Frühneuzeitliche Selbsterhaltung: Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance [Reprint 2013 ed.] 9783110967319, 9783484365414

The study sets out to be both a history of the concept ,self-preservation' in the Renaissance and to reconstruct th

183 10 11MB

German Pages 449 [452] Year 1998

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungen
Einleitung
ERSTER TEIL: Paradigmen der Transformation von Aristotelismus und Galenismus
I. Konjunktur einer wissenschaftlichen Ideologie: Antiperistasis
II. Telesios Theorie des Lichts: species νel facies
III. Defensive Modernisierung: Homöozentrik, Astrologiekritik und frühneuzeitliche Selbsterhaltung
IV. Zur Geschichte von Wärme und Seele in der Renaissance: calidum innatum und calor coelestis
V. Strategien der Innovation: Spiritus
ZWEITER TEIL: Metaphysik und Physik: Zur Identität der neuen Naturphilosophie
VI. Die theoretische Praxis der neuen Naturphilosophie
VII. Verneinung der Metaphysik und ihre Wiederkehr
Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Namensregister
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Frühneuzeitliche Selbsterhaltung: Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance [Reprint 2013 ed.]
 9783110967319, 9783484365414

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FRÜHE NEUZEIT Band 41

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Martin Mulsow

Frühneuzeitliche Selbsterhaltung Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mulsow,

Martin:

Frühneuzeitliche Selbsterhaltung : Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance / Martin Mulsow. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Frühe Neuzeit ; Bd. 41) ISBN 3-484-36541 -2

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Buchbinderei Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

IX

Abkürzungen

XI

Einleitung 1. Biographische Notiz: Telesio und seine Generation . . 2. Selbsterhaltung: ein Zugang über das 17. Jahrhundert 3. Rationalität in der Renaissance 4. Transformation des Aristotelismus 5. Rationale Unternehmungen

1 1 14 23 30 35

ERSTER T E I L PARADIGMEN DER TRANSFORMATION VON ARISTOTELISMUS U N D GALENISMUS

I.

Konjunktur einer wissenschaftlichen Ideologie: Antiperistasis 1. Ein marginaler Anfang 2. Modellwechsel durch die Oxford Calculatores 3. Zur Rezeption der Calculatores in Italien: Jacobo da Forlì und Gaetano da Thiene 4. Antiperistasis und die Logik der Gegensätze: Exkurs über Charles de Bovelles 5. Pietro Pomponazzi und die Folgen 6. Die medizinische Tradition der Antiperistasis 7. Die Aphorismen-Kommentierung in der Mitte des 16. Jahrhunderts 8. Nach Pomponazzi: Gasparo Contarini und Girolamo Fracastoro 9. Bernardino Telesio

45

47 47 52 53 63 70 75 79 81 96

VI II.

Telesios Theorie des Lichts: species vel facies

104

1. Die Jahre 1544-1552 2. Porzio und die Reichweite einer Theorie von Licht und Farben 3. Telesios De coloribus 4. Die Herkunft der Theorie 5. Modifikation des Lichts und der Wärme als Konstituierungsprinzip

104

III. Defensive Modernisierung: Homöozentrik, Astrologiekritik und frühneuzeitliche Selbsterhaltung

. .

1. 2. 3. 4. 5.

Homöozentrik und Kosmogonie Das theologische Komplement Die Konstruktion der Welt Skepsis und Sinnlichkeit Okkultismus, Astrologiekritik und defensive Modernisierung 6. Telesianische und cartesische Selbsterhaltung

IV.

Zur Geschichte von Wärme und Seele in der Renaissance: calidum innatum und calor coelestis 1. Unscharfe Begriffe 2. Die Konjunktur von De generatione animalium 11,3 . . 3. Physiologie in Kommentaren zu Aristoteles, Galen und Avicenna 4. Der Hintergrund der De am'raa-Diskussion, Ficino, Fernel und Cardano 5. Transformation des Galenismus 6. Telesio und die Verschiebungen in der Bedeutung des Begriffs calor 7. Persios De natura ignis et caloris

V.

107 110 117 123

140 141 155 165 179 183 193

201 201 207 213 220 230 234 246

Strategien der Innovation: Spiritus

251

1. Die Abwesenheit des Bewußtseins 2. Telesio, Argenterio und die These von der Einheit des Spiritus 3. Puls 4. Affektphysiologie als Kern 5. Der sonnenhafte Spiritus 6. Monistische Reformulierung der Medizin

251 260 267 272 274 277

VII 7. Affektbestimmung, Erkenntnis und Individuation 8. Naturalismus, Selbsterhaltung und die Ethik des Sublimen 9. Exkurs: Subjektivität und Entmächtigung

. . .

279 287 296

ZWEITER T E I L METAPHYSIK U N D PHYSIK: Z U R IDENTITÄT DER N E U E N NATURPHILOSOPHIE

VI: Die theoretische Praxis der neuen Naturphilosophie

307

. . .

1. Nach Telesio 2. Theologia Parmenidis: Die Frage nach der Einheit und die Bildung von Allianzen 3. Aristoteliker? Antiaristoteliker? Eklektik gegen Synkretismus 4. Ignem esse humidum: Kollektive Abwehr und die Verengung des Telesianismus als These VII: Verneinung der Metaphysik und ihre Wiederkehr 1. Telesios Philosophie als Katalysator 2. Elementenlehre, Monismus und spekulative Philosophie: Die Wasser über dem Himmel 3. Das Projekt eines telesianischen Pythagoreismus . . . . 4. Inversionen und Prioritätsverlagerungen 5. Antiperistasis bei Campanella und die Metaphysik der Selbsterhaltung 6. Wärme als primäre Evidenz Zusammenfassung und Ausblick 1. Magie, Gnade, Rationalität: Die Entscheidungen der Generation 1520-1540 2. Metaphysische Auslegungen der defensiven Modernisierung in der Generation 1580-1600 3. Religion und die Purifizierung der neuen Naturphilosophien: Auslegungen von Selbsterhaltung in der Generation 1640-1660

309 309 312 327 339 350 350 354 363 375 380 389 397 399 402

404

Literaturverzeichnis

409

Namenregister

431

Vorwort Dieses Buch verfolgt zwei Ziele. Zum einen will es die Genese des neuzeitlichen Begriffs der Selbsterhaltung aufhellen, eines Begriffs, der im 17. Jahrhundert durch Spinoza und Hobbes zu einem Leitkonzept der Moderne geworden ist. Zum anderen versteht es sich als Beitrag zur Renaissanceforschung und unternimmt den Versuch, die >neue Naturphilosophie< des späten 16. Jahrhunderts - begreift man sie im Singular oder im Plural - aus internen Entwicklungen des Aristotelismus heraus zu deuten. Indem an signifikanten Diskussionen die Transformation nachvollzogen wird, kommt zugleich, so ist die These, ein Verständnis der inneren Einheit der neuen Philosophien in den Blick. Ihre kognitive und historische Identität anhand der Herausforderungen zu rekonstruieren, auf die sie antworten, ist eine Aufgabe, die vorrangig zu lösen ist, bevor die innere Dynamik der Philosophie am Ende des Jahrhunderts verstanden werden kann. Das Bild, das dabei entsteht, zeigt relative Fortschritte der Philosophie durch Anlehnung an naturphilosophische und medizinische Erklärungsmodelle, die aber immer wieder dann Folgelasten und Hindernisse erzeugen, wenn sie zu wissenschaftlichen Ideologien degenerieren. Der Begriff der Selbsterhaltung steht inmitten dieser Prozesse. Man sollte sich damit abfinden, daß man kaum im Sinne einer Fortschrittsgeschichte darauf wird hoffen können, daß diese frühneuzeitlichen Innovationen immer bereits den Keim des Neuen dort enthalten, wo sie die alte Schale abstreifen. Vielmehr scheinen es oft andere Irrtümer zu sein, die, auf indirekte Weise, zu neuen Denkformen beitragen. Die Alterität solcher vormoderner Modelle wird heute leicht unterschätzt. Und doch zeigt sich ihre Relevanz, sobald man Begriffe in sie verwickelt findet, die für das Bewußtsein der Neuzeit so entscheidend sind wie jener der Selbsterhaltung. Mehr noch: man findet diese Modelle in den Kernen frühneuzeitlicher Metaphysiken, sie strukturieren die Argumentation noch auf einer Abstraktionsebene, die sie scheinbar längst überschritten hat. Für eine philosophiehistorische Arbeit wird der Leser hier in ungewohntem Maße wissenschaftsgeschichtliches, zumeist medizingeschichtliches Material eingearbeitet finden. Das mag ihn, wenn er es nicht erwartet, befremden; aber ich habe im Laufe der Untersuchung

χ feststellen können, wie sehr diese Ausweitung notwendig ist: Der vormoderne Philosophiebegriff und die institutionelle Nähe von Medizin und Naturphilosophie in der Renaissance haben bewirkt, daß die Kontexte der medizinischen Diskussionen zur philosophischen Theoriebildung beigetragen haben - wie umgekehrt ebenso. Nur wenn man diese Interdependenz in ganzer Konsequenz ernst nimmt, kann man un verzerrte Resultate erzielen. Wissenschaftliches Arbeiten bedeutet immer, sich auf die Schultern von Riesen zu stellen, um etwas weiter, in noch unbestelltes Land sehen zu können. Die Schultern, auf denen mein Buch ruht, sind exzellente Studien wie die von Luciano Artese, Nicola Badaloni, Massimo Luigi Bianchi, Graziella Federici Vescovini, Eckhard Keßler, Michel-Pierre Lerner, Enrico Peruzzi, Nancy Siraisi oder Giancarlo Zanier - um nur einige zu nennen. Exemplarische Studien wie diese sind dort unentbehrlich, wo, wie im Bereich der Naturphilosophie der Renaissance, noch keine umfassenden Darstellungen vorliegen und vorliegen können. Zu viel elementare Rekonstruktion ist noch zu leisten. Die 1988 erschienene Cambridge History of Renaissance Philosophy setzt immerhin einen Markierungspunkt für die quellenorientierte Erforschung der Renaissance. Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München von 1991. Es wäre nicht denkbar ohne die Seminare von Eckhard Keßler am Institut für Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance. Ihm sei an dieser Stelle ganz herzlich für Diskussionen und Kritik, für Aufmunterung und Widerspruch gedankt. Zudem danke ich Heinrich C. Kuhn, Michael Stolberg und Karin Ehler für Kritik und Korrekturen, Germana Ernst für manche weiterführende Unterhaltung. In ihren theoretischen Interessen ist die Untersuchung entstanden in der Auseinandersetzung mit Dieter Henrich, dem ich für seine Förderung als Doktorvater und seine philosophischen Anregungen danke, die weit über den hier eingehaltenen Rahmen hinausgehen. Für finanzielle Unterstützung danke ich dem bayerischen Staat, dem DAAD für einen Aufenthalt in Florenz und Padua, dem Istituto Suor Orsola Benincasa für die Gastfreundschaft in Neapel, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den Druckkostenzuschuß. Und auch die Kooperation mit den Bibliotheken war von Wichtigkeit: mit der Biblioteca Nazionale Centrale in Florenz, der Corsiniana in Rom, der Bibliothèque Nationale in Paris, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der Universitätsbibliothek München, vor allem aber der Bayerischen Staatsbibliothek in München. München, im Sommer 1996

Abkürzungen Die Werke Telesios werden wie folgt abgekürzt: DRN

für De rerum natura mit der Jahreszahl der jeweiligen Edition - 1565, 1570 oder 1586; danach folgen in römischen und arabischen Ziffern die Buch- und Kapitelangabe. In Klammern wird nach Möglichkeit die Seitenangabe in der kritischen Edition L. de Francos gegeben (Cosenza 1965 und 1974, Firenze 1976): in römischen Ziffern der Band, in arabischen die Seite. VNRL für Varii de naturalibus rebus libelli. Ich zitiere die über Persios Edition von 1590 hinaus erweiterte kritische Edition von L. de Franco, Firenze 1981.

Einleitung Nur in normalen Fällen ist der Gebrauch der Worte uns klar vorgezeichnet; wir wissen, haben keinen Zweifel, was wir in diesem oder jenem Fall zu sagen haben. Je abnormaler der Fall, desto zweifelhafter wird es, was wir nun hier sagen sollen. Und verhielten sich die Dinge ganz anders, als sie sich tatsächlich verhalten [...], so verlören unsere normalen Sprachspiele damit ihren Witz. - Die Prozedur, ein Stück Käse auf die Waage zu legen und nach dem Ausschlag der Waage den Preis zu bestimmen, verlöre ihren Witz, wenn es häufiger vorkäme, daß solche Stücke ohne offenbare Ursache plötzlich anwüchsen, oder einschrumpften. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen § 142

1. Biographische Notiz: Telesio und seine Generation Die historischen Untersuchungen dieser Studie gruppieren sich um die Philosophie Bernardino Telesios. Telesio hat im 16. Jahrhundert die conservatio sui zu einem umgreifenden, nämlich von der elementaren Naturphilosophie bis zur Ethik reichenden Grundkonzept der neueren Philosophie gemacht. Um dem Leser vor den mehr begriffsgeschichtlich orientierten Studien eine gewisse Basis und Orientierung zu geben, scheint es geboten, zunächst kurz Telesios intellektuelle Biographie zu umreißen. 1 1

Als ältere biographische Literatur vgl. die Rede von Giovanni Paolo d'Aquino auf Telesios Tod: Oratione di Gio. Paolo D'Aquino in morte di Bernardino Telesio filosofo eccelentissimo agli Academici Cosentini. Cosenza 1596, sowie Francesco Bartelli, Note biografiche (Bernardino Telesio - Galeazzo di Tarsia). Cosenza 1906. S. 7 - 7 3 ; weiterhin St. de Chiara, Bricciche telesiane, Cosenza 1879; N. C. Scipioni, »Lettere inedite di Bernardino Telesio e Giacomo Pelusio nel carteggio del Cardinale Guglielmo Sirleto«. In: Archivio storico per la Calabria e la Lucania 7 (1937). S. 105-120; S. G. Mercati, »Appunti telesiani«. In: Archivio storico per la Calabria e la Lucania 7 (1937). S. 215-241. Soweit eine Auswahl. Neuere biographische Studien: V. M. Egidi und M. Boretti, I Telesio. Regesto dei documenti del sec. XVI (a cura di Raffaele Borretti). Cosenza 1988. L. De Franco, Bernardino Telesio. La vita e l'opera. Cosenza 1989. S. 3 20. G. Di Miranda, »Una lettera inedita di Telesio al Cardinale Flavio Orsini«. In: Giornale critico della filosofia italiana 72 [74] (1993). S. 361-375. L. De Franco, Introduzione a Bernardino Telesio. Soveria Mannelli 1995. S. 15-90. Ich kompiliere im folgenden aus dieser Literatur.

2 Telesio ist 1509 in Cosenza in Kalabrien geboren. Die Familie, aus der er stammt, gehörte zu den begüterten und adeligen der Region. Durch seinen Onkel, den Humanisten Antonio Telesio, hat er seine erste Ausbildung erhalten, sicherlich stark orientiert an den alten Sprachen und dem humanistischen Zirkel von Disziplinen. 1527 kommt Telesio zusammen mit seinem Onkel nach Venedig. Er bleibt offenbar in den folgenden Jahren im Veneto und studiert an der Universität Padua. Seine Lehrer sind unter anderem Geronimo Amaltheo und Federico Delfino; Telesio scheint also naturphilosophische, mathematische und astronomische Studien betrieben zu haben. Gegen 1535 schließt er seine Studien ab, wenn auch wohl nicht mit einem offiziellen Doktorat, da die Archive in Padua nichts dergleichen bestätigen. Die intellektuelle Generation, mit der Telesio in diesen Jahren in Padua groß wird, findet sich später durch illustre Namen von Professoren und Philosophen repräsentiert. Welche Optionen standen dieser Generation offen? In erster Linie scheint es die Erneuerung des Aristotelismus gewesen zu sein, die humanistische, aus den griechischen Quellen schöpfende und hinter die scholastische Tradition zurückgehende Neulektüre des Philosophen, die Telesios Kommilitonen fasziniert hat. Alessandro Piccolomini, der wenige Jahre nach Telesio den identischen Bildungsweg gegangen ist, spiegelt gut die Möglichkeiten jener Jahre wider. In ihm vereinigen sich mathematisch-physikalisches Interesse, humanistische Aristotelesauslegung, Teilnahme an der höfischen Kultur und ihren Akademien, Begeisterung für das volgare, für Moralphilosophie und eine neue empirische Offenheit. Ähnlich hat auch Vincenzo Maggi, wenige Jahre älterer Freund Telesios aus Paduaner Tagen, sich für die Möglichkeiten entschieden, die im >modernen< Aristotelismus lagen. Von seiner Ausbildung her wie viele andere Kommilitonen ein Experte für aristotelische Physik, hat er in den späteren Jahren an der Wiederentdeckung der aristotelischen Poetik für die europäische Diskussion maßgeblichen Anteil gehabt. Im Aristotelismus fanden sich, weit entfernt von Anzeichen der Verbrauchtheit, immer neue Ressourcen intellektueller Neugierde. Auch Denker wie Simone Porzio und Andrea Cesalpino mögen für diese Tendenz stehen. Sie haben die aristotelische Neulektüre für die Etablierung moderner Felder der Sinnesphysiologie und der Medizin nutzbar gemacht. Man konnte also in den 1520er und 1530er Jahren noch gut auf Aristoteles setzen. Doch es gab auch schon vereinzelte Querdenker und Experimentatoren mit unkonventiellen Ideen. Das waren nicht so sehr die Platoniker im Gefolge Ficinos, denn deren Wirkungskreis blieb zunächst mehr auf die höfisch-humanistischen Kreise be-

3 schränkt. Aber es waren Denker - wie Fracastoro oder Cardano - , die aus der medizinischen Praxis heraus sich nicht mehr an die Vorgaben der Tradition gebunden fühlten und eklektisch stoische, epikureische, hippokratische oder plotinische Inspirationen für ihre Problemlösungen verarbeitet haben. Diese Denker sind sicherlich ein entscheidendes Ferment für eine Transformation der naturphilosophischen Tradition gewesen, die über die bloße Erweiterung innerhalb des aristotelischen Bereiches noch hinaus ging. Eine wirkliche Alternative konnten diese Denker um 1530 noch nicht bieten, denn ihre Veröffentlichungen setzen zumeist erst in den Jahren danach ein. Telesio hat die Option des modernen Aristotelismus nicht gewählt, auch wenn er in vielen Punkten, vor allem in der Empirieoffenheit mit seinen früheren Kommilitonen übereingestimmt hat. Bei ihm findet man - so werden wir sehen - eher ein ernsthaftes Weiterdenken der Theorien vor Pomponazzi und ein langsames Erarbeiten der Konsequenzen, die aus den internen Schwierigkeiten dieser Theorien folgen. Telesio ist ein Philosoph der Langsamkeit. Er hat, humanistisch gebildet wie er war, einen ideosynkratischen Stil entwickelt, der seine Werke hinter schwer lesbarem Latein abschottet. Leibniz hat Telesio einmal als Beispiel für eine obscuritas orationis genannt, einen dunklen und schweren Stil. Doch Telesios Stil, seine Gedankenführung und die gesuchte Ausdrucksweise spiegeln etwas wider und bilden eine Verstehensschwierigkeit ab, deren Wurzeln tiefer liegen: in der Problematik, sich aus vorgegebenen Denkformen zu neuen Strukturen hin zu befreien. Insofern entsteht Telesios in seinen Parataxen und Hypotaxen Kant nicht ferner Stil, so noch einmal Leibniz, »ex difficultate, tarditate, laboriositate intelligendi.«2 Der Grund für diese 2

G. W. Leibniz, Analysis didactica, LH IV 7C Bl. 139-145; zitiert aus der Vorausedition zu Reihe VI - Philosophische Schriften - in der Ausgabe der Akademie der Wissenschaften der DDR, Faszikel 7, Münster 1988, 1627; Den Eidruck von obscuritas hatten auch schon Telesios erste Leser: vgl. etwa G. A. Marta, Pugnaculum Aristotelis adversus principia Bernhardini Telesii. Roma 1587. S 4f: »[...] te vero semper obscuriorem reddidisti«; A. Chiocco, Quaestionum philosohicarum et medicarum libri tres. Verona 1593. S. 126: »Telesius, plura Heraclitea quadam obscuritate«; T. Campanella, Philosophia sensibus demonstrate. Napoli 1591. S. 5: »his enim viris doctis subobscura quoque videbatur. « Aber Campanella sagt auch: »Nec obscurus est nisi indoctis hebetibusque ingenio parumque versatis in philosophia« (ed. S. 10), und es gibt durchaus Leser, die Telesios gewichtigen Stil sehr geschätzt haben, wie der Engländer Henry Savile, der 1582 in einem Brief sagt: »Est latini sermonis puritas, est gravitas, est obscuritas, sed quae teneat lectorem, non terreat; atque utinam aureum id flumen, quod ubi gentium fluat in nostris certe libris nusquam comparet. Utinam, inquam, Aristoteles noster induxisset in animum ita loqui, immensis istis et infinitis prope inter seque dissidentibus interpretum voluminibus aequiore animo caremus.« Zit. nach L. de Franco, Bernadino Telesio. S. 141. Vgl. zu Telesios Stil jetzt R. Sirri, Bernardino Telesio. Intersezioni letterarie. In: Atti del convegno inter-

4 Ideosynkrasie mag neben der tatsächlichen Schwierigkeit, die aristotelischen Bahnen zu verlassen, auch in einer bewußten Betonung der Unabhängigkeit von den sprachlichen Konventionen des Universitätsbetriebes gelegen haben. Die Etablierung einer eigenen Theorie geht jedenfalls Hand in Hand mit der Entwicklung einer eigenen Sprache, einer bis dahin unerhörten Sprachsensibilität in der Beschreibung von Naturprozessen. Telesio hat nicht die Philosophie des Aristotelismus gewählt, und er hat, um diese Unabhängigkeit zu erreichen, auf eine Universitätskarriere verzichtet. Sein unorthodoxer Lebensweg wäre freilich nicht von jedermann zu beschreiten gewesen. Er aber hat sich ihn dank seiner finanziellen Unabhängigkeit leisten können - zumindest zunächst. Auf seine exzellente humanistische Bildung bauend, zieht sich Telesio völlig aus den Debatten der Universität zurück und studiert in aller Abgeschiedenheit die alten griechischen Originaltexte der Naturphilosophie. Im Vorwort von De natura von 1565 hat er diesen Rückzug beschrieben und begründet. Dort sagt er, er habe in magnis solitudinibus die gewichtigen Fragen der Prinzipien des Aristotelismus erwogen und sei zu dem Schluß gekommen, diese Prinzipien zu verwerfen. Und auch Giovanni Paolo d'Aquino betont in seiner Grabesrede auf Telesio dessen Rückzug: »Costituì [Telesio] per poter meglio investigare i secreti della natura, per molti anni si disgiunse dalla frequenza de gli huomini, et se liberò d'ogni altro pensiero et lasciò la patria, i parenti, gli amici et si raccolse in un monasterio di frati di San Benedetto et ivi habitó.«3 Das Benediktinerkloster, in das sich Telesio zurückgezogen hat, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit die Grancia della Seminaria in der Nähe von Mileto, wo die Familie Telesio einige Güter besaß. Man sollte sich Telesios >Abgeschiedenheiten< aber auch nicht so vorstellen, daß er über ein Jahrzehnt lang ein mönchisches Leben geführt habe. 1545 etwa hört man im Briefwechsel zwischen Carlo Gualteruzzi und Giovanni Della Casa von einem Telesio, der in Rom krank geworden war und nun nach Venedig aufgebrochen ist, um dort bei Della Casa als Sekretär zu arbeiten. Wenn es sich dabei um

3

nazionale di studi su B e r n a r d i n o Telesio. Cosenza 1990. S. 3 1 - 4 6 . Bes. S. 44: »Si t r a t t a di una elocutio abilmente calcolata, mossa da una strenua tensione stilistica, non a u t o n o m a rispetto alla inventio, m a regolata da una sottile, a volte estenuata arte di p a u s a r e l'estrinsecatione del reale, o c h e è lo stesso, in questo caso, della logica mentale, in coordinate di lingua, cosi c h e splendano, pensiero e pensato, e n t r o statiche convenzioni di finitudini. S a r e b b e un e r r o r e p e n s a r e c h e la prosa di Telesio s c o r r a a n c o r a e n t r o i p a r a m e t r i dell' ideologia umanistica c h e attribuiva all' arte sermonicale la funzione del logos. L a scrittura di Telesio, se splende, s p l e n d e e n t r o c o n f i n i di s c a b a solitudine.« G. P. D ' A q u i n o , Oratione. S. 17.

5 Bernardino Telesio handelt - was wahrscheinlich ist - , dann hat es in den 1540er Jahren, über die wir so wenig wissen, immer auch wieder Perioden gegeben, in denen Telesio an den Höfen und in den großen Städten präsent war. Doch bevor er sich endgültig zum Weg eines philosophischen Schriftstellers entschlossen hat, hat Telesio zunächst die heimische Vita activa gewählt. Um 1552 heiratet er die adelige Diana Sersale und zeugt mit ihr in den folgenden Jahren vier Kinder, von denen eines gleich stirbt. Er übernimmt politische Ämter in seiner Vaterstadt und hat sich um geschäftliche Dinge zu kümmern, die seine Güter betreffen. Dann aber stirbt unerwartet die Frau. Seit mindestens 1561 ist Telesio Witwer. Es sind die Jahre nach diesem Einschnitt, in denen sich Telesio für eine Existenz entscheidet, die zumindest zum großen Teil der Forschung gewidmet ist. Als Papst Pius IV., mit dem Telesio offenbar befreundet war, ihn 1565 zum Erzbischof von Cosenza machen will, lehnt er ab und überläßt das Amt seinem Bruder Tommaso. Nach den Jahren seines theoretischen Durchbruchs, die ich um 1544-1552 ansetze, also vor seiner Heirat, und auf die ich im Kapitel II genauer eingehen werde, kommen jetzt die Jahre der Ausarbeitung. Schon 1563 ist Telesio so weit, daß er ein Manuskript seinem aristotelischen Freund aus Paduaner Tagen, Vincenzo Maggi, vorlegen kann. Telesio hat Zweifel, ob seine gewagten Argumente gegen Aristoteles einem Fachmann standhalten können. 4 Vielleicht ist er auch unsicher, weil er nun schon mehr als ein Jahrzehnt von den universitären Disputen der Naturphilosophie getrennt gewesen ist. Er reist deshalb nach Brescia und spricht mit Maggi seinen Entwurf durch. Als er vom Resultat dieser Prüfung befriedigt ist, gibt er dem Drucker Antonio Biado den Auftrag, das Buch zu drucken. Es erscheint 1565 als De natura in Rom, wo Telesio seit 1563 lebt: späte Erstveröffentlichung eines Sechsundfünfzigjährigen. Schon in den Jahren unmittelbar auf diese Veröffentlichung müssen kritische Worte aus Teilen des Klerus zu hören gewesen sein. Man stört sich an seiner neuen Theorie des Himmels, in der keine >Intelligenzen< mehr vorkommen, und man wittert einen Materialismus in der Seelenlehre. Aber Telesio kommt unerwartet auch in finanzielle Schwierigkeiten. Um sein solitäres Forschungsleben zu ermöglichen, hat er 1567 einen Vertrag mit seinem Bruder Tommaso geschlossen, der diesem die Administation seiner Güter übertrug, samt der Rendite, die aus ihnen flöß. So wollte Telesio sich von geschäftlichen Verpflichtungen freihalten und beanspruchte dafür die Zahlung von tausend Dukaten pro Jahr für seinen Unterhalt. Doch 4

Vgl. D R N 1565, Prooemium.

6 der Plan nahm ein desaströses Ende. Tommaso starb schon 1569, und Bernardino Telesio sah sich auf einmal all seiner Ländereien beraubt, und darüberhinaus auch der erhofften Rendite. Jahrelange Rechtsstreitigkeiten begannen. Auch Tommasos Nachfolger als Erzbischof von Cosenza, Flavio Orsini, ein Sproß aus der berühmten römischen Adelsfamilie, den Telesio später als Patron zu gewinnen suchte, war zunächst in die Erbstreitigkeiten verwickelt. Zu allem Unglück kam einige Jahre später hinzu, daß einer von Telesios Söhnen, Prospero, 1576 bei einem Streit mit einem anderen Jugendlichen getötet wurde, zum großen Schmerz seines Vaters. Telesio arbeitet in den Jahren seit 1565 Jahre intensiv an der Ausweitung des Entwurfes. Drei kleinere Studien erscheinen 1570 {De his quae in Aere fiunt et de Terramotibus, De colorum generatione, De mari), und auch die zweite Version von De rerum natura. In diesen Jahren hat Telesio in Neapel bereits einen kleinen Kreis von Schülern um sich versammelt. 5 Antonio Persio gehört seit etwa 1570 dazu, und schon seit den frühen 1560er Jahren Sertorio Quattromani. 6 Telesio pendelt zwischen Neapel und Cosenza, wo er sich immer noch um geschäftliche Dinge kümmern muß, ganz abgesehen von den drei Kindern. In Cosenza steht Telesio als >Princeps< einer kleinen humanistischen Akademie vor, der >Accademia CosentinamodernerGegner< in irgendeiner Weise wahrhehmen. Empfindend, weil als subtile Materie ganz und gar von der Wärme bestimmt, ist auch der sogenannte >Spiritusschwärmerisch< und animistisch-magisch hielt, konnte man sich mit dem scheinbaren Befund arrangieren. Man hat nicht gesehen, daß das verführerisch Einfache an Telesios Weltbild nicht zuletzt die Folge einer Verdeckung der Involviertheit

12 in die akademischen Debatten gewesen ist; aus Gründen der Distinktion, wie ich schon betont habe, aber auch der klugen Abstinenz, die für einen Abweichler im Klima der Gegenreformation opportun war. Die alte Literatur aber hat sich von der rhetorischen Qualität einer überzeugend einfachen Erzählung ablenken lassen. Selbst seit Francesco Florentinos Pioniertat in den Jahren 1872-74, der ersten modernen großen Monographie über Telesio,17 hat sich die Literatur oft auf summarische Nacherzählungen von De rerum natura und Beschreibungen der Absetzung von Aristoteles beschränkt. Weder das Motiv für die plötzliche Reduktion einer komplexen philosophischen Theoriesituation hat man gesucht (es sei denn, man machte den Renaissance->Animismus< oder eine Stoa-Rezeption dafür verantwortlich), noch stellte man sich der Einsicht, daß es ja doch nicht Aristoteles selbst, sondern der zeitgenössische Aristotelismus gewesen sein mußte, gegen den sich ein Autor des 16. Jahrhunderts absetzte. Immerhin lebte Telesio nicht zur Zeit Theophrasts. Die Verwunderung über diese Naivität der philosophiehistorischen Literatur, die noch immer durch die veralteten Kompendien geistert, ist einer der Gründe für die vorliegende Untersuchung gewesen. Erst in neuerer Zeit hat sich die Situation der Forschung geändert, wenn sie auch noch nicht völlig in der Lage ist, den widersprüchlichen Ansatz der frühen Jahre zu ersetzen. Immerhin gibt es einen deutlichen Aufschwung an Differenziertheit in den Studien. Das ist zum einen das Verdienst von Luigi de Franco, der zwischen 1965 und 1981 eine vierbändige kritische Gesamtausgabe der Werke Telesios vorgelegt hat: das Hauptwerk De rerum natura in drei Bänden, inklusive italienischer Übersetzung, sowie die kleinen Schriften in einer Ausgabe Varii de naturalibus rebus libelli (ohne Übersetzung). Damit ist die Textgrundlage für präzise Studien gegeben. Zum anderen haben drei Gedenkkonferenzen, die 1989 anläßlich des sich im Vorjahr zum vierhundertsten Male jährenden Todestages von Telesio stattgefunden haben, schon rein quantitativ die TelesioLiteratur beträchtlich erweitert. 18 Die über dreißig Aufsätze, die so 17

18

F. Fiorentino, Bernardino Telesio ossia studi storici su l'idea della natura nel risorgimento italiano. 2 Bde. Firenze 1872 und 1874. D i e Anfänge der TelesioForschung liegen freilich im Leipzig der 1730er Jahre. Vgl. J. G. Lotter, D e vita et philosophia Bernardini Telesii commentarius ad inlustrandas historiam philosophicam universim et litterariam saeculi XVI christiani sigillatim comparatus. Leipzig 1733. D i e Akten dieser Konferenzen sind publiziert als: Atti del convegno internazionale di Sudi su Bernardino Telesio. Hg. von der Accademia Cosentina. Cosenza 1990 (im folgenden abgekürzt als: Atti Cosenza). Bernardino Telesio e la cultura napoletana. Hg. von R. Sirri und M. Torrini. Napoli 1992 (abgekürzt als: Cultura napoletana). Bernardino Telesio nel 4. centenario della Morte (1588). Hg. vom Istituto nazionale di studi sul Rinascimento Meridionale. Napoli 1989

13 zusammengekommen sind, machen, zusammen mit flankierenden Veröffentlichungen, in Zukunft erstmals so etwas wie eine kohärente Forschung in der ganzen philosophisch-philologisch-historischen Breite möglich. Drei Momente allerdings sind es, die auch nach diesen Veröffentlichungen Desiderat geblieben sind. Erstens ist die Telesio-Philologie, seit Guiseppe Mercati 1956 die beiden Codices Ottoboniani 1292 und 1306 in der römischen Vaticana entdeckt hat, auf eine neue Grundlage gestellt worden. 19 Die Codices enthalten die ungedruckten Entwürfe und Varianten von Telesios Hauptwerk. Erst kürzlich, 1995, hat Luigi De Franco in einer umfangreichen Introduzione a Bernardino Telesio begonnen, erstmals in aller Konsequenz die Textvarianten der verschiedenen Editionen und die ungedruckten Varianten miteinander zu vergleichen. 20 In den meisten Arbeiten dagegen gibt es erst zaghafte Ansätze, das handschriftliche Material einzubeziehen. Ein zweiter Punkt betrifft ebenfalls die handschriftliche Überlieferung. Aus den genannten Gründen der gegenreformatorischen Zensur ist ein wichtiger Teil der Dispute für und wider Telesio nicht gedruckt worden. Das gilt möglicherweise für die Kritik Marantas an Telesio, vor allem aber für die Verteidigung des Philosophen durch Antonio Persio. Da Persio sich, teilweise in eigenständiger Weiterführung seines Lehrers, sowohl auf die philosophia Christiana als auch auf den Aristotelismus seiner Zeit eingelassen hat, ist sein Werk besonders signifikant für eine Rekonstruktion von Telesios Transformation des Aristotelismus (auf diesen Begriff werde ich weiter unten zurückkommen). Deshalb habe ich in der vorliegenden Studie in den Fußnoten immer wieder auf Persios De natura ignis zurückgegriffen und erstmals das umfangreiche Manuskript in die Analyse von Telesios Werk einbezogen. Drittens aber - und das hat die reine Telesio-Philologie trotz vereinzelter erster Detailstudien zum Begriff des Lichts oder der Kälte noch nicht wirklich mitvollzogen - scheint eine Rekonstruktion von

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(abgekürzt als: Centenario). Darüber hinaus ist noch ein kleiner Ausstellungsband zu erwähnen: Bernardino Telesio e l'idea di natura >iuxta propria princip i a i Mostra bibliografica, documentaria e iconografica. R o m a 1989 (I Quaderni della Biblioteca nazionale di Napoli. Serie VII 1). G. Mercati, »Autografi sconosciuti di B. Telesio«. In: Archivio Storico per la Calabria e la Lucania 25 (1956). S. 3 - 1 7 . L. D e Franco, Introduzione a Telesio. D e Franco analysiert alle Textversionen: S. 9 1 - 1 4 8 die Ausgabe von 1565, S. 1 4 9 - 1 8 2 die Ausgabe von 1570 und die Abweichungen der handschriftlichen Übersetzung von Martelli, in die Telesio korrigierend eingegriffen hat, S. 1 8 3 - 2 2 4 die wichtigen ungedruckten Zwischenfassungen aus den 1570er und 1580er Jahren, und S. 2 2 5 - 3 3 0 die endgültige Druckfassung von 1586. D a s Buch ist zu spät erschienen, um noch wesentlich in diese Studie eingearbeitet werden können.

14 Telesios Gedanken und Motiven nicht ohne die konsequente Ausweitung des Horizontes auf die physikalischen und medizinischen Diskurse in Italien seit Mitte des 15. Jahrhunderts möglich zu sein. Ich werde mich deshalb bemühen, zumindest einige Schneisen durch diese in großen Teilen unbekannte Landschaft zu schlagen, um ermitteln zu können, welche Genese den telesianischen Ideen de facto zugrunde gelegen hat. Die These dieses Buches ist, soviel kann vorweggenommen werden, zunächst eine überraschend negative. Nicht nur hält sich Telesio aus der Gruppe der >modernen< Aristoteliker fern, er ist auch kein Anhänger des Neuplatonismus in der Nachfolge Ficinos; nicht nur führt von ihm kein Weg zur mathematischen Naturwissenschaft Galileis, er ist auch kein Empiriker in einem volleren Sinne, nicht einmal ein Fortführer Pomponazzis; er ist kein Pantheist, kein Animist und kein Neustoiker im Sinne Diltheys. Diese negative These ist überraschend nur für denjenigen, der Renaissancephilosophie in vorgeprägte Schablonen zu pressen gewohnt ist; Telesios solitäres Denken ist solches auch darin gewesen, sich von dominierenden Modeströmungen abseits zu bewegen. Statt dessen hält es sich - so wird die Untersuchung zeigen - in der komplexen Theorienwelt des norditalienischen Aristotelismus um 1500 auf, es nimmt an der in sich vielschichtigen Transformation eines in sich vielfältigen, von Traditionsstücken unterschiedlichster Herkunft angereicherten Aristotelismus teil. So erweist sich nicht nur die Quellenlage Telesios als multivalent, auch die Grundfigur seiner Theorie kann nur als Doppelbewegung, nicht mittels eines singulären Schlagwortes beschrieben werden: als Naturalisierung innerhalb eines auf spirituelle, sogenannte >okkulte< Ursachen ausgerichteten Kontextes.

2. Selbsterhaltung: Ein Zugang über das 17. Jahrhundert Der deutsche Cartesianer Johannes Clauberg ist vielleicht der erste gewesen, der versucht hat, über die Verwendungsweisen des in Konjunktur gekommenen Begriffs der conservano sui Rechenschaft abzulegen. In seiner Defensio cartesiana von 1652 21 gibt er ein zwanzig 21

J. Clauberg, Defensio cartesiana. In: Opera omnia. Bd. II. Amsterdam 1691. Ndr. Hildesheim 1968. S. 1102ff. Vgl. dazu M. Mulsow, Handlungsmetaphysik und Kategorienproblem zwischen Campanella und Leibniz. Georg Ritschels Contemplationes metaphysicae ex natura rerum. In: Verum et Factum. Beiträge zur Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance zum 60. Geburtstag von Stephan Otto. Hg. von T. Albertini. Frankfurt u.a. 1993. S. 1 5 1 - 1 7 1 . Weiter M. Mulsow, Art. »Selbsterhaltung«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von J. Ritter und K. Gründer. Bd. 9. Basel 1996. Sp. 3 9 3 - 4 0 8 .

15 Punkte umfassendes Inventar von Textstellen, in denen die - von Cicero so formulierte - These omnis natura est conservatrix sui samt ihrer Variationen zu finden ist. Clauberg zitiert neben Descartes Wittich, Hobbes und den Juristen Wesenbeck, und in Distanzierung führt er einige Renaissancewissenschaftler an, deren Selbsterhaltungsbegriff von dem cartesischen streng zu trennen sei; hier nennt er Sennert, Basson, Scaliger, Bacon, Ritschel, Campanella und andere. Er ist bemüht, die breite Spanne von der Physik über Medizin und Jurisprudenz bis zur Theologie aufzuzeigen, die der Begriff abdeckt, und in der Tat wird der Universalitätsanspruch der Selbsterhaltung auf diese Weise in selten klarer Form transparent. Allein über die Herkunft des Begriffs vermag Clauberg wenig zu sagen. Formulierungen aus Cicero sind die einzige Referenz, die er anführt, so als wäre die Assoziation von Ciceronianismus oder Neustoizismus bereits eine genügend plausible Erklärung für die Begriffskonjunktur. Die Herkunft vieler der angeführten Verwendungsweisen aus der Renaissance, und zum Teil von der Theorie Telesios als des ersten, der in der frühen Neuzeit Selbsterhaltung universal in Anschlag gebracht hat, ist bei Clauberg bereits vergessen. Claubergs cartesianisches Interesse an der Absetzung von Renaissancevorgängern, die irrational Materie mit Momenten von Streben und primitiven Formen von Erkenntnis ausgestattet hätten, haben ihn davon Abstand nehmen lassen, nach einer Genese in der Renaissance zu suchen. Einen etwas unparteiischeren Blick hat da Daniel Georg Morhof gehabt; daß er 1681 im Polyhistor22 Telesio neben Cardano, Descartes und Hobbes in das Kapitel De novatoribus in Philosophia aufnimmt, ja ihn gemäß Bacons Diktum vom primus hominum novorum23 als ersten der Reihe aufführt, beweist, daß man durchaus im 16. Jahrhundert die Wurzeln für erste neuzeitliche Innovationen finden kann, ohne eine feste Grenze anzulegen. Später ist man wieder eher bereit, Telesio und Campanella unter die Verdiktkategorie >Renaissanceanimismus< zu subsumieren. Der Trennungsstrich zwischen 22

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D. G. Morhof, Polyhistor in tres tomos, literarium, philosophicum et practicum. Ich benutze die Ausgabe Lübeck 1708. Zu Telesio dort: Tom. II. S. 243ff: »De recentioribus in doctrina physica novatoribus, qui ab Aristotele divortium fecerunt, et primo quidem de Bernhardino Telesio, eiusque principiis.« Zu Morhof vgl. W. Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983. S. 265-272. Auch Charles Sorel hat Telesio früh unter die großen >novatores< eingereiht. Vgl. L. Bianchi: Des novateurs modernes en la philosophie: Telesio tra eruditi e libertini nella Francia del Seicento. In: Cultura napoletana. S. 373-416. Vgl. F. Bacon, De principiis atque originibus secundum fabulas Cupidinis et Coeli, sive Parmenidis et Telesii, et praecipue Democriti philosophia (erstmals postum 1653 ediert). In: The Works of Francis Bacon. Hg. von J. Spedding, R. L. Ellis und D. D. Heath. London 1879-1892. Bd. 3. S. 79-118.

16 der Zeit vor Descartes und der nach ihm ist erst in den späteren Jahrhunderten ausschließlich geworden. Man sieht schon an dieser kurzen Rezeptionsskizze, wie sehr der Selbsterhaltungsbegriff in die Frage nach der Grenzziehung durch cartesische als moderne Wissenschaft verwickelt ist; darüber hinaus, wie sehr diese Grenzziehung immer wieder auch eine von Rationalität und Rationalisierung gewesen ist. Das hat seine Nachwirkungen: alle Geistesgeschichte der Renaissance steht unter der notorischen Belastung der Epochenfrage nach dem Beginn der Neuzeit und den Kriterien neuzeitlicher Legitimation und Rationalität. Diese Belastung gilt verstärkt für die Begriffsgeschichte von Selbsterhaltung, da - mit guten Gründen - der Begriff als einer der Signifikanten dieser Legitimation genommen wird. Dennoch wird man bestimmte Entwicklungen im 16. Jahrhundert nur wahrnehmen, wenn man sich von dieser Belastung freihält und dem Apodiktischen der Grenzziehungen mißtraut. Der Interpretationsdruck auf die frühe Neuzeit scheint ein Phänomen der Neuzeitlichkeit selbst zu sein: gerade wenn man die eigentliche Sattelzeit der europäischen Modernität mit der Zeit von 1750 bis 1850 ansetzt24 und diese Modernität, auch philosophiegeschichtlich,25 als Reflexion und Reaktion auf die seit der Renaissance eingetretenen Veränderungen begreift, dann folgen einige notwendige Konsequenzen für die philosophiegeschichtliche Sonderstellung der sogenannten >frühen Neuzeit< - als jener Zwischenepoche nämlich, die zwischen den ersten Umbruchserfahrungen und der reflexiven Bestimmung der Epoche als eigenständiger Neuzeit angesichts der Beschleunigungserfahrung der Modernisierung liegt. Um 1800 begreift man sich als neue Epoche seit 1500. Aus diesem Grund gehören Rückprojektionen zum intrinsischen Bestand der Neuzeit. Daß die deutschen Idealisten Descartes zu ihrem 24

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Vgl. bes. R. Koselleck, »Wie neu ist die Neuzeit?«. In: Historische Zeitschrift 256 (1990); vgl auch ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 1989. weiter: J. Burkhardt, Artikel >Frühe Neuzeitantimodernen< Elemente als innerneuzeitlich zu akzeptieren. Was Telesio angeht, so nimmt er eine paradoxe Stellung in diesem Zwiespalt ein: hat er doch zu den Heroen der homines novi gezählt und sich dennoch, anders als Descartes, völlig aus der aristotelischen Position heraus entwickelt und definiert. Telesio ist trotz seiner Aristoteles-Kritik ein genauer Kenner der aristotelischen Philosophie gewesen; das hat ihm sein aristotelischer Kollege Vincenzo Maggi bestätigen müssen, dem er sein Werk vor der 26

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Vgl. D. Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie. In: Subjektivität und Selbsterhaltung. Hg. von G. Ebeling. Frankfurt 1976. S. 97-121. D. Henrich, Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit. In: Geschichte - Ereignis und Erzählung. (Poetik und Hermeneutik Bd. 5). Hg. von R. Koselleck und W. D. Stempel. München 1973. S. 456-463. D. Henrich, Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung. In: ders., Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie. Stuttgart 1982. S. 109130. Vgl. W. Hübener, Selbstermächtigung oder Selbstentmächtigung? Zur Geschichte des Subjektparadimas. Vortrag, gehalten an der Universität München am 19. 5.1988. Ms.

18 Veröffentlichung vorgelegt hat. Ebenso ist Telesios Begriff der Selbsterhaltung zwar erstmals der kommende Zentralbegriff im Mittelpunkt einer Theorie, dennoch läßt er sich - wie zu zeigen ist - nicht anders denn auf dem Hintergrund der Tradition beschreiben. Und Telesio ist auch kein Prophet für ein ermächtigtes Subjekt: die unmittelbaren Folgelasten zeigen, im Gegenteil, ein von Natureinflüssen bestimmtes Menschenbild, in dessen alteratio es schwierig wird, überhaupt für die Identität eines >Subjekts< aufzukommen. Man wird deshalb einen Teil des Rechtfertigungsdruckes auf die Renaissancephilosophie in epoché halten müssen, wenn man die Frühgeschichte des Selbsterhaltungsbegriffes adäquat beschreiben will. Es muß viel von der Macht des traditionellen Diskurses gegenüber einzelnen Innovationen gesprochen werden, und es ist nicht auszuschließen, daß es auch konservative Kräfte wie die zur Gegenreformation ausholende katholische Kirche sein können, die in der nicht vorhersehbaren Logik von diskursiven Formationen eine Beförderung von modernen Konzepten bewirkt haben. Wir wollen der Versuchung widerstehen, Telesios Geschichte als Heroengeschichte zu erzählen. Nicht nur, daß Telesio der Erfolg eines Descartes versagt blieb: auch seine innovative Abweichung ist wegen ihrer Nähe, nicht wegen ihrer Ferne, zu Entwicklungstendenzen des allgemeinen naturphilosophischen Diskurses der Renaissance interessant. Im 16. Jahrhundert ist conservatio sui kein Begriff, der unbedingt in den Indizes der naturphilosophischen Werke zu finden wäre; er ist auch nicht Gegenstand ausgedehnter Kontroversen. Vielmehr beginnt seine Konjunktur eher unbemerkt, im Zusammenhang mit manchen anderen konzeptionellen Verschiebungen, durch die er ganz langsam ins Zentrum gerückt wird. Aber eine Konjunktur muß nicht auf einer Antikenrezeption begründet sein; so unzweifelhaft Selbsterhaltung ein vornehmlich stoischer Gedanke ist, so wenig folgt daraus für die geistesgeschichtliche Bestandsaufnahme. Eine mit Günter Abels Stoizismus und frühe Neuzeit vergleichbare Monographie über neustoische Konzeptionen - nun nicht im Bereich von Ethik und Politik, sondern von Naturwissenschaft und Naturphilosophie - steht noch aus, und das aus verschiedenen Gründen; nicht nur bleibt die StoaRezeption in der Naturphilosophie im Vergleich mit der ethisch-politischen Wirkung eines Lipsius merkwürdig diffus und unbestimmt. Vielmehr hätte die Forschung hier auch eine unübersichtlich große Bandbreite indirekter Traditionswirkung zu berücksichtigen, von der Überlieferung der griechischen Pneumatiker-Schule im Werk von Galen über fragmentarische Stoikersegmente in Renaissanceausgaben antiker Autoren bis zu ungeklärten Einwirkungen humanistisch und philologisch vereinnahmter Werkkomplexe wie dem Ciceros auf na-

19 turwissenschaftliche Autoren. 28 Zumindest bis zu Lipsius' Physiologia Stoicorum von 1604 bleibt die stoische Naturphilosophie zu wenig detailliert greifbar, als daß sie mehr als nur Umakzentuierungen im aristotelisch geprägten Wissenschaftsparadigma hätte verursachen können. Ein Theoretiker wie Giovanni Argenterio sagt 1556 zum Wert stoischer Konzepte für sein Anliegen, man müsse sie, da die Bücher der Stoiker verloren sind, aus Galen extrahieren, aber sie seien dort eher fabulös als empirisch und rational begründet. 29 Um es radikaler auszudrücken: Diltheys Vorstellung von einer >stoischen< Tradition, die von Vives über Telesio und Bruno zu Spinoza führe, 30 ist eine Fiktion, die nie Realität war.31 Soweit die Ideengeschichte des Selbsterhaltungsbegriffs sich an dieser Fiktion orientiert hat, muß sie völlig umdenken; die Naturphilosophie der Renaissance ist allenfalls quasi-stoisch. Aber auch das Bild von einer renais28

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In diesem schwierigen Forschungsfeld, in dem vor allem mit Briefquellen gearbeitet werden muß, wäre beispielsweise die Wirkung von Justus Lipsius auf die Naturwissenschaftler der jungen Accademia dei Lincei zu untersuchen. Vgl. dazu S. de Renzi, »II progetto e il fatto. Nuovi studi sull' Accademia dei Lincei«. In: Intersezioni 9 (1989). S. 501-517. Bes. 512f. G. Argenterio, De somno et vigilia. Florenz 1556. S. 269: »Ac quoniam non extant stoicorum libri, ex quibus elicere possimus, qualis fuerit eorum de hac re opinio, Galenum excutiemus, qui meo quidem iudicio, illos prorsus sequutus videtur, dum fabulosa quaedam potius quam rationi, et sensibus consentanea, aliter quam consueverit facere, passim de hac re tradit.« Vgl. W. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. 9. Aufl. Göttingen 1970. Z.B. S. 284f.: »Die Weltseele, der durch das Universum ausgebreitete beseelte Äther oder der beseelte Wärmestoff war der Mittelpunkt der Spekulationen der Renaissance in Cardano und Telesio. So gelangte das metaphysische Denken der Renaissance zu seinem Höhepunkt in dem pantheistischen Monismus von Giordano Bruno, Spinoza und Shaftesbury. Die Bejahung des Lebens, der Natur und der Welt, welche die Renaissance ausspricht, wird in dem pantheistischen oder panentheistischem Monismus dieser drei Denker zur metaphysischen Weltformel. Und auch darin ist nun dieser pantheistische Monismus Renaissance, italienische, niederländische, englische Renaissance, daß sie von der antiken philosophischen Tradition, insbesondere Lucrez, der Stoa und dem stoisch gefärbten Neuplatonismus völlig erfüllt und durchdrungen ist. In der Kombination der Arbeiten von Telesio, Giordano Bruno, Hobbes, Geulinx, Spinoza und Shaftesbury ist ein Vorgang von wahrhaft dramatischem Zusammenhang enthalten, welchem auf dem Grunde der antiken Tradition in Zusammenhang mit der modernen Kultur und dem Naturwissen zu erfassen eine hinreißende Aufgabe ist.« Zu Diltheys Beschäftigung mit der Renaissance und mit Telesio vgl. allg. den Beitrag von A. Orsucci in: Cultura napoletana. S. 417-430. Vgl. W. Dilthey, ebd. bes. 416ff.; aber weder hat sich bisher eine Vives-Lektüre von Telesio nachweisen lassen, noch ist, wie sich zeigen wird, der Brunosche Spiritus-Begriff originär telesianisch, noch hat man in der Spinoza-Literatur auf einer Genalogie von einer stoischen Renaissance her bestanden. Viele Konzepte, die Dilthey als in dieser fiktiven oder überschätzten Tradition überliefert sieht, waren allein schon durch die andauernde Präsenz des Galenismus in der Medizin ständig verfügbar.

