm und der Stagma Vertrauen zu schenken“. Danach wurden einige Statutenänderungen beschlossen, die die Überführung der AKM in die STAGMA rechtlich absicherten, darunter vor allem die Anpassung des § 47, dessen neue Fassung nun folgendermaßen lautete: „Im Falle der Auflösung der Gesellschaft hat das nach Regelung aller Verbindlichkeiten etwa vorhandene Gesellschaftsvermögen den Versorgungsstiftungen der deutschen Komponisten, der deutschen Textdichter und der deutschen Musikverleger in Berlin zuzufallen.“
Schließlich begrüßte Vizepräsident Heinrich Strecker „den Zusammenschluß der [...] AKM mit der grossen deutschen Gesellschaft Stagma und gab dem grossen Vertrauen Ausdruck, welches er und alle Mitglieder der [...] AKM zu dem Leiter der Stagma, Herrn Leo Ritter, hegen. [...]. Die Machtstellung der Stagma gebe allein schon allen Mitgliedern eine Stärkung ihrer Stellung, denn sie unterstehe direkt dem Herrn Reichsminister [für Volksaufklärung und Propaganda] Dr. Joseph Goebbels, dessen Vertreter, Herr Dr. Peter Gast[,] der Generalversammlung die Ehre seiner Anwesenheit geschenkt habe. Es werde auch in Hinkunft zu einer regen Fühlungnahme zwischen den deutschen und österreichischen Autoren und Textdichtern kommen, so dass keiner fürchten müsse, dass die österreichische Eigenart unterdrückt werde oder Werke österreichischer Autoren nicht ihren gebührenden Platz finden würden.“
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Nachdem durch die Änderungen der Statuten der AKM die letzten Hindernisse beseitigt worden waren, löste „Der Reichskommissar / für die Wiedervereinigung Oesterreichs / mit dem Deutschen Reich / Stab / Stillhaltekommissar / für Vereine, Organisationen und Verbände“ die A.K.M. mit Datum vom 23. August 1938 „auf Grund des Gesetzes über die Ueberleitung und Eingliederung der Vereine, Organisationen und Verbände vom 17. Mai 1938“ auf. Laut einer anderen, „weicheren“ Diktion wurde „auf Grund einer Generalversammlung der A.K.M. am 23. August 1938 einstimmig die Liquidation und die Überleitung des grössten Teiles der ehemaligen A.K.M.-Mitglieder in die Stagma beschlossen“. Verschwiegen wurde dabei, daß die Generalversammlung der A.K.M. keine andere Wahl hatte und daß der „kleinere“ Teil der ehemaligen A.K.M.-Mitglieder, die nicht in die Stagma „übergeleitet“ wurden, die inzwischen entrechten Juden waren.
Abbildung 2: Einweisung des Vermögens der A.K.M. an die STAGMA vom 23. August 1938.
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An diesem 23. August sandte „Der Reichkommissar [...]“ der „Staatlich genehmigten Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Urheberrechte“ in „BerlinCharlottenburg, Adolf Hitlerplatz 7“ (Abbildung 2) eine „Vermögensübersicht über den mit Wirkung vom 24. August an Sie zu überführende(n) Spitzenverband Staatlich genehmigte Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (A.K.M.), Wien III., sowie die von dem Reichskommissar für die Wiedervereinigung Oesterreichs mit dem Deutschen Reich, Gauleiter Pg. Bürckel, genehmigte Überführungsbestätigung, mit der das Vermögen des obgenannten Spitzenverbandes unter Liquidation eingewiesen wird. Die Ueberführung erfolgt unter der Voraussetzung, dass die Ihnen auf der Rückseite der Ueberführungsbestimmung gemachten Auflagen (Wahrung der Rechte der Mitglieder, gebietliche Gliederung der Organisation) von Ihnen durchgeführt werden.“
Das „Reinvermögen“ der AKM, RM. 3.765.301,23,25 wurde dann abzüglich „einer einmaligen Aufbauumlage für Oesterreich in Höhe v. RM. 112.959.04“ sowie „einer einmaligen Verwaltungsggebühr in Höhe von RM. 37.653.01“ (Summe RM. 150.612.05) „in die Staatlich genehmigte Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Urheberrechte (STAGMA) [...] eingewiesen.“ Und schließlich wurde vom „Reichsamtsleiter / Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände“ am 24. August 1938 auch „die zukünftige Organisationsform und gebietliche Gliederung der Organisation wie folgt festgesetzt: Die STAGMA gliedert sich auf dem Gebiete der Ostmark in drei Bezirksvertretungen, u. zw.: 1. Donauland (umfassend die Gaue der NSDAP. Oberdonau, Niederdonau und Wien) 2. Südmark (die Gaue Steiermark und Kärnten) 3. Alpenland (die Gaue Salzburg und Tirol).“
Ein eigener Passus wies darauf, daß die „Rechte der Mitglieder wie folgt zu wahren“ sind: „Auf die Verordnung über die Einführung des Gesetzes über die Vermittlung von Musikaufführungsrechten im Lande Oesterreich vom 11. Juni 1938 (Kundmachung des Reichsstatthalters in Oesterreich im Gesetzblatt für das Land Oesterreich Stück 64/185 vom 21. Juni 1938), gemäss welcher mit Wirksamkeit vom 15. Juni 1938 das Gesetz über die Vermittlung von Musikaufführungsrechten vom 4. Juli 1933 (R.G.Bl. I. S. 452) und die Durchführungsverordnung zu diesem Gesetz vom 15. II. 1934 (R.G.Bl. I. S. 100) auch im Lande Oesterreich gelten, wird hingewiesen.“
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Im Protokoll der Präsidialsitzung der A.K.M. vom 26. September 1945 lesen wir: „das im März 1938 mit RM 1,500.042,61 [!] bewertete Vermögen der Gesellschaft [ist] durch die Uebertragung nach Berlin fast zur Gänze verlorengegangen“. Im Zuge der „Liquidation“ der AKM waren 1938 diverse Verbindlichkeiten abgetragen sowie Neubewertungen der Aktiva vorgenommen worden.
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Am 27. August 1938 teilte Dr. Pfitzner (für den Stillhaltekommissar) dem bisherigen kommissarischen Leiter der AKM, Dr. Ernst Geutebrück, mit, daß seine „Aufgabe als Bevollmächtigter für die A.K.M. als erloschen anzusehen ist“26 und dankte ihm für die geleistete Arbeit, am 4. Oktober 1938 wurde schließlich die Löschung der A.K.M. im Handelsregister durchgeführt bzw. die A.K.M. „durch die Verfügung des Stillhaltekommissars vom 30.8.1938 unter Aufhebung ihrer Rechtspersönlichkeit in die Staatlich genehmigte Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Urheberrechte (Stagma) in Berlin eingegliedert und mit Beschluß des Handelsgerichtes Wien Gen.6/104/208 am 4.10.1938 im Genossenschaftsregister des Handelsgerichtes Wien gelöscht“27. Schließlich wurde mit Beschluß des Landgerichts Wien vom 11. Mai 1939 „die Einverleibung des Eigentumsrechtes“ an dem im Besitz der AKM gewesenen Haus Baumannstraße 8 „zugunsten der Stagma“ bewilligt (Abbildung 3) – und zwar „auf Grund des eine öffentliche Urkunde im Sinne des § 36 d) GBG darstellenden Bescheides des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Oesterreichs mit dem Deutschen Reich, Stab-Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände vom 3. April 1939“. Der Bescheid des „Reichskommissars“ für das ebenfalls der AKM gehörende „PrücklHaus“ am Stubenring folgte zwei Tage später.
Abbildung 3: „Einverleibung des Eigentumsrechtes“ am AKM-Haus (Baumannstraße 8) „zugunsten der Stagma“ vom 11. Mai 1939.
26 27
AdR, 04, StiKo Wien, 37–C1 VII, fol. 398. Für Hinweise zur Aktenlage im Archiv der Republik dankt der Autor dessen Direktor Dr. Wolfgang Maderthaner sowie Frau Mag. Hana Keller. Protokoll der außerordentlichen Generalversammlung der Staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger, reg. Gen. m.b.H. in Wien, vom 14. Dez. 1945 [„registrierte Genossenschaft mit beschränkter Haftung“] sowie Protokoll der konstituierenden Generalversammlung der Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (A.K.M.) registrierte Genossenschaft mit beschränkter Haftung vom 8. August 1945. Beschlossen wurde die Gründung „einer Genossenschaft mit beschränkter Haftung“ namens „Staatlich genehmigte Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger (A.K.M.) registrierte Genossenschaft mit beschränkter Haftung“.
HERBERT VOGG (Wien)
Ein paar Bemerkungen (nicht nur) zum Singen in der NS-Zeit Ich bin Jahrgang 1928 und war beim Einmarsch Hitlers 1938 noch keine 10 Jahre alt. Nicht durch die Eltern, sondern über einen Schulfreund kam ich zum „Deutschen Jungvolk“, aber systematisch erfaßt wurde letztlich die gesamte Schuljugend. Auf das Singen wurde bei den Heimabenden besonderer Wert gelegt: Einstimmiges Singen, Hauptsache laut und zum Marschieren geeignet. Ich kann mich an kein Lied erinnern, das „österreichisch“ gewesen wäre. Vielmehr sangen wir „Nordisches“: Das Lied vom „schö-ö-önen We-e-esterwald“, Wir sind die Niedersachsen oder Heil dir, mein Brandenburger Land. Auch die sogenannten Volkslieder waren nicht aus den Alpenländern: Schwarzbraun ist die Haselnuß, Ein Heller und ein Batzen, Wildgänse rauschen durch die Nacht mit schrillem Schrei nach Norden, weiters Drei Lilien, drei Lilien, die pflanzt’ ich auf mein Grab, juvallera oder das alte, auf Hitler umgetextete Soldatenlied Als die gold’ne Abendsonne; das gehörte alles zum Liedgut auch der deutschen Soldaten. Dazu Vaterländisches: Heilig Vaterland in Gefahren, deine Söhne sich um dich scharen oder Deutschland, heiliges Wort, du voll Unendlichkeit, über die Zeiten fort seist du gebenedeit, und endlich natürlich Ideologisches: Baldur von Schirachs HJ-Lied Uns’re Fahne flattert uns voran, und unvermeidlich das Lied von den zitternden morschen Knochen, wo wir „weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute, da hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“, aber auch „Es pfeift von allen Dächern, für heut’ die Arbeit aus, es ruhen die Maschinen und müd’ zieh’n wir nach Haus. Daheim herrscht Not und Elend, das ist der Arbeit Lohn. Geduld, verrat’ne Brüder, schon wanket Judas’ Thron.“ Das wurde oft und immerfort gesungen, ich kann die Texte noch immer auswendig hersagen. Im Herbst 1943 ist unser Schuldirektor aktiv geworden und hat von jedem Schüler den Nachweis der Teilnahme an den HJ-Diensten verlangt. Einer in der Klasse hat zu mir gesagt: „Komm zur Spielschar“, und ergänzt: „Da gibt’s keine Uniform“. Leiter dieser Spielschar war unser Musikprofessor Viktor Korda, von dem alle wußten, daß er vor 1938 im (ab 1934 „illegalen“) Arbeiter-Sängerbund tätig war. Da sangen wir also im gemischten Chor mit den Mädchen des benachbarten Mädchen-Gymnasiums Alte Meister und jetzt wirklich echte, vorwiegend alpenländische Volkslieder im gewohnten Dialekt, und wer ein Instrument beherrschte, spielte im kleinen Orchester. Es gab tatsächlich keinen Dienst in Uniform; es gab einmal einen Riesenwirbel, als irgendein höherer HJ-Führer uns bei einer Probe inspizierte. Aber kurz darauf wurden wir sowieso von der sechsten Gym-
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Herbert Vogg
nasialklasse weg im Jänner 1944 zur Heimatflak eingezogen und auf die Luftabwehr-Batterien im Wiener Raum aufgeteilt. Ein Wachtmeister ließ einen Freund von mir strafweise vor der Einheit robben und befahl plötzlich: „Ein Lied“. „Ich kann nicht singen“, sagte der Freund. „Los, Vogg, Sie können singen, robben – und: ein Lied!“ Wir sangen „Nur der Freiheit gehört unser Leben.“ Sofort kam das Kommando „Eintreten“. Dieses Erlebnisses wegen ist mir das Lied in Erinnerung geblieben. Ich habe mein Berufsleben im Musikverlag Doblinger verbracht und 1976 zum Jubiläum „Hundert Jahre Doblinger“ die Verlagschronik geschrieben. Damals sah ich die im Verlag erhalten gebliebenen Quellen durch; für die Zeit von 1938 bis 1945 konnte ich mich zusätzlich auf Berichte von Mitarbeitern und vom alten Doblinger-Firmenchef Bernhard Herzmansky selber stützen. Im Frühjahr 1938 wurden nicht nur jüdische Betriebe „arisiert“; auch das Eigentum des politischen Gegners war willkommene Beute strammer Parteigenossen. Wenige Tage nach Hitlers Einmarsch in Österreich wurde Bernhard Herzmansky verhaftet. Vom 20. März bis zum 17. Juni 1938 saß er im Wiener Polizeigefangenenhaus, dann wurde er in das Konzentrationslager Dachau überstellt und dort bis zum September festgehalten. „Gesamte Haftzeit 25 Wochen“ steht in der 1945 ausgestellten Mitgliedslegitimation des KZ-Verbandes. Herzmansky, politisch belastet, konnte nicht Mitglied der Reichsmusikkammer werden und war damit von jeder Arbeit in seiner Firma ausgeschlossen. Er durfte nicht einmal die Räume seines Unternehmens betreten. Lakonisch steht im Handelsregister: „28. Juni 1938. Kommissarischer Verwalter Willy Rüster in Wien. Vertretungsbefugt nunmehr nur der kommissarische Verwalter selbständig. Während der Dauer der kommissarischen Verwaltung ruht die Vertretungs- und Zeichnungsbefugnis des Inhabers und der bisher registrierten Prokuristen.“
Der junge Musikalienhandels-Angestellte Willy Rüster ist, wie sich im März 1938 herausstellt, illegal bei der NSDAP gewesen; vom Musikverlagswesen hat er keine Ahnung. Es gelingt, mit dem langjährigen Prokuristen und Buchhalter Franz Schwenzner eine loyale Persönlichkeit in die Firmenleitung zu bringen. Auf „freiwilliger“ Basis kommt es am 12. Juli 1939 zu einem Gesellschaftsvertrag: „Aus Gesundheitsgründen hat sich nun Herr Bernhard Herzmansky von der Geschäftsführung zurückgezogen und sich mit seinen beiden Prokuristen Herrn Willy Rüster und Herrn Major a. D. Franz Schwenzner zur Gründung einer offenen Handelsgesellschaft vereinigt. [...] Herr Bernhard Herzmansky bringt in die Gesellschaft das gesamte Vermögen des von ihm bisher allein betriebenen Unternehmens als Einlage ein. [...] Die offenen Gesellschafter [...] leisten keine Sacheinlage, sondern bringen lediglich ihre Arbeitskraft und ihre Erfahrung ein. [...] Bernhard Herzmansky ist weder geschäfts- noch vertretungsberechtigt, wird aber den beiden anderen offenen Gesellschaftern mit seinem Rate und seinen geschäftlichen Erfahrungen zur Seite stehen.“
Ein paar Bemerkungen (nicht nur) zum Singen in der NS-Zeit
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Schwenzner wird bei Kriegsausbruch 1939 zur Wehrmacht eingezogen, Herzmansky sieht seine praktisch führungslose Firma zusehends absacken. Er beschließt, den in Berlin lebenden Komponisten Max Krüger um Rat zu fragen. Der Plan geht dahin, eine Person in die Firma zu bringen, die das Vertrauen der Machthaber genießt und zugleich bereit ist, Herzmansky arbeiten zu lassen. Die Reichskanzlei entscheidet anders: Max Krüger muß der alleinige Betriebs- und Geschäftsführer werden. Das Unternehmen wird zur Kommanditgesellschaft umgewandelt, Max Krüger wird persönlich haftender Gesellschafter, „Bernhard Herzmansky ist als persönlich haftender Gesellschafter ausgeschieden und als Kommanditist [...] eingetreten“.
Herzmansky, wiewohl jeder Verfügungsgewalt über seine Firma beraubt, darf Herrn Krüger beraten. Er gilt weiterhin als politisch verdächtig, muß sich hüten, über politische Witze zu lachen, muß mit Bespitzelung rechnen. Man wird ihn nach Kriegsende der Kollaboration verdächtigen, die Intrige geht jetzt (mit dem unveränderten Ziel der Besitz-Aneignung) von der anderen politischen Extremseite aus, und er muß einen geradezu abstrusen Prozeß mit dem kommissarischen Leiter führen, welcher das unter Gewalt Angeeignete weiterhin beansprucht. Endlich kehrt Herzmansky zunächst als Prokurist in die Firmenleitung zurück, die Angestellten stellen sich hinter ihn und die Rechtslage wird geklärt. In den Jahren vor 1938 war Doblinger ein Synonym für Wiener Unterhaltungsmusik auf höchstem Niveau, u. a. mit Ralph Benatzkys musikalischen Lustspielen Kleines Café, Axel an der Himmelstür, Der König mit dem Regenschirm; von den Schlagern daraus sind die Gebundenen Hände mit dem Text von Hans Weigel am berühmtesten geworden. Robert Katscher schreibt Die Wunderbar mit dem von Karl Farkas getexteten Schlager Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt; von Leonhard Märker stammen die musikalischen Lustspiele Warum lügst du, Chérie und Das Ministerium ist beleidigt; die Erfolge des österreichischen Fußballs finden ihren Niederschlag in Paul Abrahams Roxy und ihr Wunderteam. Fritz Spielmann und Stephan Weiss servieren „Schinkenfleckerln“, die mit dem Fleisch Versteckerln spielen, Hans May schreibt für Joseph Schmid Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben, Hermann Leopoldi singt Schön ist so ein Ringelspiel und In einem kleinen Café in Hernals und Ich bin ein stiller Zecher und so weiter und so weiter; kein Wunder, daß Doblinger im Olympiade-Jahr 1936 ein Potpourri Schlager-Olympiade herausbringt – nur: die Olympiade findet in Berlin statt, und dort fällt alles Obengenannte bereits unter die neuen Rassengesetze. Unter diese Rassengesetze fällt auch manches von Herzmanskys geliebter Kammermusik, etwa jene von Erich Zeisl. 1938 bis 1945: Sieben magere Jahre, abgesehen von allem anderen und abgesehen davon, daß dem Verlag die Tantiemen aus der „verbotenen“, der „artfremden“ Musik fehlen. Am 3. März 1938, also ein paar Tage vor dem Anschluß, ist im Verlags-Nummernbuch noch ein Lied von Hermann Leopoldi eingetragen: Mit der Eisenbahn. Es kann nicht mehr erscheinen. Es wird ausgestrichen, und an sei-
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ner Stelle steht ein „Heil Hitler“-Marsch. Während Bernhard Herzmansky in Dachau sitzt, gibt es noch einen SA-Marsch für Blasmusik sowie die Jubellieder Groß-Deutschland ungeteilt und frei und Des größten Deutschen Heimat, im Jahr 1939 folgt ein Horst-Wessel-Geschwader-Marsch und nach Kriegsbeginn ein Marsch Fliegergeschwader Hindenburg, aber das ist auch alles. Der Katalog wird von jüdischen Autoren gereinigt – so gut es geht, bei den Librettisten arischer Operettenkomponisten muß man wohl oder übel Großzügigkeit walten lassen. In Auftrag gegeben werden ein Potpourri über österreichische Volksmusik, Volkstänze mit dem Titel Lied und Tanz der Ostmark und als Ersatz für das Ziehrer-Potpourri des rassisch nicht länger tragbaren Dol Dauber das Ziehrer-Potpourri eines Ariers, „wobei besonders darauf Bedacht zu nehmen sein wird, Ähnlichkeiten mit den vorerwähnten Werk zu vermeiden“.
1937 sind 179 Titel ins Verlagsbuch eingetragen worden, 1940 sind es lächerliche 12, und die betreffen faktisch keine neuen Werke, sondern Bearbeitungen des „erlaubten“ Repertoires. 1941 meldet sich die Blasmusik noch einmal mit einem Marsch Zu neuen Siegen. Zwischendurch wird in einigen wenigen Heften das Wohlwollen genützt, das die Machthaber der Volksmusik entgegenbringen, und das Ostmärkische Chorbuch enthält immerhin Kompositionen und Chorsätze von hier lebenden Komponisten. Abgesehen von den klar im Sinne des Auftrags auf NS-Linie liegenden und auf ein NS-Chor-Repertoire zielenden Werken war der Inhalt so unverfänglich und zeitlos gediegen, daß ein Gutteil von mir Mitte der fünfziger Jahre in Form von Einzel-Singblättern in den Verlagskatalog eingegliedert werden konnte. Ein kleines Schlaglicht noch auf die Situation nach 1945: Nicht nur Lebensmittel waren kontingentiert (und nicht vorhanden), nicht nur Kleider und Schuhe und Heizmaterial waren Mangelware, auch das Druckpapier wurde amtlich zugewiesen, und es zeichnete sich, wie die meisten Dinge damals sonst auch, durch schlechteste Qualität aus. Bernhard Herzmansky feierte Wiedersehen mit Ralph Benatzky, Oscar Straus, Hermann Leopoldi, Peter Herz, Karl Farkas und anderen Freunden, aber auch in die Verträge etwa mit Hermann Leopoldi mußte er beim vereinbarten Erscheinungstermin „Innerhalb von 6 Monaten“ einfügen: „Voraussetzung hiefür ist die Möglichkeit, Druckaufträge zu vergeben. Als Anfalltermin für die genannten 6 Monate ist somit der Tag anzusehen, an dem die Druckerei den Druckauftrag entgegennimmt.“
HUGO SCHANOVSKY (Linz)
Linz zur Zeit des Nationalsozialismus Der 12. März 1938 war für Linz, wie für ganz Österreich, ein Tag der Entscheidung. Am Vortag, dem 11. März, hatte Bundeskanzler Kurt Schuschnigg einen letzten Versuch unternommen, Österreich zu retten. Er hatte Adolf Hitlers Druck in Berchtesgaden nachgegeben und war bereit zurückzutreten. Nun ging es um die Installierung seines Nachfolgers Arthur Seyß-Inquart. Bundespräsident Wilhelm Miklas nahm Schuschniggs Rücktritt widerstrebend zur Kenntnis, weigerte sich jedoch, Seyß-Inquart zu seinem Nachfolger zu ernennen. Schuschnigg, der keinen Ausweg mehr wußte, schlug dem Bundespräsidenten vor, er wolle über den Rundfunk seine Gründe für den Rücktritt bekanntgeben und sich vom Volk verabschieden. Miklas soll damit einverstanden gewesen sein, stritt das aber später ab. Die letzte Rede des letzten österreichischen Bundeskanzlers der Ersten Republik wirkte ergreifend auf die, die immer noch an Österreich glaubten: „[...] Die Deutsche Regierung hat heute Bundespräsident Miklas ein zeitlich befristetes Ultimatum überreicht und von ihm verlangt, eine von der deutschen Bundesregierung genannte Persönlichkeit zum Bundeskanzler zu ernennen, andernfalls würden deutsche Truppen in Österreich einmarschieren. Ich erkläre vor der Welt, daß die von Deutschland aus lancierten Berichte von Arbeiterunruhen, Blutvergießen und einer Entwicklung, über die die österreichische Bundesregierung keine Gewalt mehr habe, von A bis Z erlogen sind. Bundespräsident Miklas hat mich gebeten, dem österreichischen Volk zu sagen, daß wir vor der Gewalt zurückgewichen sind, weil wir selbst in dieser furchtbaren Stunde nicht bereit sind, Blut zu vergießen. Wir haben beschlossen, den Truppen zu befehlen, keinen Widerstand zu leisten. So nehme ich Abschied vom österreichischen Volk mit einem Wort, das mir aus tiefstem Herzen kommt: Gott schütze Österreich.“
Hitler war außer sich und erließ am Abend des 11. März um 20.45 Uhr den Befehl, in Österreich einzumarschieren. Weder der Völkerbund noch England und Frankreich wendeten sich gegen die Aggression Deutschlands gegen seinen friedlichen Nachbarn. Und was für Hitler entscheidend war: Auch Benito Mussolini, der einige Jahre seine Hände schützend über Österreich gelegt hatte, gab ihm den Weg frei. Hitler erleichtert: „Sagen Sie Mussolini bitte, ich werde ihm das nie vergessen!“ Österreich war allein. Das Ausland hatte es im Stich gelassen. So gab Bundespräsident Miklas nach. Kurz vor Mitternacht vom 11. auf den 12. März berief er SeyßInquart zum Bundeskanzler.
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Hugo Schanovsky
In Wien gibt es auf dem Mexikoplatz eine kleine Gedenktafel, auf der steht, daß Mexiko gegen die Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland Protest eingelegt hat. Das ferne Mexiko! Der Einmarsch der deutschen Truppen am 12. März wurde von der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung wie eine Befreiung gefeiert. Die Ausschaltung des Parlaments durch Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, die Niederschlagung des Widerstandes der Sozialdemokraten im Februar 1934, die im Sommer desselben Jahres erfolgte Ermordung Dollfuß’ durch die Nationalsozialisten und die Totenhofruhe in den folgenden Jahren hatten die Republik, den Staat, den keiner wollte, an den Rand des Abgrunds geführt. Ich habe diese unselige Zeit, die auch Systemzeit genannt wurde, in einem schlichten Gedicht aufgearbeitet. Ich zitiere: „Sag, weißt du noch, wie’s uns erging, damals in jenen Jahren, da der Himmel voller Geigen hing und wir ohne Arbeit waren? Wir hatten Frau und Kind zu Haus, die hatten nichts zu essen. Die anderen lebten in Saus und Braus und machten sich einen Sport daraus, uns von oben herab zu messen. Wir hatten Zeit, doch das Geld war knapp. Unser Mann in der Not war der Wirt. Und machten wir einmal restlos schlapp und lieferten wir den Zins nicht ab – dann wurden wir delogiert. Und manche gab’s, die gaben sich her und gingen zu den Soldaten. Die hatten zu uns keine Bindung mehr und wurden geschult am Maschinengewehr und an Eierhandgranaten. Und manche gab’s, die gaben sich auf und machten dem Leben ein Ende. Sie schluckten Gas oder hängten sich auf, sie legten sich auf die Bahnschienen drauf oder öffneten den Puls ihrer Hände. Wir kannten die Not von Gesicht zu Gesicht, nicht nur vom Hörensagen. Wir hatten Versatzschein und Untergewicht und Wohnungen ohne Bad und Licht und oft einen knurrenden Magen.
Linz zur Zeit des Nationalsozialismus
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Sag, weißt du noch, wie’s uns erging, damals in jenen Jahren, als der Himmel voller Geigen hing und wir doch so fern von ihm waren?“
Obwohl der Einmarsch der deutschen Truppen militärtechnisch zum Teil chaotisch verlief, wurden diese von der Bevölkerung mit Blumen begrüßt. Gegen Mittag erreichten die Panzerspitzen von General Heinz Guderian Linz. Ihnen war bereits Heinrich Himmler, der „Reichsführer SS“, vorausgeeilt, um gemeinsam mit SeyßInquart Hitler in seiner Heimatstadt zu begrüßen. Hitler hatte in Linz die Schule besucht und einen Teil seiner Jugend in der Stadt an der Donau verbracht. Sein Elternhaus in der Gemeinde Leonding wurde zu so etwas wie ein Pflichtbesuch für gläubige Nationalsozialisten. Nicht wenige Briefe nach Linz trugen die Aufschrift „Linz bei Leonding.“ Am Abend des 12. März hielt Hitler von dem kleinen Balkon des Rathauses, an dessen Geländer man rasch eine Hakenkreuzfahne gehängt hatte, eine Rede. Schon während des Wartens auf ihn hatte eine, man kann das nicht anders ausdrücken, hysterisch-begeisterte Masse von 60.000 Menschen die Stimmung zum Siedepunkt gebracht. Ich stand damals, eingekeilt unter den jubelnden Erwachsenen, am Ende der zum Hauptplatz führenden Klosterstraße, ein zehneinhalb Jahre alter Schüler, trotz meiner Jugend so etwas wie ein Zeitzeuge. Schon Stunden vorher hatte sich alles, was Beine hatte, zum Franz-Joseph-Platz aufgemacht, um den „Führer“ zu sehen. Dann sah ich ihn auf dem Balkon des Rathauses aus größerer Entfernung, einen kleinen Mann im grauen Regenmantel, mit Schirmkappe. Hitler hatte, im Gegensatz zu Wien, zu Linz ein eher ungestörtes Verhältnis, er betrachtete die ehemals ruhige Provinzstadt als seine Heimatstadt. Das klang auch in seiner Rede an, aus der ich einige wesentliche Sätze zitieren möchte: „Als ich einst aus dieser Stadt auszog, trug ich in mir genau dasselbe gläubige Bekenntnis, das mich heute erfüllt. Ermessen Sie meine innere Ergriffenheit, nach so langen Jahren dieses gläubige Bekenntnis in Erfüllung gebracht zu haben. Wenn die Vorsehung mich einst aus dieser Stadt heraus zur Führung des Reiches berief, dann muß sie mir damit einen Auftrag erteilt haben, und es kann nur ein Auftrag gewesen sein, meine teure Heimat dem Deutschen Reich wiederzugeben. Ich habe an diesen Auftrag geglaubt, habe für ihn gelebt und gekämpft, und ich glaube, ich habe ihn jetzt erfüllt.“
Seyß-Inquart hatte schon am Nachmittag des 12. März verkündet, daß der Artikel 88 des Friedensvertrages von Saint Germain, der die Unabhängigkeit Österreichs unantastbar machte, null und nichtig sei. Hitler hatte bereits vor der Annexion Österreichs den Unterstaatssekretär Wilhelm Stuckart beauftragt, ein Gesetz zu entwerfen, das ihn als Deutschen Staatspräsidenten auch zum Präsidenten Österreichs machen sollte. Der unbeschreibliche Jubel, der ihm in Linz entgegenschlug, ließ ihn seinen Plan ändern. Noch von Linz aus
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gab er den Auftrag, den direkten Anschluß der Republik Österreich an das Deutsche Reich auszusprechen. Der Artikel 1 des Reichsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich lautete: „Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches.“ Es trug die Unterschriften von Adolf Hitler, Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Frick und Rudolf Heß. Bundespräsident Miklas verweigerte seine Unterschrift. Aber Seyß-Inquart, der auch mit Präsidial-Vollmachten ausgestattet war, unterschrieb das Gesetz. Dieses sah u. a. für den 10. April 1938 „eine freie und geheime Volksabstimmung“ der „über 20 Jahre alten deutschen Männer und Frauen“ über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vor. Die Abstimmung sollte auch in Deutschland erfolgen. Der Jubel am 12. März war unbeschreiblich. In Österreich hatten viele Personen, die mit den Nationalsozialisten sympathisierten, Positionen in der Verwaltung, in den Schulen, an den Universitäten, in der Polizei und bei der Gendarmerie inne. Buchstäblich über Nacht brachen sie in frenetischen Jubel aus. Ich habe in meiner Erzählung Hakenkreuze grob gestanzt eine solche Person aus den vielen Tausenden herausgegriffen, einen Gendarmerieinspektor. Ich zitiere: „Der Gendarmerieinspektor Spendlingwimmer hätte ungläubig gelächelt, wenn ihm jemand prophezeit hätte, dass er beim Umbruch mit einer Hakenkreuzarmbinde in der Landeshauptstadt die begeisterte Menschenmenge auf den Gehsteig zurückdrängen würde. Volksgenossen, die Straße freihalten! Er war stolz, in dieser historischen Stunde dabei sein zu dürfen. Insgeheim beglückwünschte er sich, den Braten rechtzeitig gerochen zu haben. Man hatte ihm ein Angebot gemacht und er hatte angenommen. So rechtzeitig angenommen, dass er jetzt mit der Hakenkreuzarmbinde an der Uniformjacke Hilfsdienst machen durfte. Rufe steigen aus der Menge auf, Sprechchöre ertönten: Wir wollen unseren Führer sehn! Arme erhoben sich zum Hitlergruß. Menschen jubelten. Spendlingwimmer hätte am liebsten mit eingestimmt in den frenetischen Jubel, er hätte gleich den Zivilisten seinen Arm zum Gruß ausstrecken mögen, aber es ging nicht. Er bildete mit den anderen Polizisten und Gendarmen eine lebendige Kette, die die Straße vor den Menschen auf dem Bürgersteig abschirmte. Spendlingwimmer und seine Kollegen hielten sich lachend an den Händen, sie drängten die Begeisterten zurück. Ihre Köpfe waren vor Anstrengung und innerer Erregung rot. Spendlingwimmers Armbinde war nur notdürftig mit einer Sicherheitsnadel am Uniformärmel angeheftet. Das eckige schwarze Kreuz im runden weißen Kreis hob sich deutlich vom blutroten Untergrund ab. Spendlingwimmer fühlte die Wogen der Begeisterung. Sie drangen durch seinen Uniformrock bis auf die Haut. Ein Volk, ein Reich, ein Führer, schrien die Massen auf dem Gehsteig. Die Kinder schwenkten Hakenkreuzfähnchen. Herrgott,
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leben wir in einer großen Zeit, dachte Spendlingwimmer. Sein Herz schlug im Takt der neuen Zeit, der Märsche, Paraden, Appelle, Ansprachen und Feiern. Spendlingwimmer war einer, dem Disziplin und Ordnung alles sind. Er meinte es ehrlich mit dem neuen Regime. Sein Glanz, seine Uniformen, sein Marschtritt begeisterten ihn. ,Gott schütze Osterreich!‘, wie überholt das klang. Deutschland, das war die Zukunft, die Wirklichkeit. Die braunen Bataillone marschierten, die Disziplin triumphierte [...]. Am Abend des Anschlusses nähte Frau Spendlingwimmer die Hakenkreuzbinde mit der Nähnadel an die Uniformjacke ihres Mannes. Sie machte viele kleine saubere sorgfältige Stiche. Wie sorgfältig Frau Spendlingwimmer auch nähte, sie vermochte nicht zu verhindern, dass es ihren Mann von ihrer Seite riss. Nach Polen, nach Frankreich, nach Russland [...].“
Diese spontane Begeisterung wurde rasch in eine konsequente politische Erziehung umgesetzt. Michael W. Fischer schreibt in seinen Anmerkungen Der Nationalsozialismus: „Dem Nationalsozialismus ging es um eine strikte, systematische und totale Erziehung: Von der frühen Jugend bis ins hohe Alter, vom Jungvolk und der Hitlerjugend, dem BDM und der Frauenschaft, der SA und der SS, der Volks- und Höheren Schulen, der Berufsschulen und Universitäten, der Ordensburgen und Gauschulungsburgen, der Wehrmacht und all den anderen Erziehungsstätten. Hitler selbst hat dieses totalitäre, lückenlose pädagogische Muster in einer Radiorede vom 2. Dezember 1938 geschildert und daraus den Schluß gezogen: ,Und so werden sie nie frei‘.“
In Linz erkannte August Eigruber, der Gauleiter der illegalen NSDAP, schnell die Chance, sich an die Spitze des Landes zu setzen. Schon am 11. März riß er die Funktion des oberösterreichischen Landeshauptmannes an sich. Am Abend fand in der Stadt ein Fackelzug der Nationalsozialisten statt, der die Machtübernahme in der oberösterreichischen Landeshauptstadt sichtbar zum Ausdruck brachte. Daß es mit der Zukunft Österreichs unwiderruflich aus war, bestätigte die an diesem Tag durchgegebene Mitteilung von der Verschiebung der österreichischen Volksabstimmung auf unbestimmte Zeit. Die Entwicklung in den nächsten Tagen besiegelte das Schicksal dieser letzten von Schuschnigg initiierten Rettungsmaßnahme. In fieberhafter Eile wurde in Linz die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in den öffentlichen Einrichtungen vollzogen. Am 14. März gab es schon eine Gauleiter Eigruber unterstehende „braune“ Landesregierung. Vier Tage später, am 18. März, wurde der oberösterreichische Landtag aufgelöst. Auch Arthur Seyß-Inquart blieb nicht untätig. Am 11. März ernannte er den illegalen Kreisleiter der NSDAP und Geschäftsmann Josef Wolkerstorfer zum kommissarischen Bürgermeister von Linz. Wolkerstorfer richtete schon am 18. März eine Stadtregierung ein und ernannte einen Vizebürgermeister und fünf Stadträte. Hand in Hand mit der Machtübernahme im Linzer Rathaus und Landhaus fand die Ausschaltung der Spitzenfunktionäre des Ständestaates statt. Landeshauptmann
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Heinrich Gleißner und Bürgermeister Wilhelm Bock waren mit anderen Spitzenbeamten von Land und Stadt die ersten Opfer. Die Verhaftungswelle, an der die Gestapo federführend beteiligt war, erfaßte vor allem sozialdemokratische und kommunistische Funktionäre, katholische Geistliche und alle jüdischen Bürger. Der Linzer Polizeidirektor Viktor Benz und weitere Polizeibeamte wurden ohne Anklage und Verhandlung meuchlings erschossen. Am Abend der Ermordung des mißliebigen Polizeichefs fand im Linzer Landestheater eine Festveranstaltung der neuen Machthaber statt. Am selben Tag wurde die Aufhebung aller jüdischen Vereine verfügt. Am 14. März hielt der einst Obdachlose und Aquarell-Postkarten malende Adolf Hitler triumphalen Einzug in Wien. Himmler hatte bereits blitzartig tausende politische Gegner und „Unzuverlässige“ verhaften lassen. In wenigen Wochen wurden in Wien 79.000 Personen, wie es so schön heißt, aus dem Verkehr gezogen. Hitler blieb nur eine Nacht in Wien, der Stadt, die ihn nicht angenommen hatte. Dennoch war er am Abend, als er auf dem Heldenplatz vor einer ihn umjubelnden Masse Menschen die Heimkehr seiner Heimat in das Deutsche Reich verkündete, in einer Art Rauschzustand, von sich selber und seinem Erfolg berauscht wie von der Zustimmung der riesigen Menschenmenge. Thomas Bernhard hat in seinem Stück Heldenplatz dieses Ereignis literarisch aufgearbeitet. Dort geriet der schwärzeste Tag Österreichs im März 1938 einem Protagonisten zum tränenreichen Ereignis: „In der Nacht die ergreifendsten Kundgebungen aus Wien über den Rundfunk gehört. Die Tränen steigen in die Augen. Unendlicher Jubel der Bevölkerung ... Ich höre bis drei Uhr nachts zu und finde auch dann keine Ruhe vor Freude ... Ich bin so glücklich.“
Der Mann, dem vor Freude Tränen in die Augen traten, war Joseph Goebbels. Zur gleichen Zeit traten auch vielen Österreichern Tränen in die Augen – vor Scham und Verzweiflung. Ihren Schmerz übertrug keine Radiostation der Welt. Am 10. April 1938 fand die Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich statt. Hitler war kreuz und quer durch Deutschland und das angeschlossene Österreich, die „Ostmark“, gereist. In seiner Reichstagsrede vom 18. März hatte er den zurückgetretenen Bundeskanzler Schuschnigg geschmäht und verunglimpft. Seine beabsichtigte und dann nicht durchgeführte österreichische Volksabstimmung nannte er einen Trick, Schuschnigg bezeichnete er als einen Mann, der sein Wort gebrochen hatte, verrückt und verblendet. Einen Tag vor der Volksabstimmung, am 9. April, verstieg sich Hitler gleichsam in himmlische Höhen. Er bezeichnete sich als von Gott gesandt, und es wäre ihm die Gnade des Allmächtigen zuteil geworden: „Möge am morgigen Tag jeder Deutsche die Stunde erkennen, sie ermessen, und möge er sich in Demut verbeugen vor dem Willen des Allmächtigen, der in wenigen Wochen ein Wunder an uns vollzogen hat.“
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Auf dem Propagandazettel für die Wahl stand: „So mußt du abstimmen für den Führer und Großdeutschland! Bist du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?“
In einem großen Kreis war ein Ja angehakt, in einem kleinen, deutlich kleineren Kreis ein Nein. Und es hieß weiter: „Mit der Einzeichnung eines Kreuzes in den größeren Kreis mit der Überschrift Ja gibst du dem Führer dein Ja zum Wiederaufbau Österreichs, zur Beschaffung von Arbeit und Brot für hunderttausende Volksgenossen, zur Beseitigung von Elend und Not.“
Das traf genau die Stimmung der vielen Arbeitslosen und der unter den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Menschen in Stadt und Land und baute auch eine Brücke zu den politisch Entrechteten, deren Parteien von Dollfuß und Schuschnigg verboten worden waren. Auch die Katholische Kirche ging Hitler auf den Leim. Kardinal Theodor Innitzer erließ einen Aufruf, man solle mit Ja stimmen. Der Linzer Bischof Johannes Evangelist Maria Gföllner ließ den Aufruf zwar nicht im Diözesanverordnungsblatt drucken, dennoch wurde er von den meisten Kanzeln verlesen. Auch der – wie seit 1934 alle Sozialdemokraten – „illegale“ Karl Renner, der schon 1918 für ein Deutsch-Österreich eingetreten war, stimmte bedauerlicherweise für den Anschluß. Wie hieß es so schön? Am 10. April gäbe es eine freie und geheime Wahl. Weit gefehlt. In den Wahllokalen wurde mehr oder minder offen abgestimmt. Vor den Wahlbeisitzern machten die Wählerinnen und Wähler ihr Kreuzerl in den großen Ja-Kreis. Man wollte sich offen zum Führer bekennen. Die Volksabstimmung endete mit einem Riesenerfolg für Hitler. Im ehemaligen Österreich stimmten 99,75 Prozent für die Wiedervereinigung, in Deutschland 99,08 Prozent. Hitler hatte die Annexion Österreichs durch das Votum des Volkes mehr oder minder legalisiert. Linz sollte den heute wohl traurigen Ruhm für sich in Anspruch nehmen, „das beste Ergebnis einer deutschen Großstadt zu erzielen“, wie es Sepp Wolkerstorfer ausdrückte: Im Amtsblatt der Stadt Linz war unter dem Titel „Ein unvergeßliches Ehrenblatt der Geschichte der Stadt Linz“ ein Ja-Stimmen-Anteil von 99,9988 Prozent ausgewiesen. „Das unvergängliche Ehrenblatt“ ist im Laufe der Geschichte zur katastrophalen Fehlleistung geworden. Zur Stimmungsmache für die Abstimmung hatte Hitler, nachdem er den üppigen Goldschatz der österreichischen Nationalbank an sich gerissen hatte, den Bayerischen Hilfszug nach Österreich befohlen. Er hatte die Aufgabe, die Armen zu verköstigen und ihnen die Wohltaten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt vor Augen und zum Mund zu führen.
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Hätte sich Schuschnigg mit seiner Volksabstimmung durchgesetzt, das Resultat wäre wohl anders ausgefallen. Schuschnigg war schon am 12. März verhaftet worden und wurde bis Ende Mai unter Hausarrest gestellt. Dann brachte man ihn in das Gestapo-Hauptquartier im Hotel Metropol, wo er die nächsten eineinhalb Jahre in einem winzigen Zimmer im fünften Stock eingesperrt wurde. Nach gemeinen Schikanen der SS-Bewacher landete er schließlich im Konzentrationslager Dachau. Am 24. April war die Umstellung auf die neue reichsdeutsche Verwaltung abgeschlossen. Die neun österreichischen Bundesländer waren auf sieben Gaue geschrumpft. Die bisher mit eigenem Statut ausgestatteten Städte wie Linz wurden ihrer Selbstverwaltung entkleidet. Aus der statutarischen Landeshauptstadt Linz war die Gauhauptstadt geworden. Aus dem Linzer Franz-Joseph-Platz der AdolfHitler-Platz. Am 23. April führte Hitler einen personellen Schachzug durch. Er ernannte Josef Bürckel aus dem Altreich, wie Deutschland damals gerne genannt wurde, zum Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. Bürckel gelang es, Staat und Partei so aufeinander abzustimmen, daß es in der Verwaltung keine „Extrawürstel“ für das ehemalige Österreich gab. Der mit großem Pomp auf den Schild erhobene Bundeskanzler Seyß-Inquart verschwand bald von der Bildfläche. Er tauchte später woanders auf. Durch den Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 verzögerte sich der weitere Verwaltungsausbau. Während im März 1938 Hitler bei seinem Einzug in Österreich frenetisch bejubelt wurde, herrschte am Tag der Kriegserklärung an Polen beklemmende Stille. Kein Jubel auf den Straßen, keine blumengeschmückten Soldaten wie im Ersten Weltkrieg. Am 1. Mai 1939 trat das sogenannte „Ostmarkgesetz“ in Kraft. Aber erst im April 1940 endete die Tätigkeit der Landeshauptmannschaft in Oberdonau. Aus dem Staatsnamen Österreich wurde die Ostmark. Und im Zuge der weiteren Entwicklung wurde ab 1. April 1942 an die Stelle der „Ostmark“ die Bezeichnung „Alpenund Donaugaue“ gesetzt. In Oberösterreich konnte sich Gauleiter Eigruber an der Macht halten. Am 15. März 1940 wurde er zum Reichsstatthalter des Gaues Oberdonau ernannt. Im November 1942 wurde ihm auch die Funktion eines Reichsverteidigungskommissars übertragen. – Eigruber, Jahrgang 1907, gründete 1928 in Oberösterreich die Hitlerjugend, wurde 1930 Gauführer der HJ und 1936 Gauleiter der illegalen NSDAP. Vom März 1938 an war er offiziell Gauleiter. Von den Amerikanern wurde er zum Tod verurteilt und 1946 hingerichtet. Hand in Hand mit der Annexion Österreichs lief die Umkrempelung der Linzer Wirtschaft auf den reichsdeutschen Vierjahresplan. An die Stelle vieler Klein- und Mittelbetriebe traten Großbetriebe, deren Einbindung in die Rüstungswirtschaft beschlossene Sache war. Schon am 25. März 1938 lagen Göring die Pläne für ein Eisen-Hüttenwerk in Linz, eine Zellstoffabrik in Lenzing und Bauprogramme für ein 1100 km langes Autobahnstraßennetz vor.
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Am 13. Mai erfolgte der Spatenstich für die „Reichswerke Hermann Göring“, zu dem der Generalfeldmarschall persönlich erschien. Wir Schüler mußten damals Hakenkreuzfähnchen schwenkend an dieser Großveranstaltung teilnehmen. Die Linzer Tages-Post schrieb: „Dieser Akt ist für uns Linzer mehr als ein beliebiger, symbolischer Baubeginn.“
Schon im März waren zehn Ingenieure aus Berlin nach Linz gekommen, um die Planung für das neue Hüttenwerk der „Reichswerke AG für Erzbergbau und Eisenhütten Hermann Göring“ voranzutreiben. Eigruber sprach sich gegen den Bauplatz Asten-Enns und für das unmittelbar an Linz angrenzende Gebiet St. PeterZitzlau aus. Im Juni 1940 begann man mit dem Hochofenbau, am 15. Oktober 1941 wurde der erste Hochofen angeblasen. Im Kriegsjahr 1941 wurde der Höchststand der Stahlproduktion mit 541.000 Tonnen erreicht. Von großer Bedeutung für die Kriegswirtschaft wurde die Tochtergesellschaft der Reichswerke Linz, die 1939 gegründeten „Eisenwerke Oberdonau“. Im Rüstungsdreieck Linz – Steyr – St. Valentin gelegen, nahm sie 1940 die Produktion von Panzerteilen auf und wurde 1943 zum größten deutschen Panzerwerk. In unmittelbarer Nähe der heutigen VÖEST-Alpine AG entstanden 1940 die Stickstoffwerke „Ostmark“, und gleichfalls für die Rüstung wurde die Linzer Schiffswerft als „Reichswerke AG für Binnenschiffahrt Hermann Göring“ angekurbelt. Sie spezialisierte sich neben dem Bau von Tankern und Schleppern auf Marinefahrzeuge sowie den Zusammenbau von Unterseebooten und wurde direkt dem Oberkommando der Deutschen Kriegsmarine unterstellt. Wer die Zeit des Nationalsozialismus in Linz in Wort und Bild nachvollziehen will, der sollte nach dem Buch „Bilder des Nationalsozialismus in Linz“ greifen. Die beiden Herausgeber Fritz Mayrhofer und Walter Schuster, die auch mehrere Abschnitte verfaßt haben, lieferten damit eine eindrucksvolle Dokumentation des historischen Geschehens. Schon zwischen 1928 und 1933 war Linz der Sitz für die Führung der österreichischen NSDAP. Mit dem Anschluß wurde Linz zur „Patenstadt des Führers“ und neben vier deutschen Städten als einzige österreichische Stadt zur „Führerstadt“. Männer, die an den Schalthebeln saßen, waren: Ernst Kaltenbrunner, der 1943 nach der Ermordung Reinhard Heydrichs zum Chef des Reichssicherheits-Hauptamtes aufstieg, und der aus Deutschland stammende Adolf Eichmann, der Schul-, Jugend- und Berufsjahre bis 1933 in Linz verbrachte. Er war für die „Endlösung der Judenfrage“ im Dritten Reich zuständig und wurde 1962 in Israel hingerichtet. Nichts vermag eindrucksvoller die handelnden Personen von damals ins Blickfeld zu rücken als authentische Photos. So die von Hitler vor den Modellaufnahmen des neuen Linz. Wie sehr er seine architektonischen Ambitionen an seiner Paten- und Heimatstadt ausleben wollte, beweist der Umstand, daß er sich während des ganzen Krieges nie von der Neuplanung von Linz zurückzog.
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Dabei ließ er Schreckliches durchblicken. In einem Tischgespräch aus dem Winter 1942 kam er auf den Pöstlingberg, den weithin bekannten und beliebten Hausberg der Linzer, zu sprechen: „Ich sehe den Bau vor mir, klassisch, so schön wie nur etwas; die Sternwarte auf dem Pöstlingberg in Linz. Den Götzen-Tempel dort beseitige ich und setzte das dafür hinauf.“
Hitler wollte also die historisch bedeutsame Wallfahrtskirche wegreißen und an ihre Stelle eine bombastische Sternwarte setzen. Die in Linz lebenden Juden waren die ersten, gegen die der fanatische Haß der Nazis gerichtet war. Die Arisierung wurde rasch und rücksichtslos angegangen. Ein Photo zeigt an „Führers Geburtstag“, dem 20. April 1938, die Nazi-Formation vor dem Warenhaus Kraus & Schober. Da war das der Familie Schwarz gehörende Geschäft schon enteignet. – Einige der jüdischen Geschäftsleute gingen in den Freitod. So drei Angehörige der bekannten Unternehmerfamilie Spitz, deren Namen heute ein Hotel in Urfahr trägt. Von den 600 Juden, die in Linz lebten, flüchteten 145 nach Palästina, 92 in die USA, 45 nach England und 23 nach Südamerika. Die in die Tschechoslowakei geflüchteten 39 Männer und Frauen wurden nach dem Einmarsch der Deutschen „kassiert“. Verhaftet wurden auch viele der nach Wien Ausweichenden. Die meisten sind in den Konzentrationslagern der Nazis umgekommen. Einer von ihnen, der Fabrikant und Kunstmäzen Leopold Mostny, den man wegen seiner sozialen Taten zunächst geschont hatte, wurde im Herbst 1942 als Hundertjähriger auf einen Lastwagen geworfen und nach Theresienstadt gebracht, wo er kurz darauf starb. Die Hetze gegen die Juden kannte keine Grenzen. So veröffentlichte der „Österreichische Beobachter“ Photos jüdischer Bürger, wie das des Simon Kreß, dem man unter das entstellte Bild die Worte mitgab: „Heute aber züngelt sein Blick wie der einer giftigen Schlange. Die Maske ist gefallen und die ganze Fremdheit dieser Rasse schaut uns entgegen.“
Und unter den Photos stand die Schlagzeile „Aus ihnen schaut der Teufel heraus“. Für Betroffene war es allein schon schlimm genug, in die Nähe von Juden gerückt zu werden. So inserierte ein Leopold Constantin am 7. April 1938 in der Linzer Tages-Post: „Um Ausstreuungen entgegenzutreten, gebe ich bekannt, dass ich kein Jude bin, ebenso ist es auch keiner meiner Angehörigen. Daher entspricht meine Ehe mit Hildegard Constantin, Gemischtwarenhändlerin in St. Magdalena Nr. 54 den nationalsozialistischen Grundsätzen“.
Natürlich wurde auch die Linzer Synagoge in der Bethlehemstraße in der sogenannten „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 ein Raub der Flammen.
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Nur wenige Juden haben überlebt. Und sehr gering war auch die Zahl der Rückgekehrten nach dem Ende des Krieges. Dagegen befanden sich nach dem Kriegsende viele tausend Juden aus Osteuropa in Linzer Lagern als sogenannte „displaced persons“. Linz erlangte damals als Standort des Zentrums für Jüdische Historische Dokumentation eine besondere Bedeutung unter ihrem Leiter Simon Wiesenthal, dem Franz Dobusch in den neunziger Jahren den Ehrenring der Stadt Linz verlieh. Die Tötung „unwerten Lebens“ wurde nach dem Anschluß auch in Linz und in der Umgebung von Linz praktiziert. In dem als Pflegeanstalt Hartheim gestifteten Starhembergschen Schloß wurde eine „Euthanasieranstalt“, sprich Mordanstalt, eingerichtet. Von der unmenschlichen Maschinerie wurden nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder erfaßt. In den Statistiken der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart wurden unter der Rubrik „Sammeltransporte“ jene Unglücklichen erfaßt, die von der sogenannten „Krankentransportgesellschaft“ nach Hartheim verbracht wurden. Anfang 1945 waren in Niedernhart nur noch 363 Patienten vorhanden, vor dem Krieg waren es bis zu 1.150 Frauen und Männer. Am 7. Mai 2000 spielten die Wiener Philharmoniker auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen unter großer Teilnahme ehemaliger Insassen Beethovens „Neunte“. – Mit der Errichtung des KZ Mauthausen begann man schon am 8. August 1938. 200.000 Menschen wurden während des Krieges in das Mordlager eingeliefert, mehr als 100.000 sind auf gräßliche Weise umgekommen. Mauthausen hatte zahlreiche Nebenlager, von Gusen bis Ebensee, in denen sich die Insassen zu Tode schufteten. In Mauthausen erfolgten die „Hinrichtungen“, sprich Morde, durch Hängen, Vergasen oder durch ein Zu-Tode-Prügeln auf der „Todesstiege“. Ende März 1938 hatte Gauleiter Eigruber in aller Öffentlichkeit berichtet: „Wir Oberösterreicher erhalten aber noch eine andere, besondere Auszeichnung für unsere Leistungen während der Kampfzeit. Nach Oberösterreich kommt das Konzentrationslager für die Volksverräter von ganz Österreich.“
Diese „Auszeichnung“ brennt heute noch und immerdar in unserem Gewissen, dem Gewissen der Nachkommen. Zu den österreichischen „Vaterlandsverrätern“ (wie sie von den Nationalsozialisten bezeichnet wurden) gehörte auch Richard Bernaschek, der Führer des sozialdemokratischen Schutzbundes im Februar 1934, der kurz vor Kriegsende sein Leben lassen mußte. Im Laufe des Krieges kamen viele tausende Russen, Polen, Franzosen, Serben und Spanier nach Mauthausen; viele Linzerinnen und Linzer wußten, daß es dieses KZ gab, aber nicht, was in ihm an Entsetzlichem geschah. In der „Geschichte der Stadt Linz“ ist ein Kapitel mit „Von der Begeisterung zur Ernüchterung“ überschrieben. Mit Fortdauer des Krieges wurde die Haltung der Linzer Bevölkerung gegenüber dem „Tausendjährigen Reich“, das sich trotz aller Siegesparolen dem Ende zuneigte, reservierter. Vereinzelt gab es auch Widerstand, wie durch die Gruppe GB (Gegenbewegung) und das „Freie Österreich“ unter Führung von Richard Bernaschek. Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944
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brach eine neue Verhaftungswelle aus, die auch den in Linz ansässigen Oberstleutnant Robert Bernadis als Vertrauten Stauffenbergs erfaßte. Ab dem Jahr 1944 wurde Oberdonau als Rüstungsgebiet zur „Front“. Die Alliierten griffen mit ihren Bombern vom italienischen Raum aus Ziele wie Bahnanlagen und Rüstungsbetriebe an. In nur neun Monaten erfolgten 22 Luftangriffe. Auch Linz wurde schwer bombardiert. Nach dem letzten Angriff am 25. April 1945 war halb Linz ein Trümmerhaufen. 691 Gebäude waren total, 1.174 schwer, 1.284 mittel und 8.935 leicht beschädigt. 20.000 Personen waren obdachlos. Linz büßte mit 1.679 Toten und vielen tausenden Schwer- und Leichtverletzten. Mit den nach Linz strömenden Flüchtlingen aus dem Osten erhöhte sich die Zahl der Bewohner – in knapp sieben Jahren – von 112.000 auf 194.000. Zunächst sollte die Stadt gegen die anrückenden Amerikaner verteidigt werden. Aber die Durchhalteparolen waren nicht von langer Dauer. Nach einer kurzen Beschießung der Stadt in der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1945 gelang es einer Parlamentariergruppe, den Amerikanern Linz als offene Stadt anzubieten. Am 5. Mai gegen Mittag trafen die ersten Panzer der amerikanischen 11. Division in der Stadtmitte ein. Der Krieg war für Linz zu Ende. Ich habe die „Stunde Null“ dichterisch so festgehalten: „Mai 1945! Ein Falter hebt sich von der Erde mit versengten Flügeln, unsicher, der Sonne zu. die zaghaft wärmt die erstarrte Kruste nass von Blut und Tränen der Überlebenden und Toten, der vielen Toten, die ein dunkles Schicksal grausam stieß hinab. Den Weg sucht er zum Licht, mit klammen Flügeln streicht er über schwelende Feuer, fällt kraftlos, fängt sich, findet einen Fetzen Bläue, spürt eine Brise Wind, lässt Asche unter sich und steigt empor.
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Dies war die Stunde Null – Rauchfahnen überm Land, Ruinen unterm Himmel, In diesen Tagen sprang grüner Zweig aus grauer Asche, schoss weiße Blüte aus schmaler Knospe und Vögel sangen lang vor Tag im Dunkeln schon ihr Lied.“
Die Installierung einer demokratischen Stadtregierung wurde von einigen ehemaligen Linzer Sozialdemokraten schon Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner in die Hand genommen. Der ehemalige Chefredakteur des Tagblattes, Alois Oberhummer, der spätere AK-Präsident Heinrich Kandl, der spätere LandeshauptmannStellvertreter Ludwig Bernaschek und der spätere Linzer Vizebürgermeister Albin Gebhardt einigten sich auf Ernst Koref als neuen Bürgermeister der zerbombten und leidgeprüften Stadt. Und die Amerikaner setzten, nach Einholung von Auskünften, Koref als provisorischen Bürgermeister ein. Damit begann ein neues hoffnungsvolles Kapitel in der Geschichte der Stadt. In Linz gab es während der NS-Zeit drei Oberbürgermeister. Dem ersten, Sepp Wolkerstorfer, folgte Leo Sturma, ein Jurist, der 1944 von Franz Langoth abgelöst wurde, einem Mann, der schon in der Ersten Republik als Abgeordneter und Landesrat des Deutschnationalen Lagers mitgemischt hatte. Langoth erreichte bei den Nationalsozialisten die führende Rolle der NS Volkswohlfahrt in Österreich und machte auch in der SS als Brigadeführer Karriere. Mit dem kampflosen Einmarsch der Amerikaner bildete sich die Legende, Langoth habe durch sein mutiges Eingreifen die Stadt vor der Zerstörung bewahrt. An dieser Legende wurde auch nach dem 1953 erfolgten Tod Langoths weitergebastelt. Langoth galt schließlich als „guter Nazi“. Die Interventionen der Freiheitlichen Partei führten schließlich dazu, daß der Stadtsenat im Mai 1973 beschloß, ein Teilstück der Kaiserstraße nach Langoth zu benennen. Linz hatte, ohne daß es die Bevölkerung geahnt hätte, einen großen braunen Flecken bekommen, der erst als solcher schlüssig erkannt wurde, als Dokumente auftauchten, die Langoth als Beisitzer bei vielen Todesprozessen der Deutschen Volksgerichtshöfe auswiesen. Die Löschung des Namens Langothstraße wurde nach langwierigen Diskussionen im März 1986 vollzogen. Der Linzer Historiker Walter Schuster hat in seinem Buch Deutschnational – Nationalsozialistisch – Entnazifiziert. Franz Langoth. Eine NS-Laufbahn dankenswerterweise
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das falsche Geschichtsbild um Franz Langoth zurechtgerückt und dessen wahres Gesicht entlarvt. Die Linzer Historiker Friedrich Mayrhofer und Willibald Katzinger haben in ihrer Geschichte der Stadt Linz die Zeit des Wiederaufbaues der Stadt mit dem Satz „Vom Chaos zum Wunder“ gewürdigt. Die beiden Autoren schildern die heute kaum vorstellbaren Verhältnisse im Leben der zweigeteilten Stadt in überzeugender Weise. Durch Linz lief mit der Donau auch die Grenze zwischen der russischen Besatzungsmacht im Norden und der amerikanischen im Süden. Heute noch denke ich mit großer Achtung an die Leistungen Ernst Korefs und des in Urfahr eingesetzten Bürgermeisters Ferdinand Markl zurück. Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages im Mai 1955 wurde aus der geteilten Stadt wieder das Linz, das wir kennen und lieben. In dem nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert währenden historischen Zeitabschnitt haben die Linzerinnen und Linzer unter großen persönlichen Opfern Linz zu einer weltoffenen Industrie- und Kulturstadt gemacht. Die leidvolle Geschichte der Stadt in den sieben Jahren nationalsozialistischer Herrschaft mahnt uns, allen Anfängen einer die Demokratie und Menschlichkeit gefährdenden Politik zu wehren, die Augen offen zu halten und über die Stadtgrenzen hinweg allen Menschen, die guten Willens sind, die Hand zu reichen.
Literatur: Fischer, Michael W., Der Nationalsozialismus, Skriptum Politikwissenschaft, Universität Salzburg. Mayrhofer, Fritz, und Willibald Katzinger, Geschichte der Stadt Linz, Linz 1990. Mayrhofer, Fritz, und Walter Schuster, Bilder des Nationalsozialismus in Linz, Linz 1997. Schanovsky, Hugo, Gast im leeren Haus, Linz 1967. Schanovsky, Hugo, Kinderschuh – Soldatenstiefel, Grünbach 2004. Schuster, Walter, Deutschnational – Nationalsozialistisch – Entnazifiziert. Franz Langoth. Eine NS-Laufbahn, Linz 1997. Shirer, William L., Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, Köln 1961.
THOMAS PHLEPS (Gießen)
Zwölftöniges Theater – „Wiener Schüler“ und 1 Anverwandte in NS-Deutschland Letzte Klarheit „In der abstrakten Vorstellung des universalen Unrechts geht jede konkrete Verantwortung unter.“
1933 habe in Deutschland, so berichtete Otto Schumann in der „verbesserten Auflage“ seines Opernbuches2, „die Zeit einer staatlich gelenkten Opernpolitik“ begonnen – „man besinnt sich auf Werke der älteren Generation“ (und jungen „Pgg.“3 wie Paul Graener und Georg Vollerthun) „und schafft Raum für den Nachwuchs“. Die angebliche musikalische Raumnot – wie später die geographische – behob man, indem „Zersetzungserscheinungen ausgemerzt“ wurden: „die verstiegene Sinnlichkeit eines Franz Schreker ebenso wie die Gedankenverkrampfung eines Arnold Schönberg, die schnoddrige Anmaßlichkeit eines Kurt Weill wie die kalte Geschäftemacherei eines Ernst Krenek“.
All diese „Widerwärtigkeiten“ summierten sich – für Schumann – zu einer „von Juden und jüdisch Versippten gepflegten Afterkunst“, im ideologischen Tagwerk der musikbeflissenen NS-Skribenten indes wurde die rassistische Komponente Judentum meist mit dem nazistischen Zentralbegriff Bolschewismus verkoppelt und – ohne auch nur im Entferntesten mit konkreten Beweisführungen oder gar musikalisch-analytisch nachvollziehbaren Maßstäben aufwarten zu können bzw. wollen – mit dem Kampfbegriff Atonalität zu dem pejorativen Assoziationsfeld „Kunstbolschewismus“ zusammengezogen, zu einem eliminatorischen Konstrukt letztendlich, in dem sich Antisemitismus, -kommunismus und -moderne zu einem
1
2 3
Der anläßlich des Wiener Symposions 1998 gehaltene Vortrag wurde erstmals – stark erweitert – in der von Hanns-Werner Heister herausgegebenen zweibändigen Dokumentation „Entartete Musik“ 1938 – Weimar und die Ambivalenz, Bd. 1, Saarbrücken 2001, S. 179–215, veröffentlicht, und für die vorliegende Publikation erneut durchgesehen und aktualisiert. Die Kapitelüberschriften sind Theodor W. Adornos kleinen moralischen Reflexionen aus dem beschädigten Leben entlehnt (Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1971), die jeweils nachfolgenden Motti ihrem derart überschriebenen Paragraphen. In beiden Fällen nicht intendiert ist eine über den Wortlaut hinausweisende Bedeutung. Otto Schumann, Meyers Opernbuch. Einführung in die Wort- und Tonkunst unserer Spielplanopern, 4., vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1938, S. 18. Parteigenossen.
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terminologischen Chaos verknäuelten.4 Daß all diese faschistischen Unterstellungen, Diskriminierungen und Diffamierungen durchaus nicht zur Ausgrenzung des Diffamierten führen mußten, sondern Atonales und Zwölftöniges – hier sogar mit Berufung auf die inkriminierte Vokabel – im NS-Musikbetrieb geduldet und mitunter gefördert wurden, gehört nicht etwa zur Rückseite des Hakenkreuzes, sondern scheint als probates Mittel des Terrorregimes systemimmanent. Bevor indes am Verhältnis von „gelenkter Opernpolitik“ und der bekanntesten Schönbergschen „Gedankenverkrampfung“, der Zwölftontechnik, zu einem doch differenzierteren Blick auf den nazistischen Umgang mit moderner Musik angeregt werden soll, sei eine auf den Schülerkreis der – mehrfach dimensionierten – Kristallisationsfigur Arnold Schönberg beschränkte Situationsbeschreibung gegeben. Lücken „Der Gedanke wartet darauf, daß eines Tages die Erinnerung ans Versäumte ihn aufweckt und ihn in die Lehre verwandelt.“
Ab Mitte Januar 1926 unterrichtete Arnold Schönberg als „Verwalter einer Meisterschule für musikalische Komposition“ an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin – „ausgerechnet jetzt, da die deutsche Musik sich langsam zu erholen beginnt, wagt man diesem Mann die höchste staatliche Approbation für seine Irrlehre zu geben“,
schrieb nach Schönbergs Berufung am 28. August 1925 Alfred Heuß5, seines Zeichens Herausgeber der Zeitschrift für Musik. Bevor diese „Kraftprobe zwischen Deutschtum und – nun heißt es offen werden – spezifisch jüdischem Musikgeist“
mit Schönbergs Rücktrittserklärung am 20. März 1933 zugunsten des – wie Heuß als guter deutscher Präfaschist die aufkommende Dämmerung visionierte – „Gedeihens der deutschen Musik“ entschieden wurde, hatten dieser Berliner Dependance der „Wiener Schule“ im Verlauf von siebeneinhalb Jahren nachweislich
4
5
Zur nazistischen Begriffsbildung bspw.: „Ich bekenne mich [...] zu der Anschauung, daß die Atonalität als Ergebnis der Zerstörung der Tonalität Entartung und Kunstbolschewismus bedeutet. Da die Atonalität zudem ihre Grundlage in der Harmonielehre des Juden Arnold Schönberg hat, so erkläre ich sie für das Produkt jüdischen Geistes. Wer von ihm ißt, stirbt daran“. Hans Severus Ziegler, Entartete Musik. Eine Abrechnung, Düsseldorf 1938, S. 24. Vgl. zu diesem Komplex vor allem Werner Schmidt-Faber, Atonalität im Dritten Reich: Sündenbock oder subversive Gefahr?, in: Herausforderung Schönberg. Was die Musik des Jahrhunderts veränderte, hrsg. von Ulrich Dibelius, München 1974, S. 110–136. Alfred Heuß, Arnold Schönberg – Preußischer Kompositionslehrer, in: Zeitschrift für Musik 92 (1925), H. 10, S. 583–585, hier S. 584.
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Zwölftöniges Theater
24 Schüler angehört. Über den von Stuckenschmidt6 weitergereichten 25. Schüler liegen außer der offiziellen Meldung Schönbergs an die Preußische Akademie vom 18. September 1932, er habe „Herrn Fritz Reich, Studienassessor aus Hannover“ in seine Meisterklasse aufgenommen, und einem Studienbeihilfebescheid der Akademie vom 13. April 1933 – dreieinhalb Wochen also nach Schönbergs Rücktrittserklärung – keinerlei Informationen vor.7 Ein Überblick: Berliner Schüler 1 Winfried Zillig (1. 4. 1905 – 18. 12. 1963)
2 Walter Goehr
Unterrichtszeitraum Nachfolgend bzw. 1933 19.01.1926 – Frühjahr 1928 (NS)Deutschland seit Ende 1925 bei Schönberg
26.01.1926 – WS 1927/28
1933 Emigration nach England
01.03.1926 – SoS 1928
(NS)Deutschland (1937 gest.)
05. 03. 1926 – 1927
1927 Rückkehr in die USA
16. 03. 1926 – Ende 1928
1929 Rückkehr nach Spanien
(28. 5. 1903 – 4. 12. 1960)
3 Walter Gronostay (29. 7. 1906 – 10. 10. 1937)
4 Adolph Weiss (12. 9. 1891 – 20. 2. 1971)
5 Roberto Gerhard (25. 9. 1896 – 5. 1. 1970)
6 Josef Zmigrod (Allan Gray)
seit 1923 bei Schönberg
21. 03. 1926 – 1928
1933 Emigration nach Paris
13. 12. 1926 – SoS 1927
1933 Rückkehr nach Griechenland
8 Miroslav Spiller
13. 12. 1926 – SoS 1927
1927 zunächst in die Schweiz
9 Leo Weiss
13. 12. 1926 – SoS 1927
1927 in die Schweiz (1928 gest.)
10 Johannes E. Moenck
16. 12. 1926 – WS 1927/28
(NS)Deutschland, 1937–40 inhaftiert
11 Max Walter
16. 12. 1926 – WS 1927/28
(NS)Deutschland
12 Marc Blitzstein
15. 02. 1927 – Juni 1927
1927 Rückkehr in die USA
13 Hansjörg Dammert
27. 10. 1927 – WS 1929/30
1933 KZ, dann Emigration nach Paris
(23. 2. 1902 – 10. 9. 1973)
7 Charilaos Perpessa (10. 5. 1907 – 19. 10. 1995) (19. 12. 1906 – 30. 11. 1982) (16. 3. 1905 – 1928) (28. 3. 1902 – 24. 5. 1960) (1. 4. 1899 – 1946) (2. 3. 1905 – 22. 1. 1964) (4. 3. 1910 – ?)
14 Alfred Keller
(zunächst „provisorisch“) (zunächst „provisorisch“) (zunächst „probeweise“) (zunächst „probeweise“)
SoS 1928 u. ab SoS 1929 beurlaubt
27. 10. 1927 – SoS 1930
1930 Rückkehr in die Schweiz
27. 10. 1927 – WS 1932/33
(NS)Deutschland
08. 11. 1927 – SoS 1932
1933 Rückkehr nach Griechenland
(5. 1. 1907 – 14. 6. 1987)
15 Peter Schacht (30. 7. 1901 – 25. 1. 1945)
16 Nikos Skalkottas (8. 3. 1904 – 20. 9. 1949)
17 Norbert von Hannenheim (15. 5. 1898 – 1944/45)
18 Natalie Prawossudowitsch
WS 1930/31 beurlaubt
SoS 1929 – WS 1932/33
(NS)Deutschland
SoS 1932 abwesend
24.04.1929 – SoS 1931
Mai 1931 nach Meran
(14. 8. 1899 – 1. 9. 1988)
6
7
Hans Heinz Stuckenschmidt, Schönbergs Berliner Jahre 1926–1933, in: Arnold Schönberg. Gedenkausstellung 1974, Redaktion Ernst Hilmar, Wien 1974, S. 43, und ders., Schönberg. Leben, Umwelt, Werk. München– Mainz 1989, S. 494. Vgl. Peter Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler. Berlin 1925–1933, Wien 1998, S. 327.
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19 Helmut Rothweiler
18. 11. 1929 – WS 1929/30
(NS)Deutschland
WS 1929/30 – 1931
(NS)Deutschland
(10. 6. 1906 – 2. 6. 1990)
20 Fried Walter (19. 12. 1907 – 8. 4. 1996)
21 Rudolf Goehr
WS 1930/31 beurlaubt
SoS 1930 – WS 1932/33
1933 Emigration nach Paris
18. 06. 1930 – SoS 1931
1933 Rückkehr in die Schweiz
27. 04. 1931 – WS 1932/33
(25. 12. 1906 – 1981)
22 Erich Schmid (1. 1. 1907–17. 12. 2000)
23 Bernd Bergel 24 Karl Alfred Deutsch
SoS 1932 – WS 1932/33
1933 Emigration nach Paris, 1934 Rückkehr, 1938 Emigration nach Palästina 1933 Emigration nach Paris (?)
25 Fritz Reich
18. 09. 1932 – ?
?
(24. 11. 1909 – 2. 3. 1967) (5. 6. 1903 – ?)
Beiläufig angemerkt sei zu den – hier nur grob ermittelten – Unterrichtszeiten, daß Schönberg ab 1928 nicht mehr regelmäßig unterrichtete und der Assistent Josef Rufer immer häufiger den Meister vertreten mußte.8 Abgesehen von den Konzertreisen fiel sein Unterricht gesundheitsbedingt im WS 1928/29 vollständig, im WS 1929/30 bis auf den ersten Monat und im WS 1930/31 im ersten Monat aus. Seine einjährige Abwesenheit von Mai 1931 bis Anfang Juni 1932 schien – zumindest gegen Ende – nicht mehr allein der Genesung verpflichtet, denn Schönberg begann nach Geldquellen Ausschau zu halten, damit er – so in einem Brief vom 24. Mai 1932 – „nicht zu den Hakenkreuzlern und Pogromisten nach Berlin zurück muß“9. Auf Druck der Akademieverwaltung, die mit Gehaltssperre drohte, mußte er freilich. Das Nachfolgende ist bekannt: Am 1. März 1933 verließ Schönberg aus Protest gegen Max von Schillings’ rassistische Schmährede die Akademiesitzung und teilte am 20. März seinen Rücktritt mit. Die Berliner Dependance war geschlossen, und Schönberg emigrierte am 17. Mai nach Paris, wo ihm wenig später die von eben jenem NS-gläubigen Säuberer der Akademie, Schillings, unterschriebene Aufkündigung seines Beschäftigungsverhältnisses zugestellt wurde. Bestandsaufnahme 193310: Von den zehn ausländischen Berliner Meisterschülern waren sieben – Blitzstein, Gerhard, Keller, Prawossudowitsch, Spiller, Adolph 8
Obwohl als Assistent durchgängig für die „handwerkliche“ Ausbildung verantwortlich, wird auch Rufer nicht selten als Schüler der Meisterklasse angeführt. Vgl. bspw. Stuckenschmidt, Schönberg. Leben, Umwelt, Werk (Anm. 6), S. 494; Ludwig Holtmeier, Vergessen, Verdrängen und die Nazimoderne: Arnold Schönbergs Berliner Schule, in: Musik & Ästhetik 2 (1998), H. 5, S. 5–25, hier S. 16. 9 Zit. nach Stuckenschmidt, Schönberg. Leben, Umwelt, Werk (Anm. 6), S. 319. 10 Auf der Homepage des Wiener Arnold Schönberg Centers sind weitere acht Personen als Schüler des dritten Berlin-Aufenthalts von Schönberg angeführt (vgl. http://www.schoenberg.at/1_as/schueler/ berlin/schueler_berlin.htm; Stand Dezember 2007) – was in der Summe wunderbarerweise die Zahl (19)33 aufscheinen ließe: 26
Henry Cowell
vor 1932
USA
27
Edward Dent
?
England
28
Joachim-Carl Friedrich
1928 – 1933
(NS)Deutschland
(11. 3. 1897 – 10. 12. 1965) (16. 7. 1876 – 22. 8. 1957) (1904 – 1987)
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Weiss und Leo Weiss – bereits vor 1933 aus Deutschland weggegangen, die übrigen drei – Perpessa, Schmid und Skalkottas – kehrten 1933 in ihr Heimatland zurück. Von den vierzehn deutschen Schülern (ich beziehe hier Norbert von Hannenheim ein, der als Siebenbürger in der Nazi-Nomenklatur unter „Auslandsdeutscher“ geführt wurde, auch nach 1933 freilich Rumäne blieb) wurden nach der Machtübergabe fünf – Bergel, Deutsch, die Brüder Rudolf und Walter Goehr und Zmigrod/Gray (in Polen zwar geboren, aber 1910 nach Berlin übersiedelt) – aufgrund rassistischer Verfolgung ins Exil gezwungen, einem – Dammert –, zunächst als „Politischer“ inhaftiert, gelang 1933 die Flucht aus einem KZ in die Schweiz, später nach Paris. Sein weiterer Lebensweg endete mehr als tragisch.11 Ins Exil gezwungen wurden auch in Deutschland tätige Schönbergschüler der 2. Wiener Generation, bspw. – aus politischen Gründen – Karl Rankl und Hanns Eisler, aber auch Josef Trauneck, wie Eisler nach der rassistischen Nazi-Arithmetik sogenannter „Halbjude“12. Ins Exil gezwungen wurden auch Enkelschüler wie Stefan Wolpe, der im Herbst 1934 kurz, aber kompositorisch folgenreich bei Anton Webern Unterricht nahm, Theodor W. Adorno, 1925 Schüler Alban Bergs in Wien, und Peter Gradenwitz, im vornazistischen Berlin Privatschüler von Rufer und Eisler. Vor kurzem erst erschien sein – auch durch persönliche Bekanntschaften
11
12
29
Gertrud Fuhrmann
Sept. 1927 – ?
?
30
Friedrich Leinert
1931 – 1932
(NS)Deutschland
31
Walter May
1. 1. 1927 – 31. 12. 1929
?
32
Sulho Ranta
1930
1930 Rückkehr nach Finnland
33
Hans Heinz Stuckenschmidt
1931 – 1933
(NS)Deutschland
(1869 – ?)
(10. 5. 1908 – 6. 5. 1975)
(15. 8. 1901 – 5. 5. 1960) (1. 11. 1901 – 15. 8. 1988)
(Hospitantin)
(Privatschüler) (zunächst „probeweise“)
(Hospitant)
Allerdings sind die meisten der Aufgeführten für die nachfolgenden Ausführungen nicht relevant: 1. Henry Cowell, Edward Dent (von dem keine konkreten Studienzeiten ermittelt sind) und Sulho Ranta kehrten bereits vor 1933 in ihre Heimatländer zurück. 2. Die Hospitantin Gertrud Fuhrmann und der Hospitant Hans Heinz Stuckenschmidt waren allein zu Theorieveranstaltungen zugelassen. 3. Joachim-Carl Friedrich, ein bildender Künstler, scheint aus der immerhin sechsjährigen Unterrichtszeit keine kompositorischen Konsequenzen gezogen zu haben. Er arbeitete – laut Website – als Anatomielehrer an der TU Berlin. Übrig bleiben also allein Walter May, über den leider überhaupt nichts bekannt ist, und Friedrich Leinert, auf den im folgenden aus systematischen Gründen – er ist der einzige mit dem Status „Privatschüler“ – verzichtet wird. Werner Herbers, der Leiter der Amsterdamer Ebony Band, konnte diesen Lebensweg – wie er mir berichtete – in akribischer Spurensuche weitgehend rekonstruieren – ein Leben voller politischer und privater Enttäuschungen und existentieller Not, endend in Drogensucht und elenden Betrügereien. Vgl. Károly Csipák, Allgemeine Emigrationsbedingungen – am Beispiel Joseph Trauneck, in: Beiträge ’90. Österreichische Musiker im Exil, hrsg. von der Österreichischen Gesellschaft für Musik, Redaktion Monica Wildauer, Kassel–Basel–London o. J. [1990], S. 119–123.
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gestütztes – detail- und faktenreiches Panorama von 24 Lebensläufen bzw. – soweit ermittelbar – kompositorischen Werdegängen der Berliner Schönbergschüler.13 Antithese „Der Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt.“
Von diesen Berliner Schülern blieben 1933 acht in NS-Deutschland, ein Drittel immerhin und zudem ein äußerst heterogenes Grüppchen, das – bis auf die unmittelbare Täterschaft – unterschiedliche Facetten der Lebens- und Verhaltensweisen unterm Hakenkreuz widerspiegelt:14 Walter Gronostay konnte als geschätzter und erfolgreicher Filmmusikkomponist bis zu seinem frühen Tod – er starb 31jährig am 10. Oktober 1937 in Berlin – seine als „Jüdin“ gefährdete Ehefrau vor dem Zugriff der Nazis bewahren und seinem in gleicher Weise gefährdeten, mit Berufsverbot belegten Freund Bernd Bergel Aufträge für Rundfunk- und Filmmusiken verschaffen. Aus diesen Gründen wohl ließ sich Gronostay auf manches ein: Unter seinen elf, zwischen 1933 und 1937 geschriebenen Spielfilmmusiken produzierte er eine „vorzügliche musikalische Un13
Das Nachfolgende ist an den langjährigen Forschungen von Peter Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler (Anm. 7), orientiert, sucht aber – zumal bei den umfangreicheren Beschreibungen – weiteres Material heranzuziehen. Um auf der Täterseite das Ausmaß bzw. die Maßlosigkeit der rassistischen Verfolgung von Schönbergschülern zu dokumentieren, folge ein Blick in das von Theo Stengel und Herbert Gerigk in die NS-Welt gesetzte Lexikon der Juden in der Musik (Berlin 1940, ²1941, ³1941), von den Verfassern zum wissenschaftlichen „Nachschlagewerk“ nach erfolgter „Reinigung unseres Kulturund damit auch unseres Musiklebens von allen jüdischen Elementen“ (ebenda, S. 6) erklärt. Schönberg selbst ist mit einem mehrseitigen Hetzartikel bedacht, seine jüdischen Schüler, die bis auf Viktor Ullmann, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde, ins Exil flüchteten, sind meist kommentarlos auf ihre Geburtsdaten und ihren Berufstand reduziert: – Erste Wiener Generation: Heinrich Jalowetz, Erwin Stein, Paul Stefan, Egon Wellesz. – Erste Berliner Generation: Alexander Jemnitz, Fritz Zweig (u. a. nicht verzeichnet: Eduard Steuermann). – Zweite Wiener Generation: Hanns Eisler „(H)“ [= „Halbjude“], Rudolf Kolisch „(H)“, Paul A. Pisk, Kurt Roger, Walter Seligmann, Rudolf Serkin (u. a. nicht verzeichnet: Max Deutsch, Josef Trauneck, Viktor Ullmann). – Zweite Berliner Generation: Marc Blitzstein, Bernd Bergel, Josef Zmigrod / Allan Gray (u. a. nicht verzeichnet: Karl Alfred Deutsch, Rudolf und Walter Goehr). Enkelschüler: Friedrich Deutsch (ab 1936 Frederick Dorian), Peter Gradenwitz, Bernard Grün (später Grun), Otto Jokl, Ernst Hermann Meyer, Willi Reich, Theodor Wiesengrund-Adorno „(H)“: „einer der betriebsamsten Wortführer der jüdischen Neutöner“; ebenda, S. 292 (u. a. nicht verzeichnet: Stefan Wolpe). 14 Übrigens blieb auch Josef Rufer, Schönbergs Assistent der Jahre 1926–1933, in Berlin, wo er zuletzt (1938–40) als Musikkritiker der Berliner Morgenpost tätig war, bevor er zum Kriegsdienst eingezogen wurde.
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termalung“15 zu Friesennot (1935), einem Film der ersten „Blubo“(Blut und Boden)Welle. Außerdem steuerte er – posthum – Musik zu Leni Riefenstahls Olympia-Film (1938) bei. Peter Schacht hingegen, der noch im Juli 1933 gegen den ausdrücklichen Wunsch des mit „Pgg.“ wie Paul Graener oder Max Trapp neuformierten Vorstandes des Allgemeinen Deutschen Tonkünstlervereins die Aufführung seines Streichquartetts beim 63. Deutschen Tonkünstlerfest in Dortmund durchsetzen konnte, wurde schnell als „untragbarer Neutöner“ aus dem NS-Musikbetrieb ausgeschaltet. Nach gelegentlichen Aufführungen im angrenzenden Ausland wurde 1937 der vom NSKritiker Ernst August Schneider nach der Dortmunder Aufführung bereits erhobenen Forderung, „derart konstruktiv erklügelten Äußerungen vorgestrigen Musizierwillens [...] eine Vorführung bei repräsentativen Musikfesten in Zukunft“
zu verwehren,16 auch auf internationalem Terrain entsprochen: Schacht mußte unter massivem Druck der Reichsmusikkammer seine bereits im Programm des Pariser IGNM-Festes annoncierten Zwei Stücke für Klarinette und Klavier zurückziehen.17 In der Folge unternahm er den Versuch, Orchestermusik „im alten Styl“ zu komponieren, und ging schließlich zu tonalen Ballett- und Tanzmusiken über. Im Mai 1941 wurde Schacht zum Kriegsdienst eingezogen. Der Siebenbürger Norbert von Hannenheim, vor 1933 bereits mit dem Mendelssohn-Preis geehrt und relativ viel gespielt, konnte weiterhin einiges unterbringen – meist unter dem Schutzschild „Auslandsdeutscher“ (so auch – und im Gegensatz zu Schacht – beim Pariser IGNM-Fest 1937) –, veröffentlichen aber konnte er nur und im Selbstverlag Konzerte und Suiten „im alten Stil“. Ab 1936 wandte er sich aus finanzieller Not und mit einigem Erfolg dem volksmusikalischen Sektor zu, schrieb Divertimenti für Blechbläser, Bearbeitungen auslandsdeutscher Volkslieder (für Gesang, 2 Violinen, Klarinette und Violoncello), und rasch wurde dem einstigen „musikalische[n] Revolutionär und Bürgerschreck“ im offiziellen Organ des Reichsverbandes für Volksmusik in der Reichsmusikkammer „ein enges Verhältnis zur deutschen Volksmusik“ bescheinigt.18 In derselben Zeitschrift veröffentlichte Hannenheim eine Reihe von Aufsätzen, in denen er – fern des auf diesem Gebiet üblichen völkischen Gefasels – über handwerkliche Probleme schrieb und vom Schönbergschen „Tiefsinn des Handwerks“ zu retten versuchte, was zu retten 15 16 17
18
Zit. nach Joseph Wulf, Theater und Film im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main–Berlin– Wien 1983, S. 375. Zit. nach Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler (Anm. 7), S. 269. Nach Ludwig Holtmeier, Peter Schacht und das Projekt der „Inneren Eimigration“. Fußnoten zu einer Biographie, in: Arnold Schönbergs „Berliner Schule“, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (=Musik-Konzepte 117/118), München 2002, S. 84–102, hier S. 100) allerdings hat Schacht selbst seine Klarinettenstücke zurückgezogen, da ihm „irgendwann [...] bewußt geworden [sei], daß er dabei war, seine neue Karriere zu gefährden“ – eine Karriere, die keine wurde, für die er aber „seine ‚tonale Wende‘ bereits 1936 vollzogen“ hatte. Kurt Zimmerreimer, Drei Komponisten über Volksmusik [Hermann Ambrosius, Norbert von Hannenheim, Ernst Lothar von Knorr], in: Die Volksmusik 1 (1936), S. 62–72, hier S. 62.
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war.19 Viel schien es ihm, dem nicht erst seit 1933 psychisch Labilen,20 nicht gewesen zu sein. Seinem Landsmann Wolf Freiherr von Aichelburg jedenfalls meldete Hannenheim, er habe „das genaue musikalische Äquivalent zur Geistlosigkeit anmaßenden Tyrannentums gefunden [...]: Eine von möglichst vielen Trompeten – oder auch Klavier, da klingt es noch gemeiner – angestimmte reine C-Dur-Fanfare, wobei im Baß, punctus contra punctum, der C-Dur-Akkord in enger Lage die Fanfare begleitet. Sie lautet g-c-e g, g-e, g, g-e c-e-g. Das ist die Formel für alles, was heute um uns geschieht“21.
Max Walter wiederum hielt sich, nachdem ihm 1934 wegen politischer Unzuverlässigkeit (er war nach kurzer Mitgliedschaft aus der Reichsmusikkammer ausgetreten) der bereits zugesprochene Mozart-Preis entzogen worden war, als Organist an der „Mater dolorosa“ in Berlin-Lankwitz22 und Privatmusiklehrer über Wasser. 1943 wurde er zum Kriegsdienst einberufen. Max Walter starb 1946 in einem Kriegsgefangenenlager, Norbert von Hannenheim Ende September 1945 in der Psychiatrischen Anstalt Obrawalde bei Meseritz,23 und Peter Schacht wurde Ende Januar 1945 in der Nähe von Posen von einer Granate getötet.
19 20 21
22 23
Vgl. bspw. Norbert von Hannenheim, Instrumentalbegleitungen auslandsdeutscher Volkslieder, in: ebenda S. 283–286. Vgl. Erich Schmidt, Ein Jahr bei Arnold Schönberg in Berlin, in: Melos 41 (1974), S. 190–203, hier S. 203, und Dieter Acker, Norbert von Hannenheim, in: Melos 36 (1969), S. 6–8, hier S. 8. Zit. nach Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler (Anm. 7), S. 149. Hannenheims Werke sind weitgehend verschollen, wurden wohl auch z. T. von ihm selbst vernichtet, vgl. Acker, Norbert von Hannenheim (Anm. 20), S. 9. Veröffentlichen konnte er nach 1933 allein zwei seiner volksmusikalischen Werke: Drittes Volksmusik-Divertimento für Blechbläser (Leipzig: Litolff 1937) und Was helfen mir tausend Dukaten. Volksliedvariationen für kleines Orchester (Köln: Tonger 1940). Seine Kompositionen „im alten Stil“ blieben ungedruckt, wurden aber z. T. von ihm im Selbstverlag als handschriftliches Leihmaterial angeboten: 1. Konzert für Orchester in einem Satz, 1. Suite im alten Stil für kleines Orchester, Suite im alten Stil für (reines) Streichorchester. Vgl. Deutscher Musiker-Kalender, hrsg. im Auftrage der Reichsmusikkammer, Schriftleitung Reinhold Scharnke, 65. Jg., 2 Bde., Berlin-Alensee 1943, hier Bd. 1, S. 80. In seinem letzten, posthum erschienenen Aufsatz über den Komponisten konnte Peter Gradenwitz (Ein Fall von „Genie und Wahnsinn“. Glanz und Elend des Norbert von Hannenheim. Berichtigung verbreiteter Sekundärquellen, in: Die Musikforschung 54 (2001), H. 4, S. 438–444, hier S. 443) nachweisen, daß Hannenheim nicht – wie bislang angenommen – in den Jahren 1944/45 durch einen Bombenangriff in Berlin zu Tode kam, sondern am 6. Juli 1944 als „gemeingefährlich geisteskrank“ in die Wittenauer Heilstätten eingeliefert und Ende August in die „Heil- und Pflegeanstalt“ Meseritz-Obrawalde verbracht wurde. Während Gradenwitz vermutete, daß Hannenheim anschließend dort ebenso umgebracht worden war wie die 3814 von 3950 im Jahre 1944 in Obrawalde eingelieferten Menschen, konnte Herbert Henck (Norbert von Hannenheims Todestag. Neue Erkenntnisse über das Schicksal des siebenbürgischen Komponisten in Meseritz-Obrawalde, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2003, hrsg. von Jürgen Wetzel, Berlin 2003, S. 109–135) in einer wahrhaft detektivischen tour de force ermitteln, daß Hannenheim nach seiner Überführung nach Obrawalde am 30. August 1944 der Ermordung entging, aber auch nach der Befreiung durch die Rote Armee am 29. Januar 1945 und der Übergabe in polnische Verwaltung im Juli 1945 in der Anstalt verblieb und „am 29. September 1945 im Alter von 47 Jahren in Meseritz-Obrawalde verstarb“. Ebenda S. 126.
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Von den auf die Hälfte dezimierten, überlebenden Berliner Schülern war Helmut Rothweiler aus finanziellen Gründen nur kurz bei Schönberg und später kaum kompositorisch tätig. Er wurde 1933 Organist und Kantor an der Hospitalkirche in Stuttgart, ein Amt, das der spätere Kirchenmusikdirektor auch nach 1945 an anderer Stelle weiter ausübte. Während des Krieges war er Singeleiter bei der Marine, bei deren unchristlichen Seefahrten auch ebensolche Lieder zu erklingen hatten. Fried Walter, ebenfalls nur kurz bei Schönberg – allerdings nicht aus finanziellen, sondern musikalischen Gründen –, wurde 1933 freier Mitarbeiter am Leipziger Rundfunk, ging mit dem Frauen-Quartett „Die Allotrias“ auf Reisen, reüssierte schließlich Ende der 1930er Jahre als Opernkomponist (Königin Elisabeth, UA am 24. November 1939 in Stockholm, ab 16. März 1940 in Hamburg, Andreas Wolfius, UA am 19. Dezember 1940 an der Berliner Staatsoper). Nach dem Krieg war Walter über 25 Jahre beim RIAS Berlin und fühlte sich – da seine kompositorische Anerkennung trotz großer Produktivität (sein Werkverzeichnis umfaßt über 500 Kompositionen und nahezu 250 Bearbeitungen) ausblieb – als „NS-Komponist“ verfemt.24 Von Schönberg hatte er sich bereits in seinem zweiten und letzten Studiensemester (Sommersemester 1930) abgewandt – angeblich, da er „merkte, daß Schönberg aus dem Kopf kein Motiv von sich nachpfeifen konnte“25.
In späteren Jahren begann er fast manisch schon, Belegstellen gegen die neue, sprich atonale Musik zu sammeln. Das umfangreiche Konvolut – von Straussens „Schönberg sollte lieber Straße fegen“ aufwärts – liegt u. a. bei seinem Hausverlag Bote & Bock in Berlin. Als einziger einen anderen Weg ging Johannes E. Moenck. Seit 1928 Mitglied der KPD, schloß er sich wie Eisler nach seiner Lehrzeit der kommunistisch orientierten Arbeitermusikbewegung an und arbeitete als Musiker und Komponist bei der Berliner Agitproptruppe „Sturmtrupp Alarm“ mit.26 Ab 1933 war Moenck im antifaschi24
25 26
Kurz nach Kriegsende übrigens nicht zu Unrecht. Wie Fried Walters bzw. – mit bürgerlichem Namen – Walter Emil Schmidts Entnazifizierungsunterlagen belegen, stand er Mitte 1946 – wahrscheinlich aufgrund einer Denunziation – „im amerikanischen Sektor auf der schwarzen Liste und [hatte] Auftrittsverbot“ (Brief Walters an die Entnazifizierungs-Kommission Berlin-W vom 24. August 1946). Walter konnte seine „völlig unpolitische Einstellung“ durch mehrere Erklärungen (u. a. von seinem bevorzugten Librettisten Christof Schulz-Gellen) nachweisen. Funktionsposten hatte er während der Nazi-Zeit nicht innegehabt, war auch nie „Pg.“ (vgl. Akten im Bundesarchiv Berlin). Zit. nach Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler (Anm. 7), S. 149. „Sturmtrupp Alarm“ rekrutierte sich vorwiegend aus Mitgliedern der „Roten Raketen“, die – als Werbetruppe des Rotfrontkämpferbundes – im Zuge des „Blutmai“ 1929 verboten worden war. Mitte Mai 1930 wurde der „Sturmtrupp Alarm“ von der Roten Hilfe übernommen und durfte später – als Belohnung für engagierte Mitgliederwerbung – durch die Sowjetunion reisen. Die Truppe, in der Moenck den früheren musikalischen Leiter Emil Futran ersetzte (der als sozialdemokratischer Abweichler bis in die nach 1945 publizierten Liederbücher hinein zur persona non grata erklärt wurde), spielte bis Anfang 1933. Zwei Liedkompositionen Moencks – Proletarische Selbstkritik (1929) und Ja, bei allen Wahlen (1930) – finden sich in der Sammlung Lieder der Agitprop-Truppen vor 1945, zusammengestellt von Inge Lammel (= Das Lied – Im Kampf geboren!, Heft 2. Veröffentlichung der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Sektion Musik, Abteilung Arbeiterlied), Leipzig [1958], S. 62–67.
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stischen Widerstand aktiv, tauchte 1935 als Postbetriebsarbeiter beim Reichspostzentralamt im Luftpostdienst Tempelhof ab, wurde aber 1937 „wegen Vorbereitung zum Hochverrat“ in Tegel inhaftiert und 1939 in die Wittenauer Heilstätten für Geisteskranke überführt. 1940 überraschenderweise entlassen, arbeitete er bis Kriegsende als Sekretär des ehemaligen Generalkonsuls in Washington, Dr. Karl von Lewinski. Winfried Zillig schließlich, der achte und letzte der im Lande Gebliebenen und eigentlich der erste, da schon in Wien Privatschüler Schönbergs, hatte die Theaterlaufbahn eingeschlagen. Die Karriereleiter führt ihn nach einer einjährigen Assistenz bei Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper 1928 als Solorepetitor ans Landestheater Oldenburg, 1932 als Kapellmeister an die Düsseldorfer Oper. 1937 wechselte er an die Essener Oper und 1940 als 1. Opernkapellmeister an das neu eröffnete Reichsgautheater in Posen. Hier übernahm er auch die Leitung der Fachschaft Komponisten im Reichsgau Wartheland der Reichsmusikkammer,27 war also Landesleiter unter seinem, Opern mit „stählerner Diatonik“28 komponierenden Kollegen, Reichsfachschaftsleiter Werner Egk. Nach dem Krieg kehrte Zillig kurzzeitig an die Düsseldorfer Oper zurück, war von 1947–1951 Chefdirigent beim Hessischen Rundfunk und – nach einigen mehr oder weniger unfreiwilligen Jahren als freier Komponist – von 1959 bis zu seinem Tod Ende 1963 Musikabteilungsleiter beim Norddeutschen Rundfunk. Beim Lehrer Schönberg stand Zillig hoch im Kurs. Bereits 1928 lobte dieser ihn als „hochbegabten Komponisten“, der „Idealismus, Schwung und Begeisterungsfähigkeit“ besitze und „wie ein wirklicher Künstler, in seiner Kunst und für sie“29 lebe, 1935 zählte er mit Hannenheim zu den einzigen Berliner Kandidaten für Schönbergs (gegenüber Alban Berg) brieflich annoncierten „Schutzbund für geistige Cultur“30, und 1948 gelangte er auf die Liste der zehn seiner „unzähligen“ Schüler, die „Komponisten geworden sind“31. Während der NS-Zeit kamen drei Zwölftonopern Zilligs zur Aufführung. Aber auch außerhalb des inneren Kreises gingen einige Komponisten nach 1933 in NSDeutschland den – nach des Meisters Worten – akademisch nicht vermittelbaren Weg in die Geheimnisse musikalischer Zwölftönigkeit.32 Um nicht zuletzt die Kon27 28
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Vgl. Deutscher Musiker-Kalender (Anm. 22), Bd. 2, S. 318. Zit. nach Hans-Günter Klein, Viel Konformität und wenig Verweigerung. Zur Komposition neuer Opern 1933– 1944, in: Musik und Musikpolitik im nationalsozialistischen Deutschland, hrsg. von Hanns-Werner Heister und Hans-Günter Klein, Frankfurt am Main 1984, S. 145–162, hier S. 152. Zit. nach Gerhard Schuhmacher, Fortschritt, historisch betrachtet. Zu einigen Schriften aus dem Nachlaß von Winfried Zillig, in: Musica 26, S. 126–130, hier S. 130. Laut Schönbergs Brief an Berg vom 2. Jänner 1935 sollte dieser „Schutzbund“ übrigens entgegen seinem Nazi-Pendant, dem „Kampfbund für deutsche Kultur“ – und (mir zumindest) schwer verständlich – unter „vollkommenem Ausschluß jeden politischen Einschlages“ arbeiten. Zit. nach Stuckenschmidt, Schönberg. Leben, Umwelt, Werk (Anm. 6), S. 497. Arnold Schönberg, Stil und Gedanke, hrsg. von Frank Schneider, Leipzig 1989, S. 247. Ebenda S. 246f. Apropos Lernerfolg und Lernerfolgskontrolle bei seinen Schülern: „Geheimwissenschaft ist nicht das, was ein Alchemist jemanden zu lehren sich geweigert hätte. Sie ist eine Wissenschaft, die überhaupt nicht gelehrt werden kann. Sie ist eingeboren oder nicht da“.
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sequenzen der Machtübergabe 1933 schärfer zu konturieren, sei dieser Weg zwar nicht von A bis Z, aber von Adorno über Paul von Klenau zu Zillig abgeschritten. Hans-Guck-in-die-Luft „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“
Theodor W. Adorno klammerte sich nach der Machtübergabe „verzweifelt“ – wie er recht bald bemerkte – „an die Möglichkeit [...], um jeden Preis in Deutschland zu bleiben“. „Die Ereignisse“ im Lande hätten ihn „zunächst sehr stumm gemacht und ganz auf [s]eine Dinge zurückgeworfen“33. Daß dem Dinge nicht so war, ist hinlänglich bekannt. So ließ ihn seine bereits vor 1933 virulente Jazz-Aversion das Nazi-Verbot begrüßen, im Rundfunk „Niggerjazz“ zu übertragen, so empfahl er im Mai 1933, „Machwerke“ wie Kálmáns Operette Die Herzogin von Chicago „auszumerzen“, und so legte Adorno im Juni 1934 noch seine innerkompositorischen Maßstäbe ausgerechnet an mit Texten des Reichsjugendführers von Schirach hantierende, „bewußt nationalsozialistisch markierte“ Männerchöre Herbert Müntzels an.34 Bekannt ist auch, daß ihm 30 Jahre später seine mit dem Goebbels-Wort vom „romantischen Realismus“ bedruckte Fahne der Verfolgten in der Frankfurter Studentenzeitung Diskus vorgehalten wurde35 und daß seine Antwort auf den ersten Blick wunderlich geriet: Er habe sich zu diesen „dummtaktischen Sätzen veranlaßt“ gesehen, um der neuen Musik „zum Überwintern unterm Dritten Reich zu verhelfen“36. Oder sich selbst – wie in seinem Traum vom Weltuntergang aus den ersten Tagen der NS-Herrlichkeit: 33 34
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Theodor W. Adorno / Ernst Krenek, Briefwechsel, hrsg. von Wolfgang Rogge, Frankfurt am Main 1974, S. 43. Zitate aus Adornos Aufsatz Abschied vom Jazz, Europäische Revue 9, 1933, S. 313–316, und aus seinen Aufführungskritiken in: Die Musik 25, 1933, H. 8, S. 622, und 1934, H. 9, S. 712. Adorno spricht freilich vom „Neger-Jazz“, der rassistische Komparativ findet sich bspw. im Bericht Niggerjazz im Rundfunk verboten des Berliner Lokal-Anzeigers vom 12. Oktober 1935 (gekürzt in Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main–Berlin–Wien 1983, S. 385). Zur LTI-Vokabel „ausmerzen“ hingegen entwickelte der Sprachästhet Adorno zeit seines Lebens keine kritische Distanz [LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches]. Vgl. zu Adornos jazzkritischen Einlassungen Heinz Steinert, Die Entdeckung der Kulturindustrie oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte, Wien 1992, zum nicht eben widerspruchsfreien Umgang mit Jazz im Nazi-Staat Michael H. Kater, Gewagtes Spiel. Jazz im Nationalsozialismus, Köln 1995 (zum Rundfunk-Verbot S. 92). Alois Melichar, selbsternannter „Überlebender des NS-Regimes“ und Stratege eines Abwehrkampfes gegen die „heißen Zwölftonkrieger“, hatte Adorno all dies bereits einige Jahre zuvor „aus dem primitiven Bedürfnis eines Menschen nach frischer Luft“ unter die „deutsch-jüdische“ Nase gehalten (Alois Melichar, Schönberg und die Folgen. Eine notwendige kulturpolitische Auseinandersetzung, Wien 1960, S. 193, 207, 121 und 117; zu Adorno S. 117–120); vgl. zu Melichar auch das Kapitel Zweite Lese. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften 19. Musikalische Schriften VI, hrsg. von Rolf Tiedemann und Klaus Schulz, Frankfurt am Main 1984, S. 637f.
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„ich hätte mich währenddessen in einem Keller versteckt gehalten und wäre dann, nach Weltuntergang, aus dem Keller herausgekrochen“37.
Emigrieren wollte Adorno jedenfalls unter keinen Umständen, selbst solchen des „politischen Anstands“38 nicht, auch wenn ihm das „Widersinnige“ derartiger Träumereien ebenso bewußt war wie die Tatsache, daß in der Nazi-„Ordnung“ selbst „alle Mauselöcher verstopft sind“39. Vieles deutet darauf hin, daß der gesellschaftstheoretisch nicht gerade Unerfahrene den Ernst der Lage verkannte. Kaum war ihm am 11. September 1933, seinem 30. Geburtstag, als „Nichtarier“ die venia legendi entzogen, bewarb er sich um Aufnahme in die Reichsmusikkammer40 und prognostizierte er mit „exakter Phantasie“, „daß die Reinigung des deutschen Volkskörpers sich in Aufräumungsaktionen totlaufen werde: nach der Entrümpelung der Dachböden käme vermutlich eine Propagandaaktion gegen die Ratten und dann die Parole Kampf dem Rost“41.
Bis zur endgültigen Emigration in die USA 1938 verbrachte er weiterhin seine Sommerurlaube unter diesen Volkskörpern, deren „Aufräumungsaktionen“ wohl auch ihm einen „offeneren Phantasiehorizont“42 ratsam scheinen ließen. Indes: „Der Ausbruch des Dritten Reiches überraschte mein politisches Urteil zwar, doch nicht meine unbewußte Angstbereitschaft“43.
Deren Ausdruck findet sich freilich nicht in Adornos wenigen Beiträgen für die Nazipresse, die ihn später in den moralinsauren Anwürfen der Nachgeborenen zur tragischen Figur werden ließen, sondern an einer bis heute kaum beachteten Stelle. Adorno arbeitete in den ersten Monaten des Nazistaates intensiv an einer Zwölftonoper bzw. einem zwölftönigen Singspiel. Der Schatz des Indianer-Joe – so der Titel seines auf der Fabel von Mark Twains The Adventures of Tom Sawyer (unter Verzicht auf die dort eingeflochtene Liebesgeschichte) basierenden Librettos – entfaltet exakt diesen Aspekt der „unbewußten Angstbereitschaft“ am „Kindermodell“. In den Text „eingekocht“44 ist die Erfahrung der eigenen Kindheit – und der Schulzeit, von der Adorno in dem mit 1935 datierten angsterfüllten 123. Aphorismus der Minima moralia drastisch berichtet. Und da er in seiner einstigen Schulklasse die 37 38 39 40 41 42 43 44
Theodor W. Adorno, Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main 1971, S. 96. Adorno / Krenek, Briefwechsel (Anm. 33), S. 44. Adorno, Minima Moralia (Anm. 1), S. 39 und 178. Theodor W. Adorno / Alban Berg, Briefwechsel 1925–1935, hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt am Main 1997, S. 280. Peter von Haselberg, Wiesengrund-Adorno, in: Theodor W. Adorno, hrsg. von Hartmut Scheible [2., erweiterte Aufl.] München 1983, S. 7–21. Adorno / Berg, Briefwechsel (Anm. 40), S. 286. Adorno, Minima Moralia (Anm. 1), S. 255. Zit. nach Rolf Tiedemann, Auch Narr! Auch Dichter!, in Theodor W. Adorno, Der Schatz des Indianer-Joe. Singspiel nach Mark Twain, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedermann, Frankfurt am Main 1979, S. 117–137, hier S. 124.
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Urszene der „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ erblickt, scheint ihm „im Faschismus [...] der Alp der Kindheit zu sich selbst gekommen“45. Ab September 1933 informierte Adorno seinen „lieben Herrn und Meister“ Alban Berg über den Fortgang der Arbeit. Das Libretto sei fertig, die Komposition – selbstverständlich „kein ‚Song‘-stil, sondern [...] ordentliche und ausgewachsene Musik“ – schreite, für seine „Schnecken-Verhältnisse, rasch voran“. Auch habe er „gewisse Hoffnungen“, daß das Singspiel an der Wiener Volksoper herauskomme. Zwei Monate später die letzte Information: er sei „so deprimiert“, daß ihm „zum Komponieren die Freiheit“ fehle.46 In der Tat brachte Adorno nur zwei Lieder zum Abschluß, auf Bergs Anfrage nach Anschauungsmaterial reagierte er nicht mehr. Daß sein Schatz musikalisch ein Torso blieb, hing freilich von anderem ab, seinen alten Lehrer wollte er gleichsam nur auf die Fährte setzen – um viel mehr ging es in ihrem weitgehend inhaltsfreien Briefwechsel ohnehin nicht. Dem Briefpartner Walter Benjamin indes ließ Adorno Ende 1933 sein Textbuch zukommen und war zutiefst getroffen, als sein „idealer Leser“ sich von den „in den Kinder-Stoff“ eingezogenen „Gräben“47 wenig beeindruckt zeigte. Benjamin gestand zwar zu, daß „in den Falten von Toms Mantel [...] der Tod sitzt“, bemängelte aber insgesamt Ungefährlichkeit und eine „Reduktion aufs Idyllische“ 48. Um idyllische „Beschwörung von Kindheit“ aber ging es Adorno, zumal seine eigene – außerhalb des schulischen Leids freilich – vom Glück gesegnet schien, gerade nicht. „Das ganze“ sei vielmehr „ein Fluchtplan: Darstellung der Angst“49, eine Darstellung, die den thematischen Kern des Singspiels, das widersprüchliche Verhältnis der Intellektuellen zur (schlechten) Gesellschaft, letztlich nicht am „Kindermodell“, sondern am „Alp der Kindheit“, dem Faschismus demonstriert: „Einer ist totgegangen, keiner hat zugesehn, keiner ist schuldig. [...] Einer ist totgegangen, einer hat’s getan, zwei haben zugesehn, alle sind schuldig, (mit Nachdruck) solange sie nicht reden“,
heißt es im Lied vom Zusehen des zweiten Bildes. Und bereits das erste Bild bringt ein Totenlied – nicht gerade üblich in einem Singspiel, auch wenn dieses Lied von einem Jungen für seinen toten Kater gesungen wird – mit der bedeutungsvollen Zeile „dir nahm er das Leben, mich lassen sie laufen“. Dieses Lied ist eines der beiden fertiggestellten,50 so daß hier eine – gewiß fragmentarische – Einsicht in die musikalischen Strategien des Komponisten möglich ist: Die „ordentliche und ausgewachsene Musik“ basiert auf einer Zwölftonreihe, die von tonaler Harmonik dominiert scheint: 45 46 47 48 49 50
Adorno, Minima Moralia (Anm. 1), S. 257. Adorno / Berg, Briefwechsel (Anm. 40), S. 276 und 280. Ebenda S. 276. Zit. nach Tiedemann, Auch Narr! Auch Dichter! (Anm. 44), S. 123f. Zit. nach ebenda S. 124. Totenlied für einen Kater und Hucks Auftrittslied, Faksimile in: Theodor W. Adorno, Der Schatz des Indianer Joe (Anm. 44), S. 105–114.
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Beispiel 1: Totenlied für einen Kater, Grundreihe Diese harmonischen Zuweisungen werden indes von Adorno durchweg gemieden, und – gleichsam im Widerstand gegen die Reihenkonzeption – durch die melodisch wie harmonisch verbindlichen Intervalle Tritonus und kleine Sekund bzw. die von ihr abgeleiteten Intervalle der großen Sext und kleinen None ersetzt. Während die aus motivischen Splittern kontrapunktisch sich entwickelnde Begleitung um einen aus den Reihentönen 1–3 abgeleiteten Quart-Tritonus-Klang gravitiert, hält die Singstimme meist ihr eigenes dodekaphones Territorium besetzt, vom Begleitsystem durchgängig durch Reibung mit eben jenen bevorzugten Intervallen abgegrenzt und auf sinnfällige Weise die Zeilenpaare strukturierend: Btb – Fg/Bkl Kfg/Kb – Btb O(1-12) – O(1-6) – U(1-12) – U(1-5) – K(1-12) – KU(1-6) – KU(7-12)/O(1) – O(2-7) – O(8-12) – U(1-12) ______________ _____________ _______________ ___________________ ______________ A
A'
B
B'
A
Eindeutig setzte Adorno in seiner Singspielmusik trotz zwölftöniger Durchorganisation auf das Vokabular des frei-atonalen Idioms aus dem – mit seinen Worten – „heroischen Dezennium“51 um 1910. Durch die signifikanten Intervalle suchte er harmonisch wie melodisch das Dissonanzmoment – recht eigentlich die Erinnerung daran – festzuhalten, als sei historisch zurückzunehmen, was die Zwölftontechnik der Musik „in allen ihren Momenten“ verordnete: daß alles „gleich nahe zum Mittelpunkt“ steht.52 Ob diese Ent-Mythologisierung Schönbergscher Verfahrensweisen gelang, steht dahin. Gelingen könne dieser Wunsch, die Technik vom „mythischen Zwang“ zu befreien, für Adorno ohnehin nur im Märchen – Vorbild: Rumpelstilzchen, weil hier der Bann sich löst, indem er beim Namen genannt wird.53 Und so führt – als bedeutende, wenn nicht zentrale Institution Adornoschen Denkens – ein Märchenmotiv auch seinen Singspieltext zu einem erträglichen Ende. Daß die beiden Protagonisten Tom und Huck zuguterletzt den Schatz finden, bedeutet indes nicht nur, daß Hoffnung allein im Hoffnungslosen sich findet, sondern auch – wie es im Lied vom Danken heißt: „So gut wie nichts hat alles gut gemacht“. Weiterhin so gut wie nichts komponiert hatte Adorno, als er Ende 1934 ein letztes Mal den Versuch unternahm, über sein Singspiel ins Gespräch zu kommen. Er sandte – nach der deprimierenden Kritik Benjamins – „nicht ohne einiges Bangen“ 51 52 53
Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt am Main–Berlin–Wien 1972, S. 12. Ebenda S. 37. Adorno / Krenek, Briefwechsel (Anm. 33), S. 55.
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Ernst Krenek sein Manuskript.54 Der aber schien seinen Schatz „net amol zu ignorieren“55, und Adorno brach die Arbeit endgültig ab – vielleicht auch, weil er inzwischen, in Oxford, das Leben eines Mannes zu führen gezwungen war, „dessen Angsttraum in Erfüllung ging – wieder die Schule besuchen zu müssen“56. Der böse Kamerad „Sie brauchten nur sitzenzubleiben, um die zu überholen, die ihre Klasse verlassen hatten, und an ihnen sich zu rächen.“
In der Lästerschule des 1883 in Kopenhagen geborenen, ab 1918 meist in Wien ansässigen Dirigenten und Komponisten Paul von Klenau sollte es komisch zugehen. Da indes seine spärlichen musikalischen Möglichkeiten und dementsprechenden Erfolge in Schönberg-nahen Kreisen nur allzu bekannt waren, befürchtete anläßlich der Frankfurter Uraufführung dieser immerhin dritten Oper des Dänen am 25. Dezember 1926 der Schwiegersohn Soma Morgenstern57 „eine Familientrauer“, witzelte der Duzfreund Alban Berg über „Klenaus Lästerschulzeugnis“58 und lästerte coram publico Adorno über „antiquarische Buffodramatik“ und „wenig Resonanz“59. Der etwas despektierliche Ton ändert sich auch Ende 1933 nicht, als Klenau seine erste Zwölftonoper Michael Kohlhaas in Stuttgart und wenig später Berlin herausbringen konnte. Klenau sehe „großen Erfolgen in Deutschland entgegen“, so Berg an Adorno, der wohl verstand, wie’s gemeint war. Und Adorno retour: „Die Oper von Klenau soll nicht so schlecht sein, wie man sie sich vorstellt“ – Zusatz: „was freilich noch nicht sehr viel besagt“60. Schülerneid womöglich, denn Klenau hatte während der Arbeit an der Oper nicht nur „dramaturgische Frage[n]“ mit Berg durchgesprochen, sondern auch „einige ‚Stunden‘ “ bei ihm genommen61. Erstaunlicher freilich als diese Vorbehalte gegen einen zum Zwölftöner mutierten harmlosen Romantiker, dessen an musikalischen Banalitäten reiches Ballett Klein Ida’s Blumen (1916, nach Hans Christian Andersen) allein an der Wiener Staatsoper bis 1939 73mal gespielt wurde62, erstaunlicher ist die Tatsache, daß den Nazioberen Klenaus „tonartbestimmte Zwölftonmusik“ bzw. – in späteren Jahren – „totalitäres 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Ebenda S. 56. Kreneks „Ignorieren“ muß freilich Vermutung bleiben, denn der publizierte Briefwechsel weist hier eine viermonatige Lücke auf; vgl. ebenda S. 56 (5. November 1934) und S. 59 (1. März 1935). Adorno / Berg, Briefwechsel (Anm. 40), S. 297. Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe, hrsg. von Ingolf Schulte, Lüneburg 1995, S. 168. Ebenda S. 171. Die Musik 19 (1927), H. 7, S. 520. Adorno / Berg, Briefwechsel (Anm. 40), S. 284 und 287. Briefe vom 26. Jänner und 11. Februar 1933, Klenau-Briefe im Nachlaß Alban Bergs in der Österreichischen Nationalbibliothek, F 21 Berg 940/1–79. Vgl. Die Musik 32 (1939), H. 1, S. 71.
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System der 12 Töne“63 wenig Kopfzerbrechen bereitete. Man ließ ihn, der sorgsam den Namen Schönberg mied, in der Musik und anderswo darüber philosophieren, ja Klenau schien es als ehrenrührig aufzufassen und protestierte öffentlich, als der bekannte Scharfmacher Fritz Stege mit wohlmeinend-schützender Gebärde meldete, sein Kohlhaas sei nicht „atonal und im Zwölftonsystem geschrieben“64. „HimmiSakra“, so der Komponist an Berg,65 „bestreiten dass ich zu 12 zählen kann, geht doch zu weit“. Eines freilich ist Klenaus Musik in der Tat nicht: atonal. Dieser Kampfbegriff blieb in Klenaus „totalitärem System“ außen vor, vorbehalten den „Kakophonien“ eines „chaotisch zersetzenden“ Prinzips, „das alle Mittel der Musik in den Dienst des Individualismus stellt“66. Zu ergänzen wäre: „jüdischen“ Individualismus, aber Klenau hielt seine öffentlichen Äußerungen von dumpfem Rassismus frei. Die Gründe dafür scheinen freilich weniger von Noblesse geprägt als biographischer Natur: Einerseits pflegte er Umgang mit dem Schönbergkreis – Klenau hatte beispielsweise im Januar 1923 Schönberg zur Einstudierung und Aufführung seiner Kammersinfonie nach Kopenhagen eingeladen, im November 1921 dort bereits selbst den Pierrot dirigiert, 1924 sich ins Sonderheft zu Schönbergs 50. Geburtstag eingeschrieben, und noch beim 50. des Schülers Berg (immerhin 1935) war er einer der Anwesenden, die des Meisters Grammophonworten lauschten.67 Andererseits – und gewichtiger – war Klenau bis 1926 mit „einer Jüdin verheiratet“: Annemarie 63
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Paul von Klenau, Zu Paul von Klenaus „Michael Kohlhaas“, in: Zeitschrift für Musik 101 (1934), H. 5, S. 530f., hier S. 531; Wilhelm Matthes, Paul von Klenau, in: Zeitschrift für Musik 106 (1939), H. 3, S. 237–243, hier S. 239. Fritz Stege, Berliner Musik, in: Zeitschrift für Musik 101 (1934), H. 4, S. 401–403, hier S. 402. In Die Musik 26 (1934), H. 11, S. 855, erschienen daraufhin – zwecks Düpierung des hier ungeliebten Kritikers – unter der Rubrik Wer hat recht? eine Gegenüberstellung der Aussagen Steges und der Leserbrief-Replik des Komponisten (Klenau, Zu Paul von Klenaus „Michael Kohlhaas“, Anm. 63) sowie wenig später in rascher Folge fünf Aufsätze des Komponisten zur Profilierung und historischen Legitimation seiner „tonartbestimmten Zwölftonmusik“ (und seiner selbst): Über die Musik meiner Oper „Michael Kohlhaas“ (Die Musik 27, 1935/4, S. 200–202), Musik im Zeitalter der Stilwende (Die Musik 27, 1935/8, S. 561– 566), Auf der Suche nach der musikalischen Form (Die Musik 27, 1935/9, S. 651–657), Wagners „Tristan“ und die „Zwölftönemusik“ (Die Musik 27, 1935/10, S. 727–733), Handwerk und Inspiration (Die Musik 28, 1936/9, S. 645–652). Zumindest nicht auszuschließen ist übrigens, daß das Vermeiden des Namens Schönberg auf Anraten Bergs geschah: „Ich habe eine circa 25 Druckseiten umfassende Schrift über 12Tonmusik geschrieben. Stuckenschmidt, der sie gelesen, meinte es wäre sehr wichtig, dass ich sie veröffentliche, – riet mir aber die Stellen über Schönberg mit Dir zu besprechen. Dies würde ich sehr gern tun. – Es wäre in einer halben Stunde erledigt“ – die „Stellen über Schönberg“ waren es danach in der Tat. Klenaus Brief an Berg (Klenau-Briefe, Anm. 61) ist zwar nicht datiert, da es sich bei dieser 25seitigen Schrift aber um Klenaus Aufsatzreihe handeln dürfte, die ab Januar 1935 in der Musik erschien, ist von Ende 1934 auszugehen. Brief vom 12. April 1934 (Klenau-Briefe, Anm. 61). Paul von Klenau, Wagners „Tristan“ und die „Zwölftönemusik“, in: Die Musik 27 (1935 ), H. 10, S. 737–733, hier S. 728. Im (alten) New Grove steht gar – unzutreffend freilich – zu lesen, Klenau habe 1918/19 bei Schönberg studiert (vgl. The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley Sadie, London 1980, Bd. 10, S. 107), was auch im neuen New Grove mit „probably not a pupil“ nicht vollständig revidiert wurde. Vgl. The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley Sadie, London 2000, Bd. 13, S. 670.
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Simon (1878–1977), der Schwester des Herausgebers der Frankfurter Zeitung, Heinrich Simon. Und wenn er auch – in einem Brief an den Nazikritiker und NSKulturgemeinde-Funktionär Friedrich W. Herzog68 – „über diese bittere Erfahrung meines Lebens“ nicht sprechen mochte – „Meine Einstellung zur Rassenfrage kennen Sie“ –, so hatte er während dieser „bitteren Erfahrung“ doch drei Töchter gezeugt, die von seiner „jüdischen Versippung“ weiterhin Zeugnis ablegten.69 Im Vorfeld der Kohlhaas-Premiere ging Klenau daher auf Nummer Sicher und informierte sich Anfang Oktober 1933 bei Josef Matthias Hauer, ob dieser tatsächlich „der erste“ gewesen sei, „der die Zwölftontheorie verkündet hat“70 – was ihm Hauer umgehend bestätigte. Damit war der leidige Namen aus dem Rennen,71 und Klenau konnte sich in der großangelegten Pressekonferenz dem politisch Bedeutsamen des von ihm selbst eingerichteten Kleist-Stoffes zuwenden, indem er die nazistische Spannweite des Volk-Begriffs ausmaß: Von der zeitlosen „Volkskunst“ ging es über Kohlhaas als „Vertreter des Volkes“ und „völkisches Schicksal“ zum „völkischen Boden“72. Auf diesem Boden angekommen, konnte nicht nur die Kleistsche Labyrinthisierung der Gerechtigkeitssuche zur „deutschen Rechtsliebe“ zurechtgebogen werden, sondern auch der Michael zum deutschen Michel, indem in Klenaus „Oper der Gegenwart“ der Kohlhaassche Amoklauf gegen die eigene Existenz zur „Bestätigung für das deutsche Verhalten der Welt gegenüber“, konkret zur Wahlwerbung für die Politik des NS-Regimes verdichtet wurde, zum – wie es hieß: „Bekenntnis der Deutschen zum 12. November“73. An diesem Tag nämlich, eine Woche nach dieser anscheinend minutiös vorbereiteten Kohlhaas-Premiere, fanden nicht nur Reichstagswahlen statt, sondern wurde auch der Austritt aus dem Völkerbund entschieden.74 68 69
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Zit. nach Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982, S. 305. Klenaus Tochter Ingeborg heiratete im September 1928 Soma Morgenstern, den Freund Alban Bergs. Von seinem Schwiegervater, dessen zweite Ehefrau „später ein verbissenes Naziweib“ geworden sei, hielt Morgenstern wenig. Der „vernünftigste Satz“, den er je von ihm gehört habe, sei in einem Gespräch mit Alban Berg über die Frage, „ob Chaplin auch ein Jude sei“, gefallen: „Paul von Klenau meinte, gleichsam abschließend, daß es bei Amerikanern sehr schwer sei, ihre Herkunft zu erraten. Alban sagte darauf: ‚Der ist ja gar kein Amerikaner. Der ist ein Engländer!‘ Darauf Paul von Klenau: ‚Ach, wenn er ein Engländer ist, ist er bestimmt ein Jude‘ “. Morgenstern, Alban Berg und seine Idole (Anm. 57), S. 317 und 115. Zit. nach Ernst Hilmar (Red.), Arnold Schönberg. Gedenkausstellung 1974, Wien 1974, S. 295. Der strategische Hauer-Zug Klenaus ist symptomatisch für (ns-)systembedingte inhumane Reaktionen auf die Entgrenzungen von Macht und Ohnmacht, Angst und Totschlag, materialisiert etwa im Verhaltensmuster des vorauseilenden Gehorsams. Aus dem Rennen geworfen hatte Schönberg wohl kaum seine „grosse Herzlichkeit“ und „grosse menschliche Wärme“. Im Februar 1933 jedenfalls war Klenau über die „so schöne Beziehung“ zu Schönberg, mit dem er „angeregte Stunden“ verbrachte, „höchst erfreut“. Und noch im Juli 1933 fragte er „bange“ bei Berg an, was „mit Schönberg geschehen“ sei. Briefe Klenaus an Berg vom 6. Februar und 13. Juli 1933, Klenau-Briefe (Anm. 61). Zit. nach Wolfgang Gönnenwein (Hg.), Oper in Stuttgart. 75 Jahre Littmann-Bau, Stuttgart 1987, S. 77. Zit. nach Hans-Günter Klein, Ideologisierung von Werken Kleists in Opern aus dem 20. Jahrhundert, in: Norddeutsche Beiträge (1978), H. 1, S. 44–65, hier S. 61f. Die Kohlhaas-Premiere war in der Tat von langer Hand geplant und wurde mit großem Aufwand vorbereitet und durchgeführt: Nachdem die Uraufführungsverhandlungen Klenaus mit Stuttgart interessanterweise zur Zeit der Machtübergabe (und mit der Inthronisation des neuen Generalintendanten Otto Krauß) eingesetzt hatten, wurde Anfang Juli eine „grosse, mehrtägige Besprechung“ abgehalten und
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Kohlhaas: „Ein neues Weltreich werde ich gründen, in dem alle Brot haben und vor den Gesetzen gleich sind: Ein Weltreich will ich aufbauen, wo Gerechtigkeit herrscht, daß Friede walte auf Erden [...]“.
Chor: „Heil Kohlhaas! Heil unsrem Führer!“ – Sätze aus der Klenauschen Oper (2. Akt, 5. Bild), nicht aber aus Kleists Erzählung! Damit war die Linie abgesteckt: Klenaus „hohes Ethos“75, seine „seelische Haltung“76, seine „echte Gesinnung“77 standen außer Frage, herumgemäkelt werden konnte und wurde an der Musik – die „meist entsetzlich schlecht klingt“78 –, am „Mangel an zwingenden, zu Herzen sprechenden Einfällen“79, am „schwachen dramatischen Nerv“80. Ganz selten nur – und auch nur bei Klenaus erstem Versuch zur „totalitären Erfassung des Tonsystems“81 – wurde die Nazipolemik gegen Zwölftontechnisches in Anschlag gebracht: Klenau wisse „auch um die Zwölftontechnik“ und hole „in unmittelbare[r] Nachbarschaft von Alban Bergs ‚Wozzek‘[!] tonartlich nicht gebundene Farben aus einem Zwi-
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war der Komponist während der immerhin siebenwöchigen Probenarbeit konstant anwesend. Briefe Klenaus an Berg vom 13. Juli und 24. November 1933 (Klenau-Briefe, Anm. 61). Der Premiere selbst ging eine Ansprache des Oberregierungsrates Dr. Hermann als Vertreter des württembergischen Kultusministers voraus, in der erneut die „Gedankenverbindung [...] zwischen Michael Kohlhaas und dem Schicksal des deutschen Volkes“ hergestellt wurde (Hans Heinz Stuckenschmidt, Paul von Klenau „Michael Kohlhaas“. Uraufführung in Stuttgart, in: Anbruch 15 (1933), H. 9–10, S. 141–143, hier S. 143). Derart eingestimmt, wurde die Aufführung gebührend abgefeiert: „Ja, mein Lieber“, meldete Klenau enthusiasmiert an Berg (24. November 1934, Klenau-Briefe, Anm. 61), „der Erfolg war sehr gross. – Nach dem I + II Akt viele Hervorrufe der Sänger – nach der Sterbescene (Lisbeths Tod) IIIter Akt – tiefes Schweigen – Das Publikum ging aus dem Zuschauerraum, ohne ein Wort zu sprechen – wie aus einer Kirche. – Nach dem IV Akt über 30 Hervorrufe (33 wird behauptet)“. Erstaunlich, daß sich das von dieser „Oper der Gegenwart“ tief betroffene Publikum auf die „ergreifende“ Zahl 33 geeinigt hatte. Erstaunlich auch, daß bereits vor der Uraufführung die Übernahme an die Städtische Oper Berlin im Februar 1934 beschlossene Sache war. Übrigens gab sich der Komponist – durch das engagierte Mitwirken an dieser politischen Inszenierung u. a. auch seiner nicht geringen finanziellen Nöte enthoben – privat mal politikverdrossen – „Ich möchte am liebsten nach Südafrika reisen. Dies Europa, mit der trostlosen Politik, Politik, Politik hängt mir zum Halse heraus“ –, mal besonnen-verantwortungsbewußt – „Politisch sieht es in Deutschland höchst brennslich aus“ (Briefe Klenaus an Berg vom 6. Mai und 26. Juni 1934, ebenda). Mit ähnlichen Rollenspielen konnte ja auch der Briefpartner Berg aufwarten. Matthes, Paul von Klenau (Anm. 63), S. 242. Stege, Berliner Musik (Anm. 64), S. 402. Herbert Gerigk, „Rembrandt van Rijn“. Klenau-Uraufführung in der Staatsoper, in: Die Musik 29 (1937), H. 5, S. 356f., hier S. 356. Heinz Joachim, Berliner Opernpremieren, in: Melos 13 (1934), S. 105f., hier S. 105. Paul Schwers, Klenaus „Michael Kohlhaas“ in der Städtischen Oper, in: Allgemeine Musikzeitung 61 (1934), H. 11, S. 133f., hier S. 133. Fritz Stege, Paul von Klenaus „Königin“. Uraufführung der Neufassung, in: Zeitschrift für Musik 107 (1940), H. 7, S. 399–403, hier S. 403. Klenau, zit. nach: Bartholomäus Ständer, Opern-Uraufführung im Kasseler Staatstheater. Elisabeth von England, Paul von Klenaus neue Oper erlebt eine monumentale Inszenierung, in: Kasseler Neueste Nachrichten 29 (1939), H. 79, 3. Beilage.
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schenreich, das heute wie ein gesundheitsschädigender Sumpf zugeschüttet werden muß, wenn auf seinem Boden neues Leben entstehen soll“82.
Und außerdem: Ganz so „total“ darf man Klenaus dodekaphone Arbeit nicht verstehen.83 Alle drei in der NS-Zeit aufgeführten Opern sind zum einen in wunderlicher Weise mit für ihre „historischen“ Spielstätten typischen Musiken durchsetzt, die weder in das Klenausche System eingebunden noch dessen Klangbild angepaßt sind – in Rembrandt van Rijn und Elisabeth von England meist stilzitierende Eigenkompositionen, im Falle Kohlhaas acht Fremdnummern.84 Zum anderen sind die dodekaphon organisierten Teile, um die Tonartbestimmtheit (sprich: die Dreiklänge) herzustellen, von allerlei Überhängen, Umstellungen usf. heimgesucht, die hier tatsächlich fragen lassen, warum der Komponist an dieser Arbeitsgrundlage festhielt. Kurz nur inspiziert sei sie an den Anfangstakten der am 25. März 1939 in Kassel uraufgeführten Elisabeth von England, in der es thematisch und unter Absingen zahlloser „Heil“-Rufe (die wohl kaum – im Sinne des inneren Schönbergkreises – Wagner huldigten) um Macht oder Liebe geht und selbstverständlich die Macht in Form verpflichtender Liebe zum Vaterland obsiegt: 82 83
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Friedrich W. Herzog, Oper. Berlin [Zur Erstaufführung von Klenaus Michael Kohlhaas], in: Die Musik 26 (1934), H. 7, S. 541 f., hier S. 542. Vgl. zu Klenaus Verfahrensweisen – in Anbindung an seine Äußerungen durchgängig auf Kohlhaas bezogen; hier sollen „sieben Zwölftonreihen“ (Klenau, Zu Paul von Klenaus „Michael Kohlhaas“, Anm. 63, S. 531) im Einsatz sein – Hans-Günter Klein, Atonalität in den Opern von Paul von Klenau und Winfried Zillig – zur Duldung einer im Nationalsozialismus verfemten Kompositionstechnik, in: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Bayreuth 1981, Kassel–Basel, S. 490–494; Erik Levi, Atonality. 12-Tone Music and the Third Reich, in: Tempo 178 (1991), Sept., S. 17–21; Andrew D. McCredie, The Comparative Case Histories of Karl Amadeus Hartmann, Clemens von Franckenstein and Paul von Klenau as Variant Examples of Innere Emigration. Problems and Issues for German Music Historiography of the Period 1918–1945, in: GLAZBA, ideje i društvo: svečani zbornik za Ivana Supičića = Music, ideas and society: essays in honour of Ivan Supičić. Urednik Stanislav Tuksar (= Muzikolovski zbornici, br. 2). Zagreb 1993, S. 215–235. Von kaum zu überbietender Naivität resp. Fatuität die Annotationen Michael H. Katers zu Klenaus und – ebenso – Zilligs Verfahrensweisen: beide hätten „vielleicht aus Naivität“ eine Musik komponiert, „die atonal war“ – auch wenn „Experten der Ansicht [waren], daß ihre Reihentechnik auf einem anderen Schema basiert als Schönbergs Zwölftonreihen“ (Michael H. Kater, Die mißbrauchte Muse. Musik im Dritten Reich, Wien 1998, S. 352). Unter den Stilzitaten fast schon populär und in Wunschkonzerten des öfteren gegeben wurde hier die rein tonikale Arie Es neigt sich der Tag aus Rembrandt van Rijn, 1937 auch – gesungen vom Uraufführungssänger Marcel Wittrisch – auf Platte erschienen (HMV EH 1026). Da durch die Ausbombung des Verlagshauses Bote & Bock die Partitur der Oper vernichtet wurde (erhalten sind einzig der Klavierauszug und einzelne Stimmen), hat nach dem Krieg Fried Walter die Arie für eine Aufnahme mit Rudolf Schock neu instrumentiert (Eurodisc 200090-366). Das Kohlhaas-Fremdmaterial im einzelnen: Leo de Langenaus Lindenlied aus Georg Forsters Frische teutsche Liedlein, ein Maienlied, das Kyrie aus der Palestrina-Messe Emendemus, das Hildebrand-Lied, Walter von der Vogelweides Ich saz uf eime steine auf die Melodie Mir hat ein Liht von Franken, der Choral Us not schrey ich zu dir und zwei alte Tanzlieder. Apropos Fremdmaterial: Vor der Premiere bereits bezog Hans Költzsch (Hans Költzsch, Der neue deutsche Opernspielplan, in: Zeitschrift für Musik 100, 1933, S. 996f.) Michael Kohlhaas in seine herbe Kritik (von rechts!) der „völkisch deutschen Oper unserer Tage“ ein. Neben ideologischer Rückständigkeit warf er den Komponisten – neben Klenau u. a. Graener und Vollerthun – weitgehendes „Unvermögen“ vor. Bezeichnend sei die Zitatenflut, so daß „beste Teile ihres musikalischen Ausdrucks gar nicht von ihnen selbst stammen“: „Wie fremd“ stehe bspw. „das Walther-Lied, der Luther-Choral inmitten des technisch wie psychologisch über-differenzierten Apparates von Klenau“.
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Beispiel 2: Elisabeth von England, T. 8–10. Den Takten voraus geht eine reihentechnisch nicht gebundene Fanfare der Trompeten (B-Dur – Es-Dur), begleitet von Viertelschlägen der großen Trommel mit Becken. Im 1. Takt des Notenbeispiels erkennen wir die Grundreihe, im 2.–3. Takt die Umkehrung:
Beispiel 3: Elisabeth von England, Grundreihe und Umkehrung. Harmonische Aspekte sind in der Reihe angelegt, gewisse Hilfestellungen aber nötig. So wird ein Ton wie – hier freilich noch nicht so deutlich wie im späteren Verlauf – das G im letzten Akkord des 1. Taktes gleichsam wiederaufgenommen, obwohl die Reihe schon vorangeschritten ist. So werden Töne aus dem Nichts hinzugezogen wie im 1. Akkord des zweiten Taktes das H, im 3. Takt das D. In den Folgetakten wird das Transponieren dieser Reihe zur Produktion von Sequenzmodellen hergenommen, wobei der Verschiebemeister die zum tonalen Harmonisieren wenig einladenden Anfangstöne meist schnell hinter sich bringt und ausnahmslos mit einem reihentechnisch inkonsequenten, aber ideologisch reinen Dreiklang schließt. Im Notenbeispiel übrigens ebenfalls ohne Reihenanbindung ist der dissonierende Baßgang E–Es, der den schönen Ausrufesatz „Geht zum Teufel!“ einleitet, mit dem man versucht ist, alle drei vom – so Geheimrat Ziegler85 – „ganz of-
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Ziegler, Entartete Musik (Anm. 4), S. 22.
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fenbar germanischen Element des Dreiklangs“ überfüllten oder – so Klenau86 – um das „Problem der schuldlosen Schuld“ (zu ergänzen: des NS-Staates) kreisenden Opern in den Orkus zu schicken. Ein Trost immerhin bleibt: Klenaus immer wieder herbeigeschriebene „Größe des Wollens“ sowie seine „lebhaften“, „leidenschaftlichen“ bis „rauschenden“ Premierenerfolge standen in tristem Widerspruch zur Aufführungsfrequenz. Keine der drei Opern durchbrach trotz bis zu vier Spielorten die Schallmauer von 20 Aufführungen.87 Daß ihm immer wieder und mit großem Aufwand im „staatlich gelenkten Opernbetrieb“ die Gelegenheit geboten wurde, seine „zukunftgerichtete, der nationalsozialistischen Welt entsprechende Kunst“, seine
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Zit. nach Wilhelm Fett, Neuer musikdramatischer Stilwille. Klenaus „Elisabeth von England“ im Stadttheater, in: Kasseler Post 57 (1939), H. 90, S. 2 und 7, hier S. 2. Einige Daten zu den Aufführungen der drei Opern Klenaus. Vgl. Wilhelm Altmann, Opernstatistik, veröffentlicht für die jeweils zurückliegende Spielzeit in den Septemberheften der Allgemeinen Musikzeitung 60.–69. Jg. (1933–1942), sowie Aufführungshinweise in Signale für die musikalische Welt 99 (1941), H. 13/14, S. 132, H. 17/18, S. 166: 1) Michael Kohlhaas (Universal-Edition, Kl.-Ausz. Wien–Leipzig 1933) a – UA: 4. November 1933 Staatstheater Stuttgart (Musikalische Leitung: Karl Leonhardt, Inszenierung: Otto Krauß) b – Ab 7. März 1934 Städtische Oper Berlin (Musikalische Leitung: Rudolf Schulz-Dornburg, Inszenierung: Wolf Völker a. G.) 1933/34: 17 Aufführungen (nicht differenziert) 2) Rembrandt van Rijn (Bote & Bock, Kl.-Ausz. Berlin 1936) a/b – UA: 23. Jänner 1937 Staatsoper Berlin und Staatstheater Stuttgart (Berlin: Musikalische Leitung: Robert Heger, Inszenierung: Josef Gielen; Stuttgart: Musikalische Leitung: Otto Kraus, Inszenierung: Otto Krauß) c – Spielzeit 1939/40 Stadttheater Troppau (keine weiteren Daten ermittelt) 1936/37: 11 Aufführungen (nicht differenziert) 1937/38: 1 Aufführung (Berlin) 1938/39: 1 Aufführung (Berlin) 1939/40: 4 Aufführungen (Troppau) 3) Elisabeth von England (Die Königin) (Universal-Edition, Kl.-Ausz. Wien–Leipzig 1938) a – UA: 25. März 1939 Staatstheater Kassel (Musikalische Leitung: Robert Heger, Inszenierung: Hans Ulbrich) b – Ab 28. Mai 1940 Staatsoper Berlin (Musikalische Leitung: Robert Heger, Inszenierung: Hans Tietjen) c – Ab 8. März 1941 Königl. Theater Kopenhagen (dänischer Titel: Dronningen) (Musikalische Leitung: Egisto Tango, Inszenierung: Paul von Klenau) d – Ab März/April 1941 Opernhaus Hannover (Musikalische Leitung: Rudolf Krasselt, Inszenierung: Hans Ulbrich) 1938/39: 6 Aufführungen (Kassel) 1939/40: 4 Aufführungen (Berlin) 1940/41: 2 Aufführungen (Berlin), 7 Aufführungen (Hannover) Übrigens hatte Klenau bereits Anfang der 1940er Jahre eine vierte Oper fertiggestellt: König Tanmoor, im inzwischen deutschbesetzten Skandinavien angesiedelt, wurde aber weder verlegt noch aufgeführt. Und übrigens brachte der Hamburger Sender am 16. Mai 1934 in seiner „Stunde der Lebenden“ Drei Bruchstücke aus Michael Kohlhaas (vgl. Die Musik 26, 1934/10, S. 768), was auf eine gewisse Medienpräsenz Klenaus schließen läßt. Von dieser 25minütigen Radioaufführung seiner durchwegs zwölftönigen Opern-Bruchstücke war der Komponist allerdings wenig angetan: „Falsche Tempi, völlig unverständliches Orchester und ein Sänger, der x falsche Höhen sang“ (Brief an Berg vom 17. Mai 1934, ÖNB). Anscheinend war hier – ausnahmsweise – weniger aufwendig produziert worden.
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„ethische Volksnähe und ein handwerkliches Können, das mit allen willkürlichen individualistischen Umtrieben im Reiche der Töne aufräumt“88,
auf die Bühne zu bringen, daß es Klenau außerdem gelang, 1940 – zu Zeiten, als Fried Walters Königin Elisabeth nach sechs tatsächlich erfolgreichen Hamburger Aufführungen kriegsbedingt abgesetzt wurde – seine Elisabeth mit wenigen Änderungen nur89 unter dem Titel Die Königin nach Berlin und Hannover zu transferieren, läßt auf eine nicht geringe Nähe zu den theaterpolitischen Machtpolen schließen.90 Hänschen klein „Wer aber das Getriebe allzu gut kennt, verlernt darüber es zu erkennen; ihm schwinden die Fähigkeiten der Differenz, und wie den anderen der Fetischismus der Kultur, so bedroht ihn der Rückfall in die Barbarei.“
Von Machtpolnähe kann bei Winfried Zillig zunächst nicht gesprochen werden, ebenso wenig freilich davon, daß „das Hitlersche Reich ihn als Komponisten ausschaltete“, da „er, wie selbstverständlich, unter das barbarische Verbot der damals so genannten entarteten Musik“ geriet.91 88 89 90
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Klenau, Zu Paul von Klenaus „Michael Kohlhaas“ (Anm. 63), S. 531. Vgl. Stege, Paul von Klenaus „Königin“ (Anm. 80). Mit steigender Tendenz scheint dies der Göringsche Machtbereich gewesen zu sein, Elisabeth von England schließlich wurde allein von den hoch subventionierten preußischen Opernbühnen Kassel–Berlin– Hannover gespielt. Bei der NS-Kulturgemeinde indes, der er seine 1918 entstandene (und 1924 umgearbeitete) Oper Gudrun auf Island andienen wollte – sie sei schließlich „ganz und gar aus nordischgermanischem, völkischem Geiste geschaffen“ (zit. nach Prieberg, Musik im NS-Staat, Anm. 68, S. 305) –, konnte Klenau nicht landen. Ab 1939 begleiteten Klenaus Opern die NS-Annexionen: Rembrandt van Rijn 1939/40 ins Troppauer Stadttheater, das gerade „zu einer besonderen Pflegstätte der deutschen Oper“ bzw. – im Feldwebelton – „zum kulturellen Stützpunkt des Sudetenlandes ausgebaut“ wurde (Opern-Nachrichten in Signale für die musikalische Welt 97, 1939, H. 35/36, S. 463, H. 39/40, S. 491); Die Königin 1941 neben den kriegsführenden Truppen auch den Komponisten in sein Geburtsland, wo er scheinbar ohne weitere nennenswerte Protektion und bis zu seinem Tod am 31. August 1946 blieb. Theodor W. Adorno, Winfried Zillig. Möglichkeit und Wirklichkeit [1964], in: ders. Impromptus. Zweite Folge neu gedruckter musikalischer Aufsätze, Frankfurt am Main 31970, S. 157–165, hier S. 158; ders., Zilligs Verlaine-Lieder [1961], in: ders., Moments musicaux. Neu gedruckte Aufsätze 1928–1962, Frankfurt am Main 1964, S. 141–152, hier S. 143. Die vermeintliche „Ächtung“ seiner Musik im NS-Staat wurde von Zillig selbst in die Welt gesetzt. In der Folge zog sich diese Sicht der Dinge leitmotivisch durch die Zillig-Literatur der 1950er und 1960er Jahre: vgl. bspw. Ulrich Dibelius, Winfried Zillig, in: Musica 12 (1958), S. 651–655, hier S. 654; Siegfried Günther, Winfried Zillig. Komponist und Dirigent Neuer Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik 122 (1961), S. 446f., hier S. 446. In seiner eidesstattlichen Erklärung vom 20. März 1947 für das Entnazifizierungsverfahren des einst im Propagandaministerium tätigen Gerhard Scherler (den Zillig 1931 als Dramaturgen am Landestheater Oldenburg kennengelernt hatte) geht er gar so weit zu behaupten, daß es allein
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Derlei Ehrenrettung eines Mannes, der sich nach 1945 durch sein engagiertes Eintreten für die neue Musik und insbesondere das Werk seines Lehrers – Zillig instrumentierte bspw. die Jakobsleiter – „gegen das musikalische Dunkelmännertum“92 exponierte, wird den Verstrickungen und Verstrebungen unterm „schönen Schein des Dritten Reiches“ (Peter Reichel) kaum gerecht. Zwar bestätigte sich Zillig selbst „äußerlich [...] einen ganz unauffälligen Weg am Theater“93, auffälligerweise indes mündete dieser Weg – nach und neben seinen Beiträgen zu chauvinistischen Theaterstücken oder für die auf Hannenheims „Formel für alles, was heute geschieht“ eingeschworene NS-Kulturgemeinde, seinem Mitwirken an „Blubo“-Filmen oder der innermusikalischen Liquidation Mendelssohn Bartholdys94 – mündete also dieser nicht ganz so unauffällige Weg nicht nur 1940 in die bereits erwähnten kulturpolitischen Führungspositionen im eben erst einverleibten Gau Wartheland, sondern auch im „Typus der heroischen Oper“, zu der er sich 1944 in Carl Niessens Die Deutsche Oper der Gegenwart bekannte. Ja, er wolle
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Scherlers Verdienst gewesen sei, daß ihm nicht „das ‚Handwerk gelegt‘ wurde“. Scherler habe ihm, der „in der Abteilung Musik des Propagandaministeriums als Atonalist und Antinazi missliebigst bekannt“ war und „als Nichtparteimitglied eigentlich keinerlei ‚Position‘ hätte begleiten können“, die „Leitung der Oper in Posen“ verschafft und immer wieder „die auf Existenzvernichtung und Diffamierung ausgehenden Versuche des Gaus erstickt“. Nebenbei habe Scherler auch Billinger durch „geschicktes und mutiges Eintreten“ vor der Liquidierung durch die Gestapo gerettet; zit. nach Silke Hilger, Autonom oder angewandt?. Zu den Hörspielmusiken von Winfried Zillig und Bernd Alois Zimmermann (= Kölner Schriften zur Neuen Musik, Bd. 5), Mainz u. a. 1996, S. 16f. Das hätte man eigentlich wissen sollen: Allen Infizierten ging es zwölf Jahre lang natürlich um nichts anderes als um „eine bewusste Betonung der kosmopolitischen Sendung der Kunst“ (zit. nach ebenda, S. 17). Adorno, Zilligs Verlaine-Lieder (Anm. 91), S. 143. Winfried Zillig, Von Wagner bis Strauss. Wegbereiter der neuen Musik, München 1966, S. 187. Bspw. Zilligs Bühnenmusiken zu Europa brennt! (1935; vgl. Prieberg, Musik im NS-Staat, Anm. 68, S. 137) und den Reichsfestspielen (vgl. Carl Niessen (Hg.), Die deutsche Oper der Gegenwart [mit faksimilierten Lebensläufen zahlreicher Komponisten, darunter u. a. Klenau, Fried Walter, Zillig], Regensburg 1944, S. 307 und 362), der – neben den Reichstheaterwochen – repräsentativsten Veranstaltung Goebbelsscher Theaterpolitik, seine Romantische Sinfonie in C-Dur für den „Tag der Kunst“ der kulturpolitischen Konkurrenz, die Rosenbergsche NS-Kulturgemeinde (vgl. Die Musik 28, 1936, H. 10, S. 789) sowie seine Musik zum „Blubo“-Film Der Schimmelreiter (1933), der das heimatliche Kolorit der Stormschen Vorlage in einen „Heimatfilm von deutschen Menschen, deutschen Räumen, deutschen Gegenden“ transferierte. Oskar Kalbus, zit. nach Francis Courtade / Pierre Cadars, Geschichte des Films im Dritten Reich, München 1975, S. 153. Es folgen zwölf weitere Filmmusiken – und seine ab Mai 1939 in Essen gespielte Sommernachtstraum-Musik. Vgl. Prieberg, Musik im NS-Staat (Anm. 68), S. 158. Nur aus den im Zillig-Nachlaß der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrten Briefen kann geschlossen werden, „daß Zillig auch Propagandamärsche und andere Auftragskompositionen für nationalsozialistische Feierstunden u. ä. schrieb“; Hilger, Autonom oder angewandt? (Anm. 91), S. 15. Erhalten ist – dort zumindest – nichts von diesen musiksprachlichen Ergebenheitsadressen. Dafür aber – von Matthias Henke (Ein Freund! Ein guter Freund? Winfried Zilligs Beziehung zu Arnold Schönberg, in: Arnold Schönberg in Berlin. Bericht zum Symposium – Report of the Symposium, 28.–30. September 2000, hrsg. von Christian Meyer (= Journal of the Arnold Schönberg Center 3/2001), Wien 2001, S. 191–207, hier S. 199ff.) gesichtet – im Archiv des Kasseler Bärenreiter-Verlages: 1939 etwa vom musikalischen Beiwerk zur abendfüllenden Konzerngeschichtsklitterung der Düsseldorfer Mannesmann-Röhrenwerke bis hin zur umfangreichen Musikproduktion für eine Feierstunde am Reichsparteitag: „Fragt nicht nach Zweifeln. Das Gesetz des Führers ist größer“ heißt es dort unter anderem – Zillig hat dem Rat seines unbekannten Textautors weitere Taten folgen lassen.