20 sancephilosophischen Entwicklung hin zum Pantheismus, wie es neben Dilthey auch durch den Bogen von Cusanus zu Bruno, den Cassirer spannt, nahegelegt wird, und an dem sich noch Blumenberg in gewisser Weise orientiert, 32 ist zu relativieren, denn es ist nur sehr eingeschränkt gültig. Die Philosophien sowohl von Cusanus als auch von Bruno sind zwar bedeutend, aber beide befinden sich, das darf man nicht verkennen, nicht einfach im wirkungsgeschichtlichen Zentrum des philosophischen Diskurses der Renaissance. 33 Die Diskussion über Selbsterhaltung hat in Deutschland mit den Beiträgen von Robert Spaemann, Dieter Henrich, Hans Blumenberg und Günther Buck ein beachtliches theoretisches Niveau erhalten. 34 Diese Debatte besaß allerdings immer eine gewisse Schwäche in der historischen Grundlage der Argumentation, insbesondere für die Vorund Frühgeschichte des neuzeitlichen Selbsterhaltungsbegriffes; die Interessen an dem Konzept sind bekanntlich sehr unterschiedliche: Spaemann geht es um eine Diagnose der Neuzeit, die durch eine I n version der Teleologie< gekennzeichnet ist; Henrich möchte in Korrektur und Konkurrenz zu Heidegger eine Modernitätsgeschichte skizzieren, die nicht nur an einem reflexiven Selbstbewußtseinsbegriff orientiert ist, sondern noch einen anderen, mit dem ersten nicht identischen Strang enthält: den der Selbsterhaltung, der ein nichtreflexives Vertrautsein mit sich voraussetzt; Blumenberg schließlich hat sein Interesse an einer Neuzeit, die ihre Legitimation in sich selbst hat und sich nicht als bloße Säkularisierung beschreiben muß. Gerade wegen dieser weitreichenden Interessen, die eine historische Beschreibung übersteigen und auch vernachlässigen lassen, hat sich die Debatte nie völlig von den Diltheyschen Thesen lösen können, so sehr sie Kritik, Präzisierungen und neue Gedanken hinzugefügt hat. Auch Blumenberg, der mit vornehmlich theologischen Erwägungen, nämlich dem Kontrast des nominalistischen Voluntarismus, ein anderes Profil gegen das Diltheysche aufbaut, bleibt in negativer Beziehung an Dilthey gebunden und überspringt mehr die Epoche der Renaissance, als daß 32

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Vgl. H. Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle. Nolaner und Cusaner. (= Die Legitimität der Neuzeit, Teil 4). Frankfurt 1976. Zur Rezeptionsgeschichte von Cusanus in der Renaissance vgl. St. Meier-Oeser, Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Münster 1989. Vgl. R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon. Stuttgart 1970. S. 50; D. Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie; ders., Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung; H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution neuzeitlicher Rationalität, in: Subjektivität und Selbsterhaltung. Hg. von G. Ebeling. Frankfurt 1976. S. 144-207; ders., Die Legitimität der Neuzeit. 2. Auflage Frankfurt 1976; G. Buck, Selbsterhaltung und Historizität. In: Geschichte - Ereignis und Erzählung. S. 2 9 - 9 4 .

21 er für sie ein alternatives Bild anbietet. Die theologische Perspektive nämlich bleibt für die italienische Renaissancephilosophie - aus institutionsgeschichtlichen Gründen - bei eher dürftigen Resultaten. Man kann, das ist deutlich zu sagen, eine historisch adäquate Vorgeschichte des neuzeitlichen Sebsterhaltungsbegriffs nicht anders schreiben als auf der Basis der Entwicklungen in der aristotelischen Renaissancephilosophie und -naturwissenschaft. Das bedeutet keinesfalls, daß der Begriff der Selbsterhaltung genuin aristotelisch sei. Aber allein die Transformationsgeschichte des Gesamtrahmens vom Wissen der Natur im 16. Jahrhundert kann seine spezielle Begriffskonjunkur erklären; und die Transformationsgeschichte spielt sich auf der Basis eines in sich vielfältigen und vielschichtigen, aber als Ganzem noch alternativenlosen Aristotelismus ab. Ohne den Sinn einer detaillierten Studie über Stoa-Einflüsse leugnen zu wollen, scheint mir der Weg über die breite, paradigmatische Tradierung von Naturwissen nicht nur vielversprechender, sondern auch unverzichtbar zu sein: die Betrachtung jener Elemente im Aristotelismus und Galenismus des 16. Jahrhunderts ist vorzunehmen, die in ihren möglichen Umbesetzungen und Verstärkungen zu einer quasi-stoischen Naturauffassung in der frühen Neuzeit beitragen konnten. Wenn man dann, mit Abel, von stoischen Interpretamenten in der traditionellen Philosophie spricht, ist das ein angemessen vorsichtiger Ausdruck. 35 Ein neben der Selbsterhaltung weiterer Aspekt, den man h a n delnde Natur< nennen könnte, weist auf eine Problematik hin, die die ganze Untersuchung durchziehen wird, die aber mit >beseelter Natur< gerade unrichtig beschrieben wäre: es geht um den Rahmen einer aktiven Naturauffassung in der Renaissancephilosophie, die in ihrer späteren Entwicklung Allianzen mit einer Handlungsmetaphysik eingehen kann. Die Termini sind freilich noch genau zu klären, und zwar in einer Weise, die ohne beliebte Schematisierungen wie die des >Animismus< auszukommen vermag. So wird sich beispielsweise zeigen, daß bei Telesio der Naturbegriff nur im Dualis denkbar ist, als die naturae agentes, die beiden handelnden Naturen, und daß diese folgenreiche Dualisierung mit einer Abwehr einer auf den Begriff >Seele< zugeschnittenen Aktivitätsauffassung einhergeht. Erst wenn diese Stoßrichtung verstanden ist, wird es auch möglich sein, die korrelierte Handlungsmetaphysik bei Campanella in ihrer Neuartigkeit würdigen zu können. Es ist begrifflich nicht einfach, das Konzept von handelnder Natur - in dessen Rahmen auch der Selbsterhaltungsbegriff des 16. Jahrhunderts gehört - und eine mit Affektbegriffen operierende Philoso35

Vgl. G. Abel, Stoizismus und frühe Neuzeit. Berlin 1978.

22 phie so zu beschreiben, daß eine Reduzierung auf anthropomorphe Termini vermieden wird. Diese Schwierigkeit kann nur umgangen werden, indem man die theoretischen Konzepte innerhalb von diskursiven Formationen lokalisiert, welche ihrerseits bestimmte Zuweisungsregeln haben. Mit diskursiven Formationen meine ich Gebilde, die theoretische Gegenstände, Sichtweisen, Schematisierungen und Ausgrenzungen erst möglich machen; so werden beispielsweise über das Konzept der sympathia Zuordnungen von affektiven und von elementarischen Bereichen möglich, ohne daß man von einer intendierten Reduzierung des einen auf den anderen sprechen könnte. Die Gegenstände werden anders subsumiert, als es uns geläufig ist, spezifische Relationen werden wahrgenommen, die uns als fremdartig erscheinen und innerhalb unserer wissenschaftlichen Disziplinenstruktur nicht zulässig sind. Renaissancephilosophie, diese Überzeugung ist hier Prämisse, kann wegen ihrer Alterität zur modernen Denkform nur mit einem hohen begrifflichen Aufwand verstehbar gemacht werden; alle Versuche, ihre Ausprägungen unter gängige Schemata zu subsumieren, müssen das Verstehen um jenes etwas verfehlen, das das Ganze ist. Eine Rezeptionsbehauptung berührt nicht einmal im Ansatz die Fragen, die sich daraufhin stellen, in welcher Weise Renaissancetexte mit überkommenen Vorlagen umgegangen sind. Aber darüber hinaus sei noch einmal gesagt: Telesios Zeitgenossen haben bei der Lektüre seiner Schriften nicht mit der sofortigen Assoziation >Stoa< reagiert. Vielmehr sind sie bei der Suche nach Parallelen bei den Alten am ehesten - allen voran Patrizi - auf Parmenides verfallen, eine Schematisierung, die noch Brucker übernimmt. 36 Nur selten fällt ein Hinweis auf die Stoa, wie ihn Andrea Chiocco in seiner Telesio-Kritik macht: »Diese Ansicht ist wirklich ganz frei gewählt, allerdings zu seinen Lehren passend, der er diesen spiritus animalis gelehrt, einsichtig und hochintelligent macht, so daß er, wie die Stoiker in den Makrokosmos jene alte weissagende Pronoia, die alle Dinge auf das einsichtigste voraussieht, eingeführt haben, den spiritus animalis des Mikrokosmos als vorsorglichen und auf das höchste der Vernunft teilhaftigen Führer und entworfen haben wird.« 37 36

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J. Brucker, Historia critica philosophiae. Leipzig 1742-1744; 2. Aufl. 17661767. Ndr. Hildesheim 1975. Bd. IV. A. Chiocco, Quaestionum philosophicarum et medicarum libri tres. Verona 1593. S. 130f.: »Quae sane omnis voluntaria est sententia, suis tarnen decretis consentanea, qui spiritum hunc animalem doctum, solertem, et maxime intelligentem facit, ut quemadmodum in mundo magno anum illam fatidicam pronoian omnibus rebus solertissime providentem invexerunt Stoici, sic parvi mundi spiritum animalem tanquam ducem providum, et rationis ut cum maxime compotem constituent.«

23 3. Rationalität in der Renaissance Es hat sich als nicht fruchtbar erwiesen, das Renaissancedenken in einer Retrospektive von modernen Unterscheidungen aus als ein Ineinander von fortschrittlichen und von magischen, von rationalen und irrationalen Bestandteilen anzusehen. Dieser lange Zeit geltende Blick, der mit einem Modernisierungspathos das Reine vom Unreinen trennt, hat viele Zusammenhänge verkannt, die für die Genese der frühen Neuzeit essentiell sind. Ihn hat Foucault so beschrieben: »II nous semble que les connaissances du XVIe siècle étaient constituées d'un mélange instable de savoir rationnel, de notions dérivées des pratiques de la magie, et de tout un héritage culturel dont la redécouverte des textes anciens avait multiplié les pouvoirs d'autorité.« 38 Ich will nun nicht Foucault darin folgen, aus diesem Fehlansatz die Konsequenz zu ziehen, man müsse eine einzige episteme rekonstruieren, aus der die Einheit des Wissens in der Renaissance begreifbar werde; aber ich stimme mit ihm darin überein, daß die Frage nach der Rationalität der Renaissancephilosophie 39 nur als Frage nach spezifischen Denkstilen und spezifischen Argumentationsmodellen gestellt werden kann. Will man bestimmte Renaissancephilosophien nicht einfach als Melange ansehen zwischen disparaten Momenten, 40 dann muß man sich von zwei liebgewordenen Vorstellungen trennen. Erstens scheint es heute nicht mehr möglich zu sein, die renaissancephilosophische Entwicklung wie Cassirer am Leitfaden einer Geschichte des Erkenntnisproblems zu rekonstruieren. Dieses Unternehmen war schon bei seinem Entstehen ein, wie Blumenberg formuliert hat, »monumentaler historischer Nachruf« 41 auf eine neukantianische Thematik und ist von Cassirers eigener Entwicklung relativiert worden. Um Projektionen in die Epoche vor Descartes zu vermeiden, hat man alle Thesen, auch solche über die Bedingungen von Erkenntnis, nach der Logik 38

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M. Foucault, Les mots et les choses. Paris 1966. Dt. Ausg.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt 1971. S. 63. Zur neueren Diskussion über diese Frage nenne ich nur die Sammelbände: Reason, Experiment and Mysticism in the Scientific Revolution. Hg. von M. L. Righini Bonelli und W. R. Shea. New York 1975 sowie: Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance. Hg. von B. Vickers. Cambridge 1984. So auch N. Badaloni, Campanella. Milano 1965. S. 347, der gegen die Ansicht des Denkens um 1600 als irrational oder unwissenschaftlich dieses als »confuso crogiuolo del nostro moderno modo di pensare« bezeichnet, in dem Wissenschaft, Religion, Technik und soziale Gerechtigkeit eine frühe Synthese versuchen. H. Blumenberg, Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg. In: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart 1981. S. 163-172. Hier S. 164.

24 und den Regeln der jeweiligen Diskursformation zu beschreiben; dann kann die Rede über Erkenntnis auf einmal einen Exkurs in die Theorie des Lichtes oder die des Magnetismus notwendig machen. Die Frage nach der Erkenntnis muß nicht die Leitfrage für philosophische Rekonstruktionen des Renaissancedenkens bilden, auch dann nicht, wenn die Ergebnisse dieser Rekonstruktion sich auf Erkennen beziehen. Zweitens, und damit zusammenhängend, wird man die Theorien der Renaissance nicht im Rahmen einer Rekurrenzgeschichte beschreiben können. Eine rekurrente Geschichte der Wissenschaft nimmt den gegenwärtigen Stand des Wissens zum Maßstab, um die vorausgegangenen Theorien in ihrer Abfolge nach dem zu bewerten, was diese zur Akkumulation des gegenwärtigen Wissens beigetragen haben. So entsteht dann eine Geschichte von einzelnen Entdeckungen, die nicht oder nur verzerrt die Dynamik des intellektuellen Prozesses bis zur Gegenwart wiedergibt. Die relativen Leistungen von Entwicklungen, die neue Horizonte eröffnet haben, dann aber überholt worden sind, tauchen hier nicht auf. Aber wie soll man philosophiehistorisch reden, wenn man von engen Beziehungen philosophischer Argumente an temporäre Wissenschaftsentwicklungen, an wissenschaftliche Ideologien ausgeht? Wie soll man die Wahrheitsansprüche dieser Argumente beurteilen, wenn sie auf unterschiedliche Denkformen bezogen sind? Natürlich muß man sehr vorsichtig damit sein, von verschiedenen Stilen wissenschaftlicher Rationalität zu reden. Die Verwendung dieses Begriffes sollte keinen strikten Sinn eines echten Relativismus beinhalten. Das ist auch nicht notwendig. Es genügt, einen solchen Stil - oder eine Diskursformation, in einem sehr allgemeinen Sinn des Wortes - als denjenigen Horizont zu begreifen, in dem bestimmte Wahrheitsansprüche überhaupt möglich waren, innerhalb dessen bestimmte Theorien und Thesen sinnvoll waren. Ian Hacking hat sich bemüht zu zeigen, daß, wenn man die Bestimmung eines Begriffsschemas nicht an das Für-wahr-Halten bestimmter Aussagen, sondern das Für-wahroder-falsch-Halten solcher Aussagen knüpft, die Konzeption eines solchen Horizontes einsichtig wird.42 In nicht unähnlicher Weise plädiert auch Georges Canguilhem für eine nichtrelativistische Wissenschaftsgeschichte, die dennoch fähig ist, die Geschichte und Relevanz von überholten und abgelegten Stilen und Segmenten zu integrieren. Denn nach Canguilhem haben sich die Verifikationsweisen verändert, die durch die Stile bestimmt sind. Und so wie eine allgemeine Ge42

Vgl. I. Hacking, Styles of Scientific Reasoning. In: Post-Analytic Philosophy. Hg. von J. Raijchman und C. West. New York 1985. S. 1 4 5 - 1 6 5 .

25 schichte als Geschichte vergangener Zustände ohne die perspektivische Berücksichtigung, daß auch diese Zustände ihre spezifischen Zukünfte - Erwartungen - und Vergangenheiten hatten, unvollständig ist, so ist auch eine Wissenschaftsgeschichte ohne die Berücksichtigung der spezifischen Verifikationsweisen unvollständig. »Eine Wissenschaftsgeschichte, die eine Wissenschaft in ihrer Geschichte als eine ausgearbeitete Purifikation der Normen der Verifikation behandelt, kann nicht anders, als sich auch mit wissenschaftlichen Ideologien zu beschäftigen. Das, was Gaston Bachelard als Geschichte der verfallenen Wissenschaften und Geschichte der bestätigten Wissenschaften unterschied, muß zur gleichen Zeit getrennt und miteinander verschlungen sein. Die Bestätigung der Wahrheit oder Objektivität trägt in sich selbst die Verdammnis zum Verfall. Aber wenn das, was später verfallen sein muß, sich nicht erst zur Bestätigung anbietet, hat die Verifikation keinen Ort, die Wahrheit erscheinen zu lassen.«43 Nur eine Philosophiegeschichte, die sich der Projektion einer Absonderung metaphysischer Theoriebildung von der empirischer Theorien in die Frühneuzeit bediente, könnte diese wissenschaftshistorischen Probleme ignorieren - um den Preis einer unhistorischen Verengung des Philosophiebegriffs. Statt dieser Verengung soll hier ein différentielles Bild vormoderner Stile, Leitevidenzen und Kontexte im Zusammenhang mit philosophischen Innovationen, die für die Neuzeit von Relevanz gewesen sind, gegeben werden. Um die Innovationen beschreiben zu können, bedarf es einer Basis der Beschreibung. Diese Basis ist dieselbe, von der sich die Innovationen definiert und abgesetzt haben. Man kann deshalb die philosophischen Neuerungen als Transformationsarbeit verstehen - als eine Antwort auf eine situationsbedingte Herausforderung, die ausgehend vom vorgegebenen diskursiven Rahmen Veränderungen erarbeitet, die der Herausforderung besser entsprechen. Gelegentlich werde ich dort, wo es mir nötig erscheint, die gegenüber einer reinen Ideengeschichte etwas abstraktere Perspektive einer historischen Semantik einnehmen. Ich werde dann von Bedeutungsverschiebungen und semantischen Umschlagseffekten reden, weil bei einer bloßen Sichtung von Ideen und Theorien die Pointe dieser Theorien dem Betrachter entgehen würde. Bedeutungsverschiebungen sind für wissenschaftlichen und philosophischen Wandel ein bekanntes, gleichwohl aber schwieriges Phänomen. Man ist sogar soweit gegangen, dieses Phänomen als Grund für eine völlige Inkommensurabilität von Theorien und Paradigmen anzuse43

Ich übersetze aus G. Canguilhem, Qu'est-ce qu'une idéologie scientifique?. In: ders., Idéologie et rationalité dans les sciences de la vie. Paris 1977. S. 44f.

26 hen. 44 Im Hintergrund steht dabei eine totale Kontextabhängigkeit von Bedeutungen innerhalb der Theorien. Diese Auffassung muß nicht in dieser Radikalität verteten werden, es lassen sich am historischen Material genügend begrenzte Schwierigkeiten für ein Verstehen von neubesetzten Termini auffinden. 45 Man kann die Transformationsarbeit der Renaissancephilosophen als einen Versuch ansehen, Rationalität zu bewahren, indem man einen revolutionären Übergang vom aristotelischen Paradigma zu anderen Formen der Naturerklärung vermeidet. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit okkulten Qualitäten und metaphysischen Erklärungsweisen gewesen. Mir scheint deshalb auch das evolutionäre Modell einer Wissensentwicklung 46 für den hier an44

45

46

Ich meine die Diskussionen seit N. Hansons »Patterns of Discovery«, D. Shaperes »Meaning and Scientific Change« und P. Feyerabends Arbeiten. Richard Rorty hat in seinem Buch »Philosophy and the Mirror of Nature«. Princeton 1979. Kap. VI. eine sicherlich tendenziöse, aber sehr interessante Rekapitulation dieser Diskussion gegeben. Vgl. die Differenzierungen, die K. Stierle für Bedeutungswandel und Bedeutungsverschiebungen anbringt: Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung. In: Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Hg. von R. Koselleck. Stuttgart 1975. S. 154-192; hier S. 183: »Je kohärenter die Diskursgemeinschaft ist, je differenzierter ihre Diskurse, desto spezifischer muß das Wissen sein, das für die einzelnen Bedeutungen des Diskurses einzubringen ist. [Dieser Gedanke wird eine Rolle spielen, wenn es darum geht zu zeigen, daß die telesianische Balance von Bedeutungen in der späteren Rezeption nicht mehr verstanden und vereinseitigt wird.] Der Diskurs ist der Ort, wo ein neues Wissen artikuliert und zugleich im Bezug zu einem vorgängigen Wissen gesetzt wird, das vermittels der Wortbedeutung selbst präsent zu halten ist. Das in der Sprache schon investierte Vorwissen ist Bedingung des im Diskurs artikulierten und geordneten Wissens. Die Frage aber, welches Vorwissen genau ins Spiel zu bringen ist, läßt sich nur durch den Kontext annähernd, aber nie endgültig beantworten. Letzten Endes ist der Austausch von Vorwissen und Wissen ebenso unabschließbar wie der semiotische Prozeß des Diskurses selbst, in den der Leser hineingezogen wird. Bedeutungsgeschichte als Geschichte der vom Diskurs vorausgesetzten und im Diskurs verankerten neuen Bedeutung, die ihrerseits wieder zur vorausgesetzten Bedeutung wird, ist unerläßlich für jede historische Wissenschaft, die sich auf Texte bezieht, da ihre Gegenstände auf historisch sich wandelnden Bedeutunen aufgebaut sind.« Vgl. St. Toulmin, Kritik der kollektiven Vernunft. Frankfurt 1978. Zur Kritik an Kuhn vgl. S. 119ff.; Toulmin stellt statt dessen Fragen wie die folgenden (S. 172f): »Was bestimmt die Grenzen einer geistigen Disziplin, und warum gibt es überhaupt abgegrenzte Disziplinen? Welcher Art ist die Ideenvariation, und wie liefert der jeweilige Vorrat an Ideenvarianten das Material für den Wandel der Disziplin? Welche Vorgänge und Verfahren der geistigen Auslese wirken auf einen solchen Variantenvorrat? Über welche Übertragungs- und Fixierungskanäle gehen die ausgewählten Varianten in eine Disziplin ein und verändern den anerkannten Inhalt? Wie wirken Unterschiede des Grades der Isolation und der Konkurrenz auf die geistige Auslese und damit auf die Einheitlichkeit, Eigenart und Entwicklung der geistigen Disziplinen selbst? In was für Umwelten werden geistige Disziplinen betrieben, und wie wirken die ständigen

27 visierten Bereich der Renaissancewissenschaft am angemessensten zu sein: es ist nicht so sehr auf die Antithese von revolutionärer und normaler Wissenschaft angewiesen. Im übrigen schließt eine Transformationsarbeit nicht aus, daß es zu Verschiebungen in der Bedeutung von zentralen Termini kommt, in unserem Fall etwa von sensus, calor oder spiritus. Es kommt darauf an, ob diese Effekte beherrschbar sind, das heißt: ob die Termini, die alten Bedeutungen im Hintergrund, verstanden werden. Beispielsweise betrachte man Formulierungen Campanellas wie die vom >inesse< der Primalitäten im spiritus, der das menschliche Erkennen leite, indem er selbst verändert werde. Welches ist die historische Semantik von solchen Formulierungen? Was ist das insein von Primalitäten? Wie läßt sich die Bedeutung des Terms inesse bestimmen, ohne in die Fallstricke von anachronistischen Projektionen zu geraten? Wie ist es, wenn sich beispielsweise im metaphysischen inesse Campanellas ein Bedeutungskern verbirgt, der Telesios inesse der Wärme in der Materie enthält, ihr subire in den zugrundeliegenden Stoff, um aus ihm etwas zu konstituieren? Wenn dieser Bedeutungskern nicht nur einen Partialfall darstellte, der dann universalisiert und abstrahiert wurde, sondern im Gegenteil die Legitimation und Garantie, nicht in das aristotelische Verhältnis von Form und Materie zurückzufallen? Wenn wiederum Telesios inesse auf jene Konstitutionsleistungen der Wärme verwiese, die in der Diskussionstradition der generatio mixti und der generatio spontanea thematisch sind, auf sie verwiese in einer Weise, daß ohne den Forschungskontext dieser Tradition die Bedeutung kaum eine große Evidenzgrundlage hätte? Dann wäre Philosophiehistorie als Argumentationsgeschichte und historische Semantik darauf verpflichtet, das Geflecht von Bedeutungen und Legitimationen zu rekonstruieren, auf deren Grundlage ein neues metaphysisches Sprachspiel konstruiert wird; gleichsam jene Vorstraßen aufzufinden, die, in Wittgensteins Bild, zum geordneten Neubaugebiet einer Wissenschaftssprache hinführen und auch dessen Straßenführung beeinflussen, aber nicht selbst ein einfacher Teil von ihm sind, auch wenn es nachher so aussehen mag: »Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.« 47

47

Anforderungen dieser Umwelten auf die Vorgänge und Verfahren, mit denen Ideenvarianten beurteilt werden?« Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt 1977. §18.

28 Ein solches Vorgehen muß nicht notwendig Metaphysikkritik bedeuten; aber es impliziert ein Verständnis von Metaphysik, das in Kontakt bleibt mit den lebensweltlichen und wissenschaftlichen Ausgangspunkten von Metaphysik. Das Verständnis von einer Metaphysik, die sich nur dann und erst dann entfaltet, wenn andere Sprachspiele und Verständnisweisen ein intrinsisches Motiv enthalten, das über sie hinausdrängt. Die Legitimität von Metaphysik muß sich daran erweisen, ob dieses Motiv unabweisbar ist, und ob das SichEntfernen von den ursprünglichen Bedeutungen, das die Metaphysik vornimmt, rekonstruierbar bleibt; wo nicht, hat es sich in den Fallstricken von Universalienbildungen und sprachlich bedingten Fehlleistungen verfangen. Es scheint mir eine sehr wichtige Aufgabe zu sein, diese Motivationskontexte für die frühneuzeitlichen Metaphysiken nachzuzeichnen. Gerade auch wenn sich neuzeitliche Rationalität als Selbstlegitimierung verstehen will, darf sie diese Entstehungsbedingungen nicht leugnen und verdrängen. Das gilt für die cartesische Metaphysik ebenso wie für den hier in den Blick genommenen Fall des Verhältnisses von Telesio und Campanella; denn dieser Fall birgt das komplizierte - und sehr neuzeitliche - Verhältnis von Verneinung der Metaphysik und einer Metaphysik, die gerade sich auf diese Verneinung gründen will. Ich werde in den Fallstudien eine Reihe von methodischen Begriffen verwenden, die sich zum Teil an Georges Canguilhem, an Pierre Bourdieu oder an Stephen Toulmin anlehnen; Begriffe, die in der Historiographie der Renaissance nicht eben gebräuchlich sind; aber mir scheint, daß sich nur über die - vorsichtige und maßvolle - Einführung von anspruchsvollen theoretischen Kategorien das Rüstzeug finden läßt, mit dem sich die Prozesse der Renaissancephilosophie beschreiben lassen. Diese Übernahmen sollen nie dogmatisch werden. Sie sind Hilfen an den Stellen, wo mir ein für ein präzises Verständnis notwendiger Begriff zu fehlen scheint. Die von dort übernommene Terminologie bezieht sich vor allem darauf, eine historische Semantik nicht nur als Begriffsgeschichte, sondern als Argumentationsgeschichte zu verstehen. 48 Denn es ist erst der spezifische Gebrauch von Argumenten,49 der festlegt, welchen Sinn und welche Pointe bestimmte Begriffsverwendungen haben. 48

49

Vgl. in diesem Sinne auch H. Schultz, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte. In: Historische Semantik und Begriffsgeschichte. S. 4 3 - 7 4 ; Schultz plädiert für eine Erweiterung der Begriffsgeschichte auf ganze Sektoren von Sprache, um die Dynamik der Begriffe besser beschreiben zu können. Vgl. das grundlegende Buch von St. Toulmin, The Uses of Argument. Cambridge 1958.

29 Um die Komplexität der Fragestellung etwas zu verdeutlichen: das Problem des >Animismus< im 16. Jahrhundert ist nicht, daß für Lebewesen eine besondere Lebenskraft angenommen wird, sondern daß dieses explanatorische Prinzip auf den Bereich aller Dinge ausgeweitet wird. 50 Andererseits werden bestimmte begriffliche Neuerungen in der frühen Neuzeit gerade durch Reduktionismen möglich. Eine Beurteilung des rationalen Gehaltes philosophischer Theorien kann sich also weder auf ein Verdikt noch auf eine apriorische Affirmation eines universalen Seelenprinzips berufen; es ist nur möglich, die Argumentationen mit ihren Absicherungen zu vergleichen, ihre Pointen zu notieren, sie gegen ihre Folgelasten abzuwägen; die Beurteilung ist nur als komparative möglich. Das klassifizierende Abwägen ist zunächst ein solches post festum, in der Distanz der historischen Analyse. Aber man muß davon ausgehen, daß auch im praktischen Verhalten des Theoretikers im 16. Jahrhundert solche komparativen Leistungen vorliegen - freilich ohne das Privileg der Distanz und einer Logik der Praxis folgend. Es ist deshalb immer auch nötig, die von der wissenschaftlichen Erkenntnis implizit angewandte Theorie der Praxis ans Licht zu ziehen.51 Eine solche Praxis sind etwa die Abwägungen gewesen, ob man eine Theorie als Aristoteleskritik präsentieren sollte, oder ob man statt dessen versuchte, noch einmal mit einer geschickten Zusammenstellung von Zitaten die Innovation in den Rahmen des Aristotelismus zu zwängen. Die Folgen konnten sehr unterschiedliche sein. Oder man hatte abzuwägen, ob man eine Theorie in Richtung eines bestimmten Diskurses uminterpretieren sollte, um mit neuen Argumenten in diesen Diskurs eingreifen zu können. Dann schlug man etwa aus einem naturphilosophischen Theorem theologische Funken. Das sind keinesfalls nur Fragen der Simulation und Dissimulation, die man im Zeitalter der Gegenreformation zu 50

51

Vgl. auch G. Bachelard, D i e Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. 2. Aufl. Frankfurt 1984. Kap. VIII. P. Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretschen Vernunft. Frankfurt 1987. Bourdieu hat mit der Theorie des sens pratique eine Erweiterung des Wittgensteinschen Konzeptes vom Witz eines Sprachspiels auf das soziale Spiel erreicht, die auch für das soziale Spiel der wissenschaftlichen Praxis anwendbar ist. Zum >Privileg der Totalisierung< im Klassifizieren vgl. S. 147ff.; manche der Theoreme Bourdieus lassen sich auch auf den Charakter des Renaissancedenkens als solchen applizieren. Wenn man das >Ähnlichkeitsdenken< vieler Renaissancephilosophien etwa von der praktischen Logik des innovativen Wissenserwerbs im 16. Jahrhundert rekonstruieren will, dann wird man Ähnlichkeit als etwas verstehen müssen, das nicht einer Klassifizierung aus der Distanz unterliegt, sondern aus der zeitgebundenen Logik praktischer Involviertheit folgt. Das Ahnlichkeitsdenken wäre dann ein unmittelbarer Ausdruck des Entstehungscharakters der neuzeitlichen Empirie.

30 beachten lernte; nein, es sind Fragen wissenschaftlicher Praxis, die sich auch heute stellen, besonders aber immer dann relevant sind, wenn eine wissenschaftliche Weltsicht im Umbruch ist. Halten wir fest: Es ist notwendig, die theoretischen Veränderungen als Prozeß einer Transformation zu begreifen, um sie als rationale Abweichungen aus diskursiven Erfordernissen darstellen zu können. Und es wird geboten sein, die Bedeutungen der sich verändernden Theorien im Kontext der Praktiken des theoretischen Verhaltens zu studieren, um die Pointen ihrer Begriffe beschreiben zu können. Beides soll in den folgenden Abschnitten für die Situation der Renaissance konkretisiert werden.

4. Transformation des Aristotelismus Charles Lohr hat in einem 1988 veröffentlichten Aufsatz 52 die Rehabilitierung des Renaissancearistotelismus, die Charles B. Schmitt erreicht hat, 53 in einem entscheidenden Sinne verschärft. Schmitt hatte die innere Diversität und Dynamik des Aristotelismus wieder zur Geltung gebracht; Lohr hat nun, unabhängig von der umstrittenen Randall-These über die Bedeutung des Aristotelismus für die neuzeitliche Wissenschaft, 54 eine historische Hypothese geliefert, nach der ein bestimmter Konflikt zwischen Philosophie und Kirche am Beginn des 16. Jahrhunderts die Weichen gestellt hat für die Möglichkeit der 52

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54

Ch. Lohr, The Sixteenth-Century Transformation of the Aristotelian Natural Philosophy. In: Aristotelismus und Renaissance. In memoriam Charles B. Schmitt. Hg. von E. Keßler, Ch. H. Lohr und W. Sparn. Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Studien Bd. 40). S. 8 9 - 9 9 ; die These ist in einen weiteren Zusammenhang eingefügt in Lohrs Artikel »Metaphysics« in der Cambridge History of Renaissance Philosophy. Hg. von Ch. Β. Schmitt, Q. Skinner, E. Keßler und J. Kraye. Cambridge 1988. S. 3 3 7 - 6 3 8 . Vgl. Ch. Β. Schmitt, Aristotle and the Renaissance. Cambridge, Mass. 1983, sowie zahlreiche andere seiner Bücher und Aufsätze. Schmitt hat vor allem folgende vier Punkte herausgestellt (S. 7): »(1) that the study of Aristotle during the Renaissance was not merely a blind continuation of the Aristotelianism of the Middle Ages; (2) that the works of Aristotle and his later followers continued to influence - and frequently in a positive and progressive way some of the key and forward-looking thinkers of the Renaissance; (3) that the Aristotelianism of the fifteenth, sixteenth, and seventeenth centuries had an internal development of its own, and was itself dependent upon external influences for its own continuating efficiacy; (4) that, contrary to general opinion, there was a great diversity of attitudes, methods, and dependences upon the corpus Aristotelicum among the Aristotelians themselves during the Renaissance.« J. H. Randall, The School of Padua and the Emergence of Modern Science. Padua 1961.

31 Transformation 55 des Aristotelismus in die neuzeitliche Naturwissenschaft. Der Hintergrund dieser Hypothese ist insbesondere das historische Faktum der erfolgreichen jesuitischen Wissenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts, die trotz einer theologisch-philosophischen Ausrichtung des Ordens am Aristotelismus den Freiraum hatte, sich entschieden jeder Innovation zu öffnen. Dieser Freiraum ist, so Lohr, in der Affäre um Pomponazzi 56 und dessen Argumentation gegen die Unsterblichkeit der Seele entstanden. 57 Dort hatte ein bestimmender Teil der Kirche Pomponazzi gegen jene Aristoteliker unterstützt, die die Unsterblichkeit aus einem platonisierenden Aristotelismus heraus beweisen wollten, aber nur, um eine strikte Ausdifferenzierung voranzutreiben: philosophische Probleme werden an eine scholastische Metaphysik - etwas später Ontologie genannt - delegiert, der Bereich der Natur dagegen kann metaphysikfrei behandelt werden, die Aussa55

Dabei ist diese Transformation natürlich nur eine innerhalb der longue durée von Transformationen, die der Aristotelismus überhaupt in seiner Geschichte durchgemacht hat. Für diese Gesamtgeschichte, vor allem aber die Zeit der Spätantike, vgl. den Band »Aristotle Transformed«, hg. von R. Sorabji. London 1989. Es bleibt ein Desiderat, die komplexe Transformation des Aristotelismus über eine detaillierte Rezeptionsgeschichte der griechischen Aristoteleskommentatoren in der Renaissance mit der nicht minder komplexen Transformation des Aristotelismus im 16. Jahrhundert in Verbindung zu bringen. Ich bin mir bewußt, daß ein Manko der vorliegenden Arbeit ist, die Rezeption der griechischen Kommentatoren, aber auch die von Averroes und Avicenna, nicht in der Ausführlichkeit berücksichtigt zu haben, die sie verdienen würde. Die Ausgaben etwa von Alexander, Themistius, Simplicius oder Philoponos sind im 16. Jahrhundert als aktuelle und wegweisende Texte gelesen worden; sie sind zweifellos auch Anregungen für Innovatoren wie Telesio gewesen. Doch muß hier abgewartet werden, bis die Forschung das Feld sondiert hat.

56

Vgl. auch Keßlers ähnlich hohe Bewertung dieser Affäre in seinem Artikel »The intellective soul« in der Cambridge History of Renaissance Philosophy. S. 485-534. Lohr, The Sixteenth-Century Transformation. S. 99: »Although the debate was between two divergent conceptions of reality and between the two divergent conceptions of society they reflected, men like Pomponazzi wanted to conduct the discussion in terms of the correct understanding of Aristotle's doctrine. Against the notions of infinity and creation which the Scholastics had introduced into their Aristotelianism, the secular Aristotelians maintained that according to Aristotle God is finite, the world eternal, and man's soul mortal. But in the attempt to defend the metaphysics they needed the Scholastics were ready to abandon Aristotle. By assimilating Duns Scotus's fundamental disjunction between infinite and finite beeing to the Thomist distinction between uncreated and created beeing, they were able to present a united front behind a science of beeing, independent of that of the Philosopher, which by the light of natural reason studies God as ens increatum, the world as ens creatum materiale, and the human soul as ens creatum immateriale. Philosophy thus became metaphysics with its three branches, natural theology, cosmology, and psychology, while the subject-matter which had belonged to the Aristotelian physics was free to become natural science.«

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32 gen über ihn, und seien es Aussagen über die Seele als Naturobjekt, sind ohne Relevanz für einen höheren Wahrheitsanspruch. Diese Ausdifferenzierung hat der entstehenden Naturwissenschaft ermöglicht, unterhalb der dogmatischen Metaphysik eine Transformation des Aristotelismus zu vollziehen. »Because the formulation of an independent philosophy dealing with God, the world, and man sub ratione entis relieved Scholastic thinkers of the obligation to relate their conclusions to Aristotelian principles, we must distinguish sixteenthcentury Scholastic Aristotelianism both from its medieval predecessor and from the secular Aristotelianism in the arts faculties of the Italian universities. Whereas the Italian Aristotelians were reduced to offering simply an exegesis of the Philosopher's text, the Scholastic interpreters could regard cosmology as a part of metaphysics and introduce the latest scientific developments into their commentaries on the Physics. It was thus - long before Galileo - that natural science was able to free itself of Aristotle and go its own way.«58 Diese These Lohrs hat Eckhard Keßler 59 zum Anlaß genommen, den Begriff der Transformation des Aristotelismus auszuweiten und auf die Gesamtentwicklung der Renaissancephilosophie anzuwenden. Natürlich ist dadurch die Gefahr gegeben, daß durch die Ausweitung der These Lohrs ihre Pointe genommen werden mag - eine Pointe, die darin liegt, daß gerade über die Einschränkung seiner Kompetenzen der Renaissancearistotelismus von der Kirche auf die Spur der neuzeitlichen Naturwissenschaft gebracht worden ist. Aber als Arbeitshypothese für eine Rekonstruktion des Gesamtverlaufs der so vielfältigen Renaissancephilosophie hat die These in der Ausweitung Keßlers große Vorzüge. Sie eröffnet die Möglichkeit, nicht das Pendel der Bewertung so ausschlagen zu lassen, daß man jene einstmals übermäßig herausgestellten >spekulativen< Renaissancephilosophen von Cardano bis Bruno nun einfach als wissenschaftsgeschichtlich irrelevant ignoriert, sondern sich ihrer Rationalität annähert, indem man sie als kontrollierte Abweichungen vom traditionellen Diskurs beschreibt, welche den Zweck einer Integration der unterschiedlichen Erklärungsweisen haben. Und man kann die Innovationen, die diese integrative Transformation erbringt, in ihrer Problematik und Folge5K

59

Lohr, The Sixteenth-Century Transformation. S. 99; zur Unterstützung dieser These vgl. etwa E. Grant, »Were There Significant Differences Between Medieval and Early Modern Scholastic Philosophy? The Case for Cosmology«. In: Nous 18 (1984). S. 5 - 1 4 . Weiter W. Wallace, Prelude to Galileo. Essays on Medieval and Sixteenth-Century Sources of Galileo's Thought. Dordrecht 1981. E. Keßler, The Transformation of Aristotelianism during the Renaissance. In: N e w P e r s p e c t i v e s in R e n a i s s a n c e T h o u g h t . Hg. v o n J. H e n r y und S. H u t t o n .

London 1990. S. 137-147.

33 last von der Problematik der Abweichung her zu verstehen versuchen. Keßler unterscheidet drei Formen von Transformation. 60 Die erste ist diejenige Richtung, die von Pomponazzi und seinen Nachfolgern eingeschlagen worden ist: Sie führt den Geist des radikalen, naturalistischen Aristotelismus fort und orientiert sich gegenüber allen spekulativen Umdeutungen an einer strengen Interpretation des aristotelischen Textes. Die zweite Richtung setzt Agostino Nifo und den späten Nicoletto Vernia fort und bemüht sich in einem simplicianischaverroistischen Aristotelismus, die in den Diskurs getretenen neuplatonischen Elemente zu integrieren. Die dritte Richtung ist nach Keßler mit der von Lohr beschiebenen identisch, der Richtung der seconda scolastica. Die Naturphilosophie der Spätrenaissance kann dann in Relation zu diesen Transformationsrichtungen beschrieben werden, nämlich als eine Radikalisierung: »rather than create a philosophical alternative to the Aristotelian tradition, [this movement] sought a new and more radical means of this transformation.« 61 Denn die Orientierung der platonisierenden Transformation auf metaphysische Prinzipien und okkulte Qualitäten 62 erfordert eine Anstrengung, die Beschreibung der Natur nicht in zwei disparate Sprachbereiche auseinanderfallen zu lassen. »The new philosophies of nature, as develloped from Cardano to Bruno, from Telesio to Campanella, may therefore be regarded as essentially an attempt to integrate new physical experience and knowledge by transforming Aristotelian natural philosophy in accordance with Neoplatonic metaphysical principles.«63 Aber wie kann eine solche bipolare Integration gedacht werden? Eine Bipolarität zwischen einem durch den Aristotelismus geprägten Diskurs und neuplatonischen Prinzipien? Wir werden sehen, daß 60

61 62

63

Keßler deutet den Wendepunkt zu Beginn des 16. Jahrhunderts so (S. 140): »From outside, the impetus came from the intervention of the Church, which, in the person of Bishop Barozzi, forbade the defence of the Averroistic theory of the unity of the intellect. But at the same time there was no less compelling internal philosophical cause: the recovery and translation of the ancient Greek Aristotle commentaries by the humanists. In consequence of this the authority of the Commentator was replaced by that of the much older and therefore (as far as Renaissance thinkers were concerned) more authoritative Neoplatonic interpreters of the Philosopher, [...].« Keßler, Transformation. S. 144. Ebd. S. 143: »Thus human intervention in the course of nature is likely to yield better results when using metaphysically-based occult qualities and metaphysically-based magic than when relying on the empirical qualities and natural causes of Aristotelian physics. A n d any progress in natural science happens at the level not of expierience but of metaphysically-based physical theory.« Ebd. S. 143f.

34 diese Bipolarität in keiner Weise Strömungen, die von Avicenna, Averroes oder der Spätscholastik ihren Ausgang genommen haben, ausschließt - vielmehr, daß sie ohne diese Einflüsse überhaupt nicht gedacht werden kann. Denn die Antithese Aristotelismus-Platonismus ist in der Renaissance eine vielfältig gebrochene und neubestimmte; ihre Bipolarität ist nur ein äußerster allgemeiner Bezugsrahmen. Wir können also von der Lohr-Keßler-These der Transformation des Aristotelismus sprechen, und ich werde die eine Variante der Transformation - die von Lohr beschriebene - die ausdifferenzierende, die andere - die der neuen Naturphilosophie - die integrative nennen. Das Bild wird aber, besonders für die Entwicklung nach 1540, erst klarer, wenn man den Prozeß des sich ebenfalls transformierenden Galenismus in die Gesamtskizze einbezieht. Dieser Prozeß hat zwar gewisse Parallelen zur allgemeinen philosophischen Entwicklung, ist aber mit ihr keineswegs identisch; im Gegenteil werden nach 1540 die Differenzen zwischen Aristotelikern und Galenisten selbst zum Motor einer Dynamik. In dieser Untersuchung soll erstmals eine Positionierung Telesios im Transformationsprozeß versucht werden. Die Wurzeln seiner Theorie im Paduaner Aristotelismus sind bis heute völlig unerschlossen geblieben, und es wird möglich sein, über die Genese seiner Abweichung, über die Strategien seiner Begriffsveränderungen und die Motive seiner Neuerungen die Position innerhalb der Bipolarität zu bestimmen. Wie aber ist die Transformation des Aristotelismus zu verstehen, wenn sie in explizite Aristoteles-Kritik umschlägt? Dies ist ein Problem, das seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Relevanz hat. 6 4 Denn mit dem Auftauchen des Protestantismus in Nordeuropa kommt die Neigung auf, im Verbund mit der Kritik an der römischen Kirche auch die aristotelische Philosophie als deren ideologischen Repräsentanten anzugreifen. Zwar ist diese Polemik - die im 17. Jahrhundert auf Lutheranischer Seite mit der Übernahme der jesuitischen Schulphilosophie ihr Ende findet - am Anfang streng zu unterscheiden von der Selbstdestruktion und -transformation des Aristotelismus Paduaner Provenienz, doch mit der Zeit werden die Trennungslinien unklar. So lassen sich Linien von der Aristoteleskritik des Petrus Ramus vom Pariser Katheder hin zur philologisch und philosophisch umfassenden Dezimierung der aristotelischen Ansprüche in den Dis64

Nach H. C. Kuhn ist dies sogar schon seit Nifos Kommentar zu Averroes' Destructio destructionum der Fall. Vgl. H. C. Kuhn, Die Verwandlung der Zerstörung der Zerstörung. Bemerkungen zu Augustinus Niphus' Kommentar zur Destructio destructionumdes Averroes. In: Averroismus im Mittelalter und in der Renaissance. Hg. von F. Niewöhner und L. Sturlese. Zürich 1994. S. 291ff.

35 cussiones Peripateticae von Francesco Patrizi aufzeigen. 65 Telesios eigene Aristoteleskritik, auch wenn sie der genuinen Aristotelestransformation entspringen mag, wird in diese Interferenzen hineingezogen. Sein Schüler Antonio Persio erklärt, Telesios Naturphilosophie sei in ihrer Methode eigentlich nichts anderes als eine Anwendung des Ramismus. 66 Ein anderer Schüler Telesios, Agostino Donio, assoziiert den 5/?zrciws-Monismus seines Lehrers mit den unitarischen Theologien der italienischen Protestanten und emigriert in die Schweiz und nach Polen. 67 Auf der anderen Seite sind es zuweilen ramistische, calvinistische Autoren, die wie Beurhaus oder Freige zumindest einen Reflex der telesianischen Thesen aufscheinen lassen. 68 Transformation der aristotelischen Philosophie kann also zu Antiaristotelismus werden. Darin kann eine Verleugnung der aristotelischen Ursprünge Hand in Hand gehen mit der Akzentuierung anderer Faktoren. Aber selbst eine Verleugnungsgeschichte gehört noch in eine Geschichte der Transformation des Aristotelismus. Telesio markiert einen Umschlagspunkt in diesem Prozeß, und keinen Endpunkt.

5. Rationale Unternehmungen Die praktischen Aspekte theoretischen Umgangs, die Gebrauchsweisen von Argumenten, die Frontstellungen von Theorien, sind keinesfalls Phänomene, die nicht ihre eigene Logik und Rationalität besäßen. Einmal kann diese Logik der Eigenlogik einer bestimmten Argumentationssphäre folgen, etwa der medizinischen. Und zum anderen kann sie durch die Konstellationen der intellektuellen Situation und die Einschätzung von bestimmten Durchsetzungschancen durch den Akteur bestimmt sein. Man muß Rationalität nicht unbedingt als eine Eigenschaft von Sätzen und Theorien betrachten, sondern eher von 65

66

C. Vasoli, »De Pierre de la Ramée à François Patrizi«. In: Revue des sciences philosophiques et théologiques 70 (1986). S. 87-98. Vgl. L. Artese, »Filosofia telesiana e ramismo in un inedito di Antonio Persio«. In: Giornale critico della filosofia italiana 66 (1987). S. 433-458; ders. , »Antonio Persio e la diffusione del ramismo in Italia«. In: Atti e memorie dell' Academia toscana di scienze e lettere La Colombaria 46, n.s. 32 (1981). S. 8 3 116.

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68

A. Donio, De natura hominis. Basel 1581. Praefatio zum II. Teil; vgl. D. P. Walker, Spiritual and Demonic Magic from Ficino to Campanella. London 1957; E. Garin, »Telesiani minori«. In: Rivista critica della filosofia 26 (1971). S. 199204; L. de Franco, L'eretico A. Doni medico e filosofo cosentino del' 500. Cosenza 1973. Zum italienischen Protestantismus vgl. das klassische Werk von D. Cantimori, Italienische Häretiker der Spätrenaissance. Basel 1949. Vgl. G. Zanier, Medicina e filosofia tra '500 e '600. Milano 1983. S. 22f.

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ganzen Handlungs- und Institutionszusammenhängen, dem, was Stephen Toulmin als rational enterprises bezeichnet hat. 69 Im Kontext dieser Vernunftunternehmungen kann es jeweils unterschiedliche Standards dafür geben, was als Argument zu gelten hat. Im Falle der hier anvisierten Thematik ist es die Überschneidung philosophischen und medizinischen Argumentierens, die für die Untersuchung zentral sein wird. Denn das Curriculum der norditalienischen Universitäten der Renaissance sieht den Unterricht in Naturphilosophie - über die Kommentierung der aristotelischen Physik, De coelo, De generatione et corruptione, Meteorologica, De anima - als >Physicum< des Medizinstudiums vor. Professoren für Philosophie steigen in ihrer Karriere zu Medizinprofessoren auf, medicus ac philosophas ist eine übliche Berufsbezeichnung. Daß Philosophie nicht wie in Paris oder in anderen Universitäten im Zusammenhang mit Theologie, sondern mit Medizin gelehrt wurde, hat seine Auswirkungen gehabt. An der Universität Padua gab es bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts gar keine Theologie und auch seitdem lediglich der Universität angegliederte theologische Schulen. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts hatte man immerhin einige Theologen auf Metaphysiklehrstühlen der Artistenfakultät. 70 Die Philosophie war vor allem Propädeutik für das Medizinstudium. 71 Im Zusammenhang mit medizinischen Problemen hat sie den Raum gehabt, sich als Wissenschaft von der Natur fortzuschreiben. Noch immer wird diesem einfachen Umstand nicht genügend Rechnung getragen. Ch. Β. Schmitt stellt fest: »[...] historians must make a greater effort to study the philosophy (especially logic and natural philosophy) and medicine of the Italian renaissance in unison and to consider the interface of the two disciplines more carefully. The traditional approach which treats history of philosophy and history of medicine separately can give only limited results.«72 Eine 69 70

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St. Toulmin, Kritik der kollektiven Vernunft. Teil II. Vgl. Lohr, The Sixteenth-Century Transformation. S. 97: »Through the friars Scholastic Aristotelianism was brought to Italy around the middle of the fifteenth century. Here it encountered a radically different, secular form of Aristotelianism. The Italian faculties of arts were orientated less toward theology than to medicine, and the Aristotelianism they taught was concerned less with the hereafter than with the tasks of men in this world. In the university of Padua there was no proper theological faculty until the middle of the fourteenth century and then it was formed not by the secular clergy, but by aggregating to the university the existing theological schools of the mendicant orders. It was only about the middle of the fifteenth century that the Dominican and Franciscan friars succeeded in having chairs erected in the arts faculty for Thomistic and Scotist metaphysics.« Vgl. J. Bylebyl, The school of Padua. Humanistic Medicine in the 16th Century. In: Health, Medicine and Mortality in 16th Century England. Hg. von Ch. Webster. Cambridge 1979. S. 3 3 5 - 3 7 0 . Ch. Β. Schmitt, Aristotle among the physicians. In: The Medical Renaissance

37 Argumentationsgeschichte kann also nicht vor den heutigen Disziplingrenzen haltmachen. 73 Im Gegenteil, erst über die Wechselwirkung dieser Disziplinen lassen sich die meisten der Entwicklungen der Naturphilosophie der Renaissance aufschlüsseln. Die Geschichte des Selbsterhaltungsbegriffs ist ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit einer historischen Analyse, die jenseits von heutigen Disziplingrenzen operiert. Nur einem isoliert >philosophiehistorischen< Blick muß die aufkommende Konjunktur dieses Begriffes wie eine plötzliche >Rezeption< aus antiken Texten erscheinen. Die zunehmende Bedeutung von Selbsterhaltung in medizinischen Diskussionen wird diesem Blick nicht auffallen. Ebenso wird man in einer rein >philosophiehistorischen< Betrachtung die Zunahme an neuplatonisch und hermetisch gefärbten >Animismen< einseitig als eine rationalitätsbedrohende Folge der Rezeption antiker Texte einschätzen, weil man nicht das Einfallstor sieht, durch das in der medizinischen Fakultät, in den Wissenschaften vom Leben, platonisierende Konzepte - mit guten Gründen und im Kern des überlieferten Diskurses - in die allgemeine Diskussion eindringen. Ein weiteres Beispiel wäre die Methodenproblematik, die methodische Bedeutung des sensus, der empirischen Beobachtung für die Theoriebildung. Man wird Telesios sogenannten >Sensualismus< kaum verstehen können, wenn man nicht die Selbstpositionierungs-Diskussionen der Mediziner kennt. Bestimmungen der medizinischen Rationalität im Sinne der Einordnung des Faches in den Lehrkanon als ars oder als scientia und einer Reflexion auf ihre Methodik 74 gehören zum Standardstoff der medizinischen Fakultät. Man kommentiert die Galenische Ars

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of the 16th Century. Hg. von A. Wear u.a. Cambridge 1985. S. 1 - 1 5 und 2 7 1 279; hier S. 15. So auch W. Lepenies, Vergangenheit und Zukunft der Wissenschaftsgeschichte - Das Werk Gaston Bachelards. In: G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. S. 7 - 3 4 ; S. 31: »Entscheidend wird vielmehr die Einsicht, daß verschiedene Disziplinen in einem überschaubaren Zeitraum sich mehr ähneln können als die unterschiedlichen Ausformungen ein- und derselben Disziplin über längere Zeitstrecken hinweg. Wechselwirkungen zwischen Disziplinen, die Wanderung von Theorien und Methoden durch Disziplinfelder, der Transfer, ja die Emigration von Theorien in einen anderen kulturellen Kontext bezeichnen Fragestellungen, die eine Theorie der Disziplinbeziehungen behandeln müßte.« Vgl. ders., »Wissenschaftsgeschichte und Disziplingeschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1978). S. 437-451. Zur Methodendiskussion in der Medizin der Renaissance vgl. J. Bylebyl, The school of Padua; W. Wightman, »Quid sit methodus?« In: Journal of the History of Medicine 19 (1964). S. 360-376; diese Diskussionen sind nicht zuletzt eine Quelle für die wissenschaftstheoretischen Entwicklungen der Renaissance überhaupt, die die Theorie des Regressus hervorbringen. Vgl. dazu J. H. Randall, The School of Padua and the Emergence of Modern Science; Ν. W. Gilbert, Renaissance Concepts of Method. New York 1960.