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„diesen Weg bewußt und streng weiter[gehen], im festen Glauben, aus den Quellen des Geistes eine neue Opernform gewinnen zu helfen, die der Klarheit, der Größe und des Heroismus unserer Zeit würdig ist!“.95
Die erste seiner Opern konnte sich noch nicht der in Mord und Totschlag materialisierten „Quellen“ dieses „Geistes“ versichern, denn der Einakter Der Roßknecht (später – und wie vordem die Textvorlage – Rosse genannt) war bereits fertiggestellt, als die Macht an die Nazis übergeben wurde. Uraufgeführt am 11. Februar 1933 an seiner Arbeitsstelle, der Düsseldorfer Oper, unter der Leitung des Generalmusikdirektors Jascha Horenstein (und zusammen übrigens mit Othmar Schoecks Vom Fischer un syner Frau und Hermann Reutters Der verlorene Sohn, der aus der Hoch-Zeit der Kammeropern-Einakter Ende der 1920er Jahre stammt), geriet Der Roßknecht mittelbar in den Sog der ersten nazistischen „Säuberungswelle“. Zwei Tage nach der Uraufführung nämlich, am 13. Februar, setzte im Düsseldorfer NS-Blatt Volksparole die Hetzkampagne gegen ihren Dirigenten ein: „Der russische Jude Horenstein muß aus dem Düsseldorfer Theater verschwinden“.96
Tatsächlich war Horenstein Anfang März gekündigt; Zilligs Roßknecht hingegen nach sieben Aufführungen abgespielt, ohne daß der Einsatz von Nazi-Störtrupps notwendig geworden wäre wie bspw. bei der am 18. Februar 1933 in drei Städten – Leipzig, Magdeburg und Erfurt – gleichzeitig uraufgeführten Weill-Oper Der Silbersee. Im Gegensatz zu diesen Vorkommnissen scheinen die wenigen Aufführungen der Zillig-Oper weder dem Kesseltreiben um Horenstein97 geschuldet noch der „Ächtung dieser Art von Musik im Dritten Reich“98. In der Uraufführungskritik jedenfalls ging „die oft recht unbequeme Musik“ als „Gesellenstück“ eines „Opernnovizen“ durch, von dem „für die Zukunft allerlei zu erwarten“99 sei, war aber zugleich der vom Komponisten in späteren Jahren erinnerte „außerordentliche Erfolg“100 gerade noch ein „freundlicher“101. Die Textvorlage zum Roßknecht stammte wie die zur dritten, 1941 in Leipzig uraufgeführten Oper Die Windsbraut (und zu zwei weiteren Zillig-Opern nach 1945) von Richard Billinger (1890–1965), einem „tanzenden Bauernschrank“ aus Oberöster95 96
Niessen, Die deutsche Oper der Gegenwart (Anm. 94), S. 308. Zit. nach Eckhard John, Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938, Stuttgart–Weimar 1994, S. 340. 97 Die Nazistrategen schlugen Horenstein noch 1940 via Lexikon der Juden in der Musik ins Gesicht: „H. wurde 1929 aufgrund seiner Abstammung 1. Opernkapellmeister in Düsseldorf, obwohl ihm jede fachliche Voraussetzung für einen so wichtigen Dirigentenposten fehlte. Obgleich ihm in einer ausführlichen, einzeln begründeten Beschwerdeschrift des Städt. Orchesters Düsseldorf an den Oberbürgermeister die völlige dirigiertechnische Unfähigkeit nachgewiesen wurde, hielt man H. bis 1933 in seiner Stellung“. Stengel/Gerigk, Lexikon der Juden in der Musik (Anm. 13), S. 116. 98 Zillig, Von Wagner bis Strauss (Anm. 93), S. 189. 99 E.[rnst] Suter, Uraufführung: Winfried Zillig: „Der Roßknecht“, in: Zeitschrift für Musik 100 (1933), H. 3, S. 271. 100 Zillig, Von Wagner bis Strauss (Anm. 93), S. 189. 101 Suter, Uraufführung: Winfried Zillig (Anm. 99), S. 271.
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reich „mit Kostbarkeiten unter Gerümpel“, so nach ’45 der Hamburger Dramaturg Benninghoff: „Da er unter ‚Blut und Boden‘ ging, identifizierte man ihn wohl mit Nazi“.102
Ob er einer war, sei dahingestellt.103 Jedenfalls feierte er den „Anschluß“ Österreichs mit seinem Vierzeiler Adolf Hitler104 und wurden seine Dramen genannten ländlichen Sittenbilder zwischen „tümlicher“ Brunst bis Blutrunst und dämonischen Naturgewalten im NS-staatlichen Theaterbetrieb wacker gespielt. Der Gigant, 1937 in Berlin durch Gustav Gründgens uraufgeführt, geriet 1942 gar vor die Kameras von Jud Süß-Regisseur Veit Harlan, der das immergleiche, diesmal in und um die Goldene Stadt Prag postierte Billinger-Thema Land-Stadt auf – so der Rapport eines SS-Gruppenführers105 – „rassenpolitisches Gebiet“ verlegte, auf dem alles Unglück, das den braven deutschen Bauern traf, von Verbrechern und Säufern angerichtet wurde, die eines nur gemeinsam hatten: Sie waren ausnahmslos Tschechen.106 Billingers „veristische Skizze“107 ist schnell erzählt: Der Roßknecht Franz will nicht wahrhaben, daß in der Landwirtschaft durch die Technisierung eine neue Epoche angebrochen ist. Er sticht den Maschinenhändler Alois nieder und erhängt sich. „Man könnte auch sagen“, so der Autor, „mein Stück handelt von der geheimnisvollen, beinahe ehelichen Beziehung zwischen Mensch und Tier, die durch die Maschinen vernichtet wird“ 108. 102 103
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Erich Lüth, Hamburger Theater 1933–1945. Ein theatergeschichtlicher Versuch, hrsg. von der Theatersammlung der Hamburgischen Universität, Hamburg 1962, S. 45. Anfang 1935 war Billinger kurzzeitig in die Fänge der Gestapo geraten, die ihn – so Bermann Fischer (Gottfried Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt. Der Weg eines Verlegers, Frankfurt am Main 1967, S. 107) – „wegen seiner Freundschaft mit einem desertierten Reichswehrsoldaten gleich mitverhaftet“ hatten bzw. – so Rabenstein (Edith Rabenstein, Dichtung zwischen Tradition und Moderne: Richard Billinger. Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte und zum Werk (= Europäische Hochschulschriften Reihe I, Bd. 1052), Frankfurt am Main 1988, S. 91) – „aufgrund einer Anzeige“ seines Schriftstellerkollegen Joseph Magnus Wehner wegen „widernatürlicher Unzucht“ in Untersuchungshaft nahm. Auch wenn Billinger und der Mitangeklagte Johann Reil am 23. März 1935 vom Amtsgericht München freigesprochen werden, scheint nicht unwesentlich für seine Kollaboration mit den Nazis die ständige Angst vor Verfolgung dessen gewesen zu sein, was Benninghoff (zit. nach Lüth, Hamburger Theater, Anm. 102, S. 45) in der üblichen (Un-)Verschämtheit als „unselig durch Veranlagung“ codiert. Vgl. Joseph Wulf, Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main– Berlin–Wien 1983, S. 410. Zit. nach Wulf, Theater und Film im Dritten Reich (Anm. 15), S. 351. Seinen enormen Erfolg bei den Volksgenossen verdankte der Film indes weniger dieser nazistischen Schwarzweiß-Malerei als der hier im Nazi-Reich zum zweiten Mal zum Einsatz gebrachten AgfacolorTechnik – unter Abspielen übrigens von in die Filmmusik des eilfertigen Hans-Otto Borgmann gezwungenen Smetana-Melodien. Vgl. zu Harlans Die Goldene Stadt Courtade/Cadars, Geschichte des Films im Dritten Reich (Anm. 94), S. 263f. Dank erfolgloser Aufarbeitung der Vergangenheit konnte übrigens Billinger in den 1950er Jahren durch die Wiederaufführung der Goldenen Stadt die Restschuld seines Eigenheims in Niederpöcking tilgen; vgl. Bortenschlager, Richard Billinger. Leben und Werk, Wels 1981, S. 53. E.[rnst] Suter, „Der Roßknecht“. Uraufführung einer Oper von Winfried Zillig im Düsseldorfer Opernhaus, in: Allgemeine Musikzeitung 60 (1933), H. 9, S. 112f., hier S. 113. Zit. nach Bortenschlager, Richard Billinger (Anm. 106), S. 125.
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Die Vertonung dieser Ehekrise ist nun in der Tat, wie die Kritik bereits erkannte, „von einem konsequent durchgeführten konstruktiven Programm bestimmt“109.
Name: Zwölftontechnik, „Pate“ – laut Kritik – „Alban Berg“110. Ein Blick ins „Programmheft“: Die zugrundeliegende Zwölftonreihe, eine durch unregelmäßige Sekundfortschreitungen gebrochene chromatische Tonleiter, macht zwei Materialvorgaben. Durch die einzige eingeschobene kleine Terz teilt sie sich in zwei Sechsergruppen, durch Terzverwandtschaft in drei Vierergruppen:
Beispiel 4: Der Roßknecht, Grundreihe. Gleich zu Beginn der Oper werden die unterschiedlichen Tendenzen dieser Vorgaben vorgestellt. Die Vierergruppen werden zur tonal orientierten Begleitformel geschichtet, die Sechsergruppen im rhythmischen Querstand dazu zur horizontalen Reihenvorstellung hergenommen und in der Folge ohne reihentechnische Stringenz der multiplizierten rhythmischen Zelle untergeordnet:111
Beispiel 5: Der Roßknecht, T.1–4. 109 110 111
Suter, „Der Roßknecht“ (Anm. 107), S. 113. Suter, Uraufführung: Winfried Zillig (Anm. 99), S. 271; auch Hans W. David, Billinger-Zilligs „Roßknecht“ in Düsseldorf, in: Melos 12 (1933), H. 3, S. 107. Der Klavier-Auszug von Rosse (Kassel: Bärenreiter 1960) ist leider fehlerhaft. So sind bereits bei der ersten Reihenvorstellung T. 1ff., oberstes System, der 1. Reihenton mit a1 statt as1 und der 9. Reihenton mit e² statt es² verzeichnet.
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Die nach zwei Vorstellungen verschwindende prägnante Begleitformel ist semantisch aufgeladen. Nach 270 Takten erst kehrt sie wieder, den vom Roßknecht an die Stalltür geschriebenen „Leitspruch“112, „Mit dem Roß und Pferde Gott gelobet werde!“, kommentierend und ihm von nun an bis zum blutigen Ende leitmotivisch an die Seite gestellt. In den Verfahrensweisen deuten sich schon hier – zumal in der rhythmisch reduzierten, auf einer Reihentranposition (Rc) basierenden zweiten Stimme – gewisse reihentechnische Freiheiten an. Wenig später werden einerseits zwar neue Reihenaspekte integriert (bspw. die harmonische Kontraktion durch Überspringen je eines Reihentones), zugleich aber konsequente Reihenverarbeitungen zugunsten einer gleichlaufenden Motorik zeitweise außer Kraft gesetzt. Melodisch kontrastiert Improvisatorisches mehr und mehr mit Partikeln der Ausgangssituation (Beispiel 6). Die Begleitung verharrt über lange Strecken in Achtel-Vierergruppen. Intern indes werden die Gruppen neu schattiert, indem Reihenmodifikationen hinzutreten oder die Vierergruppen miteinander kommunizieren und Töne austauschen (Beispiel 7). Erst wenn der Vorhang sich öffnet und den Blick in die karge Knechtskammer freigibt, ändert sich die Musik. Das „sehr rasche und wilde“ Tempo fällt ebenso in sich zusammen wie die Dynamik und die polyphone Satzstruktur, die substituiert wird durch zwei sich ostinat wiederholende, wenig später als gleichsam stolperndes Pattern aus dem Gleis geratende Sechsklänge (Beispiel 8).
Beispiel 6: Der Roßknecht, T. 18–20.
Beispiel 7: Der Roßknecht, T. 36–38. 112
David, Billinger-Zilligs „Roßknecht“ (Anm. 110), S. 107.
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Beispiel 8: Der Roßknecht, T. 54–56. Die reihentechnische Organisation der Sechsklänge bzw. der beiden übereinandergeschichteten unterschiedlichen Dreiklänge schließt an die Verfahrensweise von T. 18 an, kehrt allerdings die Richtung um. Jetzt wandert jeder Ton des ersten Akkordes nicht zum übernächsten Reihenton, sondern zum vorvorherigen. Auf konstruktiv einfachste Weise, indem nämlich diese Wanderung im Einzelfalle die Bewegungsrichtung ändert, werden im Verlauf immer neue Klänge installiert:
Beispiel 9: Der Roßknecht, Sechsklang-Fortschreitungen. Der gesamte Einstieg kehrt, verändert freilich, am Schluß des Einakters wieder – im Falle der „ruhigen“ Passage weniger als formale Klammer, denn – mit Bedeutung aufgeladen – als Kommentierung des traurigen Endes, des Selbstmordes von Franz. Darauf weist der dominierende Kleinsekundfall ebenso wie das in die jeweilige Oberstimme der Dreiklänge eingeschriebene (und in Schönberg-Kreisen nicht eben seltene) BACH–Motiv:
Beispiel 10: Der Roßknecht, T. 54ff./1008ff.
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Daß Alban Berg diesem „konstruktiven Programm“ Pate gestanden habe, ist schwerlich vorstellbar, vom Roßhändler Kohlhaas freilich ist der Roßknecht Franz auch musikalisch um Klassen entfernt. Auf anderen Ebenen scheint allerdings die Patenschaft, konkret die des Berg-Büchnerschen Namensvetters gesichert: Zillig, der sein „ ‚Wozzeck‘-Erlebnis“113 Anfang 1929 hatte, als er in seiner Funktion als Solorepetitor an der ersten Provinzaufführung in Oldenburg beteiligt war,114 knüpft in seiner dramaturgischen Disposition und den damit verbundenen szenischen wie kompositorischen Maßnahmen sehr direkt an Wozzeck an. Paradigmatisch hier die Wirtshausszenen, in denen auch beim Roßknecht eine Tanzkapelle auf der Bühne sitzt. Diese bedient sich zwar derselben Genres wie im Wozzeck – Ländler und Schnellpolka –, gibt sich aber gegenüber der trunken-verstimmten Heurigenmusik Bergs weit robuster mit einer original-alpenländischen „Bloasmusik“-Besetzung und einem allein durch die Infiltration von Tritonus-Gegenklängen geschärften Klangbild. Wie im Prinzip alle Kompositionen Zilligs, dessen Gesamtwerk in diesem Sinne einheitlich, durch keine Brüche oder Entwicklungsschritte gekennzeichnet ist, sucht auch sein Roßknecht strenge Reihenbehandlung und dynamische Motorik zu verbinden. Diese Synthese arbeitet auf der Adornoschen Rückseite des Mondes, den an Strawinsky orientierten Verfahrensweisen, mit deutlich bis ostinat konturierten rhythmischen Mustern und der Verschiebung von Melodiepartikeln. Daß die mit süddeutschem bzw. alpenländischem Idiom aufgeladenen dynamischen Mittel sich nicht am Rande des Zwölftongeschehens ereignen, sondern substantiell in die kompositorische Arbeit eingelassen sind, hat Adorno zum nachgerufenen Vorwurf kompositorischer „Regression“ verdichtet: „Der Musikant ward zum Splitter im Auge des Musikers“115. Im Roßknecht ist das reihentechnische Fundament dieser „tonalen Musikalität“116 noch nicht umfassend abgesichert, vieles eher improvisatorisch orientiert und zumal das Herbeizitieren der Tanzmusiken ohne konkrete Reihenanbindung. In Zilligs zweiter Oper Das Opfer wird die harmonische Ebene, um einen Aspekt herauszugreifen, durch immer neue, gleichsam fortschreitende Extraktionen aus der Grundreihe gewonnen. Die Reihe selbst basiert auf dem konstanten Wechsel von kleiner Sekund und kleiner Terz. Durch den Richtungswechsel des 2. (und 5.) Halbtonschritts erfolgt eine gewisse Strukturierung, die die zweite Reihenhälfte als Ganztontransposition der ersten kenntlich macht:
113 114
115 116
Zillig, Von Wagner bis Strauss (Anm. 93), S. 189. Wozzeck-Premiere im Landestheater Oldenburg am 5. März 1929 (dirigiert von Johannes Schüler, nach 1933 Staatskapellmeister an der Berliner Staatsoper) und zwei Abende zuvor von einem Vortrag Bergs eingeleitet. Adorno, Winfried Zillig (Anm. 91), S. 163. Ebenda S. 159.
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Beispiel 11: Das Opfer, Grundreihe. Der erste Schritt zu einer für die gesamte Oper verbindlichen harmonischen Basis ähnelt dem bereits bekannten Verfahren, jeweils einen Ton zu überspringen. Zunächst werden die Reihentöne zu Zweiergruppen zusammengefaßt:
Beispiel 12: Das Opfer, Zweiergruppierungen. Diese Zweiergruppen werden nun zu tonalen Klängen geschichtet, zwei Moll- und zwei Dur-Dreiklängen, die jeweils im Tritonusverhältnis stehen:
Beispiel 13: Das Opfer, Dreiklangsbildungen. Die inneren Basisharmonien C-Dur – Fis-Dur werden zu Beginn der Oper isoliert und zu Septakkorden erweitert. Die Akkordverschiebungen beruhen indes allein auf dem Tausch von zwei Tönen. So spreizt sich zum T. 3 auf den schweren Taktteilen die Quart g1–c² halbtönig zur Quint fis1–cis², auf den leichten zieht sich die Quint Fis1–Cis (oktavierend) zur Quart C–G zusammen. Die derart produzierten Akkorde stehen ebenso im Tritonusverhältnis wie die konstanten Töne b–e², hier allerdings um eine Oktav entfernt:
Beispiel 14: Das Opfer, T. 1ff.
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In der II. Scene werden die vier Grundklänge durch einfache Reihentransposition verschoben. Rc ergibt die (Akkord-)Folge c–E–B–fis, Re die Folge e–As–D–b. Im III. Chor werden die Basisklänge von neuen harmonischen Extraktionen verdrängt:
Beispiel 15: Das Opfer, Harmonik, III. Chor. Die zur Verfügung stehenden sieben Akkorde werden in diesem kurzen Chorteil im Abstand von wenigen Takten eingeführt – zunächst Ü1 (c–e–as) und V1 (e–ais–cis), dann Ü2–4 (T. 3, 6, 8), V2–3 (T. 9, 10). Im weiteren Verlauf werden die einzelnen Töne transponierter Septakkorde in die Horizontale geschoben und zu Dreiklängen erweitert usw. usf. Gegenüber seinem „Gesellenstück“ verfolgt Zillig hier ein vielschichtigeres harmonisches Konzept, dessen Ausgangspunkt das Summieren der Reihentöne zu vier Dreiklängen bildet. Das tonale Gewicht dieser Basisharmonien läßt ohne Orientierungsverlust Ausflüge in ferner liegende, indes weiterhin und durchgängig terzgeschichtete harmonische Gebiete zu. Den Uraufführungskritikern indes fiel – durchaus negativ – auf, daß auf dieser recht harmlos erscheinenden harmonischen Grundlage mit „unerbittlicher Herbheit“ musiziert wurde. Der „hoffnungsreiche, stark begabte“ Komponist habe hier wohl „nicht dem Vergnügen und der Sensationslust des Hörers dienen“ wollen, aber da „wir [...] ihn auch anders“ kennen, wurde er behutsam nur zum Rückzug aufgefordert bzw. der „eisigen Polarluft“ seiner Musik ausgesetzt.117 In diesen Breitengraden nämlich spielte sich das am 12. November 1937 in Hamburg uraufgeführte Opfer ab: Einem der Teilnehmer an der Antarktis-Expedition Scotts im Jahre 1912 sind die Füße erfroren, er kann auf dem Rückmarsch vom Pol nicht mehr folgen. Die anderen sehen sich gezwungen, ihr Marschtempo mehr und mehr zu verlangsamen. „Da entschließt sich Oates zum heroischen Opfer: freiwillig verläßt er das schützende Zelt und findet den weißen Tod im Schneesturm“118:
117
118
Walther Krüger, Neue Bühnenwerke in der Hamburgischen Staatsoper. Winfried Zillig: „Das Opfer“ (Uraufführung). Karol Szymanowski: „Der Brautraub“ (Erstaufführung in Deutschland), in: Allgemeine Musikzeitung 64, H. 48 (1937), S. 705f., hier S. 705; Richard Ohlekopf, Hamb. Staatsoper: Uraufführung „Das Opfer“. Oper von Reinhard Goering. Musik von Winfried Zillig, in: Signale für die musikalische Welt 95 (1937), S. 644f., hier S. 645. Krüger, Neue Bühnenwerke in der Hamburgischen Staatsoper (Anm. 117), S. 705.
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„Ein Beispiel höchster Pflichterfüllung“, wie Expeditionschef Scott gegen Ende der Oper resümiert. Daß solch ein Bühnengeschehen für die NS-Ideologen voll funktionabel war, versteht sich: Das Hohelied des Heldischen, Ehre und Kameradschaft als passiver Heroismus des Selbstopfers, Pflicht und Treue als sinnlose Opferbereitschaft (denn auch die anderen werden nicht gerettet). Von einer „kultischen Feier“119 wurde geschrieben, einem „Weihestück für hohe Gedenktage“120, und immer wieder vom „Ethos“, vom „starken Ethos“121, von den „ethischen Erschütterungen im Sinne der antiken Tragödie“. Letzteres stammt von Zillig selbst – aus dem Jahre 1960, wo zugleich einige seither kursierende Enten in Umlauf gebracht wurden. So sei Das Opfer „auf Weisung des Propagandaministeriums nach wenigen Vorstellungen als ‚unerwünscht‘ vom Spielplan abgesetzt“ worden.122 Davon ist bislang nichts bekannt. Es kam zwar in der Tat nur zu vier Aufführungen, aber noch heutzutage wird einem neuen Werk selten mehr zugestanden, wenn – wie beim Opfer – nach dem letzten Vorhang aus den Zuschauerrängen neben „wenigen leidenschaftlichen Anhänglichkeitsbezeugungen“123 nur „eisige Polarluft“ weht, sprich: der Erfolg sich nicht einstellen will. Und so habe der Opfer-Texter Reinhard Goering (1887–1936) als „erschütternden Protest gegen Hitler“124 – und immerhin mehr als ein Jahr vor der Premiere – Selbstmord begangen. Diese gleichsam antifaschistische Weihe des Operngeschehens durch vorzeitiges Ableben ihres Urhebers, eines Autoren zumal, dessen Nähe zur „nationalsozialistischen Bewegung“ in seinen letzten Lebensjahren außer Frage steht,125 scheint mir paradigmatisch für die bundesrepublikanischen Bewältigungsstrategien des einst Infizierten. Während bspw. der „Hindemithläufer“ Wolfgang Fortner zur wundersamen Entbräunung gelangte, indem er die HJ-Uniform durch „rote Hosen“ substituierte und sein „Nazi-Moll“ durch Darmstädter ZwölftonBelehrungen,126 stilisierte das Pathos der Goeringschen Vorlage zur „Kraft, endgül119 120 121 122 123 124 125
126
Ebenda. Hans-Wilhelm Kuhlenkampf, „Das Opfer“ von Winfried Zillig, in: Die Musik 30 (1938), S. 268. Heinz Fuhrmann, Winfried Zillig: „Das Opfer“. Uraufführung am Hamburgischen Staatstheater, in: Zeitschrift für Musik 104 (1937), H. 12, S. 1395f., hier S. 1395. Winfried Zillig, Das Opfer [Begleittext zur Ausstrahlung im BR am 13. Juli 1960], in: Bayerischer Rundfunk: Programmheft, S. 54–56 [1960], hier S. 54 und 56. Fuhrmann, Winfried Zillig (Anm. 121), S. 1395; ebenso Krüger, Neue Bühnenwerke (Anm. 117), S. 705. Zillig, Das Opfer (Anm. 122), S. 56. Vgl. Hans Sarkowicz, Goering, Reinhard, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 4, hrsg. von Walter Killy, München 1989, S. 188f., hier S. 188; Dieter Hoffmann, Vorwort, in: Reinhard Goering: Prosa Dramen Verse, München 1961, S. 8–29, hier S. 18. Während laut Peter Jona Korn (zit. nach Fred K. Prieberg, Nach dem „Endsieg“ oder Musiker-Mimikry, in: Musik und Musikpolitik im nationalsozialistischen Deutschland, hrsg. von Hanns-Werner Heister und Hans-Günter Klein, Frankfurt am Main 1984, S. 289–296, hier S. 303) Fortner seine HJ-Uniform in den abgelaufenen zwölf Jahren „anscheinend nur zum Schlafengehen auszog“, erlebte Diether de la Motte (zit. nach Markus Grassl und Reinhard Kapp (Hg.), Darmstadt-Gespräche. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Wien, Wien–Köln–Weimar 1996, S. 9, 16) den „Hindemithläufer“ – ein von Zillig (Winfried Zillig, Variationen über neue Musik. Mit einem Vorwort von K.[arl] H.[einz] Ruppel, München 1959, S. 255) überliefertes „boshaftes Bonmot des Dritten Reichs“ – im Nachkriegs-Darmstadt in eben jenen „roten Hosen“. Vgl. zu Fortners musikalischer Produktion zwischen 1933 und 1945
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tig über die Natur den Sieg davonzutragen“. Einst indes hatte seine Opfermusik nichts weniger im Sinne, als das ständige Gerede von Ehre, Pflicht und Opfertod naturgewaltig zu neutralisieren und den Tod da zu belassen, wo er sich ereignete: in der Eiswüste. Folgerichtig scheint eher, daß zu Zeiten, als Zillig seine „neue Opernform [...] der Klarheit, der Größe und des Heroismus unserer Zeit würdig“ befand, diese „Quellen des Geistes“ schon ganz andere Landstriche verwüstet hinter sich gelassen hatten. Folgerichtig scheint auch, daß Goering in Zilligs Rückblende sich „in einer Fichtenschonung angesichts der Goethe-Stadt Weimar“127 das Leben nahm und eben nicht angesichts der Greueltaten im angrenzenden Buchenwald.128 Als nachgereichtes Arbeitsprogramm seiner Opernkompositionen berief sich Zillig129 auf Schönbergs „prophetisches Wort“: „Vielleicht gelingt es eines Tages, die
127 128
129
auch Walter Salmen, Der Lehrer und Komponist Wolfgang Fortner an der Wende 1944/45, in: Prof. Jirí Fukač. Festschrift/Commemorative Book, hrsg. von Stanislav Bohadlo, Hradec Králové – Náchod 1998, S. 124– 130. Zillig, Das Opfer (Anm. 122), S. 56. An Phantastereien über Goerings Tod mangelt es nicht: Neben der Protest-Version Zilligs ist Goering im KZ umgekommen (vgl. Robert Chapin Davis, Final Mutiny: Reinhard Goering. His Life and Art. Standford German Studies, Vol. 21, New York u. a. 1987, S. 402), von einem strammen Nazi ermordet worden (vgl. ebenda S. 398), hat sich „eine Spritze Gift injiziert“ (Hoffmann, Vorwort, Anm. 125, S. 16), trug „bei seinem Tod [...] das goldene Parteiabzeichen der NSDAP und war gleichzeitig eingeschriebenes Mitglied der Kommunistischen Partei“ (Edschmid, zit. nach Davis, ebenda S. 351). Tatsächlich aber hatte sich Reinhard Goering in der Flur Bucha (!) bei Jena nach einer lokalen Betäubung die Adern geöffnet (vgl. ebenda S. 393). Goerings Leben war von zahlreichen Brüchen, Reisen, Krankheiten bestimmt (vgl. ebenda passim und Hoffmann, ebenda S. 9–17). 1936 hatte er sich in Bad Wörrishofen niedergelassen, als Arzt und Patient, gab aber bald wieder den Versuch seßhaft zu werden auf. Am 4. November 1936, ein Jahr und acht Tage vor der Opfer-Premiere, wurde die Leiche des seit drei Wochen Verschollenen gefunden. Das Opfer basiert auf dem Mittelteil von Goerings dreiteiligem chorischen Spiel Die Südpolexpedition des Kapitäns Scott (UA 16. Februar 1930, Staatstheater Berlin), das mit dem Kleistpreis ausgezeichnet worden war. Von Februar bis April 1936 und in ständigem Briefkontakt mit Zillig erstellte Goering ein einaktiges Libretto, das seinen preisgekrönten Text in fast keiner Zeile unverändert ließ und in vielerlei Hinsicht umstrukturierte. Der berichtende Chor des Dramas bspw. wurde zu einem menschenfeindlichen Gegenchor von Pinguinen umformuliert, erweitert und gleich zu Beginn mit Zitaten von Goethe und Nietzsche angereichert (bezeichnenderweise lautete der Operntitel bei Goering Die Pinguine, Das Opfer stammt von Zillig). Schon in seiner frühen und bekanntesten expressionistischen Tragödie Die Seeschlacht (1917), die mit ekstatischem Pathos Krieg und Vernichtung nicht als Ausdruck politischer Aggression, sondern als unausweichliches mythisches Schicksal begreift, hatte Goering Ideengut Nietzsches kolportiert. Eine eindeutig nationalistische Tendenz verfolgte Goering 1919 im Drama Scapa Flow, das die Selbstversenkung der deutschen Flotte zum Anlaß für die Frage nach der Kriegsschuld nimmt. Ein Exemplar dieses Dramas und der Südpolexpedition sandte Goering 1935 an seinen Namensvetter, den Herrn Reichsmarschall: ein letzter (erfolgloser) Versuch, von staatlichen Stellen Anerkennung und – vor allem – finanzielle Unterstützung zu erlangen (vgl. Davis, ebenda S. 367). Als Pg. hatte er sich bereits Anfang 1932 eintragen lassen, trat aber nur wenige Monate später wieder aus – womöglich, um einem Ausschluß wegen sittlich und moralisch unwürdigen Lebenswandels zuvorzukommen. 1933 verfaßte er in der Hoffnung auf Preisgelder und Staatsaufträge Lieder für das Goebbelssche Propagandaministerium (vgl. ebenda S. 328f.). Auch dies ohne Erfolg, denn die Nazis interessierten sich nicht für seine euphorischen Vorstellungen über das „neue Reich“, dessen „alten und jungen Kämpfer[n]“ er Stefan George per Nachruf als „erste[n] große[n] Täter“ servierte (in Deutsche Zeitung vom 6. Dezember 1933, zit. nach ebenda S. 359f.) und dessen Führer A. H. er zum „großen und reinen Menschen“ mutieren ließ (in: Das deutsche Wort vom 28. September 1934, zit. nach ebenda S. 382). Zillig, Von Wagner bis Strauss (Anm. 93), S. 190.
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Tonalität als Spezialfall des Zwölftons zu entlarven.“ In der Windsbraut – einer märchenhaften Lichtgestalt, die trotz der Drohungen ihres Sturmvaters von Billinger mit einem Bauern vermählt wird – scheint er diesem Ziel einer Synthese von zwölftönigem und tonalem System nahe gekommen zu sein. Die Reihe selbst ist nun konsequent der Konstellation Fis-Dur – C-Dur verpflichtet:
Beispiel 16: Die Windsbraut, Grundreihe. Dieses Zillig-typische Aufeinanderprallen der Tritonusklänge, das in der Reihenkonzeption bereits auf dem schmalen Grad zwischen Avancement und Konfektion wandelt, wird in der Komposition zur Bitonalität entschärft bzw. zur Etablierung von Septnonenakkorden oder hinter klangkoloristischen Manierismen versteckt. Bezeichnenderweise schließt jeder der drei Akte mit einem sauberen Fis-Dur und gaben die „harmonischen Gewagtheiten“, wie eine Uraufführungskritik meldete, „dem Ohr [...] keine Probleme auf“130. Zilligs Beitrag zur „zeitgenössischen Volksund Märchenoper“131 war „ein unumstrittener Erfolg“132, der Komponist endlich auch „Gegenstand begeisterter Huldigungen“133. Allerdings fand das IdyllischBehagliche, mit dem sich hier bäurisches Brauchtum mitten im Kriege einen märchenhaften Weg durchs NS-System bahnte, bald mit diesem sein gerechtes Ende.134 Bewiesen war zuvor schon, daß 130 131 132 133
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Hermann Heyer, Winfried Zillig: „Die Windsbraut“. Uraufführung im Leipziger Neuen Theater, in: Allgemeine Musikzeitung 68 (1941), H. 22, S. 176f., hier S. 176. Ebenda. Willy Stark, Winfried Zillig: „Die Windsbraut“. Uraufführung im Neuen Theater zu Leipzig, in: Zeitschrift für Musik 108 (1941), H. 6, S. 410f., hier S. 411. Ernst Smigelski, Winfried Zillig: „Die Windsbraut“. Uraufführung im Neuen Theater zu Leipzig, in: Signale für die musikalische Welt 99 (1941), H. 21/22, S. 191f., hier S. 192. Weiteres zu Billinger/Zilligs Windsbraut und der Leipziger Uraufführung vgl. Gudrun Dittmann, Winfried Zillig / Richard Billinger: „Die Windsbraut“. Eine umjubelte Leipziger Uraufführung im Mai 1941, in: Musikstadt Leipzig im NS-Staat: Beiträge zu einem verdrängten Thema, hrsg. im Auftrag der EphraimCarlebach-Stiftung von Thomas Schinköth, Altenburg 1997, S. 280–291. Die Aufführungen der drei Opern Zilligs in NS-Deutschland. Vgl. Altmann, Opernstatistik (Anm. 87): 1) Der Roßknecht (Richard Billinger) UA: 11. Februar 1933 Düsseldorf (Musikalische Leitung: Jascha Horenstein, Inszenierung: Friedrich Schramm) 1932/33: 7 Aufführungen 2) Das Opfer (Reinhard Goering) (Kl.-Ausz. Wien–Leipzig: Universal-Edition 1937) UA: 12. November 1937 Staatstheater Hamburg (Musikalische Leitung: Hans Schmidt-Isserstedt, Inszenierung: Oscar Fritz Schuh) 1937/38: 4 Aufführungen 3) Die Windsbraut (Richard Billinger) (Kl.-Ausz. Mainz: Schott 1941) UA 12. Mai 1941 Neues Theater Leipzig (Musikalische Leitung: Paul Schmitz, Inszenierung: Hans Schüler) 1940/41: 7 Aufführungen (Leipzig) 1941/42: 2 Aufführungen (Leipzig), 1 Aufführung (Köln)
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„auch aus der sogenannten Atonalität eine wertvolle Kunst herauswachsen [kann], wenn nur der Mensch blutmäßig und charakterlich einwandfrei und schöpferisch ist, der dahinter steht“.
Der dies sagte, Herbert Gerigk135, seines Zeichens Hauptschriftleiter der Musik, Mitherausgeber des Lexikons der Juden in der Musik und Hauptstellenleiter Musik im Amt Rosenberg, hatte indes Unrecht mit seiner zum „Tatbestand“ deklarierten Behauptung, daß der „musikalische Kinderschreck“ und „Fanatiker des Nihilismus“ „Schönberg einen beträchtlichen Kreis von Musikern beeinflußt habe, die ohne Ausnahme in einer weltfremden Richtung schaffen“.
Zweite Lese „Wacht man inmitten eines Traumes auf, und wäre es der ärgste, so ist man enttäuscht und kommt sich vor, als wäre man um das Beste betrogen worden.“
Während Klenau 1946 unbeachtet aus der Welt fiel, begann sie für Zillig erst jetzt aus den Fugen zu geraten. Das Entnazifizierungsverfahren, bei seinen einstigen Funktionsposten zumindest nicht unüblich, wurde ihm Indiz für die „Unterdrükkung des Individuums“: „Der wenigen ‚Entarteten‘ Überlebender einer“, schrieb er in einem auch syntaktisch aus den Fugen geratenden Brief Anfang 1946, „ein alter Hasser der Nazis, wird, nachdem er von den Nazis stets verdächtigt und gedrückt war, nunmehr zum Nazipropagandisten zu stempeln versucht“136.
Und bald schon geriet die Integration in den nachkriegsdeutschen Musikbetrieb, zunächst reibungslos vollzogen (1946 1. Opernkapellmeister in Düsseldorf, ab Herbst 1947 Chefdirigent beim Hessischen Rundfunk), unerwartet ins Stocken. Anfang 1951 wurden die an Josef Rufer stolz gemeldeten „vierzig Vorhänge und ein beifallstobendes Publikum“ bei der Düsseldorfer Premiere seiner noch zu NSZeiten begonnenen Oper Troilus und Cressida kontrastiert von „gehässigsten“ Verrissen der Kritikerzunft, angeführt von Wolfgang Steinecke, der Löns und Léhar zu den Vorbildern der Oper erklärte.137 Kurz darauf kündigte ihm der Hessische Rundfunk. Man wolle mehr mit Gastdirigenten arbeiten, hieß es. Angesichts der 135 136 137
Herbert Gerigk, Eine Lanze für Schönberg! Anmerkungen zu einem Geburtstagsaufsatz, in: Die Musik 27 (1934), H. 2, S. 87–91, hier S. 88f. Zit. nach Hilger, Autonom oder angewandt? (Anm. 91), S. 16. Zit. nach Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler (Anm. 7), S. 51. Den Auftrag zur Komposition von Troilus und Cressida hatte Zillig um 1942/43 von der Straßburger Oper erhalten. Vgl. Niessen, Die deutsche Oper der Gegenwart (Anm. 94), S. 362. Anläßlich ihrer Berliner Aufführung wurde die Oper von Werner Oehlmann als „abseitiger Versuch einer oratorischlehrstückhaften Choroper“ abqualifiziert; zit. nach Ulrich Dibelius / Frank Schneider (Hg.), Neue Musik im geteilten Deutschland. Dokumente aus den fünfziger Jahren, Berlin 1993, S. 290.
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Liste dirigierender Wunschkandidaten „könnte man“, so der zynische Kommentar des Ausgemusterten, „eigentlich nur ‚Heil H.‘ sagen“138. Tatsächlich hatte Zillig sich energisch und wohl auch gegen den Widerstand des Orchesters für die Neue und Neueste Musik eingesetzt, übrigens auch im Rahmen der mit Steineckes Internationalen Ferienkursen für neue Musik kooperierenden ‚Woche für neue Musik‘.139 Erneut verlegte Zillig sich auf „Gebrauchskompositionen“140, sprich Theater- und Filmmusiken, vor allem aber auf Musik zu Fernseh- und Hörspielen.141 Hier, im vom Musikbetrieb abseitigen, mitunter innovativen Raum der Sendeanstalten, wo es zwar keine „Vorhänge“ gab, aber anscheinend auch keine „gehässigen Kritiker“, begann er sich einzurichten und bald auch neue alte Geschichten zu erzählen: Von der Bauernpassion – eine Fernsehoper (UA 1955 BR München) nach Billingers wirrer Geschichte von der Bekehrung eines rachelüsternen Aufständischen-Führers durch eine Komödianten-Aufführung der Passion Christi – oder von der Verlobung in St. Domingo – eine Funkoper (UA 1957 NDR Hamburg) nach Kleists „unerhörter Begebenheit“ opferbereiter Liebe –: der Frau, versteht sich. Zugleich wurden im neuen Hausverlag Bärenreiter, der nach ’45 bekanntlich (und fälschlich) in den Status eines antifaschistischen Widerstandsnestes gelangte, Verschlußsachen ausgepackt. Während seine Volksgenossen die Länder überfallen hatten, „überfiel“ den Komponisten zwecks Paralyse der „Scheußlichkeiten des Krieges“ – „die Lyrik“142. Dieses nachgereichte „lyrische Intermezzo“143 erlaubte zwar kein Ansichtigwerden inneren Emigrierens, war aber mitunter immerhin zu den Eroberungskriegen der Nazis in Distanz gegangen, bspw. die Vergessenen Weisen – im August 1940 auf Georges Übersetzung der Verlaineschen Gedichte komponiert –, deren semantische Schichten ohne Zweifel auf die Okkupation Frankreichs reagierten. Zillig selbst rückte solche Aspekte – womöglich mit Rücksicht auf seinen „unauffälligen Weg“ – nicht nur nie in den Vordergrund, sondern sprach sie nie öffentlich an. Er habe – im Falle seiner d’Annunzio-Lieder von 1944 – zwar Verse komponiert, „die mich tief erfaßten“, der Anlaß zur Komposition sei aber im unsteten Leben als Theaterdirigent und Filmkomponist zu suchen, in den langwierigen und -weiligen Zugfahrten und einem auf die Dauer – und mitten im Kriege! – unbefriedigenden „Lösen von Legionen von Kreuzworträtseln“144. An der Qualität
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Zit. nach ebenda. Als Beispiel sei das von Zillig dirigierte 4. Sinfoniekonzert am 26. Juni 1949 in der Darmstädter Stadthalle angeführt, das aus Anlaß seines 75. Geburtstages allein Werken von Schönberg gewidmet war. Vgl. Grassl / Kapp, Darmstadt-Gespräche (Anm. 126), S. 284. Zillig, Von Wagner bis Strauss (Anm. 93), S. 191. Zillig schrieb zwischen 1946 und 1963 die Musik zu acht Theaterstücken, siebzehn Filmen (vgl. Hilger, Autonom oder angewandt?, Anm. 91, S. 287f.) – u. a. zu Jonas (1957, Deutscher Filmpreis für die Filmmusik) und Traumstraße der Welt I und II (1958/62) –, einigen Fernsehspielen und zu sage und schreibe 133 Hörspielen (vgl. die detaillierte Auflistung in ebenda S. 32–41), darunter übrigens keine einzige „rein dodekaphon angelegte“ (ebenda S. 273). Zit. nach ebenda S. 15. Ebenda. Zit. nach Schuhmacher, Fortschritt, historisch betrachtet (Anm. 29), S. 130.
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dieser Legionen lag es wohl kaum, daß nach dem Krieg „alle Versuche zu lyrischen Kompositionen“145 scheiterten. Als flankierende Maßnahme gleichsam brachte der Komponist in seiner 1957 einsetzenden publizistischen Tätigkeit unermüdlich den Verweis, daß das „Zwölftonsystem“, das man „höhnend a priori totsagte“ oder „bestenfalls für eine mathematische Papierangelegenheit, keinesfalls jedoch für Musik hielt“, „heute weltweite Wirkungen zeigt, so umfassend, daß Strawinsky im hohen Alter auf seiner Wanderung durch die Musikgeschichte bei Schönberg und dem Zwölfton angekommen ist“146.
Eben dieser „Zwölfton“ lief in der DDR, um kurz hinüber zu blicken, seit den bekannten Februarbeschlüssen der KPdSU von 1948 unter den Pejorativen westliche Dekadenz und formalistische Tendenz, kurz „Neuerertum“, dem jeglicher „Nutzen“ für musikalischen Fortschritt abgesprochen wurde. Bei dieser Abwehr von Individualismus und Nihilismus kam es zu merkwürdigen Fraternisierungen mit den Alteingesessenen: Um sich der „Formalisten verschiedensten Gefieders“, der „Atonalisten“, „Zwölftöner“ bis „Neutöner“ zu erwehren, ging Eberhard Rebling 1952 zur scheinheiligen Allianz mit dem volksliedtreuen Musica-Kreis über, ließ Ernst Krause 1955 gegen den „neoamerikanische[n] Kultursnobismus“ von Rolf Liebermanns Penelope die gesamte alte Opern-Riege von Egk über Orff, Reutter bis Fried Walter auffahren.147 Das alles gewinnt fast schon eine freundliche Note, wenn man sich die in bundesrepublikanischen Landen flottierenden Absonderungen eines Alois Melichar anschaut. Melichar, der einst die „Volksgemeinschaft“ mit über 30 Filmmusiken beglückte und noch in Kriegszeiten für Deutschland aufsatteln ließ (... reitet für Deutschland, 1941) oder sich am Anschlag auf Baku (1942) beteiligte, richtete ab 1952 im Zwei-Jahres-Turnus seine Invektiven und Insultationen gegen die „Anpassungshelden“148 und verstand darunter nicht etwa musikalische Gralshüter wie sich selbst oder seinen Kampfgefährten Peter Jona Korn – auch dies eine seltsame Allianz zwischen Verfolgtem und selbsternanntem „Überlebende[n] des NS-Regimes“ –, sondern die „rabiaten Zwölftonfaschisten“, die als „Terrorgruppe“ zur „atonalen Diktatur“ aufriefen und einen „Vernichtungskrieg gegen die zeitgenössischen tonalen Kräfte“ führten.149 Als der „Zwölftonfaschismus“ schließlich im Herbst 1959 145 146
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Zit. nach Hilger, Autonom oder angewandt? (Anm. 91), S. 15. Zillig, Variationen über neue Musik (Anm. 126), S. 12 und 61. Neben zahlreichen Aufsätzen erschienen zwei Bücher Zilligs, die beide auf Funkmanuskripten basieren (ein Rückgriff, den man ihnen – und nicht immer zu ihrem Vorteil – anmerkt): Die 1959 vorgelegten Variationen über neue Musik vereinen je 12 Sendungen für das Sonderprogramm des Bayerischen Rundfunks aus den Jahren 1957 und 1958, die Manuskripte der Sendereihe „Von der Nachromantik zur Neuen Musik“ des Bayerischen Rundfunks wurden drei Jahre nach Zilligs Tod unter dem Titel Von Wagner bis Strauss. Wegbereiter der Neuen Musik herausgegeben. Zit. nach Dibelius/Schneider, Neue Musik im geteilten Deutschland (Anm. 137), S. 186 und 192. Alois Melichar, Überwindung des Modernismus. Konkrete Antwort an einen abstrakten Kritiker, Wien– Frankfurt am Main–London 1954, S. 116. Melichar, Schönberg und die Folgen (Anm. 35), S. 193, 207, 145, 62 und 47.
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mit der Westberliner Aufführung von Moses und Aron „der tonalen Welt“ um Melichar „den totalen Krieg“ erklärte, geriet auch Zillig mit seinen „geradezu kindischen Haßtiraden gegen die tonale Musik“ in die Kampfhandlungen dieses unterhalb des Diskutablen Agierenden.150 Daß selbstverständlich, um die Dinge geradezurücken, weder Schönbergs Werk noch die Aufführung, sondern die tumultartigen Zustände während dieser Aufführung als „offene faschistisch-antisemitische Provokation“ geplant waren, hatte bspw. Hanns Eisler151 öffentlich klargestellt. Nicht öffentlich schien Eisler sich zwei Jahre zuvor für Gastdirigate Zilligs und – erstaunlicherweise – eine Aufführung des Opfers in Ostberlin eingesetzt zu haben.152 Aber nicht dort, sondern am Kasseler Staatstheater kam es am 6. Dezember 1960 zu einer Wiederaufführung. Mit bundesrepublikanischen Verhältnissen kompatibel schien nun – im Umkehrschluß zu einst – die „absolute, abstrakte Musik“. Das Bühnengeschehen indes wurde zur „allgemein menschlichen Tragödie“ entgrenzt, die sich wirtschaftswunderlich „in vielen Berufen unserer Tage“ wiederholen könne, und zurechtgebogen schließlich zum „hohen Gesang der Humanitas“, auch wenn das Libretto gegenüber dieser Menschlichkeit „seltsamen (auch gar nicht recht erklärlichen) Widerspruch“ anmelde.153 Der Komponist am Pult und sein – Selbstaussage: „bestes Stück“154 wurden „zunächst zurückhaltend, dann mit wachsendem, lebhaftem“ resp. „herzlichem Beifall“155 vom Spielplan der deutschen Opernbühnen verabschiedet. Ein letzter Versuch mit Allzumenschlichem folgte noch wenige Wochen vor Zilligs Tod. Am 23. November 1963 dirigierte er in Linz die Premiere seines Einakters Das Verlöbnis – zusammen mit der Wiederaufführung von Rosse (Der Roßknecht), denn beide alpenländischen Bauern-Einakter „gehören“ – so der Komponist156 – „eng zusammen, obwohl ein Menschenalter mit all dem Umstürzenden, was Krieg und politische Umwälzung mit sich brachten, dazwischenliegt“.
Das Alpenland wird hier zum Symbol geschichtlicher und kompositorischer Bruchund Entwicklungslosigkeit und selbstverständlich auch inhaltlicher, denn Richard Billinger brachte mit seinem Verlöbnis erneut eine blutrünstige Angelegenheit auf die Bühne, indem er eine Schweinemagd, die ihren Bauern vergiftet, mit einem Jäger verkuppelt, der seinen Widersacher erwürgt.157 Wie der Sache Erfolg beizukommen 150 151 152 153 154 155 156 157
Ebenda S. 6 und 77. Hanns Eisler, Musik und Politik. Schriften 1948–1962. Textkritische Ausgabe von Günther Mayer, Leipzig 1982, S. 447. Vgl. Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler (Anm. 7), S. 52. Bernd Müllmann, Zilligs Südpol-Oper „Das Opfer“. Vielbeachtete Premiere im Kasseler Staatstheater – Der Komponist am Pult, in: Hessische Allgemeine, Nr. 286 [1960] vom 8. Dezember, o. S. Zit. nach Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler (Anm. 7), S. 52. Müllmann, Zilligs Südpol-Oper (Anm. 153); Georg Rassner, Winfried Zillig dirigierte seine Oper „Das Opfer“, in: Kasseler Post, Nr. 286 [1960] vom 8. Dezember, o. S. Zit. nach Hilger, Autonom oder angewandt? (Anm. 91), S. 14. Das Verlöbnis geht auf die Erzählung Den Johanniswein trinken von Alois Johannes Lippl zurück. Lippl – seit den 1920er Jahren Hörspielsendeleiter des Reichssenders München und eine zumal für die bundesrepublikanische Hörspielzeit relevante Bezugsperson Zilligs – hatte bereits 1933 bei der Erstaus-
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war, konnte Zillig freilich erst vier Tage nach Linz studieren, als Kollege Egk – einst schon eine Leiterstufe höher – zur Eröffnung des Bayerischen Nationaltheaters seine inzwischen vom Stahl befreite Diatonik mit Zilligs Opernstoff Die Verlobung in San Domingo versorgte.158 „Das Trostlose in der Erinnerung an Zillig“, schrieb Adorno159 in seinem Nachruf, das Trostlose sei, „daß er das Äußerste hätte werden können und es nicht wurde“. Adorno rekurrierte allein auf musikalische Aspekte, indes scheinen die oben angedeuteten weit trostloser. Wie im Lied vom Rauch, einem seiner 1958 komponierten vier A-cappella-Chöre auf Texte – überraschenderweise – Bert Brechts, eben jener graue Rauch „in immer kältre Kälten geht“, stand für Zillig zwar das Tor zu den „krummen“ Pfaden „weit offen / Freilich, hör ich, steht es offen nur ins Nichts“.
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strahlung von Billingers Bauernpassion als sogenanntes „Osterhörspiel“ Regie geführt. Die Trias war indes weit früher installiert: „Am 28. 7. 1960 schreibt Zillig an den SFB, es gebe eine Fassung der Bauernpassion von 1928, eine Auftragskomposition Lippls. Der Sprechgesang dort sei à la Wozzeck oder Pierrot Lunaire. Eine solche Sendung ist nicht nachzuweisen, vielleicht wurde sie auch erst 1933 ins Programm genommen“. Hilger, Autonom oder angewandt? (Anm. 91), S. 14f. Übrigens geht auch Die Windsbraut auf ein Billinger-Hörspiel zurück, gesendet 1933 unter den Titeln Der Bauer und die Windsbraut (17. März) und Die Teufelsbraut (20. November). Rosse wiederum, dessen ursprüngliche Fassung von 1931 Zilligs Textvorlage bildete und dessen abendfüllende Version am 1. März 1933 im Staatstheater München uraufgeführt wurde, arbeitete Billinger 1954 zu einem Hörspiel um; vgl. Bortenschlager, Richard Billinger (Anm. 106), S. 118f., 270 und 401f. Egks Verlobung wurde am 27. November 1963 in München uraufgeführt. Zuvor schon hatte Zillig seine einstige Funkoper für die Bühne eingerichtet und am 25. Februar 1961 in Bielefeld herausbringen können. Adorno, Winfried Zillig (Anm. 91), S. 165.
CLAUDIA MAURER ZENCK (Hamburg)
Einige Überlegungen zur musikwissenschaftlichen Exilforschung1 Es ist gewiß berechtigt, die musikwissenschaftliche Zunft dafür zu tadeln, daß sie nicht schon in den 1950er Jahren Exilforschung betrieben hat. Tatsächlich setzte diese unter geringer Beteiligung erst 1976 ein, was sicherlich eine schwache Sensibilität für ein wichtiges Forschungsgebiet beweist. Die diese Forschung schließlich betrieben haben, hätten damit aber kaum früher beginnen können. Ihnen infolge der Verspätung „Enthüllungspathos“ und die Attitüde der „Betroffenheit“ vorzuhalten, weil echte Betroffenheit schon wegen der verflossenen Jahrzehnte nicht mehr möglich sei2, dürfte aber am Ziel vorbeigehen. Frithjof Trapp, der damalige Leiter der Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für Exilliteratur an der Universität Hamburg, pochte 1986 mit Recht auf das Engagement als Stimulans dieser Forschung.3 Denn wie anders wäre es zu erklären, daß sich seit nunmehr dreißig Jahren immer mehr Nachwuchswissenschaftler für dieses Gebiet entscheiden, als mit ihrem Verantwortungsgefühl gegenüber unserer Vergangenheit und Gegenwart? Zudem müssen drei Umstände beim Beginn der musikwissenschaftlichen Exilforschung bedacht werden: 1. Die gesamte Exilforschung wurde lange Zeit in überwiegendem Maße außerhalb der deutschen und österreichischen Universitäten betrieben; das fing bei den Publikationen an, die z. T. noch während der Exilzeit von selbst Exilierten geschrieben worden waren, setzte sich mit der folgenreichen Aktivität Hans Albert Walters in den 60er Jahren fort und zeigte sich auch daran, daß die ersten Kongresse zur Exilforschung 1969 bis 1972 in Schweden, Dänemark und den USA stattfanden; erst 1975 wurde das erste entsprechende Symposion in einem der Länder veranstaltet, die für die Exilierung verantwortlich waren: mit dem Thema „Österreicher im Exil 1934 bis 1945“ in Wien.4 Bei der Abschlußtagung des Schwerpunkts „Exilfor1
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Ein Beitrag, der über mehr als 15 Jahre weder grundlegend verändert – nur 2005 in den wichtigsten Punkten aktualisiert und 2013 geringfügig ergänzt – noch ganz neu geschrieben werden konnte, mag prekär erscheinen. Die Autorin stimmte der späten Veröffentlichung auf Bitten des Herausgebers zu und verweist außerdem auf das Einführungskapitel in ihrem Buch Ernst Krenek – ein Komponist im Exil (Wien 1980), in dem bereits viele, hier und heute noch diskutierte Begriffe, Probleme und Lösungen erwogen wurden. Zu diesem Standpunkt, der hier abgelehnt wird, vgl. Horst Weber, Betroffenheit und Aufklärung. Gedanken zur Exilforschung, in: Musik in der Emigration 1933–1945, hrsg. v. Horst Weber, Stuttgart–Weimar 1994, insbes. S. 6–8. Vgl. auch seinen Beitrag in vorliegendem Kongreßbericht. Vgl. seinen Diskussionsbeitrag, gedruckt in: Manfred Briegel und Wolfgang Frühwald, Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Erfahrung der Fremde. Forschungsbericht, Weinheim 1988, S. 8. Als Kongreßbericht hrsg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien 1977.
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schung“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft5, der immerhin zehn Jahre lang (1974–1983) gefördert worden war, stellte sich 1986 sehr deutlich heraus, daß die Forschung in ihrer damals beträchtlichen Breite fast ausschließlich von „freien“ Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern betrieben wurde, die nicht gleichzeitig auch in eine akademische Institution eingebunden waren und daher auch im allgemeinen nicht über die Mittel verfügten, mit ihrem Forschungsgebiet über die Publikationen hinaus durch die Lehre und die Veranstaltung von Kongressen in eine breitere Öffentlichkeit zu gehen. 2. Auf dem Gebiet der Musik bzw. Musikwissenschaft gab es sogar einen signifikanten Unterschied: Hier ergriffen, nachdem 1980 die erste einschlägige Publikation erschienen war6, nicht nur einzelne Fachleute die Initiative und realisierten ihre Pläne bei Rundfunkanstalten, Festivals und mit Unterstützung von Einrichtungen auf städtischer bzw. Länderebene, sondern es gab immerhin ab 1985 auch bereits universitäres Engagement. Diese auf die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zielenden Aktivitäten, die umso notwendiger sind bei einem Gebiet wie der Musik, die der Aufführung bedarf, seien hier in ihren Anfängen (bis in die 1990er Jahre) resümiert, weil sie kaum alle bekannt sein dürften: – Der Westdeutsche Rundfunk sendete 1983/84 eine dreiteilige Feature-Reihe „Man verliert seine Heimat und gewinnt keine neue. Komponisten im Exil“7, die direkt aus der Forschung hervorging. Der WDR veranstaltete Anfang 1985, zusammen mit dem Kulturamt der Stadt Köln, auch eine Konzertreihe zu diesem Thema, zu der die noch lebenden Komponisten oder ihre Angehörigen eingeladen wurden, und gewann 1988 alle einschlägigen Kölner Institutionen für eine gemeinsame Konzertreihe über einen exilierten Komponisten: Stefan Wolpe.8 – Die Berliner Festwochen setzten 1987 ihren Programmschwerpunkt als „Musik aus dem Exil“ fest und finanzierten eine von Habakuk Traber und Elmar Weingarten herausgegebene, die Konzertreihe begleitende Publikation Verdrängte Musik über exilierte Berliner Komponisten.9 – 1988 wurde von der Österreichischen Gesellschaft für Musik in Wien das erste musikwissenschaftliche Symposion über – österreichische – Musiker im Exil veranstaltet.10 – 1989 konnte Juan Allende-Blin mit Hilfe der Stadt Essen und des SalomonLudwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität/ 5 6
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Zum Kongreßbericht vgl. Anm. 3. Claudia Maurer Zenck, Ernst Krenek – ein Komponist im Exil, Wien 1980. – Die zwei Jahre zuvor in Berlin-Ost erschienene Publikation Hanns Eisler im USA-Exil von Jürgen Schebera läßt sich nicht eigentlich als Resultat von Exilforschung bezeichnen, da die Implikationen des Begriffs weder reflektiert noch analytisch zu fassen gesucht wurden. Von der Verf. Vgl. Musik aus der Emigration. Eine Dokumentation, hrsg. von der Stadt Köln, 8./9. 3. 1985, sowie Stefan Wolpe. Von Berlin nach New York, 14.–16. 9. 1988, Programmbuch, hrsg. vom WDR Köln. Verdrängte Musik. Berliner Komponisten im Exil, Berlin 1987. Veröffentlicht als: Österreichische Musiker im Exil. Beiträge ’90, hrsg. von der Österreichischen Gesellschaft für Musik, Red. Monica Wildauer (=Beiträge der Österreichischen Gesellschaft für Musik, Bd. 8), Kassel–Basel–London 1990.
Überlegungen zur musikwissenschaftlichen Exilforschung
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Gesamthochschule Duisburg in Essen eine Konzert- und Vortragsreihe „Besuch aus dem Exil“ mit und über exilierte Musiker realisieren.11 – Der von Albrecht Dümling gegründete Berliner Verein „musica reanimata“ ist seit 1990 darum bemüht, mit Konzerten, Einführungen und Symposien die „Verdrängte Musik“ wieder zu Gehör und ins Bewußtsein zu bringen. Seit 1998 gibt Dümling die gleichnamige Publikationsreihe beim Pfau-Verlag in Saarbrücken heraus. – Im Verlag von Bockel, der diese Reihe in den vorangehenden Jahren publiziert hatte, erscheint seit 1996 auch eine zweite Reihe, die aus der universitären Arbeit über die eng zusammenhängenden Themen „Musik im ‚Dritten Reich‘ und im Exil“ resultiert. Schon 1985 hatte sich in Hamburg unter der Leitung von Peter Petersen eine „Projektgruppe Musik und Nationalsozialismus“ konstituiert, die aus Studierenden und Absolventen des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität bestand, sich 1993 in „Arbeitsgruppe Exilmusik“ umbenannte und ca. 25 Jahre forschte. 1988 veranstaltete sie eine Ausstellung über NS-verfolgte Musiker aus Hamburg; der damals erschienene Katalog Zündende Lieder – Verbrannte Musik wurde inzwischen in stark erweiterter zweiter Auflage herausgegeben12, und seit 1997 publizierte sie auch in der genannten Reihe ihre Forschungsergebnisse. Und 1990 bewilligte die Universität Hamburg nach mehrjährigen Bemühungen Petersens eine einsemestrige Gastprofessur für das Thema „Musik im Exil“.13 Im Zuge all dieser Aktivitäten wurde dort am Musikwissenschaftlichen Institut seit 1991 eine beachtliche Reihe von Magisterarbeiten und Dissertationen erarbeitet. 3. Zuletzt darf beim Tadel, die musikwissenschaftliche Exilforschung habe reichlich spät eingesetzt, nicht übersehen werden, daß dadurch sowohl eine methodisch einseitige Ausrichtung als auch Beschränkungen vermieden werden konnten, die die Anfangsjahre der Exilforschung kennzeichneten.14 Denn erstens war es für die Exilliteraturforschung bis 1972 selbstverständlich, sich als „Grundforschung“ zu verstehen und im Bewußtsein der ablaufenden Zeit eine rege Sammeltätigkeit zu entfalten. Erst 1972/73 begann eine Revision dieser Haltung insofern, als die Literaturkritik quasi ihr Recht an der Exilforschung einforderte – mit Konsequenzen, die die Exilforschung als Forschungszweig direkt angehen: Sie fordert deren Auflösung in die jeweiligen Teildisziplinen, d. h. die selbstverständliche Eingliederung der im Exil geschriebenen Werke ins jeweilige Fach„Repertoire“ – was in unserem Gebiet besonders umständlich ist, weil diese Werke erst einmal rezipierbar, d. h. auch hörbar gemacht werden müssen. Seit dieser Revision aber sind die Ausprägungen des Exils und seine Folgen in den Werken selbst aufzuspüren versucht worden – ein schwieriges Unterfangen, das die Probleme des hermeneutischen Zirkels noch dadurch potenziert, daß uns die Entstehungsbedin11 12 13 14
Publiziert als Musiktradition im Exil. Zurück aus dem Vergessen, Köln 1993. 1. Auflage Hamburg 1988, 2. Auflage Hamburg 1995, hrsg. von Peter Petersen und der Arbeitsgruppe Exilmusik am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg. Eingeladen dafür wurde die Verf. Zu den folgenden Ausführungen vgl. Anm. 6, Kap. Einführung.
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gungen einer Komposition sehr leicht dazu verführen, diese nur als Dokument jener zu verstehen und dadurch ihren ästhetischen Wert zu verkennen. Zweitens wies der selbst exilierte Walter A. Berendsohn schon 1969 warnend darauf hin, das Exil höre nicht mit Kriegsende auf, und Frank Trommler zog 1972 auch das Anfangsdatum 1933 mit Recht in Zweifel, um es weiter nach hinten zu verschieben. Aus beidem wurden die Konsequenzen bereits in der ersten musikwissenschaftlichen Publikation zur Exilforschung gezogen, die den langen Weg eines Komponisten, der sich selbst in den entscheidenden Jahren „Austriacus“ nannte, von Österreich in die USA verfolgte, einige danach entstandene herausragende Kompositionen von ihm untersuchte und das Bewußtsein dafür zu wecken suchte, daß das Kriegsende nicht auch zugleich das Ende des Exils bedeutete.15 (Es endete nicht nur im Falle Ernst Kreneks überhaupt nicht zu Lebzeiten.) Allerdings ist zu beobachten, daß diese zeitliche Öffnung des Begriffs und des Untersuchungsgegenstands sich sehr schwer durchsetzte, und nicht nur in der Musikwissenschaft, sondern vor allem – bis heute (2013) – in der Literaturwissenschaft. Dagegen wird in der Musikwissenschaft inzwischen auch von einem „Nachkriegsexil“ ausgegangen, das Musiker wie Henry Meyer, Geiger des „LaSalleQuartetts“, und Anita Lasker-Wallfisch, Cellistin und Auschwitz-Überlebende, die beide erst nach Kriegsende nach Großbritannien bzw. in die USA gingen, betrifft.16 Doch auf vielen Titeln von Symposien und Publikationen zur Exilforschung findet sich nach wie vor die Zeitspanne der zwölf (in Deutschland) bzw. sieben Jahre (in Österreich) der Hitler-Diktatur angegeben. In der allgemeinen Exilforschung wurde zwar bereits 1986 vorgeschlagen, die zeitliche Eingrenzung auf die dreißig Jahre zwischen 1925, der konservativen Wende der Weimarer Republik, und dem Jahr 1955, nach dem den meisten Exilanten der ersten Generation aus Altersgründen eine Rückkehr nicht mehr möglich war, auszudehnen17. Aber auch dies ist problematisch, denn wenn man das Ende – jedenfalls bei den Exilanten, die nicht in die frühere Heimat zurückkehrten, und das waren die weitaus meisten – nicht bewußt offenläßt, werden die bis in die Gegenwart reichenden Konsequenzen unserer Geschichte von der Forschung ebenso ignoriert, wie sie von einer gewissen politischen Richtung mit dem obsoleten Wort von der „Gnade der späten Geburt“ ignoriert wurden. Die Exilanten haben ein Recht darauf, auch heute noch als solche wahrgenommen zu werden, und wir haben die Pflicht, sie als solche nicht zu vergessen. Die Exilanten – über die Verwendung dieses Begriffs besteht seit langem ein Dissens auch in der Forschung, und nicht nur in der Musikwissenschaft. Herbert A. 15 16
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Vgl. hierzu Anm. 6. So Peter Petersens Überlegungen zu Henry Meyer in seinem Vortrag „Musik im Exil. Ein Forschungsfeld gewinnt Konturen“, gehalten am 6. November 1995 in Dresden beim Kolloquium Musik – Macht – Mißbrauch des Dresdner Zentrums für zeitgenössische Musik. Es stellt auch eine Kategorie der Verfolgung dar, die in das seit 2005 von Petersen und der Verf. herausgegebene online-Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (www.lexm.uni-hamburg.de) aufgenommen wurde. – Dies führt weiter zum Problem der begrifflichen Bestimmung des Forschungsgegenstandes, s. u. Vgl. Frühwalds Thesen, abgedruckt in: Briegel/Frühwald, Die Erfahrung der Fremde (Anm. 3), S. 9.
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Strauss, damals Leiter der Research Foundation for Jewish Immigration in New York und des Instituts für Antisemitismusforschung in Berlin sowie Mitherausgeber des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration 1933 bis 1945, vertrat 1986 auf der schon erwähnten Abschlußtagung des Schwerpunktprogramms „Exilforschung“ der DFG vehement die Meinung, daß der Begriff „Exil“ falsch sei, weil die „überwiegende Mehrzahl der jüdischen Einwanderer der Nazizeit [...] sich [...] nicht als Exilanten auf Zeit [verstand], sondern als Einwanderer bis zu ihrem Lebensende“18; der Germanist und damalige Präsident der DFG Wolfgang Frühwald unterschied daraufhin bei derselben Tagung die Emigranten von den Exilanten dadurch, daß diese vom Willen, zurückzukehren, beherrscht gewesen seien, während Emigranten im neuen Land eine neue Heimat zu finden hofften19; er grenzte also den politischen Begriff Exil wieder auf die im engsten Sinne politischen Flüchtlinge ein und revidierte damit, was in der Exilforschung zuvor mit guten Gründen abgelehnt worden war. Das der „Exilforschung“ folgende Schwerpunktprogramm der DFG hieß denn auch bezeichnenderweise „Wissenschaftsemigration“, nicht „Wissenschaftsexil“, und erst 2012 wurde in der Hamburger Walter A. Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur anläßlich einer Vortragsreihe wieder darüber nachgedacht, auf diesen infolge eines eingeengten Verständnisses von Politik aufgegebenen und durch Emigration ersetzten Exilbegriff zurückzukommen. Abgesehen davon, daß für viele Vertriebene eine Willensentscheidung zwischen Rückkehr in die alte Heimat und (über das Notwendige hinausgehender) Akkulturation an das Gastland zum Zeitpunkt der Flucht gar nicht möglich gewesen sein dürfte und daher kaum als Unterscheidungskriterium herangezogen werden kann, ist es auch fraglich, ob die Flüchtlinge, auf die sich bis dahin die Exilforschung konzentrierte, mit der „überwiegenden Mehrzahl der jüdischen Einwanderer der Nazizeit“ identisch waren. Nicht, daß mit zweierlei Maß gemessen werden soll. Aber Ernst Loewy, wie Strauss selbst geflohen, fragte bei derselben Gelegenheit, ob die „Auswanderung“, als die die Vertreibung selbst von jüdischen Hilfsverbänden deklariert wurde, nicht doch eine Austreibung gewesen sei.20 Damit gab er einen entscheidenden Hinweis. Für jüdische Flüchtlinge mag es im Zusammenhang mit ihrem religiösen und historischen Selbstverständnis einerseits und aus psychologischen Gründen andererseits naheliegend sein, das Vertriebenwerden in einen gleichsam aktiven Akt der Suche nach einer neuen Heimat umzudeuten. Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedoch, die dieses Schicksal nicht geteilt haben und die den Konsens darüber hergestellt haben und ihm gefolgt sind, daß das Selbstverständnis eines Betroffenen nicht das ausschlaggebende Kriterium für die Art der Bezeichnung sein kann, klingt der Begriff „Emigration“ verharmlosend, da das Motiv der Verfolgung und Vertreibung darin unterschlagen wird. (Auch 18 19 20
Herbert A. Strauss, Jüdische Emigrantenverbände in den USA. Perioden ihrer Akkulturation, in: Briegel/Frühwald, Die Erfahrung der Fremde (Anm. 3), S. 124. Frühwald in: Briegel/Frühwald, Die Erfahrung der Fremde (Anm. 3), S. 10. Vgl. Loewys Diskussionsbeitrag, in: Briegel/Frühwald, Die Erfahrung der Fremde (Anm. 3), S. 6.
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dem deutschen Äquivalent zur Emigration, der Auswanderung, ist keine politische Bedeutung inhärent, ebenso wenig wie den Begriffen Immigration und Einwanderung. Daher definierte Brecht Emigranten als „nach freiem Entschluß / wählend ein anderes Land“ – und lehnte diesen Begriff als für die Nazi-Flüchtlinge falschen ab.) Daß Exil aber nur als Erfahrung der Fremde zu verstehen sei – der Bericht über die mehrfach genannte DFG-Abschlußtagung von 1986 erschien wohl unter diesem Titel, beabsichtigte jedoch damit keineswegs eine Definition des Exilbegriffs –, bedeutet eine Verengung der Perspektive, die die gewaltsame Vorgeschichte, nämlich die akute oder drohende Vertreibung und die Flucht vor der Verfolgung, außer acht läßt. Das Exil läßt sich auch nicht durch einen Akkulturationsprozeß ablösen und aufheben: Daß sich Exilanten jemals wieder beheimatet fühlten, selbst wenn sie eine Anpassung ans Gastland für notwendig erachteten, ist eher die Ausnahme als die Regel.21 Es mutet vielleicht befremdlich an, wenn sich bei der Begriffswahl über das Selbstverständnis der Betroffenen hinweggesetzt wird. Diesem Befremden mag auch der Vorwurf entsprossen sein, das Wort „Exil“ sei durch Instrumentalisierung beschädigt, indem es die in ihrer neuen Heimat Integrierten erneut ausgrenze, als ob sie jetzt noch heimgeholt werden sollten.22 Der Vorwurf wiegt gewiß nicht leicht; auch erinnere ich mich deutlich daran, wie während des im Mai 1994 an der Harvard University abgehaltenen Kongresses „The Cultural Migration. Austria and Germany to the United States, ca. 1930–1950“23 einem 70-jährigen Zuhörer plötzlich sein eigenes Schicksal ganz anders vor Augen stand und er darüber die Fassung verlor. Sowenig das Insistieren auf dem Exilbegriff die Anmaßung einschließt, solche Einbrüche, die möglicherweise eine langjährige, aber lebensrettende Verdrängung aufdeckten, seien notwendig zur psychischen Gesundung eines Menschen, den wir gar nicht kennen und dem wir dabei schon gar nicht professionelle Hilfe bieten könnten, sowenig geht es ums (politische) Vereinnahmen. Es geht aber sehr wohl darum, die Ursache der Immigration Hunderttausender in fremde Länder nicht aus dem Blick zu verlieren: Sie war politische Gewalt. Nicht um die politische Einstellung der Verfolgten und Vertriebenen muß es gehen, sondern um die Ursache ihrer Flucht – und Flucht war es in jedem Fall –, und es sollte uns Forschenden, die wir aus den Ländern stammen, die diese Gewalt ausgeübt haben, selbstverständlich sein, diese Ursache durch die Benennung nicht aus dem Blick zu verlieren.24
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Siehe auch oben, S. 254f. Vgl. Weber, Betroffenheit (Anm. 2), S. 6. Bericht erschienen 1999 unter dem Titel Driven into Paradise. The Musical Migration from Nazi Germany to the United States, hrsg. von Reinhold Brinkmann und Christoph Wolff, Berkeley–Los Angeles–London. Auch in der großen, zweisprachigen Publikation Vertreibung der Vernunft – The Cultural Exodus from Austria (hrsg. v. Friedrich Stadler und Peter Weibel, Wien–New York 21995) wurde nachdrücklich darauf hingewiesen, daß mit Exilforschung befaßte Musikwissenschaftler und Musikwissenschaftlerinnen die Pflicht haben, ohne Angst vor Konsequenzen Position zu beziehen (Irene Suchy, Desiderata Regarding Research on Music in Exile, S. 271).
Überlegungen zur musikwissenschaftlichen Exilforschung
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Damit spreche ich mich nicht dagegen aus, daß Exilanten wie Herbert A. Strauss oder, um zu unserem Fachgebiet zurückzukehren, Alexander L. Ringer nach ihrem Selbstverständnis den Begriff „Emigration“ bevorzugten. (Ringer brachte übrigens einen aufschlußreichen Aspekt in die Diskussion ein: einen politischen mit umgekehrten Vorzeichen. Daß er die Bezeichnung „Exil“ ablehnte, begründete er nämlich damit, daß die Emigration befreiend gewirkt habe, befreiend für die kulturelle Selbstbesinnung und die geistige Selbsterhaltung als Jude, befreiend demzufolge „von den eigenen unbewußten Bindungen an eine seit langem vom Blut-undBoden-Mythos zehrende nationale Kultur.“25) Anstatt sich also allgemein auf den m. E. bagatellisierenden Begriff „Emigration“ als kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, schlage ich (wie schon einmal26) vor, daß – vergleichbar dem diplomatischen Usus beim Übersetzen politischer Verträge – mit Wissen um die Hintergründe akzeptiert wird, daß wir aus unserer deutschen und österreichischen Perspektive das Wort „Exil“ wählen, während selbst Geflohene „Emigration“ vorziehen mögen. Dazu kann auch noch ein dritter Terminus ergänzend hinzugezogen werden: die neutrale „Immigration“, die die Ursachen der Einwanderung qua Begriff ignoriert und die von der Forschung in den Gastländern gebraucht werden mag. Erfreulicherweise ist zu verzeichnen, daß jedenfalls in den USA, dem Aufnahmeland, das im Zentrum unserer Tagung stand, mehr Interesse an diesem Forschungsgebiet geweckt wurde. Der genannte Kongreß in Harvard, der eine amerikanische musikwissenschaftliche Exilforschung zu initiieren suchte, zeigte jedoch eine ähnliche Differenz der Perspektive auf, wie sie schon bei der Bevorzugung des jeweiligen terminus technicus zum Ausdruck kam – nun allerdings ein Perspektivenwechsel des Erkenntnisinteresses. Das läßt sich kurz am wohlbekannten Fall Kurt Weills demonstrieren: Während die europäische Forschung lange Zeit Weills Hinwendung zum Broadway ausschließlich als ästhetischen Rückschritt und Anpassung an die Unterhaltungsindustrie verstand, wird von seiten der amerikanischen Weill-Forschung begrüßt, daß er die Bedingungen und Eigenarten des kulturellen Lebens seines Gastlandes akzeptierte und sich produktiv anverwandelte. Die einmal negative, das andere Mal positive Beurteilung derselben ästhetisch-kompositorischen Veränderung ist allein eine Frage der Interpretation; sie impliziert zwar auch die unterschiedliche Bewertung der Folgen von (aus unserer Perspektive) Weills Exil bzw. (aus Sicht des Gastlandes) seiner Immigration, aber nicht notwendigerweise: Auch aus der ExilPerspektive ließe sich Weills künstlerische Veränderung als positiv bewerten27. 25 26
27
Innere Rückkehr – jüdische Musiker nach der Gleichschaltung, in: Musik in der Emigration 1933–1945, S. 261. Verf., Versuch einer Bilanz der musikwissenschaftlichen Exilforschung, in: La Svizzera: Terra d'Asilo – Die Schweiz als Asylland (= Kongreßbericht Ascona 1998), Schweizer Jb. für Musikwissenschaft N.F. Bd. 19, Bern 2000, S. 1–11, hier S. 8. – Daß sich solch ein Sprachgebrauch durchaus einführen und durchsetzen ließe, zeigt sich an dem oben beschriebenen Insistieren auf dem Begriff – umgekehrt – der Emigration von seiten zweier Exilforscher (Strauss und Frühwald) und seine schnelle und langanhaltende Akzeptanz. Dies ist auch der in zahlreichen Publikationen vertretene Standpunkt etwa von Nils Grosch.
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Claudia Maurer Zenck
Es wird der Forschung in den Aufnahmeländern also wohl vor allem darum gehen aufzuarbeiten, wie das Gastland die Lebensumstände der Immigranten, ihre berufliche Tätigkeit, im Falle von Komponisten auch ihre ästhetische Position beeinflußte, und darum, diese Beeinflussung als Leistung des Gastlandes zu verstehen und zu bejahen. Nicht ohne Grund hat der Begriff der Akkulturation seit Ende der 1980er Jahre an Bedeutung in der Exilforschung gewonnen.28 Wir müssen uns klar darüber sein, daß alle Perspektiven, die der Vertriebenen selbst, die der Forschung in Deutschland und Österreich wie die in den Gastländern, und beide Haltungen, das Bedauern über ästhetische Veränderungen und ihre Bejahung, zusammengehören wie das Leiden am Exil und die Befreiung. Schließlich macht dieser Januskopf der Exilfolgen für uns, die wir sie auf dem Gebiet der Ästhetik und der Kunst untersuchen, nachvollziehbar, was alle Exilanten in mehr oder minder starkem Maße im eigenen Leben erfahren haben.
28
Vgl. den in Anm. 18 genannten Titel.
HORST WEBER (Essen)
Exilforschung und Musikgeschichtsschreibung 1. Vorbemerkung Die Gedanken, die ich seinerzeit zur Eröffnung dieses Symposions unter dem Titel „Probleme der Exilforschung“ vorgetragen habe, knüpften zum einen an Ideen an, die ich bereits in einem öffentlichen Vortrag skizziert hatte,1 zum anderen sind sie mittlerweile in andere Texte eingegangen.2 Beides – öffentlicher Vortrag und Schilderung der Exilzentren Kalifornien bzw. New York – war allerdings nicht der geeignete Ort, sie systematisch zu entfalten. Daher schien es mir angebracht, den Text von 1996 neu zu fassen und zu einer methodischen Vergewisserung zu nutzen. Einleitend werden einige politische Bedingungen und methodische Voraussetzungen erörtert, unter denen Exilforschung in der Musikwissenschaft entstand, sodann die Bedeutungsgeschichte der dissensbeladenen Begriffe Exil und Emigration skizziert; es folgt eine kritische Auseinandersetzung mit dem „erweiterten Exilbegriff“ und seinem Forschungskonzept. Abschließend werden Fragestellungen aufgeworfen, die systematische Hinsichten eröffnen, und Strategien entworfen, die einen verantwortlichen Umgang mit der fortschreitenden Historisierung des Nationalsozialismus und seiner Folgen erlauben. 2. Exil als Thema der Geschichtsschreibung Die Flucht von Musikern vor nationalsozialistischer Verfolgung, die Erfahrung der Fremde, die Integration in das Land ihrer Zuflucht oder die Rückkehr in ihre alte Heimat gehören gleichermaßen der Geschichte der Politik wie der Kunst an. Dem einen, unentzweibaren Schicksal der Flüchtlinge können nur beide Perspektiven zugleich gerecht werden. Das macht es erforderlich, über die Grenzen des eigenen Faches zu schauen. „Exilforschung“ ist nicht durch methodische Innovation zum Thema der Geschichtsschreibung geworden wie z. B. die Erforschung vergangener Alltagswelten und Mentalitäten durch die Historiker der Annales, sondern ihr Thema, Exil als Folge der nationalsozialistischen Herrschaft, ist eine jener vergangenen Wirklichkeiten, die aus politischen Gründen verdrängt und erst spät der Verdrängung entrissen wurden. Die deutsche und die österreichische Musikwissenschaft haben sich gegen1 2
Horst Weber, Betroffenheit und Aufklärung. Gedanken zur Exilforschung, in: Musik in der Emigration 1933– 1945. Verfolgung – Vertreibung – Rückwirkung, hrsg. von Horst Weber, Stuttgart und Weimar 1993, S. 1–9. Vor allem in den Einleitungen zu den beiden Bänden: Quellen zur Geschichte emigrierter Musiker 1933– 1950, Bd. I: Kalifornien, hrsg. von Horst Weber und Manuela Schwartz, München 2002 (im folgenden QuECA), S. XV–XXXI, sowie Bd. II: New York, hrsg. von Horst Weber und Stefan Drees, München 2005 (im folgenden QuENY), S. XI–XXVI.
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Horst Weber
über dieser drängenden Frage an die Vergangenheit sehr lange taubgestellt.3 Die vertriebenen Menschen waren ihrem Gesichtsfeld entschwunden, wovon die Lexika der Nachkriegszeit buchstäblich „Bände sprechen“, und Nachrichten über ihr weiteres Schicksal schienen schwer zugänglich. Daß zunächst nichts, dann Überfälliges erst spät geschah, läßt sich jedoch nicht mit dem Hinweis auf die Quellenlage rechtfertigen, als hätte sie wie ein blindes Fatum mögliche Erkenntnis verhindert. Unzweifelhaft resultierte das Versäumnis nicht aus einem Mangel an Quellen, sondern aus einem Mangel an Interesse. Um auf diese Einsicht zu stoßen, hätten Musikwissenschaftler der Nachkriegszeit nicht auf Habermas4 warten müssen; schon der ungeliebte Droysen5 klärt in seiner erstmals 1937 erschienenen Historik darüber auf, daß der methodische Dreischritt „Heuristik“ – „Kritik“ – „Interpretation“ keine Einbahnstraße sei, sondern dem Zirkel des Verstehens unterliege: „Es ist unzweifelhaft, daß wir das, was ist, erst ganz verstehen, wenn wir erkennen und uns klarmachen, wie es geworden ist. Aber wie es geworden ist, erkennen wir nur, wenn wir möglichst genau erforschen und verstehen, wie es ist [...]. Man sieht, wir bewegen uns in einem Zirkel. Aber in einem Zirkel, der uns, wenn auch nicht die Sache weiterführt.“6
Welch ein Aufruf an die Historiker, genau hinzusehen, was „ist“, als Voraussetzung für die Möglichkeit von Erkenntnis, wie es geworden ist! Aus dieser hermeneutischen Zirkularität, welche quasi die transzendentale Bedingung historischer Erkenntnis ist, ergibt sich die Notwendigkeit, sich über die Präferenzen von Forschungsinteressen und den Einsatz der entsprechenden Ressourcen klar zu werden: „Denn die Forschung ist nicht auf ein zufälliges Finden gestellt, sondern sie sucht etwas. Sie muß wissen, was sie suchen will; erst dann findet sie etwas.“7
Da die Fragestellungen des Historikers aufgrund jener Zirkularität immer auch, ob er will oder nicht, im Kontext politischen Handelns stehen – über das eine reden heißt über das andere schweigen –, schließt die transzendentale Bedingung historischer Erkenntnis eine ethische Verpflichtung ein, hinzusehen, was politisch „der Fall ist“. Für die Zeit nach dem Kriege und ihr Verhältnis zum sogenannten „Dritten Reich“ ist diese Haltung, grosso modo gesprochen, in der Musikwissenschaft erst seit der sogenannten 68er-Generation eingenommen worden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hingegen wurden unbeirrt Prestigeprojekte des sogenannten „Dritten Reiches“, die vor 1945 geplant oder begonnen worden waren wie z. B. die Gluck-Ausgabe oder das Erbe Deutscher Musik, aufgegriffen bzw. fort3
4 5 6 7
Vgl. Claudia Maurer Zenck, Ernst Krenek. Ein Komponist im Exil, Wien 1980, S. 34; Peter Petersen, Musik im Exil. Ein Forschungsfeld gewinnt Konturen; in: Musik – Macht – Mißbrauch. Kolloquium des Dresdner Zentrums für zeitgenössische Musik 6.–8. Oktober 1995, Dresden o. J. [ca. 1998; vgl. S. 152], S. 26–46, hier S. 27f. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main (1968) 21973, insbesondere S. 178–233. Vgl. dazu jüngst Otto Gerhard Oexle, Was ist eine historische Quelle?, in: Die Musikforschung 57 (2004), S. 332–350, hier S. 337 und 340. Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte (1857), hrsg. von Rudolf Hübner, München 11937, Darmstadt 71977, S. 151. Ebenda S. 35.
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gesetzt, überhaupt Quellenforschung in einem kaum zu überschätzenden Ausmaß in prestigeträchtige Gesamtausgaben investiert; und dies, obwohl anfangs der Zugang zu den Quellen, etwa wegen der Auslagerung von Beständen der Deutschen Staatsbibliothek, durchaus prekär war. Die Erforschung der bestürzenden historischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit jedoch wurde verdrängt, obwohl deren Quellen in den heimischen Archiven schlummerten oder im Ausland – vor allem in den USA – zugänglich waren, wenn auch nicht unbedingt im Besitz öffentlicher Hand. In der Ausrichtung einer Disziplin auf langfristige Forschungsvorhaben kommen politische Haltungen zum Ausdruck. Droysens Verankerung der Geschichtsschreibung im archimedischen Punkt der Gegenwart war dem Mißverständnis ausgesetzt, Geschichte diene ihm zur Rechtfertigung der jeweiligen politischen Verhältnisse,8 und dies war in der Tat gängige Praxis des Historismus. Droysen aber geht es um die Vergegenwärtigung der Vergangenheit in einem gleichsam „kommunikativen Akt“ mit den Quellen, deren „Sprechen“ der Historiker nicht nur vernimmt, sondern zu verstehen aufgerufen ist: „Unsere Aufgabe kann nur darin bestehen, daß wir die Überlieferungen, Überreste und Monumente einer Vergangenheit so verstehen, wie der Hörende den Sprechenden versteht, daß wir aus jenen noch vorliegenden Materialien forschend zu erkennen suchen, was die so Formenden, Handelnden, Arbeitenden wollten, was ihr Ich bewegte, das sie in solchen Ausdrücken und Abdrücken ihres Seins aussprechen wollten.“9
Zum Historiker sprechen „Überlieferungen, Überreste und Monumente“ von „Formenden, Handelnden, Arbeitenden“, die in jenen noch vorliegenden „Materialien“ ihr Ich „aussprechen wollten“. Im Zentrum des historischen Verstehens stehen für Droysen die Subjekte der Geschichte in ihrer Intentionalität, und die neuzeitliche Dreiheit von Kultur, Politik und Ökonomie komprimiert sich ihm zur Aristotelischen Zweiheit von poiesis in den „Ausdrücken“ und praxis in den „Abdrücken“, die letztlich in einem beides umfassenden intentionalen Handlungsbegriff zum Gegenstand der Geschichtsschreibung zusammengeschlossen sind. Gegen das Genügen des Historismus an der Intentionalität der historischen Subjekte, von der schon die Historiker der Annales abgerückt waren, hat Walter Benjamin im Pariser Exil Einspruch erhoben und Trauer um die Objekte jener Intentionalität der historischen Subjekte angemahnt, um jene also, die Opfer der Geschichte geworden sind: „Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben [...]. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davon8 9
Vgl. in Jörn Rüsen, Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens, Paderborn 1969, das Kapitel „Diagnose der Gegenwart“, S. 51ff., insbesondere S. 62. Ebenda S. 26.
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Horst Weber
trug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich ist, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter.“10
Führten nach 1945 die besiegten Sieger jene Gesamtausgaben als „Kulturgüter“ im Triumphzug des Kalten Krieges mit sich, um in die Gemeinschaft der Kulturnationen zurückzukehren? Indem sie den Nationalsozialismus und seine Folgen als Betriebsunfall aus der deutschen Geschichte ausgrenzten, konnten sie sich selbst als Opfer ihrer Vergangenheit fühlen, die mit millionenfachem Mord besudelt war und bleibt. Die Opferrolle trübte den Besiegten den Blick für ihre Opfer.11 Die Leichenberge der Ermordeten waren zwar schwer zu übersehen, aber die Emigranten mit ihrem vermeintlich leichteren Schicksal, wie die Debatte über die „innere Emigration“ wahrhaben wollte,12 waren außer Sichtweite. Keine Regierung und kaum ein Berufsstand unternahmen ernsthafte Anstrengungen, sie zur Rückkehr einzuladen, sieht man von einigen Persönlichkeiten ab, mit deren Renommée man sich schmücken wollte.13 Allerdings hätten viele Emigranten es unter den herrschenden Bedingungen auch als Zumutung empfunden, in das Land der Täter zurückzukehren. Gleichwohl war die Abgleichung ihrer berechtigten finanziellen Ansprüche durch die Behörden nicht das, was ihre Bezeichnung insinuieren sollte: eine „Wiedergutmachung“. Sich vom Schicksal der Emigranten abzuwenden war gleichwohl nicht nur ein Akt der Verstocktheit. Für die Auseinandersetzung mit deren Schicksal fehlten den historischen Disziplinen – zumal in Deutschland14 – in gewisser Weise auch die historiographischen Voraussetzungen, und dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen entstand aus der unausweichlichen und daher notwendigen Historisierung des Nationalsozialismus,15 die dessen Tabuisierung gegen historisches Verstehen aufbrechen sollte, das methodische Dilemma, nicht zugleich auch das Leid seiner Opfer
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15
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (1936); in: Gesammelte Schriften I 2, Frankfurt am Main S. 691–704, hier S. 696. Diesen Verblendungszusammenhang dokumentiert nach Kriegsende paradigmatisch der kurze, aber aufschlußreiche Briefwechsel zwischen Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter; vgl. QuENY Nr. 6739–6743, insbesondere 6742 und 6743; dort auch Abdrucknachweise. Vgl. Thomas Mann / Frank Thieß / Walter von Molo, Ein Streitgespräch über die äußere und innere Emigration, Dortmund [1946], sowie Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland, hrsg. von Johannes F. Grosser, Hamburg 1963. Vgl. Marita Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001, S. 80–93, sowie Maren Köster und Dörte Schmidt (Hrsg.), Man kehrt nie zurück, man geht immer nur fort. Remigration und Musikkultur, München 2005. Vgl. dazu ebenfalls Oexle, Was ist eine historische Quelle? (Anm. 5), insbesondere S. 333–337 und 349, sowie Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 3). Martin Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Merkur (Heft 235, Mai 1985), S. 373–385; Wiederabdruck in: Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, hrsg. von Hermann Graml und Klaus-Dietmar Henke, München 1986, S. 159–173, sowie in der Taschenbuchausgabe München 1988, S. 266–281. 21978,
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historisch zu relativieren.16 Zum anderen tat sich die Geschichtsschreibung aus methodischen Gründen schwer, neben den Tätern auch die Opfer der Geschichte in den Blick zu nehmen: Denn es sind die Handelnden, die nicht nur die Geschichte „machen“, sondern auch die Quellen. Die angemessene Vergegenwärtigung der Opfer des Nationalsozialismus, zu denen die Emigranten gehören, erfordert neue Strategien, die Handlungsorientierung der Geschichtsschreibung der historischen Situation der Verfolgten anzupassen. Dies kann durch das Zusammenspiel von drei unterschiedlichen, wenn auch verwandten und aufeinander angewiesenen Formen von Gedächtniskultur gelingen: durch Erinnern, Gedenken, Erzählen (vgl. dazu unten S. 282ff.) 3. Emigration und Exil: Exkurs über die Geschichte zweier Begriffe Das harte Schicksal des Exils ist für immer mit dem Namen eines Dichters verbunden: Ovid. Er war an die Grenzen des Römischen Reiches verbannt, allerdings nicht inhaftiert, und ihm war das Recht verblieben, in Rom zu publizieren. In seinen Tristium libri V und den Epistulae ex Ponto hat er dem Verlust der Heimat, seines geliebten Rom, beredt Ausdruck verliehen und die Gattung der Elegie einem neuen Höhepunkt zugeführt. Noch Goethe zeigte sich von ihnen tief beeindruckt.17 Der literarische Topos des Exils war durch Ovid gestiftet, noch ehe der Begriff seine volle politische Dimension erreicht hatte. Als aber die Verbannung als Instrument politischer Disziplinierung in den italienischen Stadtstaaten wieder in Gebrauch kommt, erfährt die ästhetische Würde des Exils eine Politisierung: Dante wird aus Florenz verbannt und ist in dieser Stadt rechtlos. Während Ovid in seiner Sache öffentlich Freunde um Hilfe bitten konnte und, um Augustus milde zu stimmen, sich in Selbstkritik übte, kann Dante weder auf Hilfe noch Milde aus der Heimat hoffen, jedoch bleibt er außerhalb ihrer Grenzen – anders als Ovid – dem Zugriff ihrer Obrigkeit entzogen. Das Exil macht Dante zum politischen Schriftsteller, und er wirft seine ganze Autorität als Gelehrter und Dichter in die Waagschale, um seiner Kritik an Florenz Gehör zu verschaffen.18 Ein demütigendes Angebot, heimkehren zu dürfen, wenn er sich unterwerfe, weist er zurück;19 denn im Unterschied zu Ovid ist Dante im Exil eine politischmoralische Institution geworden. Die Legitimität usurpierter Herrschaft zu bestreiten und dadurch dem Umsturz in der Heimat zuzuarbeiten, gehört seit ihm zum Geschäft all derer, die im Exil leben und arbeiten müssen. Noch Brecht gedenkt
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Vgl. Martin Broszat und Saul Friedländer, Um die „Historisierung des Nationalsozialismus“. Ein Briefwechsel, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 339–372, wo diese Frage breit erörtert, wenn auch nicht abschließend behandelt worden ist; ein Abschluß der Diskussion war auch nicht zu erwarten, da es hier – mit Droysen zu reden – jeweils auf die Topik, die jeweilige Darstellung, ankommt. Maximen und Reflexionen 1031/1032, Italienische Reise (abschließendes Zitat), Iphigenie in Tauris. So in öffentlichen Episteln und in De Monarchia – einem Buch, das noch 1329 in Bologna öffentlich verbrannt wird. Ep. XII.
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seiner in einer der Hollywood-Elegien mit dem Schlußvers „Dante schwenkt den dürren Hintern.“20 Für die massenhaften Vertreibungen, die im Gefolge der Religionskriege einsetzen und bis ins 18. Jahrhundert andauern, hat sich der Exilbegriff nicht durchgesetzt, obwohl im zeitgenössischen Sprachgebrauch „Exulant“ als Bezeichnung für Flüchtlinge begegnet, die aus konfessionellen Gründen aus ihrer Heimat vertrieben wurden.21 Mit der Französischen Revolution gewinnt das Flüchtlingsproblem jenseits konfessioneller Konflikte politische Brisanz, wie sich an der zeitgenössischen Unterscheidung zwischen „Émigrant“ und „Réfugié“ ablesen läßt. „Réfugiés“ werden – rückblickend – die französischen Protestanten genannt, die nach der Aufkündigung des Edikts von Nantes durch Louis XIV ins protestantische Deutschland, vor allem nach Preußen, fliehen, „Émigrants“ hingegen die Adeligen, die während der Französischen Revolution von deutschem Boden aus einen bewaffneten Kampf gegen die junge Republik organisieren. „Exil“ bleibt im 19. Jahrhundert das Schicksal einzelner Intellektueller. Dies belegen paradigmatisch Leben und Werk Heinrich Heines, der von der Judenverfolgung im Rabbi von Bacharach (1840) über Deutschland, ein Wintermärchen (1844) bis zum autobiographischen Gedicht Les dieux en exile (1853) aus dem Pariser Exil seiner Heimat den Spiegel vorhält. Im Anschluß an den Sprachgebrauch, der sich im Gefolge der Französischen Revolution etabliert, erfährt auch die Bezeichnung „Emigrant“ im 19. Jahrhundert eine Politisierung. Sie läßt sich eindeutig an Hand der großen Enzyklopädien nachweisen, die den jeweils herrschenden Sprachgebrauch mit seinen Reaktionen auf aktuelle politische Krisen – wie zum Beispiel die polnische „Revolution“ von 1830 – seismographisch registrieren.22 Das französische Fremdwort „Émigrant“ ist in seiner Bedeutung deutlich von der Bezeichnung „Auswanderer“ abgegrenzt. Diese Politisierung des Begriffs „Emigrant“ wird im sogenannten „Dritten Reich“ begierig aufgegriffen und für die eigene Ideologie usurpiert. So referiert der Artikel „Emigrant“ in Meyers Lexikon von 1937 die Wortverwendung im Zusammenhang der Französischen Revolution, um dann die historische Parallele zu ziehen: „Nach der nat.-soz. Revolution 1933 in Deutschland gingen zahlreiche für den Niederbruch des Dt. Reiches und die Zersetzung des dt. Volkes verantwortliche Marxisten und Pazifisten ins Ausland [...] Die E.[migranten] entfalteten überall
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Bertolt Brecht, Werke. Große Kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht u. a., Bd. 12 (Gedichte 2), Berlin und Frankfurt am Main 1988, S. 115. Vgl. etwa das Gedicht von Joseph Schaitberger (1658–1733) Ich bin ein armer Exulant; dagegen referieren einschlägige Nachschlagewerke, von Johann Heinrich Zedlers Grossem Vollständigen Universal-Lexikon (Bd. 8, Halle und Leipzig 1734, Nachdruck Graz 1961, Sp. 2351f.) bis zu Johann Meyers Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände (Bd. 9, Hildburghausen 1847) im Artikel Exil ausschließlich das antike Exilrecht. Vgl. etwa Grand Dictionnaire universel du XIXe Siècle, hrsg. von Pierre Larousse, Bd. 7, Paris 1870, S. 192, und Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 14. Auflage (Revidierte Jubiläums-Ausgabe), Bd. 6, Berlin und Wien 1898, S. 77f.; der Gebrauch des Wortes „Exil“ bleibt in diesen Nachschlagewerken weiterhin auf die Antike beschränkt.
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eine volksverräterische Tätigkeit, bes.[onders] der jüd.[ische] Teil zeichnete sich durch maßlose Greuelhetze gegen das Deutsche Reich aus;“23
Es kann also nicht davon die Rede sein, daß die Bezeichnung „Emigration“ – im Unterschied zu „Auswanderung“24 – politisch neutral war, vielmehr galt und gilt, daß im dokumentierten Sprachgebrauch sowohl das Wort „Emigration“ als auch das Wort „Exil“ das Leben nach der Vertreibung bezeichnen – und dies bis in die jüngste Zeit.25 Emigration wird allerdings eher für die Bezeichnung der Massenflucht von Minderheiten gebraucht,26 Exil hingegen bezeichnet meist den Aufenthalt herausgehobener Persönlichkeiten nach erzwungener Flucht, denen in der Fremde die Möglichkeit gegeben war, gegen ihr Schicksal und das verantwortliche Regime zu opponieren. In diesem Sinne greift auch Brecht in die Diskussion um die Begriffe „Exil“ und „Emigration“ ein, so nach seinem ersten USA-Besuch in dem Svendborger Gedicht Über die Bezeichnung Emigrant27, in dem er die Bezeichnung „Emigrant“ als Verharmlosung ablehnt. Er reagiert damit jedoch auf eine Diskussion in den USA, ob es neben den verschiedenen bekannten Visa für „immigrants“ auch Visa für „refugees“ geben solle. Im Kontext der amerikanischen Diskussion, die anklingt in dem Satz „Wanderten wir doch auch nicht ein in ein anderes Land [...]“, wird Brechts Position verständlich; denn das englische „immigrant“ ist in der Tat politisch neutral, während den Amerikanern andererseits „Exile“ durchaus als Begriff für die Fluchtsituation einer Elite geläufig ist. Selbstverständlich begreift Brecht sich als dieser Elite zugehörig. Für die Verwendung des Begriffs „Exil“ im 20. Jahrhundert ist eine Traditionslinie zu berücksichtigen, die bis ins 19. Jahrhundert hinein dem christlich-abendländischen Denken exterritorial geblieben war, und zwar die Übersetzung der hebräischen Wörter „Golah“ und „Galuth“, mit denen in der Bibel die Deportationen der Juden nach Babylonien bezeichnet werden. Die Septuaginta hat sie mit „Diaspora“ übersetzt, Luther spricht von „Babylonischer Gefangenschaft“. „Golah“ und 23 24 25
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Meyers Lexikon, Achte Auflage in völlig neuer Bearbeitung und Bebilderung [...], 9 Bde., Bd. 3, Leipzig 1937, S. 835. Vgl. etwa Georg Smolka, Die Auswanderung als politisches Problem in der Ära des Deutschen Bundes (1815– 1866), Speyer 1993. Vgl. dazu etwa das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts (http://www.dwds.de vom 17. Dezember 1994): Stichwort „emigrieren: aus politischen oder religiösen Gründen die Heimat verlassen und in ein fremdes Land flüchten.“ Vgl. etwa das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration, hrsg. von Herbert A. Strauss und Werner Röder, 3 Bde., München und New York 1980–1983 (im folgenden BHE), als ein prominentes Beispiel für viele. „Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. Das heißt doch Auswanderer. Aber wir Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm. [...]“ Brecht, Werke (siehe Anm. 20), Bd. 12 (Gedichte 2), Berlin und Frankfurt am Main 1988, S. 81.
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„Galuth“ meinten und meinen aber auch alle jüdischen Gemeinden, die außerhalb Israels lebten und leben, gleich ob sie ihr Leben als erzwungenen oder freiwillig gewählten Aufenthalt in der Fremde empfinden.28 Beide Bezeichnungen bewerten diesen Zustand negativ, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung. Die Juden in Alexandria, wo die Septuaginta entstand, empfanden ihren Status anscheinend nicht als defizitär und übersetzten beide Wörter mit dem wertfreien „Diaspora“ (Zerstreuung, wodurch die Zersplitterung des Volkes Israel in viele Gemeinden, nicht seine Vertreibung akzentuiert ist). Ob die „Zerstreuung“ Israels ein Zustand sei, in dem man sich einrichten müsse und könne, oder ob Gott sie als Strafe über sein auserwähltes Volk verhängt habe, die durch religiöse Umkehr zu überwinden sei, war und ist in der Judenheit umstritten.29 Im Zuge des aufkommenden Zionismus, dessen Programm es ist, die „Golah“ rückgängig zu machen, kommt anstelle von „Diaspora“ der Begriff „Exil“ in Gebrauch. Es gilt, das auserwählte Volk aus seinem Exil in der Welt – sei es aus der Donaumonarchie, dem Wilhelminischen oder dem Zarenreich, sei es aus den Vereinigten Staaten – in die Heimat Israel herauszuführen. Den einst assimilierten Juden wird so „Exil“ als Bedingung ihrer Existenz bewußt, und in diesem Verständnis tauschen sie, wenn sie der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entgingen, ein Exil mit einem anderen, wobei diese Homonymie unter theo-teleologischem Vorzeichen nicht über die singuläre Brutalität nationalsozialistischer Verfolgung hinwegtäuschen darf. In diesem ursprünglich biblischen Sinne bezeichnen jüdische Autoren mit „Exil“ auch eine Massenflucht, wenngleich speziell die des „auserwählten Volkes“. 4. Aporien der „Political Correctness“ Die Geschichte beider Begriffe ist erhellend für das Verständnis der Debatte, die in der Musikwissenschaft (und nicht nur dort) um sie geführt worden ist.30 Insofern ist Peter Petersen zuzustimmen: „Wäre der Streit ‚Exil versus Emigration‘ nur ein Streit um Worte, könnte man ihn für unbedeutend erachten. Wie man sieht, verbergen sich dahinter jedoch verschiedene Konzepte.“31
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Vgl. H. H. Ben-Sasson, Artikel Galut, in: Encyclopedia Judaica, hrsg. von Cecile Roth, 16 Bde., Bd. 7, Jerusalem 1974, S. 275–279, und J. J. Petuchowski, Artikel Diaspora/Exil, in: Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung, Freiburg 1989, S. 76–82. Vgl. Exile and Diaspora. Studies in the History of Jewish people presented to Professor Haim Beinart, hrsg. von Aharon Mirsky u. a., Jerusalem und Madrid 1991. Weber, Betroffenheit und Aufklärung (Anm. 1); Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), dort vor allem die Replik Exil versus Emigration, S. 35–37; Weber und Schwartz, Einleitung zu: QuECA (Anm. 2), S. XVII–XIX. Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), S. 37. Die Kritik an Riten der Betroffenheit, die ich in meinem Eröffnungsvortrag zum Symposium von 1992 geäußert hatte (vgl. Anm. 2), meinte nachweislich „Lippenbekenntnisse“ von Sponsoren (S. 6) – und dies damals aus gegebenem Anlaß – sowie von Politikern (S. 7); Musikwissenschaftler waren nicht gemeint und daher nicht genannt. Petersens Polemik (S. 35– 37) sei hier als Entgleisung angemerkt, aber nicht erwidert. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinem programmatischen Entwurf ist dennoch notwendig.
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Wie man aber gleichfalls sieht, kann nicht die Rede davon sein, daß der Begriff „Emigration“ verharmlosend sei, wie Petersen und Maurer Zenck behaupten,32 und zur Diskussion stehen nicht Verharmlosung, sondern historische Phänomene und Perspektiven. Gleichwohl hat Petersen den Emigrationsbegriff mit der leicht widerlegbaren Behauptung verworfen, daß in „jenen Fächern, die sich bereits länger mit der Exilproblematik befassen als die Musikwissenschaft, [...] längst ein Konsens darüber erzielt [sei], daß – ganz im Sinne Brechts – Exil der angemessene Ausdruck sei.“33
Statt dessen hat er für einen „erweiterten Exilbegriff“ plädiert.34 Dem erweiterten Exilbegriff ist als Kriterium „der Tatbestand der Verfolgung“ zugrunde gelegt.35 „Erweitert“ ist dieser Exilbegriff aber nicht, weil er etwa den Emigrationsbegriff unter sich fassen würde, sondern weil er den Personenkreis erweitert, nämlich alle Opfer nationalsozialistischer Verfolgung einschließt: die Ermordeten, die Inhaftierten und die Vertriebenen.36 Damit nähert er sich anderen Bezeichnungen wie „Verfemte Musik“ oder „Verfolgte Musik“ an, die ihren Gegenstand – in anderen Kontexten – korrekt benennen. Petersens erweiterter Exilbegriff ist indes für die Exilforschung aus mehreren Gründen problematisch. Er ist nicht im Streit um „Interpretationshoheit durch Terminologie“ zu diskutieren, sondern in Abwägung seines operationalen Wertes, der sowohl aus dem allgemeinen Sprachgebrauch resultiert, der dem bezeichnenden Wort anhaftet, als auch aus der Definition, die ihm zugewiesen ist: 1. Mit der Verfolgung als ausschließlichem Kriterium, das alle drei Personengruppen als Opfer verbindet, ist dem Begriff das Handeln der Täter als historiographische Kategorie zugrunde gelegt. Der Begriff verinnerlicht dadurch ungewollt Voraussetzungen, die es zu überwinden gilt.37 Im Sinne von Droysens Heuristik ist es zwar unumgänglich, erneut aufzuspüren und zu sichten, was und wer von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Aber für die Topik, also die Darstellung, ist der erweiterte Exilbegriff mit der methodischen Hypothek belastet, daß das 32
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Vgl. Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), S. 37, und Claudia Maurer Zenck, Versuch einer Bilanz der musikwissenschaftlichen Exilforschung (La Svizzera: Terra d’Asilo/Die Schweiz als Asylland, Atti/Kongressbericht Ascona 1998); in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft/Annales Suisse de Musicologie/Annuario Svizzero di Musicologia. Neue Folge 19 (1999), Bern 2000, S. 1–12, hier S. 8. Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), S. 35. Vgl. dagegen etwa das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration und in jüngerer Zeit etwa Johannes Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945, Frankfurt am Main 2001, sowie Anne Saint Sauveuer-Henn, Paris. Die deutsche Emigration 1933–1940, Berlin 2002. Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), S. 31ff. Ebenda S. 31 und 37. Daß jemand, der im Exil lebte, im Ausland angekommen sein mußte, wird als Bedingung ausgeschlossen; vgl. S. 35. Unzweifelhaft sind die Verhafteten und Ermordeten Gegenstand der Faschismusforschung, auf deren Abgrenzung von der Exilforschung Petersen an anderer Stelle ausdrücklich hinweist; vgl. S. 29. Der erweiterte Exilbegriff nähert sich dadurch von seinem Umfang her dem der „entarteten Musik“ an. Erinnert sei an das verdienstvolle CD-Label mit dem unseligen Titel „Entartete Musik“, das nicht nur marktschreierisch ein Nazi-Wort wieder aufleben läßt, sondern auch die betroffenen Künstler erneut brandmarkt.
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Handeln der Verfolger, ihre Motivationen, ihre Methoden und ihre Machtmittel, als verbindendes Referenzkriterium im Zentrum der Darstellung bleibt, nicht aber das Handeln der Verfolgten. Dies demonstriert mit aller Deutlichkeit das Schicksal Henry Meyers, das Petersen zur Explikation seines erweiterten Exilbegriffs dient (S. 31–33): Meyer war, solange er in Auschwitz überlebte, dort entschiedenermaßen nicht im „erweiterten Exil“, und ob für ihn die USA nach Auschwitz ein „Exil“ waren, müßte zumindest diskutiert werden; erst recht lebten die Mitglieder des Frauenorchesters von Auschwitz dort nicht im „Exil“.38 Jüdische Musiker, die in Deutschland außerhalb der Konzentrationslager überlebten, ob sie nun später weiterhin in Deutschland arbeiteten wie Konrad Latte oder in die USA emigrierten wie Ludwig Misch, lebten ebenfalls während des „Dritten Reiches“ in Deutschland nicht im „Exil“. Wenn man Leiden und Sterben unter dem Nationalsozialismus mit dem Leben im Exil in einen „Begriff“ wirft, passiert das Gegenteil von dem, was beabsichtigt ist: „Ein Forschungsfeld verliert Konturen“. Das Insistieren auf einem „Exilbegriff“, der zwar erweitert ist und doch wichtige Perspektiven der Emigration nicht fundiert (siehe 2.), steht in der Tradition einer „moralisierenden“ Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen, von denen das Exil ein Teil ist. Martin Broszat hat, aus der Perspektive eines Nachkommens der Täter, in seinem Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus und in späteren Veröffentlichungen immer wieder ausgeführt, warum solcher „Moralismus“ unzureichend ist,39 und obwohl Saul Friedländer, aus der Perspektive der Opfer, davor gewarnt hat, daß mit solcher Historisierung nicht zugleich eine historische Relativierung des Holocaust einhergehe, ist Broszat darin im Prinzip gefolgt,40 weil es anders keine rationale Verständigung zwischen den nachfolgenden Generationen der Täter und der Opfer, also auch keine gemeinsame Forschung, geben kann.41 2. Vor dem Problemhorizont von Handeln und Leiden in der Geschichte steht der „erweiterte Exilbegriff“ verquer zur Frage, inwiefern die Verfolgten nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Geschichte waren. Die Handlungsoptionen waren für die Inhaftierten und schließlich Ermordeten völlig andere als für jene, die vertrieben wurden, jedoch letzten Endes entkommen konnten. Für alle, die dem Terror entrinnen konnten, ist der erweiterte Exilbegriff zu eng: Er legt sie auf ihre Opferrolle fest, blendet damit wesentliche Teile ihrer Zukunft aus, denen vor allem ihre Integrationsbemühungen im Land ihrer Zuflucht und ihr 38
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Gabriele Knapp, Das Frauenorchester von Auschwitz. Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung, Hamburg 1996 (Musik im „Dritten Reich“ und im Exil, Bd. 2). Dagegen Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), S. 30: „Bei dieser Themengruppe bedeutete das Exil nicht die Vertreibung außer Landes, sondern die Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager“. Vgl. Broszat/Friedländer (Anm. 16), Briefwechsel, S. 340–343, 349 und 351. Vgl. ebenda S. 354 und 368, sowie Jörn Rüsen, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln usw. 2001, S. 222–224. Zur Historisierungsdebatte vgl. Rüsen, ebenda S. 217–262.
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Verhältnis zur ehemaligen Heimat nach dem Untergang des Hitler-Regimes zuzurechnen sind. In Petersens Explikation des Begriffs wird diese Hinsicht auf die Geschichte der Emigranten nicht thematisiert, als sei für Deutsche über das Gelingen von Zukunft in der Emigration ein Tabu verhängt. Es ist aber weder ein Akt nationaler Geschichtsschreibung noch eine Relativierung des erlittenen Leids und Unrechts, wenn die Leistung durch Akkulturation bzw. Integration, die viele Emigranten vollbracht haben, gewürdigt wird, sondern gehört ebenfalls zur Wahrnehmung der besonderen Verantwortung, die wir als Deutsche tragen. Dieser Verantwortung haben wir uns umso dringlicher zu stellen, als in den USA die Befassung mit der Geschichte der Emigration in den letzten Jahren trotz einiger herausragender Publikationen42 deutlich zugunsten anderer Forschungsinteressen zurückgegangen ist. 3. Petersen leugnet die Möglichkeit einer stigmatisierenden Wirkung des Exilbegriffs für die Emigranten, die sich integriert fühlen. Wenn er schon nicht einschlägige Erfahrungen in der Begegnung mit Überlebenden gemacht hat, so wäre doch die einschlägige Literatur zur Kenntnis zu nehmen.43 Maurer Zenck bedenkt die stigmatisierende Wirkung des Exilbegriffs und hat eine differenzierte Verwendung beider Begriffe vorgeschlagen: „Anstatt sich also mit dem bagatellisierenden Begriff Emigration als kleinstem gemeinsamem Nenner zufrieden zu geben oder auch nur abzufinden, schlage ich einen dem diplomatischen Usus beim Übersetzen politischer Verträge vergleichbaren Wortgebrauch vor: nämlich dass mit Wissen um die Hintergründe akzeptiert wird, dass wir aus unserer deutschen und österreichischen Perspektive das Wort Exil wählen, während selbst Geflohene ‚Emigration’ vorziehen mögen.“44
Aber Sprachgebrauch läßt sich nicht durch Dezision regeln. Denn nicht nur die Geflohenen reden von Emigration oder gar von immigration, sondern auch native Americans, und beide sprechen zugleich in anderem Zusammenhang von exile, so
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Driven into Paradise. The Musical Migration from Nazi Germany to the United States, hrsg. von Reinhold Brinkmann und Christoph Wolff, Berkeley usw. 1999. Petersen hätte den Band, gegen dessen Einleitung er polemisierte, nur bis S. 261 lesen müssen, im Beitrag von Alexander Ringer, Innere Rückkehr – Jüdische Musiker nach der Gleichschaltung (S. 260–272); vgl. auch die in Maurer Zenck, Versuch, zitierte Literatur S. 7f. (vgl. Anm. 19), sowie grundsätzlich zum Problem der Stigmatisierung den „Klassiker“: Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität (engl. 1963), Frankfurt am Main 1967, insbesondere die Kapitel „Gruppenausrichtung und Ich-Identität“, S. 132–155, sowie ferner zur „Scham“ der Überlebenden Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1990 (italienisch I sommersi e i salvati, Turin und Mailand 1986). Ferner sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß z. B. die „verharmlosenden“ Formulierungen in der Vita von Emigranten im Personenteil der 12. Auflage des Riemann Musiklexikons (Mainz 1959 und 1961) von dem Emigranten Karl Geiringer stammen. Maurer Zenck, Versuch (Anm. 32), S. 9. Siehe auch deren Beitrag in vorliegendem Band, S. 251–258.
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etwa Alvin Johnson, als er 1933 für die Flüchtlinge der europäischen Elite die University in Exile an der New School for Social Research gründete.45 Was beide Begriffe voneinander trennt, ist nicht, daß sie in verschiedenen Sprachen denselben Inhalt meinen, sondern in denselben Sprachen einen verschiedenen Inhalt. Daher ist dem Problem nicht mit Diplomatie, sondern mit Reflexion des Sprachgebrauchs beizukommen (siehe oben). So hätten amerikanische Kollegen Schwierigkeiten damit, wenn deutsche Kollegen Kurt Weills Schaffen in den USA dem Exilbegriff subsumierten, geht es ihnen doch gerade darum, die europäische Redeweise von den „zwei Weills“ zu widerlegen46 und aufzuzeigen, wie sehr Weill sich in die amerikanische Musikkultur integriert hat. Ob von amerikanischer Seite das Gelingen dieser Akkulturation zu stark akzentuiert ist und nicht doch, obwohl Weills Habitus in den USA dem entschieden zu widersprechen schien,47 ein Rest an Fremdheit blieb, der auch ästhetisch für sein amerikanisches Œuvre und dessen Rezeption relevant blieb, ist eine offene Frage an die Weill-Forschung.48 Jedenfalls scheint es schwierig, allerdings auch nicht ausgeschlossen, für beides zugleich zu plädieren: für Weills vollständige Akkulturation und für die Bruchlosigkeit seines Œuvres. Zur Klärung dieser Frage bedarf es jedoch weniger – um mit Droysen zu reden – zusätzlichen „Materials“ als vielmehr der Anstrengung des Begriffs. Am Beispiel Weill treten besonders profiliert unterschiedlich gerichtete Erkenntnisinteressen hervor; Ähnliches hat Danuser nicht nur für Weill, sondern auch für Strawinsky diagnostiziert.49 Die Ansprüche, die an den „Sinn der Geschichte“ der Emigranten aus unterschiedlichen Perspektiven gestellt werden, insbesondere aus den wechselseitigen Perspektiven des alten und des neuen Heimatlandes, kann eine Ausdifferenzierung des Emigrations- und des Exilbegriffs vermitteln. Es kommt also nicht darauf an, dem Exilbegriff den Emigrationsbegriff entgegenzustellen,50 als seien dies zwei verschiedene Forschungsgegenstände, sondern eher darum, den einen Begriff zum anderen zu weiten, jedenfalls beide so ins Verhältnis zu setzen, daß bessere und umfassendere historische Erkenntnis ermöglicht wird.
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Vgl. etwa Laura Fermi, Illustrious Immigrants. The Intellectual Migration from Europe, 1930–1941, Chicago (11968) 21971, S. 15. Vgl. etwa David Drew, Artikel „Weill“, in: New Grove Dictionary of Music and Musicians, 6th Edition, hrsg. von Stanley Sadie, 20 Bde., London 1980, Bd. 20, S. 300–310, und Foster Hirsch, Kurt Weill on Stage. From Berlin to Broadway, New York 2002. Weill mied weitgehend den Kontakt mit anderen Emigranten und weigerte sich, in den USA Deutsch zu sprechen. Auch dieses Verhalten ließe sich mit Erving Goffman, Stigma (Anm. 43), als eine „Technik der Bewältigung beschädigter Identität“ interpretieren; siehe das Kapitel „Gruppenausrichtung und IchIdentität“, S. 132ff. Horst Weber, Schönberg, Weill und Amerika, in: Auf dem Weg zum „Weg der Verheißung“, hrsg. von Helmut Loos und Guy Stern, Freiburg im Breisgau 2000, S. 37–49, und ders., Einleitung zu QuENY, S. XVII. Hermann Danuser, Identität oder Identitäten. Über Komposition im Exil, in: Exilmusik. Komposition während der NS-Zeit, hrsg. von Friedrich Geiger und Thomas Schäfer, Hamburg 1999 (Musik im „Dritten Reich und im Exil“, Bd. 3), S. 80–99, hier S. 84–87 bzw. S. 82 (englisch in Driven into Paradise, S. 155–171). Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), S. 35.
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5. Perspektiven Für die Musikwissenschaft ist auch im Kontext der Exilforschung die Beschaffenheit ihres Forschungsgegenstandes von grundlegender Bedeutung. Musik als „Tonsprache“, die vor Sprachgrenzen nicht Halt macht, weil sie letzten Endes doch keine Sprache ist, ermöglichte schon immer einen schnellen Austausch von Repertoire und Musikern zwischen unterschiedlichen Ländern und Nationen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es neben der italienischen Oper insbesondere Musik aus dem deutschen Sprachraum, die überall auf der Welt bekannt war und gespielt wurde. Diese historische Konstellation unterschied die Situation für emigrierte Musiker fundamental von der Situation ihrer Kollegen von der schreibenden Zunft. Als die Nationalsozialisten an die Macht gelangt waren, war das Ausmaß der Verfolgung für Musiker und Schriftsteller gleich, die Möglichkeit, im Land ihrer Zuflucht Fuß zu fassen, verschieden.51 Als die Exilforschung in der Musikwissenschaft begründet wurde, war eine Orientierung an der Exilforschung der Literaturwissenschaft nicht nur naheliegend, sondern unumgänglich. Diese Orientierung hat Maurer Zenck als erste geleistet.52 Für das Fach Musikwissenschaft ist es allerdings keineswegs neu, sondern geradezu ein Kontinuum seiner sich immer zäh artikulierenden Methodendiskussion, daß solche Orientierung an anderen Disziplinen zunächst vollzogen und im nachhinein problematisiert wird. Häufig erweisen sich nämlich erst auf den zweiten Blick die Spezifica des Gegenstandes Musik und seiner Geschichte für Methodentransfers als sperrig. Die Orientierung an der Literaturwissenschaft blieb denn auch nur so lange unproblematisch, wie sie mit den behandelten Gegenständen und Fragestellungen kompatibel war, und dies waren zunächst und vor allem Monographien über emigrierte Musiker, zumal Komponisten, wie Maurer Zencks eigene grundlegende Arbeit über Ernst Krenek. Mit einer breiteren Auffächerung der Forschung zu Fragen der Rezeptionsgeschichte, der Mentalitätsgeschichte und der Strukturgeschichte von Repertoire, Institutionen und Sozialisation treten jedoch die unterschiedlichen Bedingungen deutlicher hervor, die jeweils für die Existenz und das Schaffen von emigrierten Musikern oder Schriftstellern galten und so eine Orientierung am Exilbegriff der Literaturwissenschaften problematisch werden lassen. Das betrifft vor allem die Frage der Akkulturation und Integration, also der kulturellen und sozialen Eingliederung der Emigranten in ihre neue Heimat, und die Frage, ob es ebenso wie eine Exilliteratur auch eine Exilmusik gibt. Zunächst sind daher die Kriterien zu diskutieren, die für den Begriff der Emigration gelten sollen und in der Sekundärliteratur auch bereits im Zusammenhang mit dem Exilbegriff diskutiert wurden:
51 52
Vgl. dazu etwa Herbert A. Strauss, Essays on the History, Persecution, and Emigration of German Jews, New York 1989, S. 353. Claudia Maurer Zenck, Ernst Krenek (Anm. 3), S. 11–42.
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1. Verfolgung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bestimmung für die Emigration. Notwendig ist sie, weil in ihr die Erfahrung der Kontingenz von Geschichte, welche die nationalsozialistische Verfolgung über die Emigranten gebracht hat, zur Sprache gebracht wird. Eine Differenzierung scheint allerdings überlegenswert. Für den überwältigenden Teil der Emigrierten brach die Verfolgung aus rassistischen Gründen wie ein Verhängnis ein, die meisten Komponisten wurden obendrein als „Kulturbolschewisten“ denunziert. Es gab allerdings auch eine Handvoll Musiker, die weder aus rassistischen Gründen noch als „Kulturbolschewisten“ verfolgt wurden, sondern sich in unterschiedlicher Weise der nationalsozialistischen Kulturpolitik widersetzten und schließlich das Land verließen. Hier seien stellvertretend Erich Kleiber und Fritz Busch, aber auch, in Ungarn, Béla Bartók genannt. Bei ihnen könnte man eher von Nötigung zur Emigration als von Verfolgung sprechen. Diese Differenzierung scheint, so unterschiedlich die Fälle auch im einzelnen gelagert sein mögen, immerhin bedenkenswert, um damit der Tatsache Rechnung zu tragen, daß sie der diffamen Erniedrigung als Mensch durch die rassistische Ideologie nicht ausgesetzt waren und sich hätten arrangieren können, wenn sie sich den Machthabern gebeugt hätten. Nicht hinreichend ist diese Bestimmung, weil sie die Vertreibung als konstituierendes Kriterium für „Emigration“ – aber ebenso auch für „Exil“ – außer acht läßt. 2. Vertreibung außer Landes ist als zweites Kriterium notwendig, gleich ob man den neuen Existenzzustand Emigration oder Exil nennen will: die Erfahrung der Fremde, die mit der Rettung des Lebens und – im glücklichen Fall – mit der Gewinnung der Freiheit verbunden war, ist konstitutiv für den Forschungsgegenstand. Von Exil in den Händen der nationalsozialistischen Verbrecher zu reden ist sinnlos, auch wenn die verfolgten Musiker, denen die Flucht nicht gelang, aus dem Musikleben „ausgeschaltet“ wurden. Leben und Sterben unter dem Hakenkreuz, wie z. B. das Schicksal Kurt Singers, ist Gegenstand der Faschismusforschung, „wenngleich natürlich enge Beziehungen zwischen beiden Themenbereichen bestehen.“53 Immerhin gibt es Biographien, in denen die Vertreibung außer Landes nicht notwendigerweise mit der Erfahrung der Fremde im emphatischen Sinne verknüpft war, z. B. bei Toscanini. Er hatte schon viele Jahre in den USA gelebt und gearbeitet, war aber dennoch eine zentrale Figur des Widerstandes gegen den Faschismus.54 3. Zeitliche Begrenzungen historischer Begriffe sind dem Denken ebenso notwendig wie problematisch, und daher sind sie besonders häufig Gegenstand von Kontroversen, in denen pragmatische und systematische Gesichtspunkte gegeneinander abgewogen oder ins Feld geführt werden. Das ist bei Emigration und 53 54
Ebenda S. 29. Vgl. QuENY, S. XXIII.
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Exil nicht anders. Nimmt man allein die politische Situation zum Maßstab, so wäre die Vertreibung um 1942, als es aus Europa kein Entrinnen mehr gab, beendet; von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die Flüchtlinge entweder in Sicherheit oder endgültig in der Gewalt der deutschen Behörden. Das BHE hat das Jahr 1945, also das tatsächliche Ende des „Dritten Reiches“, als Grenze gesetzt;55 wer Deutschland danach verließ, „wanderte aus, nach freiem Entschluß, wählend ein anderes Land“, um Brecht zu zitieren. Gegen diese Grenzziehung hat Petersen mit Recht Henry Meyers Schicksal geltend gemacht;56 es ließe sich durch eine ganze Reihe anderer Beispiele ergänzen. Diejenigen – und mögen es auch noch so wenige gewesen sein –, welche bis Kriegsende im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich überlebten, waren durch ihre Geschichte nicht frei in ihrem Entschluß, zu emigrieren oder nicht. Sie waren frei in ihrem Entschluß, für ihre künftige Existenz jedes Land zu wählen – außer Deutschland vielleicht.57 Vor allem aber impliziert die Erfahrung der Fremde die Aufarbeitung der traumatischen Ereignisse, und dies wieder insbesondere in Formen künstlerischer Reflexion. Ebenso die Anstrengungen, die Fremde durch Akkulturation und Integration zu überwinden: Eben dies macht aus Leidenden Handelnde. Für die psychische Aufarbeitung des Traumas, insbesondere durch künstlerische Bearbeitung, kann kein Zeitpunkt als terminus ante quem verbindlich gemacht werden, der für alle Emigranten oder auch nur für eine Mehrheit gelten könnte. Er ist von Biographie zu Biographie verschieden. 4. Die Beschränkung auf deutschsprachige Flüchtlinge, wie sie vom BHE vollzogen wurde, ist für die Musikwissenschaft nicht sinnvoll, da das Musikleben so sehr durch den Austausch von Künstlern und Repertoire geprägt war, daß eine Auswahl der Personen nach Nationalität willkürlich erscheinen muß.58 So nimmt ein Musikhistoriker mit Befremden zur Kenntnis, daß er Clara Haskil (in Rumänien geboren) im BHE vergeblich sucht. Gleichwohl geht es zu weit, die redaktionelle Entscheidung des BHE als „widersinnig“ zu bezeichnen.59 Vielmehr trägt diese pragmatische Entscheidung für ein fächerübergreifendes Handbuch der Tatsache Rechnung, daß es vergleichsweise wenige Berufe gibt, in denen die Sprache das jeweilige Metier nicht konstituiert. Zu diesen Bereichen zählt aber die Musik. Und es ist eben dieser Umstand, die Musikern andere und vielfältigere Möglichkeiten der Akkulturation eröffnet hat, als sie sich Künstlern, die im Medium der Sprache arbeiteten, boten. Aus diesem Überblick ergibt sich, daß terminologische Bestimmungen sehr differenziert gehandhabt werden müssen. Die Reduktion der Kriterien auf den „Tatbestand der Verfolgung“ bewirkt für den Forschungsgegenstand durch Wegfall ande55 56 57 58 59
BHE (Anm. 26), Bd. I, S. LI. Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), S. 31–33 und 35. Aus diesem Grund kehrten auch viele Emigranten aus Übersee in die Schweiz zurück, so etwa Otto Klemperer und Thomas Mann. BHE (Anm. 26), Bd. I, S. LI; Petersen (Anm. 3), S. 30; QuECA, S. VII. Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), S. 30.
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rer Kriterien einen Verlust an Kontur, d. h. an spezifischen Fragestellungen, und damit eine diffundierende Öffnung zur Faschismusforschung; rigide Eingrenzungen chronologischer oder geographischer bzw. nationaler Art erweisen sich für die Musik bei näherer Betrachtung als sach- bzw. fachfremd, da weder das Trauma der Vertreibung mit der Beseitigung ihrer Ursachen endet noch Musik von nationalen Schranken aufgehalten wird. Diese Widersprüche lassen sich auflösen, wenn man die Vertreibung von Musikern und ihre Folgen als einen Prozeß begreift, der sich nicht nur in den Koordinaten von Zeit und Raum, sondern auch in den verwandten, aber anders dimensionierten Koordinaten von Heimat und Fremde vollzogen hat. Denn ereignisgeschichtliche und mentalitätsgeschichtliche Momente wirken in der Geschichte der Vertreibung von Musikern zusammen. Dieses Zusammenwirken kann mit Hilfe der Situationstheorie angemessen beschrieben werden.60 Um diese Verbindung ereignis- und mentalitätsgeschichtlicher Momente begrifflich zu fassen, scheint an Stelle der exkludierenden Verwendung der Begriffe Exil oder Emigration ein inkludierender Gebrauch sinnvoll, weil der Sache angemessen. Es wäre zu unterscheiden zwischen der „Emigration“ als der internationalen Massenflucht verfolgter Juden und einiger exponierter Persönlichkeiten, die aus dem stetig wachsenden Bereich nationalsozialistischer Herrschaft entkamen, und den mentalitätsgeschichtlichen Aspekten dieser Massenflucht durch die Erfahrung von Heimat und Fremde, z. T. durchaus in einem dialektischen Prozeß: Die Heimat wird zur Fremde und die Fremde zur Heimat. Für die Erfahrung der Fremde einschließlich der Entfremdung von Heimat bietet sich der Begriff „Exil“ an, für die Gewinnung der Fremde zur Heimat der Begriff „Akkulturation“ (sie ist gegebenenfalls von beruflicher und sozialer Integration begleitet). In diesem Sinne sind Emigration und Exil weder zwei unterschiedliche historische „Einheiten“ noch konkurrierende Begriffe für denselben Inhalt, sondern unterschiedliche Beschreibungskategorien. Ihre Differenzierung, die den skizzierten Sprachgebrauch aufgreift, erleichtert obendrein den Vergleich der Lebensverhältnisse emigrierter Künstler verschiedener Disziplinen. Exil und Akkulturation bilden in diesem Sinn zwei komplementäre, einander nicht ausschließende Möglichkeiten, in der Emigration „kreativ zu handeln“.61 Der Rekurs auf Hans Joas’ Begriff des „kreativen Handelns“ kann für die Geschichtsschreibung der Emigration durch den dort explizierten Begriff der „Situation“ fruchtbar gemacht werden.62 Kreativ nennt Joas das Handeln insofern, als er – im Anschluß an Talcott Parsons und andere amerikanische Pragmatisten – den Theoriekonzepten des Utilitarismus und des deutschen Idealismus widerspricht, die dem
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Siehe dazu Jürgen Markowitz, Die soziale Situation. Entwurf eines Modells zur Analyse des Verhältnisses zwischen personalen Systemen und ihrer Umwelt, Frankfurt am Main 1979, sowie Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1996. 61 Siehe dazu unten den Situationsbegriff von Hans Joas in Die Kreativität des Handelns (Anm. 60). 62 Ebenda S. 218ff.
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Handeln einen teleologischen Charakter unterstellten.63 Demgegenüber enthält nach Joas jede Situation einen Horizont von Möglichkeiten, die weder durch prädisponierte Zwecke noch durch prädisponierende Moralität determiniert sind.64 Indem Joas diese telelogischen Deutungsmuster des Handelns in Frage stellt,65 geraten Handlungen nicht mehr zu „Zweck-Mittel-Ketten“, mit denen vorgefaßte Zwecke verfolgt werden, sondern an die Stelle des Zweck/Mittel-Schemas rückt die Situation als erste „Grundkategorie des Handelns“.66 Sie ist insbesondere geeignet, der Kontingenzerfahrung in der Geschichte, die Emigranten in besonderem Maße zu verarbeiten hatten, zu entsprechen. Die kontingente Situation, in welche die Emigranten durch die Vertreibung gestoßen wurden, bringt neue Zwecksetzungen hervor, und in ihr konkretisieren sich neue Werte oder – wie im Falle jüdischer Identität – alte Werte neu.67 Für die Emigranten bestand die Kreativität ihres Handelns darin, daß ihnen grundsätzlich zwei Haltungen als Optionen offenstanden, nämlich an der Erfahrung und möglichen Zukunft der alten Heimat festzuhalten – so am ausgeprägtesten bei Brecht –, oder im Land ihrer Zuflucht eine neue Heimat zu suchen, indem sie sich integrierten, so paradigmatisch bei Weill. Beides sind keine Alternativen im Sinne prädisponierter Zwecke des teleologischen Deutungsmusters, sondern Optionen, die ein Leben lang ihre Gültigkeit behielten und von Situation zu Situation neue Entscheidungen erforderten.68 Emigration ist Existenz zwischen Exil und Akkulturation. Im Sinne von Hans Joas’ Begriff des kreativen Handelns ist Exil eine kritische Haltung, die zu politischen und/oder ästhetischen Handlungen herausfordert; diese Handlungen artikulieren sich in Anklage und Widerstand. Historiographisch gesprochen ist Exil ein politisches oder ein ästhetisches Konstrukt bzw. beides. Das heißt nicht, daß die Leiden der Betroffenen in diesem Begriff als bloßes Konstrukt neutralisiert wären, sondern daß im Gegenteil durch ihn eine Beschreibungskategorie konstituiert ist, in welcher der Ausdruck der Leiden und der Widerstand gegen die Gewalt seinen historiographischen Platz findet. Exil ist ein Begriff des politischen und ästhetischen Handelns vor dem Hintergrund der Verfolgung und der Erfahrung der Fremde.
63
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Sieht der Utilitarismus im Gefolge von Hobbes das Handeln rational dadurch prädisponiert, daß jedes Individuum seinen Zweck verfolgt und sich die Antagonismen aller individuellen Zwecke in gemeinschaftlich respektierten Zwecken neutralisierten, so nahm der Idealismus (Kant) an, daß der Mensch in seinem Handeln normativen Ideen folge und sich das Zusammenleben so durch eingeborene Moralität regele. Joas, Die Kreativität des Handelns (Anm. 60), S. 196. Ebenda S. 220. Ebenda S. 235. Ebenda S. 238f. Insofern scheint der Vorschlag von Frühwald prekär, die Bezeichnung von Emigration und Exil davon abhängig zu machen, ob die Emigranten zurückgekehrt sind oder nicht; denn viele Musiker erwogen eine Rückkehr, aber ihr Vorhaben zerschlug sich aus unterschiedlichen Gründen. Vgl. Wolfgang Frühwald, Einleitung zu: Die Erfahrung der Fremde. Forschungsbericht, hrsg. von Manfred Briegel und Wolfgang Frühwald, Weinheim 1988, S. 10.
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Nicht alle Menschen, die emigrieren mußten, blieben demnach notwendigerweise im „Exil“, sei es daß sie sich schnell integrieren konnten und den Schock der Fremde bald überwanden,69 sei es daß ihnen das Land ihrer Zuflucht bereits vertraut war wie z. B. Toscanini. Das heißt nicht, daß sie vergessen hätten oder auch nur dazu in der Lage gewesen wären. Aber wie traumatische Erfahrungen aufgearbeitet wurden und ob sie je aufgearbeitet wurden, gehört zum „Bereich der Spätfolgen solcher Lebenserfahrungen. [...] Er ist und bleibt der Wissenschaft verborgen.“70
Gleichwohl bleibt dieser Bereich der Mentalitätsgeschichte, der für Künstler von besonderer Bedeutung ist, ein zwar diffiziler, aber zentraler Aspekt der Emigration, weil genau hier das dynamische Verhältnis von Exil und Akkulturation angesiedelt ist. Die Forschung „muß wissen, was sie suchen will; erst dann findet sie etwas“71 – daher wurde bei der Beschreibung der „Quellen zur Geschichte emigrierter Musiker“72 ein besonderer Akzent auf die Auswertung von Korrespondenz gelegt, weil auf dieser Grundlage am ehesten solche mentalitätsgeschichtlichen Prozesse zu fassen sind. Emigration als Existenz zwischen Exil und Akkulturation eröffnet eine Reihe systematischer Fragestellungen, die zwar jedes einzelne Emigrantenleben tangieren und demgemäß in monographischen Abhandlungen thematisiert wurden, die aber teilweise noch ihrer durchgängigen Erörterung harren. Der Rückstand in der Aufarbeitung systematischer Fragestellungen gegenüber monographischen Darstellungen ist vor allem auf die diffuse Quellenlage zurückzuführen, auch wenn sich die Forschungslage in den letzten Jahren verbessert hat. 1. Die Identitätsproblematik ist für die Mentalitätsgeschichte der Emigration zentral. Die Frage, wie sich Bruch und Kontinuität in der künstlerischen Biographie ausprägen, wie Emigranten Kontingenz und Kohärenz in ihrem Leben erfahren, spielt eine entscheidende Rolle für die Auseinandersetzung mit ihrem Werk und ihrem Wirken im Land ihrer Zuflucht. Für die künstlerische Produktion, die von der Emigration auch dort noch geprägt scheint, wo diese Erfahrungen maskiert sind wie etwa bei Strawinsky, wären die Kategorien der „Ich-Identität“, der „personalen Identität“ und der „sozialen Identität“, wie sie in der Sozialpsychologie längst etabliert sind,73 fruchtbar zu machen, weil gerade die künstlerische Produktion sich im Widerspiel solcher Identitätsbildungen vollzieht. Anpassung und Behauptung der ästhetischen Identität im Spannungsfeld zwischen verän69
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Hier sei etwa Hugo Strelitzer genannt, der für die Entstehung der Opernpflege in Kalifornien grundlegende Arbeit geleistet hat und dem wir eine der lebendigsten und mentalitätsgeschichtlich aufschlußreichsten Beschreibungen der Immigrations-„Prozedur“ in die USA verdanken. Vgl. QuECA, S. 231– 253. Petersen, Musik im Exil (Anm. 3), S. 33. Droysen, Historik (Anm. 6), S. 35. Vgl. Anm. 2. Siehe etwa Goffman, Stigma (Anm. 43), insbesondere S. 132f.
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derten Produktionsbedingungen und einem Ausdrucksbedürfnis, das durch europäische Traditionen begründet ist und häufig durch sie geprägt bleibt, sind mit diesen Kategorien beschreibbar. Zugleich spiegelt sich die Identitätsproblematik in der Sozialisation der Emigranten. Es hat den Anschein, daß „Kolonienbildung“ wie die der Gruppe „Freies Deutschland“ in Mexiko unter Schriftstellern viel ausgeprägter war als unter Musikern, weil sie sich eindeutiger über die Sprache definierten. Inwieweit solche „Gettoisierung“ in einer Sprach- und Schicksalsgemeinschaft stärkeren Halt gab, aber auch Integration erschwerte, wäre in vergleichenden Studien zu untersuchen. 2. Kulturtransfer vollzog sich durch die Einwirkung der Emigranten auf die Musikkultur des Landes der Zuflucht; insbesondere in überseeischen Ländern hat das Wirken von Emigranten das Musikleben entscheidend verändert. Dazu liegen zwar bereits Einzelstudien vor – vor allem zu den USA –, aber dieser Prozeß ist, zumal für andere Länder, noch nicht hinreichend in die Musikgeschichte eingeschrieben. Die Vermittlung von Kompositionstechniken aus Europa – nicht nur, aber auch und insbesondere der Dodekaphonie (siehe dazu unten) –, wäre hier ebenso zu nennen wie der Einfluß von Emigranten auf die Interpretationskultur. Emigranten scheinen vor allem jene Musiksparten beeinflußt zu haben, in denen nicht der Solist prägend ist, sondern musikalische Interaktion und Kommunikation wesentlich über das Gelingen einer Interpretation entscheiden, also in der Orchesterkultur, in der Kammermusik74 und im Lied. Zu differenzieren ist zwischen der Ausweitung des Repertoires und der Veränderung der Interpretationskultur, zugleich ist der Zusammenhang zwischen beidem zu analysieren.75 3. Musik im Exil oder Exilmusik? Beides meint Ähnliches und doch Verschiedenes. Ist das erste eine chronologisch-geographische Bestimmung, für welche die Offenheit gilt, wie sie oben für die Erfahrung der Fremde reklamiert worden ist (vgl. oben S. 269ff.),76 so meint das zweite ein in sich geschlossenes Repertoire, 74 75
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Walter Levin, Immigrant Musicians and the American Chamber Music Scene, in: Driven into Paradise (Anm. 42), S. 322–339. Vgl. dazu etwa Berthold Türcke, Fortgegangene Klänge. Die Wiener Schule – ihr symbiotisches Verhältnis von Komposition und Interpretation im Exil, in: Exilmusik (Anm. 49), S. 20–55. Hier wäre auch an den Beitrag der Emigranten zur Entwicklung der Neuen Musik etwa in Metropolen wie Buenos Aires zu denken (vgl. Musicology and Sister Disciplines. Past, Present, Future. Proceedings of the International Congress of the International Musicological Society, London 1997, hrsg. von David Greer, New York 2000). Obwohl bedeutende Sängerinnen und Sänger in die USA emigrierten, scheint deren Einfluß auf die amerikanische Oper als Musiktheater vergleichsweise gering gewesen zu sein; dazu stehen allerdings eingehende Untersuchungen noch aus. „Exilmusik“ auf die Jahre 1933–1945 einzuschränken (vgl. Exilmusik, S. 8) scheint aus denselben Gründen problematisch wie die chronologische Eingrenzung des Exils bis 1945 (siehe oben). Die pragmatische Eingrenzung eines Symposiums auf diese Zeit ist eine Sache, diesen Zeitraum zur „historischen Einheit“ zu hypostasieren aber eine andere. Auch hier verstellt die Fixierung auf den Nationalsozialismus, nämlich auf die Dauer seiner Herrschaft, die Saul Friedländer zu Recht im Hinblick auf die politische Geschichte als „eine definierbare geschichtliche Einheit“ bezeichnet hat (vgl. u. a. Broszat/Friedländer, Briefwechsel, Anm. 16, S. 354), den Blick auf die Geschichte emigrierter Musiker: Er-
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das ästhetisch definiert ist. Der Anklang an den Begriff der „Exilliteratur“ ist unüberhörbar. Wieder aber kommt die Besonderheit des Gegenstands „Musik“ bei solcher Parallelisierung in die Quere. Woran kann das Spezificum einer Exilmusik festgemacht werden? Mehrere Möglichkeiten sind denkbar und genutzt worden.77 a. Der vertonte Text: Er beklagt die Opfer der Verfolgung, klagt die Täter an, ruft auf zum Widerstand. Der Text allein jedoch scheint nicht hinreichend, einen Begriff von Exilmusik zu begründen, da er nicht über die musikalische Qualifikation eines Repertoires entscheidet.78 Der Bezug der Musik zum Exil wäre nur über den vertonten Text als „Exilliteratur“ vermittelt. b. Musikalische Intertextualität: Der Bezug zum Exil wird glaubhaft gemacht, indem Zitate des Komponisten nachgewiesen werden, die von seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen zeugen.79 So aufschlußreich solche Nachweise für jedes einzelne Werk sind, scheint für die Konstitution eines „Exilmusik“-Begriffs das Problem insofern nur verlagert, aber nicht gelöst, als die Verbindung zum Exil ebenfalls über Semantisierung herbeigeführt wird: Die Zitate unterlegen der Musik gleichsam wortlos ein „Programm“, eine politische Überzeugung oder Stellungnahme und ähnliches. Aber weder Zitate bzw. ihr aktueller Verweischarakter noch ein sonstiger programmatischer Hintergrund vermögen einen ästhetischen Begriff von Exilmusik zu begründen.80 c. Musikalische Struktur: Den Versuch, den Einfluß der Exilsituation in der musikalischen Struktur nachzuweisen, hat als erste Maurer Zenck vorgelegt.81 Es ist hier nicht der Ort, ihre Interpretation von Schönbergs Klavierkonzert insofern
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stens waren die Emigranten, denen bis 1942 die Flucht gelungen war, nicht mehr nationalsozialistischer Verfolgung ausgesetzt, und insofern unterschied sich ihre politische Existenz in den Jahren 1942–1945 nicht wesentlich von der in den folgenden Jahren – eher markiert der aufkommende McCarthism Ende der vierziger Jahre eine neue Zäsur –, und zweitens müßte selbstverständlich die Reflexion der nationalsozialistischen Gewalt und des Exils in Kompositionen nach 1945 auch zu einer „Exilmusik“ gehören. Hier wäre also zu differenzieren zwischen Werken von Emigranten wie etwa dem Survivor from Warsaw von Schönberg (1947) und Werken anderer Komponisten, die sich derselben Thematik zuwandten wie z. B. Michael Tilson Thomas mit seinem From the Diary of Anne Frank aus dem Jahre 1994, das Geiger und Schäfer zu Recht von dem Begriff ausnehmen. – Nach Kriegsende reflektieren in der Literatur Emigranten und Überlebende aus den Vernichtungslagern wie Jean Améry oder Primo Levi gemeinsam Verfolgung und Vernichtung der Juden; eine vergleichbare Parallele vermag ich in der Musik nicht zu erkennen, ein Gemeinschaftswerk wie die Jüdische Chronik (1961), an dem Remigranten wie Dessau und Nachgeborene wie Henze mitwirkten, ist anders gelagert. Paradigmatisch im „Zweiten Teil – Analysen“ von Exilmusik, S. 100–366. Wohl gibt es Gattungen, die sich über den Text definieren wie Messe oder Motette, aber viele Werke der „Exilmusik“ konkretisieren selbst synkretistische Formen von Gattungen wie Oratorium oder Kantate. Z. B. Friedrich Geiger, Aspekte des Exils von Béla Bartók im Spiegel des Concerto for Orchestra, in: Exilmusik, S. 290–314, u. a. mit dem Nachweis des bekannten Zitats aus Schostakowitschs Siebenter Symphonie. Insofern widerspricht der Nachweis von Zitaten bei Bartók nicht dem „abgeklärten, manchmal recht abgeklärten Ton seines Spätwerks“ (Weber, Betroffenheit und Aufklärung, Anm. 1, S. 2, und Geiger/Schäfer, Exilmusik, Anm. 49, S. 11). Claudia Maurer Zenck, Arnold Schönbergs Klavierkonzert. Versuch, analytisch Exilforschung zu betreiben, in: Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internationale Musikkultur, hrsg. von Hanns-Werner Heister, Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen, Frankfurt am Main 1993, S. 357–384, insbesondere S. 357f.