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Parva oder den ersten Hippokratischen Aphorismus nicht, ohne ausführlich auf diese Fragen einzugehen. Wenn ein Mediziner wie Giambattista da Monte seine Disziplin als ars sensitiva einstuft, 75 dann ist dies gar nicht so weit entfernt von dem >ärztlichen BlickTendenzen< oder >Strömungen< reden müssen, sei es, weil noch keine präzisen Beschreibungsmöglichkeiten vorliegen, sei es in skizzierender und abkürzender Weise. Ich kann auf so unscharfe Charakterisierungen wie >platonisch< oder >aristotelisch< nicht verzichten: auch das ist eine unbefriedigende, abkürzende Redeweise, die nicht davon suspendiert, im Einzelfall die Beschreibung jenseits dieser Titel anzusetzen. Und auch wenn ich von unterschiedlicher >Rationalität< reden werde, bleibt dieser Ausdruck ein vager Arbeitsbegriff; er scheint mir dennoch notwendig, um Differenzen nicht nur in der theoretischen Aussage, sondern in Begründungspraktiken, Zugriff auf den Gegenstand und Stil der Thesen zu kennzeichnen. Der Ausdruck wird nur dann präzisiert, wenn der Skopus der Betrachtung es erfordert und erlaubt. Die folgenden sieben Kapitel arbeiten jeweils bestimmte begriffsgeschichtliche Prozesse oder Argumentationsstrategien heraus. Zumeist sind sie terminologisch um einen Begriff herum gruppiert. Das erste Kapitel stellt Telesio in einen weiteren Zusammenhang, dann folgen einige enger fokussierte Kapitel, schließlich verfolgen die beiden letzten Kapitel die Konsequenzen und Folgelasten der behandelten Lösungen in die Rezeption Telesios hinein. So wird ein Ensemble von Strategien und Prozessen sichtbar werden, das als Ganzes erst eine Einschätzung der Theorielage und Rationalität in bezug auf die Frühgeschichte des neuzeitlichen Selbsterhaltungsbegriffs möglich macht. In Kapitel I wird es um eine indirekt verursachte Konjunktur eines Erklärungsmusters gehen - das der sogenannten antiperistasis - und um die Auflösung, Freisetzung und Neuinterpretation von Elementen dieses Musters. Dabei wird sich zeigen, wie institutionelle Faktoren (die Rezeption englischer Theorien in Italien) mit solchen der immanenten Kritik (Pomponazzis vielschichtig motivierte Argumentation gegen spirituelle Verursachung) zusammenkommen mußten, bevor eine Situation entstanden ist, in der das Erklärungsmuster zur Basis einer neuen Naturphilosophie werden konnte. Kapitel II zeigt, die im ersten Kapitel festgestellte Engführung von optischen und physikalischen Argumentationen vertiefend, in welcher Weise Telesio mit seiner Theorie der Licht-species an die spätscholastischen Paduaner Modelle anknüpft. Freilich wird auch deut-

42 lieh, daß Telesios Lösung einer verfahrenen Diskussionssituation gerade durch eine radikale Umdrehung bisheriger Positionen gelingen konnte. In Kapitel III geht es um >defensive Modernisierung^ mit der ich Telesios komplexe Position in der Debatte um eine >animistische< Grundlegung der Physik beschreiben möchte. Telesio geht moderne, oft neuplatonisierende Strömungen ein Stück weit mit, naturalisiert dann aber die erreichte Begrifflichkeit, um nicht in einer animistischspiritualistischen Physik zu verbleiben. Insbesondere werde ich in diesem Kapitel auf die verdeckten Abhängigkeiten Telesios von den astronomischen Diskussionen um eine homöozentrische Planetenauffassung achtgeben. Die skeptische Distanzierung Telesios im Sinne einer Beschränkung auf sensuell Erfahrbares verdeckt nämlich, wie sehr die Welt von warm-kalt-Prozessen, die nach dieser Beschränkung übrigbleibt, das Restprodukt der neuen astronomischen Weltmodelle ist. Kapitel IV und V schlagen den Bogen von Telesios frühen Interessen an Optik, Astronomie und Wärmephysik zu den späteren Beschäftigungen mit Physiologie - insbesondere Sinnes- und Affektphysiologie - und Psychologie. Diese Psychologie vereint Studien zu Affekten, zur Erkenntnis und zur Ethik. Das Kapitel IV versucht mit einer vorläufigen Rekonstruktion zur medizinischen Thematik der Lebenswärme (calidum innatum) dafür die Grundlegung zu geben. Meine Studie muß hier skizzenhaft bleiben, denn dieses medizingeschichtlich zentrale Problem harrt noch einer Aufarbeitung von Seiten seiner Disziplin. Auch hier aber wird wieder Telesios Naturalisierungsstrategie sichtbar werden, sein Bemühen um einen >invertierten AnimismusBeispielkultur< und der physikalischen Sprache von calor und frigus bei Telesio herleiten.

ERSTER TEIL

Paradigmen der Transformation von Aristotelismus und Galenismus

I. Konjunktur einer wissenschaftlichen Ideologie: Antiperistasis 1. Ein marginaler Anfang Zuweilen sind philosophische Innovationen untrennbar mit Begriffen aus wissenschaftlichen Ideologien verbunden, jenen wohlbegründeten Irrtümern1 also, die zwar wissenschaftsgeschichtlich Erkenntnishindernisse darstellen, 2 aber für den Denktypus einer Epoche oft höchst signifikant sind. Ein solcher Begriff ist der der antiperistasis - ein von Aristoteles geschaffenes Kunstwort, das etwa mit Gegenumständigkeit zu übersetzen wäre. Wissenschaftliche Ideologien haben ihre Geschichte, und ich beginne diese Geschichte nicht mit dem Anfang, sondern mit ihrem Ende. Denn das Ende birgt bereits die Hinweise auf die Fragen, um die es hier gehen soll. Als Robert Boyle 1665 seine New Experiments'and Observations touching Cold erscheinen läßt, fügt er ihnen als Anhang ein Examen of Antiperistasis an. 3 Er gestaltet diesen Appendix als gelehrte Konversation zwischen drei Forschern, benannt als Themistius, Carneades und Eleutherius. Themistius beginnt: »As for Antiperistasis, the truth of it is a thing so conspicuous, and so generally acknowledged, that I cannot imagine what should make some men deny it, exept it be, that they find all others to confess it. [...] And to evince, that this is not said gratis, I might observe to you, that there are no less than three grand inducements, that have led both the vulgar and the philosophers (two sorts of men, that seldom agree in other things) to consent in the acknowledgement of Antiperistasis; authority, reason and experience.«4 Und Themistius wirft einen Aspekt in die Unterhaltung, der uns noch sehr beschäftigen wird: Selbsterhaltung. »What can there be more agreeable to the wisdom and goodness of nature, who designing the preservation of things, is wont to be careful of fitting them with 1

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P. Bourdieu, Strukturalismus und soziologische Wissenschaftstheorie. In: Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt 1974. S. 24. Vgl. G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. 2. Aufl. Frankfurt 1984. R. Boyle, The Works. Vol. II. London 1772. Ndr. Hildesheim 1966. S. 659-682. Ebd. S. 659.

48 requisites for that preservation; than to furnish cold and heat with that self-invigorating power, which each of them may put forth, when it is environed with its contrary.«5 Boyle wird in seiner Abhandlung dem Denken der antiperistasis den endgültigen Todesstoß versetzen. Aber sehen wir in einen anderen Text aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, bei Thomas Hobbes, für den der Begriff der Selbsterhaltung ja nicht ohne Bedeutung ist. In der Tat findet sich im Leviathan der Begriff der Antiperistasis, in einer späten Passage und in einem überraschenden Zusammenhang. Hobbes kritisiert hier die philosophische Tradition, und insbesondere die Lehre von okkulten Qualitäten. »And as when they attribute many Effects to occult qualities; that is, qualities not known to them; and therefore also (as they think) to no Man else. And to Sympathy, Antipathy, Antiperistasis, Specificali Qualities, and other like Termes, which signifie neither the Agent that produceth them, nor the Operation by which they are produced.« 6 Sympathie, Antipathie, Antiperistasis: der Begriff endet offenbar in der Offensive des siebzehnten Jahrhunderts gegen obskure Philosopheme. 7 Aber wie kam er mit ihnen in Verbindung, und wo ist der Anfang? Im Corpus Hippocraticum gibt es die Vorstellung, die Lebenswärme zöge sich bei Übermacht der Kälte, etwa im Winter zurück. 5 6

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Ebd. S. 660. Th. Hobbes, Leviathan. London 1651. Part IV. Chap. 46. (Hg. von C. B. Macpherson. London 1968. S. 696). Vgl. zur Offensive des 17. Jahrhunderts K. Hutcheson, »What h a p p e n e d to the occult qualities in the scientific revolution?« In: Isis 73 (1982). S. 2 3 3 - 2 5 3 . Wie sehr der Begriff der Antiperistasis, der bei Aristoteles noch marginal war, in dieser Zeit zu einem Grundbegriff der aristotelischen Physik geworden war, zeigt eindrucksvoll die Physica falsa sive ad mentem peripateticam, die der niederländische Cartesianer A r n o l d Geulincx 1688 in Leiden veröffentlicht. G e u lincx stellt der Physica falsa eine cartesianische Physica vera gegenüber, um die Differenzen des alten und des neuen Weltbildes vor Augen zu führen. In der k n a p p gefaßten Physica falsa nimmt die Antiperistasis einen ganzen, eigenen Abschnitt ein. In Geulincx' Darstellung wird aber auch deutlich, daß inzwischen viele die Antiperistasis nur noch für ein scheinbares P h ä n o m e n halten: »Fuerunt igitur non pauci, qui totam antiperistasin eo refunderent, ut contraria iuxta se invicem posita magis elucescant. Dixeruntque itaque hi, a q u a m putealem aestate frigdiorem a p p a r e r e propter magnum calorem et aestum circa nos tunc in ipsisque nostris corporibus versantem. C u m enim Organum tactus valde calet, m a g n o p e r e etiam afficitur ab iis q u a e vel leviter frigida sunt. A p p a r e t ergo iuxta hos frigidior aqua illa aestate quam hieme, non est vero frigidior.« (Geulincx, O p e r a philosophica. Bd. II. D e n H a a g 1892. S. 361). Für die cartesianische Sicht vgl. auch S. Chauvain, Lexicon philosophicum, 2. Aufl. Leeuwarden 1713. Ndr. Düsseldorf 1967. S. 48. Z u r Rolle der Antiperistasis in den Übergängen des Aristotelismus zur w e r d e n d e n Chemie vgl. die Praelectiones physicae von Joachim Jungius (Kritische Ausgabe hg. von Ch. Meinel. Göttingen 1982) aus der Zeit um 1630 mit ihren Exzerpten aus Zabarellas Meteorologie-Kommentar; Antiperistasis dort: S. 168.

49 Dadurch erhalte sie sich, und sie werde sogar noch stärker, weil konzentrierter. So seien im Winter die Bäuche besonders warm - die Mittelpunkte der Wärmekonzentration - , der Schlaf sei länger Schlaf ist Abzug der Wärme in den Bauch - , und mehr Nahrung werde verbraucht. 8 Auch im Makrokosmos finde dieser Prozeß statt: Im Winter friert die Oberfläche der Erde - ihre >Haut< - zu, die Wärme konzentriert sich im Erdinneren und ist dort stärker als im Sommer. 9 So sind, nach der Meinung der Antike, die Wasser in Brunnen im Winter wärmer als sonst. 10 Piaton redet im Timaios von einem verdichtenden Zusammentreffen der Elemente als Ursache von Bewegung. 11 Später haben griechische Aristoteleskommentatoren bis hin zu Philoponos versucht, diese Idee mit der aristotelischen Bewegungsauffassung in Physik VIII,lOff. 12 zu kombinieren, um die Bewegung eines Projektils in der Luft zu beschreiben. 13 Dabei haben sie den Terminus antiperistasis verwendet. Doch nicht um diesen Traditionsstrang des Verdrängungsmodells Antiperistasis wird es im folgenden gehen, sondern um den hippokratisch-aristotelischen. Bei Aristoteles findet sich der Terminus antiperistasis an mehreren signifikanten Stellen. Eine ist in Meteorologica I, 12, wo es um die Entstehung von Hagelschauern im Sommer geht. Nach Aristoteles wird die Kälte in den unteren Luftregionen von der umgebenden Wärme verdichtet, so daß die Wolke zu Wasser oder Eis wird. 14 Der Prozeß findet also nicht durch einfache Abkühlung statt, etwa wenn eine Wolke in die oberen, kälteren Luftregionen aufsteigen würde, sondern gerade umgekehrt: Indem die Wolke in die unteren Luftregionen absinkt, die von der vom Erdboden reflektierten starken Sonneneinstrahlung sehr aufgewärmt sind, ist die in ihr enthaltene kalte Feuchtigkeit sehr plötzlich von großer Wärme umgeben. Weil aber Wärme und Kälte aufeinander reagieren, verdichtet und verstärkt sich die Kälte noch, statt sich einfach zu erwärmen. Daher die Wirkung, die über eine bloße Verflüssigung hinaus sogar zur Eisbildung führt. Auch die Entstehung des Taues, die Bewegung 8 9 10

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Vgl. Hippocrates, Aphorismen 1,15. Vgl. Hippocrates, De natura foetus. Zur Geschichte der Antiperistasisvorstellungen insbesondere in der Antike vgl. Kirstine Meyer, »Zur Geschichte der Antiperistasis«. In: Annalen der Naturphilosophie 3 (1904), S. 413-441. Timaios 58b: πιλησεως σύνοδος. Die terminologische Benennung als Antiperistasis stammt von später. Dort verwendet Aristoteles den Terminus Antiperistasis. Vgl. K. Meyer, 421. Vgl. A. C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft. München 1977. S. 285ff. Vgl. auch M. Wolff, Geschichte der Impetustheorie. Frankfurt 1977. Meteor. 348b 6.

50 der Meteore oder der Blitz lassen sich nach diesem Modell erklären: Immer wenn es paradox erscheint, daß innerhalb einer Umgebung von einer Qualität die entgegengesetzte auftaucht - wie eben bei den so erklärungsbedürftigen Hagelkörnern an warmen Sommertagen - , dann bietet sich die Erklärung von der Zunahme der Qualität - hier der Kälte innerhalb der warmen Umgebung - gerade wegen der Präsenz des Konträren an. Eine andere, verwandte Verwendung der Vorstellung 15 gehört auch in den Kontext der Dynamik von Wärme und Kälte, nun aber im physiologischen Vorgang des Schlafs.16 Schlaf wird erklärt als eine Art von Verdichtung oder natürlichem Rückzug der Wärme aufgrund des Verdauungsprozesses. Nach De somno 3 steigt die Verdauungswärme zunächst im Körper nach oben, dann aber strömt sie wie die Ebbe nach der Flut wieder zurück und verursacht den Schlaf.17 Galen hat in seiner Ausarbeitung hippokratischer Medizin auf aristotelische Theorien zurückgegriffen. So verweist er bei der Kommentierung von Hipp. Aph. 1,15 auf die aristotelische Antiperistasis als Präzisierung für den Umstand, daß die innere Wärme im Winter zunimmt: »aber warum diese Wärme im Winter zunimmt, hat auch Aristoteles erklärt: indem sie vor der außen sie umgebenden Kälte in die Tiefe flieht.«18 Da das hippokratische Aphorismenbuch in den meisten späteren Curricula für Medizinstudiengänge grundlegender Lehrstoff war - die Aphorismen wurden kommentiert ähnlich wie bei den Theologen die Sentenzen des Petrus Lombardus - , ist vor allem über diese Stelle und ihre Kommentierung durch Galen und dann die Galenisten der Sachverhalt Wärmekonzentration als Antiperistasis in das grundlegende Medizinerwissen eingegangen. Dabei hat dieser Sachverhalt in der Breite des Bereiches der Warm/Kalt15

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Eine Auflistung von Aristotelesstellen über Antiperistasis findet sich in K. Meyer, Geschichte der Antiperistasis. S. 415-422; der Artikel >Antiperistasis< im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« weiß zur Geschichte des Begriffs fast nichts zu sagen. Für Wärme und Kälte in der Physiologie ist schon die einfache Diskussion darüber, ob es besser sei, Warmes oder Kaltes zu trinken, bezeichnend. Theophrast sagt (De caus. plant. 11,6,1): »Von dem Trinkbaren ist das Kalte am besten, denn es erzeugt am besten Gärung der Antiperistasis des Warmen wegen.« (Zitiert nach K. Meyer, S. 423). A n der Frage del bever caldo oder del bever freddo scheiden sich also die Geister, wenn es um Ähnlichkeits- oder Kontrastwirkungen geht. Gerade im Italien Ende des 16. Jahrhunderts war diese Diskussion wieder sehr lebendig, und Antonio Persio, Andrea Chiocco und Tommaso Campanella haben an ihr teilgenommen. Vgl. Kap. VI. 4. D e somno 457b 1. »Sed cur is calor hieme augeatur etiam Aristoteles explicavit, qua in profundum extrinsecus circumstante frigore réfugiât [...].« Kühn-Übersetzung in Claudii Galeni Opera omnia. Hg. von K. G. Kühn. Leipzig 1821-1833. Bd. XVII/2. S. 416. Griech.: δια xò περιστάμενον εζωθεν κρύος.

51 Dynamik, des Bereiches von generatio und corruptio also, noch manchen anderen Kontext. Die Kontexte wurden, etwas verstreut, über die Kommentare der aristotelischen Schriften tradiert. 19 Antiperistasis ist ein Thema von weitreichender Komplexität, und ich habe hier die Absicht, die ganze Komplexität einzufangen. Dazu werden immer wieder Zwischenbetrachtungen struktureller Art angestellt; nur so ist die Geschichte der Antiperistasis bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wirklich zu verfolgen, denn das Problem reicht in unterschiedliche Dimensionen hinein: in die Bereiche von Qualitäten, Komplexionen, in die Medizin, Geometrie, Optik und Logik. Die schulphilosophischen und -medizinischen Diskussionen der Antiperistasis gehen von einem recht festen Phänomenbestand aus, tradiert in den kanonischen Texten zusammen mit einem gewissen Kernansatz der Erklärung. Nach dieser Tradition hat das Problem drei Aspekte: 1) Kontrarietät: Es geht um das Aufeinanderwirken gegensätzlicher Qualitäten; der Erklärungskern zieht die Gegensätzlichkeit als Ursache heran: Aktion und Veränderung geschieht durch Gegensätze. 2) Intensivierung·. Antiperistasis ist ein Phänomen, bei dem eine Qualität ihre Intensität verändert, nämlich stärker wird (aufgrund der Konfrontation mit ihrem Gegensatz). 3) Umgebende Lage: Nur dadurch, daß eine Qualität die andere vollständig umschließt, wird die Intensivierung möglich. Dadurch bekommt das Problem eine Spezifität in bezug auf Lagebeziehungen, auch definierbar als eine bestimmte Differenz zwischen Innen und Außen. Jeder dieser Aspekte hat zu bestimmten Richtungswechseln in der Rezeptionsgeschichte der Antiperistasis beigetragen, jeder hat zu bestimmten Allianzen mit Lösungskonzepten eingeladen; das wird im folgenden sichtbar werden. Neben dem Kernbestand der Tradierung gibt es noch einige Momente, die mittransportiert werden und zu bestimmter Gelegenheit an Bedeutung gewinnen können. Ein solches Moment ist das der Selbsterhaltung·, es taucht immer wieder als Motiv der Steigerung der einen, umschlossenen Qualität auf; sie steigere sich, um sich vor der Vernichtung durch den übermächtigen Gegensatz zu erhalten. Ein anderes Moment ist das der Aktivität. Denn da es sich um ein Phänomen nicht irgendwelcher Qualitäten, sondern von Wärme und Kälte handelt, steht das Problem im Kontext des Agierens von Gegensätzen. 19

Vgl. Kommentare zur Meteorologie, zu De generatione et corruptione, zur Physik etc.

52 2. Modellwechsel durch die Oxford Calculatores Die große Veränderung, die die Antiperistasis-Rezeption im 14. Jahrhundert durchmacht, geht auf das Konto des Aspekts der Intensivierung. Das Operieren mit Intensitätsgraden von Qualitäten stammt ursprünglich aus der galenischen Medizin und insbesondere Pharmakologie,20 wird aber dann von den Mathematikern am Oxforder Merton College um 1340 ausgebaut und rechnerisch entwickelt, von wo es durch die Medizin im späten 14. und im 15. Jahrhundert rückimportiert wird, mit der Folge, daß Intensitätsphänomene nun im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Denn die Quantifizierung der Qualitätenphysik hat eine ganze Reihe von Problemen und möglichen Innovationen mit sich gebracht, die eine kontroverse Diskussion erforderlich machen. Die Oxford Calculators sind mit physikalischen Problemen im Rahmen einer topischen Physik umgegangen, in der Probleme als Sophismata aufgeworfen werden und nicht als reale, sondern nur als imaginär-kontrafaktische und aus mathematischem Interesse behandelt sind.21 Ich konzentriere mich hier vor allem auf einen der Oxforder Mathematiker, nämlich Richard Swineshead (Suisseth; >CalculatorA11 of these must be conceded imaginarily, and they are to be denied de facto·, for in all these cases it is posited that unequal colds are extended with equal heat.>« Vgl. Art. »Swineshead« von J. E.Murdoch und E. D.Sylla. In: Dictionary of Scientific Biography. Hg. von C. C. Gillispie. N e w York 1970-1980. Bd. 13. S. 184—213; M. Clagett, »Richard Swineshead and late Medieval Physics I. The intention and remission of qualities«. In: Osiris 9 (1950). S. 1 3 1 - 1 6 1 .

53 mit traditionellen Vorstellungen von größerer und kleinerer Partizipation der Materie an der Form etwa der Wärme zufrieden geben will, vielmehr berechenbare Vorgänge von uniformer Difformität z.B. stetige Erwärmung - als Grundlage sucht, leugnet Swineshead eine direkte reactio und faßt den Vorgang als zwei getrennt ablaufende Veränderungen auf: eine Abkühlung des Steines und eine Erwärmung des Wassers, verursacht jeweils durch Wärme- bzw. Kälteteile von der einen und anderen Seite, die auf schwächere Teile agieren. William Heytesbury, ein anderer der >Calculatorenbarbari Britanni. In: ders., L'Età nuova. Neapel 1969. S. 1 3 9 - 1 6 6 ; C. Dionisotti, Ermo-

54 lienischen Autoren waren gespalten in der Ansicht, ob die Bemühung, die in England angestellten Kalkulationen innerhalb der überlieferten naturphilosophischen Themenstellungen zu berücksichtigen, fruchtbar sein könne. 25 Aber es fanden sich eine ganze Reihe von Medizinern, die schließlich genau das taten: Angelo de Fossombrone, Biagio Pelacani da Parma, Simone di Castello, Jacobo da Forlì, Ugo Benzi, Messinus, Paulus Venetus, Gaetano da Thiene oder Giovanni Marliani, sie alle mit unterschiedlichen Akzenten und unterschiedlicher Bereitschaft, sich auf die Kalkulatoren einzulassen. Vor allem in Padua läßt sich die Rezeption beobachten, wo bei der in Norditalien traditionell engen Verbindung von Medizin und Naturphilosophie sich Einflüsse der Calculatores, der Pariser Physik und des radikalen Aristotelismus vermischen. 26 Jacobo da Forlì (Giacomo della Torre; Jacobus Foroliviensis, gest. 1414) 27 ist einer der Paduaner Mediziner, die die Oxford calculatores rezipieren. Eine Auseinandersetzung mit Swineshead ist der Traktat De intensione et remissione formarum,28 aber hier soll sein Aphorismenkommentar interessieren. 29 Denn ich lasse im folgenden viele Einzelfragen der

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lao Barbaro e la fortuna di Suiset. In: Medioevo e Rinascimento. Studi in onore di B. Nardi. Bd. I. Firenze 1955. Vgl. allg. G. Federici Vescovini, La >physica nova< o moderna del basso medioevo e la storiografia contemporanea, in: dies., >Arti< e filosofia nel secolo XIV. Studi sulla tradizione aristotelica e i >modernicriticoBedrohung< größer ist, kann man dieses quasi-optische Gesetz der Reflexionsstärke gewinnen. Und das Phänomen, das als Evidenz für Gaetano dahintersteht, ist kein anderes als die Antiperistasis. Denn Gaetano beruft sich in der Erläuterung seines Satzes auf die größere Reflexion der species der Kälte der mittleren Luftregion im Sommer, also auf die aristotelische Erklärung der Hagelschauer. Es wird somit wie bei Jacobo eine Erklärung vorbereitet, die nicht nur normale Angleichungen von warmen und kalten Körpern erklären kann, sondern auch den schwierigen Fall einer Intensitätssteigerung des einen. Dieser Fall kann dann mit besonders großer Reflexion erklärt werden. »Fünftens ist vorauszuschicken, daß auf die größere Reflexion der species eine größere Aktion folgt. Dies ist offenbar dadurch, daß die Reflexion des Sonnenlichtes durch einen konkaven Spiegel Feuer erzeugt, und nicht die Reflexion durch einen ebenen Spiegel: und dies aus keinem anderen Grunde als dem, daß jene Reflexion größer ist.« Jetzt ist die Analogie zur Optik vollends sichtbar. Stärkere Reflexion bewirkt in der Art eines Brennspiegels eine Aktion, denn auch Lichtstrahlen, die für einen Aristoteliker nicht per se warm sind, können durch Reflexion und Bündelung eine Erwärmungskraft bekommen

61 und so eine A k t i o n b e w i r k e n . D i e s e r e n t s c h e i d e n d e Ü b e r g a n g v o n d e r R e f l e x i o n v o n q u a s i - o p t i s c h e n species zu e i n e r A k t i o n e r m ö g l i c h t erst das g a n z e M o d e l l , das G a e t a n o a n w e n d e t . E r ist d u r c h die T h e o rie d e r A v e r r o i s t e n v o n d e r E r w ä r m u n g s k r a f t

reflektierten

Lichts

m ö g l i c h g e w o r d e n und wird uns in K a p i t e l II ausgiebig beschäftigen. In dieser s c h e i n b a r h a r m l o s e n a v e r r o i s t i s c h e n T h e s e lag n ä m l i c h eines d e r E i n f a l l s t o r e für >spirituelles< A g i e r e n in d e r N a t u r , wie es mit G a e t a n o im P a d u a n e r A r i s t o t e l i s m u s h e i m i s c h wird. D i e s e naturphil o s o p h i s c h e >Lückevertikalen< B e g r ü n d u n g e n bei G a e t a n o d u r c h ü b e r n a türliche A g e n t i e n zu e i n e m Bild z u s a m m e n , in d e m eine V e r ä n d e r u n g des A r i s t o t e l i s m u s aufscheint, die sich an christliche D e n k f o r m e n und e t w a s s p ä t e r an die T h e s e n d e r n e u p l a t o n i s c h e n A r i s t o t e l e s k o m m e n t a t o r e n 3 9 und ü b e r h a u p t n e u p l a t o n i s c h e V o r s t e l l u n g e n a k k o m o d i e r e n ließ. 4 0 N a c h diesen S u p p o s i t i o n e n k o m m t G a e t a n o zur eigentlichen A u s führung d e r T h e o r i e . Ich k a n n hier die a u f d e n s e c h z e h n dicht b e schriebenen

Foliospalten

des T r a k t a t s b e s c h r i e b e n e T h e o r i e

auch

nicht a n n ä h e r n d in ihrer K o m p l e x i t ä t w i e d e r g e b e n , a b e r m ö c h t e d o c h 39

40

Vgl. E. P. Mahoney, Neoplatonism, the Greek Commentators and Renaissance Aristotelianism. In: Neoplatonism and Christian Thought. Hg. von D. J. O'Meara. Norfolk 1982. S. 169-177 und 264-283. Vgl. Keßler, Pietro Pomponazzi. S. 399: »Wenn nicht alles täuscht, so hatte Gaetano da Thiene während seiner langen Lehrtätigkeit in Padua in der Kommentierung des Aristoteles einen Weg eingeschlagen, der mehr und mehr von einem nur >natürliche< Ursachen zulassenden, horizontalen Erklärungsmodell natürlicher Phänomene zu einem auf übernatürliche Agentien zurückgreifenden, vertikalen Erklärungsmodell führte. Dies wird generell deutlich in der Theorie der Entstehung der gemischten Körper, der corpora mixta, aus den Elementen, in der er den den Elementen eigenen Primärqualitäten nur eine lediglich vorbereitende, disponierende Funktion zugesteht, die konstitutive Leistung aber wie Albertus Magnus in der Nachfolge des Avicenna - einem himmlischen Formgeber, dator formarum, zuweist und ihnen sogar - soweit ich sehe ohne Vorgänger - den Charakter der nicht hintergehbaren Einheit zugunsten des Lichtes als Qualität der himmlischen Körper abspricht. Die gleiche Haltung wird im einzelnen Erklärungsfall manifest, wenn Gaetano, entgegen der von Bessarion festgestellten Alternative, daß im Kontext der aristotelischen Naturphilosophie die intellektuelle Seele entweder als eine und allgemeine für alle Menschen unsterblich oder, als individuelle, sterblich, nicht aber zugleich individuell und unsterblich sein könne, als dritte - und wahre - Möglichkeit die Unsterblichkeit der individuellen Seele lehrt und diese auf deren Erzeugung durch Gott als einem übernatürlichen Agenten gründet. Gaetano öffnet damit tendenziell das Naturbild des Quattrocento gleichermaßen für theologische Einreden, welche die Kompetenz für das Übernatürliche beanspruchen können, wie für okkulte und magische Erklärungsansätze, wie sie durch die neue Rezeption des Neuplatonismus und des Hermetismus in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts herandrängen.« Zu diesem Syndrom von neuen Ansätzen vgl. unten Kapitel III.

62 festhalten, daß wie bei Jacobo die stärkere Reflexion eine stärkere Vereinigung bewirkt, und diese zieht eine Verstärkung des Vermögens nach sich. Die stärkere Reflexion wird so gedacht, als wäre ein Brennspiegel idealer gekrümmt und sammle deshalb mehr Strahlen, die dann auch leichter eine Entzündung zustandebrächten. Und da die Rückwirkung der Wärme auf sich selbst durch Reflexion ihrer species von der Kälte und die Rückwirkung der Kälte auf sich durch Reflexion ihrer species von der Wärme eine jeweilige Intensivierung der Qualitäten bewirkt, kann Antiperistasis erklärt werden. So kann es nämlich in diesen Fällen geschehen, daß, anders als normalerweise, eine erste Qualität über ihren eigenen Grad hinaus wirkt.41 Aber vor allem ist das Instrumentarium der species-Reflexion jetzt Grundlage für die Erklärung von Reaktion überhaupt, nicht nur für den speziellen Fall der Antiperistasis. Gaetano erklärt damit beispielsweise auch, warum der affizierte Teil etwa eines warmen Körpers weiter abgekühlt und nicht vom unaffizierten wieder erwärmt wird, also das normale Problem jeder Reaktion. Der Ausnahmefall hat somit ein Modell provoziert, das nun zum Grundmodell für die Prozesse des Werdens und Vergehens in der Natur geworden ist. Gaetano hat mit der Proportionalität größerer Gegensatz - größere Reflexion - potenteres Instrument eine allgemeine Begründungsreihe entworfen, nach der Kontrarietät und Steigerung über den Begriff der Reflexion korreliert werden. Was sich bei Jacobo angedeutet hatte, ist bei ihm im Detail durchgeführt und universal ausgeweitet: eine Engführung des Diskurses der Optik und seiner Debatten über Strahlung, Spiegelung und Lichterwärmung mit dem physikalisch-mathematischen Diskurs der >reactioBarbaren< zu verweilen. Pomponazzi hat die Kalkulatoren schon aus grundsätzlichen Überlegungen heraus abgelehnt. Unter anderem weist er Swineshead mit dem Argument zurück, seine Operationen führten implizit zu Sätzen wie >Die größte Intensitässtärke ist eine Schwäche^ 4 2 Bei Swineshead ließ sich nämlich - terminologisch - jede intensio auch als remissio ausdrücken. Ein solcher Satz aber, so Pomponazzi, gehe noch über ein Verfehlen der Bedeutung der Termini hinaus: er sei eine klare Kontradiktion. Für den Aristoteliker Pomponazzi liegt darin ein ausreichendes Indiz für die Abwegigkeit des Kalkulationsmodells. D o c h schon seit dem 15. Jahrhundert gab es vereinzelt Stimmen, die Kontradiktionen nicht in jedem Fall für absurd halten wollten. Zum Teil aus theologischen Gründen bestand bei solchen Denkern nämlich geradezu ein Interesse für Kontradiktionen. Nikolaus Cusanus ist der bekannteste dieser Denker. Und da Cusanus von seinen italienischen Studienzeiten her bekanntlich von Paulus Venetus und über ihn von Oresme beeinflußt ist, 43 bietet es sich an, in der cusanischen Tradition 42

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Vgl. C. Wilson, »Pomponazzi's Criticism of Calculator«. In: Isis 44 (1953). S. 355-362. Vgl. Ch. Lohr, Metaphysics. In: Cambridge History of Renaissance Philosophy. S. 537-638; S. 593f. Lohr betont die möglichen Einlüsse der Formlatitudenphysik durch Paulus Venetus auf Nikolaus Cusanus, insbesondere durch den Begriff des Paduaner Professors von der latitude perfectionalis entium: »Paul, who brought these doctrines from Oxford and Paris to Padua about the beginning of the fifteenth century, not only included the latitudo formarum under the categories quality and habitus, but also recognised a latitudo perfectionalis entium, or grades of ontological perfection measured according to their distance from a zero degree. It was probably in this form that Nicholas of Cusa became acquainted with the doctrine during the period of his studies in the University of Padua. Nicholas knew the works of Archimedes and the discussion of Zeno's paradoxes in the Parmenides (128ff.) of Plato, but when he sought mathematical symbols to illustrate his conception of metaphysics he turned not to the classical geometry of form, but to Oresme's new geometry of motion. Nicholas approached the problem in terms of knowledge rather than of being. H e sought to aid the mind in its ascent to the absolutely infinite by way of three steps. The first was the consideration of finite mathematical figures which are generated by the motion of points, lines and planes. Just as for Oresme a line was generated by the motion of a point, so also Nicolas defined the line as the unfolding or explication of a point. From the new geometry's concern with the problem of continuous variation, he concluded that knowledge consists in the determination of proportions or ratios and that perfect exactitude in measurement is consequently unattainable. In a second step the mind ascends by trans-

64 nach Spuren zu suchen, die auf eine Verbindung von Kontradiktionsspekulation und Intensitätenphysik deuten. Zweifellos lag eine gewisse logische Brisanz in Swinesheads mathematischer Auffassung der Intensitätenskala und seinem Operieren mit dem Unendlichkeitsbegriff, ebenso wie in der mathematischen Dynamik, die ähnlich wie die Merton-Tradition nach Norditalien importiert wurde, nun aus Paris. Schon für Biagio Pelacani waren die Kontrarietätsverhältnisse der Elemente Grund für logisch-mathematische Spekulationen, 44 und Cusanus konnte von den Vorstellungen einer Intensitätssteigerung als Steigerung des Perfektionsgrades eines Seienden ausgehen, um mit Sätzen wie >Das Maximum und das Minimum sind dasselbe< - ganz ähnliche also wie die von Pomponazzi bei Swineshead angeprangerten - einen Bereich der Wissensbegründung auch logisch zu definieren, in dem das Widerspruchsprinzip außer Kraft gesetzt ist. Dieser Wissensbereich gilt für Gott als das unendliche und >nicht-andere< Wesen. Als rein theologisch-spekulative Anwendung scheint diese Verwendung von Unendlichkeit und Kontrarietät zunächst naturphilosophisch ohne Folgen zu sein, denn sie gilt ja nur für einen überweltlichen Bereich. Doch dieser Umstand ändert sich im Verlauf des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts. In den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts erlernt in Paris ein junger Franzose die Naturphilosophie und Mathematik. 45 Aus der Perspektive seiner Bildung und ferring these considerations to infinite figures. From the method of definition of, say, a point along a line in terms of its movement from a minimum to a maximum value, Nicholas learnt the correct method of dealing with the infinite and the infinitesimal not merely as potentialities, but as the actualities which are the upper and lower limits of the activity of finite reality. Wanting to illustrate his idea that for the understanding of dynamic reality a transcensus from rational to intellectual knowledge is necessary, he took the example of a polygon as a variable magnitude inscrbed in a circle. For rational knowledge the polygon and the circle are fixed essences which exclude one another, because according to the principle of contradiction an attribute cannot at the same time belong and not belong to a subject. But if we, by conjecture, imagine a polygon the number of sides of which increases to infinity, we can see, by the vision of the intellect, that the polygon with a maximum number of sides will coincide with the circle. This is a conclusion which is not bound by the limitations of empirical observation and to which the intellect connot withhold its assent. In a third and final step the mind then extends these conclusions to the absolutely infinite God. Oresme had remarked that for a form which was represented graphically by semi-circle the rate of change reaches a minimum at the point of maximum intensity. Similary, Nicholas maintained that in the absolutely infinite One, to whom no finite can be set in proportion, maximum an minimum coincide.« 44

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Vgl. zu Biagio die Arbeiten von G. Federici Vescovini, besonders Astrologia e scienza: La crisi dell' aristotelismo sul cadere del Trecento e Biagio Pelacani di Parma. Firenze 1979. In Paris gab es zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Rezeption der Oxford Cal-

65 seiner Interessen nehmen sich die Texte von Philosophen wie Gaetano über Antiperistasis anders aus, als sie in Padua selbst gelesen werden. Charles de Bovelles 46 (Bovillus; 1472-1553) interessiert an der Antiperistasis nicht der Aspekt der Intensivierung, sondern der Aspekt der Kontrarietät. Da er sich im Kreis um Faber Stapulensis mit negativer Theologie, Lullismus und cusanischer Philosophie beschäftigt, liegt es für ihn nahe, in der Antiperistasis einen Musterfall von Gegensatzlogik in der Natur zu sehen, denn das Aufeinandertreffen der Gegensätze Warm und Kalt an einem Ort scheint so etwas wie eine fast erreichte coincidentia oppositorum zu sein. Aber wie konnte Bovelles darauf verfallen, den Zusammenfall der Gegensätze nicht bei Gott, sondern in der Natur zu suchen? Pierre Magnard hat versucht, Bovelles' Denken von der Wahrnehmung einer Endzeit her zu verstehen, wie sie in den apokalyptischen Strömungen um 1500 vorlag.47 Oppositionslogik wird dann innerweltlich. Denn in einer Endzeit, in der göttliche monstra als Fingerzeige durch signifikant entstellte Geburten gehäuft auftreten, nähern sich der Bereich des Göttlichen und der des Natürlichen an, ja sie durchdringen sich. Daher wird es möglich, Strukturen des Göttlichen in Annäherung auch in der Natur zu finden. Der französische, naturphilosophisch geprägte Lullismus des 14. und 15. Jahrhunderts, 48 in dessen Wirkungsbereich Bovelles mit seiner Cusanus-Rezeption steht, mag dazu beigetragen haben, daß als Effekt eschatologischen Denkens bei Bovelles eine gewisse Naturalisierng cusanischer Denkmodelle stattgefunden hat. Jedenfalls läßt sich bei ihm und in seiner Folge eine Beziehung zwischen der Physik von Qualitätsintensitäten und philosophischen Bemühungen um eine Logik jenseits des Widerspruchsprinzips feststellen. Dabei können die physikalischen Verhältnisse die Rolle spielen, daß sie die Präsenz der besonderen logischen Verhält-

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culatores durch Alvaro Thomaz, Jahannes Dullaert von Ghent und Juan de Celaya (vgl. Murdoch und Sylla, Art. »Swineshead«, S. 210); in jedem Fall aber scheint Bovelles einige der Paduaner Naturphilosophen gelesen zu haben; ihre Werke waren um 1500 in Drucken gut zugänglich. Bovelles übernimmt auch ihre eigentümliche Schreibweise: Antiparistasis mit a. Zur intellektuellen Biographie vgl. Joseph M. Victor, Charles de Bovelles (1479-1553). A n Intellectual Biography. Genf 1978. D i e Aufmerksamkeit für das Problem der Antiperistasis bei Bovelles verdanke ich Stephan Otto. Vgl. P. Magnard, Introduction. In: Ch. de Bovelles, L'art des opposées. Hg. und übers, von P. Magnard. Paris 1989. S. 1 - 3 0 . Vgl. M. Battlori, Sur le Lullisme en France au X V e siècle, in: L'humanisme français au début de la Renaissance. Paris 1973. S. 117-126; A. Llinares, Le Lullisme de Lefèvre d'Etaples et ses amis humanistes. In: ebd. S. 127-136; R. N. Hillgarth, Ramon Lull and Lullism in Fourteenth Century France. Oxford 1971; J. M. Victor: »The Revival of Lullism at Paris 1499-1516«. In: Renaissance Quarterly 28 (1975). S. 5 0 4 - 5 3 4 .

66 nisse in der Wirklichkeit zeigen sollen. Giordano Bruno hat die Beziehung so interpretiert und sie eine verificazione genannt, nicht ohne Blick auf Cusanus. »Quanto alle verificazioni poi, chi non sa primamente circa le qualitadi attive prime della natura corporea, [...]: Dal termine del massimo calore non si prende il principio del moto verso il freddo? Quindi è aperto che non solo ocorreno tavolta i dui massimi nella resistenza e li dui minimi nella concordanza, ma etiam il massimo e il minimo per la vicissitudine di trasmutazione.« 49 Auch Bruno hat ja einen naturalisierten und auf Immanenz hin interpretierten Cusanus vorgeführt. Bei Bovelles scheint mir die Art der Naturalisierung in diesem Fall aber noch intimer zu sein. Denn gerade im Konzept der Antiperistasis erkennt Bovelles ein Naturphänomen par excellence: den innerweltlichen Zusammenfall der Gegensätze. Nicht mehr der Aspekt der Intensivierung, der an den italienischen Universitäten das Problem zu einem exponierten gemacht hatte, ist hier verantwortlich, sondern der Aspekt der Kontrarietät. In einer anderen intellektuellen Situation aufgewachsen, liest er die Traktate der Italiener - vor allem die Gaetanos - gleichsam gegen den Strich. Bovelles veröffentlicht 1510 seine Ars oppositorum,50 innerhalb derer er eine kleine spekulative Interpretation der Antiperistasis vorführt: »Antiparistasis [Bovelles schreibt den Begriff wie Gaetano mit >aLa Columbaria< 45 (1980), 41-131; weiter E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1, Berlin 1922, S. 2 2 6 232; St. Otto, Renaissance und frühe Neuzeit. Stuttgart 1984. (Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung Bd. 3). S. 221f. De sympathia et antipathia rerum, S. 8: »Est autem & alius in elementis consensus partium, quatenus in toto sunt: Constat enim, si vi rarefactae illae sunt, sese condensare, si condensare, rarefacere, quousdam veniant ad eum situm, qui toti pro natura debetur: qui quidem consensus non minus praedictis est admirandus [...].« Fracastoro verwendet also das Naturgesetz der spezifischen Dichte von Flüssigkeiten und Gasen dazu, die Bewegungen, die bei der Rückkehr in diese spezifische Dichte entstehen, zu erklären. Ebd., 17f.: »[...] viam fortasse habere possumus ad ostendendum, quo pacto

83 cies sind nun Teilchen, die wechselseitig von Qualitäten ausgesandt sich durchdringen und die physikalische Wirkung des Zusammenziehens in der Art eines Gases auslösen. Das Problem der Pomponazzi-Schiiler wird daraus deutlich. Es lautet: Wie sind die Errungenschaften der Naturphilosophie des 15. Jahrhunderts zu retten, ohne Pomponazzis Kritik am Okkultismus zu verraten? Die Antwort liegt in der genannten Umstellung der Grundlagen der Physik. Die Intensitätenphysik der latitudo formarum wird von diesen Pomponazzi-Schülern nicht aufgegeben; sie wird nur umformuliert in mehreren Schritten. 1) Übertragung der Spiritualität (Repräsentationsfunktionen, Ausbreitung) auf Phänomene von großer Dünnheit. Die Differenz von dicht und dünn wird zur Leitdifferenz und provoziert Theorien von Übertragungen im Medium. 2) Herausstellung der Einheitsstiftung durch die Qualität von Wärme, statt spiritueller Erklärungen von Antiperistasis und anderen Phänomenen. Denn Fracastoro zeigt, daß die Eigenschaft des cogere in unum, die nach Aristoteles die typische Aktivität Wärme ist und eben dadurch die traditionelle Grundlage der galenischen Physiologie, auch in der Weise seiner quasi-spirituellen Verdichtung-Verdünnungs-Effekte rekonstruiert werden kann. Schon Alexander von Aphrodisias, sagt er, habe diese Eigenschaft der Wärme herausgestellt: attractionem omnem a calore esse. Sie aber lasse sich mit seiner Theorie bestätigen. Denn Wärme bringe mit ihren species vor allem Bewegung hervor, und über diese Bewegung sei die scheinbare Kausalität aus Ähnlichkeit einsichtig zu machen. 85 Damit erst ist das Erklärungs-

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similium contractio & unio a substantia fiat per spiritualem speciem. Quippe delato spirituali ab a ad b, & reciproce a & b, & substantia, quemadmodum ipsa, totum quoddam fit ex a, & b, & spirituali ilio, in quo toto partes non plane debitum esse, & situm habent, nisi invicem ita astringantur, ut simul & a, & b coeant: sic enim totum illud bene habet, & secundum naturam coexistit, non secus ac si aer aliquis valde distractus ad sese redeat, & partes, quae longius aberant, in unum cogat & uniat, qui motus tandem est partium in toto sese ad suum situm moventium a forma factus, quae natura & substantia est. Est ergo partium quidem naturalis (quoniam motus omnis partium in toto a natura fit) & a forma ilia, quae in eo toto natura est [...].« Ebd., 18f.: »Si enim qualitates primae, substantiae sint elementorum, producant autem species spirituales eiusdem rationis, quae longe productae ad sua similia per dictum modum possint applicationem eorum facere: calori quidem maxime & praecipue debebitur ea facultas: latet autem nos caliditas ilia, quoniam spirituales species sensibilem actionem non habent in alterando, quanquam in movendo vim non exiguam prodant. Atque haec quidem sunt, quae probabiliter de tanto problemate nobis dicenda visa sunt, ad quae credenda & ea nos induxerunt, quae Galenus, & alii dicunt, quum eiusmodi effectus a tota interdum rerum substantia fieri dicunt, interdum a similitudine [...].« Fracastoro geht

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schema von der Wirkung des Ähnlichen auf das Ähnliche ausmanövriert: Fracastoro läßt nur reale Bewegungswirkungen zu. Selbst wenn das Phänomen der Antiperistasis weiterhin stark in den Erklärungen in Anspruch genommen wird, wie wir es bei Contarmi beobachten werden, dann ist doch zu sehen, daß nun Einheitsfunktionen zentraler werden als zuvor Explikationen über Kontrarietät, die dem gleichen Verdikt verfielen wie die Explikationen über Ähnlichkeit. 3) Um diese Einheitsfunktionen einsichtig zu machen, werden Partikeltheorien entwickelt - denn spirituelle Distanzwirkung lehnt man ja ab. Ausströmende >Atome< (Fracastoro) und Partikel zerbrochener Formen (Contarini) stellen die Grundlage für Erklärungen aufgrund von Partikelverdichtungen dar, die optische Modelle von Lichtverdichtung durch Reflexion ablösen. Pomponazzis Kritik (und Pomponazzi steht hier nur als prominentester Vertreter der okkultismuskritischen Autoren) hat also den vielleicht gar nicht einmal intendierten - Effekt gehabt, eine neue naturphilosophische Kreativität hervorzurufen. Ein eklektisches Zusammenfügen dessen, was aus der spätscholastischen Tradition übernommen werden sollte, mit neuen, epikureisch wie neuplatonisch inspirierten Prinzipien begann um 1530. Fracastoro und Contarini haben zwar recht unterschiedliche Theorien entwickelt, aber von der gemeinsamen Problemherkunft her sind sie sich dennoch verwandt. Ich werde im folgenden am Beispiel Contarinis im Detail darstellen, wie diese Transformation in spezifischen Erklärungen aufzufinden ist, und dabei wieder auf das Thema der Antiperistasis zurückkommen. Gasparo Contarini, Kirchenmann in hoher Funktion und nur in Mußezeiten seinen philosophischen Neigungen nachgehend, schrieb sein naturphilosophisches Werk De elementis et eorum mixtionibus etwa 1530.86 Es erschien postum 1548, sechs Jahre nach seinem Tod. Das Werk handelt in erster Linie vom besonderen Wirken der Wärme in elementaren und komplexionalen Prozessen. Contarinis Betonung der Wärme schließt in allen Einzelheiten an die aristotelische Tradition Norditaliens an, geht aber in der Gesamtakzentuierung über sie hinaus. Wärme ist für Contarini in erster Linie die himmlische Wärme, die er in Anlehnung an die Astrologie als ein Akzidens oder eine Qualität begreift, die vom himmlischen Körper herabfließt und alles

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hier bereits auf Fragen ein, die w e n i g später Ferneis Z u g a n g zur Physiologie geprägt haben. S o die D a t i e r u n g von G. Fragnito im Dizionario biografico degli Italiani. Bd 28. S. 181; zu Contarini vgl. auch C. Giacon, »L'Aristotelismo avicennistico di Gasparo Contarini«. In: Aristotelismo p a d o v a n o e filosofia aristotelica. Firenze 1960. S. 109 — 119; z u r E d i t i o n s g e s c h i c h t e v o n De Elementis vgl. T h o r n d i k e , H i Story of Magic and Experimental Science. Bd. 5. S. 555f.

85 durchdringt 87 - eine besondere Form der Qualitätenausbreitung also, wie sie uns durch die species-Multiplikation bekannt ist. Das große Seminarium nennt Contarini diese Wärme, so wie schon bei Grosseteste und Bacon ausgemacht war, daß das Strahlen nicht nur leuchtet, sondern »bei der Erzeugung der Dinge auf die gesamte Materie der Welt« wirkt, 88 und Albert der Große hatte diese Vision in seinen Schriften ausgeführt. In dieser Perspektive wird die aristotelische Charakterisierung der Wärme, Homogenes zu sammeln und Heterogenes zu trennen, 89 zur Grundlage einer allgemeinen Theorie des Wärmewirkens. Und im Zusammenhang damit macht Contarini die Antiperistasis zu einem grundlegenden Explanans, das für eine solche Vielzahl von Erklärungen eingesetzt wird, wie sie über das Maß der Tradition hinausgeht oder zumindest der aufgewerteten Bedeutung der Antiperistasis im 15. Jahrhundert entspricht. 90 Insbesondere das Wirken der Wärme im komplexionalen Bereich versucht Contarini mit Hilfe von Homogenitätssammlung und Antiperistasis genauer zu bestimmen. Wir haben gesehen, daß die Warm-Kalt-Verhältnisse innerhalb des komplexionalen Bereichs von besonderer Kompliziertheit sind. Contarini unterscheidet zwar das Wirken der Lebenswärme im physiologischen Bereich noch von diesen komplexionalen Prozessen, aber er deutet bereits darauf hin, daß auch dort vieles auf die von ihm erläuterte Weise erklärt werden kann. 91 Zwei Beispiele mögen genügen; eines zum Problem, warum auch sehr kalte, beispielsweise erdige, Mischungen als von der Wärme komplexioniert gedacht werden können, das andere zur Frage, warum manche Mischungen ambivalent zu Kälte und Wärme sein können - etwa Kalk, der seine Eigenschaft ändert, wenn er gelöscht wird, oder Gift, das, obwohl kalt, im Körper auf einmal Hitze verursacht. Im ersten Fall beschreibt Contarini das Problem folgendermaßen: »Aber es kann jemand bei Mischungen, die sehr kalt sind, im Zweifel sein, auf welche Weise sie von der Wärme zusammengefügt zu sein 87

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Contarini, D e elementis. In ders., Opera. Paris 1571. S. 70f.: »Si recte memoria repetantur ea, quae a nobis de natura caloris supra expósita sunt, itemque de natura coelestis qualitatis; quam etiam magnurn seminarium appellavimus secuti Platonicos: non ita tarnen, ut ponamus seminarium hoc esse corpus aethereum omnia permeans: sed accidens qualitatemque a corpore coelesti defluentem, omniaque penetrantem.« R. Bacon, zitiert nach D. C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter. Frankfurt 1987. S. 205. Vgl. Aristoteles, D e gen. et cor. 329b 26ff. D i e erste Einsetzung der Antiperistasis, noch im meteorologischen Bereich, findet sich auf S. 26, wo es - traditionell - um die mittlere Luftregion geht. Vgl. D e elementis, S. 72.