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kritisch zu würdigen, als auch hier die Analyse der musikalischen Struktur sich an programmatischen, wenngleich „privaten“ Äußerungen des Komponisten orientiert, aber der Ansatz von Maurer Zenck scheint den Weg aufzuweisen, auf dem die ästhetische Fundierung eines Begriffs von Exilmusik gelingen könnte. Zwei verwandte, ebenfalls die musikalische Struktur thematisierende Ansätze sind geeignet, auf Grund ihres methodischen Zugriffs weiterzuführen: zum einen Analysen, die eine Veränderung der Werkkonzeption durch die Exilerfahrung nachzuweisen vermögen – hier sei auf die entsprechenden Untersuchungen von Allende-Blin über ein Werk Erich Itor Kahns und von Schäfer zu Stefan Wolpe verwiesen82 –, zum anderen auf eine „Zitat-Untersuchung“, die eine solche Dichte von Zitaten und Allusionen nachweisen kann, daß deren punktueller Charakter überwunden scheint und der musikalische Satz in eine Art „Zitatkomposition“ umschlägt – ein solcher Nachweis ist Phleps auf der Grundlage von Christoph Kellers Untersuchungen an der Dritten Klaviersonate von Hanns Eisler gelungen.83 – Die Diskussion um einen genuin musikalischen Exilbegriff ist erst in Gang gekommen und ihr Ausgang offen. Einen bemerkenswerten Vorschlag, der sich mit dem Schluß meines Wiener Vortrags berührt (siehe Vorbemerkung), hat Christian Kuhnt gemacht: „Ziel der Exilmusikforschung sollte sein, die jeweiligen Kompositionen so lang in den Mittelpunkt der lange verwehrten Aufmerksamkeit zu rücken, bis sie ihren Platz in der Musikgeschichte gefunden und somit das aussageschwache Etikett „Exilmusik“ obsolet werden lassen.“84
Werke, die in der Emigration entstanden – eben nicht alle, sondern solche, die durch Analyse entsprechend ausgewiesen sind –, würden dann Teil einer Tradition „kritischer Musik“, die etwa mit den späten Werken Schuberts begänne und zumindest bis Luigi Nono reichte, und die musikalische Exilforschung hätte ihr Ziel erreicht, wenn die Werke, deren historische Anerkennung aussteht, Eingang in andere Kategorien der Musikgeschichtsschreibung gefunden hätten. 4. Den Prozeß jüdischer Selbstfindung haben Verfolgung und Vertreibung zwar nicht initiiert, aber – Ironie oder eher Perversion des Schicksals – wesentlich intensiviert. Insofern ist dies Teil der Identitätsproblematik, aber doch ein Teil, der sich in der Musik u. a. auch in einem abgrenzbaren Repertoire niedergeschlagen hat. Zu ihm gehören zum einen die zahlreichen Kompositionen, die auf biblische Texte, vor allem der Propheten und auf Psalmen, zurückgreifen,85 insbesondere dann, wenn sie nicht für den Gebrauch in der Synagoge, sondern 82 83 84 85
Thomas Schäfer, „Battles, hopes, difficulties – new Battles new hopes new difficulties“. Stefan Wolpes Battle Piece, in: Exilmusik (Anm. 49), S. 232–266. Thomas Phleps, „Aus der Heimat hinter den Blitzen rot...“. Hanns Eislers Dritte Sonate für Klavier, in: ebenda S. 189–231. Christian Kuhnt, „Das Gegenteil von einer ‚Pastorale‘“. Anmerkungen zu Kurt Weills 2. Symphonie, in: ebenda S. 315–329, hier S. 315f. Horst Weber, Exil und Leitkultur. Eine historische Skizze, in: Deutsche Leitkultur Musik? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust, hrsg. von Albrecht Riethmüller, Stuttgart 2006, S. 29–35.
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gewissermaßen als Selbstvergewisserung komponiert wurden;86 zum anderen sind die Bemühungen um die Bestimmung dessen zu bedenken, was jüdische Musik ist oder sein könnte.87 Für das Repertoire von Musik auf biblische Texte gilt allerdings auch der Vorbehalt, daß der Text allein keinen Begriff von „Exilmusik“ oder „jüdischer Musik“ begründen kann; insofern müßte man innerhalb dieses Repertoires ästhetisch unterscheiden zwischen Werken wie Kreneks Lamentationes Jeremiae Prophetae (1941), denen die Exilerfahrung auch musikalisch eingeschrieben ist,88 und etwa Alexander Tansmanns Oratorium Isaïe, le prophète (1951), das auf traditionelle Ausdruckskategorien rekurriert. 5. Der Dodekaphonie kommt in den Umwälzungen, welche die Vertreibung der Juden aus Europa für die Kultur mit sich gebracht hat, eine besondere Rolle zu. Die Werke, denen diese Kompositionsmethode zu Grunde liegt, sind zum großen Teil in der musikwissenschaftlichen Literatur breit erörtert worden, und doch scheint es fast rätselhaft, daß diese Methode fast gleichzeitig, jedenfalls wenig zeitversetzt mit der nationalsozialistischen Machterlangung, eine derartige Rezeption erfahren hat, nachdem sie in den ersten zehn Jahren seit ihrer Erfindung nur einem engen Kreis bekannt geworden war. Die spezifische Ausdrucksqualität, die ihr trotz aller Variabilität der Technik und Variation der Rezeption anhaftet, verband sich mit der existentiellen Erfahrung von Gefährdung einer ganzen Generation und der Zerstreuung der Eingeweihten durch Emigration. Der Zusammenhang zwischen den politischen Ereignissen und der Entwicklung der musikalischen Sprache im Umfeld der Dodekaphonie bleibt ein Desiderat der Exilforschung. 6. Remigration: Dem Versuch der Emigrierten, in ihre Heimat zurückzukehren oder dort auch nur durch Aufführung ihrer Werke wieder Fuß zu fassen, standen – zumindest in beiden deutschen Staaten – mannigfache Hindernisse politischer, ökonomischer und ideologischer Art entgegen.89 Eine Verkettung von Umständen, die sich als ästhetisches Hindernis erwiesen, sei ausdrücklich angesprochen. Was Musikern unmittelbar nach ihrer Flucht meist zum Vorteil und Schriftstellern zum Nachteil gereichte, wendete sich nach Kriegsende gegen die emigrierten Musiker und erleichterte den Schriftstellern die Rückkehr: der ambivalente Sprachcharakter von Musik, der sie von genuiner Sprache unterscheidet. Vor dem Krieg erwies sich Musik als eine „Sprache“, welche die nationalen Grenzen schneller überwand als die natürlichen Sprachen; nach dem Krieg erwies sich diese Musik – in Wirklichkeit war es schon eine andere – eben doch nicht als „Sprache“, nämlich als ein fast geschichtsresistentes Zeichensystem arbiträren Charakters, das sich nur in Maßen der longue durée wandelte, aber gegen kurzfristige Veränderungen immun wäre. Die ungeheure Kontingenzerfah86 87 88 89
Vgl. z. B. Peter Petersen, „Die mit Tränen säen...“. Paul Dessaus 126. Psalm – ein Exilwerk, in: Exilmusik (Anm. 49), S. 100–140. So z. B. durch Eric Werner; vgl. QuENY, S. 72–83. Maurer Zenck, Versuch (Anm. 32), S. 216–227. Vgl. Anmerkung 13.
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rung des Zweiten Weltkrieges hatte die Musik grundlegend verwandelt. In der DDR sahen sich die Emigranten mit der Ideologie des sozialistischen Realismus konfrontiert, der auf dem „unrealistischen“ Gebiet der Musik einer kaum maskierten reaktionären „Volkstümlichkeit“ das Wort redete; in der Bundesrepublik war das Musikleben gespalten in eine rigide Avantgarde, die gerade dem Sprachcharakter von Musik abschwor, und in eine konservative Szene, welcher der Schrecken vor dem „Kulturbolschewismus“ noch in den Gliedern steckte: Die emigrierten Musiker saßen vielfach zwischen allen Stühlen.90 Dies allerdings beschreibt ihre Situation nur ex negativo. Zu fragen wäre, wie sich Emigranten in concreto zur gewandelten Situation verhielten, ob und wie sie kompositorische Strategien entwickelten, um den neuen Standards in Mitteleuropa entgegenzukommen, und inwiefern ihre Prägung durch die Vergangenheit, sowohl in ihrer Heimat als auch im Land ihrer Zuflucht, sich als hinderlich oder hilfreich erwies. Die Bearbeitung dieser Fragestellungen erfordert weitere Erschließung der Quellen, bewußte statt unterschwellige „Historisierung“ ohne historische Relativierung sowie Offenheit für strukturalistische Ansätze in den Geschichtswissenschaften. Dabei ist erneut zu bedenken, wie die nationalsozialistische Vergangenheit, der die Geschichte der Emigranten zum einen Teil angehört, in der Gesellschaft vergegenwärtigt wird. Denn der Situationsbegriff von Joas gilt selbstverständlich nicht nur für Subjekte der Geschichte, sondern auch für Historiker selbst. Sie haben bei ihrer Arbeit nicht nur auf den jeweiligen Forschungsstand zu reagieren, sondern auch auf den Stand der Gedächtniskultur in ihrer Gesellschaft. Im Hinblick auf das Schicksal der Emigranten ist er gekennzeichnet durch eine unausweichliche Historisierung, die durch den Generationswechsel „passiert“, wenn sie durch die Nachgeborenen nicht bewußt geformt wird. Die Diskussion um Formen der Gedächtniskultur hat sich vor allem an dem Verhältnis von Erinnerung und Geschichte entzündet, da Erinnerung von Subjektivität, Geschichte hingegen von Objektivität geprägt sei. Diese Entgegensetzung geht auf Halbwachs zurück91 und ist wegen ihres objektivistischen Begriffs von Geschichtsschreibung kritisiert worden.92 Assmann hat sie zur Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis modifiziert,93 Rüsen die Sinnqualität der Erinnerung für den Historisierungsprozeß eingefordert.94 Zum einen scheint es im Blick auf die Kontingenzerfahrung der Emigranten schwierig, ihre 90
Der „Fluchtpunkt“ der Nachkriegszeit, zu dem Hindemith für viele Deutsche wurde, ist ein besonderer Fall, der hier nicht näher erörtert werden kann. Zum Problem insgesamt vgl. Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, hrsg. von Claus-Dieter Krohn und Axel Schildt, Hamburg 2002. 91 Siehe etwa Maurice Halbwachs, La mémoire collective, Paris 1950, deutsch als Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1985, S. 74 und 103. 92 Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, 32000, S. 43, Anm. 24; Rüsen, Zerbrechende Zeit (Anm. 40), S. 230, Anm. 19. 93 Assmann, ebenda S. 48–66, insbesondere S. 56. 94 Rüsen, Zerbrechende Zeit (Anm. 40), S. 231.
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Erinnerung umstandslos dem „kommunikativen Gedächtnis“ zuzuordnen, ist doch die Erinnerung der Emigranten gerade davon geprägt, daß die Erinnernden aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen waren und daher nicht sicher sein konnten, mit wem und für wen sie sich erinnerten: Daher scheint es mir sinnvoll, für Emigranten die individuelle Erinnerung, auch wenn sie sich nicht im „luftleeren Raum“ bildet, als eigene Kategorie der Gedächtniskultur beizubehalten. Zum anderen scheint Rüsens Vorschlag schwer einzulösen, die spezielle Sinnqualität, die in der Erinnerung der nationalsozialistischen Verbrechen liegt, in die Historisierung zu integrieren:95 Daher scheint es notwendig, eine Kategorie bereitzuhalten, in der die von Broszat (und Friedländer)96 als „mythisch“ apostrophierte Form des Gedächtnisses aufbewahrt bleibt. Daraus ergibt sich für die Gedächtniskultur, in der das Schicksal der Emigranten vergegenwärtigt wird, ein Modell von dreierlei Praktiken, die unterschiedlich, wenngleich aufeinander angewiesenen sind: „Erinnern“, „Gedenken“, „Erzählen“. Erinnern ist eine kulturelle Leistung, die im unmittelbaren Lebensvollzug angesiedelt ist. Wir erinnern uns an etwas, das wir selbst erlebt haben, das wir in uns tragen, das aber zunächst nicht gegenwärtig ist oder verdrängt. Was „in uns“ ist, holen wir an die Oberfläche unseres Bewußtseins; ein Moment von Wiederentdeckung – auch der Schrecken – ist darin angelegt. Insofern das Erinnern die wiederholende Vergegenwärtigung des Vergangenen durch die ist, die an dem Geschehenen beteiligt oder dessen Zeugen waren – Opfer wie Täter –, kommt ihm Authentizität zu.97 Im Erinnern bleibt die Subjektivität des Erinnernden, seine Unmittelbarkeit und seine Betroffenheit, aufbewahrt. Erinnern ist arbiträr, mag sich an Bagatellen klammern oder Wichtiges vergessen, es beschönigt oder verzerrt, trägt letztlich keine Kontrolle in sich. Erinnerung ist unterschieden von Geschichte, und Authentizität von historischer Erkenntnis. Die Erinnerung der Überlebenden an Emigration und Exil kommt zwar durch den Generationswechsel an ein Ende, damit aber nicht Erinnerung schlechthin. Sie ist aufbewahrt in einer umfangreichen Erinnerungsliteratur, auch in Form der „Oral History“, und die modernen Medien machen uns über die Zeit der Erinnernden hinaus deren Erinnerung durch Dokumentationen verfügbar. Das unterscheidet unsere Situation von der früherer Zeiten. Allerdings wird uns bald die Möglichkeit des Dialogs mit den Erinnernden genommen sein, wir können nicht mehr nachfragen. Damit beginnt die Historisierung des Erinnerns, und erst durch historische Kritik wird es zu Geschichte. Im Gedenken wird dem Erinnern überindividuelle Bedeutsamkeit verliehen. In ihm verliert das Erinnern seinen arbiträren Status, da das erinnernde Subjekt im Akt des Gedenkens nicht mit sich allein bleibt, sondern seine Erinnerung mit anderen teilt. Erinnerung wird im Gedenken öffentlich, im Gedenken können Überlebende und Nachgeborene – die Nachgeborenen der Opfer und der Täter – einander begegnen. 95 96 97
Ebenda S. 250–261 und 301–324. Broszat/Friedländer, Briefwechsel (Anm. 16), S. 343, 347, 352 und 357. Wenn Täter lügen, erinnern sie sich nicht, sondern täuschen Erinnerung oder deren Mangel vor, und dann sind sie nicht „authentisch“.
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Im Gestus des Abschieds bewahrt das Gedenken Anteilnahme und Trauer, auch wenn wir die, derer gedacht wird, nicht persönlich kannten. Wir können uns zwar nicht an die sechs Millionen ermordeter Juden erinnern, aber wir können ihrer gedenken. Umgekehrt kann zwar an ihre Mörder erinnert, nicht aber ihrer gedacht werden. Gedenken hebt die moralische „Unverbindlichkeit“ des Erinnerns auf und evoziert in seiner Öffentlichkeit rituelle oder zeremonielle Formen, wie säkularisiert sie auch immer sein mögen. Unser Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus, zu denen die Emigranten gehören, ist auf die Trauer über unsere eigene Geschichte verwiesen. Im Gedenken findet jene „mythische“ Qualität des Vergangenheitsbezuges zum Nationalsozialismus ihren Platz, welche die Erinnerung an die Singularität nationalsozialistischer Verbrechen bewahrt. Wieder kommt der besondere Charakter unseres Forschungsgegenstandes, der Musik, ins Spiel. Verfolgter Musiker zu gedenken ist in einer besonders eindringlichen Weise möglich, weil sie spezifische „Ausdrücke ihres Seins“, wie Droysen sagen würde, hinterlassen haben; es sind ihre ästhetischen Handlungen. Musik steht nicht im Bücherschrank, sie muß durch Handlungen realisiert werden, damit sie erklingt. Musiker können durch Aufführung ihrer Kompositionen und durch Präsentation ihrer Tonaufnahmen vergegenwärtigt werden. Dieser Form des Gedenkens haben sich inzwischen eine Reihe von Initiativen gewidmet, und es ist ein Indiz für die Sensibilität unserer Musik- und Gedächtniskultur, inwieweit sie solche Initiativen institutionell abzusichern bereit ist.98 Das Gedenken verhindert jenen Prozeß des Verblassens von Erinnerung, der mit der unweigerlichen Historisierung des Erinnerten einherzugehen droht. So vermittelt das Gedenken zwischen Erinnern und Erzählen. Dem Raunen des Erinnerns und dem Appell des Gedenkens gibt Erzählen Orientierung. Indem wir erzählen, greifen wir weiter aus, als wenn wir uns erinnern oder gedenken; wir versuchen Hintergründe, Vorgeschichten und Zusammenhänge zu erhellen, nicht bloß Begebenheiten zu berichten, wir suchen zu ergründen, warum es so gekommen ist, wie es kam. Solch begründendes Erzählen, das Situationen im Sinne von Hans Joas rekonstruiert, ist das vornehmste Geschäft des Historikers.99 Es ist eine Binsenweisheit, daß im Erzählen monographische und systematische Darstellung aufeinander angewiesen sind:100 Jede Monographie, gleich ob sie einem Künstler oder einem Werk gewidmet ist, setzt – reflektiert oder unreflektiert – systematische Kriterien wie Stil, kulturellen Raum, soziales Umfeld voraus, konstru98
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In diesen Initiativen wird auch wichtige wissenschaftliche Arbeit geleistet; freilich sind sie häufig in ihrer Existenz gefährdet, da sie meist von privater Hand getragen werden und auf Subventionen angewiesen sind. Daß der „Orpheus Trust“ (Primavera Gruber) in Wien seine Arbeit einstellen mußte, ist für Österreich eine Schande. Institutionell besser angebunden sind die Veranstaltungen von „musica reanimata“ in Berlin (Albrecht Dümling) durch die Verbindung mit dem Schauspielhaus, der Hamburger Arbeitskreis „Musik im Exil“ (Peter Petersen) durch seine Anbindung an die Hamburger Universität und die „concept concerts“ der Folkwang Hochschule, in denen Zeugnisse und Werke aus dem Exil präsentiert werden. Vgl. Rüsen, Zerbrechende Zeit (Anm. 40), S. 43–105. Die Alternative von narrativer und analytischer Darstellung ist in den Geschichtswissenschaften breit erörtert worden. Hier wird davon ausgegangen, daß auch systematische Aspekte einer narrativen Darstellung zugänglich sind.
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iert sie notfalls je neu für sich, und umgekehrt können systematische Kriterien nicht ohne Quellen und Interpretationen zu Biographie und Werk konstruiert werden. Im monographischen Erzählen kann persönliche Anteilnahme – jene „mythische“ Qualität, die das Gedenken ausmacht – leichter mit den Rationalitätsstandards, die uns die Geschichtsschreibung auferlegt, vermittelt werden als in systematischen Darstellungen, in denen das Gedenken nicht in gleicher Weise zur Geltung kommen kann, ohne aufgesetzt zu wirken. Insofern sind leise Zweifel angebracht, ob „historisch trauern“, wie Rüsen es vorschlägt,101 ohne weiteres, d. h. unabhängig von der Perspektive des Erzählens, gelingen kann. Dies mag ein Grund dafür sein, weshalb das monographische Erzählen in der Exilforschung weiter entwickelt war als das systematische, obwohl sich die Forschungslage in den vergangenen Jahren gewiß verändert hat. Die Aufarbeitung systematischer Fragestellungen wird aber nach meiner Einschätzung über die künftige Relevanz musikwissenschaftlicher Exilforschung entscheiden, nämlich darüber, ob sie sich in eine Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts integrieren läßt, ob sie sich in kulturwissenschaftliche Diskurse einbringen kann oder kritisch in sie einzugreifen vermag, oder ob sie von diesen in eine Nische abgedrängt wird. Historisches Erzählen bildet jedoch, gleich ob aus monographischer oder systematischer Perspektive, nur einen Teil der Gedächtniskultur einer Gesellschaft, es vermag diese Kultur nicht als Ganzes zu repräsentieren, weil ein Großteil der gesellschaftlichen Kräfte, die sich im Gedenken und Erinnern artikulieren, ausgeschlossen und die Wissenschaften als akademische Disziplinen überfordert wären. Erinnern und Gedenken setzen zwar Wissen über die Geschichte, also auch historisches Erzählen, voraus und sind umgekehrt auch im historischen Erzählen gegenwärtig; Erinnern und Gedenken sind aber in den historischen Disziplinen, von denen die Musikwissenschaft ein Teil ist, nicht „aufgehoben“, sondern bilden das historische Bewußtsein einer Gesellschaft, dem die Historie zuarbeitet.
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Rüsen, Zerbrechende Zeit (Anm. 40), S. 301–324; allerdings könnte Rüsens „Anerkennung des Verlorenen“, indem es dem Trauern für „das Menschheitskriterium historischer Identität“ eine Perspektive gibt, dem Erzählen eine Richtung weisen. Vgl. ebenda S. 322.
LEON BOTSTEIN (New York)
Die Wieder-Erfindung des eigenen Lebens und der Karriere: Die Gefahren der Emigration Wenn man die gewaltige Anzahl an Forschungsarbeiten zu den Auswirkungen des Faschismus, des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs auf Musikerbiographien, musikalische Vereinigungen und Kulturen betrachtet und außerdem die umfangreichen Abhandlungen über Exilierte, Emigration und Kollaboration berücksichtigt, fällt erst auf, wie groß das Ausmaß der Dislokation für diejenigen gewesen sein muß, die das Glück hatten zu überleben.1 Forschungsarbeiten, die sich hauptsächlich mit der Opferperspektive auseinandersetzen, betonen die Anpassungsfähigkeit im Kontext von Exil- und Emigrationssituationen und konzentrieren sich auf die verschiedenen Verläufe von Karrieren bzw. deren Ende. In Forschungsarbeiten, die sich den Nicht-Opfern widmen, vor allem Deutschen und Italienern sowie der kulturellen Elite von eroberten und besetzten Nationen, geht es dagegen vermehrt um Fragen der Kollaboration und der inneren Integration. In beiden Fällen schufen die Verpflanzungen seltsame Gegebenheiten, die nur im Kontext massiver Brüche, wie sie für den Krieg typisch sind, denkbar waren. Für die Opfer, die das Glück hatten, Europa vor 1939 zu verlassen, bedeutete die Flucht, persönlichen Besitz und menschliche Bindungen hinter sich zu lassen. Häufig war damit außerdem die Anpassung an eine fremdsprachige Umgebung verbunden, obwohl es teilweise bis in die 1960er Jahre in den Vereinigten Staaten, in England, Brasilien und Israel durchaus lebendige Exil-Sprachgemeinschaften gab. In gewisser Weise wurde das Vorleben ausgelöscht. Dies wurde noch dadurch verstärkt, daß es kaum Zeitgenossen gab, die über die Vorgeschichte der Emigranten Zeugnis ablegen konnten.
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Eine bewundernswerte Sammlung musikwissenschaftlicher Texte, die sich mit möglichen Konsequenzen der Emigration befassen, findet sich in Driven into Paradise: The Musical Migration from Nazi Germany to the United States, hrsg. von Reinhold Brinkmann und Christoph Wolff, Berkeley 1999. Bemerkenswerte neuere Bücher zum Thema Emigration und Exil ohne musikwissenschaftlichen Bezug sind: JeanMichel Palmier, Weimar in Exile: The Antifascist Emigration in Europe and America, New York 2006; Intellectual Migration and Cultural Transformation: Refugees from National Socialism in the English-Speaking World, hrsg. von Edward Timms und Jon Hughes, Wien 2003; Die Alchemie des Exils: Exil als schöpferischer Impuls, hrsg. von Helga Schreckenberger, Wien 2005; Exile and Otherness: New Approaches to the Experience of the Nazi Refugees, hrsg. von Alexander Stephan, Oxford 2005; Forced Migration and Scientific Change: Emigré German-Speaking Scientists and Scholars after 1933, hrsg. von Mitchell G. Ash und Alfons Söllner, Cambridge 1996; sowie Exile, Science, and Bildung: The Contested Legacies of German Émigré Intellectuals, hrsg. von David Kettler und Gerhard Lauer, New York 2005. Eine ältere, aber immer noch hilfreiche Veröffentlichung ist: Donald Fleming / Bernard Bailyn, The Intellectual Migration: Europe and America, 1930– 1960, Cambridge 1969.
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Wenn ein Leben von der Geburt bis zum Tod ohne die furchterregenden Brüche und Verwerfungen verläuft, die Krieg mit sich bringt, kann man damit rechnen, daß einen ein relativ konstantes Umfeld von Mitmenschen umgibt – Menschen, mit denen man zur Schule gegangen ist, Ausbildungen absolviert oder Karrieren begonnen hat. Welche Wendungen die Realität auch immer bereithalten mag, hat sie doch die oft unbemerkte Eigenschaft, autobiographische Wahrhaftigkeit einzufordern. Nur bis zu einer gewissen Grenze können wir der Versuchung nachgeben, eine andere Identität als unsere eigene anzunehmen. Es wird immer Scharlatane und gewissenlose Individuen geben, die ihre Lebensläufe fälschen oder frisieren, aber in der Regel ist es einfach, sie der Unwahrheit zu überführen. Plagiate kann man in der heutigen Zeit relativ problemlos nachverfolgen. Wenn jemand um die halbe Welt reist, um fortan in einer völlig fremden Umgebung weiterzuleben, verlieren sich Beweismaterial und potentielle Zeugen. In welchem Ausmaß dies dazu führt, daß ein Individuum als Exilierter oder Emigrant ein neues Leben in einer neuen Welt beginnt, hängt teilweise davon ab, in welchem Alter der Verlust der alten Heimat stattgefunden hat. Die, bei denen sich die Lebensumstände in jungen Jahren ändern, müssen kaum darüber Rechenschaft ablegen, was sie an bisher Erreichtem hinter sich lassen mußten. Auch stehen sie nicht so sehr unter dem Druck, sich selbst neu erfinden oder Verlust- und Versagensängste kompensieren zu müssen. In der musikalischen Welt zählt Lukas Foss (geb. 1922) zu den interessantesten heute noch lebenden Beispielen für einen derartigen Lebenslauf. Im Alter von elf Jahren zog er von Berlin nach Paris und mit fünfzehn ging er in die Vereinigten Staaten, um am Curtis Institute of Music zu studieren. Eine wirkliche Veränderung vollzog sich für ihn in Amerika mit der Änderung seines Namens von Fuchs zu Foss. Der Pariser Kontext war ihm viel weniger fremd, so wie auch für eine große Anzahl jüdischer Emigranten aus Deutschland, die sich in den Jahren 1933 bis 1937 dort aufhielten. Unter diesen Pariser Emigranten war auch einer von Foss’ frühen Lehrern, ein enger Freund von Hans Pfitzner, der vielseitige und extrem talentierte Felix Wolfes (1892–1971). Nachdem er 1933 von den Nazis ausgewiesen worden war, ging Wolfes zunächst nach Monte Carlo und Paris, um schließlich in den Vereinigten Staaten zu landen. Als Privatlehrer in Paris war er arm geblieben, und in New York setzte er seine Karriere als Dirigent, Begleiter und Lehrer fort. Wolfes war etwas über vierzig und erlebte die Blüte seines Talents, als die Nazis an die Macht kamen. Er pflegte engen Kontakt zu Pfitzner, der die Nazis eifrig unterstützte und außerdem ein ausgesprochener Kulturchauvinist war. Vermutlich hoffte er, daß einige Juden trotz der harschen Rhetorik von den Feindseligkeiten der Nazis verschont bleiben würden. Tatsächlich versuchte Pfitzner, wenn auch nur zögerlich, jüdische Kollegen, denen er nahestand, zu beschützen – vor allem, wenn diese (wie Wolfes) Pfitzners Musik enthusiastisch verehrten. Pfitzner war in seinem Narzißmus und übertriebenen Ehrgeiz so naiv, daß er sich in ihrem Namen direkt an Hitler wandte; es wäre allerdings ein Trugschluß, dies als mutig anzusehen. Pfitzner, der sich Hitlers Politik bereits in den 1920er Jahren begeistert zugewandt und ihn persönlich
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besucht hatte, glaubte als treuer Gefolgsmann privilegiert zu sein. Daher dachte er, daß es gebilligt werde, wenn er die wenigen rechtschaffenen Juden unterstützte, von denen er annahm, daß auch sie ihren Beitrag leisten würden zu einer konservativen und so genannten gesunden Kulturpolitik, die einen ideologischen Kern der von den Nazis propagierten nationalen Erneuerung bildete. Nachdem klar war, daß diese Vorstellungen reines Wunschdenken waren und daß die Weiterverfolgung derartiger Ziele nur zur Folge gehabt hätte, daß Pfitzner seinem bereits legendären Ruf als einem lästigen, extrem selbstsüchtigen und andauernd jammernden Langweiler alle Ehre gemacht hätte, gab er jegliche Aktivitäten zu Gunsten seiner wenigen engen jüdischen Freunde auf. Wie Franz Schreker (1878–1934) war bestimmt auch Wolfes überrascht, welche Konsequenzen die Machtübernahme der Nazis für seine Karriere hatte. Noch verheerender war der Schock möglicherweise durch sein Alter. Seine Karriere in den Vereinigten Staaten war weder spektakulär noch desaströs, aber er erreichte nie die öffentliche und kollegiale Anerkennung, die ihm vielleicht zuteil geworden wäre, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre. Der Vergleich mit seinem jüngeren Schüler Foss ist in diesem Zusammenhang erhellend. Foss’ vielseitige Karriere als Dirigent, Pianist, Komponist und Lehrer verlief glänzend. Einige seiner Werke, vor allem Time Cycle und Echoi, haben gute Chancen, ins Standardrepertoire der amerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts aufgenommen zu werden, und andere Stücke harren der Wiederentdeckung. So erfolgreich seine Karriere auch gewesen sein mag, stellt sich dennoch die Frage, welchen Einfluß die Emigration auf Foss hatte, vor allem wenn man ihn mit seinem in Amerika geborenen engen Freund, Kollegen und Zeitgenossen Leonard Bernstein (1918–1990) vergleicht, der ein ähnliches Multitalent war. Da Foss als Heranwachsender in die Vereinigten Staaten einreiste, erscheint es plausibel, daß für ihn kaum eine Möglichkeit bestand, in der Popularmusik Fuß zu fassen. Wäre er in Deutschland geblieben, hätte er sich möglicherweise ganz auf das Komponieren konzentrieren können – was ihm vielleicht einen sichereren Platz in der Szene garantiert hätte. Bezüglich der Frage nach den Auswirkungen von Emigration und Exil unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen Lebensalters des Migranten ergibt sich eine Parallele im Lebenslauf von André Previn (geb. 1930 unter dem Namen Priwin); er war acht Jahre jünger als Foss, stammte von osteuropäischen Juden ab und kam wie Foss ebenfalls aus Berlin. Die Familie Priwin verließ Deutschland im Jahr 1938 (später als Familie Fuchs) und ging nach einem längeren Aufenthalt in Paris schließlich nach Los Angeles. Als Student von drei Emigranten – Joseph Achron2 2
Der Fall Joseph Achron deutet zwei unterschiedliche Kontexte für unsere Überlegungen zu den Konsequenzen von Emigration an. Zunächst sei der Blick auf die russischen Emigranten aus der Zeit der Revolution von 1917 gerichtet: Ihre Erfahrungen (speziell die Erfahrungen derer, die nach Paris und Amerika gingen) können mit den Erfahrungen derer, die in den dreißiger Jahren aus Europa flohen, verglichen werden. Achron gehörte der Generation von Prokofjew und Strawinsky an, doch bedeutete die Auswanderung in die USA für viele eine Reorientierung hin auf eine spezifisch jüdische Musik. Ein ähnlicher Fall ist Lazar Saminksy, der ebenfalls von St. Petersburg nach Amerika emigrierte. – Daß sich das Achron-Archiv heute in der Hebrew University von Jerusalem befindet, weist auf den zweiten
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(1886–1943), Ernst Toch (1887–1964) und Mario Castelnuovo-Tedesco (1895– 1968) – machte Previn nicht im Bereich der so genannten klassischen Musik Karriere, sondern widmete sich vielmehr der Film- und Popularmusik. Es wird zwar immer wieder behauptet, daß es jüngeren Emigranten oft leichter gefallen sei, in der Populärkultur ihrer neuen Umgebung erfolgreich zu sein, aber die Wirklichkeit war viel komplizierter. Eigentlich gibt es nur zwei außergewöhnliche Beispiele für Emigranten, die in mittleren Lebensjahren Entscheidendes zur Geschichte der amerikanischen Popularmusik beigetragen haben: Erich Korngold (1897–1957), der im Alter von 37 Jahren Max Reinhardts Einladung nach Hollywood folgte, und Kurt Weill (1900–1950), der mit 35 in die Vereinigten Staaten übersiedelte. Bevor wir uns erneut der Frage widmen, in welcher Weise das Alter des bzw. der Einzelnen sowie deren jeweiliger Karrierestatus auf Akkulturation, Anpassungsvermögen, Kulturauffassungen und die weitere Karriere wirkten – vor allem in Bezug auf die Vereinigten Staaten und Israel –, sollte außerdem darauf eingegangen werden, wie sich der Krieg und das damit verbundene ungeheure Ausmaß kollektiver Gewalt auf diejenigen auswirkten, die zu Hause blieben und nicht zu den Opfern zählten. Auch in diesen Fällen gab es biographische Brüche, für die jedoch andere Faktoren den Ausschlag gaben. Für die Emigranten und Exilierten war die Dokumentation historischer Ereignisse ebenso wie das persönliche Zeugnis (bzw. die Existenz von Zeugen) eher von marginaler Bedeutung. Für die zu Hause gebliebenen war die schiere Anzahl an Zeitzeugen eine Herausforderung und die Vernichtung von Beweismaterial an der Tagesordnung. Dies ist teilweise auf die kriegsbedingte Verwüstung zurückzuführen, zum Teil aber auch auf Bombardierungen und Eroberungen an den Fronten im Osten und im Westen. Ein weiterer Faktor war die Entwicklung in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg – den frühen Jahren des Kalten Kriegs. Viele Kollaborateure setzten alles daran, ihre beruflichen und privaten Aktivitäten in den Jahren 1933 bis 1945 zu vertuschen bzw. alle Akten und Belege darüber zu vernichten. Im geteilten Deutschland des Kalten Kriegs beförderten geopolitische Interessen in Ost und West diesen Prozeß des Verschleierns und Verfälschens. Für den Fortbestand Westdeutschlands bedurfte es einer Rückkehr zur Normalität. Außerdem mußte die wirtschaftliche und politische Entwicklungsfähigkeit gewährleistet sein. Um diese Ziele zu erreichen und um außerdem ein Bollwerk gegen den Kommunismus zu errichten, war es nötig, die Entnazifizierung mit Milde voranzuPunkt: Die Auswanderung nach Palästina in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergab für das Problem der „Selbst-Erfindung“ einen deutlich anders gelagerten Kontext. Denn die Aufgabe, mit der sich die Emigranten der ersten zwei Generationen dort konfrontiert sahen, war zunächst die Schaffung einer neuen nationalen Stimme, einer Stimme, mit der sich die „Europäer“ in die Realität Palästinas integrieren konnten: in ein Land, dessen zentrale Lage im Mittleren Osten eine Umgebung mit einem eigenen reichen musikalischen Erbe aufwies. Dies brachte eine dreifache Herausforderung mit sich: die Versöhnung der (a) volkstümlichen und liturgischen Traditionen der jüdischen Diaspora mit (b) dem Erbe europäischer Kunstmusik und (c) der Musik des Mittleren Ostens (vgl. Max Brod, Die Musik Israels. Revidierte Ausgabe mit einem 2. Teil: Werden und Entwicklung der Musik in Israel von Yehuda Walter Cohen, Kassel 1976).
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treiben. So wurde in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere in Universitäten und öffentlichen Kultureinrichtungen, eine gewisse Stabilität erreicht und aufrecht erhalten. Die Parteidisziplin, die der sowjetisch beherrschte Osten Deutschlands forderte, gab den Impuls für ähnliche Verschleierungs- und Verfälschungstaktiken. Während sich im Westen der Führungsstil einer Zivilgesellschaft erst entwickeln und herausbilden mußte, wurde im Osten die organisatorische und bürokratische Infrastruktur der Naziherrschaft übernommen und den politischen Bestrebungen der Deutschen Demokratischen Republik angepaßt. Der österreichische Weg ist vielleicht der sonderbarste und problematischeste. Bis zu Kurt Waldheims Wahlkampf in den 1980er Jahren, der von kontroversen Enthüllungen zu dessen nur teilweise verheimlichter Karriere unter den Nazis begleitet wurde (was von einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde und beinahe zu Waldheims Selbstdemontage geführt hätte) gab es in Österreich nur teilweise und zögerlich das Eingeständnis einer Mitschuld an den Verbrechen der Nazis. Der Anschluß des Jahres 1938 wird zu Recht als bizarre Mixtur aus Eroberung und Kapitulation angesehen, und er wurde von weiten Teilen der Bevölkerung begrüßt. Für den Prozeß der Nazifizierung und Arisierung blieb vor dem Ausbruch des Krieges weniger Zeit als in Deutschland, aber die Konsequenzen waren für die Opfer nicht weniger traumatisierend. Allerdings war die Wahrnehmung der Kollaboration und Kooperation in Österreich nach dem Krieg weit ambivalenter und von mehr Unsicherheit geprägt als in Deutschland. Österreichs Opferperspektive erleichterte den Übergang von der nationalsozialistischen Diktatur zu einer unabhängigen demokratischen Republik. Die wenigen Emigranten aus West- und Ostdeutschland, die in ihre alte Heimat zurückkehrten, fühlten sich dort viel willkommener als ihre österreichischen Schicksalsgenossen. Korngold war zum Beispiel tief enttäuscht darüber, mit welcher Kälte er in Wien begrüßt wurde, und auch Marcel Rubin (1905–1995) konnte nach seiner Rückkehr aus Mexiko erst nach vielen Jahren an die Erfolge der Zeit vor seiner Flucht anknüpfen. Die Rückkehr jener, die das unrechtmäßige System überlebten, führte dazu, daß eine elitäre Gesellschaft, die ohnehin nicht willens war, ihre Komplizenschaft zuzugeben, sich unbehaglich fühlte. Auf Österreich traf dies mehr zu als auf die beiden deutschen Staaten, wo es zur Staatsräson gehörte, die furchtbaren Ereignisse einzugestehen und sich – soweit möglich – um Wiedergutmachung zu bemühen. In allen drei Staaten – in Westdeutschland, Ostdeutschland und Österreich – wurde das Verschwinden von Zeugen und Beweismitteln ergänzt durch eine Kultur des Schweigens. Gute Beziehungen zu Nazi-Größen wurden nicht öffentlich thematisiert oder gar gutgeheißen. Ebenso inakzeptabel waren Versuche, die Nazi-Diktatur öffentlich zu verteidigen oder zu legitimieren. Ernst Klees Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945 (Frankfurt am Main 2007) – ein Buch, das sich mit Karrieren vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg befaßt – verdeutlicht die bis Mitte der 1960er Jahre in ihrem Ausmaß erschreckende Nonchalance, wenn nicht gar Gleichgültigkeit, wenn es darum ging, die Ereignisse während der nationalsozialistischen Diktatur öffentlich zu benennen. Das kritische Bewußtsein reich-
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te – insbesondere in Österreich – bis in die 1980er Jahre nicht aus, um die Karrieren von Parteigängern ernsthaft zu beschädigen. Trotz einiger deutlich sichtbarer Ausnahmen (man denke nur an die wohlbekannten und überaus komplexen Fälle von Wilhelm Furtwängler und Richard Strauss) befaßte man sich nur selten ernsthaft mit den Nazi-Sympathisanten. So wurde auch erst spät bekannt, daß Wieland Wagner – ganz entgegen dem Bild, das man in den Nachkriegsjahren von ihm hatte – ein begeisterter Anhänger der Nazis war. Karl Böhm, zunächst Bruno Walters Assistent und später in engstem Kontakt zu Strauss, erlebte geradezu eine Bilderbuchkarriere, und dies trotz seiner gut dokumentierten Begeisterung für die NaziIdeologie. Einige Gelegenheiten boten sich ihm nur durch die Ausschaltung möglicher Konkurrenten, die entweder jüdischer Abstammung oder politisch verdächtig waren. Die Karriere von Herbert von Karajan muß nicht weiter kommentiert werden. Die Musikwissenschaft befaßt sich seit den späten 1960er Jahren mit den scheinbar völlig normal verlaufenen Karrieren von Nazi-Sympathisanten und Kollaborateuren an deutschen und österreichischen Universitäten, deren Aufstieg zunächst durch die Verfolgung, Emigration sowie Ausschaltung von Juden und politischen Dissidenten befördert wurde – und später dann durch die Knappheit an geeignetem Personal.3 Dennoch bot sich in den Jahren 1933 bis 1945 sowohl den Emigranten und Exilierten als auch denen, die ihre Heimat nie verlassen mußten, die Gelegenheit, ihre Lebensgeschichte in eine bestimmte Richtung zu lenken oder sie zu manipulieren, wenn sie einer neuen Generation ihre biographischen Erfahrungen mitteilten. Diskretion, Ruhe und Verschleierung waren möglicherweise die Norm für jene, die an ihrem angestammten Ort geblieben waren, aber Migranten mußten sich unabhängig von ihrem Alter und Status gegenüber der neuen Welt, in die sie emigriert waren, ständig selbst erklären, und dies häufig in einer Fremdsprache. Ausnahmen hiervon waren in der Regel sehr berühmt und zum Zeitpunkt der Emigration älter. Doch selbst in den Biographien berühmter Emigranten gibt es Anzeichen für raffinierte Assimilationstechniken und radikale Brüche. In Amerika stilisierte sich Arnold Schönberg selbst mehr zu einem Opfer der Kritik und des Spotts, als er es im Lauf seiner Karriere in Europa je gewesen war. Aufgrund der radikalen Natur seiner musikalischen Vision fehlte es ihm nie an Ruhm und Anerkennung, selbst wenn er manchmal mehr berüchtigt als berühmt war. Im Gegensatz dazu mußte der etwas ältere Alexander Zemlinsky (1871–1942) bei seiner Ankunft in Amerika feststellen, daß der respektable Ruf, den er sich in Europa erworben hatte, nicht ausreichte, um ihm in der neuen Umgebung den Erfolg zu sichern. Die Demütigung unverdienter Bedeutungslosigkeit blieb ihm durch die schwere Krankheit, die 1942 seinen Tod zur Folge hatte, erspart. 3
Vgl. Pamela M. Potter, Most German of the Arts: Musicology and Society from the Weimar Republic to the End of Hitler’s Reich, New Haven 1998; Michael H. Kater, The Twisted Muse: Musicians and Their Music in the Third Reich, New York 1997; Michael Meyer, Politics of Music in the Third Reich, New York 1991; Musik und Musikpolitik in faschistischen Deutschland, hrsg. von Hanns-Werner Heister und Hans-Günter Klein, Frankfurt am Main 1984, sowie Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982.
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Ein faszinierender Fall bildet eine Art Brücke zwischen der deutschen und der österreichischen Erfahrung – Bruno Walter (1876–1962).4 Als gebürtiger Deutscher war er völlig assimiliert und änderte seinen Namen vom offensichtlich jüdischen Schlesinger in Walter. Vor 1933 besetzte er bedeutende Posten in München, Leipzig, Salzburg und Wien, und als er in Amerika ankam, war er weltberühmt. Was seinen internationalen Ruf betrifft, waren die einzigen Konkurrenten auf dem Podium Arturo Toscanini, Wilhelm Furtwängler und Leopold Stokowski. Walters Karriere vor 1938 ist zu Recht ein Faszinosum. Er war ein erstklassiger Pianist, und noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahr hatte er ein glänzendes und allgemein gelobtes Debut als Dirigent. Sehr schnell gelangte er zu hoher Berühmtheit, die nur zum Teil der engen Beziehung zu Gustav Mahler in Hamburg zu verdanken war und später u. a. dazu führte, daß er (während Mahlers dortiger Tätigkeit) an die Wiener Hofoper berufen wurde. Walter ging dann nach München, wo er die bereits bestehende Freundschaft mit Pfitzner vertiefte und dessen Meisterwerk Palestrina aufführte. Nicht nur wegen seines Alters wurde Walter in Amerika zu einem Interpreten des kanonischen Repertoires von Mozart bis Wagner. Vor dem Zweiten Weltkrieg trat er als Fürsprecher neuer Musik in Erscheinung, aber er bevorzugte relativ konservative Zeitgenossen, wie sein Engagement für Pfitzner zeigt. Die Musik von Mahler sowie Schönbergs Frühwerk sind die progressivsten Beispiele Neuer Musik, deren Fürsprecher er war. Er förderte nicht nur Pfitzner, sondern auch die Musik von Julius Bittner (1874–1939) und Ethel Smythe (1858– 1954), deren Oper The Wreckers er in Covent Garden uraufführte. Möglicherweise wurde die neue Musik, an die er am ehesten glaubte, in den 1930er Jahren allzusehr mit dem Faschismus und mit faschistischer Ästhetik assoziiert. Sein Verhältnis zur neuen Musik beruht allerdings mehr auf seinen ambivalenten Bestrebungen, wie sein Mentor Mahler eine Doppelkarriere als Dirigent und Komponist zu verfolgen. Tatsächlich schrieb Walter vor dem Zweiten Weltkrieg (und vor seinem vierzigsten Lebensjahr) eine beträchtliche Anzahl von Werken. Darunter sind ein Klavierquintett, Lieder, eine vollendete Symphonie in d-Moll und das Fragment einer zweiten Symphonie. Trotz der ermutigenden Reaktionen seines älteren Kollegen fand Walter Mahlers Vorbild jedoch offenbar abschreckend und entmutigend. Walters Beispiel verdeutlicht einige der Probleme bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Künstlern, deren jeweilige Karriere durch die Turbulenzen des mittleren 20. Jahrhunderts einen unvorhersehbaren Verlauf nahm. Viel Archivmaterial zu Walter ist in alle Winde verstreut, und man kann nur Mutmaßungen darüber anstellen, wie viel im Lauf der Jahre verloren gegangen ist. Die wichtigste Quelle ist der Wiener Nachlaß. In den Nachkriegsjahren kehrte Walter nach Europa zurück (z. B. anläßlich des hundertsten Geburtstags von Gustav Mahler im Jahr 1960), bevor er 1962 in Beverly Hills starb. Walters Reaktion auf das kulturelle Milieu, das ihn vertrieben hatte, ist faszinierend. Die Karrieren von relativ wenigen Menschen 4
Zu Walters Leben vgl. Erik S. Ryding und Rebecca Pechefsky, Bruno Walter: A World Elsewhere, New Haven 2001, 2. Auflage, Lincoln 2006.
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waren ähnlich eng mit der kulturellen Elite innerhalb und außerhalb der musikalischen Welt verwoben. Zu seinen Bekannten zählten Thomas Mann, Alma Mahler, Franz Werfel und Stefan Zweig. Einige dieser Freundschaften pflegte er in der Zeit des amerikanischen Exils weiterhin, einige konnte er sogar vertiefen. Aber mit Ausnahme Zweigs und Werfels, die 1942 bzw. 1945 starben, war es für Walter nicht einfach, eine Verbindung zu seinem früheren Leben – und damit zu Kollegen und potentiellen Zuhörern in Europa – wiederherzustellen. Wenn man bedenkt, daß seine Karriere in Europa vor 1900 begann und er als Repräsentant einer authentischen europäischen Kulturtradition in den Vereinigten Staaten Erfolg hatte (und damit fast als Ikone der europäischen Emigration gelten konnte), fiel seine Reaktion auf die zurückgelassene Welt und deren Vertreter um so ambivalenter aus. Walters Dilemma manifestiert sich besonders augenfällig in seiner Beziehung zu Pfitzner nach dem Krieg. Pfitzner hatte als alter, praktisch blinder und mittelloser Mann keinerlei Skrupel, in der Niederlage die Opferrolle einzunehmen, seine NaziVerstrickungen herunterzuspielen und sowohl Alma Mahler als auch Walter um materielle Unterstützung zu bitten, um im – zugegebenermaßen harten – Nachkriegsklima, das in Deutschland und Österreich herrschte, überleben zu können. Der ewig loyale Walter sorgte sogar dafür, daß in einigen Konzerten der New Yorker Philharmonie Pfitzner gespielt wurde. Aber trotz seiner Neigung zur Sentimentalität ermahnte Walter Pfitzner wegen dessen unaufrichtiger Beschreibung der Ereignisse in Deutschland und Österreich. Zwischen alten Freunden mußten klare Grenzen gezogen werden; es gab alte Bekannte, die man fortan besser mied, und lahmen Entschuldigungen sowie stummer Reue mußte man entschieden entgegentreten. Das Unbehagen mag groß gewesen sein, aber Walter erkannte, wie wichtig er als Repräsentant und Sinnbild der Versöhnung geworden war. Er reagierte anders als Schönberg oder Weill, die nach dem Krieg mit einer Mischung aus Wut, Bedauern und Desinteresse auf Europa blickten. Walters Selbstdarstellung in Amerika betonte seine Verbindung mit Mahler und ignorierte seinen Werdegang als Komponist sowie seine Vorliebe für die konservativeren Strömungen innerhalb der Musik des 20. Jahrhunderts. Walter war in einer privilegierten Position, die eine Art Bezugspunkt für den schwierigen Prozeß der Wiederannäherung bildete. In die Rolle des „elder statesman“ fand er gut hinein. Ein unscheinbarer Fehler im Wiener Nachlaß, der aus den Diskontinuitäten der Geschichte und der Rekonstruktion von Lebensgeschichten resultiert, illustriert jedoch, wie schwierig es für die Forschung sein kann, Biographien und Karrieren von Emigranten verläßlich nachzuvollziehen. Nachdem ich die amerikanische Erstaufführung von Walters Symphonie Nr. 1 mit dem American Symphony Orchestra in der Avery Fisher Hall dirigiert hatte, wurde ich von der Plattenfirma CPO eingeladen, das Werk mit dem NDR-Symphonieorchester Hamburg einzuspielen. Ein kompletter Stimmensatz befand sich in Wien, ebenso wie das Manuskript der Partitur. Da die Aufführung der Symphonie etwa eine Stunde dauert, wurde vorgeschlagen, die CD durch ein weiteres Orchesterstück (von ca. 10 Minuten Länge) zu ergänzen. Walters amerikanische Biographen wurden konsultiert, und der geeignetste
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Kandidat schien ein Stück mit dem Titel „Alla breve“ zu sein, das als Komposition von Walter katalogisiert war. Moderner Praxis entsprechend wurde das Partiturmanuskript am Computer abgeschrieben, um eine gut leserliche Partitur samt zugehörigen Stimmen herstellen zu können. Leider habe ich nicht darum gebeten, mir eine Kopie des Manuskripts selbst ansehen zu dürfen. Das Material für dieses zusätzliche Stück traf relativ spät ein, sodaß ich die Noten nur oberflächlich betrachten konnte. Die Musik wirkte von bestimmten Vorbildern abgeleitet und wenig originell, also nahm ich an, daß es sich um ein Frühwerk handelte, das vielleicht in den 1890er Jahren geschrieben worden war, als Walter etwa 20 Jahre zählte. Stilistisch gesehen handelte es sich um einen Versuch, den Brucknerschen Gestus zu imitieren. Schließlich stellte sich aber heraus, daß Walter überhaupt nicht der Komponist dieser Musik war. Bei dem Stück handelte es sich um den ersten Satz aus Hans Rotts E-Dur-Symphonie, die inzwischen einige Berühmtheit erlangt hat und in letzter Zeit häufiger aufgeführt und auf CD aufgenommen wurde. Bei der ersten Probe, die glücklicherweise unterbrochen wurde, nachdem den Beteiligten die Musik verdächtig bekannt vorkam, wurde ich von den Mitgliedern des NDR-Orchesters informiert, die Rotts Symphonie erst vor kurzer Zeit aufgeführt hatten. Außerdem kam zu unserer Rettung der Bibliothekar des NDR und zeigte uns eine neue kritische Ausgabe des Werks. Das Stück war Note für Note von Rott. Ich bin etwas verlegen zugeben zu müssen, daß ich die Symphonie im Jahr 1992 tatsächlich selbst schon einmal dirigiert und das Werk selbst nach einer Ausgabe von Paul Banks in den USA zur Erstaufführung gebracht hatte. Die dazwischen liegenden 15 Jahre ließen offenbar die Erinnerung an das Stück verblassen. Wir standen vor einem Mysterium. Das Manuskript war offensichtlich nicht in Walters Handschrift, sondern der eines Kopisten abgefaßt, und das Papier, auf dem die Musik notiert war, war älter als alles, was Bestandteil von Walters Werkkatalog ist. Wäre der Fall routinemäßig untersucht worden, hätte schon das Alter des Papiers Anlaß zu Zweifeln an Walters Autorschaft des Alla breve gegeben. Aber einige Fragen bleiben offen. Wie war Rotts Manuskript in Walters Besitz geraten? Hatte er es von Mahler bekommen? Warum war das Manuskript nicht beschriftet? Und warum nahm man an, daß es sich bei dem Stück um eines von Walters eigenen Jugendwerken handelte? Nichts deutet darauf hin, daß Walter das Werk als eigene Komposition ausgeben wollte; auch gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Walter wußte, daß er ein Manuskript der Musik von Rott besaß. Mahler beschrieb die Symphonie als bahnbrechendes Werk, Rotts heute wohlbekannte und abrupt endende Karriere deutet allerdings darauf hin, daß man die Symphonie verloren glaubte, bis sie einige Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs wiederentdeckt wurde. Falls Walter nicht wußte, daß es sich um Rotts Musik handelte, wen hielt er dann für den Komponisten? Das Auftauchen dieser Reinschrift des ersten Satzes der Symphonie von Rott macht das Mysterium hinsichtlich des heute als bedeutend angesehenen Werks nur noch größer. Falls Mahler das Manuskript an Walter weitergab, wozu? Und warum
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wurde das Werk nie von Mahler dirigiert? Man könnte auch auf den Gedanken kommen, daß Mahler sich gerade nicht besonders darum bemühte, Rotts Musik zu fördern, um seine eigene Originalität zu unterstreichen. Einige sehen in der Symphonie einen wichtigen Vorläufer und eine Inspirationsquelle für das Werk Gustav Mahlers. Welche Rolle spielte dabei aber Walter? Ich selbst bin von der Wichtigkeit und Qualität des Werks nicht so ganz überzeugt, abgesehen vom ersten Satz, der allerdings mehr fasziniert als daß er durch zwingende Stringenz zu überzeugen vermag. Dieser Einzelsatz zeugt zweifellos von großem Talent, und darin ähnelt er Walters eigener vollendeter Symphonie. Vielleicht ließ Mahler Walter das Manuskript zukommen, damit dieser es studieren und als Inspirationsquelle nutzen konnte – oder es sollte ein diskreter Gestaltungshinweis im Hinblick auf den Charakter und die Struktur symphonischer Eröffnungssätze sein. So unbedeutend diese Ungereimtheiten auch erscheinen mögen, spielen dabei mehrere sich überlappende Erzählungen von Lebensgeschichten eine Rolle: Walters Karriere, Mahlers kompositorische Entwicklung sowie Rotts Leben und Werk. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie schwierig es sein kann, ein kohärentes Bild der Vergangenheit zu rekonstruieren, wenn man sich auf fragmentarische und lückenhafte Anhaltspunkte verlassen muß. All dies stellt Historiker, die sich mit den Biographien emigrierter und im Exil lebender Musiker um die Mitte des 20. Jahrhunderts befassen, vor besondere Herausforderungen. (Übersetzung: Kilian Eckle)
STEFAN JENA (Wien)
Zwischen Resignation, Sehnsucht und Sarkasmus Die Utopie der Freiheit in verbotener Musik Exilforschung, die ihren Gegenstand ernstnimmt, darf sich nicht auf die Jahre zwischen 1933 und 1945 beschränken. Vielmehr gehören zu ihrem Thema auch die Vorgeschichte und das Nachwirken jener Flucht, die in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur so viele Menschen antreten mußten. In unsere Gegenwart und die weitere Zukunft reichend ist der zu erforschende Zeitraum zumindest so lange als offen zu betrachten, wie Spuren des Lebens und Wirkens von Emigranten in fremden Kulturen zu beobachten sind. Die Frage, wie weit Exilforschung in die Vergangenheit zurückführen solle, wird meist am konkreten Forschungsgegenstand zu beantworten sein: der Geschichte von Personen oder Institutionen nachzuspüren erfordert in jeweils unterschiedlichem Maße die Erforschung der Vergangenheit. Wo eine zeitliche Abgrenzung des Themas benötigt wird, die mögliche Ausgangspunkte für eine allgemeine Forschungsarbeit liefert, hat man dafür verschiedene einschneidende historische Ereignisse benannt. So sehr man sich dabei vor der Simplifizierung des retrospektiven Blicks hüten muß, mit der historische Entwicklungen gerne als teleologisch und unausweichlich betrachtet werden, ist auch für den gewissenhaften Historiker doch manchmal das Gefühl unabweislich, daß Geschichte durch den Sog eines Moments auf die abschüssige Bahn geraten kann, einen konkreten Moment, in dem die nahende Tragödie besiegelt wird. Ein solcher Augenblick und Wendepunkt der Geschichte ist zweifellos die endgültige konservative Wende der Weimarer Republik im April 1925. Versetzen wir uns also für einen kurzen Augenblick in das Berlin dieser Zeit. Am 26. April wird der Kandidat der Rechten, der bekennende Monarchist und Antirepublikaner Generalfeldmarschall von Hindenburg, zum Reichspräsidenten gewählt. Wenige Monate später wird bekannt, daß die Regierung nichts besseres zu tun hat, als mit den Hohenzollern, deren letzter Kaiser sieben Jahre zuvor abgedankt hatte, Verhandlungen über die Rückerstattung des Familienvermögens zu führen – und dies in einer Situation, in der die Wirtschaft gerade für eine kurze, trügerische Phase stabilisiert scheint, auf Kosten der Arbeiter freilich und zum Nutzen einiger Spekulanten.
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Stefan Jena
Hanns Eisler / Heinrich Heine Es bedarf keiner besonderen emphatischen Fähigkeiten, um nachzufühlen, was der 27jährige Hanns Eisler, der gerade von Wien nach Berlin übersiedelt war, angesichts dieser Lage empfunden haben muß.1 Und ebenso leicht ist nachzuvollziehen, daß ihm kaum ein Text aktueller und für eine Vertonung geeigneter erscheinen konnte als jener, mit dem Heinrich Heine 70 Jahre vorher die Frage gestellt hatte, ob und wie die Deutschen jemals in der Lage sein würden, sich in einer Revolution die Freiheit selbst zu erkämpfen. Heines Gedicht ist mit zwei Jahreszahlen überschrieben, den Daten der englischen und der französischen Revolution: 1649–1793; anstelle einer dritten Jahreszahl folgen vier Fragezeichen für die noch ausstehende deutsche Revolution. Die letzte Strophe des Gedichts dient Eisler als Vorlage für den zweiten seiner Männerchöre op. 10. So wie er später häufig auch mit Texten von Bertolt Brecht verfahren wird, nimmt er geringfügige Änderungen vor und ersetzt den originalen Titel durch einen, der ihm griffiger erscheint.2 Heinrich Heine 1649–1793–???? Die Briten zeigten sich sehr rüde Und ungeschliffen als Regizide. Schlaflos hat König Karl verbracht In Whitehall seine letzte Nacht. Vor seinem Fenster sang der Spott Und ward gehämmert an seinem Schafott. Viel höflicher nicht die Franzosen waren. In einem Fiaker haben diese Den Ludwig Capet zum Richtplatz gefahren; Sie gaben ihm keine Calèche de Remise, Wie nach der alten Etikette Der Majestät gebühret hätte. 1
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Die Wahl Hindenburgs wurde von den meisten Zeitgenossen in ihrer Tragweite durchaus sogleich erkannt. Obschon Hindenburg als einziger Präsident der Weimarer Republik demokratisch „vom ganzen deutschen Volke“ (Art. 41 der Weimarer Verfassung) gewählt worden war, bedeutete diese Abstimmung eine Niederlage für die Demokratie. Daß das Festhalten der KPD an ihrem Kandidaten Ernst Thälmann auch im zweiten Wahlgang letztlich sogar den Sieg Hindenburgs über den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx beförderte, war eine besonders bittere Ironie für die Anhänger der Linken, die an diesem 26. April eine entscheidende Niederlage erlitten hatten. Hanns Eisler jedenfalls „gehörte zu denen, die den politischen Kampf um die Weimarer Republik verloren hatten, und diese politische Niederlage hat ihn als Künstler schwerer getroffen, als er je eingestanden hat“ (Horst Weber, Betroffenheit und Aufklärung. Gedanken zur Exilforschung, in: ders. (Hg.), Musik in der Emigration 1933–1945. Verfolgung, Vertreibung, Rückwirkung, Stuttgart–Weimar 1994, S. 1–9, hier S. 1f.). Texte im folgenden zitiert nach: Heinrich Heine, Sämtliche Gedichte in zeitlicher Folge, hrsg. von Klaus Briegleb, Frankfurt am Main–Leipzig 1996, S. 796f., bzw. der Ausgabe von Eislers op. 10 bei der Universal-Edition, Wien–Leipzig 1929.
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Noch schlimmer ergings der Marie Antoinette, Denn sie bekam nur eine Charrette; Statt Chambellan und Dame d’atour Ein Sansculotte mit ihr fuhr. Die Witwe Capet hob höhnisch und schnippe Hanns Eisler, op. 10, Nr. 2 Die dicke habsburgische Unterlippe. Utopie Franzosen und Briten sind von Natur Ganz ohne Gemüt; Gemüt hat nur Gemüt hat nur der Deutsche, Der Deutsche, er wird gemütlich bleiben er wird gemütlich bleiben Sogar im terroristischen Treiben. sogar beim Aufruhrtreiben. Der Deutsche wird die Majestät Der Deutsche wird die Majestät Behandeln stets mit Pietät. behandeln stets mit Pietät. In einer sechsspännigen Hofkarosse, In einer sechsspännigen Hofkalesche, Schwarz panaschiert und beflort die Rosse, schwarz panaschiert, beflort die Rosse, Hoch auf dem Bock mit der Trauerpeitsche hoch auf dem Bock mit der Trauerpeitsche Der weinende Kutscher – so wird der deutder weinende Kutscher; so wird der deutsche sche Monarch einst nach dem Richtplatz kutMonarch einst auf den Richtplatz geführt schiert Und untertänigst guillotiniert. und untertänigst gouillotiniert. Gemüt.
Musikalisch tragen die drei Chöre op. 10 deutlich die Handschrift der SchönbergSchule. Sie sind äußerst polyphon gearbeitet, und obgleich sie inhaltlich für Arbeiterchöre konzipiert sind, machen sie in gesangstechnischer Hinsicht keinerlei Konzessionen an die Fähigkeiten eines Laienensembles. Sie sind wohl auch kaum dazu angetan, ein Massenpublikum anzusprechen. Wenngleich der Einfluß Schönbergs evident ist, sind diese Stücke doch auch schon typischer Eisler, etwa in der unmittelbar sinnfälligen, geradezu überdeutlichen Ausdeutung des Textes. Man beachte beispielsweise den kanonartigen Einsatz, der das Anfahren der „sechsspännigen Hofkalesche“ ausmalt, oder die Seufzersekunden des „weinenden Kutschers“ (Beispiel 1). Freilich: Hanns Eisler wäre nicht, der er ist, würde er die musikalischen Mittel nicht auch zur Ironisierung einsetzen: Auf „Pietät“ komponiert er einen choralartigen Zwischenschluß mit Wechselnote im ersten Baß; am Ende des Stükkes sieht man zuerst das Fallbeil förmlich heruntersausen, bevor der zweite Baß mit schüchtern vorgebrachten Achteln auf das Wort „gouillotiniert“ in tiefsten Lagen versinkt, während die übrigen Stimmen in groteskem Falsett wiederholen, was dem Deutschen eben doch am wichtigsten ist: das „Gemüt“ (Beispiel 2). Eisler beantwortet damit die Frage nach einer noch so servilen Revolution in Deutschland: sie wird Utopie bleiben, und so lautet denn folgerichtig auch der Titel der Eislerschen Vertonung.
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Beispiel 1: Hanns Eisler, op. 10, Nr. 2: Utopie, T. 17–23.
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Beispiel 2: Hanns Eisler, op. 10, Nr. 2: Utopie, T. 26–30.
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Natürlich ist dieses Werk zum Zeitpunkt seiner Entstehung noch keine im Wortsinn „verbotene Musik“. Es nimmt aber in exemplarischer Weise Grundstimmungen voraus, die eine Vielzahl künstlerischer Äußerungen zum Thema „Freiheit“ während des Dritten Reichs durchziehen, seien sie in der Emigration oder im KZ entstanden: Resignation nämlich und bitteren Sarkasmus. Marcel Rubin / Bertolt Brecht Ein Sprung über fast 20 Jahre führt uns in die letzten Kriegsjahre zu einem Werk, das gleichfalls exemplarisch für viele andere steht, in denen die Utopie der Freiheit thematisiert wird: die 4. Symphonie des österreichischen Komponisten Marcel Rubin, 1943−45 im mexikanischen Exil entstanden und 1972 überarbeitet. Zur Entstehung des Werkes hier nur einige Schlaglichter3: Das Werk ist ursprünglich „Krieg und Frieden“ überschrieben; als Rubin später jedoch feststellen muß, daß der eingetretene Friede durchaus nicht seinen Vorstellungen entspricht, ersetzt er den dritten und vierten Satz durch ein introvertiertes Pastorale und ändert den Titel in „Dies irae“. Dem ersten Satz der Symphonie sind als Motto vier Strophen aus Brechts 1941 entstandenem Gedicht Kinderkreuzzug 1939 vorangestellt, das die aussichtslose Sehnsucht nach einem Leben in Frieden schildert4: Schnee fiel als man sich’s erzählte in einer östlichen Stadt von einem Kinderkreuzzug, der in Polen begonnen hat. Da trippelten Kinder hungernd in Trüpplein hinab die Chausseen und nahmen mit sich andere, die in zerschossenen Dörfern stehn. Sie wollten entrinnen den Schlachten, dem ganzen Nachtmahr, und eines Tages kommen in ein Land, wo Frieden war. Wo einst das südöstliche Polen war bei starkem Schneewehn 3
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Zu Marcel Rubin siehe auch den Beitrag von Hartmut Krones im vorliegenden Band, Marcel Rubin und die österreichische Exil-Szene in Mexico, S. 521–550. Zur 4. Symphonie siehe Hartmut Krones, marcel rubin (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts 22), Wien 1975, S. 74–77. Der Kinderkreuzzug, erstmals gedruckt 1942 in der New Yorker Zeitschrift The German American, war von Brecht ursprünglich als Filmstory geplant gewesen; das mag etwas von der selbst für Brechtsche Verhältnisse ungewöhnlichen Bildhaftigkeit vieler Strophen erklären. Zu Brechts Situation im Exil siehe u. a. Patty Lee Parmalee, Brecht’s America, Columbus (Ohio) 1981; James K. Lyon, Bertolt Brecht in Amerika, Frankfurt am Main 1984; sowie die beiden Textkompilationen: Bertolt Brecht, Broadway – the hard way. USA 1941–1947, Frankfurt am Main 1994; Bertolt Brecht, Reisen im Exil. 1933–1949, Frankfurt am Main 1996.
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hat man die fünfundfünfzig zuletzt gesehn.5
Wenngleich diese Symphonie sicherlich nicht als Programmusik anzusehen ist, zeichnet der erste Satz doch sehr anschaulich den Stimmungsgehalt des Brechtschen Gedichtes nach. Er beginnt mit einem liedhaften Grave (Beispiel 3), das Schwermut und Resignation evoziert. Dieses anfänglich von der Solobratsche vorgetragene Eingangsthema wird später vom vollen Orchester wiederholt, bevor der zweite Seitensatz unvermittelt in hellem G-Dur aufleuchtet – man wird kaum fehlgehen in der Annahme, daß Rubin hier das Bild vom „Land, wo Frieden war“ entwirft (Beispiel 4).
Beispiel 3: Marcel Rubin, 4. Symphonie Dies irae, 1. Satz, Beginn.
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Zit. nach: Bertolt Brecht, Die Gedichte in einem Band, Frankfurt am Main 71993, S. 833.
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Beispiel 4: Marcel Rubin, 4. Symphonie Dies irae, 1. Satz, Ziffer 7.
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Diese Stelle scheint für sich genommen reine und ungebrochene Sehnsucht zu artikulieren. Im Kontext des Werkes aber wird sie entscheidend relativiert: Trotz dieser lichten Vision vom Frieden in einem fernen Land herrscht in der Symphonie ein düster-melancholischer Grundton vor, so wie er durch Brechts Text vorgegeben ist. Wenngleich hier nicht der Platz ist, auf die zahlreichen Brecht-Vertonungen einzugehen, die bekanntlich die Musik der Emigranten-Szene – Brecht hätte gesagt: der Exilierten – in hohem Maße geprägt haben, scheinen doch ein paar Worte über Brechts Freiheitsvisionen angebracht, insbesondere über sein Bild von Amerika. Gleich das erste Gedicht, das er 18jährig mit „Bert Brecht“ unterzeichnet6, hat einen Bezug zu Amerika: Das Lied der Eisenbahntruppe von Fort Donald aus dem Jahr 1916. Anfang der 20er Jahre folgen bereits die ersten Mahagonnygesänge, die in Teilen dann in das Projekt mit Kurt Weill eingehen. Fünf der großen Gemeinschaftsarbeiten von Weill und Brecht, das Mahagonny-Songspiel und die Oper, die Dreigroschenoper, Happy End und die Sieben Todsünden, spielen in einem mehr oder weniger realen Amerika, das Traum und Alptraum zugleich ist, dabei aber lediglich einem modischen Bild entspricht, das mit seiner Wildwestromantik fast von Karl May stammen könnte. Kurt Weill sagt dazu: „Zu jeder Zeit und überall auf der Welt gibt es ein Land, über das Phantasien geschrieben werden. Zu Mozarts Zeit war es die Türkei. Für Shakespeare war es Italien. Für uns in Deutschland war es immer Amerika. […] Wir hatten Jack London gelesen, und wir wußten absolut alles über die Gangster in Chicago, und damit hatte es sich. Wenn wir also eine Phantasie schrieben, dann über Amerika.“7
David Drew konstatiert, daß der reife Brecht erst dort anfange, wo die Zusammenarbeit mit Weill aufhörte. Sofern diese Aussage einen kausalen Zusammenhang suggeriert, tut sie Weill sicherlich unrecht, enthält aber vielleicht einen wahren Kern.8 Über die undifferenzierten Vorstellungen vom Land der Freiheit, von Amerika, die in den Brecht/Weillschen Werken zum Ausdruck kommt, mokierte sich auch Kurt Tucholsky in seinem Lied der Cowgoys: 6
7 8
Bis dahin hatte er einige durchaus patriotische Gedichte unter seinen Vornamen „Berthold Eugen“ veröffentlicht. Das Lied der Eisenbahntruppe von Fort Donald erscheint am 13. Juli 1916 in den Augsburger Neuesten Nachrichten, es markiert den eigentlichen Beginn von Brechts Schaffen. Zit. nach: Kurt Weill, Musik und musikalisches Theater. Gesammelte Schriften, hrsg. von Stephen Hinton und Jürgen Schebera, Mainz 2000, S. 504. Die Differenzen zwischen den beiden Künstlern betrafen vor allem die Frage, ob in den Opern und Songspielen dem Text oder der Musik Vorrang zukomme. Weder Weill noch Brecht hatten indes das Ende der Zusammenarbeit als endgültigen Bruch angesehen, sondern vorrangig als Folge unterschiedlicher Entwicklungen. Brecht hatte zudem 1930 die Zusammenarbeit mit Eisler begonnen, die sich in den folgenden Jahren als besonders fruchtbar erweisen sollte. Zumindest bei Weill jedoch blieb eine gehörige Skepsis zurück, die ihn noch mehr als 10 Jahre später Brechts Anregungen, neue Gemeinschaftsarbeiten zu beginnen, sehr reserviert aufnehmen ließ: „I have known Brecht for years. He has always been the most difficult man to work with“ (zit. nach: David Drew, Kurt Weill. A Handbook, London–Boston 1987, S. 414. Zum Verhältnis Brecht–Weill siehe ebenda, insbes. S. 383ff.).
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„Wir stammen vom Mahagonny-Stamm! Wir sind so fern und sind so nah! Wir stammen aus Bayrisch-Amerika. Ahoi geschrien! Wir sind keine Wilden – wir tun nur so! Wir haben Halbfranz auf dem Popo! […] Exotik als Literaturprogramm: das ist bequem und macht keinen naß und tut keinem Kapitalisten was.“9
An der Dreigroschenoper kritisierte er, das Stück sei für das Deutschland im Jahr 1930 ohne jede Relevanz, und das Amerika von heute sei gewiß nicht wie hier beschrieben. „Das“, so spottete er unter Anspielung auf Brechts Herkunft, „ist stilisiertes Bayern.“10 Rubin und Eisler Nun wieder zurück zu Marcel Rubin. 1951 komponiert er, der von 1940 bis 1969 Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs war, ein Lied für die FÖJ, die Freie Österreichische Jugend, das Rubins Utopie einer „befreiten Welt“ beschwört (Beispiel 5). So sieht ein typisches Freiheitslied dieser Zeit aus. Unverkennbar die Anklänge an sowjetische Vorbilder, für unsere heutigen Ohren allzu bombastisch im Klaviersatz, zu ausufernd in der Anlage, zu simpel in seinem Pathos, etwa bei dem Wechsel zum Dur des Refrains. Festzuhalten ist, daß es keine musikalischen Mittel gibt, die im weitesten Sinn als Verfremdung oder als ein Moment der Distanz gewertet werden könnten. Ein Marcel Rubin besonders nahestehender Freund, Friedrich Wildgans, Sohn des Dichters und Burgtheaterdirektors Anton Wildgans, gab 1946 bei der UniversalEdition eine Sammlung mit Klaviersätzen bekannter Kampf- und Massenlieder der Arbeiterbewegung heraus. In diesem Band findet sich auch ein Beispiel, dessen Melodie weltberühmt ist – verwunderlich ist allenfalls der Titel: Für Österreichs Freiheit (Beispiel 6). 1945 war – gleichfalls bei der Universal-Edition – die Eislersche Originalversion dieses Liedes erschienen (Beispiel 7). Aber vielleicht sollte man besser nicht von
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Zit. nach: Kurt Tucholsky, Gedichte, hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 722f. Die „Cowgoys“ im Titel des 1930 entstandenen Gedichts sind eine Verballhornung aus „Cowboy“ und dem abschätzigen jüdischen Wort „Goi“ für Nichtjuden, also Außenseiter, mit dem Brechts Amerika-Klischee als anmaßende Vereinnahmung charakterisiert werden soll (vgl. dazu: Georg Peter, Analytische Ästhetik. Eine Untersuchung zu Nelson Goodman und zur literarischen Parodie, Phil. Diss., Frankfurt am Main 2000, S. 177). Eine andere populäre Brecht-Parodie dieser Zeit ist Erich Kästners SurabayaJohnny II. In der Rezension der Dreigroschenoper, in: Die Weltbühne, 8. 4. 1930, Nr. 15, S. 557.
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Beispiel 5: Marcel Rubin, Das Lied von der Roten Fahne.
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Beispiel 5: Marcel Rubin, Das Lied von der Roten Fahne (Fortsetzung).
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Beispiel 5: Marcel Rubin, Das Lied von der Roten Fahne (Fortsetzung).
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Beispiel 6: Hanns Eisler, Für Österreichs Freiheit, Satz: Friedrich Wildgans.
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Beispiel 7: Hanns Eisler, Für Österreichs Freiheit.
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Beispiel 7: Hanns Eisler, Für Österreichs Freiheit (Fortsetzung).
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einem Original sprechen, denn ob Eisler mit dieser Neutextierung seines berühmten Komintern-Liedes, das seit 1929 um die Welt ging, einverstanden war, ist nicht bekannt. Der in dieser Ausgabe vertonte, heroische Text, dessen Autor nicht genannt ist, suggeriert, daß sich die Österreicher selber von der Naziherrschaft befreit hätten; Eisler indes gab sich, so wie auch Brecht, zu dieser Zeit über das Verhältnis des Bürgertums zur faschistischen Ideologie sicherlich keinen Illusionen hin. Das belegt beispielsweise die Änderung seiner Pläne in bezug auf das Finale der Deutschen Sinfonie.11 Wie dem auch immer sein mag, vielleicht war es ihm egal, denn gerade dieses Lied hatte sich durch die weite Verbreitung gewissermaßen verselbständigt, es taucht bereits früh mit unterschiedlichen Texten auf. Stellt man musikalische Vergleiche an, wird man feststellen, daß Eislers Lied um vieles prägnanter ist als jenes von Rubin und trotz des auch harmonisch einfachen Aufbaus effektvoller als in dem Satz von Wildgans, der – so schön er mit seinen chromatischen Durchgängen und Rückungen sein mag – natürlich gänzlich uneislerisch ist. Eisler setzt harmonische Besonderheiten sparsam ein, erzielt dadurch aber starke Kontrastwirkungen. So etwa gleich zu Beginn, wenn auf die Tonika anstelle eines Dominantseptakkordes, den man möglicherweise erwarten würde, ein Akkord folgt, der sich schwer deuten läßt (evt. könnte man ihn als Nonenakkord der dritten Stufe ansehen, T. 2 und 4). Weitere für Eisler typische Stilelemente sind etwa das Changieren zwischen c und cis (T. 6), der Sprung von der Tonika zum Septakkord der 2. Stufe (der Subdominantparallele, T. 9/10) oder der doppelte Vorhalt, der eine Quintparallele entstehen läßt (T. 18 und 20). Diese musikalisch ungewöhnlichen Mittel sind sicherlich nicht als Distanzierung des Komponisten vom Text auszulegen, ergeben aber doch Momente der Verfremdung. Möglicherweise setzt Eisler sie ein, um den Text von jedem romantischen Ballast zu befreien und dadurch um so deutlicher hervortreten zu lassen. Jedenfalls sind es diese stilistischen Elemente, die uns Eislers Lieder auch heute noch um so vieles interessanter erscheinen lassen als den Großteil der Kampflieder jener Zeit. Leo Strauss Im deutschen Sprachraum ist die Exilforschung seit einigen Jahren sehr in Mode gekommen. Horst Weber hat vermutet, dies könnte damit zu tun haben, daß der Schmerz an der Sache inzwischen erträglich geworden ist.12 Das wäre eine Erklärung dafür, daß die Forschung über die Musik in den Konzentrationslagern noch nicht ganz so en vogue ist. Es sollen an dieser Stelle aber, wenn es um die Utopie der Freiheit geht, jene nicht ausgeklammert werden, denen das relative Glück, emigrieren zu können, nicht zuteil wurde. Jene, die eine Utopie von Freiheit – so denkt man – am nötigsten hatten. Allerdings zeigt sich, wenn man die Musik, die in den Konzentrationslagern entstand, betrachtet, daß es hier erst recht nicht zu ungebro11 12
Siehe etwa: Thomas Phleps, Hanns Eislers „Deutsche Sinfonie“. Ein Beitrag zur Ästhetik des Widerstands (Kasseler Schriften zur Musik 1), Kassel 1988. Siehe den Beitrag von Horst Weber im vorliegenden Band, S. 259–284.
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chenen Äußerungen der Freiheitssehnsucht kommt. Fast immer ist der vorherrschende Charakter durch Sarkasmus oder einen für uns unbegreiflichen Galgenhumor gekennzeichnet. Natürlich, man sang vielfach alte jiddische Lieder, die den Traum vom gelobten Land zum Inhalt hatten, man textete sie um oder sang alte Texte auf neue Melodien. Aber der größte Teil dessen, was neu entstand, war von bitterem Zynismus durchsetzt, vom Traum nach Freiheit ist wenig zu spüren. Es bedarf keiner gewagten psychologischen Deutung, um zu vermuten, daß es die Hoffnungslosigkeit der Situation war, die utopische Entwürfe verhindert hat. Wer darüber nachdenkt, wie er am nächsten Tag durch Wohlverhalten eine Zigarette ergattern kann, die er dann gegen einen Teller Suppe tauschen wird, wer durch körperliche Entbehrungen und Todesangst niedergedrückt ist, hat nicht so hochtrabende Träume wie den von der Freiheit. Der Wunsch nach Befriedigung der unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse bestimmt Denken und Handeln derart, daß für anderes kaum Platz bleibt. Viktor Frankl schreibt: „Wovon träumt der Lagerinsasse am häufigsten? Er träumt von Brot, von Torten, von Zigaretten und von einem guten, warmen Wannenbad. Der Fortfall einer Befriedigung der entsprechenden primitivsten Bedürfnisse läßt ihn deren Erfüllung im primitiven Wunschtraum erleben.“ Und an anderer Stelle: „So zerann eine Illusion nach der andern, die der eine oder andere von uns noch behalten haben mochte. Jetzt überkommt die meisten von uns aber ein irgendwie Unerwartetes: Galgenhumor!“13
Ein schier unfaßliches Beispiel dieses Galgenhumors soll zum Schluß hier zitiert werden. Leo Strauss, der Sohn des Walzertraum-Komponisten Oscar Strauss, war 1942 nach Theresienstadt deportiert worden. Dort entstand neben vielen anderen Kabarett-Texten auch das folgende Couplet, das von der Voraussetzung ausgeht, daß die Freiheit nicht mehr erreichbar sein wird. Es wendet sich daher an jene, die in Freiheit sind: Einladung Liebe Freunde, laßt Euch sagen, Geht was nicht nach Eurem Sinn, Wills daheim Euch nicht behagen – Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Kränken Euch die Alltagssorgen, Reicht das Wasser bis zum Kinn – Hier seid Ihr davor geborgen, Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Habt Ihr beispielsweise Schulden, Mahnt zu oft die Schneiderin, 13
Viktor E. Frankl, … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München 1997, S. 52 und S. 34.
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Will der Wirt sich nicht gedulden – Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Könnt Ihr keine Arbeit finden, Lauft vergeblich her und hin, Lasset nicht die Hoffnung schwinden, Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Oder machts Euch Unbehagen Wieder einmal umzuziehn Mit dem großen Möbelwagen – Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Ist zerbrochen eine Vase, Ist ein Fleck im Tischtuch drin, Seid deshalb nicht in Ekstase – Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Habt Ihr etwa Rauchbeschwerden Von zu vielem Nikotin, Kann Euch noch geholfen werden – Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Mußt’ Ihr Euren Stern verdecken Vor dem Blick der Nachbarin, Hier gibt’s nichts mehr zu verstecken, Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Droht Verlust Euch an der Börse, Kündigt die Bedienerin, Grollt die Zofe, Schmollt die Nurse – Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Und verdrießts Euch einzukaufen, Wiegt zu schlecht die Greißlerin, Müßt von Markt zu Markt ihr laufen – Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Wollt Ihr ins Kaffeehaus gehen, Ziehts zum Cabaret Euch hin, Wollt Ihr’s Strauß-Ensemble sehen, Kommt hierher, wo ich jetzt bin. Alle Sorgen sind vertrieben, Hier an diesem schönen Fleck – Und nur eine ist geblieben, Wie kommt man hier wieder weg.14
14
Zit. nach: Mary Steinhauser und Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Totenbuch Theresienstadt. Damit sie nicht vergessen werden, Wien 1987, S. 151.
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Stefan Jena
„… Wie kommt man hier wieder weg?“ Nun, diese Sorge sollte ihm die SS abnehmen. Am 28. Oktober 1944 verließ der letzte Transport Theresienstadt in Richtung Auschwitz. In einem der letzten Züge, jenem, der am 12. Oktober von Theresienstadt aufbrach, war Leo Strauss. Die penibel geführten Bücher von Birkenau verzeichnen für den 14. die Ankunft des Zuges mit 1500 Juden, die bis auf drei junge Männer noch am selben Tag vergast wurden. Leo Strauss war keiner von diesen dreien.
CLEMENS HÖSLINGER (Wien)
Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie Mein Referat behandelt ein Thema, das wenig mit dem Hauptthema dieser Tagung, „Österreichische Komponisten im amerikanischen Exil“, zu tun hat; es befaßt sich vielmehr mit dem artistischen Personal der Wiener Oper, somit also nicht mit den schöpferischen, sondern mit den reproduzierenden Künstlern. Da meine Ausführungen im wesentlichen auf den Akten des Wiener Opernarchivs, exakt ausgedrückt, des Bestands „Oper“ im Wiener Staatsarchiv beruhen, werde ich nicht so sehr auf die Schicksale der österreichischen Künstler im Exil eingehen, sondern mich mehr den internen Vorgängen des Wiener Opernlebens rund um das Umbruchjahr 1938 widmen, jenen Vorgängen also, die dazu geführt haben, daß so viele Künstler Wien verlassen mußten. Wohl aber werde ich auch auf den Begriff Exil, und dies in sehr umfassendem Sinn, zu sprechen kommen, ebenso auf den Fluchtpunkt Amerika. Zu diesem erwähnten Fluchtpunkt, er war dies ja im vollen Sinn des Wortes, möchte ich Ihnen ein kurzes Tonbeispiel zu Gehör bringen. [Als Tonbeispiel erklingt eine Szene aus dem ersten Finale von Mozarts Don Giovanni, beginnend mit „Bisogna aver coraggio“ und endend mit „prova farà d’amor“.] Was Sie jetzt gehört haben, war ein Ausschnitt aus einer als Tonaufnahme komplett erhaltenen Don Giovanni-Aufführung der Metropolitan Opera New York vom 7. März 1942. Wenn man von der Besetzung der Donna Anna mit der Amerikanerin Rose Bampton absieht, ergibt sich bei der eben gehörten Stelle eine Konstellation, wie sie sich auch in Wien oder in Salzburg hätte ereignen können: Jarmila Novotná, bis 1939 Mitglied der Wiener Oper, war die Donna Elvira. Der Sänger des Don Ottavio, Charles Kullmann, ein gebürtiger Amerikaner, war von 1934 bis 1936 am Wiener Opernhaus als lyrischer Tenor engagiert, Don Giovanni war Ezio Pinza, der bei den Salzburger Festspielen 1934 von Bruno Walter glanzvoll vorgestellt worden war. Alexander Kipnis, aus der Ukraine stammender Bassist, war zwischen 1936 und 1938 Mitglied der Wiener Staatsoper; er sang in dieser Aufführung den Leporello. Nicht nur Ezio Pinza, sondern auch die anderen genannten Künstler waren ehedem Mitwirkende der Salzburger Festspiele. Am Dirigentenpult: Bruno Walter, der seit 1901 – allerdings mit großen Unterbrechungen – dem Wiener Opernhaus verbunden war, und der nach seiner Vertreibung aus Deutschland und bis zu seiner Vertreibung aus Österreich Mitdirektor der Wiener Oper und der Salzburger Festspiele war. Wenn wir jetzt noch dazu rechnen, daß um diese Zeit im Opernorchester der Metropolitan Opera eine ganze Reihe von ehemaligen Mitgliedern des Wiener Staatsopernorchesters und damit auch der Wiener Philharmoniker
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Clemens Höslinger
tätig war, daß der gebürtige Wiener Herbert Graf, der schon 1934 in die Vereinigten Staaten emigriert war, Regie führte – dann erhält diese amerikanische MozartWiedergabe fast schon so etwas wie eine rot-weiß-rote Färbung. Aber es handelt sich bei diesem Bühnenmitschnitt keineswegs um einen Einzelfall, denn wenn wir in den Annalen der Metropolitan Opera blättern, begegnen uns ab den dreißiger Jahren Wiener Künstler sozusagen auf Schritt und Tritt. Außer dem bereits genannten Herbert Graf war auch der langjährige Wiener Oberspielleiter Dr. Lothar Wallerstein in herausragender Funktion an der „Met“ tätig, ebenso die Wiener Ballettchefin Margarethe Wallmann; unter den Dirigenten neben dem bereits genannten Bruno Walter die gebürtigen Wiener Erich Leinsdorf, Kurt Adler sowie der ehemalige Direktor der Wiener Volksoper, Fritz Stiedry. Unübersehbar die Fülle von Wiener oder zu Wien gehörigen Opernsängern, die ab 1938 und zum Teil auch schon früher an der Met wirkten. Der prominenteste Name in dieser Reihe ist wohl Lotte Lehmann. Die bedeutende und wohl auch bedeutendste lyrische Sopranistin ihrer Epoche war seit 1916 am Wiener Opernhaus engagiert und zählte seit der Spielzeit 1933/34 auch zum Ensemble der Metropolitan Opera. Im September und Oktober des Jahres 1937 war sie als Opern- und Konzertsängerin zum letzten Mal in Wien zu erleben, nach dem Umbruch vom März 1938 trat sie auf eigenen Wunsch in den Pensionsstatus und blieb fortan in Amerika. Es mag bei Lotte Lehmann vielleicht angezweifelt werden, ob sie als echte Emigrantin zu bezeichnen ist, denn sie wirkte ja unter glänzenden Bedingungen an der Metropolitan Opera, wo man ohnehin größten Wert darauf legte, diese herausragende Künstlerin voll und ganz für sich zu gewinnen. Es muß aber auch darauf hingewiesen werden, daß Lotte Lehmann am Beginn der nationalsozialistischen Ära von den Parteigrößen, namentlich von Hermann Göring, regelrecht umworben wurde. Göring wollte sie, dieses Urbild der deutschen Sängerin, unter allen Umständen für die Berliner Staatsoper gewinnen. Lotte Lehmann lehnte das Angebot ab – ein höchst seltener Fall in damaliger Zeit –, was zur Folge hatte, daß sie fortan in Nazi-Deutschland totgeschwiegen wurde und daß man ihre Tonaufnahmen im Rundfunk nicht mehr sendete. Vor allem ihre Auswanderung nach Amerika konnten ihr die braunen Machthaber nicht verzeihen. Ich kann hier noch aus eigener Erinnerung berichten, daß der Name Lotte Lehmann in diesen dunklen Jahren hier in Wien von vielen wie ein Heiligtum genannt wurde. Man wußte, daß die Sängerin nun in weiter Ferne lebte und wirkte, in England, in Amerika, also im sogenannten Feindesland, daß sie dort ein Symbol der Wiener Opernkunst und damit des verlorengegangenen Österreich verkörperte. Und dies, obwohl sie gar keine Österreicherin war, sondern aus Preußen stammte. Die Schallplatten mit ihrer Stimme waren ja offiziell auch in Wien nicht zu bekommen, außer man wußte, wohin man sich zu wenden hatte. Dann bekam man sie „unter der Budl“, wie man dies in Wien nennt. Die damalige Zeit, namentlich gegen Ende des Krieges, war voll von geheimnisvollen Signalen, mit denen man sich verständigen konnte und mit denen Verbote umgangen werden konnten.
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Ein ähnlicher Fall wie mit Lotte Lehmann ereignete sich mit der gebürtigen Tschechin Jarmila Novotná, die wiederum von einer anderen Nazigröße umworben wurde, von Joseph Goebbels, dessen Anfälligkeit für slawische Schönheiten allerorten bekannt war. Beide Sängerinnen hätten gemäß den Nürnberger Rassengesetzen ohne weiteres im Hitlerreich wirken können, sie zogen es aber vor, Deutschland den Rücken zu kehren, zweifellos nicht nur wegen der besseren Angebote, sondern auch aus Protest gegen das Naziregime. Jarmila Novotná fand ebenso wie Lotte Lehmann in Amerika ihre neue Heimat und Wirkungsstätte. Die Opern-Achse zwischen Wien und der Metropolitan Opera New York reicht bis in die Anfänge des größten amerikanischen Opernhauses zurück. Die Wiener Spuren in der Geschichte der Metropolitan Opera sind unübersehbar, ich darf nur an das Wirken Gustav Mahlers, Felix Mottls oder Artur Bodanzkys erinnern, an Opernkünstler wie Amalie Materna und Theodor Reichmann, die schon in den allerersten Spielzeiten des Hauses an den Wagner-Aufführungen der Met mitwirkten, bis zu Maria Jeritza, Leo Slezak, an die Intendanten von Heinrich Conried bis zu Rudolf Bing. Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und schließlich auch in Österreich rückte die Metropolitan Opera begreiflicherweise zum Wunschziel für jene Künstler auf, die entweder in Hitlers Deutschland nicht mehr bleiben wollten oder nicht mehr bleiben durften, viele also, bei denen die Flucht, die Auswanderung die einzige Möglichkeit des Überlebens bot. Es war nicht zuletzt dem damaligen General Manager der Met, Edward Johnson, zu danken, daß das amerikanische Opernhaus so viele Wiener Künstler aufnehmen konnte. Johnson, der selbst eine große Karriere als Sänger erlebt hatte, befand sich oft in Wien und in Salzburg, er kannte die wichtigsten Künstler des Hauses. Ich will hier nicht alle Namen aufzählen, wohl doch aber einige markante Fälle erwähnen, die in Johnsons Direktionszeit von Wien nach New York geholt wurden, so die schwedische Altistin Kerstin Thorborg, von 1935 bis 1938 eine der herausragendsten Künstlerinnen der Wiener Oper, der aus Ungarn stammende Alexander Sved, ebenfalls seit 1935 in Wien engagiert und ohne Frage der beste lyrische Bariton des Wiener Opernhauses, die von Richard Strauss vor allem als Elektra geschätzte hochdramatische Sopranistin Rose Pauly sowie eine andere, wie Rose Pauly aus Ungarn stammende hochdramatische Sopranistin, Ella Flesch, die Altistin Enid Szantho und die Sopranistin Margit Bokor, auch sie Ungarinnen, der polnische Tenor Jan Kiepura, seit 1926 vielgefeierter Gast der Wiener Oper. Dazu auch noch eine ganze Reihe von Künstlern, die der Wiener Oper quasi im letzten Moment entwischt waren und mit denen schon konkrete Vertragsverhandlungen vorlagen, so die späteren Met-Stars Jussi Björling, Kurt Baum, Zinka Milanov, Rise Stevens und der deutsche Heldenbariton Herbert Janssen. Selbstverständlich kann man hier in den wenigsten Fällen von Exilanten reden, auch waren ja nicht alle rassisch belastet, aber als Folge der politischen Umwälzung gingen diese Künstler, die unter anderen Zeitumständen sicher mit Wien in Verbindung geblieben wären, der Wiener Oper verloren.
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Wien und Wiener Opernkunst – das hatte in Amerika so guten Klang, daß man geradezu von einer Vorzugsstellung reden könnte, mit der die Wiener Künstler ausgestattet waren. Daraus erklärt sich, daß auch Musiker und Sänger, die in Wien nicht zur allerersten Garde gezählt hatten, in den Kriegsjahren an der Metropolitan auftauchten, etwa der Kapellmeister Wolfgang Martin, der vor 1938 als Repertoiredirigent in Wien gewirkt hatte, oder der Sänger Friedrich Ginrod, seit 1935 Wiener Ensemblemitglied, und auch deshalb vielleicht in Erinnerung, weil er abwechselnd Bariton- und Tenorpartien gesungen hat. An der Met ist er als Wagners Hans Sachs aufgetreten. Wenn wir uns diese Situation vor Augen halten und auch daran denken, daß auch in anderen prominenten Opernhäusern wie in der Londoner Covent Garden Opera Flüchtlinge aus dem braunen Wien tätig waren – ich erwähne nur die in Wien hochgeschätzte Mozart- und Strauss-Sängerin Elisabeth Schumann und den weltberühmten österreichischen Tenor Richard Tauber –, daß in amerikanischen, englischen Musikhochschulen und auch sonst noch in aller Welt vertriebene Wiener Musiker unterrichteten, dann könnte man in fast zynischer Ausdrucksweise meinen, daß das ausländische Musikleben von jenem kulturellen Vandalismus, der in Deutschland und im ehemaligen Österreich wütete, reichlich profitiert hat, denn es war ja eine ausgesprochene Elite, die da von Wien abwanderte. Doch was sich hier so leicht als glückliche Lösung darstellt, entspricht kaum der realen Situation. Natürlich hatten die prominenten Künstler, die mit Angeboten belagert wurden, ein relativ leichtes Los, aber es gab viele Leidtragende, denen Exil – in welcher Form auch immer – im günstigsten Fall Überleben bedeutete. Und wenn man den Begriff Exil im weitesten Sinn auch auf die Verabschiedung ins Jenseits, auf Mord und Selbstmord ausdehnt, dann ist dieses Kapitel reich an traurigen und schrecklichen Begebenheiten. Der Profit auf der einen Seite bedeutete begreiflicherweise einen ungeheuerlichen Verlust auf der anderen Seite. Eine ähnliche Beraubung der wichtigsten Kräfte – es ist ja hier nebst vielem anderen auch noch der Abgang der beiden eminenten Tenöre des Hauses, Alfred Piccaver und Koloman von Pataky zu melden –, einen solchen Verlust hat es in Wien weder vorher noch nachher gegeben, und selbst jenes ominöse Vorkommnis vom Dezember 1934, als der Wiener Operndirektor Clemens Krauss sich mit einem erheblichen Teil des Wiener Ensembles nach Deutschland absetzte, kann hier schwer als Vergleich herangezogen werden, denn damals konnten die Abgänge zumindest teilweise durch die Aufnahme jener Künstler ausgeglichen werden, die aus Nazideutschland verjagt wurden. In der kurzen Zeitspanne zwischen 1933 und 1938 war ja Österreich Exilland, das muß man sich immer wieder in Erinnerung rufen, in Wien konnten damals wirklich zahlreiche vertriebene Künstler Aufnahme finden. Die Verlustliste der Wiener Oper vom Jahr 1938 betraf: den musikalischen Direktor und Dirigenten Bruno Walter, an Dirigenten weiterhin Karl Alwin und Josef Krips, den Oberspielleiter Lothar Wallerstein, die Ballettchefin Margarethe Wallmann, die beiden Konzertmeister – es waren dies Arnold Rosé, ein ehrenvoller Name der
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Wiener Musikgeschichte, und Riccardo Odnopossoff –, zahlreiche Solosänger, Mitglieder des Orchesters, des Chors, des Balletts, sie betraf die Positionen der Studienleiter, Korrepetitoren, Bühnenarbeiter, Souffleure, Requisiteure, des Garderobepersonals, des Beamtenstands, auch den Theaterarzt Dr. Paul Ceska und den Direktionssekretär Dr. Heinrich Reif-Gintl. Am 1. Juni 1938 mußte die Wiener Operndirektion auf Anordnung des Reichsstatthalteramts ein Verzeichnis aller aus rassischen Gründen belasteten Künstler vorlegen.1 Die Liste A: „nicht-arisch und mit Einstellung aller Bezüge beurlaubt“ enthielt 26 Namen, die Liste B: „beurlaubt mit Bezügen“ 17 Namen, die Liste C: „noch im Dienste stehend“ 21 Namen, die Liste D: „jüdisch-versippte Mitglieder“ 40 Namen. Das Begleitschreiben zu diesen Listen lautete (sämtliche Schreibweisen wurden original belassen): Zahl: 701/1938 STTHV 2017 vom 31. Mai 1938.
1. Juni 1938
Unter h. o. Zahl 1844/38 vom 19. d. s. wurden dem Herrn Reichsstatthalter Anträge bezüglich bezüglich [!] der bei den Staatstheatern beschäftigten Voll- und Halbjuden gestellt. Wie nun durch Herrn Staatssekretär Mühlmann am 30. Mai l. J. im k. W. mitgeteilt wurde, hat der Herr Reichsstatthalter die bezüglichen Anträge genehmigt, sodass nunmehr in der beantragten Weise bezüglich dieser Personen vorgegangen werden kann. In betracht kommen: I.) Solche im Rahmen der Staatstheater beschäftigten Personen, die noch keine Pensionsansprüche besitzen und deren Verträge laufen, 2.) Solche Angestellte, deren Verträge laufen und die pensionsberechtigt sind, deren Bezüge aber mit 30. Aprill. J.(!) eingestellt wurden. 3.) Solche Personen, deren Dienstverträge noch laufen, die pensionsberechtigt sind und deren Bezüge vorläufig noch nicht eingestellt wurden. Die unter 1.) genannten Personen wären von den Direktionen mittels Schreibens laut Verständigungsentwurf I. von der sofortigen Auflösung ihres Dienstvertrages zu verständigen. Die unter 2.) und 3.) angeführten Personen werden laut Erledigungsentwurf II und III und IV von der Staatstheaterverwaltung dahin verständigt, dass ihre Pensionierung zu dem entsprechenden Termin in die Wege geleitet ist und sie seinen Erhebungsbogen einzusenden hätten. Den unter 2.) und 3.) genannten Personen wird über Ansuchen eine à conto Zahlung in entsprechender Höhe auf ihre flüssig zu machenden Ruhegenüsse auszuweisen sein. I. Schreiben der Direktion der Staatsoper an: 1.) Ballettmeisterin Margarethe Wallmann, 4. Argentinierstrasse 25 2.) Konzertmeister Richard Odnoposoff, 8. Piaristengasse 12-14. 1
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik (im folgenden: AdR), Oper, 701 ex 1938.
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Clemens Höslinger
3.) Ob.Reg. Prof. Dr. Lothar Wallstein 1. Schellinggasse 1. 4.) Sologesangskorrepetitor Dr. Otta Janowitz, 3. Salesianergasse 1. 5.) Sologesangskorrepetitor Georg Maliniak, 4. Margarethenstrasse 32. 6.) Solosängerin Ella Flesch 7.) Solosängerin Margit Bokor, 4. Gusshausstrasse 7 8.) Kapellmeister Josef Krips, 9,(!) Universitätsstrasse 11. 9.) Fred Destal [handschriftlich hinzugefügt:] [Bruno] Walter an alle: Da dem nationalsozialistischen Staat die Fortsetzung des mit Ihnen abgeschlossenen Dienstvertrages nicht mehr möglich erscheint, erklärt die Dion. d. Staatsoper Ihren Dienstvertrag als 1: Ballettmeisrerin(!) 2: Konzertmeister 3: Ob.Regisseur 4: Sologesangskorrepetitor 5: Sologesangskorrepetitor 6: Solosängerin 7: Solosängerin 8: Kapellmeister 9: Solosänger gemäss § 37 des Schauspielergesetzes mit sofortiger Wirksamkeit für aufgelöst. ad 2-9: Ihre Bezüge gelangen somit mit 30. Juni 1938 tur[!] Einstellung. II. Schreiben der Staatstheaterverwaltung an: 1.) Konzertmeister Hofrat Arnold Rosé. 19. Pyrgergasse 23 2.) Reg. Prof. Friedrich Buxbaum 4. Kolschitkygasse 16. 3.) Direktor Prof. Hermann Röbbeling, I. Schwarzenbergplatz 5 4.) Prof. Paul Fischer, Orch.Mitgl. 5. Schönbrunnerstr. 66. 5.) Prof. Viktor Robitschek, 6. Königsklostergasse 7. 6.) Korpstänzer Richard Pretzelmayer, 8. Stuwergasse 10. 7.) Burgschauspieler Karl Eidlitz, 1. Babenbergerstrasse 5. 8.) Siegmund Kellner, 4. Schaffergasse 22. an alle: Die St. TH. Verw. trifft unter Einem Veranlassung, damit vorbehaltlich der Bestimmungen des zu gewärtigenden Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Oesterreich Ihre Versetzung in den dauernden Ruhestand gem. § 3, B. TH. Pens. Vdg. in der Fassung der Verordnung B.G.BL. 84/26 mit 1. Juni l. J. in die Wege geleitet wird. Sie ersucht, beiliegenden Erhebungsbogen ausgefüllt und mit den erforderlichen Bestätigungen versehen ehestens an sie rückzumitteln. Ihre Aktivitätsbezüge gelangen mit 31. Mai l. J. zur Einstellung.
Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie
321
III. betrifft Burgschauspielerin Else Wohlgemuth IV. An Herrn 1.) Kapellmeister Prof. Karl Alwin, 13. Einwanggasse 21. 2.) Orch.Mitgl. Max Starkmann, 6. Linke Wienzeile 14. 3.) Ludwig Wittels, Orch.Mitgl. 18. Blindengasse 46a. 4.) Bertold Salander ″ 3. Untere Weissgärberstr. 11. ″ 5.) Josef Geringer, Orch.Mitgl. 20. Klosterneuburgerstrasse 10. 6. Dr. Daniel Falk ″ I. Opernring 9. ″ 7.) Bernhard Lahis, Chorsänger, 4. Joh. Straussgasse 49. 8.) Charles Verständig, Chorsänger, 7. Kirchberggasse 6. 9.) Abraham Reich, Chorsänger, 2. Zirkusgasse 15. 10.) Therese Stern-Frankl, Korpstänzerin 2 Praterstrasse 60 Charlotte Nussenblatt, Korpstänzerin, 20. Karl Meisslstrasse 8. 18. Margit Alterase, 6. Windmühlgasse 15. 13.) Burgschauspieler Fritz Blum 14.) ″ Lily Karoly ″ ″ 15. Kammerschauspieler Fritz Strassni 16.) Chormitglied Jakob Wolf, 4. Favoritenstrasse 24. 17.) ″ ″ ″ Adolf Zomber, 15. Granzgasse 18. [handschriftlich eingefügt:] [Malwine] Jonas [Chorsängerin] [Josef] Fruchter [Chorsänger] an alle: Die St. Th. V. trifft unter einem Veranlassung, damit vorbehaltlich der Bestimmungen des zu gewärtigenden Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Oesterreich Ihre Versetzung in den dauernden Ruhestand gemäss § 3 der B. Th. Pens.Verord. in der Fassung der Vdg B.G.BL.Nr. 84/26 mit 1. Mai 1938 in die Wege geleitet wird. Sie ersucht beiliegenden Erhebungsbogen ausgefüllt und mit den erforderlichen Bestätigungen versehen ehestens an sie rückzumitteln. Ihre Aktivitätsbezüge gelangen mit 30. April 1938 zur Einstellung. Die betreffenden Schreiben wurden von der STTHV. selbst abgesendet. 2. Juni 1938.2
In ausführlichen Listen war nun das Personal den vorhin genannten (s. o.) Rubriken zugeteilt3:
2 3
Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Zahl: 701/1938. Ebenda, Zahl: 2312/38.
322
Clemens Höslinger Name:
Diensteigenschaft:
voll
halb
viertel
Jude
Pensionsanspruchsberechtigt
A.) beurlaubt ohne Bezüge 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 4 5 6 7 8 9 10 11
Alwin Karl Starkmann Max Geringer Josef4 Salander Berthold Dr. Falk Daniel Wittels Ludwig Fruchter Josef Lahis Bernhard Reich Abraham Verständig Karl Jonas Malvine Frankl Theresia Nussenblatt Charlotte Alterass Margarethe Dr. Rosenthal Friedrich Blum Fritz5 Strassni Fritz6 Wengraf Hans7 Karoly Lilli Wolf Jakob8 Zombor Adolf Odnoposoff Richard9 Wallmann Margarethe Kipnis Alexander Walter Bruno Stiassny Walter
Kapellmeister Orchestermitgl. ″ ″ ″ ″ Chorsänger ″ ″ ″ Chorsängerin Korpstänzerin ″ Wäscheverwahrerin Dramaturg Schauspieler Kammerschauspieler Schauspieler Schauspielerin Komparse ″ Konzertmeister Ballettmeisterin Solosänger Kapellmeister Korrepetitor
Name:
Diensteigenschaft:
Raoul Martiné Hermann Wawra Albert Paulmann10 Gisela Wilke Eduard Strohmayer11 Friedrich Kostial Josef Gielen Maria Eis Wilhelm Heim Reinhold Häussermann Alma Seidler Fritz Krenn12
Inspizient Schauspieler ″ Schauspielerin Dekorationsmaler Requisitenmeister Regisseur Schauspielerin Schauspieler ″ Schauspielerin Solosänger
/ / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / /
ja ja ja ja ja ja nein ja ja ja nein ja ja ja nein ja ja nein ja ja ja nein nein nein / Pensionsanspruchsberechtigt ja ja nein ja ja ja nein nein ja ja ja nein
Anmerkung:
Berlin
Wien
Fußnote (Astericus): H. Geringer hat lt. Zl. 2126 die Pensionsbeiträge rückgefordert u. zurückerhalten, daher keinen Pensionsanspruch. Hs. hinzugefügt: p.[ensioniert] 1. VII. 1938. Hs. hinzugefügt: p.[ensioniert] 1. VII. 1938. Hs. hinzugefügt: (Dienstzeit ?) Frist. Hs. hinzugefügt: p.[ensioniert] 1. VII. 1938. Hs. hinzugefügt: (Frist 1. IX.). Hs. hinzugefügt: geschieden vor I. VI. Hs. hinzugefügt: verwitwet.
323
Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie 39 40
Josef Wieser Franz Salmhofer13
Oberinspizient Kappellmeister [!]
Name:
Diensteigenschaft:
voll
halb
viertel
Jude
Pensionsanspruchsberechtigt
B) beurlaubt mit Bezügen: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Dr. Lothar Wallerstein Dr. Otto Janowitz Georg Maliniak Ella Flesch Margit Bokor Arnold Rosé14 Paul Fischer15 Viktor Robitschek16 Siegfried Buxbaum17 Fred Destal Richard Pretzlmeier Siegmund Kellner Else Wohlgemuth Hermann Röbbeling Karl Eidlitz Dr. Paul Ceska Josef Krips18
Regisseur Korrepetitor ″ Solosängerin ″ Konzertmeister Orchestermitgl. ″ ″ Solosänger Korpstänzer Bühnenarbeiter Hofschauspielerin Direktor Schauspieler Theaterarzt Kapellmeister
/ / / /
Name:
Diensteigenschaft:
voll
Direktionsekr. Bühnenmusikdirigent Korrepetitor Solosängerin Orchestermitgl. Chorsänger Chorsängerin ″ Korpstänzerin Schauspielerin Korpstänzerin Schauspielerin
/ /
/ / / / / / / /
ja nein nein nein nein ja ja ja ja nein ja ja ja ja ja nein nein
/
/
halb viertel Jude
Pensionsanspruchsberechtigt
C.) noch im Dienste stehend: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Dr. Heinrich Reif Gintl Paul Redl Leo Wurmser19 Enid Szantho20 Otto Rieger Fritz Erber Marie Durant21 Lily Rosanis22 Anna Glaser Elisabeth Ortner Kallina Elisabeth Temple Lilly Stepanek23
Hs. hinzugefügt: gesch. laut Scheidungsurkunde […]. Bei den Nr. 27, 28, 30, 32 bis 37, 39, 40: hs. hinzugefügt: beantragt. Hs. hinzugefügt: p.[ensioniert] 1. VII. 38. Hs. hinzugefügt: p.[ensioniert] 1. VII. 38. Hs. hinzugefügt: p.[ensioniert] 1. VII. 38. Hs. hinzugefügt: p.[ensioniert] 1. VII. 38. Hs. hinzugefügt: Vertragsende 31. VIII. Hs. hinzugefügt: ? gelöst. Hs. hinzugefügt: ? Vertrag lauft ab. Hs. hinzugefügt: ? kündigen. Hs. hinzugefügt: gestorben. Hs. hinzugefügt: kündigen.
/ / / / / / / / / /
ja ja nein nein ja ja nein ja nein ja nein nein
324 13 14 15 16 17 18 19. 20. 21.
Clemens Höslinger Lisa Thenen24 Max Blumenthal Sabine Krischek Max Kügler25 Maria Loidolt Helen Sgalitzer26 Inge Leddife [?] Ernst Heinz Häussermann Theodora Kremser27
″ Souffleur Souffleuse Requisiteur Garderoberin Beamtin Schauspielerin Schauspieler Chorsängerin
Name:
Diensteigenschaft:
Pensionsanspruchsberechtigt
Anmerkung:
Magazineurin Solosänger
ja nein nein nein nein ja ja ja ja ja ja ja nein ja nein ja nein nein ja nein ja ja ja ja ja ja nein
pens. I. IX. Reichsdeutscher Kein Vertrag ab 1. 9. (Ungar). Jugoslawe Kein Vertrag ab 1. 9. (Ungar). Reichsdeutscher
/ / / /
/
/ / / /
nein ja ja ja nein ja nein nein
D.) Jüdisch versippt: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Schlomka Marie28 Ginrod Friedrich Koloman v. Pataky Pjero Pjerotic29 Alexander Sved William Wernigk30 Anton Birkmeyer Adolf Nemeth Herma Berka31 Theodor Hess Leopold Föderl32 Ernst Morawec Richard Krotschak Karl Maurer Rudolf Jettl Hugo Burghauser Gottfried Freiberg Josef Hadraba Arthur Schurig33 Friedrich Wildgans34 Erich Majkut Else Bahrich Martha Weis Marie Weinfeld35 Olga Fiedler Anna Bittner Olga Levko Antosch36
″ ″ ″ ″
Solotänzer Mimiker Solotänzerin Orchestermitgl. ″ ″ ″ ″ ″ ″ ″ ″ ″
Bühnenmusiker Chorsänger Chorsängerin ″ ″
Korpstänzerin Beamtin Sängerin
pens. 1. VII/38 pens. 1. IX. Halbjüdin
pens. 1. IX.
Halbjude pens. 1. IX. Halbjude
Hs. hinzugefügt: kündigen. Bei den Nr. 1, 2, 6, 14 bis 16 und 18: hs. abgehakt (offensichtlich als Zeichen für die durchgeführte Kündigung). Hs. hinzugefügt: p.[ensioniert] am 1. VII. 38. Bei den Nr. 5, 9 bis 11, 17, 19 bis 21: hs. hinzugefügt: beantragt. Hs. hinzugefügt: pens. 1. IX. Hs. hinzugefügt: kündigen ? Hs. hinzugefügt: (unterschrieben). Hs. hinzugefügt: pens. 1. VII/38. Hs. hinzugefügt: pens. 1. IX. Hs. hinzugefügt: pens. 1. IX. Hs. hinzugefügt: „kündigen“, darunter durchgestrichen: „pens.“. Hs. hinzugefügt: pens. 1. IX. Bei den Nr. 2, 3, 5, 7, 8, 10, 12 bis 18, 21 bis 23 sowie 25 bis 27 hs. hinzugefügt: beantragt.
Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie
325
Eine weitere Liste (vielleicht eine Vorstufe) listet bei folgenden Personen den Grad ihres Judentums bzw. ihrer „Versipptheit“ auf: Mischlinge und jüdisch Versippte
A
A A A A A A A A A A A A A A A
A A A A A A A
Taussig-Schlomka Krips Martin Redl Reif-Gintl Wurmser Gründel Ginrod Pataky Pjerotic Sved Wernigk Szantho Levko-Antosch Birkmeyer Toni Nemeth Adolf Berka Heß Föderl Morawec Rieger Rumpold Krotschak Maurer Jettl Burghauser Freiberg Hadraba Schurig Wildgans Erber Majkut Bachrich Durant Fournes-Weis Kremser Mathias-Weinfeld Rosanis Fiedler Glaser Temple
volljüd.-versippt Halbjude Vierteljude Volljude Halb-Dreiviertel Halbjude Halbjüdin Vierteljude volljüd.-versippt ″ ″ ″ ″ ″ ″? Halbjüdin (?) halbjüd.-versippt (Mann Frontk.) volljüd.-versippt ″ ″ ″ ″ ″ ″ ″ ″ ″ ″ Halbjude Frontk. halbjüd.-versippt Volljüd.-versippt halbjüd.- ″ volljüd.- ″ ″ ″ Vierteljude halb- bis volljüd.-versippt volljüd.-versippt ″ ″ Halbjude Frontk. Vierteljude Vierteljüdin Halbjüdin halbjüd.-versippt Vierteljüdin volljüd.-versippt (in Scheidung) Halbjüdin Vierteljüdin Halbjüdin ″
Am 3. Juni 1938 faßte der Direktor der Wiener Staatsoper zusammen: Einlagebogen Zahl: 701/1938 STTHVZ: 2017/1938.
326
Clemens Höslinger
Der gefertigte Direktor hat die Briefe an: Dr. Lothar Wallerstein Dr. Otto Janowitz Georg Maliniak Ella Flesch Margit Bokor und Fred Dostal abgesendet. Was Richard ODNOPOSOFF betrifft, so steht keinesfalls fest, dass dieser Jude ist. Odnoposoff ist auf der Suche nach seinen Papieren, was mit Rücksicht darauf, dass seine Familie aus Russland stammt, einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Bevor die Direktion nicht die eindeutige Klarheit hat, ist sie der Ansicht, dass der Vertrag mit Odnoposoff nicht gelöst werden kann. Bezüglich KRIPS liegt seitens des Propagandaministeriums die Auftrittsbewilligung bis zum Beginn der neuen Spielzeit vor. Der Direktor hat Krips nur deswegen nicht mehr angesetzt, um eine etwa entstehende Unruhe im Personale zu verhindern. Im übrigen läuft der Vertrag mit Krips am 31. August 1938 ab, so daß die Direktion der Ansicht ist, dass diese Massnahme, die ja ohnehin nur den Entfall von 2 Monatsgagen bewirkt, wegbleiben könnte. Was endlich Frau WALLMANN betrifft, so möchte die Direktion mich in diesem Falle mit der Absendung des Briefes zuwarten bir[!] volle Klarheit darüber herrscht, ob Frau Wallmann Voll- oder Halbjüdin ist. Praktisch entsteht keine Mehrbelastung hiedurch, da Frau Wallmann seit Februar l. J. gegen Einstellung der Bezüge beurlaubt ist. Der Direktor der Staatsoper
Wien, am 3. Juni 1938.
Abgesehen von minimalen Ausnahmen bei Chor- und Orchestermitgliedern wurden schließlich doch nahezu alle Betroffenen aus dem Wiener Opernbetrieb entlassen, es bedeutet dies rund berechnet eine Entfernung von mehr als hundert Personen. Es ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, was diese Ausblutung für das Wiener Opernhaus bedeutete. Und es grenzt ans Unglaubliche, und wird auch heute von Kommentatoren manchmal fast widerwillig zur Kenntnis genommen, daß die Wiener Oper nach nur kurzer Krisis sehr rasch wieder das außerordentliche Niveau erreichte, das bis dahin bestanden hatte, und bis zum Kriegsende hervorragende Aufführungen bieten konnte. Diese positive Seite der Wiener Oper in drückenden und furchtbaren Zeiten ist Tatsache und sollte auch ausgesprochen werden, ohne daß man sich dabei dem Verdacht der Nazisympathie aussetzt. Daß in der Staatsoper die künstlerische Kontinuität gewahrt werden konnte, war in erster Linie einer Persönlichkeit zu danken, der bisher noch viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Es war dies Doktor Erwin Kerber, gebürtiger Salzburger und von 1919 an, also von allem Anfang an, im Direktorium der Salzburger Festspiele, deren künstlerischer Leiter er später war, seit 1935 Direktionsmitglied der
Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie
327
Wiener Oper, von 1936 bis 1940 Direktor. In die ersten Zeiten von Kerbers Ära fallen die Auftritte des als Antifaschisten und Anti-Nationalsozialisten bekannten Dirigenten Arturo Toscanini in Salzburg und Wien, die Verpflichtungen vieler in Nazideutschland verfemter Künstler wie Bruno Walter, Richard Tauber und vieler anderer. Wien und Salzburg galten daher aus Nazi-Perspektive als verrottet und verjudet. Was sich dort, in engster Nähe zum Deutschen Reich, in den Festspieltagen abspielte, wurde begreiflicherweise als Provokation aufgefaßt. Ebenso begreiflich, daß Engagements von deutschen Künstlern nach Salzburg nach Möglichkeit boykottiert wurden. Nur muß betont werden: so ganz und gar anti-nazistisch waren die Verhältnisse im Wiener Opernhaus und auch in Salzburg keineswegs, es gab eine empfindliche Opposition gegen die jüdischen Zuwanderer in den eigenen Reihen, mehr noch im Publikum, bei dem sich der unheilvolle Nazigeist immer öfter und dreister kundtat, durch Stinkbombenattentate und ähnliche Störaktionen. Es gab eine geheime nationalsozialistische Zelle im Haus, die emsig tätig war. Die Zustände waren nicht so drastisch wie etwa im Burgtheater, wo die braune Gesinnung schon ziemlich stark in das Ensemble eingedrungen war. Beim Solopersonal der Oper, das doch zum großen Teil aus Ausländern bestand, spielte das politische Moment sicher keine wesentliche Rolle, wohl aber gab es im Orchester, beim Chor und den kleineren Chargen zahlreiche Aufwiegler. Interessant, daß es genau zu dieser Zeit, als sich in Wien die Nazisehnsucht immer mehr ausbreitete, in Deutschland so etwas wie eine Gegenströmung gab. Künstler, die in guten und gesicherten Positionen an deutschen Opernhäusern wirkten, bewarben sich um ein Engagement in Wien, und zwar geschah dies in auffallender Menge. Die Opernakten des Staatsarchivs enthalten eine ganze Reihe solcher Ansuchen, die aus heutiger Sicht sehr erstaunlich wirken. Daß Kerber, der für die Nazis eine höchst verdächtige Figur darstellen mußte und gegen den sofort nach den Märztagen 1938 viele Anschuldigungen vorgebracht wurden, weiterhin im Amt blieb und zumindest noch zwei Jahre wirken konnte, wurde von vielen Künstlern als Wunder, auf jeden Fall aber als Segen empfunden. Die Beibehaltung dieses Direktors steht in Übereinstimmung mit der auch sonst zu bemerkenden weichen, konzilianten Linie, die in Wien herrschte, und die vielen Parteigrößen in Berlin ein Dorn im Auge war. So seltsam es klingen mag, es gab so etwas wie einen geheimen Schutzwall, der das Eindringen von radikalem Nazigeist in das Wiener Opernleben verhinderte. Eklats, wie sie sich in Berlin mit Furtwängler und Kleiber, oder in Dresden mit Fritz Busch ereigneten, kamen in Wien nicht vor, alles verlief hier wendiger, geschmeidiger, stiller, ohne großes Aufsehen und vieles wiederum nach altem Wiener Rezept – unter der „Budl“. Wenn man sich dem Parteidruck beugen mußte, etwa bei fragwürdigen Verpflichtungen von Dirigenten, Sängern, Komponisten, dann wurde das mit einiger Hinterlist so arrangiert, daß eine bodenlose Blamage unausbleiblich war. Und die Nazikunst selbst beging in Wien, 1939, mit der Uraufführung der Oper Königsballade des Parteikomponisten Rudolf Wille so etwas wie ein Harakiri. Ohne die Zustände allzu rosig darstellen zu
328
Clemens Höslinger
wollen, muß betont werden, daß die kulturellen Funktionäre, die in Wien eingesetzt waren, keineswegs jene rauhe Vorgangsweise verfolgten, wie sie in vielen deutschen Städten üblich war. Es waren farb- und bedeutungslose Gestalten, die nach Wien entsandt wurden, wie Heinrich Strohm, Kerbers Nachfolger im Jahr 1940, oder gar geheime Antinazis, wie dies von Walter Thomas, dem Kultur-General-Referenten des Deutschen Reichs, mit einigem Grund vermutet werden darf37. Und selbst Karl Böhm, als er 1943 die Leitung der Wiener Oper übernahm, hatte sich damals bereits zumindest einen Großteil seiner einstigen Nazibegeisterung abgewöhnt. Das alles führte dazu, daß die Wiener Oper in diesen bösen Tagen als eine Art glückliche Insel dastand, und in gewissem Sinn ihre Asylfunktion nie verlor. Man hat dem Operndirektor Kerber in späterer Zeit mitunter wankelmütige Haltung vorgeworfen, was sich aber, wenn man die Vorgänge anhand der Dokumente verfolgt, nicht so ohne weiteres behaupten läßt. Kerber war durch und durch österreichischer Patriot, und in vielen mehr oder minder verschleierten Äußerungen wird seine wahre Gesinnung offenbar, etwa wenn er seinem ehemaligen Mitarbeiter in Salzburg, dem Regisseur Herbert Graf, nach Amerika schreibt: „Ich freue mich, Sie wohlauf und in gesicherter Position an der Metropolitan zu wissen. Wenn dort einmal die Stelle eines Nachtportiers frei werden sollte, so erinnern Sie sich bitte, daß meine ganze Leidenschaft von Haus aus nie den höheren, sondern immer nur den niederen Verrichtungen der Menschheit galt“.38
Und in einem Schreiben an den damals noch im Dienst befindlichen Direktionssekretär Reif-Gintl in einem Rückblick auf die erstmals in Nazideutschland abgehaltenen Festspiele in Salzburg meint er unter Verwendung eines bekannten Ausspruchs von Max Liebermann: „Leider kann ich gar nicht soviel fressen als mir zum Kotzen ist. Ich habe seit 1920 die Salzburger Festspiele gehegt und gepflegt und bin naturgemäß irgendwie erbittert, wehrlos zusehen zu müssen, wie das Echo plötzlich verhallt und der sensible künstlerische Apparat darauf sofort mit einer Verminderung seiner Leistung reagiert. Kraft und Freude sind pfutsch!“
Über das Schauspiel, das 1938 in Salzburg Kleists Amphitrion und Goethes Egmont brachte, meinte er im selben Schreiben „Das Schauspiel hat Max Reinhardt auch nachträglich zu einem einhelligen Erfolg verholfen.“ 39
Es gibt eine Äußerung Bruno Walters über Kerber in seinem Erinnerungsbuch Thema und Variationen: 37
38 39
Walter Thomas veröffentlichte nach dem Krieg seine Erinnerungen an diese Epoche unter dem Titel Bis der Vorhang fiel zuerst unter dem Pseudonym W. Th. Andermann, dann unter eigenem Namen (beide Dortmund 1947). AdR, Oper, 903 ex 1938. Ebenda, 853 ex 1938.
Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie
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„Ich gedenke mit Sympathie und Hochschätzung dieses ehrenhaften, tüchtigen und warmherzigen Menschen, dem ich überdies persönlich für tapfere Hilfe in schwerer Lage Dank schuldig geworden bin.“40
Tapfere Hilfe in schwerer Lage – damit berühren wir ein fast unbekanntes Kapitel, ein Kapitel, das vermutlich auch immer unbekannt bleiben wird, denn aus naheliegenden Gründen gibt es dazu so gut wie keine Unterlagen. Wer damals Verbotenes tat, sorgte dafür, daß er keine Spuren hinterließ. Aber es steht fest, daß viele Fluchtaktionen und sonstige Beschirmungen in diesen bedrohlichen Zeiten nur dann möglich waren, wenn irgendeine Autorität dabei heimlich ihre Hand im Spiel hatte. Daß diese Aktionen mit höchstem Risiko verbunden waren, braucht bei der berüchtigten Brutalität des Regimes nicht betont zu werden. Es gibt ein geradezu unglaubliches Dokument über diese Geheimaktionen, nämlich den Lebensbericht der englischen Schriftstellerin Ida Cook, der unter dem Titel We followed our stars 1950 in London erschienen ist.41 Ich glaube fast, daß ich der einzige Besitzer dieses Buchs in Österreich bin, ich habe es zumindest noch in keiner einzigen Bibliothek entdeckt, was einigermaßen verwundert, denn es ist darin sehr viel von Österreich, von Salzburg und von Wien die Rede – und vor allem: Es läßt sich darin sozusagen das vis a vis der Emigrantensituation erkennen. Ida Cooks Bericht eröffnet einen Einblick in jene ungemein gefahrvollen Unternehmungen, die von London aus zur Rettung jüdischer und verfolgter Künstler in Deutschland und Österreich bis in die ersten Kriegsjahre durchgeführt werden konnten und an denen sie selbst beteiligt war. 29 erfolgreiche Unternehmungen, das ist eine beachtliche Zahl, vor allem wenn man an die höchst riskanten Begleitumstände denkt. Auch von Wiener Opernmitgliedern ist die Rede, und die Beschreibung der Flucht des langjährigen Studienleiters der Wiener Oper, Georg Maliniak, stellt eines der aufregendsten Kapitel dar. Solche heroische Taten konnte nur unter Mithilfe von Persönlichkeiten aus Deutschland vollzogen werden, die begreiflicherweise darauf bedacht sein mußten, nicht verraten zu werden. Ida Cook nennt in ihrem Buch diese Helfer, so die Sängerin Adele Kern, die sowohl der Münchener als auch der Wiener Oper angehörte, und – was wohl am meisten überrascht – das Ehepaar Clemens Krauss und Viorica Ursuleac. Das wird viele befremden, denen die beiden Künstler nur als Mitläufer des Naziregimes bekannt sind, was sie ja auch wirklich waren. Ich selbst gebe zu, daß mir beim ersten Lesen des Buchs einige Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Mitteilungen gekommen sind, doch wie mir der leider schon verstorbene Leiter des Clemens-Krauss-Archivs in Wien, Dr. Götz Kende, versichert hat, stimmt der Bericht bis in die kleinste Einzelheit; die Autorin Ida Cook ist bei den Erhebungen nach 1945 als wichtige und erfolgreiche Entlastungszeugin für Krauss eingetreten. Solche kaum bekannten Einzelheiten sollten zu denken geben, ich sage dies namentlich im Hinblick auf manche zeitgeschichtlichen Darstellungen,
40 41
Bruno Walter, Thema und Variationen, Frankfurt 1961, S. 200. Ida Cook (Pseudonym von Mary Burchell), We followed our stars, London 1950.
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Clemens Höslinger
in denen Urteile und Verurteilungen über damalige Persönlichkeiten oft sehr grob, wie übers Knie gebrochen, gefällt werden. Zurück zu Direktor Kerber. Selbstverständlich war er gezwungen, zu lavieren, krumme und verschlungene Wege zu gehen. Bei der Lektüre des amtlichen Schriftverkehrs bedarf es daher so etwas wie einiger Partiturkenntnis – um es musikalisch auszudrücken –, wenn man Sinn, Doppel- und Hintersinn der Mitteilungen erkennen will. Gewiß, der Operndirektor bediente sich mitunter auch des Mediums der Unwahrheit, so etwa wenn er in einem Schreiben an die Reichskulturkammer dem Dirigenten Josef Krips vorbildliches und loyales Verhalten gegenüber dem Dritten Reich bestätigte.42 Davon konnte bei Krips natürlich keine Rede sein, aber solche Atteste erwiesen sich manchmal als lebensrettend. Krips, der Halbjude war, konnte auf Kerbers Vermittlung zunächst ein Engagement in Belgrad erhalten, blieb aber dann während der ganzen NS-Zeit in Wien, in äußerst drückenden Verhältnissen. Auch dies eine Form des Exils, eine sehr schmerzliche, denn Krips, der seit 1931 in hervorragender Position als Dirigent an der Wiener Oper tätig war, wurde zu Diensten niedrigster Art verwendet. Allerdings war sein Los dadurch gemildert, daß er – völlig unerlaubt und daher im höchsten Grad gefährdet und gefährdend – weiterhin mit Künstlern der Wiener Oper in Verbindung stand und mit Sängern Rollenstudien vornahm. Es existiert sogar ein Tondokument mit der Stimme der Opernsängerin Hilde Konetzni, eine Privataufnahme mit dem kompletten Programm eines Liederabends aus dem Jahr 1943, also aus dunkelster Nazizeit, auf der Josef Krips als Klavierbegleiter zu hören ist. Ein im wahrsten Sinn einzigartiges Dokument der geheimen Wirksamkeit eines verbotenen Künstlers im nationalsozialistischen Wien.43 Noch viel krasser und aus heutiger Sicht nahehezu unbegreiflich ist der Fall, der sich im Mozartjahr 1941 ereignet hat. Innerhalb der Mozartwoche des Deutschen Reiches in Wien gab es am 29. November 1941 eine Aufführung von Cosí fan tutte, ein Gastspiel der Münchener Staatsoper, in der eine Sängerin mitwirkte, die nach damaliger Terminologie Volljüdin war, nämlich die gebürtige Wienerin Hilde Güden. Mit welchen Tricks Clemens Krauss, der damalige Münchener Operndirektor, diese Tatsache verheimlichen konnte, ist niemals bekannt geworden, Krauss hat ja damals auch die keineswegs arische Wiener Altistin Rosette Anday in seinem Haus auftreten lassen, mitten in dunkelbraunen NS-Jahren, und niemand hat daran Anstoß genommen – vermutlich auch, weil die belastenden Umstände dort nicht so bekannt waren wie in Wien. Für Hilde Güden, das muß noch erwähnt werden, hatte das Wiener Gastspiel böse Folgen, denn da gab es im Publikum eine Dame, die genau wußte, welche Todsünde wider den Nazigeist auf der Opernbühne begangen wurde, und diese Dame erstattete eine Anzeige. Damit war das abenteuerliche Schicksal Hilde Güdens in Nazideutschland beendet, die Künstlerin hielt sich
42 43
AdR, Oper, 784 ex 1938. Erschienen als CD bei Orfeo C 597091B.
Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie
331
danach in Italien auf – auch dort unter höchst gefahrvollen Verhältnissen – und kam erst nach 1945 wieder in ihre Heimat zurück.44 Die Operngeschichte, namentlich die Wiener, ist in dieser Zeit voll von Absonderlichkeiten, voll von Tragödien, glücklichen Wendungen, auch von regelrechten Verrücktheiten. Die Vorgänge, die von der sogenannten Systemzeit in die Naziepoche führten – auch sie harren einer historischen Aufarbeitung, und es sind nur einige Splitter, die ich Ihnen in meinem Referat bieten kann. Was es bisher darüber an Literatur gibt, berührt das Thema bei allem guten Willen doch oft nur peripher. Erst vor kurzem ist ein Buch von einem jungen Journalisten erschienen, Robert Schlesinger, ein Buch mit dem Titel Gott sei mit unserem Führer. Der Opernbetrieb im deutschen Faschismus45, das sich hauptsächlich mit der Wiener Staatsoper beschäftigt – allerdings auch wieder ohne Verwendung einer der wichtigsten Quellen, der Opernakten, die im Österreichischen Staatsarchiv liegen. Warum dieser umfangreiche und reichhaltige Bestand bisher noch viel zu wenig ausgewertet wurde, hat mehrere Ursachen. Durch lange Zeit existierte eine Benützungssperre aus Gründen des Datenschutzes, diese Barriere ist mittlerweile gefallen. Aber der Bestand wurde auch aus rein organisatorischen Gründen nicht zur Benützung freigegeben, er ist erst seit kurzem, nach ordnungsgemäßer Foliierung und Adjustierung, zugänglich geworden. Aber es gibt auch das Problem der Auswertung: Die Dokumente des Opernarchivs, der Schriftverkehr der Direktion, die Briefe der Künstler und all die sonstigen zahllosen Einzelheiten, aus denen sich so ein archivalischer Bestand zusammensetzt, sind äußerst schwierig zu einem Gesamtbild zu formen, das habe ich auch bei der Vorbereitung zu diesem Vortrag empfindlich zu spüren bekommen. Es sind ja lauter Details, lauter Einzelschicksale und Einzelmomente, die da in hastiger Flucht einander folgen, gerade in diesen turbulenten, brüchigen Zeiten, in denen Entscheidungen gefällt und im nächsten Moment wieder zurückgenommen werden mußten. Ein ständiges Hoffen, Schwanken, Bangen spricht aus diesen Blättern, man spürt förmlich die Erregtheit, die Unsicherheit und Angst des Zeitalters heraus. Wie die Stimmung im Opernhaus zur Zeitpunkt des Hitlereinmarschs war, geht aus einem Bericht hervor, den der deutsche Regisseur Carl Ebert hinterlassen hat. Ebert, gemeinsam mit Fritz Busch Begründer der Festspiele in Glyndebourne, war gleich nach der Machtergreifung der Nazis aus Deutschland in die Schweiz geflohen, er erhielt von Erwin Kerber und Bruno Walter die Einladung, im Frühjahr 1938 eine Neuinszenierung von Verdis „Maskenball“ zu leiten, gemeinsam mit dem Bühnenbildner Caspar Neher – auch er übrigens eine persona non grata im Nazireich. Dieser Bericht Carl Eberts schildert eine Szene, wie sie sich in ihrer Drastik, in ihren tragisch-komischen Zügen wohl nur in Wien abspielen konnte: „Wir fuhren in die Oper“, so berichtet Ebert,
44 45
Persönliche Mitteilung von Dr. Götz Kende an den Autor. Wien 1997.
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Clemens Höslinger
„wo ich eine technische Besprechung wegen Maskenball hatte. Ich saß bei Neher beim technischen Direktor vor den Maskenball-Modellen, wir versuchten krampfhaft unserer Nervosität Herr zu werden. Jemand stürzte herein: Schuschnigg zurückgetreten, er hat soeben im Radio vom österreichischen Volk Abschied genommen. Dann reißt der großartige Bühnenmeister Klepp die Türe auf: ‚Die Deutschen marschieren ein, über alle Grenzen. Jetzt san ma im Oasch, jetzt werden wir auspreßt wie Zitronen; aus ist, aus mit Österreich, jetzt wern ma Kolonie. Aschantineger.‘ Und haut die Tür wieder hinter sich zu. Wir sind alle blaß geworden, die beiden Österreicher, Regierungsrat Jaschke und Prof. Kautsky, lächeln verlegen, ich bin betroffen von diesem Ausbruch. Als Klepp später wiederkommt, ziehe ich ihn beiseite, rede auf ihn ein, stille zu sein. Es hat wohl nicht viel genützt, 24 Stunden später war er verhaftet.“46
Genau genommen hatte der Bühnenmeister recht, es war alles – ich will das ominöse Wort nicht wiederholen – aber es war alles umgestoßen, der ganze Jahresplan 1938 für die Oper und damit kombiniert auch für die Salzburger Festspiele. Jedermann in Salzburg – unmöglich, weniger wegen Hofmannsthal, wie Kerber meinte, wohl aber wegen Reinhardt.47 Toscanini, Bruno Walter, Erich Leinsdorf, Leopold Stokowsky in Salzburg – alles unmöglich. An der Wiener Oper: ein Gastspiel Maria Jeritzas im April – von der Künstlerin selbst abgesagt, übrigens legte dagegen auch der Dirigent Knappertsbusch, der nach Bruno Walters Weggang Mitdirektor der Wiener Oper war, ein Veto ein.48 Zahlreiche Künstlerverträge – storniert. Ein Gesamtgastspiel in Florenz beim maggio musicale mit Webers Euryanthe in der Produktion der Salzburger Festspiele vom Jahr 1937, unter Bruno Walters Leitung und in Lothar Wallersteins Inszenierung – abgesagt.49 Viele kleinere und größere Vorhaben wurden mit der damals gängigen Formulierung „in Hinblick auf die geänderten Verhältnisse“ als gegenstandslos erklärt, so eine Ehrung für Richard Tauber, die Verleihung des Offizierskreuzes des Österreichischen Verdienstordens.50 Künstleragenturen, Musikverlage – viele darunter zum Stillstand gekommen oder unter kommissarische Leitung gestellt. Der Vertrag mit dem Komponisten Erich Wolfgang Korngold, seine Oper Die Kathrin betreffend51 (auch sie befand sich bereits mit feststehender Besetzung im Programm) – gegenstandslos wie so vieles andere. Und die Kräfte, auf die sich diese Pläne stützten – in alle Windrichtungen zerstreut. Lassen Sie mich zu Ende meines Referats noch kurz auf jenes düstere Kapitel zu sprechen kommen, das ich vorhin als die äußerste Form des Exils angedeutet habe, und es betrifft jene Künstler, denen die Flucht nicht geglückt ist und die in den Konzentrationslagern der Nazis ums Leben kamen. Es befanden sich darunter mehrere Mitglieder der Opernorchesters und damit auch der Wiener Philharmoni46 47 48 49 50 51
Oliver Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien 1991, S. 115. AdR, Oper, 133 ex 1938. Ebenda, 238 ex 1938. Ebenda, 599, 976 ex 1937, 394 ex 1938. Ebenda, 523 ex 1938. Ebenda, 620 ex 1938.
Die emigrierte Staatsoper und Wiener Philharmonie
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ker, die meisten von ihnen Professoren an der Wiener Musikakademie. Ich nenne die Namen Julius Stwertka, Konzertmeister und bereits im Ruhestand, er stammte noch aus der Mahler-Epoche, weiterhin Moritz Glattauer, Viktor Robitsek, Max Starkmann und Armin Tyroler. Professor Anton Weis, der älteste unter ihnen, 1899 an die Hofoper engagiert, auch er längst im Ruhestand, starb während der Delogierung. Namhafte Exilanten unter den Orchestermitgliedern sind Arnold Rosé, dessen Leben 1946 in London endete, Friedrich Buxbaum, auch ihm war es möglich, nach London auszuwandern, Riccardo Odnopossoff gelangte nach Südamerika, und die Wiener Musiker Leopold Föderl, Josef Geringer, Ludwig Wittels, Berthold Salander, Hugo Burghauser und Daniel Falk fanden ein neues Betätigungsfeld im Orchester der Metropolitan Opera New York.52 Am härtesten hat es wohl die minder prominenten Wiener Künstler getroffen, die Unberühmten, die es ja in großer Zahl gab, so etwa in der Volksoper, Wiens zweitem Opernhaus, wohin sich in den 30er Jahren viele jüdische Künstler geflüchtet hatten. Ihre Namen begegnen uns manchmal auf den Theaterzetteln des Lagers Theresienstadt, wo Opern mit den Todgeweihten aufgeführt wurden – ein makabres Gegenstück zu den strahlenden Abenden an der Met oder an der Covent Garden zu gleicher Zeit mit den ehemaligen Wiener Opernkräften. Doch man sollte nicht in den Fehler verfallen, die Exilanten als Profiteure aufzufassen, die sich in eine Art Schlaraffenland geflüchtet haben. Diese taktlose Auffassung haben ja nach 1945 viele Heimkehrer aus der Emigration zu hören bekommen, auch hier in Wien: Euch ist es ja gutgegangen, während uns die Bomben auf den Schädel gefallen sind. Das konnte man damals in Wien sehr oft hören und bezeugt eigentlich nur jenes enge und verstümmelte Denken, wie es in Wien leider sehr beheimatet ist. Es waren, gemessen an der Größe des vertriebenen Wiener Musiklebens, doch nur ganz wenige, die wirklich zur höchsten Glorie aufsteigen konnten und denen ein schönes Leben gegönnt war, aber selbst für diese Auserwählten war der Weg zum Ziel oft ein sehr harter und dornenvoller. Das Leben der Asylanten war und ist immer mit tragischen Umständen verbunden, und viele, denen die Flucht ins Ausland gelang, mußten ihre Eltern, ihre Familienmitglieder zurücklassen und sie damit dem sicheren Tod ausliefern. Meine Damen und Herren, ich bin an das Ende meines Referats gelangt, ich bin mir bewußt, daß es vielleicht etwas chaotisch im Aufbau war, das bringt der zerklüftete Zustand der Unterlagen mit sich, aber auch der ebenso zerklüftete Zustand des Zeitalters, von dem jetzt die Rede war.
52
Clemens Hellsberg, Demokratie der Könige. Die Geschichte der Wiener Philharmoniker, Zürich–Wien–Mainz 1992, S. 504f.
HARTMUT KRONES (Wien)
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen.“ Arnold Schönbergs „Bibliotheken“ 1934–1939 (bzw. 1941) Am 17. März 1938 schrieb Arnold Schönberg1 der „P. T. Universal-Edition“ im Zuge einer Korrespondenz bezüglich der von von ihm zu unterzeichnenden Formulare für die Verlängerung des „copyright“ seiner Klavierstücke op. 11 sowie des Notenmaterials seiner Orchesterfassung des Brahms-Quartetts op. 25 auf einer Briefkarte den folgenden Nachsatz (Abbildung 1): „Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren zu Lasten meiner Einnahmen kaufen. Wenn Sie damit einverstanden sind, so sende ich eine Liste. – Ist in Philharmonia2 etwas von Cesar Franck erschienen ? Schreiben Sie mir auch, wie es allen geht. Mit besten Grüßen an alle guten Bekannten und Freunde Ihr Arnold Schoenberg“3
Abbildung 1: Rückseite der Briefkarte Schönbergs an die Universal-Edition vom 17. März 1938.
1 2 3
Absender-Stempel: ARNOLD SCHOENBERG | 116 N. ROCKINGHAM AVE. | BRENTWOOD PARK | LOS ANGELES, CALIF. | TEL. W.L.A. 35077. Die Universal-Edition gab ihre Taschenpartituren in einer „Philharmonia“-Reihe heraus. Die Briefe Schönbergs an die Universal-Edition befinden sich als Dauerleihgabe des Verlages in der Wienbibliothek, die Briefe der Universal-Edition (bzw. ihrer Repräsentanten) an Schönberg befinden sich in der Library of Congress, Washington D. C.; Kopien bzw. (z. T.) Durchschläge von ihnen besitzt das Arnold Schönberg Center.
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Hartmut Krones
Die Universal-Edition antwortete am 1. April 1938, sie sehe „der Einsendung der Liste von Philharmonia-Partituren, die Sie zu Lasten Ihres Kontos kaufen wollen, gerne entgegen“ und teilte mit, daß in der „Philharmonia Sammlung“ nichts von Cesar Franck erschienen sei, worauf Schönberg am 21. April eine umfangreiche „Bestellung“ aufgab: Ich schrieb Ihnen vor ungefähr drei Wochen, dass ich eine Liste einsenden werde um Sie zu ersuchen, mir Noten aus dem Universal Editions Katalog und aus der Philharmonia Edidition [!] zu senden. Ich weiss nicht, ob Sie wissen, dass ich ein Lehrbuch der Komposition schreibe, in welchem eine sehr grosse Anzahl Beispiele aus Meisterwerken citiert werden. ich [!] muss nun dem Drucker meine eigenen Exemplare als Vorlage geben und da die bereits sehr abgenützt sind, werde ich sie wohl kaum in brauchbaren [!] Zustande zurückbekommen und muss daher sofort an Ersatz denken. NB: wäre die Universal Edition in der Lage, die deutsche Ausgabe dieses Buches zu veröffentlichen? Ich würde in diesem Falle die deutsche Uebersetzung selbst anfertigen: es wird ein Standardwerk! Lassen Sie mich wissen, wie Sie darüber denken. Die Anzahl der Bände (gebunden), die ich brauche dürfte ziemlich gross sein, aber ich habe bis heute noch keinen vollen Ueberblick darüber und sende Ihnen darum heute nur einen Teil der Liste. Diese Werke benötige ich sehr dringend und würde deshalb bitten sie so zu senden, dass ich sie ehestens bekomme. Wenn sie nämlich als Pakette [!] geschickt werden, hält die Zollabfertigung viel länger auf, als wenn sie als Drucksache in kleinen Mengen gehen. Sobald ich über den Umfang meines Bedarfes vollkommen klar bin, sende ich Ihnen weitere Listen der Beispiele, die ich benötige. Ich nehme an, dass Sie mir bei der Verrechnung denselben Rabatt gewähren, der mir als Autor immer bei Ihnen abgerechnet wurde. Bis zum Eintreffen Ihrer freundlichen Antwort werde ich wohl den genauen Umfang meines Bedarfes kennen. Einstweilen bin ich mit besten Grüssen hochachtungsvoll [hs.:] Arnold Schoenberg Ich habe doch fast die ganze Liste fertiggestellt. Wer weiss, wann ich wieder dazu komme [hs. hinzugefügt:] Viele Grüsse an | meine Freunde | Frl. Rothe 4, Herr Winter5, | Stein6 etc] [2. Seite:] Philharmonia 146/148 135/136 4 5
6
Beethoven Haydn
9 Symphonien 10 ″
geb. ″
„Frl. [Betti] Rothe“ war die Direktions-Sekretärin der Universal-Edition. Hugo Winter war seit 1910 kaufmännischer Direktor der Universal-Edition, emigrierte im Zuge von deren „Arisierung“ aber Anfang 1940 nach New York. Siehe auch Hartmut Krones, „Die Arisierungsbestätigung ist nun eingelangt ...“. Die Universal-Edition im Jahr 1938, in: ÖMZ 56 (2001/8–9), S. 20–26. Schönbergs Schüler Erwin Stein war Leiter der Orchester-Abteilung sowie Aktionär der UniversalEdition.