86 und von ihr erhalten zu werden vermögen.« Denn Contarmi hatte ja behauptet, »daß alle Mischungen entstehen und erhalten werden von der eigentümlichen und natürlichen Wärme jeder Sache (a proprio naturalique ... calido).« Zunächst sind die Prämissen klarzustellen. »Wir haben nämlich gesagt, daß die Wärme eine derartige Kraft im Tätigsein (in agendo) ist; daß auch wenn sie von kleinerer Latitudo wäre im Hinblick auf den Grad, sie dennoch eine so große Wirksamkeit und Kraft besitzt, daß sie eine Kälte großen Grades überwindet, nicht nur soweit es die Wirksamkeit des Handelns angeht, sondern auch im Hinblick auf die Resistenzkraft (vim resistendi) der Kälte selbst.« Diese These ist im Kontext der Unterscheidung einer spezifischen Resistenz zu sehen, die wie erwähnt seit der Pariser Spätscholastik wichtig war. Die zweite Prämisse ist die Annahme der vis cogendi homogenea bei der Wärme, auf die wir noch zurückkommen werden. Als dritte Prämisse schließlich rekapituliert Contarini seine avicennistisch-albertistische Insistenz auf dem Verhältnis von himmlischer zu irdischer Wärme, nach der »bei der Erzeugung der Mischungen die natürliche Wärme das Werkzeug der himmlischen Qualität ist, in der das Seminarium aller Mischungen enthalten ist«. Aus der Kombination dieser Thesen, der reaktionstheoretischen, der >alexandrinistischen< und der >avicennistischenDe generatione< zeigt - dann ist es äußerst schwierig zu finden, aus welchem Grund diese Mischungen warm und kalt machen, weit mehr als sie selbst von jenen Qualitäten affiziert sind. Ich will sagen, was ich meine - andere, die das Problem untersuchen, mögen vielleicht auf etwas anderes kommen. Wenn die Mischung der Elemente geschieht, bleiben die Formen der Elemente, auch wenn sie noch so sehr nach ihrem substantiellen Sein durch gegensätzliche Veränderungen zerstört werden, doch in einem zerbrochenen Sein zurück; 93 man darf aber nicht glauben, die eigentümliche Qualität des Elements ginge in einheitlicher Weise zurück und überall in dem ganzen Anteil an Materie, in der die Form jenes Elements ist, im selben Grad. Nein, es geschieht auf unterschiedliche und vielförmige Weise, so daß im Wasser ein Geringes an unsichtbarer Portion jener besonderen Elementqualität zurückbleibt gerade von sehr hohem Grad. Um es herum und ihm nahe ist ein Anteil von geringem Grad, der aber vom hohen affiziert wird, und so der folgende. Durch diese Tatsache ist verur-

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frigido: cuius vi expressa est magna pars illius caloris, qui mixtionem fecerat; eoque exiguo, qui reliquus est crasso et terreo mixto continetur.« Zu dieser Averroistischen Theorie vgl A. Maier, Die Struktur der materiellen Substanz. S. 28f.

88 sacht, daß in einigen Mischungen sehr heiße Partikel zu sein vermögen, in anderen sehr kalte, aber getrennt und innerhalb von anderen enthalten, so daß sie sinnlich nicht wahrgenommen werden können. Durch die Kraft der Wärme aber, oder auch der Kälte, können per Antiperistasis die, die vereinzelt sind, in eins zusammengezogen werden, denn es kommt der Wärme ja zu, Homogenes zu sammeln. Daher machen die in eins Zusammengezogenen äußerst heiß, oder aber sie machen in stärkster Weise kalt. Von daher kommt es, daß bei einigen durch Berührung nicht wahrnehmbar ist, daß sie warm oder kalt sind, obwohl in ihnen natürliche Wärme wirkt; sei es, daß sie dem Körper durch Trinken zugefügt wurden oder innerhalb des Körpers aufgenommen worden sind, zusammengezogen in eins durch die Kraft der Wärme verursachen diese sehr heißen oder sehr kalten Partikel stärkste Körperhitze oder -kälte, und oft sind sie tödlich. Denn wenn nichts außerhalb seines Grades agiert, kann zweifellos von einer geringen natürlichen Wärme keine Wärme von gewaltigerem und größerem Grad entstehen. Und weit weniger kann Kälte an sich von Warmem erzeugt werden. Und es kann auch nicht von der Form des Gemischten oder des Elements das eigene Zugrundeliegende oder die Materie, in der alle Formen sind, verändert werden und so die Wärme und Kälte in ihnen gewaltiger werden. Wir sagen also, daß sie deshalb gewaltiger werden, weil sie durch die Kraft jener Wärme in eins gezwungen werden und Wirkung machen, die zu machen sie als getrennte, einzelne und voneinander entfernte nicht vermocht hätten. 9 4 94

De elementis, S. 70-72: »Item ambigi dubitarique potest qua vi fieri queat, ut pleraque mixta huiusmodi sint, ut ñeque calida ñeque frigida admodum videantur; apposita tarnen corpori aut intro suscepta, nonnulla summopere calefaciant; alia contra frigefaciant, exiccent alia; aliaque humectent. [...] Secunda vero quaestionem difficilius est solvere. Nam si nihil agit praeter cum gradum, quem habet: omne etenim agens agit quatenus est actio, et ex non ente nihil fit. item si forma non agit in subiectum, in quo est, ipsum alterando; quia idem non agit in seipsum, ñeque simile in simile, ut ostendit Aristot. in primo lib. de generatione; difficillimum est invenire quanam ratione haec mixta calefaciant, frigefaciantve longe magis quam ipsa illis qualitatibus sint affecta. Dicam ego quid sentiam; alii perspicaciores fortasse quidpiam aliud invenient. Cum mixtio elementorum fit; quamvis per contrarias alterationes formae elementorum corrumpantur secundum esse substantiale, et remaneant in esse refracto; non tarnen putandum est qualitatem elementi propriam uniformi ratione, eodemque gradu remitti in tota ea portione materiae; in qua est forma illius elementi; sed diversa difformique ratione; adeo ut in aqua partícula insensibili portionis illius remaneat qualitatis elementi propria secundum gradum valde intensum: cui próxima partícula eamque circumsistens remissiori gradu, intenso tamen est affecta; sicque deinceps. Ex quibus efficitur, quod in iliquibus mixtis esse queant particulae calidissimae, in aliis frigidissimae, disiunctae tamen, intraque alias contentae, adeo ut sensu percipi nequeant. Vi tamen caloris, aut etiam frigoris per antiperistasim illae, quae sunt solutiores, possunt in unum cogi: nam calidi est congregare homogenea. ideoque in unum cogi: nam calidi est congregare homogenea. ideoque in unum coactae aut calefaciunt vehementer, aut frigefaciunt summopere. Hinc est quod nonnulla tactu non percipiantur esse calida, aut frigida; cum tamen in ea calor naturalis egerit; sive appota sint corpori, seu intra corpus suscepta, coactae in unum vi caloris particulae illae frigidissimae aut calidissimae vehementissimos aestus aut rigores faciant et saepenumero interficiant. Nam si nihil agit praeter gradum proprium, proculdubio a calore naturali remissiori generari non potuit vehementioris maiorisque gradus caliditas; longeque minus frigiditas per se a calido generari potest. Ñeque etiam a forma mixti aut elementi potest proprium subiectum et materia, in qua sunt

89 Man kann an diesem Beispiel studieren, mit welchen begrifflichen Mitteln die italienische Tradition nach Pomponazzi komplizierte pharmazeutische und >chemische< Phänomene angehen konnte. Indem die Lehre der gebrochenen Qualitäten in der Komplexion mit den Gradabstufungen der Intensitätenphysik, mit einer Partikelvorstellung und den Aktionen des Sammeins und Zusammenziehens kombiniert wird, entsteht eine integrale Erklärungskonzeption. Wie man sieht, ist für Contarini die Eigenschaft der Homogenitätsansammlung noch grundlegender als die Antiperistasis, die so etwas wie den Rahmen für diese Sammlung abgibt. Damit ist, wie schon vermutet, Contarinis Unterlegung der antiperistasis mit dem Grundsatz aus De generatione et corruptione, Wärme sammle Homogenes, mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits eine Reaktion auf Pomponazzis Kritik der spekulativen reactio-Erklärungen. Wärme ist in erster Linie Aktivität, denn sie ist, wie auch Pomponazzi gesagt hatte, weit mehr aktiv als resistent. 95 Mit diesen begrifflichen Mitteln ist es, so meint Contarini, möglich zu zeigen, daß die natürliche Wärme das Instrument der himmlischen Qualität ist. Er benutzt dazu scharfe Kontrastierungen, indem er, wie Albert, die Wärme als das Prinzip des Lebens, die Kälte als Prinzip des Todes bezeichnet. 96 Durch solche Heraushebungen trägt er stark dazu bei, das aristotelische VierElemente-Schema zu relativieren, auch wenn er es nicht angreift; denn er trägt Asymmetrien in die Diskurszusammenhänge. 97 Die Universalisierung der Wärmewirkung als vom Himmel ausgehend und alle komplexionalen Prozesse betreffend wird es später leichter machen, ausschließlich von einer vom Himmel wirkenden Wärme zu sprechen. Wie wir im vierten Kapitel genauer verstehen werden, treffen in Contarini nach-Pomponazzische antiperistasis-Erklärung und eine avicennistische Tradition der Naturphilosophie zusammen, in der die Exzellenz der Wärmeaktivität und die himmlische Abkunft der Wärme kultiviert werden. Das Zusammentreffen zeigt die konzeptionelle Stärke der norditalienischen Tradition: Naturprozesse werden

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formae illae, alterari; sicque fieri vehementior caliditas frigiditasve in ipsis. Dicemus igitur propterea fieri vehementiorem; quia particulae illae vi caloris in unum coguntur actionem faciunt; quam facere separatae, exiguae, aliisque abruptae non poterant.« Vgl. De elementis, S. 48 F: »Natura caliditatis haec est; ad agendum, omnium est efficacissima et potentissima: contra ad resistendum, omnium maxime infirma et imbecillis.« Vgl. De elementis, S. 49 C; ebenfalls S. 62. Diese Asymmetrien sind, wenn nicht schon antik, so doch seit Avicenna in der aristotelischen Tradition; zu Wärme und Kälte als asymmetrischen Gegensatzbegriffen vgl. auch Kap. III und VII.

90 möglichst detailliert und exakt auf einer basalen, nichtokkulten Ebene erklärt, und zugleich werden die Bezogenheiten auf himmlische Einwirkung stark gemacht. Pointiert gesagt: je exakter die Wirkung der Wärme >physikalisch< beschrieben wird, desto mehr tritt ihr >göttlicher< Charakter zutage. Dieser Befund sollte nicht übersehen werden. Contarinis Avicennismus bedeutet nicht, daß wie bei Gaetano spirituelle Entitäten eine Kausalität ins Spiel bringen, bei der Immaterielles auf Materielles wirkt, sondern lediglich eine Art ontologische Absicherung der manifesten Kausalität, die in der Natur wirkt. Die spezielle Vereinigungskraft, die der Wärme innewohnt, wird ontologisch durch die Abkunft der elementaren Wärme von der himmlischen Wärme begründet. Aber diese Begründung hat keinen Einfluß auf die Erklärungsweise der Phänomene selbst. Contarinis Thesen zeigen, daß auch nach Pomponazzi >vertikale< Begründungsmuster keineswegs passé waren; man sollte Pomponazzis Einfluß auf die Tradition des 16. Jahrhunderts also nicht überschätzen, selbst nicht bei seinen unmittelbaren Schülern. Aber es mag sein, daß diese Muster nun etwas vorsichtiger und indirekter eingesetzt wurden, eben in der Weise, die ich >ontologisch< genannt habe. Legitim in diesem Sinne wäre vor allem eine Reflexion auf Einheit und Einheitlichkeit in der Natur. Bei Fracastoro hat das, wie wir zum Teil schon gesehen haben und noch genauer sehen werden, die Besinnung auf den consensus in der Natur hervorgerufen. Bei Contarini äußert sich die Reflexion eine Spur religiöser, nämlich in seinem Avicennismus und dessen vertikalen Kosmos, der an seiner Spitze Gott als den Einen und den einheitsstiftenden Geber der Formen hat. Von dieser Spitze aus verteilt sich die Einheit - ontologisch - nach und nach in die Vielheiten. In seinem Compendium primae philosophiae hat Contarini dies beschrieben. 98 Freilich zieht diese Abstufung den extensiven Gebrauch eines ontologischen Begriff des Instrumentes nach sich. Wenn man diesen ontologischen Begriff fallenläßt," dann 98

99

Compendium primae philosophiae. In: Contarini, Opera. S. 159: »Esse ipsum atque ipsum Unum, quod ex superfluenti bonitate extra se in alias quoque naturas defluxit, paulatim delapsum est, ac veluti per gradus processit a perfectissimis naturis in inperfectissimas, et demum desiit in materiam primam, quae prope nihil esse videtur.« Vgl. Giacon, L'aristotelismo avicennistico di Gaspare Contarini. S. 117. Telesio tut das in Buch II von D R N 1586; vgl. zu dieser Thematik auch M. L. Bianchi, Scholastische Motive im 1. und 2. Buch des De subtilitate G. Cardanos. In.: Girolamo Cardano. Philosoph, Naturforscher, Arzt. Hg. von E. Keßler. Wiesbaden 1994. S. 1 1 5 - 1 3 0 ; S. 126ff.; Bianchi zeigt ihre Entwicklung im Bezug auf das Problem der generatio spontanea und geht von der Kritik von Averroes an Themistius aus: »Nach Averroes ist die Auffassung Themistius' aber von Anfang an durch ein völliges Mißverständnis der wahren aristotelischen Lehre beeinträchtigt; Aristoteles habe nämlich nicht etwa behauptet, daß bei der Ent-

91 kommt man schnell zum völligen Kurzschließen des Naturalismus im Detail und der These von der himmlischen Herkunft der Wärme. Das hat Telesio später getan. Mit Contarini hat seit dessen Studienzeit 100 der schon genannte Girolamo Fracastoro 101 in Diskussion gestanden. Fracastoro ist für die Geschichte der Antiperistasis aus einem anderen Grunde interessant als Contarini; denn er behandelt diesen Begriff im Zusammenhang mit dem Begriff der sympathia. Das Buch De sympathia et antipathia rerum, das er 1545 veröffentlicht, ist eigentlich ein langer Prolog zu seiner Arbeit über Ansteckungskrankheiten. Fracastoro möchte der gerade zu seiner Zeit wieder weitverbreiteten Ansicht entgegentreten, Ansteckungen hätten etwas mit okkulten Qualitäten zu tun. 102 Eigentlich also in defensiver Absicht nimmt er den mit dem stehung der Dinge die Ursache eine Wirkung ausübe, indem sie ihre Form von außen dem zu zeugenden Wesen mitteile, sondern indem sie der Materie eine in ihr vorherbestehende Form entnehme und sie so von der Potenz zum Akt übergehen lasse. Zum Beispiel das, was die Seele zeugt, >non est dicere quod ponit animam in materiam sed quod extrahit illud quod est animatum potentia esse animatum actusit aliquo modo illud, quod extrahit, non quod sit ipsum secundum omnes modosDe calore coelestipraeparationem materiae pro educenda forma ignis< bestimmt, so ist auch die Sternenwärme, wenn das Feuer, die Elemente und die Seele infolge ihrer Wirkung entstehen, nichts anderes als ein Mittel zur Verwirklichung ihrer jeweiligen Formen. Das heißt, daß die Wärme >semper agat ut agens secundarium et instrumentale, quum sit instrumentum per quod agit tum coelum, tum forma ignisDel senso delle cose e la magiaKämen Wärme und Kälte in großer Menge gegeneinander, so erfolge eine Zurücktreibung; wären hingegen beyde unkörperliche Wesen gegeneinander in geringer Menge thätig, so geschehe eine Zurückkehrung. Ein Beyspiel solcher Art findet in den oberen Luftregionen statt, die immer kälter sind, als die untern nahe an der Erdfläche; denn jene Luftstellen liegen der Himmelswärme näher, welche folglich mit größerer Gewalt der Kälte der Erde entgegenwirkt, diese zurücktreibt und ihr nicht verstattet, noch höher in die Luft zu gehen, daher in diesen Regionen die große Kälte. Auf eine ähnliche Art erfolgt so etwas nahe der Erdfläche; hier ist nämlich die Kälte der Erde näher; mithin stößt sie die Wärme zurück, fliehet sie, kehret in sich selbst wieder, daher auch hier eine größere Wärme< (in der Luft).« K. Meyer, Zur Geschichte der Antiperistasis. S. 425, nach Referat J. K. Fischer. Vgl. die ersten Kapitel von Tommaso Campanella, Physiologia. In: Philosophia realis. Paris 1638.

102 16. Jahrhundert in Ansätzen sichtbar zu machen. Wir sehen jetzt einige Brüche, einige treibende Faktoren in der Problemveränderung, aber auch die Kontinuitäten. Die Brüche sind markiert durch die Oxforder Calculatores, dann die Zeit um Pomponazzi, in der die Phase der Integration calculatorischer Physik in die Naturphilosophie unterbrochen wird, schließlich das Auftauchen >animistischer< Termini in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Aber auch die Kontinuitäten in der Konjunktur der Antiperistasis sind zu sehen. Von Gaetano über Contarini bis zu Telesio läßt sich das Weiterwirken einer avicennistischen Tradition erkennen, die die Exzellenz der Wärmequalität betont, sie in engem Zusammenhang mit der himmlischen Erzeugungsund Erhaltungswärme sieht, sie mit lichtanalogen Eigenschaften belegt und aus all diesen Charakteristiken naturphilosophische Erklärungen generiert. Antiperistasis ist ein Paradigma für die Transformation des Aristotelismus. Kein auffälliges; man muß nach ihm suchen, es drängt sich nicht auf. Aber es ist weder ein zufälliges noch ein peripheres; denn die Komplexe, die es aufhellt - Lebenswärme, Gegensatzlogik, Sensualität - gehören zu den Schlüsselkomplexen der Renaissancephilosophie.

II. Telesios Theorie des Lichts: species ν el facies 1.

Die Jahre 1544-1552

Die Telesio-Forschung hat zwar berücksichtigt, daß die Veröffentlichungen Telesios ausschließlich späte Produkte sind, die Telesio zwischen seinem 56. und 77. Lebensjahr vornahm. Die Forschung hat sich deshalb auf diese späten Jahre konzentriert, und auf jene beiden letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts, in denen der Telesianismus Eingang in eine >neue Naturphilosophie< gefunden hat. Aber sie hat versäumt, konsequent zu bedenken, daß die intellektuellen Prägungen Telesios weit früher anzusetzen sind. Wenn wir auch über die Studienzeit in Padua fast nichts wissen,1 auch kaum etwas über die darauf folgenden Jahre, so muß doch zumindest die Zeit der ersten Konzeption von De rerum natura als entscheidende Prägungszeit angenommen werden. Diese Phase hat Bartelli mit den Jahren 15441552 bestimmt. 2 In diesen Jahren nimmt Telesio, soweit er nicht das Leben im Kloster zurückgezogen verbringt, wahrscheinlich am intellektuellen Leben in Rom, Venedig und Neapel teil. »Dovette essere, questo, un periodo molto importante per la determinazione dell' orientamente di Telesio, anzi indubbiamente il periodo decisivo.«3 Die Jahre um 1550 sind jene Jahre, in denen die Werke erscheinen, die für Telesio von großer Bedeutung werden sollten: von Contarmi (De elementis, 1548), Fracastoro (De sympathia et antipathia rerum, 1545) und Cardano (De subtilitate, 1550), von Porzio (De rerum naturaüum principiis, 1553), Fernel (De abditis rerum causis, 1548) und 1

2

3

Vgl. L. De Franco, Bernardino Telesio. La vita e l'opera. Cosenza 1989. S. 4. »[...] i biografi posteriori non fecero altro che ripetere quello che leggevano in essi [den ersten Biographen]; per tali notozie, però, manca una qualsiasi documentazione. Che Telesio sia stato a Padova, dato che andò a Venezia, e che ivi abbia ascoltato tali maestri, è molto probabile. Che vi si sia addottorato, è notizia però certamente infondata, anche perchè in nessuno dei numerosi atti del tempo, che lo riguardano, gli viene attributo tale qualifica; e neanche i documenti dell'Università di Padova di quegli anni lo annoverano mai, nè come studente nè come dottore.« F. Bartelli, Note biografiche (Bernardino Telesio - Galeazzo di Tarsia). Cosenza 1906. N. Abbagnano, Telesio. Milano 1941. S. 7, nach der Einschätzung von Bartelli.

104 Argenterie» (De somno et vigilia, 1556). Es ist eine Zeit, in der die Freiheit und Selbständigkeit in den Abweichungen von traditionellen Wegen deutlich zunimmt. Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten bereits Gelegenheit gehabt, einzelne der >tektonischen Verwerfungen der Jahrhundertmitte in ihrer Genese kennenzulernen. Wenn wir daher bis jetzt mit dem begriffsgeschichtlichen Längsschnitt zur antiperistasis einige solche Bruchstellen und Verschiebungen in den Diskursformationen der Naturphilosophie ausgemacht haben, so ist es nun möglich, gezielt nach der Entstehung von grundlegenden Theoremen Telesios zu forschen. Die Arbeitshypothese ist dabei, daß diese Theoreme in ihren Pointen nur über die intellektuellen Kontexte der Diskussionen dieser Jahre - etwa 1540-1555 - zu bestimmen sind, und daß sie sich als Reaktionen auf diese Kontexte verstehen lassen. Ich will versuchen, über die Tiefenanalyse einiger zentraler Punkte so etwas wie eine >Kerntheorie< Telesios herauszuarbeiten, die so aussagekräftig ist, daß wir später im zweiten Teil dieser Studie gegen ihr Profil die Veränderungen ablesen können, die der Telesianismus nach Telesio durchgemacht hat. Die Schwierigkeit ist, wie schon des öfteren erwähnt, daß sich diese Veränderungen gelegentlich nicht an den Begriffen, nicht einmal an den Theoremen, sondern nur an den Pointen der Argumentation vollziehen. Deshalb gilt es hier, in der Analyse der Grundbegriffe Telesios, die begrifflichen Strategien zu erkennen. Dieses Vorgehen macht es möglich, die Versuche von Neuerung zu beschreiben, ohne sich bereits auf ein Urteil über die Fortschrittlichkeit Telesios festlegen zu müssen. Oft ist man bereit gewesen, die Kriterien für eine Fortschrittlichkeit in den Bezügen auf empirische oder gar experimentelle Erfahrung zu suchen, wohl auch in der Hoffnung, man könne sich durch ein derart externes Kriterium die Examinierung der vergangenen Theorien selbst ersparen. Aber dieses populäre Maß für Neuzeitlichkeit hat zu falschen Gewichtungen geführt; es unterstellt der traditionellen Naturphilosophie zumeist eine Abstinenz von Empirie, die nicht zutrifft, andererseits unterschätzt sie in Fällen wie bei Telesio das Ausmaß an spekulativer Theoriearbeit, die sich in ihrer Radikalität gegen manche Beobachtungsfakten durchsetzen muß. 4 Ich werde also nicht auf Telesio als experimentierenden und beobachtenden Forscher eingehen - was er sicherlich auch gewesen ist. Ebenfalls werde ich mich in der Beurteilung der rein metaphysisch-begrifflichen Kritik Telesios zurückhalten, über die schon man4

Vgl. in diesem Sinne M.-P. Lerner, La physique céleste de Telesio: Problèmes d'interpretation, in: Atti Cosenza. S. 83—114; M. Mulsow, »Ein unbekanntes Gespräch Telesios. Sensualismus, Aristoteleskritik und Theorie des Lichts in der Spätrenaissance.«

105 ches gesagt worden ist.5 Die Gedanken über Kontrarietät und Privation, über wahre Substantialität und Form sind zweifellos zentral für Telesios Werk; man hat nicht versäumt, diese Konzeptionsveränderungen zu notieren und zu würdigen. Aber ich will hier anders vorgehen, indem ich mich begrifflichen Umdeutungen von der konkreten Funktion der Begriffe in naturphilosophischen Erklärungen nähere. Die Motivationen für konzeptuelle Änderungen sind zumeist nicht einfach immanent metaphysischer Art gewesen. Wer das behauptet, der sitzt einer nachträglichen Isolierung metaphysischen Wandels auf. Die treibende Kraft der Umbildungen kommt statt dessen oft genug aus den Gehalten der konkreten Theoreme heraus und muß in ihnen aufgesucht werden. Von besonderer Signifikanz sind dafür die kleinen naturwissenschaftlichen Schriften Telesios, die das Hauptwerk als Vor- und Detailstudien begleiten. 6 Sie werden im Zentrum der folgenden Analysen stehen. Über den Kontext einiger telesianischer Grundbegriffe wollen wir die Möglichkeit erwerben, die Fragen nach der Rationalität von Renaissancetheorien wie der Telesios präziser zu stellen, indem wir die Rationalität innerhalb der historischen Diskurssituation beschreiben. Dafür scheinen zwei Konzeptionen Telesios, die ich auswähle, besonders gut geeignet: seine eigentümliche facies-Theorie des Lichtes und seine These vom einheitlichen menschlichen spiritus und seinen Leistungen. Jede dieser Thematiken bildet einen Kern in Telesios Gesamtwerk: die erste im allgemein >physikalischenanimistischen< Argumentation zu präzisieren. Im Zentrum steht eine Formulierung Telesios, die keineswegs isoliert und terminologisch zufällig, sondern oft wiederholt und mit Bedacht formuliert ist. Telesio beschreibt in DRN 1586 die Vermögen seiner beiden naturae agentes; er spricht dort »von dem, womit die tätigen und handelnden Naturen bedacht sind - den Kräften, sich zu 5

6

Vgl. G. Soleri, »Telesio contro Aristotele«. In: Rinascimento 3 (1952). S. 143151; M.-P. Lerner, »Aristote >oblieux de lui meme< selon B. Telesio«. In: Les études philosophiques 3 (1986). S. 371-389; vgl. auch G. Gentile, Bernardino Telesio. Bari 1911; F. Fiorentino, Bernadino Telesio, ossia studi storici sull'idea della natura nel Risorgimento italiana. Firenze 1872-1874; N. van Deusen, Telesio, the First of the Moderns. New York 1932. Zum größten Teil 1590 von Antonio Persio veröffentlicht als Varii de naturalibus rebus libelli.

106 erweitern und auszugießen oder sich zu bewegen und zu verharren, und ebenso mit dem Anblick, der den Anblick des je anderen von ihnen zurückweist, der tätig, lebendig und sichtbar ist.«7 Diese komplexe Beschreibung scheint metaphorische Elemente zu enthalten, da ein physikalischer Grundvorgang im Bild von lebenden Wesen beschrieben ist, die sich gegenüberstehen, feindlich, handlungsbereit, und sich gegenseitig mit Blicken bedrohen und zurückweisen. Mit >Anblick< ist dabei das lateinische Wort species übersetzt, das zwar eine lange fachsprachliche Tradition hinter sich hat, gleichwohl aber in diesem Kontext einen ursprünglichen Sinn von >Anblick< zurückgewinnt; das zeigt noch deutlicher das Synomyn, das Telesio dafür bereithält, und das den Ballast der terminologischen Tradition nicht zu tragen hat: species ac veluti facies, sagt Telesio. Facies, das Gesicht, das Antlitz, macht das Bild des gerichteten Blickes vollends eindeutig. Ist diese Beschreibung Metapher? Ist sie, die für einen Kernbereich der telesianischen Theorie steht, Beweis des >vitalistischen< und >animistischen< Charakters der Theorie? Warum wird gerade diese Beschreibung für das Verhältnis der naturae agentes gewählt, warum die in jeder Beziehung ungewöhnliche Terminologie? Um auf diese Fragen Antwort geben zu können, ist eine lange Reihe von Überlegungen notwendig. Es ist unerläßlich festzustellen, welcher Bereich hier als Metaphernspender - wenn man es denn Metaphorik nennen will - fungiert, und welches die theoretische Referenz ist, die die Metapher empfängt. Ist diese Referenz, oder das Bezugsmodell, identifiziert, kann entschieden werden, wie weit die anthropomorphe Bildlichkeit den Kern des Argumentes betrifft, in welchen Eigenschaften sie ihn betrifft und welche Funktion die Bezugnahme durch Bildlichkeit hat. Ist der >Anblick< der Wärme nur Oberflächenbeschreibung? Ist der Ausdruck Folge einer pointierten Absetzung herkömmlichen Verständnisses? Knüpft er mit seiner Bildlichkeit an diskursive Kontexte an, die auch mit >Anblicken< zu tun haben? Die Antwort über den rationalen Charakter von Telesios Beschreibungsweise wird davon abhängen, wie tief die Involviertheit in biomorphe Kontexte reicht, wie weit die Eigenschaften des Modells in einer nachvollziehbaren Weise entwickelt werden können. Bevor wir mit einer genaueren Beschreibung von Telesios Gedanken beginnen, wollen wir an einem anderen Denker sehen, welche Aspekte und mögliche Reichweite zu dieser Zeit eine Theorie von Licht und Farben besitzen kann. 7

D R N 1586, I, 4 (S. I, 52/54): »[...] quae agentibus operantibus naturis tributa sunt, sese amplificandi effundendique, nec sese commovendi continendive viribus, nec specie itidem, quae illarum alterius speciem reiceret, agente nimirum vigenteque et visili, donanda fuit, [...].«

107 2. Porzio und die Reichweite einer Theorie von Licht und Farben Beginnen wir mit einem Theoretiker, der sich besonders auffällig um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Problem von Licht und Farben beschäftigt hat. Simone Porzio, Professor für Philosophie am studio in Pisa, studiert in den 1540er Jahren das Phänomen der Farben. 1548 ediert, übersetzt und kommentiert er die kleine Schrift De coloribus aus dem Corpus Aristotelicumf seine Übersetzung wird wenig später in die große Aristoteles-Averroes-Ausgabe übernommen. 1550 schreibt er eine Abhandlung De coloribus oculorum.9 Porzio scheint auf diese etwas abseitig erscheinende Thematik nicht zuletzt durch seine Beschäftigung mit der menschlichen Erkenntnispsychologie und der Lektüre von Alexanders De am'ma-Kommentar gekommen zu sein, deren Ergebnisse er 1551, also fast gleichzeitig, vorlegt. 10 Denn Aristoteles hatte in der umstrittenen intellectus agem'-Passage einen Vergleich gebraucht: »Es gibt also Geist von solcher Art, daß er alles wird, und wiederum einen von solcher, daß er alles bewirkt als ein besonderes Verhalten, wie etwa das Licht. Denn auf eine gewisse Weise macht auch das Licht die der Möglichkeit nach vorhandenen Farben zu wirklichen Farben.« 11 Porzio läßt sich im Vorwort zum Kommentar von De coloribus gleich mehrfach auf diesen Vergleich ein. Er spricht von der sehr engen Verbindung zwischen dem lumen, dem Licht als Helligkeit, und der Farbe. »Wenn wir [die Helligkeit] drittens und letztens als Disposition zu den Farben betrachten, die den begrenzten Körpern innewohnen, dann werden wir sie nicht erste Wirklichkeit, sondern letzte Vollendung und Fähigkeit nennen, durch die sie das Durchscheinende und Gesicht bewegen kann. [...] Weil aber durch sie anderes wahrgenommen wird, nennt man sie aktive Fähigkeit des Sehens und des Sinnes. So hat Aristoteles im dritten Buch von De anima sehr schön den intellectus agens mit der Helligkeit verglichen. Der intellectus agens ist nämlich sowohl erkennbar als auch Prinzip des Erkennens ohne Veränderung, nicht anders als die Helligkeit selbst höchst sichtbar und zugleich Prinzip des Sehens diesseits der Veränderung der sichtbaren Dinge ist; denn allein durch 8

9 10 11

D e coloribus libellus a Simone Portio Neapolitano Latinitate donatus et commentariis illustratile, Florentiae 1548; die Schrift selbst ist pseudo-aristotelisch. Zu Porzio vgl. Lohr, Art. >PortiusfinsterGlanz< (candor) spricht, so ist das natürlich eine Reminiszenz an platonische Terminologie. Für neuplatonische Denker ist die glänzende Weiße ein Vermittlungsglied zwischen der Lichthelligkeit und der Wärme. Da in dieser Tradition immer Interesse an einer kettenhaften Verbindung über Ähnlichkeiten bestand, hat man in dem Konzept einen Übergang von Licht und Wärme gefunden. Ficino beschreibt eine derartige Vermittlungskette im Timfli'oi-Kommentar: »Erstens eben die Sonnensubstanz selbst, ferner das substantielle und innerste Licht, drittens das daraus hervortretende Licht, viertens der aus dem Licht sich ergießende Glanz, fünftens die durch den Glanz freiwerdende Wärme, sechstens die Erzeugung, die mit der Ausbreitung der Wärme aufkommt.« 33 Ähnliches findet man bei Giordano Bruno: »Die eine dieser Welten (sagen die Platoniker) fließt aus der anderen wie beim Wasser ein Kreis von einem anderen abhängt. So entspringt aus dem Licht das Leuchten, aus dem Leuchten der Glanz, aus dem Glanz die erzeugende Wärme.« 34 Man sieht, daß die Verbindung von Licht und Wärme, mit der sich die aristotelische Tradition so schwertut, bei den Piatonikern durchaus vorhanden ist; man muß aber zugleich beachten, daß hier immer von der Wärme in bezug auf Erzeugung die Rede ist, also von der >milden< und >himmlischen< Lebenswärme. 35 Die strenge Trennung, die Aristoteles zwischen dem Licht der Sonne und der elementaren und sublunaren Qualität der Wärme einführt, ist eine andere Sache. Doch wird sie in dem Maße aufgeweicht, wie man - wie wir im IV. Kapitel sehen werden - im Begriff der Lebenswärme elementare und himmlische Wärme angleicht. Telesio hat diese Bedeutungsüberlagerung vorgenommen, und so schöpft er auch hier aus der platonischen Terminologie, um seine Annäherung von Licht und Wärme voranzutreiben. Doch Telesios These kehrt die neuplatonische Beziehung genau um: Nicht die Wärme geht aus dem Glanz hervor, sondern der Glanz 33

34

35

M. Ficino, In Piatonis Timaios. X. In: Opera omnia. Basel 1576. Tom.II. S. 1442; ich danke Tamara Albertini, daß sie mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht hat; von ihr übernehme ich auch die Übersetzung; lat: »Quem admodum sex hi gradus ordine disponuntur: Primo quidem ipse solis substantia, deinde lux substantialis et intima: Tertio lumen inde manans: Quarto splendor resultans ex lumine: Quinto calor splendore successus: Sexta generatio caloris flagrantia coalescens.« G. Bruno, De Monade. Kap. V. Erste Ordnung. Opera latine conscripta. Hg. von F. Fiorentino u.a. Napoli 1879-1891. Bd, I, 2. S. 386: »Mundorum istorum (inquiunt Platonici) sic alius profluit ab alio, sicut in aqua circulus a circulo dependet: sicut ex LUCE procedit LUMEN, ex Lumino emanat SPLENDOR, ex Splendore CALOR genitalis.« Bei Cardano gibt es eine Theorie der Nähe von claritas und calor, vgl. D e subtilitate. Buch IV. In: Opera omnia. Lyon 1663. Ndr. Stuttgart 1966. Bd 3.

115 ist e i n M o d u s -

e b e n j e n e s >Gesicht< d e r W ä r m e . » U n d d i e S o n n e

g i e ß t n i c h t a n d e r e B e s c h a f f e n h e i t e n v o n sich s e l b s t aus, s o n d e r n nur d i e e i n e W ä r m e : d e n n d e r G l a n z , d e r m i t d e r W ä r m e v o n ihr b e i u n s a n k o m m t , k a n n in d i e t i e f e r e n T e i l e d e r E r d e , d i e d i e S o n n e u m n i c h t s s c h w ä c h e r v e r ä n d e r t als d i e o b e r e n , ü b e r h a u p t n i c h t e i n d r i n g e n ; u n d er ist k e i n e s w e g s e i n e S a c h e , d i e v o n d e r W ä r m e g e t r e n n t w ä r e , o d e r e t w a s a n d e r e s als sie, s o n d e r n w e n n sie s c h o n n i c h t d i e W ä r m e s e l b s t ist, d a n n d o c h z u m i n d e s t ihr A u s s e h e n o d e r g e w i s s e r m a ß e n ihr G e s i c h t . « 3 6 D e r G l a n z d e r S o n n e 3 7 ist o f f e n b a r n i c h t v o n g l e i c h e r R e i c h w e i t e w i e d i e W ä r m e selbst. T e l e s i o u n t e r s c h e i d e t n a c h d e m K r i t e rium, o b sich d i e species

in ihrer A u s b r e i t u n g d u r c h s e t z e n

o d e r >zurückgewiesen< w e r d e n . D a f ü r hat er d e n U n t e r s c h i e d z w i s c h e n lux u n d albedo

können

terminologischen

bereit: D a s e i n e ist d e r A n b l i c k

der starken und sichtbaren Wärme, das andere der Anblick

der

s c h w a c h e n u n d u n s i c h t b a r e n W ä r m e . 3 8 D i e D i f f e r e n z i e r u n g ist o f f e n sichtlich n o t w e n d i g , u m e i n e allzu o f f e n e I d e n t i f i k a t i o n v o n L i c h t u n d Wärme

Phänomene

wieder

abzu-

s c h w ä c h e n . G e r a d e d a T e l e s i o b e h a u p t e t , d a ß alles

in

Sinne

einer

Rettung

der

Seiende

durch

W ä r m e k o n s t i t u i e r t ist, m u ß e r d a f ü r a u f k o m m e n k ö n n e n , d a ß n i c h t 36

37

38

D R N 1586, I, 1 (S. I, 32): »Et sol non alias sui ipsius condiciones, sed unum modo effundit calorem: nam candor, qui cum calore ab ilio advenit, profundiores terrae partes, quas nihilo segnius quam superiores immutat sol, subire nequit prorsus; et nequaquam res a calore seiuncta, et alius a calore, sed si non calor ipse, ipsius certe species et veluti facies est.« Glanz kann auch auftreten im Prozeß der >Überwältigung< von Erde durch Wärme, wenn eine Flamme auftritt - also bei einer heißen Reaktion, vgl. D R N 1586, I, 1 (S. I, 32f.). Vgl. Telesio, D R N 1586 I, 2 (S. I, 44): »Patet itidem albedinem; nec earn modo, quae, quod sese amplificandi et quaque versus effundiendi potens est, et quae, quod sese assidue amplificat et quaque versus effundit, itaque animalium oculos subit iisque inexistenti spiritui se ipsam suasque affectiones manifestai omnes, per se visilis est et lux dicitur; sed quae veluti torpet et, siquidem sese et ipsa effundit, quoniam statim, prius omnino quam ad ocuos perveniat, ab obviis speciebus reicitur obscuraturque, invisilis per se est, et non lux sed albedo dicitur.« Weiter De coloribus. V N R L S. 329: »Itaque in longum sese effundit obviasque tenebras et species exuperat et inexistente oculis ipsum propria afficit specie, et per se omnino visilis est et lux dicitur. Haec vero quia summe exilis proptereaque et summe languida est multo in brevius sese effundit statimque vel ab obviis tenebris obscuratur vel in robustiore Solis albedine latet.« Antonio Persio hat diese Thesen übernommen und gegen traditionelle Ansichten verteidigt. Vgl. Persio, De natura ignis XI,33 (II, fol. 306v-307v) (Quod lux est veluti facies et species ignis et caloris): »Duplicem esse albedinem iam supra monuimus, alteram quae vim habet sese amplificandi et quaque versus effundiendi, et hac ratione animalium oculis subiens quoniam inexistens oculis spiritui se ipsum ac suas omnes affectiones manifestat, per se visilis est et lux dicitur. Alteram vero quae veluti torpet et siquidem sese et ipsa effundit quoniam statim ac prius omnino quam ad oculis perveniat ab speciebus rejicitur atque obscuratur, per se invisilis est et non lux sed albedo dicitur proprie.«

116 alle Dinge weiß erscheinen. Man sieht: es gibt in dieser Theorie als Preis für ihre logische Einfachkeit eine ganze Reihe von Hypothesen, die reinen Postulatscharakter haben und sich nur bedingt mit dem methodischen Anspruch des sensuellen Kriteriums vereinbaren lassen: 39 die unsichtbare reine Weiße, die postulierten species der Kälte. Andererseits kann Telesio auf beobachtbare Phänomene ihrer Abwesenheit verweisen, wie etwa auf die Lücke, die zwischen den beiden farblich umgekehrten Bögen eines Doppelregenbogens auftritt. 40 Aber uns interessiert, welches das Modell ist, das den >Glanz< der Wärme als species und Anblick zu deuten erlaubt. Die Verwendung des species-Begriffes liegt eindeutig jenseits eines bloßen platonischen Vermittlungsdenkens. Resümieren wir zunächst: Die glänzende Weiße ist zugleich Prinzip der Farblichkeit - indem sie vermischt mit der Verdunkelung der Materie die Farbreihe ergibt - und Modus von Wärme. Wir sehen bei Telesio eine denkbar enge Verknüpfung von Farben- und Elementenlehre; die eine kann unmittelbar als Kriterium für die andere dienen, und beide sind offenbar in engem Zusammenhang entwickelt worden. Voraussetzung für diese Verbindung ist, daß Telesios erste Prinzipien Warm und Kalt unmittelbar selbst die species aussenden, die in der Abdämpfung durch die Materie die Grundlage für Farblichkeit sind. 41 Die aristotelische Lehre hatte dagegen die etwas komplizierte Lehre von der Farbe als Grenze und Extremität eines begrenzten durchsichtigen Körpers zu verteidigen; das setzt eine Theorie der Helligkeit voraus, die die potentiellen Farben in die Aktualität setzt, und die so ein relativ großes Begriffsinstrumentarium benötigt. Zwar entsteht auch hier Farblichkeit letztlich durch das Zusammenspiel von Helligkeit und Materie, aber es gibt keine direkten Zuordnungen und keine unmittelbare Verbindung zu Phänomenen von Wärme. 39

40

41

Vgl. zu dieser Problematik näher M. Mulsow, »Ein unbekanntes Gespräch Telesios. Sensualismus, Aristoteleskritik und Theorie des Lichts in der Spätrenaissance«. Vgl. De iride. VNRL S. 106f. und die Abbildung S. 107; S. 106: [...] »Et intermedium quidem spatium a media, a prominente nimirum; Iridum colores prout ab albo spatio magis recedunt, ita a Solis partibus, quae a prominente magis absunt; et interior quidem Iris a Solis parte quae infra prominentem; exterior vero ab ea, quae supra prominentem est, supra videtur. Quoniam igitur quae prominet Solis pars maxime ad oppositas nubes directa; quae vero summe a prominente absunt, superior quidem ad superpositum caelum, inferior vero ad Terrain directa ad oppositas Soli nubes summe obliqua; harum mediae medio se habent modo et eodem utraque; aeque enim utrinque incurvatur Sol oportet. Iure quae ab intermedio spatio resilit lux alba spectantur; summe enim directa summeque ad ipsum robusta delata est; [...].« Das ist freilich nicht eindeutig für die Kälte, deren species wir nicht kennen können, da sie verlorengeht.

117 Zentral ist nun die Frage: welches ist die Herkunft von Telesios Gedanken einer species-Aussendung der ersten Körper? Wie kann die Terminologie von >Anblick< und >Zurückweisung< rekonstruiert werden?

4. Die Herkunft der Theorie Telesios Theorie geht offensichtlich von der Vorstellung einer multiplicatio speciorum aus, wie sie seit Grosseteste und Roger Bacon im Mittelalter verbreitet war. Schon Telesios terminologische Verwendung von multiplicatio weist darauf hin. Nun war die optische Tradition im Mittelalter, die Tradition der perspectivi, immer ein Residuum für Theoreme, die relativ wenig auf die aristotelische Physik bezogen waren. 42 Nach dieser Tradition breiten sich Lichtstrahlen so aus, daß eine spirituelle species des Lichtes an jedem Punkt, an dem sie ist, wieder neue species generiert, und zwar in allen Richtungen. Und die Lichtausbreitung ist für Grosseteste und Bacon nur das paradigmatische Modell für die Kausalwirkung aller Prozesse in der Welt. Kausalwirkung geschieht wie Lichtausbreitung. Dieselbe Multiplikation von species scheint auch Telesio vorauszusetzen, wenn er die Verbreitung der Wärme, die das Bestreben haben soll, sich alles anzueignen, so beschreibt, daß »die Wärme und die Kälte sich beständig aus den ihnen eigentümlichen Orten in die nächstgelegenen ergießen und von dort im gleichen Augenblick, in dem sie entstehen, sich wechselseitig vertreiben, [.,.].« 43 Allerdings gibt es gewaltige Unterschiede zwischen Telesios species-Theorie und ihren ursprünglichen Ausgestaltungen. Der Gedanke, Licht als species der Wärme zu verstehen, liegt Bacon noch fern, der schreibt, »species coloris est color, et species lucis est lux, et sic de omnibus«. 44 Vor allem aber ist bei Bacon ein Gegeneinanderwirken verschiedener species noch nicht denkbar; wenn die species von Wärme und Kälte aufeinandertreffen, gibt es keinen Kampf und keine Zerstörung zwischen ihnen, sondern eine Mischung: »und wenn die species des Warmen und Kalten dahin kommen, daß die eine nicht die andere zer-

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44

Vgl. D. Lindberg, »The cause of refraction in medieval optics«. In: British Journal for the History of Science 4 ( 1 9 6 8 - 6 9 ) , S. 2 3 - 3 8 . D R N 1586, 1,5 (S. I, 62): »At vero, cum calor frigusque assidue sese e propriis sedibus in próximas effundant et, in quibus simul fiunt, mutuo sese ex iis deturbent, [...].« R. Bacon, D e multiplicatione speciorum. In: D. Lindberg, Roger Bacon's Philosophy of Nature. S. 10.

118 stört, entsteht eine Mischung.«45 Allerdings kann Bacon die Theorie einer Art von Verdrängung der einen species durch die andere anbieten. Das ist der Fall, wenn eine species auf die andere zwar nicht wegen ihrer Kontrarietät, aber wegen unterschiedlicher Stärke so wirkt, daß sie die andere völlig ausschaltet und ein Auge nur noch die erste wahrnimmt. »Und deshalb kommt die eine starke und verdunkelt die andere, so wie ein größeres Licht das kleinere verdunkelt; und die Sehfähigkeit wird von der stärkeren beansprucht und gibt die andere species preis. Und so weit kann die Herrschaft des einen Gegensatzes gehen, daß seine species am primären Ort der Mischung vorherrschen wird, so daß der andere völlig zerstört wird, und vor allem im Medium vom Ort der Mischung zum Auge, so daß die eine species, bevor sie zur Pupille gelangt, in einem natürlichen Prozeß in ihr Gegenteil umgewandelt wird. Und daher wird der Gesichtssinn über eine einzige Sache aufgrund einer einzigen species urteilen, oder so stark, daß die übrige verdunkelt werden wird.«46 Die Variationen des species-Begriffes sind im Laufe des Mittelalters immer komplexer geworden. 47 In der Nachfolge von Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Aegidius Romanus hat man anstelle des einheitlichen modus causandi, der bei Bacon vorliegt, von Anfang an drei unterschiedliche aktive Wirkungsweisen der causae efficentes im irdischen Geschehen angenommen, »die mechanische Kausalität der vires motrices, die Assimilationskausalität der aktiven Qualitäten Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit, und schließlich die intentionale Kausalität der spezifischen Sinnesqualitäten, deren passa appropriata die korrespondierenden Sinnesorgane und nur sie sind.«48 Erst im späten Mittelalter 49 hat man dann versucht, den species-Begriff wieder einheitlich zu denken. Trotz der Kritik Ockhams 45

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47

48 49

Ebd. S. 196: »et quando species calidi et frigidi veniunt ut una non corrumpat aliam, omnino fit mixtio.« Ebd. S. 198/200: »Et ideo una venit fortis et occultât aliam, sicut maior lux occultât minorem; et occupatur virtus visiva circa fortius immutane et dimittit aliam speciem. Et in tantum potest esse dominium unius contrarli quod illius species prevalebit in loco mixtionis primo, ita quod alia omnino destruatur, et precipue in medio a loco mixtionis ad oculum, ita quod antequam ad pupillam veniat convertatur species una in contrarium per actionem naturalem. Et ideo iudicabit visus de re una per speciem unam, aut ita fortem quod occultabitur reliqua.« Als erste Orientierung vgl. Α. Maier, Das Problem der species sensibilis in medio und die neue Naturphilosophie des 14. Jahrhunderts. In: dies., Ausgehendes Mittelalter. Bd 2. Roma 1967. S. 419-451. Ebd. S. 421. Zum species-Begriff im späten Mittelalter vgl. K. Tachau, Vision and Certitude in the Age of Ockham. Optics, Epistemology and the Foundations of Semantics 1250-1345. Leiden 1988; vgl. allg. auch Cambridge History of Later Medieval Philosophy. Hg. von N. Kretzmann, A. Kenny und J. Pinborg. Cambridge 1982.