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
138 140 143 52/53 156 152 280 348/349 149/150 Universal Edition 101 7 a/b Haydn 1/4 128 271 524 466/467 1534 144/144a 226 705 846, 850, 951 7311/13 3568 912, 1551/52 913 2574/75 2576/78 2571 284
Mozart Schubert Tschaikowsky Mendelssohn Brahms Rhapsodie Brahms Mendelssohn Beethoven
7
Beethoven ″
Rondos etc. Sonaten
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″ ″ ″ ″ ″ ″ 2 ″ ″ Requiem ″ Brahms ″ Schicksalslied geb. Streichqurtette op 44, 12, ″ geb. geb. ″
Klaviersonaten Mendelssohn Lieder ohne Worte geb. Mozart Variationen Mozart 4-hdg Klavierwerke Schubert 4-hdg Klav.Weke[!] Haydn Violin Sonaten Mozart Violin Sonaten Schubert Sonatinen Viol. Klav. ″ Duos ″ ″ Mendelssohn Streichquartette Tshaikowsky [!] Streichquartette Dvorak Klaviertrios Haydn ″ Mozart ″ Mozart Klavierquartette ″ ″ Beethoven ″ Mendelssohn Lieder
Auf dieser Seite hakte ein Angestellter der Universal-Edition die Erledigungen ab, einige Bestell-Nummern sind auch durchgestrichen, wohl, weil sie nicht lagernd waren. Weitere handschriftliche Einträge waren Schönbergs Adresse, die RabattAnweisung „mit 30%“ sowie die Bemerkung „Faktura an Skr. [?] Rothe“. Diesem „Bestellbrief“ legte (wahrscheinlich) ein Angestellter der Universal-Edition einen Durchschlag jener Liste „Bibliothek von Professor Arnold Schönberg, 1284 Beacon Street, Pelham Hall. Brookline – Mass.“ bei, die Erwin Stein im Jänner und Februar 1934 herstellte, als der Komponist in Boston und New York am Konservatorium von Joseph Malkin unterrichtete und in Brookline wohnte. Es handelte sich hier vor allem um die Bibliothek des „Vereins für musikalische Privataufführungen“ sowie wahrscheinlich um jene (rudimentäre) „Arnold Schönberg-Bibliothek für moderne Musik“, die von der Universal-Edition anläßlich von Schönbergs 50. Geburtstag (13. September 1924) als eine Art „Schulbibliothek“ errichtet und sogar als
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Hartmut Krones
Verein ins Leben gerufen werden sollte.7 In den damals bereits vorbereiteten Statuten war dementsprechend zu lesen: „Der nicht auf Gewinn gerichtete Verein hat den Zweck, der Allgemeinheit neue Musik zugänglich zu machen.“ Obwohl in der Folge wichtige Persönlichkeiten ihre Unterstützung zugesagt hatten, kam es dann – nicht zuletzt durch Schönbergs Abgang nach Berlin – nicht zur Gründung der „Bibliothek“; die von der Universal-Edition zur Verfügung gestellten „mehr als tausend Bände moderner Musikwerke“8 waren aber – zumindest zum Teil – wohl als „Bibliothek“ vorhanden. Von diesen „Bibliotheken“ hören wir zum ersten Mal in einem mit 17. Jänner 1934 datierten Brief Schönbergs an Dr. [Alfred] Kalmus, einem (neben Hugo Winter und Hans Heinsheimer) Mitglied des Direktoriums der Universal-Edition: „Noch eine kleine Bitte: möchten Sie nicht Herrn Stein fragen, was mit meinen Bibliotheken ist. Ich brauche die sehr dringend hier.“
Kalmus gab die Bitte bzw. Frage weiter und teilte Schönberg am 30. Jänner mit, daß Stein ihm „ueber die Bibliotheken [...] separat“ schreiben werde, was dieser dann am 7. Februar 1934 ausführlich tat: „Die Bibliotheken gehen heute an Sie ab. Die Sendung hat sich leider verzögert: 1.) weil ich die Vereinsbibliothek nicht finden konnte. Sie war in einer Kiste verpackt und ich habe sie überall gesucht, vor allem auf dem Boden am Kohlmarkt,9 der riesig gross ist und auf dem eine Menge Kisten stehen, durch alten Hausrat verstellt. Die ganzen Prospekte, Mitgliedskarten, Statuten, Mitteilungen etc. habe ich gefunden, aber die Noten nicht. Schliesslich fand ich die Kiste gut [durchgestrichen: versteckt] verpackt auf unserem Boden in Pötzleinsdorf. 10 2.) Durch die Inventurarbeiten in der U.E. um Neujahr war das Personal so beschäftigt, dass die Zusammenstellung und Expedition nicht gleich vorgenommen werden konnte. Es waren eine Menge Formalitäten beim hiesigen amerikanischen Konsulat zu erfüllen. Die Liste der Werke wird jetzt noch für die Expedition benötigt; sie folgt in den nächsten Tagen. In den Vereinsbibliotheken fehlen die Strauss-Walzer. Ich glaube, Rufer hat sie einmal für Hamburg mit Ihrer Einwilligung ausgeborgt. Ich habe ihm geschrieben, dass er die betreffenden Noten direkt schicken soll.11 7
8 9
10
11
Siehe Hartmut Krones, Ein erstes Wiener „Arnold Schönberg Center“? Zur „Schönberg-Bibliothek“ von 1924/25, in: Arnold Schönbergs Wiener Kreis. Viennese Circle. Bericht zum Symposium 12. – 15. September 1999 (= Journal of the Arnold Schönberg Center 2/2000), Wien 2000, S. 7–17. Laut einer Meldung in der Musikpädagogischen Zeitung; zit. nach: Arnold Schönberg. Gedenkausstellung 1974. Redaktion: Ernst Hilmar, Wien 1974, S. 307. Die „Manzsche Verlags- und Universitäts-Buchhandlung“, die der Familie Erwin Steins gehörte, besaß die Adresse Wien I., Kohlmarkt 20. Wahrscheinlich dachte Stein, Schönbergs Bibliotheken dort auf dem Dach-Boden gelagert zu haben. Erwin Stein übersiedelte im Herbst 1932 mit seiner Familie nach Pötzleinsdorf, das im Grüngürtel des Wiener XVIII. Bezirkes liegt; Adresse: Wilbrandtgasse 49. Siehe Thomas Brezinka, Erwin Stein. Ein Musiker in Wien und London (= Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg, hrsg. von Hartmut Krones, Bd. 2), Wien–Köln–Weimar 2005, S. 119. Die Noten der Schönbergschen Bearbeitung des Lagunenwalzers von Johann Strauß [Strauss] Sohn blieben viele Jahre in Hamburg verschollen und wurden erst 2005 im Zuge einer Neuinventarisierung im Archiv des Hamburger Rundfunks aufgefunden.
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
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Das ,Es dur‘ auf der Philharmonia-Ausgabe der Kammersinfonie ist wirklich zu dumm. Im Innentitel ist es in allen Exemplaren überklebt worden, auf dem Aussentitel aber nicht. Es wird aber jetzt in der ganzen Auflage geändert. Kolisch hat hier gespielt und hatte riesigen Erfolg. Das Publikum hat getobt und zwar nicht nur die Freunde. Sie spielen von Jahr zu Jahr vollendeter. Sehr schade ist es, dass Sie die Bostoner Konzerte nicht dirigieren konnten. Wird es noch möglich sein, dass Sie es in dieser Saison nachholen? [hs. Nachsatz:] Eben erhalte ich die Listen mit der Konsulatsfaktura. Die Faktura enthält die Bestätigung, daß die Noten zollfrei sind. Sie müssen sie dort Ihrem Spediteur übergeben. Auf den Listen enthalten die ersten zwei Seiten die UmsBibliothek, die nächsten fünf die Vereinsbibliothek; die restlichen Seiten grösstenteils die neuen U. E. Werke, zum Teil auch Vereinsnoten. Die U. E. schreibt Ihnen noch separat. Viele herzlichste Grüße Ihnen, Ihrer lieben | Frau und Nuria Ihr | Erwin Stein“
Die von Stein erstellte Liste umfaßt zehn paginierte maschinschriftliche Seiten, deren ersten zwei bis Berlioz, Künstlerleben, reichen. Die 3. Seite beginnt mit Schönberg, Quartett op. 7, die 7. Seite endet mit den Chorstimmen zu Zemlinskys 23. Psalm, und am Beginn der 8. Seite steht die Chorpartitur von Weberns 2 Liedern, op. 19. Ingesamt stellt sich die Liste folgendermaßen dar: Bibliothek von Professor Arnold Schönberg, 1284 Beacon Street, Pelham Hall. Brookline – Mass.
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Brahms
Schubert
Kammermusik Deutsches Requiem Klavierkonzert Violinkonzert I. und II. Sinfonie Werke für Orchester Sextett G dur Quintette Trios III. und IV. Sinfonie Lieder I Fantasien op. 116 ″ ″ ″ Variationen und Fuge 4 Klavierstücke 6 Klavierstücke Oktett Trios und Quintette Quartett A moll Album Bd. 1 Tänze
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Hartmut Krones
[Schubert] Bach J. S.
Bach Ph. E. Schumann
Mahler
[Seite 2] Mendelssohn
Mozart
Bruckner Strauss R.
Klavierkompositionen Sonaten Matthäuspassion Wohltemp. Klavier 1 ″ ″ 2 Franz. Suiten Kunst der Fuge engl. Suiten 1 ″ 2 ″ Orgel 5 und 6 Klavierwerke Sämtl. Klavierwerke 1 ″ ″ 2 Lieder 1 Abegg-Variationen Sinfonie 1 und 2 3 ″ 4 ″ Kammermusik 12 Gesänge 1 12 ″ 2 Sieben Lieder Das Lied von der Erde 7. Sinfonie 8. ″ 9. ″ 6. ″ Sinfonie 3 und 4 1 ″ 2 ″ Kindertotenlieder 5 Orchesterstücke aus Sommernachtstraum Lieder ohne Worte Orchesterwerke Sämtliche Lieder Figaro Don Juan Klavierkonzert D moll Quartette 6 bis 10 ″ G dur ″ 1 bis 5 Kammermusik Sonaten IX. Sinfonie und Te deum Sinfonie 4 Also sprach Zarathustra Till Eulenspiegel Heldenleben
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
[Strauss R.] Haydn Beethoven
Brahms Wagner
Berlioz [Seite 3] Schönberg
Weber Wolf Reger Zemlinsky Dvorak Wolfram 12 Hefte 2 Mal Stimmen
Domestica Sinfonie II Quartett Quartette 95, 127, 130 ″ op. 18 Trios, Septett Klavierkonzert G dur Trio Quartett 59, 74 Sonaten für Violin und Klavier Variationen 1 Sinfonie IX ″ VI bis VIII III bis V ″ Quartett 131, 132, 133, 135 Violinkonzert Fidelio Sonaten Sonaten 3 Klaviersonaten Lohengrin Tristan Meistersinger 1 ″ 2 Siegfried Idyll Künstlerleben Quartett op. 7 Pierrot lunaire 2. Streichquartett 6 Orchesterlieder 3 Klavierstücke 5 Orchesterstücke Verklärte Nacht Ouverturen Spanisches Liederbuch 1 Gedichte von Möricke [!] Streichquartett Quartett op. 121 Romantische Suite 23. Psalm Klavierquintett 100 Meisterchoräle Hauer Hölderlinlieder Braun Streichquintett Reger Violinsonate Fis moll Scott Violinsonate op. 59
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Hartmut Krones
Reger 4 Stimmen
Sekles Szymanowski
Suk Strawinsky Partitur und Stimmen geschrieben Busoni Stimmen Bruckner Stimmen Bartok Stimmen Ravel 2 Exemplare Berg [Seite 4] Hindemith Fuchs Honegger Reger Stimmen Schönberg ein zweites Material ohne Vl. I Stimmen Pfitzner Stimmen Reger
Stimmen Ges. u. Kl
Klav. Ausz. Klav. Ausz. handschriftlich 2 Exemplare 2 Klav. Ausz. 2 Hefte 4 Hefte 2 Exemplare
Debussy Reger Labor Reger Debussy Petyrek Ostrcil Reger Debussy Zemlinsky Strawinsky Moussorgsky Charpentier Berg Novak Mahler Strauss Poulenc
Serenade 141 6 Vortragsetuden Vl. u. Kl. 2 kleine Sonaten Vl. u. Kl. Passacaglia und Fuge Notturno u. Tarant. f. Vl. u. Kl. Violinsonate D moll Violinkonzert Klav. Ausz. Fantasie Vl. u. Kl. 3 Stücke f. Klarinettensolo 3 Pièces f. Streich-Quartett 2. Violinsonate Quintett Quartett op. 7 Quartett Klarinettenstücke Violinsonate op. 11 Violinsonate op. 103 Bratschensonate Cellosonate, op. 116 D moll Quartett Klavierquintett Quartett A moll Violinsonate B, op. 107 Violinsonate Streich Trio op. 77b Klavierquintett Klavierquintett Promenar Spät für Gesang, Vl. u. Kl. Der Wind, Ges. Klar. Vl. Br. Klav. 3 Lieder An die Hoffnung Proses lyriques 23. Psalm Berceuses du chat Pribaouthe [!] Lieder 2 Lieder 4 Lieder 6 Lieder Das Lied von der Erde op. 67 op. 68, Nr. 3, 2, 4, 5 Schlechtes Wetter Cocardes
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
[Seite 5] 2 Exemplare 2 Exemplare
2 Exemplare 2 Exemplare
2 Exemplare
Pfitzner Szymanowski
op. 26, 5 Lieder, 5 Hefte Hafis Liebeslieder 4 Gesänge op. 41
Schönberg
George Lieder 2 Lieder, op. 14, 2 Hefte 2 Balladen, 2 Hefte Epigrammes 2 Hefte 8 ung. Volkslieder 8 Lieder, op. 18, 8 Hefte Lieder, op. 17 Visionen 6 Gesänge Turmwächterlied Fêtes Galantes 2 Hefte Chants de Bilitis Lieder (Schott) 3 Hefte George Lieder Nr. 1–14, transponiert Irdisches Leben Schildwache Nachtlied Wo die schönen Trompeten blasen Fischpredigt Lied des Verfolgten Natur für kl. Orchester ″
Ravel Bartok Prohaska Vyzpalek Zemlinsky Debussy Mahler Schönberg Mahler
Stimmen Stimmen Stimmen Stimmen Stimmen Partitur, Stimmen Schönberg Originalpartitur und diverse Stimmen Partitur, Stimmen, diverse Originalstimmen div. Orig. Stimmen Orig. Part. u. div. Stim. Orig. Part. u. div. Stim. Orig. Part. u. div. Stim. 2 Exemplare Klav. Ausz. [Seite 6] Taschenpartitur Suk ″ Ravel ″ Brahms ″ Reger ″ Honneger [!] Partitur Schönberg ″ u. Stimmen Reger Strawinsky Partitur u. Stimmen
Busoni
Wappenschild f. kl. Orchester ″ Sehnsucht Nie ward ich Herrin müd Voll jener Süsse Wenn Vöglein klagen op. 6, Nr. 1, 3, 4 op. 8, Nr. 1, 5, 6 Quartett, op. 31 Daphis und Chloe Klavierkonzert B Serenade, op. 141 Quartett Kammersinfonie Rom. Suite f. Kammerorchester Berceuses du chat Pribaouthe [!] Berceuse elegriaque [!] für Kammerorchester
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Hartmut Krones
Partitur u. Stimmen
Mahler
Part. u. Stimmen
Reger Schönberg Debussy
Partitur, Stimmen
Zemlinsky
Lieder eines fahrenden Gesellen für Kammerorchester Klavierkonzert Herzgewächse L’Après midi d’un faun für Kammerorch. Die Mädchen mit den verbundenen Augen Und kehrt er erst [!] heim 5 Orchesterstücke f. Kammerorchester Rom. Suite 23. Psalm für Kammerorchester VII. Sinfonie für Kammerorchester Jeux Passacaglia op. 5 Klavierkonzert G dur Violinkonzert Klarinetten Quintett, op. 146 Streichquintett II. Streichquartett D moll Quartett
″ ″ Partitur Schönberg Part. u. Stimmen Reger Part. u. Stimmen Zemlinsky Part. u. Stimmen Bruckner Taschenpartitur Debussy ″ (2 Exempl.) Sekles ″ (4 ″ ) Webern ″ Beethoven ″ ″ (2 ″ ) Reger Braun ″ (2 ″ ) ″ Zemlinsky ″ Schönberg [Seite 7] Taschenpartitur Mahler Lied von der Erde ″ IV. Sinfonie ″ Reger Rom. Suite ″ Bartok Quartett op. 7 ″ Reger Streich Trio A moll ″ Brahms Violinkonzert ″ Weingartner Streichquartett D dur ″ Novak Streichquartett ″ Brahms Doppelkonzert ″ Kodaly Quartett op. 2 --------------------------------------------Reger Katalog Manuskript eines Vortrages Schönberg Jakobsleiter Merker XII. Jahrgang, Heft 11 2 Exemplare Wellesz Schönberg Chesterian, Oktober 1922 Stefan Neue Musik Komödie I. Jahrgang, Nr. 4 Chorstimmen: 4, 7, 8, 6 Webern Entflieht auf leichten Kähnen Chorstimmen Zemlinsky 23. Psalm [Seite 8] Chorpartitur Webern op. 19, 2 Lieder ″ op. 2, Entflieht auf leichten Kähnen
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
kleine Partitur Partitur Chorpartitur Ges. u. Klav. ″ ″ ″ ″ ″ 3 Exemplare Ges. u. Klav. ″ ″ ″ Partitur Ges. u. Klav. ″ Ges. u. Klav.
Janacek Schönberg
Krenek Webern
Ges. u. Kl. Partitur
Eisler H. Webern
Ges. u. Kl. ″ ″ Partitur Ges. u. Klav. ″ ″ ″ ″ Klav. Aus. Cello u. Klav. Viola u. Klav. Cello u. Klav V. u. Kl. [Seite 9] V. u. Kl. 2 Kl. u. V. V. u. Kl.
Szymanowski Krenek Schönberg Krenek Berg Milhaud Berg Webern Milhaud Bartok Webern Schönberg Berg Bartok Szymanowski Schönberg
Sinfonietta 4 Stücke für gem. Chor op. 28, 3 Satiren Natur Wappenschild Sehnsucht Nie ward ich Herrin müd’ Voll jener Süsse Wenn Vöglein klagen Texte op. 14 Ich darf nicht ″ In diesen Wintertagen op. 12 Jane Grey ″ Der verlorene Haufen op. 20 Herzgewächse op. 15 15 Gedichte aus George „Buch der hängenden Gärten“ op. 20 Herzgewächse op. 62, Reisebuch aus den oesterreichischen Alpen in 4 Heften op. 16, 5 Canons für Ges. Klar. u. Bassklar. op. 11, Zeitungsausschnitte op. 18, 3 Lieder f. Ges. Es-Klar. u. Guitarre Streichquartett op. 46, Slopiewni [!] Nachtigall op. 48, O Lacrymosa op. 29, Suite f. Klav u. 6 Instrum. op. 67, Durch die Nacht Der Wein 7 frühe Lieder Zionshymne Israel lebt 3 Bruchstücke aus Wozzek [!] op. 11, 3 kl. Stücke Konzert f. Viola u. Orch. I. Rhapsodie op. 7, 4 Stücke Sonate n. d. Bläserquintett op. 26 Kammerkonzert Sonate II op. 36, Sonate III D moll op. 33a Klavierstück op. 25 Suite f. Klav.
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Hartmut Krones
2 ms 2 ms ″ ″ ″ 2 Kl. 4 ms G. u. Kl. ″ ″ kl. Partitur Partitur Partitur ″ ″ ″ kl. Partitur ″ ″ Partitur ″ ″ ″ ″ ″ ″ [Seite 10] Partitur ″ ″ ″ ″ Kl. A. m. T. ″ Partitur Studienpartitur Klav. Ausz. Partitur
Satie Haba Eisler H.
Jack In The Box op. 16, Suite Nr. 3 f. Vierteltonklavier op. 3, 4 Klavierstücke op. 1, Sonate f. Klav. 9 kl. Stücke I/III Bartok Im Freien Klavierkonzert Gerhardt [!] 6 katal. Lieder Krenek Wechsellied op. 71 Gesänge des späten Jahres, 5 Hefte Casella Serenata Webern op. 5, 5 Sätze Str. Quar. Szymanowski Streichquartett II Berg Streichqaurtett op. 3 Bartok III. Streichquartett op. 24, Serenade Jemnitz Webern op. 9, 6 Bagatellen f. Streichquartett Milhaud 6 Pastorales Janacek Kinderreime, Ausgabe f. 1 Stimme oder 2 bis 3 Soli mit Klav. u. Va. ″ ″ Krenek Sinf. Musik 5 Sinfonien Milhaud Webern Passacaglia 5 Stücke f. Orchester op. 21, Sinfonie Bach-Schönberg 2 Choralvorspiele Berg Hauer Schreker Hauer Bach-Schbrg. Schönberg
Berg Schönberg
3 Bruchstücke VII. Suite, op. 48 Suite f. grosses Orchester op. 53, Wandlungen Präludium und Fuge Erwartung Glückliche Hand ″ Pelleas und Melisande Wozzek [!] Erwartung
Partituren aus Wr. Philharmonischen [!] Verlag: Berg Lyrische Suite f. Streichquartett Bartok Tanzsuite Krenek V. Streichquartett, op. 65 Schönberg Kammersinfonie ″ III. Streichquartett, op. 30
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
Szymanowski Webern Klavier 2 ms von:
[Seite 11] Klavier 2 ms von:
Streichquartett, op. 37 Streichtrio, op. 20
Bartok
Esquisses Kinderstücke, 2 Hefte Jemnitz 17 Bagatellen 2 Sonatinen, 2 Hefte Romero Suite Petrzelka Klavierstücke Amade Fantasie Reger Episoden, 2 Hefte 12 Lieder f. Harmonium gesetzt Bach-Variationen Duhas [!] Variationen Rameau Vomacha [!] Hledani [Vomacka] Finke Gesichte Szantho Contractes Finke Marionetten Aurée [Auric] Pastorale Adieu New York Bartok Rum. Volkstänze Novak Exotokon [!] [Erotikon] Bartok Weihnachtslieder Suite op. 14 Nénies Bagatellen Etuden Bauernlieder [seitlich eine handschr. Anm.: Webern fehlen Vc Stücke]
Poulenc Szymanowski Suk Novak Debussy Milhaud Finke Haba Honegger Debussy Reger Debussy
Bestiarre [!] 3. Sonate Vom Mütterchen Pan Weihnachtsgesänge Children and Corner [!] Printemps, 2 Hefte 3 Klav. Stücke (handschriftlich) Klavier Sonate 7 kurze Stücke Images 6 Intermezzi 2 Hefte Estampes 2 Hefte
1 Paket tschechische Noten
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Klavier 4 ms von: 2 Exemplare ″ ″ ″ ″ ″ ″ ″ ″
2 Exemplare ″
Liszt Scriabine Reger Strauss Bartok Mraczek Debussy Reger Strauss Strauss Reger Strawinsky Schmidt Suk Durey Debussy Reger Schreker Ravel Mahler
Klavierkonzert Poème de l’extase f. 2 Klav. Prometheus Mozart Variationen Don Quixote Rhapsodie Max und Moritz La mer Introd. Pass. u. Fuge Symph. domestica Alpensinfonie 6 Stücke, op. 94 3 pièces faciles 5 ″ ″ II. Sinfonie Sommermärchen 2 Pièces Nocturnes, 3 Hefte Beethoven-Variationen Vorspiel zu einem Drama Daphnis und Chloe VI. Sinfonie
--------------------------------------------------------------------------------------------------In case U. E. 23, 546 Piècen value Dollar 223.90 ---------------------------------------------------------------
Der Wert der Sendung wurde für den Zoll angegeben. – Vorausgegangen sind dieser Liste eine handschriftliche Aufstellung Erwin Steins (Abbildung 2) sowie eine maschinschriftliche zweiseitige Liste, die von „Brahms Kammermusik“ bis „Hauer Hölderlinlieder 12 Hefte“ reicht. Ihre erste Seite ist zweispaltig (Brahms Kammermusik bis Schönberg Fünf Orchesterstücke), dann erwiesen sich einerseits wohl die nächsten Einträge als für eine Spalte zu breit, andererseits wollte Stein wahrscheinlich die unterschiedlichen „Bibliotheken“ Schönbergs durch ihre Plazierung auf verschiedenen Seiten kenntlich machen, sodaß er diese Aufstellung nicht fortsetzte. Schönberg hat Stein nach Erhalt der Sendung „lieb“ geantwortet, doch ist uns dieser Brief nicht erhalten; wir wissen von ihm nur durch Steins Antwort vom 2. Mai 1934: „Vielen Dank für Ihren lieben Brief. Die fehlenden Noten von Ihnen und Webern lasse ich Ihnen noch nachschicken. Ich schreibe Ihnen bald ausführlich; [...].“
Die nächste Erwähnung der „Bibliothek“ findet sich in einem Brief Schönbergs an Alfred Kalmus vom 28. November 1934:
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
Abbildung 2: Erwin Steins erste, handschriftliche Aufstellung der Noten in den „Schönberg-Bibliotheken“, Seite 1.
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Hartmut Krones
„In der Notenkiste, die Sie mir vor einem halben Jahr geschickt haben (meine Privatauf. Bibliothek und die kleine Schülerbibliothek) habe ich folgende Werke von mir nicht vorgefunden und bitte Sie, mit gelegentlich je ein Exemplar zu senden: 1. Friede auf Erden 2. Klavierstücke op 11 3. ″ 19 4. Variationen für Orch. 5. Orch.Lieder op 22 6. Harmonielehre 7. Gurrelieder Klav.Ausz 8. ″ Grosse Partitur 9. ″ Facsimilierte Partitur
In der mit 18. Dezember 1934 datierten Antwort von Alfred Kalmus lesen wir dann, daß die „verlangten Werke“ wunschgemäß zugesandt würden, daß man aber von Friede auf Erden erst „ein Exemplar besorgen“ mußte, „da es nicht unser Verlag ist“. Schönbergs Dank vom 14. Jänner 1935 fiel dementsprechend ausführlich aus: „[...] Des Weiteren bestätige ich mit Dank den Empfang der Noten, und zwar von meinen Werken: Gurrelieder Partitur und Kl.A., Friede auf Erden, Variationen (Part) und Harmonielehre: ferne [!] Bergs Symph. Stücke, eine fabelhaft schöne Partitur und ein grossartiges Stück, über das ich Berg noch schreiben werde.“
Bis zu der oben zitierten Briefkarte Schönbergs vom 17. März 1938 hören wir nun nichts mehr von Bibliotheks-Wünschen des Komponisten, und nach der kurzen Antwort der Universal-Edition (vom 1. April) sowie der Partituren-Bestellung Schönbergs vom 21. April 1938 berichtete der Verlag am 10. Mai, inwieweit er dessen Wünsche erfüllen konnte: „Sehr geehrter Herr Professor ! Wir danken bestens für Ihr freundl. Schreiben vom 21. April und haben Ihre Bestellung laut der beiliegenden Fakturen mit Autorenrabatt ausgeführt. Leider war es nicht möglich alles gebunden zu liefern, sondern wir mussten teilweise broschierte Ausgaben senden. Einige Werke sind derzeit gänzlich vergriffen. Wir bitten uns den Gesamtbetrag der Lieferung per RM 162,23 nach Empfang der Sendung zu überweisen. Es sind im ganzen 12 Kreuzbänder. Auf Ihre freundl. Anfrage bezüglich der deutschen Ausgabe Ihres Lehrbuches der Komposition müssen wir erwidern, dass wir für die Herausgabe leider nicht in Betracht kommen. Wir danken Ihnen aber jedenfalls verbindlich für Ihr Angebot. In vorzüglicher Hochachtung [Stempel:] Universal-Edition Actiengesellschaft [hs.: Winter] [hs. Nachsatz:] Sehr verehrter, lieber Meister Schönberg
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
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für Ihre freundlichen Grüße herzlichen Dank. Hoffentlich geht es Ihnen und den Ihren sehr gut. Mit besten Wünschen und Grüßen Ihr stets ergebener Hugo Winter“
Die inzwischen weitestgehend „arisierte“ Universal-Edition12 verzichtete also „leider“ auf das angebotene „Lehrbuch der Komposition“13 ihres wohl bedeutendsten Autors, wobei diese Haltung ja keine „eigene“ bzw. freiwillige, sondern eine von den neuen Machthabern aufgezwungene war. Angesichts des „Anschlusses“ Österreichs an das von den Nationalsozialisten beherrschte Deutsche Reich erklärte Schönberg der Universal-Edition in seinem Brief vom 16. Dezember 1938 dann auch, warum er zögere, neue urheberrechtliche Verträge mit dem Verlag zu unterschreiben: „[...] ich muesste eine Zusicherung bekommen, ob Sie nach den deutschen Gesetzen berechtigt sind, mir diese mir zukommenden Betraege in Bar auszuzahlen und ob Sie eine bindende Verpflichtung darueber einzugehen in der Lage sind. Ich wuerde eventuell hiezu den Vorschlag machen, dass Ihre amerikanische Vertretung mir die auf Grund meines Vertrages zustehenden Betraege halbjaehrlich verrechnet und auszahlt14. Ich erbitte Ihre Auesserung hierueber. Der dritte Grund ist, dass ich besorgt bin, ob mein Vertrag durch Sie im Sinne eines solchen Vertrages ausgeuebt werden kann. Ich muss jedenfalls zur Kenntnis nehmen, dass Sie kaum diejenige Propaganda fuer meine Werke zu entfalten in der Lage sein duerften, welche ein Komponist staendig benoetigt. Ich koennte mich damit bescheiden. Aber ich bin im Zweifel, ob die Gesetze es Ihnen erlauben wuerden, Neudrucke meiner Werke auszufuehren, sobald die alten Vorraete vergriffen sind. Ich habe das Gefuehl, dass meine ersten Werke im Handel nicht mehr erhaeltlich sind. Wenigstens koennen hiesige Musikalienhandlungen sie nicht beschaffen. Sie werden begreifen, dass ich deshalb zoegere und ich wuerde deshalb gerne von Ihnen eine verbindliche Auskunft erhalten, ob Ihr Interesse an meinen Kompositionen ein solches ist, wie ein Komponist voraussetzen muss, wenn er die Fruechte jahrelangen Arbeitens aus der Hand giebt. Ich meine, ich moechte gerne wissen, welches Interesse Sie eigentlich dar-
12 13
14
Zur Geschichte dieser „Arisierung“ siehe Hartmut Krones, „Die Arisierungsbestätigung ist nun eingelangt ...“. Die Universal-Edition im Jahr 1938, in: ÖMZ 56 (2001/8–9), S. 20–26. Es handelt sich hier höchstwahrscheinlich um Schönbergs Fundamentals of Musical Composition, ASSV 2.2.1., die 1967 von Gerald Strang und Leonard Stein in London herausgegeben wurden [deutsch als: Arnold Schönberg, Grundlagen der musikalischen Komposition, ins Deutsche übertragen von Rudolf Kolisch, hrsg. von Rudolf Stephan. 2 Bde., Wien 1979]. Laut der Erinnerung von Gerald Strang arbeitete Schönberg an diesem Lehrbuch von 1937 bis 1948. Das von Julia Bungardt und Nikolaus Urbanek unter Mitarbeit von Eike Feß, Hartmut Krones, Therese Muxeneder und Manuel Strauß erstellte Verzeichnis sämtlicher Schriften Arnold Schönbergs (Arnold-Schönberg-Schriften-Verzeichnis, ASSV) befindet sich in folgendem Band: Hartmut Krones (Hg.), Arnold Schönberg in seinen Schriften. Verzeichnis – Fragen – Editorisches (= Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg, hrsg. von Hartmut Krones, Bd. 3), Wien–Köln–Weimar 2011, S. 331–568. Das Wort „auszahlt“ ist gesperrt geschrieben.
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Hartmut Krones
an haben, mein Copyright zu besitzen, falls die Gesetze Ihnen dessen Benuetzung verbieten. [...] Ich verbinde diese Gelegenheit zu fragen, ob Sie bereit sind, mir einige Freiexemplare meiner Werke zu senden, welche ich hauptsaechlich zu Geschenken an oeffentliche Studenten-Leihbibliotheken zu verwenden beabsichtige. Ich hoffe recht bald Ihre freundliche Antwort zu erhalten und wuensche herzlichst, dass sie mich befriedigt. Hochachtungsvoll [hs.:] Arnold Schoenberg“
Die UE konnte dann in ihrem Brief vom 10. Jänner 1939 Schönbergs Bedenken zerstreuen, sodaß er die Verträge unterzeichnete und dem Verlag am 30. Jänner übersandte: „[...] Besonders wichtig ist nun allerdings die Frage, ob und wielange die Gesetze ein [!] solche Behandlung gestatten werden. Ich muss wohl oder übel erklären, dass die selbstverständliche Voraussetzung für die Ueberlassung so schwerwiegender Rechte die Einhaltung der vertraglichen Bestimmungen ist. Und unter dieser Voraussetzung geschieht es, dass ich Ihnen beifolgend die unterzeichneten Papiere zur Erneuerung des Copyrights sende. [...] Ich weiss selbstverständlich nicht, ob es noch Leute gibt, die sich meiner freundlich erinnern – sollte ich die nicht grüssen?“
Bald darauf, am 28. Februar 1939, kam Schönberg wieder auf seine Bitten um Noten zu sprechen: „In Ihrem Brief vom 10. I. waren Sie so freundlich, mir auf mein Ersuchen mitzuteilen, dass Sie mir Freiexemplare meiner eigenen Werke zu senden bereit sind. Da ich aber auch noch einiges aus Ihrem klassischen Katalog benötige erwähne ich alles, um was ich Sie bitte, in der folgenden Liste: Beethoven Brahms Schubert ″ ″ ″ Haydn je 3 Exemplare von
Saemtl. Klaviersonaten (Schenker, 4 Bde) 3974 etc Klavierwerke (Steuermann) 2101/3 2257/58 2260 2211 2277 2267 2294 2354/55 2111 Streichquartette Philharm. 351 353 355 352 Streichquintett ″ 354 Forellenquintett ″ 375 Oktett 356 10 beruehmte Streichquartette Philh. 137 von meinen Werken erbitte ich Harmonielehre 2. Streichquartett Phil 229 3. Streichquartett 228 Suite op. 29 UE 8685 Orchesterlieder op 22 ″ 6060 Von Heute auf morgen Klav Auz UE10545 Ich möchte auch gerne die Partitur haben, finde sie aber nicht im Katalog
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
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Desgleichen finde ich nicht meine Vier Stuecke für Chor und die Satiren. Bitte auch diese zu senden. Bitte senden Sie diese Noten so, dass ich keinen Zoll dafuer zahlen muss. Vielleicht in lauter einzelnen Paketen und in abgemessenen Abstaenden. [...]“
Die Antwort der Universal-Edition vom 15. März 1939 besagte dann, daß Schönberg „die gewünschten Werke als Freiexemplare in einzelnen Paketen“ zugehen würden, „damit Sie keine Zollschwierigkeiten haben“. Und als „P.S.“ ist die folgende Mitteilung angefügt: „In der Beilage erhalten Sie pro forma Faktura über die Ihnen in Abständen zugehenden Noten, sowie Porto-Faktura, in zwei Exemplaren. Den Betrag von RM 16.20 haben wir Ihrem Konto belastet. Die U.E.Nr. 3975 (Beethoven) ist derzeit vergriffen und kann Ihnen daher nicht geschickt werden. Die pro formaFakturen sind, entsprechend den Paketen numeriert. In den Paketen finden sich ebenfalls die bezüglichen Faktura.“
Als Schönberg dann den ersten Teil der Noten erhielt, zeigte er sich (am 24. April 1939) erstaunt, daß er die Exemplare seiner eigenen Kompositionen bezahlen sollte, und er sandte einen wohl ostentativ in englischer Sprache gehaltenen Brief an den Verlag: „Kindly excuse my writing in English. I am too busy to write myself. [...] Today I first want to thank you for sending me the music I ordered. But I think a number of the packages must be delayed, and I hope they will soon arive. From the bills I saw, I observed to my astonishment that you charge me for my own works. It was an agreement with Mr. Herzka that I get copies without charge. As I am not selling them, it would be awkward for me to pay for them. The reason I need them is that I was pursuaded by requirements of students to make donations of my works to a number of public libraries. On account of the present depression here, the public libraries are not in a position to buy modern music. But they assure me that it would stimulate musicians to buy my works if some of them are available in libraries. As a proof of this, I send you the enclosed newspaper clipping. By the way, you even charge me for my opera ,Von Heute Auf Morgen‘, which is my property, for which I paid not only the printing expenses but also those of the lawsuit I lost. Please be so kind as to rectify this matter.“15
15
Ein dem Brief beigelegter Zeitungsausschnitt berichtet, daß Schönberg seine Werke in Übereinstimmung mit seinen Verlagen der University of Los Angeles übergeben werde, an der er selbst unterrichte. Und weiter: „U.C.L.A. will be one of a few universities in the United States to possess all of the modern composer’s works when the complete collection is compiled. Schoenberg’s works comprise selections for the piano, vocal selections, string quartet arrangements, and orchestrations.“ (Schoenberg’s Works Given to U.C.L.A., in: Los Angeles Times, April 13, 1939).
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Hartmut Krones
Die Universal-Edition beeilte sich nun, Schönbergs Mißverständnis aufzuklären, und Hugo Winter sandte ihm am 12. Mai 1939 folgende Briefkarte: „Sehr geehrter Herr Schönberg! Wir bestaetigen den Erhalt Ihres Schreibens vom 24. April, aus dem wir aber ersehen, dass Sie unseren Brief irrtümlich aufgefasst haben. Die Sendung an Sie ging ja gratis, daher unsere Bemerkung über die pro forma-Faktura, die wir nur der Einfachheit halber sandten, damit Sie nicht etwaige Zollschwierigkeiten haben. Lediglich die Portokosten wurden Ihnen belastet. Also nochmals, die Exemplare wurden Ihnen nicht belastet, die pro formaFaktura ist nicht als Faktura zu werten, sondern wir pflegen solche Fakturen für Gratissendungen zu schicken, damit die Empfänger keinen Zoll zu bezahlen haben.“
Am 18. November 1939 bestellte Schönberg dann bei der Universal-Edition Noten eigener Werke für die „University of California at Los Angeles, Education Building, Room 310, Westwood“: UE 3662 Verkl. Nacht Partitur 5 Exemplare ″ 3663 ″ ″ Stimmen 1 ″ ″ 7669 opus 29 5 ″ ″ 3668 Gurre/Klavier Auszug 5 ″ ″ 2679 ″ Orchester Partitur 2 ″ ″ ″ Facsimile Partitur 3 ″ Ferner 2 bis drei Exemplare aller Lieder und Gesänge, für welche sich die Studenten augenblicklich sehr interessieren.
Nach einer kurzen Nachfrage vom 14. Februar 1940, ob die Universal-Edition den Brief mit der Notenbestellung erhalten hätte, bedankte sich Schönberg schließlich am 4. August 1940 für die Erfüllung seiner Bitte: „Ich möchte noch diese Gelegenheit benützen, um Ihre letzten Notensendungen an die University of California zu bestätigen und hiefür Dank zu sagen. Wenn Sie noch einige meiner Werke senden könnten so wäre das hier sehr erwünscht. Denn Noten aus Wien beginnen knapp zu werden. Insbesondere wären Stimmen der Kammermusikwerke sehr nötig, da Associated Publishers in New York merkwürdigerweise vielfach geantwortet haben, dass sie die betreffenden Werke nicht mehr haben. Auch die Partituren fehlen. Insbesondere denke ich hiebei an die Stimmen der Suite op. 29, UE 8585 und an die Stimmen des Pierrot. Hoffentlich geht dieser Brief nicht wieder 10 Wochen, denn ich warte schon mit Spannung auf das Eintreffen.“
Die University of California war allerdings mit der Bezahlung säumig, und so erging an Schönberg am 27. Dezember 1940 die Bitte um Intervention. Gleichzeitig entnehmen wir diesem Brief einen Hinweis auf die verschärften Devisen-
„Ich möchte gerne einige Philharmonia Partituren [...] kaufen .“
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Bestimmungen des „Dritten Reiches“, die nicht zuletzt Zahlungen an „NichtArier“ zu verhindern trachteten: „Wir haben im Februar 1940 auf Grund Ihres Auftrages vom 18. November 1939 an die University of California, Los Angeles, Ihre Werke im Fakturenbetrag von RM 327.05 geliefert. Den Empfang der Sendung bestätigten Sie uns im August 1940. | Da unsere Rechnung noch unbeglichen ist, schreiben wir gleichzeitig an die Universität und bitten auch Sie zu veranlassen, dass uns der Fakturenbetrag überwiesen wird. Eine eventuelle Verrechnung mit Beträgen, die wir Ihnen in Zukunft gutschreiben können, ist wegen unserer Devisenbestimmungen nicht möglich.“
Ob die University of California die Rechnung bezahlt hat, geht aus dem weiteren Schriftverkehr nicht eindeutig hervor, doch scheint eine Briefkarte der UniversalEdition an Arnold Schönberg vom 8. August 1941 darauf hinzuweisen, daß der Komponist die Forderung mit seinen Tantiemen gegenverrechnen wollte. Die im Zuge des Zweiten Weltkrieges verschärften Devisenbestimmungen des von den Nationalsozialisten regierten Deutschen Reiches ließen dies allerdings nicht zu: „Wir erhielten am 4. August von der STAGMA die Mitteilung, dass sie auf Grund der bestehenden Bestimmungen von der ihr vorgesetzten Stelle die Genehmigung zur Ueberweisung Ihres Guthabens an uns nicht erhalten hat, mit der Begründung, dass Warenforderungen mit Urheberrechts-Tantiemen nicht beglichen werden können.“
Auch die „normalen“ Geschäftsbeziehungen der Universal-Edition mit den USA waren inzwischen offensichtlich eingeschränkt, wie wir dem Brief Schönbergs vom 10. August 1941 entnehmen können: „Können Sie nichts dazu tun, dass Exemplare meiner Werke hier käuflich sind ? Das ist wirklich sehr arg für mich. Z. B. die reduzierte Ausgabe von Pelleas und den Gurreliedern ist nicht hier und ich habe dadurch schon einige Aufführungen und ein Dirigierengagement verloren.“
Die Universal-Edition sandte Schönberg dann zwar laut einem Brief vom 1. November 1941 „einige Exemplare der von Ihnen gewünschten Stücke“, doch durch die Übernahme des Verlages durch Johannes Petschull im Oktober 1941 sowie nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 wurde die Situation bekanntlich immer problematischer, ehe sie sich 1945 durch das Ende des Zweiten Weltkrieges wieder zu normalisieren begann. Von den „Schönberg-Bibliotheken“ ist in dem ab 1946 wieder verstärkt einsetzenden Briefverkehr aber nicht mehr die Rede. Im Zusammenhang mit Schönbergs Bemühungen, sich seine „Bibliotheken“ in die USA nachschicken zu lassen, ist von Interesse, daß er in seinem amerikanischen Exil nach wie vor bemüht war, Musikstudenten mit Partituren der klassischromantischen „Meisterwerke“ zu versorgen. Auf diese lebenslangen pädagogischen Intentionen ging schon die 1924 geplante Gründung einer „Schönberg-Bibliothek“
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Hartmut Krones
zurück, und bereits Ende 1938 erscheinen diese Bemühungen erneut dokumentiert, wie ein Brief vom 12. Dezember 1938 an Carl Engel, „President G. Schirmer, Inc.“, ausweist (als „Betrifft“ ist „The Students Private Library“ angegeben): „Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie meine Idee eine billige Ausgabe von erzieherisch wichtigen musikalischen Werken zu veranstalten so interessiert hat, dass Sie mich fragten ob ich die Stelle eines Editors übernehmen würde. Ja, falls Sie das wirklich unternehmen wollten, würde ich mit Freuden dabei sein. Ich weiss nicht, ob ich Ihnen diese Liste mit allen ihren Möglichkeiten und Varianten dargestellt habe und möchte auch jetzt nur das Wichtigste skizzieren: [...] eine Lese* [!] und Studierbibliothek (mitlesen in Konzerten, beim Anhören von Records etc) [...] Druck so klein, dass er Billigkeit garantiert, aber Benützung zum Spielen nicht ausschliesst. [...] Die Auswahl der aufzunehmenden Werke sollte von erzieherischen Gesichtspunkten aus getroffen werden. Ich denke es wäre praktisch 3, 4 oder mehr Gruppen, die einander sinnvoll kompletieren [!] zu bilden. Jede Gruppe würde etwa 30 Werke umfassen [...] und sollte einzeln abgegeben werden. [...] Man könnte als eine der späteren Gruppen auch moderne und zeitgenössische Musik anschliessen, wofür man wahrscheinlich ohne Schwierigkeit das Interesse der respektiven Originalverleger für einen solchen Massenabsatz finden könnte. [...] Alle Universitäten sollten aufgefordert werden ein oder mehrere Kopien jeder Gruppe in ihre Bibliothek aufzunehmen. Ebenso alle Musikschulen. [...]
Als Beispiel für die „erste Gruppe“ gab Schönberg Werke von Bach (Wohltemperiertes Klavier, Suiten), jeweils Klaviersonaten, Streichquartette und Symphonien von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, Lieder von Schubert und Schumann, Lieder ohne Worte sowie Symphonien von Mendelssohn, Klavierwerke von Schumann und Brahms (von ihm auch Streichquartette und Symphonien), „eventuell“ Symphonien von Bruckner und Tschaikowsky sowie „vielleicht etwas Opernmusik und zwar wahrscheinlich am besten am besten als Klavierauszug mit Text)“: Wagner Meistersinger und Tristan, Beethoven Fidelio, Mozart Figaro und Zauberflöte, Verdi Aida, Auber Fra Diavolo, Bizet Carmen. Die Ausgaben sollten auch gut ausgewählte historische Fakten beibringen und eventuell kurze Analysen (wenn es die Ausgaben nicht zu sehr verteuert). – Schönberg hat zu dieser „Students Music Library“ auch einen Gesamtentwurf erstellt: The General Outline of the Student’s Music Library Foundation. Die Hauptpunkte lauten: „I. Aims | II. Organisation | A. Personnel | B. Financial organization | C. Organisation of Library Proper | 1. Location | 2. Library procedure | 3. Contents of Library | 4. Library equipment“
Auch diese Bibliothek kam nicht zustande.16 16
Der Durchschlag des Briefes an Engel (die Unterstreichungen sind original) befindet sich in der „Library of Congress“ (Anm. 3), eine Kopie davon sowie das Original von The General Outline of the Student’s Music Library Foundation bewahrt das Wiener Arnold Schönberg Center (Sign. T73.09). Der Autor dankt dessen Archiv-Direktorin Therese Muxeneder sowohl für diese Hinweise als auch für mannigfaltige Unterstützung bei der Benützung des Archivs.
ROBERT DACHS (Wien)
Nicht „Lebwohl“ und nicht „Adieu“ ... Zur Vertreibung der „Leichten Muse“ Angesichts der allgemein bekannten Schicksale von „Ernsten“ Komponisten wie den Emigranten Arnold Schönberg, Hanns Eisler, Egon Wellesz und vielen anderen oder gar Ermordeten wie Erwin Schulhoff, Viktor Ullmann oder Gideon Klein wird sehr oft vergessen, daß auch zahlreiche Meister der „Leichten Muse“ ähnliche Schicksale erleiden mußten. Auch in vorliegendem Band wird in erster Linie der Komponisten der „Ernsten Musik“ gedacht. Um hier einen zumindest kleinen Ausgleich zu schaffen, soll im folgenden auf die Leidenswege einiger der wichtigsten Vertreter dieser Richtung aufmerksam gemacht werden. Paul Abraham Eines Nachts auf der Madison Avenue, in der Nähe des Broadways, wird ein sehr dünner Mann, unrasiert, aber mit eleganten schneeweißen Handschuhen von Polizisten von der Straßenmitte weggeführt. Dort hatte er, den Verkehr gefährdend, ein imaginäres Orchester dirigiert. Sein Blick und seine Gestik wirken geistesverwirrt. Er wird in die psychiatrische Abteilung des Bellevue-Hospitals gebracht. In seinem ungarischen Paß steht: Abrahám Pál. „Während minder begabte, aber ,arische‘ Komponisten, wie etwa Fred Raymond, seinen Typus der luxuriösen Schlageroperette schlecht und recht kopierten“,
so Volker Klotz in seinem Buch Operette1, „mußte Abraham emigrieren.“
„…zum Abschied noch einmal die Hände ?“ Wer von den unzähligen Verehrern dieses Abrahamschen „Abschieds-Klassikers“ hat sie ihm trotz der Nürnberger Gesetze gereicht? „Paul Abraham hatte 200 Melodien ,beiseite gelegt‘. Diese unveröffentlichten Melodien hatte er in ein Geheimfach seines Schreibtisches gesperrt, sozusagen als Reserve. Als er aus Berlin floh, vertraute er sein Geheimnis seinem Diener an, an dessen Treue und Ergebenheit er keinen Moment zweifelte. Kaum war Abraham aus Berlin fort, als der ,treue‘ Diener das Geheimfach öffnete und die Melodien an minderbegabte Komponisten verkaufte. Mindestens 1
Volker Klotz, Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, München–Zürich 1991.
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Robert Dachs
zwei Dutzend Lieder, die in den Jahren des Dritten Reiches populär geworden sind, stammen aus dem Geheimfach Paul Abrahams.“ 2
Über Kuba, wo er sich als Barpianist durchgeschlagen hatte, war er nach New York gekommen. Dort blieb er mittellos, da er aus seiner alten Heimat keine Tantiemen mehr bekam. Obendrein mußte er es einfach hinnehmen, daß in seiner ehemaligen Heimat viele seiner Melodien unter anderen Komponistennamen höchst erfolgreich gespielt wurden. Über seine musikalischen Anfänge wissen wir bedauerlicherweise fast nichts. Ein einziges Interview ist uns erhalten: „Als junger, ideal veranlagter Musiker schrieb ich Streichquartette, die mir nichts eintrugen“,
hatte Paul Abraham der Wiener Zeitschrift Tonfilm, Theater, Tanz Mitte der dreißiger Jahre erzählt. „Meine schönsten Sonaten und Fugen brachten mir nicht den geringsten Lohn. Eines Tages war ich in einer Schallplattenhandlung, wo man einen fürchterlichen Schmachtfetzen spielte: ,Ich küsse Ihre Hand, Madame‘. Die Verkäuferin aber sagte mir, daß von dieser Platte schon eineinhalb Millionen Stück verkauft seien. So begann ich Schlager zu komponieren. In jede Operette schmuggle ich aber einige kleine Fugen hinein, denn ich habe immer großen Spaß, wenn nach der Premiere der eine oder andere ernste Musikliebhaber mir dafür dankbar die Hand schüttelt.“
Daß er s e h r eigenwillige Klangfarben benutzt hat, so z. B. eine Celesta und chinesische Trommeln kombiniert mit einem Xylophon, Vibraphon und gedämpften Blechbläsern, und zum Drüberstreuen eine Hawaii-Gitarre, wissen wir nur aus den alten Partituren. Die wenigsten können sich davon überzeugen, wie diese Klangfarben geklungen haben, da wir keine Aufnahmen davon haben. In der Nachkriegszeit wurde leider bei Neuaufnahmen nicht die geringste Rücksicht auf authentischen Abraham-Sound genommen, sondern mit äußerst fragwürdigem Geschmack orchestriert. Die Originalaufnahmen zwischen 1930 und 1933 sind von Abraham selbst wild-exotisch dirigiert und grandios synkopisch-jazzig gesungen von Oscar Denes, Rosy Barsony und Lizzi Waldmüller. Atemberaubend! Die „Cover-Versionen“ aus unserer Zeit sind so erbärmlich schlecht arrangiert und vorgetragen, daß sie Paul Abraham nicht als seine Kompositionen erkennen würde. „Schön war das Märchen, nun ist es zu Ende“, diese Zeile aus Abrahams Viktoria und ihr Husar hatte 1938 für ihn einen zynischen Beigeschmack – in diesem Satz lag exakt sein Schicksal. Abrahams märchenhafter Aufstieg als Komponist war nun zu Ende. Seelisch verkraftete er das nicht. In seinem New Yorker Hotelzimmer fanden ihn Freunde in der Badewanne in eiskaltem Wasser, tagträumend, halluzinierend: Er 2
Aus dem Programmheft zu Ball im Savoy, Baden bei Wien 1992.
Nicht „Lebwohl“ und nicht „Adieu“...
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erzählte ihnen, er werde eine berühmte Hollywood-Diva heiraten, und lud alle für den nächsten Tag zur Hochzeit ein. Am nächsten Morgen konnte er sich an nichts mehr erinnern. „Paul Abraham – ich sage es mit gezogenem Hut – ist ein Richard Strauss der modernen Operette, stellenweise sogar ein Strawinsky.“ 3
Hermann Leopoldi Im Laufe der zwanziger Jahre wurde Leopoldi zum populärsten Klavierhumoristen Österreichs.4 Seine Schlager spiegeln die Moden der zwanziger Jahre, sind ein interessantes Stück Zeitgeschichte, haben das Lebensgefühl seiner Zeit eingefangen wie keine anderen Lieder: I bin a waschechter Meidlinger Bua, Schön sind die Mädeln von Prag, Heut’spielt der Uridil (bis heute das einzige populäre Lied über einen „Fußballstar“); zum Sendebeginn des ersten deutschen Radiosenders im Berliner VOX-Haus schrieb Leopoldi Die schöne Adrienne hat eine Hochantenne (mit der frivolen Zeile: „Manche Maid, wenn schon Schlafenszeit, steigt ins Bettchen, empfangsbereit“). Als die „Bubikopf“-Frisur in Mode kam, komponierte Leopoldi „Jede Gnädige, jede Ledige, trägt den Bubikopf so gern“ und baute in der dritten Strophe (ein gelungenes Beispiel für damaligen jiddischen Witz) folgendes Wortspiel ein: Im Kaffeehaus „Ich muß geh’n, es ist aus, denn sonst schreit“, sagt Herr Kraus, „mein beschnittener Engel zu Haus.“
Ob er wieder einen Sohn bekommen habe, wird er gefragt; aber nein, meint Herr Kraus, es handle sich beim „beschnittenen Engel“ doch um seine Frau, die sich die Haare zu einem kurzen Bubikopf hat schneiden lassen. (Übrigens wurde in Leopoldis Bar in der Rothgasse oft ein Sketch über die Beschneidung aufgeführt, in der Hauptrolle: Hans Moser.) Leopoldi hieß mit bürgerlichem Namen Hersch Kohn, war zwar alles andere als fromm im religiösen Sinn, hatte aber unter seinen Freunden keinen einzigen Christen. Dann kam der 26. April 1938, eines der erbärmlichsten Kapitel in der Wiener Kulturgeschichte: Hermann Leopoldi wird in seiner Wiener Wohnung in der Marxergasse 25, III. Stock, Tür 29, von der Gestapo verhaftet. Er muß sein Geld und alle Wertsachen abgeben. In der Nacht wird er am Westbahnhof in einen Waggon zu anderen Häftlingen gesperrt und in Richtung Dachau abtransportiert. Beaufsichtigt von siebzehn- bis achtzehnjährigen bewaffneten, total besoffenen, sadistischen SSLeuten. Zehn Stunden lang müssen die Häftlinge, die Hände auf die geschlossenen 3 4
Neues Wiener Tagblatt, 17. Dezember 1933. Zu Leopoldis Meisterschaft, humorvolle Texte mit adäquaten musikalisch-semantischen Mitteln inhaltlich zu unterstreichen, siehe Hartmut Krones, Kabarett und Musik in den 1920er Jahren, in: Music in the twenties of the twentieth century. 23. slovenski glasbeni dnevi 2008 [Kongreßbericht], hrsg. von Primož Kuret, Ljubljana 2009, S. 216–229.
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Robert Dachs
Knie gelegt, stillsitzen und ununterbrochen ins Licht schauen, wie Leopoldi später berichtete: „Wem vor Müdigkeit die Augen zufielen, der wurde blutig geschlagen.“ Es war nicht erlaubt zu sprechen oder hinauszugehen auf die Toilette. Auf dieser Zugfahrt erlebte er, wie einem jüdischen Wiener Arzt „wegen angeblicher Eingriffe bei arischen Mädchen“, so die zynische Begründung, die Zähne eingeschlagen wurden. Wer bei dieser Zugfahrt das Pech hatte, austreten zu müssen, mußte zuerst einmal hundert tiefe Kniebeugen machen und laut dabei mitzählen. Aber selbst wenn man bis zur hundertsten Kniebeuge gekommen war, wurde grinsend erklärt, dies sei gelogen, und man mußte von vorn beginnen. Das wiederholte sich so oft, bis die Person zusammenbrach. Es gab sieben Todesopfer auf dieser Fahrt. Nach einem halben Jahr im KZ Dachau wurde Leopoldi mit vielen anderen wieder in einen Zug gepfercht – die Fahrt ging nach Buchenwald. Auf dieser Fahrt riefen SS-Männer in den Waggon, in dem schrecklich abgemagerte, menschliche Wesen zusammengepfercht waren: „Ist der Leopoldi da?“ Es waren SS-Leute aus Österreich. Sie verlangten von ihm, daß er das Fiakerlied während der Fahrt singt. Die ganze Nacht hindurch mußte er es singen, von Dachau bis nach Buchenwald. Da bei der Textstelle „A Peitschen, na des gibt’s net, Uj Jessas, nur net schlag’n“ in dieser Nacht nicht die Fiakerpferde gemeint waren, sondern alle Waggon-Insassen und er selbst, sang er dieses „Nur net schlag’n!“ mit inständigem Bitten. Im Lager Buchenwald traf er Fritz Löhner-Beda wieder und schrieb mit ihm das legendäre Buchenwald-Lied: „Mein Buchenwald, ich kann dich nicht verlassen“. Nach dem Krieg erzählte Leopoldi: „Es gab Häftlinge, die eine Armbinde mit der Aufschrift ,blöd‘ trugen. Ich erinnere mich noch an einen, der nie ein Wort sprach und alles aß, was man ihm gab. Diese Bedauernswerten waren bei Gestapo-Verhören derart gefoltert und mißhandelt worden, daß sie dabei den Verstand verloren hatten.“
Auch Leopoldis Textautor der Schönen Adrienne mit der Hochantenne und von Wie wär’s mit einer hübschen kleinen Überlandpartie, der Journalist aus Czernowitz Theodor Waldau (er verwendete als Lied-Texter die Abkürzung „Wau-Wau“), war in Wien verhaftet und nach Buchenwald deportiert worden. Seiner Frau wurde 1943 die Urne des „Schutzhäftlings Th. Waldau“ zugesandt. Da sie aus der Wohnung hatte ausziehen müssen, und die neue Adresse nicht leicht ausfindig gemacht werden konnte, wurden ihr sämtliche Kosten für die Post-Umwege berechnet. Die Interpretin von Leopoldis Schlager Spompernadln, die Sängerin Christl Giampietro, flüchtete 1938 nach Holland. Dort wurde ihr Ehemann von der Gestapo erwischt und deportiert. Sie konnte im letzten Augenblick nach Zürich fliehen. Anfang 1939 gelang es Leopoldis Verwandten in Amerika, ihn gegen Vorlage von Ausreisepapieren aus dem Lager freizukaufen. Mit dem Schiff City of Baltimore kam er in New York an: In überschäumender Freude kniete er nieder und küßte den Boden. Das Pressephoto, das ihn beim Bodenküssen zeigt, ging um die Welt, und Leopoldi war tiefgeschockt, als er später erfahren mußte, daß seine im Lager verbleiben müssenden Leidensgenossen dafür Strafexerzieren mußten.
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Oscar Straus Sein Walzertraum ging um die ganze Welt und wurde nie unmodern. Lange nach dem Ende der Donaumonarchie schrieb Anton Kuh: „Irgendwo beginnt bei jedem Wiener Mädchen die Walzertraumweise. Nicht nur beim süßen [...] und die Stenotypistin und Skimeisterin von 1930 empfindet nicht anders als das Geigenmädchen Franzi von 1900.“
Mit einem Schlag änderte sich das im März 1938, als nicht nur sämtliche Walzerträume gesetzlich verboten wurden. Oscar Straus verließ „leise, ganz leise“ die Walzerstadt. Der Librettist des Walzertraum, Leopold Jacobsohn, wurde in seiner Wiener Wohnung in der Königsklostergasse 7 verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert, wo er elend zugrundeging. Jacobsohn war Chefredakteur des Neuen Wiener Journal gewesen und nur im Nebenberuf Librettist. Er hatte für Robert Stolz (Eine einzige Nacht und Die Tanzgräfin), aber auch für Oscar Nedbal oder Bruno Granichstaedten Textbücher geschrieben. Straus konnte sich nach Amerika retten. Dort beging einer seiner Söhne Selbstmord. Ein anderer Sohn hatte nicht mehr rechtzeitig flüchten können und wurde in einem Lager ermordet. Noch kurz vor seinem Tod hat er ein Wienerlied verfaßt, von dem uns der Refrain überliefert ist: „Drunt im Prater ist ein Platzerl Rings die Bäume decken’s zu Und dort hab’ ich mit mein’ Schatzerl Alle Tage Rendesvous.“
Leo Ascher Auf dem Atlantik-Kreuzer Aquitania speisen bei einer Überquerung des großen Teiches im Jahre 1939 zwei prominente Passagiere mit am Tisch des Kapitäns: der amerikanische Cowboydarsteller Gary Cooper und der Wiener Operettenkomponist Leo Ascher, der das Wien der Biedermeierzeit wie kein anderer so poetisch vertont hat. Der eine auf der Rückreise nach Hollywood, der andere auf der Flucht in ein Land, wo er leben darf. Zu Aschers Freude kannte Cooper sogar seine Musik, da sein Lied Irgendeinmal kommt irgendwer von irgendwoher in der englischen Version als Somewhere about someone is out looking for you auch in Amerika populär war. Der dort seit langem schon lebende Wiener Kapellmeister Viktor Wagner hatte der Familie Ascher das lebensrettende „Affidavit“ geschickt. „Wir packten starren Herzens und gründlich, wie es für eine Auswanderung gehört. Wir packten auf Nimmerwiedersehen“,
erzählte seine Tochter Franzi später. Am 24. November 1938 hatten sie ihre Wiener Wohnung in der Kurzbauergasse nahe dem Prater verlassen. Sein Bruder wurde von der Gestapo verschleppt…
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„Echte, unverfälschte Wiener Musik“, hatten viele Musikkritiker seine über 30 Bühnenwerke bezeichnet, darunter so beliebte Operetten wie Frühling im Wienerwald oder das Alt-Wiener Singspiel Hoheit tanzt Walzer, das sogar am Broadway gespielt worden war und 1935 mit Hans Jaray verfilmt wurde. Das Lercherl von Hernals und In Heiligenstadt steht ein Bankerl am Bach werden heute fälschlicherweise für alte Volkslieder gehalten. Bereits 1905 war eine Wiener Musikzeitschrift über ihn voll des Lobes: „Dem 1880 geborenen Künstler ward das Glück einer gediegenen und planvollen musikalischen und wissenschaftlichen Ausbildung zuteil. Mit zehn Jahren erhielt er von dem blinden Organisten S. Storch den ersten Klavier- und Theorieunterricht. Er studierte am Wiener Konservatorium Kontrapunkt und Komposition bei [Stephan] Stocker und Robert Fuchs sowie Klavierspiel bei Hugo Reinhold und ging auch noch einige Zeit bei dem Komponisten Franz Schmidt in die Lehre.“
In New York erlag Leo Ascher 1942 einem Schlaganfall. Bruno Granichstaedten Bruno Granichstaedten war der erste europäische Komponist, der Jazz-Synkopen in eine Operette einfügte. Im Orlow war Für Dich, mein Schatz, für Dich der erste Blues in einer Wiener Operette. Bei seiner Kompositionsarbeit sahen ihm George Gershwin und Cole Porter über die Schulter. So gab es 1929 als SylvesterVeranstaltung im Theater an der Wien: Bruno Granichstaedten und die Jazzband Charles Gaudriot. Die Popularität seiner anderen Erfolgs-Operette Reklame nützte eine Wiener Glühlampenfirma und warb auf ihrem Plakat mit einem Szenenphoto aus Granichstaedtens Reklame::ein Revuegirl hält eine riesige Glühlampe wie ein Blumenbukett im Arm. In dieser und vielen anderen Granichstaedten-Operetten spielte stets Hans Moser die Komikerrollen. Er blödelte als Logenbilleteur oder als jüdischer Chef eines Reklamebüros. Auch die Operette Evelyn wurde mit Rita Georg und Max Hansen in Berlin und anschließend auch in Wien ein Riesenerfolg. Granichstaedten schrieb auch Film-Musik, so z. B. für Die Försterchristl und für den MaxOphüls-Film Die verliebte Firma. Und, last not least, sei erinnert an seine Einlage für Benatzkys Im Weißen Rößl: Zuschau’n kann i net. 1938 gelang es ihm, gemeinsam mit seiner Frau Rosalie schwimmend über die Mosel nach Luxemburg zu gelangen. Von dort flüchtete er weiter nach Amerika. Sein in New York komponiertes Musical Life of Mozart wurde nie aufgeführt. Um überleben zu können, tingelte er als Barpianist durch Nachtlokale. Er starb, völlig verarmt, am 20. Mai 1944 in New York. Erstaunlich, was er als seinen letzten Wunsch in sein Testament schrieb: „Ich möchte in Wien begraben sein.“
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Ralph Benatzky Seit über einem halben Jahrhundert denkt man bei seinem Namen an nichts anderes mehr als an das Weiße Rößl am Wolfgangsee. (Daß durch Benatzky diesem Hotel eine Werbung zuteil wurde wie keinem zweiten Hotel auf der Welt, gehört eigentlich besonders betont.) Sein Rößl war in Berlin, Wien, London, Rom, New York und sogar in Kairo ein Hit. Im Pariser „Theatre Mogador“ war es z. B. vier Jahre lang im Programm. Im „dritten Reich“ des Jahres 1934 wurde es jedoch zum Feindbild: „Unsere nationalsozialistische Staatsleitung hat schon viel zur Bereinigung der Spielpläne getan und manchen Weg zu deutscher Kunst gewiesen. Erfreulich ist die stattliche Zahl der Uraufführungen, die den Bühnen wenigstens frisches Leben, wenn auch nicht immer wertvolle Kunst zuführen. Aber vieles liegt noch im Argen, bedingt durch die Urteilslosigkeit der Theaterbesucher oder durch die Intendanten selbst, denen es um volle Kassen, aber nicht um deutsche Kunst geht. Es ist wohl der Gipfel der Verantwortungslosigkeit, wenn das deutsche Nationaltheater in Weimar noch mitten in dieser Spielzeit das ,Weiße Röß’l‘, die jüdische Kitschoperette von Benatzky, auf die Bühne zerrt. Einige Male sogar in geschlossenen Vorstellungen für die N. S. Kriegsopferversorgung. Ein widerdeutsches Gebaren ist auch das Bearbeiten von älteren Operetten, die durch Vermanschen der Handlung und durch Jazz-Zutaten in der Musik ihrer natürlichen Fröhlichkeit beraubt werden. Sie verbilden den Hörer und verführen ihn zu einer falschen Kunstauffassung. Warum muß Robert Stolz die ,Zwei Herzen im ¾-Takt‘ auch noch als ,Verlorenen Wazer‘ auf der Bühne erscheinen lassen? Ist das vielleicht Kunst? [...] Das Theater im dritten Reich ist Erziehungsstätte! Mögen alle Theaterleiter sich dessen bewußt sein und ihren Spielplan danach gestalten.“ 5
Der Verfasser dieses Artikels gibt die Schuld also vor allem den Intendanten, „denen es um volle Kassen, aber nicht um deutsche Kunst geht“. Er gibt damit aber unfreiwillig zu, daß das Publikum sich darum reißt. Am 15. Mai 1940 nimmt Ralph Benatzky Abschied von Europa und fährt mit seiner Frau Mela, genannt Kirschi, auf der MS Washington von Genua nach New York. Auf die Frage „How do you like America?“ trällerte er – nach bitteren Jahren dort – „Oh, very, very, very (Wär i) nur scho z’Haus!“ Die meisten Bühnen-Projekte, die er in den USA geplant hatte, unter anderem ein Schnitzler-Musical, waren gescheitert. „Ich sehe plötzlich die Unmöglichkeit, mich je hier durchsetzen zu können“; „20 Veronal oder so. Es ist nicht Mutlosigkeit, nur die klare Erkenntnis der La-
5
Karl Schönemann, „Deutsches Theater“, in: Zeitschrift für Musik, 101. Jg., Heft 9 (September 1934),
S. 961.
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ge“; „[...] für mich, meine Musik, meine Texte, meinen Stil, meine Art, mein Wesen – KEIN! BODEN! Es ist furchtbar traurig, aber es ist so!“ 6
Benatzky kehrte nach dem Krieg zurück und starb verbittert 1957, ohne auch nur einen Hauch seiner einstigen Beliebtheit wieder erleben zu dürfen. Fritz Rotter Über Nacht wurde er 1928 mit dem Text zu Ich küsse Ihre Hand, Madame berühmt. In kürzester Zeit wurden Millionen Exemplare davon verkauft. Bei den SchellackAufnahmen konnte man zwischen fast zwanzig Interpreten wählen. Es folgten Schlager wie Wenn der weiße Flieder wieder blüht und z. B. für Hans Moser das Wienerlied Ich hab mir für Grinzing einen Dienstmann engagiert. „Wie schreibt man einen Schlagertext?“, wurde Fritz Rotter Ende der zwanziger Jahre gefragt; seine Antwort: „Man lege sich träumend aufs Sofa hin, Man nehme eine Portion Routine, Dann blickt man sich tief in die Seele hinein Und fühlt nach zwei Stunden: es fällt mir nichts ein. Dann geht man spazieren, wenn möglich bei Nacht, Damit in der Seele der Einfall erwacht. Man schau’ in die Sterne und denke recht schnell. So findet man endlich nach langer Müh’ Zum Beispiel: ,Was machst du, Oh Hans, mit dem Knie?‘ “
Mit seiner Frau und der kleinen Tochter Susanne flüchtete Rotter nach Amerika. Seine Schwester Wanda, die als Schauspielerin am Wiener Volkstheater engagiert war, wurde dort fristlos gekündigt. Der Komponist des Millionen-Sellers Ich küsse Ihre Hand, Madame, Ralph Erwin, wurde auf seiner Flucht vor den Nazis in Frankreich verhaftet und in ein KZ verschleppt. Auch der Komponist des Schlagers Veronika, der Lenz ist da, zu dem Fritz Rotter den Text geschrieben hat, Walter Jurmann, Barpianist in Hotels am Semmering, mußte emigrieren. In den USA gelang ihm mit seiner Hymne an San Francisco sein Sprung in die amerikanische Musikgeschichte. Auch Fritz Rotter war in Amerika sehr erfolgreich, er schrieb das Bühnenstück September Affair, das in die Sammlung der Best ten plays aufgenommen wurde. Fritz Rotter starb, von Wien vollkommen vergessen, 1984 im Tessin. Robert Katscher „Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt“ (Text: Karl Farkas) und „Es geht die Lou lila“ sind in die Schlagergeschichte eingegangen. Daß sie von dem Wiener Robert Katscher komponiert wurden, das wissen von zehn Wienern elf nicht! 6
Notizen vom 9. September und 17. November 1940.
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Für den Film Episode mit Paula Wessely in der Hauptrolle schrieb er den betörend schönen „Lamourhatscher“: Jetzt müßte die Welt versinken. Ob sich Robert Katscher im März 1938 beim Verlassen seiner Heimatstadt genau das gedacht hat, werden wir nie mehr erfahren, da er in Amerika 1942 gestorben ist, ohne uns in irgendeiner Form Erinnerungen hinterlassen zu haben. Über den Menschen Robert Katscher wissen wir sehr wenig. Aus Akten geht hervor, daß er eine Rechtsanwaltskanzlei in der Wiener Himmelpfortgasse führte. Walter Reisch Der Textdichter von „Jetzt müßte die Welt versinken“ müßte jedem Wiener bekannt sein: Walter Reisch. Er schrieb u. a. für Robert Stolz „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier“ und für Willy Forst das Drehbuch zu „Maskerade“. Reisch konnte auch nach Amerika entkommen. Wenn wir auch kaum etwas über sein Leben dort wissen, wir alle kennen und schätzen seine Werke wie das mit Billy Wilder verfaßte Drehbuch zum Lubitsch-Klassiker „Ninotschka“ und den MarilynMonroe-Film „Niagara“. Seine einst in Wien geschaffenen Schlagertexte sind den Wienern heute beinahe unbekannt! Leonhard Märker Vollkommen vergessen scheint heute Leonhard Märker zu sein, der in Wien durch seinen Hit Warum lügst Du, Cherie? (umjubelt an den Kammerspielen) ein sehr gefragter Komponist für musikalische Komödien war. Im kollektiven Bewußtsein ist sein Name nicht vorhanden! Fritz Spielmann Wer könnte heute aus dem Stegreif Lieder von Fritz Spielmann aufzählen? Lediglich bei den „Schinkenfleckerln“ dämmert es vielleicht manchen. Auch er starb in New York. Die größten amerikanischen Crooner hatten Spielmann-Hits im Repertoire. Stefan Weiss Auch er ein gebürtiger Wiener, den seine Geburtsstadt vergessen hat. Über sein Schicksal ist kaum mehr bekannt, als daß er nach Amerika flüchtete und dort verstarb. In den USA und dann auch bei uns zum Hit geworden ist „Put another nickel in the nickelodeon“ („Music, music music“). Die in Wien entstandenen Stefan-Weiss-Schlager Im Hotel zur Nachtigall und Meine Beine, deine Beine unterm Tisch sind dank André Heller wieder auferstanden!
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Robert Stolz Zwischen 1933 und 1938 hatte Robert Stolz aus Berlin einundzwanzigmal Juden und politische Flüchtlinge in seinem Auto – meist in Teppiche eingerollt – über die Grenze nach Österreich geschmuggelt. Am Abend des 11. März 1938 saß er u. a. mit Robert Gilbert und Kurt Robitschek in seiner Wohnung in der Elisabethstrasse 16. In der Nacht rief sein Bruder Max an, mit dem er seit mehr als zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr haben wollte. Als eingefleischter Nazi forderte dieser ihn am Telephon auf, seine Wohnung „von der jüdischen Bagage zu säubern“, andernfalls werde die Gestapo dafür sorgen.7 Und tatsächlich klopfte sie am nächsten Morgen an seine Wohnungstür. Da war Stolz zum Glück schon in Zürich, auf dem Weg nach Paris. Am 1. November 1939 schrieb Stolz: „Ich bin heute alt und nervenkrank“; er schildert dann kurz im Telegrammstil Angstzustände und Anfälle von Atemnot und beendet den Brief mit: „Gott gebe, daß sich mein Zustand wieder verändert, denn so kann ich unmöglich weiterleben, da ich diese Anfälle nicht mehr aushalten kann! Glaube dabei zu ersticken und wahnsinnig zu werden! Erwarte jeden Moment immer wieder eine neue Verhaftung - u. diese Angst wird noch mein Ende sein!“ 8
In diesem Zustand wurde er am 30. November 1939 in Paris von den Franzosen als feindlicher Ausländer verhaftet und in das Internierungslager Colombes gebracht. An der schweren Lungenentzündung, die er dort bekam, wäre er beinahe gestorben. Nur durch die Hilfe seiner späteren Gattin Yvonne Ullrich („Einzi“) konnte er gerettet werden. Im Dezember 1939 erschien in der Nazi-Presse folgender Hetzartikel: „Da ist z. B. unser Robert Stolz! Er schrieb alberne Briefe aus Paris an ehemalige Bekannte in Berlin und Wien, in denen er versicherte, erst wieder nach Deutschland zu kommen, wenn alles wieder anders sei. In Paris trieb er sich im übelsten Emigrantenkaffee herum, in seiner Umgebung sah man die schmierigsten Juden.“
Wen die Nazis damit meinten? Menschen wie Emmerich Kálmán, Oscar Straus, Paul Abraham, Oskar Karlweis und Karl Farkas. Der Hetzartikel endet mit der Bemerkung: „Wenn Monsieur Stolz auch kein Jude ist, so wird man wohl kaum einen Unterschied zwischen seiner Handlungsweise und der seiner jüdischen Freunde erkennen.“
Nicht nur alle Lieder, Chansons, Operetten und Filmschlager von Robert Stolz wurden verboten, er selbst wurde am 28. August 1941 in Abwesenheit auf Grund 7 8
Die ganze Welt ist himmelblau. Robert und Einzi Stolz erzählen. Nach Erzählungen, Tonbändern und Dokumenten von Robert Stolz aufgezeichnet von Aram Bakshian jr., Bergisch-Gladbach 1986, S. 327. Ebenda S. 346.
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eines Sondererlasses von Heinrich Himmler „ausgebürgert“. Seine Wiener Wohnung wurde von der Gestapo in Besitz genommen. Unter dem Plafond mit Geigen und Harfen aus Stuck hausten dann Figuren wie z. B. Albert Speer. 16 Kisten mit kostbaren Manuskripten, Entwürfen zu elf Operetten, Hunderten von Liedern, Briefen (darunter viele von Richard Wagner) wurden geplündert. Stolz war inzwischen in Amerika gelandet. In einer Filmkantine in Hollywood hatte er, was man ein Alt-Wiener-Anmutungserlebnis nennen konnte: Als er der ganz jungen Marilyn Monroe begegnete, kam ihm vor, als hätte er sie schon irgendwo einmal gesehen: „Sie war das idealisierte Spiegelbild all jener Mädchen, die ich im alten Wien gekannt hatte, die Reinkarnation eines Wienerkindes der ,Belle Epoque‘.“
Emmerich Kálmán und seine Textdichter Auf den riesigen Atlantischen Ozean hinauszublicken, hatte sich Kálmán gewünscht, um die Nachrichten besser verkraften zu können, die er vor wenigen Tagen zur Kenntnis nehmen mußte: Nicht nur sein bester Freund, Alexander Grünfeld, ist in einem KZ ermordet worden, auch seine Schwestern llonka und Milike, die er sehr geliebt und die er im Kinderlied der Gräfin Mariza verewigt hatte, sind von den Nazis grausamst getötet worden. Und Kálmán schrieb in jenen Tagen: „Ich habe meinen Boden verloren und kann nur zurückschauen auf alte schöne Zeiten, es muß etwas getan werden, daß ich wieder unter Menschen gehen kann!“
Am Atlantik hoffte er, daß ihn das weite Meer irgendwie beruhigen würde. Geboren und aufgewachsen am „ungarischen Meer“, dem Balaton, war er schon als kleines Kind, oft auch nachts, heimlich am See spazierengegangen. Wenn der See im Winter gefroren war, ist er auf dem Eis spazierengegangen und hat sehnsüchtig auf den urgewaltigen Donnerklang gewartet, der das Reißen der Eisdecke von einem Ufer zum anderen ankündigte. „In solchen Nächten konnte ich nicht schlafen“, hat er als Erwachsener einmal erzählt. Jetzt, am Atlantik, starrte er wie hypnotisiert auf die Gischt der Wellen, um nur ja nicht an die Strophe in der Mariza denken zu müssen: „Schwesterlein, Schwesterlein, sollst mir fein glücklich sein. Sonnenschein hüll’ dich ein.“
Aber plötzlich starrte er ungläubig auf einen Fischer, der am Strand auf die soeben gefangenen Fische einschlug. Das Blut spritzte den Fischen aus den Augen. Mit einem Zitat aus seiner Csárdásfürstin könnte man Kálmáns Seelenzustand in dieser Situation beschreiben: „Mag ich tausend-, tausendmal auch sagen: ,Dummes Herz, so gib doch Ruh’ !‘
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Hör ich spottend es zur Antwort schlagen: Ich bin stärker, Freund, als Du!“
Er begann zu röcheln und sackte zu Boden: Schlaganfall, in der Folge Sprachlähmungen bis zu seinem Tod. Die Freude hatte nur selten sein Herz berührt. Als Kind wollte er ein Mädchen, in das er verliebt war, zum Tanzen auffordern, fiel aber zum großen Gaudium der anderen so ungeschickt hin, daß er nie mehr in seinem Leben tanzen wollte. (Vielleicht kompensierte er später die Sehnsucht danach in seiner förmlich nach Tanz schreienden Musik.) Was Bitterkeit und trostloseste Einsamkeit heißt, hat er schon als kleiner Bub kennengelernt: eines Sommers wurde er von seinen Eltern für zwei Wochen zur Familie eines Schulfreundes in die Puszta geschickt. „Ich kam nie mehr nach Hause, sah das Elternhaus nie wieder.“ Am neunten Tag erhielt er nämlich einen Brief von seinem Bruder mit der Bitte, er solle nicht mehr zurückkommen, da die Familie in Siofok aus dem Haus geworfen wurde. „Gerade als ich den Brief las, kam die Mutter meines Freundes und gab mir zu verstehen, daß ich am nächsten Tag abreisen müßte.“
Lange Zeit wußte er gar nicht, wohin! Endlich meldete sich eine Budapester Tante, die ihn zu sich nahm. In dieser Zeit begann er zu komponieren. Die Einsamkeit und eine Choleraepidemie drängten den neunjährigen Buben dazu: „Damals entstanden meine ersten Kompositionen. In langen Gesängen beschwor ich den lieben Gott, die Gefahr der Cholera zu bannen.“
Seine Musik ist zeitlos. Wer feinere Ohren hat, hört hinter seinem mitreißenden Rhythmus die grelle Einsamkeit, die ihn sein Leben lang begleitet hat. Bei Kálmán sind die Tränen salziger, ist das Lächeln immer ein Lächeln unter Tränen, seit ewigen Zeiten jüdisches Schicksal. In seiner Operette Die Bajadere hat er übrigens (in der ungarischen Version) in Fräulein, bitte woll’n Sie Shimmy tanzen? den jüdischen Glückwunsch „Bis 120“ verewigt. Und in der Wiener Fassung blödelten die Soubrette und der Buffo bei diesem Shimmy: „Früher tanzten es die Bothokuden“, um dann augenzwinkernd zu reimen: „jetzt sieht man es bei den feinsten…“ (aber statt ,Juden‘ wurde ,Leuten‘ gesungen). Emmerich Kálmán war auch als reicher Mann ein vollkommen anspruchsloser Mensch geblieben, der bei rauschenden Festen in seinem Haus am liebsten in der Küche saß und mit dem Personal plauderte. Trotz seiner Welterfolge ist er der ganz bescheidene Bub vom Plattensee geblieben. Voll Bewunderung hat er einmal bei einem Spaziergang in Grinzing auf den Friedhof hinübergezeigt und gesagt: „Hier liegt einer der größten Menschen und Musiker – Gustav Mahler.“
„Ich bin in einer schweren Nervenkrise“, schrieb er am 11. Dezember 1914 an einen Theaterdirektor, während er an der Csárdásfürstin komponierte. Es ist mehr als erstaunlich, daß jemand, der sich in einer Nervenkrise befindet, eine von unbändiger Lebenslust strahlende Musik komponiert – oder vielleicht gerade deshalb? Eine
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Stadt kann noch so unsympathisch sein, spielt man dort aber Kálmán-Musik, wird es eine schöne Stadt. Seine Csárdásfürstin ist getragen von einer wunderbaren Weltanschauung, besser noch: Weltumarmung. Das Scheitern seines Traums vom friedlichen Nebeneinander der Menschen verschiedener Klassen mußte er ein Vierteljahrhundert später durch die Nazis am eigenen Leib miterleben. Es war für ihn wie in einem absurden Alptraum: Er kam Mitte März 1938 von einem Besuch aus Budapest nach Wien zurück und fand sein Haus in der Hasenauerstraße 29 von SA-Leuten besetzt; der Anführer war ein bis vor kurzem mit ihm befreundeter Rechtsanwalt. „Sie sind Jude, Kálmán“, begrüßte ihn dieser, „jetzt kommen andere Zeiten!“ Nicht nur die SA-Leute räumten sein Haus leer, auch Kálmáns Hausangestellte stritten sich um Teppiche und Möbel. Als Kálmáns Ehefrau das Hauspersonal deshalb entlassen wollte, kam die höhnische Antwort: „Juden können uns nicht entlassen!“ Sogar der bisher so gemütlich wirkende Chauffeur zeigte sein Parteiabzeichen, das er schon seit langem versteckt unter seinem Revers getragen hatte. Bilder und Möbel aus Kálmáns geplündertem Haus landeten in Görings Villa. Wenn Juden auch als Menschen zweiter Klasse angesehen wurden, deren Eigentum galt den Nazis als erstklassig – ohne Bedenken. Wie groß Kálmáns Enttäuschung von Wien gewesen ist, danach können wir ihn nicht mehr fragen. Aus den Erzählungen seines Sohnes Charly wissen wir, in welcher Stimmung er war, nachdem die Familie Wien verlassen mußte. In der ersten Hotel-Pension, in der sie abgestiegen waren, weinte Emmerich Kálmán ohne Unterbrechung. Sein damals achtjähriger Sohn war davon sehr irritiert und fragte ihn nach dem Grund. Und da er nicht wußte, wie er das dem Kind erklären sollte, sagte er nur: „Weil Du so ein Lausbub bist.“ Wie sehr er Wien geliebt hatte, beweist seine Antwort in der Zeitschrift Die Bühne, die ihn 1928 gefragt hatte, ob ihm Wien auch in diesen düsteren Jahren gefalle: „Das Leben ist hier: langsames Sterben in Blüten, ein Sterben zwischen blühenden Bäumen. Ob das schön ist? Ich weiß es nicht. Ich liebe Wien auch dann, wenn es traurig ist, wenn es weint.“
Am 28. Juni 1939 erschien im Völkischen Beobachter der eigenartige Versuch, Kálmáns weltberühmten Refrain aus der Gräfin Mariza zu verhöhnen: „Komm Csigany, arbeit mir was vor!“ (An jeden Zug von Viehwaggons, vollgepfercht mit Juden, hat, wie wir wissen, Eichmann auch einen Waggon mit Zigeunern angehängt.) Die Menschenjagd der Nazis traf auch Kálmáns Librettisten Alfred Grünwald und Julius Brammer. Alfred Grünwald flüchtete 1938 mit seiner Familie zunächst nach Frankreich, wo er vergeblich versuchte, ein portugiesisches Visum zu bekommen. Schließlich kaufte er in einem Spielzeuggeschäft einen Drucksetzkasten für Kinder, mit dem man ganz primitive Gummibuchstaben aneinanderfügen kann. Er kopierte den Wortlaut des echten Visums und fälschte die Unterschrift des portugiesischen Konsuls. Grün-
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wald übersetzte dann in Amerika den Refrain seines einst für Robert Stolz getexteten Wienerlieds A klane Drahrerei in To be or not to be. Julius Brammer, der auch ohne Grünwald einige berühmte Schlager getextet hat, so z. B. Schöner Gigolo, armer Gigolo, dem er in diesem Lied zuruft: „Wenn das Herz dir auch bricht, zeig ein lachendes Gesicht“, starb wirklich an ,gebrochenem‘ Herzen – auf der Flucht vor den Nazis erlitt er 1943 in Frankreich einen Herzinfarkt. Von Kálmáns Csárdásfürstin-Textdichtern Leo Stein und Bela Jenbach mußte 1938 Leo Stein nicht mehr flüchten, er war seit vielen Jahren tot. Bela Jenbach (der auch viele Textbücher für Lehár geschrieben hat, so z. B. zu Der Zarewitsch oder Paganini) lebte als sogenanntes „U-Boot“ versteckt in Wien. Als er 1943 starb, wurde ihm – als Jude – die Beerdigung im Grab seiner christlichen Frau, die wenige Tage vor ihm gestorben war, verweigert. Es gibt in Bad Ischl noch den Nußbaum, unter dem er in glücklichen Tagen die Texte Machen wir’s den Schwalben nach und Joy, Mamam Bruderherz geschrieben hat. Durch die Nazi-Ausrottungsmaschinerie sind heute keine Schellack-Aufnahmen von Kálmáns Die Bajadere und Der Zigeunerprimas mehr vorhanden. Von Kálmáns symphonischem Gedicht Endre es Johanna oder seinem Orchesterwerk Saturnalia, uraufgeführt 1904 an der Budapester Oper, ist weder in Wien noch in Budapest ein einziges Notenblatt auffindbar. Angesichts seines eigenen Schicksals könnte „traurig wie Kálmán“ in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen. Robert Stolz erkannte ihn zuerst nicht, als er im New Yorker Central Park einen alten Mann auf einer Bank aus einem Papiersackerl Obst essen und „über dem Wirtschaftsteil der New York Times brüten“ sah. Und er erzählte Jahrzehnte später: „Ein großer Künstler war er, der arme Emmerich, aber einer der düstersten Menschen, die ich je kennengelernt habe. [...] Ich empfand stets Trauer angesichts dieses grimmigen Genies, eines wirklich unsterblichen Musikers, der sich selbst zu einem so kargen Leben verdammte.“9
Wir schließen uns dem an. Die gesammelten Informationen über diese Schicksale beruhen in der Hauptsache auf jahrelangen eigenen Recherchen sowie auf Gesprächen mit Überlebenden.
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Die ganze Welt ist himmelblau (Anm. 9), S. 175.
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Verwendete Literatur: Peter Herz, Gestern war ein schöner Tag, Wien 1985 Siegfried Lang, Almanach der Unterhaltungskomponisten des 20. Jahrhunderts, Wien 1974 Wolf Lauber, Ein Stadtführer durch den Widerstand. 1934–1945, Wien–Köln–Graz 1987 Franz Mailer, Weltbürger der Musik. Eine Oscar–Straus–Biographie, Wien 1985 Mein Film. Illustrierte Film- und Kinorundschau, hrsg. von Friedrich Porges, Jg. 1948 Franz Molnár, Gefährtin im Exil. Aufzeichnungen für eine Autobiographie, Bad Wörishofen 1953 Jonny Moser, Die Judenverfolgung in Österreich. 1938–1945, Wien–Frankfurt–Zürich 1966 Österreich-Brevier, hrsg. von Hans-Horst Skrupy, Wien–München–Zürich 1983 Österreicher der Gegenwart. Lexikon schöpferischer und schaffender Zeitgenossen, hrsg. vom Österreich-Institut (Bearbeitung: Robert Treichl), Wien 1951 Österreichische Wochenschrift, Wien, 30. Juli 1905 Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, hrsg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1.–46. Lieferung, Wien–Graz–Köln 1957–1984 Österreich-Lexikon in zwei Bänden, hrsg. von Richard Bamberger und Franz MaierBruck, Wien–München 1966 Prominenten-Almanach, hrsg. von Oscar Friedmann, Bd. 1, Wien–Leipzig 1930 Robert Maria Prosl, Edmund Eysler. Aus Wiens zweiter klassischer Operettenzeit, Wien 1947 Fritz Rebhann, Finale in Wien. Eine Gaustadt im Aschenregen, Wien–München 1969 Ders., Wien war die Schule, Wien–München 1978 Sirius-Mappe. Budapest–Wien–Györ, Jahrgang 1926–1938 Karl Stadler, Österreich 1938–1945 im Spiegel der NS-Akten, Wien–München 1966 Robert und Einzi Stolz, Servus Du. Robert Stolz und sein Jahrhundert, nach Erzählungen, Tonbändern und Dokumenten von Robert Stolz aufgezeichnet von Aram Bakshian jr., München 1980
MARION THORPE, geb. STEIN (London)
Erinnerungen An meine Kindheit habe ich glückliche Erinnerungen.1 Wir – meine Eltern Erwin Stein und Sofie, geb. Bachmann,2 und ich – haben zuerst in der Mommsengasse/Ecke Belvederegasse gewohnt, danach für einige Zeit im Kohlmarkt 16 bei meinem Großvater Markus Stein.3 Im November 1932, als ich sechs Jahre alt war, sind wir nach Pötzleinsdorf gezogen: in ein Haus in der Wilbrandtgasse 49 im 18. Bezirk, hoch gelegen, mit Blick zum Kahlenberg. Vor vier Jahren (2005) habe ich dieses Haus wieder besucht4 und festgestellt, daß alles noch genauso aussieht wie damals: selbst die nahe gelegene Tabak-Trafik und die Apotheke um die Ecke sind noch da. Dasselbe gilt übrigens auch für das „Manz-Haus“ am Kohlmarkt. Alles ist dort so wie in meiner Kindheit, es hat sogar denselben Geruch behalten. Mein Cousin Franz Stein hat es mir 2005 gezeigt. Ich habe ihn damals erst kennengelernt. Er war ein reizender Mensch, der leider wenige Wochen danach völlig unerwartet gestorben ist. An diesen Tagen im September 2005 habe ich mich in Wien mehr zu Hause gefühlt als 1950, als ich zum ersten Mal nach dem Krieg wieder hergekommen war.
Abb. 1: Erwin Stein, etwa 1915. 1
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Die Erinnerungen Marion Thorpes wurden von Thomas Brezinka nach einem Interview vom 4. September 2008 in London aufgezeichnet, an das sich mehrere Telephonate zur Klärung offener Detailfragen anschlossen. Erwin Stein (1885–1958) und Sofie, geb. Bachmann (1878–1965), hatten 1923 in Auerbach in Hessen geheiratet. Marion wurde am 18. Oktober 1926 in Wien geboren. Markus Stein (1845–1935), Geschäftsführer der „Manz’schen k. u. k. Hofverlags- und Universitätsbuchhandlung“, war einer der überragenden Verleger seiner Zeit. Marion Thorpe war im September 2005 vom „Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg“ am Institut für Musikalische Stilforschung eingeladen worden, an der Präsentation der von Thomas Brezinka verfaßten Biographie ihres Vaters teilzunehmen: Thomas Brezinka, Erwin Stein. Ein Musiker in Wien und London (= Schriften des Wissenschaftszentrums Arnold Schönberg, Bd. 2), Wien–Köln–Weimar 2005.
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Marion Thorpe, geb. Stein
Von 1933 bis 1936 ging ich in eine Volkschule in Pötzleinsdorf. Danach besuchte ich bis zum September 1938 das „Mädchen-Realgymnasium“ in der Billrothstraße 30 in Döbling, dessen Direktorin Frau Much hieß. Ich hatte eine „beste“ Freundin namens Susi Rezek, die nebenan gewohnt hat und deren Vater ein Doktor war. Wir waren dauernd zusammen. Diese Familie ist 1938 nach Amerika ausgewandert, und ich habe Susi auf der Überfahrt nach England wiedergetroffen. Eine andere große Freundschaft bestand zu drei benachbarten Buben – Ivan und den Zwillingsbrüdern Micha und Sascha – aus der Familie Regenstreif. Ihre Mutter hatte einen Jugoslawen namens Illich geheiratet, sich dann von ihm getrennt und 1932 eine Villa in Pötzleinsdorf bezogen, die ihrem Vater gehörte. Der erste, Ivan Illich, ist später ziemlich bekannt geworden.5 Er hat mir einmal das Kompliment gemacht: „die Marion ist so gut, als wäre sie ein Bub.“ Ich durfte oft in die Oper gehen. Mein Vater kannte die ungarische Altistin Enid Szanto, die uns immer wieder Freikarten besorgt hat. So sah ich öfters Die Zauberflöte, Hänsel und Gretel, Die Verkaufte Braut – mit Richard Tauber als Hans. Allerdings hat mein Vater nicht erlaubt, daß ich Figaros Hochzeit oder Carmen erlebe, weil er deren Inhalt für ein junges Mädchen zu anstößig fand. Aber Die Meistersinger von Nürnberg durfte ich mir ansehen! Ansonsten erinnere ich mich vor allem an das Eislaufen im Winter: entweder in Pötzleinsdorf oder beim Konzerthaus. Ich war eine leidenschaftliche Eisläuferin.
Abb. 2: Postkarte von Marion Stein (Thorpe) an „Onkel Alban“ Berg, 9. II. 1935.
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Ivan Illich (1926–2002) war Autor, Philosoph, Theologe und katholischer Priester.
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Mein Vater hatte viel zu tun, aber er war doch oft genug zu Hause. Von seinen Freunden erinnere ich mich vor allem an „Onkel“ Alban und „Tante“ Helene Berg. Alban schien mir riesengroß, und zunächst hatte ich etwas Angst vor ihm. Doch er mochte mich sehr und nannte mich immer „Haselnüßchen“. Er hat dauernd geraucht. Ich habe ihm einmal eine Postkarte geschrieben, als ich acht Jahre alt war. Darin habe ich bedauert, daß ich nicht zu seinem 50. Geburtstag kommen konnte, weil ich noch das Bett hüten mußte. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nämlich eine Verkühlung.6 Kurz vor seinem Tod hatten wir zu Hause eine Party. Alban rauchte, suchte einen Aschenbecher ganz oben auf einem Kasten und drückte darin seine Zigarette aus. Unser Hausmädchen hat dann Monate nach seinem Tod beim Frühlingsputz den Aschenbecher mit der ausgedrückten Zigarette gefunden. Bergs Tod war für meinen Vater ein ungeheurer Schock, weil sie sehr gute Freunde gewesen waren. Helene habe ich nach dem Krieg noch öfters gesehen. Sie hat mir zu meiner Hochzeit 1949 ein Spitzentuch geschenkt, von dem sie sagte, daß es ein Geschenk des Kaisers Franz Joseph an ihre Mutter gewesen sei. Einmal habe ich sie nach dem Krieg zu Hause besucht, wo sie mir Bergs Arbeitszimmer gezeigt hat, in dem alles unverändert geblieben war. Bei jedem Knacks meinte Helene: „hör nur, das ist Alban!“. Anton Webern haben wir öfters in Maria-Enzersdorf besucht, aber ich kann mich nicht mehr genau an ihn erinnern. Auch an Arnold Schönberg nicht. Er war auch nur einmal bei uns, wahrscheinlich im Februar 1933, als ich gerade sechs Jahre alt war. Nach seinem Tod 1951 hat uns Gertrud Schönberg oft in London besucht. Sie war völlig auf ihren Mann fixiert. Mit meiner Mutter verstand sie sich sehr gut. Meine Mutter hat kein Instrument gespielt, aber sie hat gesungen, was damals alle getan haben. Allerdings erzählte sie mir, daß mein Vater zu der Zeit, als er sie umworben hatte, sie einmal am Klavier zu ihrem Gesang begleiten wollte. Doch schon noch wenigen Takten klappte er das Klavier zu und stand mit den Worten auf: „Danke, das genügt“. Ich habe als Kind auch gern und viel gesungen. Einige Zeit war Freude, schöner Götterfunke mein Lieblingslied.7 Mit 7 Jahren bekam ich Klavierunterricht. Wir hatten einen Flügel, aber besonders fleißig war ich nicht. Meine Eltern haben mich beschützt, weshalb ich die prekäre Stimmung 1934–38 nicht so stark wahrgenommen habe (1935 war mein Großvater Markus Stein gestorben). Aber mit Susi habe ich viel über Politik diskutiert, d. h. darüber, was wir so mitbekamen und aufschnappten. Und man hat schon eine gewisse Bedrohlichkeit gespürt. Den „Anschluß“ im März 1938 habe ich in sehr schlechter und beängstigender Erinnerung: unsere jüdischen Nachbarn, die im Erdgeschoß wohnten, mußten die Worte „Schuschnigg“, die überall auf die Straße gemalt waren, kniend abwaschen. 6 7
Datiert ist die Briefkarte mit 9. II. 1935, also dem Tag von Bergs Geburtstag. Die Alban Berg Stiftung besitzt das Original dieser Schriftstücke. Im Berg-Nachlaß in der ÖNB befinden sich Photokopien. Stein hatte am 19. und 26. April 1931 mit dem Wiener Sinfonie-Orchester und dem Gesangsverein „Freie Typographia“ Beethovens „Neunte“ dirigiert.
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Abb. 3: Marion mit Markus Stein, etwa 1932.
Die Gestapo beschlagnahmte das Auto des jüdischen Arztes, der oberhalb von uns wohnte. Darüber war meine Mutter so erbost, daß sie zur Gestapo ging, um sich zu beschweren: sie glaubte, daß sie als Deutsche über eine gewisse Autorität verfügte. Aber es nützte natürlich nichts und hätte uns geschadet, wenn wir geblieben wären.8 In der Schule mußten Juden getrennt von Ariern sitzen. Ich wußte zunächst gar nicht, wo ich mich hinsetzen sollte, weil bei uns das Judentum – ich war Halbjüdin, was mir bis dahin gar nicht bewußt war – nie ein Thema gewesen war. Ein Nazi-Mädchen hat mich gleich gefragt, warum ich denn mit der Jüdin Susi befreundet sei. Darauf habe ich geantwortet: „Die Susi war schon immer meine Freundin und wird es auch ewig bleiben!“.
Schon vor 1938 hatte mein Vater die Fühler ins Ausland ausgestreckt. Gleich nach dem „Anschluß“ ist Leslie Boosey zum Glück nach Wien gekommen und hat meinem Vater und Ernst Roth angeboten, in London für „Boosey & Hawkes“ zu arbeiten.9 Mein Vater ist dann im September von Wien nach London geflogen. Meine Mutter und ich fuhren zuerst zu einem Familientreffen nach Berlin: dort trafen wir ihren Sohn aus erster Ehe, ihre Schwester und ihre Nichte. Wir waren auch einen 8
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Unsere Nachbarn berichteten uns später, daß kurz nach unserer Abreise nach England die Gestapo an unsere Tür geklopft hatte: sie wollte zu der Frau, die für einen Juden ein Wort eingelegt hatte und selbst mit einem Juden verheiratet war. Sowie Alfred Kalmus, der als Leiter der Londoner UE-Abteilung bereits in London war, und Hans Heinsheimer, der sich zu dieser Zeit in New York aufhielt.
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Tag in Mecklenburg, wo meine Mutter geboren war. Sie wollte auch den Wohnort ihrer Schwester in Auerbach in Hessen besuchen, wurde aber davor gewarnt, weil sie als eine Frau, die einen Juden geheiratet hatte, dort nicht mehr sicher wäre. Als wir in Berlin waren, hielt sich Neville Chamberlain gerade in München auf. Wir bekamen ein Telegramm von meinem Vater, daß wir nicht nach England kommen sollten, weil er den Ausbruch eines Krieges fürchtete. Doch Chamberlain hat sich noch einmal mit Hitler arrangiert und dann in London seine Rede „peace for our time“ gehalten.10 Danach entspannte sich die Lage, und wir sind im Oktober nach Hoek van Holland und von dort mit dem Schiff nach England gefahren. Ich habe das nicht als „journey of no return“ erlebt, sondern fand es spannend, kann mich aber auch an vieles nicht mehr erinnern.
Abb. 4: Die elfjährige Marion Thorpe in Berlin 1938.
In London wurden wir von meinem Vater sowie einer Cousine und einem Cousin meiner Mutter empfangen. Sie hatte noch eine weitere Cousine, die in Bournemouth lebte, wo wir dann den Sommer 1939 verbrachten. Zuerst haben wir in einer Pension bei „Sussex Garden“ gewohnt und sind später in eine eigene Wohnung gezogen. Zunächst habe ich meinen Mund nicht aufgemacht, weil ich fast kein Englisch konnte. Die Tochter einer Lehrerin hat mir dann die Sprache bei vielen Spaziergängen beigebracht. Und erst als ich meinte, gut genug zu sein, begann ich zu sprechen. Ralph Hawkes hat uns angeboten, sich um meine Schullaufbahn gekümmert. Doch ich wurde ohnedies problemlos in eine High School aufgenommen, und meine Eltern bekamen eine starke Ermäßigung bei den Schulgebühren. Der Unterricht fiel 10
Am 30. September 1938 in London, als er nach Vereinbarung des „Münchner Abkommens“, welches das Sudetenland Hitler überließ, zurückkehrte.
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mir zuerst ziemlich leicht, und in Latein hatte ich die meisten Vorkenntnisse. Später wurde der Lernstoff schwieriger. Und die Schuluniform habe ich gehaßt. Es gab einen Lehrer, der bei besonders guten Leistungen die Schülerinnen mit Briefmarken belohnt hat. Alle haben sie gesammelt, nur ich nicht. Also bekam ich nie eine Belohnung. Ich wurde dort von allen ganz normal behandelt. Es gab auch ein paar andere emigrierte Mädchen. Eine kam sogar aus Wien: sie hieß Clare – an den Nachnamen erinnere ich mich nicht mehr – und heiratete später den Wiener Pianisten Ferdinand Rauter, den Klavierbegleiter der Sängerin Engel Lund,11 die öfters bei den „Lunchtime-Concerts“ der National Gallery aufgetreten ist. Als der Krieg ausbrach, wurde die Schule nach Oxford verlegt. Aber dort waren alle Mädchen so unglücklich, daß die Verlegung bald wieder rückgängig gemacht wurde. Zunächst war vom Krieg auch wenig zu spüren. Aber 1941 wurde die Schule nachts von einer Bombe getroffen, und wir mußten in ein anderes Gebäude umziehen. Doch sonst verlief die Schulzeit normal, und 1944 habe ich mein A-Level (Matura) gemacht. Meine beste Freundin damals war die Geigerin Winifred Roberts, die etwas älter war und schon am Royal College of Music studierte. Sie hatte uns eines Tages besucht, um meinem Vater das Violinkonzert von Britten vorzuspielen, das sie sich gerade erarbeitet hatte. Sie hat es dann auch – mit Britten am Klavier – öffentlich vorgetragen. Die Stimmung während der Kriegszeit war nicht besonders außergewöhnlich. 1940–41 kamen nachts die deutschen Bomber und dann bis kurz vor Kriegsende die V2-Bomben, aber das Leben ging einfach weiter. Und die Reden Churchills waren sehr ermutigend. Ab 1942 wurde man immer optimistischer. Meine Mutter war aber sehr hin- und hergerissen, weil sie Angst um ihren Sohn aus ihrer ersten Ehe hatte, der in Deutschland in der Luftwaffe war und 1942 dann auch abgestürzt ist. Das war eine emotionell sehr schwere Zeit für sie. Mein Vater wurde 1940 für vier Monate – Ende Juni bis Ende Oktober – auf der Isle of Man mit anderen „friendly enemy aliens“ interniert.12 Während dieser Zeit hatten wir fast kein Geld und mußten mit drei Pfund pro Woche auskommen, die uns Leslie Boosey geschenkt hat. Deshalb sind wir auch in eine billigere Wohnung umgezogen. Benjamin Britten bin ich zum ersten Mal im November 1938 begegnet, kurz nachdem wir in London angekommen waren. Als ich ihm damals nach einem Konzert in der Queenshall im Künstlerzimmer vorgestellt wurde, habe ich als wohlerzogene junge Wienerin einen Knicks gemacht und ihm die Hand geküßt. Anfang 1939 sind er und Peter Pears nach Amerika gefahren, doch 1942 kamen sie aus Heimweh und Desillusionierung nach England zurück. Britten hatte meinen 11
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Engel Lund (1902–1996) war eine dänisch-isländische Sängerin, die sich auf Volkslieder spezialisiert hatte. 1936 erschien ihr Book of Folk Songs mit den Klaviersätzen von Ferdinand Rauter bei Oxford University Press. Alle emigrierten Deutschen und Österreicher standen damals im Generalverdacht, deutsche „undercover spies“ zu sein.
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Vater 1934 in Wien kennengelernt, und seit Herbst 1938 standen sie auch vom Verlag her miteinander in Verbindung. Vor allem ihre beiderseitige Liebe zu Gustav Mahler hat sie eng zusammengebracht. Oft haben sie zu Hause MahlerSymphonien vierhändig am Klavier gespielt. Britten hatte bei Alban Berg studieren wollen, und mein Vater bot ihm nun den Ersatz für das, was ihm bis dahin an mitteleuropäischer Kultur gefehlt hatte. Er wurde sein Freund, Lehrer, Mitarbeiter, Kritiker und Herausgeber. Britten war ein ungemein empfindlicher Mensch, extrem sensibel: „he had fewer skins than other people“. Wir wußten, was ihn aus der Fassung bringen würde, und vermieden, es zu äußern. Er wurde ein sehr guter Freund, der auch sehr humorvoll sein konnte.13 Wir haben ihn in diesen Jahren oft in Suffolk besucht. Im Februar 1944 brach dann in unserem Wohnhaus einen Stock höher ein Feuer aus, das auch unsere Wohnung stark beschädigte. Mein Vater informierte Britten, und dieser bot uns an, übergangsweise in seine Mietwohnung in St. John’s Wood High Street zu ziehen. Er sagte: „ich hoffe, es macht Euch nichts aus, aber Michael Tippet ist gerade auch dort.“
Also zogen wir dorthin. Britten und Tippet mochten sich. Auch Vaughan Williams, verhielt sich sehr wohlwollend. Nur William Walton war ziemlich eifersüchtig auf Britten. Die Musik von Vaughan Williams fanden wir übrigens höchst langweilig. Einmal sind wir bei einem Konzert in Aldeburgh, bei denen auch unsere Freunde Prinz Ludwig und Prinzessin Margret von Hessen – „Lu and Peg“14 – anwesend waren, während eines Stücks von Vaughan Williams tatsächlich eingeschlafen. Beim Aufwachen sagten wir nur „V. W.“ – als Synonym für etwas sehr Langweiliges. 1946 hat Peter Pears dann ein Haus am Oxford Square 3 gekauft, und wir sind dorthin umgezogen. Pears’ Eltern wohnten ebenfalls dort, und auch der Librettist und spätere Theaterdirektor Eric Crozier. Das Musikleben während des Krieges war sehr reichhaltig und alle Konzerte waren gut besucht. Ich bin damals mehr ins Konzert gegangen als in die Oper. Für Oper gab es die „Sadler’s Wells Opera Company“, die sehr gut war. Peter Pears ist dort öfters aufgetreten, zum Beispiel in Così fan tutte. Ich erinnere mich auch an eine „Russian Season“ – dargeboten von einer anderen Opern-Kompanie –, die von Anatole Fistoulari15 geleitet wurde, den Anna Mahler 1942 geheiratet hat. Wir kannten Anna schon von früher. In London war sie bis zu ihrer Hochzeit sehr arm gewesen. 1948 ist sie dann in die USA gegangen. Sie hat eine Büste von mir gemacht, die hier in der Wohnung steht. 13
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„Britten and Pears [...] founded a very close relationship with Erwin and Sophie Stein and their daughter Marion, a family relationship indeed [...].“ Donald Mitchell / Philip Reed / Mervyn Cooke (Hg.), Letters from a life, Volume One, London 1991, S. 59. Prinz Ludwig von Hessen und bei Rhein (1908–1968) war ein Cousin von George Harewood. Seine Frau Margret stammte aus England. Beide waren gute Freunde von Benjamin Britten und kamen regelmäßig nach Aldeburgh. Anatole Fistoulari, russischer Dirigent (1907–1995), ab 1948 englischer Staatsbürger.
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In den „Proms“ gab es während des Krieges jeden Freitag einen Beethoven-Abend. Dazu kamen die Konzerte von Myra Hess – „Lunchtime Concerts“ in der National Gallery – und die „Boosey & Hawkes-Konzerte“ in der Wigmore Hall, bei denen viele Uraufführungen von Werken Brittens gespielt wurden. Bei einem dieser B&HKonzerte – allerdings in der Aeolian Hall – habe ich auch erlebt, wie mein Vater 1942 Pierrot lunaire dirigiert hat, mit Hedli Anderson als Solistin. Das war ein sehr erfolgreiches Konzert, obwohl Schönbergs Musik zu dieser Zeit in London ziemlich unpopulär war. Die häufigsten Programme waren Barock, Klassik, Romantik und gemäßigte Moderne. Das Musikleben war geprägt von Persönlichkeiten wie z. B. Sir Henry Wood, Sir Thomas Beecham, Sir Adrian Boult, Clifford Curzon, Ida Haendel. Abgesehen von seinen vielen beruflichen Verpflichtungen hatte mein Vater kein spezielles gesellschaftliches Leben. Allerdings reichte das berufliche Leben weit in sein Privatleben hinein. So kamen z. B. immer wieder Dirigenten oder Komponisten zu Besuch, oder er erteilte Interpreten Unterricht in musikalischer Darstellung (Performance), und er unterrichtete auch manche junge Komponisten wie Jonathan Harvey oder Malcolm Williamson. Mit anderen Wiener Emigranten traf er sich nicht explizit. Speziell österreichische Kontakte gab es zur Pianistin Else Gross, die viel Neue Musik gespielt hat, und zu Leopold Spinner, der sein Nachfolger bei Boosey & Hawkes werden sollte. Und natürlich zu Karl Rankl, als dieser Chef bei „Covent Garden“ wurde. Mein Vater kannte ihn schon aus der Zeit des „Vereins für musikalische Privataufführungen“. Von seiner Arbeit im Büro hat mein Vater nicht viel berichtet. Aber er kam immer wieder mit Noten an und hat sie durchgespielt. Völlig begeistert war er z. B. vom frisch eingetroffenen Divertimento für Streichorchester von Bartók, als er es nach Hause brachte. Auch von seinem gespannten Verhältnis zu Ernst Roth bekamen wir nicht viel mit. Roth war ein kluger Kopf, aber sehr kommerziell und künstlerisch konservativ.16 Er und mein Vater waren keine Freunde. Sie gingen sich aus dem Weg, aber sie kannten sich schon seit den 20er Jahren und standen im Rahmen des Nötigen miteinander in Kontakt. Auch mit Alfred Kalmus war mein Vater sehr vertraut. Über ihn gab es einen „running gag“ aus dem Schubert-Lied Auf dem Wasser zu singen, und zwar die Zeile: „unter den Zweigen des östlichen Haines säuselt der Kalmus im rötlichen Schein“,
a great joke.17 Nach der Matura studierte ich Klavier am „Royal College of Music“, das ich haßte, weil es mir muffig und antiquiert vorkam, verglichen mit der Musikauffassung, die 16 17
Ernst Roth (1896–1971) war von 1945 bis 1964 „Music Publications and Productions Director“ und blieb bis zu seinem Tod Mitglied des Verwaltungsrates von Boosey & Hawkes. Kalmus = eine Sumpfpflanzenart.
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ich zu Hause erfahren hatte und noch ständig erlebte. Mein Studium bei Kental Tailor hat folglich nicht lange gedauert. Im Juni 1945 habe ich die Premiere von Brittens Oper Peter Grimes mit der ganzen Vorbereitung hautnah miterlebt, auch die ganze Begeisterung. Das ging alles von Brittens Wohnung in St. Johns Wood aus, wo wir zu dem Zeitpunkt lebten. Ich war damals zwar noch am „Royal College“, aber mein ganzes Interesse galt Peter Grimes. An einem bestimmten Tag stand eine Prüfung an, und Clifford Curzon, der mein Mentor war und mich mochte, wünschte mir tags zuvor noch „viel Glück morgen“. Doch ich ging statt dessen zur Generalprobe und nicht zur Prüfung. Curzon hat mich dort leider gesehen. Darauf hat er lange nicht mehr mit mir gesprochen. Britten hat das College übrigens auch gehaßt. Privat ging ich dann zu Franz Osborn18, bei dem ich sehr viel gelernt habe. Mein Idol im Klavierspiel war übrigens Arthur Schnabel, dessen Spiel ich erst nach dem Krieg kennen und bewundern gelernt habe. Auch Curzon und Osborn waren Schnabel-Schüler. Schnabel hat uns ein paar Mal zu Hause besucht. Ich wollte unbedingt einen Meisterkurs bei ihm machen, doch dazu ist es leider nicht gekommen. Damals habe ich einige kleine Konzerte gegeben. Besonders gerne Schubert. Das Modernste war die Klaviersonate von Alban Berg. Als ich dann geheiratet habe, war es mit der Pianistenlaufbahn vorbei. Als mein Vater 1958 gestorben ist, war das sehr traurig. Aber alles in allem war er zufrieden gewesen mit seinem Leben. Er hat die Bücher Orpheus in New Guises und Form and Performance – letzteres leider unvollendet – geschrieben und war allgemein sehr geschätzt. Er hatte das Vertrauen und die Sympathie einiger musikalischer Genies gewonnen. Zwar hat er nie Geld gehabt, aber er ist immer über die Runden gekommen. Nach seinem Tod hat meine Mutter in einem kleinen Haus in unserem Garten gewohnt. Sie ist viel ins Konzert gegangen und hatte viele Freunde. Am Tag ihres Todes im Oktober 1965 kamen zwei gute Freunde vorbei – Isador Caplan, ein Anwalt, der sich um ihre Sachen kümmerte, und Peter Pears – „just to say hello“. Und in der Nacht darauf ist sie gestorben. Sie ist so wie mein Vater im „Golders Green Crematorium“ eingeäschert worden. Auch meine Mutter hat zufrieden auf ihr Leben geblickt. George Harewood (einen Cousin von Königin Elizabeth II.) habe ich 1948 kennengelernt. Im März 1949 haben wir uns nach einer konzertanten Aufführung der BBC von Wozzek verlobt. Britten hat für die Hochzeit im September 1949 „a wedding anthem“ zu den Worten von Ronald Duncan geschrieben, das Peter Pears und Joan Cross gesungen haben. Diese Hochzeit war ein sehr festliches Ereignis, „a
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Franz Osborn (1905–1999) war der Sohn des Berliner Kunstkritikers Max Osborn (1870–1946). Er emigrierte 1935 nach England und war dort jahrelang Duo-Partner von Max Rostal.
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great hoo-ha“.19 Danach sind wir auf Hochzeitsreise nach Paris und Italien gefahren. Wir sind überhaupt sehr viel gereist.20
Abb. 5: Marion Thorpe (Stein) mit Königin Elizabeth II., dahinter Lord Charles Drogheda.
Abb. 6: „Royal Wedding“ (Hochzeit von Marion Stein mit George Harewood am 29. September 1949 in London). 19 20
Slang, etwa: „es war die Hölle los“. Eine typisch englische Untertreibung für den Pomp und Glanz dieses „Royal Wedding“. „Marion had – still has, I don’t doubt – a real talent for travel. She used to find out new places to go und know about them from books by the time we got there. […] If Erwin taught me to be at home in the musical world, Marion taught me how to travel. […] By the time we went to India in 1958, nine years after we were married, Marion and I had made only a few less than fifty journeys out of England.“ Harewood 1981, S. 107.
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Mitte Jänner 1950 bin ich dann zum ersten Mal wieder nach Wien gekommen. Mein Mann war das erste Mal dort. Ich war allerdings schon mit meinen Eltern und ihm im August 1949 in Salzburg gewesen. Das war mein erster Besuch in Österreich seit 1938. Wien war besetzt, und es gab eine Wache vor unserem Hotel, doch alles war ziemlich vertraut: „it felt quite familiar“. Wir haben meine Tante Emmy von Sachs besucht, die in der Singerstraße gewohnt hat. Alles hat dort haargenau so ausgesehen wie in meiner Kindheit. Die Staatsoper war zerbombt, und es wurde im „Theater an der Wien“ gespielt: Aida, Turandot, die Meistersinger mit Hans Hotter als Sachs. Wir haben auch die Philharmoniker unter Furtwängler gehört und sind am Opernball gewesen. Es war Fasching und wir waren mit Ljuba Welitsch beim Heurigen. Danach sind wir nach Mailand gefahren.21 George Harewood war sehr musikalisch und hatte ein tiefes Verständnis und Wissen von Musik, vor allem von Oper. Er war sehr in der Musikwelt involviert. Seine Verdienste für das britische Musikleben sind groß: er war Direktor des „Royal Opera House of Covent Garden“, Künstlerischer Direktor der „English National Opera“, des „Edinburgh Festival“, des „Leeds Festival“ sowie Künstlerischer Berater des „New Philharmonia Orchestra“. Außerdem hat er 1953 und 1976 Kobbé’s Complete Opera Book herausgegeben. Anfang der 60er Jahre lernte ich Fanny Watermann in Leeds kennen, die eine brillante Klavierlehrerin ist. Ich hörte einen Klavierabend ihrer Schüler und war über die hohe Qualität ihres Spiels sehr erstaunt. Daraufhin machte ich ihre Bekanntschaft, woraus eine große Freundschaft entstand, die bis heute andauert. Ich habe sie gefragt: „warum schreibst Du Deine Unterrichtsmethode nicht auf?“ Also setzten wir uns hin und machten das gemeinsam. Daraus ist dann eine regelrechte, sehr erfolgreiche Klavierschule entstanden.22 Ich selbst habe auch unterrichtet, aber nicht regelmäßig. Fanny Watermann lebt auch heute immer noch in Leeds und ist sehr aktiv, was bei ihrem Alter von derzeit 89 Jahren ganz erstaunlich ist, „but she has energy like a bomb“. Zusammen haben wir 1961 den „Leeds International Piano Competition“ gegründet.23 Ansonsten zähle ich zu meinen Höhepunkten der 60er Jahre das, was ich „the Russian Connection“ nenne. 1960 kam Mstislav Rostropovich zum ersten Mal nach England. Ich lernte ihn bei einem Konzert des „Edinburgh Festival“ kennen, bei 21
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George Harewood nutzte die Kontakte auf den vielen Reisen für Artikel in der Musikzeitschrift Opera, deren Herausgeber er ab 1951 für einige Jahre war, und für sein „networking“ als Mitglied der Betriebsleitung des „Royal Opera House of Covent Garden“ ab 1953 (Direktor 1969–72), sowie für seiner anderen Aktivitäten als Musikmanager. The Harewood-Waterman Piano-Series mit insgesamt 30 Heften vom ersten Anfang bis zur Oberstufe wurde von „Faber Music“ verlegt. Piano Lessons Book 1 (1967) war eine der ersten „modernen“ Klavierschulen. Die Serie Me and my piano (1989) wurde ein Bestseller. Insgesamt wurden die Hefte der HarewoodWatermann-Piano-Series laut Auskunft des Verlages fast zwei Millionen Mal verkauft. Dieser Wettbewerb gehört zu den bedeutendsten Klavierwettbewerben der Welt.
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dem u. a. auch Haydns „Kindersymphonie“24 gespielt wurde. Rostropovich war fasziniert von den Kinderinstrumenten Kuckuck, Wachtel, Ratsche etc. und bat uns, sie zu besorgen, damit er in Rußland dieses Stück aufführen könne. Kurz darauf lernte ihn auch Britten in London kennen und versprach ihm, für ihn eine Cellosonate zu komponieren. Als die Sonate fertig war, zeigte sich Rostropovich begeistert und spielte deren Uraufführung beim Aldeburgh-Festival 1961. Daraus entwickelte sich ein sehr herzlicher Kontakt, der auch Rostropovich’s Frau Galina Vishnevskaja und andere russische Künstler einbezog. 1962 flogen Britten und Pears das erste Mal nach Moskau, und ich kam mit einer Delegation des „British Council“ mit. Es gab einen Empfang im „Haus der Komponisten“, zu dem auch Dimitri Schostakovich gekommen war, der Britten seit einem Konzert in London im Jahr 1960 kannte. Der Vorsitzende war Tikhon Chrennikov25, der 1948 Schostakovich wegen seines „bürgerlichen Formalismus“ denunziert und beschimpft hatte, und man sagte mir, es sei das erste Mal seit damals, daß sich Schostakowich unter demselben Dach befand wie Chrennikov. Er hatte das nur aus Sympathie für Britten getan. Chrennikov forderte Britten auf, ein paar Worte über Musik zu sagen. Doch dieser meinte nur „composers don’t talk about music, they write it“.
Abb. 7: Benjamin Britten, Mstislav Rostropovich und Marion Thorpe (Stein) in Moskau, 1962. 24
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Ob die „Kindersymphonie“ tatsächlich von Josef Haydn stammt, ist umstritten. Sie wird auch Leopold Mozart (1719–1787), Michael Haydn (1737–1806), Josef Rainprechter (1752–1812) oder Edmund Angerer (1740–1794) zugeschrieben. Tichon Chrenikov (1913–2007), Komponist und opportunistischer Musikbürokrat, der es verstand, von 1946 bis zum Ende der Sowjetunion an der Spitze des sowjetischen Komponistenverbandes zu stehen – also der höchsten Stelle des sowjetischen Musiklebens –, während seine Untergebenen je nach politischer Großwetterlage regelmäßig strafversetzt wurden.
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Später kam auch Svjatoslav Richter mit seiner Lebensgefährtin, der Sängerin Nina Dorliak, nach Aldeburgh. Richter war überaus gebildet. Und als ich das zweite Mal mit Britten nach Moskau flog, haben wir Schostakowich bei ihm zu Hause besucht. Keiner konnte die Sprache des Anderen. Sie haben einander ihre neuesten Kompositionen am Klavier vorgespielt. Nachdem Britten geendet hatte, sprang Schostakowich auf und rief in seinem quasi nicht existierenden Englisch: „you great composer, I little composer!“. Obwohl sie sich sprachlich nicht verständigen konnten, war da eine tiefe gegenseitige Sympathie, und ich erinnere mich noch an das Blitzen hinter seinen dicken Brillengläsern. Brittens letzte Lebensjahre aber waren traurig. Er hatte eine Herzkrankheit. Nach einer Herzoperation konnte er nur mehr ganz wenig komponieren und war dementsprechend deprimiert. 1976 ist er dann gestorben. Nach der Trennung von George Harewood, die sich von 1959 bis 1967 hinzog,26 habe ich unsere Kinder alleine großgezogen. Es war nicht leicht, drei Jungen in den 60er Jahren zu erziehen, mit langen Haaren mitten in der Hippie-Zeit. Ein viertes Kind kam hinzu, als ich 1973 Jeremy Thorpe heiratete, weil dessen Sohn Rupert damals noch ganz klein war.27 Es war eine geheime Hochzeit, aber danach gab es einen Empfang im „Royal Opera House of Covent Garden“, bei dem Yehudi Menuhin, Clifford Curzon, Murray Perahia, Peter Pears und Janet Baker für uns musiziert haben. Menuhin hat auf Wunsch Jeremy’s Beethovens Frühlingssonate vorgetragen. Jeremy hat nämlich in seiner Jugend Geige gelernt und sogar selbst die Frühlingssonate gespielt. Er war ein wißbegieriger Mensch und hätte auch mit chinesischer Kunst handeln können, weil sie ihn interessiert hat. Doch er studierte Jura und wurde dann Rechtsanwalt, bis er in die Politik ging. Diese lag ihm im Blut: schon sein Großvater und sein Vater waren Politiker gewesen – aber Tories. Jeremy war einer der charismatischsten Politiker seiner Zeit, der der „Liberal Party“ zu ihren größten Erfolgen verholfen hat. Mitte der 70er Jahre schien er kurz davor zu stehen, einen Kabinettsposten zu erhalten und die englische Politik maßgeblich beeinflussen zu können. Er wollte das Wahlrecht reformieren, hatte eine proeuropäische Haltung, unterstützte die Unabhängigkeit ehemaliger CommonwealthStaaten und engagierte sich stark gegen das Apartheidsregime in Südafrika. Ich vermute, daß der südafrikanische Geheimdienst BOSS (Bureau for State Security) hinter der Intrige stand, die 1976 zu seinem politischen Sturz geführt hat. Wir haben keinen Beweis, aber unsere südafrikanischen Freunde sind sich ziemlich sicher, daß es so war.28 Natürlich war das ein ungemein schwerer Schlag für ihn.
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George Harewood hatte 1959 die Australierin Patricia Tuckwell kennengelernt und sich in sie verliebt. 1964 kam ihr gemeinsamer Sohn Mark auf die Welt. 1967, sechs Monate nach der offiziellen Scheidung von Marion, heiratete er Patricia. Als seine Mutter Caroline Thorpe 1970 ums Leben kam, war er zwei Jahre alt. Jeremy Thorpe mußte 1976 auf Grund perfider Unterstellungen zurücktreten. Obwohl seine Unschuld 1978 in einem Prozeß unterstrichen wurde, hat ihn das politische Establishment Englands erst 1999 anläßlich der Veröffentlichung seiner Memoiren In my own time rehabilitiert.
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1979 wurde dann seine Parkinson-Krankheit diagnostiziert, was bedeutet, daß er sie schon einige Zeit vorher hatte. Vielleicht hing sie mit den vorigen Schicksalsschlägen zusammen, aber das muß nicht sein. Jedenfalls geht es seitdem mit ihm kontinuierlich bergab. Er verliert immer mehr die Kontrolle über seinen Körper – bei vollem Bewußtsein. Dennoch bekommt er auch jetzt noch viel mit, er hat viele Ideen und steht eigentlich noch mitten im Leben. In den 80er und 90er Jahren waren wir weiterhin sehr aktiv. Wir verbrachten viel Zeit in unserem Haus in Devon und reisten mehrmals nach Afrika. Jeremy hatte früher die Unabhängigkeitsbewegungen dort unterstützt und kannte noch viele Politiker. Doch im Moment geht es ihm nicht besonders gut. Auch ich bin derzeit deprimiert, und zwar über meinen eigenen Zustand, weil ich seit über einem Jahr nicht mehr gehen kann. Es bestehen zwar Aussichten, daß sich alles wieder bessert – und in winzigen Schritten geht es auch aufwärts, weil ich viel Physiotherapie betreibe –, aber es dauert doch ewig lange und ist sehr frustrierend. Kürzlich bin ich Urgroßmutter geworden. David, mein Ältester, wird bald 65! Es ist seltsam, so alte Söhne zu haben. David war lange Zeit in der Filmbranche tätig, doch jetzt kümmert er sich um den Landsitz von Harewood House in Yorkshire, drei Stunden nördlich von London. Es ist ein großes Herrenhaus mit etwas Land, das von Bauern gepachtet ist. David verwaltet Haus und Hof, hat auch ein Museum und eine Kunstgalerie eingerichtet, die von seiner Frau Diane geleitet wird. Nachdem er öfters in Bhutan in Südasien war, lud er vor ein paar Jahren vier buddhistische Mönche ein, auf dem Grund von Harewood eine Stupa, also einen buddhistischen Tempel, zu errichten, der sehr schön und friedvoll geworden ist. Meine vier Söhne sind sehr gute Söhne geworden, über die ich glücklich bin. Und ich habe schon 13 Enkel und 3 Urenkel.
Verwendete Literatur für die Anmerkungen: Thomas Brezinka, Erwin Stein. Ein Musiker in Wien und London, Wien 2005 Humphrey Carpenter, Benjamin Britten. A Biography, London 1992 George Harewood, The Tongs and the Bones, London 1981 Donald Mitchell / Philip Reed / Mervyn Cooke (Hg.), Letters from a life. Selected letters and diaries of Benjamin Britten, Volume One 1923–39, London 1991 Jeremy Thorpe, In My Own Time, London 1999 Helen Wallace, Boosey & Hawkes. The publishing story, London 2007
JUTTA RAAB HANSEN (Issigau)
„Become Englishmen!“ 1 Ich werde mich zunächst mit der Anzahl der Flüchtlinge in Großbritannien nach 1933 und mit dem Problem der Arbeitserlaubnisse befassen. Anschließend behandle ich die Auftrittspodien für österreichische Musiker, insbesondere der Anglo Austrian Society und den Lunchtime-Konzerten in der Nationalgalerie. Zum Schluß erörtere ich die Chancen für österreichische Musiker oder Dirigenten bis zum Ende des Krieges, einen Platz in einem britischen Orchester zu finden. Doch lassen Sie mich zunächst einige Worte zur Quellenlage vorausschicken. Es existiert in London kein Archiv, das sich speziell mit dem Musiker-Exil in Großbritannien befaßt. Dokumente und Quellen sind verstreut in verschiedenen Archiven, Instituten, Bibliotheken oder bei Privatpersonen. Es findet sich meines Wissens auch nirgendwo eine Kartei, in der Personen oder Stichworte zum Exil in Großbritannien über Jahre hin gesammelt worden wären. So zum Beispiel liegen Kopien jener Zeitschriften, deren Herausgeber Internierte waren, in der Bibliothek des Imperial War Museums in London. Die Sammlung der Anglo Austrian Music Society befindet sich seit etwa einem Jahr in der Bibliothek des Institutes of Germanic and Romance Studies (Senate House) der University of London. Im hier angeschlossenen Research Centre for German and Austrian Exile Studies werden Musiker berücksichtigt, spielen jedoch eher eine marginale Rolle. Die British Library bewahrt die Sammlung der Konzerte in der National Gallery auf. Zeitschriften des Londoner Austrian Centre2 sind an mehreren Orten verstreut und befinden sich z. B. auch in der Deutschen Bücherei in Leipzig. Die Sammlung des Londoner Freien Deutschen Kulturbundes gelangte nach der Wiedervereinigung vom Parteiarchiv der DDR in die Bestände des Bundesarchivs in Berlin. Trotz dieser unübersichtlichen Quellenlage wage ich einen Blick auf das Exil von Musikern aus Österreich, nachdem ich, aus Hamburg kommend, das 1991/92 schon einmal – unter dem Gesichtspunkt „deutschsprachige Flüchtlinge“ – getan habe. Damals besuchte ich den Österreicher Georg Knepler (1906–2003) in Ostberlin. Ich bat ihn darum, mir einige Fragen zu seinem Exil in England zu beantworten. Er lehnte ab, denn er habe dies bereits Österreichern zugesagt, die ein Projekt über Österreicher im Exil planen. „Und wie lautet Ihr Thema?“ „Deutsche und österrei1 2
Aus dem Brief von Ralph Vaughan Williams an Ferdinand Rauter, 16. August 1942. Siehe dazu die Publikation Marietta Bearman et al., Out of Austria: The Austrian Centre in London in World War II., London–New York 2008. Sie befaßt sich mit verschiedenen Aspekten des Zentrums der österreichischen Emigranten in London.
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chische Musiker im englischen Exil.“ „Warum unterscheiden Sie nicht zwischen Deutschen und Österreichern?“ Und ich begründete: „Mit dem Anschluß Österreichs galten für die österreichischen Musiker doch die gleichen Gesetze wie für die deutschen. Und die Engländer machten keine Unterschiede zwischen Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich.“
Knepler, fünfzig Jahre älter als ich, schaute mich eher kopfschüttelnd als fragend an. Er hielt auch nach fünfundvierzig Jahren wenig davon, mit deutschen Flüchtlingen „in einen Topf“ geworfen zu werden. Meine anfängliche Enttäuschung entschädigte er vier Jahre später, als er all das, was ich über seine Tätigkeit im Austrian Centre und an der BBC herausgefunden hatte, geduldig und postwendend korrigierte. Und doch bin ich damals bei meiner gemeinsamen Betrachtung der beiden Länder geblieben – gerade nach der Auswertung von Konzertprogrammen mit gemeinsamen Auftritten von deutschen und österreichischen Musikern auf Londoner Bühnen. Und war denn nicht gerade Georg Knepler das beste Beispiel für den gewaltsamen Abbruch einer Karriere in beiden Ländern? Er hatte in Österreich u. a. bei Egon Wellesz und Hans Gál studiert, über Brahms promoviert und war dann als Korrepetitor nach Deutschland gegangen. 1933 blieb ihm als Jude keine andere Wahl als Wien, um von hier aus ein Jahr darauf nach England ins Exil zu gehen. Nach dem Ende des Krieges und einer kurzen Rückkehr nach Österreich übersiedelte er in die neugegründete DDR. Eine außergewöhnliche Entscheidung für einen Österreicher! Das fiel mir wieder ein, als ich mich nun daran machte, über österreichische Musiker im englischen Exil nachzudenken. Warum sollte das nicht möglich sein? Inzwischen sind mehr als zehn Jahre vergangen und Wolfgang Muchitsch3 hatte mit seiner Dokumentation Blick auf das Exil von Österreichern verschärft und erweitert. Denn wenn man sich insbesondere auf die österreichischen Flüchtlinge in England konzentriert, bekommt man eine durchaus andere Wahrnehmung von der deutschsprachigen Kultur. Kommen wir nun zu den Flüchtlingszahlen. Nach dem von Herbert Strauss und Werner Röder 1983 herausgegebenen Internationalen Biographischen Handbuch der zentraleuropäischen Emigration4 waren bis zum September 1936 jährlich „einige Tausend“ Nazi-Flüchtlinge nach Großbritannien gekommen. Zwei Jahre später zählten diese bereits 11.000 und ein Jahr darauf, im September 1939 knapp 46.500. Dabei muß man allerdings auch die Tatsache berücksichtigen, daß vor 1938 eine beträchtliche Anzahl von Juden in anderen Ländern als in England Zuflucht gesucht hatte.5 3 4 5
Wolfgang Muchitsch, Österreicher im Exil. Großbritannien 1938–1945: Eine Dokumentation, Wien 1992. Werner Röder & Herbert A. Strauss (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 (= International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945), Bd. II, München 1983. Im Vorwort seines kürzlich erschienen Buches Jewish Refugees from Germany and Austria in Britain 1933– 1970: Their Image in AJR Information, London 2010, nennt Anthony Grenville die Zahl von fast 50.000 Flüchtlingen, die aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei permanent in England siedelten.
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Betrachten wir nun die Österreicher wieder für sich genommen. Nach dem 25. Juli 1934, dem Tag des faschistischen Putschversuches und der Ermordung von Dollfuß, flohen bereits die ersten Verfolgten nach England. Bis zum 2. Weltkrieg waren zwischen 27.000 und 31.000 (je nach Quelle) österreichische Juden nach Großbritannien emigriert. Nach den mir vorliegenden Daten schienen 60% der jüdischen Emigration nach England aus Österreich gekommen zu sein – eine erstaunliche und anscheinend wenig bekannte Tatsache. Oder anders ausgedrückt: Großbritannien wurde für österreichische Juden nach dem sogenannten Anschluß im März 1938 zum bevorzugten Flüchtlingsland. Flüchtlinge aus Österreich konnten die gelockerte Aufnahmepolitik der britischen Behörden im Vergleich zu den deutschen Flüchtlingen acht Monate früher nutzen, um das Land zu verlassen.6 Langjährige geschäftliche Kontakte von Österreichern nach England zahlten sich aus. Insbesondere Juden aus der Mittelklasse nutzten das Visa-System und holten oft erfolgreich Verwandte nach. Den größten Anteil der österreichischen Flüchtlinge bildeten Wiener Juden. Juden außerhalb Wiens stellten eher die Ausnahme dar. Die Wiener kamen aus den inneren Bezirken der Stadt, wo sie sich assimiliert hatten. Sie pflegten einen gutbürgerlichen Lebensstil und fühlten sich der deutschen Kultur verpflichtet.7 Eher wenige hingegen stammten aus der Leopoldstadt oder dem 20. Bezirk, dort, wo sich die ärmeren, orthodoxeren Ostjuden angesiedelt hatten. In London angekommen oder gestrandet, hatten sich zwischen 1880 und 1914 etwa 100.000 russische Juden nahe der Ost-Londoner Docks, zum größten Teil im Stadtteil Whitechapel angesiedelt.8 Die Mittelklasse-Juden aus Wien bevorzugten nun jedoch Hampstead und die angrenzenden nordwestlichen Bezirke Londons. Sie zogen ein möbliertes Zimmer mit einer Kochstelle in einer bürgerlichen Umgebung unter Engländern einer geräumigeren und billigeren Unterkunft, in der sie als Flüchtlinge eher unter sich waren, vor.9 Kommen wir nun zum Problem der Vergabe von Arbeitserlaubnissen. Abgesehen von den Bemühungen des von Briten im Mai 1933 gegründeten Academic Assistent Council, das für kurze Zeit Akademikern Anstellungen an britischen Universitäten verschaffte, erhielten Musiker so gut wie keine Arbeitserlaubnis. Die aus eher wohlsituierten österreichischen Familien stammenden Musiker fanden sich plötzlich als Dienstboten, Krankenpfleger wieder oder lebten von den Zuwendungen von Flüchtlingskomitees. Der Grund: Die englische Musikergewerkschaft bestand darauf, daß keine Flüchtlinge englischen Musikern die Arbeit streitig machen durften. Wollten Engländer österreichische Musiker trotzdem engagieren, 6
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Anthony Grenville, The Social Background to Austrian Literature in Exile in Great Britain after 1938. Ms., S. 1. Vortrag, gehalten 2003, London University, Research Centre for German and Austrian Exile Studies, Institute for Germanic Studies. Darauf hat Anthony Grenville in Jewish Refugees from Germany and Austria in Great Britain 1933–1970, S. 17, hingewiesen. Linda Zeff, Jewish London, London 1986, S. 10. Werner Rosenstock, The Jewish Refugees: Some Facts, in: Britains New Citizens: The Story of the Refugess from Germany and Austria; AJR 1941–1951. Association of Jewish Refugees in Great Britain, 10th Anniversary Publication, London 1951, S. 15–19, hier S. 19.
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mußten sie zuvor eine Arbeitserlaubnis beim Home Office beantragen.10 Als die BBC nach 1933 Musiker vom Kontinent verpflichtete, kam sie dieser Aufforderung regelmäßig und meist mit Erfolg nach. Die BBC wurde so für viele Österreicher zum Rettungsanker. Denn sie erhielten als Kammermusiker oder Sänger eine Auftrittsmöglichkeit und konnten sich somit ein bescheidenes Einkommen sichern. Gerade mit Auftritten und Sendungen an der weltberühmten BBC verbanden geflüchtete Musiker und Musikwissenschaftler große Hoffnungen, im Land Fuß fassen zu können.11 Eine Festanstellung zu erhalten, war trotz aller Wertschätzung, wie sie zum Beispiel Karl Geiringer (1899–1989) erfuhr, unmöglich. Seine großen Hoffnungen, in England zu leben und seine Familie ernähren zu können, erfüllten sich nicht. So sollte seine Weiterwanderung12 zum besonderen Glücksfall für die Musikwissenschaft in den USA werden. Geiringer war nämlich nicht nur Kurator und Bibliothekar der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, sondern darüber hinaus auch Haydn- und Brahmsspezialist und Kenner früher Instrumente. Welche Möglichkeiten boten sich nun, um zu musizieren und als Musiker im Gastland Anerkennung zu finden? Wie keine andere Berufsgruppe sind Musiker darauf angewiesen aufzutreten und sich dem Wettbewerb mit Musikern des Gastlandes zu stellen. Gerade die europäische Kunstmusik macht dies ja möglich. Und nicht zufällig zeigt die englische Musikgeschichte eine besondere Wertschätzung von kontinentalen Musikern und Komponisten. Denken wir an Händel, Haydn, Mozart, Beethoven, Dvořák, Mendelssohn, Wagner und andere. Deshalb hegten geflüchtete Musiker trotz Berufsverboten immer wieder Hoffnungen, in England Fuß zu fassen. Bis zum Beginn des Krieges boten sich den österreichischen Flüchtlingen in der englischen Öffentlichkeit nur wenige Auftrittsmöglichkeiten. Trotzdem sind Kammerkonzerte in Londoner Konzertsälen überliefert mit dem Musikologen Mosco Carner, ehemaliger Operndirektor in Opacha und Danzig, und der Hamburger Sängerin Erika Storm. Die Sopranistin berichtete mir von Konzerten in englischen Seebädern, die sie trotz Arbeitsverbots gegeben habe.13 Ob auch österreichische Musiker von dieser Nische Gebrauch machten, ist durchaus anzunehmen. Mit Beginn des Krieges verschärfte sich die Lage für die Flüchtlinge. Die BBC entschied, Vokalmusik in deutscher Sprache von Sendungen für das Inland aus dem Programm zu streichen. Werke, deren Copyright bei Verlagen in Deutschland und Österreich und später in den von den Nazis okkupierten Ländern lagen, wurden vom Sendeplan gestrichen. Deutsche und österreichische Flüchtlinge behandelte man nach Kriegsbeginn als „enemy aliens“ und ein großer Teil von ihnen wurde im 10
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Jutta Raab Hansen, NS-verfolgte Musiker in England: Spuren deutscher und österreichischer Flüchtlinge in der britischen Musikkultur (= Musik im „Dritten Reich“ und im Exil, hrsg. von Hanns-Werner Heister und Peter Petersen, Bd. 1), Hamburg 1996, S. 143. Siehe dazu das Kapitel „Tätigkeit von Flüchtlingen in der B.B.C.“, in: ebenda S. 141–143. Personalartikel Karl Geiringer, in: MGG, Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Personalteil 7, Kassel etc. 2002, Sp. 689f. Gespräch der Autorin mit Erika Storm, London 1992.
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Mai 1940 in Flüchtlingslager interniert und von da aus auch nach Australien und Kanada deportiert. Darunter waren auch Musiker. Der österreichische Pianist Peter Stadlen fand sich auf diese Weise in Down Under wieder, wo er das Musikleben im Internierungslager organisierte und sich an Aufführungen beteiligte.14 Kommen wir nun zum Austrian Centre, der wohl vermutlich wichtigsten Flüchtlingsorganisation der Österreicher in England. Ins Leben gerufen wurde sie von den für ihr Organisationstalent bekannten Kommunisten als eine Begegnungsstätte. Lord Hailey eröffnete diese in Paddington im Mai 1939 gemeinsam mit österreichischen Landsleuten und über 150 englischen Freunden.15 Georg Knepler organisierte fortan das kulturelle Leben, spielte Klavier und arrangierte Musik für real vorhandene Instrumente. Ein Restaurant mit österreichischer Küche, Bibliothek, eine Art Volkshochschule und ein bescheidener Konzertsaal mit einem Flügel, dessen Beine durch Holzkisten ersetzt worden waren, gehörten dazu.16 Damit distanzierten sich in England die österreichischen Flüchtlinge von NaziDeutschland, dem sie mit dem Anschluß als eine der ersten Ausländer zum Opfer gefallen waren. Es schien, als ob der Anschluß etwas zu Tage förderte, was unterschwellig schon lange gegärt hatte. Die österreichischen Juden, erst eine relativ kurze Zeit in Wien angesiedelt und in vielen Fällen säkularisiert, waren Opfer ihrer christlich nationalsozialistischen Landsleute geworden. Nun in der Fremde hielten sie ihre österreichische Identität hoch. Die eigene Kultur sahen sie unter diesen Bedingungen in einem anderen Licht. So machte Albert Fuchs in seinem Vortrag auf der Kulturkonferenz des PEN in London 1942 klar: „Wir sind nicht Deutsche, obwohl wir die gleiche Sprache sprechen. Wir legen Wert auf die Feststellung, daß die Sprach-Identität nicht nationale Identität bedeutet.“17
Programmzettel und Kritiken im Zeitspiegel, der Austrian Centre herausgegebenen Zeitschrift, belegen Aufführungen der Kompositionen von Haydn, Mozart, Beethoven über Mahler bis hin Hans Gál und Egon Wellesz. Schönberg, Webern oder Berg, der Avantgarde zuzuordnen, spielten in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. Unabhängig von der kommunistischen Ideologie, die dahinter stand, bot das Zentrum mit seinen vier Zweigstellen in London österreichischen professionellen Berufsmusikern und unzähligen Amateurmusikern ein geschätztes Podium. Durch die relativ große Anzahl von österreichischen Musikern, darunter auch Lai14
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Peter Stadlen, Österreichische Exilmusiker in England, in: Beiträge ’90. Österreichische Musiker im Exil – Kolloquium 1988 (= Beiträge der Österreichischen Gesellschaft für Musik, Bd. 8), Kassel – Basel – London 1990, S. 125–133, hier S. 129. Charmian Brinson, Part One: „A very ambitious Plan“: The Early Days of the Austrian Centre, in: Out of Austria: The Austrian Centre in London in World War II, London–New York 2008, S. 6–21, hier S. 7. Vgl. Georg Knepler, Austrian Centre. Association of Austrians in Great Britain. Affiliated to the Free Austrian Movement, London: Free Austrian Books, o. J. (1944); seine Beschreibung des Musiklebens im Austrian Centre. Albert Fuchs, Über österreichische Kultur. Vortrag, gehalten auf der Kulturkonferenz des PEN London 1942, London 1942 (Austrian Centre), S. 6.
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enmusiker, und durch die Einbeziehung von Emigranten anderer Länder und englischer Musiker erlangte das Austrian Centre gerade auf dem Gebiet der Musik eine besondere Außenwirksamkeit. Richtgröße sind fünfzig Konzerte pro Jahr.18 Das Konzert zum 30. Todestag von Gustav Mahler 1941 in der Wigmore Hall regte beispielsweise einen BBC Mitarbeiter an, Mahler in die Programme der BBC einzubeziehen und Musiker des Konzertes dafür zu engagieren. Mit der Deklaration der österreichischen Unabhängigkeit durch die Alliierten vom 1. November 1943 war ein wesentliches Ziel der österreichischen Flüchtlinge, die keine Exilregierung besaßen, erreicht worden.19 Die musikalischen Veranstaltungen seien oft anspruchsvoller gewesen und besaßen ein anderes Format als die Veranstaltungen im Freien Deutschen Kulturbund, ins Leben gerufen von deutschen Kommunisten. Das berichtete mir die Geigerin Maria Lidka,20 die in beiden Zentren auftrat. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dies mit der Größe des Centre und der großen Zahl von Österreichern im Londoner Exil zu begründen. Mit Kriegsende war das Austrian Centre überflüssig geworden. Ich beschreibe nun eine andere Institution des gemeinsamen Musizierens von Briten und Österreichern, die Anglo Austrian Music Society. Ferdinand Rauter aus Klagenfurt hatte sich unter den Emigranten in England wegen der mutigen Abfuhr, die er Goebbels erteilt hatte, Respekt erworben: Der Propagandaminister hatte die Absicht, kurz vor dem Krieg ihn und die Sängerin Engel Lund, mit der Rauter seit 1929 mit „Many Folksongs of many Lands“ durch Europa tourte, für ein Programm nordischer Lieder in der Dresdner Staatsoper zu engagieren. Rauter sagte ab mit der Begründung: „Wir sind leider bis zum Ende des dritten Reiches ausgebucht!“21 Kurz nach dem Ausbruch des Krieges flüchtete Rauter mit der Isländerin nach England, wo er bereits gastiert hatte und Freunde besaß. Dem umtriebigen Pianisten sollte eine besondere Rolle für das britische Musikleben zukommen: Im Sommer 1940 spielten die beiden „feindlichen Ausländer“ Ferdinand Rauter und Peter Schidloff auf einer Londoner Polizeistation Schach. Im Zeltlager hörte dann Rauter zufällig, wie ein Mitinternierter das Mozartsche A-Dur-Violinkonzertes übte. Daraus ergab sich seine erste Begegnung mit Norbert Brainin22. Der Rest ist bekannt: Das Amadeus-Quartett. Nach Rückkehr aus der Internierung im Dezember 1940 setzte sich Rauter für die Gründung einer politisch unabhängigen Anglo Austrian Music Society ein. Seine Idee war es, österreichischen Musikern mit Hilfe von Engländern ein Podium für 18 19 20 21 22
Georg Knepler (Anm. 16), o. S. Declaration on Austrian Independence made by the Foreign Ministers of Great Britain, The United States of America and the Soviet Union – November 1st, 1943. Gesprächsprotokoll Lidka 1991. Anonym 1972. Peter Stadlen erzählt genau diese Geschichte in: Peter Stadlen (Anm. 14), S. 129. Siehe hiezu: Bericht von Ferdinand Rauter über dessen Internierung sowie die Entwicklung der Austrian Musicians’ Group und Anglo-Austrian Music Society 1940–1973, o. D. (1973), in: Österreicher im Exil – Großritannien 1938–1945. Eine Dokumentation, hrsg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Wien 1992, S. 449.
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gemeinsame Auftritte mit englischen Musikern zu besorgen. Als er sich an den bekannten Komponisten Ralph Vaughan Williams wandte, um ihn als Patron für die Gesellschaft zu gewinnen, schrieb dieser ihm am 16. August 1942, daß sein Anliegen ein großes Problem aufgezeigt habe. Ganz abgesehen von seiner persönlichen Beziehung zu vielen österreichischen Freunden und ihrer Kunst, sagte er: „The great thing which frightens me in the late peaceful invasion of this country by Austria is that it will entirely devour the tender little flower of the English culture. The Austrians have a great musical tradition, and they are apt to think theirs is the only musical tradition and that everything which is different must be wrong or ignorant; they think moreover that they have a mission to impose their culture wherever they go as being the only worth having.“
Ob das auch eine Anspielung auf die Außendarstellung der österreichischen Flüchtlinge sein sollte? Und weiter „We cannot swallow the strong meat of your culture which (even we wished to) our stomachs are not strong enough – indigestion and finally artistic purgation would result.“
Vaughan Williams schlägt Rauter deshalb vor: „We want your art and want your help – become Englishmen – try to assimilate our artistic ideas and then strengthen and fertilize them from your own incomparable art – but do not form a ,Little Austria‘ in England – keeping itself apart from the ,untouchables‘ and living its own musical life without any reference to the life going on around.“
Sechs Wochen23 später schrieb Vaughan Williams versöhnlicher und entschuldigt sich für seine Offenheit mit der Begründung, sie erlaube Rauter, sein Angebot auch wieder zurückzunehmen. Vaughan Williams schließt dann mit der Bemerkung, daß „wenn Gefahr bestünde, daß Haydn, Mozart und Schubert verschwinden, wir alle Anstrengungen unternehmen sollten, sie zu bewahren.“ 24
Ähnliche Befürchtungen hatte Vaughan Williams in einem Essay über die „friendly Invasion of these shores by an army of distinguished German and Austrian musicians“
geäußert, den er ebenfalls 1942 geschrieben, aber dann erst fast zwanzig Jahre später, 1963 in dem Aufsatz Nationalismus und Internationalismus veröffentlichte.25 Vaughan Williams Brief an Rauter aus dem Jahr 1942 ist abgedruckt auf der Umschlagseite der Broschüre zum 50jährigen Bestehen der Anglo Austrian Music Society. Leider habe ich bisher nicht herausgefunden, wer den Brief bis dahin aufbewahrte und wo das Original liegt. 23 24 25
29. September 1942. Briefe abgedruckt auf der Umschlagseite der Broschüre 50 Jahre Anglo Austrian Society, 1992. Vgl. dazu das Kapitel „Little Europe in England“ in: Jutta Raab Hansen (Anm. 10), S. 92–95.
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Der Zeitpunkt für Vaughan Williams’ Befürchtungen über den Verlust der Unabhängigkeit der eigenen Musiktradition muß dabei unbedingt berücksichtigt werden. Es war im Jahr 1942, als noch kein Ende des Krieges abzusehen und die Möglichkeit einer Invasion der Naziarmee noch nicht ausgeschlossen war. Hatte damit Vaughan Williams ausgesprochen, was andere Briten in dieser Zeit nur gedacht haben? Der Komponist ließ es sich trotzdem nicht nehmen, neben Imogen Holst (der Tochter des Komponisten Gustav Holst), Sir Adrian Boult, den Musikern Eugene Goossens und Myra Hess als Patron der 1942 gegründeten Gesellschaft mitzuwirken. Auftritte in der Wigmore Hall, der Queen Mary Hall, im Bloomsbury House, dem Haus des Volksliedforschers Cecil Sharp oder dem Whitehall Theatre bedeuten damit weitere Schritte der Österreicher hin zu den Engländern. Aus vier Konzerten im Jahr 1941 werden 1944 nahezu monatliche Auftritte. Und das Problem der Arbeitserlaubnisse ist durch britische Patrone erleichtert. Ein Konzert der Anglo Austrian Society, immer wieder erwähnt, ist das vom Juni 1943 in der Wigmore Hall „Austrian Music Banned by the Nazis“. Der Fleet Street Choir unter T. B. Lawrence sang Chorwerke von Egon Wellesz und Hans Gál. Dea Gombrich, R. Savage Temple und der aus australischer Internierung entlassene Peter Stadlen spielten Bergs Adagio für Violine, Klarinette und Klavier. Erika Storm aus Hamburg und Mosco Carner traten mit Grosz-, Krenek- und Mahler-Liedern auf. Peter Stadlen bezeichnet dies im Rückblick als einen lebendigen, kollektiven Umgang mit der Exilsituation.26 Nach dem Ende des Krieges änderte sich die Politik dieser Gesellschaft: Nun, in gemeinsamer Administration mit der Anglo-Austrian Society ging es um den Kulturaustausch zwischen beiden Ländern. Solisten und Ensembles aus Österreich wurden regelmäβig nach England eingeladen. Die Wiener Staatsoper gastierte 1947 an Convent Garden Opera House, die Wiener Philharmoniker spielten zum ersten Mal 1948 im Auftrag der Gesellschaft in London und die Wiener Sängerknaben tourten von 1950 bis 2000 nahezu jährlich durch Großbritannien.27 Eine andere Variante des Konzertierens mit österreichischer Beteiligung waren die Konzerte in der National Galerie am Trafalgar Square. Nach der Kriegserklärung der Briten an das Deutsche Reich vom 3. September 1939 ging man wegen der Bomben-Erfahrungen des 1. Weltkrieges daran, Londoner Kinder zu evakuieren. Die Gemälde der Nationalgalerie wurden an einen sicheren Ort gebracht, Konzerte und Kinoaufführungen abgesagt und Anweisungen zur Verdunklung gegeben. Doch es passierte erst einmal gar nichts. Zehn Monate lang fiel auf London keine einzige Bombe.28 In dieser Situation hatte die Pianistin Myra Hess (1890–1965), Schülerin des berühmten Lehrers Tobias Matthey, die Idee der 26 27
28
Peter Stadlen (Anm. 14), S. 130. Siehe Sammlung der Anglo Austrian Society, University of London, Institute of Germanic and Romance Studies, Library Senate House und Website Anglo Austrian Music Society http://www.aams.org.uk/index.htm. Constantine Fitzgibbon, The Winter of the Bombs: The Story of the Blitz of London, New York 1958, S. 23.
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Lunchtime Konzerte in der Nationalgalerie. Sie sagte ihre anstehende USATournee ab, mobilisierte Galerie-Direktor Kenneth Clark und bekam die Erlaubnis der Sachwalter der Galerie und vom Innenministerium. Sie organisierte Kammerkonzerte (mit wenigen Ausnahmen auch größere Besetzungen) im Kuppelsaal der Nationalgalerie. Die Idee war, den plötzlich arbeitslos gewordenen Musikern eine Gage zu verschaffen und mit einem Teil der Einnahmen den Musicians’ Benevolent Fund zu bestücken. Gleichzeitig sollten die für jedermann erschwinglichen Konzerte die leidgeprüften Londoner aufrichten. Seit Kriegsbeginn waren die für ihre Reiselust bekannten Engländer gezwungen, im Land zu bleiben, denn feindliche UBoote machten zudem das Reisen zu einem lebensgefährlichen Unternehmen. Hess zur Seite stand der irische Komponist, Musikologe und Pianist Howard Ferguson (1908–1999), der als Musiker zur Royal Air Force einberufen worden war. Er selbst bildete im Rahmen der Konzerte Duos mit Pauline Juler (Klarinette), Yfra Neaman (Violine) und Denis Matthews (Klavier). Um Tantiemen-Zahlungen an die Performing Right Society möglichst gering zu halten, bestand das Programm aus bewährten Kompositionen: Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann, Chopin, Dvořák. Hess eröffnete die Reihe im Oktober 1939 mit der Klaviersonate Appassionata. Siebenhundert herbeigeschaffte Stühle waren voll besetzt, Besucher standen oder saßen auf dem Fußboden, einige Hundert konnten gar nicht eingelassen werden. Damit war ein besonderes Ritual ins Leben gerufen worden. Im Juli 1943 hatten bereits 450.000 Zuhörer eine Eintrittskarte erworben, 13.000 Pfund konnten an Gagen bezahlt und dem Musiker Unterstützungsfond ₤ 8000 ausgehändigt werden. Mit dem annähernd 1700. Konzert im April 1946 beschloß das GrillerStreichquartett die Konzertreihe in der Nationalgalerie mit zwei Quartetten von Haydn und Beethoven. Unbeirrt von Kälte, Brandbomben bzw. V1 und V2 Raketen, Arbeitserlaubnissen, dem Verbot der deutschen Sprache an der BBC und Ausländerfeindlichkeit in der Bevölkerung verpflichtete Myra Hess österreichische und deutsche Musiker. Nur eines der Konzerte fand nebenan im South Afrika House statt. Die Zusammenarbeit mit der BBC aber kam erst allmählich in Gang. Den angefragten Mitschnitt eines Konzertes im November 1939 verweigerte Hess. Sie war der Meinung, daß die Corporation ihre führende Rolle in der Musik abgegeben habe, begründete das aber nicht weiter.29 Doch nach und nach gab es Rundfunkübertragungen der Konzerte für das In- und Auslandsprogramm der BBC. Unter dem Motto „Many Songs of Many Lands“ trafen Ferdinand Rauter und Engel Lund im Oktober 1939 den Nerv des damals „multikulturellen“ Londons. Darunter waren auch zwei deutsche Lieder. Lund/Rauter waren 26 Male30 am Trafalgar Square mit wechselnden Volksliedergruppen vertreten. Und die aus Leipzig stammende Elena Gerhardt wurde bereits im November 1939 gebeten, bei einem Schu29 30
Siehe Sitzungsprotokolle, BL, National Gallery Concerts, Sammlung. Die Äußerung von Rauter, dort über fünfzig Mal aufgetreten zu sein, kann nach dem Studium der Programme nicht nachvollzogen werden.
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bert-Programm mitzuwirken. Das war eindeutig ein kluger Schachzug von Myra Hess, die selbst jüdischer Abstammung war.31 Sie nutzte ihre Autorität, um den Vertriebenen das Exil zu erleichtern. Gerhardt hatte bereits als Dreiundzwanzigjährige 1906 mit Nikisch ihr Londondebüt gegeben. Mit Ausnahme des 1. Weltkrieges gab sie dort jährlich Gastspiele. Sie liebte England und wurde von den Briten als Liedersängerin geschätzt. 1935 war sie nach London emigriert und fühlte sich dort heimisch. In Anspielung darauf, daß während des 1. Weltkrieges die deutsche Sprache in englischen Konzertsälen verpönt war, betonte Gerald Moore, daß in der Nationalgalerie Mozart-, Beethoven-, Schubert- und Brahmslieder in deutscher Sprache gesungen wurden.32 Hess hatte sich nach dieser Quelle auch auf Proteste gegen deutsche Lieder eingestellt. Diese erfolgten jedoch nicht. Am 6. Oktober 1940 äußerte sich die Pianistin zu diesem Thema in der Sunday Times: Nachdem die Deutsche Wehrmacht Holland eingenommen hatte, habe die Leipziger Sängerin angeboten, ihr deutsches Programm zurückzuziehen. Hess nahm das jedoch nicht an und das Publikum reagierte darauf ganz eindeutig. „They made it unmistakably clear, that they were welcoming her a great artist, irrespective of her nationality. We do give modern English music, but we find that what audiences want is the music of Beethoven, Mozart, Bach, Brahms – they do not want to sit forward and grapple with new works, but to sit back and listen to the great music that they know.“
Österreichische Musiker spielten je nach Besetzung gemeinsam mit Musikern anderer Länder, jedoch insbesondere mit den deutschen Kollegen. So gaben mehrmalig der Österreicher Max Rostal und Franz Osborn aus Berlin einen Zyklus aller Beethoven Violin-Sonaten. 35 Jahre später bemerkt Rostal dazu: „In meiner sogenannten ,Wunderkind-Periode‘ hatte ich weder Interesse an Sonaten, noch wurde ich dazu angehalten, sie zu spielen [...] Ich erinnere mich nicht, in meiner Studienzeit bei Arnold Rosé oder Carl Flesch jemals eine Sonate erarbeitet zu haben. Nun hat sich das gründlich geändert, und es ist zu hoffen, daß die allgemeine Wertschätzung bei Spielern und Publikum mit der erfreulichen Entwicklung auch Schritt hält.“33
Die Aufführung der zehn Beethoven-Sonaten, die ansonsten, diskret von einem Pianisten begleitet, zum Einspielen bei Violinkonzerten dienten,34 mußte demzufolge in jenen Tagen ein Novum dargestellt haben. An den außergewöhnlichen Konzerten wirkten weiter die Pianisten Louis Kentner und Ilona Kabos, die Soubrette Irene Eisinger und Peter Stadlen mit. Kentner gehörte bereits zu den arrivierten 31 32 33 34
Siehe dazu: Jewish Women’s Archive online, Myra Hess. Gerald Moore, Bin ich zu laut? Erinnerungen eines Begleiters. Übersetzung: Else und Walter Winter, 4. Auflage, Tübingen 1967, S. 138. Max Rostal, Ludwig van Beethoven: Die Sonaten für Klavier und Violin. Gedanken zu ihrer Interpretation. Mit einem Nachtrag aus pianistischer Sicht von Günter Ludwig, München–Zürich 1981, S. 13. Ebenda S. 11.
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Musikern im Land. Er spielte ganz ohne Entgelt.35 Siegmund Nissel,36 trotz Kriegsarbeit auch für einen Auftritt dort engagiert, gibt zu bedenken, daß Kentner nicht mit anderen Musikern im Exil zu vergleichen ist, da er als eingeheiratetes Mitglied im Establishment keine Schwierigkeiten hatte, in England Fuß zu fassen. Kentner beteiligte sich u. a. an einer Beethoven-Serie, die alle Klavier- und Kammermusikwerke des Komponisten umfaßte. Die Zuhörer strömten. Peter Stadlen, wie Rauter auch interniert und nach Australien verschifft, stieß erst nach seiner Rückkehr im Februar 1942 zu den Konzerten. Er zeigt sich hier hauptsächlich als Interpret von Kompositionen Mozarts, Beethovens, Schuberts und Chopins. Sein Einsatz für die Zweite Wiener Schule spielte sich in London im Rahmen der von Boosey & Hawks organisierten Konzerte ab. (Darüber erfahren wir in einem anderen Zusammenhang mehr). Das Rosé-Quartett in wechselnden Besetzungen präsentierte am Trafalger Square ein Stück Wien in London. Jeder wußte – wie mir die Geigerin Maria Lidka aus Berlin erzählte – um das Schicksal von Arnold Rosé. Das Arnold Rosé Quartett war das einzige Streichquartett – Ernst Tomlinson spielte Viola – das vorwiegend aus emigrierten Musikern gebildet wurde. Ansonsten waren sämtliche StreichquartettBesetzungen ausschließlich britisch. Die Konzerte in der Nationalgalerie waren so etwas wie eine Vorwegnahme der späteren BBC 3 Programme. Kammermusik hatte bis dahin kaum oder relativ wenige Liebhaber in der Öffentlichkeit gefunden. Mit dieser Konzertreihe aber waren Kammermusikkonzerte zu einer nationalen Institution geworden. Österreichische Musiker wirkten mindestens an 160 Konzerten als Solisten mit oder traten zusammen mit britischen, deutschen, belgischen, französischen, ungarischen oder polnischen Musikern auf. Das Podium bot Kontakte mit Briten, und Entfaltungsmöglichkeiten sollten folgen. BBC-Mitarbeiter besuchten die Konzerte. Und mit der Etablierung der Außenpropaganda der BBC verpflichteten Redakteure Österreicher für musikalische Beiträge in Richtung Heimat. Georg Knepler spielte Klavier und schrieb Arrangements für das Programm „Der Alois mit dem grünen Hut“. Auch sein Vater, der Librettist Paul Knepler wirkte dabei mit. Aus einem Engagement ergab sich wiederum das nächste, so wie es bei Musikern unter normalen Bedingungen der Fall ist. Und wenn Kammermusik zum sichersten Weg wurde, um in Großbritannien als Musiker Fuß zu fassen, dann hatten die Konzerte in der Nationalgalerie einen Anteil daran. Und wie sieht es mit Positionen in englischen Orchestern aus? Musiker in einem Orchester zu werden, gelang der ersten Exilgeneration meines Wissens nicht. Verschieden Autoren, die außer mir der Frage nachgingen, fanden dafür keine Belege. Die Ausnahme bestätigt der Violinist Hans Geiger. Der Sohn 35 36
BL, National Gallery Concerts, Sammlung, Briefwechsel. Lidka – Raab Hansen, Gesprächsprotokoll 1992. Warum diese Sternchen? Das Gespräch habe ich mit ihr 1992 in London geführt und protokolliert. Es befindet sich in meiner Sammlung.
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Allround-Unterhaltungsmusikers Isidor Geiger (geboren in Ungarn, aufgewachsen und ausgebildet in Wien), setzte seine in Wien begonnenen Studien bei Max Rostal in London fort. Zu seiner Karriere als Musiker gehören u.a. das London Harpsichord Ensemble, English Chamber Orchestra, das Philharmonia Orchestra, die London Mozart Players und das London Symphony Orchestra (als erster Violinist von 1963 bis 1977).37 Während des so genanten „phoney war“, die Zeit nach der Kriegserklärung, die der Schlacht um Frankreich im Mai 1940 vorausging, begann das London Symphony Orchestra „war time concerts“ zu geben. Das London Philharmonic Orchestra folgte dem Beispiel. Das neugegründete Council for Encouragement for Music and Arts (CEMA) organisierte dann im ganzen Land Konzerte für die Zivilbevölkerung. Die Entertainments National Service Organisation (ENSA) tat das für die Bereiche der Armee. Dabei wurden die Symphonieorchester des Landes für eher unterhaltende Programme, Ouvertüren, Tänze usw. herangezogen. In diesem Rahmen verpflichtete man auch zum Beispiel Mosco Carner und Richard Tauber. Letzterer tourte mit dem London Philharmonic Orchestra durchs Land, übernahm auch die berühmten Beecham-Sonntagskonzerte38 in der Royal Albert Hall.39 Tauber ehrten übrigens am 20. Januar 1948 7000 Londoner mit einer Gedenkfeier in der Royal Albert Hall, bei der Adrian Boult das LPO leitete und Elisabeth Schwarzkopf sang.40 Die berühmte Ausnahme, als Dirigent im britischen Exil Fuß zu fassen, ist immer wieder Karl Rankl. Er dirigierte bereits in den letzten Kriegsjahren das BBC Orchester und auch das London Philharmonic Orchestra. Doch darüber erfahren wir an dieser Stelle von Matthias Wurz mehr Einzelheiten. Das Besondere an der Situation von geschätzten etwa 180 geflüchteten, professionellen Musikern im englischen Exil ist, daß die Engländer selbst immer wieder Ausnahmen von den kriegsbedingten Regeln zuließen. Es war jedoch keineswegs so, daß Emigranten auf diese Ausnahmen zählen oder gar bestehen konnten. In den Konzertalltag gelang Flüchtlingen aus Österreich zuerst der Einstieg über kammermusikalische Formationen. Mitglieder in Orchestern zu werden, blieb der zweiten Generation vorbehalten, den Kindern von „English men and women of Austrian birth“.
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Quelle: Alexander Knapp 2004, London. Diese Information habe ich einem unveröffentlichten Vortrag entnommen, den der Musikhistoriker Alexander Knapp in London gehalten hat und den ich transkribiert habe. Wenn ich mich recht erinnere, ist Knapp mit Geiger verwandt und wußte deshalb so viele Einzelheiten. Der Dirigent war während des Krieges nicht in Europa. Dein ist mein ganzes Herz... Zum 100. Geburtstag von Richard Tauber. Ausstellung 16. Mai – 23. Juni 1991, hrsg. vom Magistrat der Landeshauptstadt Linz, Stadtmuseum Nordico 1991, S. 22. Ebenda.
„Become Englishmen!“
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Quellensammlungen und weitere Literatur AJR 1951: Britain’s New Citizens: The Story of the Refugees from Germany and Austria. Tenth Anniversary Publication of the Association of the Jewish Refugees in Great Britain, London (AJR) 1951. Anonym 1972: „Sorry Herr Goebbels, we’re too busy“. Express & News (Hampstead and Highgate), June 16, 1972. British Library London. Collection National Gallery Concerts: In aid of the Musicians’ Benevolent Fund. 10th October 1939–10th October 1944, Printed for the Trustees, London 1944, sowie First performances, handschriftlich, mit alphabetischer Leiste von über 56 Werken. British Library London. Collection of Programmes National Gallery Concerts 1939-1946, letters and meetings. Broschüre 1992: If music be the food of love: 50 Years Anglo-Austrian Music Society 19421992, London 1992. Jürgs 2002: Michael Jürgs, Gern hab‘ ich die Frau’n geküßt. Die Richard-Tauber-Biographie, München (Ullstein) 2002. Lassimonne 1966: Myra Hess by her friends. Compiled by Denise Lassimonne; edited and with an introduction by Howard Ferguson; London (Hamish Hamilton) 1966. Scheu 1969: Frederick Scheu, The Early Days of the Anglo-Austrian Society, Manchester (Electric Modern Printing) 1969. Snowman 2002: Daniel Snowman, The Hitler Emigrés: The Cultural Impact on Britain of Refugees from Nazism, London (Chatto & Windus) 2002. The New Grove 2001: The New Grove: Dictionary of Music and Musicians. 2nd edition, ed. by Stanley Sadie; Executive Editor John Tyrell. Volume 9; London (Macmillan Publishers Ltd.) – New York (Grove’s Dictionaries) 2001. Gesprächsprotokolle Siegmund Nissel, Maria Lidka und Erika Storm, London 1992. Online Quellen Jewish Women’s Archive, Zugang 30. August 2010. http://jwa.org/encyclopedia/article/hess-dame-myra. Anglo Austrian Music Society, Zugang 30 August 2010. http://www.aams.org.uk/index.htm.
ERIK LEVI (London)
Egon Wellesz und Großbritannien in den Jahren 1906–1946 „Man kann annehmen, daß die allgemeine Auswanderung von Talent und Berühmtheit, die Hitlers Neue Ordnung auslöste, einige interessante Ergebnisse hervorbrachte; interessant ist das für Länder, die den vertriebenen genialen Männern zeitweise Zuflucht oder dauerhaftes Asyl gewährten. Es stört also umso mehr, daß der wichtigste kreative Musiker, der von Österreich aus in dieses Land kam, sechs Jahre völlig unbeachtet bleiben mußte. Ich weiß nicht, warum das so sein sollte, außer weil die Auffassung des neunzehnten Jahrhunderts, daß es gefährlich für einen Musiker sei, Verstand zu haben, hier besonders verwurzelt ist. Bei Egon Wellesz trifft es sich, daß er nicht nur eines der profiliertesten Mitglieder der Gruppe um Schönberg, sondern auch ein Musikwissenschaftler von beachtlicher Gelehrtheit ist; und in dem letztgenannten Fachgebiet warteten wir nicht so lange, ihn zu ehren.“1
Diese Worte des Kritikers und Wissenschaftlers Wilfrid Mellers bilden das eröffnende Gambit der frühesten detaillierten Bewertung des Werkes von Egon Wellesz durch einen britischen Autor. Mellers Artikel erschien zuerst in dem Journal Counterpoint 1945, erlangte aber zwei Jahre später eine wesentlich weitere Verbreitung, als er, als eines von vielen interessanten Kapiteln in Mellers bahnbrechendem Buch Studies in Contemporary Music, noch einmal abgedruckt wurde. Man könnte gut fragen, warum Mellers zugunsten eines so bedeutenden Musikers wie Wellesz so leidenschaftlich argumentieren mußte, eines Musikers, der immerhin die Auszeichnung genoß, der erste österreichische Komponist seit Haydn zu sein, dem von der University of Oxford ein Ehrendoktorat verliehen worden war. Sicherlich geht man bei der Überlegung, inwieweit sich das britische Publikum der Musik von Wellesz bewußt war, von einer falschen Voraussetzung aus. Und war es fair anzunehmen, daß Wellesz’ Bemühungen im wissenschaftlichen Bereich eine Barriere zur britischen Anerkennung seiner Leistungen als Komponist gebildet haben? Die meisten biographischen Studien über Wellesz heben seine enge Verbindung zu England vor seiner Emigration 1938 hervor. Wir wissen beispielsweise, daß Wellesz sogar vor dem Ersten Weltkrieg das Land mindestens zweimal besuchte und zudem auf verschiedenen internationalen Konferenzen eine herzliche Beziehung mit führenden britischen Wissenschaftlern aufbaute. Sein erster Besuch in England fand 1906 statt, als er in Cambridge sechs Wochen Englisch studierte. 1909 hatte er beim Haydn-Kongreß erstmals Kontakt mit dem hervorragenden britischen Wissen1
Wilfrid Mellers, Egon Wellesz and the Austrian Tradition, in: Studies in Contemporary Music, London 1947, S. 120.
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schaftler Edward Dent, und damals baute er eine lebenslange Freundschaft auf, die von 1924 bis 1938 zu einer engen Zusammenarbeit in der Organisation der „International Society for Contemporary Music“ führte.2 Zwei Jahre später, 1911, kam Wellesz nach London, um den Vortrag „Die Aussetzung des Basso Continuo in der italienischen Oper“ zu halten. Bei einem passionierten Humanisten wie Wellesz, der überaus aktiv war, eine wissenschaftliche und musikalische Kooperation zwischen unterschiedlichen Nationen aufzubauen, ist es vielleicht nicht überraschend, daß der Ausbruch des Krieges die erste bedeutende Lücke in seinem Schaffen bedeutete. Damals war auch jegliche Chance, daß seine Musik in England gehört hätte werden können, über Bord geworfen worden: nämlich durch das infolge der Kampfhandlungen ausgesprochene pauschale Verbot, zeitgenössische österreichische oder deutsche Musik aufzuführen – ein Bann, der bis in die frühen zwanziger Jahre nicht völlig aufgehoben wurde. In der unmittelbaren Zeit nach dem Krieg war es schwierig, durch das Lesen britischer Journale Informationen über irgendwelche musikalische NachkriegsEntwicklungen in Deutschland und Österreich zu erhalten. Eine interessante Ausnahme gab es durch Edward Dent, der schon vor dem Krieg viel Zeit in Deutschland verbracht hatte. Im Mai 1921 wagte sich Dent nach Frankfurt, um der ersten Aufführung von Wellesz’ Oper Prinzessin Girnara beizuwohnen. Seine Besprechung dieses Werkes bildete die Basis für einen erweiterten Artikel, der mit dem Titel „Mysticism in Opera“ in The Nation and Athenaeum vom 21. Mai veröffentlicht wurde. Obwohl ein Beitrag des Dramatikers Jacob Wassermann den Schwerpunkt von Dents Argumentation bildete, daß es eine spezifisch deutsche Beschäftigung mit Legende und Mystizismus gäbe, wurde Wellesz’ Musik in diesem Sinne herausgestellt: und zwar sowohl „wegen ihres starken Sinnes für Eklektizismus, was der Einfluß von Strauss, aber viel mehr noch von Mahler, Bartók und der modernen Französischen Schule zeigt“ als auch im Sinne eines „Ausdrucks von einem feinen gepflegten Geist“.3
Es ist schwierig abzuschätzen, wie weit Dents wohlgesinnte Besprechung der Prinzessin Girnara half, Wellesz’ Profil in England aufzuwerten. Nichtsdestoweniger begann Wellesz’ Name regelmäßiger in britischen Musik-Journalen zu fungieren, kennzeichnenderweise primär als spezieller Wiener Korrespondent der Zeitschriften The Chesterian sowie Musical News and Herald. Eine von Wellesz verfaßte Reportage aus Wien, die in Musical News and Herald im frühen Mai 1922 veröffentlicht wurde und die Aufführungen britischer Musik in der österreichischen Hauptstadt betrachtet, muß viel zur Heilung der Wunden des vergangenen Jahrzehnts beigetragen haben. Hier heißt es unter anderem: 2 3
Egon Wellesz, E. J. Dent and the International Society for Contemporary Music, in: The Music Review 1946, S. 205. Edward J. Dent, Mysticism in Opera, in: The Nation and Athenaeum, 21. Mai 1921, S. 296f.
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„Wir sind glücklich, seit diesem Winter mehr von englischer Musik zu wissen – das alte Vorurteil gegen sie kann nur von den wenigen, die Feindschaft zu dem Englischen aufrechterhalten, beibehalten werden.“4
Wellesz’ positive Beurteilung der Musik von Bliss und Holst trug sicher dazu bei, ihm den Weg für einen Besuch in London im Mai 1922 zu ebnen. Damals war der Komponist u. a. zu einem speziell zu seinen Ehren gegebenen Empfang mit verschiedenen führenden Persönlichkeiten des britischen Musiklebens eingeladen. Am 29. Mai tauchte Wellesz als Begleiter der Sopranistin Ursula Greville in der Steinway Hall auf, in einer Aufführung seiner Kirschblütenlieder und einer neuen Komposition Aurora für textlosen Sopran und Klavier, die im Anschluß daran vom Londoner Verleger J. W. Curwen gedruckt wurde. Es war vielleicht für Wellesz ungünstig, daß die Besprechungen des Konzerts etwas lauwarm waren, obwohl daran vor allem die Sopranistin Ursula Greville schuld war, der anscheinend die notwendige Musikalität fehlte, um eine vollkommen adäquate Aufführung der Aurora zu bringen.5 Wellesz’ Erscheinen in London setzte nichtsdestoweniger eine kurze Diskussion durch den Komponisten Felix White in Musical News and Herald in Gang. White bedauerte, daß Musik von „so delikater Sensibilität und herrlichem Verständnis für pianistische Werte“ bei den britischen Pianisten weitgehend keine Beachtung fand, und hoffte, daß diese Situation bald behoben würde.6 Dennoch weist bereits eine kurze Durchsicht von Soloabend-Programmen, die in Londoner Konzerten der folgenden Jahre dargeboten wurden, darauf hin, daß dieser Rat erfolglos blieb. Drei Faktoren sind es, die Wellesz’ Musik daran hinderten, in den zwanziger und dreißiger Jahren eine wesentlich größere Verbreitung in England zu erlangen. Erstens sollten wir festhalten, daß sehr wenige Besprechungen von seiner neuesten Musik in britischen Journalen erschienen. Obwohl sich unter denen, die gedruckt wurden, eine außerordentlich überschwengliche Resonanz auf die Cello-SoloSonate7 befindet, argumentierte die Mehrheit, die sich primär auf seine Kammermusik konzentrierte, daß seine Musik eines unverkennbaren Stils entbehre. Sogar sein loyaler Freund Edward Dent wies auf diesen Mangel hin. In einer Besprechung der Aufführung des Vierten Streichquartetts vom Juli 1922 in Salzburg lenkte Dent seine Kommentare eher darauf, Wellesz dafür zu preisen, daß er „alle modernen Techniken der Komposition mit wunderbarer Leichtigkeit assimiliert hat“8, als daß er die Aufmerksamkeit auf irgendeinen Punkt von Individualität gelenkt hätte. Besprechungen der wenigen Werke Wellesz’, die bei den IGNM-Festivals 1924 und 1928 aufgeführt wurden, durch britische Kritiker neigten dazu, solche Rügen stän4 5 6 7
8
Egon Wellesz, Letter from Vienna, in: Musical News and Herald, 6. Mai 1922, S. 567. Leigh Henry, Wellesz Kirschblütenlieder, in: Musical News and Herald, 10. Juni 1922, S. 715. Felix White, Egon Wellesz’s Piano Music, in: Musical News and Herald, 27. Mai 1922, S. 656. L. Dunton Greene, New Music Reviewed, in: The Chesterian, Jänner 1924, S. 157. Dunton-Greene weist darauf hin, daß das Werk außerordentlich schön sei. Nur ein erstklassiger Cellist könne diesem Werk gerecht werden, das für seine Tiefe und Inspiration, Vielfalt, aber auch Ausdrucksgehalt und Klangreichtum nicht nur eines der am zufriedenstellendsten Werke aus der Hand dieses begnadeten Komponisten ist, sondern eines von höchster Schönheit geschrieben für dieses Instrument. Edward J. Dent, A New International, in: The Nation and Athenaeum, 2. September 1922, S. 743.
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dig zu wiederholen. Edvin Evans, der Autor eines Lexikon-Artikels über Wellesz in Cobbet’s erstmals 1929 publizierter Cyclopaedic Survey of Chamber Music, faßt diese Position zusammen, indem er argumentiert, daß „all die Quartette gut komponiert sind und von einer interessanten Musikerpersönlichkeit herrühren, aber, wie man von ihnen sagt, eher eine kritische als kreative Gesinnung verraten.“9 Ein zweiter Faktor, der Wellesz’ Reputation anhaftete, war ein Mißverständnis. Kein Zweifel, Wellesz hätte sicher argumentiert, daß die britische Fokussierung auf seine Kammermusikwerke in den zwanziger Jahren einen irreführenden Eindruck von seiner laufenden kreativen Tätigkeit vermittelt hätte; denn diese war unzweifelhaft auf das Theater ausgerichtet, auf welchem Gebiet er in der Weimarer Republik beachtliche Erfolge mit einer Serie von Balletten und Opern genoß. Aber über solche Erfolge wurden kaum, wenn überhaupt, in britischen Musikjournalen berichtet. In der Tat zeigten die Briten während der ganzen zwanziger Jahre kaum Interesse an den kontinentalen Entwicklungen auf dem Gebit der Oper und ignorierten sogar weitgehend solch hoch-profilierte Werke wie Hindemiths Cardillac und Kreneks Jonny spielt auf. Manche Autoren wie George Dyson und Hubert Foss gingen sogar so weit, zu vermuten, daß die Oper keine Zukunft habe – eine Position, die im übrigen deutlich von Wellesz selbst herausgefordert wurde, als er im Herbst 1933 eingeladen war, an der University of London eine Reihe von erklärenden Vorträgen über die zeitgenössische Oper zu halten.10 Während Wellesz’ Kammermusik über ihren Eklektizismus klassifiziert wurde und seine Bühnenwerke dem britischen Publikum völlig unbekannt blieben, lösten seine Aktivitäten als Gelehrter und Musikwissenschaftler durchgehend die größte Bewunderung aus. Die englische Übersetzung seines Buches über Schönberg im Jahre 1925 gewährleistete, daß sein Name sich weit über einen elitären Zirkel von Wissenschaftlern hinaus verbreitete. Darüber hinaus trug ihm seine umfangreiche Forschung über byzantinische Musik im britischen Musikbetrieb Anerkennung ein, und 1932 wurde er, nachdem er an der University of London einen Vortrag für die Royal Musical Association über dieses Thema gehalten hatte, einstimmig zum Ehrenmitglied dieser Institution gewählt. Hier ist es lohnend, tiefer zu erforschen, ob dieser dritte Faktor, nämlich Wellesz’ aufkeimende Reputation als Wissenschaftler, es nicht für seine Musik viel schwieriger machte, in England ernstgenommen zu werden. Eine eingehendere Prüfung des Inhalts der Urkunde des ihm 1932 verliehenen Ehrendoktorats der University of Oxford (Abbildung 1), würde suggerieren, daß dies der Fall ist. – Obwohl die Rede anläßlich der Überreichung dieses Diploms seine Kompositionen kurz erwähnt, wurde die primäre Aufmerksamkeit seinen Arbeiten über byzantinische Musik gezollt. Noch signifikanter ist vielleicht, daß die Oxford University Gazette in der Ankündigung von Wellesz’ Ehrendoktorat zwar seine Position als Professor für Mu9 10
Edwin Evans, Wellesz, Egon, in: Cobbett’s Cyclopaedic Survey of Chamber Music, Volume 2: I–Z, Oxford 1963, S. 578. Siehe: Prof. Wellesz’s Lectures on Opera, in: The Musical Times (Dezember 1933), S. 1130f., und Frank Howes, Professor Wellesz on Opera, in: Music and Letters, 1934, S. 120–127.
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sikwissenschaft an der Wiener Universität hervorhob, es aber es unterließ, sein Werk als Komponist zu erwähnen.11 Bis in die dreißiger Jahre war das effizienteste Mittel für das britische Publikum, mit der zeitgenössischen europäischen Musik bekannt zu werden, die „British Broadcasting Corporation“. In ihrem hervorragenden Buch über die BBC und die Wiener Schule hat Jennifer Doctor eine vollständige Übersicht über die Radiosendungen mit Musik Schönbergs, Bergs und Weberns in der Periode 1922–1936 gegeben und diese vor den Hintergrund von wachsendem Nationalismus und Isolationismus speziell in den dreißiger Jahren gestellt. Es war nur natürlich, wenn sich Wellesz ähnliche Gelegenheiten, wie sie seinen Wiener Kollegen gegeben wurden, zunutze machen wollte. Unglücklicherweise waren Wellesz’ Bemühungen, sein Werk in der BBC zu fördern, nur ein beschränkter Erfolg zuteil. Ursprünglich schienen die Chancen aber aussichtsreich. Im Juli 1931 führten die „Wireless Singers“ Wellesz’ Drei Chöre mit Texten von Silesius mit beachtlichem Beifall beim Oxforder Festival der „International Society of Contemporary Music“ auf. Dennoch gab es wenig Folgewirkungen dieses Erfolgs. Wie Caroline Benser bemerkt, trafen Versuche, seine Oper Scherz, List und Rache von der BBC gesendet zu erhalten, auf eine standhafte Ablehnung durch den „Controller of Music“, Adrian Boult.12 Darüber hinaus wurde die Kantate Mitte des Lebens, die Wellesz speziell der University of Oxford in Dankbarkeit für sein Ehrendoktorat gewidmet hatte, vom BBC Reading Panel abgelehnt. In der Tat erlebten die dreißiger Jahre lediglich die Sendung eines einzigen neuen Werkes: Das Klavierkonzert war am 21. Mai 1936 im Spätabendprogramm zu hören. Und das, obwohl sich eine Anzahl einflußreicher Personen im Interesse von Wellesz einschalteten und die BBC zu überzeugen versuchten, mehr Notiz von seinen Kompositionen zu nehmen. Vor diesem Hintergrund beginnt die Äußerung von Wilfrid Mellers, die am Beginn des Referates steht, Sinn zu machen. Trotz der umfassenden Bewunderung, die Wellesz als Wissenschaftler erfuhr, scheint es, daß wenige Menschen in England bereit waren, seine Kompositionen in der Bedeutung zu sehen, die sie verdienen. Darüber hinaus war es zutiefst ironisch, daß Wellesz genau in dem Moment in das Land emigrierte, als er mit dem Orchesterwerk Prosperos Beschwörungen wohl seinen größten Erfolg errang. Interessanterweise hatte der Kritiker Willi Reich in einem in der Februar-Ausgabe 1937 von The Monthly Musical Record13 veröffentlichten Artikel die britischen Leser auf das Werk aufmerksam gemacht: Er bezeichnete es als eine sehr wichtige Ergänzung zur symphonischen Literatur. Aber solche Meinungen zählten wenig in dem hoch aufgeladenen politischen Klima in jenen Jahren, die dem Zweiten Weltkrieg vorausgingen.
11 12 13
Siehe: Convocation of Honorary Doctorates, in: Oxford University Gazette, 27. April 1932, S. 481f., und 4. Mai 1932, S. 498. Caroline Cepin Benser, Egon Wellesz (1885–1974). Chronicle of a Twentieth-Century Musician, New York– Bern 1985, S. 97f. Willi Reich, New Tempest Music, in: Monthly Musical Record, February 1937, S. 38.
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Und so wenden wir uns nun Wellesz’ ersten Jahren des Exils in Großbritannien zu. Obwohl Wellesz zutiefst dankbar war, daß die University of Oxford seinen Lebensunterhalt sowie den seiner unmittelbaren Familie gerettet hatte, war seine Position keineswegs einfach. So ist es nicht überraschend, daß sein kreativer Impuls zunächst gleichsam austrocknete, und daß er sich erst im Jahr 1943 fähig fühlte, das Komponieren wieder aufzunehmen, als seine Position in Oxford fest etabliert war. Die Jahre der Unsicherheit waren zudem sicher mit der Erniedrigung durch die Internierung als „Feindlicher Ausländer“ auf der „Isle of Man“ verbunden. Obwohl ihm die BBC die Möglichkeit gab, eine Anzahl von Vorträgen über arabische Musik zu präsentieren, unterlagen seine Kompositionen dem pauschalen Verbot, Werke deutscher und österreichischer Komponisten zu senden, das 1940 eingeführt worden war. Dennoch, trotz der Rückschläge, Erniedrigungen und Unsicherheiten, blieb Wellesz während dieser Jahre als Wissenschaftler außerordentlich produktiv. Die Liste der Artikel, die er zwischen 1939 und 1946 fertigstellte, ist wirklich erstaunlich. Noch mehr gilt dies für die Themenpalette, der Wellesz seine Aufmerksamkeit widmete, eine Themenpalette, die in Tiefe und Weite ihrer Sichtweise konkurrenzlos erscheint, wie Abbildung 2 bestätigt. Wie Wilfrid Mellers 1945 aufzeigte, ist es gänzlich trügerisch zu argumentieren, daß Wellesz’ Aktivitäten als Wissenschaftler von seinen kreativen Impulsen als Komponist völlig getrennt seien. Eine detaillierte Studie über seinen bahnbrechenden Artikel „The Symphonies of Gustav Mahler“, veröffentlicht 1940 in der ersten Ausgabe des Musikjournals The Music Review, bestätigt diese Sichtweise wunderbar. Es muß betont werden, daß Mahler, als Wellesz diesen Artikel verfaßte und soweit es die Mehrheit der britischen Musiker betraf, eine musikalische Figur am Rande war. Vaughan Williams ging so weit, zu behaupten, daß Mahler bloß ein erträgliches Abbild eines Musikers sei. Dennoch wies Wellesz solche Behauptungen heftig zurück, indem er den Komponisten standhaft verteidigte: „In diesem Land ist Mahler immer noch zu wenig bekannt und zu niedrig eingeschätzt. [...] die dürftige Anzahl von Aufführungen seines Werkes steht im auffälligen Kontrast zu Mahlers Bedeutung als Komponist.“14
Vielleicht ist im Hinblick auf seine eigene schlafende kreative Betätigung einer der späteren Absätze in dem Artikel noch aussagekräftiger: Wellesz versucht hier zu erklären, wenn nicht gar zu rechtfertigen, daß die Antipathie gegenüber Mahlers Musik in Ländern, die außerhalb des deutschen und österreichischen Orbits liegen, nicht länger als relevant erachtet werden könne: „Was in der Zeit von Mahlers Tod ein sich entwickelnder Versuch in der Kunst war, hat heute seine Erfüllung erreicht. Fragen, die in jenen Tagen leidenschaftlich diskutiert wurden, sind nun gelöst oder auf die lange Bank geschoben. Es scheint daher möglich, über Mahler, den Komponisten von Symphonien, zu 14
Egon Wellesz, The Symphonies of Gustav Mahler, in: The Music Review 1940, S. 2.
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sprechen — aber auch über einen Musiker zu diskutieren, den die Menschen in diesem Land sicherlich dem Namen nach kennen, und einen, von dessen Werken sie vielleicht gehört haben mögen und sich erinnern, aber der im Grunde unbekannt bleibt. Heute ist das Interesse an der Symphonie als einem Mittel des Ausdrucks von musikalischen Gedanken noch einmal aufgekommen, und ich glaube, daß es in so einer Zeit anregend sein könnte, die Bekanntschaft eines Komponisten zu machen, dessen hauptsächliche Kunst im Ausbauen und Bereichern der Form der Symphonie besteht, und zwar in einer bis dahin ungeahnten Art.“15
Ist es abstrus zu vermuten, daß Wellesz, während er diese Worte schrieb, sich selbst bereits mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen begann, daß auch er einen Beitrag zur Belebung des Interesses an der symphonischen Form liefern könnte? Ich glaube nicht. Im wesentlichen ebneten die wissenschaftliche Beschäftigung mit Mahler sowie früher (in den dreißiger Jahren) mit Bruckner den Weg für seine eigene großartige Folge von neuen Symphonien. In diesem Zusammenhang könnte der abschließende Absatz in seinem Mahler-Artikel von 1940 ebenso auf Wellesz angewandt werden wie auf seinen berühmten Vorgänger: „Ich bin überzeugt, daß die Zeit nicht weit entfernt ist, in der Mahler allgemein als der letzte große Repräsentant der Wiener klassischen Schule anerkannt sein wird. Denn in ihm sprach die Musik noch einmal mit der Sprache von Haydn und Schubert, nun aber ist sie leider durch ein unerbitterliches Schicksal zum Schweigen gebracht worden.“16
15 16
Ebenda S. 3. Ebenda S. 22.
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Anlage A
Wellesz und Großbritannien 1. In (und über) Großbritannien 1912 bis 1946 publizierte Artikel von Egon Wellesz 1912
Die Aussetzung des Basso Continuo in der italienischer Oper (International Music Society)
1921
Letters from Vienna (Musical News and Herald, The Chesterian)
1922
Letters from Vienna (Musical News and Herald) Englische Musik (Anbruch) Schoenberg’s Treatise on Harmony (The Sackbut) Is there a future for Grand Opera? (The Sackbut) Music in Vienna (The Sackbut)
1923
Letters from Vienna (Musical News and Herald) Some Exotic Elements of Plainsong (Music and Letters) Ein englisches Buch über Mozart (Anbruch)
1924
The Beginning of Opera in Vienna (The Sackbut)
1925
Arnold Schoenberg (englische Übersetzung) Present Tendencies in Austria (The Sackbut)
1929
The New Instrumentation (The Sackbut)
1932
Über England (Anbruch) Byzantine Music (Proceedings of the Royal Musical Association)
1933
Professor Wellesz on Opera (Musical Times)
1934
Musik in England (Wiener Zeitung)
1936
Alban Berg (Monthly Musical Record) Chinese Music (Monthly Musical Record) The Original Versions of Bruckner’s Symphonies (Monthly Musical Record) The Revision of Bruckner: Return to First Sources (The Times)
1937
Music in Vienna: The Spring Season (The Times) Vienna Festival: an International Competition (The Times) Another Aspect of Salzburg: the background of the Festival (The Times)
Anlage
409
The Salzburg Concerts: Recital on Mozart’s Grand Piano (The Times) Music in Vienna: Opera and Symphony (The Times) 1938
Problems of Contemporary Music (Monthly Musical Record)
1940
Italian Musicians at the Austrian Court (Music Review) The Symphonies of Gustav Mahler (Music Review) Grove Dictionary Articles: Cavalli, Eastern Church Music, Hofmannsthal, Musicology, Opera, Vienna
1942
Eastern Elements in English Ecclesiastical Music (Journal of the Warburg and Cortauld Institutes)
1943
Don Giovanni and the dramma giocoso (Music Review) Melito’s Homily on the Passion: An investigation into the sources of Byzantine Hymnography (Journal of Theological Studies)
1944
On Greek Choral Music (Musical Times)
1945
Earliest Example of Christian Hymnody (Classical Quarterly) Arnold Schoenberg (Counterpoint) English Musical Life: A Symposium (Tempo)
1946
E. J. Dent and the I.S.C.M. (Music Review) Schoenberg: Gurrelieder (The Listener) Monteverdi’s Vespers (Musical Times) Musik in England (ÖMZ) An Alban Berg Manuscript at Oxford (Tempo)
2. Artikel über Egon Wellesz in englischer Sprache vor 1947 1921
M. D. Calvocoressi, Egon Wellesz (Musical Times)
1922
Vance Wilson, Viennese Portrait: Egon Wellesz (The Sackbut)
1940
Hans Ferdinand Redlich, Egon Wellesz (Musical Quarterly)
1945
Wilfrid Mellers, Egon Wellesz and the Austrian Tradition (Counterpoint)
1946
H. F. Redlich, Wellesz – an Austrian Composer in Britain (Music Review)
1947
Wilfried Mellers [wie 1945], in: Studies in Contemporary Music
410
Erik Levi
3. Wichtige, Großbritannien betreffende biographische Ereignisse in Wellesz’ Leben 1906
Besuch von Cambridge
1911
Vortrag bei der „International Music Society“, London
1922
Besuch in London: Konzerte, offizieller Empfang Diskussionen mit Edward Dent zur Gründung der IGNM ( I.S.C.M.)
1931
IGNM-Festival in London und Oxford 1. Aufführung der Drei Chöre durch die „Wireless Singers“ in Oxford
1932
Vortrag über Byzantinische Musik bei der „Royal Musical Association“ Ehrendoktorat der University of Oxford
1933
Besuch in London: drei „illustrated lectures on Opera“ für die University of Oxford
1938
Zur Zeit des „Anschluß“ befand sich Wellesz in Amsterdam, wo sein Orchesterwerk Prosperos Beschwörungen aufgeführt wurde; von dort floh er auf Grund von Einladungen durch E. Dent, H. C. Colles und Hugh Allen nach England
1939
Wellesz nimmt seinen Wohnsitz in Oxford
1940
Internierung als „Enemy Alien“ auf der Isle of Man
1941
Nach seiner Entlassung wird Wellesz die Mitgliedschaft des „Lincoln College Oxford“ verliehen Vorträge über Arabische Musik für die BBC
1943
Wellesz komponiert sein 5. Streichquartett
1944
Wellesz komponiert The Leaden Echo and the Golden Echo
1945
Wellesz komponiert seine 1. Symphonie
Anlage
411
Anlage B
Rede des „Public Orator“ der Oxford University, 1932 Das folgende Zitat ist der Rede vom 10. Mai 1932 anläßlich der Verleihung des Ehrendoktorates an Edward Dent, Henry Colles und Egon Wellesz entnommen (publiziert in der Oxford University Gazette vom 19. Mai 1932, S. 552f.): Professor Egon Wellesz: Cogit agmen Musarum comes, ex urbe Musis dilectissima Vindobona advectus, in qua plurimum a tenera aetate versatus est magnus ille vates cuius memoriam hodie renovamus. Accedit ad vos vir omnium quae ad artem musicam spectant scientia peritus, quam artem non modo qualis nunc est popularibus suis commendare studuit, sed etiam qualis fuit olim apud Byzantios ita interpretatus est, ut (quod inter homines pintos constat) nemo quod hic de ea re nesciat scire se postulet. Inter argumenta quae ipse in omni genere artis musicae modulatus est sunt quae animos nostros ad Graecorum Helicona referant: quae res utrum magis hodiernos cantus an priscas fabulas commendet, in dubio relinquam. Ne singula persequar, rediere nuper ad scaenam Bacchae, Euripidis fabular hoc interpretante modisque aptissimis consociante: quorum modorum ingenu libertas quantum ab inconcinno illo artificio distat quod olim theatris Vindobonensium placuisse nos docuit, cum primum haec operatrix pars Musicae recepta est! Atque utinam Argonautas quoque comitari alter Orpheus paret: id enim aetatis est ut inter heroas adhuc versari possit neque Symplegades aut lucus Martis modis numerisque tam mobilibus aditum negabunt. Salutamus hospitem exoptatissimum, qui cum multis rebus priorum illarum feriarum imaginen repraesentat, tum clausulam his praesentibus feriis atque huic potissimum celebrationi accademicae aptissimam imponit. Itaque praesento vobis modorum artificem doctissimum Egon Wellesz in Universitate illustrissima Vindobonensi artis musicae Professorem, ut admittatur ad gradum Doctoris in eadem arte honoris causa.
OTTO BIBA (Wien)
Kurt Roger und Peter Stadlen Diese Ausführungen befassen sich mit zwei Persönlichkeiten, die für die Thematik des Symposions weitgehend atypisch sind, das hier zu gewinnende Bild aber abrunden und ergänzen können. Der eine, der Komponist Kurt Roger, ist nach Großbritannien emigriert, wollte das Land zu seiner zweiten Heimat wählen, doch wurde ihm dies nicht ermöglicht. So zog er in die USA weiter. Erst in seinem letzten Lebensjahr, nein, fast muß man sagen in seinen letzten Lebenswochen, ist er in die Heimat seiner Frau, in die nordirische Stadt Belfast, gezogen. – Er wollte also Komponist im britischen Exil sein, war aber gezwungen, Komponist im amerikanischen Exil zu sein. Der andere, Peter Stadlen, war zwar im britischen Exil, aber er war kein Komponist, sondern Pianist und im weiteren einer der führenden Londoner MusikRezensenten. Auch er entspricht also – wenn auch aus ganz anderen Gründen – nicht der primären Thematik des Symposions „Komponisten im britischen Exil“, kann aber dieses Thema erhellen. Beide Persönlichkeiten verbindet, daß sie bei aller Anhänglichkeit an ihre alte Heimat nach 1945 erhaltene Angebote, in diese zurückzukehren, nicht angenommen haben. Auch darauf hinzuweisen ist wichtig, weil bei den Diskussionen, ob Österreich nach seiner Wiedererstehung Emigranten in genügendem Maße zur Rückkehr eingeladen habe, doch auch von jenen gesprochen werden muß, die Einladungen erhalten haben und diesen nicht gefolgt sind, weil sie sich in ihrer neuen Heimat eine Berufslaufbahn geschaffen hatten, die ihnen mehr Möglichkeiten bot als das Leben im Nachkriegs-Österreich hätte bieten können. * Kurt Roger wurde am 3. Mai 1895 in Auschwitz (heute: Oświęcim, Polen) geboren. Er entstammte einer alteingesessenen Wiener Familie, doch war sein Vater, als seine Frau schwanger war, als Eisenbahningenieur beim Eisenbahnbau in Auschwitz beschäftigt, und seine Frau war mit ihm dorthin mitgekommen. So wurde für den Wiener Komponisten Kurt Roger Auschwitz geradezu zufällig zum Geburtsort. Roger war in Wien Kompositions-Schüler von Karl Weigl und Arnold Schönberg; an der Wiener Universität studierte er Musikwissenschaft bei Guido Adler. Dort wurde er 1921 mit der Dissertation „Peter Cornelius als Liederkomponist“ zum Doktor der Philosophie promoviert. Von 1923 bis 1938 unterrichtete er Musiktheorie und Komposition am Neuen Wiener Konservatorium. Daneben hielt er (seit wann, ist nicht dokumentiert) Vorlesungen an Wiener Volkshochschulen. Roger verfaßte Programm-Einführungen für die Wiener Konzerthausgesellschaft,
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Otto Biba
erwies sich dort als Apologet der neuen Musik (beeindruckend etwa, wie er Igor Strawinsky dem Publikum nahebrachte) und war auch sonst wissenschaftlichpublizistisch tätig. 1929 bewarb er sich um die Nachfolge von Eusebius Mandyczewski als Archivdirektor der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, allerdings vergeblich, da Mandyczewskis bisherige Mitarbeiterin Hedwig Kraus mit diesem Posten betraut wurde. Nach allen Quellen zu schließen, war er als Komponist in Wien in den dreißiger Jahren erfolgreich und gut präsent; sein Stil kommt aus der Spätromantik und arbeitet mit erweiterter Tonalität. Seinen großen Durchbruch als Komponist hatte er mit der Uraufführung seines Streichquintetts, op. 7, im Jahr 1932 durch das Rosé-Quartett (mit Otto Stieglitz als zweitem Cellisten) in einem Konzert außerhalb des Abonnement-Zyklus dieses Ensembles. Im Frühjahr 1938 emigrierte Kurt Roger nach London, und wie viele Emigranten fand auch er seine erste Wohnung in Chelsea. Am 16. Juni 1939 unterzog er sich der für Emigranten obligaten mündlichen Englischprüfung am Marlborough Institute in Chelsea, vom 13. Oktober 1939 datiert seine schriftliche Englischprüfung. Diese Prüfungsarbeit ist in Rogers Nachlaß erhalten und ein seltenes Dokument für die Emigrationsforschung, aber auch ein biographisches und – darüber hinausgehend – ein allgemeingültiges Zeitdokument: To my English teacher. I think it advisable and useful to write particulars about myself in order to give you some impression of the writer’s personage [vom Prüfer korrigiert zu: person]. I came to England a year ago as a refugee from Vienna, Austria. Before my country was annexed by brutal Nazi aggression against its will and in a treacherous way and was suppressed by the cruel Nazi hordes I had lived in Vienna for 40 years. There I passed all my schools, primary and secondary schools and Vienna University. After I had served in the old imperial Austrian Army and fought for three years in the Great War against Russia and Italy I left the service as second lieutenant. After the War I finished my studies and got the degree of a doctor of music and philosophy [vom Prüfer korrigiert zu: Doctor of Music and Philosophy]. I established myself as composer, music-scientist [vom Prüfer unterstrichen] and teacher for [vom Prüfer korrigiert zu: of] history of music and composition at a conservatoire in Vienna and became professor for musical lectures [vom Prüfer korrigiert zu: of music] at the popular University of that city. As music-scientist I contributed the article „Vienna as music town“ for Grove’s Dictionary of Music and Musicians“. (third Edition). After the Nazi invasion I lost all my positions and escaped from Nazi terrorism to this country. Now I am awaiting here the American Visa in order to start a new life in the New World. In this first year on English soil I chiefly lived in London but had also Christmas holidays in Cheshire and Liverpool and a summer spent in Eire, County Waterford.
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Since my youth I was always very fond of the idea of democracy and humanity, so Britain has always been my favourite country and now facing this country, people and life by myself I was not disappointed inspite of my great expectations and I enjoy [vom Prüfer ergänzt: the] English country, people and life with hot [vom Prüfer verbessert zu: an ardent] desire to live to see this noble nation’s victory over Hitlerism, the most wicked fiend of Mankind. October 13th, 1939.
Dr. Kurt George Roger 29 Campden Hill Road Western 5861.
Am 11. Juli 1939 wurde im London Musical Club seine Lyrische Suite Eros für Sopran und Orchester in der Fassung für Sopran und Klavier uraufgeführt. Den Klavierpart spielte Georg Knepler. Freunde rieten Roger, in allen seinen Ansuchen um die bleibende Aufenthaltsbewilligung in Großbritannien seine Ausbildung als Musikwissenschaftler in den Vordergrund zu stellen, da er als Wissenschaftler mehr Chancen hätte denn als Komponist. Als Roger erkannte, daß er keine bleibende Aufenthaltsbewilligung bekommen würde und ihm die Internierung – möglicherweise auch außerhalb der britischen Inseln – drohe, zog er nach New York, wo er mit Unterricht an Colleges und Universitäten rasch wirtschaftlich Fuß fassen konnte. 1945 erhielt Roger die amerikanische Staatsbürgerschaft. In diesem Jahr hat er mit nicht weniger als fünf Uraufführungen in der Carnegie Hall auch als Komponist in der neuen Heimat endgültige Anerkennung gefunden. 1953 zog er nach Washington, D.C.; er unterrichtete hier an Universitäten und war auch außerhalb dieser als Vortragender tätig. Interpreten seiner Werke in den USA waren, um einige prominente Namen zu nennen, Rafael Kubelik mit dem Chicago Symphony Orchestra, Erich Leinsdorf mit dem Rochester Philharmonic Orchestra, das National Symphony Orchestra (Washington, D.C.) und ebenfalls aus Europa stammende Musiker wie Paul Doktor, Leo Rostal und George Steiner. Uraufführungen seiner Werke gab es nicht nur in Rogers neuer amerikanischen Heimat (New York, Washington, Philadelphia, Buffalo, Madison, Oberlin), sondern auch in Dublin (1942), Belfast (erstmals 1964) und London (erstmals 1948), also auch dort, wo er ursprünglich gehofft hatte, Fuß fassen zu können. Seinen Lebensabend wollte Roger in der Heimat seiner Frau, der Bratschistin Joy Roger, in Nordirland, verbringen. Ihn länger zu genießen, war ihm nicht mehr vergönnt. Er starb schon am 4. August 1966, recht beziehungsvoll während eines Besuches in seiner Heimatstadt Wien. Die Frage einer Rückkehr nach Österreich hat sich für Kurt Roger nicht gestellt, obwohl oder gerade weil er mit der Heimat stets in engem Kontakt geblieben ist. Er war seit 1948 immer wieder als Gastprofessor an der Wiener Musikakademie und bei den Internationalen Sommerkursen des Salzburger Mozarteums tätig. Vier Werke von ihm wurden nach 1945 in Wien uraufgeführt: 1947 und 1960 die Opera 49, 88 und 101 von Kammermusikensembles der Wiener Philharmoniker und 1954 die Sonata concertante für zwei Klaviere, op. 57, von Josef und Grete Dichler. Wiener
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Interpreten haben sich auch außerhalb Wiens für Uraufführungen von Werken des aus Wien stammenden Komponisten Kurt Roger eingesetzt: Die Phantasie-Sonate für Viola d’amore und Klavier, op. 95, hat Kurt Roger ausdrücklich über Ersuchen des Wiener Viola-d’amore-Spielers Karl Stumpf komponiert, der sie 1959 in Madison (Wisconsin, USA) uraufgeführt hat, und der Wiener Cellist Wolfgang Herzer hat mit der Wiener Pianistin Hilde Blovsky die 1937 noch in Wien komponierte, aber wegen der Emigration unaufgeführt gebliebene Sonata da Camera, op. 35, im Jahr 1969 in London posthum zur Uraufführung gebracht. Die österreichische Bundesregierung verlieh Kurt Roger den Professoren-Titel und zeichnete ihn mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse aus. Bemerkenswert ist, daß Roger zeitlebens – auch und besonders in seiner neuen Heimat – in Vorträgen und Veröffentlichungen das Thema des „Österreichischen“ in der Musik beschäftigte. Rogers kompositorisches Schaffen zählt 116 Opusnummern. Es umfaßt Orchesterund Kammermusik, Konzerte für Solo-Instrumente und Orchester, Chorwerke, Lieder, Klavier und Orgelmusik. Es scheint so, daß Roger nur ausgewählte Jugendwerke in seine Opuszählung aufgenommen hat. Deutlich erkennt man, daß die kleine Form und die kleine Besetzung für ihn zeit seines Lebens die bevorzugten kompositorischen Ausdrucksmittel waren. Sein Nachlaß wurde von seiner Witwe, Joy Roger-Hammerschlag, dem Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien überlassen. Er enthält persönliche Papiere und Dokumente sowie einige Photographien, nur ein einziges Musikautograph, aber gedruckte oder Kopien abschriftlicher (meist von der Hand seiner Frau stammend) Partituren, Klavierauszüge und bzw. oder Aufführungsmaterialien zu folgenden Werken: Op. 2: Statuen, zwei Gesänge für Tenor und Klavier, 1918 (Europäischer Verlag, Wien–Leipzig 1933) Op. 5: Thanatos, Liederzyklus für eine Singstimme und Klavier, 1920 (Manuskript) Op. 7: De profundis, Streichquintett für 2 Violinen, Viola und 2 Violoncelli, 1929/1930 (Manuskript) Op. 9: Notturno, Streichquartett Nr. 1, 1931 (Manuskript) Op. 11: De Excelsis, Streichquartett Nr. 2, 1932 (Manuskript) Op. 15: Das Weib des Jephta, Tragödie für Musik nach Ernst Lissauer, 1933/34 (Manuskript) Op. 16: Humoresque, Streichquartett Nr. 3, 1934 (Manuskript) Op. 19: Drei Lieder für Baßstimme und Klavier, 1935 (Manuskript); Lied op. 19/3: Autograph Op. 20: Drei Lieder für Singstimme und Klavier, 1936 (Manuskript) Op. 21/3: Nacht, Lied für Singstimme und Klavier, 1936 (Musica Enrg., Montreal 1946) Op. 22: Drei Lieder für Singstimme und Klavier, 1936 (Manuskript) Op. 23: Drei Lieder für Baßstimme und Klavier, 1936 (Manuskript)
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Op. 24: Drei Frauenchöre, 1936 (Manuskript) Op. 25: Drei Lieder für Singstimme und Klavier, 1936 (Manuskript) Op. 26: Gothische Fantasie und Passacaglia für Orchester, 1936 (Manuskript) Op. 26a: Gothische Fantasie und Passacaglia für Orgel, 1936 (Manuskript); Doblinger, Wien 1999 Op. 27: Concerto grosso Nr. 1 für Solotrompete, Pauken und Streichorchester, 1938 (Chester, London 1954) Op. 29: Vier Lieder für Singstimme und Klavier, 1937 (Manuskript) Op. 31: Drei Sonette für Alt und Klavier, 1937 (Manuskript) Op. 33: Streichquartett Nr. 4, 1937 (Manuskript) Op. 35: Sonata da Camera für Violoncello und Klavier, 1937 (Manuskript) Op. 37: Sonate für Viola und Klavier, 1939 (Privatdruck) Op. 38: Zwei Lieder für Baßstimme und Klavier, 1941 (Manuskript) Op. 40: Suite für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott, 1941 (Manuskript) Op. 42: Streichtrio, 1942 (Manuskript) Op. 43: Sonate für Klavier, 1943 (Courthouse, Banbury o. J.) Op. 44: Sonate für Violine und Klavier, 1944 (Courthouse, Banbury o. J.) Op. 49: Variations on a roguish tune / Variationen über „O du lieber Augustin“ für Flöte, Oboe, Klarinette, Violine, Viola und Violoncello, 1944 (Manuskript) Op. 53: Sommer, Drei Gedichte von Christian Morgenstern für Singstimme und Klavier, 1946 (Manuskript) Op. 58: Variations on an Irish Air für Flöte, Violoncello und Klavier, 1948 (Manuskript) Op. 59: Japanische Blüten, vier Lieder für Baßstimme und Klavier, 1949 (Manuskript) Op. 62: Suite für 4 Trompeten, 4 Posaunen und Pauken, 1950 (Edition Moeck, Celle 1960) Op. 65: Sinfonische Variationen für Streichorchester über ein Thema von Richard Wagner, 1951 (Edition Moeck, Celle 1959) Op. 67: Partita für Violoncello und Klavier, 1951 (Manuskript) Op. 68: Vier Dialoge für Viola und Violoncello, 1951 (Manuskript) Op. 69: Sonatine für Violine und Viola, 1951 (Manuskript) Op. 70: Sonata da Camera für zwei Violinen, 1951 (Manuskript) Op. 77: Trio für Violine, Violoncello und Klavier, 1953 (Manuskript) Op. 78: Rhapsody für Klarinette, Viola und Harfe, 1954 (Manuskript) Op. 79: Sonate für Viola solo, 1954 (Manuskript) Op. 83: Duo für Violoncello und Kontrabaß, 1954 (Manuskript) Op. 85: Präludium und Fuge für Kontrabaß und Klavier, 1955 (Manuskript) Op. 86: Rondo für Englischhorn und Klavier (Manuskript) Op. 88: Quartett für Klavier, Violine, Villa und Violoncello, UA 1960 (Manuskript) Op. 90: Sonate für Violoncello solo, 1956 (Manuskript) Op. 92: Vier Skizzen für Flöte und Klarinette, UA 1958 (Manuskript) Op. 93: Scherzetto für Flöte und Klarinette (Manuskript) Op. 94: Tema con variazioni für Piccoloflöte und Klavier (Manuskript)
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Op. 95: Phantasie-Sonate für Viola d’amore und Klavier, 1957 (Manuskript) Op. 96: Trio für Violine, Horn und Klavier (Manuskript) Op. 97: Zwei Nocturnes für Klarinette, Violoncello und Klavier (Manuskript) Op. 99: Duo concertante für Flöte und Viola (Manuskript) Op. 100: Streichquintett Nr. 2 für 2 Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabaß, UA 1960 (Manuskript) Op. 101: Quartett für Flöte, Fagott und zwei Violen, UA 1960 (Manuskript) Op. 106: Fantasie für Harfe, Englischhorn und Viola d’amore (Manuskript) Op. 108: Oktett für 2 Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabaß, Klarinette, Fagott und Horn. Variationen über ein Thema von Anton Bruckner, 1962/63 (Manuskript) Op. 110: Zwei apokalyptische Szenen für Bariton und Orchester (Manuskript) Op. 111: Drei Trios für Oboe, Klarinette und Fagott, UA 1964 (Manuskript) Op. 112: Quintett für 2 Trompeten, Horn, Posaune und Baßtuba: Variationen über ein Thema aus Gustav Mahlers Achter Symphonie, UA 1964 (Manuskript) Op. 113: Streichquintett Nr. 3 für 2 Violinen, 2 Violen und Violoncello, 1964/65 (Manuskript) Op. 114: Trio für Violine, Viola und Klavier, 1965 (Manuskript) Op. 115: Concerto für zwei Hörner, Pauken und Streichorchester, 1965 (Manuskript) Op. 116: Quintett für Klarinette, zwei Violinen, Viola und Violoncello, 1966 (Manuskript) Die angegebenen Daten sind das Jahr der Komposition. Falls dieses unbekannt ist, wurde das Jahr der Uraufführung angegeben. Ein komplettes Werkverzeichnis ist auf Anfrage im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien erhältlich. * Peter Stadlen wurde am 14. Juli 1910 in Wien geboren, studierte in Wien an der Universität Philosophie sowie an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien bei Paul Weingarten (Klavier), Max Springer und Joseph Marx (Musiktheorie und Komposition) sowie bei Alexander Wunderer (Dirigieren). Danach noch von 1929 bis 1933 an der Berliner Musikhochschule Schüler von Leonid Kreuzer, war er seit 1931 als Konzertpianist tätig. Mit der Uraufführung von Weberns Variationen für Klavier, op. 27, am 26. Oktober 1937 im Brahms-Saal des Wiener Musikvereinsgebäudes ist Stadlen in die Musikgeschichte eingegangen. Kurz davor hat er bei der Biennale in Venedig Schönbergs Suite, op. 29, als Pianist vom Klavier aus geleitet, was damals ziemliches Aufsehen erregt hat. Im März 1938 befand sich Peter Stadlen auf einer Konzertreise in Holland, die er zunächst sogar unterbrechen wollte, um daheim an der von der österreichischen Regierung angekündigten Volksabstimmung teilnehmen zu können, als er von Hit-
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lers Einmarsch in Österreich hörte. Er absolvierte noch alle seine Konzerte in Holland und emigrierte von Holland direkt nach Großbritannien. In London wurde er 1940 – wie viele andere Emigranten auch – in Gewahrsam genommen, interniert und als „enemy alien“ zur Abschiebung nach Australien bestimmt. Thomas Mann, Yehudi Menhin und andere haben das Home Office darauf aufmerksam gemacht, auf welch großen Künstler London leichtfertig verzichtet. Bis darauf positiv reagiert wurde, war Stadlen schon unter menschenunwürdigen Bedingungen auf dem Weg nach Australien. In einem Lager im Busch war er – nebst jenen Arbeiten, die man im Arbeitslager von ihm erwartete – nebstbei musikalisch tätig. Für die Offiziere der Bewachungsmannschaft und lokale Honoratioren führte er Händels Israel in Ägypten mit einem 75 Mitglieder zählenden Lagerchor, einer Violine und Klavier auf, später auch Mozarts Krönungsmesse und den Gefangenenchor aus Fidelio. Peter Stadlen ist zu einem überzeugten Briten geworden. Was er mir aber über seine Zeit im englischen und dann australischen Internierungslager erzählt hat, zählt zu den erschütterndsten Augenzeugenberichten, die mir je erzählt wurden. Es dauerte ein Jahr, bis er wieder nach England zurückkehren durfte. Bei der Ankunft in Liverpool – nun nicht mehr in einem Gefangenentransport – wartete auf ihn eine Grußadresse und Nachricht von Ralph Vaughan Williams, der sich auch um Stadlens Rückkehr nach London bemüht hatte. In London war er nun einer der Mitbegründer der Anglo-Austrian-Music-Society, einer Interessensgemeinschaft für österreichische Musiker und österreichische Musik in London, die z. B. auch 1942 in London ganz prononciert und organisiert von Peter Stadlen den einhundertjährigen Bestand der Wiener Philharmoniker (natürlich ohne Teilnahme des Orchesters) gefeiert hat. 1946 ist er britischer Staatsbürger geworden. Stets hat er seine Kontakte zur Wiener Heimat gepflegt, an eine Rückkehr hat er aber nicht gedacht. Freilich, sein Haus in Hampstead war – nicht zuletzt auch dank der liebevollen Hände seiner ebenfalls aus Wien stammenden Frau Hedwig, geborene Simon, Tochter des Ökonomen und Neffen von Johann Strauß, Hans Simon – in einem von Familientradition geprägten Wiener Biedermeier-Ambiente eingerichtet. In der Nachkriegszeit haben Stadlen Konzertreisen auch wieder nach Deutschland und Österreich geführt. Zwischen März und November 1947 ist er elf Mal in Wien aufgetreten, Ende März/Anfang April, Ende Juni und Anfang November, jeweils im Zuge von europäischen Konzertreisen, aber an eine ständige Rückkehr nach Wien hat er nicht gedacht. Von so eminent wichtigen Werken wie Schönbergs Klavierkonzert, op. 42, sowie Paul Hindemiths Variationen für Klavier und Orchester Die vier Temperamente (1940 in Boston uraufgeführt und 1946 seiner ursprünglichen Bestimmung entsprechend erstmals in New York gegeben) hat er nach der NS-Zeit die europäischen Erstaufführungen gespielt. Mit letzteren machte er am 24. Juni 1947 mit den Wiener Symphonikern unter der Leitung des Komponisten – als europäische Erstaufführung - das Wiener Publikum vertraut, nachdem er am 21. Juni 1947 mit demselben Orchester auch Hindemiths Konzertmusik für Klavier, Blechbläser und zwei Harfen aus dem Jahr 1930 interpretiert hatte. In diesem Jahr 1947
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gab er in Wien auch einen Schubert-Zyklus und spielte Bartóks Drittes Klavierkonzert sowie Schostakowitschs Klavierkonzert, op. 35. „Die Rückkehr Peter Stadlens ist für Wien von gar nicht zu unterschätzender künstlerischer Bedeutung“, konnte man am 27. März in der Welt am Abend lesen. Aber es war und wurde keine Rückkehr zum Bleiben. Die europäische Erstaufführung von Schönbergs Klavierkonzert, op. 42, spielte Stadlen 1948 bei den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik, und nach einer Aufführung dieses Konzerts mit dem RIAS-Symphonieorchester unter Wilfried Zillig am 3. Februar 1949 in Berlin meinte Kurt Westphal über den Pianisten (Die Welt, 9. Februar 1949): „Für Schönberg gilt er heute mit Recht als authentischer Interpret“. Gleichzeitig hat er aber auch Stadlens am Tag davor zu hören gewesene Interpretation von Beethovens Diabelli-Variationen bewundert. – Von 1947 bis 1951 unterrichtete Stadlen an den Ferienkursen für neue Musik in Darmstadt (wo u. a. Hans Werner Henze sein Schüler war). Das Zentrum seiner Lebensinteressen und seines künstlerischen Wirkens blieb aber trotz vieler Besuche und Kontakte in und nach Wien nunmehr unverändert und uneingeschränkt London. Daß Stadlen dort 1953 mit dem Wiener Barylli-Quartett gemeinsam auftrat, unterstreicht nur seine (trotz der endgültigen Entscheidung für London) ungestört anhaltenden Beziehungen zu Wien. Österreich dankte ihm mit der Verleihung der von der österreichischen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik gestifteten Schönberg-Medaille, die ihm Unterrichtsminister Dr. Ernst Kolb im Rahmen der Salzburger Festspiele 1952 überreichte, und mit dem 1984 verliehenen Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse. Als er um die Mitte der fünfziger Jahre aus neurologischen Gründen immer weniger als Pianist auftreten konnte und 1956 seine pianistische Karriere endgültig aufgeben mußte, begann Peter Stadlen zu dirigieren und schließlich auch Vorträge zu halten und zu schreiben. 1959 wurde er Musikkritiker beim Londoner Daily Telegraph, 1977 dort Chefkritiker, bis er sich 1986 von dieser Tätigkeit, die ihm den Ruf des prominentesten Londoner Musikkritikers eingebracht hatte, zurückzog und nur mehr fallweise Besprechungen schrieb. Damals beschäftigten ihn längst auch schon musikwissenschaftliche Arbeiten, vor allem zur (Zweiten) Wiener Schule, zu Ästhetik und Kompositionstechnik sowie zu Beethoven. Richtungweisend blieben seine Arbeiten zu Beethovens Metronomisierungen, die ihn schließlich auf die Spur von Anton Schindlers Fälschungen in Beethovens Konversationsheften brachten. Am 21. Jänner 1996 ist Peter Stadlen in London verstorben. Seine gesammelte, Programme, Ankündigungen wie Rezensionen berücksichtigende Dokumentation der eigenen Auftritte als Pianist, Dirigent und Vortragender sowie die Sammlung aller seiner Musikkritiken, Plattenbesprechungen und sonstigen Publikationen hat er für das Archiv dem Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bestimmt, dem dieser umfangreiche Bestand 1996 von seiner Witwe Hedi Stadlen (1916–2004) übergeben wurde. Sie hat den Sammlungen ihres Mannes auch noch die für ihn erschienenen Nachrufe beigefügt. Diese Dokumentationen sind in achtzehn Alben bzw. Kassetten gesammelt, die wegen des oft aggressiven Klebematerials aufwendig restauriert
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und konserviert werden mußten. Korrespondenz, Jugendkompositionen sowie Handexemplare seiner als Pianist benützten Musikalien sind in diesem Nachlaßbestand nicht vertreten. Auch seine Lehrtätigkeit an der University of Reading (1965– 1969) und als Visiting Fellow am All Souls College in Oxford (1967/1968) ist hier nicht dokumentiert. Der Inhalt dieser Dokumentation von Peter Stadlens künstlerischem, publizistischem und wissenschaftlichem Wirken ist wie folgt gegliedert: I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV. XV. XVI. XVII. XVIII.
1931 – 1939 1940 – 1946 1945 – 1947 1948 – Mai 1958 Mai 1958 – 1961 1962 – Dezember 1963 Dezember 1963 – Juni 1966 Juni 1966 – Juli 1969 August 1969 – September 1975 September 1975 – Juni 1983 Juli 1983 – Mai 1984 Mai 1984 – Jänner 1985, Nachtrag: April 1984 Jänner 1985 – Juli 1985 Juli 1985 – Februar 1986 März 1986 – Juni 1990 November 1989 – März 1996 Dezember 1996 Separata wissenschaftlicher Publikationen
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Eminenzen und Graue Eminenzen. Zur Rolle der Emigranten in Verlagswesen und Konzertleben Lassen Sie mich mit einer Anekdote beginnen: Die Kulisse bildet einer von Londons Hauptlinien-Bahnhöfen um 1960. Der Anlaß war ein Treffen von mir und Professor Hans Redlich, dem in Wien geborenen Musikologen, Kritiker und Dirigenten. Ich erinnere mich nicht mehr an den Grund unseres Treffens, aber ich erinnere mich noch gut an seine Anweisungen: Ich mußte zum Bahnsteig X gehen, wo der 11.30-Uhr-Zug zu seiner Heimatstadt mindestens eine halbe Stunde vor seiner Abfahrt stehen würde. (So war das gemächliche Tempo unserer Eisenbahn in jenen Tagen.) Ich hatte dann zu den ersten SechserAbteilen im vierten Wagen von vorne vorzugehen. Dort würde ich sicher den Professor vorfinden, und niemanden sonst. Und so war es. Als er mich näher kommen sah, sprang er auf und öffnete die Tür seines Abteils. Er begleitete mich hinein, als ob es die Eingangstür seines eigenen Hauses wäre. An den Wänden des Abteils waren gerahmte Landschaftsbilder; und die Leselampen hatten bezaubernd altmodische Schirme. Plötzlich wurde Professor Redlich unruhig und begann in seiner Tasche zu suchen. Vergebens, wie es schien. Verlegen wandte er sich zu mir und stammelte entschuldigend: „Meine Frau ... meine Frau würde aufgebracht sein mit mir. Ich habe vergessen, ein Stück Kuchen für Sie mitzubringen. Ich habe einfach gar nichts, was ich Ihnen anbieten könnte“.
Und wie er etwas zu bieten hatte! Wie viele andere seiner Generation und seiner Herkunft hatte er eine unschätzbare Menge anzubieten. Noch eindrucksvoller war in diesem Moment jedoch die rührende „häusliche“ Komödie, die charakteristische Gastfreundschaft, und vor allem die Tatsache, daß Redlich und seine Generation gelernt hatten, sich häuslich niederzulassen, wo auch immer sie landeten. Es ist schwer zu glauben, daß erst wenige Jahre seit der Publikation unseres Vademecums, Daniel Snowmans The Hitler Emigrés1, vergangen sind. Als gut recherchierte Studie der „kulturellen Beeinflussung Englands durch Flüchtlinge des Nazionalsozialismus“ war es für eine breitestmögliche Öffentlichkeit geschrieben worden; und mit großzügiger Unterstützung der britischen Medien erreichte es die Gesellschaft ge1
Daniel Snowman, The Hitler Emigrés: The Cultural Impact on Britain of Refugees from Nazism, London 2002. Der hier aufgenommene Artikel von David Drew wurde, da der Autor wenige Jahre nach seinem Vortrag verstorben ist, gemäß dem Vortragsmanuskript abgedruckt. Daher weist er mit zwei Ausnahmen auch keinerlei Literaturhinweise auf.
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nau in dem Moment, als die Themen Immigration, Asyl und Internierung eine neue und hoch politische Aktualität erreichten. Das Buch war auch in einem anderen Sinn zeitgerecht. Denn geschriebene oder mündliche Zeugnisse verlieren eine entscheidende Dimension, sobald die Zeugen selbst aufhören, für Anfragen und Fragen präsent zu sein. Wir wollen nicht vergessen, daß die Zeitspanne von 1938 bis heute immer noch in die Zeit fällt, in der unsere älteren Musiker als Erwachsene im Berufsleben standen. Aber die erste englische Edition von Egon Wellesz’ Schönberg-Monographie2 etwa tut das nicht. – Sie wurde 1925 von der hoch angesehenen Firma von J. M. Dent & Sons in englischer Übersetzung herausgebracht. Unbewußt hatte Wellesz genau die richtige Mitteilungsart für ein britisches „Nach-1918-Publikum“ getroffen, das dem Komponisten von Verklärte Nacht und den Gurre-Liedern möglicherweise wohlgesinnt war, aber auch gespannt auf den berühmten Pierrot Lunaire und zudem wußte, daß die Uraufführung der Fünf Orchesterstücke, op. 16, vom vielgeliebten Henry Wood in einem seiner „Promenade Concerts“ im September 1912 dirigiert wurde. Es war vielleicht ganz recht so, daß Wellesz seine Monographie mehrere Jahre vor Schönbergs ersten Zwölftonwerken publiziert hat. Das Vertrauen, das er in Schönbergs Fähigkeiten und Eingebungen geäußert hatte, war in der Tat uneingeschränkt. Da das Buch bereits jede absehbare und unabsehbare Möglichkeit abdeckte, mußte es dann auch nie aktualisiert werden. Die Ereignisse bewegten sich zu schnell. Im Jänner 1931 dirigierte Schönberg das BBC Symphony Orchestra mit einem Programm, das Erwartung brachte. Es war das erste in einer Epoche machenden Serie, die sich bis zum Ausbruch des Krieges fortsetzte; vier Monate später dirigierte Webern Schönbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielszene und sein eigenes Opus 5. Und gegen Ende dieses Jahres dirigierte Adrian Boult die britische Premiere von Schönbergs Variationen für Orchester zusammen mit Verklärte Nacht. Es ist wichtig zu beachten, daß die Wertschätzung von Schönberg in einer Zeit begonnen hatte, als Gustav Mahler dem britischen Publikum praktisch unbekannt war, von den meisten „Musik-Autoritäten“ hingegen ebenso schlecht beurteilt wurde wie Anton Bruckner. Warum sonst nahmen die Herausgeber der Master Musicians die beiden Komponisten nur unter der Bedingung auf, daß ein einziger dünner Band Leben und Werk von beiden abdeckt? Sein glückloser Autor war Hans Redlich und das Publikationsdatum 1955. Ein Wandel im „britischen Schicksal“ der (Zweiten) Wiener Schule trat durch Adrian Boults konzertante Aufführung von Bergs Wozzeck für die BBC 1935 ein. Und im Mai des folgenden Jahres dirigierte Webern das BBC Orchestra in einem BergGedenkkonzert, das die britische Uraufführung des Violinkonzertes beinhaltete. Die Konzerte hinterließen in der britischen Musikwelt einen tiefgreifenden Eindruck, und für den Rest des Jahrzehnts hatte Bergs Musik eine vorrangige Stellung gegenüber der Musik Schönbergs. 2
Egon Wellesz, Arnold Schönberg, Wien 1921.
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Überraschenderweise gereichte diese Änderung der Einschätzung auch Anton Webern zum Vorteil. Im Juni 1938 wurde das 16. Festival der IGNM abgehalten, bei dessen Eröffnungskonzert vom 17. Juni Hermann Scherchen Weberns Kantate Das Augenlicht dirigierte. Bis dahin war Webern besser als Dirigent bekannt denn als Komponist. Dennoch wurde die Kantate mit dem Respekt angenommen, den sie verdiente, nicht nur vom IGNM-Publikum und der Presse, sondern auch von den Mitgliedern des britischen Musik-„Establishments“, von denen man annehmen hätte können, daß sie die Musik als gänzlich fremd ansehen. Wir sollten uns daran erinnern, daß Das Augenlicht in London nur zwei Monate nach dem Anschluß aufgeführt und beklatscht wurde. Und mit ihm im Zusammenhang steht die Tatsache, daß die Besucher des IGNM-Festes 1938 einen speziellen Grund hatten, dem 1. Streichquartett von Karl Amadeus Hartmann aufmerksam zuzuhören. Denn während Text und Musik von Weberns Kantate in der weitestmöglichen Entfernung von den Zeitereignissen standen, beachtete das HartmannQuartett sogar bestimmte Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft in dem Jahr seiner Komposition (1933) – dem Jahr von Hitlers Machtübernahme. – Unter den Londoner Kritikern, die das Hartmann-Quartett als hervorragenden Fest-Beitrag eines jungen Komponisten erkannten, befand sich der in Wien geborene Dirigent und Wissenschafter Dr. Mosco Carner. Und es ist bemerkenswert, ja charakteristisch für jene Zeit, daß nicht einmal er einen entscheidenden Aspekt des Quartetts und seiner Originalität erwähnte (einen Aspekt, auf den auch Hartmann erst nach 1945 aufmerksam machte): die Übernahme und Stilisierung von Elementen der jüdischen Folklore. Das IGNM-Fest dieses verhängnisvollen Jahres war nicht das letzte vor dem Zweiten Weltkrieg – das war dann 1939 in Warschau –, aber es war das letzte, bei dem sich die Internationale Gesellschaft für „Neue Musik“ mit all ihren Zweigvereinen ohne Repressalien in einem anerkannten Zentrum europäischer Demokratie versammeln konnte. – Webern konnte dann nicht länger in einer offiziellen Funktion teilnehmen, wurde die IGNM doch von Goebbels und seiner Reichsmusikkammer offiziell verboten; und im Unterschied zu Hartmann hatte Webern keine Mittel, die es ihm ermöglicht hätten, dem Fest inoffiziell beizuwohnen. So blieb er in Wien und arbeitete an seinem Streichquartett (op. 28), das er noch in jenem Jahr fertigstellte. Auf dem Kontinent konnte man das Quartett zum ersten Mal bei dem IGNM-Fest 1939 in Warschau hören. Es wurde nicht von der Universal-Edition in Wien verlegt, sondern von Hawkes & Son in London. Diese einzigartige und ungewöhnliche Publikation führt zu dem eigentlichen Kern unseres heutigen Themas. Der ursprüngliche Verlag dieser Musik war ein Imprint von Boosey & Hawkes, einer Aktiengesellschaft, gegründet 1930 nach der Fusion von Boosey & Co. und seinem freundschaftlich konkurrierenden Verlag Hawkes & Son. Zwei blühende Familienbetriebe, gegründet 1816 beziehungsweise 1865, hatten sich beide auf Musik und Instrumente für Militärkapellen sowie für die Blechbläserkapellenbewegung
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in den industrialisierten Midlands und den Kohlefeldern des Nordens spezialisiert. Boosey war auch über die englischsprachige Welt hinaus für die immens populäre Boosey Ballads bekannt – Bestseller von den 1890er Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Keiner der Betriebe hatte irgendeine Verbindung mit dem Standard-Konzert-Repertoire oder der Oper. Die Fusion zweier erfolgreicher Gesellschaften auf derselben Geschäftslinie war mehr als nur eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme in der Folge des Wall Street Crashes. Sie brachte eine neue Möglichkeit für Ralph Hawkes, das geschäftstüchtigste und phantasiereichste Mitglied seiner begnadeten Familie. Hawkes verstand es, daß es sogar unter der Bedingung wirtschaftlicher Knappheit einen Markt für „ernste“ zeitgenössische Musik gab, auch wenn sie völlig fremd gegenüber den Traditionen beider konstituierenden Firmen war. Bald nach der Fusion kam Hawkes mit der Universal-Edition in Wien überein, deren Katalog im United Kingdom und andernorts zu vertreten. Diese Übereinkunft ermöglichte sofort den Zugang zu Einzelpersonen und Institutionen, die verantwortlich für die Aufführung und Verbreitung zeitgenössischer Musik waren. Aber wie sollte Hawkes einen eigenen Katalog entwickeln, der eventuell mit seinen Erzrivalen in London – zu dieser Zeit Oxford University Press (OUP), J&W Chester und Novello – konkurrieren mußte? Unter der jüngsten Generation britischer Komponisten war einer, den Hubert Foss, ein Direktor von OUP, als eine „Klasse für sich“ betrachtete: Benjamin Britten. Im November 1934 besuchte der zweiundzwanzigjährige Britten Wien, was durch ein Reise-Stipendium des Royal College of Music ermöglicht wurde. Foss hatte bereits Brittens Choralvariationen A Boy was Born veröffentlicht sowie seine Simple Symphony angenommen. Aber er war sich des Interesses Brittens an der (Zweiten) Wiener Schule und ihren „modernistischen“ Tendenzen im allgemeinen wohl bewußt. Es war überall bekannt, daß Britten Hoffnungen hegte, bei Alban Berg in Wien zu studieren, und daß diese durch das Royal College of Music zugrunde gerichtet worden waren. Vielleicht weil er Angst vor einer weiteren Verpflichtung gegenüber einem jungen und vielleicht teuren Komponisten hatte, und sicherlich aus einer Hochachtung ihm gegenüber, hatte Foss Britten mit einem Empfehlungsschreiben für die UE ausgestattet – im speziellen für Hans Heinsheimer, den Leiter der Opern- und Theaterabteilung, sowie für Erwin Stein, seinem Gegenstück auf dem Gebiet des Orchesters und der Kammermusik. Es geht klar aus Brittens veröffentlichter Korrespondenz hervor, daß er erfreut über die Treffen am Karlsplatz war, und insbesondere über das mit Heinsheimer. (Mit Stein gab es vielleicht einige Sprachschwierigkeiten.) Was in der BrittenLiteratur nicht behandelt wurde, vielleicht weil dokumentarische Belege bis jetzt noch zu Tage gefördert werden müssen, ist der auffällige Zufall, daß Britten, nachdem er eine Auswahl von seinen aktuellen Partituren der UE überlassen hatte, nach London zurückkehrte, und nicht viel später eine exklusive PublikationsÜbereinkunft mit dem britischen Repräsentanten der UE aushandelte – nämlich mit Ralph Hawkes. Der Vertrag wurde ordnungsgemäß abgeschlossen.
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Hawkes mußte nicht lange auf die Belohnungen warten. Nach dem succès de scandale der Kantate Our Hunting Fathers 1935 kam der internationale Erfolg der Variations on a Theme of Frank Bridge – uraufgeführt bei den Salzburger Festspielen 1937 und wiederholt von demselben Ensemble beim IGNM-Festival in London. Der Legende nach hatte, Stunden nach Hitlers triumphalem Zug nach Wien am 14. März 1938, Hawkes ein Flugticket in ebendiese Stadt gebucht. Wenn nicht davor, dann sprach er unmittelbar nach seiner Ankunft in der Direktion der Universal-Edition eine Einladung von Boosey & Hawkes für jede höhere Führungskraft aus, die willig und fähig war, sich seiner Firma in London anzuschließen. Die drei naheliegenden Kandidaten waren Heinsheimer, Stein und Ernst Roth; und alle drei nahmen ohne weitere Umstände an. Ein vierter, Dr. Alfred Kalmus, hatte bereits 1936 eine Filiale der UE in London errichtet. Wie Roth – sein Junior für sieben Jahre – war Kalmus ein Doktor des Rechts und hatte zudem bei Guido Adler Musikwissenschaft studiert. Aber während Roth intellektuell ein Produkt von Prag und seiner Universität war, war Kalmus in Wien geboren und geprägt. Zu Lebzeiten seines Mentors Emil Hertzka sowie in den vier Jahren nach dessen Tod war er primär für gesetzliche und vertragliche Angelegenheiten verantwortlich. Er hat sich dennoch mit dem modernisierenden Engagement der Firma in einer Art identifiziert, in der es Roth nicht tat. Indizien lassen vermuten, und Dokumente mögen das noch bestätigen, daß Hawkes seine „Neulinge“ in London in der Zeit des IGNM-Festes 1938 versammelt hat. Auf diese Weise würden sie die Möglichkeit gehabt haben, nicht nur Weberns Cantata zu hören, sondern auch Bartók’s Sonata for Two Pianos and Percussion, Britten’s Bridge Variations, und Aaron Copland’s El Salón México. Bei dieser Gelegenheit traf Copland erstmals auf Britten, der ihn umgehend zu Ralph Hawkes einlud. Hawkes lud Copland ein, ein neues Werk zur Publikation anzubieten. Da El Salón México die sofort (gleichsam „kinderleicht“) einleuchtende Wahl war, überredete ihn Copland, zwei anzunehmen. Der genaue Zeitpunkt von Hawkes Entscheidung, eine amerikanische Filiale von Boosey & Hawkes zur errichten, muß noch festgestellt werden. Aber die Idee muß eine Zeit lang vor seiner Mission in Wien kursiert haben. Es war eine Periode, als der Spanische Bürgerkrieg nach wie vor eine Rolle in der politischen Erziehung der britischen Öffentlichkeit spielte. Nach der Vernichtung von Guernica – einem Wendepunkt in der Geschichte der modernen Kriegsführung (und einer terroristischen Gewalttat, wie wir das heute verstehen) – realisierten viele britische Zweifler, daß die Berlin-Rom-„Achse“ eine ebenso schwerwiegende Bedrohung für die Zukunft Europas war wie ihre Todfeinde, das Schreckgespenst des „Bolschewismus“. In diesem Sinn änderte der lang vorbereitete und eilig vollzogene Anschluß nichts. Hawkes fliegende Mission nach Wien im März 1938 war sicherlich eine Geste von kollegialem und humanitärem Interesse. Aber wenn wir erkennen, daß sie in erster Linie durch rein geschäftliche Erwägungen angetrieben war, gewinnt sie an Glaubwürdigkeit – ebenso wie sie an Mythos und Melodramatik verliert.
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Es scheint begründet zu sein, zu folgern, daß das fait accompli des Anschlusses nur der Katalysator für Hawkes existierenden Plan war. Ganz abgesehen von der Notwendigkeit einer vorhergehenden Diskussion mit seinen Kollegen und CoDirektoren in London hätte sich Hawkes nie ohne detaillierte Beratung durch Dr. Kalmus auf seine Wien-Unternehmung eingelassen, und zwar sowohl rechtlich als auch fachlich. Wer sonst als Kalmus empfahl Heinsheimer für die Aufgabe, die New Yorker Geschäftsstelle von Booseys zu gründen? Und wer war eher geeignet, diesen Rat zu geben? Hatte er nicht Seite-an-Seite zehn ganze Jahre mit Heinsheimer in Wien gearbeitet und beobachtet, wie klug er sich den sich ändernden Umständen anpaßte? Heinsheimer wurde sofort nach New York geschickt. Fürs erste stattete ihn Coplands El Salón México mit der brauchbarsten amerikanischen Visitenkarte aus – einem populären Hit. Schönberg war im Hause Schirmers sicher untergekommen, zudem war er überhaupt nicht die Art Komponist, die Heinsheimer oder Hawkes suchten. Es gibt keinen klareren Beleg für Hawkes Einstandsgeschenke als die unpublizierte Korrespondenz über den Abschluß von Bartóks exklusivem Publikations-Vertrag mit der UE. In jedem dieser Briefe an Bartók zeigt Hawkes eine seltene Kombination von künstlerischem Urteilsvermögen, Sensitivität und unternehmerischem Scharfsinn. Hier wäre wieder Kalmus’ objektiver Rat unschätzbar gewesen: Seine eigene Geschäftsstelle in London war nicht im Wettbewerb mit Boosey & Hawkes als Verlagszentrum; und jedenfalls hätte auch Kalmus sich nicht dem BooseyImperium angeschlossen. Es sagt viel über die Belastbarkeit und Findigkeit von Hawkes AngloÖsterreichischen Kollegen in London aus, daß trotz der Zerrüttung durch die Luftangriffe – „the Blitz“ im noch heute gängigen Sprachgebrauch – die tapferen „business as usual“-Mitteilungen bald durch Anzeichen von einem neuen Geschäft ergänzt wurden. In England war eine der vorhersehbaren Nebeneffekte von Hilters Invasion in Rußland im Juli 1941 ein explosionsartiges Interesse an allen russischen Dingen. Geradezu plötzlich war eine allgemeine Nachfrage nach den neuesten Werken von Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan und Kabalevsky. Und so gründete Alfred Kalmus 1942 von seinem Boosey-Büro in London aus die AngloSoviet Music Press. Und sie blühte. Glücklicherweise hatte Kalmus als Kriegsgefangener in Rußland während des Ersten Weltkriegs Russisch gelernt. Er hatte dann eine entscheidende Rolle beim Aushandeln des historischen Vertrags zwischen der Universal-Edition und dem Moscow State Publishing House gegen Ende der Ära von Hertzka gespielt. Ebenfalls 1942 war Dr. Kalmus mit der Organisation einer Konzert-Reihe betraut, die von Boosey & Hawkes gesponsert, aber auf keinen Fall auf die eigenen Publikationen beschränkt war. Am 29. Mai wurde William Walton’s „entertainment“ Facade
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aufgeführt – verlegt von Oxford University Press, eingeleitet durch Schönbergs Pierrot Lunaire, dirigiert von Erwin Stein. Der Krieg sollte noch zweieinhalb Jahre dauern; und im Publikum der Aeolian Hall war an diesem Abend Benjamin Britten, eben zurückgekehrt aus den Vereinigten Staaten. Er und Peter Pears waren am 17. April gelandet, und wie Hawkes waren sie sich wohl der Kritik bewußt, die auf ihnen lastete. Bald erfüllten Erwin Stein und seine Frau Sophie eine quasi-elterliche Rolle im Leben Brittens. Das sind natürlich persönliche Angelegenheiten, aber kaum private. Die sozialen, kulturellen und interkulturellen Auswirkungen waren erheblich und mußten bald Angelegenheit des öffentlichen Interesses in England werden. Die Biographen Brittens haben zu Recht in seinen amerikanischen Freunden William und Elizabeth Mayer – die deutschen und teilweise jüdischen Ursprungs waren – einen Vorläufer für seine familiäre Beziehung zu den Steins und deren Tochter Marion gesehen.3 Kalmus’ zweite Konzertreihe von Boosey & Hawkes war in der Wigmore Hall angesiedelt. Damals wie jetzt war diese in London der feinste und populärste Austragungsort für Kammermusik; und sie war nur ein paar Minuten Fußweg von der Direktion von Boosey entfernt. Das Eröffnungsprogramm vom 23. September 1943 war beispielhaft für seinen kosmopolitischen Geist: zumindest hier gab es keine Kriegszonen, sondern stattdessen ein Zusammenwinden der verschiedensten Fäden. Der erste Faden wurde gleichsam von Britten und Pears beigesteuert, indem sie eine Auswahl von Mahler-Liedern, fünf von Bergs Sieben Frühen Liedern sowie Michael Tippetts neuen Liederzyklus Boyhood’s End aufführten. Tippett, ein Pazifist wie Britten, wurde 1940 als „Kriegsdienstverweigerer“ gefaßt und bald angewiesen, „nichtkämpfende“ militärische Pflichten auszuführen. Er hat dies verweigert und wurde im Juli 1943 zu drei Monaten Haft verurteilt. Wäre ihm nicht ein Drittel Strafe wegen guter Führung erlassen worden, wäre er zum Zeitpunkt des Konzerts von Boosey & Hawkes immer noch im Gefängnis gewesen. Gemeinsam mit Tippetts früheren Werken wurde der Zyklus dann von Schott und Co. London publiziert. Der zweite Faden im Konzert wurde dem in Wien geborenen Pianisten Peter Stadlen anvertraut. Obwohl er primär mit der Musik von Schönberg und Webern assoziiert wird – und beinahe sicher der Pianist des Pierrot der vergangenen Saison war –, waren seine Vorlieben auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik vielseitig. Bei dieser Gelegenheit steuerte er nun eine Aufführung von Bartóks Opus 20 bei, den Improvisations on Hungarian Folksongs. – Ein Ensemble aus ausgezeichneten Instrumentalisten rundete das Programm mit Albert Roussels Serenade und Brittens Phantasy Opus 2 ab.
3
Hiezu siehe auch den Beitrag von Steins Tochter Marion Thorpe, Erinnerungen, in vorliegendem Band, S. 373–386.
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Weniger als einen Monat später dirigierte der in Berlin geborene Dirigent Walter Goehr, der sich im Herbst 1932 in England mit seiner Frau und seinem gerade geborenen Sohn Alexander niedergelassen hatte, ein sogenanntes „orchestral ensemble“ in Kalmus’ bis dahin ambitioniertestem Programm. Die erste Hälfte wurde von Lennox Berkeleys frankophilem Divertimento eröffnet – einer Premiere – und endete mit der Welturaufführung von Brittens Serenade, einem Werk, das Goehr lange versprochen war, und eines, das laut dem Programmheft speziell „für die Ausführenden von heute Abend geschrieben worden war“ – nämlich Peter Pears und den großartigen Hornspieler Dennis Brain. Obwohl die zweite Hälfte, Strawinskys vollständige Pulcinella, damals eine gewagte Neuheit war, war es die Serenade, die wie eine Offenbarung schien. Jetzt müssen wir schnell zum Mai 1945 und dem Ende der Kampfhandlungen in Europa springen – aber nicht ohne zu bemerken, daß beinahe genau vor 60 Jahren (am 19. März, um genau zu sein) Walter Goehr eine historische Matinee in einem von Londons Theatern dirigierte. Sie wies die Uraufführung von Michael Tippetts Oratorium A Child of Our Time auf, eingerahmt von Mozarts Maurerischer Trauermusik und seiner g-Moll-Symphonie, KV 550. Die symbolische Signifikanz dieser Premiere war dem deutschsprechenden Teil des Londoner Musikpublikums sicherlich nicht entgangen. Wenn man erkannte, daß A Child of Our Time die Vorwände und Folgen der sogenannten Reichskristallnacht in Deutschland und Österreich verallgemeinerte, war bereits ein Schritt zu zwei eng verwandten Britten-Uraufführungen getan: zu Peter Grimes, angesetzt nur vier Wochen nach der deutschen Kapitulation, und Brittens Liederzyklus The Holy Sonnets of John Donne, aufgeführt bei einem Boosey & Hawkes Wigmore Hall Concert im November desselben Jahres. Im Dezember dieses Jahres kehrte Ralph Hawkes nach New York zurück. Inzwischen hatte sich das Machtverhältnis im Londoner Büro eindeutig zu Gunsten von Ernst Roth verlagert. Roth hatte musikalisch und philosophisch nie mit irgendeiner Form von moderner Kunst sympathisiert. Seinen intelligenten und durchaus „kultivierten“ Schriften entnehmen wir vielmehr einen kulturellen Pessimismus, den er eindeutig dem einst modernen Oswald Spengler verdankt. Zum Glück für Roths Zukunft im britischen Verlagswesen hatte ihn seine Arbeit für die Universal-Edition auf dem Gebiet der pädagogischen Klaviermusik in Kontakt mit Bartók gebracht. Es geschah durch Roths Ermutigung – wenn auch natürlich nicht nur durch seine –, daß Bartok seinen „Gradus ad parnassum“ zusammenzustellen und zu komponieren begann, der für 40 Jahre als Bestseller von Boosey & Hawkes fungierte: seinen Mikrokosmos. Charakteristischer und letztendlich auch lukrativer für Boosey & Hawkes war das Aufkaufen des Fürstnerschen Kataloges mit seinem wertvollen Bestand an Opern von Strauss und Pfitzner. In Absprache mit Sir Thomas Beechams bemerkenswerter Assistentin Bertha Geissmar (der früheren Sekretärin von Furtwängler) ausgehandelt, und Strauss über die neutrale Schweiz mitgeteilt, wurde das Geschäft mit Fürstner 1943 erfolgreich abgeschlossen. Im Glauben, daß alle Spuren opernhaften
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Lebens in Deutschland und Österreich bald ausgelöscht sein würden, besorgte Roth nur die Rechte für England und die hiemit verbundene Gebiete. 1947 wurde unter der profilierten Federführung von Sir Thomas Beecham das Londoner Strauss-Festival aus der Taufe gehoben, mit dem Komponisten selbst als Ehrengast und gelegentlichem Dirigenten. Aber der wahre Anstifter des Festivals sowie Strauss’ Begleiter bei seinem monatelangen Aufenthalt in London war Ernst Roth. Er war es, der Strauss dazu überredete, aus seinem selbst auferlegten Exil aufzutauchen und erstmals nach dem Krieg in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Das Londoner Publikum hatte Strauss seit 1936 nicht zu Gesicht bekommen, als er Karl Böhm und die Dresdner Oper bei deren staatlich gesponsertem Besuch von Covent Garden begleitet hatte. Bei dieser Gelegenheit erhielt Strauss die prestigeträchtige „Gold Medal“ der Royal Philharmonic Society – eine Ehrung, die seit Johannes Brahms keinem bedeutenden deutschen Komponisten gewidmet worden ist. Aber in der unmittelbaren Folge der Nürnberger Prozesse war Strauss eine kontroversielle Figur geworden, von dem bekannt war, daß sein Fall von den Entnazifizierungsbehörden geprüft wurde. Beecham kannte sein Publikum, und sogar Ernst Roth hätte ihn nicht dazu bewegen können, ein Festival zu leiten, bei dem es irgendein signifikantes Risiko für ablehnende Bekundungen gab. Und tatsächlich gab es dann keine. Das Festival war ein riesiger Erfolg; Strauss’ Erscheinen wurde verzückt angenommen, und die Kritiker in Deutschland und anderswo waren vorübergehend zum Schweigen gebracht. Von nun an schien die letztendliche Rehabilitation sicher. Strauss unterzeichnete mit Boosey & Hawkes rechtzeitig ein exklusives Verlagsabkommen für alle Territorien. Es deckte alle zukünftigen Kompositionen ab, schloß auch alles, was er in den vergangenen vier Jahren geschrieben hatte, mit ein, beginnend mit der ersten Bläsersonatine der Kriegszeit und kulminierend in den Metamorphosen. – Beim Strauss-Festivals hat Ernst Roth brillant die Rolle der klassischen „éminence grise“ gespielt (der „Grauen Eminenz“ des Père François Leclerc gegenüber Cardinal Richelieu, jetzt gleichsam durch Thomas Beecham verkörpert). Später belohnte Strauss Roth mit der Widmung eines seiner Vier Letzten Lieder. Inzwischen hatte sich der Vertrag mit Boosey & Hawkes genug gelohnt. Und dennoch: Unter den wenigen „Eminenzen“ in der Hierarchie der Musikverleger der Nachkriegszeit war unzweifelhaft Ralph Hawkes der Mann der Stunde. 1947, im Jahr des Erfolges von Roth mit dem Strauss-Festival, erwarb Hawkes von Sergej Kussevitzkij den Katalog seiner großartigen „Edition Russe“, der, neben vielen anderen Schätzen, die meisten Kompositionen von Strawinsky aus der Zeit von 1920 bis 1930 enthielt. Im selben Jahr schloß Hawkes einen Exklusivvertrag mit Strawinsky für alle seine neuen Werke ab, beginnend mit dem Concerto in D (dem Basler Konzert). Das bringt uns zur getrennten Darstellung verschiedener Entwicklungen. Zuerst zur Entscheidung von Dr. Kalmus, Boosey & Hawkes zu verlassen und jene Arbeit weiterzumachen, die er begonnen hatte, als er und seine Familie sich erstmals in London niederließen. Die Beziehung zwischen ihm und Dr. Roth war nie ideal
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gewesen; und nun scheiterte sie gänzlich unter den Belastungen und dem Streß eines Gerichtsfalles im Hinblick auf frühere UE-Copyrights, die Boosey & Hawkes gemäß dem sogenannten „Custodian of Enemy Property“ kontrollierte. Der Anwalt der UE klagte erfolgreich deren Rückgabe ein. 1949 eröffnete Kalmus wieder die Universal Edition Ltd. – mit einer kleinen Geschäftsstelle in Soho und der mutigen Absicht, seinen eigenen britischen Katalog zu starten. Wenige Monate später kam die Nachricht vom plötzlichen Tod Ralph Hawkes in New York. Erwartungsgemäß tauchte Ernst Roth als dessen Nachfolger in London auf. Roth war ein „Manager“ im alten Stil. Stein hingegen war völlig anders: Als angesehener Musiker und Wissenschafter war er Chefredakteur einer immer aktiver werdenden Produktionsabteilung. Das Geschick, mit dem er den Klavierauszug von Peter Grimes fünf Jahre vorher erstellt hatte, hatte er gleichsam in Wien bei der Universal-Edition „geübt“. Aber nun war er entweder zu beschäftigt für solche Aufgaben oder er bevorzugte es, sie außer Haus an bedürftige Musiker weiterzugeben. Der Klavierauszug von Strawinskys und Audens Oper The Rake’s Progress (Der Wüstling) wurde erstmals 1951 veröffentlicht und war das Werk eines gewissen Leopold Spinner. Nur Erwin Stein und einer Handvoll Freunden oder Kollegen aus dem Schönbergkreis war der Name ein Begriff. Vier Jahre lang hatte Spinner als Maschinist (als „Dreher“) in einer Lokomotivfabrik in Bradford gearbeitet – das war seine „Kriegsarbeit“. Ein Streichquartett, eine Orchesterouvertüre für Schönbergs 70. Geburtstag und eine Klaviersonate befanden sich aber ebenso unter seinen „Kriegsarbeiten“. Sie haben überlebt, wie Sie sehen könnten, wenn Sie in den nächsten Tagen die Österreichische Nationalbibliothek besuchen und nach dem Spinner-Nachlaß fragen. Inzwischen wissen wir, daß Spinner ein unentbehrliches und bedeutendes Glied in der Musikgeschichte ist, leider üblicherweise unbemerkt, ungewollt und unaufgeführt. Sein scheinbar unerbittliches Fortschreiten von einem verborgenen Eck zum nächsten wird nur durch Lichtblitze erkannt. Man wird an das Gedicht erinnert, mit dem Spinner seine fünf Lieder nach Texten von Nietzsche begann: „Wenn den Einsamen / die große Furcht anfällt, / wenn er läuft und läuft / und weiß selber nicht wohin? / Wenn Stürme hinter ihm brüllen, / wenn der Blitz gegen ihn zuckt, / wenn seine Höhle mit Gespenstern / ihn fürchten macht [...]“.
Spinners Nietzsche-Zyklus ist mit 1953 datiert, einem bedeutsamen Jahr in der britischen Musik sowie nicht ganz ereignislos in seinem eigenen Leben. Obwohl er nun in London lebte, war es das Jahr, in dem die Universal-Edition Wien in der Person von Alfred Schlee seine Klaviersonaten veröffentlicht hatte. Inzwischen schuldete Spinner Erwin Steins Aufträgen für B&H immer mehr Dank – in einem Brief an René Leibowitz hat er ironisch seine Dankbarkeit Bartók, Bloch, Strawinsky und anderen „Gentlemen“ gegenüber ausgedrückt, die ihn durch den bloßen Druck ihrer eigenen Produktivität stützten. Diese Liste könnte aber
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nicht nur eine Neudefinition der Maßstäbe und Ideale seines Lehrers Webern mit sich bringen, sondern auch eine Prüfung der Dialektik von Spinners Verhältnis zu Schönberg. 1953 war auch das Jahr, in dem Erwin Stein untrennbar mit der hoch kontroversiellen Premiere von Brittens Gloriana verbunden wurde – einem Auftrag für das Royal Opera House und die Krönung unserer derzeitigen Königin. Der Auftrag war von dem Earl of Harewood initiiert worden, einem glühenden Verehrer von Brittens Musik, einem Cousin der Königin und dann Ehemann von Marion Stein. – Es gibt keine Aufzeichnungen von irgendeinem persönlichen oder beruflichen Kontakt zwischen Spinner und Britten. War da 1959 auch nur so viel wie ein Gedanke an Brittens Serenade, als Spinner seine eigenen sehr andersartigen Fassungen von William Blakes The Sick Rose begann? Man kann sich das kaum vorstellen. Weniger als ein Jahr nach Erwin Steins Tod im Jahre 1958 folgte Spinner als Editor für die B&H-Musik-Drucke. Respektvoll als „Dr. Spinner“ angesprochen – damals eine exotische Anrede außerhalb des medizinischen Berufes –, blieb er auf diesem Posten bis zu seiner Pensionierung 1975. Sein damaliger Assistent, Roger Bryson, wurde sein Nachfolger und bewahrte seine mustergültigen Standards bis zum heutigen Tag. Verglichen mit Hawkes oder Heinsheimer, Kalmus oder Stein, Peter Stadlen, Paul Hamburger oder Hans Keller, war Spinner „der obskurste der Obskuren“ – „the obscurest of the obscure“, um die Beschreibung des Protagonisten der großartigen Novelle Life & Times of Michael K von J. M. Coetzee zu zitieren. In seinem Nietzsche-Zyklus von 1953 hatte Spinner die Aporie von Wenn den Einsamen mit dem wundervollen Gedicht Der Sphynx beantwortet: „Ich bin ein Fragender, gleich dir; / dieser Abgrund ist uns gemeinsam, / es wäre möglich, daß wir mit einem Munde redeten!“ – Nietzsche selbst hat eine ebenso scharfsinnige, aber ganz andere Antwort auf das Elend von Der Einsame: „Krumm gehen große Menschen und Ströme, / krumm, aber zu ihrem Ziele: / Das ist ihr bester Mut, / sie fürchten sich vor krummen Wegen nicht.“
In der postmodernen Sichtweise der jüngsten Vergangenheit scheinen die „krummen Wege“ von Strawinsky genau dort verbreitert und gerade gemacht zu werden, wo Schönberg verengt und eventuell – so haben es die Skeptiker genannt – sich in dem Gewirr vom Neoklassizismus verloren hat. Aber nun, da das Zeitalter der falschen Ehrerbietung ganz und gar vorbei ist, können wir es vielleicht schaffen, einige von diesen „großen Menschen“ wiederzuentdecken, und sicherstellen, daß sich unter den neuen Zeichen für ihre „krummen Wege“ ein warnendes befindet. Bitte, vergessen Sie nicht die Obskuren, denn die sind immer unterwegs….
MANFRED PERMOSER (Wien)
„Man stellt sich um ...“ Die österreichische Kleinkunst-Szene im amerikanischen Exil „Sich umzustellen, das ist gänzlich unvermeidlich, Das wissen alle Leute ‚from the other side‘. Die ‚Tausend Worte Englisch‘ sprechen wir schon leidlich, Zur Perfection fehlt nur mehr eine Kleinigkeit. Nach Coney Island fahren wir statt in den Prater, Statt ins Kaffeehaus spielt man Bridge im Furnished Room, Und her zu uns kommt Ihr anstatt ins Burgtheater – Man stellt sich um – man stellt sich um.“ 1
Text und Musik (Abbildung 1) dieses in der Tradition des nestroyschen Couplets gearbeiteten Chansons stammt von Jimmy Berg (Symson Weinberg), einer zentralen Figur der Wiener Kleinkunst-Szene seit den frühen dreißiger Jahren. Der unüberhörbar zwischen bitterer Satire und leise wehmütiger Resignation angesiedelte Stimmungsgehalt des zitierten Textes thematisiert das typische Emigrantenschicksal, stellvertretend für viele tausende. Jimmy Berg, Literat, Komponist, Musiker, Kabarettist – und Jude –, muß 1938 aus Wien emigrieren. Er verläßt Österreich am 27. Mai 1938 und erreicht über die Schweiz und England schließlich im November desselben Jahres New York. Wie Berg verloren eine Vielzahl von Künstlern mit dem Einmarsch Hitlers in Österreich schlagartig ihr gesamtes künstlerisches Wirkungsfeld. In besonderem Maße traf dies die österreichische Kabarett- oder zutreffender Kleinkunst-Szene, denn diese fungierte als eine Art kulturelles Zentrum der politischen Opposition. Schon seit den frühen 30er Jahren etablierte sich in Wien ein reges politischsatirisches Theaterleben – in bewußter Opposition zum bloßen Variété und den vielen Vergnügungsetablissements. Die wichtigsten dieser neu entstandenen Kleinkunstbühnen seien kurz erwähnt – eine Vielzahl ihrer Protagonisten sollten dann im Exil maßgeblich am Wiederaufbau beziehungsweise an der Weiterführung der österreichischen Kabarett-Tradition mitwirken. Bereits 1927 gründete Oscar Teller das „Jüdisch-Politische Kabarett“, dessen erstes Revue-Programm Juden hinaus vom Autorenteam Viktor Schlesinger, Fritz Stöckler 1
Text und Musik von Jimmy Berg, zit. nach Oscar Teller, Davids Witz-Schleuder. Jüdisch-politisches Cabaret. 50 Jahre Kleinkunstbühnen in Wien, Berlin, London, New York, Warschau und Tel Aviv, Darmstadt 1982, S. 188.
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Abbildung 1: aus Horst Jarka (Hg.), Jimmy Berg, S. 292.
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und Oscar Teller unter dem Pseudonym Viktor Berossi verfaßt wurde. Die musikalische Gestaltung besorgte ebenfalls Oscar Teller.2 In seiner politischen Ausrichtung wesentlich radikaler agierte das politische Kabarett der sozialistischen Jugend ab 1926/1927. Die sogenannten „Roten Spieler“ gruppierten sich um Ludwig Wagner, Paul Lazarsfeld, Robert Ehrenzweig und Viktor Grünbaum. Letzterer sollte dann so wie Oscar Teller die Kabarettszene in der amerikanischen Emigration wesentlich mitprägen. In den 30er Jahren setzte sich die Ära der Wiener Kleinkunst fort mit der Eröffnung des „Lieben Augustin“. Gründer dieser Bühne sind Stella Kadmon gemeinsam mit dem genialen Dichter Peter Hammerschlag, dem Illustrator Alex Szekely und dem Musiker Fritz Spielmann. Ab September 1932 ersetzt Franz Eugen Klein als ständiger Hauskomponist Spielmann, 1935 stößt u. a. auch Curt Bry vom Berliner Cabaret „Katakombe“ zum Wiener Ensemble. Im Café Prückel fand ab November 1931 diese zeitbezogene, politisch und sozial engagierte Kleinkunstbühne ihre wichtigste Spielstätte. Zwei Jahre nach der Gründung des „Lieben Augustin“ etablierte sich das Ensemble „Literatur am Naschmarkt“ unter dem Antiquariatsbuchhändler Rudolf Weys. Durchkonzipierte Szenen und professionelle künstlerische Darbietung bei weitgehend liberaler, links der Mitte angesiedelter politischer Ausrichtung, bei deutlicher Abgrenzung gegenüber jeglicher totalitärer Ideologie bestimmten das Programm dieser Bühne und machten die „Literatur am Naschmarkt“ bald zum Sammelbekken junger engagierter Künstler wie Carl Merz, Hans Weigel, Leon Epp, Jura Soyfer, Fritz Eckhardt oder der Musiker Otto Andreas, Hans Horwitz und Josef Knaflitsch. Als Komponist wirkte Ferdinand Piesen, Schüler von Max Deutsch, der seinerseits ein Schönberg-Schüler war. Piesens Karriere endete mit seiner Emigration nach Frankreich. Der andere wichtige Komponist war Herbert Zipper, Schüler von Felix Rosenthal und Joseph Marx. Zipper, der Komponist des Dachau-Liedes, ging später ins Exil nach Manila. Nach dem Krieg war Zipper in den USA als Dirigent und vor allem als bahnbrechender Musikpädagoge erfolgreich tätig.3 Für zwei Jahre existierte auch eine engagierte Kleinkunstbühne um den Juristen und Literaten Rudolf Spitz im Café Doblingerhof in der Billrothstraße unter dem Namen „Stachelbeere“. Die Musik des „garantiert starfreien, girlfreien und jargonfreien Programms“ steuerten Hans Horwitz und Heinrich Krips, der Bruder des Dirigenten, bei.4 Als die politisch schärfste Wiener Kleinkunstbühne gilt bald nach ihrer Gründung im März 1934 das „Brettl am Alsergrund im Café City“ – kurz „ABC“ genannt. Ab Juni 1935 trat das „ABC im Regenbogen“ – wie es sich jetzt nannte – im Café Arkaden in der Universitätsstraße 3 auf (Abbildung 2). 2 3
4
Siehe Hans Veigl, Lachen im Keller – Kabarett und Kleinkunst in Wien, Wien 1986, S. 164. Siehe Walter Pass / Gerhard Scheit / Wilhelm Svoboda, Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik von 1938 bis 1945, Wien 1995, S. 15ff., und Paul F. Cummins, Musik trotz allem. Herbert Zipper – Von Dachau um die Welt, Wien 1993. Siehe Fritz Rosenfeld, Ein neues Kabarett, in: Arbeiter-Zeitung vom 8. Oktober 1933.
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Abbildung 2: aus Hans Veigl, Lachen im Keller, S. 195.
Hier entwickelte sich das „ABC“ zur politisch angriffsfreudigsten, künstlerisch progressivsten Kleinkunstbühne jener Jahre. Hauptverantwortlich für diese Entwicklung zeichnete der junge Kommunist Jura Soyfer, der sich zuvor schon bei den „Roten Spielern“ als Verfasser satirischer Texte unter wechselndem Pseudonym (Jura, Walter West, Norbert Noll, Karl Rekte) einen Namen machen konnte. Neben Soyfer wirkten als Autoren noch Fritz Eckhardt, Franz Paul oder Hans Weigel. Regie führten Rudolf Steinboeck, Herbert Berghof und Leo Askenasy (der sich in der amerikanischen Emigration dann Leon Askin nennen sollte). Als Darsteller liest man später so bekannte Namen wie Lilli Palmer, Cissy Kraner, Peter Preses, Josef
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Meinrad, Carl Merz, Ernst Hagen usw. Als Hauskomponist wirkte der schon eingangs zitierte Jimmy Berg. Mit dem 12. März 1938 war es mit all diesen engagiert mutigen Spielstätten und Ensembles vorbei. Jene, denen die Flucht gelang, emigrierten zum Großteil nach England und Amerika – und so wurde neben London (mit dem wohl bedeutendsten Zentrum österreichischen Emigrantentheaters, dem „Laterndl“ um Fritz Schrecker, Franz Hartl – Pseudonym Franz Bönsch – und Franz Schulz) vor allem New York zur neuen Heimat vieler vertriebener Kabarettkünstler. Bevor näher auf die Kabarettszene im New Yorker Exil eingegangen wird, seien zuvor einige grundsätzliche Überlegungen zur Problematik des Exillebens angestellt – speziell zu jenen Vertriebenen, deren Beruf untrennbar mit Sprache verbunden ist, also etwa bei Schauspielern, Literaten und eben auch Kabarettkünstlern. Hilde Spiel, selbst Emigrantin, die bereits 1936 nach England ging, benennt die wesentlichsten dieser Schwierigkeiten: „Heimweh, das Gefühl des Ausgestoßenseins, des Unverstandenseins, der unüberbrückbaren Barrieren der Sprache, Tradition, Erziehung, Gewohnheit, familiären Bezügen, die den Emigranten von jenen trennen, unter denen er Asyl gefunden hat.“5
Der Verlust früherer Integration in ein soziales und kulturelles Bezugssystem konnte zugleich auch einen Existenz- und Identitätsverlust bedeuten, der oftmals einherging mit dem Gefühl von „Heimlosigkeitsweh“6 und nostalgischer Sehnsucht. Zu den größten Problemen, mit denen sich der Exilant konfrontiert sah, zählte der Sprachverlust, der vor allem im Falle von Sprach-Künstlern (also auch Kabarettisten) existenz- und identitätsbedrohende Ausmaße annehmen konnte. Einmal mehr sei Jimmy Berg zitiert, der diese Problematik in seiner gewohnt humorvoll satirischen Weise anspricht: „I am in a hell of a fix – weil i Deutsch und Englisch vermix.“ 7 Für die mit Sprache Arbeitenden – insbesondere für jene, welche die Vieldeutigkeit des Deutschen, die Doppelbödigkeit und den Wortwitz ihrer Muttersprache zur Basis und Inspirationsquelle ihrer beredten Kunst machten, geriet das Exil gewissermaßen zur mehrfachen Vertreibung: nicht nur mußte man eine neue Gebrauchssprache erlernen, mehr noch litten die meisten unter dem qualitativen Verlust ihrer sprach-künstlerischen Gestaltungsfähigkeit. Das Absinken unter das in der Muttersprache gewohnte Sprachniveau ging vielfach einher mit einer Nivellierung des bisherigen kulturellen und gesellschaftlichen Niveaus. Verglichen mit Schriftstellern oder Schauspielern hatten es Musiker noch relativ leichter, in ihren Berufen weiter zu arbeiten, 5
6 7
Hilde Spiel, Psychologie des Exils, in: Österreicher im Exil 1934–1945. Protokoll des Internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945, hrsg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (im folgenden: DÖW), Wien 1977, S. XXV. Österreicher im Exil. USA 1938–1945. Eine Dokumentation, Bd. 1, hrsg. vom DÖW, Wien 1995, S. 243. Zit. nach Helmut F. Pfanner, Eine spröde Geliebte. New York aus der Sicht deutscher und österreichischer Exilanten; in: Fluchtpunkte des Exils und andere Themen, hrsg. von Thomas Koebner u. a. (= Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 5), München 1987, S. 50.
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„da das Medium ihres künstlerischen Ausdrucks keine Verständigungsschwierigkeiten machte und ihnen der hohe Ruf der europäischen Musiktradition vorausging“,
wie Helmut F. Pfanner in seiner Studie anmerkt.8 Wie sehr diese Behauptung aber differenzierter Betrachtung bedarf, läßt sich am Sonderfall Musik-Kabarett deutlich machen. Das Kabarett in all seinen Erscheinungsformen – also in der seit den 20er Jahren existierenden Polarität von unverfänglichem Unterhaltungs- und Lachtheater bis hin zur kulturpolitisch engagierten Politsatire – eignete sich im Kampf der Emigranten gegen den Nazismus wie aber auch in der Bewahrung eines künstlerischen Idioms und einer künstlerischen Identität in geradezu idealer Weise. Die Kleinkunst wurde so nicht zufällig zu einer bevorzugten künstlerischen Äußerungsform der Vertriebenen. Kabarett benötigte zudem nur relativ geringe finanzielle und technische Mittel, konnte rasch auf aktuelle Ereignisse reagieren und erzielte obendrein große Wirkung – unter den Bedingungen der Emigration die wohl politisch und gesellschaftlich effizienteste Kunstform. – Allerdings blieb die propagandistische Wirkung der zahlreichen ExilKabaretts im großen und ganzen auf die Emigranten-Szene beschränkt. Die Gründe für diesen Umstand sind einerseits in den oben angeführten sprachlichen Barrieren zu sehen – Schüttelreime wie etwa „Blas’ ich die G-Dur-Bárkarole, So spielt mir B-Dur gar ka Rolle“ eines Franz Mittler9 waren eben unübersetzbar. Gleiches galt für Wortspiele und Doppelconferencen eines Karl Farkas und Fritz Grünbaum. Andererseits war die Form der Kleinkunst in den USA bis dahin traditionslos, darüber hinaus das amerikanische Publikum mit den auf europäische Verhältnisse abzielenden Texten großteils nicht vertraut. Mehr als nur ein deutschenglisches Wortspiel bedeutet auch jene Reaktion der bekannten Schauspielerin und Kabrettistin Gisela Werbezirk, die auf die Frage: Wie es ihr nun in Amerika gefiele? mit der Gegenfrage antwortete: „No, wie soll’s einem in an Land schon gehen, wo’s Scheisela zu einem sagen?“10
Rückblickend ist also festzuhalten, daß die politisch-satirische Kleinkunst – da zumeist beschränkt auf die deutsche Sprache und europaspezifische Themenbereiche – kaum die gewünschte Breitenwirkung erlangen konnte, sodaß Karljakob Hirsch bereits 1946 über das Exil-Kabarett in den USA grundsätzlich feststellt:
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Ebenda S. 45. Diana Mittler-Battipaglia, Franz Mittler. Austro-American Composer, Musician, and Humorous Poet, New York 1993, S. 84. Gisela Werbezirk (Giselle Werbisek): 1875 Preßburg – 1956 Hollywood; spielte in zahlreichen Kabarettprogrammen in Wien und Berlin, u. a. Mitglied des Simpl, emigrierte 1938 in die USA; wirkte in der vom Schauspieler und Regisseur Walter Wicclair (Walter Weintraub) 1939 in Los Angeles gegründeten „Freien Bühne“ mit. Unter dem Protektorat des German Jewish Club wurden hier vorwiegend Unterhaltungsstücke geboten. Der Freien Bühne war unter Leitung des Berliner Kabarettisten Elow auch eine Kleinkunstbühne angeschlossen, die ab 1941 Kabarettabende veranstaltete. Am Klavier saß ein noch weitgehend unbekannter Musiker: Georg Kreisler. Die „Freie Bühne“ bestand bis 1949.
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„In New York entstand eine Reihe von Kabaretts, die mit den Namen der besten deutschen und österreichischen Künstler geschmückt waren. Doch in der Emigration zeigte sich, daß es unmöglich war, aus der Atmosphäre der Sprache auszuwandern. Trotz aller Bemühungen ging das Publikum nicht so mit, wie man es von daheim gewohnt war.“11
Konnte politisch engagierte Kleinkunst nur in einigen Fällen größere Publikumserfolge verzeichnen – worauf später noch zurückzukommen sein wird –, so erlangte das weniger anspruchsvolle, dafür aber wesentlich publicityträchtigere Unterhaltungs-Kabarett sowohl bei den Emigranten als auch bei den Amerikanern selbst wesentlich größere Akzeptanz. Thematisch angesiedelt zwischen heimwehgeplagter nostalgischer Flüchtlingsunterhaltung und der Auseinandersetzung mit den vielfältigen Problemen des Exilantenalltags, meist beide Bereiche in amüsant unterhaltender Revuemanier miteinander verbindend, fanden diese Kabarettprogramme beim Publikum breiten Anklang. Die wichtigsten dieser Institutionen, Lokalitäten, sowie deren Protagonisten seien kurz aufgezählt: Das im Herbst 1924 vom Berliner Literaten Kurt Robitschek und dem Wiener Kabarettisten Paul Morgan (Morgenstern) eröffnete Berliner „Kabarett der Komiker“ (kurz: „KadeKo“ genannt) zählte im Berlin der 20er Jahre zu den populärsten Kleinkunstbühnen. Robitschek versuchte nach seiner Flucht in die USA dieses Kabarett zu reaktivieren. Das neue „KadeKo“ (Abbildung 3) hatte nun seinen Sitz am Broadway im Pythian Theatre 135 West, 70th St. (East Corner of Broadway). Die Programmgestaltung ist im wesentlichen der leichten Unterhaltungsrevue zuzuordnen. So veranstaltete das „KadeKo“ etwa im Juli 1941 eine vergnügliche Bootsfahrt. Unter dem Motto Mondscheinfahrt auf dem Hudson mietete man den Luxusdampfer S. S. Bear Mountains als schwimmende Bühne. Die künstlerische Gesamtleitung oblag wie immer Kurt Robitschek, die musikalische Ausgestaltung besorgte Hermann Leopoldi. Das Programm umfaßte u. a. ein Kabarett der Prominenten, eine Amerikanische Girl Revue, sowie ein Kabarett der Unbekannten. Mit letzterem nahm die Programmankündigung bezug auf eine interessante Einrichtung des „KadeKo“: In einem eigenen Workshop veranstaltete man seit Beginn 1941 einen Kurs für junge Talente (Sänger, Tänzer, Schauspieler und Spezialisten). In diesem Lehrgang wurde sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache Schauspielunterricht erteilt und für die Praxis geprobt.12 Unterhaltende Revueprogramme (gelegentlich mit einem Schuß politischer Satire) unter den Mottos Ein Abend des Lachens, Die Große Lachparade, Lachen streng verboten und ähnliches mehr wurden von so bewährten Akteuren wie Oskar Karlweis, Ilse und Curt Bois, Hans Kolischer, Peter Preses oder Willy Trenk-Trebitsch, um nur einige wenige zu nennen, bestritten. Die
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Zit. nach Reinhard Hippen, Satire gegen Hitler. Kabarett im Exil, Zürich 1986, S. 149. Vgl. Aufbau (New York) vom 28. Februar 1941, S. 9.
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Abbildung 3: Aufbau vom 17. Oktober 1941.
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musikalische Gestaltung lag zumeist in den bewährten Händen von Hermann Leopoldi, aber auch Fritz Spielmann wirkte des öfteren mit.13 Robitscheks Bemühen um attraktive Programmzusammenstellung wird aus den zahlreichen Zeitungsinseraten deutlich. Unter dem Titel Silvesterfeier des Kabaretts der Komiker steht etwa am 11. Dezember 1942 im Aufbau zu lesen: „Kurt Robitschek hat für die zwei SilvesterVorstellungen des Cabaretts der Komiker im Pythian Theater [...] das Prinzip aufgestellt, so viel als möglich neue Gesichter und neues Repertoire zu präsentieren. Das Kaberett der Komiker (Continental Comedy Theater) hat alle für Dezember vorgesehenen Veranstaltungen abgesagt, um die große Silvesterrevue ‚On to Victory‘ vorbereiten zu können. / Einige hervorragende Artisten sind bereits fest verpflichtet. [...] Glanzvoll ist die Vertretung des europäischen Humors und der europäischen Kleinkunst. Hier genügen wohl die Namen: Hermann Leopoldi und Helen Moeslein, Fritz Spielmann (vollständig neues Repertoire), Hans Kolischer, Kurt Robitschek (mit einer neuen Idee: ‚Illustrierte Conferencen‛) [...]. Die Tanzkapelle Leo Pleskow und die rhythmische Band der Chocolate Kiddies, eines der besten Negerorchester, werden die Tanzmusik besorgen.“14
Abbildung 4: Aufbau vom 11. Dezember 1942, S. 13. 13 14
Das „KadeKo“ hielt mit seinen gemischten Programmen, den Sketches, Blackouts, Szenen und Tanzeinlagen, oft gemeinsam mit amerikanischen Variétékünstlern, geschrieben von deutschen wie amerikanischen Autoren, den Betrieb bis nach 1945 aufrecht. Danach arbeitete Robitschek unter dem Namen Ken Robey als Manager im Showgeschäft; er starb 1959. Für das New Yorker Exil-Kabarett waren diverse Lokale und Café-Restaurants von besonderer Bedeutung, so etwa das Cafe „Old Europe“ 2182 Broadway, Corner 77th St. Das Café wurde von Emil Schwarz geführt und galt als beliebter Treffpunkt österreichischer Exilanten. Ab 1939/1940 fanden hier allabendlich Kabarettprogramme statt, als Hauptattraktion die beliebten Doppelconferencen von Karl Farkas und Armin Berg. Ebenso gab hier Ralph Benatzky seine
Vgl. Aufbau vom 11. Dezember 1943 und Aufbau vom 29. Jänner 1943. Aufbau vom 11. Dezember 1942.
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populären Operetten-Potpourris zum besten, auch Hermann Leopoldi präsentierte alte und neue Songs. Im Aufbau vom 28. Februar 1941 findet sich eine kurze Notiz über eine der sehr gut besuchten Veranstaltungen des Cafés: „Cafe ‚Old Europe‘ veranstaltet am Sonnabend, 1. März, den zweiten und letzten Wiener Faschingsabend mit Überraschungen aller Art. Der erste FaschingsAbend am letzten Sonnabend war ein großer Erfolg und so überfüllt, daß sehr viele Gäste keinen Platz finden konnten. Neben Hermann Leopoldi mit seiner musikalischen Kunst tritt das hervorragende Tanzpaar Roman und Lucinda allabendlich auf und erteilt den Gästen außerdem gratis Tanzstunde in den neuesten Modetänzen.“15
Von ähnlicher Attraktion war das Cafe „Vienna“, 50 West, 77th Str. Am 12. Juni 1941 fand hier ein Festabend zu Ehren des 25-jährigen Bühnenjubiläums von Hermann Leopoldi statt. Das diesbezügliche Inserat kündigt neben dem Orchester Leo Pleskow Ernst Porten am Klavier und den Stimmungsmacher Dolfi Morgens an. Als Hauptattraktion und im Mittelpunkt des Interesses steht Hermann Leopoldi, „der – jeden musikalischen Wunsch erfüllend – mit seiner Partnerin [Helly Moeslein, d. V.] des besonders in dieser Jahreszeit ungewöhnlichen Erfolgs wegen wieder engagiert wurde und wieder allabendlich zu hören ist.“ 16
Im Dezember desselben Jahres startete im Cafe „Vienna“ eine parodistische Revue mit dem vielsagenden Titel Das weiße Rössel am Central Park. Die Besetzung sah unter anderen Vilma Kuerer, Eugene Hoffman, Dolfi Morgens und Fritz Spielmann vor.17 Das eigens dafür kreierte Genre der sogenannten „Short Operetta“, einer Kombination von Kleinkunst und Operettenmusik, die zwischen nostalgischer Erinnerung und gesellschaftskritischer Parodie angesiedelt war, schuf Jimmy Berg, der als Hauskomponist die gesamte Saison über verpflichtet wurde. Weitere Produktionen dieser Art waren Johann Strauß goes to New York – A short Musical by Jimmy Berg, Music – Johann Strauß, und Franz Schubert in One-Girl-House (mit Fritz Spielmann als Schubert!)18 Von nicht geringer Bedeutung war auch das von Georg Eberhardt geführte Cafe „Grinzing“, 323 East, 79th St. (zwischen 1st and 2nd Av.), eines der Stammlokale des populären Duos Hermann Leopoldi und Helly Moeslein (Abbildung 5).
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Aufbau vom 28. Februar 1941, S. 11. Aufbau vom 13. Juni 1941, S. 12. Aufbau vom 5. Dezember 1941, S. 14. Siehe Pass / Scheit / Svoboda, Orpheus (Anm. 3), S. 99f.
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Abbildung 5: Aufbau vom 19. September 1941, S. 9.
Gleiches gilt für Ludwig Blochs Etablissement, das sogenannte „Lublo’s Palm Garden“, 3785 Broadway, Cor. 157th St. Hier trat häufig der populäre MusikKabarettist Fritz Spielmann vors Publikum (Abbildung 6).
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Eine knappe Notiz im Aufbau läßt die angeregte Stimmung solcher Kabarettabende erahnen: „Das trotz des Hochsommerwetters überfüllte Haus spendete dem beliebten Wiener Komponisten Spielman nicht endenwollenden Beifall. Er bringt diese Woche ein neues SchlagerRepertoire. Karin Karina, die wunderbare akrobatische Tänzerin, zeigt auch diese Woche ihre Kunst. Felix Amstels Orchester spielt zum Tanz.“19
Der Vollständigkeit halber seien noch das „Casino Cafe“, 868 Amsterdam Av. (102nd–103rd St.) angeführt, in dem ebenfalls Spielmann auftrat, sowie jenes vom Committee For the Preservation of Austrian Art & Culture in the USA geförderte, „Austrian Centre Cabaret“ genannt, das gelegentlich im Malin Studios Theater, 133 West, 44th St., Kabarett-Revuen gab, wobei wiederum Jimmy Berg die musikalische Begleitung beisteuerte.20 Mehr auf Operetten-Revuen spezialisiert waren schließlich auch die beliebten Abende der Cultural Section of „Austrian Action“. Rund um Karl Farkas, Armin Berg, Oskar Karlweis und Ralph Benatzky entstanden 1942 unterhaltende Revuen unter dem Titel Austrian Cavalcade, bzw. Silvester Cavalcade (Abbildung 7).
Abbildung 6: Aufbau vom 19. September 1941, S. 9.
19 20
Aufbau vom 13. Juni 1941, S. 12, und Aufbau vom 12. Juni 1942. Siehe DÖW, Bibl. 16. 996.
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Abbildung 7: Aufbau vom 11. Dezember 1942, S. 13.
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Im Aufbau werden die diesbezüglichen kulturellen Aktivitäten lobend hervorgehoben. Über die Austrian Cavalcade im Pythian Theater, veranstaltet am 3. Oktober 1942, steht zu lesen: „Seit einiger Zeit haben sich die wichtigeren künstlerischen Veranstaltungen der Immigration gewandelt: sie sind über das Niveau heiterer Kaffeekränzchen und bierseliger Kegelabende hinausgewachsen. Freilich, ein Aufgebot an Prominenz, wie es die ‚Austrian Cavalcade‘ aufzuweisen hatte, wäre auch in Wien eine Sensation gewesen. [...] Eine große Anzahl dieser Künstler spielt in New York nun schon seit Jahren. [...] Der kabarettistische Abend im Pythian Theater war eine Freude, weil es seinen Veranstaltern unversehens gelang, ein Bild des alten Wien zu zeichnen, das unverzerrt war vom Schmerz um das Verlorene.“ 21
Abschließend einige Anmerkungen zum politisch-satirischen Exil-Kabarett: Bereits im Oktober 1938 hatte der nach New York emigrierte Viktor Grünbaum (Victor Gruen) die „Viennese Theatre Group“ gegründet. Grünbaum, der später als Architekt und Städteplaner zu Weltruhm gelangen sollte, gehörte bereits im Wien der späten 20er Jahre der sozialistischen Theatertruppe „Rote Spieler“ an. Im amerikanischen Exil versuchte Gruen nun gemeinsam mit dem ebenfalls zuvor bei den „Roten Spielern“ und auch in Berlin tätigen Regisseur Herbert Berghof unmittelbar an den Stil der politisch-satirischen Kleinkunst einstiger Wiener Produktionen anzuschließen. Der Truppe, die sich wechselweise auch „Refugee Artists Group“ nannte, gehörten in der Mehrzahl Künstler der ehemaligen Wiener Kabarettszene an: John Banner, Fred Lorenz, Kitty Mattern, Elisabeth Neumann, Walter Engel, Lothar Metzl und andere. Das erste, 1939 entstandene Programm nannte sich From Vienna und bestand im wesentlichen aus einem Potpourri erfolgreicher Nummern aus der Wiener Zeit. Mit der Absicht, ein breites, nicht nur aus Emigranten bestehendes Publikum zu erreichen, wurden die Programme in englischer Übersetzung gespielt, so etwa Jura Soyfers Der Lechner Edi schaut ins Paradies oder Hans Weigels Der Tag der Musikpflege. Die Show From Vienna fand am Broadway in Irving Berlins Music Box Theatre statt, großzügig unterstützt von Beatrice Kaufman (Gattin des bekannten Bühnenautors George S. Kaufman) und namhaften amerikanischen Kollegen wie Al Jolson, Irving Berlin, Edna Ferber, Sam H. Harris und anderen. Den Höhepunkt des Abends bot als Schlußstück eine Kurz-Revue Wiener Lieder. Insbesondere das Chanson Ballerina (Text von Peter Hammerschlag), gesungen und getanzt von der Kabarettistin Raudnitz-Roden, begeisterte das Publikum. Die Musik stammte vom einstigen Hauskomponisten des „ABC“, dem auch in seiner neuen Heimat vielbeschäftigten Jimmy Berg.22 Den Erwartungen entsprechend widmete auch der Aufbau den Veranstaltungen der „Viennese Theatre Group“ breiten Raum. Der Rezensent Manfred George schreibt über den Erfolg der Truppe: 21 22
Aufbau vom 9. Oktober 1942. Die vielfältigen Tätigkeiten des Komponisten, Texters, Musikers und Kabarettisten Jimmy Berg wurden erst in jüngster Zeit ausführlich dokumentiert; vgl. Pass / Scheit / Svoboda, Orpheus (Anm. 3), S. 15ff. und S. 91ff., sowie Jimmy Berg: Von der Ringstraße zur 72nd Street. Jimmy Bergs Chansons aus dem Wien der dreißiger Jahre und dem New Yorker Exil, hrsg. von Horst Jarka, New York 1996.
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„[...] Der Erfolg der Wiener ist ein herzlicher. Der Kritiker der ‚New York Times‘ repräsentiert sehr gut die Gefühle seiner amerikanischen Landsleute, wenn er schreibt: ‚Man ging heraus, seltsam erwärmt und gerührt, mit einem Kloß in der Kehle.‘ Und wie sollte man auch nicht! Wenn man sieht, welches Talent und wieviel Persönlichkeit hier in diesem kleinen Rahmen schon von den Opfern der europäischen Barbarei repräsentiert wird. [...] Aber die freie, selbstverständliche Menschlichkeit, die aus ihren Kurz-Szenen, Liedern und Satiren atmet [...], die Musikalität der weichen Luft des Donauraums – all das vereint sich zu einer glücklichen und charmanten Mischung.“23
Im März 1940 brachte die „Viennese Theatre Group“ ein zweites Programm mit dem Titel Reunion in New York – Musik abermals von Jimmy Berg – auf die Bühne. Trotz des künstlerischen Erfolgs blieb das erhoffte Publikumsecho – man setzte sich verstärkt mit amerikanischen Themen auseinander – aber weitgehend aus.24 Als der Hausregisseur und künstlerische Leiter Herbert Berghof zudem an Erwin Piscators englischsprachiges Studio Theatre der New School for Social Research wechselte, zerfiel das Ensemble 1940. Jene Bühne, welche wohl am ehesten die Tradition der politisch-satirischen Kleinkunst weiterführte, nannte sich Arche und wurde Anfang 1943 von den mitspielenden Autoren Oscar Teller und Erich Juhn gegründet.25 Oscar Teller versuchte die Tradition des von ihm in den zwanziger Jahren gegründeten „Jüdisch-Politischen Kabarett“ nun in New York neu aufleben zu lassen. Im Unterschied zur „Viennese Theatre Group“ konzentrierte man sich aber auf das Emigrantenpublikum und spielte infolgedessen in deutscher Sprache. Die Hoffnung, auch das englischsprachige Publikum zu erreichen, hatte man 1943 offensichtlich bereits aufgegeben. Bewährte Kräfte wie Victor Schlesinger, Erna Trebitsch, Vilma Kuerer, Kitty Mattern oder Hugo F. Koenigsgarten garantierten das notwendige künstlerische Niveau. Charakteristisch für die „Arche“ waren der Unterhaltungswert, gepaart mit Mut zur Kritik und Selbstkritik, sowie die eindeutig politisch akzentuierte Gestaltung der Programme. Die Auswahl der gespielten Autoren läßt außerdem erkennen, daß die Mischung von Politik und Unterhaltung an die Tradition der Wiener Kleinkunst anknüpft: Anton Kuh, Friedrich Torberg, Richard Beer-Hofmann, Fritz Gruenbaum, Fritz Loehner-Beda. Doch deutlich ist auch die bewußte Bezugnahme auf das Judentum zu erkennen, wie sie durch die verwendeten Texte etwa von Scholem Alejchem und Jizchok Leib Perez zum Ausdruck kommt. Gespielt wurde nur Freitags, Samstags und Sonntags nachmittag, da alle Künstler tagsüber profanen Berufen nachgehen mußten, vom Kabarett konnte kaum jemand leben. Aufführungsorte waren entweder das Pythian Theatre (135 West, 70th St.) oder das Master Theatre in der 103rd St., Riverside Drive. Die von 1943 bis 1945 existierende Bühne brachte mehrere Programme heraus, die unter den Titeln Reisende der Weltgeschichte, Gesäuertes und Ungesäuertes, Newcomer’s Cavalcade, Rosinen und Mandeln, 23 24 25
Aufbau vom 1. Juli 1939 und Aufbau vom 8. Oktober 1939. Vgl. New York Times vom 22. Februar 1940. Zu Oscar Teller siehe Meir Faerber, Abschied von Oscar Teller, in: Aufbau vom 16. August 1985, S. 22f.
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Sorgen von Morgen (Abbildung 8) und Akiba hat recht gehabt jeweils etwa einhundert Mal erfolgreich gespielt wurden.
Abbildung 8: „Die Arche“, New York. Plakat „Sorgen von Morgen“, aus Reinhard Hippen, Satire gegen Hitler, S. 156.