119 am species-Begriff und seiner Versuche, ihn zu eliminieren, hat sowohl in Oxford als auch in Paris eine breite Affirmation des Konzeptes überdauert. 50 D i e Tradition der perspectivi hat so auch im Spätmittelalter wirken können. Es sind Theorien entstanden, die die actio realis der Assimilationskausalität der actio intentionalis angenähert haben, wie wir es im ersten Kapitel bei Gaetano da Thiene gesehen haben: Wärmewirkung wird nach dem Modell von Lichtwirkung gedacht. Nur wenn man die vorherige Trennung der Kausalitätstypen kennt, kann man die Kritik verstehen, die Pomponazzi an Gaetanos actio realis vorbringt. Wärme und Licht wieder zusammendenken zu wollen, hat vor dem Hintergrund der scholastischen Distinktionen durchaus etwas Unerhörtes. 51 D i e Motive, die dafür im 15. Jahrhundert vorliegen, sind offenbar sehr komplexer Art. Von der Seite der Medizin her waren seit Albertus Magnus und seinen avicennistischen Ansichten >himmlische< Elemente in den Natur- und Lebensbegriff gekommen; die Themen der Optiker, der perspectivi, kamen zunehmend in Konjunktur, schließlich gab es die von Averroes inaugurierten Debatten zur Erwärmungskraft des Lichts - wie wir noch sehen werden. Bei einem Theoretiker wie Gaetano 5 2 verdichten sich diese Tendenzen, und er geht so weit, Lichtreflexion als Modell für die Warm-Kalt-Probleme der reactio einzusetzen. A n dieser Stelle können wir wieder an das anschließen, was im ersten Kapitel über die Geschichte der antiperistasis gesagt worden ist. Erinnern wir uns: Die Intensitätssteigerung in der reactio sollte so 50

Vgl. K. Tachau, Vision and Certitude; ebenfalls G. Federici Vescovini, Arti e filosofia nel secolo XIV: studi sulla tradizione aristotelica e i moderni. Firenze 1983; vgl. zur relativen Wirkungslosigkeit des Nominalismus bezüglich der optischen Theorien auch W. Hiibener, Die Nominalismus-Legende. Uber das Mißverhältnis zwischen Dichtung und Wahrheit in der Deutung der Wirkungsgeschichte des Ockhamismus. In: Spiegel und Gleichnis. Festschrift für Jacob Taubes. Hg. von N. W. Bolz und W. Hübener. Würzburg 1983. S. 87-111. Vgl. insbesondere in Bezug auf die später in diesem Kapitel zusammen mit Gaetano de Thiene erwähnte Position des Paulus Venetus S. 94: »Unsere Bemerkungen zum logisch metaphysischen Wyclifismus Pauls von Venedig und zum Universalienubiquitismus Autrecourts erlauben jetzt schon die Vermutung, daß im 14. Jahrhundert gerade nach Ockham realistischerseits Extrempositionen vertreten worden sind, wie sie sich in der Hochscholastik nicht nachweisen lassen.«

51

A. Maier, Das Problem der species sensibilis, beschreibt einige der Tendenzen im Spätmittelalter, den species-Begriff - dort, wo er nicht ganz abgelehnt wird, wie bei Occam - wieder zu vereinheitlichen: so bei Olivi, der den Unterschied der Wirkungen ausschließlich im passum sieht (S. 421), oder bei Durandus, dem das Sein im Medium nur ein anderer Modus des Objekts ist (S. 429); für Buridan haben sowohl die Licht- als auch die Wärme-species nur intentionales Sein (S. 447). So sagt er im Meteora-Kommentar, daß das Licht eigentlich die erste Qualität vor der Wärme sei - eine sehr platonisierende Ansicht, die wieder zurückweist zu den Anfängen der species-Theorie bei Grosseteste und Bacon; In IV Aristo-

52

120 möglich sein, daß die species der einen Qualität an der der anderen reflektiert werden und durch diese Reflexion ein >potenteres Instrum e n t erhalten. Das Entscheidende aber, was Gaetano auszeichnet, ist, daß er die species-Multiplikation mit der Kontrarietät der ersten Qualitäten zusammendenkt. Denn indem die species von Warm und Kalt als wie Lichtstrahlen gegeneinandergerichtet konzipiert werden, wird der Gedanke von sich gegenseitig zurückweisenden species möglich. Auch wenn Gaetano gar nicht vom direkten Gegeneinanderwirken der species redet, sondern nur von ihren wechselseitigen Wirkungen durch Reflexion und Steigerung, so ist die Möglichkeit einer Zurückweisungstheorie doch eröffnet. Und weiter: auch die Vorstellung einer lichtanalogen Strahlung, die von der Kälte ausgeht, ist bereits in Gaetanos Modell implizit vorhanden und wird durch sie möglich. Es sind drei Faktoren, die hier aufeinandertreffen. 1) Wegen der Annäherung von Licht und Wärme und der Erwärmungskraft von reflektiertem Licht wird Licht als Modell für Wärmeausbreitung im Sinne von real wirkenden, aber optisch gedachten species genommen, 2) Das Modell wird auf Kontrarietät der beiden ersten Qualitäten angewendet; eine Folge ist, daß auch die Kälte nun in Analogie zum Licht gedacht ist, 3) Das Modell wird zur Erklärung von Intensivierungsprozessen angewendet. Telesios Theorie der facies kann als eine Folgelast von Gaetanos Theorie verstanden werden, als eine Konsequenz, die Telesio anders zieht als Gaetano selbst. Sicherlich ist in Telesios Rede vom Licht als Aspekt der Wärme die genannte neuplatonische Vermittlung von der Sonne über das Licht und den Glanz zur Wärme ein virulenter Hintergrund. Im Venedig der 1570er Jahre hat man deshalb in Telesios Thesen ein Wiederaufleben der Lichtvorstellungen von Proklos und Iamblich sehen wollen. 53 Doch die konkreten Aussagen von Telesios

53

telis Metheorum libros Expositio. Venedig 1491.1,1,1; für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Eckhart Keßler. Vgl. A . Maranta, Miscellanea (entstanden Venedig 1580). Ms. Magi. XII. 8. Fol. 145v sq. Maranta sieht dort die Parallele zu Telesio, daß Proklos und Iamblich das lumen für einen höchst dünnen und subtilen Körper gehalten haben. Maranta steht mit dieser Deutung aber mitten in der - spezifisch venezianischen - Diskussion um platonische Alternativen zur aristotelischen Philosophie und zur Neuetablierung einer voraristotelischen, älteren Tradition der Naturdeutung als äquivalent mit den Theorien der neuen Naturphilosophen wie Telesio. Diese Deutungen sind bereits Sekundärprodukte des Venezianer A m bientes und dürfen nicht mit den Entstehungsbedingungen von Telesios Denken verwechselt werden. Typisch für den Venezianer Diskussionsstand, auch bezüglich der platonischen Lichttheorien, N. Contarini, De perfectione rerum libri sex, Venedig 1576. S. 240: »Lumen vero, quidam ex Academicis aiunt, corpus quoddam esse tenue, et purum; quod subtilius explicatum foramina aeris

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Lichttheorie lassen sich über eine solche Rezeptionsvermutung allein nicht ableiten. Sie werden nur in der Problemsituierung verständlich, die sich aus dem Stand der species-Theorie um 1500 ergibt. Das Gegeneinanderwirken und sich Zurückweisen der species läßt sich dann vollständig rekonstruieren über die beiden Gedanken der LichtWärme-Identifizierung und ihrer Anwendung auf das konträre Grundverhältnis. Die Komplikation, die sich aus der Notwendigkeit der Reflexion für Gaetano ergibt, kann Telesio mit seiner unmittelbaren Übereinstimmung von Licht und Wärme eliminieren. Aber wir haben noch nicht verstanden, weshalb Telesio pointiert von einem >Anblick< der Wärme- und Kältespecies gegeneinander sprechen will. Zwar sagt die konträre Stellung von Warm und Kalt hier viel aus, aber sie reicht doch nicht hin für die Konnotationen, die im Ausdruck facies mitgesagt sind. Wir können uns hier an den dritten, den affektiven Aspekt erinnern, den wir bei der Durchmusterung von Porzios Anknüpfungen gefunden haben. Sehen wir auf Pomponazzis Kritik an Gaetano, die im I. Kapitel dargestellt worden ist. Pomponazzi hat seine Gründe gehabt, gegen eine Vermischung von actio realis und actio intentionalis zu argumentieren. Denn er sieht, daß in der Einebnung dieses Unterschiedes ein Tor geöffnet wird, in das Vorstellungen von okkulter und magischer Distanzwirkung in die Philosophie eindringen können. Pomponazzi hat deshalb einen Zweifrontenkampf geführt 54 gegen einen calculatorisch modifizierten Aristotelismus auf der einen Seite und gegen einen neuplatonisch modifizierten Aristotelismus auf der anderen Seite. Beide treffen sich in der Aktion von spirituellen Entitäten. Nun hat Telesios facies-Begriff sicherlich nichts Magisches an sich. Doch hat sein Bedeutungsgehalt von >Gesicht< nicht nur den Aspekt des >AussehensBlicksZurückweisens< deutlich. Diese Metapher hat ihren Kern in einer Gerichtetheit des Anblicks. Die Struktur dieses Phänomens wird vielleicht etwas deutlicher, wenn wir noch einmal - wie im Kapitel über die antiperistasis - auf den Fall Charles de Bovelles eingehen, der gegenüber den

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ingrediatur, perque totum pervadat intervallum. Iamblichus tarnen, tantum hoc corpus extenuat, ut illud omni spoliet materia, nullaque foramina in media intercapedine requirat, ut intendi per illam possit. Lumen autem corpus esse confirmant, quod cernamus, si duo lumina simul concurrant in intervallo, et coniungi, disiungi, vertí, mutari, confringi, pertumpi, comminui, extinguí. Itemque calefacere, percutere oculos, debilitare aciem, laedere, consumere, destruere. quae muñera corporibus solum congruere dicunt.« Vgl. E. Keßler, Pietro Pomponazzi. Zur Einheit seines philosophischen Lebenswerkes. In: Verum und Factum. Beiträge zur Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance. Hg. von T. Albertini. Frankfurt 1993. S. 397-419.

122 zwei Allianzbereichen ähnlich gelagert ist wie Telesio und deshalb gelegentlich zu überrasched ähnlichen Formulierungen kommt. Bovelles hatte antiperistasis als ein Phänomen der realen Kontrarietät wahrgenommen; Gegensätze, in die Nähe gestellt, führen zu einer Intensivierung. In der Ars oppositorum benutzt er den Ausdruck, daß sich Gegensätze anblicken. Zumindest scheint sein >spectare< diese Konnotation zu enthalten. »Nam opposita sunt quecunque sibi adversa et contraposita sunt quecunque spectant in alterutrum. Omnis autem adspectus precipue recta linea atque dyametro exprimi tur.« 55 Für Bovillus, der, wie wir gesehen haben, mit seinen Spekulationen ebenfalls in der Theoriesituation nach Gaetano da Thiene ansetzt, ist der Blick der Gegensätze ihre Bezogenheit aufeinander, die geometrisch dargestellt werden kann. Gegensatz ist Position, und Position hat eine Ausrichtung, gleichsam eine >Blickrichtunganimistische< Implikationen. Aber die Pointierung der Gerichtetheit in der Kontrarietät und die Annäherung von realen und intentionalen Specieswirkungen eröffnen die Perspektive auf einen anderen Bereich: den affektiven und gerichteten Bereich des Blicks. Ist der eine Bereich - der >animistische< - nun Metapher für den anderen, der aus der reactio-Problematik stammt? In dieser Frage ist der Kern des Problems von Telesios >Animismus< enthalten - und seine Lösung. Denn die beiden Bereiche stehen zweifellos in einer möglichen Allianzbeziehung. Der Bereich des >Blicks< hat dazu beigetragen, daß Telesio den Gestaltwechsel von Gaetanos Theorie hat vornehmen können. Er gibt ihm die neue Oberflächensprache um den Begriff des sensus herum und ist insofern Metaphernspender. Aber zugleich muß man in aller Unbedingtheit festhalten, daß die realen Theorien, die sich auf >Blicke< beziehen psychologische, magische oder erkenntnistheoretische - , völlig andere sind als die, auf welche Telesio aufbaut. Also kann man Telesios Theorie nicht deshalb als >animistisch< bezeichnen, weil er von species vel facies redet. Telesio benutzt diese Sprache, weil in ihr bestimmte Aspekte seines Modells, insbesondere die Gerichtetheit, die Aktivität, die Sichtbarkeit und die bloße Oberfächlichkeit und Modalität 55

C. Bovillus, Ars oppositorum. S. 80; zum facies-Begriff bei Cusanus und seinen geometrischen Veranschaulichungen vgl. W. Beierwaltes, Visio facialis. Heidelberg 1987; hier hat der Blick von Angesicht zu Angesicht noch die theologischm e t a p h y s i c h e D i m e n s i o n e i n e s Verhältnisses z w i s c h e n E n d l i c h e m und U n e n d -

lichem.

123 zum Ausdruck kommen. Aber diese - durch die naturphilosophische Entwicklung um 1500 verwandte - Sprache ist nicht die Essenz seiner Argumentation.

5. Modifikation des Lichts und der Wärme als Konstituierungsprinzip Telesios Theorie von Licht und Farben hat in seiner Gesamtkonzeption eine wichtige Funktion. Denn da der Grundbegriff seiner causa efficiens nicht Bewegung ist, sondern Wärme, hat die Wärme für die ganze Vielfalt von Prozessen aufzukommen, die der Aristoteliker mit Bewegungsübertragungen und, im Falle von Erkenntnis, mit Formübertragung und Vollendung erklärt. Es muß eine Diversität von Wärmearten sein, die der telesianische Spiritus etwa in verschiedene Geschmacksempfindungen umsetzt, 56 eine Diversität von Farben, die ihn die Dinge erkennen läßt. Vor allem aber muß die Konstitution der Dinge selbst, ihre generatio, sich aus einer Wärmespezifikation erklären lassen. Dies alles mündet in einen zentralen Strang von Telesios Aristoteleskritik: Eine Erzeugung von Wärme durch Reibung an der Luftsphäre kann die Vielfalt von Wärmearten nicht erklären, damit aber auch nicht die Vielfalt der Prozesse von generatio und corruptio.57 Schon das Mittelalter hat hier angesetzt und über die Rolle von Planetenbahnen oder Sternkonstellationen für die Diversifizierung der Übertragung von Supralunarem ins Sublunare spekuliert. Die Astrologie findet ihre Stelle in diesen Übergängen. Aber die aristotelische Sonne ist nicht warm, und auch das Licht ist nicht einfach warm. Das Axiom, daß die ewig bewegte Sphäre nicht die Qualitäten der sublunaren Wandlungsprozesse haben könne, steht einer unmittelbaren Identifizierung von Lichtstrahlung und Wärme entgegen. Es hat natürlich Erklärungsversuche gegeben, warum Licht, wenn es etwa in einem konkaven Spiegel gebündelt reflektiert wird, erwärmen kann. Hier konnten Distinktionen ansetzen: Das Licht sei nicht warm, aber es habe eine Erwärmungskraft; das reflektierte Licht reibe sich an der Luft - und andere Erklärungen. Es ist vor allem 56

57

Vgl. dazu Telesios Opusculum De saporibus, in VNRL S. 349-378. Vgl. etwa Kap. II (S. 352): »Acerbum austerumque et acidum saporem caloris actionem esse, languidioris quidem quam noster est at copiosioris; et acerborum calorem magis quam austerorum et acidorum est a nostro diversum esse.« Und Kap. III (S. 354): »Aqueum saporem caloris nostro persimilis, dulcem, salsum, amarum acremque nostro robustioris copisiorisque vel alterum modo, et quo expositi sunt ordine singulos assidue robustioris copiosiorisve actiones esse.« Vgl. D R N 1586, IV, 9.

124 Averroes g e w e s e n , der d i e s e m M a n k o der aristotelischen Philosophie durch e i g e n e Zusätze a b g e h o l f e n hat, die einige w e n i g e B e m e r k u n g e n des griechischen D e n k e r s zur Basis haben. Averroes knüpft in s e i n e m K o m m e n t a r zu De coelo58 an A u s s a g e n v o n Aristoteles über w a r m e N ä c h t e bei V o l l m o n d an; w e n n durch das reflektierte Licht d e s V o l l m o n d s die Erde erwärmt wird, und w e n n zumal mit Brennspiegeln W ä r m e erzeugt w e r d e n kann, dann geschieht Erwärmung nicht nur durch B e w e g u n g , sondern auch durch Licht - nämlich w e n n es reflektiert wird. Coelum est calefaciens per se motu et lumine. D i e Frage, auch für die A r i s t o t e l e s k o m m e n t a t o r e n nach Averroes, war nur, wie diese Erwärmung zu d e n k e n sei. D i e Lösung, die A v e r r o e s anbietet, ist, Licht in A n a l o g i e zur B e w e g u n g als Vollendung eines feurigen Körpers - ignei corporis perfectio59 - zu denken. A b e r das 58

Averroes, Commentarium magnum de coelo. Txt. 42; in der Aristoteles-Averroes-Ausgabe Venedig 1562. Bd. V. Fol. 125rff.: »[...] videtur enim quod, quanto magis anguli radiorum appropinquant ut sint recti, tanto magis reflectuntur super se, tunc erit finis calefactionis: et quanto magis reflexio radiorum multiplicata fuerit, tanto magis erit calefactio. Et hoc erit in speculo comburenti manifestum: radii enim istius speculi omnes reflectuntur ad unum punctum. Et putatur ex hoc, quod coelum est calefaciens per se motu, et lumine. Et magis apparet hoc, quia videmus loca umbrae esse frigida, cum igitur posuerimus corpus tersum, a quo radii reflectuntur ad locum, in quo radii non erant ante, videmus ilium locum calefieri, et erat ante frigidius. Et si illud corpus tersum auferamus, auferetur reflexio, et refrigidabitur locus. Igitur ex hoc apparet quod radii calefaciunt per se [...].« Agostino Nifo referiert die Argumentation von Averroes in seinem eigenen De coe/o-Kommentar: In Aristotelis libros De coelo, et Mundo Commentarla. Venedig 1567. S. 197b: »An lumen calefaciat, et quomodo. / Quarto quaerunt utrum lumen calefacit. Dicendum per se patere lumen calefacere. Tum quia loca umbrosa videntur frigida respective. Tum secundo quia videmus plenilunia esse calidiora, calefacit igitur, et magis cum reflectitur radius ad perpendiculare, duplicatur enim tunc radius. Adhuc magis cum radii congreg a n t e ut apparet in speculis concavis, nemo igitur dubitai quod calefaciat. Sed de modo est dubium, cui respondet Averroes et dicit primo, quod sicut motus non per se calefacit, sic nec per lumen. Dicit secundo ut motus calefacit quatenus est prima perfectio corporis calidi ad quam sequitur calor ut accidens propriam, sic lumen est prima perfectio corporis calidi, ad quam sequitur per se ipse calidas, ut dicit in libro de substantia orbis, et tunc cum lumine miscetur calor stellarum, et ducitur ad nos, venit enim lumen commixtum calori, persuadet hoc primo, quia stellae et orbes [198a] communicant in lumine, et transpar e n t , igitur non inconvenit communicare in calore. Secundo authoritate Aristotelis, nam luna est similis terrae in opacitate et difformitate, igitur sol similis igni in luce et calore. Tertio authoritate astrologorum, nam hi posuerunt aliquas stellas calidas, aliquas siccas formaliter.«

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Averroes, Cmg de coelo. Fol. 126v: »[...] Cum igitur corpus calidum fuerit motum, erit in ultima sua perfectione: et, cum fuerit in ultima sua perfectione, tunc calor erit in eo in sua ultima perfectione, sicut in re existunt omnia accidentia consequentia formam eius. Si igitur lumen fuerit perfectio corporis ignei, tunc est de eo, sicut de motu, quod corpus calidum igneum, cum fuerit luminosum, erit in sua ultima perfectione: et cum fuerit in sua ultima perfectione, erit in

calore in sua ultima perfectione.«

125 Problem, das erst mit Averroes in voller Schärfe an die Oberfläche des Diskurses gekommen ist, hat weitere Lösungsversuche provoziert und in der Tradierung der averroistischen Doktrin, besonders in Norditalien, rege Diskussion gefunden. 60 Telesio, der diese Debatte referiert, stellt sie als eine erste Abweichung von Aristoteles dar, die aber noch inkonsequent bleibe. Jüngere Peripatetiker, sagt er, hätten auch schon gesehen, daß Wärme nicht nur aus Bewegung, sondern aus Licht entstehe: »Calorem non a solis modo motu, sed ab eius etiam luce fieri, non Aristoteli sed iunioribus visum esse Aristotelicis.« 61 Es ist auffallend, daß Telesio sich hier gegen seine Gewohnheit auf eine bestimmte Debatte bezieht. Der Bezug ist seit der ersten Ausgabe von De rerum natura da und hält sich durch bis in die letzte Version von 1586. 62 Man muß vermuten, in dieser Debatte einen Kern und Ausgangspunkt für Tele60

Vgl. die Reflexe dieser Diskussionen auch bei G. Pico della Mirandola, Disputationes contra Astrologiam. 111,5 (Opera. Basel 1572. Bd. I. S. 461ff.). Eine Annäherung von elementarer und himmlischer Wärme scheint in diesen Diskussionen von denen vorangetrieben worden zu sein, die, statt avicennistischplatonisch die Himmelswärme als einen Einfluß aufzufassen, der alle Elemente umgreift und überragt, die himmlische Wärme als erhaltend speziell für die Qualität der Wärme angesehen haben. Das hat dann Spekulationen befördert, die den Sternen oder dem Mond eine kaltmachende (trockenmachende, feuchtmachende etc.) Strahlung zuschreiben (vgl. die Debatten in den De coelo-Kommentaren). Auch hier ist Telesios Stellung zur Debatte paradox: in der These der Einzigkeit des Wärmeeinflusses steht er auf Seiten der Avicennisten-Platonisten, aber dennoch drängt er mit der Gegenseite auf die Einheit von elementarer und himmlischer Wärme und kennt eine Kältestrahlung (die von der Erde ausgeht). - Pico zu den beiden Positionen S. 457: »Quare si coelesti calore destituantur, nec frigiditatem agere frigus poterit, nec calor caliditatem, non enim calor ille sidereus frigori contrarius, sicuti calor igneus vel aereus, sed omnes continet elementares qualitates eminentia simplici, sicuiti coeli natura continet omne corpus, sicuti motus circularis omnes motus, sicuti lux omnes calores, et quod Pithagorici dicerent, sicuti unitas continet omnes numéros, ut fallantur qui negant conservari coelitus elementa frigida posse, nisi praeter calorem influant et sidera frigiditatem. Dicerent enim aliquid si calida conservaret coelum, calore eiusdem naturae et rationis, sed omnia pariter calida, frigida, húmida, sicca, conservât sua ista qualitate, quae sicuti nulla est ex iis quatuor qualitatibus, ita claudit in se omnes, non quales sunt in elementis, sed quale quod multiplex in unitate concluditur, virtute scilicet principali, per quam illas ita regit, ut et quamlibet ipsimet uniat conservando, et in ipsis totum conservet omnes moderato, et ex ipsis alia pariat omnes commiscendo.« Vgl. allg. zu den Debatten des siderischen Einflusses E. Grant, »Medieval and Renaissance Scholastic Conceptions of the Influence of the Celestial Region on the Terrestrial«. In: Journal of the Medieval and Renaissance Studies 17 (1987). S. 1 - 2 3 . Weiter J. D. North, Celestial Influence. The Major Premiss of Astrology. In: Astrologi hallucinati. Stars and the End of World in Luther's Time. Hg. von P. Zambelli. Berlin 1986. S. 45-100. Ich werde auf die Thematik der astrologischen Einflüsse und der Kritik an ihnen noch im Kapitel III zurückkommen.

61

D R N 1586, IV, 15 (S. II, 88). D R N 1565, II, 37ff.; D R N 1570, II, 46ff.; D R N 1586, IV, 15ff.

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126 sios Theoriebildung vor sich zu haben, denn die Annäherungen von Licht und Erwärmung, die in dieser Diskussion versucht werden, führen in bestimmter Weise zu Telesios zentraler Position: Er kann sagen, daß er den Knoten aller dieser komplizierten Erklärungsversuche kurzerhand durchschlägt, indem er das Verhältnis von Licht und Wärme umkehrt. Wärme hat Lichtcharakter, deshalb und nur deshalb kann Licht erwärmen. Telesios Denken läßt sich also hier als radikale Konsequenz aus einer langen Paduaner Debatte verstehen. Über die Versuche der Averroes-Nachfolger berichtet er: Die übrigen, die alle eine W ä r m e des Lichts mit Averroes verneinen, weisen ihm, jeweils aus unterschiedlichem G r u n d , E r w ä r m u n g s k r ä f t e zu: die einen, weil es durch Reflexion sozusagen angeregt wird; die anderen, weil es die Luft mit Dünnheit versieht, und dann auch mit Wärme, da ja, wo Dünnheit auftritt, die eigentliche Grundlage der Wärme, notwendigerweise auch W ä r m e eintreten muß. Das leugnen wieder andere; aber weil die Luft vom Licht verdünnt und erweitert worden sei und insofern sie dann nicht an ihrem eigenen Ort gehalten werden könne, suche sie einen erweiterten Ort und bewege sich auf diverse und wunderliche Weisen, durch die sie sich entzünde, zumal wenn sie zum Dichten hinabgetragen und komprimiert worden und dann von ihm zurückgeprallt sei, dadurch weiter angeregt und bewegt. Schließlich gibt es noch welche, die nichts des bisher Gesagten so richtig billigen und daran verzweifeln, selbst etwas besseres zu finden. Sie haben es gewagt, dies zu behaupten: daß es einfach die Natur des Lichts sei, daß es, obwohl selbst nicht warm, bei Reflexion E r w ä r m u n g s k r ä f t e annimmt. 6 3

Telesio nennt keine Namen, aber der Kontext der Debatte ist klar. In De natura ignis64 erörtert Antonio Persio die Debatte nochmals und 63

64

D R N 1586, IV,15 (S. II, 96f.): »Reliqui calorem cum Averroe luci abnegantes omnes, diversa singuli ratione, calefaciandi vires íIii tribuunt: alii quod a reflexione veluti irritetur; alii quod aerem tenuitate donet, proindeque etiam calore, siquidem tenuitas, proprium caloris subiectum, ubi fit, calor etiam ibi fiat oportet. N o n id alii; sed quod tenuior a luce ampliorque et quantus omnino in proprio loco contineri nequeat factus aer, amplioremque locum quaerens, variis mirificisque moveatur modis, a quibus accendantur, ad densa praesertim delatus compactusque, et resilens ab iis agitatus commotusque amplius. Postremi, nullum forte dictorum m o d u m probantes et meliorem ipsi invenire desperantes, id m o d o asserere ausi sunt: earn esse lucis n a t u r a m ut n o n calida ipsa a reflexione califaciendi vires assumat.« Persio erörtert die D e b a t t e ausführlich in De natura ignis XI, 23 bis XI, 27; fol. 337r/v: »Alii simpliciter dicere soient lucem et radios calefacere ex reflexione in qua opinione est Archillinus 4. lib. de orbit, dub. 4 [Alessandro Achillini, D e orbibus. Bologna 1498] et Philateus 2. de Coel. [Lucellus Philathaeus, d.i. Lucilio Maggi, In IV libros de coelo et mundo. Venedig 1565] Mayraeus [?] in lib. Averr. de substantia orbis c.2. Johannes Baptista [= Giovan Battista Benedetti, Diversarum speculationum mathematicarum, et physicarum liber. Turin 1585] in disputationibus. Non d e f u e r u n t ut ex tot difficultatibus se eximerent et dicerent astra et lucida corpora vi q u a d a m et virtute quam habent gignendi calorem ipsum calorem producere in qua opinione viri fuisse Johannes Picus Mirandulanus contra Astrologos [Giovanni Pico della Mirandola, Dispu-

127 gibt e i n i g e N a m e n a u s d e n n e u e r e n F o r t f ü h r u n g e n d e r D i s k u s s i o n i m 16. J a h r h u n d e r t . A b e r er n e n n t a u c h z w e i N a m e n , d i e z u h ö r e n u n s im Z u s a m m e n h a n g mit Lichtreflexion und E r w ä r m u n g nicht w u n d e r n wird: G a e t a n o d a T h i e n e u n d P a u l u s V e n e t u s . 6 5 D e n n w i e i m Fall d e r antiperistasis

g i n g e s ja a u c h in d i e s e r F r a g e

u m ein Intensivierungsphänomen. E s war deshalb für die Naturphilos o p h e n , d i e d i e K o n s e q u e n z e n aus d e n c a l c u l a t o r i s c h e n I n n o v a t i o n e n g e z o g e n h a t t e n , e b e n f a l l s v o n z e n t r a l e m I n t e r e s s e . U n d in d e r Tat f i n d e n sich b e i P a u l u s V e n e t u s , 6 6 d a n n a b e r v o r a l l e m in d e n r e a c t i o Traktaten G a e t a n o s

lange Ausführungen über Lichtreflexion

und

B r e n n s p i e g e l . 6 7 E s e n t h ü l l t sich j e t z t e i n w e i t e r e r H i n t e r g r u n d für G a e t a n o s R e f l e x i o n s t h e o r i e als L ö s u n g s m o d e l l d e s r e a c t i o - P r o b l e m s . D e n n offenbar konzipiert G a e t a n o seine Lösung im Z u s a m m e n h a n g m i t d e r V o r s t e l l u n g v o n e i n e r vis calefaciendi,

d i e aus d e m K o n t e x t

tationes contra astrologiam divinatricem. (1494). In: Opera, Straßburg 1504] Tolet. 2. de gen. q.3. [Franc. Toletus, Commentarla una cum quaestionis in II libros de generatione et corruptione. Venedig 1573] Pererius 2. lib. in Genes. q.10 [B. Pereira, Commentariorum et disputationum in Genesin tomi IV. R o m 1589-1598] Nicolaus Contarenus 4. de perfectione rerum c.4. [N. Contarmi, D e perfectione rerum. Venedig 1576] Theoph. [Theophrastus?] De anima c. 9. Domin. Banez 2. de gener. [Domenico Banez, Commentarla et quaestiones in II libros De generatione et corruptione. Salamanca 1585] Valles [Francisco Vallés, De iis quae scriptis sunt physica in libris sacris, sive de sacra philosophia. Turin 1587] locis quibus diximus. [Ein Verweis auf die Kapitel in De natura ignis, in denen sich Persio direkt mit Vallès auseinandersetzt, vor allem in XI, 6] Alii et aliam causam reddere et dixerunt astra non [ ] corpus lucidum, lucem attenere aerem, et ut sic inducere calorem ut Andreas Caesalpinus [Andrea Cesalpino, Quaestiones peripateticae. Venedig 1571, Lib. III, quaest. 5 - 8 ] et Jacobo Zabarella [De calore coelesti. In: De rebus naturalibus. Venedig 1590].« Persio teilt die Diskussion also ein in Positionen, die der Lichtreflexion einfach Erwärmungskraft zuschreiben - die letzte der von Telesio genannten Ansichten, die also auf Achillini und seine Anhänger zielte - , dann solche, die sich aus den Schwierigkeiten damit befreien wollten, daß sie den Himmelskörpern selbst eine Wärmeerzeugungskraft beilegten - im Anschluß an Pico vor allem christliche Kommentatoren - , dann solche, die die Wärmeerzeugung als Sekundärphänomen der Verdünnung der Luft erklären - die zweite von Telesio referierte Position, mit der also Cesalpino gemeint war, vielleicht sogar noch Zabarella, dessen Paduaner Vorlesungen Telesio möglicherweise durch mündliche Berichte bekannt waren. Persio nennt noch weitere Erklärungsvarianten, nennt aber keine Namen mehr. 65

66 67

A. Persio, De natura ignis, XI, 25 (II. Fol. 339r): »Nam quoad aliam opinionem quam Paulus Venetus et Caietan. Thienis retulerunt loquentes de reactione, scilicet lucem facere calorem lumine tanquam per speciem lucis, et ideo quanto magis reflectitur lumen eo magis calefacit haec inferiora per imaginem suam et speciem sensibilem tanquam per instrumentum agenti, haec inquam quomodo a Peripateticis ipsis exibitata [sie] est et quoniam nullam causam affert cur calefaciat est explodenda.« Paulus Venetus, Liber de compositione mundi. Paris 1513. Gaetano da Thiene, Tractatus de reactione. In ders.: In IV Aristotelis Metheorum libros expositio. Venedig 1491.

128 des Averroistischen Problems der Lichtwärme hervorgegangen ist. Lichtstrahlen lassen sich als optisch-geometrisches Modell für Reaktionsverhalten zwischen warmen und kalten Körpern verwenden, weil Licht als erwärmend gedacht wird, sobald es reflektiert ist; zusammengedacht mit der ganz anderen Vorstellung der species-Aussendung von ersten Qualitäten ist daraus Gaetanos komplexe Erklärung der reactio geworden. Während Gaetano Wärmeausbreitung nach dem Modell von Lichtstrahlen denkt, aber Licht selbst - noch aristotelisch - nicht für warm hält, kehrt Telesio auch hier den Gedanken um. 68 Nicht nur kann Wärmeausbreitung optisch gedacht werden, sondern die Optik ist ein Teil der Wärmetheorie; Lichtstrahlung ist Wärmestrahlung. 69 68

69

Telesios Kritik an der Theorie der Erwärmung durch Reflexion: D R N 1586, IV, 17 (S. II, 112f.). Vgl. für ein frühes Stadium von Telesios Lichttheorie und den Problemen von Reflexion und Erwärmung D R N 1570, II, 45 (Fol. 79v/80r). Dort ist die unmittelbare Absetzung von den averroistischen Theorien noch deutlich spürbar. Die Passage gehört zu den Textstücken, die Telesio in seinem Handexemplar (Biblioteca Nazionale di Napoli. Ms. XIV E 68) vollständig durchgestrichen hat, um sie völlig neu zu bearbeiten. Dieser Umstand unterstreicht die Wichtigkeit, die das dort behandelte Problem für die weitere Ausarbeitung von Telesios Theorie gehabt hat. Die Überschrift des Kapitels lautet: »Licht ist warm und mit der Fähigkeit begabt, sich zu vervielfältigen und von festen Körpern zurückzustrahlen; wo die Wärme sich mehr in sich selbst sammelt, dort wird sie auch größer und das Licht wird reichlicher.« Der Text selbst: »Der Sonne und dem Feuer, Dingen nämlich, denen höchste und vollkommene Wärme innewohnt, ist Licht eigentümlich; und was als warm, aber von ihnen getrennt, wahrgenommen wird, kann nicht nur, wie anderswo gesagt worden ist, eine Species der höchsten und volkommenen Wärme, sondern die Wärme selbst zu sein scheinen; aber damit eine Species existiert, wo vieles in eines sich selbst zusammenzieht, ist es nötig, daß ebenso die Wärme selbst viel wird, deren Species das Licht ist, und durch die es warm macht. Weiter wird Licht wie auch Wärme dort reichlicher, wo es einer Dünnheit eingegeben wird, oder kleinen Verdickungen, oder in sich selbst Zusammengeballtem: das nämlich mit der Fähigkeit, sich zu erzeugen und zu vervielfältigen begabte Licht, wie auch die Wärme, wird in einer beliebigen Materie selbst so groß, wie es die Materie erfaßt; und offenbar scheint es durch das, wodurch es in einer dickeren Sache gesteigert wird, auch wärmer und glänzender zu werden. Aber dies dennoch nicht ins Unendliche; sondern wenn es die Dickheit, der es eingegeben wird, erträgt und überragt; und was einer sehr dünnen Sache eingegeben wird, das scheint auch nicht warm zu machen, noch den Gesichtssinn zu bewegen. Aber auch in höchster Dünnheit kann das Licht sich die meisten Teile sammeln: nicht nämlich scheint das Licht in der Art der handelnden Naturen, in welche Sache es auch hineingeht, ihm wie einer eigenen Materie anzuhängen, und in ihr so groß zu werden, wie sie diese erfassen kann, sondern es hat den Anschein, daß es nötig ist, daß es der Luft und einem Körper völlig anhängt, aber diesen nicht als die eigene Grundlage besetzt; und deshalb scheint es auch nicht einer beliebig großen Luft innezuwohnen oder auch nur eine bestimmte Zeitspanne in ihr zu verweilen, wenn die Sonne nicht scheint; wie gesagt, auch bei höchster Dünnheit kann, so scheint es, viel geschehen und durch das Licht passieren,

129 Die philosophischen Konsequenzen aus dieser Folgerung sind groß. Denn nun können neuplatonisierende Theoreme der Einwirkung des Himmlischen auf das Irdische, die oft nach dem Modell der Lichteinwirkung gedacht waren, und die >biologischen< Theoreme von der wirkenden Wärme auf viel direktere Weise verbunden werden. Kompromißlösungen wie die Paparellas 70 sind dann nicht mehr notwendig; und viel vor allem, wenn es von den Spiegeln zurückstrahlt und auch wenn es etwas durchdringt. Es kommt nämlich dem Licht nicht nur zu, daß es, von der Sonne gerade ausgehend, wenn es nicht auf etwas Festes und Dichtes trifft, das es nicht durchdringen kann, ins Unermeßliche getragen würde; sondern ans Feste hinabgetragen stellt es keineswegs seine Bewegung und Wirkung ein, sondern strahlt von ihm zurück und wird nach rückwärts gebrochen, und zwar ständig nach den Winkeln, in denen es zum Festen hinabgetragen worden ist; so daß völlig klar wird, was von Spiegeln reflektiert wird: nämlich je nachdem in welcher der Lage der Spiegel zum Licht ist, wird bei unveränderter Position das Licht in eine andere Richtung reflektiert; und immer so, daß derselbe Winkel vom reflektierten wie vom ankommenden Licht eingenommen wird. Und aus keinem anderen Grund wird das Licht, das aus konkaven Spiegeln zurückstrahlt, deshalb stärker, als weil vieles in die Spiegel in dieser Art hineingeht, und alles, was hineingeht, in einen Punkt zurückstrahlt [...].« Im Original: »Lucem calidam esse, et sese multiplicandi, et a solidis resilendi facúltate praeditam; et ibi omnino maiorem fieri calorem, ubi magis in seipsam colligitur, et copiosor fit lux.« Und der Text selbst: »Solis, atque ignis, rerum videlicet, quibus et summus, et perfectus inest calor, propria lux; et quae calida, vel ab illis separata, percipitur, non modo, ut alibi dictum est, caloris summi, perfectique species, sed calor ipse ea videri potest: at, ut species modo existât, ubi multa in unum ipsa colligitur, calor itidem, cuius species ipsa est, et quo calefacit, multus et ipse fiat, necesse est. Copiosor porro ibi fit lux, velut et calor, ubi tenuitati inditur, vel crassiusculae, vel in seipsam conglobatae: sese enim generandi, multiplicandique facúltate praedita lux, veluti et calor, et tanta et ipsa in materia quavis fit, quantam ea illam capit: et manifeste, quo in crassiore accensa est re, eo et calidior, et splendidior fieri videtur. Nec in infinitum id tarnen; sed dum crassitiem, cui inditur, sustinet, exuperatque; et quae valde tenui rei inditur, ea nec calefacere, nec visum movere videtur. At et summa in tenuitate plurima colligi potest lux: non enim agentium more naturarum, quamvis rem subit, ei ut propria materiae haerere, tantaque in ea fieri, quantam capere ea potest, videtur lux, sed aeri quidem, et corpori omnino haerere earn oportere, at non ut proprium id subiectum occupare apparet; ñeque igitur quantumvis aeri insidens Sole amoto, vel temporis in ilio immorari videtur momento: quod igitur dictum est, vel summa in tenuitate multa fieri potest, et multa omnino a speculis resilens, et permeans etiam ea fieri videtur. Non scilicet id luci modo inest, ut a Sole emanans recta, dum solido, densoque, quod permeare non possit, nulli occurrit, in immensum fertur; sed ad solida delata, minime motum, actionemque suam sistit, sed resilit ab illis, retroque flectitur, et ad eosdem perpetuo ángulos, quibus ad illa delata est; ut quae e speculis reflectitur, liquido manifestât: qua videlicet speculi ad lucem situ, ac positione immutata alio reflectitur; et ita semper, ut idem a reflexa, qui ab accedente fiat angulus. Nec alia de re, quae e speculis concavis resilit, lux adeo robusta fit, nisi quod multa in specula huiusmodi incidit, et quae incidit universa in unum resilit punctum [...].« 70

Sebastiano Paparella schließt sich in De primi motoris efficientia der Variante der Erwärmungstheorie an, nach der das Licht nach der Reflexion in disgregano (Trennung, Absonderung) in der Luft erwärmt wird; 22rf.: »Nos autem dici-

130 allerdings zieht die Transformation Veränderungen für beide Seiten der aufgenommenen Diskussionen nach sich. Wenn es im Kapitel IV darum gehen wird, die jeweilige Grenze der beiden aufeinanderstoßenden Rationalitätsformen auszumachen, so sehen wir jetzt schon, wie Telesio diese Grenze durchlässig und unwirksam macht. Manche mag diese Verwischung mit der aus ihr folgenden semantischen obscuritas der verschobenen Bedeutungen abgeschreckt haben; aber für andere hat in dieser konsequenten begrifflichen Neuordnung in einer Situation, in der sich aristotelische und platonische Positionen mit Kompromissen wie der vis calefaciendi des Lichtes ohnehin schon stark angenähert hatten, die Attraktivtät Telesios bestanden. Insbesondere den Piatonikern schien es nun möglich zu sein, weit in die aristotelische Domäne der Naturphilosophie vorzustoßen. Ich werde das im zweiten Teil der Studie behandeln, mich nun aber genauer der telesianischen Theorie zuwenden. Telesio hatte gesagt, die aristotelische Reibungstheorie der Wärme könne nicht die Vielfalt der Entstehungsprozesse erklären. An die Stelle der Reibung hatte er seine These gesetzt, daß Wärme und Licht identisch seien, daß die Sonne Wärme aussende, deren Gesicht das Licht sei. Das bringt uns wieder zurück zum Thema der Farben, denn die Eigenschaft des Lichtes, sich in einer Vielfalt von Farben darzumus quod solis lumen perpetua suorum radiorum reflexione perpetuo in terris producit calorem, aeris corpus disgregando suorum radiorum condensatione, idq; validius consequitur recta vel quasi recta, quam obliqua eorundem reflexione. Cum namque Solis radii in densiori aere quodammodo incorporantur; si contingat quod hi deorsum orthogonaliter cadant super planum, vel concavum, vel convexum terrae reflectuntur etiam orthogonaliter. Et ita radius cadens, et reflectens super eandem viam, intenditur per partes omnino oppositas. Et fit ibi maxima disgregatio, et per consequens maximum calidum. At si Solis radii oblique, et secundum ángulos obtusos cadant super terram, tunc ut oblique cadit, sic et oblique reflectitur. quare radius cadens et reflectens non intenditur per partes omnino oppositas: unde minor causatur disgregatio, et minus etiam generatur calidum. Hic quippe maior, et minor caelitus genitus calor primus alterane est, et universalis communisque causa in mundo hoc corruptibili generationis, corruptionisque rerum. Hinc profecto; quod radii solares in densiori diaphano incorporantur; provenit quod genita corpora, et maxime perspicua (hac quantumcunque tenui radiorum incorporatione) splendida ac lucida evadunt. lux nanque ipsa, ut suorum radiorum duplicatione calefacit corpora, ita eorundorum nitore illa nitida, claraque reddit, si diaphana extiterint. Viventium autem corpora, cum perspicua sint ab eadem clara radiorum lucis reflexione, et calida, simul et luminosa facta sunt, lumineque semper suo simili et compari gaudentia. unde bene dixit Philosophus, cum Sole laetemur et tristemur. Solis nanque praesentia, ut re consimili, laeti effieimur, tristes vero sui absentia, ut re contraria et dissimili: qualiter autem lumen colores, colorataque effigiat corpora, in libro nostro de Catharro palam doeuimus.« - Man beachte, wie schnell auch bei Paparella der Weg von Licht und Wärme zu Affekten und Farben führt.

131

bieten, zeigt für Telesio, wie vielfältig die neu gedachte Wärme auf die irdischen Prozesse einwirken kann. Farblichkeit als Zeichen der unterschiedlichen Vermischung mit Materie, aber zunächst auch die verschiedenen Weisen von Lichteinwirkung in Strahlen lassen große Möglichkeiten von Diversifizierung zu. Ein Strahl kann in unterschiedlicher Weise auf Materie treffen, er kann in verschiedenen Winkeln reflektiert oder gebrochen werden. Hier müssen wir uns den Eigentümlichkeiten der telesianischen Terminologie zuwenden. Telesio kennt kein refrangere, wie die übliche Bezeichnung für Lichtbrechung ist. Er verwendet subire, den gleichen Terminus, den er auch überhaupt für das Eingehen von Wärme in Materie benutzt. Für den Telesianer kann es keine eigentliche Theorie der Lichtbrechung geben, weil für ihn Licht und Wärme ja identisch sind und das Durchdringen von Materie durch Licht deshalb ein mehr oder minder von Veränderung bedeutet. Telesio kann so auch nicht die gängige mittelalterliche Erklärung der Brechung eine veränderte Geschwindigkeit des Lichtstrahls 71 - übernehmen. Statt dessen bildet er eine sehr eigentümliche Optik der Reflexion bei ihm: resilire - und des subire aus. Generell gilt für Telesio die Regel, daß auftreffendes Licht, das zurückstrahlt oder in ein Medium eindringt, dies senkrecht in sich selbst tut. 72 Die Unterschiede beim scheinbar anders als senkrecht reflektierten Licht liegen weniger in Brechungs- und Reflexionsgesetzen, sondern im Stärker- und Schwächerwerden des zurückstrahlenden Lichtstrahls. Indem Licht in das neue Medium eingeht, verändert es seine Stärke, und nur durch Stärke- und Schwächeunterschiede ergibt sich eine neue Richtung. 73 Entscheidend ist nicht die Oberfläche, auf die ein Strahl trifft, sondern nur jene facies des Lichtes, in 71

72 73

Vgl. D. Lindberg, »The Cause of Refraction in Medieval Optics«. In: British Journal for the History of Science 4 (1968-69). S. 23-38. Vgl. D R N 1586, IV,11. Vgl. ebd. (S. 11,62): »[...] patet utique et id itidem esse lucis ingenium, ut vel si quaqueversus a se ipsa itidem a eo certe promptius feratur robustiusque, quo res, e qua effulget, recta spectat. Propterea enim quae directa ad specula accedit resilire non apparet, quod directas resilens in se ipsa resilit. Et quia is resilendi modus summe est simplex summeque regularis et longe simplicissimae luci maxime congruens, lucem omnino omnem, e quacumque resilat et quacumque subeat rem, quaque quidem versus, at eo robustissimam resilire subireque, quo res, a qua emanai, recta spectat, et quo eius feratur axis, linea nimirum ab eius medio rectos educta ad ángulos, existimare licet. Quare lucem, quae non rectos ad ángulos a superficie quapiam resilire vel subire eam apparet non vere ea a superficie sed alia quapiam a re, e qua rectos cum emanet ad ángulos, ad eosdem, ad quos ad superficiem accedit, ad ea resilire eamque subire suspiciandum est.« - Vgl. auch schon in De iride die Argumentation mit stärkerem und schwächerem reflektierten Licht: VNRL S. 102ff.

132 der sich das Licht selbst reproduziert: »sein Zurückprall- und Eindring-Winkel ist keineswegs in bezug auf die Oberfläche, von der es zurückzuprallen und durch die es zu dringen scheint, zu betrachten, sondern ständig in bezug auf die Licht-Facies, von der tatsächlich das Licht zurückstrahlt, und genau diese Licht-Facies ist zu betrachten.« 74 Weil Optik teilidentisch mit Wärmetheorie geworden ist, geht die Argumentation ganz anders vor. Licht ist in seinem Verhalten nur auf sich selbst bezogen, es gibt keine ihm anderen Dinge, die es bestimmen. Die Folge ist eine sehr eigentümliche Theorie Telesios, die das Gesetz von der Gleichheit des Einfall- mit dem Ausfallwinkel auf ungewöhnliche Weise begründet, wie auch Telesios geometrische Darstellung zeigt.75 Der junge Campanella hat in seiner Philosophia sensibus demonstrata, wenn auch vielleicht etwas übertrieben akzentuiert, einen Punkt erkannt, wenn er das sechste Buch seiner Schrift De principio generativo vel de usu translationis obliquae solis nennt. 76 Denn die komplizierte Reflexionstheorie Telesios steht im Hintergrund der unterschiedlichen Konstitution aller Seienden durch Wärme. Indem das subire der Wärme in die Materie zugleich einen optischen Parameter besitzt, kann es als vielfältig interpretiert werden. Wie die Konstitution gedacht ist, darüber wird im IV. Kapitel genauer gesprochen werden. Wir wollen nun den Komplex als Ganzen ins Auge nehmen. Denn es ist jetzt möglich, eine Hypothese über die Entwicklung von Telesios ursprünglichem Gedankengang zu wagen, einen ersten Versuch, die wegen mangelnder Dokumentation völlig unbekannte Reihenfolge der Theorieentwicklung skizzenhaft zu rekonstruieren. Man weiß, daß Telesio in seinem Paduaner Studium sich unter Federico Delfino mit Mathematik beschäftigt hat. Deshalb ist es möglich, daß optische Fragen des Lichtes der Ausgangspunkt seiner Gedankenbildung gewesen sind. Telesio hat sich möglicherweise in Padua mit Problemen der Lichtspiegelung und der Erwärmung durch 74

75

76

D R N 1586, IV, 12 (S. II, 66/68): »[...] eius resilientis subeuntisque angulus nequáquam in superficie, a qua resilire et per quam progredì apparet, sed in ea perpetuo lucís facie, a qua vere refulget lux, et ipsa omnino spectanda est lucis facies.« Vgl. dort auch: »Propterea igitur, ut dictum est, a rebus densis quibusvis resilit lux, quod sese amplificandi facúltate praedita, sese undique, at ab iis amplius, in quibus copiosior facta est robustiorque, effundit. Quod si amplius quae relucet et quae subit, lucem ñeque a rebus, a quibus relucet et quas permeai, nec vero a sole ipso, sed ab ipsa in illis facta emanare intueri vellis.« D R N 1586, IV, 13 (S. II, 72); vgl. dazu die Erläuterungen Telesios S. II, 68-82. Ich habe in meiner Studie »Ein unbekannes Gespräch Telesios« das geometrische Schema genauer aufgeschlüsselt. Campanella, Philosophia sensibus demonstrata. Neapel 1591. Lib. VI; ital. Übers.: La filosofia che i sensi additano. Hg. von L. de Franco und L. Firpo. Neapel 1974. Vgl. L. de Franco, Bernardino Telesio. La vita e l'opera. S. 214.

133 konkav reflektiertes Licht befaßt. Die Schrift über den Regenbogen setzt sich, wie aus einer Marginalie deutlich wird, 77 mit Thesen von Alessandro Piccolomini auseinander. Piccolomini hat wie Telesio in Padua studiert, er kam 1538 - drei Jahre nach Telesios Weggang dorthin 78 und wird eine sehr ähnliche Ausbildung erhalten haben. 1540 veröffentlicht Piccolomini als Anhang zu seiner Übersetzung von Alexanders Kommentar zur Meteorologie einen Traktat De iride.79 Diese Konstellation zeigt sehr gut die Ausgangsbedingungen der Studien zu Optik und Naturphilosophie. Telesio hat sich offenbar die Texte der Paduaner und Bologneser Tradition sehr genau angeeignet und hat zunehmend die diversen Theorien über die Erwärmungskraft von reflektiertem Licht, ohne daß das Licht selbst warm genannt werden soll, als unangemessene und das Problem verkomplizierende Auffassungen verworfen; irgendwann ist er dann zu der Einsicht gelangt, daß nur eine radikale Negation der aristotelischen These, daß Sonnenlicht per se nicht warm sein könne, das Phänomen auf einfache und elegante Weise erklärt. Doch diese erste antiaristotelische These hat Konsequenzen; sie bringt wie beim Dominospiel viele andere Steine des aristotelischen Gedankengebäudes zum Einsturz. Diese Konsequenzen zu ziehen und nicht konservativ auf die Haltung des Gedankengebäudes bedacht zu sein, hat sicherlich viel Mut erfordert. Es folgt nämlich, daß auch die Sonne, die warmes Licht aussendet, ein warmer Körper sein muß. Die aristotelische These, daß auf diese Sphäre einzig der Bewegungsbegriff Anwendung finden kann, fällt. Wenn die Qualität des Warmen aber einen zentralen Ort - die Sonne - besitzt, von dem sie ausgeht, dann kann man für das reactio-Verhältnis von Warm und Kalt, wie es sich ein Gaetano mit species-Aussendung vorstellt, auch für die Kälte einen Ausgangskörper zu suchen. Es liegt nahe, als dieses primum frigidum die Erde anzunehmen. Dann wären die Lichtaussendung von der Sonne mit ihrem Erwärmungseffekt um der Symmetrie der reactio wegen mit einer komplementären Ausstrahlung ergänzt worden. Wir werden noch sehen, wie gut dieser Gedanke zu den Vorgaben gepaßt hat, die man den Theorien Fracastoros entnehmen konnte. 77 78 79

V N R L S. 99. Vgl. Lohr, Art. »Piccolomineus, Alexander«. A. Piccolomini, Alexandri Aphrodisiensis maximi peripatetici, in quatuor libros meteorologicorum Aristotelis commentaria lucidissima, quam latinitate donavit Alexander Piccolominus [...] accedit insuper eiusdem Alexandri Piccolomini, Tractatus de Iride, noviter impressus [...]. Venedig 1540. Zu den Aktivitäten Piccolominis vgl. auch F. V. Cerreta, »An Account of the Early Life of the Accademia degli Infiammati in the Letters of Alessandro Piccolomini to Benedetto Varchi«. In: Romanie Review 48 (1957). S. 2 4 9 - 2 6 4 .

134 Eine Sonne, die Wärmestrahlung aussendet wie ein warmer Körper, gedanklich in die Nähe einer neuplatonisch gedachten Urquelle zu bringen, mag nahegelegen haben, war aber aufgrund der in den traditionellen Theorien enthaltenen Elemente nicht einmal nötig; die Emanationsvorstellungen, die durch Grosseteste und Roger Bacon mit ihrer multiplicado in die Optik gebracht worden waren, genügten. 80 Etwas anderes war es, die reactio-Vorstellung mit einem sensus der Qualitäten füreinander zu interpretieren. Hier wird wirklich ein Einfluß der Debatte über okkulte Kräfte gewirkt haben. Aber die Auffassung von der Wärme der Sonne und mit ihr des Himmels haben weitere Konsequenzen nach sich gezogen. Man konnte nun nicht mehr zwischen einer elementaren Wärme, die die Prozesse der mixtiones leitet, und einer >himmlischen< Lebenswärme unterscheiden, die dem im Samen enthaltenen Spiritus eingegeben ist. Diese Folgerung mag ebenso zu einer neuen Spiritustheorie motiviert haben wie die Weiterverfolgung der optischen Phänomene in Richtung auf eine Physiologie des Auges. Denn wenn Telesio die species im Anschluß an Theoretiker wie Gaetano als etwas ansieht, das reale Veränderungen wie Erwärmung auslöst - zumindest insofern es Sichtbarkeitsaspekt real wirkender Wärme ist, also nicht einfach Erkenntnisbilder transportiert - , dann kann man auch den Prozeß des Sehens als reale Veränderung - Erwärmung - des im Auge befindlichen Spiritus ansehen. Dieser Spiritus muß dann als Substrat gedacht werden, an dem sich derartige Veränderungen abspielen können. An diesem Punkt würde auch eine Farbentheorie ansetzen, denn die wahrgenommenen Farben vermitteln dem Spiritus die realen WärmeMaterie-Verhältnisse der Welt. In dieser Weise könnte man - immer noch mit großen Unsicherheiten bedacht - einen Vorschlag zur Rekonstruktion von Telesios ursprünglichem Gedanken anbringen. Es ist festzuhalten, daß die so vollzogene Abweichung vom Aristotelismus gänzlich aus einigen diesem Aristotelismus immanenten Diskussionen entspringt und nur in ganz wenigen Punkten externe Einflüsse aufgenommen hat. Mittelpunkt der Veränderung ist der telesianische facies-Begriff, der in einer Umkehrung der Prioritäten aus dem species-Begriff der Tradition hergeleitet worden ist. Damit erweist sich auch bei Telesio die Fruchtbarkeit der allgemeinen Renaissancearbeit am species-Begriff, die, auf andere Weise, auch für Denker wie Cusanus und Ficino charakterisch ist.81 Am vergleichbarsten scheint diese Begriffsarbeit Tele80 81

Vgl. Kap. I. dieser Studie. Vgl. E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Berlin 1922. Bd. 1. Passim; St. Otto, Renaissance und frühe Neuzeit. Stuttgart 1984. Z. B. S. 238.