Wesentlichen Anteil am Erfolg dieses Kleinkunst-Theaters hatte das MusikTriumvirat Jimmy Berg – Franz Mittler – Fritz Spielmann. Neben dem schon
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mehrfach genannten Berg steuert der geniale Schüttelreimer, Komponist und populäre Musiker Franz Mittler so manchen gelungenen Sketch bei.26 Fritz (Fred) Spielmann war der dritte prominente Musiker im Ensemble – einer der wenigen Emigranten, denen es gelang, in Amerika die internationale Karriere fortzusetzen. Spielmann, durch seine Tätigkeit in Stella Kadmons „Lieben Augustin“ bereits mit dem Kabarett bestens vertraut, komponierte bereits in der Wiener Zeit Schlager am laufenden Band, von denen Schöne Frau, du gehst an mir vorbei, I muaß an Doppelgänger hab’n, I hab’ a kleines Kabinett und vor allem das Lied von den Schinkenfleckerln wohl die bekanntesten sind. 1938 emigriert Spielmann über Frankreich nach Kuba, 1939 übersiedelt er in die USA, nennt sich ab nun Fred Spielman. Er läßt sich in New York nieder, spielt und singt am Broadway in unzähligen Revuen, Kabarettprogrammen und Lokalen. In einem Portrait, erschienen am 17. März 1972 im Aufbau, skizziert Lisa Hoffman die beinahe beängstigende künstlerische Produktivität Spielmanns: „[...] Die Erfolgs-Saga, die sich um den Namen Fritz Spielmann rankt, ist in mehr als einer Hinsicht erstaunlich. Wenigen ist es im selben Ausmaß wie ihm gelungen, von Europa ausgehend Amerika zu erobern. [...] Ohne Schwierigkeiten segelte er auch in Amerika in seine Domäne hinein. Emigrant Spielmann setzte sich in einem Broadway-Lokal ans Klavier und war ‚in business‘. Seine Lieder, die er deutsch oder englisch oder in dem hinreißend gemischten ‚Pennsylvania Dutch‘ vortrug, eroberten das Publikum sofort. [...] Greta Garbo und Ingrid Bergmann gehörten zu seinen Stammgästen. Bing Crosby erhob das erste amerikanische Lied Spielmanns, die ‚Shepherd Serenade‘, zur zweithöchsten Nummer der ‚Hitparade‘. Andere Schlager folgten: ‚Spring came back to Vienna‘, ‚I’m gonna see a lot of you‘, ‚Merry Christmas‘, ‚After all these years‘ [...] Frank Sinatra, Perry Como, Doris Day, Nat King Cole, Sarah Vaughn, Dean Martin, Judy Garland und Elvis Presley sangen Spielmanns Chansons. 1945 kam der Sprung nach Hollywood [...].“27
Rund 200 Songs von Fritz Spielmann wurden veröffentlicht, rund 700 sind bis jetzt ungedruckt geblieben – und wie Spielmann mit dem ihm eigenen ironischen Unterton anmerkte: „Nur die schlechten Songs wurden Hits – niemals die guten [...].“
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Franz Mittler (1893–1970) wurde als begehrter Liedbegleiter durch seine langjährige Zusammenarbeit mit Karl Kraus, Leo Slezak oder Franz Steiner bekannt. Nach seiner Emigration 1938 in die USA arbeitete Mittler als Arrangeur, Komponist und Liedbegleiter. Große Popularität erlangte er durch seine Mitwirkung beim berühmten First Piano Quartett, dem er von 1943 bis 1963 angehörte. Als Komponist von Tanzmusik und Songs, als perfekter und einfühlsamer Begleiter, insbesondere aber als origineller Texter von Schüttelreimen und Limericks, wirkte Mittler wiederholt bei verschiedensten Kabarettveranstaltungen als gern gesehener Stargast mit (vgl. Mittler-Battipaglia, Mittler, sowie: Irmgard Schartner, Karl Kraus und die Musik, phil. Diss., Wien 2000). Lisa Hoffman, Spielmann – Nomen est omen, in: Aufbau vom 17. März 1972, S. 28. Siehe Elfi Hartenstein, Heimat wider Willen. Emigranten in New York, Berg am See 1991, S. 287–299. Seit dem Tod Fritz Spielmanns am 21. März 1997 in New York bemühte sich insbesondere der in Wien ansässige Orpheus Trust, geleitet von Primavera Gruber, um den Nachlaß des Komponisten. Ihr und Elena Ostleitner möchte ich danken für Überlassung von Materialien sowie wertvolle Hinweise Spielmann betreffend.
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Literatur (Auswahl): - Robert Dachs, Sag beim Abschied..., Wien 1997 - Ders., Katalog „Sag beim Abschied...“. Wiener Publikumslieblinge in Bild & Ton, 158. Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum der Stadt Wien, 23. 1. – 22. 3. 1992, Wien 1992 - Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (Hrsg.), Österreicher im Exil. USA 1938 – 1945. Eine Dokumentation, 2 Bde., Wien 1995 - Elfi Hartenstein, Heimat wider Willen. Emigranten in New York, Berg am See 1991 - Reinhard Hippen, Satire gegen Hitler. Kabarett im Exil, Zürich 1986 - International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte München und der Research Foundation for Jewish Immigration New York, Gesamtleitung Werner Röder und Herbert A. Strauss, München–New York–London–Paris 1983 - Jimmy Berg: Von der Ringstraße zur 72nd Street. Jimmy Bergs Chansons aus dem Wien der dreißiger Jahre und dem New Yorker Exil, hrsg. von Horst Jarka, New York 1996 - Die Vertreibung des Geistigen aus Österreich. Zur Kulturpolitik des Nationalsozialismus, Wien 1985 - Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, hrsg. von Thomas Koebner u. a., Bd. 5: Fluchtpunkte des Exils und andere Themen, München 1987 - Diana Mittler-Battipaglia, Franz Mittler. Austro-American Composer, Musician, and Humorous Poet, New York 1993 - Walter Pass / Gerhard Scheit / Wilhelm Svoboda, Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik von 1938 bis 1945, Wien 1995 - Irmgard Schartner, Karl Kraus und die Musik. Musik nach Angabe des Vortragenden, Bearbeiters, Verfassers. Musik zum Zweck des Vortrages, phil. Diss. Universität Wien, Wien 2000 - Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, hrsg. von Friedrich Stadler, Wien 1988 - Stephan Stompor, Künstler im Exil in Oper, Konzert, Operette, Tanztheater, Schauspiel, Wien 1994 - Oscar Teller, Davids Witz-Schleuder. Jüdisch-politisches Cabaret, Darmstadt 1982 - Hans Veigl, Lachen im Keller. Kabarett und Kleinkunst in Wien, Wien 1986 - Weit von wo. Kabarett im Exil, hrsg. von Hans Veigl, Wien 1994 - Hans Weiss / Ronald Leopoldi, Hermann Leopoldi und Helly Möslein: „In einem kleinen Café in Hernals...“, Wien 1992 - Zeitschrift Aufbau, New York 1934ff. (1941–1945, 1972, 1985)
MANUELA SCHWARTZ (Magdeburg)
Arnold Schönbergs pädagogischer Einfluß und seine Rezeption in den USA1 Der österreichische Musikverleger und Autor Hans Heinsheimer, später Leiter des größten amerikanischen Musikverlages Schirmer, schrieb Anfang der fünfziger Jahre noch als Mitarbeiter bei Boosey & Hawkes: „Das Konzert in Albuquerque war ein typisches Ereignis. Es scheint mir symbolisch für eine umfangreiche und mächtige Bewegung: für die kulturelle Befreiung der amerikanischen Provinz, für ihre Emanzipierung von den großen Städten, für ihre Aufspaltung in eine Unzahl unabhängiger musikalischer Einheiten, deren Aktivität nicht mehr eine provinzielle Kopie dessen ist, was sich in der New Yorker Carnegie Hall ereignet, und die nicht die Musikkritiker der großstädtischen Zeitungen oder die Meinungen der musikalischen Geschäftsleute in den Großstädten als unbedingt gültige Urteile hinnehmen, sondern die danach streben, ihr eigenes Kulturleben zu formen, nach dem Herzen und dem Geist, dem Geschmack und den Bedürfnissen ihrer eigenen Leute. Die amerikanischen Universitäten sind in mancher Beziehung das Gegenstück zum Mäzenatentum der Fürsten im einstigen Europa geworden. Ganz neue Hörerkreise bilden sich. Aus aller Welt werden Lehrkräfte berufen. […] Schon ist in Bloomington, in Urbana, in Pittsburgh, in Los Angeles, in Ann Arbor, Stanford, Denver, Seattle, New Orleans und an vielen anderen Universitäten ein Musikleben von besonderer Intensität und Unternehmungslust im Aufkeimen. […] Hört euch die ‚Matthäuspassion‘ an, gesungen von dreihundertfünfzig Studenten der Universität von Salt Lake City, ein Jugendkonzert in Los Angeles oder eine Probe des Blasorchesters der Universität von Michigan! […] In ganz Amerika erklingt Musik. Sie ist da und wird nicht mehr verklingen.“2
Heinsheimers Einschätzung eines sich immer reichhaltiger entwickelnden Musiklebens im Nordamerika der Nachkriegszeit hebt zwei Phänomene hervor: zum einen die deutliche Zunahme vielfältiger Aktivitäten allerorten, aber vor allen Dingen in 1
2
Der Aufsatz stellt die im Jahr 2002 überarbeitete Fassung des Vortrages „Die Rezeption Schönbergs an der Ostküste“ vom 27. Oktober 1997 im Rahmen des Kongresses „Verboten und vertrieben – österreichische Komponisten im amerikanischen Exil“ am Arnold-Schönberg-Institut der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien (heute: Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg am Institut für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) dar. Der ausführliche Artikel Arnold Schoenberg in Los Angeles von Dorothy Lamb Crawford (The Musical Quarterly, Frühjahr 2002, 86/1, S. 6–48), der 2002 nur teilweise berücksichtigt werden konnte, beschreibt (S. 15– 32) sowohl Schönbergs eigene Haltung, Motivation und pädagogisches System als auch einzelne Schüler und ihre Reflektionen zu seinem Unterricht wodurch er eine wichtige Ergänzung des vorliegenden Beitrages liefert. Hans W. Heinsheimer, Menagerie in Fis-Dur, Zürich/Stuttgart 1953 (auf englisch erschienen als Menagerie in F-Sharp und Fanfare for 2 pigeons), S. 328ff. Heinsheimer war ab 1957 Direktor des Schirmer-Verlages.
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Manuela Schwartz
künstlerisch-musikalisch bisher wenig aktiven Regionen; zum anderen die dabei zentrale Rolle der Universitäten, deren Mitglieder sowohl die Künstler als auch das notwendige Publikum stellten. Amerikanische Universitäten konnten angesichts der wachsenden Zahl gut ausgebildeter europäischer Emigranten in den dreißiger und vierziger Jahren ihre Fakultäten neu besetzen, zukunftsträchtige Konzepte entwikkeln und damit insgesamt das Bildungsniveau – nicht nur im Bereich Musik – heben und ihr Angebot erweitern. Detaillierte Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen dem Engagement europäischer Emigranten sowie der Quantität und Qualität musikalischer Unternehmungen in der nordamerikanischen Provinz fehlen. Während Persönlichkeiten wie der Opern- und Theatermacher Hugo Strelitzer und die Cembalovirtuosin Alice Ehlers in Kalifornien direkten Einfluß auf das Studium und die Aufführung von Oper und Alter Musik nahmen, läßt sich die tatsächliche Einflußnahme vieler Künstler, allen voran Arnold Schönbergs, im Detail schwerer nachweisen. Fällt es schon für die Wiener und Berliner Wirkungszeit schwer, von Schönberg-Schulen zu sprechen3, so erscheint der Terminus „Schule“, dessen Anwendbarkeit auch bei anderen Lehrer-Komponisten der Zeit wie Max Reger, Vincent d’Indy, Nikolaj Rimskij-Korsakow oder Ferruccio Busoni in Frage gestellt werden könnte, angesichts der amerikanischen und kalifornischen Situation vorläufig schwer anwendbar. Einzelne Privatschüler, verschiedene private Unterrichtsklassen und diverse Kurse für Schüler unterschiedlichen Niveaus ergeben mehrere quantitativ und qualitativ heterogene Gruppen von Personen unter Schönbergs persönlichem und/oder künstlerischem Einfluß. John Cage ausgenommen, blieb Schönbergs pädagogisches Wirken auf eine Reihe von aus heutiger Sicht weniger prominenten und populären „Schülern“ beschränkt4, die sich – hinsichtlich seiner Kompositionsklassen vergleichbar mit der „Berliner Schule“ – „als eine ‚zufällige‘ Ansammlung begabter Komponisten unterschiedlichster stilistischer und ästhetischer Ausrichtung“ [darstellen], „deren einziges verbindendes Element das Schönbergsche Kompositionsethos sei“.5 Dokumente, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Musik in der Emigration 1933–1950: Pilotprojekt Kalifornien“6 erstmals ausgewertet und katalogisiert wurden, lassen die Annahme zu, daß Schönbergs Tätigkeit als Lehrer und seine Wir3
4 5 6
Vgl. dazu die Einleitung Ludwig Holtmeiers zu dem Band Arnold Schönbergs „Berliner Schule“ (MusikKonzepte 117/118), hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 2002, S. 3–7, hier S. 3: „Auch die vor 10–15 Jahren noch unerschütterte Einheit der (Schönbergschen) Wiener Schule ist einem Geschichtsbild gewichen, das von einem deutlichen Bewußtsein der unterschiedlichen ästhetischen und materialbegrifflichen Differenzen Schönbergs, Bergs und Weberns zeugt. […] Es ist klar: spricht man von einer Berliner Schule, kann nicht die Summe aller Schönberg-Schüler gemeint sein. Der Begriff bezeichnet die Gruppe von Komponisten, die das Materialverständnis der Wiener Schule aufgegriffen und weiterentwickelt haben.“ Vgl. Anm. 49. Metzger/Riehn, Arnold Schönbergs „Berliner Schule“, S. 4 (Anm. 3). Ein Vorhaben der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter der Leitung von Horst Weber, Folkwang Hochschule, Essen.
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kung als europäische Leitfigur im Mittelpunkt seines amerikanischen Exils stehen – auch und gerade über den herkömmlichen Schulbegriff7 hinaus. Ausgehend von den Quellenfunden im Rahmen des Essener Forschungsprojektes als auch von jüngeren Forschungen über Schönbergs pädagogische Arbeit8, kann der vorliegende Beitrag, dessen erste Ausarbeitung über zehn Jahre zurückliegt, keinen kohärenten Anspruch erheben. In einzelnen Kapiteln werden unterschiedliche Teilaspekte des Themas angerissen, auch mit dem Ziel, amerikanische Beobachtungen und somit die Perspektive des Exillandes auf den „Fremden“ etwas stärker zu berücksichtigen. Ein Arnold-Schönberg-Lehrstuhl in Los Angeles Eine der entscheidenden und häufig zitierten traumatischen Erfahrungen von Schönberg im kalifornischen Exil war die monatliche Rente von 29,60 Dollar9, mit der ihn die University of California Los Angeles (UCLA) – nach nur acht Jahren im Dienst dieser Einrichtung – in den Ruhestand entließ. Schönbergs Versuch, bei der John Simon Guggenheim Memorial Foundation, die zuvor George Antheil, Samuel Barber, Ruth Crawford oder Lou Harrison großzügig unterstützt hatte, ein Stipendium zu bekommen, blieb erfolglos, so daß er auch in den letzten sieben Jahre seines Lebens bezahlte Kompositionsaufträge und zahlende Schüler nicht ausschlagen konnte. Diese, angesichts der Reputation von Schönberg unverhältnismäßige Situation war nicht unbemerkt geblieben. Im März 1944, wenige Monate vor Schönbergs Pensionierung zu seinem 70. Geburtstag, begann Albert I. Elkus, Chairman des Music Departments der University of California Berkeley, einen Briefwechsel, dessen Ziel die Einrichtung eines besonderen Arnold-Schönberg-Lehrstuhls an der UCLA, nicht zuletzt zur Verbesserung der finanziellen Lage Schönbergs, war.10 Elkus’ Absicht entsprang keiner Laune, hatte er doch bereits 1939 versucht, Schönberg zur Publikation seiner Harmonielehre bei der Berkeley University Press zu verhelfen. 11 Für Elkus, der seine Klavierstudien in Paris und Berlin, seine Kompositionsstudien aber in Wien bei Carl Prohaska und Robert Fuchs absolviert hatte, war Schönberg als Lehrer Teil des südkalifornischen Establishments geworden, dessen Einfluß bis nach Berkeley spürbar war. 7 8
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Vgl. Anm. 3. Vgl. die Arbeiten von Metzger und Riehn (Anm. 3), Sointu Scharenberg, Überwinden der Prinzipien: Betrachtungen zu Arnold Schönbergs unkonventioneller Lehrtätigkeit zwischen 1898 und 1951, Saarbrücken 2002, und Peter Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler. Berlin 1925–1933, Wien 1998. Vgl. Arnold Schoenberg 1874–1951. Lebensgeschichte in Begegnungen, hrsg. von Nuria Nono-Schoenberg, Klagenfurt 1992, S. 399. Siehe dazu die Dokumente Nr. 541–546 in: Quellen zur Geschichte emigrierter Musiker 1933–1950, Bd. 1: Kalifornien, hrsg. von Horst Weber und Manuela Schwartz, München 2003 (im folgenden QuECA), S. 53. Brief von Arnold Schönberg an Albert I. Elkus, 30. November 1939, UC Berkeley, Music Library, Music Department, Inventory W 34 663, box 145, Part XVII: Individual persons; folder 237: Schönberg, Arnold (im folgenden UC Berkeley/Schönberg). Dokument Nr. 546 in: QuECA (Anm. 10), S. 53.
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„May I tell you what a pleasure it is to have among our graduates such fine students as have come under your influence,“12
schrieb Elkus Schönberg im November 1939. Noch elf Jahre später pries er Schönbergs Persönlichkeit mit den Worten: „His influence on students has been indelible and anyone who has seen him in his class surrounded by young people cannot have failed to have been moved by his uncompromising adherence to standards of quality and by the loving patience with which he encouraged his students.“13
Elkus wurde im März 1944 in New York von Carl Engel – Direktor des SchirmerVerlags und langjähriger Freund Schönbergs – der Vorschlag für einen ArnoldSchönberg-Chair unterbreitet. Auf der Suche nach weiteren Geldgebern hatte Engel die Idee, Hollywood und seine Filmmagnaten einzubeziehen. Um die Einrichtung eines Lehrstuhls für diese Art von Geldgeber attraktiver zu gestalten, sollte er nach Schönbergs endgültiger Pensionierung in einen Lehrstuhl für Filmmusik umgewandelt werden, was Elkus unmittelbar nach seiner Rückkehr von New York dem damaligen Präsidenten der Universität, Gordon E. Sproul, erläuterte.14 Sproul war prinzipiell einverstanden und schrieb bereits im April einen aufmunternden Brief an Engel nach New York.15 Der unerwartete Tod von Engel am 6. Mai 1944 verschlechterte die finanzielle Ausgangssituation – weil der Verlag als zusätzlicher Mäzen wegfiel –, hielt aber Elkus nicht davon ab, den Plan weiterzuverfolgen. Er 12 13 14
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Brief von Albert I. Elkus an Arnold Schönberg, 7. November 1939, UC Berkeley/Schönberg (Anm. 11). Dokument Nr. 545 in: QuECA (Anm. 10), S. 53. Brief von Albert I. Elkus an Dr. Baldwin M. Woods, 29. April 1950, UC Berkeley/Schönberg (Anm. 11). Albert I. Elkus an Gordon E. Sproul, 30. März 1944 und 8. April 1944, UC Berkeley/Schönberg (Anm. 11). In dem Brief vom 30. März 1944 erwähnt Elkus Diskussionen mit dem damaligen Dean Williams über die Kompositionsausrichtung an der UCLA und betont „particularly the idea that in the work in composition at U.C.L.A. consideration should be given to writing music for moving pictures. I also mentionned a few names. […]“. Elkus schilderte diesen Vorgang in einem Briefentwurf an einen unbekannten Adressaten, der nach dem 6. Mai 1944 – dem Todestag von Carl Engel – geschrieben sein muß. „Last March in New York Carl Engel expressed to me his concern that having reached the age of retirement, Schoenberg might find himself with means inadequate to his needs and further expressed an opinion that a provision should be made enabling a man of such vital influence to continue in a limited way to teach. Mr Engel hoped that if it could be arranged with an endowment might be created the income of which should during his life be enjoyed by Mr. Schoenberg, and thereafter provide for a chair of composition of music at U.C.L.A. permanently to be called the A.S. chair of comp of music. Engel certainly gave me to understand that G. Sch. & Co. would be interested in such a project and that he would exert every personal aid in this matter with any foundations or groups who might feel empathetic in this regard. Particularly, Engel felt that certain great moving picture organizations in view of the situation regarding earnings and taxation might consider themselves justified in diverting certain earnings to such a project. At any rate, he asked me to discuss with Pres. R.G.S. of the Un. of Calif. whether, if such a fund could be established, such a plan could be arranged and whether Sch. might be retained beyond the usual age of retirement to teach in a limited way. On my return I communicated this to Pres. S. who wrote Mr Engel assuring him it could be arranged so far as the University was concerned and expressing his strongest interest in and appreciation for the project. Carl Engel received the letter but a few days before his death.“ Siehe UC Berkeley/Schönberg (Anm. 11) sowie Dokument Nr. 542 in: QuECA (Anm. 10), S. 53.
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wandte sich im weiteren Verlauf des Jahres an mehrere einflußreiche Personen, die nach dem Rat von Engel Interesse an der Einrichtung dieses Lehrstuhles haben könnten. Neben Felix Greissle beim Schirmer-Verlag16, Eric T. Clarke (Metropolitan Opera House) und Robert M. W. Vogel (Metro Goldwyn Mayer) schrieb Elkus – vermutlich auf Anraten Greissles17 – schließlich einem der einflußreichsten Musiker der Filmindustrie, Alfred Newman, seit 1939 Musikchef von 20th Century Fox und davor Schüler von Schönberg.18 Nur wenige Wochen nach diesem Brief lernte Elkus Newman im Rahmen eines Symposiums über Filmmusik an der UCLA auch persönlich kennen. Eine Antwort von Newman blieb jedoch aus, so daß Elkus Präsident Sproul wie auch Felix Greissle beim Schirmer Verlag in New York Ende des Jahres das Scheitern seiner Verhandlungen und Bemühungen bekanntgeben mußte.19 Auch ohne Ergebnis ist das Vorhaben allerdings ein wichtiges Stück Schönberg-Rezeption und ein Beitrag zu seiner Profilierung als Lehrer – nicht als Komponist. Zudem dokumentiert es die Bemühungen in Südkalifornien, europäische Standards des Kompositionsunterrichts durch einen herausragenden Modernisten zu institutionalisieren und die Dominanz der Ostküste schnell zu überwinden. Der langfristige Schwerpunkt Filmmusik repräsentierte die regionale Spezifik der jungen Filmhauptstadt Los Angeles: es sollte mit Hilfe der Hochschulen gelingen, eine Synthese der europäischen Avantgarde und der typisch südkalifornischen Medienindustrie herzustellen. Anhand der wenigen Briefe und Antwortschreiben zu diesem Vorgang, wie auch weiterer Dokumente im Music Department der University of California Berkeley (UCB)20, treten neue Aspekte zur Bedeutung Schönbergs innerhalb seines kalifornischen Umfelds zutage, die eine nähere Betrachtung der Filmindustrie Hollywoods,
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Greissle bedauerte in seinem Antwortschreiben vom 22. Mai 1944, daß er auf Grund fehlender Verbindungen Elkus nicht behilflich sein könnte. UC Berkeley/Schönberg (Anm. 11). Greissle an Elkus, 2. Juni 1944. „I know that it was also in Mr. Engel’s mind that some of the motion picture companies, in view of their immense profit at present, might contribute to this project. [...] Do you know Mr. Alfred Newman, who I understand made possible the recording of the Schoenberg quartets? [...]“ Briefe von Elkus an Alfred Newman vom 29. August und 20. September 1944. UC Berkeley/Schönberg (Anm. 11). Elkus am 20. Oktober 1944 an Sproul: „I am afraid that I cannot make a very encouraging report with regard to the suggestion of Carl Engel before his death that provision be made for a chair at the University of California at Los Angeles for Arnold Schoenberg. […] I cannot escape the disappointing conclusion, for the time being at any rate, that Mr. Engel’s sad death brought to an end the hope which he inspired, the consummation of which, had he lived, he might have assisted very materially to bring about.“ Elkus am 27. November 1944 an Felix Greissle: „I do not know what further can be done with regard to the matter of the chair of music suggested last March by Engel.“ […] „I am disappointed that I have not been able to accomplish anything and should welcome from you any suggestion you might have.“ Felix Greissle an Elkus, 6. Dezember 1944: „You certainly have done more than anybody could have expected of you, and if you did not meet with success, I regret it mostly because you were not finally regarded with the deep satisfaction it would have given you to achieve something for Mr. Schönberg.“ Alle Briefe in UC Berkeley, Music Library, Music Department, Inventory W 34 663, box 145, Part XVII: Individual persons; folder 237: Schönberg, Arnold. QuECA, Nr. 541–546 (Anm. 10).
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seiner Schüler an den verschiedenen amerikanischen Institutionen sowie der Lehrtätigkeit Roger Sessions u.a. in Berkeley notwendig machen. Schönberg und die Filmindustrie Hollywoods Zunächst mag es als Ironie der Geschichte erscheinen, den Künstler Schönberg, der bekanntlich die notwendige Modifikation der Film-„Industrie“ proklamierte und ihren Untergang prophezeite21 und der trotz einer konkreten Anfrage aus Hollywood auf eine Zusammenarbeit verzichtete22, mit einem Lehrstuhl zu bedenken, der nicht nur von Hollywood aus finanziert, sondern später auch von den Bedürfnissen des amerikanischen Films vereinnahmt und damit einem praktischen Nutzen zugeführt werden sollte, der denkbar weit von Schönbergs eigenem Bemühen um das Unaussprechliche entfernt war. Seinen amerikanischen Freunden wie Carl Engel oder Verehrern wie Albert I. Elkus war diese Diskrepanz kein Hindernisgrund. Denn die Beziehungen Schönbergs zu den Filmgesellschaften beschränkten sich eben doch nicht nur auf die oft zitierte, aber ebenso eindeutig widerlegbare Ablehnung, selbst als Komponist von Filmmusik tätig zu werden.23
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In seinem Artikel Kunst und Film (als Art and the moving pictures vom April 1940 in der Zeitschrift California Arts and Architecture abgedruckt) beklagte Schönberg das Ende seiner filmischen Visionen und Idealvorstellungen. „Wie hatte ich mich geirrt: einige Monate später wurde mein Traum zerstört durch das Erscheinen des ersten ‚ausgewachsenen‘ Films, ‚ausgewachsen‘ auch an Vulgarität, Sentimentalität und billiger Effekthascherei. Es war der erste Schritt abwärts zu der niedrigsten Art von Unterhaltung, und seither ist niemals mit ebensolchem Erfolg ein Schritt in entgegengesetzter Richtung gewagt worden. Die Filmproduktion wandte sich gänzlich von jedem auf das Künstlerische gerichteten Versuch ab und blieb eine Industrie, die erbarmungslos jeden künstlerischen Zug als gefährlich unterdrückte. Erstaunlicherweise beugte sich die gebildetere Schicht nach einigem Zögern den Tatsachen. Betört von den neuen technischen Wundern, verzichtete man auf höhere Ideen und gab sich mit einem billigen Happy-End zufrieden.“ In: Arnold Schönberg. Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtěch (Arnold Schönberg, Gesammelte Schriften 1), Nördlingen 1976, S. 363–366, hier S. 363. Hans-Heinrich Stuckenschmidt, Schönberg. Leben. Umwelt. Werk, München/Mainz 1989, S. 373f., und Albrecht Dümling, Zwischen Außenseiterstatus und Integration. Musiker-Exil an der amerikanischen Westküste, in: Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internationale Musikkultur, hrsg. von Hanns-Werner Heister u. a., Frankfurt am Main 1993, S. 311–337, hier S. 319f., berichten von dem Angebot Irving Thalbergs, für Metro Goldwyn Mayer die Filmmusik zu The Good Earth nach dem berühmten Roman von Pearl S. Buck zu komponieren, was Schönberg mit seiner Forderung von 50.000.– $ Gage und weitgehender künstlerischer Eigenständigkeit absichtlich zunichte gemacht hätte. Daß Schönberg aber nicht nur gefordert, sondern auch schon an dem Projekt gearbeitet und insgeheim, wenn auch widerstrebend, mit der zehnfachen Summe seines Jahresgehaltes geliebäugelt hatte, zeigen diverse Dokumente; vgl. NonoSchoenberg (Hg.), Arnold Schoenberg (Anm. 9), S. 319. Dümling weist zu Recht darauf hin, daß Schönberg schon einmal – bei der Komposition des Pierrot Lunaire – „gepokert“ hatte, kurz vor der Zusage von Albertine Zehme dieses Pokern auch kommentierte, danach aber ohne Zögern das Werk komponiert hat (S. 335). Für die ernsthafte Absicht, Filmmusik zu komponieren, spricht auch Schönbergs Antwort auf eine Anfrage von Else Lasker-Schüler: „Sicherlich, wenn ich aufgefordert werden sollte und das Darzustellende [Musik zu einem Schauspiel und seiner Verfilmung; MS] einigermaßen innerhalb der Grenzen meines Ausdrucksvermögens liegen sollte, wird es mir ein Vergnügen sein und ich werde mich auf die Komposition stürzen.“ Vgl. Stuckenschmidt, Schönberg, S. 384. Vgl. dazu Dika Newlin, Schoenberg remembered. Diaries and Recollections (1938–76), New York 1980, S. 226f., und Stuckenschmidt, Schönberg (Anm. 22), S. 373f.
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Angesichts des Umzugs von Intellektuellen und Künstlern in den dreißiger Jahren an die Westküste Amerikas ist davon auszugehen, daß Schönberg – wie es durch Überlieferungen von Leonard Stein bekannt ist – bei seiner Übersiedlung vor allem das musikalische Treiben im Rahmen der Filmproduktionen mit im Auge hatte, jenen Bereich des kalifornischen Musiklebens, in dem täglich und in vielfältiger Form Musik komponiert, gespielt und gebraucht wurde.24 In einem nur für Freunde und für die Mitarbeiter an der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag bestimmten dreiseitigen Bericht von 1934 schwärmte Schönberg ganz in diesem Sinne von der verheißungsvollen Situation in Hollywood: „Los Angeles (Hollywood ist quasi ein Floridsdorf oder Mödling von Los Angeles, nur mit dem Unterschied, daß hier diese schönen Filme hervorgebracht werden, deren höchst ungewöhnliche Vorgänge und wundervollen Klang ich so sehr liebe – bekanntlich) ist, was meine Musik anbelangt, ein vollkommen unbeschriebenes Blatt.“25
Wichtig ist Schönbergs nahezu schwärmerisches Bekenntnis zur Kunstgattung Film, ein unverstelltes Interesse des junggebliebenen Künstlers, das sicherlich nicht nur als Produkt der Verzweiflung eines verarmten Emigranten angesehen werden darf. Wenn Musik in Kalifornien irgendwo eine zentrale gesellschaftliche Rolle spielte, dann sicherlich im Hollywood des seit einigen Jahren maßgeblichen Tonfilmes. Angebot und Nachfrage der Region Los Angeles im Bereich klassischer Musik in den dreißiger Jahren waren außerhalb der sogenannten Traumfabriken eher spärlich, wenn man die europäischen, insbesondere die früheren Wiener und Berliner Verhältnisse als Maßstab zugrunde legt.26 Das Verhältnis Schönbergs zum Film und den Produktionsgesellschaften entwikkelte sich, unabhängig von seinen ursprünglichen Motiven, ambivalent. Toleranz und Ablehnung gegenüber der Kunstgattung Filmmusik wechselten einander ab, nachdem er in Europa noch ein leidenschaftlicher Kinogänger und sogar Bewunderer amerikanischer Filme mit musikalischen Liveaufführungen (keineswegs nur Anhänger der experimentellen Filme europäischer Kollegen) gewesen war.27 Wäh24
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„Da es also keine unmittelbaren Aussichten gab, an der Ostküste seinen Lebensunterhalt zu verdienen, entschloß er [Schönberg] sich, sein Glück in Hollywood zu versuchen, wo er sich erhoffte, daß Filmkomponisten, bei denen er Reichtum vermutete, an seine Tür anklopfen würden, um bei ihm Schüler zu werden.“ Leonard Stein, Musiker im Exil in Südkalifornien. Die ersten Jahrzehnte, in: Verdrängte Musik. Berliner Komponisten im Exil, hrsg. von Habakuk Traber und Elmar Weingarten, Berlin 1987, S. 123. Schönberg zitiert nach Willi Reich, Arnold Schönberg oder Der konservative Revolutionär, Wien u. a. 1968, S. 252. Reich zitiert (S. 246–252) mehrere Passagen aus einem Bericht Schönbergs über das erste Jahr in Amerika, „den er an einige Freunde und an die Mitarbeiter an der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag als Beilage zu seinem offiziellen Dankbrief sandte.“ Detaillierte Studien zum Musikleben Kaliforniens fehlen bislang. In einer Enzyklopädie zu Los Angeles wird der Beginn umfangreicher Aktivitäten im Bereich klassischer Musik mit der Ankunft der europäischen Emigranten erklärt, was erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu größerer öffentlicher Anerkennung und privater Unterstützung führte. (Los Angeles A to Z. An Encyclopedia of the City and County, hrsg. von Leonard und Dale Pitt, Berkeley u. a. 1997, S. 346f.). Stuckenschmidt, Schönberg (Anm. 22), S. 373f.; Dümling, Zwischen Außenseiterstatus und Integration (Anm. 22), S. 320.
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rend zum einen von einer konsequenten Aversion gegen alles, was aus Hollywood kam, berichtetet wird28, lassen andere Äußerungen wie das obige Zitat zwar eine zunehmend analytisch-kritische, aber mitunter auch grundsätzlich zustimmende Auseinandersetzung Schönbergs mit diesem Medium erkennen. Zum einen war er tatsächlich nicht gewillt, seine Musik den Kompromissen der modernen Filmindustrie zu opfern, zum anderen äußerte er sich nicht nur ablehnend zur Verwendung von klassischer29 und zeitgenössischer Musik im Film. In seiner Rede zur OskarVerleihung für die beste Filmmusik an Charles Previn, 1938, drückte er sogar die Hoffnung aus, daß bald eine Zeit kommen wird, „when the severe conditions and laws of modernistic music will be no hindrance any more toward a reconciliation with the necessities of the moving picture industry.“30
Diese Verbindung konnte seiner Meinung nach einen Weg darstellen, dem normalen Publikum die Ideen und Ausdrucksmöglichkeiten zeitgenössischer Musik nahezubringen. „By its use of music as a means of stimulation, the movie industry has already succeeded in making the people music conscious. Step by step it will educate them also to ideas and ways of expression, which they cannot appreciate today.“31
Auch wenn der auffordernde und geradezu motivierende Appell als ein Zugeständnis Schönbergs an den festlichen Rahmen der Rede angesehen werden muß und er selbst die Rede gar nicht halten konnte oder wollte, so bleibt es doch Faktum, daß er die Bitte seines ehemaligen Schülers Alfred Newman nicht ausgeschlagen hat und die Gelegenheit nutzte, um die wichtigsten Produzenten Hollywoods auf ihre mögliche pädagogische Aufgabe und moralische Verpflichtung aufmerksam zu machen. Sein Appell verhallte anscheinend nicht ungehört, kam es doch im April 1940 zu dem Versuch, aus den besten Studiomusikern ein Ensemble zusammenzustellen, das nur „modern works“ spielen sollte, wofür auch Schönberg als Dirigent
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Vgl. Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 226f. (zu den Angeboten Thalbergs und Boris Morros’ aus Hollywood) und S. 220 (zur Ablehnung des Films Rebecca). Siehe auch Schönberg an Oskar Kokoschka, 3. Juli 1946: „Sie klagen über Mangel an Kultur in dieser Amüsierwelt. Was würden Sie erst zu der sagen, in der ich mich zu Tode ekle. Ich meine nicht allein die Movies.“ Zit. nach NonoSchoenberg (Hg.), Arnold Schoenberg (Anm. 9), S. 402. „Was die Musik angeht, so braucht man nicht über moderne Musik zu reden. Mit wenigen Ausnahmen hat die Filmindustrie bis jetzt die klassische Musik von Bach bis Schubert noch nicht zugelassen, ganz zu schweigen von Brahms, Berlioz, Debussy, Richard Strauss oder Mahler. Ich glaube nicht, daß eine große Mehrheit der Menschen insgesamt sich ernsthaft dagegen sträuben würde, gelegentlich klassische Musik vorgesetzt zu bekommen.“ Siehe Arnold Schönberg, Kunst und Film (Anm. 21), S. 364. Ausgezeichnet wurde der Film One Hundred Men and a Girl. Der Vortrag (die sog. „Oscar Speech“) wurde wegen Erkrankung Schönbergs in seiner Abwesenheit gehalten. Vgl. Sabine Feisst, Schoenberg and America, in: Schoenberg and his World, hrsg. von Walter Frisch, Princeton 1999, S. 285–336, hier S. 283 (Einführung) und S. 302 (Abdruck der „Oscar Speech“). Ebenda S. 302.
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vorgesehen war.32 Was sich die Filmindustrie bis dahin und auch später noch in Hinblick auf zeitgenössische Musik leistete, schien ihm dennoch 1940 wie auch 1948 in seinem Artikel Music and Morality künstlerisch zweifelhaft und sogar im allgemeinen unmoralisch.33 Das Kapitel Schönberg und die Filmindustrie Hollywoods bliebe eine Randglosse seiner Biographie, wenn es nicht im Hinblick auf Schüler aus der „Traumwerkstatt“ noch einige offene Fragen und womöglich ästhetisch schwerwiegende Antworten sowohl für Schönberg als auch für die Region Los Angeles gäbe. Während die Anwesenheit einiger Filmkomponisten im Kreise seiner Schüler oft entweder in Frage gestellt wird oder gänzlich ausgeklammert ist, verweisen amerikanische Publikationen neben den bekannten Namen wie Leonard Rosenman oder Leonard Stein auch auf David Raksin34, Alfred Newmann35 oder Ralph Rainger36 als Schönberg-Schüler aus der Filmbranche. Roger Sessions erwähnt, daß Schönberg zu einem bestimmten Zeitpunkt „in demand among the composers of film music in Hollywood“ war, fügt dann aber hinzu, daß „his demands however proved too high, and composers in search of easy formulas of effect withdraw in disappointment.“37
Von Oscar Levant stammt die nicht weiter belegte Behauptung, daß Filmkomponisten mit der Hoffnung bei Schönberg anklopften“, von ihm einige nützliche Tricks zu lernen.
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Schönberg erfuhr von dieser Initiative am 8. April 1940 durch seinen Schüler Simon Carfagno, der offensichtlich Kontakt zur Filmindustrie hatte. Vgl. Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 206, 262f., 293. Schönberg dirigierte das sog. studio orchestra bei einer Aufführung von Pelleas und Melisande. Vgl. Feisst, Schoenberg and America (Anm. 30), S. 287. Raksin bezeichnet sich selbst als einen Schüler von Schönberg, der dennoch ein Autodidakt geblieben ist. Vgl. Royal S. Brown, Overtones and Undertones. Reading Film Music, Berkeley u. a. 1994, S. 282: „But even though I studied with Arnold Schoenberg for a few years, I consider myself self-taught.“ Raksin komponierte zu dem berühmten Film Laura (1944) die Filmmusik. Vgl. Feisst, Schoenberg and America (Anm. 30), S. 287: „As a teacher, Schoenberg was also much in demand by composers working in the Hollywood film industry. Among them was Alfred Newman, who invited Schoenberg […].“ Alfred Newman war der Komponist von Wuthering Heights (1939) und Song of Bernadette (1943). Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 226, Fußnote 83: „Boris Morros invited Schoenberg to score Souls at Sea, with Ralph Rainger (his pupil, composer of Thanks for the Melody and other popular standards) as backup composer.“ Newlin verweist als Quelle auf Roy M. Prendergast, der in seinem Buch A Neglected Art: A Critical Study of Music in Films (New York 1977, S. 46–47) Berichte George Antheils aus Hollywood vom Februar 1937 zitiert. Prendergast bezeichnet sowohl Rainger als auch David Raksin, der dort auf S. 49 auf einem wenig bekannten Bild aus dem Jahr 1935 mit Charlie Chaplin, Gertrud und Arnold Schönberg zu sehen ist, als Schüler von Schönberg. Dieser Hinweis auf Sessions Aufsatz Schönberg in the United States (Tempo, Nr. 103, 1972, S. 8–17, hier S. 13) könnte weitergehende Vermutungen zu Schönbergs genereller Ablehnung aller HollywoodKomponisten ausgelöst haben. Der Text wurde 1944 in Tempo erstmals veröffentlicht. Die Version von 1972 ist um einige Anmerkungen und ein kurzes Vorwort von Sessions erweitert. Auszüge aus diesem Artikel finden sich übersetzt in der Schönberg-Sonderausgabe der Zeitschrift Stimmen. Monatsblätter für Musik, Nr. 16 (1949), S. 440–443. In letzter Zeit ist der Aufsatz bei Frisch (Hg.), Schoenberg and his World (Anm. 30), S. 327–336, abgedruckt worden.
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„They were sorely disappointed, when they discovered that it was his intention to give them instruction in counterpoint, harmony and chorale, which meant that they would have to expend considerable effort themselves in doing assigned work.“38
Auch wenn Schönberg noch im Dezember 1940 erklärte, nicht einer jener Komponisten zu sein, der einem willigen Schüler in kurzer Zeit effektive Tricks beibringen kann39, und damit den geringen Anspruch der „Hollywoodkomponisten“ bestätigte, fällt die Beobachtung von seiten der „Betroffenen“ etwas anders aus. David Raksin hebt nicht nur das allgemeine Interesse von Filmkomponisten der dreißiger Jahre an zeitgenössischer Musik hervor, sondern erzählt überzeugend und durchaus in Übereinstimmung mit anderen Berichten von Schönbergs Unterricht, wie jener 1937 nach anfänglichen Elementarübungen in Harmonik und Kontrapunktik zu einer Auseinandersetzung mit Raksins Filmmusiken überwechselte: „Wenn die Aufnahmen“ – er meint Aufnahmen zum Film – „sich dem Ende näherten, analysierten wir meist Partituren, die mit meiner jeweiligen Arbeit in Zusammenhang standen. Schönberg brachte dann aus seiner Bibliothek Lösungsmöglichkeiten von irgend jemandem zu dem Problem, an dem wir gerade arbeiteten, und wenn ich weder das Problem noch dessen Lösung finden konnte, zeigte er entweder den Weg dorthin auf oder er erklärte die Bedeutung der Passage als solche. Als Lernmethode war das sehr effektiv und spannend. Es war seine Art, eine Tür zur Welt der Musik zu öffnen und den Schüler zu ermuntern einzutreten.“40
Abgesehen von dem Nachweis, welche der bereits mehr oder weniger bekannten Personen tatsächlich Schönbergs Unterricht im Hollywood der dreißiger und vierziger Jahre wahrgenommen hat41, könnte nur die Durchsicht der Materialien von Schönbergs Unterrichtsjahren an der University of Southern California (USC) sowie der UCLA endgültige Klarheit über den Umfang seines amerikanischen Schülerkreises verschaffen.42 Schönbergs Vision, daß der Film eines Tages auch für die „severe conditions and laws of modernistic music“ offen sein würde und dadurch zeitgenössischer Musik zu einem neuen Publikum verhelfen könne, realisierte sich durch seinen Schüler 38
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Oscar Levant, A Smattering of Ignorance, New York 1940, S. 125, hier zitiert nach Alan P. Lessem, Teaching Americans Music: Some Émigré Composer Viewpoints, ca. 1930–1955, in: Journal of the Arnold Schoenberg Institute XI/1 (Juni 1988), S. 4–22, hier S. 9. Brief an Leonard Meyer vom 5. Dezember 1940 (Arnold Schoenberg Collection, Library of Congress), zit. nach Lessem, Teaching Americans Music (Anm. 38), S. 9. David Raksin, Schönberg als Lehrer in Los Angeles. Erinnerungen eines Schülers, in: Traber/Weingarten (Hrsg.), Verdrängte Musik (Anm. 24), S. 129–139, hier S. 132f. Nach Datierungen in seinem Notizbuch können Raksins Besuche bei Schönberg dem Lehrer zumindest für das Jahr 1937 festgestellt werden. Aus einer nicht vollendeten Kompositionsarbeit mit Schönberg entstand später eine von Raksins „Lieblingskompositionen“, die Filmmusik zu The Force of Evil von 1949 (S. 134f.). Hierzu müßten auch die Nachlässe der amerikanischen Schüler einer genaueren Forschung unterzogen werden, z. B. jener von David Raksin, der am 9. August 2004 in Los Angeles verstarb. Vgl. Scharenberg, Überwinden der Prinzipien (Anm. 8), S. 174.
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Leonard Rosenman, der 1955 in Cobweb erstmals eine modifizierte Zwölftontechnik in einem längeren Film einsetzte. Unter dem Einfluß von Schönbergs Klavierkonzert, das am 6. Februar 1944 seine vielbeachtete Uraufführung im Rundfunk fand, komponierte Rosenman eine Filmmusik für großes Orchester mit Soloklavier, die die Instrumente in variierenden kammermusikalischen Besetzungen und vor dem Hintergrund einer Zwölftonreihe in einer polyphonen Textur einsetzt.43 Die Beantwortung der Frage, inwieweit sich Rosenmans Ideal des klassisch ausgebildeten Filmkomponisten44 alleine auf Schönberg zurückführen läßt oder vielmehr auf seine anderweitige Auseinandersetzung mit der abendländischen Avantgarde zu erklären ist, steht jedoch noch aus. Die wenigen Beispiele für Schönbergs Verbindungen zu den Musikern der aufblühenden Hollywooder Traumfabrik, deren berühmtester Vertreter der jungen Generation, Bernard Herrmann, 1949 eine Schallplattenaufnahme der zweiten Kammersymphonie herausbrachte, die Schönberg begeistert kommentierte45, demonstrieren nichtsdestotrotz dessen Bedeutung als Theoretiker und Komponist, aber vor allem als künstlerische Instanz und Pädagoge in Kalifornien. Zu diesem immer etwas diffus bleibenden Bild allgemeiner Anerkennung und Bewunderung des Wiener bzw. Berliner Emigranten – wie sie auch David Raksin in seinem längeren Artikel zu „Schönberg als Lehrer in Los Angeles“ zum Ausdruck bringt46 – gehört auch seine zentrale Position in einer Publikation zum Entwicklungsstand klassischer Musik in Kalifornien von 1948.47 Daß Schönberg, als Mitglied des „Honorary Editorial Board“, im Eröffnungsbeitrag mit einer ironischen Betrachtung seiner Kompositionsmethode eine 311 Seiten umfassende aktuelle Dokumentation kalifornischen Musiklebens „anführt“, dokumentiert über die Filmbranche hinaus seine Bedeutung als geistige Instanz, künstlerischer Maßstab und kulturelle Größe des amerikanischen Westens am Ende der 1940er Jahre.
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Brown (Overtones and Undertones, Anm. 34) gibt auf S. 177 eine kurze Übersicht über Filmmusiken bis 1974, in denen die Zwölftontechnik Anwendung findet. „Er [ein zeitgenössischer Komponist] ist den meisten, wenn nicht allen Hollywood verpflichtenden Filmmusikschaffenden hinsichtlich seiner Kompositionstechnik weit überleben. Er hat mehr Ahnung von Musikgeschichte und deren Stilformen, was ihn dazu befähigt, seinen Beitrag den Intentionen des Films umsichtiger anzupassen, sowohl was die Variationsbreite als nötigenfalls auch die stilistische Einordnung angeht. Zudem besitzt er einen beweglicheren und geschärfteren Sinn für musikalische Ausdeutungen aller dem Bild innewohnenden Realitäten als ein Bandleader oder Jazzmusiker […].“ Leonard Rosenman über Filmmusik [geringfügig gekürzte Fassung eines Beitrags für die Herbst/WinterAusgabe von „Perspectives in New Music“, 1968, Princeton University Press], in: Tony Thomas, Filmmusik. Die großen Filmkomponisten – ihre Kunst und ihre Technik, München 1995, S. 345–358, hier S. 353f. Steven C. Smith, A Heart at Fire’s Center. The Life and Music of Bernard Herrmann, Berkeley u. a. 1991, S. 150f. Raksin, Schönberg als Lehrer in Los Angeles (Anm. 40), S. 129–139. Arnold Schoenberg, Is it fair?, in: Music and Dance in California and the West, hrsg. von Richard Drake Saunders, Hollywood (Bureau of Musical Research) 1948, S. 11. Schönbergs kurzer Beitrag stellt die politischen Interpretationen und Wertungen seiner Zwöftontechnik in Frage. Es finden sich außerdem Aufsätze, u. a. von George Antheil, Paul A. Pisk, Ernest Kanitz oder Ernst Krenek, zu den Stichworten Oper, Tanz, Lehre, Büchereien, Film, Radio, Klavier, Orgel, Chor und Stimme sowie eine Sammlung von Kurzbiographien und Photos der wichtigsten kalifornischen Persönlichkeiten.
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Schönberg als Lehrer in Kalifornien Während die sogenannte Wiener Schule seit ihrer Gründung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Faktum der allgemeinen Musikgeschichte darstellt und die „Berliner Schule“ in den letzten Jahren in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Betrachtung gerückt ist48, entbehrt Schönbergs Wirken bei und mit amerikanischen Schülern vergleichbarer Fokussierung. Vor dem Hintergrund der bisherigen Kenntnisse scheint es nicht angebracht, von einer kalifornischen oder amerikanischen „Schule“ zu sprechen49, auch wenn sich Schönberg selbst – durch die Einführung von Basis- und Fortgeschrittenen-Kursen – mit dem Vorwurf auseinandersetzen mußte, eine Schule nach europäischem Modell innerhalb der übergeordneten Institution oder „Schule“ – gemeint ist die University of California Los Angeles – etablieren zu wollen.50 Bei der Untersuchung einer möglichen amerikanischen Schönberg-Schule, richtet sich über die Frage nach der praktischen Organisation der Kurse, nach der didaktischen Ausrichtung für Schüler mit unterschiedlichen Vorkenntnissen und über die Erfassung der ohne Zweifel umfangreichsten Gruppe an Schülern hinaus der Blick auf einige herausragende Persönlichkeiten. Daß sich nur manche der Zwölftontechnik als Kompositionstechnik bedient haben wiegt bei einer näheren Betrachtung der amerikanischen Schülergruppe möglicherweise weniger schwer als Schönbergs eigene Beobachtung, daß es nur wenige gab, die länger als ein Jahr bei ihm studierten, was ihm für seine Methode, „in Gegenwart des Schülers [Verfahren] aus[zu]arbeiten, indem er mehrere Lösungen eines Problems improvisiert und damit zeigt, was nötig ist“51,
unbedingt erforderlich erschien. Fraglich ist daher nach Scharenberg der SchülerStatus mancher Komponisten aus Hollywood, die sich bei Schönberg nur einzelne Ratschläge einholten, aber nicht regelmäßigen Unterricht nahmen.52 Im Vergleich zur Wiener und Berliner Schule waren sowohl die Intensität des Unterrichts im Hinblick auf die Dauer der Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schüler, als auch die musikalischen Voraussetzungen der Schüler in der Tat von geringerem Niveau. Dieser Eindruck wird von Schönbergs eigenen Beobachtungen 48 49
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Vgl. Metzger/Riehn (Hg.), Arnold Schönbergs „Berliner Schule“ (Anm. 3). Auch Scharenberg konzentriert sich im wesentlichen auf die Wiener und Berliner Jahre Schönbergs und widmet nur John Cage ein längeres Kapitel (Scharenberg, Überwinden der Prinzipien, Anm. 8, S. 110– 116). Die Liste im Anhang liefert ein umfassendes Verzeichnis der gesicherten und ungesicherten Namen aus Schönbergs Schülerkreis zwischen Herbst 1934 und dem 14. Juli 1951 (S. 322–334). Nicht erwähnt sind Alfred Newman und Ralph Rainger; David Raksins Schülerstatus ist mit einem Fragezeichen (S. 334 und 361) versehen und bei Warren Melvin Langlie fehlt der Hinweis auf seine Dissertation Arnold Schoenberg as a teacher (UCLA 1960). Zu Langlie siehe auch Anm. 74. Alan P. Lessem, The Émigré Experience. Schoenberg in America, in: Constructive Dissonance. Arnold Schoenberg and the Transformations of Twientieth-Century Culture, hrsg. von Juliane Brand und Christopher Hailey, Berkeley u. a. 1997, S. 58–68, hier S. 65. Arnold Schönberg, Aufgabe des Lehrers (14. 2. 1950), in: Vojtěch (Hg.), Arnold Schönberg. Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (Anm. 21), S. 446. Vgl. Scharenberg, Überwinden der Prinzipien (Anm. 8), S. 322.
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bestätigt. Das Gros seiner Studenten an der Universität von Kalifornien in Los Angeles setzte sich, so Schönberg, aus einer Masse an Studenten mit meist „wenig schöpferischer Begabung und auch keine[n] ausreichenden Kenntnisse[n] der Meisterwerke“
zusammen, die gemäß Lehrplan nur ein Jahr Kompositionsunterricht bei ihm belegten. „[…] nur ein paar blieben zu fortgeschrittenen Studien.“53 Trotz dieser sicherlich unbefriedigenden Limitierung pädagogischer Möglichkeiten und der, wie er in einem Brief an Ernst Krenek formulierte, enttäuschenden Vorkenntnisse, war Schönberg von dem geistigen Potential seiner Studenten angetan und scheint daher auch an dieser für ihn ungewöhnlichen Art des Unterrichtens seine Freude gehabt zu haben.54 „Ich teile Ihre Ansicht über die amerikanischen Musikschüler. Es ist wirklich schade, daß die Vorbildung schlecht ist. Ich war ja vom reichsdeutschen Unterricht auch nicht sehr begeistert, weil seine Methode […] Leute mit einer gewissen Kenntnis ausgestattet und sie mit einer Technik ausgerüstet [hat], die man sich selbst erwerben sollte, wenn man sie verwenden will. Trotzdem, und weil die schlechten Lehrer und Methoden hier nicht weniger mechanisch sind, aber ein wesentlich kleineres Gebiet umfassen, trotzdem also finde ich, daß selbst unsympathische Musikertypen in Deutschland und Österreich eine bessere Vorbildung hatten, auf der man weiterbauen konnte. Aber die Intelligenz der amerikanischen Jugend ist sicherlich bemerkenswert. Prinzipielles erfassen sie ausgezeichnet, wollen es aber zu ‚prinzipiell‘ anwenden. Und das ist falsch in der Kunst.“55
Der Akzent musikalischer Ausbildung an der UCLA lag generell mehr auf den praktischen Fähigkeiten, bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Gehörbildung oder der Unterweisung theoretischer Grundkenntnisse in Harmonie- oder Kompo53
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Schönberg, Aufgabe des Lehrers (14. 2. 1950) (Anm. 51), S. 446: „[…] die Befriedigung, Anfängern soviel wie möglich von meinem Wissen zu vermitteln, war vermutlich ein größerer Lohn als das eigentliche Unterrichtsgeld, das ich erhielt. […] Während dieser ganzen Zeit habe ich beim Unterrichten kompositorischer Gegenstände nach Dingen gestrebt, die vielen Komponisten fremd sind: klar und deutlich phrasierte Formulierungen, logische Fortsetzungen, Flüssigkeit, Abwechslung, charakteristische Gegensätze und Konstruktionen, die entsprechend den vielfältigen Zwecken angepaßt oder abgewandelt wurden. […] Ein wahrer Lehrer muß seinen Schülern ein Vorbild sein; er muß die Fähigkeit besitzen, das was er von einem Schüler einmal verlangt, selbst mehrmals zu vollbringen. Es genügt hier nicht einmal, genaue Anweisungen für bessere Verfahren zu geben; er muß sie in Gegenwart des Schülers ausarbeiten, indem er mehrere Lösungen eines Problems improvisiert und damit zeigt, was nötig ist. All das braucht viel Zeit. Daher gab es nicht allzu viele Schüler, denen ich mein ganzes Wissen oder einen Teil davon vermitteln konnte.“ Newlin berichtet vom letzten Treffen der „Double Counterpoint class“ im Mai 1939, wo Schönberg das Ende sehr bedauerte, immer wieder um eine Verlängerung um 5 Minuten bat, bis er schließlich „stood watching us a minute, half smiling and half crying, then quickly recovered himself and ran out the door, with a pitiful attempt […] Yes, he actually wept for us!“. Newling, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 75. Schönberg schrieb Krenek am 1. Dezember 1939, nachdem Krenek ihm am 3. März desselben Jahres an der UCLA einen Besuch in den verschiedenen Klassen abgestattet hatte. Siehe Nono-Schoenberg, Arnold Schoenberg (Anm. 9), S. 362. Siehe auch Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 37f.
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sitionslehre.56 Dennoch war die „Intelligenz der amerikanischen Jugend“, ihre „freshness and openmindedness“57 eine Inspiration für den europäischen Lehrer. Offensichtlich unabhängig davon, wie musikalisch gebildet oder ungebildet seine Studenten tatsächlich waren, verfolgte Schönberg auch in seinem kalifornischen Umfeld das generelle Ziel, „das kompositorische Denken bei gleichzeitiger Ungebundenheit von konkreten Stilen“
zu fördern: ein „quasi unakademischer Ansatz“.58 Erst eine genaue Sichtung des Archivmaterials zu seinen Kursen an der UCLA wird endgültige Klarheit in die Frage bringen, inwieweit Schönberg anstelle von musikalischer Bildung Ausbildung betrieben hat und inwieweit sich das eine – als europäische Tradition – von dem anderen, an die utilitaristischen Bedürfnisse der Hollywood-Industrie Angepaßte, wesentlich unterschied.59 Daß sein Unterrichtsstil in diesem Falle quasi von außen diktiert wurde60, mag insofern zutreffen, als er sich dem Niveau seiner Klasse und der stärker verschulten Struktur des Unterrichts an einer die Musikpraxis betonenden Institution anpassen mußte. Eine tendenziell „kleinschrittig angelegte Lehre“ und die Entwicklung eines Curriculums, dessen einführende Kurse oder Examen später auch Schönbergs Assistenten – beispielsweise Leonard Stein oder auch die junge Dika Newlin61 – überlassen werden konnten, kennzeichneten seinen Unterricht an der UCLA.62 Newlin, eine von Schönbergs avanciertesten Schülerinnen, die sich später vor allem mit Publikationen über ihren ehemaligen Lehrer einen Namen gemacht hat63, liefert in ihrem Tagebuch Schoenberg Remembered detaillierte Beschreibungen seines Unterrichts an der UCLA, der sich auf die „Compositional Class“, „Double Counterpoint Class“, „Special Studies“ – wo z. B. die Komposition eines 56 57 58 59
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Siehe dazu Lessem, Teaching Americans Music (Anm. 38), S. 8. Ebenda. Claus-Steffen Mahnkopf, Schönberg als Lehrer, in: Metzger/Riehn (Hg.), Arnold Schönbergs „Berliner Schule“ (Anm. 3), S. 164–175, hier S. 170. Scharenberg, Überwinden der Prinzipien (Anm. 8), S. 109: „Erst als sich Schönberg darauf einließ, bei derartigen Anfragen aus der Filmmusikbranche statt musikalischer Bildung nur Ausbildung zu betreiben, konnte er hierauf, […] seine neue Existenz gründen. Dieser Unterricht wurde von außen diktiert und führte ihn schließlich in die Anfänge zurück: in eine Anstellung als Lehrer für Theorie und Komposition. Der Meister wurde belehrt – soziologisch.“ Dieser Behauptung widerspricht der folgende Satz im Kapitel 3.7.3. zu Los Angeles (S. 173): „Während Komponisten der Filmindustrie, die gehofft hatten, bei Schönberg ‚tricks‘ abgucken zu können, abgewiesen wurden, konnte ihn eine kleine Gruppe fortgeschrittener Musikstudenten (zumeist bereits Lehrende) dazu überreden, ihnen privat Unterricht zu erteilen.“ Ebenda S. 109. Siehe Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 231. „[…] helping Uncle Arnold’s first-year composition students with their final examinations.“ Siehe dazu Scharenberg, Überwinden der Prinzipien (Anm. 8), S. 173ff. 1950 erschien dank Newlins Mithilfe bei der Korrektur der englischen Sprache Schönbergs Buch Style and Idea. Bereits 1947 hatte sie den Band Bruckner-Mahler-Schönberg herausgegeben. Nach der Übersetzung der Bücher von René Leibowitz (1949) und Josef Rufer (1962) folgten noch diverse Aufsätze zu Schönberg und seiner Musik. Siehe die Liste im Anhang ihres Buches Schoenberg Remembered (Anm. 23), S. 357–359.
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Rondos behandelt wurde64 –, „Form and Analysis Class“, „Cours in Harmonic Construction“, „Advanced Composition and Analysis (Graduate Course)“65 – einige von ihnen über mehrere Jahre ausgebaut – aufteilte und den Studenten (vor allem im Rahmen des Master of the Art in Music) mehrere Prüfungen abverlangte, die „die dem Instrumentalstudenten sicher wichtigsten praktischen Prüfungen wie bloße Nebenfächer“ erscheinen lassen mußten.66 An dieser Neugewichtung theoretischer Fächer wird deutlich, wie weit Schönbergs Einfluß auch über den reinen Unterricht hinaus reichte. Schönbergs kritische Einschätzung seiner Studenten wird von seiner langjährigen Schülerin Patricia Carpenter ebenso bestätigt wie seine Aussagen zum Erfolg des Unterrichts. Carpenters Worte stehen stellvertretend für viele ähnliche Äußerungen zu seinem Unterricht. „Während dieser Jahre an der UCLA hatte Schönberg es tatsächlich zustandegebracht, seine meist unerfahrenen Studenten zu lehren, Musik zu ‚lesen‘, d. h. Musik zu lesen und zu verstehen. Er erklärte Musik grundlegend. Manchmal, wenn wir an einem Stück arbeiteten und er ein technisches Detail erklärte und an der Staffelei skizzierte, wurde mir das Stück plötzlich klar, nicht nur dieser bestimmte Klang, sondern auch der Zusammenhang des Ganzen. Nun, Jahre später, wo mir klar ist, wie Schönberg ein Werk verstanden hat, verstehe ich, daß er immer wieder nur vorgezeigt hat, daß die Aussage des Ganzen in jedem Detail steckt. Damals war ich allerdings zuerst überrascht, daß die Noten an der Tafel so genau wiedergaben, was ich hörte. Und ich lernte die manchmal schwierigen technischen Vorgänge, die er demonstrierte, als konkret zu hörende Phänomene aufzufassen. Es sah für mich so aus, als ob er in ein paar Noten das Wesentliche von dem niederschrieb, was er selbst hörte, wenn er diese Skizzen machte, wobei er uns vordemonstrierte, wie Auge, Ohr und Denken zusammenarbeiteten. Harmoniefortschreitungen, Kontrapunkt- und Analysebeispiele, alles konzentrierte sich auf das eine Ziel: uns zu lehren, wie man präzise liest, versteht und denkt. Auf diese Art und Weise hat Schönberg unsere musikalische Vorstellungskraft geformt.“67
In seiner Anfangszeit an der Ostküste gab es zwei Klassen, in Boston, am Malkin Conservatory, und in New York, wozu sich nur wenige Hinweise auf einzelne Schüler erhalten haben.68 Nach seinem Umzug nach Los Angeles Ende des Jahres 64 65
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Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 27, 33–35, 40f. 45, 49f., 73, 215, 228, 232, gibt einen spezifischen Hinweis auf die Rondos des ersten Jahrgangs der Kompositionsklasse. Dieser Kurs wurde zum Beispiel im Studienjahr 1939/1940 (Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 20), S. 96) unterrichtet. Die Studenten konnten dort, unter gewissen Vorgaben, komponieren, was sie wollten. Vgl. auch das Curriculum for Composers, ca. 1940/41, abgedruckt bei Scharenberg, Überwinden der Prinzipien (Anm. 8), S. 307, wo talentierte Studierende in vier Stufen zu einer besseren Ausbildung als Komponisten gebracht werden sollten. Scharenberg, Überwinden der Prinzipien (Anm. 8), S. 175. Ein Bericht (aus dem Jahr 1991) von Patricia Carpenter, die von 1942 bis 1949 bei Schönberg studiert hatte. Vgl. Nono-Schoenberg, Arnold Schoenberg (Anm. 9), S. 396. Vom Malkin-Conservatory sind Lois Lautner, Lowndes Maury (Stuckenschmidt, Schönberg, Anm. 22, S. 340–343) sowie Lovina May Knight (Vgl. Alfred Goodman, Schönbergs Schüler im Exil und ihre Beein-
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1934 begann Schönberg mit mehreren Privatkursen und -schülern. Eine kleine Gruppe setzte sich u. a. aus Leslie B. Clausen, Simon Carfagno, Edwin Cykler, Pauline Alderman69 und Olga Steeb zusammen.70 Daneben unterrichtete er privat Komponisten und Arrangeure der Filmindustrie, die ihm der Filmproduzent Boris Morros geschickt hatte: Alfred Newman, Franz Waxman, Hugo Friedhofer, David Raksin, Ralph Rainger71, Leo Robin72, Leonard Rosenman und Edward Powell.73 Oscar Levant, Roger Nixon und Warren Langlie74 waren weitere Privatschüler außerhalb der Filmindustrie in der Frühphase seiner kalifornischen Zeit. Das Gros seiner Studenten der amerikanischen Unterrichtstätigkeit fiel ihm jedoch durch die Arbeit an den beiden großen Universitäten in Los Angeles zu. Erst mit den Sommerkursen 1935 und 1936 und einer halben Stelle auf dem Alchin Chair für Komposition an der USC (1935/36) und vor allem der abschließenden Festanstellung an der University of California Los Angeles ab dem Wintersemester 1936/37 bildete sich das bis heute noch unbekannte Quantum an Studierenden, die die oben erwähnten Kurse in unterschiedlicher Zusammensetzung und unterschiedlicher Dauer besucht haben. Von ihnen heben sich einige bekannte Namen ab, die in der Literatur aus unterschiedlichen Gründen besonders häufig genannt werden: Leonard Stein75, Dika Newlin, Richard Hoffmann76, Gerald Strang, Don Estep,
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flussung durch seine Kompositionsmethoden, in: Bericht über den 3. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft. „Arnold Schönberg – Neuerer der Musik“, hrsg. von Rudolf Stephan und Sigrid Wiesmann, Wien 1996, S. 62–70) bekannt. Schönbergs allererste amerikanische Schülerin, Lois Lautner, verfaßte einen informativen Artikel über ihr Studium (Arnold Schoenberg in Kammern, in: Michigan Quarterly Review, 1962, S. 21–27), in dem sie seine ersten Anpassungsprobleme an das amerikanische System schilderte. Begegnung mit Arnold Schönberg, Katalog, hrsg. von Margret Jestremski und Ernst Hilmar, Duisburg 1993, S. 25; Pauline Alderman, We build a school of music. The commissioned history of Music at the University of Southern California, Los Angeles 1989, S. 125–133. Unter den aktiven Studenten der Sommerkurse waren Klemperer, der Pianist Richard Buhlig sowie Mr. und Mrs. Coleman Batchelder von den Pasadena Chamber Music Series. Walter H. Rubsamen, Schoenberg in America, in: The Musical Quarterly XXXVII/4 (Okt. 1951), S. 469–489, hier S. 471. Scharenberg, Überwinden der Prinzipien (Anm. 8), S. 173, zählt Clausen und Edmund [sic!] Cycler vom Los Angeles College, Leroy W. Allen vom Department of Music der UCLA, John Crown von der USC und Ida Bach als Lehrerin an einer High School auf. Ralph Rainger komponierte ab 1930 Lieder für über 50 Filme von Paramount und 20 th Century Fox. Für das Lied Thanks for the Memory gewann er einen Oskar. Vgl. Andrew Lamb, Ralph Rainger, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 20, 2001, S. 769. Vgl. dazu Crawford, Arnold Schoenberg in Los Angeles (Anm. 1), S. 17. Rubsamen, Schoenberg in America (Anm. 70), S. 471. Eigentlich Warren Melvin Langlie. Rubsamen (ebd.) bezeichnet Langlie als einen richtigen Schüler („a true disciple“), der seine Stunden mit Schönberg über viele Jahre hinweg aufgezeichnet haben soll. In seiner Dissertation Arnold Schoenberg as a teacher (Dissertation University of California, Los Angeles, Juni 1960, 200 S., ungedruckt) benutzt Langlie – neben Schönbergs eigenen Schriften, Schriften seiner Schüler, Stellungnahmen und Notizen aus den Klassen sowie Schriften anderer, die in irgendeiner Form persönlichen Kontakt mit ihm hatten – eigene Aufzeichnungen aus den öffentlichen Klassen und Privatstunden mit Schönberg zwischen dem 15. Juli 1940 und dem 19. April 1950 (Angabe bei Langlie dazu S. 55, Fußnote 2). „The purpose of this dissertation is to study the work of Arnold Schoenberg as a teacher.“ (S. iii). Schönbergs Assistent und späterer Direktor des Arnold Schoenberg Institutes an der USC. Zunächst Assistent, später Privatsekretär von Schönberg.
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Leon Kirchner77, Clara Silvers78, Earl Kim79, Nathalie Limonick80, Alfred Carlsen81, Harold Halma82, Robert U. Nelson83, Robert Gross84, Patricia Carpenter, Horace Ferris85, Henry Clay Shriver86 und Lou Harrison87. Alan P. Lessem hat bereits 1988 in seinem Aufsatz „Teaching Americans Music: Some Émigré Composer Viewpoints, ca. 1930–1955“88 die generelle Bedeutung von emigrierten Musikern wie Krenek, Schönberg, Hindemith oder Toch für die musikalische Bildung bzw. Ausbildung von vielen Amerikanern hervorgehoben, ohne außer acht zu lassen, daß das Wirken der eingewanderten Europäer von manchen auch als konservativer oder sogar reaktionärer Einfluß abgewertet wurde.89 Für Schönbergs zahlreiche Schüler an der USC und der UCLA spielte diese, aus einem damals aktuellen und modischen Amerikanismus90 heraus geborene Ein77 78
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Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 243, Fußnote 2; Crawford, Arnold Schoenberg in Los Angeles (Anm. 1), S. 26. Kirchner hatte an der UCLA 1937–1938 und 1940–1941 Unterricht bei Schönberg. Jestremski/Hilmar (Hg.), Begegnung mit Arnold Schönberg (Anm. 69), S. 25. Vgl. Nono-Schoenberg, Arnold Schoenberg (Anm. 9), S. 412: Brief Schönbergs an den Vorstand der Abteilung Kunst und Wissenschaft vom 28. Februar 1945. Earl Kim wurde ein anerkannter Komponist für Kammermusik und Multimedia-Arbeiten mit Professuren in Harvard und Princeton. Photo in Nono-Schoenberg, Arnold Schoenberg (Anm. 9), S. 396. Limonick hat neben Leonard Stein auch als unterstützende Pianistin für Schönberg gearbeitet. Vlg. Robert U. Nelson, Schönberg’s Variation Seminar, in: The Musical Quarterly L/2 (April 1964), S. 141–164, hier S. 142. Photo in Nono-Schoenberg, Arnold Schoenberg (Anm. 9), S. 396. Bei Scharenberg (Überwinden der Prinzipien, Anm. 8) ist der Name als Carlson aufgeführt (S. 331 und 339). Harold Halma wurde ein bekannter New Yorker Photograph (Newlin, Schoenberg remembered, Anm. 23, S. 247). Bei Scharenberg ist ein Howard Halma mit einem Fragezeichen versehen (Überwinden der Prinzipien, Anm. 8, S. 347). Robert U. Nelson war nicht nur 1936 Schönbergs Schüler, sondern besuchte 1948 außerdem 11 Seminare zu Schönbergs eigenen Variationskompositionen in dessen Haus. Siehe Robert U. Nelson, Schoenberg’s Variation Seminar, in: The Musical Quarterly L/2 (April 1964), S. 141–164. Das Photo einer dieser Sitzungen erschien bei Walter H. Rubsamen, Schoenberg in America (Anm. 70), S. 481. Robert Gross (1914–1983), Violinist und Komponist, studierte privat sowohl bei Schönberg als auch bei Sessions und unterrichtete später am Occidental College in Los Angeles. Vgl. The Correspondence of Roger Sessions, hrsg. von Andrea Olmstead, Boston 1992, S. 317, Fußnote 3. Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 10. In einer Anekdote wird die Überlieferung falscher Namen dieses Schülers – anstelle von Horace tauchen Harris, Ferris, Ferri auf – erklärt, da sich Schönberg mit der Erinnerung (oder Aussprache?) mancher Namen etwas schwer tat. „Henry Clay Shriver, who studied with Schoenberg for a while and commissioned a string quartet (never finished) from him. The Piano Concerto, Op. 42, is dedicated to him.“ Newlin, Schoenberg remembered (Anm. 23), S. 292, Fußnote 33. „[…] the most important element of Harrison’s Year in Los Angeles was his six months of study with Arnold Schoenberg. […] If Ives taught Harrison freedom, Schoenberg taught him method. Lou was principally impressed by Schoenberg’s ability to build large-scale structures from simple and coherent phrase relationships.“ Leta E. Miller und Fredric Lieberman, Lou Harrison. Composing a World, New York/Oxford 1998, S. 22. Und Dorothy Lam Crawford (Anm. 1) zitiert Harrison in einem Interview mit Vivina Perlis,, daß „Schoenberg was a very great influence […] in some ways more of an influence [than his mentor Charles Ives] because Schoenberg represents the more fundamental control. […] It was this sens of order that I needed from Schoenberg.“ Vgl. Anm. 38. Nicht zuletzt auf derartige Vorwürfe scheint Schönberg in seinem Aufsatz von 1948 Is it fair? (Anm. 47) geantwortet zu haben. „It has become a habit of late to qualify esthetic and artistic subjects in terms borrowed from the jargon of politics.“ Vgl. Lessem, Teaching Americans Music (Anm. 38), S. 5f.
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schätzung offenbar weniger eine Rolle. Sie durchliefen zumindest innerhalb eines Jahres Schönbergs theoretischen Unterricht, an dessen Ende – wie es Schönberg hervorhob – übrigens immer die Komposition eines Rondos stand.91 Inwieweit es Schönberg damit gelungen ist, seiner neuen Heimat das zuzuführen, was sie seiner Meinung nach wirklich brauchte, nämlich „solidly educated practitioners who would in time help to raise the general level of musical competence“ oder „a great army of musico-inspired amateurs“92, die sich der herrschenden Musikindustrie erfolgreich widersetzen könnten, steht als Ergebnis einer umfassenden Untersuchung noch aus, deutet sich aber in Hinweisen seiner Schüler, insbesondere von Oscar Levant und Lois Lautner, an. Levant verwies auf die fundamentale Bedeutung der Begegnung mit Schönberg, die „brings out something that is in you or lets you see that there is nothing to be brought out.“93
Lautner verdankte dieser Erfahrung ihre Entscheidung, Lehrerin und nicht Komponistin zu werden94, und bestätigte damit Schönbergs eigene Einschätzung, daß sein Verdienst darin bestanden hatte, die größte Mehrheit seiner Schüler vom Komponieren – nicht jedoch von Musik im allgemeinen – abgehalten zu haben.95 Über den Schulbegriff hinaus, der „eine Gruppe von Komponisten bezeichnet, die das Materialverständnis der Wiener Schule aufgegriffen und weiterentwickelt“ hat, lohnt auch die Erforschung derjenigen Schüler Schönbergs, die der Musikgeschichtsschreibung noch weitgehend unbekannt sind. Über das einzelne kompositorische „Werk“ hinaus, steht bei diesem Forschungsansatz das musikalische Lebenswerk der Musiker, oftmals gerade keine Komponisten, im Mittelpunkt. Erst diese Gesamtschau auf möglichst viele amerikanische Schüler, käme der Beantwortung der Frage näher, inwieweit und mit welchen Folgen Schönberg tatsächlich – im Sinne der eingangs zitierten Beobachtung Heinsheimers – das aufblühende Musikleben Amerikas beeinflußt und damit einen wesentlichen Beitrag zur Kulturentwicklung des 20. Jahrhunderts beigetragen hat.96 91
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„Trotz der kurzen Unterrichtszeit und obwohl die meisten Studenten wenig schöpferische Begabung und auch keine ausreichenden Kenntnisse der Meisterwerke besaßen, gelang es mir, jeden einzelnen ein Rondo komponieren zu lassen.“ Schönberg, Aufgabe des Lehrers (Anm. 51), S. 447. Newlin erwähnt während der ersten zwei Unterrichtsjahre an der UCLA des öfteren die Komposition eines Rondos. Lessem, Teaching Americans Music (Anm. 38), S. 12. Rose Heylbut, The Odyssey of Oscar Levant, in: Etude (12. Dezember 1940), S. 316, zit. nach Crawford, Arnold Schoenberg in Los Angeles (Anm. 1), S. 16. Lautner, Arnold Schoenberg in Kammern (Anm. 68), S. 27. „Although he had offered me to teach me free of charge wherever he was, I had decided that I was not creating ‚new beauty‘ for this century or any other. I would teach after all.“ Schönberg in einem Brief an Alfred Leonard, 9. Juli 1945 (Arnold Schönberg Center, Wien). Vgl. Crawford, Arnold Schoenberg in Los Angeles (Anm. 1), S. 20. „The concrete and continuing influence of Schoenberg’s teaching, and the teaching of other émigrés, poses question about the tension between inherited and grafted culture, about the nature and relevance of the émigré experience, and about our present assessment of Schoenberg’s relationship and per-
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Eine weitergehende Aufarbeitung der amerikanischen Gruppe müßte nicht nur Ost- und Westküsten-Unterricht Schönbergs untersuchen sowie vollständige Listen aller Schüler erstellen, sondern hinsichtlich des Einflusses Schönbergs in Amerika auch seine amerikanischen Schüler in Europa berücksichtigen, vor allem Adolphe Weiss.97 Schönberg und Roger Sessions Hinsichtlich der Gruppe der Komponisten bliebe Schönbergs pädagogisches Wirken in Kalifornien, dessen offizielle Seite im September 1944 mit seiner Pensionierung beendet wurde98, unvollständig erfaßt, wenn nicht die Verbindung zur University of California Berkeley (UCB) hergestellt würde. Dazu gibt nicht nur Elkus’ Initiative zur Einrichtung eines Arnold-Schönberg-Lehrstuhls Anlaß. Elkus’ Andeutung, daß ihm von Schönberg ausgebildete Schüler sehr willkommen sind99, verweist auf dessen weiterreichende Wirkung im Kreise junger Komponisten in Berkeley, einem Ort, der gemeinhin durch die Nähe zu Oakland zum Einflußgebiet Darius Milhauds gerechnet wird, der von 1940 bis in die siebziger Jahre am Mills College in Oakland unterrichtete. Ende der dreißiger Jahre setzten in Los Angeles geschulte junge Komponisten ihre Studien an dem ästhetisch vorausschauenden Department of Music der UCB fort. Nicht nur Arthur Bliss und Ernest Bloch, später dann Darius Milhaud, sondern auch der amerikanische Komponist Roger Sessions (von 1945 bis 1953) wirkten an der Ausbildung einer Kompositionsschule mit. Von der Ausprägung einer „Berkeley-School“ wäre uns heute wenig übermittelt, wenn es nicht unmittelbar vor der Anstellung von Sessions, 1944, zur Gründung des Composer’s Forum gekommen wäre.100 Als Unterrichts-, Diskussionsund Aufführungspodium für junge Komponisten, das bis Anfang der fünfziger Jahre bestand und danach mit der Internationalen Gesellschaft für Zeitgenössische Musik fusionierte, entwickelte sich das Composer’s Forum als Begegnungsstätte für
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tinence to twentieth-century culture as a whole.“ Juliane Brand/Christopher Hailey (Hg.), Constructive Dissonance. Arnold Schoenberg and the Transformations of Twentieth Culture, Berkeley u. a. 1997, S. xiii. Vgl. dazu das Kapitel Adolph Weiss in: Gradenwitz, Arnold Schönberg und seine Meisterschüler, S. 87–99 (Anm. 8). Unabhängig von der Zwölftontechnik und ihrer je individuell verschiedenen Weiterentwicklung oder Mißachtung, hebt sich die zum großen Teil noch unbekannte Gruppe amerikanischer Schüler von der Wiener Schicksalsgemeinschaft und den Berliner Meisterschülern durch die ihnen „gewidmeten“ pädagogischen Schriften ab. 1946 war Schönberg für 3 Monate in Chicago, wofür Scharenberg (Anm. 8, S. 333) einen Kompositionsschüler, Israel Baker, Geiger, geb. 1921 nachweist. 1948 hat er außerdem in Santa Barbara an der Music Academy of the West Seminare über Musikalische Analyse und Komposition abgehalten. Vgl. Anm. 12. Die Gründung geht auf eine Idee von Jane Hohfeld zurück, die zusammen mit dem Cellisten George Barati und einem jungen Komponisten namens Gordon Cyr das Composer’s Forum ins Leben rief. Siehe Dokumente Nr. 302–304 in: QuECA (Anm. 10), S. 36. Das Composer’s Forum an UC Berkeley ist wahrscheinlich nicht identisch mit dem Composers’ [sic!] Forum der WPA Federal Artist Project, das Anfang der vierziger Jahre kurzfristig nach Kalifornien umzog und sich ebenfalls der Unterstützung aufstrebender Komponisten widmete. Vgl. B.C. Vermeersch, „Composers’ Forum“, in: Grove music online, hrsg. von L. Macy (Zugang am 7.3.2008), .
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Komponisten unterschiedlichster Stile. Gordon Cyr teilte die Mitglieder des Forums in folgende Gruppen ein: „[…] the Mills students who come to some of the workshop sessions, [still held on the Berkeley campus although the Forum has no connection with the University,] and whom he calls the Milhaud School, with the light Stravinsky-like touch; and the University of California students, whose idol is of course Mr. Sessions and who can be distinguished by their violent, nervous, ‚SchoenbergBartokian‘ style.“101
Schönbergs Werke spielten – im Unterschied zu Bartók und Milhaud – in den Konzerten des Composer’s Forum zwar eine geringe Rolle: in den wenigen überlieferten Schriften und Dokumenten zu diesem Podium taucht sein Name in Verbindung mit einer Aufführung nur einmal auf.102 Dennoch war Schönberg einerseits durch die Erfolge seiner Studenten schon vor 1940, andererseits durch die Vermittlung Roger Sessions nach 1945 präsent – ein Eindruck, den nicht nur Gordon Cyr, sondern auch der schon damals aktive Joaquin Nin-Culmell bestätigen konnte.103 Roger Sessions, der jedoch nicht zu Schönbergs amerikanischen Schülern gerechnet werden kann, begann zum Zeitpunkt seines Wechsels von Princeton nach Berkeley zunehmend seine individuelle Adaption der Zwölftontechnik auszuprägen, was sich 1946 in seiner zweiten Klaviersonate andeutete und 1953 in der Solo-Violinsonate vollendete. Auch wenn es durch die zunehmende chromatische Dichte und die Betonung einer „langen Linie“ in Sessions Kompositionen der dreißiger und frühen vierziger Jahre stilistische Voraussetzungen für den Wechsel zur Zwölftontechnik Schönbergscher Prägung gab104, so bleibt der letztendliche Schritt dennoch überraschend, wenn man sich sein früheres Urteil über die Wiener Schule von 1932 vergegenwärtigt. „After a short bursts of enthusiasm in Vienna I find that whole school in the final analysis sterile [illegible] with Berg, Webern + Schönberg and from every point of view besides mathematics, pedantry, and the morbid dissection of the soul and feelings, completely petty.“105
Aus der Sicht der siebziger Jahre schätzte Sessions seinen Widerstand von 1932 gegen Schönbergs Werk als nicht ganz so massiv ein, wie sein Brief vermuten ließe, 101
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Essay on the Composer’s Forum written by a Mills College Freshman as an English class project (1948), S. 3. University of Berkeley, Music Department, Music Library, Special Collections, Composer’s Forum. Als Komponisten des Composer’s Forum sind u. a. bekannt: George Barati, Andrew Imbrie, Earl Kim, Leon Kirchner, Leonard Ralston, Leland Smith, Joaquin Nin-Culmell, Ingolf Dahl, Miriam Gideon, George Perle, Leonard Ratner, Leonard Rosenmann. Siehe Dokument Nr. 304 in: QuECA (Anm. 10), S. 36. Joaquin Nin-Culmell in einem Interview mit der Autorin am 15. Mai 1997 in seinem Haus in Oakland (5830 Clover Dr.). Alan Douglas Campbell, Roger Sessions’ adoption of the twelve-tone method, Phil. Diss., City University of New York, 1990, S. 2. Brief Roger Sessions vom November 1932 an Jean Binet, in: Olmstead (Hg.), The Correspondence of Roger Sessions (Anm. 84), S. 194–198, hier S. 197.
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da er sich bereits in diesem Moment von seinem damaligen Vorbild Strawinsky verabschiedete.106 Schönberg und Sessions lernten einander im November 1933 in Boston kennen, wo beide am Malkin Conservatory unterrichteten.107 Nicht aus dieser kurzzeitigen kollegialen Verbundenheit, wohl aber durch Sessions Artikel über Schönberg von 1944108 entwickelte sich eine freundschaftliche Verbundenheit, die durch mehrere Besuche Sessions in Los Angeles und einige Briefe dokumentiert ist.109 Zwischen Sessions privater Einschätzung der sogenannten Schönberg-Schule (Berg, Webern und andere) als „sterile“ und „petty“ – die er in einem Artikel von 1933 mit anderen Worten auch öffentlich wiedergab110 – und seiner Dankbarkeit und Bewunderung, die „every living musician owes to you“111, lag eine Phase privater wie auch stilistischer Umwälzungen, die ihn von der Ost- an die Westküste und von Strawinsky endgültig zu Schönberg führte.112 Weniger die Lektüre und Besprechung von Kreneks Über Neue Musik, wo sich jener auch mit Schönbergs Zwölftontechnik beschäftigt113, als vielmehr Schönbergs jüngste Kompositionen scheinen Sessions veränderte Haltung bewirkt zu haben. Sessions Äußerungen zu einigen Werken der amerikanischen Zeit zeigen, daß er sich vor allem mit jenen Kompositionen auseinandersetzte, in denen Schönberg mehr Freiheit und Erfindungsreichtum praktizierte als in seinen streng der Zwölftontechnik verpflichteten Stücken (geschweige in der oft vermuteten normativen Rolle der 106 107
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Andrea Olmstead, Conversations with Roger Sessions, Boston 1987, S. 196f. Campbell (Roger Sessions’ adoption of the twelve-tone method, Anm. 104, S. 55) behauptet, daß Schönberg und Sessions einander im November 1933 zum ersten Mal in Boston begegnet sind. In Briefen an Copland und Klemperer kündigt Sessions die Begegnung mit Schönberg erst an; Olmstead (Hg.), The Correspondence of Roger Sessions (Anm. 84), S. 210 und 218. Stuckenschmidt (Schönberg, Anm. 22, S. 319) behauptet, daß Schönberg und Sessions einander auf den „dringenden Wunsch“ des letzteren kennengelernt hätten. „Im amerikanischen Exil fand er [Schönberg] an Sessions einen tätigen und hilfreichen Freund.“ Im November 1932 kannte Sessions Schönberg jedoch noch nicht, wie sein Brief vom November 1932 an Jean Binet deutlich macht; Olmstead (Hg.), The Correspondence of Roger Sessions (Anm. 84), S. 196. Eine Begegnung der beiden kann bisher weder für die Berliner Zeit noch für die Zeit am Malkin Conservatory nachgewiesen werden. Schönberg in the United States, in: Tempo, Bd. 9, Dezember 1944, nachgedruckt in Frisch (Hg.), Schoenberg and his world (Anm. 30), S. 327–336. Alle Briefe sind bei Olmstead (Hg.), The Correspondence of Roger Sessions (Anm. 84) abgedruckt. Music in Crisis – Some Notes on Recent Musical History, in: Modern Music X/2, S. 63–78. „[…] ‚Alexandrianism of profundity‘, indeed, well defines the music of the Central European group in certain respects – its tortured and feverish moods, its overwhelming emphasis on detail, its lack of genuine movement, all signs of a decaying musical culture, without fresh human impulses to keep it alive.“ Ein größerer Ausschnitt aus diesem Artikel findet sich abgedruckt bei Campbell, Roger Sessions’ adoption of the twelve-tone method (Anm. 104), S. 56f. Erster Brief Sessions an Schönberg vom 30. Oktober 1944, in: Olmstead (Hg.), The Correspondence of Roger Sessions (Anm. 84), S. 336. „The essential change in attitude, though prepared well in advance, took place between 1937 and 1944, a period of increasing dissatisfaction in his life at Princeton (he left for Berkeley in 1945) and of an increasingly tenuous relation between the chromatic complexity of his music and his adherence to some form of tonality.“ Campbell, Roger Sessions’ adoption of the twelve-tone method (Anm. 104), S. 8. Sessions Rezension von Kreneks Über Neue Musik (Wien 1937) erschien in Modern Music XV/2 (1938), S. 123–128.
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Technik selbst). Sessions, der noch in seinem Artikel von 1944 davon spricht, daß er „never [has] been attracted to it [Zwölftontechnik] as a principle of composition“,
bekennt sich vor allem zum 4. Streichquartett, zum Klavier- und zum Violinkonzert, die er die „finest achievements of these years, perhaps of his whole work“
nennt. Die auch dort verwendete Zwölftontechnik trat für Sessions vor den harmonischen und tonalen Aspekten der musikalischen Struktur (für Schönberg selbst ohnehin die Hauptsache) in den Hintergrund und führten – so Sessions – zu einem tieferen Verständnis der Musik, was seiner Meinung nach in allen späteren Werken Schönbergs wesentlich wird und zu kapitalen Fragestellungen hinsichtlich der theoretischen Untermauerung dieser Kompositionen führen würde.114 Nach dem Wiener oder Berliner war es der „third Schoenberg“115 der amerikanischen Jahre, der Sessions’ zunehmende theoretische Auseinandersetzung mit dessen Kompositionstechnik bewirkte.116 Letztendlicher Auslöser für die praktische Verwendung der Zwölftontechnik – oder des „12-Ton-Systems“, wie es Sessions selbst immer nannte – war offenbar die Radioübertragung von Schönbergs Violinkonzert mit Louis Krasner im November 1952, das Sessions aufgezeichnet und mehrere Male angehört hatte.117 Die Umsetzung geschah dennoch unbewußt. Seine Verwendung der Zwölftontechnik wurde ihm erst nach der Niederschrift der ersten Takte zu seiner Solo-Violinsonate bewußt.118 Schönbergs Einfluß auf Sessions läßt sich zudem in seiner Arbeit als erfahrener und charismatischer Kompositionslehrer beobachten. Wenn er festhält, daß
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Schönberg in the United States (Anm. 108), S. 332–334. Ebenda S. 329 und S. 335. „But it is characteristic of the man, the situation, and possibly of the Viennese tradition itself that his impact on the United States has been that of a third Schoenberg – one by no means unknown in Europe nor difficult to find for those who sought him, but one often obscured in the heat of controversy and the battle position which his followers were led to assume in his behalf.“ 1952 entstand ein zweiter Text Sessions zu Schönberg: Some Notes on Schönberg and the „Method of Composing with twelve tones“, in: Score 6 (Mai 1952), S. 7–10. Vgl. Sessions Brief an Louis Krasner vom 20. Januar 1953, abgedruckt bei Olmstead (Hg.), The Correspondence of Roger Sessions (Anm. 84), S. 383. Olmstead verweist in diesem Zusammenhang auf einen Brief Sessions an Beveridge Webster, in dem von dem Einfluß des Violinkonzertes die Rede sein soll. Dieser Brief ist nicht mitabgedruckt worden. Campbell (Roger Sessions’ adoption of the twelve-tone method, Anm. 104, S. 2) erzählt diese Anekdote nach Andrea Olmstead, Roger Sessions and His Music, Ann Arbor 1985, S. 103.
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„his [Schönbergs] main influence, however, has been exerted through his teaching, the musicians with whom he has come in contact, and finally the series of works composed in the years since he has lived in the United States“ 119,
dann betrifft die Erstnennung vor allen Dingen ihn selbst. Inwieweit sich Schönberg und Sessions bereits 1933 am Malkin Conservatory über pädagogische Aufgaben ausgetauscht haben, ist nicht bekannt. Elf Jahre später hob Sessions, der mittlerweile mindestens zwei ehemalige Schüler von Schönberg – Dika Newlin und Leon Kirchner – unterrichtet hatte, dessen vorrangiges Interesse am individuellen Schüler, an der persönlichen Entwicklung, am einzelnen Werk und seinen vielfältigen Strukturen hervor – bei gleichzeitiger Vernachlässigung eines bestimmten Stiles, einer bevorzugten Kompositionstechnik oder einer von vornherein festgelegten Unterrichtsmethode. In seiner Beschreibung von Schönbergs Unterricht versteckt Sessions seine eigene Faszination angesichts dieser systemloser Systematik: „For one who has never been his pupil, the striking feature of his teaching is precisely that it is systematic withoutever becoming a ‚system‘ in any closed sense; that it is almost fanatically rigorous in its ceaseless striving after mastery of resource; logical and clear in its presentation of materials, but as free as teaching can be from any essential dogmatic bias. […] Musical experience, and development through experience, is Schoenberg’s watchwork as a teacher.“120
Seine Schriften ebenso wie die Aussagen seiner Schüler121 zeigen, daß Sessions von ähnlichen Idealen geleitet wurde, die zwar nicht unbedingt von Schönberg beeinflußt waren, aber in ihrer Weiterentwicklung durch dessen Wirken jedenfalls bestärkt wurden. Ohne sich auf einen bestimmten Stil festzulegen, unter bewußter Ausschließung der Zwölftontechnik, aber unter Einbeziehung der Analysemethoden Heinrich Schenkers,122 mit umfangreichen Repertoirekenntnissen, insgesamt verwurzelt in der Wiener Tradition – und damit ein Gegenpol zu anderen französisch-orientierten und nationalistisch amerikanischen Tendenzen und „Schulen“123 – und einer Haltung, die dem Schüler Zuversicht in seine eigenen Fähigkeiten vermitteln sollte, war Sessions davon überzeugt, daß „the ultimate goal of a composer’s musical training is to liberate his talents and his creative personality, not to indoctrinate him to or from any specific point of view.“124
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Schönberg in the United States (Anm. 108), S. 329. Ebenda S. 334. Andrea Olmsted, Roger Sessions and His Influence, in: Essays on Modern Music 2/1985, S. 23–31. Sessions, der von Schönberg 1949 auf Schenker aufmerksam gemacht wurde, hatte schon 1935 zu Schenker publiziert und später u. a. Milton Babbitt anhand der Schenker-Analyse am Beispiel klassischer Literatur unterrichtet. Vgl. dazu Olmstead (Hg.), The Correspondence of Roger Sessions (Anm. 84), S. 363, und Olmstead, Roger Sessions and His Influence (Anm. 121), S. 28. Ebenda S. 29. Ebenda S. 26.
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Für Dika Newlin, die ihn als nicht so strikt wie Schönberg einschätzte, war er dennoch – wie jener – „a good example of independent tough-minded spunky attitude. No popularitycourting for him.“125
Angesichts dieses „Nicht-Schülers“, der pädagogische Prinzipien Schönbergs als auch die Komposition mit dem „12-Ton-System“ nach dessen Vorbild praktizierte, könnte die amerikanische Variante einer „Schönberg-Schule“, vergleichbar mit ähnlichen Erklärungsansätzen in der bildenden Kunst, auch Musiker und Komponisten einbeziehen, die nicht in unmittelbarem Schüler-Lehrer-Verhältnis zu Schönberg standen. Die amerikanische „Schönberg-Schule“ würde dann sowohl den kurzzeitig lernenden und langfristig weilenden Musiker, als auch den von Schönbergs Kompositionen und Schriften beeinflussten Komponistenkollegen Roger Sessions oder auch Schönbergs allerersten amerikanischen Schüler in Berlin, Adolphe Weiss126, mit einschließen. Ein gemeinsames „Materialverständnis“ der Wiener Schule – wie auch bei einigen Mitgliedern der Berliner Gruppe – könnte dieser weiter gefaßten Auffassung einer Schule nicht zugrundegelegt werden, eher eine gemeinsame Haltung, ein grundlegend anderes Musikverständnis sowie neue Formen der Interpretation, Analyse und Komposition. Das Wissen, das Musikverständnis, die künstlerische Haltung, der pädagogische Stil wie auch die kompositorische Methode eines europäischen Emigranten könnte im Rahmen dieses Einflußmodells erstmalig durch Schönberg selbst, oder – wie im Falle von John Cage – auch schon vorbereitend auf ihn durch andere Lehrer vorab127, oder – wie im Falle von Roger Sessions – durch Kollegen und Anhänger vermittelt worden sein. Der Unterricht Schönbergs bot auf jeden Fall seinen Einzel- und Privatschülern, den Filmmusikkomponisten wie den klassisch ausgebildeten und komponierenden Studenten, Musikern, Musikmanagern und Melomanen, Männern und – im Unterschied zum Europa dieser Zeit – nicht wenigen Frauen die Möglichkeit, das ameri125
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Ebenda S. 29. Joel Feigin, Schüler von Sessions an der Juillard School, widmet in seinem „Kommentar zu Four Elegies for Piano“ dem Verhältnis von Schönberg und Sessions mehrere Passagen. „Sessions war wie Schönberg ein ausgezeichneter Lehrer, und durch ihn ist Schönbergs Vermächtnis an viele von uns in Amerika weitergegeben worden. […[ Sessions […] haßte alle Etiketten und alles Sloganhafte – er schätzte vor allem jene Individualität, die nur durch vollständige Ausbildung und Selbstkenntnis möglich ist. Er pflegte eine derartige Einstellung Schönberg zuzuschreiben, ja in unseren Stunden stand Schönberg immer da als die entscheidendste Figur des Jahrhunderts. Für Sessions hatte Schönberg die zentrale deutsch-österreichische Tradition in das 20. Jahrhundert hineingeführt, und die Tradition war es, die er über alles schätzte. […] Im Unterricht besprach Sessions wie Schönberg nie die Zwölftonmethode, die er selber anwendete. Er hat mich sogar von der Zwölftonmethode weggeführt.“ Stil oder Gedanke. Zur Schönberg-Rezeption in Amerika und Europa (Schriftenreihe der Hochschule des Saarlandes für Musik und Theater 3), hrsg. von Stefan Litwin und Klaus Velten, Saarbrücken 1995, S. 248–257, hier S. 248f. Vgl. Anm. 97. „Cage war demnach – vermutlich eher zufällig als von ihm selbst bewußt gesteuert – in die Schönbergschule hineinerzogen worden.“ Scharenberg, Überwinden der Prinzipien (Anm. 8), S. 112. Cage hatte vor der Begegnung mit Schönberg Unterricht bei Richard Buhlig, Henry Cowell und Adolphe Weiss.
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kanische Musikleben in den Umbruchsjahren während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu verändern und gegen die Prädominanz des modischen Neoklassizismus zu wirken. Inwiefern sich diese kohärente Gruppe sowohl durch die Wahrnehmung von außen als auch durch das eigene Selbstverständnis als amerikanische Schönberg-Schule definieren läßt, ergäbe sich nur durch die umfassende Untersuchung jedes einzelnen Schönberg-Schülers und seiner Entwicklung wie auch seines Wirkens im amerikanischen Musikleben. Unabhängig davon ob der Nachweis einer amerikanischen Schönberg-Schule gelingt, zeigen die hier angerissenen Aspekte, daß die Beschäftigung mit einigen europäischen Emigranten und ihren amerikanischen Schülern, Nachfolgern und Anhängern – wie die schon eingangs erwähnten Musiker Alice Ehlers, Hugo Strelitzer oder Jan Popper – alleine in Kalifornien die Existenz unterschiedlicher „Schulen“ in der Mischung von europäischen Vorbildern und amerikanischer Umsetzung zutage fördern würde. Hinter der weitergehenden Beschäftigung mit diesem in der Exilforschung bisher ausgeklammerten Phänomen muß das wissenschaftliche Interesse für die Integration und Akkulturation eines europäischen Emigranten in das Exilland und den Folgen erfolgreicher Musik- und Kulturarbeit in der Emigration stehen. Die Forderung nach der systematischen Aufarbeitung unterschiedlichster Fragestellungen128 schließt monographische Untersuchungen zu verschiedenen Phänomenen des Akkulturationsprozesses und Einzelbiographien wie auch biographische Annäherungen keineswegs aus. Beide Forschungsrichtungen zum Thema „Emigration als Existenz zwischen Exil und Akkulturation“129 müssen parallel und mit gleicher Gewichtung weitergeführt werden, auch und gerade, um bisher wenig bekannte „Situationen“ und „kreatives Handeln“ vieler Emigranten – und nicht nur der berühmtesten Komponisten – kennenzulernen. Erst wenn der Lebensweg vieler zwischen Exil und Akkulturation erforscht worden ist, kann sich die Rezeptionsforschung der Wirkung und dem Einfluß der Emigranten im Exilland verstärkt annehmen.
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Weber benennt am Ende seines Beitrags in diesem Band (S. 276–281) sechs systematische Ansätze: die Identitätsproblematik, den Kulturtransfer, die Charakterisierung von „Exilmusik“ sowie jüdischer Musik (als Bestandteil jüdischer Selbstfindung), die Entwicklung der Dodekaphonie als Teil der Exilforschung und die Remigration. Zu der Frage einer Bestimmung von Kategorien zur „Exilmusik“ vgl. auch Tomi Mäkelä, The Californian Refugee Situation as a Context of Musical Creativity: Towards Criteria for „Exile Composition“ (1933–1950), in: Interdisciplinary Studies in Musicology. Report from the Third International Conference 1996, hrsg. von Jan Steszewski und Maciej Jablonski, Universität Posen 1997, S. 245– 256. Weber in seinem Beitrag in diesem Band, S. 275.
CHRISTOPHER HAILEY (Princeton)
„[Ich] Liebe jetzt den Ozean“ Ernst Kanitz, Los Angeles und die „errungene“ Weite des Exils 1977 stand ich am Anfang meiner Schreker-Forschungen und war auf der Suche nach Studenten und Zeitzeugen, die mir eine verschüttete und verdrängte Epoche nahebringen konnten. Ich hatte schon Kontakt mit vielen Emigranten aufgenommen – u. a. Josef Rosenstock, Paul Amadeus Pisk, Ernst Krenek, Felix Greissle sowie den Witwen von Karol Rathaus und Paul Breisach –, die mir Auskunft über Schrekers Wiener Zeit geben konnten. Mein Weg führte mich auch nach Kalifornien, wo ich in einem Altersheim in Palo Alto mit dem Greis Ernst Kanitz über seine Jugenderinnerungen reden wollte. Kanitz war damals 83 Jahre alt. Er machte einen gütigen, bescheidenen Eindruck und schien leicht verdutzt über die vielen ernsthaften Fragen seines jungen Besuchers: „Es ist, als ob Sie mich über meine Kindheit fragten. Es liegt alles so weit zurück.“1
Er sprach leise über jene längst vergangenen Studienjahre, als nähme er seine Erinnerungen aus einem alten, sorgsam verpackten, aber längst vergessenen Koffer. Er schien jene Wiener Vergangenheit gewissermaßen als Kuriosum zu betrachten und erzählte von Begegnungen und Begebenheiten mit einer verklärten Objektivität, die frei war von aller Sentimentalität und Nostalgie. Wir hörten gemeinsam eine Schallplatte seiner Musik an, und er spielte mir Klavierimprovisationen vor. Es fiel mir damals nicht ein, ihn über die Emigration oder seine Erfahrungen in Amerika, wo er nahezu die Hälfte seines Lebens verbracht hat, zu befragen. Damals war die Exilfrage noch kein aktuelles Thema in der Musikwissenschaft. Deutschsprachige Emigranten waren ein so allgegenwärtiger Bestandteil des amerikanischen Musiklebens, daß ein Musikprofessor aus Wien kaum als etwas Außerordentliches auffiel – es gehörte einfach zu den bekannten Klischees, wie etwa der Chinese, der eine chemische Reinigung führte, oder der Ire, der Polizist war. Auch heute läßt sich so manches in der unterschiedlichen europäischen und amerikanischen Auffassung der Exilforschung daraus erklären. Für den Amerikaner ist die Emigration etwas Alltägliches und gehört zu jeder Familiengeschichte. Man fragt weniger danach, wie es dazu gekommen ist, als was man daraus gemacht hat. Unausgesprochen ist die Annahme, daß die Emigration als etwas Positives, als Gewinn zu bewerten ist. Der Emigrant ist aus dieser Sicht ein „Refugee“ und kein „Exile“. Für 1
Die mehrstündigen Interviews mit Ernst Kanitz fanden am 1. und 5. September 1977 statt.
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den Europäer wirkt die Emigration zunächst als Störung und Verlust. Sie ist eine Schicksalswende, die man unter günstigeren Umständen vielleicht hätte vermeiden können. Die große Emigration der dreißiger und vierziger Jahre unterscheidet sich von vorherigen Emigrationswellen nicht nur durch das geistige Niveau der Emigranten, sondern auch durch die Tatsache, daß ein Großteil jener Emigranten nicht von innerem Wollen getrieben, sondern von äußeren Umständen vertrieben war. Diese Emigration bedeutete tatsächlich eine Unterbrechung; sie war ein Zerstörungsakt des mitteleuropäischen Kulturlebens. Dementsprechend waren viele Emigranten psychologisch und geistig nicht auf das große Abenteuer der Emigration vorbereitet. So einer war Ernst Kanitz. Kanitz, 1894 in Wien geboren, kam mit 44 Jahren in die USA, begleitet von seiner Frau und drei Kindern. 1944 schrieb er an den Filmkomponisten Max Steiner: „I am one of those Austrians who could not believe that their country would perish in the Nazi flood, could not make up their minds to leave the beloved mountains in time. You were cleverer, had more foresight.“2
Kanitz hatte jedoch das Glück, gleich Anschluß an eines der vielen Exilkommitees zu finden und dadurch Unterstützung sowie seine ersten Lehrstellen im Bundesstaat South Carolina zu erhalten. 1944, nach dem Tode seiner Frau, übersiedelte er nach Kalifornien, wo er 1945 an der University of Southern California endlich eine seinen Fähigkeiten entsprechende Stellung fand. Was heißt aber Entsprechung? Was entspricht dem, was einem Ernst Kanitz in Europa genommen worden war? Titel und Geltung eines „Assistant Professor“ sind keinesfalls mit dem Rang eines Wiener Professors vergleichbar, und das massive Arbeitspensum des amerikanischen Klassenunterrichts sprach dem geruhsameren Tempo einer europäischen Lehrstelle Hohn. „Bin [...] so schrecklich angehängt,“ schrieb er September 1946 einer Freundin, „die Klassen sind so übervoll. [...] Habe nur 12 Stunden die Woche, aber zwischen 15 und 25 in jeder Klasse, was bei Contrapunkt und Composition enorm ist. [...] Also täglich etwa 2–3 Stunden homework korrigieren!“3
In den darauffolgenden Jahren sollten die 12 Wochenstunden bisweilen auf 16 steigen, und durch die Flut von heimkehrenden Soldaten, die vom GI-Bill4 Ge2
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Brief (Durchschlag) vom 3. November 1944. Der Kanitz-Nachlaß befindet sich in der Special Collections Library, Regional History Center, an der University of Southern California in Los Angeles. Ich bin Horst Weber und Manuela Schwartz überaus dankbar für den Hinweis auf diese Quelle. Brief (Durchschlag) an Lola Adler vom 24. September 1946. „GI-Bills“: Kurzform für die „G. I. Bill of Rights“ (eigentlich „Servicemen’s Readjustment Act“), die 1944 erlassen wurde, um heimkehrenden US-Soldaten den Wiedereintritt in das zivile Leben zu erleichtern. Die Abkürzung „GI“ leitet sich ursprünglich von der Aufschrift „Galvanized Iron“ ab, die auf den in der US-Armee verwendeten Metall-Mülleimern stand. Später erhielt sie die Bedeutung „Government Issue“ (Regierungseigentum), die dann auch für die Soldaten verwendet wurde.
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brauch machen wollten, stiegen auch die Studentenzahlen in die Höhe. Hinzu kam noch der Privatunterricht, um das geringe Universitätsgehalt aufzubessern. „Wann wird man ein bißchen verschnaufen können? Man wird ja doch müde und nicht jünger,“
klagte er 1949 einem Kollegen.5 Es ist leicht auszudenken, wie schwer solche geänderten Arbeitsbedingungen denen fielen, die, wie etwa Karl Weigl oder Arnold Schönberg, erst mit fünfzig oder gar sechzig emigriert sind. Für Ernst Kanitz waren die Emigrationsaussichten nicht gerade vielversprechend. Er gehörte nicht zu denen, die dem Lehrer Franz Schreker 1920 nach Berlin gefolgt waren, um im großen Deutschen Reich Karriere zu machen. Kollegen wie Ernst Krenek, Karol Rathaus oder Josef Rosenstock waren schon vor der Emigration in Amerika bekannt. Ernst Kanitz zog es vor, in Wien zu bleiben, und nahm in den immer enger gezogenen Grenzen des Wiener Musiklebens der Zwischenkriegsjahre seinen bescheidenen Platz ein. Seine Werke – stilistisch gehörte seine Musik einer gemäßigten Moderne an – wurden bei der Universal-Edition verlegt und regelmäßig, aber ohne allzu großes Aufsehen, in In- und Ausland aufgeführt. Als Gründer und von 1930 bis 1938 Leiter des Wiener Frauen-Kammerchors brachte er mehrere Ur- und Erstaufführungen, setzte sich konsequent für das neue Schaffen Österreichs ein und bestritt zwei erfolgreiche Tourneen nach Frankreich und Ungarn. Seit 1922 unterrichtete er Kontrapunkt und Komposition am Neuen Wiener Konservatorium – Karl Schiske gehörte zu seinem Schülerkreis –, 1937 erhielt er den Titel Professor. 1932–38 gehörte Kanitz zum Vorstand des Wiener Komponistenbundes und fungierte 1934–38 als dessen Sekretär. Nichts hätte einen Ernst Kanitz in die Emigration gelockt. Arnold Schönberg oder Erich Wolfgang Korngold hätten vielleicht auch ohne Hitler den Weg nach Amerika gefunden. Sie gehörten zu denen, die, wie auch der Filmkomponist Max Steiner, bereit waren, sei es aus Rastlosigkeit oder aus finanziellen Rücksichten, kulturelle Koordinaten zu sprengen. Ernst Kanitz dagegen hing an seiner Heimat und hätte wahrscheinlich wie Alban Berg oder Anton Webern alle ausländischen Arbeitsangebote abgelehnt. Und dennoch erwies sich Kanitz als weitaus anpassungsfähiger als viele seiner emigrierten Berufsgenossen. Als Kind eines wohlhabenden, großbürgerlichen Elternhauses, war sein geistiger Horizont ausgesprochen europäisch. Er sprach fließend Englisch und Französisch und reiste gern ins Ausland. Wichtig war auch die Tatsache, daß er ein stabiles Familienleben genoß und daß seine drei Kinder alle noch jung genug waren, um leicht Eingang in das amerikanische Kulturleben zu finden, und dadurch in der Lage waren, dem Vater regelmäßige „Kultureinführungen“ zu erteilen (man denke auch an Arnold Schönberg, dessen drei Kinder aus der zweiten Ehe sogar amerikanisch aufgewachsen sind). Ernst Kanitz wurde Ernest Kanitz,
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Brief (Durchschlag) an Robert Hernried vom 19. Februar 1949.
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und sein Sohn ließ sich sogar zu Tom Kane umtaufen, um den deutschen Beigeschmack von Helmut Kanitz abzustreifen. Ein weiterer und für Amerika außerordentlich wichtiger Anpassungsfaktor war Kanitz’ tiefempfundene Religiosität. Er bekannte sich stolz zu seiner jüdischen Herkunft, doch sein Glaubensbekenntnis war protestantisch. Dieser Glaube gab ihm nicht nur einen psychischen Halt, er verschaffte ihm auch Zugang zu einem der aufnahmefähigsten und hilfsbereitesten Teile Amerikas. Bald nach seiner Ankunft in South Carolina fand er Aufnahme in einer presbyterianischen Kirchengemeinde, welcher besorgte und liebenswürdige Bekanntenkreis Kanitz während der langwierigen Krankheit und 1943 nach dem Tod seiner sehr geliebten Frau Beistand leistete. Zeitlebens brachte Kanitz die Liebenswürdigkeit seiner Aufnahme in South Carolina in Verbindung mit den besten Eigenschaften der, wie er schrieb, „echten Amerikaner“, und 1944 nahm er stolz die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Kanitz unterrichtete 1938–41 am Winthrop College und war 1941–44 Leiter der Musikabteilung am Erskine College im Bundesstaat South Carolina. Nichts hätte Kanitz auf South Carolina vorbereiten können. Das war damals tiefste Provinz – arm, rückständig und bösartig rassistisch, doch insbesondere am Erskine College, in einer Ortschaft von kaum 800 Einwohnern gelegen, fand er, wie er schreibt, eine „incomparable atmosphere of peace.“6 Aus menschlichen Gründen wäre Kanitz gern in South Carolina geblieben, doch litt seine Schaffenskraft unter den primitiven kulturellen Verhältnissen, dem niedrigen Niveau der Studenten und der stickigen Feuchtigkeit des Sommers. Außerdem war die finanzielle Grundlage von Erskine College äußerst wackelig, und er entschloß sich im Sommer 1944, sein Glück in Los Angeles zu versuchen. Durch erhalten gebliebene Briefe aus den späten Vierzigerjahren lassen sich die Eindrücke und Erfahrungen dieser ersten kalifornischen Zeit gut rekonstruieren. Los Angeles selbst machte auf Kanitz einen gewaltigen Eindruck, und im Juli 1944 lobte er die Stadt und die Gegend in höchsten Tönen: „Los Angeles gefällt mir großartig; die Weite, die balsamische Luft und herrliche Plätze an der Küste machen es zu einer der schönsten Städte, die ich kenne; vom Baustil kann man absehen – dergleichen Erwartungen kann man ruhig mit den übrigen europäischen Komplexen der Vergangenheit angehören lassen.“7
Und im August 1944 schrieb er: „[...] as long as God grant me a living here in L. A., I would not want to live anywhere else.“8
Das Klima und die künstlerische Atmosphäre von Los Angeles erregten in Kanitz eine erstaunliche Schaffenslust. Allein in der zweiten Hälfte 1944 schrieb er eine 6 7 8
Brief (Durchschlag) an Dr. H. G. Ralston vom 12. Jänner 1947. Brief (Durchschlag) an Richard [Engelbrecht?] vom 11. Juli 1944. Brief (Durchschlag) an Miss Hena Redford vom 23. Oktober 1945.
„[Ich] Liebe jetzt den Ozean“. Ernst Kanitz
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„Sonata Californiana“ für Alt-Saxophon und Klavier, eine Suite für Geige und Klavier, ein Klavierquintett mit Bläsern, ein Concerto grosso für acht Bläser, Klavier, Schlagzeug und Streicher, mehrere kleine Chorwerke, Unterrichtswerke für Trompete und für Klarinette sowie eine dreisätzige Orchestersuite mit dem bedeutungsvollen Titel „Motion Picture“. Letzteres Werk sollte Kanitz sozusagen als Visitenkarte dienen, denn er wollte sich in erster Linie als Filmkomponist etablieren, ein Vorhaben, das sich bald als illusorisch erwies. Bereits im August 1944 schrieb er an Ernst Stiassni, „Die Leute hier sind äußerst ,tough‘, sie wollen niemand anderen mehr hineinlassen in ihr Geschäft.“9
Und ein halbes Jahr später mußte er betrübt zugeben, „L. A. is a very tough city, and I haven’t got very far as yet.“10
Zuerst setzte er seine Hoffnung auf die Beziehungen anderer Emigranten und setzte sich u. a. mit Joseph Reitler, dem ehemaligen Leiter des neuen Wiener Konservatoriums, sowie dem Filmkomponisten Max Steiner in Verbindung, dem er im November 1944 schrieb: „Being one of the most famous and successful Hollywood composers, and a fellow countryman of mine as well, will you be so kind and understanding to remember your promise of last June, and give me that chance now?“11
Nichts geschah, und Kanitz konnte sich nur durch Privatunterricht über Wasser halten. Er bewohnte ein bescheidenes gemietetes Zimmer, und ohne Auto mußte er in der riesengroßen Stadt langwierige Bus- und Straßenbahnfahrten zu seinen zahlreichen Terminen auf sich nehmen. 1949 schilderte er in einem Brief an Robert Hernried: „[...] in L. A. kann man ohne Wagen keinen Job halten; schon zum Zahnarzt oder zum nächsten Markt ist es so weit wie vom Stephansplatz zum Westbahnhof – keine Übertreibung, alles ist hier ausgebreiteter – so viel Platz!“12
Es ist kein Wunder, daß Kanitz sich bisweilen recht zerschlagen fühlte. Als er im Sommer 1945 für den erkrankten Ernst Toch einen Mozart-Kurs an der University of Southern California abhielt, machte der einundfünfzigjährige Kanitz einen recht matten Eindruck auf die Musikwissenschaftlerin Pauline Alderman: „[...] there walked into my office an elderly, subdued Austrian gentleman who
introduced himself as Ernest Kanitz, come to teach the classes of his dear friend Ernst Toch. Alumni and faculty members who knew him later will hardly recognize him by this description, but he himself was to say often in later years 9 10 11 12
Brief (Durchschlag) an Ernst Stiassni vom 9. August 1944. Brief (Durchschlag) an Frances Chase vom 16. Jänner 1945. Brief (Durchschlag) vom 3. November 1944. Brief (Durchschlag) vom 19. Februar 1949.
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Christopher Hailey
that never in his life, before or after, was he to feel so old as he felt that spring.“13
Diese kurzfristige Vertretung brachte jedoch eine große Wende. Als Ernst Toch sich gleich danach frühzeitig pensionieren ließ, erhielt Kanitz seine Lehrstelle, und bis 1961 unterrichtete er Kontrapunkt, Instrumentation und Komposition an der USC School of Music, dem weitaus größten und renommiertesten Konservatorium im Westen Amerikas.14 Dieser Glücksfall sicherte Kanitz den Lebensunterhalt, und wenn auch die oft ermüdende Lehrtätigkeit seiner Schaffensproduktivität gewisse Grenzen setzte, so machte sie andererseits möglich, daß er sich in den nächsten Jahren ein Haus und ein Auto leisten konnte. Somit errang Ernest Kanitz im sonnigen Paradies Kalifornien seinen Anteil an „The American Dream“. Doch wie verhielt sich Kanitz zur psychischen und geistigen Situation seines Exils? Das Leben der Exilgemeinschaft wird oft in rosigen Farben geschildert: alte Animositäten zu Grabe getragen, langjährige Fehden vergessen, einträchtige Gartenfeste und freundliche Begegnungen in Eisdielen. Gewiß förderte das Exil eigenartige Kombinationen. Schönberg traf sich friedlich mit seiner ehemaligen Nemesis Julius Korngold, und ich fand einmal in einem Antiquariat eine Erstausgabe von Adornos Philosophie der neuen Musik mit einer eigenhändigen Widmung des Autors: „Für Erich Wolfgang Korngold mit den freundlichsten Empfehlungen“.15
Kanitz, der in Wien nie Gelegenheit gefunden hatte, Arnold Schönberg aufzusuchen, berichtete Felix Greissle von der ersten Begegnung im August 1944: „Ich [...] wurde von ihm in liebenswürdigster Weise aufgenommen. Ein reizender, wahrhaft verehrungswürdiger Mann. Schade, daß wir so spät zusammenkamen.“16
Kanitz’ Begegnung mit Schönberg blieb jedoch ohne Folgen, und als ich neulich einen alten Mann aus dem engeren Schönbergkreis über Kanitz befragte, kam gleich die böswillige Antwort: „den nannten wir immer ,kann nichts‘ “, und er begann sich sofort über den Komponisten und Pädagogen lustig zu machen, offenbar nur, weil er gelegentlich Dreiklänge gelten ließ. Kanitz selbst scheint seinen Kontakt zur Exilgemeinschaft in Grenzen gehalten zu haben. 1945 schrieb er einer Freundin, daß er sich kaum unter die vielen österreichischen oder europäischen Emigranten mischte. Eine Ausnahme bildete seine
13 14 15 16
Pauline Alderman, We Build A School of Music. The Commissioned History of Music at the University of Southern California, Los Angeles 1989, S. 215. Zu Kanitz’ Lehrtätigkeit siehe auch: Christopher Hailey, Emigrés in the Classroom, in: The American Illusion: Eric Zeisl in Hollywood, hrsg. von Werner Hanak und Michael Haas, Wien 2005, S. 75–90. Adornos Widmung an Korngold ist abgebildet in: Erich Korngold. Wunderkind der Moderne oder letzter Romantiker?, hrsg. von Arne Stollberg, München [2008], S. 8. Brief (Durchschlag) vom 6. August 1944.
„[Ich] Liebe jetzt den Ozean“. Ernst Kanitz
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Freundschaft mit Ernst Toch, den er aber erst in L. A. kennengelernt habe.17 Ein anderer Wiener Berufsgenosse, mit dem Kanitz enge Verbindung hielt, war Paul Amadeus Pisk. Es ist aber wiederum bezeichnend, daß diese alten Schreker-Schüler einem dritten, Ernst Krenek, kühl gegenüberstanden. In einem Brief vom Juni 1949 beklagt sich Kanitz über die „Krenekclique, die nur für sich, besser: für ihn, sorgt,“18 ein Urteil, in dem Pisk mit seinem Freund voll übereinstimmte.19 Nach dem Krieg blieb der Kontakt mit der alten Heimat beschränkt, was zum Teil auf die eigene Zurückhaltung zurückzuführen war. Kanitz gehörte zu den Emigranten, denen eine grundlegende Umorientierung gelungen war. Seine Fähigkeit, „europäische Komplexe der Vergangenheit angehören zu lassen“, machte es ihm möglich, einen neuen Horizont wahrzunehmen.20 1947 schreibt er an seine Freundin Lola Adler: „Sehne mich selber gar nicht nach Bergen, bin leider zu wehleidig mit Erinnerungen in der Hinsicht. Liebe jetzt den Ozean, der ja eine Errungenschaft meiner letzten Jahre ist.“21
Die zunächst verblüffende Weite des Landes, die Bewegungsfreiheit und die Freiheit von Zwängen der Vergangenheit wirkten schließlich belebend auf Kanitz. Amerika erwies sich als ein ungemein fruchtbares Arbeitsfeld, und durch Unterricht, Schaffen sowie organisatorische Tätigkeit bekannte sich Kanitz zu der Aufgabe, eine spezifisch amerikanische Musikkultur aufzubauen. Ein Brief an den mit ihm befreundeten amerikanischen Komponisten Charles Wakefield Cadman aus dem Jahre 1944 wirkt wie ein Bekenntnis: „[...] both as a teacher and conductor, I’ve tried to express my gratitude to this
country by stressing the contemporary American production. I’ve put contemporary works on my programs at little Erskine College, with an orchestra and choral groups of quite young and unexperienced people – and it worked! We even tried to play William Schuman. And our pupils played Griffes and Ives, our glee club performed Merrill Lewis’ ,This is America‘, etc. Similarly in my Appreciation teaching I tried to promote the students’ understanding of their living fellow countrymen’s music. As a college teacher, after six years of actual living with the students, I believe I understand them better than many other refugee musicians – and I love them.“22 17
18 19
20 21 22
„I don’t see many Austrians or other Europeans here. My best friend is Ernst Toch whom I met only here in L. A.; we hadn’t met before, strange as it seems.“ Brief (Durchschlag) an Lillian Harmel Rubinstein vom 28. April 1945. Brief (Durchschlag) an Paul Amadeus Pisk vom 22. Juni 1949. „Du hast ganz recht mit der Krenekclique. Wenn wir einander nächstens sehen, hoffentlich bald, muß ich Dir einiges über ihn erzählen.“ Brief vom 24. Juni [1949]. Zu Kanitz’ Beziehung zur Nachkriegslage der neuen Musik siehe auch: Christopher Hailey, Ernst Kanitz: Kulturlage eines „Selberaner“, in: Gottfried Scholz / Markus Grassl / Eike Rathgeber (Hg.), Österreichs Neue Musik nach 1945: Karl Schiske (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, hrsg. von Reinhard Kapp, Bd. 7), Wien 2008, S. 83–97. Brief (Durchschlag) an Miss Hena Redford vom 23. Oktober 1945 (Anm. 8). Brief (Durchschlag) vom 11. April 1947. Brief (Durchschlag) vom 17. November 1944.
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Christopher Hailey
Gewiß bekam Kanitz den europafeindlichen Nationalismus Amerikas zu spüren – er ist ein häufiges Thema in seinen Briefen –, und zweifellos wird solcher Chauvinismus die Ausbreitung seiner Musik behindert haben. Andererseits übernahm er manchmal, vor allem in seinen Chor- und Bühnenwerken, einen ausgesprochen „amerikanischen“ Ton. Solche stilistische Zweckmäßigkeit ist keineswegs als opportunistische Anpassung zu bewerten, sondern vielmehr als schöpferische Auseinandersetzung mit seiner neuen Umgebung. Er war stolz darauf, daß eine Bühnenmusik, die er für ein Volksstück schrieb, wie eine echte amerikanische Volksmusik wirkte, und als 1946 Walt Disney den gleichen Stoff (es war die Legende von Johnny Appleseed) als Zeichentrickfilm produzieren wollte, bot Kanitz dem DisneyStudio seine Musik an. Auch in ideologischer Hinsicht schien Kanitz seiner neuen Heimat nahezustehen. Im Jahre 1945 hatte er ein Szenarium für einen Propagandafilm für Erziehung ausgearbeitet, dessen Schlußszene zweifellos eine utopische Reaktion auf den zu Ende gehenden Weltkrieg darstellt: „A vast crowd of students, American students, singing a final chorus ,Learning, learning‘ [...are] gradually joined by choruses from other countries all over the world, representing other races and colors [and] swelling to an enormous final song of great power, in an overwhelming expression of freedom and the beauty of a ,higher race‘ “
– in Klammern aber fügte er hinzu: „(not a ,master race‘ in the villainous sense of Hitler’s misunderstood Nietzsche).“23
Solcher Idealismus mag heute naiv wirken, doch er entspringt einer weltanschaulichen Grundeinstellung, die Kanitz nicht so sehr der Berührung mit dem bekannten amerikanischen Optimismus verdankte, sondern der früh eingeimpften Fortschrittsliebe seiner Jugendjahre in Wien. Für die Schüler Schrekers war die Pflege der Vergangenheit nur sinnvoll als Grundlage für die Errungenschaften der Gegenwart. Aus einem 1936 verfaßten Zeitungsaufsatz „Die Musik in Gefahr!“ kommt das Spannungsverhältnis zwischen jenem Fortschrittsglauben und dem erneuerungsfeindlichen Konservatismus seiner Heimatstadt deutlich zum Ausdruck: „ ,Respekt vor jedem ehrlichen Schaffen!‘ müßte es heute mehr denn je heißen. Laßt die Komponisten leben, damit sie komponieren können und laßt sie schreiben, wie ihnen ums Herz ist, macht ihnen keine Vorschriften, wie sie schreiben sollen! Machen wir die Kunst wieder frei!“24
23 24
Diese Beschreibung des Szenariums befindet sich in einem Brief (Durchschlag) an Dr. Margaret E. Bennett (Director of Guidance, Pasadena City School) vom 16. März 1945. „Die Musik in Gefahr“ (1936), Wiener Zeitung (22. April 1936), S. 11–12.
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Auch eine solche, aus Frust erwachsene Sehnsucht ließ Ernst Kanitz die Emigration als Chance ergreifen. Neben seiner viel beachteten Tätigkeit als Lehrer konnte Kanitz in Amerika auch als Komponist Fuß fassen. In seiner Musik setzte er eine Tendenz zur Vereinfachung fort, die sich seit den 30er Jahren in seinem Stil bemerkbar machte und er konnte sich über bedeutende Aufführungen (u. a. unter Vladimir Golschmann, Alfred Wallenstein, Leopold Stokowski, Eugene Ormandy und Josef Krips) freuen. Obwohl er in der Wahl der Gattungen – etwa Schulmusik, kleinere Chorwerke, Werke für Bläser – den spezifischen Bedingungen des amerikanischen Musiklebens Rechnung trägt, konnte er sich auch als Opernkomponist behaupten, vor allem mit der Kammeroper Perpetual (1961), die mehrere Inszenierungen erlebte. Kammermusik bildet (allein aus praktischen Gründen) nunmehr einen Schwerpunkt seines Schaffens, doch unter seinen wichtigsten Spätwerken sind drei Symphonien (1963, 1965 bzw. 1967) sowie das Chorwerk Visiones in Crepuscolo (Visions at Twiligth, 1962). Die Musikwissenschaftlerin Pauline Alderman, die 1945 Kanitz als „alten Mann“ kennengelernt hatte, konnte diesen ersten Eindruck bald revidieren: „After the first year we no longer heard him say ,I’m too old‘. His image became what he was, a vigorous man in his fifties who after his retirement in 1959 was to compose symphonies and operas, the best works of his life, all of which have had wide performance.“
Beim Konzert zum 80. Geburtstag sprach Prof. Alderman das Fazit aus: „Ernest Kanitz, The Boy Grows Younger“ – Der Knabe wird jünger.25 Im glücklichsten Falle bot Amerika den Emigranten eine zweite Chance. Der bescheidene, gütige Mensch, der mich vor über zwanzig Jahren im Altersheim empfing, scheint im kalifornischen Exil – nahe der unermeßlichen Weite des Ozeans – eine seelische und geistige Ruhe gefunden zu haben, die den dunklen Terror der Vertreibung besiegte. Und durch die „Errungenschaften“ seiner späten Jahre ließen sich so manche Jugendträume realisieren.
25
Alderman, We Build A School of Music (Anm. 13), S. 215.
WERNER HANAK (Wien)
„Adolf Hitler, die Sonne und meine Großmutter“ Notizen zum Komponisten Erich Zeisl (1905–1959) Am 28. Mai 1942 verfaßte Hanns Eisler folgendes Schreiben und sandte es an Arnold Schönberg in Los Angeles: Hochverehrter Herr Schönberg ! Herr Erich Zeisl, ein wirklich begabter Komponist (Refugee aus Wien) möchte gerne mit Ihnen arbeiten. Ich erlaube mir ihm [ihn] hiermit vorzustellen.1
Heute wissen wir, daß es zu dieser Zusammenarbeit nie gekommen ist. Erst drei Jahre später, im November 1945 auf einer Party in der Emigranten-Szene in Hollywood, sprachen die beiden Wiener Komponisten miteinander. Daß Zeisl Schönberg zuvor nie kontaktiert hatte, lag wohl einerseits an Zeisls Zurückhaltung, andrerseits auch an einem ganz banalen, aber wesentlichen Grund, den Alma MahlerWerfel gegenüber Erich Zeisl einmal so charakterisiert hatte: Er, Zeisl, wäre von 1
Brief im Besitz von Barbara Zeisl-Schoenberg.
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Werner Hanak
seiner Natur aus eben ein tonaler Komponist, während Arnold Schönberg von seiner Natur aus ein atonaler Komponist sei. Was aber ist nun der Grund für dieses Referat eines Symposions mit dem Titel Die Wiener Schule, der Ständestaat und der Nationalsozialismus ? Warum spreche ich hier über einen Komponisten, der im Wien der 20er und 30er Jahre zwar mit Alexander Zemlinsky, nie aber mit Schönberg, Berg, Webern, Hauer oder Wellesz zusammengetroffen war? Mein Beitrag ist eine wohlkalkulierte Kontrastierung zum generellen Symposiumsthema. Drei Motive haben es mir ermöglicht, die Einladung zum Symposium und zum Sammelband anzunehmen. Zum einen interessierte mich, warum Erich Zeisl heute in Österreich ein fast vergessener Künstler ist.2 Damit zusammenhängend habe ich mich gefragt, ob emigrierte Wiener Musiker, die nicht zum Kreis der Wiener Schule gehörten, heute weniger von der Musikgeschichtsschreibung wahrgenommen werden. Schließlich ging ich auch davon aus, daß sich anhand von Zeisls Leben auch Prinzipielles zum Umgang zwischen Vertretern von entgegengesetzten Musikkonzeptionen in den Exilländern nach 1938 erkennen ließe. Kommen wir aber nochmals auf das Wien vor 1938 zurück: 1933 entsteht das Erstlingswerk der Schriftstellerin Hilde Spiel. Es heißt Kati auf der Brücke, und wir finden darin die Beschreibung eines 25-jährigen, aufstrebenden Musikers: „Vom Nebenzimmer klang das Spiel des Musikers herüber. Kati hatte ihn noch nie gesehen, aber Erna beschrieb ihn als einen närrischen Kerl, der im Zimmer umhertanze wie ein Toller. Manchmal lag er auch, wenn sie ihm das Frühstück brachte, durchaus trübsinnig im Bett und starrte vor sich hin, das andere Mal stopfte er das Essen in sich hinein wie die Affen das Brot. [...] Der Musiker saß am Klavier, er hatte einen Zettel mit flüchtig hingeworfenen Noten vor sich und schlug in die Tasten, nach neuen Akkorden suchend und jeden, den er fand, mit wütendem Brummen wild wiederholend, als mache er sich selbst über den Mißklang lustig. Erst sah er nicht hin. Aber als Kati ganz im Zimmer stand, sprang er auf und starrte sie an. Zuerst gewahrte sie seine Augen, die blaugrau waren und klar wie tiefes Wasser, mit braunen Kieseln am Grund, unstet und traurig. Der Kopf war mächtig. Weit wuchs das Haar aus der Stirn, der Mund saß wild und breit wie die Brauen, zwei heftige quere Striche, im Gesicht. Trotz allem sah er kindlich drein, als sei vorerst nur die Stirn von der Schwere seiner Berufung ergriffen und die Seele noch unverzagt, immer von neuem harmlos und staunend. Der Körper war klein, breit, ein wenig rundlich. Von den Seiten leuchteten die Hän2
Inzwischen fand, nach Fertigstellung dieses Beitrages, 2005/06 im Jüdischen Museum Wien eine ZeislAusstellung statt, die auch in einem ausführlichen Katalog dokumentiert wurde: musik des aufbruchs. endstation schein-heiligenstadt. eric zeisls flucht nach hollywood [Ausstellungskatalog], hrsg. von Werner Hanak, Michael Haas und Karin Wagner, Jüdisches Museum Wien 2005. Weiters erschienen sowohl eine ZeislBiographie (Karin Wagner, Fremd bin ich ausgezogen. Eric Zeisl. Biografie, Wien 2005) als auch eine ausführliche Dokumentation: Karin Wagner (Hg.), … es grüsst Dich Erichisrael. Briefe von und an Eric Zeisl, Hilde Spiel, Richard Stöhr, Ernst Toch, Hans Kafka u. a., Wien 2008. Zudem wurden in den letzten Jahren zahlreiche Werke von Erich Zeisl zu Gehör gebracht, vor allem das Requiem Ebraico. Pierrot in der Flasche und das Klavierkonzert sowie die Lieder wurden auf CD eingespielt.
Notizen zum Komponisten Erich Zeisl
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de auf, da hingen sie wie zwei große untätige Tiere, kurz und kräftig, mit breiten Kuppen.“3
Bei Hilde Spiel lernen wir einen nervösen, liebevollen und depressiven 25-jährigen Komponisten kennen. Und es handelt sich zweifellos um Erich Zeisl, der wie Hilde Spiel in der Runde um Gertrud Jellinek (1906–1987), Zeisls späterer Frau, verkehrte. Blenden wir aber noch weiter zurück, in Erich Zeisls Kindheit. Diese erscheint bei näherer Betrachtung als Klischeebild einer schrecklichen Musikerjugend. In dieser für Zeisl schlimmen Zeit ist wohl auch der Schlüssel zu seiner Nervosität und Exzentrik zu finden. Erich Zeisl wächst in der Wiener Leopoldstadt neben dem Nordbahnhof und dem Prater auf. Er ist der dritte von vier Söhnen von Sigmund und Kamilla Zeisl, die das Kaffeehaus Tegetthoff in der Heinestraße 42 am Praterstern betreiben. Am wohlsten fühlt er sich, wenn er krank im Bett liegt, denn so erreicht er die größtmögliche Aufmerksamkeit seiner Mutter. Sein jüngerer Bruder ist jedoch noch kränklicher und läuft ihm bald den Rang ab. Ein älterer Bruder behauptet aggressiv die Stellung des großen Bruders, und eines Nachts findet man in Erichs Bett ein Messer, das dieser zur Verteidigung der Nachtruhe gegen den Aggressor mitgenommen hat. Mit fünf Jahren kontaktieren die Eltern einen Neurologen wegen der extremen Nervosität des Kindes. Die ersehnte Besserung tritt aber nicht ein. Musik wird im Hause Zeisl als Hobby toleriert. Als der neunjährige Erich allerdings den Wunsch äußert, Komponist zu werden, und sein Klavierlehrer daraufhin erklärt, daß dieser Beruf die Nervosität des Buben in eine Geisteskrankheit verwandeln könnte, entschließt sich Mutter Kamilla, die Notbremse zu ziehen. Sie sperrt das Klavier ab und verbrennt Erichs erste Kompositionen. Noch brutaler geht aber die Großmutter gegen Zeisls kreative Versuche vor. Ständig moniert sie, Erich spiele nur Klavier, anstatt zu üben. Sie lehrt dem jungen Mann, daß Kreativität nichts anderes als Wahn bedeutet. Jahrzehnte später – Zeisl lebt bereits im heißen Kalifornien – stellte er lapidar fest: „Ich hatte in meinem Leben drei Feinde: Adolf Hitler, die Sonne und meine Großmutter.“ Mit 14 Jahren kann er sich mit Hilfe eines Verwandten dann doch gegen seine Eltern durchsetzen. Er wird an die Akademie für Musik und darstellende Kunst aufgenommen, wo er bis 1923 bleiben wird. Sein Lehrer an der Akademie ist Richard Stöhr, der ihn auch privat unterrichtet. Als Komponist begeistert er sich an der Liedform, und schon als Sechzehnjähriger kann er Drei Lieder in der Edition Strache verlegen. Die Innovation seiner Sprache, aus der wir Mahler und Richard Strauss hören und die sich durchaus aus der Romantik speist, besteht darin, östliche und westliche Elemente zu verbinden. Diese Entwicklung entstand nicht im luftleeren Raum. Denn Zeisl hatte seine Jugendjahre genau dort verlebt, wo einmal die Grenze zwischen Ost- und Westeuropa verlaufen ist. Am Wiener Nordbahnhof kamen täglich Menschen aus den östlichen Teilen der Monarchie an. Und nicht wenige 3
Hilde Spiel, Kati auf der Brücke, in: Dies., Frühe Tage. Drei Romane, München–Hamburg 1986, S. 89.
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von ihnen setzten sich als erste Station einmal in das Café seiner Eltern am Praterstern, um sich in der neuen Stadt zu akklimatisieren. Anfang der dreißiger Jahre wird Zeisl zunehmend erfolgreich. Während der Musikfestwochen 1930 bringt Julius Katay Zeisls Haarlemer Nachtlied und eine Arabeske, zwei Stücke, die Jazz-Elemente beinhalten, im Burggarten zur Aufführung. Zeisls Lieder werden gedruckt und gespielt, und Radio Wien strahlt 1932 sein OrchesterWerk Mondbilder aus. 1933 zeigt sich der Wiener Repräsentant vom Verlag Schott, Georg Rösch, an Zeisls Musik stark interessiert, ein Vertrag ist erstmals in greifbarer Nähe. Daß es nicht dazu kommt, liegt an der Machtübernahme der Nazis in Deutschland. Der Vertrieb seiner Werke auf diesem für Österreichs Komponisten wichtigen Markt wird aufgrund seines Judentums unmöglich. Weniger kommt dem tonalen Künstler Zeisl die austrofaschistische Kulturpolitik in die Quere. Zeisl ist oder verhält sich zumindest unpolitisch, und seine Musik steht scheinbar nicht im Widerspruch zum ständestaalichen Musikverständnis. Sein erstes Streichquartett wird im Radio aufgeführt, dort beschreibt ihn der SchönbergSchüler Paul Amadeus Pisk als eine der stärksten Persönlichkeiten unter den noch nicht dreißigjährigen Komponisten.4 In beruflicher Hinsicht verlaufen die Jahre bis 1938 positiv, sieht man vom Fehlen des deutschen Marktes ab. Seine wichtigsten Werke sind die Kleine Symphonie, in der sich von den Bildern des Tiroler Wunderkindes Roswitha Bitterlich inspirieren läßt, und eine Bearbeitung von Georg Büchners Leonce und Lena, die er zusammen mit dem aus Deutschland geflüchteten Dichter Hugo F. Konigsgarten gestaltet hat. Seine Lieder – sie sind nach wie vor Zeisls wichtigstes musikalisches Ausdrucksmittel – werden in der Universal-Edition und bei Doblinger verlegt. Die beiden Musikwissenschaftler Malcolm S. Cole und Barbara Barclay5, deren Arbeit über Erich Zeisl ich die exaktesten Informationen verdanke, vertreten die Meinung, daß 1938 Zeisls erfolgreichstes Jahr hätte werden können. Tatsache ist, daß Leonce und Lena für Radio Prag vorbereitet wurde und die Aufführung im Schönbrunner Schloßtheater knapp bevorstand. Und schließlich gab es noch ein seriöses Angebot für einen Lehrauftrag am Neuen Konservatorium der Stadt Wien, das auch die konstanten finanziellen Schwierigkeiten des inzwischen verheirateten Künstlers beseitigt hätte. Ein Kontinuum in Zeisls Leben ist aber ein Phänomen, das wir alle aus der Erfahrung mit dem Spiel „Mensch ärgere dich nicht“ nur zu gut kennen: Mit einer Regelmäßigkeit steht er an der Schwelle zum Erfolg, und immer wieder muß er zum Anfang oder zumindest ein paar Schritte zurück. Im März 1938 bleibt der Erfolg plötzlich aus, und Angst bestimmt von nun an das Leben des Komponisten. Das Lied Komm süßer Tod, das er noch im Jänner 1938 fertigstellt, bleibt das einzige Lied in diesem Jahr und zudem das letzte Lied Zeisls 4
5
Paul A. Pisk, Erich Zeisel [sic!], in: Radio Wien. 31. Jänner 1934. Dieser Artikel in der Programmzeitung „Radio Wien“ begleitete die Sendung „Stunde oesterreichischer Komponisten der Gegenwart“ der RAVAG am 31. Jänner 1934.
Malcolm S. Cole/Barbara Barclay, Armseelchen. The Life and Music of Erich Zeisl, Westport-London 1984.
Notizen zum Komponisten Erich Zeisl
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überhaupt. Ist doch das Lied allzu sehr an seine Heimat und deren Natur sowie an die damit verbundene Sprache gekoppelt.6 In gewisser Weise läßt er diese von ihm so geliebte Wiener Tradition in seiner alten Heimat zurück. Zwei Dokumente aus dem Nachlaß Zeisls bezeugen die menschliche Kälte vor Zeisls lebensrettender Flucht aus Österreich. Am 29. Juni 1938 schreibt ihm ein Beamter der Gemeinde Baden bei Wien, wohin sich Zeisl im Sommer zurückgezogen hat: „Aus kurörtlichem Interesse und zur klaglosen Aufrechterhaltung der Ordnung und Ruhe werden Sie im Einvernehmen mit der Bezirkshauptmannschaft und der Kreisleitung der N.S.D.A.P. in Baden aufgefordert, das Gebiet der Stadtund Kurgemeinde Baden b. Wien binnen 48 Stunden nach Empfang dieser Aufforderung zu verlassen.“
Und aus Erich Zeisls Formular von der Devisenstelle erfahren wir, daß ihm diese Behörde am 8. November 1938 den Erwerb von ausländischen Zahlungsmitteln im Gegenwert von 60 Reichsmark zwecks Auswanderung nach Frankreich „gewährte“. Vier Tage später, am 12. November, wird er dann 400 französische Franc in einer Wechselstube am Kölner Hauptbahnhof kaufen. Die dazwischenliegende „Reichskristallnacht“ versteckt er sich mit seiner Frau Trude im Wäscheaufhängeraum am Dachboden der Schwiegermutter in Wien. In Köln, wohin das Paar gemeinsam mit Zeisls Bruder Wilhelm und der Schwiegermutter Gertrud Jellinek mit dem Zug gelangt, vermeiden sie jeglichen Kontakt mit dem Konsulat und steigen mit undatierten französischen Visa in ein Flugzeug nach Paris. Die erste Flucht aus dem Deutschen Reich gelingt, Paris wird zur ersten Station des Exils. Zeisls Leben fern von Wien ist von Talfahrten und wenigen Höhenflügen gekennzeichnet. Sowohl in Paris als auch in New York ist er anfangs optimistisch, er lernt interessante Menschen, die ebenso wie er seine Heimat verloren haben, kennen. In Paris sind es der Dichter Hans Kafka, mit dem er auch in New York zusammenarbeiten wird, sowie Darius Milhaud und Alma Mahler-Werfel. Als am 27. Mai 1939 Josef Roth in Paris stirbt, richtet Paul Gordon eine Bühnenfassung von Roths Roman Hiob im Theatre Pigalle ein und bittet Erich Zeisl, die Musik für das Stück zu komponieren. Die Bedeutung dieser Hiob-Bearbeitung geht aber für Erich Zeisl weit über diese Produktion hinaus. Zusammen mit Hans Kafka macht er sich noch in Paris an die Arbeit, auf der Grundlage des Romans eine Oper zu schreiben. Die stilistischen musikalischen Neuheiten, die den Hiob prägen, faßt Zeisl selbst unter dem Begriff „Jewish Music“ zusammen. Durch die Flucht aus seiner Heimat und die Beschäftigung mit der Figur des Rothschen Hiob, der – von Schicksalsschlägen begleitet – von Polen nach Amerika emigriert, stellt sich Zeisl nun verstärkt die Frage nach seiner eigenen jüdischen Identität.
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Die Komposition Prayer (1945, in englischer Sprache) ist ein vertontes Gebet und stellt kein Kunstlied im Sinne der deutschen Literatur- und Musikgeschichte dar.
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Abbildung 1: Erich und Gertrud Zeisl mit Tochter Barbara, New York 1940.
Im Herbst 1939 kommen die Zeisls in New York an. Daß sie es überhaupt bis dorthin geschafft hatten, ging auf eine Initiative von Trude Zeisl zurück. Sie hatte noch in Paris alle Menschen mit dem Namen Zeisl aus dem New Yorker Telephonund Adreßbuch herausgesucht und mit der Bitte angeschrieben, ihnen bei der Einwanderung zu helfen, da sie von den Behörden leicht für Verwandte gehalten würden. Tatsächlich meldete sich ein mit Trude und Erich nichtverwandter Mann. Er war von Beruf Installateur und erklärte sich bereit, die Einwanderungszertifikate anzufordern. Die Zeisls erhielten ihre Papiere und erreichten New York noch im September. Erich, der in Wien in gesicherter Umgebung niemals den Wunsch hatte, Vater zu werden, war nun außer sich vor Freude über Trudes Schwangerschaft. Aber New York zeigte sich anfangs auch in beruflicher Hinsicht von seiner positiven Seite. Neben anderen Orchester- und Kammermusikwerken wird Zeisls Kleine Symphonie für das Radio eingespielt. Zudem gelingen Zeisl mit Hilfe eines Förderers einige Veröffentlichungen, und er schließt mit Hans Kafka den ersten Akt seines Musiktheaters Hiob ab.
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Lange täuschen diese anfänglichen Erfolge aber nicht über die harte Realität des Exils hinweg. Die Verhandlungen mit Dirigenten und Verlegern verlaufen bald mehr und mehr im Sand, wieder kommt kein Verlagsvertrag zustande. Darüber hinaus übersiedelt Hans Kafka nach Hollywood, um Drehbücher zu schreiben, wodurch Zeisl nun der wichtigste künstlerische Partner abhanden kommt. Als Zeisl dann ebenfalls nach Hollywood gelockt wird, um für MGM Filmmusik zu komponieren, nimmt sich der inzwischen erfolgreiche Hans Kafka dem gemeinsamen Projekt Hiob nur noch sehr zurückhaltend an. In Los Angeles kommen die Zeisls mit ihrer einjährigen Tochter Barbara (* 17. Mai 1940)7 im Jahr 1941 an. Erich Zeisl zählt wie viele andere aber zu jenen Emigranten, die mit dem Hollywood-Studiosystem nicht zurechtkommen oder nicht um jeden Preis zurechtkommen wollen. Für achtzehn Monate war er bei MGM unter Vertrag. Dort schrieb er unter anderem die Musik für die Kriegspropagandastücke Plan for Destruction, Wood Goes To War, Reunion in France oder Hitler’s Hangmen. Er arbeitete aber auch, zumindest als Co-Komponist, an Filmen wie Lassie come home, Abbott and Costello Meet the Wolfman oder The Postman rings Twice. Außerdem steuerte er die Musik für etwa 50 Kurzfilme der Serie Fitzpatricks Traveltalkes bei. Auch nach seiner Entlassung arbeitet er notgedrungen für die in Los Angeles alles bestimmenden „Industries“ weiter, er orchestriert Werke anderer Komponisten, scheint aber nicht mehr im Nachspann der Filme auf. Zeisl leidet aber nicht nur unter der Filmindustrie, sondern auch unter der kalifornischen Sonne; Hollywood bezeichnet er als „blaues, sonniges Grab“. Er komponiert kaum noch in seinem eigenen Namen. In dieser Zeit, es ist das Jahr 1943, schreibt er an seinen früheren Lehrer Richard Stöhr, der ebenfalls im amerikanischen Exil lebt: „So my life passes. Next week I will be 38 in complete senselessness and impotence. If God does not help me, then of the proud hope which you put on your one-time student will become a commercial man without ego and feeling! It is tragic. In spite of it, I do not give up hope that I must get a chance once. – Please excuse my lamento letter. I know, however, that you will as always understand me.“ 8
Trude Zeisl verschafft der Familie in dieser tristen Situation eine neue Perspektive. Es gelingt ihr, das kleine neuerworbene Haus am Westknoll Drive, in dem Erich nicht einmal ein Arbeitszimmer besitzt, zu einem Kommunikationszentrum der Emigrantenszene in Hollywood auszubauen. Zeisl trifft wieder auf Alma MahlerWerfel, auf Darius Milhaud, er lernt Mario Castelnuovo-Tedesco kennen, Alexandre Tansman, mit dem ihn bald eine tiefe Freundschaft verbinden wird, er trifft auf Fritz Zweig von der Berliner Oper, den Dirigenten Hugo Strelitzer, den in Holly-
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Barbara Zeisl heiratete am 23. November 1965 Arnold Schönbergs Sohn Ronald.
Brief von Erich Zeisl an Richard Stöhr vom 13. Mai 1943.
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Abbildung 2: Dem „Judaism in Art“ gewidmet: „Biennial Exhibit“ der „Women Associates of The University Religious Conference“, März 1948. In einem Begleitkonzert zu dieser Ausstellung am 14. März gelangte von den oben genannten Komponisten jeweils ein Werk zu Gehör, darunter Erich Zeisls „Prayer“; der Komponist begleitete die Sopranistin Alice Bryant am Klavier.
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wood so erfolgreichen Wiener Komponisten Erich Wolfgang Korngold und schließlich auch auf Igor Strawinsky. Eine der wichtigsten Begegnungen für Zeisl findet aber erst Ende 1945 statt: das Treffen mit Arnold Schönberg. Aus Trudes Tagebuch erfahren wir über die Tragweite dieser Begegnung: „What an event! Already the night before I dreamed of it. I was so tense with anticipation finally to meet in person the man who caused so many controversies, even between Eric and me. It was a big surprise for me and to have met him in person changed completely my own and also Eric’s point of view towards this phenomenon (for that he should be called).“
Bei diesem Treffen auf einer Party bei Erich Lachmann stellt Zeisl Schönberg unter anderem die Frage, warum er sich denn in einer bestimmten Passage sosehr auf eine komplizierte kontrapunktische Prozedur eingelassen hat, wo sie doch ohnehin niemand hören würde. Schönberg antwortete geradeheraus, daß er dies aus keinem anderen Grund als aus der „Befriedigung der inneren Logik“ getan habe. Zeisl, der inmitten einer künstlerischen Krise steckt, nimmt diese Antwort, deren Inhalt sehr an Kandinskys Gedanken von der „inneren Notwendigkeit“ erinnert, sehr ernst. Und in den folgenden Wochen beginnt er ein großes Werk, das er diesmal auch zu Ende führen kann. Es handelt sich um das Ballett Uranium 235, eine Antwort auf die amerikanischen Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. 1946 veröffentlicht Zeisl dann sein Requiem Ebraico. Rückblickend betrachtet stand das Treffen mit Schönberg am Ende von Zeisls schöpferischer Krise und hat sicherlich viel Positives zur neuen kreativen Phase des Komponisten beigetragen. 1975 erinnerte sich Trude Zeisl in einem Gespräch mit Malcom S. Cole: „I think this single answer helped him more than anything to master the big form, which was always a struggle to him.“
Auch das Requiem Ebraico wird eines seiner wichtigsten amerikanischen Werke und gleichzeitig die künstlerische Fortsetzung jenes Stils, den er mit der Musik zur Bühnenversion von Joseph Roths Hiob begonnen hatte. Zeisl nennt diesen Stil nun „Hebraic Style“, der sich hauptsächlich in Betonung östlicher Musikeinflüsse und in der biblischen Themenwahl äußert. Im Requiem Ebraico reagiert Zeisl aber auch auf die jüngste Vergangenheit, auf die Schoa. 1945 ist das Jahr, in dem das unfaßbare Ausmaß der Ermordung der europäischen Juden Gewißheit wird. Zeisl weiß nun, daß deutsche und österreichische Nationalsozialisten sechs Millionen Juden in Europa umgebracht haben. Auch sein Vater und andere Verwandte haben den planmäßigen Mord nicht überlebt. Im Requiem Ebraico versucht Zeisl sowohl die persönlichen als auch die kollektiven Schmerzen zu verarbeiten. Die Kritiken sind zumeist gut bis euphorisch, anläßlich der kanadischen Premiere in Toronto 1947 schreibt die Toronto Globe and Mail: „This is one of the most gripping pieces of eligiac composition in the history of music.“
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Werner Hanak
1948, als das Santa Monica Symphony Orchestra das Werk unter der Leitung von Jaques Rachmilovich in Zeisls neuer Heimatstadt Los Angeles herausbringt, erscheint unter anderen eine ungewöhnlich kritische, geradezu gehässige Kritik (von Alfred Price Quinn) im B’nai B’rith Messenger: „Composers of Zeisls calibre grow in Vienna like bananas [...]. That is to say they come in bunches. This requiem is not especially significant.“
Zeisl war über diese Kritik sicherlich weder erfreut noch erhaben, aber er hatte sich zu dieser Zeit schon wieder künstlerisch so weit gefangen, um diese Worte zu verkraften, insbesondere da negative Kritiken etwas sehr seltenes in seiner Laufbahn waren. Dennoch sind diese Zeilen nicht unwichtig, denn sie transportieren eine nicht untypische Sicht auf das Werk von Exilanten, die von beiden Seiten des Atlantiks stammen könnte. Das Vorurteil, daß Komponisten in Wien wie Bananen wachsen und wie auf Stauden „daherkommen“, und deshalb keine Beachtung verdienen, entspringt zwar einem amerikanisch-kalifornischen Sprachwitz, die dahinter stehende Einstellung könnte aber auch durchaus aus Wien stammen. Die große Zahl der aus Wien vertriebenen Komponisten wurde nur zu oft von ihrer Umgebung, wo immer diese sich aufhielten, vernachlässigt. Im Exilland stellten sie beim Ankommen eine Konkurrenz für die dortigen Musiker dar. Sollten sie es nach 1945 „wagen“, nach Österreich zurückzukehren, wurden sie von den zu Hause gebliebenen kühl auf Distanz gehalten. Der Fall Zeisl zeigt, wie sehr das Exil dazu beigetragen hat, die österreichischen Komponisten auf unserer Seite des Atlantiks zu vergessen. Dies gilt sicher in einem geringeren Maße für die Komponisten der Wiener Schule, die in ihrer Besonderheit Zeitgleiches aus Wien in den Schatten stellen. Für all die anderen aber werden noch anstrengende Forschungen notwendig sein, wenn wir herausfinden wollen, welche von ihnen Werke von hoher Qualität geschaffen haben.
Abbildung 3: Erich Zeisl, ca. 1952.
Notizen zum Komponisten Erich Zeisl
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In Kalifornien, wo der Nachlaß Zeisls im Archiv der University of California, Los Angeles, liegt, ist Zeisl heute kein Vergessener. Mit dem Ende des Krieges bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1959 kann er mit zunehmendem Alter reüssieren. Er profitiert zuerst von der amerikanischen Bildungsexplosion der Nachkriegszeit, die durch die Regelung der GI Bill hervorgerufenen wurde. 1946 erhält er eine Stelle als Lehrbeauftragter an der Southern California School of Music and Arts. 1949 wechselt er dann an das renommiertere Los Angeles City-College, wo er einen qualitätsvollen Kompositions- und Theoriestundenplan etablieren kann. Zum ersten Mal können er und seine Familie auf einer gesicherten finanziellen Basis leben. 1948 wird er erstmals als „composer in residence“ in das Brandeis Camp Institute California eingeladen, wo er über den Sommer, abgeschieden von den Sorgen des Alltags, komponieren kann. Mit Hilfe dieses jährlichen Stipendiums gelingt es ihm, bis zu seinem Tod im Jahre 1959, unabhängig von seiner Verfassung, ein großes Werk pro Jahr zu komponieren. In seinen letzten Lebensjahren wird er in den USA als einer der wichtigen lebenden Komponisten anerkannt, auch wenn ab 1950 die amerikanische Musikkritik das Interesse des Publikums mehr und mehr auf die bereits in den USA geborenen Komponisten lenkt und den Gegensatz zu den Immigranten aus Europa wieder stärker hervorhebt. So etwa Albert Goldberg: „Die Musikproduzenten haben uns in dieser Saison verfehlt, indem sie zu wenig amerikanische Werke ans Licht brachten. Es ist jetzt vielleicht nötig, eine Warnung von sich zu geben, falls wir wieder dazu tendieren, abhängig von den Europäern zu werden und dabei unsere eigenen, nationalen Erfindungskräfte zu vernachlässigen.“ 9
Diese Strömung, die am Beginn der fünfziger Jahre einsetzt, hat es Zeisl nicht erleichtert, ein wichtiges Ziel, nämlich einen der ganz großen zeitgenössischen Dirigenten zu einer Produktion zu überreden, zu erreichen. Aber für ihn bleibt noch ein zweites Ziel unerreicht. Trotz großer Anstrengungen in seinen letzten Lebensjahren bleibt seine Ende der dreißiger Jahre mit Hans Kafka begonnene Oper Hiob unvollendet. Lesen wir den Hiob von Josef Roth genau, so erkennen wir in der Geschichte einige Analogien mit Zeisls eigener Biographie. Diese Analogien sind zwar zufällig, aber nicht unerheblich, denn durch sie hat der Hiob-Stoff für den jungen Komponisten zuerst einmal an Attraktivität gewonnen. Da ist zum einen die Figur des kranken, behinderten Sohnes Menuchim, der von der Mutter umsorgt ein klägliches Leben fristet. Als sich die Familie entscheidet, das russische Zuchnow zu verlassen und nach Amerika auszuwandern, bleibt Menuchim bei einer Familie im Ort zurück. Wie durch ein Wunder taucht dieser Menuchim aber am Ende der Geschichte in New York wieder auf. Er ist nicht nur ein Virtuose und Kapellmeister, er ist auch ein großer Komponist. Nichts ist mehr von seiner Behinderung zu sehen. Im Gegenteil: Aus ihm ist „ein schöner, junger Mann“ geworden, der seinen Vater Mendel Singer in New York aufsucht. 9
Albert Goldberg, The sounding Board, in: The Los Angeles Times vom 18. Dezember 1949.
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Abbildung 4: Eric Zeisl, Menuhim’s Song aus der Oper Hiob (Job).
Notizen zum Komponisten Erich Zeisl
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Wenn wir bedenken, daß Zeisl den Roth-Text erstmals in Paris bearbeitet hat, nachdem er seine nervösen Jugendjahre und seine für ihn schreckliche Kindheit endgültig zurückgelassen hatte, so erscheint es durchaus nachvollziehbar, daß die Lektüre für ihn ein Ansporn für eine Zukunft in Amerika, insbesondere in New York, gewesen sein muß. Hinzu kam, und das wirkte möglicherweise hemmend für einen gelösten und kreativen Umgang mit dem Stoff, daß sich Zeisl mit Fortdauer auch immer wieder an die Figur des Mendel Singer selbst, den im Roman das Schicksal des Hiob ereilt, erinnert fühlen mußte. Schon in Österreich war er immer wieder vom „Pech“ verfolgt. Karrieresprünge standen knapp bevor, und immer wieder machten ihm, 1933 und 1938, die Machtergreifungen der Nationalsozialisten zuerst in Deutschland und dann in Österreich einen Strich durch die Rechnung. Wirklich problematisch wurde es aber für Zeisl in New York und Los Angeles, wo er keine Anerkennung fand und von Monat zu Monat in eine immer tiefere künstlerische Krise schlitterte. Neben diversen praktischen Gründen, die es ihm unmöglich machten, das große Werk Hiob abzuschließen (so konnte auch Kafka, der mit Zeisl eng befreundet war, jedoch selbst mit existentiellen Problemen zu kämpfen hatte, das Libretto bis 1958 nicht fertigstellen), kam vielleicht die Unentschiedenheit erschwerend dazu, ob er selbst ein glückliches oder unglückliches Leben führte, ob er es in seiner Jugend besser oder schlechter gehabt habe als in seiner neuen Heimat Los Angeles. Vielleicht konnte er sich selbst nicht zwischen Menuchim oder Mendel entscheiden, und vielleicht hätte er in diesem Punkt aber eine Entschiedenheit gebraucht, um den Hiob, dieses große Opernwerk, abzuschließen.
Abbildung 5: Menuhim’s Song, Titelblatt.
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In Wien beginnt man in diesen Jahren, Erich Zeisl neu zu entdecken. Zwar haben der Bundesverlag und auch der Verlag Doblinger noch in der Nachkriegszeit vereinzelt Werke herausgebracht, und Hilde Spiel hat immer wieder an Zeisl erinnert. Seine Musik hat aber erst in den letzten Jahren nach Wien zurückgefunden. Hier ist dies einzelnen Initiativen, insbesondere dem Verein Orpheus Trust, zu verdanken, der sich der Musik vertriebener Künstler annimmt. Es bleibt letztlich die Frage, wann Erich Zeisls Musik nicht mehr vorrangig als Werk eines vertriebenen Komponisten, sondern als das eines Komponisten aus Wien wieder regelmäßig in Wiener Konzertsälen zu hören ist.
MARCUS G. PATKA (Wien)
Ernst Römer Die erstaunliche Karriere eines Schönberg-Verehrers im mexikanischen Exil Am 29. April 1948 schrieb der in Mexico City lebende Dirigent und Komponist Ernst Römer an Arnold Schönberg in Kalifornien: Verehrter Meister! Nachdem ich vor einiger Zeit von meinem lieben Freunde [Hans] Lert hörte, dass er mit Ihnen, resp. mit Ihrer Frau, gesprochen, und erfahren, dass es noch sehr zweifelhaft wäre, ob Sie den Antrag, nach Mexico zu kommen, annehmen würden…. teilt man mir eben mit, (der Bruder eines gewissen Neumann) dass Sie, verehrter Meister, sich doch entschlossen haben, hierher zu kommen. Wäre dies wahr, es wäre für uns Alle eine riesige Freude, und eine grosse, grosse Ehre.... Aber auch Ihnen würde es hier gefallen, denn es ist ein wunderbares Land, dieses Mexico. (trotz Korruption, Unzuverlässigkeit und ein bisschen Schmutz). – Das Klima ist prachtvoll und sollte einem wirklich die Höhe auf die Dauer nicht gut tun (was wir keiner hier glauben), so setzt man sich in den Wagen und ist in etwas mehr, als einer Stunde in halbtropischer Tiefe, in dem herrlichen Cuernavaca und will man Termal-Quellen, (Schwefel, Eisen, Radium etc.) in etwas mehr, als zwei Stunden ist man in Cuatla oder in San-JoséPorua (da sitzt ein Koch aus dem Hotel de France aus Wien)…. Als Dolmetsch und als Proben-Assistent stelle ich mich Ihnen herzlich gerne zur Verfügung. – Ich arbeite, das heisst, ich dirigiere hier in der grössten RadioStation und schrieb auch des öfteren schon Musik für den Film…. (Habe bei Guido Adler Musikgeschichte studiert und war mir der „Schönberg“-Kreis nicht fremd. (Meines Vetters, Dr. Rudolf Réti werden Sie sich wohl erinnern)… Mein Haus, über das Freund Lert Ihnen sicherlich berichtete, steht Ihnen und Ihrer lieben Frau selbstverständlich zur Verfügung. Wiederholend, dass wir uns auf Sie schon alle sehr freuen, bin ich mit den besten Grüssen Ihr ergebener Ernst Roemer 1
So sehr Ernst Römer den betagten, seit seinem Herzinfarkt vom August 1946 kränkelnden und inzwischen 74-jährigen Arnold Schönberg auch nach Mexiko locken wollte – es sollte ihm nicht gelingen. Zwar dankte Schönberg in seinem 1
Brief von „Ernst Roemer“ an Arnold Schönberg vom 29. April 1948 (Arnold Schönberg Center [ASC], Wien), Abb. S. 520. Der Briefkopf lautet (hingegen): „Dr. Ernesto Roemer / Mexico D. F., Colonia del Valle / Concepción Beistegui 106.
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Brief vom 6. Mai 1948 für die Einladung2, doch die zentrale Frage des um seine materielle Existenz Ringenden war die nach dem Honorar. Die Reise nach Mexiko würde ihn zehn Tage seiner Arbeitszeit kosten, die er für den Unterricht und die Herausgabe seiner Bücher eingeplant habe. Außerdem erkundigte er sich nach den
Abbildung 1: Ernst Römer 1945 in Mexiko (Sammlung Marcus G. Patka).
Vorbereitungen für die Proben, die der spanische Komponist Rudolfo Halffter leiten sollte. Doch am 10. Juni 1948 mußte Ernst Römer das Scheitern des Projektes bekennen: Sehr verehrter Meister! Ich hätte schon lange Ihnen geantwortet, wenn es mir möglich gewesen wäre, Herrn Halfter [!] eher zu erreichen. Aber dieser Herr ist entweder sehr, sehr beschäftigt, oder von Mexico abwesend oder krank… Aber gestern habe ich endlich eine Unterredung mit ihm gehabt. Und da teilte er mir mit, dass Maestro [Carlos] Chavez, der Ihnen im Beginn dieses Jahres die Einladung zukommen liess, ein Konzert hier zu dirigieren (Gage: 1500 Dollar, wie er mir sagte) und der über alle finanziellen Fragen der öffentlichen Konzerte zu entscheiden hat, jetzt erklärt hätte, keine Gelder mehr für ausser-tourliche Konzerte zu haben und dass man daher den „Schönberg-Abend“ auf nächste Saison verschieben müsse. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, verehrter Meister, wie tief wir alle daran interessierten Kreise dies bedauern. Es wäre für Alle von uns ein grosses Erlebnis gewesen, Ihre Werke unter Ihrer Leitung hier zu hören und mit Ihnen persönlich beisammen sein zu dürfen. Herr Halfter wird Ihnen, wie er mir sagte, selbst auch schreiben. 2
Brief von Arnold Schönberg an Ernesto Roemer vom 6. Mai 1948 (ASC, Wien).
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Ernst Römer
Hoffend, dass diese Zeilen Sie bei bestem Wohlbefinden antreffen und dass wir in absehbarer Zeit doch die grosse Freude haben werden, Sie hier zu haben, verbleibe ich mit dem Ausdruck meiner tiefen Verehrung Ihr ergebener Ernest[o] Roemer3
Seit seiner Ankunft in Mexiko im Jahr 1938 hatte Ernst Römer versucht, in seiner neuen Heimat das Werk von Schönberg zu popularisieren. Während des Krieges konnten Erfolge erzielt werden, von denen noch zu berichten sein wird. Die geistige Enge der Nachkriegszeit dürfte aber auch Mexiko erfaßt haben, wodurch die einmalige Gelegenheit dieses Besuches am finanziellen Kleinmut der Behörden scheiterte. Doch kommen wir zurück zu Ernst Römer, der am 21. März 1948 in einem vorbereitenden Brief an Hans Lert angeboten hatte, Schönberg als Gast in seinem Haus aufzunehmen und gleichzeitig eingestand: „Ich weiß nicht, ob er sich meiner aus Wien noch erinnert.“4 Zwar wird Ernst Römer in einschlägigen Lexika als Schönberg-Schüler genannt, doch die näheren Umstände ihrer Begegnung in Wien oder Mödling lassen sich nicht auf Jahr und Monat genau feststellen. Der Sohn des jüdischen Kaufmanns Max Rosenfeld und seiner Frau Hedwig, geborene Gellner, kam am 28. September 1893 in Wien zur Welt. Er drückte die Schulbänke des Maximilian-Gymnasiums in Wien-Alsergrund und des Gymnasiums von Hietzing, wo er im Juli 1912 maturierte. Nach ein oder zwei Semestern Medizin wandte sich der junge Ernst Rosenfeld voll Begeisterung dem Studium der Musikwissenschaft zu. Sein wichtigster Mentor war Guido Adler, der Begründer der „Wiener Schule“ der Musikwissenschaft, außerdem hörte Ernst Rosenfeld die Vorlesungen der Professoren Wallaschek, Lach, Dietz, Reich, Redlich, Fischer und die des jungen Egon Wellesz. Das Studium wurde erweitert durch die Ausbildung zum Dirigenten bei Felix Weingartner, auch die Kontakte zum Schönberg-Kreis dürften in diese Zeit fallen. Nach unterschiedlichen Quellen soll Rosenfeld [Römer] Komposition auch bei Franz Schreker und Egon Kornauth studiert haben. Dann kam der große Krieg, der den Studenten für vier Jahre von Wien fernhielt. Wo er stationiert war und welchen militärischen Rang er bekleidete, ließ sich nicht eruieren. Zurück im Wien der Nachkriegszeit, nahm Rosenfeld [Römer] seine Studien wieder auf und suchte unter dem Künstlerpseudonym Ernst Römer seinen Beitrag zur Gestaltung einer neuen Kunst zu leisten. Sein einziges nachweisbares Konzert in Wien fand am 1. Juni 1919 im Schubert-Saal statt, als Organisator trat eine kurzlebige Künstlervereinigung mit Namen „Literarisch-Musikalischer Bund“ in Erscheinung. Am Klavier begleiteten Ernst Römer und Poldy Sperling den Gesang Marianne Dubskys, eine Lesung von Ludwig Donath ergänzte das Programm, das aus Werken von Gluck, Reger, Rachmaninow, Pfitzner, Richard Strauss, Robert Schumann, Hugo Wolf, Emil von Sauer und Eugenio Pirani bestand. Hinzu kamen 3 4
Brief von Ernst Römer an Arnold Schönberg vom 10. Juni 1948 (ASC, Wien). Brief von Ernst Römer an Hans Lert vom 21. März 1948 (ASC, Wien), Abb. S. 519.
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die von Römer komponierten Lieder Traumland nach einem Gedicht von Wilhelm Wiegand, Helle Nacht nach Verlaine sowie Das war der Tag der Weißen Chrysanthemen und Gettolied, vermutlich nach eigenen Texten.5 Nicht zuletzt durch seine Heirat mit Irma Buchwald mußte er sich nach Verdienstmöglichkeiten umsehen, wodurch sich sein musikalischer Lebensweg hin zur leichteren Muse entwickelte. Engagements als Kapellmeister führten ihn um 1920 nach Olmütz, Stettin und ans Züricher Stadttheater, erst im Februar 1921 konnten die Studien bei Guido Adler mit einer Dissertation über Johann Baptist Schenk als Opernkomponist abgeschlossen werden.6 Nur bis hierher läßt sich Ernst Römers Lebensweg ausführlich belegen, über die Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre ist nur wenig bekannt. Im Jahr 1922 erfolgte die erste Übersiedlung nach Berlin, wo eine großartige Karriere mit Unterbrechungen begann. Als Dirigenten für Operetten engagierte ihn das Große Schauspielhaus, Teresina mit Fritzi Massary und Mikado mit Max Pallenberg waren die größten Erfolge. Im Staatstheater kamen Berliner Possen mit Lucie Mannheim zur Aufführung, für die Schallplatten-Firma „Odeon“ entstanden Aufnahmen mit Richard Tauber, Lotte Lehmann und Vera Schwarz. Die jeweils ersten fünf Monate der Jahre 1924 und 1928 war Ernst Römer jedoch wieder in Wien gemeldet7, es ist anzunehmen, daß diese Aufenthalte zwischen und nach diesen beiden Engagements gelegen waren. Mit der dritten Übersiedlung nach Berlin im Mai 1928 avancierte Ernst Römer zum Direktor der Komischen Oper. In dieser Zeit entstanden seine burleske Oper Das blaue Hemd und die Kantate für Sopran und Chor Endymion. Die „Machtergreifung“ Adolf Hitlers setzte dem ein plötzliches Ende, als einziger Ausweg blieb der Rückzug nach Wien. Dieser dürfte insbesondere für Irma Römer überaus turbulent gewesen sein, denn am 16. August 1933 brachte sie ihren Sohn Oskar Friedrich zur Welt; eine neue Wohnung in Wien fanden sie erst im Mai 1934. Was Ernst Römer im Ständestaat erlebte, wie seine politische Orientierung und berufliche Situation dieser Jahre sich gestaltete, auch dafür fehlt es an Zeugnissen. Aufgrund seines Judentums war er aus Berlin geflohen, doch auch in Wien dürfte dieses eine Tätigkeit in leitender Position verhindert haben, eine als privater Musiklehrer bleibt wahrscheinlicher. Im Jahr 1938 hatte Ernst Römer das große Glück, daß Freunde die Kunde seines Könnens über den Ozean ins ferne Mexiko getragen und seine offizielle Einladung arrangiert hatten, anders läßt sich seine sofortige Erlangung der mexikanischen Staatsbürgerschaft nicht erklären. Bereits Anfang der dreißiger Jahre hatten der österreichische Geiger Franz Steiner und der deutsche Opernregisseur Wilhelm von Wymetal den Verein der Freunde der mexikanischen Oper gegründet, an dem sich auch Julián Carrillo beteiligte. (Dieser mexikanische Komponist hatte in Bay5 6 7
Wiener Konzerthaus, Archiv-Datenbank. Rigorosumsakt Nr. 4981 vom 24. Februar 1921, Z 488 (Archiv der Universität Wien). Meldearchiv im Wiener Stadt- und Landesarchiv.
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reuth und München studiert und gilt als Schöpfer der „13-Ton-Musik“, für die er sich in Deutschland spezielle Klaviere bauen ließ.) Steiner hätte Römer schon gerne früher nach Mexiko geholt, nach dem „Anschluß“ rettete sich die Familie mit einer offiziellen Einladung Mexikos über die Schweiz, Frankreich und Kuba, im Juni 1938 lief ihr Schiff im Hafen von Veracruz ein. Schon eine Woche später war Ernst Römer mexikanischer Staatsbürger und avancierte zum Star der Saison. Es ist reichlich makaber und paradox, doch während in den Straßen Wiens die jüdischen Mitbürger gedemütigt und mißhandelt, ihre Geschäfte geplündert und ihre Wohnungen geraubt, ihre Synagogen geschändet und zerstört wurden, begann Ernst Römer seine zweite Karriere mit dem Inbegriff von Wiener Gemütlichkeit: An die fünfundsiebzigmal dirigierte er im Jahr des „Anschluß“ an der mexikanischen Oper im Palacio de Bellas Artes, einem prunkvollen Jugendstil-Bau im Stadtzentrum, eine Operette, und zwar Die Fledermaus. Parallel dazu fand Römer eine Anstellung im Staatlichen Konservatorium und beim Rundfunk. Es muß jedoch betont werden, daß diese Blitzkarriere im Exil die Ausnahme von der Regel war und nur wenigen Spitzenmusikern vergönnt. Schriftsteller und Publizisten hatten mit Sprachbarrieren zu kämpfen, aus rassistischen und politischen Gründen verfolgte Handwerker oder Angehörige anderer Berufe erhielten in vielen Ländern des Exils keine Arbeitserlaubnis.
Abbildung 2: Zeichnung von Emil Orlik in der Exilzeitschrift Demokratische Post (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes).
Die Situation in Mexiko war jedoch eine besondere. Als einziges Land der Welt hatte es am 19. März 1938 beim Völkerbund in Genf eine diplomatische Protestnote gegen den „Anschluß“ Österreichs an Hitler-Deutschland eingebracht, erst da-
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nach unterzeichneten auch andere Länder. Sie war das Werk des VölkerbundDelegierten Isidro Fabela und des mexikanischen Präsidenten Lazaro Cárdenas. Während fast ganz Lateinamerika in den dreißiger Jahren mit dem Faschismus sympathisierte, kam es in Mexiko in der Ära Cárdenas von 1934 bis 1940 zu einer Periode der inneren Reformen und der außenpolitischen Solidarität. Doch die Bildungsoffensive im ländlichen Raum stieß auf den aggressiven Widerstand der Kirche, die Bodenreform auf jenen der Großgrundbesitzer, nur die Enteignung der US-amerikanischen und englischen Ölfirmen konnte als bleibender Erfolg verbucht werden. Diese erfolgte kurioserweise am 18. März 1938, also zum selben Zeitpunkt wie der Protest gegen den „Anschluß“, was diesen noch zusätzlich aufwertet, da er in einem Moment größter innenpolitischer Anspannung zustandekam. Um vor aller Welt die Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu demonstrieren, mit der zu diesem Zeitpunkt nicht einmal diplomatische Beziehungen bestanden, hatte Lazaro Cárdenas schon 1937 Leo Trotzki Asyl gewährt, der dann drei Jahre später vom „langen Arm“ Stalins erschlagen wurde. Die Spanische Republik hatte ihren treuesten Verbündeten im Kampf gegen General Franco ebenfalls in Mexiko, das nach der Niederlage der Republikaner an die 40.000 vertriebene Spanier aufnahm. In ihrem Sog kamen zwischen 1938 und Mitte 1942 mit Unterstützung der mexikanischen Gewerkschaften um Vicente Lombardo Toledano einige deutsche und österreichische Exilanten ins Land. Der jüdischen Massenemigration stand Mexiko vergleichsweise reserviert gegenüber, hier wurden keine offiziellen Hilfsleistungen angeboten, die stattdessen von zahlreichen jüdischen Vereinen aufgebracht wurden. Andererseits wurden aber zahlreiche Arbeitsbewilligungen erteilt. Besonders leicht hatten es tatsächlich die Protagonisten von Wiener Küche und Wiener Walzer-Musik, was nicht zuletzt ein spätes Erbe der kurzen Regentschaft Kaiser Maximilians von Habsburg darstellte. Andererseits hatte Präsident Cárdenas im Zuge seiner Bildungsoffensive etliche Gelehrte und Fachleute aus aller Welt ins Land gerufen, um an dessen Universitäten zu unterrichten. Als Hanns Eisler im März 1939 aus den USA ausgewiesen werden sollte, wurde er dank der Vermittlung des Komponisten Silvestre Revueltas eingeladen, am Staatlichen Konservatorium von Mexiko zu unterrichten. Dies und ein weiterer Besuch Eislers in Mexiko im Winter 1940 blieben Intermezzi. Ganz im Gegensatz zum Exil von Ernst Römer, auf den keine Aufgaben in Hollywood warteten. Auch Silvestre Revueltas könnte eine Rolle bei der Verpflichtung Ernst Römers gespielt haben. Andererseits soll nach einer Auskunft von Oskar Friedrich Römer Präsident Cárdenas den muralistischen Maler Diego Rivera nach Veracruz geschickt haben, um die Familie Römer abzuholen, wovon diese aber keine Ahnung hatte. Außerdem soll der große Mäzen im Hintergrund ein Herr Ascaraga gewesen sein.8 Wie auch immer, dank seines geregelten Einkommens konnte sich die Familie 8
Autobiographischer Bericht von Oscar Federico Roemer (Österreichische Exilbibliothek im Literaturhaus Wien).
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Römer eine kleine Villa in der Calle Beistegui 106 mieten, die sich schnell zu einem Ort der Begegnung und einem Anlaufpunkt für alle neu ins Land kommenden Künstler des Exils entwickelte. Der österreichische Publizist Bruno Frei erinnerte sich in seinen Memoiren: „Im allgemeinen wird im Bett geträumt; in Mexiko versammelte man sich zum Zwecke des gemeinsamen Träumens um einen Tisch. Die Dame des Hauses, eine Wienerin, dachte gewiß nicht an die berühmten Salons der Literaturgeschichte, als sie die merkwürdigen Gesellen bei sich empfing, die, fast ohne Geld in der Tasche und ganz ohne solches auf irgendeinem Konto, den Kopf so hoch trugen, als wären sie regierende Minister oder zumindest stellvertretende. Im Hause des Dirigenten R.[ömer] verkehrten Ärzte, Kaufleute, Fabrikanten, die sich in Mexiko angesiedelt hatten, nachdem sie als Juden aus dem Land, wo sie geboren wurden und wo ihre Väter begraben sind, vertrieben worden waren. An der Tafel bei R. konnten die allerkühnsten Träume geträumt werden, ohne daß jemand Anstoß daran genommen hätte. Das Gefühl ist offenbar fähig, die merkwürdigsten Transformationen zu bewerkstelligen: Liebe kann sich in Haß verwandeln, hier verwandelte sich Abscheu gegen Deutschland in Sympathie für Habenichtse, die sich berufen fühlten, Deutschland zu reinigen.“9
Abbildung 3: Egon Erwin Kisch bei einer Ansprache im Heinrich-Heine-Klub, um 1944 (Sammlung Fritz Pohle, Photo aus Tiempo).
Das Haus der Familie Römer wurde somit zur Keimzelle von einer annähernd einzigartigen Koalition der Exilgeschichte: auf der einen Seite standen die Mitglie9
Bruno Frei, Der Papiersäbel, Frankfurt a. M. 1972, S. 242f.
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der der jüdischen Massenemigration, die erwähnten Ärzte und Geschäftsleute, sowie vereinzelte Mitglieder der bereits um 1905 auf der Flucht vor Pogromen aus Osteuropa eingewanderten jiddischen Kolonie von Mexico City. Auf der anderen Seite standen eine Handvoll deutschsprachiger kommunistischer Intellektueller jüdischer Herkunft. Letztere waren Atheisten, doch die aus der Ferne erlebte Shoah ließ in ihnen große Anteilnahme am Schicksal Israels erwachsen, was in der langen, unglückseligen Geschichte ihrer Partei ein Einzelfall bleiben sollte. Zu nennen sind hier die aus Mainz stammende Schriftstellerin Anna Seghers, aber auch drei Altösterreicher: Egon Erwin Kisch, Schriftsteller und „rasender Reporter“, Dr. Leo Katz, Journalist, Judaist, Historiker und Schriftsteller, zugleich ein KominternFunktionär, der täglich in der Bibel las. Der dritte war Otto Katz, ein umtriebiger Journalist und Komintern-Funktionär, zugleich die „graue Eminenz“ der ExilSzene in Mexiko.10 Gemeinsam war den beiden ungleichen jüdischen Gruppen das Bedürfnis nach deutschsprachiger Kulturpflege, sodaß die im literarisch-musikalischen Salon von Ernst und Irma Römer geschmiedeten Pläne am 7. November 1941 zur Gründung des Heinrich-Heine-Klubs führten. In der kurz danach erschienenen ersten Nummer der Zeitschrift Freies Deutschland wurde dies in Form einer Annonce bekanntgegeben, nähere Auskünfte seien zu erhalten bei – Ernst Römer11, der durch seine allseits beliebte Persönlichkeit zu einem wichtigen Bindeglied wurde. Anna Seghers wurde zur Präsidentin ernannt, ihre Stellvertreter waren Ernst Römer und der ebenfalls aus Wien stammende zionistisch inspirierte Laryngologe Dr. Leo Deutsch. Es wären an dieser Stelle noch die Namen vieler anderer Exilanten zu nennen, die durch ihre Vorträge oder ihr Mitwirken an den Theateraufführungen
Abbildung 4: Der Pianist Egon Neumann (Sammlung Marcus G. Patka). 10
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Siehe dazu: Marcus G. Patka, Zu nahe der Sonne. Deutschsprachige Schriftsteller im mexikanischen Exil, Berlin 1999. Österreicher im Exil. Mexiko 1938–1947, hrsg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, bearbeitet von Christian Kloyber und Marcus G. Patka, Wien 2002. Der Heinrich Heine-Club in Mexico, in: Freies Deutschland 1, 1 (1941), S. 30.
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zum Erblühen des Heine-Klubs in den langen Jahren des Zweiten Weltkrieges beitrugen, doch beschränken wir uns auf die Musiker: Einen großen Namen als Theaterkapellmeister und Komponist für Operette, Kabarett und Film hatte sich Oscar Straus gemacht. Seine Ankunft in Mexiko im Mai 1942 wurde groß gefeiert, doch am Musikleben der Exilanten beteiligte er sich nur sporadisch. Erfolge feierte er u. a. im Radio mit österreichischer Marschmusik als Dirigent des Orchesters des Marine-Ministeriums, der Banda de la Marina. Ebenfalls der leichten Muse zugetan war Dr. Egon Neumann aus Mödling, über Johann Strauß hatte er dissertiert und anschließend unter anderem für Revue-Programme von Fritz Grünbaum und Karl Farkas komponiert. In Mexiko wurde er unermüdlicher Pianist für den HHK und die österreichische Exil-Organisation, die Accion Republicana Austriaca de México (ARAM). Deren Musikabende pflegten Klassiker wie Mozart, Beethoven, Schubert, Johann Strauß und gerade noch Hugo Wolf, zumeist waren sie aber von unterhaltsamer Stimmung mit Walzer- und Schrammel-Musik sowie Schlagern und Kabarett-Einlagen geprägt. Der bedeutende Komponist Dr. Marcel Rubin stammte zwar ebenfalls aus Wien, hatte aber nie dem Schönberg-Kreis angehört, sondern bei Darius Milhaud in Paris studiert. In Mexiko wirkte er als Chefkorrepetitor, Liedbegleiter und Dirigent an der Oper, doch seine große Leistung bestand in der Begründung und Leitung des „Freien Deutschen Chors“, in dem etliche Österreicher mitsangen. Außerdem gestaltete er zeitweise zweimal pro Woche das musikalische Programm für die von Bruno Frei geleitete österreichische Radiosendung Voz de Austria sowie für die Sendungen der Bewegung „Freies Deutschland“. Etliche von Rubins Kompositionen erlebten in Mexiko ihre Uraufführung, auch publizistisch entfaltete er eine rege Tätigkeit.12
Abbildung 5: Ausweiskarte von Marcel Rubin für die ARAM (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes).
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Zu Rubin siehe den Beitrag von Hartmut Krones in diesem Band, S. 521–550.
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Carl Alwin aus Königsberg war von 1920 bis 1938 Dirigent der Wiener Staatsoper gewesen. Ab 1941 wirkte er prägend auf die mexikanische Opernkultur, zudem als Lehrer am Konservatorium, als Komponist sowie als engagierter Unterstützer der ARAM. Auch für die jüdischen Organisationen „Menorah“ und „B’nai B’rith“ gestaltete er musikalische Programme. – Nach Mexiko verschlagen hatte es auch die Dermatologin und Schriftstellerin Marie Frischauf-Pappenheim, deren Monodram Erwartung im Jahr 1909 von Arnold Schönberg vertont worden war.
Abbildung 6: Carl Alwin; er starb 1945 in Mexiko (Dokumentationsarchiv des österr. Widerstandes).
In diesem Umfeld wurde Ernst Römer im Heinrich-Heine-Klub aktiv, bereits am 8. Jänner 1942 hielt er einen Vortrag zum Thema „Wie höre ich Musik?“. Den Vorsitz des Abends führte Egon Erwin Kisch, an der Diskussion beteiligte sich auch Paul Westheim, der renommierte Kunsthistoriker und frühe Förderer Oskar Kokoschkas. Eine Brücke zum Gastland schlug Ernst Römer am 23. Juli 1942 mit der künstlerischen Leitung eines Mexikanischen Volksliedabends, an dem seine Konservatoriums-Kollegen, die Professoren Nabor Hurtado und Maria Bonilla, die Sängerinnen Graciela Amador, Margarita Maris, Concha Michel und Isabel Villasenor sowie Marcel Rubins „Freier Deutscher Chor“ mitwirkten. Eine ähnliche Veranstaltung mit dem Titel „Volkslieder und Tänze Mexikos“ leitete Römer am 24. April 1944 mit Marcel Rubin und Prof. Nabor Hurtado, und zwar diesmal auf der Bühne: Millan und Concha Michel (Gesang), Manuel Romero Parra und Jesús Ramirez Deloya (Gitarre), Olga Falcón, Prof. Manuel Solis und Tochter (Tanz). Eine mexikanische Erstaufführung war die Inszenierung der Dreigroschenoper von Bert Brecht und Kurt Weill – Ernst Römer und Egon Neumann bewältigten die Partitur auf zwei Flügeln, begleitet von einer kleinen Jazz-Band. Das Bühnenbild
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stammte vom Maler Xavier Guerrero, der in den zwanziger Jahren am Berliner Theater am Schiffbauerdamm gearbeitet hatte.13 Abbildung 7: Marie Pappenheim (1882–1966) um 1944 mit Lisa Freistadt, der Tochter von Bruno Frei. Pappenheim schrieb 1909 das Libretto für Schönbergs Erwartung, sie arbeitete ihr Leben lang als Ärztin. 1928 gründete sie gemeinsam mit Wilhelm Reich die sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung, 1934 flüchtete sie nach Paris, 1940/41 war sie in Gurs interniert, dann lebte sie bis 1947 im mexikanischen Exil (Sammlung Marcus G. Patka).
Für ein Konzert mit programmatischer Bedeutung dirigierte Ernst Römer am 10. April 1943 das Philharmonische Orchester Mexikos im Palacio de Bellas Artes. Nach dem Vortrag von Leo Deutsch über „In Deutschland verbotene Musik“ kam Schönbergs Verklärte Nacht zu ihrer mexikanischen Erstaufführung, es rezitierte die österreichische Schauspielerin Luise Rooner. Außerdem wurden an diesem Abend die 5. Symphonie Mahlers sowie Lieder und Arien von Bizet, Delibes, Mendelssohn Bartholdy, Rimskij-Korsakow und Robert Fuchs, dem Lehrer Mahlers, zu Gehör gebracht.14 So groß der Erfolg dieses Konzertes auch war, es sollte das einzige seiner Art bleiben, außerdem fällt auf, daß alle Werke vor der Jahrhundertwende geschaffen und somit keine tatsächlich zeitgenössische Musik ins Programm aufgenommen wurden. Während Gustav Mahler oftmals gespielt und geradezu zur musikalischen Integrationsfigur der österreichischen Exil-Kolonie mutierte, war das Spätwerk von Schönberg meilenweit davon entfernt. Kulturpolitische Debatten der zwanziger Jahre zu wiederholen hätte das fragile Bündnis stark belastet. Ein Großteil des bürgerlichen Publikums war traditionell gegen alles „Neutönerische“, für 13
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Die Dreigroschenoper in Mexiko. Interview mit Steffie Spira und Ernst Römer, in: Demokratische Post, 1. Dezember 1943, S. 3. – Erstaufführung der Dreigroschenoper in Mexiko, in: Demokratische Post, 15. Dezember 1943, S. 3. – Mathias Brunhauser [d. i. Egon Erwin Kisch], Die Dreigroschenoper in Mexiko, in: Freies Deutschland 3, 2 (Jänner 1944), S. 29f. L[eo] Ch[rzanowski], Verboten in Deutschland – bejubelt in Mexiko, in: Freies Deutschland 2, 6 (Mai 1943), S. 30.
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die Kommunisten war atonale Musik politisch nicht verwendbar. Umso höher ist es Römer anzurechnen, daß er bis zur Einladung Schönbergs 1948 einen kleinen Hörer-Kreis um sich geschart hatte. Während des Krieges war es noch zu einer anderen mexikanischen Erstaufführung gekommen, wobei Römer die treibende Kraft gewesen sein dürfte: im Dezember 1944 dirigierte Jascha Horenstein den Pierrot Lunaire. Diese Feier zum 70. Geburtstag Schönbergs hatte der Heine-Klub zusammen mit dem PEN-Klub Mexikos organisiert. Marcel Rubin als Musik-Chefkritiker beginnt seine Rezension zwar mit einer sachkundigen Einleitung zur Genese der atonalen Musik, doch im Anschluß heißt es: „Viele Komponisten unserer Zeit sind nicht Schönbergs einsamen Weg gegangen. Die neue Gesellschaft, die sich aus der Freiheitsfront dieses Krieges entwickelt, wird wieder eine verbrüdernde, weithin wirkende Musik hervorbringen, so wie auf dem Boden der französischen Revolution die Zauberflöte und die Neunte Symphonie gewachsen sind. Doch gibt es kaum einen jungen Komponisten, der von Schönberg nicht eines gelernt hat: Mut und technisches Rüstzeug, um die Wirklichkeit mit den ihr entsprechenden Mitteln, wenn es sein muß mit revolutionären Mitteln, auszudrücken.“15
Es bleibt hinzuzufügen, daß Marcel Rubin bereits im Vorfeld des Konzertes, im Oktober 1944, einen Vortrag über Schönberg in der Radiosendung Voz de Austria gehalten hatte,16 der in späteren Jahren vielfach Überarbeitung fand. Einen weiteren Vortrag hielt im September 1945 ein gewisser Alfred Rosenzweig, was aber seine einzige nachweisbare Betätigung im Kreise der Exilanten blieb.
Abbildung 8: 1. Reihe sitzend (von links): Marcel Rubin, unbekannt, Erwin Rubin, Leo Katz; am Klavier mit dem Rücken zur Kamera: Marie Frischauf-Pappenheim. 2. Reihe: ganz rechts (?) Hilda Maddalena, spätere Rubin (Bildinhaber: DÖW). 15 16
Marcel Rubin, Arnold Schönberg. Zur mexikanischen Erstaufführung des „Pierrot Lunaire“, in: Demokratische Post, 31. Dezember 1944, S. 3. Ders., Arnold Schönberg, in: Austria Libre 3 (1944), S. 10.
Ernst Römer
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Kehren wir zurück zum unermüdlichen Ernst Römer: Bei etlichen Festveranstaltungen des Heine-Klubs gestaltete er das musikalische Programm und war als Pianist zu hören, als wichtigste ist die Feier zum 175. Geburtstag von Ludwig van Beethoven im Dezember 1945 anzuführen.17 Da Römer auch im Vorstand der ARAM vertreten war, half er vor allem in der Gründungsphase; so zeichnete er am
Abbildung 9: „Strauß-Nestroy-Abend“ der ARAM, Mexico City, 27. April 1944 (Stiftung Archiv der Akademie der Bildenden Künste, courtsey Thomas Ruschin).
12. März 1942 bei der „Gedenkveranstaltung zum 4. Jahrestag des Anschlusses“ für das musikalische Programm verantwortlich, doch auch bei den zahlreichen Gschnas-Festen der Exil-Österreicher trat er in Erscheinung. Sein prolongierter Erfolg im mexikanischen Musikleben ließ jedoch wenig Zeit für die ehrenamtliche Tätigkeit; u. a. trat Ernst Römer mit der Sopranistin Militza Korjus und dem Philharmonischen Orchester Mexikos im September 1942 eine Tournee durch die Provinzen Monterrey, Tampico, Torreon und Saltillo an. Neben seiner Tätigkeit am Konservatorium dirigierte er während des Krieges mehrmals pro Woche in verschiedenen Radio-Sendern. Im November 1944 gab auf Einladung des Gouverneurs von Mérida das dort soeben gegründete Symphonie-Orchester unter Römers Leitung sein ersten Konzert, im September 1945 nahm er ein Engagement zur Aufführung von Operetten im Teatro Parker an, im November 1946 ergab sich eine kleine Tournee nach Guatemala. Nichtsdestotrotz wurde Ernst Römer von seinen 17
Ders., Beethoven trotz Hindernissen. Zu den Konzerten Horensteins und Arraus, in: Demokratische Post, 15. Oktober 1944, S. 4.
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Freunden vielfach geehrt, die Bewegung „Freies Deutschland“ feierte mit Verspätung im Jänner 1944 seinen 50. Geburtstag mit einem Bankett, wobei Egon Erwin Kisch, Leo Deutsch und Alexander Abusch die Festreden hielten. Der Heine-Klub organisierte zusammen mit Radio Nacional im August 1944 ein „Konzert zum 25jährigen Dirigentenjubiläum von Ernst Römer“, der nach der Festrede von Leo Deutsch Werke von Liszt, Smetana, Offenbach, Donizetti und Johann Strauß dirigierte. Es sangen Evangelina Magana, Dorothy Lang, Dr. Alfonso Ortitz Tirado, Carlos Puig, Paco Sierra und Aramando Takatyan.18 Zu erwähnen ist auch die von Römer in Radio Gobiernacion geleitete Uraufführung des Concierto Romantico der jun-
Abbildungen 10, 11 und 12: Wiener Gschnasfest der ARAM vom 26. Februar 1944, Gran Festival Vienes vom 30. Juni 1945 sowie Wiener bunter Abend. Einladungskarten und Programme (Dokumentationsarchiv des österr. Widerstandes).
18
Ehrung für Dr. Ernst Römer, in: Demokratische Post, 1. Oktober 1944, S. 4.
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Abbildung 12
Abbildung 13: Die Komponistin und Pianistin Ruth Schönthal (1924–2006), deren Karriere im mexikanischen Exil begann (Sammlung Marcus G. Patka).
gen österreichischen, ebenfalls in Heine-Klub und ARAM mitwirkenden Komponistin Ruth Schönthal, die hierbei selbst am Flügel saß. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand für Ernst Römer und seine Familie eine Rückkehr nach Österreich wohl niemals wirklich zur Diskussion, zu groß war die Wertschätzung in der neuen Heimat Mexiko. Nichtsdestotrotz ließ er die Kontakte nie abreißen; so lotste er im August 1946 die Kammersänger Andreas Böhm
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und Max Lorenz von der Wiener Staatsoper im Zuge ihrer Amerika-Tournee zusammen mit Fritz Stiedry von der Metropolitan Opera nach Mexiko und gestaltete zusammen mit Bruni Falcon, Orelia Dominguez und Stella Contreras ein Programm im Andenken an die im KZ umgekommenen Österreicher. Die Litanei von Schubert bildete den Höhepunkt des Abends, wobei sich alle Anwesenden erhoben. Dieses Benefizkonzert wurde vom ehemaligen Häftling in Dachau Dr. Federico Elias präsidiert, die Spenden kamen dem Bund politisch Verfolgter (Österreichischer Bundesverband) zugute. 1956 gelangen Römer dank seines erfolgreichen Sponsorings unter seiner musikalischen Leitung Aufführungen von Mozarts Zauberflöte und Haydns Schöpfung. Einen Hugo-Wolf-Abend im Institudo Nacional de Bellas Artes und eine große GustavMahler-Feier, bei der die Gattin des mexikanischen Präsidenten den Ehrenschutz übernahm, brachte das Jahr 1960. Diese Tätigkeit als Kulturbotschafter und zahlreiche Hausmusikabende in der österreichischen Vertretung waren ausschlaggebend, daß ihm im Dezember 1960 von Bundespräsident Dr. Adolf Schärf eine Auszeichnung verliehen wurde. Römers Antwort verdient es, zitiert zu werden: In Ihrem Auftrag hat mir Herr Dr. Rudolf Baumann, Österreichs hochgeschätzter Botschafter in Mexico das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich überreicht. Als ich die Medaille in der Hand hielt, empfand ich – nach so vielen Jahren der Abwesenheit – wieder die wunderbare Nähe meiner alten Heimat. Es war mir, als wäre über den schauervollen Abgrund jener dunklen Jahre eine Brücke geschlagen und die Erinnerung an lichte, sonnige Wiener Jugend käme wieder zu mir.... Ich weiß, daß das Wort „danke“ auch nicht im entferntesten das ausdrückt, was in diesen Zeilen gefühlsmäßig mitschwingt, aber ich habe kein anderes zur Verfügung; darum nehmen sie es, bitte, so an, wie ich es in tiefster Dankesschuld Ihnen, hoch geehrter Herr Bundespräsident, gegenüber empfinde.19
Auch hier zeigt sich Ernst Römer als Sonderfall, denn Auszeichnungen dieser Art wurden um 1960 nur äußerst selten an Exil-Österreicher verliehen, zumal ein Großteil zutiefst verbittert mit der alten Heimat gebrochen und sich eine neue gesucht hatte. Nur wenigen war es wie Ernst Römer gelungen, sie auch im Exilland zu finden und darüber hinaus eine große pädagogische Aufgabe zu vollbringen. Es ist zudem ein seltener Fall in der Geschichte des Exils, daß dieses einen direkten Einfluß auf die Kultur des Gastlandes nehmen konnte, so wie es die österreichischen Musiker in Mexiko vollbrachten. – Vor seinem Tod im Jahr 1974 hatte Ernst Römer noch einmal seine Geburtsstadt Wien besucht. In seinem Unterricht am mexikanischen Konservatorium hatte er einen Schwerpunkt auf die österreichische Liedkultur gelegt, insbesondere auf Haydn, Mozart, Schubert, Wolf und Mahler. Es war Professor Leon Botstein aus New York, der 1997 bei einem Symposion in 19
Brief von Ernst Römer an Bundespräsident Adolf Schärf vom 9. März 1961 (Österreichisches Staatsarchiv, Präsidentschaftkanzlei 46515/61).
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Wien erzählte, daß noch in seiner Jugend, Ende der fünfziger Jahre, an diesem Konservatorium im fernen Mexiko vielfach Deutsch als Unterrichtssprache verwendet wurde.
Abbildung 14: Brief von Ernst Römer an Hans Lert vom 21. März 1948 (The Library of Congress, Washington); siehe S. 505.
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Abbildung 15: Brief von Ernst Römer [Dr. Ernesto Roemer] an Arnold Schönberg vom 29. April 1948 (The Library of Congress, Washington); siehe S. 503.
HARTMUT KRONES (Wien)
Marcel Rubin und das österreichische Exil in México In Marcel Rubin1 begegnen wir einem der wenigen österreichischen Komponisten, die in den Jahren der nationalsozialistischen Okkupation des Landes in die Emigration gehen mußten, dort beruflich Fuß fassen sowie große Erfolge feiern konnten und dennoch bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Grund hiefür war in erster Linie das überzeugte „Österreichertum“ des Komponisten, der sich trotz seiner Erfolge und teilweisen Akkulturation in dem ihm eigentlich fremden Land doch nicht vollständig eingewöhnen konnte: in México2, wohin Rubin sich im Frühjahr 1942 von Marseille aus per Schiff begab, um den auch in Frankreich nachrückenden deutschen Truppen endgültig zu entkommen. Marcel Rubin wurde am 7. Juli 1905 in Wien als Sohn eines hohen Finanzbeamten (Hofrat Dr. Erwin Rubin, 1869 Tarnow – 1947 Paris) und einer pianistisch begabten Mutter (Augustine Maschler, 1877 Krakau – 1910 Wien) geboren, erhielt in seinem Elternhaus (Stiefmutter wurde die Schwester der Mutter, Ludowika Maschler, 1875? Krakau – 1945 México) die ersten musikalischen Eindrücke und entschloß sich bereits im Alter von 13 Jahren, Komponist zu werden. Er setzte diese Absicht auch gegen den Widerstand des Vaters durch und besuchte noch während seiner Schulzeit (am humanistischen Gymnasium Wien IV., Rainergasse) den von Richard Stöhr geleiteten Lehrgang für Harmonielehre an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst, den er 1923 ebenso wie die Matura erfolgreich abschloß. Danach wurde er an der Akademie in die Kontrapunkt-Klasse von Franz Schmidt aufgenommen, die er zwei Jahre später mit „vorzüglich“ absolvierte, daneben studierte er dem Vater zuliebe an der Wiener Universität Jus. Im Herbst 1925 überlegte er, nach Berlin zu Franz Schreker zu wechseln, ging dann dann aber gemäß dem Rat von Egon Wellesz nach Paris, wo ihn Darius Milhaud als Privatschüler annahm, nachdem er ein vorgelegtes Werk – ein Streichquartett in drei Fugen – begutachtet und die gediegene kontrapunktische Arbeit bewundert hatte. In den folgenden sechs „französischen“ Jahren erhielt Rubin insbesondere auf den Gebieten der Melodik, der bi- und polytonalen Führungen, der Instrumentation 1 2
Zu Marcel Rubin siehe vor allem Hartmut Krones, marcel rubin (= Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts 22), Wien 1975 und Nachtrag Wien 1989. Die mexikanische Regierung (Präsident: Lázaro Cárdenas) brachte bereits am 19. März 1938 vor der Vollversammlung der „Völkerbundes“ in Genf durch ihren Delegierten Isidro Fabela (als einziges Land) offiziell eine (mit 18. März datierte) Protestnote gegen den „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich ein. „Die in Mexiko exilierten Österreicher [galten in der Folge] schon vor der Erteilung ihrer Aufenthaltsbewilligung an als politische Flüchtlinge“ und wurden zudem als „Österreicher“ geführt, obwohl es keinen österreichischen Staat mehr gab. Christian Kloyber, Österreichische Autoren im mexikanischen Exil 1938–1945, Geisteswissenschaftliche Diss., Wien 1987, S. 18f.
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und der klanglichen Valeurs entscheidende Anregungen und feierte zudem erste Erfolge mit seinen Kompositionen. Im Sommer 1931 kehrte Rubin nach Wien zurück, beendete dort sein Jus-Studium und promovierte 1933 zum Doktor juris. Im selben Jahr begann er als Rechtsanwalts-Konzipient zu arbeiten, daneben betätigte er sich erstmals als „MusikFunktionär“: Als (neben Friedrich Wildgans) Mitbegründer und Betreuer der Reihe „Musik der Gegenwart“ konfrontierte er die Wiener Öffentlichkeit mit den Schöpfungen der damaligen Avantgarde, und in seinen eigenen Werken entwickelte sich in jenen Jahren sein spezieller Personalstil, für den neben den bereits erwähnten Elementen noch eine Vorliebe für musikalische Pointen und Überraschungseffekte typisch wurde. Durch die Machtübernahme Hitlers in Deutschland wurde Rubin, obwohl er nie in diesem Land lebte, einer der ersten österreichischen „Opfer“ des Nationalsozialismus. Für die Saison 1933/34 hatte nämlich Jascha Horenstein, Generalmusikdirektor der Düsseldorfer Oper, seine erste Oper Prinzessin Brambilla3 (die Rubin später verwarf) auf den Spielplan gesetzt, doch mußte Horenstein 1933 aus rassischen Gründen emigrieren; und auch unser Komponist war den neuen Machthabern naturgemäß nicht genehm. – 1938 wurde dann ein zweites Werk Marcel Rubins zum Opfer Hitler-Deutschlands: Im Frühjahr jenes Jahres sollte Hermann Scherchen in Wien die Uraufführung seiner 2. Symphonie dirigieren, doch auch hiezu kam es nicht. Am 13. März 1938, dem Tag des „Anschlusses“, floh Marcel Rubin nach Paris, wo seine Schwester Olga (eine Malerin) seit einigen Jahren mit dem Musikwissenschaftler Marcel Beaufils verheiratet war; Vater und Stiefmutter folgten einige Monate später. Anfang September 1939 wurde Rubin dann als „feindlicher Ausländer“ für einige Wochen im Fußballstadion Colombes (im Freien!) interniert, dann überstellte man ihn ins Konzentrationslager Meslay-du-Maine, wo er ständig dem Druck ausgesetzt war, der Fremdenlegion beizutreten (und ein diesbezügliches Spottlied auf die Legion schrieb). Februar 1940 verlegte man ihn in das vom englischen Arbeitsdienst geführte „Verdächtigen-Lager“ Damigny in der Nähe von Rennes (Bretagne), wo er sowohl seine Lieder von unterwegs schrieb als auch Jura Soyfers DachauLied vertonte (das in der in Dachau selbst entstandenen Vertonung durch Herbert Zipper zu Weltruhm gelangen sollte).4 Mitte Juni 1940, kurz vor der Kapitulation Frankreichs, gaben die Engländer das Lager auf und ließen die Gefangenen frei, worauf sich Rubin nach Paris durch3
4
Zu ihr siehe Hartmut Krones, Frauengestalten in den Bühnenwerken von Marcel Rubin, in: Frauengestalten in der Oper des 19. und 20. Jahrhunderts. Symposion 2001, hrsg. von Carmen Ottner (= Studien zu Franz Schmidt XIV), Wien 2003, S. 273–285. Zu Rubins (und Zippers) Dachau-Lied siehe Hartmut Krones, Das „Dachau-Lied“: Jura Soyfer, Herbert Zipper und Marcel Rubin, in: Dramatik, „global towns“, Jura Soyfer, hrsg. von Herbert Arlt (= Österreichische und internationale Literaturprozesse 12), St. Ingbert 2000, S. 184–199, sowie ders., Jura Soyfers Dachau-Lied in seinen Vertonungen durch Herbert Zipper und Marcel Rubin, in: Komposition als Kommunikation. Zur Musik des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Constantin Floros, Friedrich Geiger und Thomas Schäfer (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 17), Frankfurt am Main 2000, S. 139–153.
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schlug. Seine Familie war inzwischen nach Marseille geflüchtet, wohin er ihnen schließlich im Herbst selbst folgen konnte. In Marseille trat er der Kommunistischen Partei Österreichs bei, der er dann bis 1969 angehörte, in welchem Jahr er – wie viele österreichische Linksintellektuelle – angesichts des kommunistischen Einmarsches in die Tschechoslowakei aus der Partei austrat. Damals zog Rubin auch alle politisch motivierten Kompositionen zurück: seine Lieder für die kommunistische Weltjugend, seine großen Chorkompositionen, die in hymnischer Art und Weise den Sowjet-Kommunismus als Retter vor dem Nationalsozialismus preisen, sowie seine zahlreichen Märsche und Marschlieder. Im Frühjahr 1942 gelang es Rubin, gemeinsam mit Vater und Stiefmutter nach México auszuwandern, wo er bald festen Fuß faßte und als Korrepetitor an der Oper von Mexico City sowie als Liedbegleiter und Dirigent tätig wurde. Daneben betreute er die Musik-Abteilung einer ständigen Österreich-Sendung im mexikanischen Rundfunk, war aber auch als Komponist erfolgreich. Trotz dieser äußeren Erfolge kehrte Rubin Februar 1947 zusammen mit seiner Frau Hilda, einer deutschen Emigrantin, die er in México geheiratet hatte, wieder nach Wien zurück (Hilda Rubin, geborene Eble, war die Witwe des ehemaligen deutschen kommunistischen Reichstagsabgeordneten Max Maddalena). In Wien nahm er bald das Angebot der kommunistischen Tageszeitung Die Volksstimme an, als ihr erster Musikkritiker zu arbeiten, und erlebte durch diese bis 1969 währende Tätigkeit das aktuelle Musikgeschehen Wiens an einflußreicher Stelle mit. Daneben war er von 1948 bis 1965 (ehrenamtlicher) Sekretär des Österreichischen Komponistenbundes, gründete 1948 zusammen mit einigen Kollegen die Österreichische Gesellschaft für Zeitgenössische Musik und hatte ab 1957 in der AKM, der staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger, diverse Funktionen inne, ehe er 1974–1978 als Präsident des Internationalen Komponistenrates der CISAC (der Dachorganisation der Verwertungsgesellschaften) sowie 1975-1984 als Präsident der AKM fungierte. Als Komponist trat er u. a. durch die Oper Kleider machen Leute, 10 Symphonien, 7 Konzerte, Kammermusik und Lieder hervor. Zahlreiche Preise und Ehrungen, darunter der Titel „Professor“, der Große Österreichische Staatspreis, das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, die Ehrenmedaille der Stadt Wien in Gold sowie die Ehrenmitgliedschaft bei der Gesellschaft der Musikfreunde, künden von der offiziellen Anerkennung seiner Kunst. Rubin starb am 12. Mai 1995 in Wien. Ankunft in México und frühe Aktivitäten (1942) „Mitte April 1942 erreichten mit dem portugiesischen Frachtschiff ,San Tomé‘ viele Flüchtlinge aus Europa den Hafen von Veracruz, darunter die aus Lagern
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Hartmut Krones
in Frankreich oder Nordafrika kommenden deutschen Kommunisten Martha Berg-André, Dr. Ernst Cohn, Hilda Maddalena [...].“5
Neben den von Wolfgang Kießling genannten „deutschen Kommunisten“ befand sich auch der österreichische Kommunist Marcel Rubin auf diesem Schiff, der hier seine spätere Frau Hilda Maddalena, geborene Eble (26. Juni 1898 Oberharmersbach bei Gengenbach – 1. Dezember 1994 Wien), kennenlernte. Sie war die Frau des von 1928 bis 1933 dem deutschen Reichstag als Abgeordneter angehörenden Max Maddalena, der als einer der Leiter der kommunistischen Untergrundorganisation 1935 verhaftet und 1937 zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden war; er kam am 23. Oktober 1943 im Zuchthaus Brandenburg um.6 Hilda Maddalena, die während des Prozesses gegen ihren Mann vom Elsaß aus eine Kampagne für ihn geführt und während des Krieges gleichfalls die französischen Lager kennengelernt hatte, war ebenfalls auf dem Weg in eine zweite Emigration. Mit Marcel Rubin verband sie somit eine Schicksalsgemeinschaft, bald aber auch eine herzliche Freundschaft, die nach dem Tod Maddalenas einer Liebe Platz machte; am 19. Dezember 1945 fand im mexikanischen Ixtapaluca die Hochzeit statt. México wies für Emigranten geradezu ideale Verhältnisse auf. Sie konnten ohne Arbeitsbewilligung jeden Posten annehmen, ja, sie mußten als Ausländer nicht einmal Steuern zahlen, und so wurde Marcel Rubin in seiner neuen Heimat schnell ein geachtetes Mitglied der Musikszene: Als Korrepetitor an der Oper von México, D. F. (City), erhielt er eine ausgezeichnete Bezahlung, zahlreiche private Korrepetitionsstunden und Auftritte als Liedbegleiter besserten sein Salär zusätzlich auf und machten ihn darüber hinaus – ebenso wie etliche große Erfolge als Komponist – bald allgemein bekannt. Zudem war er federführend bei der Gründung des „Chores der freien Deutschen und Österreicher“7, als dessen Dirigent er bis zu dessen Auflösung fungierte, weiters leitete er die Musikabteilung des Rundfunkprogramms „La Voz de Austria“, welche Leiste der mexikanische Rundfunk „Radio Gobernación“ (bzw. das mexikanische Innenministerium) den österreichischen Exilanten in der Zeit vom 8. August bis 16. Oktober 1946 einmal in der Woche unentgeltlich zur
5 6 7
Wolfgang Kießling, Alemania Libre in Mexiko, Bd. 1: Ein Beitrag zur Geschichte des antifaschistischen Exils (1941–1946), Berlin [Ost] 1974, S. 71. Siehe Walter Hammer, Hohes Haus in Henkers Hand, Frankfurt am Main 21956, S. 71, sowie Deutsche Widerstandskämpfer 1933–1945. Biographien und Briefe. Bd. I, Berlin 1970, S. 615ff. Zu Rubins Wirken im Rahmen des deutschen Exils in México siehe auch Wolfgang Kießling, Alemania libre in Mexiko. Bd. 1 (Anm. 5), Berlin 1974, S. 113, 286 und 323, sowie Bd. 2: Texte und Dokumente zur Geschichte des antifaschistischen Exils (1941–1946), Berlin 1974, S. 187–196 sowie 237f. Zu dem genannten Chor schreibt Kießling (Bd. 1, S. 286, Anm. 5): „Aus der brüderlichen Verbundenheit der deutschen und österreichischen Antifaschisten entstand der deutsche Freiheitschor, der, geleitet von dem österreichischen Komponisten Dr. Marcel Rubin (KPÖ), in Veranstaltungen der BFD und in Radiosendungen auftrat.“ Ähnlich lautet es in Kießlings Artikel Acción Republicana Austriaca de Mexico, Bewegung „Freies Deutschland“ und Heinrich Heine-Klub, in: Österreicher im Exil 1934–1945. Protokoll des internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945, Wien 1977, S. 123.
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Verfügung stellte,8 und schließlich schrieb er regelmäßig in dem Publikationsorgan Austria libre. Organo de los Austriacos Anti=Nazis de México.9 Noch vor Marcel Rubin trat Hilda Maddalena, die in México bald bei einer deutschen Familie als Kindermädchen arbeitete, in die Öffentlichkeit: Nach der am 20. Mai 1942 im Golf von México erfolgten Torpedierung eines mexikanischen Petroleumtankers durch ein deutsches U-Boot schrieben „deutsche antifaschistische Frauen“, deren Männer von den Nazis ermordet oder „zu Tode gefoltert“ worden waren, den „Muettern, Gattinnen und Schwestern der von Hitler getoeteten mexikanischen Matrosen“ einen Brief, in dem wir u. a. lesen: „Aus schwesterlichem Empfinden draengt es uns, Euch zu sagen, dass unsere Herzen mit Euch sind in Eurem tiefen Schmerze; hat doch Hitler auch uns das Liebste genommen, was wir auf Erden besassen. Der Nazifaschismus hat uns aus unserer Heimat vertrieben, unsere Maenner wurden mit dem Beil enthauptet oder von der Gestapo zu Tode gefoltert, sie wurden wegen ihrer antinazistischen Ueberzeugung zu lebenslaenglichem Zuchthaus verurteilt oder starben im Exil an den Folgen der erlittenen Entbehrungen. Darum koennen wir deutschen antinazistischen Frauen, die wir seit dem Machtantritt der grausamen Hitlerregierung in Deutschland Jahre schwersten Leides durchlebt haben, Euren Schmerz, mexikanische Frauen, in seiner ganzen Tiefe ermessen. Moege Euch daher in diesen trauervollen Stunden der Gedanke Trost gewaehren, dass es ueberall in der Welt und auch in dem von Hitler unterjochten und geschaendeten Deutschland selbst Frauen gibt, die mit Euch sind und mit Euch fuehlen, aber auch gemeinsam mit Euch kaempfen, auf dass die Schmach des Nazifaschismus von dieser Erde getilgt werde.“10
Rubins erste Erwähnung in einem der vielen in México erscheinenden Emigrationsblätter fand (ebenfalls) in der Juni-Nummer 1942 der Zeitschrift Freies Deutschland statt, in welcher Rubins 1940 im französischen Konzentrationslager entstandene Vertonung des Dachau-Liedes von Jura Soyfer als Faksimile abgedruckt wurde (Abbildung 1): „Stacheldraht, mit Tod geladen, ist um uns’re Welt gespannt [...].“11 Der Autor selbst wurde folgendermaßen vorgestellt: „MARCEL RUBIN, oesterreichischer Komponist. Er schrieb das 1939 [sic!] in den Wiener Volksbildungshaeusern aufgefuehrte Tanzstueck ,Die Stadt‘ nach einer Erzaehlung von Maxim Gorki, das Orchesterwerk ,Neue Erde‘, eine Oper 8
9
10 11
Zuvor waren – bald nach dem Kriegseintritt von México (22. Mai 1942) – bereits einige Pilotsendungen ausgestrahlt worden. Vgl. Christian Kloyber, Österreichische Autoren im mexikanischen Exil (Anm. 2), S. 63– 66. Die Leitung von „La Voz de Austria“ hatte Bruno Frei inne. Zu Rubins Aktivitäten in México siehe auch Hartmut Krones, marcel rubin (wie Anm. 1), S. 25–29, sowie Hartmut Krones, Marcel Rubin y la comunidad musical austríaca en México, in: La música del exilio Austriaco en América [Programmbuch des von der Universität México, D. F., zu diesem Thema veranstalteten Symposions vom 10. Juni 1999], México 1999, S. 30–34. Freies Deutschland 1, Nr. 8 (15. Juni 1942), S. 31. Der Kriegseintritt Méxicos fand dann am 22. Mai 1942 statt. Vgl. Wolfgang Kießling, Alemania libre in Mexiko. Bd. 1 (Anm. 5), S. 75. Freies Deutschland 1, Nr. 8 (15. Juni 1942), S. 16f. Schreibweisen der fremdsprachigen Namen immer gemäß dem Original
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und eine Anzahl anderer Musikstuecke. Er kam vor kurzem aus Frankreich nach Mexiko.“12
Abbildung 1: Marcel Rubin, Dachau-Lied (Freies Deutschland, 15. Juni 1942).
Die Ende 1941 vor allem von deutschen Kommunisten ins Leben gerufene „Bewegung Freies Deutschland“ (BFD), die die genannte Zeitschrift herausgab, wurde in den ersten Monaten ihres Bestehens in einem hohen Maß von Österreichern geprägt, die einen Grund für das Hochkommen des deutschen Nationalsozialismus in der „Verpreußung Deutschlands“ sahen und die österreichische Kultur als wichtigen Gegenpol empfanden. So fungierte etwa der österreichische, lange in Berlin und Prag wirkende Journalist Bruno Frei (1897–1988) als Chefredakteur der ersten beiden Nummern von Freies Deutschland (dem Redaktionskomitee der Zeitschrift gehörten u. a. auch Egon Erwin Kisch, Anna Seghers und Bodo Uhse an), ehe er – wie etwa Josef Foscht und Leo Katz – Mitbegründer der am 3. Dezember 1941 ins Leben gerufenen ARAM wurde, der „Acción Republicana Austriaca de México“.13 Im übrigen grenzte sich die BFD damals selbst von der „Liga für deutsche Kultur“ 12
13
Ebenda S. 31 (Rubrik „Unsere Mitarbeiter“). Das Tanzstück Die Stadt (verbindende Worte: Elias Canetti nach Maxim Gorki) gelangte 1933 zur Aufführung, das Orchesterwerk Neue Erde war die Urfassung der (damals noch fünfsätzigen) 2. Symphonie des Komponisten, die später – unter Eliminierung des programmatischen Titels sowie der programmatischen Satzüberschriften – in etwas umgearbeiteter viersätziger Form als 2. Symphonie in das „offizielle“ Werkverzeichnis aufgenommen wurde. Siehe Christian Kloyber, Österreichische Autoren im mexikanischen Exil (Anm. 2), S. 53f. und 68f.
Marcel Rubin und das österreichische Exil in México
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ab, die Anfang 1942 in einer Versammlung eine „trotzkistische Erklärung“ verlesen ließ und es bald darauf ablehnte, für den Sieg der „Antihitlerkoalition“ einzutreten. Daraufhin veröffentlichten am 11. Juli 1942 „sechzehn langjährige Mitglieder der Liga, unter ihnen die Kommunisten Ludwig Renn, Bodo Uhse, Hans Hollender, Marcel Rubin und Gertrude Düby, die Sozialdemokraten Paul Elle und Herbert Hirsch und die parteilosen Demokraten Dr. Bruno Strauß und Dr. Gertrud Kurz im Wochenbulletin Alemania libre eine Stellungnahme“14,
daß sie der Liga deswegen nicht länger angehören könnten. Bereits einen Monat vor dieser Aktion trat Marcel Rubin (erstmals) als Leiter des „Chores der freien Deutschen und Österreicher“ (und gleichzeitig auch als Pianist) an die Öffentlichkeit: In einer „Anti-Nazi Literary Evening“ genannten Veranstaltung des „Exiled Writers Committee“ vom 11. Juni 1942 (20.30 Uhr) im „Salon Beethoven“ des Hotels Reforma begleitete er zu Beginn die mexikanische Nationalhymne, später trug der „German Chorus“ sein Dachau-Lied, „A song created in the notorious Concentration Camp of Dachau“, sowie The peatbog soldiers [Die Moorsoldaten], „The most famous of the Concentration camp songs“, vor (Abbildung 2). Lesungen und Vorträge ergänzten, nach der Pause las u. a. Egon Erwin Kisch aus (dem Memoiren-Band) Sensation Fair, und Paula Bach-Conrad sang Lieder von Mozart, Schubert, Mendelssohn, Brahms und Heine (!); der Begleiter ist nicht genannt, wahrscheinlich hatte Marcel Rubin auch diese Aufgabe übernommen. Am 20. Juli 1942 wurde Rubin erstmals im „Radio nacional de México“ tätig, und zwar im Rahmen der Sendeserie „Por un mundo libre“, die zwei Abende „Österreich, Hitlers erstem Opfer“, widmete. An diesem Tag „umrissen in einem interessanten Radiogespraech Rudolf Neuhaus, (erster) Vorsitzender der Acción Republicana Austriaca de México, der Arzt Dr. Wallis und der oesterreichische Sozialpolitiker Josef Foscht die Stellung Oesterreichs im Kampf gegen Hitler. Die Kuenstler, Frau Rosi Volk, Marcel Rubin und Dr. Neumann zeugten mit ihren Darbietungen für Oesterreichs musikalische Weltsendung.“15
Am 8. August gestaltete Rubin dann die erste Sendung der von der Regierung zur Verfügung gestellten Leiste „La Voz de Austria“ (siehe oben) musikalisch aus, und zwar gemeinsam mit Grete Strauss:
14 15
Wolfgang Kießling, Alemania Libre in Mexiko. Bd. 1 (Anm. 5), S. 84. Freies Deutschland Nr. 10 (August 1942), S. 25. Rosi Volk sang, begleitet von Egon Neumann, österreichische Lieder, Marcel Rubin spielte Werke von Mozart und eigene Kompositionen.
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„En la parte artística de esta emisión se excuchó a Mozart y a Schubert, interpretados por la señora Grete Strauss y el señor Marcel Rubin. La emisión ,La Voz de Austria‘ se transmitirá cada viernes a las 20 horas 30 minutos en radio Gobernación onda XEDP y XEXA.“ 16
Abbildung 2: 1. Teil des Programms der Veranstaltung vom 11. Juni 1942.
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„La Voz de Austria“ wurde in der Folge, nicht zuletzt durch namhafte internationale Gäste bzw. Interviewpartner, zu einem wichtigen Sprachrohr der österreichischen Emigranten in México, was in einem ersten Rückblick auch die Zeitschrift Freies Deutschland feststellte: „In den bisherigen Sendungen sprachen: der costaricanische Gesandte Carlos Jinestá, der Praesident der Acción Democrática Internacional, Raoul Cordera Amador, Lic. Donato Contreras, Bruno Frei und der oesterreichische Arzt Dr. B. Hollinger. Im musikalischen Teil der Sendung wirkten mit die Herren Dr. Ernesto Roemer, Marcel Rubin, Alwin, Dr. Neumann, die Damen Rosi Volk, Frau Bach, Grete Strauss, Margarita Maris. Es ist die einzige Stimme des freien Oesterreich auf dem ganzen lateinamerikanischen Kontinent, die regelmaessig jeden Freitag um 20 Uhr mit der Sendelosung ,Austria resurgirá‘ auf dem mexikanischen Regierungssender ,Radio Gobernación‘ ertoent.“ 17
Am 28. August 1942 hatte Rubin über „La Grandezza de la música austriaca“ gesprochen, welcher Beitrag auch in Austria libre sowie in der mexikanischen Tageszeitung El popular abgedruckt wurde.18 Er handelt von der großen österreichischen Tradition klassischer und romantischer Musik, der später noch weitere Artikel gewidmet sind. Grundtenor dieser und anderer Aufsätze war u. a. immer das Deutlichmachen von Rubins Ästhetik, daß die Verständlichkeit der Musiksprache primäre Aufgabe der Komponisten sei, und so gingen auch seine Äußerungen über verschiedene Stilrichtungen oder einzelne Komponisten immer von diesem Standpunkt aus. – Am 23. Oktober folgte ein Vortrag über österreichische Unterhaltungsmusik, der sowohl die Tanzmusik als auch die Operette in den Blick nahm (danach spielte „la Banda de la Marina“ Werke von Johann Strauß und Oscar Straus), am 6. November interpretierten „los señores Robiczek, Goldschmidt y Rubin“19 Werke von Mozart. – Und eine besondere Aufgabe im Rahmen einer Sendung von „Radio nacional“ erhielten Rubin und sein Chor „Alemania libre“ dann am 7. November 1942 anläßlich des 25. Jahrestages der „Revolución Soviética“, der mit einem aufwendigen Konzert begangen wurde (Abbildung 3). Sie interpretierten hier, von der sowjetrussischen und der mexikanischen Nationalhymne eingerahmt und alternierend zu kurzen Vorträgen (u. a. von Pablo Neruda) den Marsch der Roten Armee sowie russische und spanische Revolutionslieder. Aus Anlaß dieses 25-Jahr-Gedenkens sandte eine Gruppe von deutschen Emigranten, darunter Rudolf Feistmann, Walter Janka, Hilda Maddalena, Rudolf Neumann, Ludwig Renn, Anna Seghers, Bodo Uhse, Leo Zuckermann und Rudolf Zuckermann, auch einen „Gruss an die Sowjetunion“:
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Freies Deutschland Nr. 11 (September 1942), S. 26. Die Sendungen begannen öfters auch um 20.30 Uhr, ab 1943 dann jeden Samstag um 14.15 Uhr. Zu Ernst Römer siehe auch den Beitrag von Marcus G. Patka in vorliegendem Band, S. 503–520. Austria libre Nr. 2 (15. 9. 1942), S. 3 (entgegen der auf S. 4 gegebenen Datierung steht hier, daß der Vortrag am 4. September gehalten wurde). El popular, 18. 9. 1942, S. 5f. Austria libre Nr. 4 (15. 11. 1942), S. 3.
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Abbildung 3: Programm der Veranstaltungen zum 25. Jahrestag der „sowjetischen“ Revolution.
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„Wir, Mitglieder der Bewegung Freies Deutschland in Mexiko, vereinigen unsere Stimme aus Anlass des 25. Jahrestages der Errichtung der Sowjetmacht [...].“20
Auch die „Escritores Antifascistas de Habla Alemana“ sandten der UdSSR eine Grußadresse, die u. a. von Marcel Rubin unterschrieben wurde,21 der bereits kurz zuvor – ebenso wie sein Vater Erwin Rubin und weitere „Austriacos Libres“ – ein Gruß-Telegramm an die „Asamblea contra el Terror Nazi“ gerichtet hatte.22 – Zwei Tage nach der Feier zum 25. Jahrestag der „Revolución Soviética“, am 9. November 1942, beging die Bewegung „Freies Deutschland“ dann im „stark besuchten“ Schiefersaal den „24. Jahrestag der deutschen Revolution von 1918“, und wieder war Rubin mit seinem Chor präsent: „Der Freie Deutsche Chor unter der Leitung von Marcel Rubin war auf der Hoehe seiner Aufgabe und trug durch das Singen von fuenf deutschen und russischen Freiheitsliedern sehr viel zum guten Gelingen der Kundgebung bei.“ 23
Die bereits einige Male zitierte Zeitschrift Austria libre. Organo de los Austriacos Anti=Nazis de México wurde dann zum offiziellen Sprachrohr der emigrierten Österreicher; sie erschien erstmals am 15. August 1942 und wies die Bestimmung „Por una Austria libre“ auf, der eine von Manuel A. Camacho verfaßte Erklärung folgte: „En 1938 tocó el turno Austria, amagada por la superioridad de un ejército frente a cuyas armas se vió en la obligación de aceptar las condiciones de una anexión ultrajante e ignominiosa.... México, protestó ex contra de la anexión de Austria.“24
Sodann folgte unter der Überschrift „Nuestro periódico“ eine Standortbestimmung der Redaktion: „Klein, ja sehr klein ist unsere Zeitschrift. Dennoch fühlen wir eine große Genugtuung, daß diese kleine Gruppe österreichischer Demokraten endlich ein Sprachrohr hat gründen können, das dem mexikanischen Leser Zeugnis über den Kampf des österreichischen Volkes für seine Freiheit ablegen wird. Es ist der Beweis für das mexikanische Volk, das für viele Österreicher so gastfreundlich ist, daß es ein ,Freies Österreich‘ gibt. Im Kampf gegen Hitler vereint sich dieses Freie Österreich mit Mexiko. Wir, die freien Österreicher in Mexiko, wollen unserem Gastland Dank erweisen, indem wir gemeinsam für die Demokratie eintreten, mit Mexiko gegen den gemeinsamen Feind: Hitler.“ 25
Chefredakteur von Austria libre, welches Blatt zunächst nur in spanischer Sprache erschien und erst Anfang 1944 zur Zweisprachigkeit (spanisch und deutsch) überging, war Bruno Frei, als Sitz der Redaktion fungierte die von dem Wiener 20 21 22 23 24 25
Freies Deutschland 2/1 (November-Dezember 1942), S. 5. Alemania libre Nr. 35 (10. 11. 1942), S. 1. Austria libre Nr. 3 (15. 10. 1942), S. 1. Freies Deutschland 2/1 (November-Dezember 1942), S. 37. Austria libre Nr. 1 (15. 8. 1942), S. 1. Übersetzung nach Christian Kloyber (Anm. 2), S. 59.
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Sozialisten Rudolf Neuhaus gegründete Internationale Buchhandlung „Librería Internacional“, Avenida Sonora 204 (Ecke Insurgentes). In den bis Oktober 1946 erscheinenden 40 Nummern verfaßte Marcel Rubin nun regelmäßig Artikel über musikgeschichtliche (insbesondere österreichische) Themen, aber auch Kritiken sowie allgemeine Betrachtungen zur österreichischen Kultur. Zudem zählte er zu den Mitarbeitern folgender Periodika: Demokratische Post. Publicación quincenal antinazi (Untertitel: „Organo de los Antinazis Alemanes de México y Centro-América“); El popular (eine mexikanische Tageszeitung); Freiheit für Österreich. Anti-Nazi Monthly; Pasano y Futoro. Revista de Cultura Judia; Tribuna Israelita; judaica (Buenos Aires). Rubin und sein „Freier Deutscher Chor“ (wie er hier genannt wurde) waren bereits zwei Monate früher im Rahmen eines von der Bewegung „Freies Deutschland“ veranstalteten Abends aufgetreten: Am 17. August 1942 (20.30 Uhr) hatte dort (im Mendelssohn-Saal, Venustiano Carranza 21) der ehemalige Preußische Justizminister, Abgeordnete des Reichstages und Vorsitzende des Sozialistischen Juristenbundes Dr. Kurt Rosenfeld, laut dem Programm „gegenwaertig Praesident der German American Emergency Conference, New York“, über „Die deutschsprachige Emigration in den Vereinigten Staaten und der Krieg“ gesprochen,26 und Rubins Chor sang „canciones originales de Bert Brecht y Ludwig Renn“.27 – Und am 27. September 1942 hatte er bei einem von 10 Uhr vormittag bis zum nächsten frühen Morgen währenden, von der „Acción Republicana Austriaca“ veranstalteten „Bazar-Festival“ mitgewirkt, bei dem in einem „Café Vienés“ namens „Prater“ zunächst ein Wiener Frühstück, mittags schwarzer Kaffee, nachmittags „café Vienes con pasteles“ und in der Nacht Wiener Spezialitäten („Salchichas Vienesas“, Wiener Schnitzel, etc.) serviert wurden. Das Musikprogramm umfaßte u. a. AkkordeonVorträge von „Canciones Mexicanas y Austriacas“, „D’Schrammeln“ sangen und spielten ebenso „Canciones Vienesas“ wie Rosi Volk und Egon Neumann (Klavier), Karl Alwin trug am Klavier eigene Werke vor, und um 17.00 Uhr begleitete Marcel Rubin Grete Oppenheim-Strauss zu Liedern von Mozart und Schubert. Schließlich wurde ab 22 Uhr getanzt. Sehr bald nahm Marcel Rubin auch Verbindung zu dem „Club Enrique Heine“ („Heinrich Heine-Klub“) auf, der im November 1941 als „Asociación de Intelectuales antinazis de habla alemana“ gegründet wurde. Präsidentin der Vereinigung war Anna Seghers, als Vizepräsidenten fungierten zwei „parteilose“ Österreicher, der Arzt Leo Deutsch sowie der Dirigent Ernst Römer, dem Vorstand gehörten Egon Erwin Kisch und Bodo Uhse an.28 Rubins erste Aktivität im Rahmen des „Club“ war ein Auftritt mit seinem „Coro de ,Alemanes Libres‘“ im Rahmen der im Mendelssohn-Saal stattfindenden „Noche de Canciones Folklóricas Mexicanas“ 26
27 28
Freies Deutschland Nr. 10 (August 1942), S. 31. In der Zeitschrift Alemania libre (Nr. 30) vom 15. August 1942 (S. 4) lesen wir übrigens, daß Rubin Mitglied der damals gegründeten „Asociación pro refugiados politicos de habla alemana en México“ wurde. Alemania libre Nr. 31 (10. 9. 1942), S. 4. Zum Heine-Klub siehe auch Patrik von zur Mühlen, Fluchtziel Lateinamerika. Die deutsche Emigration 1933–1945: politische Aktivitäten und soziokulturelle Integration, Bonn 1988, S. 171f. und S. 176.
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vom 23. Juli 1942 (20.30 Uhr), die „con algunas ejemplos de canciones populares y antifascistas alemanas“ vor sich ging (Abbildung 4) und unter der „Dirección General“ von „Dr. Ernesto Roemer“ stand. Die Zeitschrift Alemania libre, die 1942 als spanische Ausgabe der Monatsschrift Freies Deutschland gegründet worden war, berichtete: „Treinte cantores mexicanos del coro de la Universidad Obrera alternaron con el coro de alemanes libres (dirigido por Marcel Rubin) en la interpretación de canciones de masas.“29
Abbildung 4: „Noche de Canciones Folklóricas Mexicanas“, 23. Juli 1942.
Die nächste Mitwirkung im „Heinrich Heine-Klub“ fand im Rahmen des „Russischen Abends“ vom 1. Oktober 1942 (Mendelssohn-Saal, 20.30 Uhr) statt. Paul Merker sprach hier über den „Heldenkampf des Sowjet-Volkes“, Sonja Verbitzky sang, begleitet von Javier Meza Nieto, Lieder von Mussorgsky und Gretschaninoff, von einer Schallplatte wurden zwei Sätze der 1. Symphonie von Schostakowitsch eingespielt, zwei Sprecher rezitierten aus Werken russischer Dichter (verbindende Worte: Anna Seghers), und der „Freie Deutsche Chor unter Leitung von Marcel Rubin“ trug „Lieder der Roten Armee“ vor (verbindende Worte: Ernst Römer). Der Ertrag des Abends floß dem „Comite de ayuda a Rusia en guerra“ zu. Das mexikanische „Radio nacional, Estación XEFO“ stellte der Bewegung „Freies Deutschland“ dann am 5. Dezember 1942 sowie an vier weiteren Samstagen jeweils um 20 Uhr eine Stunde Sendezeit zur Verfügung, die vor allem für Vorträge (in 29
Alemania libre Nr. 29 (5. 8. 1942), S. 4.
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spanischer Sprache) genützt wurde. Auch hier gestaltete Marcel Rubin mit seinem „Freien Deutschen Chor“ den „musikalischen Teil des Sendungen“ und gab „in Deutschland verbotene Schallplatten und Lieder“30 zum besten. Akkulturation (1943–1946) Rubin und die „Acción Republicana Austriaca de México“ Vater und Sohn Rubin waren von Beginn ihres Aufenthaltes in México an mit der „Acción“ verbunden, Erwin Rubin fungierte von 1943 bis 1945 (neben Elsa Volk) sogar als ihr Vizepräsident.31 Ab dem ersten Erscheinen von Austria libre sowie ab der Einrichtung der Sendeleiste „La Voz de Austria“ im August 1942 (siehe oben) war die (Mit-)Betreuung dieser beiden Initiativen eine Hauptarbeit der Vereinigung; Marcel Rubin gestaltete u. a. spezielle Musik-Sendungen, vor allem aber stellte er regelmäßig die musikalische Umrahmung zusammen, wobei er und sein Chor sehr oft live auftraten und dabei vor allem antifaschistische Kampflieder interpretierten. Daneben organisierte die „Acción“ aber auch Theater- und Musik-Abende, so am 7. August 1943 einen „Kulturabend“, bei dem Johann Nestroys Parodie Judith und Holofernes sowie Lieder von Schubert, Mozart und Mahler zur Aufführung gelangten, „eine Huldigung für diese Meister, deren Kunst dem Gedanken galt, dass alle Menschen Brueder seien und jeder Despotismus jedes Menschen Feind. Diese oesterreichische und voraussehend antifaschistische Gemeinschaft unterstrich in seiner Einleitung Dr. Marcel Rubin, die oekonomischen Gruende betonend, die Wien, den Kreuzungspunkt der europaeischen Handelsstrassen, auch zum Kreuzungspunkt aller Kulturen und zur Wiege der Menschheitsmusik machten.“32
Die Aktivitäten der „Acción“ im Rahmen der Rundfunksendung „La Voz de Austria“ werden weiter unten genauer betrachtet, hier sei vor allem auf die späteren Hilfsaktionen für „notleidende Oesterreicher in Europa“ verwiesen. So veranstaltete die ARAM am 13. Februar 1945 „im Konferenzsaal von Bellas Artes“ ein Konzert „Oesterreichische Musik“, bei dem u. a. Carl Alwin und Marcel Rubin als Pianisten mitwirkten. Von Rubin erklangen hier drei Lieder sowie das Adagio aus dem Violinkonzert D-Dur: „Die amerikanische Saengerin Bruni Falcon sang [...] Schubert und einige der ausserordentlichen [...] Lieder von Gustav Mahler, sowie drei melodienreiche Lieder von Marcel Rubin mit schoenen Texten von Goethe und Eva Priester („Tschechisches Fruehlingslied 1939“ und „Wiegenlied beim Fliegerangriff“). 30 31 32
Freies Deutschland 2/2 (Januar 1943), S. 32. Siehe auch Alemania libre II/1 (10. 1. 1943), S. 4. Austria libre II/3 (10. 4. 1943), S. 6, III/2 (Februar 1944), S. 2, sowie IV/4–5 (April-Mai 1945), S. 11. Demokratische Post, 15. 8. 1943, S. 4. Der Abend mußte wegen des großen Andrangs am 14. August wiederholt werden.
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[...] Das Adagio aus Rubins Violinsonate kam, aus dem Ganzen herausgerissen, nicht voll zur Wirkung.“33
Anfang 1945 rief Austria libre zu einer „Paketaktion für Oesterreicher in Frankreich“ auf, an der sich Marcel Rubin und Hilda Maddalena ebenso beteiligten wie nach Kriegsende an Hilfssendungen nach Österreich.34 Im Oktober danken Erwin und Marcel Rubin dann „den Freunden der A.R.A.M. aufs herzlichste“ für die Anteilnahme am Tod der „lieben Gattin resp. Mutter Frau Ludovika Rubin“, der auch als herber Verlust für die „oesterreichische Kolonie“ gesehen wird.35 Und Ende 1945 ist Rubin federführend bei der Gründung des „Comité de Ayuda a Austria“, dem als „Patrocinadores“ u. a. Carlos Chávez und Manuel M. Ponce angehörten; er selbst bekleidete neben Dr. Ignacio Millán und Dr. Maria Frischauf die Funktion eines Sekretärs.36 Das „Comité“ veranstaltete dann am 19. Februar 1946 (20.30 Uhr) im „Konferenzsaal des Palacio de Bellas Artes“ ein „grosses Konzert zugunsten des Hilfsfonds für Oesterreich“, bei dem eine Reihe von Musikern „einige der schönsten Werke von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Wolf, Mahler und Johann Strauss“ interpretierten. Rubin begleitete die Sopranisten Rosy de Volk sowie den Tenor Carlos Puig zu Arien von Mozart, Liedern von Schubert, Wolf und Mahler sowie „Canciones“ aus Operetten von Johann Strauss; Streichquartette von Haydn und Beethoven sowie Klaviervariationen von Mozart ergänzten:37 „Der Komponist Marcel Rubin, der das Konzert organisierte (und ausserdem die Saenger meisterhaft begleitete), hat verstanden, das Programm sehr abwechslungsreich und interessant zu gestalten.“38
Am 30. April 1946 beschloß die Jahresversammlung der ARAM dann „die Umwandlung der ARAM in die Asociación Austro-Mexicana (Vereinigung der Oesterreicher in Mexico)“.39 Rubin und die Emigrations-Zeitschriften Nach und nach faßte Marcel Rubin in den vielen Zeitungen bzw. Zeitschriften der deutschsprachigen Emigration Fuß. Sein erster Artikel außerhalb von Austria libre erschien in dem Periodicum Freiheit für Österreich vom 15. Januar [!] 1943 und trug die Überschrift „Oesterreichische Musik“, die bei der Fortsetzung des Artikels zu 33
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Demokratische Post, 1. 3. 1945, S. 3. Vgl. Austria libre IV/2 (Februar 1945), S. 8. Die beiden unter dem Titel Europa 1939 zusammengefaßten Lieder nach Eva Priester hat Rubin ebenso wie das frühe Violinkonzert nach seiner Rückkehr nach Wien verworfen. Austria libre IV/3 (März 1945), S. 6, druckt übrigens eine Rezension aus der Zeitschrift Sucesos ab, die insbesondere die beiden verworfenen Lieder als „Meisterwerke“ sieht. Austria libre IV/7–8 (Juli-August 1945), S. 7, sowie (u. a.) IV/11 (November 1945), S. 7. Austria libre IV/11 (November 1945), S. 6 und 7. Austria libre IV/12 (Dezember 1945), S. 1. Austria libre V/1–2 (Jänner-Februar 1946), S. 7. Austria libre V/3 (März 1946), S. 5. Austria libre V/4–5 (April-Mai 1946), S. 7.
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„Oesterreichische Freiheitsmusik“ mutierte.40 Einem Bericht „Verdi und Wagner: Zur Neueinstudierung der ,Aida‘ in Mexiko“41 folgte dann der bekennerhafte Artikel „Die franzoesische Revolution und die Musik“, in der Rubin einmal mehr seine grundsätzliche musikästhetische Position ausbreitete: „Die neue weltliche Musik brauchte einen menschlichen Inhalt, der die Ziele und Ideen der Voelker unter Fuehrung des aufsteigenden Buergertums widerspiegelte. Diesen alle Voelker ergreifenden Inhalt gab der Musik das Zeitalter der franzoesischen Revolution.“42
Die klassische Musik sei dann eine Synthese der deutschen Polyphonie (vor allem Bachs) und der romanischen Melodik, und dies insbesondere im Zeichen der von der französischen Revolution ausgehenden Menschlichkeit. Diese Synthese sei vor allem in Österreich, in Wien, gelungen: Joseph Haydn bezeichnete Rubin als einen „Verkuender der neuen Ideen vom Menschen und der Natur“, Mozart erreichte seiner Meinung nach mit der Zauberflöte „einen neuen Hoehepunkt der freiheitlichen Kunst“, und Beethovens Werk ist laut ihm ein Beispiel dafür, „dass der politische Fortschritt, wenn er zum Inhalt der Musik wird, den musikalischen Fortschritt herbeifuehrt“. Der nächste Artikel Rubins war „Mozart en el Destierro“43 (über Don Giovanni [hier Don Juan] in México) – zuvor hatte Jascha Horenstein seine Musik in einem Interview außerordentlich gelobt44 –, ehe ein Geburtstagsartikel zu Schönbergs 70. Geburtstag45 folgte. „Ist Österreich lebensfähig?“ lautete sodann der Titel eines Artikels von Erwin Rubin,46 während Marcel Rubin über „La Música Hebrea y su influencia en Occidente“ schrieb47 und die Rezension „Arnold Schoenberg. Zur Mexikanischen Erstauffuehrung des ,Pierrot Lunaire‘“48 folgen ließ. Die Zeitschrift Freies Deutschland wies damals auf Rubins Aufsatz „Mexikos musikalische Wiedergeburt“, der (angeblich) in der New Yorker Zeitschrift „The Worker“ erscheinen werde,49 am 1. März 1945 wurde Rubins Rezension „Zu einer Karl Kraus-Kritik“50 gedruckt, am 1. Juli folgte „Wagner in unserer Zeit. Zu den Auffuehrungen von ,Tristan und Isolde‘ und ,Die Walkuere‘ in der Opera Nacional de México“51. 40 41 42 43 44 45
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Freiheit für Österreich Vol. I, Nr. 8, S. 4 und 6. Demokratische Post, 15. 10. 1943. Freies Deutschland 3/7 (Juni 1944), S. 21f. Austria libre III/8 (August 1944), S. 7. Maria Heim, Sobre los Músicos Austríacos Modernos. Entrevista con el director Jascha Horenstein, in: Austria libre III/6–7 (Juni-Juli 1944), S. 6. Austria libre II/10 (Oktober 1944), S. 7. (Einige Nummern des III. Jahrgangs sind fälschlicherweise als II. Jahrgang bezeichnet.) Im Oktober 1944 gestaltete Rubin auch eine Sendung über Schönberg in „La Voz de Austria“. Austria libre II/11 (November 1944), S. 4. Pasano y Futuro. Revista de cultura Judia, No. 1 (México, 1. 12. 1944), S. 17–20. Demokratische Post, 31. 12. 1944, S. 3. Freies Deutschland 4/2 (Januar 1945), S. 27. Der Artikel scheint nicht erschienen zu sein; auch Marcel Rubin konnte sich nicht an ihn erinnern. Demokratische Post, 1. 3. 1945, S. 5. Demokratische Post, 1. 7. 1945, S. 4.
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Schließlich erschienen 1945 noch die Artikel „Gustav Mahlers musikalische Rolle. Zu seinem Geburtstag – 7. Juli 1860“52, „Una Gran Contribución a la Cultural Mundial. Los Judíos en la Música“53; „Beethoven und Oesterreich“54 sowie ein Nachruf auf Carl Alwin.55 1946 ließ Rubin mit „Bela Bartok, das Volkslied und die moderne Musik“56, „Los judíos en la música“57, „Darius Milhaud“58 sowie dem Interview „Eine grosse mexicanische Kuenstlerin. Angélica Morales ueber Wien“59 vier weitere Arbeiten folgen, ehe er den Entschluß zur Rückkehr nach Wien faßte. Mit „M. R.“ gezeichnete Kulturberichte („Unsere Veranstaltungen“) in der letzten Nummer von Austria libre60 (vom Oktober 1946) sind laut seiner Auskunft nicht von ihm. Rubin in „Radio Gobernación“ (1943–1946) Auch in den Rundfunksendungen der Emigranten trat Rubin immer häufiger an die Öffentlichkeit, vor allem mit seinem „Chor der freien Deutschen und Österreicher“ (Coro Libre de los Alemanes y Austriacos). So fanden am 30. Jänner und 2. Februar 1943 (Station Radio Nacional XEFO) zwei Sondersendungen zu dem Thema „Zehn Jahre Hitlerdeutschland“ statt, in denen „der Freie Deutsche Chor unter der Leitung von Marcel Rubin [...] Freiheitslieder zum Vortrag“ brachte.61 – Die dem Chor zuwachsenden vermehrten Aufgaben ließen ihn dann bald um neue Mitglieder werben, was sowohl in spanischer62 als auch in deutscher Sprache geschah: „Der antifaschistische Chor in Mexico, D. F., in dem Freie Deutsche und Oesterreicher ohne Unterschied der Partei zusammenarbeiten, hat sich zu einem wirksamen Instrument der Propaganda gegen den Naziterror entwickelt. Zahlreichen mexikanischen und deutschsprachigen Veranstaltungen, die im Interesse des Kampfes der Verbuendeten Nationen organisiert wurden, hat der Chor durch seine Mitwirkung Schwung verliehen und so zu ihrem Erfolg beigetragen. Antifaschisten deutscher Sprache, Maenner und Frauen in der Stadt Mexico, die auf diese Weise der Sache der Alliierten dienen wollen, werden eingeladen, sich beim Leiter des Chors Marcel Rubin, unter der Nr. P 04-21, zwischen 12 und 1 Uhr mittags anzumelden. Die Probenzeit ist eine Stunde woechentlich.“63
Da wir nicht über alle Sendungen von „La Voz de Austria“ sowie auch der anderen Emigrations-Leisten detailliert Bescheid wissen, ist anzunehmen, daß Rubins Chor 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Austria libre IV/7–8 (Juli-August 1945), S. 6. Tribuna Israelita. Organo Mensual de la Béne Berith, 15. September 1945, Núm. 10, S. 19–21. Austria libre IV/12 (Dezember 1945), S. 5. Austria libre IV/11 (November 1945), S. 3. Austria libre V/4–5 (April-Mai 1946), S. 4. judaica. publicación mensual, Año XIII, No 154, Buenos Aires, April 1946, S. 186–190. Tribuna Israelita. Organo Mensual de la Béne Berith, Juni 1946, S. 21f. Austria libre V/6–7 (Juni-Juli 1946), S. 3. Austria libre V/8 (Oktober 1946), S. 3. Freies Deutschland 2/4 (März 1943), S. 32. Vgl. Alemania libre II/4 (15. 2. 1943), S. 4. Alemania libre II/6 (15. 3. 1943), S. 4, sowie Austria libre II/3 (10. 4. 1943), S. 6. Freies Deutschland 2/5 (April 1943), S. 35.
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hier oft auftrat, ohne eigens in den Zeitungen genannt zu werden. Rubin selbst sprach am 25. Februar 1943 über „Beethoven y la Revolución“ und baute den 1. Satz aus dessen 5. Symphonie ein,64 welchen Vortrag er am 30. März in der Sendung von „Freies Deutschland“ als „Beethoven und die Revolution“ wiederholte.65 In „La Voz de Austria“ spielte er am 9. April 1943 ein Werk von Mozart sowie eine eigene Komposition,66 dann trug er mit seinem Chor in fünf „Rundfunksendungen deutschsprachiger Schriftsteller“ (während der „Feria del Libro“, der Buchmesse) vom 18. und 25. April sowie 2., 9. und 16. Mai 1943 „complementos musicales“67 vor, sprach hier aber auch selber „ueber die Verfolgung der Musik durch die Nazis“.68 Zudem hielt er in „La Voz de Austria“ am 29. April einen Vortrag über „Francisco Schubert, el compositor del pueblo“69 („Greta Straus“ sang hier Lieder dieses Komponisten). Am 15. Mai und 8. Juni 1943 trugen dann die – auch von „Radio Gobernación“ gesendeten – „Gesänge des ,Freien Deutschen Chors‘ unter Leitung von Marcel Rubin wesentlich“ zum Gelingen einer Feier für den deutschen Schriftsteller Ludwig Renn bei.70 Am 25. September 1943 sprach Rubin in „La Voz de Austria“ „sobre Juan Strauss a ocasión del día de su muerte el 25 de septiembre“,71 Vater Erwin folgte am 6. November mit „Die Oesterreich-Deklaration der Konferenz in Moskau“72, und Marcel Rubin gestaltete am 22. Jänner 1944 eine Sendung zum Thema „Musica Prohibida“ und umrahmte sie mit zwei Sätzen aus Gustav Mahlers II. Symphonie, „que está prohibida en el territorio ocupado por Hitler“.73 „El músico y compositor austríaco“ Rubin selbst war Thema einer von Bruno Frei gestalteten Sendung vom 18. März 1944,74 dann sprach er am 15. Juli erneut über Gustav Mahler75 und präsentierte am 31. August eigene Werke.76 Im Oktober 1944 folgte eine Sendung über Arnold Schönberg,77 im Rahmen der „Feria del Libro“ begleitete Rubin am 5. November die Sängerin Bruni Falcon, weiters sang sein Chor am 12. November, dem Jahrestag der Gründung der Republik Österreich, „canciones austriacas populares y de libertad“78 und trug am 19. November Freiheitslieder vor.79 Am selben Tag trat der Chor aber auch im Rahmen der Radiosendung der „Bewegung 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Austria libre II/3 (10. 4. 1943), S. 6. Freies Deutschland 2/6 (Mai 1943), S. 31. Austria libre II/4 (1. 5. 1943), S. 4. Alemania libre II/8 (15. 4. 1943), S. 6, sowie II/10 (15. 5. 1943), S. 8. Freies Deutschland 2/7 (Juni 1943), S. 38. Austria libre II/4 (1. 5. 1943), S. 4. Der Vortrag fand offenbar eine Fortsetzung am 15. Mai. Siehe Austria libre II/5 (10. 6. 1943), S. 4. Freies Deutschland 2/8 (Juli 1943), S. 34. Austria libre II/9 (Oktober 1943), S. 4. Austria libre III/1 (Jänner 1944), S. 4. Austria libre III/2 (Februar 1944), S. 7. Austria libre III/3 (März 1944), S. 8. Austria libre III/8 (August 1944), S. 7. Austria libre III/9 (September 1944), S. 8. Austria libre II/11 (November 1944), S. 8. Austria libre II/11 (November 1944), S. 2. Demokratische Post, 1. 11. 1944, S. 2.
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Freies Deutschland“ auf.80 Schließlich sprach Erwin Rubin am 2. Dezember in „La Voz de Austria“ über „los fundamentos económicos de la República Austríaca“, wobei Marcel Rubin gemeinsam mit Enriqueta Wallis „obras de los maestros austríacos“ und eigene Werke präsentierte.81 Die nächste uns bekannte und von Rubin gestaltete Sendung im Rahmen von „La Voz de Austria“ war am 20. April 1945; hier spielte er Mozarts c-Moll-Fantasie sowie ein Andante in d-Moll von Schubert und führte zudem den 3. Satz seiner eigenen 2. Symphonie vor.82 Einen Tag später sprach Josef Foscht im Rahmen einer „Celebración de la liberación de Viena“ zum Thema „Wien ist befreit“, während Rubin „tocó obras maestras de compositores austríacos“,83 am 2. Juni hielt Marcel Rubin Vorträge über „Schubert, el músico del pueblo“ sowie über „Mozart en el destierro“.84 Dann betreute er „la parte musical“ der Sendungen vom 9. und 23. Juni sowie vom 7. und 21. Juli, wobei im Juli Sängerinnen Werke von mexikanischen Komponisten sowie von Johann Strauß vortrugen,85 ehe Rubin am 17. August wieder eine eigene Sendung gestaltete und hier (laut Sendeplan) den „Trauermarsch“ von Chopin spielte sowie Karol Vaida zu politischen Liedern und Opernarien begleitete. Am 31. August 1945 hielt Rubin einen Vortrag über „La vida musical en Viena“,86 am 13. Oktober trug er laut Sendeplan (zwischen Kulturnachrichten) Klavierwerke von Mozart und Schubert vor, am 16. November sprach er über „La vida y la muerte de Carlos Alwin“87, und am 15. Dezember folgte ein Referat über „Das Leben Beethovens“88. Schließlich besorgten Rubin, Ana Maria Feus, Ruth Schoenthal und Egon Neumann am 19. Jänner, 1. und 16. Februar sowie 8. März die musikalische „Umrahmung“ zu Vorträgen über naturwissenschaftliche Themen,89 ehe die ARAM ihre Eigenständigkeit aufgab und zu Kooperationen mit befreundeten Vereinigungen überging. Rubin im „Heinrich Heine-Klub“ (1943–1946) Bereits am 7. Jänner 1943 trat Marcel Rubin (gemeinsam mit einigen Sängerinnen) wieder im Heine-Klub auf, an welchem Tag er den als „Anklage gegen die Massenmörder der Juden“ gestalteten Abend mit „musikalischen Darbietungen“ umrahmte.90 – Am 23. Jänner 1943 war dann Hilda Maddalena im Kabarett80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90
Demokratische Post, 15. 11. 1944, S. 6. Austria libre II/12 (Dezember 1944), S. 2. Hier ist der Sendeplan erhalten. Austria libre IV/4–5 (April-Mai 1945), S. 7. Austria libre IV/6 (Juni 1945), S. 7. Der Mozart-Vortrag wurde August 1944 in Austria libre abgedruckt (siehe oben). Austria libre IV/7–8 (Juli-August 1945), S. 2. Austria libre IV/10 [!] (September 1945), S. 3. Austria libre IV/12 (Dezember 1945), S. 7. Austria libre V/1–2 (Jänner-Februar 1946), S. 7. Austria libre V/3 (März 1946), S. 6. Siehe Wolfgang Kießling, Alemania Libre in Mexiko, Bd. 2 (Anm. 7), S. 188.
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Vorprogramm zu Egon Erwin Kischs Himmelfahrt der Galgentoni zu sehen, wobei sie zum Ziel hohen Lobes wurde,91 am 17. Juli 1943 (Mendelssohn-Saal) wurde „anlaesslich des zweiten Jahrestages des deutsch-russischen Krieges“ Johannes R. Bechers Drama Hundert Kilometer vor Moskau zur Erstaufführung „auf dem amerikanischen Kontinent“ gebracht; der Reinertrag des Abends galt der Russenhilfe. Im ersten Teil trug (u. a.) Rubin Werke von Khatschaturian, Mjaskowski und Prokofieff vor und „brachte die teilweise schwierigen Stuecke in glaenzender Form zum Vortrag“,92 nach der Pause folgte Bechers Drama, in dem Rubin den Oberfeldwebel Gerhart Nohl sowie Hilda Maddalena dessen Frau verkörperten (Abbildung 5): „Der bewußte Antifaschist Nohl, der Hoerder zum Denken bringt, wurde knapp und unbeugsam von Marcel Rubin wirksam gemacht. Nohls Frau – in einer von den beiden Szenen, die im Hinterland spielen – gab Hilda Maddalena, frisch, unbefangen, rechtschaffen denkend, so natuerlich, dass man das Spiel vergass.“93
Abbildung 5: Hundert Kilometer vor Moskau, 17. Juli 1943.
91 92 93
Freies Deutschland 2/4 (März 1943), S. 30. Freies Deutschland 2/10 (September 1943), S. 30. Freies Deutschland 2/9 (August 1943), S. 34.
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Abbildung 6: Konzert im Heine-Klub vom 19. November 1943.
Am 19. November 1943 veranstaltete der „Heinrich Heine-Klub“ dann im Mendelssohn-Saal ein Rodolfo Halffter und Marcel Rubin gewidmetes Konzert, das Carl Alwin dirigierte. Von Rubin gelangten die 3. Klaviersonate, die zwei Lieder „Europa 1939“ nach Eva Priester und das Tanzstück „Die Stadt wartet“ („La ciudad que espera“) zur Aufführung (Abbildung 6) und trugen dem Komponisten einen großen Erfolg ein: „Das Konzert Rodolfo Halffter – Marcel Rubin machte das Publikum des Heinrich Heine-Klubs in Mexiko mit den Werken dieser zwei bedeutenden juengeren europaeischen Komponisten bekannt. [...] Der Oesterreicher Marcel Rubin schafft sich in der dritten Klaviersonate (geschrieben mit 23 Jahren) eine persoenliche, beim ersten Hoeren noch fremdartig beruehrende Technik, die es ermoeglicht, die Grundstimmung eines Teiles – Aktivitaet in den Eck-Saetzen und den ersten Gesang des Mittelsatzes – konsequent durchzufuehren und zu steigern. Marcel Rubin arbeitet bereits an einer neuen Volksmusik, die Ausdruck des Strebens und Ringens, der Gefuehle und des Kampfes des Volkes von heute ist. Das bewies sein Tanzstueck mit Orchester ,Die Stadt wartet‘, [...] das alle Hörer tief beeindruckte.“94
Am 24. April 1944 thematisierte der Heine-Klub die „Volkslieder und Tänze Mexikos“, über die Marcel Rubin einleitend sprach, wobei er
94
Freies Deutschland 3/2 (Januar 1944), S. 30. Weitere Rezensionen in Demokratische Post, 10. 12. 1943, S. 4, sowie in Apuntes y Literatura, 1. 12. 1943, No. 234.
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„die drei wichtigsten Eigenschaften der mexikanischen Volksmusik hervor[hob]: ihre regionale Eigenart, ihre erstaunliche Aehnlichkeit mit der Musik mancher europaeischer Voelker und ihre Rolle in den Freiheitskaempfen des mexikanischen Volkes“.95
Am 16. Juni 1944 wurde Rubin (neben Ernst Römer) von der Generalversammlung des Klubs in den Vorstand gewählt (Präsidentin war weiter Anna Seghers),96 am 3. Juli 1944 hielt er einen Vortrag über „Musik und Politik“,97 am 29. Juli sorgte er für die „musikalische Einrahmung“98 der Aufführung von Büchners Wozzeck im „Tea-tro de los Electricitas“.99 Am 25. Oktober deckte er im Rahmen der Veranstaltung mit dem Thema „Was ist Kitsch“ die musikalische Seite ab – Ludwig Renn betrachtete hier die Literatur, weitere Diskussionsbeiträge kamen von Carl Alwin, Erwin Kunewaelder und Egon Erwin Kisch.100 Schließlich verfaßte Rubin die Musik zu einem am 14. Jänner (21 Uhr) im „Teatro de los Electricitas“ (Calle Artes 45) stattfindenden Theaterabend des Heine-Klubs mit „drei Einakter[n] des bekannten franzoesischen Lustspielautors Georges Courteline: ,Ihre Sorgen‘ (Gros Chagrins), ,Der haeusliche Friede‘ (La Paix chez soi) und ,Der gemuetliche Kommissaer‘ (Le Commissaire est bon enfant). Die beiden ersten werden von Steffanie Spira inszeniert. Die Regie des ,Gemuetlichen Kommissaers‘ fuehrt Charles Rooner, der das Stueck mit Gesangseinlagen neu bearbeitet hat. Die Musik dazu schreibt Marcel Rubin.“101
Am 8. März 1945 fand unter dem Titel „Spaniens Himmel breitet seine Sterne...“ im Schiefer-Saal „ein Freundschaftsabend zu Ehren der spanischen Guerillas“ statt, den Kurzansprachen von (u. a.) Anna Seghers und Egon Erwin Kisch einleiteten und bei dem „der Chor der Freien Deutschen unter Marcel Rubin [...] Lieder der Internationalen Brigaden, unverfälschte Melodien aus unserem Volkskrieg“102, sang. – Am 24. Mai 1945 wirkte Rubin bei einem vom Heine-Klub veranstalteten „kabarettistischen Abend“ mit dem Titel „Zehn kleine Meckerlein [...] Spiel und Spott aus 5 Jahrhunderten“ mit,103 am 7. Dezember 1945 war er (neben Ernst Römer) einer der Ausführenden bei einem „Beethoven-Abend“ des Heine-Klubs, der aus Anlaß des „175. Jahrestages seiner Geburt“ im Schiefer-Saal ausgerichtet wurde. Hier begleitete er die Geigerin Elisabeth Coeman bei der „Frühlingssonate“, op. 24, und konnte „herzliche und verdiente Ovationen“ entgegennehmen.104 – Schließlich war 95 96 97 98
Demokratische Post, 1. 5. 1944, S. 3. Siehe auch Freies Deutschland 3/7 (Juni 1944), S. 31. Austria libre III/6–7 (Juni-Juli 1944), S. 8. Demokratische Post, 15. 6. 1944, S. 6. Um welche „musikalische Einrahmung“ es sich handelte, war nicht zu eruieren; auch Rubin erinnerte sich nicht daran. 99 Zu dieser Aufführung siehe Austria libre III/8 (August 1944), S. 6. 100 Demokratische Post, 1. 11. 1944, S. 6. Siehe auch Freies Deutschland 4/1 (Dezember 1944), S. 31. 101 Demokratische Post, 1. 12. 1944, S. 2. 102 Demokratische Post, 15. 3. 1945, S. 5. 103 Siehe Wolfgang Kießling, Alemania Libre in Mexiko, Bd. 2 (Anm. 7), S. 194. 104 Freies Deutschland 5/1 (Januar 1946), S. 30.
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Rubin auch an der Gestaltung des „künstlerischen Unterhaltungsteiles“105 des am 1. Februar 1946 stattfindenden Abschiedsabends des Heine-Klubs beteiligt. Weitere Konzerte und Veranstaltungen Am 24. März 1944 (21 Uhr) veranstaltete der Verlag „El Libro Libre“ im Restaurant „Chapultépec“ (Reforma 509) einen „Acto de Homenaje“ für die Schriftsteller Leo Katz und Bodo Uhse, bei dem Ernst Römer den Bariton Daniel Duno sowie Marcel Rubin das Tanzpaar Waldeen und Giullermina Bravo begleiteten, die eine Gavotte von Prokofieff sowie den „Gopac“ von Mussorgsky choreographierten. – Am 28. Mai 1944 (21. 15 Uhr) übertrugen dann „sämtliche mexikanischen Sender [...] anläßlich des zweiten Jahrestages der Kriegserklärung Mexikos an die Achse ein großes Orchesterkonzert, das der bekannte Kapellmeister Jascha Horenstein dirigierte, der früher in Deutschland große Erfolge hatte. Zur Aufführung gelangten Werke von Silvestre Revueltas, Manuel de Falla und der ,Traum von der Freiheit‘ unseres Mitarbeiters Marcel Rubin.“106
Das von der mexikanischen Regierung „en honor de la Marina Nacional“ veranstaltete Konzert fand im Opernhaus (Palacio de Bellas Artes) statt und fand in Presse (Abbildung 7) und Öffentlichkeit eine äußerst große Beachtung. – Am 18. November 1944 wirkte Rubin beim „Dreijahresfest“ der Zeitschrift „Freies Deutschland“ mit und begleitete „die ausgezeichnete Saengerin Rosi Volk“ bei „stimmungsvollen Liedern aus Wien“107, bei einem am 22. April 1945 im „Palacio de Bellas Artes“ stattfindenden Konzert anläßlich der Befreiung Wiens spielte die „Banda de la Secretaría de Marina“ unter der Leitung von Carl Alwin (der auch den 1. Satz aus Beethovens 5. Symphonie dirigierte und als Begleiter von Liedern und Arien fungierte) erneut den „Marsch der Freiheit“ aus Die Stadt.108 Carl Alwin und Marcel Rubin wirkten auch bei einem Konzert jüdischer Musik mit Kompositionen von Meyerbeer, Mendelssohn und Mahler mit, das die Loge „Bene Berith“ am 8. August 1945 im Schiefer-Saal veranstaltete,109 und Ernst Römer fand bei seinem Vortrag „Wie hoere ich Musik?“, den er am 4. März 1946 bei einem Klub-Abend im „Hause der Freien Deutschen Mexikos“ hielt, „zur musikalischen Illustrierung seines Vortrages die kollegiale Unterstuetzung des oesterreichischen Komponisten Marcel Rubin (am Piano)“.110
105 Freies Deutschland 5/3–4 (März-April 1946), S. 40. 106 Demokratische Post, 1. 6. 1944, S. 3. Der „Traum von
der Freiheit“ (El Sueño de la Libertad) stammt aus dem Tanzstück Die Stadt wartet. Siehe auch Freies Deutschland 3/9 (August 1944), S. 29, wo darauf verwiesen wird, daß Jascha Horenstein „bis zu Hitler Operndirektor in Düsseldorf war“. 107 Demokratische Post, 1. 12. 1944, S. 2. 108 Austria libre IV/4–5 (April-Mai 1945), S. 7. 109 Demokratische Post, 1. 8. 1945, S. 16. 110 Freies Deutschland, 5/3–4 (März-April 1946), S. 45.
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Abbildung 7: Anzeige der Rundfunkübertragung des Konzerts vom 28. Mai 1944.
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Abbildung 8: Programm der Uraufführung von Rubins 2. Symphonie.
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Seinen größten Erfolg konnte Marcel Rubin schließlich am 14. März 1946 (21 Uhr) feiern, an welchem Tag er im großen Saal des „Palacio de Bellas Artes“ selbst die vom „Orquesta Sinfonica de la Universidad“ gespielte Uraufführung seiner 2. Symphonie („Tierra“)111 dirigierte (Abbildung 8). Die Presse war einhellig der Meinung, ein Ereignis von musikgeschichtlicher Bedeutung erlebt zu haben. Die Zeitung Tiempo veröffentlichte am 22. März eine überaus positive Kritik, und Austria libre druckte eine hymnische Rezension aus Sucesos (vom 26. März) ab: „Die Symphonie von Marcel Rubin Da unser Musikreferent Marcel Rubin sich in der Beurteilung einer Symphonie des Komponisten gleichen Namens fuer ,befangen‘ erklaert, drucken wir im Nachstehenden die Uebersetzung einer Besprechung ab, die der bekannte mexikanische Musikkritiker Salomon Kahan in SUCESOS vom 26. Maerz 1946 veroeffentlichte: Im 5. und 6. Konzert des Symphonieorchesters der Universitaet, im Palacio de Bellas Artes, gab es einige Ereignisse von hervorragendem Interesse. Darunter ist zu verzeichnen die Erstauffuehrung der Zweiten Symphonie des Wiener Komponisten Marcel Rubin, der seit einigen Jahren unter uns weilt. Mehr noch als rein symphonische Musik ist diese Symphonie Programmusik. Meisterhaft geschrieben vom Gesichtspunkt der Kunst moderner Komposition, kann die Symphonie von Marcel Rubin zu der Gattung gezaehlt werden, der die ,Proletarische Symphonie‘ von Carlos Chávez angehört. Das Programmatische dieser Musik (die den allgemeinen Titel ,Erde‘ traegt) eignet sich ausgezeichnet für ein Ballet, das fuenf Teile haette, die denen der Symphonie entsprechen und heissen: ,Die Pflueger‘, ,Feld am Abend‘, ,Die Ballade von der Befreiung‘, ,Zwei Menschen‘, ,Ernte‘. In Augenblicken erinnert uns die ausserordentliche, rein rhythmische Kraft der Musik an die Unzahl marschierender Fuesse, die der geniale russische Filmregisseur Serge Eisenstein mit solcher Meisterschaft in dem unvergesslichen Film ,Potiomkin‘ geschildert hat. Mit einem Wort, die Symphonie von Marcel Rubin ist entschieden links gerichtet, nicht nur vom Standpunkt ihrer durchaus modernen Sprache, sondern auch in der Ideologie die man stark in ihren Seiten fuehlt (in denen es unter anderem eine bewundernswerte Episode für die Pauken als Soloinstrumente gibt). Wir muessen hier unterstreichen, dass wir selten in diesen Konzerten eine so glaenzende Auffuehrung wie die dieser Symphonie gehoert haben. Marcel Rubin, der ihr Dirigent war, hat aussergewoehnliche Faehigkeiten für die Leitung symphonischer Orchester und wir wuerden mit wirklichem Interesse einem Konzert mit gemischtem Programm beiwohnen, das von diesem hervorragenden Musiker dirigiert wuerde.“112
111 In
seiner 1974 erstellten Neufassung der Symphonie verband Rubin dann die Sätze Nr. 2 und 3 zu einem einzigen und eliminierte zudem die programmatischen Titel. 112 Austria libre V/4–5 (April-Mai 1945), S. 7.
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Das letzte öffentliche Auftreten Rubins fand dann in einem Recital statt, das Georgina Tisel am 11. Oktober 1946 (21.15 Uhr) im Konferenzsaal von „Bellas Artes“ gab, bei dem er französische Chansons bzw. Gedichte wie Les filles de la Rochelle, En revenant de noces, La fille du savetier, La femme du roulier, Nan . . Nan . . Nan . . (Daudet), Ma Normandie, Les repliques de Marion, Un vente (Maupassant), La belle Ysabeau, Aux marches du Palais oder Chanson Normandie begleitete.113 Privates Juli 1944 erreichte Hilda Maddalena die Nachricht vom Tod ihres Mannes Max Maddalena im deutschen Zuchthaus Brandenburg. Am 28. Juli 1944 fand dann in der „Universidad Obrera de México“ „eine Gedaechtnisfeier fuer den von den Nazis ermordeten bekannten deutschen Gewerkschaftsfuehrer und hervorragenden Leiter der Untergrundbewegung im Hitler-Reich, Max Maddalena, statt. Der wuerdigen Feier wohnten zahlreiche Persoenlichkeiten des mexikanischen oeffentlichen Lebens [...] bei, sowie die Witwe des Verstorbenen, Frau Hilda Maddalena“.114
Eine positivere Nachricht kam Anfang November aus Paris, als Erwin und Ludowika Rubin durch ein Telegramm erfuhren, „dass die Familie ihrer Tochter, von der sie lange keine Nachricht gehabt, die schwere Zeit nicht nur lebend ueberstanden hatten, sondern sogar um ein Mitglied [...] bereichert war“.115
Olga Beaufils hatte einen Sohn namens Michel geboren. – Ein weiteres familiäres Ereignis wurde dann die am 19. Dezember 1945 in Ixtapaluca stattfindende Hochzeit von „Marcel Rubin Maschler“, Komponist, und „Hilda Eble Oehler“ [verwitwete Maddalena], Lehrerin; Adressen: „Citlaltepec [!] No. 36 – Nuovo Leon No. 124“, Zeugen: „Dario Vasconcelos, Jesus M. Mendoza“ bzw. „Fernando Herrera Montaño, Daniel García Tovar“. – Und schließlich gab es eine weitere freudige Nachricht, die aus Austria libre zitiert sei: „Ein blaues Couvert liegt vor uns auf dem Tisch. Seltsam heimatlich ruehrt es uns an: es ist nicht schmal wie die in Mexico gebrauchten, sondern breit, fast quadratisch. Zwei Marken, schoene Gebirgslandschaften, zieren die Ecke; REPUBLIK OESTERREICH lesen wir mit Stolz. Die Adresse unseres Freundes Marcel Rubin ist fehlerlos ausgeschrieben. Das blaue Couvert geht von Hand zu Hand. Mit Interesse suchen wir den Absender und lesen in gedruckten Lettern: UNIVERSAL-EDITION, WIEN I. Karlsplatz 6 – Musikvereinsgebauede [!]. 113 Einzelne
weitere Mitwirkungen Rubins sowie seines „Freien Chores“ siehe unter: http://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/mexikoveranstchronikpatka (Marcus Patka). 114 Demokratische Post, 15. 8. 1944, S. 6. Siehe auch Freies Deutschland 3/11 (September 1944), S. 33f. 115 Demokratische Post, 15. 11. 1944, S. 6.
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Es ist Zeit die Spannung zu loesen und den Inhalt des blaue [!] Couverts zu enthuellen. Es ist eine gedruckte Einladung. ,Der Direktor der Universal-Edition gibt sich die Ehre, Marcel Rubin zu dem in den Raeumen des Verlags Boesendorferstr. 12 stattfindenden Haukonzert [!] einzuladen, dessen Programm umseitig angeführt ist‘. Das Programm bringt an erster Stelle: MARCEL RUBIN, Sonatine fuer Klarinette und Klavier.116 Marcel Rubin konnte der Einladung leider nicht Folge leisten. Das Hauskonzert fand Samstag, den 2. Februar 1946 statt.“ 117
Entschluß zur Rückkehr Die guten menschlichen Kontakte, die beruflichen und künstlerischen Erfolge und nicht zuletzt auch das angenehme Wetter (durch die Höhenlage wird es in der Hauptstadt México niemals unerträglich heiß, es herrscht gleichsam ein permanenter Frühling) gestalteten Marcel Rubin den Aufenthalt in Mexiko äußerst positiv. Vor allem fühlte er sich in seinem „Brotberuf“ als Korrepetitor recht wohl, obwohl die Zustände am Opernhaus (mit seinem Stagione-Betrieb) nicht gerade die besten waren. Die persönliche Freundschaft mit Carl Alwin und dem Oberregisseur Wilhelm Wymetal half ihm jedoch über alle Unannehmlichkeiten hinweg. Da es zu Marcel Rubins Aufgabenbereich zählte, mit den Sängern ihre Partien einzustudieren, war er natürlich am ärgsten von dem allgemein herrschenden Schlendrian betroffen, vor allem auch, weil es die gastierenden Stars von der New Yorker „Met“ zumeist für unter ihrer Würde hielten, überhaupt zu proben. Da die Verhältnisse eher immer schlimmer wurden, entschloß sich Rubin nach einiger Zeit, der Direktion zu schreiben, daß er unter diesen Bedingungen nicht arbeiten könne und daher sein Amt zurücklege, worauf man man ihn zu bleiben bestürmte, da er der einzige Korrepetitor sei, der Wagner spielen könne. Und als er dann – auch als „Abschrekkung“ – das Doppelte seines bisherigen Gehaltes forderte, wurde ihm dies sofort gewährt. Dennoch wollten Rubin, zeit seines Lebens „unverbesserlicher Europäer“ (wie er sich selbst nannte), sowie Vater und Gattin nach Österreich zurück, und so ließ sich die Familie am 16. April 1946 ein zwölf Monate gültiges Ausreise-Visum ausstellen, um über die USA und England nach Frankreich zu reisen (Abbildung 9). Das drei Monate gültige Visum für die Rückkehr nach Frankreich erhielt Rubin am 29. August 1946, für die Durchreise durch die Vereinigten Staaten löste er erstmals am 9. September 1946 ein Visum, doch verzögerte sich die für Mitte Oktober geplante Reise, und so mußte er sich am 5. Dezember 1946 erneut ein solches ausstellen lassen. Die Reise ging dann per Bahn ins texanische Laredo, wo er am 9. Dezember eintraf und einige Tage „under bond“ („Zollverschluß“) blieb, ehe es nach New York weiterging. Als die Familie dort das Schiff bestieg, stand Jascha 116 Eine von Friedrich Wildgans vorgenommene 117 Austria libre V/3 (März 1945), S. 5.
Umarbeitung der Sonatine für Oboe und Klavier.
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Horenstein am Hafen, um seinem alten Bekannten die Hand zu drücken und kopfschüttelnd zu sagen: „Ich und alle meine Freunde erklären Sie für verrückt, in dieses traurige Europa zurückzufahren, nachdem Sie sich in Mexiko schon durchgesetzt haben.“
Abbildung 9: Identitäts- und Reise-Dokument Marcel Rubins vom 16. April 1946.
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Dennoch schiffte man sich ein, erreichte am 22. Dezember Cherbourg und reiste gleich nach Neuilly-sur-Seine weiter, wo die Schwester Olga wieder mit ihrer Familie lebte. Am 24. Jänner 1947 erhielten Marcel Rubin und seine Frau, nachdem ihnen die französische Militärregierung die Ausreise in die französische Zone Österreichs (Vorarlberg und Tirol) gestattet hatte, schließlich ein Durchreise-Visum durch die Schweiz; Vater Erwin blieb aus gesundheitlichen Gründen in Paris zurück, wo er am 2. Mai 1947 starb. Das Ehepaar Rubin traf dann am 5. Februar in Basel ein, passierte am 6. Februar Buchs, erhielt dort für die Zeit vom 7. bis 9. Februar „Reisemarken“ für die Verpflegung und erreichte schließlich am 8. Februar Wien, wo Freund Friedrich Wildgans die Ankömmlinge erwartete. Und nun begann ein neues Kapitel im Leben Marcel Rubins, das ihn sowohl zum gleichermaßen gefürchteten wie geachteten Musikkritiker der Volksstimme, zum geschätzten Präsidenten der AKM sowie zu einem der erfolgreichsten Komponisten Österreichs werden ließ, ehe er am 12. Mai 1995 starb, ein halbes Jahr nach seiner Gattin und knapp zwei Monate vor seinem 90. Geburtstag.
ELENA OSTLEITNER (Wien)
„Fremd bin ich eingezogen ...“ Anmerkungen zum Alltag österreichischer Musiker im lateinamerikanischen Exil Wir sind, mein Kind, nie mehr zuhause, vergiß das Wort, vergiß das Land, und mach im Herzen eine Pause – dann gehen wir. Wohin? Unbekannt.
Mit diesen wenigen, jedoch unter die Haut gehenden Worten des Gedichtes mit dem Titel Auswanderer beschreibt der 1885 in Wien geborene Berthold Viertel, dessen Gedichte erstmals 1910 in der Zeitschrift seines Mentors Karl Kraus, in der Fackel, erschienen, jene dramatisch-ungewisse Situation, vor der Emigranten beim Antritt ihrer Flucht standen und die wiederholt in ihren schriftlichen Aufzeichnungen festgehalten wurde. „Der Entschluß aus dem eigenen Land wegzugehen, ob er plötzlich kam, weil das Leben plötzlich in Gefahr war, oder ganz allmählich, weil das Leben ganz allmählich untragbar wurde, dieser Entschluß ist schon der Anfang der Emigration. Wer ihn gefaßt hat, dem brennt schon der Boden unter den Füßen [...]“1
Dieser Satz wurde von einer Frau geschrieben, die selber das unfaßbare Schicksal der Emigration, 1933 zunächst nach Frankreich und 1941 schließlich nach Mexiko, erlebt hatte und diese Erfahrungen auch in ihr schriftstellerisches Werk einfließen ließ: Anna Seghers (1900–1983). So ist der Schauplatz ihres 1944 erschienenen Romans Transit die Hafenstadt Marseille. Von dieser Stadt aus gab es nicht nur Direktverbindungen nach Übersee, sondern auch Überfahrten nach Algier. Von dort war in zweitägiger Bahnfahrt Casablanca zu erreichen, wo erneut auf die Einschiffung gewartet werden mußte. Der 1942 unter der Regie von Michael Kurtz gedrehte Kultfilm fängt die Atmosphäre der auf Transitpapiere wartenden Emigranten eindrucksvoll ein. Marseille wird im Sommer 1940 zum Sammelplatz von tausenden Flüchtlingen, zum „Vorhof der Hölle“, wie sie in Miguel Herz-Kestraneks Veröffentlichung2 der Korrespondenz seines nach Uruguay geflüchteten Vaters zu Recht genannt wird. 1 2
Anna Seghers, Frauen und Kinder in der Emigration, in: Anna Seghers / Wieland Herzfelde, Gewöhnliches und gefährliches Leben. Ein Briefwechsel aus der Zeit des Exils. 1939–1946, Berlin 1985, S. 128. Miguel Herz-Kestranek / Marie-Therese Arnbom, Stefan Herz-Kestranek – Stationen eines großbürgerlichen Emigranten 1938 bis 1945, Wien 1997, S. 149.
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Seghers beschreibt die erschütternden Szenen, die sich beim täglichen Warten vor den ausländischen Konsulaten, etwa jenem Mexikos, abspielten, als auch all jene Hoffnungen, die damit verbunden waren: „Seit meinem letzten Besuch war die Menge vor dem Gitter gewachsen. Unzählige glänzende Augenpaare richteten sich auf das Tor. Für diese Männer und Frauen war das Konsulat keine Behörde, ein Visum war kein Kanzleiwisch. In ihrer Verlassenheit, die von nichts übertroffen wurde als von ihrer Zuversicht, nahmen sie das Haus für das Land und das Land für das Haus. Ein unermeßliches Haus, in dem ein Volk wohnte, das sie einlud.“3
Je schwieriger der Erwerb der nötigen Reisedokumente wurde, desto beliebiger wurde auch die Wahl des Ziellandes. Die Bemühungen um die lebensrettenden Papiere waren dominierend bestimmt vom dringlichen Wunsch in irgendeinem, möglichst fernen Land Asyl zu finden. „Shanghai, die USA und bald darauf Palästina werden zu den ersten Zielen der Emigration. Doch in Wahrheit kann sich kaum einer, weder jetzt und schon gar nicht später, sein Exilland aussuchen. Wohin der Flüchtling letztendlich gelangt, hängt von Zufällen und Bedingungen ab, die er nicht beeinflussen kann.“4 „Es geht also ‚nur‘ mehr um das Wie und Wohin. Und da stellen sie sich wieder ein, die Beziehungen, die Verbindungen – die Schlüssel, die zu sperren scheinen.“5
Mit diesen wenigen Worten charakterisiert der Wiener Schauspieler Miguel HerzKestranek in den von ihm 1997 veröffentlichten Briefen seines Vaters Stefan an seine Eltern die Situation, in der sich viele Emigranten befanden. Diese Frage um das „Wie“ und „Wohin“ stellten sich wohl alle Emigranten, nicht nur jene, die Lateinamerika zum Ziel hatten – obgleich sich viele nicht als Emigranten bezeichnet sehen wollten, wie dies Bertolt Brecht in einem Gedicht zum Ausdruck bringt: „Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. Das heißt doch Auswanderer. Aber wir Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns aufnahm. [...]“ 6
Nicht jedem aus einem europäischen Hafen auslaufenden Schiff gelang es auch, in Lateinamerika im vorgesehenen Bestimmungshafen den Anker zu werfen. Hugo Wiener erinnert in seinen Zeitensprüngen an jene österreichischen Emigranten, die mit dem Dampfer „Königstein“ in Barbados hätten landen sollen und aufgrund 3 4 5 6
Anna Seghers, Transit, Darmstadt 1988 (14. Auflage), S. 41. Der Roman erschien 1944 in Mexiko zunächst in spanischer Übersetzung und wurde erst 1948 in deutscher Sprache veröffentlicht. Herz-Kestranek / Arnbom, Stefan Herz-Kestranek (Anm. 2), S. 25. Ebenda S. 141. Bertolt Brecht, Über die Bezeichnung Emigranten, in: ders., Hundert Gedichte. 1918–1950, Berlin 1962, S. 264.
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mittlerweile geänderter Einwanderungsbestimmungen der Briten nicht an Land konnten. In jedem Hafen hieß es erneut: Landung verboten. Dank der Intervention eines venezolanischen Anwaltes bei der Regierung konnten die Bedauernswerten in La Guaira, dem Hafen von Caracas, an Land gehen. Durch den persönlichen Einsatz dieses Mannes entkamen sie somit dem sicheren Tod, den eine Rückfahrt zwangsläufig bedeutet hätte; man denke hier nur an das Schicksal der Passagiere der „St. Louis“. An Bord der „Königstein“ befand sich auch Alfredo Hollander mit seiner jüdischen Verlobten. Oft konnten die anvisierten Asyle nur über Umwege und Zwischenstationen erreicht werden. Um nur einige Schicksale anzuführen: Stefan Herz-Kestranek schrieb seinen Eltern aus Frankreich, Portugal und Spanien, ehe er mit seiner Frau Hilde das Schiff nach Uruguay besteigen konnte. Der 1906 geborene Wiener Pianist Paul Manelski war, bevor er sich in Venezuela niederlassen konnte, in Uruguay. Ehe der Wiener Dirigent Theo Buchwald 1938 in Peru Fuß fassen konnte, verschlug es ihn vier Jahre zuvor nach Chile. Hugo Wiener (1904–1993) reiste 1938 über Kolumbien kommend nach Venezuela ein. Mit dem ihm eigenen, typischen Humor beschreibt er in seinen Lebenserinnerungen, den Erinnerungen eines alten Jünglings, seinen ersten Eindruck von der Hafenstadt Barranquilla: „Das also war Kolumbien! Die Hafenstadt Barranquilla [...] bot einen exotischen Anblick. Palmen, die die Straßen säumten, Menschen in allen Hautschattierungen, Schwarze, Braune, Weiße, bunt gekleidete Frauen, dazu der für Südamerika typische Lärm, Straßenverkäufer, die ihre Waren ausriefen, Schuhputzer, Buben, die durcheinander schrien: ‚Helados!‘, ‚Lotteria!‘, ‚Periódicos!‘, was soviel heißt wie ‚Eis!‘, ‚Lotterielose!‘, ‚Zeitungen!‘. Wäre ich als Tourist hier gewesen, hätte ich dem Reisebüro, das mich vermittelt hat, gedankt.“ 7
Die ungewohnte akustische Belastung machte auch Erich Kleiber zu schaffen. Am 29. November 1939 berichtet er aus Lima: „Hier sitz’ ich mitten in einer Stadt, die vor fast 500 Jahren gebaut wurde und doch einen ganz modernen Eindruck macht, besonders was Lärm betrifft in diesem großen Hotel – sowas von Türenschlagen habe ich noch nie erlebt [...].“8
Einige Tage später, am 1. Dezember – er ist mittlerweile in ein anderes, angeblich ruhigeres Hotel übersiedelt – äußert er sich wiederum zu seiner unmittelbaren akustischen Umwelt: „Wie ich am Nachmittag mich ausruhen wollte, saßen drei Kellner in Hemdsärmeln vor meinem Fenster im Gras und plauderten. (Was man hier so plaudern nennt und was wie eine Rauferei klingt).“9
Sein Humor kommt ihm jedoch nicht abhanden. Am 8. Dezember schreibt er wieder nach Hause – fast täglich sendet er Post an seine geliebte Familie: 7 8 9
Hugo Wiener, Zeitensprünge. Erinnerungen eines alten Jünglings, Frankfurt am Main 1994, S. 161. John Russell, Erich Kleiber, München 1957, S. 212. Ebenda S. 213.
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„An den Lärm hier im Hotel ‚Miraflores‘ habe ich mich schon ein bißl gewöhnt. Im Countryclub schien es sehr nobel, aber auch nicht ruhig – nur feiner unruhig [...].“10
Nur wenige der Asylsuchenden hatten Vorstellungen vom Zielland: viele schifften sich gezwungenermaßen ohne Informationen und Sprachkenntnisse ein und begannen erst an Bord sich Vorstellungen von Land und Leuten ihrer unmittelbar nächsten Heimat zu machen, welche zum einen aus äußerst vagen Meldungen genährt wurden oder sogar von völliger geographischer Unkenntnis zeugten: „Von uns deutschen Juden wußte keiner, ob Rio die Hauptstadt von Brasilien oder Argentinien war.“11
Und in Anna Seghers schon mehrfach zitiertem Roman Transit meint eine der nach Mexiko emigrierenden Hauptfiguren: „Es gibt ja Länder, mit denen man schon aus der Knabenzeit her vertraut ist, ohne sie gesehen zu haben. Sie erregen einen. Gott weiß, warum. Eine Abbildung, ein Schlängelchen von einem Fluß auf einem Atlas, der bloße Klang eines Namens, eine Briefmarke. An Mexiko ging mich nichts an, nichts war mir an diesem Land vertraut. Ich hatte nie etwas über dieses Land gelesen, da ich auch als Knabe ungern las. Ich hatte auch über das Land nichts gehört, was mir besonders im Gedächtnis geblieben wäre. Ich wußte – es gab dort Erdöl, Kakteen, riesige Strohhüte. Und was es auch sonst dort geben mochte, es ging mich ebensowenig an […].“12
An anderer Stelle trifft der Ich-Erzähler des Romans einen Kapellmeister aus Prag, dem man eine Stelle bei einer berühmten Kapelle in Caracas verschafft hatte: „Ich fragte ihn, wo das liege; er erwiderte spöttisch, das sei die Hauptstadt von Venezuela. Ich fragte ihn, ob er Söhne habe; er erwiderte, ja und nein, sein ältester Sohn sei in Polen verschollen, sein zweiter in England, sein dritter in Prag. Er könne jetzt nicht mehr länger auf Lebenszeichen von Söhnen warten, sonst sei es für ihn zu spät. Ich glaubte, er meine den Tod. Er meinte aber die Kapellmeisterstelle, die mußte er vor dem neuen Jahr antreten. Er hatte schon einmal einen Kontrakt besessen, auf den Kontrakt ein Visum, auf das Visum das Transit. Die Gewährung des Visa de sortie habe aber so lange gedauert, daß ihm inzwischen das Transit erloschen sei, darauf das Visum, darauf der Kontrakt. Letzte Woche habe man ihm das Visa de sortie gewährt, er warte jetzt Tag und Nacht auf die Verlängerung des Kontraktes, die ja dann ihrerseits die Verlängerung seines Visums bedinge. Die aber sei die Vorbedingung für die Gewährung des neuen Transits.“13
10 11 12 13
Ebenda S. 214. Alfredo José Schwarcz, Trotz allem ... Die deutschsprachigen Juden in Argentinien, Wien 1995, S. 246. Seghers, Transit (Anm. 3), S. 36. Ebenda S. 54.
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Handfeste Vorurteile ergänzten das Bild, das man von den lateinamerikanischen Ländern hatte. Dies bestätigten auch jene von Alfredo José Schwarcz befragten deutschsprachigen Juden in Argentinien: „Wir hatten uns Argentinien als ein viel wilderes Land vorgestellt, als es wirklich war.“14
Ähnlich überrascht von der neuen „Heimat“ zeigt sich auch Stefan Herz-Kestranek nach seiner Ankunft in Montevideo: „[...] Das Land ist völlig zivilisiert. Es gibt nicht einmal wilde Tiere, ja nicht einmal Schlangen. [...] Jeder Arbeiter ist ein zivilisierter Mensch von weißer Hautfarbe.“15
Doch ehe es so weit war, mußten noch zahlreiche bürokratische Hürden bewältigt und nicht ungefährliche Krisensituationen gemeistert werden. So wurden Hugo Wieners Schiffskoffer bei seiner Abfahrt von Wien nach Amsterdam vom Zollbeamten penibel durchsucht, bis jener auf Notenblätter stieß: „ ‚San Sie Musiker?‘ erkundigte er sich. ‚Ja‘, sagte ich. Drauf er: ‚I spiel Klarinett. Wenn S’ a Musiker san, haben S’ eh nix.‘ “16
Hinzu kam meist noch eine unsägliche Unsicherheit und Angst vor dem Neuen, vor der Zukunft, wie ebenfalls in den Lebenserinnerungen des Kabarettisten nachzulesen ist: „Ich hatte Angst vor der Zukunft. Wie wird es in Kolumbien sein? [...] Ich wollte in ein Land, das mir nicht so fremd war wie Kolumbien. In ein Land, in dem ich mich verständigen konnte, in dem ich arbeiten durfte. Lieber Gott, betete ich, laß mich wieder nach Europa kommen.“ 17
Besonders demütigend verliefen oft der Kampf um Schiffsplätze – die Reedereien betrieben ein lukratives Geschäft mit dem jüdischen Exodus – und der bürokratische Hindernislauf um das begehrte Transit-Visum, wie Anna Seghers in ihrem Roman Transit – der Titel wird gewissermaßen zur Chiffre schlechthin – beschreibt: „Da gab es gültige Transits, doch unbezahlte Plätze, bezahlte Plätze und abgelaufene Transits. Und all das Betteln und Winseln schlug jenseits der Schranken an die breite Brust eines braunen, ölig gescheitelten Mannes [...]. Er unterdrückte ein Gähnen, das schließlich doch aus seinen Kinnladen hervorquoll, gleichzeitig mit dem Aufschluchzen einer jungen Frau, deren Passage nicht umgebucht werden durfte. Er sah sie flüchtig an. Dann strich er die Buchung endgültig aus und bohrte sich mit dem Blei ins Ohr.“18
14 15 16 17 18
Schwarcz, Trotz allem (Anm. 11), S. 246. Herz-Kestranek / Arnbom, Stefan Herz-Kestranek (Anm. 2), S. 170. Wiener, Zeitensprünge (Anm. 7), S. 154. Ebenda S. 157. Seghers, Transit (Anm. 3), S. 138.