135 sios n o c h mit der Fracastoros zu sein, der ebenfalls mit einer speciesV a r i a t i o n o p e r i e r t , d i e auf r e a l e V e r ä n d e r u n g in distans und an emanatistische Vorstellungen anknüpft.

82

a n g e l e g t ist

» A n c h e in Fraca-

s t o r o la s p e c i e ha, r i s p e t t o alla s o s t a n z a , u n a d i f f e r e n z a di c a r a t t e r e p u r a m e n t e o n t o l o g i c o : è u n d i v e r s o g r a d o di e s i s t e n z a di u n a s t e s s a f o r m a . « 8 3 Z u dieser These, die bei e i n e m oberflächlichen Blick mit Telesios modaler Auffassung des Lichts verwandt zu sein

scheint,

k o m m t bei Fracastoro noch eine Theorie der Repräsentation durch d i e s p e c i e s als simulacra.

E r w e n d e t s e i n e T h e o r i e s o w o h l für alle

A r t e n v o n D i s t a n z w i r k u n g e n an, s e i e s für N a t u r p h ä n o m e n e , s e i es, w i e in De intellectione,

für W a h r n e h m u n g u n d E r k e n n t n i s . » L a s i n g o -

larità d e l l a t e o r i a f r a c a s t o r i a n a s u l l ' a z i o n e a d i s t a n z a « , urteilt E . P e r u z z i , 8 4 » c o m b i n a z i o n e fra la m o l t i p l i c a z i o n e d e l l e s p e c i e , la n o z i o n e di s i m i l i t u d i n e e la s i m p a t i a , p e r m e t t e di parlare di u n r i n n o v a m e n t o della teoria delle specie.« D i e I n g r e d i e n z i e n d e r T h e o r i e s i n d a l s o gar n i c h t s o v e r s c h i e d e n v o n d e n e n Telesios. Z u d e m s c h e i n t e s w a h r s c h e i n l i c h , d a ß e s e i n e n d i r e k t e n E i n f l u ß v o n F r a c a s t o r o auf T e l e s i o g e g e b e n hat, d a e i n i g e S t e l l e n e s n a h e l e g e n , d a ß T e l e s i o De sympathia

et antipathia

rerum

g e l e s e n h a t . 8 5 D o c h b e z i e h e n sich d i e s e S t e l l e n auf a n d e r e P u n k t e als 82

83

84 85

Vgl. E. Peruzzi, »Antioccultismo e filosofia naturale nel De sympathia et antipathia rerum di Gerolamo Fracastoro«. In: Atti e memorie dell Accademia Toscana [...] La Colombaria, n. s. 31 (1980). S. 41-131; S. 114ff. Ebd. S. 124; Peruzzi fährt fort: »La sua concezione è certamente modificata, ma al suo fondo sta la consapevolezza che ogni entità può manifestarsi ed agire esteriormente attraverso un particolare livello del suo modo di esistere. Egli, prácticamente, accanto alla nozione delle specie intese come qualità spirituali emanate da quelle materiali, come il lumen dalla luce, amplia la capacità di produrle anche alle sostanze. Come ogni qualità materiale produce la rispetta qualità materiale, così ogni sostanza materiale (forma crassa) ne produce una spirituale. Fracastoro non rifuta la teoria della moltiplicazione delle specie intesa come propagazione di una qualità, evidente sopratutto nella luce. La estende invece ad ogni entità fisica e, combinandola con la similitudine e l'identità di specie (intesa qui in senso categoriale), la pone alla base della teoria del'azione a distanza.« Ebd. S. 114. Vgl. Telesio D R N 1586, I, 6 (S. I, 66/68): »Et entia prorsus omnia mutuum contactum sentire et summopere eo oblectari, et seorsum a se ipsis fieri, a nulloque contingi sustinere non posse apparent. Siquidem eorum quodvis, ubi contiguum quod est, recedit, ñeque aliud ens ullum in recedentis succedit locum, hoc illud veluti sectatur, quod nimirum huius contactu privari et a nullo contingi non sustinet. Nam, ut universalis quaedam natura et quae mundum sibi ipsi continuum esse velit, quae scilicet inane vacuumque pati nequeat, et, ne usquam id fiat, provideat, itaque ad recedentium entium locum, quae próxima sunt, perpetuo impellat, intellegere non licet. Ñeque enim aliam a propria et a qua entia constituta sunt, iis inesse, aut ab alia ulla, huic muneri dictata, natura gubernari existimandum est; et, quae a propria singulorum natura operar! posse videntur, alteri ea, et quae sensu nullo, nulla etiam comprehendatur

136 die Lichttheorie, und man muß deutlich sehen, daß die Konsequenzen, die beide Denker aus den Ingredienzien ziehen, recht unterschiedlich sind. Fracastoros atomistische Orientierungen fehlen bei Telesio. Auch wenn beide Theoretiker aus ähnlichen Paduaner Diskussionskontexten heraus ihre Auffassungen entwickeln und die extrem komplexe Traditionslage aus aristotelischem, platonischem, calculatorischem und optischem Gedankengut in der Umbruchszeit der ersten Jahrhunderthälfte dazu nutzen, eine neue Einheit dieser Gedanken zu formulieren, so sind sie in den Einzelheiten dabei durchaus verschiedene Wege gegangen. So nimmt es auch nicht wunder, wenn sich in Persios De natura ignis eine explizite Distanzierung des Telesianers von der species-Theorie Fracastoros findet. 86 Telesios Pointe, ratione, attribuenda prorsus non sunt.« Dazu als mögliches Vorbild Fracastoro, D e sympathia et antipathia rerum, Kap. II, S. 3: »Primus autem, communis rebus omnibus, et admirandus est ipsius universi consensus, in quo quae sunt corpora, ita omnia invicem connexa, ita haerentia esse volunt, ut nulla potentia sit, quae eorum extrema, quibus sese mutuo tangunt, seiungere prorsus possit, atque ita separare, ut vacuus locus intercidat. Mira profecto res est hac de causa gravia sursum trahi, levia deorsum, contraria, quae sese pellere, atque etiam interimere soient, nolle tarnen seiungi, tantus est consensus ille rerum omnium in universo. Cuius rei si quis forte finem requirat, et cuius gratia fiat, non difficile certe erit assignare rationem, quam et omnes assignant, ne detur vacuum; quippe vacuum in natura esse non potest, quoniam nihil natura sustinet, nihil admittit, quod frustra sit, quodque universi ordinem et leges impediat: quae quidem contingant, si vacuus sit ullus locus, in eo enim, nec quicquam fieri poterit, nec quicquam recipi. A t vero si quis non solo sine contentus sit, sed et agens quoque requirat, et quidnam illud fit, quod divellenti résistât, et quomodo, non erit fortasse ita promptum reddere rationem tanti nexus: quando universi partes ñeque enim finem agnoscunt, neque per naturam appetere possunt, aut contrariis iungi, si contraria sunt, aut sursum duci, si gravia, aut deorsum, si levia. Neque enim dicendum (ut quidam aiunt) universi partes, tametsi non eum cognoscunt finem, dirigi tamen a cognoscente: quando hic non universalem et primam causam quaerimus, sed particularem et propriam.« 86

Persio, D e natura ignis X I , 30 (II. Fol. 355v/356r): »Aliqui enim ut Hieronym. Fracasto. in libro de simpatia specierum harum effluxiones admittunt. Verum non e o modo quo Democritus ponebat quem sequitur Lucretius sed alio modo magis consono veritati et Philosophia. Si quidem innatum esse vult formis omnibus sese prorogare ac multiplicare proindeque fieri quoque asserit ut hae species spirituales sint eiusdem rationis cum formis illis quarum species sunt nec ab illis différé nisi in modo subsistendi, nam eatenus sunt materialis quatenus crassa quadam existentia sunt in materia, spiritualis quatenus sunt superficialis quaedam ab illis genitae formis et tenues admodum. Nam crassae illae formae quae materiales dicitur cum persese ad eum modum quo sunt porrogare non possintf,] tenues tantum et superficiales qui vel [355v/356r] partes vel gradus producunt, qui ob tenuitatem momento gigni seu subitam existimat et contrario quoque carere affirmat. Quare hae formae tenues genitae et superficiales Fracastoro aptae inprimis sunt repraesentare[,] crassas illas a quibus sunt productae qua ratione species et simulachra appellatae sunt quodsi repraesentant vel spirituales ob tenuitatem, et ob subitam earum generationem quare haec simulachra a corporibus atque accidentibus effluxa oculisque appulsa efficere

137 species nicht mehr aristotelisch als Form, auch nicht als materielles Teilchen, sondern als Sichtbarkeitsaspekt der Wärme zu verstehen, war nicht mit den Problemen von Fracastoros >simulacra< behaftet. Kommen wir am Ende noch einmal auf Simone Porzio zurück. Porzio, der Alexandrinist, will den Erkenntnisvorgang als Bewegungsvorgang beschreiben, er interessiert sich für die Theorie des Lichtes und der Farben, weil dies Phänomene sind, die an der >Objektseite< der Dinge ebenso Anteil haben wie an der >Subjektseite< des Erkennenden und Fühlenden. Er interessiert sich in De dolore für Schmerzphänomene, auch sie sind eine sensuelle Reaktion auf die Außenwelt. Auch für Telesio besteht eine enge Verbindung von Licht und Farben auf der einen, Erkenntnis und Affekt auf der anderen Seite. Die Farbmodifizierung des Lichts gibt Aufschluß über die Modifizierungen des Spiritus, es ist ein Übertragungsvorgang, der nicht auf den Begriff der forma rekurriert. Doch Telesio geht ganz eigene Wege, die weit von dem wegführen, was Porzio als Naturalismus ansieht. Es gibt sozusagen eine indirekte Replik Porzios auf Telesio, denn Porzios Schüler Allesandro Maranta hat an den kritischen Auseinanvisionem facile videri possunt. Hanc vero sequi opinionem Nicolaus Contarenus [vgl. N. Contarini, De perfectione rerum, Venedig 1576, 138ff.], licet nihil re decidere velit ea imaginum effluxione. / Verum haec Fracastorii opinio ñeque civibus suis visa est probabilis nedum aliis, nam vel ex eo ipsum reprehendunt quod si haec simulachra haec tenua ab illis materialis effluxerint auferuntur transversis atque etiam adversis ventis, at non auferuntur, ergo figmento similis est haec effluxiae si essent effluxiones haec videremus etiammodo quae a tergo sunt sitae, at non videmus, non igitur sunt eiusmodi simulachra. Propositio inde probatur quia simulachra ilia in gyrum volitantia placidis subvecta aeris possent ad pupillam usque pervenire. Praeterea quo motu simulachrum impellat aut subeat aut secerit aerum non vident, nam si motu naturali id faciat naturalis Peripateticis his rebus non sunt nisi duo sursum et deorsum nisi quis dicat habere motum voluntarium ut ad contrarios motus sese comparet. Denique si hae species effluunt et sunt simulachra et visio fit per intus susceptionem ut Peripatetici prohibentf;] qua detritione magni corporis passivum [?] fiat simulachrum ut in pupillam recipiatur vix effingi potest.« Während Fracastoro also das Species-Problem materialistisch gelöst hat und den Species als extrem dünne Formen versteht, die instantan entstehen können und über ihre Eigenschaften materialiter repäsentieren (vgl. G. Fracastoro, Turrius sive de intellectione, in: Opera. Bd. 1), hat Telesio species nur noch als Strahlungsaspekt gesehen. Persio referiert hier offenbar die Widerlegungen, die selbst die Landsleute Fracastoros - also Leute aus Verona wie Chiocco oder Scaliger, die Fracastoro sonst sehr schätzten - vorgebracht hatten. Die Probleme, die auftraten, wenn man das Repräsentationsproblem materiell, und nur mit der Gradabstufung dicht-dünn lösen wollte, waren offensichtlich zu groß. Deshalb schien es Persio vernünftiger, mit Telesio solche Versuche gar nicht erst vorzunehmen. Der Diskussionskontext in Venedig in den 1570er Jahren, auf den Persios ContariniAnspielung verweist, zeigt, daß sowohl Fracastoros als auch Telesios Ansätze damals debattiert wurden. Vgl. dazu weiter M. Mulsow, »Ein unbekanntes Gespräch Telesios«.

138 dersetzungen um Telesios Theorie teilgenommen und bestimmte Lehrstücke attackiert. 87 Es ist natürlich kein Zufall, daß sich unter den Themen, die er in seinen ungedruckten Miscellanea von 1580 dafür examiniert, eine Disputatio de Intellectus Agentis natura, eine Disputado de Luminis natura und eine Disputatio de illuminatione befinden. Diese Titel zeigen ein kritisches Aufgreifen all jener Punkte bei Telesio, die auch Porzio interessiert haben. Marantas Erörterungen, die wahrscheinlich ein Produkt der Venezianischen Diskussionen um die telesianischen Theorien sind, die Persio seit 1575 provoziert hatte, gehören zu den anspruchsvollen Auseinandersetzungen mit Telesio, nicht zu denen, die mit bloßer polemischer Abwehr reagieren. Auf die erste Disputation werde ich in Kapitel V. noch eingehen; hier sei nur ein Wort zu den beiden anderen gesagt. Maranta stellt fest: »Es gibt vor allem zwei Widersprüche zwischen der Wahrheit und Bernardino Telesio. Der erste betrifft die Frage, ob Beleuchtung eine Bewegung ist, der andere die Frage, ob das Sonnenlicht instantan vom Osten nach Westen getragen wird, ob es sich mit einer bewunderswerten Schnelligkeit bewegt, ohne daß man eine Verlaufszeit wahrnehmen kann.« 88 Maranta konzentriert sich - zumindest in der ersten Frage - auf das Grundproblem, ob mit der lichthaften species-Übertragung eine actio realis, und insofern auch eine Bewegung verbunden sein kann. Bei allen Differenzen zu Telesio sollte man aber nicht übersehen, daß Telesios Interesse an Farben doch nicht völlig von Porzios und Marantas Zugang über den Parallelismus von Lichteinwirkung und intellektiver Erkenntnis verschieden ist. Denn geht man von Telesios Forderung aus, sich der Erkenntnis der Dinge über die Sinneswahrnehmung zu nähern, 89 dann folgt, daß es die Erkenntnis der Elemente nur über ihre Sinneswirkung gibt; und das ist für Telesio ihre Farblichkeit bzw. ihre facies. Die Wirkung von Farblichkeit - das heißt von Wärmeunterschieden - im Auge setzt allerdings eine ganz andere Auffassung voraus als die von Porzio aristotelisch rekonstruierte Bewegungsübertragung mittels species. Sie setzt die Theorie eines materiellen Mediums voraus, welches einheitlich ist und auf die Wärmewahrnehmung mit Expansion oder Kontraktion reagiert. Das aber kann nur eine neue Theorie des spiritus 87

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A . Maranta, Miscellanea. Ms. Magi. XII, 8, Biblioteca Nazionale Firenze. Zur Biographie Marantas und seinen Kontakten zu Persio vgl. L. Artese, »II rapporto Parmenide-Telesio dal Persio al Maranta«. In: Giornale critico della filosofia italiana 70 [82] (1991). S. 1 5 - 3 4 . Bes. S. 28ff. A. Maranta, Miscellanea. Fol. 137r: » D u o sunt praecipue de quibus inter Veritatem et Bernardinum Tilesium controversitates. Primum an Illuminatio sit motus, alterum an lux solis in instanti feratur ab Orienti in Occidens, an vere admirabili quadam celeritati, temporique insensibili moveatur.« Vgl. das Prooemium zu D R N 1586.

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zeigen. Telesio kann für die Optik des Auges und die Theorie der Wahrnehmung zunächst in weiten Stücken an Galen anschießen. Das Auge ist der Ort, an dem der körpereigene spiritus konkret, taktil, 90 verändert wird und so wahrnimmt. Nach Galen im VII. Buch von De placitis Hippocratis et Piatonis - ein Buch, das für Telesio offenbar große Bedeutung gehabt hat - »kann allein Farbe, und nicht Form oder Gestalt, in unsere Augen durch Reflexion von den gesehenen Objekten kommen.« 91 Farbe verändert und modifiziert die Luft, die wieder auf das Sinnesorgan wirkt. Telesio kann diese Galenische Theorie zumindest als Spitze gegen aristotelische Vorstellungen von Formübertragung benutzen. Er addiert zu ihr aber seine eigene Auffassung von Farbe und facies, und er hat auch einige Korrekturen am Begriff des spiritus vorzunehmen. Das werden wir im V. Kapitel sehen.

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Vgl. DRN 1586, VII, 8: alle Sinne, mit Ausnahme des Hörsinnes, sind taktile Sinne. Galen, De placitis Hippocratis et Piatonis. VII, 7.6 (ed. de Lacy, Bd. 2. S. 471). Ich zitiere die englische Übersetzung: »for only color, and not form or size, can come to our eyes by reflection from the objects seen. For as the variety of the shapes of the parts produces the form, it is not possible to conceive that they could have any contact with the mirror, or if they did, that the reflection would reach us undistorted.«

III. Defensive Modernisierung: Homöozentrik, Astrologiekritik und frühneuzeitliche Selbsterhaltung Die beiden vorangegangenen Kapitel haben die Theorie Telesios zu den Qualitäten in Mischungen und zur Lichttheorie verfolgt und sie im Kontext der post-calculatorischen Grosseteste-Rezeption des italienischen Quattrocento verortet. Die Konzeption sich selbst erhaltender und vervielfältigender Qualitäten ist aus den Problemen erläutert worden, die sie veranlaßt haben, nämlich Reaktion, Reflexion und Wärmeentwicklung. Doch diese Aspekte geben noch ein unvollständiges Bild, wenn es darum geht, die Genese von Telesios Gesamtentwurf einer neuen Naturphilosophie zu verstehen. Telesio hat, so weiß man, bei Federico Delfino nicht nur Optik, sondern auch Astronomie studiert. 1 Im folgenden wird dieses Indiz der Ausgangspunkt sein, um in der Diskussion um die homöozentrischen Sphären jenen Grund zu finden, der eine Verwendung des Selbsterhaltungsbegriffs universaliter innerhalb eines Modells der Weltentstehung möglich gemacht hat. Denn es hat der Weite astronomischen Denkens bedurft, um Verhältnisse der Primärqualitäten in einen kosmologischen Rahmen zu setzen. Deshalb wird zunächst die homöozentrische Theorie Fracastoros aufgesucht, um aus ihr die Kontexte zu gewinnen, die in Telesios späterer, sehr ähnlicher Kosmologie getilgt sind. Nicht zuletzt die theologischen Prämissen und der antiokkultistische Hintergrund können so rekonstruiert werden. Aber auch die Differenz Telesios zur Homöozentrik, die in seiner Skepsis gegenüber intellektiver Erkenntnis liegt, wird auf diese Weise sichtbar: Skepsis und Berufung auf Sinnlichkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Schließlich können die Ergebnisse des vergangenen und dieses Kapitels in einen größeren Zusammenhang gestellt werden: die Reak1

Vgl. G. P. d'Aquino, Oratio in morte di Bernardino Telesio. Cosenza 1596; zu Delfino vgl. J. Facciolati, Fasti gymnasii Patavini. Bd. 3. Padova 1757. S. 320f. A n edierten Schriften zur Astronomie gibt es von Delfino lediglich De motu octavae sphaerae. Venezia 1559. Facciolati schreibt ihm noch einen Tractatus super loca mathematica in Topicis et Elenchis Aristotelis zu; Kristeller (Iter italicurri. Bd. 1. Leiden 1963. S. 425f. Bd. 2. Leiden 1967. S. 151f.) verzeichnet einen Tractatus proportionum und einen Traktat De figuris orbium coelestium.

141 tion gegen Okkultismus, Astrologie und Voluntarismus. Ich werde den Begriff der defensiven Modernisierung entwickeln, um komplexe Positionen jenseits von Schulphilosophie und Neuplatonismus wie diejenigen Fracastoros und Telesios zu kennzeichnen. Dieser Begriff befähigt dann, gegenüber den Deutungen von Dilthey und Blumenberg den Begriff der Selbsterhaltung im 16. und 17. Jahrhundert präziser zu bestimmen.

1. Homöozentrik und Kosmogonie In den Jahren, in denen Telesio in Padua studiert hat, gibt es unter Astronomen und Naturphilosophen ein kurzes Wiederaufblühen der homöozentrischen Theorie. 2 Homöozentrik ist die >philosophische< Variante der Astronomie: die Sternsphären sind nicht in der Weise der mathematici in der Nachfolge von Ptolemäus mit Epizyklen zu deuten, sondern als gleichmäßige Kreisschalen, die die Bewegung vom ersten Beweger bis in die sublunare Welt vermitteln. Das Problem der >mathematischen< Astronomie nämlich war ihre Diskrepanz zur physikalischen Erklärbarkeit mittels Bewegungsübertragung. Zwar hatte sich, wegen der eindeutig überlegenen Darstellbarkeit der Phänomene, nach Ptolemäus das mathematische Modell durchgesetzt, doch während des im 14. und 15. Jahrhundert schwelenden und sich verschärfenden Konfliktes zwischen den >zwei< Wissenschaften, der mathematisch-calculatorischen und der im engeren Sinne aristotelisch-naturphilosophischen, entstand das Problem, welche Sicht auf die Natur man als primär ansehen sollte. Das 16. Jahrhundert ist, so hat schon die Geschichte der Antiperistasis gelehrt, mit seinem humanistischen Impetus des Rückgangs zu den alten Quellen in mancher Beziehung >reaktionär< gewesen. Man hat versucht, Entwicklungen aufzuhalten, weil das Auseinanderdriften von Philosophie und Wissenschaft für viele Wissenschaftler unerträglich geworden war. Die Einheit der Natur war nicht mehr selbstverständlich. 2

Vgl. E. Peruzzi, »Note e ricerche sugli >Homocentrica< di Gerolamo Fracastoro«. In: Rinascimento 25 (1985). S. 247-268; Ν. Swerdlow, »Aristotelian Planetary Theory in the Renaissance: Giovanni Battista Amico's Homocentric Spheres«. In: Journal for the History of Astronomy 3 (1972). S. 36-48; L. de Franco, Filosofia e scienza in Calabria nei secoli XVI e XVII. Cosenza 1988. S. 64-72; M. P. Lerner, La physique céleste de Telesio: Problèmes d'interpretation. In: Atti Cosenza. S. 83-114; E. Peruzzi, Un contemporaneo di Telesio: il cosentino Giovan Battista Amico e la teoria delle sfere omocentrice. In: Cultura napoletana. S. 241-256; Zur Homöozentrik im späten 16. Jahrhundert vgl. H. C. Kuhn, Venetischer Aristotelismus im Ende der aristotelischen Welt. Aspekte der Welt und des Denkens des Cesare Cremonini (1550-1631). Bern 1996.

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Unter den >Averroisten< in Padua ist Alessandro Achillini einer der ersten gewesen, der die alte Homöozentrik wieder favorisiert hat. 3 Dann war es vor allem die griechische Edition des De coeloKommentars von Simplicius von 1526,4 die auf die Diskussionen gewirkt hat, indem sie kompetente Darstellungen dieser antiken Theorie vermittelt hat. Marcantonio Genua und Vincenzo Maggi haben, wie aus den Nachschriften ihrer Vorlesungen ersichtlich ist,5 ebenfalls gegen die >Mathematiker< optiert. Einer der prominentesten Versuche zur Reetablierung der Homöozentrik im Paduaner Umkreis ist von Girolamo Fracastoro gemacht worden, offenbar schon um 1530, auch wenn seine Homocentrica erst 1538 veröffentlich worden ist.6 Für Fracastoro ist das Problem der Einheit der Natur und der Einheit ihrer Erklärung offensichtlich ein entscheidendes Motiv für seine Forschung gewesen. Wenn Fracastoros Theorien - mehr als diejenigen Pomponazzis 7 - heute den Eindruck eines höchst eklektischen Vorgehens machen, mit Anleihen im Piatonismus, Thomismus, bei Epikur, der Stoa und im Humanismus, dann zeigt gerade diese Eklektik gerade die Suche nach Einheit in der Wissenschaft. Im consensus rerum im Sinne einer Tendenz der Natur, immer wieder zu ihren >Normalpositionen< zurückzukommen, hoffte Fracastoro ein unifikatorisches Prinzip gefunden zu haben. So auch im Bereich der Astronomie: Fracastoros Homocentrica, die eines seiner Hauptwerke darstellt, versucht die Einheitlichkeit der Natur in den Sphären der Planeten aufzuzeigen, indem sie für gleichförmige, nicht exzentrische Kreisbahnen optiert. Als eine Art Nebenstudie und Verallgemeinerung des Buches schrieb Fracastoro - ohne den Text zu veröffentlichen - ein Somnium. Die Gattung des >Trau3 4

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A. Achillini, D e orbibus. In ders., Opera. Venezia 1508. Fol. 21r-53v. Simplicii Commentarli in quatuor Aristotelis libros de coelo. Venezia 1526; einflußreich war offenbar auch die Edition von Alpetragius 1531 in Venedig. M. Genua, In I—II De Caelo. Ms. Biblioteca Ambrosiana Milano J. 93. inf.; Expositio in libris D e Caelo. Ms. Bibl. Vaticana Roma Vat. lat. 4703; Notata quaedam in lectionibus Marci Antonii Januae super libris De caelo (1540). Bibl. Vaticana Roma Urb. lat. 1461; V. Maggi, Lectiones in librum I De caelo. Ms. Bibl. Ambrosiana Milano D. 494. inf. und Biblioteca Communale Pallastrelli Piacenza 98 (1540/41); Lectiones in libros I—II De caelo. Ms. Biblioteca Estense Modena lat. 188 (1553); vgl. Lohr, s.v. >Januae< und >MadiusTraum< in seinen zu großen Teilen wohl schon etwa 1539 verfaßten, aber erst 1555 posthum veröffentlichten Dialog Fracastorius sive de anima eingebaut. 8 Die Vision beginnt dort - mit deutlichen Anklängen an die platonische Tradition - mit einer geometrischen Operation Gottes: Der Deus maximus markiert einen Punkt als Mittelpunkt der Welt, zieht von dort aus eine Gerade ins Unermeßliche und markiert schließlich einen Grenzpunkt, von dem aus die Kreislinie um den Mittelpunkt gezogen wird. Danach unterteilt Gott die gerade Strecke in zwei Teile und gibt damit auch dem Raum zwei Regionen. Diese Teile sind von 8

Fracastoro, Fracastorius sive de anima. In: ders., Opera, Bd. 1. Venezia 1591. S. 568ff.: »Igitur universum hoc, quem mundum dicimus, cum esset Deum maximus conditurus, oculos primum in medium iecit, punctumque illic signavit, ubi centrum totius futurum esset: tum ab eo puncto lineam rectam ducens in immensum valde protraxit, punctoque alio terminavit: à quo rursus et aliam lineam ducens, undique à centro equè distantem circulum maximum descripsit, in quo spatium omne universi concluderetur. Hoc cum statuisset, priorem rectam lineam, et spatium totum in duas regiones discrevit: quarum superior longe maior altera esset, excessus vero illius homini non esset notus, in quo caelestia locum erant habitura: atque in illa orbes 75 designavit, quorum 8 tantum sensu perceptibiles fuere, reliqui vero intellectione magis, quam sensu noti. Regio vero alia minor, et mensurabilis etiam homini, data iis corporibus fuit, quae mutationem omnem essent susceptura: quando superiora non nisi earn mutationem, quae secundum locum fit, erant subitura. Inferioris igitur regionis spatium totum Deus optimus substantia quadam replevit, quae propter imperfectionem vix entis nomen recipiebat. Ceterum neque formam ullam, ñeque figuram, ñeque colorem, nec motum, neque ullam actionem habebat, sed tantum pati ab alio poterai, et formari, et se figurari, et colorari, et moveri, et breviter omnia fieri, quae esse dicuntur. Per se autem nihil habebat, nisi quòd continuum quiddam erat, quod totum id spatium replebat. quam alii matrem omnium, alii chaos, alii materiam appellavere. Informe igitur corpus hoc cum fecisset, spatium totum, in quo erat, in duas regiones secavit, quarum superior decuplo maior erat inferiore: atque in his duo prima pulchra, et formata collocavit. in superiori quidem innominatum illud, quod nos per consuetudinem calorem appellavimus, in inferiori autem, quod algorem, seu frigus nominare solemus. Atque hec duo cum informi ilio corpore commiscens duo prima entia conflavit, quae iam et formata erant, et cerni poterant, et se movere, atque agitare.«

144 sehr unterschiedlicher Größe: Der kleinere ist die sublunare Welt des Menschen, der bei weitem größere umfaßt die Himmelssphären. Sie bestehen aus 75 Kreisen - ebenhier wird der homöozentrische Kontext der Vision deutlich - , von denen nur die acht bekannten sinnlich wahrnehmbar sind. Die kleinere Region ist dem Menschen meßbar der Termius mensurabilis deutet wieder auf Nähe zur platonischen Tradition, etwa des Cusaners - und die Welt derjenigen Dinge, die der Veränderung unterworfen sind. Sie ist erfüllt von einer Art Substanz, die, so Fracastoro, kaum ein Seiendes genannt werden kann, weil sie so sehr unvollkommen ist. Diese Substanz hat weder Form noch Figur, Farbe, Bewegung oder Tätigkeit, sondern ist ganz und gar passivisch: sie wird geformt, figuriert, farbig gemacht, bewegt; für sich selbst hat sie keine Eigenschaft an sich, außer daß sie ein Kontinuum darstellt, das den ganzen Raum erfüllt. Fracastoro nennt die Begriffe Chaos und Materie, um anzudeuten, an welche Vorstellungen er anknüpft. Nachdem dieser ungeformte Körper geschaffen war, so fährt die Vision fort, wurde der Raum, den er aüsfüllte, wiederum in zwei Regionen zerteilt, von denen die obere zehnmal größer war als die untere. In die obere Region - und hier beginnen die Parallelen zu Telesios späterer Theorie - wurde das, was man gemeinhin als Wärme bezeichnet, in die untere das, was Kälte (algor oder frigus) genannt wird, eingeführt (innominatum). Indem diese beiden Prinzipien - Fracastoro vermeidet hier eine Titulierung - sich jeweils mit dem ungeformten Körper vermischten, sind die zwei ersten Wesen vereinigt worden, die bereits geformt waren - gedacht ist offenbar an Himmel und Erde - und die als solche unterscheiden, sich bewegen und tätig sein konnten. 9 Fracastoro vermeidet ein sentire, das Telesio später benutzt und das auch Ficino schon im Zusammenhang des Eros verwendet, und setzt statt dessen ein cernere. In dem, was folgt, werden nun die Übereinstimmungen mit Telesios späterer Theorie schlagend: Denn nicht nur werden die Weltregionen in Wärme und Kälte geschieden; in ihnen wird auch, kaum daß sie entstanden waren, eine miterschaffene Selbstliebe - amor proprius congenitus - sichtbar. 10 Denn die Prinzipien fangen an, den 9

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Im Hintergrund steht wohl die aristotelische Vorstellung v o n der terminierend e n Kraft der beiden primären Qualitäten W ä r m e und Kälte, wie sie in De generatione et corruptione enthalten ist. Fracastoro, D e anima. S. 570: »Vix autem orta haec fuerant, cum et amor proprius congènitus in ipsis fuit. N a m et partem materiae, q u a m nacta erant, tueri, et términos constituere caepere: tum et cupiditate sese propagandi atque extendendi agi, iamque et vicini ac fratris sedes, et partes aggredì. D e d e r a t autem D e u s utrique n o n solum desiderium sese propagandi per similis generationem, sed et virtutem, ac potentiam agendi, sensimque corrumpendi vicini partem, quam tangebant.«

145 Teil der Materie, aus dem sie erstanden sind, zu schützen (tueri) und Grenzen zu errichten. Fracastoro hat hier jene Phänomene im Auge, die er in De sympathia et antipathia rerum als Grundphänomene der Selbsterhaltung analysiert hatte: die aktive Terminierung von Materie, für die der aristotelische Formbegriff nicht auszureichen scheint, nämlich die Oberflächenspannung von Wasser und die offenbare Abneigung von Gasen gegen das Vakuum. 11 Fracastoros Inspiration für den amor proprius congenitus dürfte gerade auch wegen der durchgängigen platonischen Anleihen - bei Ficino zu suchen sein. War im Mittelalter der amor proprius immer mit dem moralischen Verdikt eines Lasters behaftet, 12 hatte Ficinos Kosmologie der Liebe im Symposion-Kommentar und in der Theologia platonica den Weg zu einer Neubewertung freigemacht: Hier war das Potential vorhanden, alles natürliche Tätigsein, bis hin zu seinen Manifestationen im Menschlichen, als einheitlichen Ausdruck eines Naturstebens der Liebe zu begreifen. 13 In einem als Harmonie verstandenen Kosmos war der Eros als innere Kraft gedacht. Diese Harmonie hatte Fracastoro in De sympathia et antipathia rerum zu einem consensus umgedeutet, der eher Forschungsprogramm denn Metaphysik war. 14 Dennoch ist Fracastoros Formulierung, besonders das congenitus, theologischer als Ficinos Eros, sie ist gleichsam das theistische Komplement zur naturwissenschaftlichen Depotenzierung der Harmonik. 15 Über die Hintergründe dieses Theismus wird im folgenden noch zu sprechen sein. 11

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Vgl. De sympathia et antipathia rerum. S. 4f.; vgl. dazu Telesio, D R N 1586, I, 6 (I, 66/68). Ich habe die Texte in Kapitel 11,5 zitiert und gegenübergestellt. Zur Begriffsgeschichte vgl. H. J. Fuchs, Entfremdung und Narzißmus. Semantische Untersuchungen zur Geschichte der >Selbstbezogenheit< als Vorgeschichte von französisch amour propre. Stuttgart 1977. Ficinos naturphilosophische Beispiele betreffen gerade auch das Feuer: vgl. De Amore, 111,4 (dt./lat. Ausgabe: Über die Liebe oder Piatos Gastmahl. Hamburg 1984. S. 90/92): »Non enim ignis aquam, aque odio fugit, sed sui ipsius amore, ne ab aque frigore extinguatur. Neque ignem aqua odio ignis extinguit, sed quodam amplificandi proprii frigoris appetitu trahitur ad aquam sibi similem ex ignis corpore procreandam. Nam cum omnis appetitio naturalis ad bonum nullaque ad malum tendat, aque propositum est non ignem extinguere, quod est malum, sed aquam sui similem, quod bonum est generare.« Natürlich folgt Fracastoro Ficino nicht in dem Bestreben, den Antipathiebegriff durch den amor proprius zu eliminieren. Vgl. P. Rossi, »II metodo induttivo e la polemica antioccultista in G. Fracastoro«. In: Rivista critica della filosofia italiana 9 (1954). S. 485-499. Vgl. aber auch die Kritik an Rossi bei E. Peruzzi, Antioccultismo. S. 128. Zum Gedanken, daß virtutes der Dinge miterschaffen sind, um Gottes Erhaltung der Dinge zu fördern, vgl. Thomas v. Aquin, De potentia. q. 3. In: S. Thomae Aquinatis Quaestiones Disputatae. Vol. II. Hg. von P. Bazzi u. a. Turin und Rom 1949. S. 7: »Et hoc modo Deus agit omnes actiones naturae, quia dedit rebus naturalibus virtutes per quas agere possunt.«

146 Nicht nur die Aktivität der Erhaltung und der Begrenzung schreibt die Vision den ersten geformten Wesen zu, sondern auch das Bestreben, sich zu verbreiten und auszudehnen und die Sitze und Teile des Nachbarn und Bruders (vicini et fratris) anzugehen. Es handelt sich hier um die Ausbreitung nach dem Modell der multiplicatio speciorum, dessen Verwendung für die Qualitäten Wärme und Kälte wir bereits im vorigen Kapitel kennengelernt haben. Der Ausdehnungskampf zwischen Wärme und Kälte geschieht nicht direkt, sondern, wie es Pomponazzis Reaktionstheorie vorschreibt, immer in bezug auf die jeweils eingenommene Materie. Fracastoro fährt fort: Gott gab beiden nicht allein den Wunsch ein, sich durch Erzeugung eines Ähnlichen auszubreiten, sondern auch die Fähigkeit - und die Wirkkraft - , allmählich den Nachbarteil, den sie berührten, zu zerstören (corrumpendi). An dieser Stelle ist eine etwas ausführlichere Erklärung notwendig. Es handelt sich um das Problem - das den Traktaten über die reactio entstammt - , wie die Qualitäten Wärme und Kälte überhaupt aufeinander wirken können. Denn Wärme etwa hat eine geringe Resistenz und würde bei ihrer Ausbreitung auf ein benachbartes Feld selbst zerstört werden. Da aber traditionell Selbsterhaltung als primär gegenüber Ausbreitung gesehen wird, scheint Ausbreitung gar nicht erst möglich zu sein. Pomponazzi hat diese Aporie mit Bezug auf die Problemformulierung bei Avicenna erörtert. Wenn man j e n e R e a k t i o n zugibt, würde ein und dasselbe zugleich zerstört werd e n und eine sich selbst ähnliche Qualität intensivieren, was wohl offenbar g e g e n die Natur verstößt. D e n n wie Avicenna in der Prima Primi von der natürlichen W ä r m e sagt: Wie nämlich kann etwas eine Vermehrung leisten, das sich selbst nicht zu erhalten vermag, s o auch wie kann die W ä r m e eine andere entstehen und intensiver werden lassen, da sie sich selbst nicht bewahren kann? D e n n es entspricht der Natur mehr, die Selbsterhaltung zu erstreben als die Hervorbringung und Vermehrung eines anderen.

Und Pomponazzi antwortet: Darauf wird gesagt: S o wie nach d e m 2. B u c h über den H i m m e l die M e i n u n g vertreten wird, daß die Natur v o n d e m Möglichen immer das Bessere tut, bewahrt sie sich, da sie sich nicht bewahren kann im Hinblick auf das Individuum, in Hinblick auf die Art, wie Aristoteles im 2. B u c h über die Seele sagt, was er v o n Piaton im 4. B u c h über die G e s e t z e ü b e r n o m m e n hat, daß das, was s o ein anderes hervorbringt, auch sich selbst erhält, weil es, indem es etwas sich selbst Ä h n l i c h e s hervorbringt, seinen G e g e n s a t z wenigstens partiell zerstört, durch welche Zerstörung es sich selbst erhält. 1 6

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Pomponazzi, D e reactione, 32v und 33r: »data illa reactione i d e m simul corrumpitur et intendit qualitatem sibi similem: q u o d quidem videtur esse contra natur a m : n a m q u e ut dicit A v i c e n n a d e c a l o r e n a t u r a l i p r i m a primi: q u o m o d o e n i m aliquid a u g m e n t u m praestare potest: quod seipsum conservare n o n valet: sic

147 Das Prinzip der Selbsterhaltung - Fracastoros tueri - kann insofern gerettet werden, als es mit der Arterhaltung in der Erzeugung eines Ähnlichen sowie mit der Zerstörung des Gegenteils korreliert wird. Diese Lösung Pomponazzis scheint Fracastoro überzeugt zu haben, der eigens die Zerstörungsfähigkeit der primären Wesen zu deren Assimilationsfähigkeit addiert. Die Unterscheidungsfähigkeit - das cernere - bezieht sich dann auf die Elementarunterscheidung zwischen zwei konträren Gegensätzen, um diese Zerstörung des Angrenzenden als des Gegenteils einzuleiten. Fracastoro bleibt in seiner Vision, gerade auch an diesem Punkt, sowohl in der Nähe der Phänomene als auch der Grundsatzprobleme der Qualitätenlehre. Er konstruiert bei aller kalkulierten Progression kein Modell, das in einem metaphysischen Sinne deduktiv von gegebenen Prinzipien fortschreitet, sondern eine Kosmogonie, die sich bewußt wie eine Schöpfungserzählung präsentiert. Nun verführt das Verhältnis von Selbsterhaltung und Ähnlichkeit, das hier angesprochen ist, allzuleicht zu animistischen Konnotationen, die gerade von dem Punkt ablenken würden, der hier der entscheidende ist: die Abwendung von einer spiritualistischen Auffassung dieser Begriffe, die Fracastoro durch ihre Einbettung in ein aristotelisches Verständnis von Reaktion erreichen will. Assimlation kann ja auch ohne animistische Verpflichtungen gedacht werden. Und gerade dann, das wäre meine These, wird der Selbsterhaltungsbegriff theoretisch akut und notwendig. Dort, wo Assimilation schon animistisch gedacht ist, muß man nicht mehr von einem originären Streben der Dinge, sich selbst zu bewahren, sprechen. Es genügt, auf die Präsenz der Seele zu verweisen. Das mag ein Blick auf Cardano zeigen. Er, der in einem weit stärkeren Maße als Fracastoro seiner Philosophie das Modell des animal mundi, welches bewegt und organisiert ist von der anima mundi, zugrunde legt, geht andere Wege als der Veroneser Mediziner. Für Cardano nämlich sind Kausalerklärungen jenseits der causae proximae, nämlich aufgrund von Einheitsgesichtspunkten, akzeptabler als für Fracastoro, der der Zurückweisung einer Kausalität aus Ähnlichkeit einen eigenen Abschnitt in De sympathia et antipathia rerum gewiditaque quomodo caliditas aliam potest generare et intendere cum se ipsam conservare non possit: magis enim naturale est appetere sui conservationem: quam alterius generationem et augmentum. [ . . . ] Huic dicitur: ut in 2° de coelo habetur natura de possibilibus facit quod melius est: cum non possit se conservare respectu individui saltem conservât se secundum speciem: ut 2° de anima dicit Aristoteles quod accepit a Platone 4° de legibus: cum hoc quod et sic generando alterum conservât se etiam: quoniam generando sibi simile corrumpit suum contrarium saltem secundum partem per cuius corruptionem seipsum conservât.«

148 met hat. 17 Vielleicht ist das aber zugleich der Grund, weshalb Selbsterhaltung für Cardano zu keinem zentralen Thema wird. E r bleibt in den traditionellen Bahnen, nach denen die Erhaltungsfähigkeit der Wesen als Potentialität gesehen wird, die, analog zur Sichtbarkeit aufgrund von Beleuchtung, durch Aktualisierung zur Erscheinung kommt. Thomas von Aquin hat diese Lösung vorgegeben, und Cajetan hatte sie in seinem Thomas-Kommentar im 16. Jahrhundert erneut bestätigt. 18 So beschreibt Cardano das Streben nach Selbsterhaltung im natürlichen Ort so: »Denn wie das Licht bewirkt, daß das, was der Möglichkeit nach sichtbar ist, durch etwas derartiges aktuell wird, so ist das, was von Anfang her geschaffen ist, seiner Natur nach so begabt, daß es sich bewahrt und schützt. Dieses Werk wie das übrige ist durch die Weisheit der Natur gemacht, sich zu schützen und den sich entsprechenden Ort festzuhalten.« 19 Was bei Thomas die aktualisierende conservado des Schöpfers ist, ist bei Cardano zwar zur sapientia naturae geworden, aber strukturell dasselbe. Cardano hat bei seiner Ausweitung des Seelenbegriffs sicher weniger Schwierigkeiten mit der Annahme einer Proto-Erkenntnis in den elementaren Dingen als andere; dennoch ist auch er keineswegs so naiv, hier einfach eine strebende Seele anzusetzen: Selbsterhaltung ist für ihn etwas, das aktuali17

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Fracastoro benennt als fundamentales Gesetz das Streben der Elemente zum ihnen eigenen Ort; aber er will dieses Streben nicht als etwas verstanden wissen, das eine Art von Erkennen voraussetzt: »Non cognoscunt igitur eorum finem substantiae, et corpora, quae in universo sunt, per naturam tarnen resistunt, ne separentur omnino. Non enim necesse est, quae gratia alicuius agunt, finem etiam cognoscere, sed alia cognosunt quidem, alia per naturam agunt.« Fracastoro, De sympathia et antipathia rerum. S. 4f. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I. Quaestio 8 a. 1: »Hunc autem effectum causat deus in rebus, non solum quando primo esse incipiunt, sed quamdiu in esse conservantur, sicut lumen causatur in aere a sole, quamdiu aer illuminatus manet. Quamdiu igitur res habet esse, tamdiu oportet quod deus adsit ei secundum modum quo esse habet.« Der Zusammenhang ist hier jener von Gottes Allgegenwart als Weise der Präsenz seiner Erhaltung der Welt, ein Gedanke, der nicht unvereinbar ist mit Cardanos Plotinismus. Vgl. H. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution neuzeitlicher Rationalität.) In: Subjetivität und Selbsterhaltung. Hg. von H. Ebeling. Frankfurt 1976. S. 1 4 4 - 2 0 7 ; 172; vgl. auch M. Mulsow, Selbsterhaltung. In. HWPh. Bd. 9. Sp. 3 9 3 - 4 0 8 ; 393f.; zur wissenschaftlichen Relevanz göttlicher Omnipräsenz vgl. A. Funkenstein, Theology and the Scientific Imagination from the Middle Ages to the Seventeenth Century. Princeton 1986. S. 23—116. Vgl. auch die Aussagen von Thomas über Erhaltung in Summa theologiae I. Q. 104. a. 1 sowie den Kommentar von Cajetan in: Thomas von Aquin, Summa integra Theologiae. Cum commentariis Thomae de Vio Card. Tom. 1. Venedig 1508; ein telesianischer Kommentar dazu in A. Persio, De natura ignis et caloris X I . Cap. 14ff. Cardano, D e natura 286a: »Nam quemadmodum lumen efficit ut visibile potestate eiusmodi actu fiat, ita quod ab initio factum est, sua natura, ita praeditum est, ut se s e r v e t a c t u e a t u r . H o c o p u s ut r e l i q u a n a t u r a e s a p i e n t i a f a c t u m est,

custodire ac retiñere locum sibi convenientem.«

149 siert wird bei bestimmten Naturvorgängen; man kann hier vorausdeuten auf seine vorsichtige Bestimmung der Natur als impressio einer Seele, die wir in Kapitel IV kennenlernen werden. Doch kommen wir zurück zur Kosmogonie Fracastoros. Der Schöpfergott, der seine Schöpfung erhalten will, indem er sie stabil gestaltet, hat angesichts der Zerstörungskraft, die er den ersten Wesen verliehen hat, dafür zu sorgen, daß sie sich nicht gegenseitig zugrunde richten. Um dieses Problem zu lösen, greift Fracastoro - was er bisher nur in Ansätzen getan hatte - nun massiv auf das theoretische Modell des Reaktionsgleichgewichts zurück. 20 Die Primärkörper können sich nämlich, so Fracastoro, nur in Graden vermischen (gradibus quibusdam misceri), nicht als solche. Die Intensitätenphysik mit ihren acht Graden muß also die Ebene sein, auf der die Erklärung fortzuschreiten hat. Gott habe die Welt so eingerichtet, daß die eine Seite die andere zwar in der Aktivitätskraft (agendi potentia) überrage, aber dafür wegen ihrer schwachen Widerstandskraft (patiendi, et resistendi debilitate) ihr gleichzeitig unterlegen sei. Fracastoro reformuliert hier eine der basalen Prämissen jeder Reaktionstheorie, die, insbesondere nachdem Albert von Sachsen und Marsilius von Inghen den Resistenzbegriff in der calculatorischen Physik stark gemacht haben, die Argumentationslinien bestimmt haben. In den folgenden Passagen wird nun beschrieben, wie sich nach Fracastoros zwischen platonischem Timaios und aristotelischem De generatione et corruptione changierender Vision aus der Ausgangslage Mischungen bilden, und aus den Mischungen schließlich komplexere Wesen. Ich werde hier nur die Entstehung einfacher Mischungen schildern, um den calculatorischen Gehalt der Theorie zu rekonstruieren. Eine Mischung der Qualitäten oder Prinzipien beginnt, indem dort, wo die Materie vom höchsten Grad an Kälte bestimmt war, nun ein Grad zerstört ist und statt dessen ein Grad an Wärme hinzugekommen ist.21 Dieser eine Grad kann von den anderen Kältegraden 20

D e anima. S. 570f.: »Ad quam inimicitiam D e u s animadvertens, id cavit, ne sese penitus interimere possent, possent autem gradibus quibusdam misceri. H o c enim maxime conducebat ad generationes perfectiores mixtorum. Quapropter actiones eorum aequavit, fecitque, ut, quanto alterum agendi potentia alterum superaret, tanto patiendi, et resistendi debilitate ab alio vinceretur. Igitur, cum mutuo utrunque sese propagaret in partes alterius, misceri invicem caepere, et, in qua materiae parte erat frigiditas summa, corrupto gradu uno caepit illic esse et gradus unus caliditatis: qui nec repelli, aut extinguí poterai ab aliis gradibus frigitatis, quoniam qui erant in eadem materia, non poterant sese propagare, cum iam esscnt, nec in potestate esset quicquam gignendi, quod erat, sed id tantum, quod non erat.«

21

D e anima. S. 371: »Sed ñeque gradus, qui erant in vicina materia, poterant graduiti ilium caliditatis destruere, quanquam essent ut 8, et summi: quoniam gradus Septem nihil poterant in ipsum agere, ob id, quod diximus iam esse in

150 nicht vertrieben oder zurückgestoßen werden, weil diese nämlich im gleichen Stück Materie sitzen und sich insofern nicht ausbreiten können, weil sie schon da sind, und etwas kann ja nicht werden, so Fracastoro, was es schon ist. A b e r auch die Grade in den benachbarten Kälteteilen können diesen einen Wärmegrad nicht zerstören, obwohl sie acht und damit die höchste Zahl an Graden besitzen. Denn sieben Grade von ihnen können ja nicht agieren, weil sich solche schon in dem fraglichen Stück Materie befinden; es bleibt noch ein Grad, der wirken könnte, aber der ist nicht stärker als die Wärme im angrenzenden Materiestück, vielmehr ist er schwächer als sie, die in die Kälte eingedrungen war. Ebenso geschieht es, so Fracastoro, daß auf der anderen Seite der erste Kältegrad in die warmen Materiestücke eingeführt wird. Sie können sich ebensowenig dagegen wehren, und auf beiden Seiten hat man sich einen Prozeß vorzustellen, der solange abläuft, bis von beiden Seiten ein Gleichgewicht erreicht ist, oder die eine die andere überwunden hat. Aus diesem Primärprozeß an Mischung (hac prima miscella) ergeben sich also drei Typen von Verbindungen: solche, in denen die Grade ausgeglichen sind, solche, in denen die Wärme, oder aber die Kälte überwiegt. Dieser Befund ist wiederum wichtig im Hinblick auf die Entstehung komplexerer Mischungen: Da nämlich Wärme höchste Dünnheit verlangt (exposcebat) und Kälte höchste Dichte, aber in diesen Zuständen physikalisch keine Wahrnehmungen wie Sehen, Hören oder Riechen möglich sind,22 ist es für das Entstehen höherentwickelter Wesen essentiell gewesen, daß sich diese Extremlagen durch Mischung abgebaut haben, sozusagen einer lebensfreundlicheren Umwelt gewichen sind. Diese spezifische Reaktionstheorie Fracastoros ist es, was ihm erst möglich gemacht hat, ein progredierendes Modell von Höherentwicklung der Weltorganisation bei gleichbleibender >chemischer< Stabilität m a t e r i a e a d e m . Q u a r e r e l i n q u e b a t u r g r a d u s s o l u m unus, qui a g e r e posset: at ilio p o t e n t i o r tota caliditas vicini tangentis erat, q u a e s e c u n d u m g r a d u s o m n e s a c t i o n e m h a b e b a t in f r i g i d i t a t e m inducere. I d e m et e c o n t r a e v e n i e b a t in g r a d u frigiditatis p r i m o in c a l i d i t a t e m introducilo, qui pariter repelli n o n p o t e r a t prop t e r e a s d e m causas. Q u a r e u t r o b i q u e actio c o n t i n e n t e r p r o d u c e b a t , d o n e c uterq u e v e l ad a e q u a l e s g r a d u s p e r v e n i s s e t , vel alter a l t e r u m s u p e r a r e t . Q u a r e e x h a c p r i m a miscella c o n i u g a t i o n e s tres f a c t a e sunt, u n a , in q u a u t r i n q u e p a r e s facti essent gradus: una, in q u a c a l o r s u p e r a r e t , una, in q u a frigus. E r a t a u t e m c o m m i x t i o h a e c utilitatis n o n p a r v a e ad e a mixta p r o d u c e n d a , q u a e p e r f e c t i o r a f u t u r a erant. Q u o n i a m e n i m calor raritatem sibi s u m m a m e x p o s c e b a t , frigus v e r o s u m m a m d e n s i t a t e m , p r o p t e r q u a e n e u t r u m p o t e r a t n e c videri n e c audiri, n e c o d o r a r i , n e c in s u m m a q u i c q u a m b e n e obire, f i e b a t q u i d e m , ut ex a d m i x tione contrarli et raritas et densitas t e m p e r a r e n t u r . « 22

F r a c a s t o r o schließt hier an an seine W a h r n e h m u n g s t h e o r i e n in De et antipathia rerum u n d in De intellectione an.

sympathia

151 zu entwerfen. Nicht nur für Pomponazzi, 23 auch für Fracastoro erweist sich die Arbeit an den spätmittelalterlichen Problemen der Reaktion als Schlüssel zu seiner Naturphilosophie. Fracastoro hat die Grundlage zu dieser Theorie in modifizierter Form auch in De sympathia et antipathia rerum entwickelt, wo er von der Verwunderung ausgeht, daß bei allem gegenseitigen sich Zerstören der konträren Qualitäten es doch offensichtlich möglich ist, daß bestimmte Qualitäten eines einzigen Grades in der entgegengesetzten Qualität existieren können, ja mit ihnen harmonieren (congaudere), wo es andere doch nicht können. 24 Auch hier betont er die Notwendigkeit, das Phänomen intensitätenphysikalisch anzugehen. Der Grad acht kann mit keinem Grad seines Gegensatzes harmonieren, sondern ist notwendig allen entgegengesetzt. Der Grad sieben hat aber bereits keine universelle Gegensätzlichkeit zu allem, sondern nur zu denen, die über einem Grad angesiedelt sind. Mit einem Grad seines Gegensatztes kann er koexistieren. Dasselbe folgt für Grad sechs und zwei, für fünf und drei und so fort. Auch hier scheint es Fracastoro letztlich der Zweck des Schöpfers oder der Natur zu sein, daß komplexe Wesen entstehen können, der für diese Harmonik verantwortlich ist: »quod Natura quidem ita constituit, ut mista fieri et conflari possent.« 25 23

24

25

Vgl. E. Keßler, Pietro Pomponazzi. Zur Einheit seines philosophischen Lebenswerks. D e sympathia et antipathia rerum. S. 19f.: »Est autem et alia magnopere admiranda elementorum Sympathia et Antipathia circa eas qualitates, quae contrariae inter se sunt, ut caliditas, figiditas, humiditas, et siccitas: nam has quidem contrarias esse, et sese mutuo destruere, atque interimere manifestum est: at vero quis non miretur, quam nihilominus videamus certos unius contrarii gradus stare, ac quodammodo congaudere cum certis alterius, quosdam vero cum quibusdam non posse consistere? quasi caliditas specie tota, et natura contraria non sit frigiditati, sed certis gradibus solum: quod, quomodo se habeat, inquirendum. Quoniam igitur gradus certos, et quandam intentionem habent hae qualitates, quos gradus philosophi usque ad octo per quandam aestimationem producunt doctrine gratia, manifestum quòd summus ille gradus, qui ut octo dicitur, cum nullo gradu sui contrarii stare et convenire potest, sed omnibus adversatur: at vero ille, qui ut septem est, earn non habet contrarietatem, ut omnibus adversetur, sed iis solum répugnât, qui supra unum sunt, cum vero autem et stat, et concordat: qui vero ut sex dicitur, cum duobus consentit, reliquie contrariatur, qui supra duos sunt, quinqué vero cum tribus concordat, iis dissentit, qui supra sunt: quatuor porro cum quatuor convenit, reliquos, qui supra sunt, non admittit: quare contrariae quidem sunt qualitates, sed non ita, ut quilibet gradus cuilibet adversetur, sed certi certis tantummodo: quod Natura quidem ita constituit, ut mista fieri et conflari possent.« D e sympathia et antipathia rerum, 20; auf das Problem, daß keine Mischungen und keine höhere Organisation entstehen könnten, wenn die Reaktion von Primärqualitäten nicht zugegeben werden kann, haben schon früh die Theoretiker hingewiesen, etwa Marsilius von Inghen, In eosdem [libros de generatione] [...] quaestiones. Quaest. 19. c. 1: »quodlibet miscibilium agat et repatiatur, aliter enim ex eis non posset mixtum generari.« Zit. nach M. Clagett, Giovanni Mar-

152 O b diese eigentümliche B e h a n d l u n g d e s R e a k t i o n s p r o b l e m s bei Fracastoro b e d e u t e t , daß Pomponazzis Lösung ihn nicht überzeugt hat oder die B e h a n d l u n g nur eine Interpretation des Problems im Lichte v o n c o m e m i M - R e l a t i o n e n g e w e s e n ist, ist nicht ganz klar. E s scheint, daß Pomponazzi k e i n e s w e g s alle aus d e m Kreis seiner Schüler in seiner L ö s u n g s w e i s e des R e a k t i o n s p r o b l e m s überzeugt hat; zwar führt Trincavella seine Ü b e r l e g u n g e n fort, jenseits der Calculatorik auf die aristotelisch-averroistische Vorstellung v o n der A k t i v i e rung verborgener Potentialitäten zurückzugehen, 2 6 aber s o w o h l bei Contarini als auch bei Fracastoro sind wir in gewisser Weise auf Weiterentwicklungen der Intensitätenphysik gestoßen. M a n hat sich m ö g licherweise in Padua und Verona nicht so schnell mit der Linie d e s Rückgangs hinter das 14. und 15. Jahrhundert abfinden wollen. D i e u m 1530 im V e n e t o erörterten L ö s u n g e n versuchen stattdessen, die spätscholastischen M o d e l l e mit der n e u e n Kritik vereinbar zu machen. E s ist nicht ganz einfach, Fracastoros L ö s u n g in ihrer Pointe zu erfassen. D e n n m a n m u ß erkennen, daß Fracastoro das ganze R e a k tionsproblem auf seine k o m p l e x e Vorstellung v o n Kontrarietät um-

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liani. S. 43; bei Fracastoro folgt hier (S. 20f.) dieselbe Überlegung wie in De anima: »Fortasse autem nec fieri potest, ut gradus unus aut plures unius contrarli inducti in aliud tolli amplius ab eodem, & destruí possint, ut si a calidum, in b frigidum, gradum unum caliditatis induxit, fieri non potest ut b gradum illum rursus destruat, & a se repellat, ne cum septem suae frigitatis consistât, quoniam nihil in seipsum agit, ñeque simpliciter, ñeque quatenus frigidum in se quatenus calidum per unum gradum. Si enim ageret, ageret quidem inducendo frigiditatem aliquam: aut ergo inducet, quam habet iam, aut quam non habet: at ea, quam habet, produci quidem non potest, ut pote quae iam habet, minus vero ea, quam non habet, & iam amisit, quoniam per illam actu non est, nec est a quo fiat: relinquitur igitur ut gradus ille unus caliditatis in b, cum septem frigiditatis stet, & conveniat: similiter & de aliis dicatur. Sed habet difficultatem quomodo primus ille gradus ab a producatur in b, & post ipsum alii, & quomodo cum actione simul et reactio fieri possit. Tangentibus enim sese a & b, si quidem potentius est a, quomodo patitur? si vero impotentius, quomodo agit? si aeque potens, quomodo aut actio, aut passio fit?« Vgl. Pomponazzi, De reactione 31r b: »Ex quibus inferimus actionem et reactionem nihil aliud esse: nisi duo vel plura agentia approximata: mutuo se assimilare: vel simpliciter vel secundum quid: sic quod unum faciat alterum actu tale: quale ipse est: et econtra secundum modum expressum: ut si calidum et frigidum invicem approximentur et calidum faciat frigidum calidum: et econtra: vel secundum totum vel secundum partem: haec et similia dicuntur agere et reagere invicem calidumque frigidum facit calidum: non quia a calido in frigidum aliquid procedat: sed quoniam ipsum frigidum erat in potentia calidum: id eo per virtutem calidi extrabitur calidum de potentia ad actum. Eodemque modo dicatur de frigido respectu calidi: et universaliter de quocumque alio.« Zu den Bologneser Vorlesungen Pomponazzis vgl. B. Nardi, Studi su Pomponazzi. Firenze 1957; A. Poppi, Saggi sul pensiero inedito di Pietro Pomponazzi. Padova 1970.

153 stellt: Die Intensitätsgrade werden selbst auf ihre - numerische Kontrarietät befragt. 27 Indem beim Reaktionsprozeß nur immer der eine Grad widersteht, der dem einen induzierten entgegengesetzt ist - da ja die sieben anderen durchaus mit einem Konträren koexistieren können - , so kann sich der induzierte Grad durchsetzen. Dieser Vorgang wiederholt sich bei der Induzierung des zweiten Grades, und so, Grad für Grad, kann in der Potentialität der Reaktiosprozeß verlaufen, bis schließlich die wirkliche actio statthat. Man kann hier Anklänge an die nicht unübliche Lösungsweise durch Unterscheidung 27

D e sympathia et antipathia rerum, 21ff.: »Primum quidem quod in actione contrariorum consideranda est potentia, per quam fit actio, qualis sit, & quanta, deinde illud, quod inducitur, ac demum in quod proprie agunt: ac potentia quidem semper mensuratur per gradus illos, secundum quos est contrarietas. quoniam enim graduum quidam quibusdam contrarli sunt, quibusdam non, universaliter nulla actio sit inter eos, qui contrarli non sunt, nec ab iis solum qui contrarli inter se sunt. Illud vero, quod inducitur, semper est remissimus gradus, incipiendo ab uno, vel forte a medio, aut minori, ascendendo versus summum. Contra vero illud, in quod sit actio, semper est intensior gradus, descendendo a summo ad minimum. Ex his fit, ut tangentibus se a & b, sive aequalia sunt, sive alterum in alterum reciproce necessario agant: et si enim b simpliciter impotentius sit, frigefaciet tamen a, & necessario gradum unum primo inducet, mox & duos, & ita alios consequenter; quoniam id, in quod proprie agit, est gradus summus, ut octo ipsius a calidi, ad quem b contrarietatem habet per omnes sui gradus: aget igitur per potentiam resultantem ex omnibus gradibus, quod autem inducit, est gradus ut unum frigiditatis, ad quem a contrarietatem non habet, nisi per gradum unum, qui est ut octo, per septem enim non contrar i a t o , siquidem unus frigitatis gradus cum septem caliditatis stat, & contrarietatem non habet. Potentia igitur, per quam a agere potest in gradum illum ut unum frigiditatis, qui inducitur, non résultat ex omnibus sed ex uno solum, quare résistât, a per solum gradum unum, quum ergo b per omnes suos gradus agat, a autem per unum tantum résistât gradui uni, qui inducitur, fiet quidem, ut necessario primus ille gradus inducatur, nec obstabit pars non paria, quoniam & ipsa per gradum unum solum aget, per septem enim non contrariatur: at vero & secundus pariter inducetur eadem ratione, quod b aget in gradus contrariatur: a autem in gradum ut duo, qui a b inducitur, non aget nisi per unum gradum, hoc est per illum, qui est ut septem, quoniam duo frigiditatis gradus cum sex caliditatis stant, & cum iis contrarietatem non habent. Resistei igitur a per unum solum gradum, b autem per septem aget, quare necessario & secundum producet gradum, & consimiliter tertium, & ita deinceps, quoniam semper maior est potentia, per quam agit, quam ea, per quam resistitur gradibus, qui introducuntur, quae semper non nisi per unum est, aut forte per minus, & minus in infinitum. Idem dicatur & de a respectu b, nam quum a agat primo in gradum summum b, cui contrariatur per omnes suos gradus, inducatque gradum unum caliditatis, cui b non resistit nisi per gradum unum, qui est octo, per septem enim non contrariatur, necessario quidem fit, ut a primum caliditatis gradum introducat in b, mox & secundum, & alios eadem ratione, quo pacto tandem fiit, ut & actio fiat, & reactio inter contraria, quod non sine fine quodam magno a natura institutum est, quo mista conflari possint, alia quidem inanimata terrae metalla, lapides, & id genus, alia animata plantae, & animalia, & ipse demum homo: de quorum mistorum Sympathiis superest iam, ut dicamus.«

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des affizierten Teils vom nicht affizierten erkennen, 28 bei dem auch die Reaktion als schrittweiser interner Prozeß verstanden wird; aber die Relevanz des Unterschiedes von Aktionskraft und Resistenz in der Reaktion wird mit der Stufentheorie vom affizierten Teil zusammen von Fracastoro so transformiert, daß nun nicht lokale, sondern numerische Stufen überwunden werden. Nicht also räumliche Unterschiede der Affiziertheit werden zur Abstufung der internen Reaktionsvorgänge geltend gemacht, sondern Kontrarietätserwägungen zu den Graden selbst. Der Effekt ist, daß die einzelnen Grade gleichsam substantialisiert werden. Fracastoros Umstellung der aristotelischen Naturwissenschaft nach Phänomenen der Harmonie und der Kontrarietät, die schon im ersten Kapitel als folgenreich beschrieben worden ist, zeitigt die Konsequenz einer Öffnung der Diskurssituation. Die buchstäbliche Fragmentierung des aristotelischen Formbegriffs, die im Averroismus und vor allem in der spätmittelalterlichen Intensitätenphysik durch Konstruktionen wie die der forma fracta, der forma fluens oder des fluxus formae bewirkt worden war, scheint auch bei Fracastoro zu einer Abkehr in der Erwartung an die Leistungsfähigkeit des Formbegriffs geführt zu haben. Indem pointiert auf das alte aristotelische Kontrarietätsprinzip umgestellt wird, sind Mischungsprozesse ganz neu zu bewerten. Die Neubewertung aber bedeutet nicht nur eine Annäherung an die Argumentationen über Einheit und Differenz der Platoniker, sie ersetzt auch zunehmend die Funktion des Formbegriffs selbst. Telesio hat dann völlig Abschied von diesem Begriff genommen. 29 Ich werde hier die Rekonstruktion von Fracastoros Kosmogonie abbrechen. Fracastoro hat seine Vision noch ein Stück weiter vorangetrieben, aber nicht vollendet. Der posthum gedruckte Text von 1555 bricht mit einem Vermerk des Herausgebers ab: »Morte praeventus, 1553. VIII. Idus Augusti, atque ad ipsam accitus immortalitatem, quod sero inceperat absolvere non potuit.« 30 Fragmente einer Fortset28

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Vgl. Kap. I; weiterhin M. Clagett, Giovanni Marliani. S 45. »A hot body a acts upon a cold body b, and in turn is cooled by b. The part of a immediate to b, and therefore suffering action from b at any given moment, is called the affected part c. The remainder of a, as yet not reacted upon by b, is called the unaffected part (pars non repassa) d. The description of reaction in this manner is an obvious recognition of the part to part conduction of heat. What the authors must explain in such a scheme is how d, which is much hotter than the affected part c, does not immediately by the Peripatetic law heat that part; and since the relationship of d to c at any given instant after the beginning of the action must be a proportion of greater inequality, how can we conceive of any moment at which c will be cooled by b.« Dort sind auch die Quellen angegeben. Vgl. D R N 1586, Buch II. De anima. S. 574.

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zung sind immerhin erhalten geblieben und 1948 von F. Pellegrini ediert worden. 31 Daß die gedruckten Texte wie auch die Fragmente zum großen Teil um 1539 entstanden sind, ist für uns nicht ohne Interesse. Denn in ebendiesen Jahren klärt Fracastoro seine Gedanken zum Verhältnis von Gott und Natur, zu theologischer und naturwissenschaftlicher Erklärungsweise, und zum Begriff der Gnade.

2. Das theologische Komplement Der Zusammenhang mit den Diskussionen über Gnade ist besonders erhellend. 32 Fracastoros Fragmente eines Dialogs über Gnade, der in diesen Jahren entstanden ist, gehört in den Kontext der theologischen Kontroverse in Verona, an der vor allem Marcantonio Flaminio, aber auch Giberti, Crispoldi und andere Anteil hatten, und in die Seripando und Contarini eingegriffen haben. 33 Soweit es um die Möglichkeit des Übernatürlichen geht, hält Fracastoro, wie selbst manche Aristoteliker seiner Zeit, einen Platz für exzeptionelle Erfahrungen jenseits des Verstandes offen - im Falle von Propheten und Magiern - , die aber nur >heroische< Menschen haben können. In solchen Erfahrungen, die Fracastoro mit Begnadetheit identifiziert, kann zusammengefaßt diejenige regulative Präsenz der Natur erfaßt werden, die sich in ihr offenbart. Diese Erfahrungen sind also an die Natur als Ganze zurückgebunden. Vor allem aber geht es um die Frage der Partizipation Gottes an den Tätigkeiten der einzelnen Naturen, seines concursus also. Ist Gott jeweilige Partikularursache oder lediglich die causa universalis, die zu diesen hinzukommt? 34 Der Fall entscheidet sich in seinem Verhältnis zum Voluntarismus. Es geht, so betont Badaloni, um die Frage, ob und inwiefern die Naturgesetze und die Prozesse der Natur als von 31

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F. Pellegrini, »L'inedito del dialogo fracastoriano Fracastorius sive de Anima.« In: Studi storici Veronesi 1 (1948). S. 303-323. Nicola Badaloni hat in einer bemerkenswerten Studie erstmals diese Verbindungen aufgezeigt: »II significato filosofico della discussione sulla salvezza in Gerolamo Fracastoro«. In: Logos (1969). S. 40-69. Zu Homöozentrik und Gnadentheorie bei Contarini vgl. Contarini, Opera. S. 244ff. (zur Homöozentrik); F. Dittrich, Gasparo Contarini 1483-1542. Braunschweig 1885. Ndr. Nierkoop 1972. S. 271-279 (Astronomie), S. 477ff. (Gnade). Vgl. auch E. G. Gleason, Gasparo Contarini. Venice, Rome, and Reform. Berkeley u.a. 1993. Vgl. zu den späteren Debatten um Gottes Bezug zu den Naturgesetzen S. K. Knebel: »Necessitas moralis ad optimum (III). Naturgesetz und Induktionsproblem in der Jesuitenscholastik während des zweiten Drittels des 17. Jahrhunderts«. In: studia leibnitiana 24 (1992). S. 182-215.

156 Gott gewollt interpretiert werden können. 35 Fracastoro, der in diesem Sinne argumentiert, faßt deshalb den Gnadenbegriff so weit, daß die ganze natürliche Welt in ihrem Ablauf als Ausdruck der Gnade Gottes (agere ... Dei gratiam) angesehen werden kann. Im Gegensatz zu jener Ansicht, Gott sei als Partikularursache in jedem Akt der Natur präsent, so daß nicht das Feuer erwärme, sondern Gott im Feuer, 3 6 führt Fracastoro aus, sei einfach die Natur durch Gottes Gnade so, daß sie in diesem Fall erwärme. 37 Gottes konkurrierende Kausalität darf also nicht okkasionell gedacht werden: periisset natura, sagt Fracastoro, der Naturbegriff würde sinnlos.38 Es ist dieselbe Formulie35

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Badaloni, Il significatalo filosofico. S. 49: »Non si tratta tanto di decidere circa il carattere immanentistico o meno del rapporto Dio-natura, quanto di prendere atto del fatto che le leggi, ed i comportamenti naturali sono interpretabili anche come volontà divina.« Dagegen argumentiert schon Thomas v. Aquin in der quaestio, die hier offenbar im Hintergrund steht: D e potentia, Q. 3, Art: 7: »Utrum deus operetur in operatione naturae«. In: S. T h o m a e Aquinatis Quaestiones Disputatae. Vol. II. Hg. von P. Bazzi u.a. Turin und R o m 1949. S. 5 5 - 5 9 ; hier 56b: »...unde dicebant quod ignis non calefacit, sed Deus créât calorem in re calefacta.« A b e r für Fracastoro ist der in Frage stehende Okkasionalismus natürlich aktueller als die Reporte, die Thomas aus Maimonides bezieht. Fracastoro, Scritti inediti. Hg. von F. Pellegrini. Verona 1955. S. 145f: »Nulla, me Dius didius, quoniam dici illud non potest aliquid sine D e o fieri, si quidem hoc pacto non solum omnium causa est, sed maxima causa; primum, scilicet, est quod finem intelligit et gratia illius movet et ordinat et disponit reliqua si qua disponi oportet. Maxime autem ita agere regem decet; ñeque enim ubi rex bellum edixit decens est ut quemque militum armet, calcaría illis aptet, sed satis est ipsum edixisse; edicto autem infinita alia moventur at agunt ut pareant; pars pedes ire parat campis, pars arduus altis pulverulentus equisfurit; omnes arma requirunt, pars leves clypeos et spicula lucida tergent, arvina pingui subigunt in cote secures. Ita et Deus, Regnum maximus, ita etiam agit excellentiori autem modo; ipse enim se ipsum solum intelligendo edicit ut reliqua omnia fiant. Ubi enim divinarum mentium post D e u m prima eum intuita est et ideas ac facit, in ipsa, statim et ipsa tum secundam mentem consimili intuitu movet, ilia aliam, jamque et orbium primos, solem et reliquos omnes trahit, tum vero elementa altera, tum invicem commisceret unde iam et mista prodeunt, primum quidem simpliciora, mox compositiora, nix, grando, pluvia, fontes, ilumina, lapides, gemmae et metalla, tum herbae, frútices, arbores, ac postremo animalia etiam ipsa et pulchritudines omnes ex quibus mundus iste consistit, quorum omnium causa et artifex supernissimus Deus est. Hoc ergo primo modo agit opifex rerum primus.« Zur besseren Lesbarkeit der Passage Textes lasse ich hier und im folgenden Zitat die textkritischen Markierungen Pellegrinis fort und modernisiere die Schreibweise. Ebd. S. 146f.: » A t alio etiam modo facit, eo, scilicet, quo dicebamus artificem movere applicando invicem naturas agentes: primum enim quum omnium conditor Deus mundum ipsum et naturas in eo omnes creasset, tum illas inter se miro quodam magisterio disposuit et ordinavit: quibus ita digestís: >vos iam agite< dixit; virtutes insuper illis dedit per quas possent praefixos praeconstitosque illos fines pervenire. Qua de causa omnibus hisce modis Deus causa singularium tum ipsorum tum actionum eorum maxime dici potest et debet; ac sic non periisse naturam dicemus sed stabilitam magis. Qui igitur dicunt non ignem

157 rung, die er auch in De sympathia et antipathia rerum benutzt; anläßlich der Frage nämlich, ob das Vermeiden des Vakuums eine Zielkenntnis vorraussetze: Wenn man dies zugäbe, verschwände der Naturbegriff, ein universaler Animismus wäre die Folge. 39 Die Gefahr ist also eine doppelte: eine Auflösung des aristotelischen Begriffs der Natur durch einen okkasionalisch agierenden Gott und durch einen Animismus, der jedwede Naturtätigkeit mittels einer Seele erklärt. Fracastoros Charakterisierung ist hier bezeichnend: Er wendet sich gegen eine Erklärung mittels eorum ullum, quae immaterialia sunt. Mit Immateriellem könne man keine Partikularursache angeben. Damit wird aber deutlich, daß Fracastoro nicht einfach auf einen nominalistischen Gott zielt, sondern gegen jenes Syndrom aus Voluncomburere, sed Deum in igne, duplicer possunt praefatum hoc intelligere; uno modo quod Deus ipse opus hoc edat per aliquid quod sit aliud a natura et forma ignis, ac sic sublata esset natura ut prius monstratum est; alio modo quod natura quidem ignis agat, sed hoc sit Deum agere et Dei gratiam quoniam natura illa et virtus dici Dei virtus potest et prior quia simpliciter a Deo facta est per gratiam eius; ac sic quidem rem verissimam dicunt, sed hoc non est Deum per se facere, sed accidens facere, quia natura, ab ipso facta, mox ipsa facit. Sed nos iam longe digressi sumus; revertendum tamen ad diverticulum, ac statuendum in naturalibus Deum naturas quidem universales per se et immediate ut omnium opificem condidisse, singulares vero et earum actiones uti primam et universalem causam producere ac primam causam per gratiam suam illas producere [...].« Man darf hier durchaus Parallelen sehen zur Argumentationssituation bei der Debatte über den okkasionalistischen Naturbegriff Ende des 17. Jahrhunderts. Boyle z. B. hat einen Naturbegriff konzipiert, der wie der von Malebranche ohne innewohnende Kräfte gedacht ist. Diese Konzeption hat in Deutschland vor allem J. Ch. Sturm aufgenommen, auf den wiederum Leibniz mit seiner Schrift De ipsa natura reagiert hat. Vgl. G. Baku, »Der Streit um den Naturbegriff am Ende des 17. Jahrhunderts«. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 98 (1891). S. 162-190; J. E. Mc Guire, »Boyle's Conception of Nature«. In: Journal of the History of Ideas 33 (1972). S. 5 2 3 542. H. M. Nobis, »Die Bedeutung der Leibnizschrift De ipsa natura im Lichte ihrer begriffsgeschichtlichen Voraussetzungen«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 20 (1966). S. 525-538. 39

Fracastoro, D e sympathia et antipathia rerum. S. 3f.: »Cuius rei si quis forte finem requirat, & cuius gratia fiat, non difficile certe erit assignare rationem, quam & omnes assignant, ne detur vacuum: quippe vacuum in natura esse non potest, quoniam nihil natura sustinet, nihil admittit, quod frustra sit, quodque universi ordinem & leges impediat: quae quidem contingant, si vacuus sit ullus locus, in eo enim, nec quicquam fieri poterit, nec quicquam recipi. At vero si quis non solo fine contentus sit, sed & agens quoque requirat, & quid nam illud sit, quod divellenti résistât, & quomodo, non erit fortasse ita promptum reddere rationem tanti nexus: quando universi partes ñeque eum finem agnoscunt, ñeque per naturam appetere possunt, aut contrariis iungi, si contraria sint, aut sursum duci, si gravia, aut deorsum, si levia. Neque enim dicendum (ut quidam aiunt) universi partes, tametsi non eum cognoscunt finem, dirigi tamen a cognoscente: quando hic non universalem & primam causam quaerimus, sed particularem & propriam: quale esse non potest eorum ullum, quae immaterialia sunt, sic enim periisset natura.«

158 tarismus, Magie und Neuplatonismus, das mit immateriellen Eingriffen in die Naturtätigkeit operiert und gegen das sich auch Pomponazzi vehement zur Wehr gesetzt hat. 40 Wie wir gesehen haben, hatte dieser De actione reali genau aus dem Grund geschrieben, um dieses Syndrom zu bannen, das in Padua nach Gaetano da Thiene selbst ein Nicoletto Vernia, 41 ganz abgesehen von Agostino Nifo vorangetrieben h a t 4 2 Das Gemeinsame dieses Syndroms ist das Vertrauen auf etwas Immaterielles. Gegen diese Position setzt Fracastoro die Lösung, die Thomas von Aquin vorgegeben hat. Die Rolle Gottes beschränkt sich gleichsam auf eine Anleitung (magisterium) und das vos iam agite, das die tätigen Naturen im Vertrauen auf die Konstruktion der Welt ihrem Lauf überläßt. Daß die Naturen als tätige begriffen werden - terminologisch im übrigen genau wie später bei Telesio als naturae agentes -, enthält diesen Hintergrund: Sie, und sie allein, sind die Handelnden. Durch Gottes Vorwissen ist der Ablauf festgelegt, die Naturen sind so ausgestattet, daß sie ihre im Voraus festgelegten Ziele erreichen werden (praefixos praeconstitosque ... fines pervenire). Auch Pomponazzis Option aus De fato ist hier nicht fern, insofern Pomponazzi den Zusammenhang der Natur und die strikte Notwendigkeit, Naturprozesse per rationes naturales zu erklären, dadurch erkauft hat, daß der Naturzusammenhang ein für alle Mal determiniert ist.43 Diese Determination ist theologisch gesehen die perfectio der Welt; doch in der Perspektive des in puris naturalibus - ein Ausdruck, den nicht nur die Theologen, sondern auch Pomponazzi und Fracastoro verwenden - bedeutet er eine stoische Komponente. 44 Fraca40

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Diesen Zusammenhang hat überzeugend aufgezeigt E. Keßler: Pietro Pomponazzi. Zur Einheit seines philosophischen Lebenswerks. Zur Naturphilosophie Vernias vgl. E. Keßler, Nicoletto Vernia oder die Rettung eines Averroisten. In: Averroismus im Mittelalter und in der Renaissance. Zürich 1994. S. 269-290. Vgl. aber auch C. Vasoli, La scienza della natura in Nicoletto Vernia. In: Studi sulla cultura del Rinascimento. Manduria 1968. S. 241-256. Zu Nifos Beziehungen zum Okkultismus vgl. P. Zambelli, »I problemi metodologici del necromante Agostino Nifo«. In: Medioevo 1 (1975). S. 129-171. Vgl. Pomponazzi, Libri quinqué de fato, de libero arbitrio et de praedestinatione. Hg. von R. Lemay. Lugano 1957. Vgl. Pomponazzi, Expositio super libros Metheorum, Ms. Paris BN lat. 6535, fol. 13r (zit. nach F. Graiff, »I prodigi e l'astrologia nei commenti di Pietro Pomponazzi al De caelo, alla Meteora e al De generatione«. In: Medioevo 2 (1976). S. 331 -361 ; S. 359): »Tertia opinio est Stoicorum, qui deriserunt quod Deus precibus mutetur et tenent quod omnia a D e o sunt praevisa et in hoc convenit cum lege, disconvenit autem quia ponit irreparabile fatum et quod ista sunt inevitabilia et dicunt quod ista habent perfectionem, quoniam si non essent ista diluvia, non salveretur mundus et non esset perfectus, unde finis illorum malorum est ut servetur et perficiatur universum et misericordia Dei est ad totum et non ad par-

159 storos Einspruch gegen das perire der Natur als theoretischen Begriff scheint mir im Einklang mit ganz analogen Vorgängen zu stehen, die für die Transformation des Aristotelismus im frühen 16. Jahrhundert allesamt von folgenreicher Brisanz gewesen sind und für die der Rekurs auf die natura pura charakteristisch ist. Ich will sie in vier Aspekten nennen: 1) Thomistische Theologen wandten sich gegen die Vorstellungen vor allem von Skotisten 45 - die auch von den neuerdings gängigen neuplatonischen Theorien bestätigt und gefördert sein mochten - , es gebe in den Dingen ein desiderium naturale zu Gott. Aus dem Verdacht, hier könne ein Anspruch auf Gnade ermutigt werden, der die Freiwilligkeit eben dieser Gnade hintertriebe, wollte man lieber eine Natur sehen, die keinen jeweiligen Bezug auf Gott hatte. 2) Ähnlich wie beim Theorem des desiderium naturale gab es offenbar vor allem in skotistischen oder gar nominalistischen Kreisen die Tendenz, die Verursachung Gottes in jedem einzelnen Akt für nötig zu halten. 46 Gegen diese Persistenz des Nominalismus und Voluntarismus - in Padua eher eine Reaktion gegen den Averroismus denn eine einfache Kontinuität - ist, wie wir gesehen haben, innerhalb der Debatten um göttliche Gnade als auf die ganze Natur bezogen mobil gemacht worden. 3) Spätscholastische Aristoteliker wie Gaetano hatten begonnen, Konzessionen in ihren Erklärungen der Natur zu machen, die in einzelnen Fällen auf >vertikale< Erklärungen verwiesen: Die menschliche Seele etwa sei unmittelbar von Gott verursacht; Spirituelles könne auf die Natur einwirken. Mit der Entwicklung einer dem Piatonismus nahen simplicianischen Aristotelesinterpretation, bedingt durch die Rezeption der griechischen Kommentatoren seit dem letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, hatte sich diese Tendenz, etwa bei Nifo, noch verstärkt. Indem einige thomistische Theologen in der >Pompo-

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tem. Opinio legum mihi placet, quia christianissimus sum, sed quo ad naturalia et in puris naturalibus opinio Stoicorum multum mihi placet et teneo.« Zum Skotismus in Italien zu Beginn des 16. Jahrhunderts vgl. A. Poppi, »Lo scotista patavino Antonio Trombetta (1436-1517)«. In: II Santo 2 (1962). S. 3 4 9 - 3 6 7 . Ders., »L'antiaverroismo della scolastica padovana alla fine del secolo XV«. In: Studia patavina 11 (1964). S. 1 0 2 - 1 2 4 . G. di Napoli, Duns Scoto nel rinascimento italiano. In: La tradizione scotista veneto-padovana. Hg. von C. Bérubé. Padova 1979. S. 2 6 7 - 2 7 2 . Vgl. aber zur Ergänzung dieses Blicks C. Vasolis Studie über einen Franziskaner im Umkreis des apokalyptischen Denkens in Florenz vor 1500: Notizie su Giorgio Benigno Salviati (Juraj Dragisic). In: ders., Profezia e ragione. Studi sulla cultura del Cinquecento e del Seicento. Napoli 1974. S. 15—128. Zum Thomismus vgl. Ρ. O. Kristeller, Le Thomisme et la pensée italienne de la Renaissance. Paris 1967. Zur skotistischen Kausalitätstheorie der Zeit vgl. A . Poppi, Causalità e infinità nella scuola padovana dal 1480 al 1513. Padova 1966.

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nazzi-Affäre< sich auf die Seite von Pomponazzis Option für die Sterblichkeit der Seele - aus philosophischer Sicht, in puris naturalibus - stellten, schoben sie ebenfalls der bereits philosophisch-metaphysisch zu begründenden Unsterblichkeitslehre einen Riegel vor: gegen eine Kompetenzanmaßung der Philosophie, die wiederum die Notwendigkeit von Offenbarung und Gnade geschmälert hätte. 47 4) Der Aristotelismus hatte bereits im Spätmittelalter astrologische Vorstellungen inkorporiert bekommen, die zum Teil von überelementaren siderischen Einflüssen ausgingen. Als dann in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts neuplatonisch-hermetische Vorstellungen massiv in Italien rezipiert wurden, kam es zur Ausbildung von magischen Vorstellungen bis hin zur Dämonen-Magie und Talisman-Magie. Gegen diese Vorstellungen hatte nicht zuletzt die Theologie ihr Monopol auf spiritualistische Phänomene geltend zu machen, vor allem dann, wenn die magischen Vorstellungen die beschriebenen Koalitionen mit einem christlich modifizierten Aristotelismus eingingen. Alle vier Tendenzen vor allem der Theologen, aber auch von Philosophen, richten sich gegen das Syndrom aus Voluntarismus, Magie und übernatürlicher Einflußnahme. 48 Man sieht, daß die Verbindungen von einem bestimmten Aristotelismus, der von innen heraus zur Aufnahme übernatürlicher Einflüsse bereit war, von voluntaristischer Theologie und von Neuplatonismus- und Hermetismusrezeption im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert sehr eng geworden waren. Dieses Syndrom scheint es gewesen zu sein, was auch die hier beschriebenen naturphilosophischen Neukonzeptionen provoziert hat. Die 47

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Vgl. E. Gilson, »Autour de Pomponazzi. Problématique de l'immortalité de l'âme en Italie au début du XVIe siècle«. In: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen age 28 (1961). S. 163-279. Weiter E. Keßler, The Intellective Soul. In: The Cambridge History of Renaissance Philosophy. S. 485 - 534. Bes. S. 504-507. Vgl. zu diesem Syndrom auch, vielleicht etwas dramatisierend, E. Keßler, Selbstorganisation in der Naturphilosophie der Renaissance. S. 18: »Im Augenblick aber, in dem, mit der Rezeption des Hermetismus und der neuplatonischen Magie durch Gaetanos Zeitgenossen Marsilio Ficino, dem ausgehenden 15. Jahrhundert ein Modell an die Hand gegeben wurde, aufgrund dessen es sich mit dem Chaos befreunden und in ihm tätig werden konnte - das Modell einer nicht nur von der Willkür eines allmächtigen Gottes, sondern auch von der Willkür einer Vielzahl von Geistern und Dämonen beherrschten Welt - in diesem Augenblick also wird das vom späten Mittelalter vorgedachte Chaos zur gegenwärtigen Realität der Renaissance. [...] Die Natur ist, vom allmächtigen Gott über die überall gegenwärtigen Dämonen bis hin zum frei tätigen Menschen zum Spielball zwar unterschiedlich mächtiger, aber doch gleichermaßen willkürlich tätiger unberechenbarer und unvorhersehbarer Kräfte geworden und als solcher nicht mehr geeignet, Gegenstand von Wissenschaft und zuverlässiger Erkenntnis zu sein. Soll solche Erkennbarkeit zurückgewonnen werden, müssen neue Modelle gefunden werden, welche das Chaos zu integrieren und zu strukturieren vermögen.«

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Lohr-Keßler-These von der Transformation des Aristotelismus setzt genau an diesem Punkt an - den ich noch um einige Momente angreichert habe 49 - , und sie kann durch unsere Befunde bei Fracastoro nur bestätigt werden. Doch achten wir noch etwas genauer auf Fracastoros Verwendung des Begriffs amor proprius congenitus. Die Wahl dieser Formulierung statt des einfachen amor Ficinos scheint mir die behutsame theologische Domestizierung neuplatonischer Anregungen bei Fracastoro deutlich zu indizieren. Diese Modifizierung paßt gut in das Bild einer gnadentheologisch domestizierten Rezeption der neuen Strömungen. Die Liebe ist keine indirekte Form des desiderium zu Gott mehr, sondern von diesem geschaffen innerhalb der natura pura. Dieser Begriff, den ich schon erwähnt habe, war unter den Theologen Paduas vor allem von Kardinal Cajetan wieder aufgegriffen und stark gemacht worden. 50 Er indiziert, folgt man Robert Spaemann, eine theologische Problematik, die in ihrer Konsequenz eine neuzeitliche Verselbständigung des Naturbegriffs fördern wird, so: »Das sich hier anmeldende Naturverständnis bewegt sich in der Richtung auf die cartesisch-spinozistische Definition der Substanz als dessen, was begriffen werden kann ohne den Begriff eines anderen. Ein spezifisch theologisches Motiv wirkt in der gleichen Richtung: der Gedanke eines desiderium naturale, das in der Natur über sie hinausweist, würde, so folgern die Theologen des 16. Jahrhunderts, aus dem Heil einen Rechtsanspruch machen, die Gnade würde aufhören, Geschenk zu sein. Die Folgerung war, daß man der faktischen Heilsgeschichtlichen Bestimmung des Menschen eine hypothetische, rein natürliche Bestimmung, 49

Die Anklänge an eine Genesi's-Kommentierung, die Fracastoros Vision nicht verleugnen kann, decken sich übrigens zeitlich mit den Anfängen einer naturphilosophischen Bibeldeutung. Zunächst mag Picos Heptaplus eine Rolle gespielt haben, zumal dieses Buch mit den Worten »Naturales philosophi...« beginnt und so das Programm einer Überführung der Schöpfungslehre in Naturphilosophie andeutet. Man kann dann etwa auf A. Steucos große Cosmopoeia von 1535 verweisen. Auch diese Genesisexegesen haben einen Effekt in beide Richtungen haben können: eine Naturalisierung der sakralhistorischen Berichte zu bewirken, oder aber die Naturphilosophie zu theologisieren. Phänomene dieser Art, die oft in der frühen Neuzeit zu beobachten sind, waren immer ambivalent. Ob Fracastoro mit seiner Art von theologia naturalis mit den neuen Genesis-Kommentierungen in einen engeren Zusammenhang zu bringen ist, scheint mir zweifelhaft; dennoch ist die zeitliche Koinzidenz Symptom und Indikator einer neuen Verbindung. Zu den Genesis-Kommentierungen vgl. A. Williams, The Common Expositor. An Account of the Commentaries on Genesis 1527-1633. Chapel Hill 1948.

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Zur Problematik vgl. vor allem die vorzügliche Darstellung von H. de Lubac, Die Freiheit der Gnade. Bd. 1: Das Erbe Augustins. Einsiedeln 1971; vgl. auch H. Rondet, »Le problème de la nature pure et la théologie du XVIe siècle«. In: Recherches de science religieuse 25 (1948). S. 481-521.

162 einen finis naturalis, unterschob; die folgenreiche Konstruktion einer natura pura entstand. Gott hätte, so die These, den Menschen auch in puris naturalibus erschaffen können.« 51 Dieser Streit, der mit dem Löwener Theologen Michael Baius geführt wird und mit dem »Vordringen juristischer Kategorien in der Interpretation der Heilsgeschichte« zu tun hat, hat seine Vorgeschichte im Bereich des Syndroms, das wir anläßlich Fracastoros Überlegungen benannt haben. Es ist deshalb interessant, die Thesen de Lubacs und Spaemanns mit denen der Lohr-Keßler-These in Verbindung zu bringen. Es war die naturphilosophische Analogie vom appetitus naturalis, die Scotus für das erwähnte desiderium naturale des Menschen nach Gott gebraucht hatte, welche in der Diskussion der Theologen eine große Rolle spielte. Scotus hatte diese Sehnsucht augustinisch 52 als ein pondus naturae verstanden, als dunklen Drang eines Tieres oder Steines. Zwar sind die Differenzen zur Lehre von Thomas von Aquin über den appetitus naturalis nur gering, aber im Laufe der Schulstreitigkeiten zwischen Thomisten und Skotisten hatten sich die Unterschiede vergrößert. Die skotistische Lehre schien weniger das Geistige und zu sehr das Unmittelbare zu betonen. 53 Bedeutsam für die Parallelen zwischen theologischer und philosophischer Entwicklung, die durch die Analogiebildung verknüpft worden waren, ist nun, so scheint es, Ficinos Aufnahme und Weiterentwicklung des appetitus naturalis.54 Bei Ficino ist, vor allem im Symposion-Kommentar und in der Theologia platonica, das Streben der Dinge nach ihrem natürlichen Ort und das Streben der menschlichen Seele nach Gott in einer großen Kosmologie vereinigt worden. 55 51

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R. Spaemann, Natur. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hg. von H. Krings u.a. München 1973. Bd. 2. S. 956-969. S. 961. Vgl. Augustinus, Confessiones XIII, 9. Vgl. D e Lubac, Die Freiheit der Gnade. S. 175ff. Zu den theologisch-metaphysischen Debatten vgl. allg. C. Giacon, La seconda scolastica. 3 Bde. Milano 19441950. Zum appetitus naturalis bei Ficino vgl. P. O. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt 1972. Teil 1. Kapitel 8. Vgl. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino. S. 179f. über die Ausdeutung der augustinischen Interpretation des aristotelischen De coelo: »Weil der höhere Ort für das Feuer gut ist, deshalb wird das Feuer zu ihm hin bewegt und ruht in ihm, nicht aber ist er gut, weil es bewegt wird und ruht. Denn wenn ein Stein gezwungen würde und dorthin aufstiege und dort bliebe, so wäre es doch für ihn nicht gut. Ebenso ist die Glückseligkeit das Erreichen des letzten Zieles (durch die Vernunft).« Kristeller kommentiert: »Dieser Vergleich ist, wie schon seine mehrfache Wiederholung zeigt, nicht nur durch Zufall gewählt, sondern er ist darin begründet, daß Ficino die aristotelische Theorie der Elementarbewegung in all ihren Momenten auf die Bewegung der Seele übertragen hat. Daß dies mit vollem Bewußtsein geschehen ist, sieht man an dem Zitat aus De coelo, das Ficino in dem gleichen Zusammenhang anführt, und die Anregung dazu scheint ihm die folgende Stelle bei Augustin gegeben zu

163 Dazu kommen die anderen Tendenzen zum Supranaturalismus und unmittelbaren Beziehungen zum Göttlichen, die ich als komplexes Syndrom beschrieben habe. Jedenfalls sind es dann die Thomisten des Paduaner Umkreises gewesen, Cajetan, Javelli, Sylvester von Ferrara und andere, die in einer Ausrichtung gegen Scotus das Argument entwickelt haben, das im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts zum Standardargument gegen eine von Natur aus vorhandene Sehnsuchtsbeziehung des Menschen zu Gott geworden ist. Das Argument greift ein aristotelisches Diktum aus De coelo56 auf und besagt, daß wenn der Mensch von Natur aus eine Sehnsucht und ein Streben zu Gott haben würde, Gott ihm auch die Mittel zur Verwirklichung dazu gegeben hätte - analog dem Argument: Wenn die Natur den Himmelskörpern die Neigung zur gradlinigen Bewegung gegeben hätte, hätte sie auch die Mittel zu einer solchen Bewegung gegeben. Da das consequens nicht der Fall ist, hat der Mensch in puris naturalibus nicht die Gerichtetheit auf Gott. 57 Diese Gedanken bereiten die umfassendere Fiktion - mente concepto, wie es bei de Soto heißt 58 - eines Menschen im Naturstand haben: >In deiner Gabe ruhen wir, dort genießen wir dich (d.h. Gott). Unsere Ruhe ist unser Ort. Die Liebe erhebt uns dorthin [...] Der Körper strebt durch sein Gewicht zu seinem Ort. Das Gewicht ist nicht nur nach unten hin, sondern zum eigenen Ort hin. Das Feuer strebt aufwärts, der Stein abwärts. Durch ihre Gewichte werden sie getrieben, ihre Orte erstreben sie [...] Mein Gewicht ist meine Liebe. Durch es werde ich bewegt, wohin ich auch immer bewegt werde. Durch deine Gabe werden wir entzündet und aufwärts bewegt [...]Sympathien< im Sinne von Gleichgewichtsverhältnissen interpretiert Fracastoro auch das Reaktionsgleichgewicht. Die gnadenvolle Einrichtung der Natur als Reaktionsgleichgewicht ist das Werk eines Gottes, der in der Art eines großen Werkmeisters das Gebäude der Welt auf eine so vorherbe59

Später hat dann die kirchliche Entwicklung die Lage verkompliziert und radikalisiert. Durch die Reformation in Nordeuropa bekommt die Abwehr der Doktrin eines desiderium naturale ganz neue Dimensionen. Jetzt hatte man bei den Spekulationen eines Michael Baius über die Natürlichkeit der Gnade eine zu große Nähe zu reformatorischen, vor allem calvinistischen, Positionen zu befürchten. In dieser Phase haben die Jesuiten die weitere und eigentliche Ausformung der Theorie von der natura pura übernommen. D i e Naturstandshypothese der vornehmlich jesuitischen Theologen und ihre Eigendynamik auf Modelle von Natur überhaupt - parallel zur Eigendynamik der jesuitisch-aristotelischen Naturphilosophie auf die neuzeitliche Naturwissenschaft hin - haben in gewisser Weise bis hin zu Hobbes den Selbsterhaltungsgedanken in seiner neuzeitlichen Radikalität beeinflussen können. Dort treffen sich jenseits der Renaissance die ausdiffenrenzierende Transformation des Aristotelismus mit der natura pura und die Lukrezisch-materialistische Naturzustandslehre. Hobbes' Selbsterhaltung ist ein Streben innerhalb des natural condition of mankind, jenes hypothetischen Zustandes, der zwar nicht vom Reich der Gnade, wohl aber von jeder Gesellschaftlichkeit abstrahieren will.

165 dachte Weise erschaffen hat, daß es sich selbst überlassen werden konnte. Seine Gnade offenbart sich in seiner Konstruktion.

3. Die Konstruktion der Welt Die Theorie Fracastoros in seinem Somnium ist in ihrer Bedeutung für Telesio bisher kaum beachtet worden. Immerhin haben E. Peruzzi, N. Badaloni und M.-P. Lerner auf sie hingewiesen;60 aber auch sie haben wesentliche Komponenten des Textes übersehen: Die theologische Relevanz ist trotz Badalonis Untersuchungen nicht wirklich ausgeschöpft worden, vor allem aber hat man die Herkunft aus den Modellen der reactio nicht erkannt. Wenn im folgenden die Parallelen zu Telesios Kosmogonie gezogen werden, bleibt die Kautele, daß ein unmittelbarer Nachweis von Telesios Fracastoro-Lektüre wegen der Spärlichkeit der Dokumente, die wir besitzen, kaum zu erbringen ist; ich werde aber dafür argumentieren, daß Telesio zumindest mündlich vermittelte Kenntnisse aus dem Fracastoro-Kreis besessen haben muß. In den letzten Jahren haben sich Indizien verdichtet, aus denen man erstmals eine gewisse Kontur jenes Diskussionskreises erkennen kann, aus dem Telesio hervorgegangen ist. Fracastoro hat seit Anfang der 1530er Jahre die ersten Entwürfe seiner Homocentrica zirkulieren lassen61 und in offenbar enger Zusammenarbeit mit seinem Freund Giovambattista d'Amico die astronomische Theorie ausgearbeitet. 1536 erscheint d'Amicos De motibus corporum coelestium,62 1538 Fracastoros Homocentrica. Wie aus einer Bemerkung Guillaume Posteis geschlossen werden kann, ist es d'Amico gewesen, den Fracastoro in der Dedikation hinter dem Namen von Giovambattista della Torre verbirgt.63 D'Amico stammt ebenso wie Telesio aus Cosenza, vier oder fünf Jahre jünger als dieser, und ist wie Telesio Schüler des 60

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63

E. Peruzzi, Antioccultismo e filosofia naturale. S. 73ff.; Ν. Badaloni: Sulla costruzione e sulla conservazione della vita in Bernardino Telesio. In: Centenario. S. 11-49; S. llff.; M.-P. Lerner: Le parménidisme de Telesio'. In: Cultura napoletana. S. 79-106; S. 99f. Vgl. E. Peruzzi, Note e ricerche sugli >Homocentricaphilosophische< Astronomie betrafen. Daß diese Astronomie sich gegen die impietas einer rein mathematischen Modellbildung gewendet hat, die weder die Würde der Naturdinge noch damit diejenige des Gottes, der die Natur geschaffen hat, zu berücksichtigen wisse, beweist nochmals die engen Verknüpfungen von Theologie und Philosophie im theistischen Naturdenken jener Jahre. Wir kennen noch immer zu wenig Datails von diesen Beziehungen zwischen Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft in den zwanziger und dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts. Es scheint aber, als müsse hier, nicht erst im späten 17. Jahrhundert, ein Schlüssel dafür gesucht werden, wie sich frühneuzeitliche Rationalität und empirische Autonomie gegen ältere Formen des Argumentierens ausgebildet haben. Die Konstituierung einer Theorie der Selbsterhaltung, die Blumenberg als Antwort auf die Perpetuierung eines angeblich dominierenden spätmittelalterlichen Nominalismus 70 bis zu Descartes gedeutet hat, auf den dann Spinoza mit einer Affirmation der conservatio sui reagiere, hat in Wirklichkeit hier, im Veneto der 1530er Jahre ihren Ort. Fracastoros Entwicklung seiner Theorie der Sympathien auf der Erklärungsebene der causae proximae im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Natur Gottes und der Gnade, aber in gewisser Weise auch schon Pomponazzis nezessitaristische Antwort von De fato auf die Frage nach der Freiheit und seine mortalistische Antwort von De immortalitate auf die Frage nach der Unsterblichkeit, schließlich die theologischen Antworten auf 69

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Vgl. Grosseteste, Compendium sphaerae. Hg. von Baur (Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste. Münster 1912), S. 11,Iff.: »intendo nostra in hoc tractatu est describere figuram machinae mundi et centrum et situm et figuras corporum eam constructionem.«; zur Kosmogonie-Vorstellung Grossetestes vgl. J. McEvoy, The Philosophy of Robert Grosseteste. Oxford 1982. Bes. Kap. 111,1. S. 149-205; vgl. auch R. W. Southern, Robert Grosseteste. Oxford 1986. Kritisch dazu W. Hiibener: Die Nominalismus-Legende.