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Gute Verbindungen halfen allemal, wie dies auch in Stefan Herz-Kestraneks Briefen zum Ausdruck kommt: „Mit der Protektion so gewichtiger Staatsbürger, wie es die Freunde meiner Frau sind, und nach Erlegen der Kaution, bekommt man die Visas [!] selbstverständlich, wenn wir aber am hiesigen Konsulat ohne Protektion und Kaution einreichen, wird es selbstverständlich abgewiesen.“19
Das Geschäft um die Transitpapiere blühte. Die Ausstellung der notwendigen Dokumente hing sehr oft von Laune und Eigenmächtigkeit so mancher Konsularvertreter ab und war damit der unberechenbaren Willkür unterworfen, wie auch bei Hugo Wiener nachzulesen ist: „Endlich waren die Pässe erledigt, unsere Einreise nach Venezuela hatte sich durch die absichtliche Saumseligkeit des Konsuls um eine Woche verzögert.“20
Diese Demütigung erlebte auch Stefan Herz-Kestranek, wie dies sein Sohn Miguel zusammenfassend beschreibt: „Die Ausstellung der rettenden Visa hing oft von Laune und Willkür der verschiedenen Konsuln ab und wurde dadurch völlig unberechenbar. Der Konsul in Prag soll besonders zuvorkommend gewesen sein, der Konsul in London wiederum sandte zum Beispiel alle Anträge zur Bestätigung ans Außenministerium in Montevideo und zerstörte so durch dieses sture Festhalten an der Bürokratie vielen Antragstellern die Möglichkeit der Ausreise.“21
Gelegentlich gab es aber auch Positives über diesen Hürdenlauf zu berichten. Der Kabarettist Hugo Wiener erinnert sich an folgende Situation in Bogotá: „Die Zeit verging, und wieder kam die Frage: Mein Visum ist nur noch vier Monate gültig – wohin dann? Da kam mir der Zufall zu Hilfe. War es wirklich Zufall? Ich habe schon einmal geschrieben, ich muß einen Schutzengel haben. Diesmal schlüpfte er in die Gestalten unserer Bürgermeister. So wie der Alcalde von Bogotá luden uns nun die Bürgermeister der großen und kleineren Städte Kolumbiens ein, bei ihnen zu gastieren. Wir nahmen natürlich an, was für mich eine Verlängerung des Visums um weitere drei Monate bedeutete.“22
In Lateinamerika galt es sich zunächst zu etablieren, mit der ungewohnten Sprache – wahrhaft für viele das sprichwörtliche „spanische Dorf“ – und mit den neuen Sitten und Gebräuchen vertraut zu werden. Das Zusammentreffen zweier Kulturen bedeutete oft einen Schock. Je größer der Kulturunterschied zum Asylland, desto stärker manifestierte sich auch die Ausgrenzung gegenüber der Gesellschaft. Dies
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Herz-Kestranek / Arnbom, Stefan Herz-Kestranek (Anm. 2), S. 143. Wiener, Zeitensprünge (Anm. 7), S. 176. Herz-Kestranek / Arnbom, Stefan Herz-Kestranek (Anm. 2), S. 147. Wiener, Zeitensprünge (Anm. 7), S. 165.
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erwähnt auch der 1924 in Wien geborene Alfredo Bauer23, der mit seinen Eltern 1939 nach Argentinien emigrierte: „Mit der argentinischen Nation und ihrer Kultur traten wir nur sehr allmählich in nähere Beziehung. Es war für uns auch nicht ganz leicht. Wir kamen aus einer alten Zivilisation mit hochentwickelter Kultur, deshalb konnte das historisch sehr Junge um uns leicht oberflächlich anmuten. Also bedurfte es einer gewissen Anstrengung unsererseits, in die kulturelle Eigenart des neuen Landes einzudringen, die weitverzweigte Wurzeln hat und in ihrer Art ebenso wertvoll ist wie die europäische.“24
Die klimatische Situation mancher Asylländer Lateinamerikas sorgte für zusätzliche, oft auch emotionelle Belastungssituationen, wie bei Stefan Herz-Kestranek nachzulesen ist: „[...] die Sonne brannte derart heiß auf den schneeweißen (immerhin auch etwas mit Schnee) Sand, daß ich mir einen hübschen Felsen aussuchte, mir die Schwimmhose anzog und weit weit hinaus ins Meer schwamm. Ein sehr sehr seltsames Gefühl so zu schwimmen und zu fühlen, also heute ist der Weihnachtsnachmittag! Der Nachmittag, der jahrelang eine so große Bedeutung hatte, an dem man fror, zitterte vor Kälte und freudiger Erwartung. Dann schwamm ich zurück auf meinen Felsen und versuchte in die Stimmung zu kommen, die notwendig ist, um die Weihnachtsbilanz zu machen, die ich doch alljährlich gemacht habe. Leicht fiel es mir nicht. Es war zu unweihnachtlich auf der Playa [...].“25
Die äußere Integration erleichterte die Akkulturation ganz wesentlich – als wichtigste Indizien für eine geglückte Integration galten zunächst das Vorhandensein einer Unterkunft, das waren zu Beginn allerdings meist nur schäbigst möblierte Zimmer, welche die Beschreibung „möbliert“ eigentlich nicht rechtfertigten; weiters aber auch Verdienstmöglichkeiten, sogenannte „entry jobs“. Und dennoch: die Sehnsucht nach der Heimat war und blieb, wie Alfred Polgar in seinem Gedicht Der Emigrant und die Heimat mit wenigen und höchst berührenden Worten zusammenfaßt, unstillbar: „Es ist der gleiche Himmel, und es sind die gleichen Sterne und ihr Gefunkel ist das gleiche wie daheim. Aber ihr Spiegelbild in der Psyche ist ein anderes da und dort.“26
Diese Sehnsucht nach der Heimat kommt jedoch nicht nur in der Lyrik, sondern auch in Alltagsdokumenten, wie etwa in den Briefen, die Erich Kleiber an seine 23
24 25 26
In Buenos Aires studierte er Medizin, wurde als Gynäkologe tätig und machte sich als Autor zahlreicher Romane, wissenschaftlicher Abhandlungen und einer vierbändigen „Kritischen Geschichte der Juden“ einen Namen. Alfredo Bauer, Hexenprozeß in Tucumán und andere Chroniken aus der Neuen Welt, Wien 1996, S. 20. Herz-Kestranek / Arnbom, Stefan Herz-Kestranek (Anm. 2), S. 184f. Alfred Polgar, Musterung. Kleine Schriften. Band 1, Reinbek bei Hamburg 2004 (Neuausgabe), S. 220.
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Frau aus Argentinien richtet, berührend zum Ausdruck. Nach einem seiner täglichen Spaziergänge schildert er ihr im Jänner 1940 seine Gefühle: „Es war wunderbar und hat mir großes, großes Heimweh nach Mondsee und nach Euch gemacht – wieder einmal eine richtige Wiese – und frische, gesunde, natürliche Bäume und Sträucher zu genießen – im Hintergrund die Schneeberge; es war wie Innsbruck, Salzburg, Mondsee, wie alles das, was ich verloren hab – und – manchmal im Traum oder beim Musizieren – wieder hab’ [...].“27 „Oft möchte ich wissen, ob Österreich wirklich noch existiert, oder ob es, wie ich, alt und runzelig geworden ist. Vielleicht ist das eine Alterserscheinung – aber oft, wenn ich die Berge eine Stunde lang oder so hinaufgestiegen bin und über die Wälder und Seen hinwegblicken kann, füllen sich meine Augen mit Wasser, und ich sehne mich so sehr für nur eine halbe Stunde in mein eigenes Land [...].“ 28
Die Konfrontation mit einer völlig neuen Sprache, dem Spanischen oder Portugiesischen, war im Gegensatz zur Sehnsucht nach der Heimat hingegen bewältigbar, wenngleich dies höchst unterschiedlich erfolgte – auch wenn Theodor W. Adorno29 meinte, daß der Emigrant seiner Sprache enteignet sei. Für Hugo Wiener, der sich mit Cissy Kraner in kabarettistischen Shows präsentierte, war das möglichst rasche Erlernen der spanischen Sprache ein unabdingbares Muß. Natürlich gab es Probleme mit den für den Sprachwitz eigenen Konnotationen: „So können bei uns ‚Lumpen‘ sowohl Abfälle, Plunder, Fetzen, aber auch Schufte oder Gauner sein. Genauso ist es im Spanischen und besonders in Südamerika. So heißt ‚burro‘ in der einen Stadt ‚Esel‘, in der anderen ‚Eierspeise‘, und wenn Strehn zu mir in einer Szene sagte: ‚Usted es un burro‘ (Sie sind ein Esel), dann konnte das ebenso gut ‚Sie sind eine Eierspeise‘ heißen. Ein anderes Beispiel: ‚blond‘ heißt auf Spanisch ‚rubio‘, aber auch ‚mono‘, und ‚mono‘ heißt anderswo wieder ‚Affe‘. Herbert war blond, ich war schwarz, was auf Spanisch ‚negro‘ heißt, aber ‚negro‘ heißt auch der ‚Neger‘. Nun hatten wir eine Art Doppelconference, die wir ‚El negro y el mono‘ nannten, was viele Leute enttäuschte, weil sie sich nicht einen Blonden und einen Schwarzen erwartet hatten, sondern einen Neger und einen Affen.“30
Für viele Emigranten blieb das Fehlen der „Atmosphäre der Muttersprache – für den Geist, was die Luft für die Lungen“31, wie Alfred Polgar schreibt, jedoch tägliche schmerzliche Erinnerung. Ein für die lateinamerikanische Mentalität zentraler Ausdruck einer Lebenseinstellung, der des „mañana“, des Wortes „Morgen“, war für so manche der Emigranten, 27 28 29 30 31
Zit. nach Russell, Erich Kleiber (Anm. 8), S. 218. Ebenda S. 219. Siehe: Theodor W. Adorno, Auf die Frage: Was ist deutsch?, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt am Main 1969, S. 110f. Wiener, Zeitensprünge (Anm. 7), S. 158. Zitiert nach: Herz-Kestranek / Arnbom, Stefan Herz-Kestranek (Anm. 2), S. 182.
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auch nach dem Beherrschen der neuen Sprache, zwar als Vokabel ein Begriff, jedoch in seiner wahrhaftigen, den Alltag bestimmenden Bedeutung schwer nachvollziehbar. Man mußte, schreibt Wiener: „[...] die Bedeutung des Wortes ‚mañana‘ kennenlernen. ‚Mañana‘ heißt ‚morgen‘, aber es bedeutet nicht ‚morgen‘. Wenn der Venezolaner ‚mañana‘ sagt, so meint er frühestens übermorgen oder noch später.“32
Auch die von Alfredo Schwarcz befragten deutschen Juden in Argentinien führen noch in der Retrospektive diese Schwierigkeit in der Akzeptanz eines Zeitbegriffes an: „Es fiel mir schwer, mich daran zu gewöhnen, daß ‚mañana‘ irgendwann oder niemals bedeuten kann.“33
Über die doch grundlegend unterschiedliche Einstellung zum Zeitbegriff in Lateinamerika berichtete auch Marcel Rubin humorvoll: „Wenn eine Probe zu Carmen angesagt war, sagen wir um zehn Uhr, dann ist dort gewesen der Alwin“ [Carl Alwin war damals der ständige Dirigent an der Oper in Mexiko City, ein „immer zur Propaganda edler Musik bereiter Gast in Mexiko“34], „dann der Dirigent, der die Oper dirigiert hat, das war meistens nicht Alwin, sondern irgendein bekannter Dirigent, der auch an der Met dirigiert hat, und von den Sängern niemand. Um elf Uhr ist gekommen die Frasquita, um zwölf der Zuniga, vielleicht, nicht wahr, den Don José habe ich bei der Generalprobe zum ersten Mal gesehen. Die Carmen bei der Premiere. Und da ich verantwortlich war, daß die Leute zumindest [Bescheid] wußten – studieren konnte ich ja mit diesen Leuten nicht, außer mit Zuniga, nicht aber mit der Carmen oder dem Don José, das waren zu große Leute –, mußte ich ihnen wenigstens sagen, ob sie von links oder von rechts auftreten; [das] konnte ich nicht, weil ich sie nie gesehen habe. Alwin hat einmal einen Herzanfall bekommen bei einer Probe.“35
Nach 1933 emigrierten schätzungsweise 90.000 Flüchtlinge aus dem Dritten Reich nach Lateinamerika. Etwa 13% davon, ca. 12.000, waren Österreicher. Der größte Einwanderungsstrom erfolgte in den Jahren zwischen 1938 und 1941, und zwar überwiegend in die aus klimatischen und wirtschaftlichen Gründen bevorzugten, weil vergleichsweise „europäisch“ anmutenden Staaten Uruguay, Chile, Brasilien und Argentinien. Das institutionalisierte Musikleben Lateinamerikas war – mit Ausnahme von jenem der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires – im Vergleich zu jenem der Vereinig32 33 34 35
Wiener, Zeitensprünge (Anm. 7), S. 180. Schwarcz, Trotz allem (Anm. 11), S. 252. Demokratische Post, 1. Jahr, Nr. 1, 15. August 1943, Besprechung eines Kulturabends der Acción Republicana Austríaca. Zit. nach Walter Pass et al., Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik von 1938–1945, Wien 1995, S. 146.
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ten Staaten gewissermaßen provinziell, wodurch den vielen Österreichern daher die Erstaufführungen so mancher Werke zu verdanken waren. So inszenierte der bereits erwähnte Alfredo Hollander in den 50er Jahren die venezolanischen Erstaufführungen von Cosí und Die Hochzeit des Figaro. Vom 1891 in Budapest geborenen Dirigenten Eugen Szenkar ist bekannt, daß er Mozarts Don Giovanni in Brasilien zur Erstaufführung gebracht hatte. Es wird berichtet, daß er für die Fünfte Symphonie von Beethoven unglaubliche 40 Proben benötigte. Marcel Rubin – er war in Mexiko Mitglied der Acción Republicana Austríaca de México – erinnert sich an einen zehnminütigen Vortrag „mit anschließender c-Moll-Phantasie von Mozart. Und ich kam in die Baracke mit dem vorbereiteten Vortrag, also nicht im Studio vor einem Mikrophon, sondern vor einem Publikum. Und das Publikum waren 250 ‚wilde‘ Indios, die den Raum bis zum letzten Platz gefüllt hatten mit diesen Sombreros, barfüßig, und ich sollte jetzt dort meinen Vortrag halten. Ich habe beinahe einen Herzschlag bekommen, ich habe gedacht, ich komme da nicht mehr lebendig heraus, diese Leute haben ja noch nie etwas von Mozart gehört, und denen soll ich jetzt 10 Minuten lang etwas über Mozart erzählen und dann noch so lange etwas von Mozart spielen. Aber es kam anders, als ich gefürchtet hatte. Nie in meinem Leben, weder vorher noch nachher, hatte ich ein so aufmerksames und dankbares Publikum wie dieses Publikum der Indios. Man hätte die buchstäbliche Stecknadel fallen hören. Es gab einen Riesenapplaus. Also, es war ein wunderbares Erlebnis. Diese Leute waren so begierig, Neues zu erfahren. Solche Leute hat man bei uns in Europa nie gefunden. An ein solches Publikum hat man hier nicht einmal im Traum denken können. Das war eines der schönsten Erlebnisse meiner mexikanischen Emigration.“36
Nicht immer waren die Musiker mit dem Verhalten im Publikum einverstanden, denn europäische Anforderungen an die Aufmerksamkeit der Zuhörer waren nicht üblich. Als Erich Kleiber bei seinem ersten Lateinamerika-Besuch in Buenos Aires im Jahre 1926 im damals schon berühmten Teatro Colón dirigierte, wurde es durchaus gebilligt, während nicht so unterhaltsamer Opernpassagen Konversation zu betreiben oder eine Meistersinger-Aufführung anzuhören, die von fünf auf drei Stunden gekürzt war. Im August 1939 schreibt Kleiber nach Hause: „Proben für die VII-te sind harte Arbeit. Das Orchester ist nicht länger als höchstens drei Wochen konzentriert37 zu proben gewöhnt.“38
Und 14 Tage später ist über ein anderes Konzert zu lesen: „Die IX-te war ein Riesentriumph. [...] das Publikum stand wie eine Mauer und brüllte, nach einer Viertelstunde mußte ich nochmals vor den eisernen Vorhang [...]“39
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Ebenda S. 150f.; vgl. Hartmut Krones, marcel rubin, Wien 1975, S. 28f. Hervorhebung von Erich Kleiber. Russell, Erich Kleiber (Anm. 8), S. 197.
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Am 24. August 193940 dirigierte er in Buenos Aires die Erstaufführung von Elektra: „Es ging alles wirklich höchst anständig gestern abend. [...] Orchester brillant (bis auf Kleinigkeiten), Publikum ‚erschlagen‘ (blieben sitzen, die abonados, wahrscheinlich dachten die meisten, es kommt noch ein Akt, mit der Leichenfeier und so!!). Nicht ein lauter Erfolg, aber es hat sehr wohl gewirkt. Wütend wird bei der Sache nur der Büffet-Inhaber gewesen sein, weil gar kein ‚intervalo‘ ist!“41
Natalja Saz – sie war auf ausdrücklichen Wunsch von Klemperer nach Buenos Aires gekommen, um ihm dort bei der Einstudierung von Der Rosenkavalier und Die Hochzeit des Figaro zu assistieren – beschreibt ebenfalls ihre Erinnerungen an das Teatro Colón: „Die Besitzer von Abonnements waren sehr reiche Leute, die Billets sind außerordentlich teuer [...]. Nur Auserwählte können das Teatro Colón besuchen [...]. Die Bedeutung des Regisseurs für die Gestaltung von Opern wird hier unterschätzt oder überhaupt nicht begriffen. Wenn zum Beispiel Tito Schipa singt, ist alles andere unwichtig. Das Publikum bezahlt dann jeden Preis. Aber auf der Bühne ist dafür alles andere um so billiger. Die übrigen Darsteller werden so plaziert, daß sie den Star nicht beim Singen stören. [...] Wieviel Edelsteine im Parkett und was für ein billiger Flitterkram auf der Bühne!“ 42
Trotz dieser Ausgangssituation hatten es die Musiker wohl aufgrund der Sprachunabhängigkeit von der Berufsausübung vergleichsweise leichter als Vertreter anderer Künste. Vor allem in den Großstädten gab es die Möglichkeiten beruflicher Integration. Der erlernte Beruf gestattete auch eher einen flexiblen Wechsel: Pianisten arbeiteten als Barmusiker, Instrumentalisten musizierten in Ensembles oder waren als Pädagogen tätig. Viele von ihnen waren auch federführend am Aufbau eines institutionalisierten Musiklebens in ihren neuen Heimatländern beteiligt. Der Franz-Schmidt-Schüler Franz Ippisch wurde nach seiner Emigration nach Guatemala im Jahre 1939 Generaldirektor der Militärkapellen und in den 50er Jahren schließlich Professor für Theorie am dortigen Konservatorium. Sein gleichnamiger Sohn war mitverantwortlich für den Aufbau der österreichischen Schule in Guatemala City. Die 1958 begründete Schule, in deren Lehrplan auch Musikerziehung integriert war, erfreut sich aufgrund des niedrigen Schulgeldes und der Qualität der Ausbildung eines hervorragenden Rufes. Paul Csonka gilt als Begründer der Oper in Kuba, hatte zahlreiche Leitungsfunktionen und eine dominierende Stellung im kubanischen Musikleben inne. 39 40
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Ebenda S. 199. Im gleichen Jahr leitete Kleiber in Lima auch die Erstaufführung der „Pastorale“. Vgl. Hanns-Werner Heister et al. (Hg.), Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internationale Musikkultur, Frankfurt am Main 1993, S. 341. Russell, Erich Kleiber (Anm. 8), S. 200. Natalja Saz, Novellen meines Lebens, Berlin 1975, S. 299ff. Zitiert nach: Stefan Stompor, Künstler im Exil, Band 2, Frankfurt am Main 1994, S. 628.
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Der Flötist und Komponist Stefan Eitler gründete in Buenos Aires einen Verlag für Neue Musik und machte sich um die Verbreitung zeitgenössischer Musik verdient. Der Hindemith- und Pisk-Schüler Wilhelm Graetzer gründete mit dem Argentinier Ernesto Epstein das Collegium Musicum und führte unter Einbeziehung lateinamerikanischer Folkloreelemente das Orffsche Schulwerk in Argentinien ein. Ljerko Spiller sorgte in Argentinien für viele Erstaufführungen, darunter Werke von Alban Berg und Ernst Krenek. Als Pädagoge und Dirigent machte er sich weit über die Grenzen Argentiniens einen Namen. Carl Alwin lebte seit Ende 1940 in Mexiko City – er war von 1920 bis 1938 an der Wiener Staatsoper tätig gewesen – und hatte wesentlich zur Begründung einer Opernkultur in Mexiko beigetragen. Emil Friedmann eröffnete 1948 in Caracas den ersten Kindergarten, in dem Musik als pädagogisches Mittel integriert war. 1949 gründete er die Schule und Musikakademie Emil Friedmann, an der heute über 2000 Kinder unterrichtet werden. Erwin Leuchter emigrierte 1936 mit seiner Frau Rita43 – beide hatten bei Guido Adler in Wien studiert und promoviert – nach Buenos Aires. Er verfaßte in Argentinien zahlreiche Monographien, aber auch musikwissenschaftliche und musiksoziologische Publikationen.44 Sie setzte ihre Tätigkeit als Pianistin fort und war auch editorisch tätig.45 Beide wirkten auch als Pädagogen, zu ihrem wohl bekanntesten Schüler zählte Michael Gielen, der 1940 nach Buenos Aires gekommen war. Bei der Emil-Sauer-Schülerin Rita Leuchter studierte er Klavier, bei ihrem Mann Erwin, den er „eine der entscheidenden Personen meiner Entwicklung“ nannte, Musiktheorie.46 Beim Nachzeichnen der Alltagssituationen der im lateinamerikanischen Exil lebenden österreichischen Musiker entsteht oft der Eindruck, daß die berufliche Integration, die Akklimatisierung in die neue Umwelt, die Identitätsfindung geglückt war. Es muß jedoch immer wieder festgehalten werden, daß dieser Schein trügt. Selbst ein so erfolgreicher, nach außen voll integriert wirkender Musiker wie Erich Kleiber konnte sich ungeachtet all der Anerkennung, die ihm in Lateinamerika zuteil wurde, nur schwer mit der Situation abfinden. „Musik, das wußte Kleiber, war überall zu Hause; nicht so er selbst.“ 47
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Rita (eig. Henriette), geb. Kurzmann. Z. B. La historia de la música como reflejo de la evolución cultural, Rosario 1941. So gab sie einen Klavierauszug des Violinkonzertes von Alban Berg heraus. Michael Gielen, »Unbedingt Musik«. Erinnerungen, Frankfurt a. M. – Leipzig 2005, S. 48. Russell, Erich Kleiber (Anm. 8), S. 231.
EDELGARD SPAUDE (Freiburg)
Überlebensstrategie versus Tarnung des Terrors Musik der Avantgarde in Konzentrationslagern
Eine Auseinandersetzung mit zwei solch äußerst kontroversen Themenfeldern wie dem elitär klingenden „Musik der Avantgarde“ und jenem des „Konzentrationslagers“ scheint nicht nur paradox, sondern ein geradezu zynisches Ausschlachten einer von Entsetzen erfüllten historischen Zeitspanne zu beinhalten, in der Untaten von unfaßbaren Dimensionen geschahen. Begnügte man sich jedoch mit purer Trauerarbeit, dem Prinzip Hoffnung und deskriptiven Darstellungen, so würden die zahlreichen und vielfältigen künstlerischen Äußerungen, die es in den Lagern in den verschiedensten Ausprägungen gab, der Vergessenheit anheimfallen und damit auch die individuellen Versuche ignoriert, sich der Realität mittels Kunst entgegenzustellen. Was die Musikausübung1 im allgemeinen betraf, so gab es für die Konzentrationslager keine einheitlichen Regelungen, ob und in welcher Form musiziert werden durfte. Galt zunächst die allgemeine nationalsozialistische Richtlinie, daß die Insassen der Lager möglichst schnell und ohne Aufhebens vernichtet werden sollten, so änderten sich für viele Ghettos die Maßgaben mit dem fortschreitenden Krieg. Jetzt galt es, die Insassen zweckbestimmt und schonungslos auszubeuten, d. h. sie heranzuziehen, um kriegswichtige Güter herzustellen. Nicht arbeitsfähig scheinende Ankömmlinge wurden gleich zu Beginn in den verschiedenen Lagern von Auschwitz oder Mauthausen ohne Aufschub der Todesmaschinerie übergeben, den anderen ließ man mindestens die Utopie einer Hoffnung zu überleben. Diese Hoffnung wurde getragen von vielerlei Illusionen, von Verdrängung der Wirklichkeit, von subjektiven Überlebensstrategien, zu denen auch der Versuch der Schaffung bzw. Aufrechterhaltung eines mindestens andeutungsweisen kulturellen Lebens gehörte. Musik in den unterschiedlichsten Formen gab es in vielen Lagern, u. a. in Auschwitz, in Mauthausen, Sachsenhausen, Buchenwald, Dachau, vor allem aber in Theresienstadt. Die Bandbreite der Akzeptanz durch die Lagerkommandatur war breit. Sie reichte vom Befehl, gezielt Kapellen, Chöre etc. einzurichten, über die bloße Duldung bis hin zum absoluten Verbot, dessen Übertretung mit dem Tod bestraft wurde, wie z. B. zu Beginn in Mauthausen. Dort wo Musik von der Lagerleitung organisiert und reglementiert wurde, erfuhr sie auch ihre perverseste und 1
Eine ausführliche Darstellung dieses Themas bei: Guido Fackler, „Des Lagers Stimme“ – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie, Bremen 2000.
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Edelgard Spaude
deprimierendste Ausformung: Sie wurde als Hilfsmittel benutzt, um Menschen zu täuschen, zu quälen, bis zum äußersten zu erniedrigen. Die Häftlinge wurden gezwungen, während der Schwerstarbeit, die sie zu verrichten hatten, zu singen, Musik hatte zu erklingen während des sogenannten Strafsportes, bei dem die Opfer systematisch zu Tode gehetzt wurden, oder bei Schauhinrichtungen, die die übrigen Lagerinsassen mitanzusehen hatten. Und es war die Aufgabe vieler Kapellen, morgens und abends am Lagertor Marschmusik zu spielen, wenn die Häftlinge zur Zwangsarbeit z. B. in Munitionsfabriken ausrückten bzw. abends wiederkehrten. Eine nicht minder grauenvolle Verpflichtung bestand darin, während der Ankunft der Deportationszüge ununterbrochen zu spielen, damit Schreie übertönt wurden und vom Zweck der sogenannten Selektionen abgelenkt werden konnte, was bedeutete, daß kranke oder arbeitsuntauglich scheinende Häftlinge sofort in die Gaskammern geschickt wurden. Daneben dienten regelmäßige Konzerte der Erholung und dem Vergnügen der Lagerleitung und ihrer Besucher. Von dem durch seine bestialischen Versuche an Menschen bekannt gewordenen Arzt Josef Mengele weiß man, daß er von Schumannscher Musik, insbesondere von der Träumerei, die er öfter im Lager Auschwitz zu hören verlangte, zu Tränen gerührt sein konnte. Das Repertoire solcher Kapellen war teilweise beachtlich. Es gab neben den unausweichlichen Marschmelodien gehobene klassische Unterhaltungsmusik, wie z. B. die Ungarischen Tänze von Johannes Brahms, Wolfgang Amadeus Mozarts Kleine Nachtmusik oder Pablo de Sarasates Zigeunerweisen.2 Man darf freilich nicht von der Vorstellung ausgehen, daß solche Werke in der gewohnten musikalischen Form dargeboten wurden, vielmehr wurden sie den Fähigkeiten des Orchesters und den bisweilen sehr mangelhaften Instrumenten angepaßt und entsprechend arrangiert. Anita Lasker-Wallfisch, eine Cellistin der im nachhinein berühmt gewordenen Mädchenkapelle von Auschwitz-Birkenau, die das Lager überlebt hat, berichtet: „Wir bekamen die Noten von der SS in Form von Klavierauszügen, die dann orchestriert werden mußten.“3
Auch die Zusammenstellung des Orchesters entsprach nicht herkömmlichen Gegebenheiten. Es mußte immer wieder aufs neue improvisiert werden. So standen beispielsweise Alma Rosé – die Nichte Gustav Mahlers und Tochter des Begründers des berühmten Rosé-Quartetts – im Januar 1944, als sie Dirigentin der Mädchenkapelle war, u. a. zur Verfügung: zwei erste Violinen, drei zweite Violinen, drei dritte Violinen, drei vierte Violinen, vier Mandolinen, vier Gitarren, ein Cello, ein Kontrabaß, zwei Akkordeons, eine Querflöte, vier Blockflöten, ein Schlagzeug, eine Trommel, ein Becken und vorübergehend ein Klavier. Das Mädchenorchester von Auschwitz-Birkenau war auf Initiative der Lagerleitung gegründet worden, die Mitglieder genossen kleinere Vergünstigungen wie z. B. erträglichere hygienische Bedingungen, und sie hatten die Hoffnung auf Verschonung 2 3
Vgl. Gabriele Knapp, Das Frauenorchester in Auschwitz. Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung, Hamburg 1996. Anita Lasker-Wallfisch, in: Knapp, ebenda S. 78.
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vor der Selektion, das heißt Hoffnung, dem Tod zu entgehen, weil auf ihre Beteiligung in der Kapelle nicht verzichtet werden konnte.
Abbildung 1: Das Theresienstädter Kaffeehaus4.
Neben derart befohlener Musikausübung gab es in den Lagern auch ganz private, illegale Häftlingszusammenschlüsse, die heimlich Ensembles oder Chöre bildeten, deren Entdeckung unweigerlich mit dem Tod bestraft wurde. Eine solch heimliche Chorgemeinschaft hatte es z. B. 1933 im KZ Börgermoor im Emsland gegeben, einem sogenannten „Umerziehungslager“ für politische Gegner des Nationalsozia4
Das Kaffeehaus war im Haus Q 418, daneben war bis August 1944 die Lagerkommandatur in Q 416 und Q 414 untergebracht. Vor dem Kaffeehaus lag der Stadtplatz, den man nicht betreten durfte. Lange Zeit war er so eingezäunt, wie das Bild zeigt. Wegen der Nachbarschaft patrouillierte hier stets ein Ghettowachmann. Bei der Herrichtung der Stadt für den internationalen Besuch im Frühjahr 1944 verschwand der Zaun, und man baute gerade gegenüber dem Kaffeehaus einen hölzernen Pavillon für Platzkonzerte. Die Zettelchen auf den Tischen sind Eintrittskarten ins Kaffeehaus. Text und Bild zitiert aus: Hans Günther Adler, Die verheimlichte Wahrheit. Theresienstädter Dokumente, Tübingen 1958, S. 257 bzw. S. 266. Quelle: Federzeichnung mit schwarzer Tusche von Fritz Fritta, aufgenommen nach den in Theresienstadt entstandenen Originalen von der Prager „Dokumentationsaktion“ bzw. ihrer Ausstellung im Herbst 1948 in der Ben Uri Art Gallery, London. Die Bilder von Fritz Fritta wurden nach dem Krieg vom tschechoslowakischen Staat gekauft und dem Staatlichen Museum in Prag zur Aufbewahrung übergeben. Das vorliegende Blatt ist unten links signiert, entstanden 1943.
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lismus, in dem unter schwersten Strapazen im Moor Entwässerungsgräben angelegt werden mußten. Hier entstand das später berühmt und weithin bekannt gewordene Lied der Moorsoldaten auf einen Text des Arbeiterdichters Johann Esser und des Schauspielers Wolfgang Langhoff, zu dem der Journalist Rudi Goguel die Melodie beigesteuert hatte. Das Lied wurde von der Lagerleitung sofort verboten, gelangte aber dennoch in die Tschechoslowakei, von wo aus es Eingang in zwei Liederbücher fand. Hanns Eisler lernte es dann während des Exils in London kennen; sein Bericht über die Entstehung eines Arbeiterliedes5 informiert hierüber ausführlich. 1935 bearbeitete es Eisler für Ernst Busch, durch dessen Präsentation das Lied zunächst während des Spanischen Bürgerkrieges und danach in den Internationalen Brigaden zu einem Symbol des antifaschistischen Widerstandes wurde. Handschriftliche Liedaufzeichnungen und illegale Liederbücher, die auch Lieder enthielten, die zum Kampf ums Überleben aufriefen, existierten in verschiedenen Konzentrationslagern, vor allem in Sachsenhausen. Auch hier war das Lied der Moorsoldaten bekannt. Dort wo der totale Macht- und Organisationsapparat der Gestapo über Existenz und Form der Lagerkapellen bestimmte, wo die KZ-Schergen ein wohlbegründetes Interesse an einer einigermaßen reibungslosen Funktion der Musiker besaßen – sei es um des eigenen Vergnügens willen oder um bei prominenten Besuchen wie denen Himmlers oder Eichmanns mit künstlerischen Darbietungen aufwarten zu können –, empfanden es die Häftlinge nicht selten als „Glück, dem Orchester anzugehören.“6 Denn obwohl sie kahlgeschoren und mit einer Nummer auf dem Arm sich äußerlich nicht von den anderen Häftlingen unterschieden, konnten sie eine neue, eigene Identität aufbauen und bewahren, die – so Hannah Arendt – „identisch ist mit der Fähigkeit des Menschen, von sich aus etwas Neues zu beginnen, das aus Reaktionen zu Umwelt und Geschehnissen nicht erklärbar ist.“7
Man war nicht mehr Lagerinsasse ohne jegliche eigene Identität, der jederzeit ersetzt werden konnte, sondern man hatte eine Aufgabe und damit die Möglichkeit, der systematischen nicht nur körperlichen, sondern vor allem seelischen Zerstörung etwas entgegenzusetzen. So gab es zumindest die Chance, ein kleines Stückchen Achtung vor sich selbst zu bewahren. Andererseits darf jedoch auch nicht vergessen werden, was es bedeutete, als Musiker gezwungen zu werden, die Greueltaten und den Terror der Menschenschinder unterstützen zu müssen. Auch das Unverständnis für die Ausübung von Kunst in diesem Umfeld oder die verständlichen Aggressionen der Mithäftlinge, die nicht in den Genuß der kleinen und kleinsten Vergünstigungen kamen, richtete sich bisweilen offen oder verdeckt gegen die Mitglieder solcher Kapellen. 5 6 7
Hanns Eisler, Bericht über die Entstehung eines Arbeiterliedes, in: ders., Schriften I. Musik und Politik 1924– 1948, München 1973, S. 274–280. Anita Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben. Breslau – Auschwitz – Bergen-Belsen, Bonn 1997, S. 116. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München–Zürich 1986, S. 17.
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Abb. 2: Organisationsschema der sogenannten Selbstverwaltung im Ghetto Theresienstadt8.
Ein ganz anderer und sehr hoher Stellenwert wurde kulturellen Darbietungen der unterschiedlichsten Art, vor allem aber der Musik, im Lager von Theresienstadt eingeräumt. Während das Repertoire der befohlenen Lagerkapellen aus Schlagern, Operettenmelodien, bekannten Titeln der klassischen Musik, und das der Chöre aus gängigen Volksliedern bestand, existierte in Theresienstadt eine kaum glaubhafte Vielfalt an musikalischen Entwicklungen, an anspruchsvollen Vorträgen, Theateraufführungen, Kabarettabenden etc. Aus dem Ghetto Theresienstadt haben Überlebende zahlreiche Zeugnisse avantgardistischer Kunstausübung bewahrt und veröffentlicht. Der sehr ambivalente und daher viel diskutierte Begriff der Avantgarde, der in der deutschsprachigen Musikliteratur bereits seit 1922 präsent ist,9 aber erst um 1950 seine auf absolut Neues zielgerichtete Konnotation erhielt, soll hier von seiner ursprünglichen Bedeutung aus gesehen nicht allzu wörtlich aufscheinen, sondern in jenem Sinne verstanden werden, wie ihn Frank Schneider 1984 während einer roundtable-Diskussion definierte, nämlich 8 9
Photo: Ghetto-Museum Theresienstadt. Zitiert aus: Ingeborg Hecht, „Hier fliegen keine Schmetterlinge…“. Zwei Städte – zwei Welten, in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, Oktober 1996, Nr. 10, S. 897. Vgl. Christoph von Blumröder, Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert (=Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 12), München–Salzburg 1981, S. 77.
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„[...] eine gegenüber der Musikgeschichte und zur jeweiligen Gegenwart eingenommene künstlerische Haltung“,
die sich auszeichnet durch Suchen sowie durch ein Ausbrechen aus verfestigten Konventionen, „eine Haltung“ – so Schneider –, „die man von einem echten Künstler beinahe automatisch erwarten kann.“10
Die Musiker und Komponisten, die in Theresienstadt versuchten, sich ein wenig künstlerische Freiheit aufzubauen bzw. zu bewahren, erlebten hier meist ihre letzte Schaffens- und Arbeitsphase, die sich freilich grundlegend unterschied von jenen, die sie vor ihrer Deportation gewohnt waren. Hier gab es keine ruhige, ungestörte Abgeschiedenheit als Grundvoraussetzung für konzentriertes Arbeiten, hier herrschten Hunger und Terror, man lebte auf engstem Raum, auf Dachböden und Matratzenlagern, man hungerte und fror. Und dennoch unterschied sich Theresienstadt von anderen Lagern: Es sollte als Präsentierlager, als Vorzeigeobjekt dienen, mit dem die Gestapo jederzeit Besuchern, wie z. B. einer Abordnung des Internationalen Roten Kreuzes im Jahre 1943, beweisen konnte, wie human, wie wohl durchdacht die „Umsiedlung“ jüdischer Intellektueller und Künstler in diese „Welt des schönen Seins“ war, die tatsächlich meist nur als Wartestand für die endgültige Ausrottung in Auschwitz oder Treblinka diente. Von 141.000 nach Theresienstadt deportierten Erwachsenen überlebten 2300, von 150.000 Kindern nur hundert. In Theresienstadt war das Musizierverbot Ende 1942 aufgehoben worden. Schon immer hatte bei der Ankunft eine allgemeine Abgabepflicht für wertvolle, d. h. für nach Auffassung der Nazis brauchbare Gegenstände bestanden, so u. a. für Musikinstrumente und Noten. Das Lager Theresienstadt wies im September 1943 u. a. auf: 730 Geigen, 55 Celli, 158 Mandolinen und 17 Saxophone sowie einen Bestand von 5265 Noten.11 Diese erstaunlichen Zahlen sind nur verständlich, wenn man sich klarmacht, daß die Menschen z. T. mit geradezu haarsträubenden Versprechungen auf ein neues und intensives Leben in „Theresienbad“ geblendet worden waren und daher selbstverständlich all jene Dinge mitbrachten, an denen ihr Herz hing. Hinzu kam das jüdische Eigentum, das in den Jahren zuvor beispielsweise in Prag beschlagnahmt worden war. Die Ausgangslage für die kulturelle „Freizeitgestaltung“ in Theresienstadt – so der offizielle nationalsozialistische Terminus –, an der die Nazis ein so hohes propagandistisches Interesse hatten, war demnach weit besser als in anderen Lagern, wo Musikinstrumente teilweise notdürftig von den Häftlingen selbst zusammengebaut wurden, wo man angewiesen war auf Erinnerung und heimlich mitgebrachte Bücher. In der Lagerbibliothek von Theresienstadt waren Ende 1943 immerhin 180.000 Bände zu finden, unter denen sich auch Noten und Partituren befanden. 10 11
Diskussionsbeitrag Frank Schneider in Annäherungsversuche. Protokoll einer Diskussion, in: Musik und Gesellschaft 34 (1984), S. 405. Hans Günther Adler, Die verheimlichte Wahrheit. Theresienstädter Dokumente, Tübingen 1958, S. 78f.
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Von 1943 an gab es in Theresienstadt täglich mehrere Veranstaltungen: Theateraufführungen, bei denen Stücke von Molière, Gogol, Hofmannsthal, Molnár oder Herzl gespielt wurden, weiters Kabarettprogramme und Opernaufführungen, und zwar meist konzertant mit Klavierbegleitung, aber auch szenische Aufführungen in Kostümen. Hinzu kamen Jazzkonzerte, Konzerte mit klassischer Musik und Vorträge mit ausgesprochen jüdischen Schwerpunkten, u. a. über jüdische Mystik, geistige Strömungen im Judentum, und selbst über solch für dieses Umfeld paradox wirkende, rein akademische Themen wie Aus der Welt der Papyri oder Wert und Bedeutung des Geldes. Die absolute Unfreiheit des Lebens war gepaart mit einer großen Freiheit in der Kunst. Werke jüdischer Schriftsteller oder Komponisten konnten uneingeschränkt aufgeführt werden, auch jene, deren Werke überall sonst als „entartet“ gebrandmarkt wurden. In Theresienstadt entstand eine Reihe von Kompositionen, die teilweise gerettet werden konnten, so z. B. einige des Schönberg-Schülers Viktor Ullmann. Neben der Kompositionsarbeit schrieb Ullmann auch kontinuierlich Kritiken über musikalische Veranstaltungen in Theresienstadt, die Aufschluß geben über das Repertoire und das unter diesen Umständen beachtlich hohe Niveau der Darbietungen. Eindeutigen Vorzug genossen hierbei Klavierwerke von Beethoven, Brahms und Mozart. Daß die Werke zeitgenössischer Komponisten auf relativ geringes Interesse stießen, beklagte Ullmann in einer Konzertkritik um 1944: „Zuletzt ein Wort an unsere Pianisten: der löbliche Wetteifer, mit dem sie uns die Romantiker vorführen, sei durchaus respektiert. Aber es gibt eine große Zahl von Komponisten, die unser Interesse nicht nur dadurch verdienen, dass sie Juden sind, sondern auch dadurch, dass sie Talent und Genie haben und trotzdem in der umgebenden Welt nicht gespielt werden. Ich nenne Mendelssohn, Carl Goldmark, Paul Lukas, Arnold Schönberg, Ernest Bloch, E. W. Korngold, Wilhelm Grosz, Erwin Schulhoff, Kurt Weill, Hanns Eisler, Carol Rathaus, Egon Wellesz, Ernst Toch, Paul Pisk --- ich könnte noch viele nennen, wobei ich von den Theresienstädter Komponisten absehe. Und ich finde, dass diese alle interessante Klavierwerke geschrieben haben.“ 12
Gemeinsam mit dem vormaligen Prager Theater- und Rundfunk-Kapellmeister Karel Ančerl (1908–1973), der bei Václav Talich studiert hatte und Auschwitz überlebte, sowie dem tschechischen Pianisten und Komponisten Gideon Klein (1919– 1945), der u. a. bei Alois Hába Komposition studiert hatte, beriet Ullmann auch das Ledeč-Streichquartett, das von dem Prager Violinisten Egon Ledeč in Theresienstadt gegründet worden war und dessen Besetzung sich immer dann änderte, wenn eines der Mitglieder in den Transport nach Auschwitz kam. Erhalten gebliebenen Programmzetteln ist zu entnehmen, daß Ullmann auch Vorträge hielt, u. a. über Mahler und Schönberg und über Musiker des 20. Jahrhunderts.13 Sein Engagement 12 13
Viktor Ullmann, 26 Kritiken über musikalische Veranstaltungen in Theresienstadt, hrsg. von Ingo Schultz (=Verdrängte Musik. NS-verfolgte Komponisten und ihre Werke, Bd. 3), Hamburg 1993, S. 61f. Ebenda S. 19.
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für und das Interesse an zeitgenössischer Musik hatten ihn auch bewogen, ein „Studio für neue Musik“ zu begründen. Dort sollten moderne Programme erarbeitet werden, und dort hoffte er auf eine Rückzugsmöglichkeit für seine kompositorische Arbeit. Es waren mindestens vier Programme, die im „Studio für neue Musik“ vorbereitet worden sind, von denen bereits anderswo – so Hans Günther Adler – eines genügt hätte, um von der Gestapo abgeholt zu werden. Es waren: „Glanzstücke ‚entarteter Kunst‘. [...] Zwölf Klavierstücke von Max Reger Aus meinem Tagebuch, Lieder von Alexander Zemlinsky und Arnold Schönberg, drei Klavierstücke von Alois Hába, eine Komposition von Bruno Walter und eine Auswahl aus Des Knaben Wunderhorn von Gustav Mahler.“14
Seiner Arbeit in Theresienstadt konnte Viktor Ullmann trotz aller äußeren Belastungen und Bedrohungen durchaus positive Seiten abgewinnen, was in seinem Aufsatz Goethe und Ghetto deutlich wird, wenn er sagt, daß er in seiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht etwa gehemmt worden sei, daß er und seine Musikerkollegen „keineswegs bloß klagend an Babylons Flüssen sassen“, daß ihr Kulturwille dem Lebenswillen adäquat gewesen sei.15 Hiermit wollte Ullmann wohl sein Vertrauen in die karthartische Wirkung der Musik zum Ausdruck bringen. Er teilte dieses Interesse für neue Musik u. a. mit dem bereits erwähnten Karel Ančerl, den er in seiner Kritiken als „Pionier der neuen Musik“ bezeichnet hatte, nachdem Ančerl am 13. September 1944 die Studie für Streichorchester des ebenfalls in Theresienstadt internierten Komponisten Pavel Haas (1899–1944) uraufgeführt hatte. In seiner Rezension dieser Uraufführung stellte Ullmann die Frage nach Sinn und Zweck neuer Musik, da es doch genügend alte Meisterwerke gäbe. Und er beantwortet diese Frage selbst, indem er auf die abendländische Musikentwicklung verweist, die nicht ruhen dürfe, denn „die kommenden Generationen wollen auch ihre Musik haben – ihre, nicht unsere.“16 Pavel Haas schrieb während seines erzwungenen Aufenthaltes im Lager zahlreiche Chöre und Vokalkompositionen sowie Klavier- und Kammermusik und seine Vier Lieder auf Worte der chinesischen Poesie. Seine Werke spiegeln Einflüsse seines Lehrers Janáček wider, aber auch seiner Beschäftigung mit der europäischen Moderne bis hin zum Jazz. Wie viele andere wurde auch er in Auschwitz ermordet. Der nach Aussage des überlebenden Wissenschaftlers Hans Günther Adler, dem wir zahlreiche und genaue Zeugnisse dieser Zeit verdanken,17 zweifellos prominenteste Komponist im Lager aber war der 1899 in Prag geborene und von Alexander Zemlinsky ausgebildete Hans Krása, der 1942 nach Theresienstadt kam und Leiter der Sektion Musik in der sogenannten Abteilung „Freizeitgestaltung“ war. 14 15 16 17
Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen, Frankfurt am Main 1992, S. 243. Ebenda S. 93. Ebenda S. 67. Vgl. Adler, Die verheimlichte Wahrheit (Anm. 11), sowie ders., Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte. Soziologie. Psychologie, Tübingen 21960.
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Krásas Kompositionen waren von Mahler beeinflußt, genauso aber von modernen Tendenzen der Musikentwicklung im 20. Jahrhundert. Charakteristisch war seine Hinneigung zum Komischen und Grotesken. Er wurde ebenso wie Viktor Ullmann am 16. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert, wo beide starben. Seine Kinderoper Brundibár, die Krása bereits 1938 komponiert hatte, instrumentierte er im Ghetto neu. Sie erlebte unter dem Dirigenten Rudolf Freudenfeld (1921–1985) in Theresienstadt die beachtliche Zahl von 55 Aufführungen.
Abbildung 3: Aus der Kinderoper Brundibár von Hans Krása18.
Brundibár ist in dieser Oper der böse Leierkastenmann, der für sich in Anspruch nimmt, allein Musik machen zu dürfen; als die Kinder Pepicek und Anna versuchen, auf der Straße Geld durch Singen zu verdienen, um Milch für die kranke Mutter kaufen zu können, werden sie von Brundibár vertrieben. Doch schließlich gelingt es den beiden, mit Hilfe von Tieren und Kindern aus der Nachbarschaft, Brundibár zu besiegen. Die letzten Zeilen des Librettos von Adolf Hoffmeister lauten in freier Übersetzung: 18
Die Oper wurde nicht im Ghetto komponiert, jedoch dort aufgeführt; Premiere am 23. September 1943. Frei übersetzt lautet die Strophe; zitiert aus: Kuna; Musik an der Grenze des Lebens (Anm. 14): „Brundibár ist geschlagen, wir haben ihn schon erwischt, schlagt die Trommeln, wir haben den Kampf gewonnen. Nur deshalb gewonnen, weil wir uns nicht unterkriegen ließen, weil wir uns nicht gefürchtet haben, weil wir alle im Gleichschritt unser fröhliches Lied gesungen haben.“
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„Wir haben den Kampf gewonnen. Nur deshalb gewonnen, weil wir uns nicht unterkriegen ließen, weil wir uns nicht gefürchtet haben, weil wir alle im Gleichschritt unser fröhliches Lied gesungen haben.“ 19
Was dieses Stück für die Kinder in Theresienstadt bedeutete, schilderte in einem Bericht des ORF über eine Wiener Aufführung der Oper die zu diesem Zeitpunkt 67-jährige Musikprofessorin Anna Hanusová aus Brünn, die als Kind in allen 55 Aufführungen mitgesungen hat. Für sie und die anderen Kinder war dies Ablenkung vom wirklichen Leben, in dem Hunger, Entbehrung und Heimweh bestimmend waren. Es sei wie eine Befreiung gewesen, singen zu können, denken zu können, was man wollte, so erzählte sie, und sie setzten den bösen Brundibár mit Hitler gleich; auf diese Weise konnten sie ihn hemmungslos auslachen und verspotten. Ein weiterer Komponist in Theresienstadt war der 1897 in Galizien geborene Carlo Taube, der in Wien und Berlin, hier bei Busoni, studiert hatte. Er gründete und leitete auch eines der ersten in Theresienstadt entstandenen kleinen Orchester. Erhalten blieb seine Komposition Ein jüdisches Kind und eine Sinfonie, deren Uraufführung er als erstes Orchesterkonzert im Ghetto selbst dirigierte. Sicherlich kann die Nennung der Komponisten- und Musikernamen in diesem Beitrag nicht einmal annähernd vollständig sein, ebenso wenig die Aufzählung ihrer Werke. Doch meine ich, daß es weniger wichtig ist, an dieser Stelle Vollständigkeit anzustreben, als vielmehr zu zeigen, wie durch die vielfältigsten Arten von Kunstausübung Menschen in einer absurden, ausweglosen, höllischen Welt den äußersten Zwangssituationen ihren individuellen Widerstand entgegengesetzt haben: Widerstand nicht gegen die Gewaltherrschaft selbst, sondern gegen die Auswirkungen und Folgen der Entindividualisierung. Dies konnte keine subjektive Entwicklung sein, denn das Ich war eingebunden in einen Kreis enorm vieler Menschen und Geschehnisse, in kollektives Leid, wo eine Utopie auf Besserung der Verhältnisse nicht gegeben war. Es kann hier auch nicht um eine Art von Wertung gehen, wie sie Jaromira Tihlariková in ihrem Aufsatz Komponisten in Theresienstadt20 von 1969 vorgenommen hat, indem sie mit der Arroganz der Nachgeborenen und ohne ausreichende Kenntnis der Werke – Ullmanns Kompositionen beispielsweise waren zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht veröffentlicht – pauschal urteilte, daß die in Theresienstadt entstandenen Werke nicht zu den Höhepunkten im Schaffen der dort internierten Komponisten zählten. Wertungen sind, ganz im Gegenteil, in diesem Zusammenhang völlig fehl am Platz, was kaum besser ausgedrückt werden kann als dies Peter Weiss in seinem großen Roman Die Ästhetik des Widerstands formuliert hat: „[…] sie arbeiteten nicht weniger leidenschaftlich als jene, die vielleicht verschont bleiben und euch etwas hinterlassen, das euch bereichert.“
19 20
Kuna, Musik an der Grenze des Lebens (Anm. 14). Jaromira Tihlariková, Komponisten in Theresienstadt, in: Melos 36 (1969), S. 253.
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Solche Leistungen lassen sich „nicht nach erkennbaren Maßstäben bewerten“, vielmehr „muß eine neue Waage erfunden werden, auf der sich das Gewicht ihres Lebens beweist.“21
Und es kommt vor allem darauf an, diese Form des ästhetischen Widerstandes, den Lagerinsassen in verschiedenster Ausformung, sei es in schriftlichen Äußerungen, in Liedern oder in Kompositionen geleistet haben, zu erfassen: eine Ästhetik, die „nicht nur künstlerische Kategorien umfassen will“,22 wie dies Peter Weiss in seinen Notizbüchern vermerkte. Und genauso geht es darum, Grenzerfahrungen – so weit dies möglich ist – nachzuspüren, das Inferno der Konzentrationslager als die Hölle zu begreifen, die für viele bereits vor dem Tod den Verlust der künstlerischen und dann der subjektiven Identität bedeutete.
21 22
Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands. Roman, 3 Bde. in 1 Bd., Frankfurt am Main 1985, Bd. 3, S. 202. Vgl. Peter Weiss, Notizbücher 1971–1980, Bd. 1, Frankfurt am Main 1981, S. 420.
PETER ANDRASCHKE (Gießen)
Weisen von Leben und Tod. Das Vokalschaffen von Viktor Ullmann im KZ Theresienstadt Viktor Ullmann wurde am 1. Januar 1898 im mährisch-schlesischen Teschen (Český Těšín) geboren. Er starb in Auschwitz, vermutlich am 18. Oktober 1944. Dieses Sterbedatum nimmt man aufgrund des in der Regel zweitägigen Transports von Theresienstadt nach Auschwitz an. Dort wurden die Häftlinge meist sofort nach ihrer Ankunft vergast. Musik begleitete Ullmann wohl auf diesem letzten Gang, denn Häftlingsorchester hatten bei der Selektion wie beim Weg der Opfer in die Gaskammern zu spielen. Esther Bejanero, ein ehemaliger Häftling, erinnert sich: „Wir mußten spielen, während die Züge ankamen und die Leute direkt ins Gas getrieben wurden. Die Deportierten winkten uns fröhlich zu, weil sie dachten, wo die Musik spielt, kann es ja nicht so schlimm sein. Das war ein Teil der Taktik der SS.“ 1
Von den 18 402 Häftlingen, die in insgesamt elf Transporten zwischen dem 28. September und 28. Oktober 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau verbracht wurden, überlebten nur 1574. Ullmann hatte wohl kaum Zweifel an seinem Schicksal. Als er dem Transport nach Auschwitz zugeteilt worden war, übergab er die in Theresienstadt entstandenen Kompositionen Emil Utzig, dem Leiter der Theresienstädter Bibliothek, mit dem Auftrag, sie an Hans Günther Adler weiterzuleiten, falls er nicht zurückkäme. Lange wußte man nichts von deren Rettung, bis sie vor wenigen Jahren aus dem Nachlaß Adlers an das Goetheanum nach Dornach kamen.2 Ullmanns Biographie ist uns nur bruchstückhaft bekannt.3 Sein Vater war Berufsoffizier in der österreichischen Armee. Die Familie siedelte bald nach der Geburt Viktor Ullmanns nach Wien über, wo dieser seine Jugend verbrachte. Er hat im Kursjahr 1918/19 bei Arnold Schönberg Musiktheorie (Kontrapunkt, Formenleh1
2 3
„Das Singen ist mir in Auschwitz vergangen“. Interview mit Esther Bejanero, in: Kontrapunkt 2, Stuttgart 1989, S. 18, zitiert nach Eckhard John, Musik und Konzentrationslager. Eine Annäherung, AfMw 48 (1991), S. 11. Siehe die umfang- und materialreiche Untersuchung von Guido Fackler, „Des Lagers Stimme“ – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie, (= DIZ-Schriften, hrsg. vom Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager, Bd. 11), Bremen 2000. Vgl. das Werkverzeichnis in: Viktor Ullmann. Materialien, hrsg. von Hans-Günter Klein (=Verdrängte Musik. NS-verfolgte Komponisten und ihre Werke, Bd. 2), Hamburg 1993, S. 7–64. Ingo Schultz, Wege und Irrwege der Ullmann-Forschung, in: Hans-Günter Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Die Referate des Symposions anläßlich des 50. Todestags 14.–16. Oktober 1994 in Dornach und ergänzende Studien (= Verdrängte Musik. NS-verfolgte Komponisten und ihre Werke, Bd. 12), Hamburg 1996, S. 13–37.
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re, Instrumentation), bei dem Schönberg-Schüler Joseph Polnauer Harmonielehre und bei Eduard Steuermann Klavier studiert. Schönberg empfahl ihn seinem Schwager Alexander Zemlinsky in Prag, bei dem er im Herbst 1920 eine Stelle als Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung am Deutschen Theater erhielt. Daneben setzte er bei Heinrich Jalowetz seine Kontrapunkt-Studien fort und dirigierte verschiedene Chorvereinigungen. Er studierte 1921 sogar Schönbergs Gurrelieder ein, und er engagierte sich in der Prager Sektion des von Schönberg gegründeten „Vereins für musikalische Privataufführungen“. Den künstlerischen Bezug zu Schönberg dokumentieren die 1925 entstandenen Variationen mit Doppelfuge über ein Thema von Schönberg op. 3a, in denen er sich „deutlich an Schönbergs atonalem Stil orientiert hat.“4 Er widmete sie seinem „verehrten Lehrer und Freunde Dr. Josef Polnauer“. Auch seine beiden anderen wichtigen Lehrer und Förderern bedachte er mit Werken: „Für Alexander Zemlinsky in unverjährbarer Treue“ lautet die Widmung der Drei Sonette aus dem Portugiesischen op. 29 (Elizabeth Barrett-Browning in der Übersetzung von Rainer Maria Rilke), die er 1940 im Eigenverlag herausbrachte, und mit der Sonate b moll für Viertelton-Klarinette und -Klavier op. 16 (1937) gedachte er seinem „lieben Freunde Prof. Alois Hába“. Nach Zemlinskys Weggang aus Prag begann für Ullmann eine unstete Zeit mit zahlreichen Versuchen einen Berufsweg zu finden. Nach Dirigiertätigkeiten in Aussig (1927/28: 1. Kapellmeister und Operndirektor) und Zürich (Winter 1930/31: Dirigent am Schauspielhaus) arbeitete er in einer anthroposophischen Buchhandlung in Stuttgart, wo er von 1931 bis zu deren Schließung im Januar 1933 blieb.5 Die Lehre Rudolf Steiners, die er im Umkreis Schönbergs kennengelernt hat, prägte zeitlebens seine Weltanschauung. Danach kehrte er nach Prag zurück und versuchte im Musikleben Fuß zu fassen: mit Privatunterricht und journalistischen Tätigkeiten in verschiedenen Medien. Ab 1935 erst begann er verstärkt zu komponieren und nimmt von 1935 bis 1937 bei Alois Hába Kompositionsunterricht. Für die Orchesterfassung seiner Schönberg-Variationen, die er unter dem Titel Variationen, Phantasie und Doppelfuge über ein kleines Klavierstück von Arnold Schönberg als sein op. 5 zählt, und für die Oper Der Sturz des Antichrist (sie wird 1935 von Radio Prag gesendet) erhielt er zweimal den Emil Hertzka-Preis. Bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt hat Ullmann etwa 50 Werke komponiert, die größtenteils verschollen sind. Erschienen sind nur vierzehn und zwar im Selbstverlag. Er hat diese Kompositionen, nachdem er den Deportationsbefehl erhielt, nochmals durchgesehen, korri-
4
5
Hans-Günter Klein, Viktor Ullmann, in: Musik in Theresienstadt. Die Komponisten Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krasa, Viktor Ullmann, Erwin Schulhoff (gestorben im KZ Wülzburg) und ihre Werke. Die Referate des Kolloquiums in Dresden am 4. Mai 1991 und ergänzende Studien, hrsg. von Heidi Tamar Hoffmann und HansGünter Klein, (= Verdrängte Musik. NS-verfolgte Komponisten und ihre Werke, Bd. 1), Berlin 1991, S. 60–69 (Zitat S. 61). Den Variationen liegt Schönbergs Klavierstück op. 19 Nr. 4 zugrunde. Robert Kolben, Viktor Ullmann und die Anthroposophie, in: Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Die Referate des Symposions 1994 (Anm. 3), S. 39–54.
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giert und seinem Freund Alexander Waulin, einem russischen Komponisten, der seit 1923 in der Tschechoslowakei lebte, übergeben.6 Am 8. September 1942 wurde Ullmann in Theresienstadt eingeliefert, zusammen mit seiner dritten Frau Elisabeth und seiner ersten Frau Martha, die schon nach einer Woche nach Treblinka gebracht und dort ermordet wurde. Seine zweite Frau Anna war schon am 7. Mai 1942 gemeinsam mit dem ältesten Sohn Max nach Theresienstadt gekommen. Die beiden anderen Kinder aus dieser Ehe hatten die Eltern bereits 1939 im Rahmen eines Programms zur Rettung jüdischer Kinder nach England geschickt; aufgrund der psychischen Belastungen kamen sie in geschlossene Anstalten.7 Ullmann mußte von seiner Familie getrennt leben. Theresienstadt hatte unter den Konzentrationslagern einen Sonderstatus. Es war Auffang- und Durchgangslager und diente Propagandazwecken: als Vorzeigelager für die Öffentlichkeit des In- und Auslands, das von internationalen Kommissionen, etwa dem Roten Kreuz, wiederholt besucht worden ist, ohne daß diese die tatsächlichen Bedingungen im Lager erkannt hätten. Für die nach außen heile Welt wurde ein breites Kultur- und Sportprogramm initiiert. Der bekannte Regisseur Kurt Gerron, der ebenfalls deportiert worden war, mußte 1944 einen abendfüllenden Dokumentarstreifen drehen: Der Führer schenkt den Juden eine Stadt, ein weiterer Film mit dem geplanten Titel Paradiesisches Theresienstadt blieb unvollendet. Dabei darf aber nicht vergessen werden, daß trotz mancher erstaunlicher Freiheiten gegenüber anderen KZs auch hier unmenschliche Verhältnisse herrschten und Menschenleben vernichtet wurden. Dazu einige Zahlen: Insgesamt kamen in der Zeit vom 24. November 1941 bis zum 20. April 1945 140 937 Personen nach Theresienstadt, mit den dort Geborenen waren es 141 162 Menschen, von ihnen starben hier 35 088; bis zum 12. Oktober 1944 wurden 88 196 Menschen von Theresienstadt in andere Lager verschickt, von denen rund 84 500 nicht überlebten.8 Ullmann war in Theresienstadt, vermutlich nach einem einmonatigen Arbeitsdienst,9 von den üblichen Arbeitsverpflichtungen freigestellt worden und wurde innerhalb der sogenannten „Freizeitgestaltung“ eingesetzt, die Kultur, Sport und Spiele umfaßte. Er hatte organisatorische Verpflichtungen im Bereich des Musiklebens, d. h. er mußte Konzerte veranstalten, die Künstler betreuen, Vorträge halten und Kritiken schreiben. U. a. leitete er ein „Studio für Neue Musik“.10 Daneben 6
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Sie befinden sich heute im Besitz des Musikwissenschaftlichen Katheders an der Karlsuniversität in Prag, vgl. Vlasta Benetková, Die Rückkehr Viktor Ullmanns, in: Hoffmann/Klein (Hg.), Musik in Theresienstadt (Anm. 4), S. 81 (Anm. 15). „Der Sohn Johannes lebt auch noch heute in einer geschlossenen Anstalt in England, die Tochter Felician wurde vor kurzem aus derselben Anstalt entlassen“ (Klein, Viktor Ullmann (Anm. 4), S. 63). Die Zahlen entstammen dem Kapitel Verschickungen nach und aus Theresienstadt im Buch von H. [Hans] G. [Günther] Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte. Soziologie. Psychologie, Tübingen 21960, S. 37–71. Ingo Schultz ist der Ansicht, daß Ullmann von der Arbeitsverpflichtung freigestellt war und begründet dies mit der intensiven kompositorischen Arbeit in den ersten Monaten (vgl. Ingo Schultz, Wege und Irrwege der Ullmann-Forschung, S. 28f.) Milan Kuna, Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen, Frankfurt am Main 1992, S. 243.
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entwickelte Ullmann eine ungewöhnliche kompositorische Produktivität, als ob er geahnt hätte, daß er ein Lebenswerk in nur mehr kurzer Zeit vollenden müßte. In diesen 25 ½ Monaten, die angefüllt waren von verschiedensten offiziellen Verpflichtungen, in der Enge des Lagers, das keine Privatsphäre zuließ, unter von existentiellen Sorgen belasteten Bedingungen entstanden elf Liedopera mit insgesamt dreißig Nummern, ein größeres Melodram, sieben Chorwerke mit insgesamt dreizehn Nummern, zwei Bühnenwerke, davon eines als Fragment, eine Violinsonate und ein Streichquartett, drei Klaviersonaten, zwei Kadenzen zu Beethovens Klavierkonzerten Nr. 1 und 3, das Fragment zum Finale einer Sinfonie. Bei der in Theresienstadt entstandene Vokalmusik11 handelt es sich um Lieder Drei Lieder für Bariton und Klavier (Conrad Ferdinand Meyer) („Erneuert in Theresienstadt Herbst 1942“, Schlußvermerk bei Nr. 1 und Nr. 2: „Theresienstadt 26. X. 1942“, Schlußvermerk bei Nr. 3: „Theresienstadt 4. November 42“; Widmung: „Dem Andenken meiner lieben Mutter“) Nr. 1 Schnitterlied („Wir schnitten die Saaten“) Nr. 2 Säerspruch („Bemeßt den Schritt, bemeßt den Schwung“) Nr. 3 Die Schweizer („Sie kommen mit dröhnenden Schritten entlang“) [Vom Säerspruch existiert zudem ein separates Autograph mit der Schlußbemerkung „Viktor Ullmann m. p. Ghetto Theresienstadt, 30. Nov. 1942“] Herbst („Gewaltig endet so das Jahr“). Lied für eine Singstimme und Violine, Viola und Violoncello auf einen Text von Georg Trakl (Schlußvermerk „Theresienstadt 24. I. 1943“) Little Cakewalk („Lundi, mardi, fête“). Lied für eine Singstimme und Klavier. Aus: Chansons des enfents francaises [sic!] Nr. 1 (bei dem Titel steht „À mon Maman 27. IX. 1943 Victoire“, am Schluß: „repetition avec humeur jusqu’à [mit Bleistift ergänzt zu: au] fin de siècle. Victoire Ullmann, Baron de Tannfels, Village du Therese, avec gratulation“) Drei chinesische Lieder (Schlußvermerk: „Theresienstadt Oktober 1943“); erhalten sind nur: 1. Wanderer erwacht in der Herberge („Ich erwache leicht geblendet“, Li-tai-pe, Nachdichtung von Klabund) 2. Der müde Soldat („Ein kahles Mädchen, heckenblaß entlaubt“, Nachdichtung eines unbekannten Dichters von Klabund) [Das dritte Lied ist nicht überliefert.]
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Vgl. Hans-Günter Klein, Die Kompositionen Viktor Ullmanns, in: Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Materialien (Anm. 2), S. 7–64.
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Der Mensch und sein Tag. Zwölf Bilder von Hans Günther Adler op. 47 für eine Singstimme und Klavier (beendet am 4. November 1943, Adler hat den Text in Theresienstadt für Ullmann geschrieben.) Zwei Hölderlin-Lieder: 1. Sonnenuntergang („Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir“) 2. Der Frühling („Wenn auf Gefilden neues Entzücken keimt“) (Datierung am Schluß: 1943) Drei jiddische Lieder op. 53 (entstanden 1944, Schlußvermerk bei Nr. 1: „25. 5. 1944. Ullmann. Terezin“) - 1. Berjoskele - 2. Margarithelech - 3. A Mejdel in die Johren Wendla im Garten („Warum hast du dich in den Garten geschlichen?“). Lied für eine Singstimme und Klavier auf einen Text von Frank Wedekind [Frühlings Erwachen 2. Akt, 6. Szene] (S. 2, Mitte des Autograph: „Sind wir anders als vor ... Jahren, da ich Dir, liebe Friedl, das nämliche Lied zum Geburtstage widmete? Nein – wir Zwei sind zueinander ‚die Alten‘ geblieben und bleiben es! Viktor, 30. 7. 44 Theresienstadt“, Schlußvermerk: „Viktor Ullmann 1918–1943“). Immer inmitten .... Solo-Kantate für Mezzo-Sopran und Klavier nach Gedichten von Hans Günther Adler 1. Immer inmitten („Immer inmitten, immer inmitten, durch alle Wunderbezirke geschritten“) 2. Vor der Ewigkeit („Was sind die Dinge dieser Welt?“) Abendphantasie („Vor seiner Hütte ruhig im Schatten“). Lied für eine Singstimme und Klavier auf einen Text von Friedrich Hölderlin Lieder der Tröstung. Zwei Lieder für eine tiefere Stimme und Violine, Viola und Violoncello auf Texte von Albert Steffen 1. „Tote wollen nicht verweilen“ 2. Erwachen zu Weihnachten („Augen, noch im Schlaf geschlossen“) [Fragment] Melodram Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. 12 Stücke aus der Dichtung Rilkes für Sprecher und Orchester oder Klavier (Schlußbemerkung: „Fin. Ullmann 12. Juli 1944“. Widmung: „Zum ... Geburtstage meiner Elly, die immer ‚mit dem Jahrhundert‘ geht. Viktor. Theresienstadt 27. 9. 1944“). Partitur nur von Nr. 2 und Beginn von Nr. 3, Instrumentationshinweise im Particell.
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Chöre Drei hebräische Knabenchöre zu 3 Stimmen a cappella (Widmung: „Meinem Sohne Max“) 1. Horra 2. „Haleluja be zilze le schama“ 3. „Hedad ginaktana schalom“ Drei jiddische Frauenchöre zu 3 bzw. 4 Stimmen a cappella 1. „Jome, jome, spil mir a lidele“ 4st. 2. „Du solst nischt gejn mit kejn andere mejdele“ 3st. 3. Du Mejdele 3st. Drei jiddische Männerchöre zu 3 bzw. 4 Stimmen a cappella 1. „As der Rebe eli melech ist geworn“ 3st. 2. „Scha, schtill mach nischt kein gerider“ 3st. 3. „Fregt die Welt an alte Kasch“ 4st. Hala jarden. Hebräischer Frauenchor zu drei Stimmen a cappella Ura ura am se gula. Chassidischer Frauenchor zu drei Stimmen a cappella Eliahu hanavi. Hebräischer Chor für 4 gemischte Stimmen a cappella Anu olim. Hebräischer Chor für 4 gemischte Stimmen a cappella Bühnenwerke Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung. Spiel in einem Akt von Peter Kien. Musik von Viktor Ullmann op. 49 (entstanden 1943, Datierung am Ende des 1. Bildes: 22. September 1943, Datierung am Schluß: 18. November 1943) Don Quijote tanzt Fandango. Ouvertüre (Schlußvermerk „Theresienstadt 21. 3. 1944. Fine zum Konzertschluß“) Der 30. Mai 1431. Oper in zwei Akten. Text vom Komponisten. Textbuch. Das Particell zur Ouvertüre von Don Quijote tanzt Fandango enthält Skizzen zur Oper. Bei Ullmanns kompositorischer Tätigkeit in Theresienstadt fällt auf, daß er sich vorrangig der Vokalmusik zugewendet hat. Dies hat keineswegs allein äußere Gründe, etwa die der Aufführungsgegebenheiten, denn die waren zumindest im Kammermusikbereich durchaus vorhanden. Vielmehr bedurfte er des Wortes, um die Lagersituation an der Grenze des Lebens zu bewältigen und mit seinen Kompositionen auch anderen Häftlingen Trost, Mut und Hoffnung zu geben. Die Auswahl der Texte, zumal wenn man sie mit denen vergleicht, die er vor Theresienstadt vertont hat, ist dafür kennzeichnend. Sie und die Art ihrer Aneignung lassen bedrückend die Lebensbedingungen durchscheinen, unter denen die Musik entstan-
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den ist. Zur Verfügung stand ihm für seine Lektüre und Auswahl der Texte eine Ghettobücherei, die 1943 laut Rechenschaftsbericht auf rund 200 000 Bände angewachsen war. Es sind zum Teil Gedichte, die der großen humanistischen Tradition im deutschsprachigen Raum entstammen und diese als kritische Gegenwelt setzen zum nationalsozialistischen Terrorregime und der Lagerwirklichkeit, die dieses bedeutende Kulturerbe mit Füßen trat. Aber auch in diesen Texten kreisen die Bilder häufig um das Verhältnis von Leben und Tod, um Endzeitstimmungen. Dies ist auch dort oft zu spüren, wo bewußt Prinzipien der Hoffnung beschworen werden. Die Drei Lieder für Bariton und Klavier auf Texte von Conrad Ferdinand Meyer sind wohl die ersten Lieder, die Ullmann in Theresienstadt komponiert hat, einen knappen Monat nach seiner Einweisung.12 Die Widmung „Dem Andenken meiner lieben Mutter“ spricht von der Sehnsucht nach einstiger Geborgenheit. Das Schnitterlied und der Säerspruch enthalten Gedanken an den Tod; die Nr. 3, Das Lied Die Schweizer persifliert das rein materielle Denken als Lebensinhalt. Von Friedrich Hölderlin, dessen Verse auffallend oft in Krisenzeiten rezipiert wurden,13 stammen drei Texte. Zwei davon, Der Frühling und Abendphantasie setzen Zeichen einer friedlichen Utopie, während im Sonnenuntergang das als schön Erlebte bereits der Vergangenheit angehört, nur noch Erinnern ist: Sonnenuntergang Wo bist du? trunken dämmert die Seele mir Von aller deiner Wonne; denn eben ist’s, Daß ich gelauscht, wie, goldner Töne Voll, der entzükende Sonnenjüngling Sein Abendlied auf himmlischer Leyer spielt’, Es tönten rings die Wälder und Hügel nach. Doch fern ist er zu frommen Völkern, Die ihn noch ehren, hinweggegangen.14 Von Georg Trakl hat Ullmann das Gedicht Verklärter Herbst gewählt und in seinem Titel das charakteristische „verklärt“ bezeichnend weggelassen. Der Text schildert die Üppigkeit des Herbstes und die „goldne“ Zeit der Liebe (bei Trakl heißt es „der Liebe milde Zeit“15) und kontrastiert auffallend zur trostlos kalten Situation in der Enge des Lagers. Doch ist in dem Gedicht auch von dem Einsamen die Rede, dem diese Bilder Gefährten sind. 12 13 14 15
Ebenda, S. 30f. Sie sind wohl schon in Prag skizziert, aber hier noch einmal von Beginn neu niedergeschrieben worden. Darauf verweist der Vermerk: „Erneuert in Theresienstadt Herbst 1942“. Peter Andraschke, Hölderlin – ein politischer Dichter?, in: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher, hrsg. von Annegrit Laubenthal, Kassel u. a. 1995, S. 484–491. Der Text ist wiedergegeben nach Hölderlin, Gedichte bis 1800, hrsg. von Friedrich Beissner (= Sämtliche Werke, Bd. 1), Stuttgart 1946, S. 259. Georg Trakl, Dichtungen und Briefe (= Historisch-Kritische Ausgabe, hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar, Bd. 1), Salzburg 1969, S. 37.
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Rainer Maria Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke hat Ullmann als Melodram komponiert. Auf die ursprüngliche Idee eines Orchestermelodrams weisen die Instrumentierung der ersten Musiknummer und des Beginns der zweiten sowie Instrumentationshinweise im Particell, das der Klavierfassung zugrunde gelegt wurde.16 Die Reduktion auf den Klavierpart – in dieser Form „ist das Werk offenbar mehrmals in Theresienstadt aufgeführt worden“17 – entstand wohl aus den Aufführungsbedingungen in Theresienstadt. Ullmann hat das Werk seiner Frau zum Geburtstag gewidmet.18 Die Komposition ist zweiteilig angelegt: ein erster Teil mit fünf Nummern, wobei die erste ohne Musik ist, und ein zweiter Teil mit acht Nummern. Ullmann hat Rilkes Dichtung um rund die Hälfte gekürzt. Die Rahmenhandlung fehlt zum großen Teil, die Festszene und die Liebesszene, zu der sie führt, ist einbezogen, was möglicherweise aus der Widmung des Werkes an seine Frau zu verstehen ist. Die meisten vertonten Nummern erhalten, wenn man sie in bezug auf die Lagersituation liest, eine eigene Bedeutung, so z. B. die Nr. 3, die zweite Musiknummer: „Jemand erzählt von seiner Mutter. Ein Deutscher offenbar. Laut und langsam setzt er seine Worte. Wie ein Mädchen, das Blumen bindet, nachdenklich Blume um Blume probt und noch nicht weiß, was aus dem Ganzen wird –: so fügt er seine Worte. Zu Lust? Zu Leide? Alle lauschen. Sogar das Spucken hört auf. Denn es sind lauter Herren, die wissen, was sich gehört. Und wer das Deutsche nicht kann in dem Haufen, der versteht es auf einmal, fühlt einzelne Worte: ‚Abends‘ ... ‚Klein war ...‘ Da sind alle einander nah, diese Herren, die aus Frankreich kommen und aus Burgund, aus den Niederlanden, aus Kärntens Tälern, von den böhmischen Burgen und vom Kaiser Leopold. Denn was der Eine erzählt, das haben auch sie erfahren und gerade so. Als ob es nur eine Mutter gäbe ...“19
Auch wenn in der vorliegenden Untersuchung die Liedkompositionen im Vordergrund stehen, so muß doch auf das in Theresienstadt entstandene einaktige Spiel Der Kaiser von Antlantis oder Die Todverweigerung nachdrücklich hingewiesen werden.20 16
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Viktor Ullmann, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. 12 Stücke aus der Dichtung Rilkes für Sprecher und Klavier (1944), hrsg. von Henning Brauel, (= Schott Musik International ED 8285), Mainz 1995; ein Revisionsbericht fehlt. - Der Originaltitel bei Ullmann lautet: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. 12 Stücke aus der Dichtung Rilkes für Sprecher und Orchester oder Klavier, siehe HansGünter Klein, Die Kompositionen Viktor Ullmanns, in: Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Materialien (Anm. 2), S. 35–37. Hier wird der Kompositionszustand im Particell wie folgt beschrieben: „Particell-Notation in der Regel auf zwei Systemen: Entwurf-Niederschrift mit zahlreichen Streichungen, Korrekturen, etc. und Instrumentenangaben.“ (S. 35). So das Vorwort zur gedruckten Partitur. „Zum ... Geburtstage meiner Elly, die immer ‚mit dem Jahrhundert‘ geht. Viktor. Theresienstadt 27. 9. 1944“. Rainer Maria Rilke, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, Leipzig, Insel-Verlag, o. J., S. 9f. Vgl. dazu André Meyer, Peter Kiens Libretto zum „Kaiser von Atlantis“ – ein Text voller Anspielungen, in: Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Die Referate des Symposions 1994 (Anm. 3), S. 87–96; ders., Viktor Ullmann und die asiatische Kunst. Einflüsse des traditionellen japanischen Nô-Theaters auf die Gestaltung des „Kaiser von Antlantis“,
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Das gleichnishafte Mysterienspiel über Leben und Tod ist eine so deutliche Anklage gegen die Verhältnisse in Theresienstadt und gegen den Nationalsozialismus, daß die Uraufführung nach der Generalprobe verboten wurde, sie fand erst am 16. Dezember 1975 im Bellevue-Theater in Amsterdam statt. Ullmann hat bei der kammermusikalischen Besetzung an die Aufführungsmöglichkeiten im Lager gedacht. Das Werk beginnt laut Partitur „in einer Welt, die verlernt hat, am Leben sich zu freuen.“21 Der Text stammt von dem Maler und Dichter Peter Kien, der mit Ullmann inhaftiert war, und stellt den Tod als Symbol des Trostes, der Erlösung und Hoffnung auf eine Wiedergeburt unter besseren Bedingungen dar. Judentum Beeindruckend ist das eindringliche Bekenntnis zum Judentum im KZ Theresienstadt. Nachdem man als Jude entdeckt und aus diesen Gründen deportiert worden war, gab es nichts mehr zu verheimlichen. Das Judentum wurde nun intensiv und mit Stolz gelebt. Der junge Dichter Egon Redlich führte sein Tagebuch in hebräischer Schrift. Es gab einen von Karl Fischer geleiteten synagogalen Chor und einen Chor unter Rafael Schächter, der tschechisch und hebräisch sang. Es wurden Lieder auf jiddische und hebräische Texte komponiert,22 und auch die Musik jüdischer Komponisten wie Gustav Mahler, Alexander Zemlinsky und Arnold Schönberg wurde aufgeführt. Erst im August 1944 wurde nur noch der Vortrag in deutscher Sprache zugelassen. Auch Viktor Ullmann entdeckte wie manche anderen erst hier im KZ intensiv sein ethnisches Erbe. Das belegen auch seine Lieder und Chöre.23 Und die 7. Klaviersonate24 enthält als Schlußsatz Variationen und Fuge über ein hebräisches Volkslied, es ist das zionistische Einwandererlied Rachel. Diese Komposition ist ein Beispiel dafür, wie bei Ullmann auch die Instrumentalmusik semantisiert ist. Er hat die 7. Klaviersonate am 22. August 1944 vollendet, nicht einmal zwei Monate vor der Todesfahrt nach Auschwitz. Bedrückend in diesem Zusammenhang ist die Widmung an seine drei Kinder und der anschließende Hinweis „Das Recht auf Aufführung bleibt dem Komponisten bei Lebzeiten vorbehalten“. Zahlreiche Zitate reichern die Musik inhaltlich bedeutungsvoll an: der Hussitenchoral Ktož jsú boží bojovníci („Wer Gottes Kämpfer ist“), die slowakische Hymne Nad Tatrou sa blýska („Blitze kreuzen über der Tatra“), das tschechische Volkslied Kde domov můj („Wo ist mein Heimatland“), der Lutherchoral Nun danket alle Gott und
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in: ebenda, S. 97–108; Michael Kraus, Die Abschiedsarie des Kaisers im „Kaiser von Atlantis“ und ihre verschiedenen Fassungen, in: Ebenda, S. 109–124; Bernhard Helmich, Viktor Ullmann. Der Kaiser von Atlantis oder Die Todverweigerung, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 6, München/Zürich 1997, S. 362–364. Partitur S. 3 (Aufführungsmaterial bei Schott). Z. B. von Pavel Haas, Al s'fod [Klage nicht!]. Männerchor auf einen hebräischen Text; Gideon Klein: Bachuri leantisa a tre voci a capella, Klein bearbeitete zudem ein hebräisches Wiegenlied für Singstimme und Klavier; Zikmund Schul: Cantata Judaica op. 1, Zwei chassidische Tänze für Viola und Cello, Uv’tzeil K’nofecho für Streichquartett. David Bloch, Viktor Ullmann’s Yiddish and Hebrew Vocal Arrangements in the Context of Jewish Music Activita in Terezin, in: Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Die Referate des Symposions 1994 (Anm. 3), S. 79–86. Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Materialien (Anm. 2), S. 38–40.
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eine ironisch beleuchtete Erinnerung an den Walzer aus Richard Strauss’ Der Rosenkavalier. Ähnliches kann man in der 5. Klaviersonate op. 45 beobachten, die Ullmann seiner Frau Frau Elisabeth „in memoriam Theresienstadt“ zueignete.25 Der erste Satz (ursprünglich wohl die ganze Komposition) heißt Von meiner Jugend, das später gestrichene Menuett hatte den Untertitel Totentanz, und dem Andante liegen folgende Verse von Karl Kraus als Motto zugrunde: Vor dem Schlaf So spät ist es, so späte ... Was werden wird, ich weiß es nicht. Es dauert nicht mehr lange, mir wird so bange – und seh in der Tapete das klagende Gesicht.
Neben dem Judentum gab Ullmann die Anthroposophie, der er sich bereits früh, bezeichnenderweise während seiner Studienzeit bei Schönberg, zugewandt und mit der er sich dann in seiner Schweizer Zeit ausführlich beschäftigt hat, jenes seelische Gleichgewicht, das für ein würdiges und schöpferisch erfülltes Überleben wichtig war.26 Ein beredtes schriftliches Bekenntnis dazu ist Der fremde Passagier. Ein Tagebuch in Versen mit den anschließenden Aphorismen.27 Aber auch seine Kompositionen belegen die Bindung an die Lehre Rudolf Steiners. So vertonte er mehrfach Gedichte des Schweizer Anthroposophen Albert Steffen (1884–1963), eines nahen Freundes, der ein vielfältiges literarisches Werk hinterlassen hat. Steffen war seit 1925 Vorsitzender der Antroposophischen Gesellschaft Rudolf Steiners und Leiter der Sektion für Schöne Wissenschaften an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft Goetheanum in Dornach. In Dornach liegt auch der Nachlaß Ullmanns aus Theresienstadt. Schwer ist’s das Schöne zu lassen, ein Lied für eine Singstimme und Orchester op. 8 Nr. 2 hat Ullmann auch für Gesang und Klavier bearbeitet. Der Sturz des Antichrist op. 9 (1935) erlebte am 15. April 1935 in Dornach seine Uraufführung. Die Sechs Lieder nach Gedichten von Albert Steffen für Sopran und Klavier op. 17 hat er seiner zweiten Frau Annie zum 6. Mai 1937 gewidmet. Er veröffentlichte sie, wie auch die Sechs Geistlichen Lieder für hohe Stimme und Klavier op. 20 (1940) im Eigenverlag; hier stammen von Steffen: 1. Um Mitternacht im Schlafe schon sowie die Übersetzungen der beiden englischen Texte von Percy MacKaye 5. First Meeting („I have seen you long ago“)/Erste Begegnung („Hab geseh’n dich irgendwo“) und 6. Christmas Morning in Dornach („I met God walking leisurely“)/Weihnachtsmorgen in 25
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Ebenda, S. 21–23. Das Werk hat mehrfache Umarbeitungen erfahren, u. a. wollte Ullmann daraus eine Symphonie machen, worauf zahlreiche Instrumentationshinweise und die Partitur des Finale-Anfangs hinweisen. Robert Kolben, Viktor Ullmann und die Anthroposophie, in: Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Die Referate des Symposions 1994 (Anm. 3), S. 39–54. Viktor Ullmann, Der fremde Passagier. Ein Tagebuch in Versen, hrsg. und eingeleitet von Vlasta Benetková (mit Erläuterungen zu den Gedichten und Aphorismen von Jan Dostal), in: Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Materialien (Anm. 2), S. 65–118.
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Dornach („Gottvater sah gemach ich geh’n“). In Theresienstadt entstanden dann die zwei Lieder der Tröstung auf Texte von Albert Steffen, von denen das zweite (Erwachen zu Weihnachten: „Augen, noch im Schlaf geschlossen“) Fragment geblieben ist. Der Text des erschütternden ersten Liedes lautet: Tote wollen nicht verweilen. Wie sie wallen, wie sie eilen, werfen immer neue Hüllen von den Seelen und erfüllen so ihr Wesen und genesen. Wasser sind wir, tot der Tränen. Luft, erlöst von allem Sehnen. Sonne, selig in dem Lichte, jenseits jeglichem Gerichte. Erdenerbe, es ersterbe.28
Authentisch auf die KZ-Situation bezogen ist der Liederzyklus Der Mensch und sein Tag. 12 Bilder von H. G. Adler op. 47. Der Prager Hans Günther Adler (1910–1988) war mit Ullmann in Theresienstadt interniert, er hat Auschwitz überlebt. Ab 1947 lebte er als freier Schriftsteller in London. In dem wichtigsten Teil seines Schaffens hat er sich mit jüdischen Fragen beschäftigt. Von ihm stammen die beiden umfangreichsten Dokumentationen über Theresienstadt: Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte. Soziologie. Psychologie29 und Die verheimlichte Wahrheit. Theresienstädter Dokumente.30 Adler hat Der Mensch und sein Tag für Ullmann gedichtet. Er beschreibt darin mit lyrischer Distanz Beobachtungen und Eindrücke. Das Werk enthält auffallend viel Natur- und Liebeslyrik, die vom Alltag des Lagers wegführt. Einige der kleinen Bilder beziehen sich aber auf die Realität, so die Nummern 6 und 7 In der Stube und Der Nachbar: In der Stube Zueinander, dicht gestaut. Sorgen mühsam aufgebaut. Ding und Wesen. Stumm und laut. Der Nachbar Gut ist Hilfe. Hand an Hand. Tür und Tür und Wand an Wand: Ganz einander. Bund und Band.
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Albert Steffen, Der Tröster, Dornach 41986, S. 42 (Erstauflage 1935); siehe Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Materialien (Anm. 2), S. 41. H. [Hans] G. [Günther] Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Geschichte. Soziologie. Psychologie, Tübingen 1955/21960. Ders., Die verheimlichte Wahrheit. Theresienstädter Dokumente, Tübingen 1958.
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Zwei weitere Gedichte von Adler hat Ullmann in seiner Solo-Kantate Immer inmitten .... vertont. 31 Zwei Nachdichtungen chinesischer Lyrik Von den Drei chinesischen Liedern für eine Singstimme und Klavier sind nur zwei überliefert: 1. Wanderer erwacht in der Herberge (Li-tai-pe, Nachdichtung von Klabund) 2. Der müde Soldat (Unbekannter Autor, Nachdichtung von Klabund).32 Dichtungen und Nachdichtungen fernöstlicher Lyrik wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auffallend oft vertont, insbesondere von Komponisten aus dem Wiener Bereich. Gustav Mahlers Lied von der Erde wirkte dafür wie eine Art Initialzündung. Aus dem Kreis der Zweiten Wiener Schule komponierte Webern mehrfach Nachdichtungen chinesischer Lyrik von Hans Bethge, dessen Büchlein Die chinesische Flöte33 ein Bestseller wurde und innerhalb kurzer Zeit eine für Lyrik ungewohnte Zahl von Auflagen erlebte. Karol Szymanowski entdeckte Bethges Hafis. Nachdichtungen seiner Lieder (Leipzig 1910) 1911 in der Wiener Hofbibliothek und komponierte daraus zahlreiche Texte.34 Alexander Zemlinsky wiederum wandte sich Rabindranath Tagore zu, dem bengalischen Träger des Nobelpreises für Literatur 1913 und vertonte sieben seiner Gesänge in der Lyrischen Symphonie op. 18 (1923). Nicht allein das Exotische fremder Kulturen kann dieses europäische Interesse erklären, das sich vor allem im ehemaligen habsburgischen Raum findet und auch modische Züge annahm. Der wichtigste Beweggrund ist wohl die Suche nach ethischen Werten, von denen man sich eine Erneuerung erwartete. Auch Ullmann hatte Bethge vertont. Sein Liederbuch des Hafis. Nachdichtung von Bethge op. 30 für Baß und Klavier erschien 1940 in Prag im Eigenverlag. Er besingt darin in vier Liedern das Lob des Weines und der Liebe. Der Untertitel lautet „1. Suite“, es waren also weitere Hafislieder geplant (unter Umständen auch geschrieben worden, denn von den Kompositionen aus der Prager Zeit sind uns nicht alle erhalten). Änderungen am Wortlaut können Auskunft über die Art des schöpferischen Zugriffs geben und die spezifische Einstellung zur Dichtung kundtun, die ohne Ver31
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Immer inmitten .... Solo-Kantate für Mezzo-Sopran und Klavier nach Gedichten von Hans Günther Adler, 1. Immer inmitten („Immer inmitten, immer inmitten, durch alle Wunderbezirke geschritten“) 2. Vor der Ewigkeit („Was sind die Dinge dieser Welt?“). Die Datierung dieses in Theresienstadt entstandenen Werkes ist nicht bekannt, vgl. Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Materialien (Anm. 2), S. 40. Vgl. Hans-Günter Klein, Die Kompositionen Viktor Ullmanns, in: Klein (Hg.), Viktor Ullmann. Materialien (Anm. 2), S. 32f. Hans Bethge, Die chinesische Flöte. Nachdichtungen chinesischer Lyrik, Leipzig 1907, Heidenheim 191980. Vgl. dazu Peter Andraschke, Dichtung und Musik. Schöpferische Wechselwirkungen. Zu Bethge-Vertonungen von Mahler und Webern, in: Slowenische Musiktage 1986. Fragen und Aspekte der Kreativität und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Musikkultur, Ljubljana 1987, S. 3–10; ders., Hans Bethge und Gustav Mahler, in: Kongreßbericht zum IV. Internationalen Gewandhaus-Symposium Gustav Mahler – Leben. Werk. Interpretation. Rezeption anläßlich der Gewandhaus-Festtage 1985 (= Dokumente zur Gewandhausgeschichte, Bd. 5), Leipzig 1990, S. 95– 103. Peter Andraschke, Szymanowskis Bethge-Vertonungen, in: Karol Szymanowski in seiner Zeit, München 1984, S. 85–100; ders., Szymanowskis 3. Symphonie (Das Lied der Nacht), in: Musikgeschichte zwischen Ost- und Westeuropa. Tagungsbericht Chemnitz 1995 (= Deutsche Musik im Osten, Bd. 10), Sankt Augustin 1997. S. 183–191.
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gleich mit dem Original verborgen bliebe. Ullmann hat die Textvorlagen häufig überarbeitet und sich so zu eigen gemacht. Manches Detail resultiert aus der persönlichen Befindlichkeit im KZ. Ein Beispiel ist Klabunds chinesische Nachdichtung Wanderer erwacht in der Herberge von Li-tai-pe. Das Original lautet: Klabund:
Änderungen bei Ullmann:
Wanderer erwacht in der Herberge Ich erwache leicht geblendet, ungewohnt Eines fremden Lagers. Ist es Reif, der über Nacht den Boden weiß befiel? Hebe das Haupt – blick in den strahlenden Mond, Neige das Haupt – denk an mein Wanderziel ...
Ich schau in den Mond, neige das Haupt, denk’ an mein Wanderziel.
Für Ullman werden diese Zeilen zur Metapher des Lebensweges. Es ist ein Erwachen in der aktuellen und schrecklichen Situation von Theresienstadt. Deshalb verändert er den dritten Satz in Klabunds Versen von „Hebe das Haupt – blick in den strahlenden Mond“ zu „Ich schau in den Mond“. Das Heben des Hauptes macht Mühe in der Niedergeschlagenheit des dortigen Alltags, der Mond reflektiert das Licht über dem Lager der Erniedrigung: Er kann nicht strahlend sein. Weshalb Ullmann nicht Bethge sondern Klabunds Nachdichtungen gewählt hat, mag möglicherweise mit den Beständen der Ghettobibliothek zu erklären sein. Ein offensichtlicherer Grund könnte aber auch in der Sprache Klabunds liegen. Seine Nachdichtung von Wanderer erwacht in der Herberge heißt bei Bethge In der Fremde. Anton Webern hat diesen Bethge-Text als drittes seiner Vier Lieder für Gesang und Orchester op. 13 am 4. Juli 1917 in Klagenfurt komponiert.35 Er lautet: Hans Bethge: In der Fremde In fremden Lande lag ich. Weißen Glanz Malte der Mond vor meine Lagerstätte. Ich hob das Haupt - ich meinte erst, es sei Der Reif der Frühe, was ich schimmern sah, Dann aber wußte ich: der Mond, der Mond ... Und neigte das Gesicht zur Erde hin, Und meine Heimat winkte mir von fern.36
Diese Art des Nachdichtens entspricht in Stil und Ästhetik nicht der Intention Ullmanns, wie sie dargestellt wurde; er hätte sie auch nicht durch starke Eingriffe in seinem Sinn überarbeiten können. 35 36
Datierung nach Hans und Rosaleen Moldenauer, Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich/Freiburg i. Br. 1980, S. 647. Hans Bethge, Die chinesische Flöte, Heidenheim 191980, S. 36.
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Auch das zweite seiner Chinesischen Lieder, Klabund hat hier ein Gedicht aus dem Schi-king, dem ältesten Literaturdenkmal der Chinesen,37 nachgedichtet, läßt sich ohne einschneidende Veränderung am Wortlaut als Dokument aus einem KZ lesen. Es lautet im Original Klabunds,38 zum Vergleich ist die Version Ullmanns angeführt: Klabund: Der müde Soldat Ein kahles Mädchen. Heckenblaßentlaubt. Sie steht am Weg. Ich gehe weit vorbei. So stehen alle: Reih in Reih, Und Haupt an Haupt. Was weiß ich noch von heiligen Gewässern Und von des Dorfes Abendrot? Ich bin gespickt mit tausend Messern Und müde von dem vielen Tod.
Ullmann:
Sie steht am Weg, ich gehe weit vorbei. So steh’n sie alle: Reih’ an Reih’
was von des Dorfes Abendrot. und müde ... müde von dem vielen Tod.
Der Kinder Augen sind wie goldner Regen, in ihren Händen glüht die Schale Wein. Ich will mich unter Bäumen schlafen legen und kein Soldat mehr sein.
Hoffnung ist hier für den Erwachsenen nicht mehr möglich, sie wird in der abschließenden Strophe als Bild in die Augen der Nachfahren, der Kinder gelegt. Die kleinen Eingriffe Ullmanns am Text gehen feinsinnig auf seine neue Lesart des Gedichts ein. Das Weglassen des Fragezeichens verstärkt den Abstand vom früheren Leben, an das man sich kaum noch zu erinnern vermag. Die beiden Punkte nach „müde“ und die anschließende Wortwiederholung intensivieren ebenso wie die Änderung von „So stehen alle: Reih in Reih“ zu „So steh’n sie alle: Reih’ an Reih’“, wobei hier vor allem das „sie“ ein stärker individuelles Moment einbringt. Ullmann geht mit seiner Musik feinsinnig auf den Text ein. Ein Beispiel ist der Beginn mit seinem schwierigen komplexen Rhythmus, der den müden Soldaten darstellt (siehe Notenbeispiel 1)39. Kein forscher Schritt, sondern stockende Synkopen stehen als Grundrhythmus im Klavierbaß. Sie sind durch Triolenbewegungen angereichert, wobei Überbindungen die Entwicklung immer wieder anhalten: eine mat37 38 39
Diese älteste beglaubigte Sammlung von Poesien stammt aus dem 12. bis 7. Jahrhundert vor Christi Geburt. Die Autoren sind meist unbekannt. Vgl. ebenda S. 102 (Anm. zu S. 5). Bei Bethge findet sich keine Nachdichtung dieses Gedichts. Das Notenbeispiel zeigt das Autograph, das im Goetheanum in Dornach aufbewahrt ist. Es wurde veröffentlicht in Viktor Ullmann, Sämtliche Lieder (Copyright B. Schott’s Söhne, Mainz o. J.). Ich danke dem Verlag für die Genehmigung zur Abbildung. Der Notentext wurde von Ullmann offensichtlich nicht endgültig durchgesehen und wirft in einigen Details Fragen auf. Eine Kritische Ausgabe mit Revisionsbericht steht noch aus.
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te, energielose Bewegung charakterisiert das Bild der Hoffnungslosigkeit, das erst in der letzten Strophe mit wenigen Aufwärtsbewegungen aufgehellt wird: siehe die Melodie der Klavierbegleitung im Takt 22, die im folgenden Takt vom Gesang aufgenommen und fortgesetzt wird, siehe auch die Achtelbewegung zum eis’’ und fis’’’ im Takt 27. Doch versinkt die Musik gegen Ende des Liedes wieder in Resignation. Ullmann komponiert in einer geweiteten Tonalität. Ausgeprägt und charakteristisch ist seine Variantentechnik, die an Gustav Mahler anschließt und die Erfahrungen des Kreises um Schönberg und um Zemlinsky weiterführt. Das kann beispielhaft am Beginn der Gesangsmelodie im Vergleich mit drei variativen Wiederaufnahmen beobachtet werden (siehe Notenbeispiel 2 a-d).40 Die Phrasen beginnen zum Teil tongetreu, im Notenbeispiel 2d transponiert (vergleiche insbesondere mit 2b) und beziehen sich in ihren Haupttönen und Verlaufskurven aufeinander. Dabei geht Ullmann selbstverständlich auf den Sinn der Worte ein, man vergleiche bei Nr. 2a das Absinken der Bewegung zu den Worten „heckenblaß entlaubt“ (T. 2f.) und dagegen die großintervallige Aufwärtsbewegung an der entsprechenden Stelle in der Nr. 2c zum Text „glüht die Schale Wein.“ (T. 26f.). Ullmann hat die strukturelle Strenge der Zwölftontechnik für sich nicht übernommen, obgleich er gerade in den Jahren bei Schönberg studierte, als sich die Idee dazu allmählich festigte. Dies wird von anthroposophischer Seite mit dem Wesen dieser Weltsicht begründet. Dieses Urteil sollte gründlich überprüft werden unter Einbezug der Bedeutung von Goethe und seiner Farbenlehre für die Wiener Komponisten der Zweiten Wiener Schule und für Josef Matthias Hauer.41 Als Komponisten hat Ullmann übrigens besonders Alban Berg geschätzt, der in der Zwölftonkomposition seinen eigenen Weg gegangen ist.
40 41
Die Darstellung könnte in einigen Details auch andere und zusätzliche Bezüge aufzeigen. Vgl. Angelika Abel, Die Zwölftontechnik Weberns und Goethes Methodik der Farbenlehre. Zur Kompositionstheorie und Ästhetik der neuen Wiener Schule (= Beihefte zum AfMw, Bd. 19), Wiesbaden 1982.
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Notenbeispiel 1a: V. Ullmann: Der müde Soldat. Autograph der Reinschrift (Beginn).
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Notenbeispiel 1b: V. Ullmann: Der müde Soldat. Autograph der Reinschrift (Schluß).
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Notenbeispiel 2: V. Ullmann, Der müde Soldat. Variantenvergleich der Singstimme in den Takten 2–4, 5–7, 26f. und 24f.
Podiumsdiskussion Manfred Wagner Hier sitzen so viele Menschen am Podium, dadurch ist auch erklärbar, daß im Publikum jetzt einige Sitze leer sind. Wir haben am Podium einen der Direktoren des Jüdischen Museums, Herrn Dipl.-Ing. Georg Haber, dann Dr. Herbert Vogg, Dr. Edelgard Spaude, Prof. Dr. Hartmut Krones, und es ist mir eine große Freude, einen jungen Kollegen, Herrn Dr. Marcus Patka, zu begrüßen, der hier im Hause arbeitet und bei dem ich die Freude hatte, ihn einen Teil seines Studiums begleiten zu dürfen – ich bin glücklich, daß wir gleichsam schon die übernächste Generation bei uns haben. Wenn ich mit Herrn Direktor Haber beginnen darf: Das Jüdische Museum der Stadt Wien führt ja sehr viele Veranstaltungen durch. Gibt es auch einen eigenen Bereich, der sich mit Musikveranstaltungen befaßt? Georg Haber Wir befassen uns mit mehreren Bereichen der Musik. Es ist aber auch eines der Probleme eines Museums oder einer Institution, die sich mit einer Volksgruppe oder einer Religionsgemeinschaft befaßt, daß sie das ganze Spektrum abdecken muß, also von der einfachen Volksmusik bzw. Folklore bis hin zur Avantgarde. Und dementsprechend haben wir hier Veranstaltungen, die – ich sage das jetzt einmal als Beispiel – bei Klezmermusik beginnen und bei anspruchsvoller Kammermusik enden. Wahrscheinlich wird der heurige Höhepunkt die Aufnahme und Präsentation einer CD sein, die wir gemeinsam mit dem ORF produzieren, und zwar mit Musik von Exilkomponisten. Das ausführende Ensemble ist das AmberTrio, mit dem wir schon einige Veranstaltungen durchgeführt haben. Manfred Wagner Herr Dr. Vogg, vielleicht zu Ihnen, denn Sie haben sich ja als Zeitzeuge angeboten. Wir haben auch einen „untypischen“, aber sehr spannenden Fragenkomplex erörtert, nämlich die Zeit in Österreich vor dem „Anschluß“, also die Zeit des Ständestaates. Sie waren da zwar noch jung, aber ich vermute, daß Sie trotzdem an diese Zeit Erinnerungen haben. Könnten Sie kurz zusammenfassen, was für Sie der Unterschied im Erleben des Ständestaates und des Nationalsozialismus war? Herbert Vogg Das ist eine Zwölferfrage, aber auf der anderen Seite auch eine Einserfrage. Hitler hat sofort die Arbeitslosigkeit beseitigt. Das hat Eindruck gemacht – und ich sage jetzt etwas ganz Ketzerisches, ich habe es vorhin auch schon privat gesagt: Es gab 1934 den Bürgerkrieg, und es gab schon knapp vor dem Bürgerkrieg ein KZ, ein Konzentrationslager (offiziell „Anhaltelager“), und zwar in Wöllersdorf im Süden von Wien mit den verschiedenen „Illegalen“ als Insassen, den Nationalsozialisten, den Sozialdemokraten und den Kommunisten. Und im Jahr 1938 wurde dann „ausgetauscht“, da sind halt andere hineingekommen und die bis dahin „Illegalen“
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sind herausgekommen. Was ich als Kind miterlebt habe: Wir haben den Hitler und den Nationalsozialismus zu einer Zeit erlebt, nachdem es ihn in Deutschland schon seit 1933 gab. Ich weiß vom vielen Widerstand hier in Österreich, es war aber die Stimmung, die die Nationalsozialisten sehr geschickt ausgenützt haben – eben z. B. die Arbeitslosigkeit. Dann darf man nicht vergessen: Im Jahre 1918 wurde die Donaumonarchie zerschlagen, und auf einmal war dieses große Land beschränkt auf das Deutsch-Nationale. Das, was man eigentlich vermeiden hätte sollen, was sogar die Monarchie immer vermieden hat, das ist plötzlich von Wilson und Amerika diktiert worden: Österreich war plötzlich ein Nationalstaat, was es vorher nie war. Manfred Wagner Der Gerechtigkeit halber muß man sagen, daß kein Österreicher damals an Österreich geglaubt hat. Der Staat hat in der Verfassung ja zunächst Deutsch-Österreich geheißen, das mit dem Nationalstaat stimmt natürlich, aber es war nicht das Diktat der Westmächte allein, sondern es war schon auch das Prinzip des Durchsetzens des Deutsch-Nationalen vorhanden. Herbert Vogg Ich habe ja gemeint, was wäre, wenn das nicht so passiert wäre. Österreich ist zu einem nationalen Staat dekretiert worden – die große Monarchie, das Kaiserreich war Vergangenheit – und sah, kurz gesagt, keine andere Möglichkeit, als sich an das große Deutschland wirtschaftlich anzuschließen (wie eine EU im kleinen). Manfred Wagner Nun kurz zu „Ihrem“ Verlag (Doblinger): Haben Sie eigentlich bemerkt, daß der Verlag Herzmansky in der Zeit des Ständestaates bestimmte Einschränkungen, bestimmte Veränderungen erfahren hat, oder haben Sie das nicht bemerkt. Herbert Vogg Nein, ich glaube, da ist alles fließend weitergegangen: die Potpourri-Olympiade, die Schlagerolympiade z. B. Apropos Olympiade: das hat die Leute, die damals gegen die Nationalsozialisten und gegen die deutsche Diktatur waren, schwer getroffen, daß in Deutschland eine Olympiade stattgefunden hat, bei der die Franzosen mit deutschem Gruß einmarschiert sind – überhaupt war das ein furchtbarer Schlag gegen jeden Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Manfred Wagner Und musikalisch, bezüglich des Repertoires, wurde keine Zensur geübt? Herbert Vogg Nein. Manfred Wagner Das heißt, daß man in der Zeit 1934–1938 das verlegt hat, was die Verleger wollten.
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Herbert Vogg Also, Herzmansky hat keinerlei Einschränkungen gehabt. Er hat sich nur selber die Einschränkung auferlegt, kein NS-Gut zu verlegen – es gab ja damals durchaus Verlage, die solche Sachen verlegt haben. Manfred Wagner Sind Sie stärker unter kirchenmusikalischen Druck gekommen, d. h., ist mehr Kirchenmusik produziert worden? Herbert Vogg Nein. Herbert Wagner Das kann der Verlag nachweisen? Herbert Vogg Ja, er hat seine volle Selbständigkeit gehabt, seine Domäne lag damals im Wienerlied, im Schlager, im Tanzschlager und im Tonfilm. Symptomatisch hat übrigens der „beste“ Schlager aus dem Tonfilm „Jetzt möchte die Welt versinken“ geheißen. Manfred Wagner Frau Dr. Spaude, wie ist das eigentlich – ich habe in meiner Jugend noch gar nicht gewußt, daß in den Konzentrationslagern auch komponiert wurde, ich habe nur gewußt, daß musiziert wurde – ist anzunehmen, daß die Quellenlage da noch viel hergibt oder ist man hier in der Forschung nur mehr auf das Ausreizen von schon Bekanntem aus? Edelgard Spaude Ich fürchte, daß an Quellen nicht mehr sehr viel auffindbar sein wird. Es gibt jetzt an der Stuttgarter Musikhochschule ein Archiv, in dem sehr viele Zeugnisse aus jener Zeit liegen, aber da mittlerweile die Überlebenden langsam aussterben, wüßte ich jetzt nicht, wo man noch nach Quellen suchen könnte. Ich glaube, daß, nachdem die Aufarbeitung zu Beginn der neunziger Jahre angefangen hat, und zwar eine intensive Aufarbeitung, daß nicht mehr viel zu finden ist. Natürlich kann immer wieder irgendetwas gefunden werden, aber ich glaube, daß da jetzt schon das meiste passiert ist. Manfred Wagner Glauben Sie, daß mit der Öffnung der russischen Archive – die ja z. B. im Bereich der Geschichte der Freimaurer in Österreich Überraschungen bringen, über die wir uns noch wundern werden – glauben Sie also, daß da nicht noch etwas liegt, daß die russischen Truppen bei der Befreiung eventuell bestimmte Akten mitgenommen haben? Edelgard Spaude Es kann natürlich sein, ich glaube es aber eigentlich nicht. Es wurde ja schon vor dieser Befreiung aus den Konzentrationslagern wahnsinnig viel Material systema-
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tisch vernichtet, damit dem „Feind“ möglichst wenig in die Hände fällt. Natürlich könnte noch irgendwo etwas liegen, ausschließen möchte ich das nicht, aber es ist doch eher unwahrscheinlich. Manfred Wagner Herr Dr. Patka, Sie sind Literaturwissenschaftler, und Sie haben an diesem Symposion teilgenommen, in dem es doch im wesentlichen um sehr differenzierte musikalische Fragestellungen ging. Sie haben aber sicher schon an Symposien teilgenommen, in denen es um literarisch dimensionierte Themen ging? Gibt es da einen Unterschied in der Aufarbeitungstechnik, in der Aufarbeitungsweise, in der Präsentationsweise? Marcus Patka Generell würde ich sagen, daß in der Germanistik mehr für das Exil getan wurde als in der Musikwissenschaft. Aber auch da muß man sagen, daß diese Arbeit eigentlich nicht die Universitäten durchführten, sondern zumeist private Personen, private Vereine. Auf der anderen Seite muß ich vielleicht sagen, daß mir in diesem Symposion aufgefallen ist, daß hier eine sehr kühle, teilweise intellektualistische Sprache gepflegt wurde, was natürlich in einem solchen akademischen Kreis durchaus üblich ist. Ich war vor meiner Tätigkeit hier im Haus ein Jahr im Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstandes tätig, und da wurde eine ganz andere Sprache gepflegt. Das war eher die Sprache der Betroffenheit, weil dort noch die Menschen sind, die das alles miterlebt haben, die teilweise noch selber im Lager waren oder im Spanischen Bürgerkrieg. Und wir müssen darüber, glaube ich, nachdenken – diese Sprache wird manchmal auch überzogen. Es gibt sehr viele Leute, die sagen „ich kann das alles nicht mehr hören“ – die ewige Betroffenheit und all das kennen wir schon. Aber andererseits ist auch zu fragen, ob eine kühlere, eine wissenschaftliche Sprache den Punkt der Sache trifft. Wir reden hier ja nicht nur über Musik, denn hinter der Musik stehen ja Menschen. Ich glaube, daß man auch das menschliche Schicksal immer im Auge behalten muß. Wir müssen uns auch überlegen, wie wir unsere wissenschaftlichen Kenntnisse einer größeren Öffentlichkeit nahebringen, die unsere Sprache vielleicht nicht immer versteht – und vor allem, wie wir sie einer Jugend nahebringen. Ich möchte vielleicht bemerken: Die heutige Jugend ist nicht mehr so leicht zu beeindrucken, ist nicht mehr zu schockieren. Die schauen sich Filme an wie „Kettensägemassaker“ oder Ähnliches. Und wenn die dann Photos von Konzentrationslagern sehen, denken sie sich, na ja, das habe ich zuletzt im Fernsehen gesehen in einer etwas anderen Form. Da ist es vielleicht unsere Aufgabe, unsere Kenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Manfred Wagner Professor Krones, würden Sie als Leiter des Symposions sagen, daß wir einige Widersprüche nicht aufgelöst haben. So stellt sich mir die Frage, wie das denn eigentlich wirklich mit den Liedern ist. In unserer Jugend haben wir im wesentlichen,
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vermute ich, sehr viel Liedgut gepflegt, das auch in der Nazizeit gesungen wurde und möglicherweise auch in der Nazizeit entstanden ist. Aber ich könnte heute nicht sagen, welche Lieder tatsächlich in der Nazizeit entstanden sind, außer das „Horst-Wessel-Lied“ und vielleicht „Schwarzbraun ist die Haselnuß“ – mehr fällt mir schon nicht ein. Aber „Wildgänse rauschen durch die Nacht“ halte ich beispielsweise für ein weit älteres Lied. Ist es wichtig, daß wir das klären? Hartmut Krones Ich glaube, daß man das wissenschaftlich und ganz sachlich klären soll – ich finde das sehr wichtig. Daß aber die Betroffenheit des Erlebens dieses Liedgutes in einer schrecklichen Zeit hinter (oder sogar vor) einer sachlichen Beschäftigung stehen kann, ist auch klar. Und ich möchte Herrn Patka ein bißchen widersprechen, denn obwohl die Vorträge über die Konzentrationslager sehr wissenschaftlich waren, hat, glaube ich, immer eine große Betroffenheit durchgeschimmert. Und es kam ja auch keine Diskussion zustande, weil wir alle viel zu betroffen waren. Was soll man da noch viel diskutieren? Sicher muß man darauf achten, nicht nur „cool“ oder umgekehrt nur betroffen zu sein. – Bei den Liedern hast Du völlig recht. Es gibt sehr viele Lieder, die längst vor der NS-Zeit vorhanden waren (übrigens auch „Schwarzbraun ist die Haselnuß“), oft hundert Jahre oder mehr, und die dann eben vereinnahmt wurden – zum Beispiel „Der Mond ist aufgegangen“, welches Lied damals zum guten deutschen Wesen gehörte, wie es so schön hieß. Und wir wissen alle, daß dieses Lied aus dem späten 18. Jahrhundert stammt, es ist eines der unglaublich schönen „Lieder im Volkston“ von Johann Abaraham Peter Schulz. Und da gibt es viele weitere Beispiele. Das heißt hier aber, daß man immer nur subjektiv entscheiden kann, ob sich Betroffenheit einstellt oder nicht – historisches Wissen bringt zwar viel, aber meist überhaupt nichts in dieser Beziehung. Der Wissenschaftler kann nur feststellen. Manfred Wagner Ja, das merkwürdige ist, daß man sich bei der Kunstmusik – also etwa bei Richard Wagner oder Richard Strauss – gerne „drüberschwindelt“ und sagt, daß die Musik oder auch die Zuhörer nichts dafür können, daß man aber bei der volksnahen Musik oder dem Volkslied viel „strenger“ ist, daß da sehr schnell verdammt wird. Ich kenne sehr viele Musiklehrer, die viel lieber neue Schlager singen mit viel schlechterem textlichem und musikalischem Gehalt als diese alten Volkslieder. Und die Begründung dafür ist: Naja, das waren Nazilieder. Und ich meine schon, daß wir das auseinanderhalten müßten und eventuell auch in unseren Ausgaben deutlicher machen sollten, deutlicher hinschreiben, für wen, für welchen Anlaß ein Stück (z. B. auch eine Festfanfare) geschrieben wurde – auch und gerade bei Richard Strauss. Hartmut Krones Ich glaube, daß man bei jeder Musik sowohl eine allgemeine Qualitätsschiene als auch eine Rezeptionsschiene haben sollte. Und natürlich kann man Wagner als Komponist schätzen und trotzdem wissen, wie er dachte und wofür und von wem
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er vereinnahmt wurde. Und bei Richard Strauss erst recht – da hat man dann ja drei Schienen: die Qualitätsschiene, dann seine politische oder politisch-private Intention (oder auch nur stillschweigende Duldung) und schließlich seine Rezeption durch die Nationalsozialisten – bei der zweiten und dritten Ebene kann sich durchaus Betroffenheit einstellen. Und nun noch zu den Liedern, wobei ich dieses Thema hier eigentlich nicht allzu intensiv andiskutieren will – das Problem hier ist ja, wie unglaublich primitiv oder stilistisch unpassend die „gängigen“ Bearbeitungen oft sind. Hier liegt die Frage der Qualität auf der sekundären Ebene, der des Arrangements: „Am Brunnen vor dem Tore“ oder „Der Mond ist aufgegangen“ sind wunderbare Stücke, aber nicht in den üblichen Männerchorsätzen – die sind aber nicht „Nazi-Gut“, sondern tiefstes 19. Jahrhundert (wie übrigens auch „Schwarzbraun ist die Haselnuß“). Edelgard Spaude Ich möchte gerne noch einmal auf den Einwand einer allzu „kühlen“ Wissenschaftlichkeit zurückkommen. Ich nehme an, daß diesem Argument das Wort von Elie Wiesel von der wissenschaftlichen Ausschlachtung des Holocaust zugrunde liegt. Ich denke, da gibt es einen ganz großen Unterschied. Erstens kommt man mit Betroffenheit allein nicht weiter. Die andere Seite ist: Wenn man sich mit so einem Thema beschäftigt, intensiv beschäftigt, wenn man also so einen Vortrag ausarbeitet, dann muß man irgendwie – ich habe das auch an mir erlebt – mit sich selbst zurechtkommen. Und dann schleicht sich da vielleicht eine etwas kühlere Sprache ein, die aber nichts damit zu tun hat, daß man jetzt nicht betroffen wäre oder daß man sich daran gewöhnt hätte. Das hat damit gar nichts zu tun, im Gegenteil: man muß sich an eine relativ nüchterne Sprache halten, um solch ein Thema darstellen zu können. Manfred Wagner Ja, ich habe denselben Eindruck. Aber mir geht es nicht nur so, wenn es um den Nationalsozialismus geht, sondern es geht mir überhaupt so. Je höher mein Grad an Betroffenheit ist, an Verstehen, Anteilnahme etc., desto intensiver achte ich darauf, sprachlich distanziert zu bleiben, weil man sonst doch in große Gefahr gerät, unglaubwürdig zu werden – und das passiert ja auch ununterbrochen, gerade im Fall des Holocaust, den man ja leider auch als Verkaufsschlager sieht. Aber es kann natürlich sein, daß das unter Germanisten anders ist, weil das gesprochene Wort vielleicht eine andere emotionale Beteiligung auslöst als die Musik. Marcus Patka Vielleicht habe ich mich mißverständlich ausgedrückt. Natürlich muß im Rahmen der Wissenschaft klar untersucht und sachlich dargestellt werden. Aber wir sollten uns eben bemühen, daß wir uns nicht immer in unserem eigenen Kreis bewegen – wir verkaufen dann zehn Bücher oder auch hundert, doch was bzw. wen erreichen wir damit? Ich glaube, wir sollten uns Gedanken machen, wie wir mit unseren Er-
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kenntnissen eine größere Öffentlichkeit ansprechen und auch emotional erreichen können. Herbert Vogg Danke, daß Sie das gesagt haben, auch ich glaube, daß die einzige Möglichkeit der Verbreitung nicht primär in der Publikation von Büchern besteht, sondern in der Haltung, die man selber einnimmt – vor allem in der Diskussion mit jungen Leuten oder mit Kollegen oder auch sonst. Es kommt immer auf die „Vorbildwirkung“ an. Ich habe Kinder, ich weiß, wovon ich rede. Manfred Wagner Meine Damen und Herren im Publikum, ich würde Sie einladen, jetzt einfach mit uns mitzudiskutieren. Wir haben zwar noch einige Fragen am Podium zu besprechen, doch vielleicht haben Sie inzwischen ebenfalls Fragen, auch was das Jüdische Museum betrifft. Man hat nicht jeden Tag einen Direktor eines solchen Museums vor sich sitzen. Ich möchte Sie daher zur Wortmeldung einladen, aber auch bitten, sich zu diesem Mikrophon begeben, damit wir das nicht nur aufzeichnen können, sondern damit es auch alle hören. Rosemary Morawec Herr Dr. Vogg, da gab es doch bis 1933 bzw. 1934 diese Massen-Arbeiterchorfeste, wo tausende im Publikum saßen und riesige Chöre auftraten – die Lieder dieser Chöre wurden doch gedruckt, und dann nach dem Februar 1934 nicht mehr. Das heißt doch, daß es sehr wohl Einschränkungen gab. Herbert Vogg Der Verlag Doblinger hat damals keine Chormusik verlegt. Herzmansky war damals in erster Linie mit Filmmusik und Schlagermusik beschäftigt, höchstens in einem Ausnahmefall hat er – vielleicht bei einem ihm gut bekannten Komponisten – einen Chor angenommen. Rosemary Morawec Außerdem sind in den 1920er und 1930er Jahren doch auch deutschnationale Vokalwerke in Druck gegangen, die durchaus den Boden für den Nationalsozialismus bereitet haben. Manfred Wagner Man muß hier aber bedenken, daß die deutsch-nationale Strömung in Österreich seit dem 19. Jahrhundert fortwährend gewachsen ist, und zwar so gewachsen, daß sie nach dem Ersten Weltkrieg auch die neue Kulturbewegung der Sozialdemokratie überschwemmt hat. Und ich kann nicht quasi von hinten her aufrechnen, was ein Komponist in den 1920er Jahren geschrieben hat – in den 1920er Jahren gibt es, nebenbei bemerkt, auch ein Schönberg-Wort von der deutschen Musik, das nicht besonders „undeutsch“-national ist. Davon war damals ganz Österreich ergriffen. Die einzigen, die davon auszunehmen sind, waren die wenigen Monarchisten, die strengen Katholiken und die strengen Kommunisten. Das waren die einzigen, die
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wirklich relativ immun waren, aber das war eine ganz kleine Gruppe. Und wegen dieses deutschen Nationalismus konnte der Übergang ja auch so schön funktionieren, deswegen war es ja für viele Sozialdemokraten kein Problem, nationalsozialistisch zu werden – aber auch für einen großen Teil des katholischen Österreich, weil das Gedankengut (auch das antisemitische) schon vorhanden war. Nur darf man das nicht von vorne nach hinten rechnen, also nicht vom Nationalsozialismus in die zwanziger Jahre. Und natürlich ist es zu verstehen, daß die national Denkenden in die vorderste Reihe kamen. Denken wir nur daran, daß der berühmteste österreichische Maler Rudolf Eisenmenger war, der 1955 den „Eisernen Vorhang“ der Staatsoper bemalen durfte. Einer der berühmtesten österreichischen Dirigenten war Karl Böhm, ein sehr großer Nazi, der das völlig verschweigen konnte. Und gerade er durfte 1955 zur Eröffnung den „Fidelio“ dirigieren – und alle Österreicher waren gerührt. Und auch Walter Felsenstein war schon 1938 an der Entwicklung des „neuen Mozartstils“ beteiligt und nicht erst nach 1945. Hartmut Krones „Wendehälse“ gab es in Österreich ja wirklich viele, denken Sie nur an Joseph Marx. Er was einer der führenden Musikfunktionäre im „Ständestaat“ und wollte auch die Komponisten in der ständischen Verfassung verankern, dann war er einer der meistgespielten Komponisten zwischen 1938 und 1945, und nach 1945 war er Leiter der Musiksektion der österreichisch-sowjetischen Gesellschaft. Manfred Wagner Ja, das ist ein wichtiger Punkt, und es gibt auch den Karl Sterrer, einen Maler, der quasi jede österreichische Geschichtsepoche von der Monarchie bis zum Sozialismus prägend mitgetragen hat. Er war in jeder dieser Epochen immer einer der Führer der Akademie der bildenden Künste sowie der einschlägigen Verbände. Und diesen Typ gibt es vielleicht in Österreich häufiger als anderswo, einen Typ, der einfach seine Machtposition in jedem System ausgebaut hat. Hartmut Krones: Wir haben vorher davon gesprochen: Gibt es noch Quellen zu entdecken, könnte sich hier noch etwas ergeben? Ich glaube, daß gleichsam kleinweise, wenn auch nicht im großen Stil, doch noch sehr viel auftauchen wird. Und da habe ich auch noch eine Frage an dieses Haus, vielleicht an Herrn Direktor Haber. Werden dem Jüdischen Museum eigentlich Privatnachlässe von jüdischen Wienern zur Sichtung oder Aufbewahrung angeboten? – sei es, daß diese in Wien leben, sei es, daß sie nach Amerika oder in ein anderes Land gegangen sind. Da könnten sich doch neue Quellen, neue Funde ergeben? Georg Haber Prinzipiell ja. Wir haben Nachlässe bekommen. Wir bekommen immer wieder Material, das betrifft zwar in einem geringen oder relativ geringen Maß das Gebiet der Musik, aber auch da haben wir einiges bekommen. Der „Engpaß“ ist ganz einfach der, daß die Leute das Material nicht umsonst hergeben, sondern verkaufen wollen,
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was ihr gutes Recht ist. Und die Republik Österreich, respektive die öffentliche Hand, ist erst seit einigen Jahren gewillt, dafür auch Geld bereitzustellen. Früher hat man das, und da war ein breiter Konsens, für nicht wichtig oder uninteressant gehalten. Es waren nicht einzelne in der Zweiten Republik, die das unterdrückt haben, sondern das war die allgemeine Meinung. Die hat sich während der letzten Jahre allerdings wesentlich geändert, und sie ändert sich permanent; das heißt, daß der Zustand, wie wir ihn im Jahre 1990/91 vorgefunden haben, als wir mit dem Museum begonnen haben, war ein ganz anderer, und zwar ein wesentlich schlechterer als heute. Er war allerdings bereits damals so gut, daß das Museum gegründet werden konnte, aber er ist heute wesentlich besser. Das Aufarbeiten solcher Bestände oder wie z. B. auch die Eröffnung des Schönberg Centers wird nicht als ein Akt der Wiedergutmachung angesehen, sondern als ein Teil unserer Kultur. Mein Eindruck ist, daß man generell auch das Jüdische Museum heute als etwas sieht, das uns, sprich Österreich oder der Stadt Wien, gehört und ihr etwas Gutes tut – und nicht ein Propagandainstrument, um gute Stimmung im Ausland zu machen, was am Anfang sehr stark mitgeklungen hat. Der zweite Engpaß bei den Dingen, die wir bekommen, ist das Aufarbeiten. Das ist eine personelle Frage, eine Raumfrage und letzten Endes dann eine Geldfrage. Aber selbst wenn man plötzlich das Geld zur Verfügung hätte, wo nehmen Sie die Leute her, die das Fachwissen haben, die die Räume haben, die das Instrumentarium haben, das zu machen. Es geschieht bei uns, aber es geschieht nur in dem Rahmen, der eben möglich ist. Marcus Patka Ich möchte auch noch einiges zur Quellenlage sagen. Hier gibt es eine absurde Situation. Es wurde niemals soviel über den Nationalsozialismus publiziert wie heute, und andererseits gibt es, da bin ich mir sicher, Aktenbestände in den verschiedensten Archiven, die diesen Raum mehrfach füllen würden. Gerade jetzt wird von der Bundesregierung die Historikerkommission zusammengestellt, um über die Arisierungen zu arbeiten. Das ist ein gigantischer Komplex. Alle diesbezüglichen Akten liegen im Staatsarchiv, und sie lagen immer schon dort, nur gibt es eine Archivsperre in Österreich, wie auch in anderen Ländern – und die gibt es aus gutem Grund. Es muß auch der politische Wille da sein, um diese Sachen aufzuarbeiten. – Jetzt vielleicht noch kurz zum Thema Moskau. Ich glaube nicht, daß wir von dort noch große Sensationen zu erwarten haben. Es hat zwischen 1990 und 1992 eine Tauwetterphase gegeben zwischen der damaligen Noch-Sowjetunion und Deutschland, und da hat man versprochen, alle diese sogenannten Beuteakte zurückzuschicken. Inzwischen ist man draufgekommen, daß da noch sehr viel mehr mitspielt, daß auch die ganzen geraubten Kunstwerke ein Thema sind und alles andere, was damals mitgenommen wurde. Ja, und man müßte hier eine Gesamtlösung finden; und diese Tatsache wird das Ganze wahrscheinlich verhindern. Vor allem ist man auch draufgekommen, daß die Rote Armee all diese Akten an sich gezogen hat, weil man damals daran dachte, man würde das so „scheibchenweise“ veröffentlichen. Und dann könnte man da den einen westlichen Politiker demontieren und
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da den anderen. Es ist dann – wiederum aus politischen Gründen – nicht dazu gekommen. Und heute ist man so weit, daß man gemerkt ist, daß ja auch so viele Russen involviert sind, die sehr viel Dreck am Stecken haben oder deren Kinder und Kindeskinder noch leben. Das ist ähnlich wie hier mit den ehemaligen Nationalsozialisten und ihren Nachkommen: auch hier ist der Wille abhanden gekommen, diese Dinge groß herauszustreichen. Und was dazukommt: Es sind damals, zwischen 1990 und 1991, sehr viele US-amerikanische Forscher nach Rußland gefahren, haben mit horrenden Dollarbeträgen um sich geworfen und mitunter auch die Originale gekauft. Es ist ein blühender Markt entstanden, und wenn man heute nach Rußland fährt, dann kann es passieren, daß man für eine A4-Kopie 5 Dollar auf den Tisch legen muß und für ein Photo 300 Dollar. Jetzt noch einmal kurz zur Exilsituation und zur Musik. Auch das ist wissenschaftliche Knochenarbeit: Da müßte man in die USA fahren, da müßte man nach Australien fahren, nach Shanghai, überall hin, wohin es die Exilanten verschlagen hat, und müßte dort in die Archive gehen, sofern es sie gibt. Ich war z. B. in Mexiko, und Mexiko ist ein Schwellenstaat, das ist kein Entwicklungsland mehr und hat tolle Universitäten. Nur mit den Bibliotheken und Archiven ist das so eine Sache. Manches gibt es, vieles gibt es nicht. Außerdem ist dort durch das Erdbeben vieles kaputtgegangen. Dazu kommt die finanzielle Frage: Wie finanziert man diese Forschungsreisen – und somit ist es wieder eine Sache der Politik. Gibt die Österreichische Regierung jungen Forschern Stipendien, um solche Arbeiten durchführen zu können? Manfred Wagner Exilforschung wird ja nicht nur von Österreichern betrieben. Die Amerikaner haben eine sehr gute Exilforschung zu deutschen Musikern, wobei sie natürlich die Österreicher miteinrechnen. Die Deutschen haben ebenfalls eine sehr gute Exilforschung, und das sowohl im literarischen als auch im musikalischen Bereich. Und wir haben halt auch eine, aber die kocht auf Sparflamme. Ich sehe auch nicht so sehr das finanzielle Problem, denn Geld ist an sich genug da. Und man kommt mit einem Schrödinger-Stipendium überall hin, man muß halt sehr gut sein und man muß sich dafür interessieren. Ich merke z. B., daß diese junge Generation, die Sie angesprochen haben, daß deren Vertreter nicht selten sagen „nicht schon wieder Nationalsozialismus“. Insbesondere bei der Vergabe von Dissertationen merke ich sehr stark, daß man abwiegelt und in die unmittelbare Gegenwart ausweicht, was ich für ganz negativ halte. Mich persönlich würden sehr viele historische Fragestellungen interessieren, und eben auch für die Zeit des Nationalsozialismus. Das ist aber – nebenbei bemerkt – eine Beobachtung, die auch in dieser neuen Hochschule in Karlsruhe gemacht wurde, und die haben das Problem so gelöst: Die Magisterarbeit darf maximal bis ins 18. Jahrhundert gehen, man muß also über ein historisches Thema arbeiten, Quellenforschung betreiben, und erst beim Doktorat darf man die letzten hundert Jahre in den Blick nehmen. Ich muß bei meinen Diplomanden ununterbrochen versuchen, Geschichte auch der letzten hundert Jahre attraktiv zu
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machen, weil jeder absolut nur über die Gegenwart arbeiten will. Wir haben zum ersten Mal eine Generation, die mit Geschichte überhaupt nichts anfangen kann und leider dazu erzogen wurde. Ich brauche zwei Semester, bis ich meine erstsemestrigen Studenten davon überzeugt habe, daß Geschichte einen Lebenssinn hat, und das, glaube ich, ist ein Riesenproblem. Hartmut Krones Man soll eigentlich bei Round-Table-Diskussionen keine Geschichten erzählen. Aber ich muß das doch ganz kurz tun, weil diese Geschichte auch eine Antwort darauf gibt, warum viele gar nicht über die Zeit des Nationalsozialismus forschen wollen, ja dies gar nicht können. – Ich saß vor vielen Jahren im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, um die Zeit des mexikanischen Exils von Marcel Rubin aufzuarbeiten. Da kam ein amerikanischer Student, der hervorragend Deutsch sprach, und hat in einer Kartei nach Briefen von einem Exilanten gesucht. Er hat offensichtlich eine große Menge gefunden, hat dies einer dortigen Mitarbeiterin, einer alten Dame, voll Freude mitgeteilt und sie gebeten, diese Briefe auszuheben. Als er einen Stoß Briefe bekam, sah man ihm die Freude über seinen „Fund“ an, doch als er den ersten Brief aufgeschlagen hat, erstarrte er gleichsam zur Salzsäule, und nach dem zweiten Brief ist er vollends ganz fahrig geworden. Dann ist er zu dieser alten Dame gegangen und sagte: „Was ist denn das für eine Schrift? Die kann man ja nicht lesen.“ Die Antwort war: Wieso, das ist die alte deutsche Kurrentschrift, die haben damals alle so geschrieben. Und der Amerikaner: „Was? Diese Schrift?“ – und jetzt kommt’s – „meine Juden in dieser Nazischrift?“ Edelgard Spaude Ich sehe die Sache nicht ganz so negativ. Ich glaube, daß es sehr wichtig ist, auf welche Art und Weise man Jugendlichen oder jungen Leuten dieses Thema nahebringt. Ich kenne eine Schriftstellerin, eine Überlebende aus dem KZ, die zusammen mit Ralph Giordano in Schulen geht und dort über den Nationalsozialismus spricht. Sie sagt: Zunächst sind die Schüler sehr skeptisch. Aber in dem Moment, wo sie dann Genaueres berichtet und auch ihre eigenen Erfahrungen einbringt, da kommt schon Interesse auf. Im Geschichtsunterricht kommt es darauf an, wie das Thema ausgebreitet wird, denn Nationalsozialismus kann genauso trocken sein wie Mittelalter; in beiden Fällen ist es ein „Stoff“, zu dem die Schüler keinen direkten Bezug haben. Ja, und auch die Eltern haben oft keinen mehr, nur mehr die Großeltern. Man sollte sich also wirklich überlegen, auf welche Art und Weise man dieses Thema behandelt und Schülern und jungen Leuten nahebringt. Wenn es nun völlig richtig heißt: Quellenarbeit – aber wo lernt man Quellenarbeit, wo lernt man, daß man mit Quellen arbeiten muß und nicht nur die Rezeption betrachtet? Das sagt einem oft keiner.
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Manfred Wagner Wir wissen alle, daß zahlreiche Institute eigens geschaffen wurden, um die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Verändert hat das in der Mentalität der Österreicher sehr wenig, auch in der akademischen Mentalität, weil wir anscheinend ein Problem mit dem Umgang mit Geschichte haben. Und ich fürchte, daß dieser Umgang durch die Schule verdorben wird. In der Schule wird Geschichte oft als sinnloses Auswendiglernen von irgendwelchen Zahlen, Fakten und Daten verstanden, und genau davor haben die Jugendlichen eine große Angst. – Noch einmal zu unserem Publikum: Gibt es Beiträge zu anderen Themen? Kurt Blaukopf Sowohl in diesem Symposion als auch bei vielen anderen Veranstaltungen zur Exilforschung geht es eigentlich immer nur um den amerikanischen, hier meistens sogar nur um den nordamerikanischen, sowie den angelsächsischen Bereich. Wir blicken viel zu selten auf andere Länder Europas wie Frankreich oder die Niederlande, noch seltener auf Europas Randländer oder auf die Sowjetunion, und ebenso selten auf den gesamten asiatischen Raum, denken Sie nur an Shanghai. Und da bin ich überzeugt, daß dort noch zahlreiche unbekannte Quellen vorhanden sind, Quellen, die uns auch darüber berichten, wie die dortigen Exilanten mit den jeweils ganz anderen Lebensweisen und Traditionen umgegangen sind. Hier gibt es sicher noch vieles aufzuarbeiten. Thomas Phleps Es wurde vorhin das Problem des Geschichtsunterrichtes sowie überhaupt der Pädagogik angesprochen, auch im Zusammenhang mit dem heute noch, wieder oder nicht mehr gesungenen Liedgut. Und es hat sich selbst hier deutlich gezeigt, daß vielen der richtige Umgang mit Liedern bzw. das Verständnis von Liedern sehr unklar ist. Sehr schnell wird gesagt: Das sind Nazilieder, das sind Kampflieder – nur stimmt es oft nicht. Die vielen Lieder der Zwanzigerjahre, die aus der sogenannten „Musikbewegung“ eines (z. B.) Fritz Jöde stammen, die ja vor allem das „Musizieren“ zum Zweck einer „Gemeinschaftsbildung“ im Sinn hatte, sind in der Zeit der Nazis zu „neutralen“, sogar von Mädchen gesungenen Liedern geworden. (Hinzu kamen dann einige, oft wenige „echte“ Nazi-Lieder.) Die „neutralen Lieder“ sind, wie gesagt, nach wie vor häufig gesungen wurden und wurden dies auch nach dem Krieg in einer unglaublichen Kontinuität – es sind aber keineswegs Lieder, die ursächlich irgendetwas mit dem Nationalsozialismus zu tun haben, ja nicht einmal politisch sind. Manfred Wagner Aber zuvor, im 19. Jahrhundert, haben diese Lieder doch im Kulturleben und auch im politisch-gesellschaftlichen Leben eine große Rolle gespielt? Diese riesigen Sängerfeste, das waren ja nicht zuletzt politische Massenereignisse.
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Herbert Vogg Entschuldigen Sie, ich bin ein bißchen älter. Ich bin meiner Mutter sehr dankbar, daß sie mit mir Lieder gesungen hat. Welche Mutter singt heute noch mit ihren Kindern Lieder? Die dreht den Kassettenrecorder oder sonst irgendetwas auf. Ich bin sehr dankbar, und ich bin meiner Tochter sehr dankbar, daß sie mit ihren Kindern singt. Und: Was soll sie Ihrer Meinung nach denn singen? Ein Herr aus dem Publikum Ja, aber viele dieser jetzt angesprochenen oder angedachten Lieder sind doch fürchterliche Lieder, ich kann das aus eigener Jugenderfahrung sagen, vor allem, wenn man dazu marschieren mußte. Wenn Sie das hinter sich haben, können Sie diese Lieder nicht mehr singen. Herbert Vogg Ist schon recht; wenn Sie das so sehen, haben Sie für sich schon recht, aber nur sollten Sie nicht das Kind „mit dem Bad ausgießen“ und nicht das Volkslied als solches verunglimpfen. Es ist hier schon von dem Lied „Der Mond ist aufgegangen“ gesprochen worden. Dieses Lied lasse ich mir nicht verunglimpfen – und wenn es 100.000 Nazis gesungen haben. Carl Zuckmayr etwa nimmt es sogar in sein Buch „Des Teufels General“ an einer ganz wichtigen und zentralen Stelle hinein, wenn Sie sich erinnern. Und es ist für mich nach wie vor eines der größten deutschen Gedichte, da kann kein Hitler etwas daran ändern. Noch etwas ist gefallen: das Wort von der Nazischrift, der Kurrentschrift. Das führt uns zu einem großen Forschungsproblem, bei dem es viele Mißverständnisse gibt, wo man sie gar nicht vermutet, und wo vieles als „nazistisch“ angesehen wird, was bis ins 18. Jahrhundert oder noch weiter zurückgeht. Das ist für die Forschung und insbesondere für die Objektivität der Forschung eine wahnsinnige Sache, daß ein junger Wissenschaftler glaubt, das ist eine Nazischrift. Allein wenn dieses Wort fällt, bringt das viel Verwirrung in die Situation. Zu diesem Punkt mit dem Film: Daß sich die Leute einen Film mit Massenmorden anschauen, und dann kommt ein Film über die Massenmorde des Holocaust und wird als nicht so schlimm bzw. als „normal“ erlebt, das führt womöglich dazu, daß auch der Krieg im Kosovo mit seinen Greueln verharmlost wird bzw. nicht genug berührt. Und noch etwas: Ein gewisser Friedrich Wildgans, der Komponist, war im Widerstand. Er war in der Gruppe, die an den Stephansdom das berühmte „05“ geschrieben hat, Null für den Buchstaben „O“ und 5 für „E“, zusammen also für Österreich. Und nun gibt es von Wildgans natürlich Briefe, die mit „Heil Hitler“ unterschrieben sind. Warum? Unter offiziellen Briefen mußte einfach „Heil Hitler“ stehen. Wenn das draufstand, blieb der Brief meist unbehelligt und ist weiter nicht kontrolliert worden, das weiß ich aus meiner Zeit. Wenn jetzt aber ein junger Forscher kommt und findet diesen Brief von Wildgans und erklärt, der Wildgans war ein Nazi, weil er mit „Heil Hitler“ unterschrieben hat, dann sage ich als Alter „der ist einfach ein Trottel“. Und damit hat man es leider Gottes immer wieder zu tun, daß Forschung so wahnsinnig einseitig betrieben wird, wenn man sie aus den Quel-
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len allein heraus betreibt. Man muß eben die Zeitzeugen heranziehen, solange sie leben, solange sie noch auszuquetschen sind. Manfred Wagner Das ist natürlich ein Problem, daß die Zeitzeugen langsam aussterben. Wir, meine Generation, die sogenannten „68er“, haben das ja erlebt. Wir haben unsere Eltern für die Nazi-Zeit verantwortlich gemacht. Die nächste Generation hat angesichts ihres Elternkonfliktes bisweilen schon wieder die Großeltern in Schutz genommen und gesagt: „Naja, so schlimm war doch der Opa sicher nicht, der ist doch ein netter Mensch.“ Denn für die jetzige junge Generation ist das Geschichte, sie hat zu ihr keine persönliche Beziehung mehr. Selbstverständlich glaube ich, daß man aufpassen muß, daß diese Forschungssituation nicht automatisch zur Verurteilung oder Nichtverurteilung führt. Im Prinzip darf mich einmal primär nicht interessieren, ob ein Komponist nationalsozialistisch gedacht hat oder nicht, sondern ich muß überlegen, ob er sich instrumentalisieren ließ, und da ist wohl Richard Strauss das schönste Beispiel, nur gibt das fast kein Musikwissenschaftler zu. Richard Strauss hat sich wirklich instrumentalisieren lassen, und zwar ziemlich heftig, und sein Abgang als Präsident der Reichsmusikkammer war ja auch nicht so freiwillig, sondern er wurde ja gezwungen abzutreten. Wenn Sie sich vorstellen, daß sogar nach dem allgemeinen Theaterverbot nur für Strauss’ Geburtstag „Die Liebe der Danae“ auf Befehl des „Führers“ in Salzburg aufgeführt wird, so ist das mehr als nur „so überlebt haben in der inneren Emigration“. Nur will das eben niemand sagen. Selbstverständlich muß man verlangen, daß die Wissenschaftler schon auch die Schriften der Zeit kennen, daß sie – auch arbeitstechnisch – umgehen können mit der Historie, die vorher war. Wir haben ja dasselbe im Mittelalter: Wenn Sie kein Latein lesen können, können Sie nicht Mittelalter forschen. Das geht nicht. Und wenn Sie nicht hebräisch können, können Sie nicht Judaistik forschen, das geht auch nicht. Und wenn man die Kurrent-Schrift nicht lesen kann, kann man nicht über die Zeit des Nationalsozialismus forschen. Da behaupte ich schon, daß es sich viele Historiker ein bißchen leicht machen, wenn sie nur von Wertungskategorien ausgehen. Thomas Phleps Über Richard Strauss kann man leider schlecht forschen, weil die Familie immer noch im Besitz seines Nachlasses ist und den nicht einsehen läßt. Manfred Wagner Aber vielleicht nicht mehr lange. – Herr Direktor Haber, ich habe noch eine Frage an Sie und ich bitte Sie, diese nicht als indiskret aufzufassen. Es gab doch eine große Verwirrung über dieses Martin-Walser-Wort, seine Anklage der „Instrumentalisierung des Holocaust“, die ich und auch viele meiner jüdischen Freunde nicht so negativ aufgefaßt haben wie das beispielsweise Ignaz Bubis getan hat. Er hat doch nur eine unreflektierte Instrumentalisierung und die damit einhergehenden Pauschalverurteilungen gemeint. Wie ist Ihre Haltung dazu?
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Georg Haber Zunächst einmal zu diesem Anlaß. Ich glaube nicht, daß man Walser deswegen verteufeln darf, von soll keine Rede. Ich meine, man soll nicht Leute nach einem Ausspruch beurteilen, sondern in jedem und vor allem in diesem Fall nach dem gesamten Werk. Ich glaube auch, daß hinter dem, was er gesagt hat, sehr viel Kluges ist. Ich halte es auch, sagen wir einmal, für bedenklich, wenn man sich in Bezug auf die Vergangenheit primär oder gar ausschließlich mit negativen Erscheinungen auseinandersetzt. Ich bin keineswegs dafür, daß man diese negiert oder gar verleugnet. Aber ich halte es für falsch, wenn man ausschließlich das Negative sieht. Wir haben, als wir dieses Museum eingerichtet haben, darauf geachtet und, gegen permanenten Widerstand, immer auch sehr viel Positives gezeigt. Sie werden in diesem Haus überall, in jeder Abteilung, Zeugnisse und Berichte aus der Zeit des Nationalsozialismus bzw. über sie finden. Sie werden aber auch sehr viel Positives finden. Und das war ja eigentlich das große Verbrechen der Nazis, daß sie die ungemein positiven Seiten der jüdischen Kultur nicht nur für die zwölf Jahre der HitlerHerrschaft, sondern auch für vierzig Jahre danach aus dem deutschen Kulturraum gestrichen haben. Ich möchte da ein Beispiel erwähnen: Wir hatten im Jahre 1994 eine ChagallAusstellung. Daß das die erste Chagall-Ausstellung in Österreich war, das war eigentlich ein Skandal. Und das geht auf die Nazizeit und ihre Vergiftung der Seelen zurück. Und ich glaube, daß man für eine Aufarbeitung und eine richtige Auseinandersetzung mit der Geschichte durch solche Beispiele, dadurch, daß man die Kunst dieser Künstler zeigt, mehr ausrichtet, als wenn man immer wieder nur die Verbrechen der Nazizeit dokumentiert – auch deswegen mehr ausrichtet, weil man dadurch ein ganz anderes Publikum bekommt. Und wir haben hier im jüdischen Museum ein Publikum, das aus allen Schichten kommt, das aus Schulen kommt, das aber auch aus Schichten kommt, die sich nicht primär mit Judentum auseinandersetzen wollen. Wir hatten ein Schachturnier hier und eine Schachausstellung, und auch da wurde gezeigt, was durch die Naziherrschaft in Österreich verlorengegangen ist. Und wenn jetzt das Wissen um die Kurrentschrift verlorengeht, weil man die den Nazis zuschreibt und sagt, damit will ich nichts zu tun haben, so ist das ebenfalls eine Auswirkung dieser falschen Haltung. Und auch hier ein Beispiel: Eines der Dinge, die wir bekommen haben, waren vier Briefe eines jüdischen Studenten, der 1848 an der „48er-Revolution“ in Wien teilgenommen hat. Der Student war aus Mähren und hat seinen Eltern berichtet, was da in Wien los ist. Und die Briefe sind natürlich kurrent geschrieben. Manfred Wagner Vielen Dank, Herr Direktor. Ich glaube, daß uns das an den Ausgangspunkt unserer Begegnung zurückführt, daß wir nämlich – und ich sehe das sowohl als einen Grund für den Erfolg dieses Museums als auch als Zielrichtung dieses Symposions –, daß wir unser Thema nicht als eine Geschichte der Ausrottung allein verstehen, sondern als Geschichte, die folgenreich bis in die Gegenwart und wohl
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noch weit darüber hinaus wirkt. Und ich glaube, daß das in diesem Symposion besonders deutlich wurde. Ich möchte mich nun in unser aller Namen zunächst sehr herzlich beim Gastgeber, dem Jüdischen Museum, und dann bei Professor Krones vom Schönberg-Institut der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien bedanken, daß wir diese drei Tage miteinander verbringen konnten, drei Tage, die uns viel an Erkenntnis sowie viel an neuer Information gebracht haben. Und tatsächlich sehe ich als wichtigstes Resümee dieses Symposions, die Defizite zu erkennen, die durch diese schreckliche Zeit entstanden sind und – obwohl wir historisch schon weit von ihr entfernt sind – immer noch existieren. Aber das richtige Schlußwort gebührt Professor Krones. Hartmut Krones Herzlichen Dank, Professor Wagner – sowohl für Deine Diskussionsleitung als auch für den Dank, den Du hier schon ausgesprochen hast. Auch ich möchte vor allem dem Jüdischen Museum danken, und hier Direktor Georg Haber sowie den beiden jungen Kollegen, die hier und auch im Symposion wissenschaftlich mitgearbeitet haben – erstens für die nette Aufnahme, für dieses wunderbare Ambiente, und überhaupt für den Geist, den wir hier geatmet haben und an dem wir vielleicht ein bißchen mitwirken durften, was mich sehr freut. Ich danke allen Referentinnen und Referenten, die mitgearbeitet haben, ich danke auch allen Zuhörern, die bis zuletzt ausharren, auch den Diskutantinnen und Diskutanten, die uns mit ihren Wortmeldungen bereichert und zum Nachdenken gebracht haben. Und damit möchte ich dieses Symposion schließen und hoffe, daß wir in einer ähnlichen Besetzung, mit einem ähnlichen Thema wieder einmal zusammenkommen. Herzlichen Dank.