168 die >Pomponazzi-Affäre< von 1516-1519 markieren diesen entscheidenden Abschnitt der Philosophiegeschichte. Der Nezessitarismus, 71 der sich hier ausspricht, konveniert mit der Gnadenvorstellung der Thomisten und mit ihrem Bestreben, Theologie und empirische Naturphilosophie auseinanderzuhalten. Der Grundgedanke Telesios über die notwendig in einer spezifischen Weise zu denkende Konstruktion der Welt ist in diesem Kontext einfach zu verstehen: Gott hat die machina mundi so konstruiert, daß sie auf optimale Weise sich selbst in ihrer Vielfalt entfaltet und sich dauerhaft - nämlich ewig - erhält. Alles liegt bereits in der Prämisse eines artifex beschlossen, der seine Gnade insofern ausgibt, daß er das ganze Naturgeschehen a limine regelt. Die Prämisse spricht von einem guten, nämlich vorsorgenden und insofern gnadenvollen Gott, 72 wird von Telesio aber sogar gegen das Argument von einem deus malignus, das auch Valla oder Pomponazzi in Betracht gezogen hatten, abgesichert: Denn auch übeltäterische Handwerker (artifices ... summe pravi maleficique) würden ihre eigenen Artefakte dauerhaft konstruieren. 73 Eine weitere Absicherung des Gedankens ist wegen der notwendigen Ewigkeit einer dauerhaften Weltkonstruktion vorzunehmen, denn die aristotelische Doktrin der aeternitas mundi, die hier zumindest in ihrem einen Teil, dem Fehlen eines Weltendes, noch erkennbar ist, 74 widerspricht natürlich christlichen Vorstellungen. Te71

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Der Nezessitarismus hat sich im Laufe des 16. Jahrhunderts, auch unter dem Einfluß der Reformation (und hier des Calvinismus), verschärft - insbesondere bei den Dominikanern - bis zur extremen Gnadenlehre eines Bañez, der die praedeterminatio physica der Welt durch Gott vertritt. Da die Diskussionen um Banezianismus und Molinismus die Metaphysik des 17. Jahrhunderts bis hin zu Leibniz' harmonie préétablie geprägt haben, kann man sagen, daß eine gewisse Linie von der thomistisch beeinflußten machina mundi des frühen 16. Jahrhunderts bis Leibniz und Malebranche zu sehen ist. Vgl. die richtungsweisende Studie von W. Hübener: >Leibniz und die praedeterminatio physicaparmenideisch< zu recht gewählt worden, sondern auch, weil trotz der dualistischen Konstruktion die Frage nach der Einheit eine tragende Rolle spielt. Wir werden im Kapitel VI sehen, daß nach Telesios Veröffentlichungen dieser Gesichtspunkt begonnen hat, auf Explizierung zu drängen. Aber noch zwei weitere Grundannahmen, nun in Bezug auf die Natur, gehen in Telesios Kosmogonie ein: die Prämisse der Konstanz der Natur und das Prinzip des Optimums. Der Glaube an eine Gleichförmigkeit der Natur, mag er nun parmenideisch oder averroistisch sein, wird schon im Prooemium beschworen: »Denn wir sind dem Sinn und der Natur und nichts anderem gefolgt: der Natur, die, stets mit sich selbst in Einklang, immer dasselbe auf dieselbe Weise tut und immer dasselbe hervorbringt.« 78 Dieser Grundsatz faßt nicht nur den Ausgangspunkt einer sich selbst erhaltenden Welt zusammen, sondern er hat seine Auswirkungen auf konkrete Konstanzsätze: So wird etwa die Masse der Materie »niemals weder vermindert noch vermehrt.« 79 Vor allem aber gilt die Konstanz für die Prinzipien von Aktivität: Aktivität kann nicht anders als konstante Vermehrung und Ausbreitung, als konstantes Sich-alles-ähnlich-Machen verstanden werden, uniformiter difformis sozusagen, in der Sprache der Intensitätenphysik. Aber eine Welt, in der es Vielheit gibt, kann nicht nur ein einziges solches Prinzip haben. Es muß mindestens zwei solcher Prinzipien geben, durch deren Aufeinandertreffen erst Vielheit entsteht. Außerdem muß, soll die Welt eine sich erhaltende sein, für ein Gleichgewicht dieser Prinzipien gesorgt sein: Keines darf das andere völlig sich ähnlich machen und damit vernichten können. Bei einem Übergewicht eines Prinzips würde dieses alles andere sich ähnlich machen, und die Welt wäre nicht mehr vielfältig.80 78

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D R N 1586 Prooemium (S. I, 28): »Sensum videlicet nos et naturam, aliud praeterea nihil, secuti sumus, quae, perpetuo sibi ipsi concors, idem semper et eodem agit modo atque idem semper operatur.« D R N 1586, 1,5 (S. I, 60): »Materiae molem ñeque minui neque augeri umquam«. Vgl. D R N 1586, I, 10 (S. I, 100): »si scilicet languidiores caeli universi, quam terrae sint vires, nihil hanc illud inalteret unquam; sin robustiores, penitus tandem propriam ex hac deturbet et suam huic indat naturam et in caelum agat tandem, nulli [...] huius portioni sese reficiendi spatium praebens ullum, sed undique universam assidue oppugnane exuperansque.«

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Schließlich läßt sich bei Telesio noch ein Grundsatz des Optimums feststellen. Dieses Prinzip fällt schon rein semantisch ins Auge: Telesio zeigt eine auffällige Bevorzugung von Superlativen in seinen Beschreibungen. Aktivität wird immer als höchste Aktivität gedacht, und die Konstruktion des Weltgleichgewichtes ist so optimiert, daß Vielfalt und Erhaltung in idealer Weise möglich sind. Aus der Optimierung folgt die Eindeutigkeit der Weltkonstruktion. Deshalb sind beispielsweise die Erde und der Himmel kugelförmig, damit das Aufeinandertreffen von Wärme und Kälte in größter Oberfläche möglich ist. So wie bei Leibniz neben dem Gedanken der möglichen Welten noch das Prinzip des Besten hinzukommen muß, um eindeutig diese Welt zu bestimmen, so argumentiert auch Telesio: »Deswegen ist ja der Himmel nicht in den einen, die Erde in den anderen Teil der Welt gesetzt, sondern die Erde in die Mitte des Himmels, weil, wenn die Erde außerhalb des Himmels wäre (was Seiende, die mit entgegengesetzten Naturen begabt sind, zu tun scheinen), sie sich gegenseitig bekämpfen und fliehen würden, und folglich, was aus der Erde durch die Sonne entsteht, nicht aus der ganzen Erde entstünde und nicht eine einzige Welt existierte, und der Himmel sich vielleicht blindlings bewegte, von keinem inneren und stabilen Seienden zurückgehalten.« 81 Dieser Grundsatz des Optimums hat eine Tendenz, die Selbsterhaltung als scheinbare Erhaltung dessen, was ist - des status quo -, zu unterlaufen in Richtung auf eine Steigerung. In Telesios Ethik erscheint der Reflex dieser Tendenz: Der spiritus ist bemüht, sein Funktionsoptimum zu erreichen, seine Selbsterhaltung geht deshalb durchaus auf Selbststeigerung. Wie bei Fracastoro kommt es folglich auch bei Telesio zu einer Übertragung des Reaktionsprozesses auf die ganze Welt: zu einer Urreaktion gleichsam zwischen dem warmen Himmel und der kalten Erde, jene Reaktion, die der Weltprozeß par excellence ist. Das Gleichgewicht, das hier austariert wird, ist das Erhaltungsgleichgewicht der Welt. Konzeptionen, die von diesem Gedanken ausgehen, aber gleichzeitig einen eschatologischen Zug besitzen wie die Kosmologie Campanellas, haben denn auch diesen Punkt modifiziert und von einem langsamen Überwiegen der Wärme gesprochen, was zu einem Weltenbrand 81

D R N 1586 1,10 (S. I, 96): »Propterea scilicet non in altera mundi parte caelum, terra in altera, sed caeli in medio terra locata est; quod, si extra caelum sit terra (quod, contrariis naturis donata quae sunt entia, facere videntur), mutuo sese aversentur aufugiantque, et proinde, quae e terra a sole fiunt, vel non ex universa fiant, ñeque unus existât mundus, et temere forte moveatur caelum, nullo ab interno stabilique retentum ente.« Vgl. auch die Optimierungssätze Telesios in späteren Passagen: ζ. Β. D R N 1586, VI, 22 darüber, daß alle Lebewesen optimal geschaffen seien.

172 und - origenistisch - zu neuen Welten führe. 82 Es sind also gleichsam topische >LageerwägungenSinnes< bei den beiden Grundkräften identisch mit der Aussage, die ganze Welt wäre beseelt? Telesio wehrt diese Interpretation ganz ähnlich ab wie Fracastoro. Schon Fracastoro hatte gesagt, daß es nicht notwendig sei, daß Dinge eine Kenntnis ihres Ziels haben müßten, wenn sie aufgrund eines Urhebers - genauer: durch jemandes Gnade - tätig sind (»non enim necesse est, quae gratia alicuius agunt, finem etiam cognoscere«). 83 Die Trennung der unbeseelten zur beseelten Natur ist nämlich gar kein Problem, wenn das per naturam agere so gefaßt ist, daß es sich auf die partikulare Natur jedes Einzelnen bezieht. »Denn man kann nicht einsehen«, sagt Telesio, »daß es eine universale Natur gäbe, eine, die wollte, daß die Welt in sich selbst ein Kontinuum sei, das heißt die nicht dulden könnte, daß es ein Leeres und ein Vakuum gebe, und die, aus Vorsorge dagegen, daß dies geschieht, daher die nächsten Seienden an die Stelle der zurückweichenden Seienden triebe. Denn man kann nicht annehmen, daß den Seienden eine Natur innewohnt, die von der ihnen eigentümlichen und von der, durch die sie konstituiert sind, verschieden ist, oder daß sie von irgendeiner anderen Natur, die mit dieser Aufgabe betraut ist, gelenkt werden.« 84 Eine Natur neben der konkreten Natur der Dinge ist sinnlos und bloße Verdoppelung. Das hatte auch schon Fracastoro festgestellt. Diese Überlegung gilt auch dann noch, wenn man feststellt, daß für die Konzpierung der aktiven Prinzipien Modelle von Seele-in82

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Vgl. mit Bezug auf den alten Topos vom Weltenbrand Campanella, D e sensu rerum et magia. Frankfurt 1620. Vgl. N. Badaloni, Campanella. Milano 1965. Kap. III. Fracastoro, D e sympathia et antipathia rerum. S. 4. D R N 1586 1,6 (S. I, 66/68): »Nam, ut universalis quaedam natura et haec mundum sibi ipsi continuum esse velit, quae scilicet inanae vacuumque pati nequeat, et, ne usquam id fiat, provideat, itaque ad recedentium entium locum, quae próxima sunt, perpetue impellat, intelligere non licet. Ñeque enim aliam a propria et a qua entia constituta sunt, iis inesse, aut ab alia ulla, huic muneri dictata, natura gubernari existimandum est; et quae a propria singulorum natura operari posse videntur, alteri ea, et quae sensu nullo, nulla etiam comprehendatur ratione, attribuenda prorsus non sunt.« Zum Problem der >natura

173 Körper Pate gestanden haben mögen. Aktivität, so Telesio nämlich, muß etwas Unkörperliches sein, aber die Naturaktivität bedarf eines Körperlichen, in dem sie aktiv sein kann. Deshalb sind die beiden Naturprinzipien - in metaphysisch-theologischer Sprache - nicht wie Engel zu denken, die aus sich subsistieren, sondern wie Seelen, die an Körper gebunden sind. »Denn wenn der Schöpfer aller Dinge die tätigen Naturen in gleicher Weise wie die göttlichen Substanzen unkörperlich erschuf, so gab er ihnen doch nicht, wie jenen, die Kräfte, aus sich selbst heraus zu subsistieren und aus sich heraus nach ihrer eigentümlichen Anlage tätig zu werden, sondern er wollte, daß sie, um zu subsistieren, zu leben und tätig zu sein, einer körperlichen Masse bedürften.« 85 Das erinnert ein wenig an Pomponazzis Reaktionstheorie, in der das Agieren der Prinzipien bewußt wieder an ihr Agieren in der Materie zurückgebunden war, aber Telesios Prinzipien besitzen eben auch einen >sensusSeele< zwar nicht ausspricht, aber offenbar nach dem Modell einer Seele im Körper geformt ist, die mißverständliche >animistische< Oberfläche der telesianischen Terminologie verständlich. Das Naturprinzip disponiert sich die Masse - den Körper - , die es durchdrungen hat so, daß es sich in ihm so verhalten kann, wie es seiner Natur am gemäßesten ist - das heißt auch am angenehmsten und am besten für seine Selbsterhaltung. Daher die Nähe zum Modell der generatio eines Lebewesens, bei der sich der Samen die Materie so disponiert, daß ein Lebewesen entstehen kann. 86 Daher überhaupt die Nähe zu einer Lebenswärme, die himmlische Eigenschaften besitzt und der Konzeption einer Seele sehr verwandt ist. Auf der anderen Seite aber macht es der Grundsatz der Konstanz unmöglich, daß das Modell von Aktivität-in-Masse als Seele-KörperModell ausgelegt wird. Paradigma einer konstanten Aktivität sind die Assimilationseigenschaften der Erwärmung und Abkühlung durch

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universalis< vgl. den Art. >Natura universalis / particularis< in H W P h Bd. 6, S. 5 0 9 - 5 1 7 und unten Abschn. 5. D R N 1586, 1,5 (S. I, 60): »non scilicet, si agentes itidem naturas, veluti divinas substantias, rerum omnium Conditor incorpóreas creavit, illis itidem, veluti et his, per se subsistendi et per se, juxta proprium ingenium, operandi vires attribuii; sed, ut subsistant vivantque et operentur, corporea opus habere voluit mole.« Wärme und Kälte disponieren sich dann die Masse. Vgl. ebd. »Itaque et eam creavit et facultatem illarum utrique indidit ipsam subeundi, effingendi, disponendi, ut commode in ea iuxta proprium operari queat ingenium.« Auf dieser Ebene ist durchaus der Anschluß an das Modell der Verähnlichung des Stoffes in der Entstehung eines Lebewesens aus dem Samen gegeben. Aber das Modell ist depotenziert auf das Verhältnis von >einfacher< Wärme und Materie.

174 die traditionellen ersten aktiven Qualitäten, Wärme und Kälte. Nur sie agieren wahrnehmbar und erkennbar; deshalb wird das Gleichgewicht der gegensätzlichen Prinzipien, die in Körperlichkeit agieren, als Vorgang einer universalen reactio gedacht. Hier greift das bereits skizzierte Argument von der Selbsterhaltung aus Resistenzschwäche: Beide Prinzipien der >Welt-reac/;o> können als assimilierend agierend gedacht werden, gerade weil sie sich erhalten müssen: Aus einer Schwäche an Resistenz werden sie als immer sich ausbreitend gedacht. Und wenn man Pomponazzis Vorstellung von der Reaktion natürlicher Prozesse bedenkt, kann man diese Unmöglichkeit, die Aktivität-in-Masse als Seelenaktivität zu verstehen, nur bestätigen. Denn Pomponazzi stellt sich in De reactione die Frage, wie es sein könne, daß zwei Lebewesen, die sich völlig feindlich gegenüber stehen, nicht notwendigerweise aufeinander reagieren, Wärme und Kälte dies aber tun. 87 Die Antwort, sagt Pomponazzi, liegt darin, daß Wärme und Kälte die ersten Instrumente der Natur sind und als solche ohne weitere Instrumente agieren können. Alle weiteren Mischungen und erst recht natürlich Lebewesen bedürfen der Instrumente, um zu agieren, etwa den Spiritus. Dabei können aber Unregelmäßigkeiten auftreten, die notwendige Voraussagen unmöglich machen. Deshalb ist vom Gesichtspunkt der Konstanz her - real wie erkenntnistheoretisch gedacht - die Trennungslinie in der Natur diejenige zwischen den Prinzipien Wärme und Kälte und dem Rest der Natur, der animistische< Sprache vom immateriellen Prinzip im körperlichen Substrat eingelassen hat, dann aber dieses Modell so sehr in die anorganische Sphäre - besser gesagt: in die Sphäre der ersten Prinzipien - verlagert hat, daß nicht mehr wirklich von einer >Seele< als Grund der Elementarempfindung gesprochen werden kann. Die einfache Unterscheidung warm/kalt ist schlicht zu wenig und vor allem zu unmittelbar, als daß man deshalb schon von >beseelt< sprechen könnte. Schematisch könnte man die Überlagerung der Diskurse so darstellen, wie ich es auf der folgenden Seite skizziert habe. Vor allem, weil die Kälteaktivität bei Telesio ungreifbar bliebt, ist seine Welt an der Oberfläche deshalb scheinbar eine >Cardano-Welte eine Welt, in der ein quasiseelisches Aktivitätsprinzip Wärme in einer subsistierenden Materie agiert, in der alle Grundrelationen privative 87

Pomponazzi, De reactione. S. 35v a.

175 Wärme (Qualität) • [Seele] I

- - Kälte (Qualität) [Seele]

I

Postulat

Materie [Körper]

Beziehungen sind: Das >Fallen< der Materie ist privativ zum >Sich bewegen< der Wärme, 88 das >Schwarz< der Materie ist privativ zum >Weiß< der Wärme. 89 Aus diesen Grundrelationen erklärt sich die Vielfalt der Prozesse in der Welt. Aber es ist nun auch einsichtig, warum diese >Cardano-WeltCardano-Welt< eine Aktivität der Kälte gedacht werden, und alle privativen Relationen sind nur nebensächlich gegenüber den nichtprivativen Relationen von Wärme und Kälte: Bewegung und Bewegungslosigkeit, Weiße und Finsternis, Verdünnung und Verdichtung. Daß diese >eigentliche< Welt in Telesios Physik oft eine postulierte bleibt, ist ein Umstand, den der Philosoph zugunsten seines Anspruches auf rationale Konstruierbarkeit in Kauf nimmt. Noch einmal schematisch dargestellt sieht diese Überlagerung so aus: 88 89 90

Vgl. D R N 1586, 1,5. Vgl. D R N 1586,1,5 und Kap. II in dieser Untersuchung. Cardano hatte eine Reihe von Gegensätzen als reine Privationen bestimmt: so sei Kälte gegenüber Wärme privativ, ebenso Trockenheit gegenüber Feuchtigkeit. Es bleibt eine Grund-Sympathie (De varietate rerum. Kap. 1,1. In: ders., Opera omnia.) zwischen himmlischer Seele/Wärme und Materie/Feuchtigkeit.

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postulierter realer Gegensatz Wärme beweglich weiß

Kälte unbeweglich — finster

privativ

Materie schwarz fallend

Aus diesen Grundsätzen lassen sich Folgerungen ableiten, durch die sich manche Überlegungen, die wir im bisherigen Lauf der Untersuchung angestellt haben, präzisieren lassen. 1) Ich hatte Telesios Deutung der antiperistasis über den Terminus sensus eine Uminterpretation des Erklärungsschemas genannt. Jetzt ist es möglich, die präzise Begründung für den sensus zu nennen. Da konstante Aktivität nur Ausbreitungsbewegung ist, muß das Sich-aufsich-selbst-Zurückziehen und Sich-Verdichten in der antiperistasis durch einen neuen Faktor erklärt werden. Es ist nicht ausreichend, dabei auf die Aktivität des Gegenprinzips hinzuweisen. Beide Prinzipien sind unkörperlich, und es steht noch kein Vokabular zur Verfügung, in dem >Einwirkung< aufeinander gedacht werden kann. Deshalb ist die Einführung einer neuen Eigenschaft notwendig: Es muß immer noch als Bedingung der Erhaltung der Welt - eine Wahrnehmung geben, die zugleich Selbst- und Fremdwahrnehmung ist und die dazu motivieren kann, statt sich auszubreiten, sich zusammenzuziehen. »Denn nur wenn beide beides wahrnehmen, dürfte die Wärme oder die Kälte sich je sammeln und vereinen, die äußerst danach streben, sich in alle Subjekte in höchstem Maße auszubreiten und auszuweiten.« 91 Der quasi-animistische sensus muß postuliert werden, weil es für eine genügend reiche Beschreibungssprache, die die Vielfalt der Phänomene beschreiben will, notwendig ist, neben einer Ausbreitungsaktivität auch eine Aktivität des In-sich-Zurückgehens anzuneh91

D R N 1586 1,6 (S. I, 66): »Neque enim, nisi utrumque utramque sentiat, vel calor sese uspiam vel frigus colligat uniatque, q u a e s u m m e in subiecta o m n i a diffundi et sese amplificare contendunt maxime.«

177 men. Diese zweite Aktivität ist eine abgeleitete, insofern sie nicht so fundamental ist wie die erste, aber sie ist originär, insofern für sie eine neue Ebene der Beschreibungssprache eingeführt werden muß, nämlich Prädikate von Lust/Unlust 92 im Sinne der Differenz von Ähnlichkeits- und Unähnlichkeits(Gegensatz)-Wahrnehmung. In dieser Wahrnehmung sind Selbst- und Fremdwahrnehmung immer verknüpft. 93 2) Auch die Beziehung von Selbsterhaltung und Ähnlichkeit ist jetzt noch näher rekonstruierbar. Eine Bedingung für eine Welt, die als sich selbst erhaltend gedacht wird, ist, daß nicht der eine Aktivitätspol den anderen durch seine Verähnlichungstendenz eliminieren kann. Dazu ist ein gewisses Erhaltungsgleichgewicht der Kräfte notwendig, erreicht unter anderem durch die Lagebeziehungen der Pole.94 Aber es ist auch notwendig, daß es für jeden Pol einen Freiraum gibt, an dem er nicht überwunden werden kann. Man kann an diesem Postulat sehen, daß Telesio Gegensatzbeziehungen als Lagebeziehungen denkt. So wie das antiperistasis-ModeW eine spezifische Lagecharakteristik hatte, ist auch hier der Lageaspekt nicht fernzuhalten. Wenn man heute diesen Punkt in Telesios Gesamtargumentation als am wenigsten nachvollziehbar ansehen möchte, so muß man an dieser Stelle auf einen differenten Stil der Renaissancerationalität verweisen: Geometrische oder Lage-Beziehungen finden sich immer wieder in Renaissanceargumentationen als intrinsische und uneliminierbare Bestandteile. 95 Aus Telesios Gedanken folgt, daß die privilegierten Orte - Telesios Terminus ist: sedes als Erhaltungsorte gedacht werden müssen. Es sind die Sonne bzw. der Himmel und das Erdzentrum als die Weltpole. Damit ist in gewisser Weise der aristotelische >natürliche Ort< rekonstruiert, aber eben nun nicht als Phänomenbeschreibung, sondern in einer rationalen Erwägung notwendiger Bedingungen als dasjenige, das es geben muß, wenn eine Welt als sich erhaltend gedacht werden soll. Und es gibt natürlich Unterschiede zum natürlichen OrtpositivSinn< und von >Natur< praktisch identisch. Denn im Falle der Naturprinzipien kann eine von Gott eingesetzte virtus Gegensätze unterscheiden, und zwar als die Natur der Dinge, nicht primär vom Erkenntnispunkt des Menschen her. Der menschliche Sensualismus ist nötig, aber auch möglich, weil Menschen über ihren spiritus teilhaben am von Gott verliehenen Vermögen des Sensus. In ihrem positiven Gehalt zielt diese Aussage, nur dem Sinn und der Natur zu folgen, auf einen Empirismus. In ihrem negativen ist sie eine Absage an metaphysische und mathematische Spekulation. Die Überzeugung, daß intellektive Erkenntnis ja doch nur zu Widersprüchen führe, ist signifikant für eine skeptische Tradition. In erster Linie scheint die Überzeugung die Konsequenz aus Telesios Paduaner Erfahrungen zu markieren. Der Wissenschaftler der intellektiven Hypothesen erscheint als ein Mensch, der hybride mit Fertigkeiten umgeht, die eigentlich nur Gott zukommen, der mit der Weisheit Gottes in Wettstreit tritt und, Gipfel der Verblendung, in seinem Fehlgehen noch zu triumphieren meint (»sed veluti, cum Deo de sapientia contendentes decertantesque, mundi ipsius principia et caussas ratione inquirere ausi, et, quae non invenerat, inventa ea sibi esse existimantes volentesque, veluti suo arbitratu mundum effinxere«). 100 Die Sinnlichkeitsmaxime hat also eine skeptisch-fideistische Rückseite, die um

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sensibus nostris removerit: ut (quod in aliarum rerum scientiis facere possumus) principia demonstrationum non queamus ex ipsis gignere, et oikeia ac vernacula invenire: quibus postea singularum apparentiarum causas reddamus: ideo nos ad aliena confugimus praesidia, petimusque nobis hypotheses, ex arithmetica et geometria. Nam hinc tot lineas extruimus, tot circuios fingimus, tot puncta imaginamur, tot orbes eccentricos et epicyclos, imo etiam epicycliscos comminiscimur.« J. Zabarella, D e calore coelesti. In: ders., D e rebus naturalibus libri X X X . Frankfurt 1607. Ndr. Hildesheim 1966. Col. 555f.; vgl. M. Mulsow: »Ein unbekanntes Gespräch Telesios«. D R N 1586 Prooemium (S. I, 28). D R N 1586, Prooemium (S. I, 26).

181 die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis weiß. 101 Auch wenn diese Sätze zum Prooemium der Ausgabe von 1586 gehören und sicherlich mit einem Blick auf die kirchlichen Zensoren geschrieben sind, so sind sie doch vollkommen konsistent mit Telesios theoretischem Vorgehen und deshalb nicht unbedingt unaufrichtig zu nehmen. Man mag mutmaßen, ob nicht hier sogar einer der Gründe zu suchen ist, warum Telesio den Weg zu einer akademischen Karriere aufgegeben und sich stattdessen, zum Teil in klösterlicher Abgeschiedenheit, einem solitären Kontemplieren hingegeben hat. Der Vorwurf der impietas, den schon ein Fracastoro der mathematischen Naturwissenschaft gemacht hatte, ist nun gesteigert und wendet sich noch gegen die Rest-Calculationen von Fracastoro selbst. Fracastoro hatte gegen die >mathematischen< Astronomen gesagt, daß die Verfechter der Epizyklen zwar bessere Beweise zu haben schienen, aber »inique et quodammodo impie de divinis illis corporibus sentiebant«. 102 Und Telesio verzichtet nun auch noch auf die >philosophischen< Reste an Astronomie, die Fracastoro übriggelassen hatte. Das Ideal von den »humanae omnino sapientiae amatores cultoresque«, das Telesio beschwört, ist eines der reifen Bescheidenheit, der Langsamkeit und der Achtung vor der Würde der geschaffenen Dinge. Anders als bei Cusanus zieht diese Art von docta ignorantia103 nicht die Konsequenz, wegen des Versagens des Verstandes auf paradoxe Spekulationen in der Art der negativen Theologie auszuweichen, sondern verharrt in der bescheidenen Skepsis. Solche Überlegungen waren seit 1520 deutlich artikuliert worden, als Gianfrancesco Pico sein schon ein Jahrzehnt zuvor verfaßtes Examen Vanitatis Doctrinae Gentium veröffentlicht hatte. 104 Allerdings war Picos fideistische Tendenz dahin gegangen, die Prophetie aufzuwerten, nicht, Erkenntnis auf das sinnlich >Meßbare< zu beschränken. Immerhin hatte auch dort schon die fideistische Skepsis zu entschie101

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Vgl. DRN 1586, Prooemium (S. I, 28): »Non scilicet eo usque sibi homines piacere et eo usque animo efferri oportebat, ut (veluti naturae praeeuntes, et Dei ipsius non sapientiam modo sed potentiam etiam affectantes) ea ipsis rebus darent, quae rebus inesse intuiti non forent et quae ab ipsis omnino habenda erant rebus.« Fracastoro, Opera omnia. Venedig 1560. S. 1; zit. nach Ν. Badaloni, »II significato filosofico della discussione sulla salvezza in Gerolamo Fracastoro«. S. 43. Zur Rezeptionsgeschichte der cusanischen docta ignorantia vgl. St. Meier-Oeser, Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Münster 1989. S. 342-370. Zum Skeptizismus Picos vgl. Ch. Β. Schmitt, Gianfrancesco Pico della Mirandola (1469-1533) and his Critique of Aristotle. Den Haag 1967; vgl. weiterhin R. H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza. Berkeley 1979 und Ch. Β. Nauert, Agrippa and the Crisis of Renaissance Thought. Urbana 1965.

182 dener Aristoteleskritik geführt. Es muß nicht sein, daß Telesio Picos Werk gekannt hat, denn Skepsis gegenüber der intellektiven Erkenntnis der Schulphilosophie, bezogen etwa aus Ciceros Académica, hatte im Italien des frühen 16. Jahrhunderts durchaus eine gewisse Verbreitung; sie konnte verbunden sein mit der Forderung, auf alte, unkorrumpierte Quellen der Weisheit zurückzugehen. Picos Programm, statt des Aristotelismus eine prisca sapientia wieder zu etablieren, konnte Telesio immerhin insoweit unterstützen, als auch er sich daran machte, die alten Überlieferungen der Vorsokratiker neu zu prüfen. Der Spanier Francisco Sanchez hat übrigens später in seinem Buch Quod nihil scitur nicht von ungefähr viele seiner Anregungen von Telesio bezogen. 105 In der Perspektive unserer Rekonstruktion wäre das eine durchaus konsequente Fortführung von Telesios skeptischer Tendenz. Denn das sensum [...] et naturarti [...] secuti sumus Telesios ließ sich, wenn man es im Kontext des von einem elementaren Skeptizismus durchdrungenen Marranentums in Spanien las, auch in diese Richtung hin verlängern. Doch das antiintellektive Moment bei Telesio hat nicht zuletzt zur Folge gehabt, daß die mathematisierte Physik seit Galilei nicht unmittelbar an ihn anknüpfen konnte. Die völlige Absenz von mathematischer Naturwissenschaft bei Telesio hat nämlich die gleiche Wurzel wie sein >EmpirismusRenaissance-Magie< populär werden sollte. Die Studenten jener Aristoteliker, die, wie wir gesehen hatten, species intentionales für reale Veränderungen verantwortlich gemacht hatten, waren den neuplatonischen Angeboten einer Welt mit Dämonen und spirituellen Kräften aufgeschlossen. 107 Alessandro Achillini beispielsweise hat sich mit Chiromantie beschäftigt und darüber einen Traktat geschrieben, der sehr beliebt war. 108 106

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Vgl. P. Zambelli, L'ambigua natura della magia. Filosofi, streghe, riti nel Rinascimento. Milano 1991; dies., Giovanni Mainardi e la polemica sull' astrologia. In: L'opera e il pensiero di Giovannii Pico della Mirandola nella storia dell' Umanesimo. Convegno Internazionale. Firenze 1965. Bd. 2. S. 2 0 5 - 2 7 9 ; Β. Copenhaver, Astrology and Magic. In: C H R P S. 2 6 4 - 3 0 0 . Copenhaver, Astrology and Magic. S. 271: »By the early fifteenth century, a tradition of secular Aristotelianism stimulated more by medicine than theology had established in these universities a pattern of education in which astrology was a prominent ingredient in an arts curriculum strongly inclined towards natural philosophy. Graduates of these schools looked to the stars and planets as indices of regularity in physical causation. Their discussions of immutable astrological influence opened some of the same questions that were to be asked in Pico's Disputationes: H o w is human freedom preserved in an universe of natural causes.« Zu Achillini vgl. P. Zambelli, »Aut diabolus aut Achillinus: Fisionomia, astrologia e demonologia nel metodo di un aristotelico«. In: Rinascimento 18 (1978).

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Andererseits konnte das Festhalten an Astrologie oder an dämonischer Magie durchaus gegenläufig sein. Pomponazzi selbst hat gerade aus Gründen seines Empirismus in De incantationibus nicht vom Phänomen des Mirakulösen lassen wollen, auch wenn er eine naturphilosophisch-kausale Erklärung postuliert, in der die Bewegung der Gestirne gerade die Rolle spielt, für die Naturhaftigkeit der Phänomene zu garantieren. 109 Nun sind prägend für die Diskussion der folgenden Jahrzehnte, und prägend auch noch für die Debatten zu Telesios Studienzeit, Giovanni Picos Disputationes contra astrologiam divinatricem von 1493 gewesen. Unter dem Einluß von Savonarola gehen sie gegen übermäßig magische Tendenzen vor, wenn auch das, was Pico selbst unter der Vereinbarkeit von christlicher Scholastik, Kabbala und Neuplatonismus versteht, ausgespart bleibt. Ziel des Angriffs ist vor allem das Problem des astrologischen Determinismus und die Rettung von christlicher Prophetie gegen astrologisch gestützte Voraussagen. Die Form der Naturalisierung eines >okkulten< Diskurses,110 die Pico dabei praktizierte, scheint beispielhaft für die Generation geworden zu sein, die sich in den 1530er Jahren von dem benannten Syndrom abzusetzen hatte. Schon Fracastoro ist in dieser Tendenz, wie Peruzzi richtig formuliert, più vicin[o] alla polemica pichiana che all'opera del Peretto, näher an der Astrologiekritik Picos als an den Theorien Pomponazzis. 111 Denn bei Pomponazzis Beanspruchung der Astrologie gerade als Garant für manifeste Naturalität war die Möglichkeit von astrologischen Voraussagen und Determinationen, die Pico vermeiden wollte, geblieben. 112 Deshalb stellte sich auch Pomponazzi-Schülern wie Fracastoro die Frage, ob sie nicht Picos Weg bevorzugen oder zumindest mit Pomponazzis Absichten kombinieren sollten, also siderischen Einfluß in erster Linie als Licht und Wärme verstehen sollten. Dann konnten Überlegungen entste-

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S. 5 9 - 8 6 ; G. Baroncini, Forma e ruolo dell' esperienza nel sapere del medico e filosofo naturale dello Studio Bolognese: A. Achillini (1465-1512). In: Il rinascimento nelle corti padane. Società e cultura. Atti del convegno su Società e Cultura nel tempo di Ludovico Ariosto. Bari 1977. S. 439-468. Pomponazzi, D e naturalium effectuum admirandorum causis seu de incantationibus. Basel 1556. Zugleich darf man nicht verkennen, daß diese Naturalisierung von Beginn an auch eine Utopie gewesen ist, und daß etwa die Idee einer magia naturalis, wie P. Zambelli formuliert, in ihrem ideologischen Charakter wahrgenommen werden sollte. Vgl. P. Zambelli, L'ambigua natura della magia. E. Peruzzi, Antioccultismo e filosofia naturale. S. 48. Vgl. zur Nähe auch von Fracastoros Sympathiebegriff zu Pico G. Pico della Mirandola, D e dignitate hominis. Lat./dt., eingeleitet von E. Garin. Bern und Zürich 1968. S. 74: »haec universi consensu...«. Vgl. auch S. 7ff. zum Begriff der »virtutes«. Vgl. F. Graiff, »I prodigi e l'astrologia nei commenti di Pietro Pomponazzi al De caelo, alla Meteora e al De generatione«.

185 hen, wie wir sie in Kapitel II zum Komplex Erwärmungskraft des Lichtes vorgeführt haben. Außerdem mußte, wenn man mit Pico und Pomponazzi den Einfluß der Sterne als Bewegungskausalität verstehen wollte, eine Astronomie zur Hand sein, die nicht wie die >mathematische< Astronomie der Epizyklen die Naturphilosophie der Bewegungskräfte unbeachtet ließ, sondern diese Kraftübertragung vom ersten bis zum letzten erklären konnte. Hier sieht man den Zusammenhang des innovativen Antiokkultismus mit den neuen homöozentisch-kosmologischen Spekulationen. Die Auseinandersetzung mit der Astologie im Sinne der Diskussion siderischer Einflüsse im Kontext der Debatte um natürliche Kausalität ist zweifellos ein wichtiger Faktor gewesen. Man tut aber auch gut daran, in der Beschreibung des Okkultismusproblems den institutionengeschichtlichen Aspekt nicht zu übersehen. Fracastoros Traktat De sympathia et antipathia rerum, der 1545 veröffentlicht worden ist, aber gegen 1530 verfaßt, ist eigentlich eine Art langer Vorrede zu seinem Buch De contagione, dem Traktat über Ansteckungskrankheiten und ihre Ursachen - nicht zuletzt siderische Ursachen. Denn Ansteckungskrankheiten wie die zu Beginn des 16. Jahrhunderts epidemieartig auftretende Syphilis113 waren unabweisbare Motive, sich Gedanken über kausale Fernwirkung zu machen. 114 Fracastoro, Mainardi und Leoniceno vor allem haben sich mit Ansätzen über Begriffe von okkulten Qualitäten auseinandergesetzt. 115 Daß Epidemien in ihrer Ausbreitung so rätselhaft waren und keine befriedigende Theorie mittels manifester Ursachen zuzulassen schienen, ist ebenso ein beständiges Motiv für die Akzeptanzbereitschaft für eine andere Rationalität gewesen wie das alte theoretische Ärgernis des Magneten. 116 Die Analogie der magnetischen Anziehung ist für die Theoriebildung immer dann zur Stelle, wenn eine geschlossene Erklärungswelt mit manifesten Kausalbeziehungen Risse bekommen hat. In diesem Sinne läßt sich geradezu eine Geistesgeschichte des Magnetismus schreiben, in der dieses Phänomen als Tor für eine Akzeptanz von Modellen fungiert, die geometrisch darstellbare und gleichzeitig dynamische Beziehungen als metaphysisch begründete Strukturen der Welt verstehen. 117 113

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Vgl. Fracastoro, Syphilis. Hg. und ins Engl, übers, von G. Eatough. Liverpool 1984. Vgl. V. Nutton, »The Seeds of Disease«. In: Medical History 27 (1983). S. 1 34. Vgl. P. Zambelli, Giovanni Mainardi e la polemica sull' astrologia. Vgl. L. Thorndike, A History of Magic and Experimental Science. Vgl. s.v. >magnet< im Register. Vgl. etwa Α. Kircher, Magnes sive de arte magnetica. Rom 1641.

186 Aber die Wissenschaft um 1500 ist keineswegs so labil, daß sie die Modelle okkulter Kausalität in nicht mehr rationaler und erörternder Weise in sich aufnimmt. Es gibt ausgiebige methodologische Diskussionen, 118 die sich damit auseinandersetzen, an welchen Stellen der aristotelischen Philosophie Erweiterungen mit okkulten Qualitäten legitim sind oder in welcher Weise man sich auf >okkulte< und mirakelhafte Phänomene einlassen kann, ohne die traditionelle Begrifflichkeit aufzugeben. 119 Daß ein Einfallstor des sympathie-Begriiis in die Renaissancewissenschaft die medizinische Diskussion gewesen ist, zeigen aber die Gegenstände dieser Diskussionen, in denen Anstekkungskrankheiten, medizinische Astrologie oder Körperprozesse thematisch sind. Die medizinische Literatur hat immer Residuen des Ähnlichkeitsdenkens in sich bewahrt. Hinsichtlich dieser Integrations- und Distanzierungs-Problematik kann man zwei Grundstrategien unterscheiden, die ich defensive Modernisierung und offensive Modernisierung nennen möchte. Offensive Modernisierung ist diejenige Option von Theoretikern, die das Syndrom von Magie und Supranaturalität affirmativ aufnimmt und für ein neues Verständnis von Natur nutzt. 120 Prototypisch kann hier Cardanos Leistung genannt werden: Plotinische Überlegungen zur Einheit und Sympathie werden als Anregungen für eine empirische Anreicherung und Neuformulierung des Wissens von der Natur genutzt. Konzepte wie das von der Weltseele und der überelementaren Qualität der Wärme werden nicht abgewehrt, sondern als einheitsstiftende Funktionen verwendet. 121 Das Denken in Ähnlichkeiten wird, wie bei Paracelsus und seinen Anhängern, zu einem Movens für die Suche nach in der Natur auffindbaren Beziehungen. Es ist eine Option, die sich trotz der frühen Kritik seit den 1530er Jahren ausdifferenziert und in vielfacher Weise mit modernen empirischen Entwicklungen vermischt hat. Diese Option ist spätestens um 1650 endgültig in ihre Schranken verwiesen worden, in einem theoretischen Kehraus, der, wie wir noch sehen werden, auch die Theoretiker der defensiven Modernisierung wie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat. Auf der anderen Seite hat es Philosophen gegeben, die teils auf das genannte Syndrom, teils bereits auf die sich daran anschließende offensive Modernisierung mit Abwehr reagiert haben. Aber nicht mit 118

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Vgl. die genannten Arbeiten von P. Zambelli über Achillini und Nifo sowie die Studie von F. Graiff über Pomponazzi. Vgl. zum Forschungsstand P. Zambelli, Teorie su Astrologia, Magia e Alchimia (1348-1586) nelle interpretazioni recenti. In: dies., L'ambigua natura della magia. S. 5 - 2 8 . In der Einleitung habe ich deshalb auch von >integrativer Transformation des Aristotelismus< gesprochen. Vgl. E. Keßler, Alles is Eines wie der Mensch und das Pferd. Zu Cardanos

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einer rein destruktiven Abwehr, sondern konstruktiv in einer Naturalsierung von Momenten des Syndroms und der offensiven Modernisierung. Ich möchte diese komplexe Theorielage mit dem Begriff defensive Modernisierung benennen. Vor allem diese Tendenz hat, wie wir gesehen haben, nicht ohne einen gewissen Hintergrund von theologischer Reaktion auf das magisch-supranaturale Syndrom stattgefunden, sei es, daß theologische Motive ausschlaggebend waren, sei es, daß sie lediglich mit denen der Naturwissenschaftler und Philosophen konform gingen. Diese defensive Modernisierung ist mit dem zu präzisieren, was wir vor allem für das Vorgehen Fracastoros festgestellt haben: Naturerklärung aus den causae proximae, aus den partikularen Naturen im Sinne einer natura pura, aber auch Umstellungen der Paduaner Problematik der Reaktion auf eine komplexe Harmonieund Kontrarietätenlehre, die intensitätenphysikalisch ausformuliert ist und die einen gewissen Einfluß Ficinos verrät. Defensiv ist diese Modernisierung insofern, als sie auf den neuen Piatonismus und Spiritualismus reagiert, aber dessen Konzepte nicht unmittelbar übernimmt, sondern sie innerhalb des norditalienischen Aristotelismus reformuliert und mit diesen Reformulierungen die innerhalb der Schulphilosophie diskutierten Probleme bearbeitet. Um eine defensive Strategie handelt es sich weiterhin, weil die durch den Piatonismus Ficinos und seiner Anhänger begünstigte Konzeption von okkulter Kausalität nicht angenommen, sondern vielmehr entschieden abgewehrt wird. Modernisierung ist sie aber deshalb, weil durch die Reformulierung aristotelischer Problemlagen eine Transformation des Aristotelismus in Gang gesetzt wird, die über die engeren Entwicklungen in der Schulphilosophie hinausführt. 122 Erst wenn man diesen weiten Rahmen von Modernisierungen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts beachtet, kann man wirklich den Zusammenhang der Integration der Begrifflichkeit von okkulten Kräften mit dem Erklärungsbegriff Selbsterhaltung verstehen und soweit präzisieren, daß differenzierte Beschreibungen möglich sind. Da-

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Naturbegriff. In: Girolamo Cardano. Hg. von E. Keßler. Wiesbaden 1994. S. 91-114. Ähnlich scheint die Problemlage Keßler zu sehen, und zwar bereits für Pomponazzi. Vgl. E. Keßler, Selbstorganisation in der Naturphilosophie der Renaissance. S. 19: »Diese Verteidigung [sc. Pomponazzis Verteidigung der naturgesetzlichen Ordnung gegen das Eindringen übernatürlicher, der Naturgesetzlichkeit nicht unterworfener Faktoren] hat einen konservativen Aspekt, der in Pomponazzis ausdrücklichem Rückgriff auf das aristotelische Angebot eines geschlossenen Modelles der Natur manifest wird, und sie impliziert einen Aspekt der Erneuerung, welcher darin besteht, daß Pomponazzi die empirische Wurzel der aristotelischen Naturphilosophie verabsolutiert und zu ihrer alleinigen Grundlage erhebt.«

188 mit scheint mir eine wichtige Voraussetzung gegeben zu sein, um die theoretische Relevanz des Selbsterhaltungsbegriffs im 16. Jahrhundert deuten zu können. Dann erst läßt sich erkennen, inwiefern die Konjunktur von conservado sui mit anderen, ähnlich verlaufenden Themen verbunden ist: etwa mit der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Konzeptionsentwicklung von Selbstliebe, die H. J. Fuchs umfassend dargestellt hat, 123 mit der parallellaufenden Konzeptionsgeschichte von Individualität, 124 mit der pragmatischen Reduzierung der Politik im Machiavellismus, 125 zudem mit philosophischen Bemühungen um eine Neukonzeption von Selbstbewegung 126 und Stabilisierung 127 bis hin zu naturwissenschaftlichen Begründungen zur Kohäsion von Körpern gegenüber dem Vakuum. 128 Diese Gesamtheit von Konzeptionen scheint es zu sein, die der Selbsterhaltungsbegriff des 17. Jahrhunderts beerbt; ich werde in dieser Studie aber allein den naturphilosophischen Aspekt verfolgen, wenn auch durchaus im Blick auf die Konsequenzen, die die Veränderungen im Thema >Selbsterhaltung und Natur< für die anderen Bereiche gehabt haben. Die beiden Strategien >offensive Modernisierung< und >defensive Modernisierung< unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Bereitschaft, mit den wieder in die Diskussion gekommenen Begriffen wie Sympathie oder Antipathie umzugehen. Weder die eine noch die an123

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H. J. Fuchs, Entfremdung und Narzißmus. Semantische Untersuchungen zur Geschichte der >Selbstbezogenheit< als Vorgeschichte von französisch amour propre. Stuttgart 1977. Vgl. N. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus. In: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt 1989. S. 149-258. Vgl H. Pfeiffer, Machiavellis Anthropologie der Selbsterhaltung und ihre Schreibart. Das Beispiel der >GhiribizziSympathiemagisch< oder >animistisch< interpretiert wird, oder daß Balance-Lösungen zwischen den Lagern ohne Zögern als Option für okkulte Einflüsse wahrgenommen werden. Wir werden im nächsten Kapitel sehen, daß gerade auch in der medizinischen Diskussion, in der der neuplatonisch-avicennistische Einfluß um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit Fernel seinen Klassiker gefunden hat, ein undogmatischer, skeptisch-eklektischer Aristotelismus mit defensiver Modernisierung reagiert hat: in Theoretikern wie Giovanni Argenterio, die wie Fracastoro unifikatorische Prinzipien von der Gegenseite aufnehmen, diese dann aber streng naturalistisch interpretieren. Aber auch in der Medizin ist diese Balance nicht immer stabil geblieben. Als Daniel Sennert zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine auf die deutsche Situation bezogene Annäherung zwischen Okkultisten und Naturalisten, nämlich zwischen den Paracelsus-Anstellt er eine Reihe auf: W ä r m e als Ursache, Licht als Erscheinung dieser Ursache, Bewegung als die sich in die Ferne verbreitende und fortpflanzende Wirkung der Ursache, und Aspekt als die Modifizierung der Ursache, denn der Aspekt verändere und modifiziere die Kräfte der Wärme, und es könne daher nicht abergläubisch sein, sie zu beobachten. Damit schließt sich Campanella an Telesios Theorie der Konstitution der Seienden durch Lichtbrechung an, die in Kapitel II thematisch war. Z u Campanella als Astrologe vgl. G. Ernst, Religione, Ragione e natura. Studi su Campanella e il tardo Rinascimento. Milano 1990. 139

Campanella, Philosophia sensibus demonstrata. Napoli 1591. S. 231 f.: » E t quia quot sunt effectue rerum et individua, tot variationes contingit fieri calorum, ideo tot constellationes, seu calores, a stellis immitti possunt; et hi calores variantur etiam coniunctione Solis et reliquorum astrorum, simul iunctorum in caelo, vel in angulis et lineis radiorum hue contingentium.«

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hängern und der Galenischen Schulphilosophie erreichen will, kommt er nicht von ungefähr auf ähnliche Bahnen wie ein Fracastoro in Italien einhundert Jahre zuvor: Vor allem der consensus der Natur wird wieder bemüht, und in den Hypnomata physica von 1636 zitiert Sennert zustimmend Fracastoro und Scaliger.140 Sennert bemüht sich also nochmals um eine Naturalisierung des okkulten Diskurses - nun der offensiven Modernisierung durch die paracelsische Medizin - , um den Dialog mit der Schulphilosophie und die Integration in den Galenismus zu erreichen.

6. Telesianische und cartesische Selbsterhaltung Das führt uns zu einem Vergleich mit der Theoriesituation des 17. Jahrhunderts. Nach Ausräumung der Fehldeutungen Diltheys erscheint das Verhältnis des Selbsterhaltungsbegriffs des 16. Jahrhunderts zur cartesischen Selbsterhaltung als Beharrung in einem klareren Licht; das gilt auch für die Charakterisierung des Verhältnisses von Selbsterhaltung und moderner Rationalität bei Hans Blumenberg. Nach Blumenberg hat, verkürzt gesagt, der spätmittelalterliche Voluntarismus eine doppelte Wirkung für die Konstitution der Neuzeit gehabt. Er hat zunächst in der Renaissance ein pantheistisches Denken einer auf sich selbst beruhenden Welt nach sich gezogen, das diese Welt aber noch in stoischer, organischer Metaphorik als großes Lebewesen konzipiert hat; erst das erneute Aufleben des Voluntarismus bei Descartes, jetzt unter gesteigerten Rationalitätsansprüchen, hat bei Spinoza eine formale Bestimmung von Selbsterhaltung provoziert, die jetzt wirklich neuzeitlich war. Diese Darstellung müssen wir näher prüfen. Nach Blumenberg ist es der mittelalterliche Kontingenzgedanke, der »gegen den Gesamtbestand seiner Rezeption antiker Metaphysik« zwingt, »das nihil gleichsam als den metaphysischen Normalzustand zu denken und die creatio ex nihilo als das gegen diese Normalität ständig durchzusetzende Wunder.« 141 Dieser Gedanke sei prägend gewesen für das Aufkommen des Renaissancepantheismus, der gleichsam in einer vom Voluntarismus noch bestimmten Überreaktion die Selbsterhaltung der Welt als des für Gott substituierten ens

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D. Sennert, Hypnomata physica. Frankfurt 1636. S. 32. Vgl. ders., D e Chymicorum cum Aristotelicis et Galenicis consensu ac dissensu liber I. Wittenberg 1619. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. S. 157.

194 necessarium denke. 142 Aber er habe auch, in seiner erkenntnistheoretisch radikalisierten Fassung bei Descartes, für die Überwindung dieser in organischer Metaphorik verhafteten, vorläufigen Lösung in der Renaissance gesorgt, weil diese den erhöhten Begründungsansprüchen der Neuzeit nicht genügen konnte. Warum dann erst mit der vornehmlich am Beharrungsbegriff ausgerichteten und philosophisch formalisierten conservado sui Spinozas das Konzept befriedigend ersetzt worden sei, ergebe sich aus dieser noch rückständigen Metaphorik. 143 Denn der stoisch geprägte Selbsterhaltungsbegriff mit organischer Metaphorik hat nach Blumenberg den Nachteil, daß er nicht dazu provoziert, Selbsterhaltung als rationale Norm eines Prozesses zu begreifen, weil er sie nur als Trieb ansehen könne; 144 zudem entwickele er keine wirklich distinkte Trennung zu einer transitiven Erhaltung der Teile durch das Ganze. 145 142

Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. S. 182: »Die mittelalterliche Zuspitzung des Kontingenzgedankens, nach welcher die Wirklichkeit der Welt nicht genügt, sie für den Menschen zuverlässig und beständig zu machen, hat auch den Kanon für dessen Überwindung festgelegt. Wenn es in der weltlichen Seinsmodalität lag, ohne die göttliche Erhaltung nicht beständig, ohne den ausdrücklichen göttlichen Willen nicht gesetzmäßig sein zu können, so gab es nur eine Alternative, aus dieser Verunsicherung herauszutreten: die Welt selbst mußte das ens necessarium werden. Der Übergang zum Pantheismus ist mit den Anfängen einer Naturphilosophie verbunden, die Selbsterhaltung als den Sinn des Weltorganismus zu sehen beginnt und die der Natur ihre erhabene Notwendigkeit dadurch verschafft, daß sie sie zum Äquivalent der Schöpfungsmacht, zur Negation der These, Gott könne alles schaffen, nur nicht einen Gott, erhebt. Hatte Ockham die Behauptung aufgestellt, die Allmacht könne nicht alles bewirken, was keinen Widerspruch einschließt, weil sie eben einen Gott nicht hervorbringen könne, so wird das platonische Wort von der Welt als dem sichtbaren Gott im 16. Jahrhundert von Vives, Telesio und Giordano Bruno gerade in einer neuen Hinsicht ernstgenommen, nämlich als Bestreitung der Kontingenz, als Behauptung der realisierten Totalität des Möglichen gegen den selektiven Voluntarismus. Im substantialistischen Monismus Spinozas vollendet sich diese Tendenz.« Vgl. dazu auch Blumenbergs Interpretationen in: »Die Legitimität der Neuzeit«, Teil IV; dort zeigt sich allerdings, daß Blumenbergs Basis allein die Philosophie Brunos ist und er sonst von Diltheys problematischen Einordnungen abhängig bleibt.

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Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. S. 188: »Die ganze von Dilthey vorgeschlagene Genealogie erbringt nichts, wenn man nicht sieht, was sie schon in den Anfängen der Rezeption von Telesio bis Campanella eigentlich aktuell und plausibel gemacht hat, nämlich die Ersetzung des transitiven Erhaltungsgedankens durch den reflexiven und intransitiven. Dieser Zusammenhang bleibt bei Dilthey abgeblendet, aber er allein macht verständlich, daß die Erneuerung des stoischen Weltorganismus nur eine vorläufige Behelfslösung sein konnte, deren Rationalität für die neue Funktion nicht ausreichte, der von Descartes in Überschärfung angebotenen creatio continua und dem in ihr sich vollstrekkenden Kontingenzprinzip entgegenzutreten.«

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Vgl. B l u m e n b e r g , Selbsterhaltung und Beharrung. S. 158.

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Vgl. Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. S. 160f.

195 In der Tat muß man feststellen, daß für Descartes Selbsterhaltung als Beharrung im gegebenen Zustand zunächst eine rein physikalische Kategorie ist.146 Metaphysisch ist die cartesische Welt in extremer Weise von der creatio continua eines Gottes abhängig, der allein die Macht - immensa potestas - der Selbsterhaltung hat. Man muß also den physikalischen Selbsterhaltungsgrundsatz der Principia philosophica von den Passagen in den Meditationes unterscheiden, die in der deutschen Diskussion über Selbsterhaltung dominant gewesen sind und an die sich die Spinozanische causa sui anschließen konnte. 147 Der schon zu Beginn dieser Arbeit erwähnte Johann Clauberg interpretiert das Gesetz »unaquaque res, ut simplex est et indivisa, quantum in se est, in eodem semper statu permanet, neque mutatur unquam nisi a causis externis« 148 aus den Principia II, 37, nicht aber die Meditationes, wenn er seine Verwendungsübersicht von Selbsterhaltung gibt. 149 Aber ist der neuzeitliche Selbsterhaltungsbegriff wirklich, wie es Clauberg will, allein auf den Beharrungsbegriff gestützt? Die Beobachtungen, die wir vor allem an der telesianischen Tradition, aber nicht nur dort, gemacht haben, lassen auf ein differenzierteres Bild schließen. Zwar gerät die Verbindung von Selbsterhaltung und Ähnlichkeit leicht in die Richtung auf ein unkontrolliertes Ähnlichkeitsdenken, so wie es Foucault als episteme der Renaissance beschreibt, 150 aber diese Tendenz ist nicht eindeutig. Es hat Versuche rationaler Kontrolle dieses Verhältnisses gegeben. Die Ansetzung einer >modernen< Selbsterhaltung im Sinne eines rationalen Prinzips erst im Cartesianismus sitzt der Polemik auf, die von Cartesianern wie Clauberg geführt worden ist und sich gegen die jüngst vergangenen Theorien zum Teil comenianischer Philosophen gerichtet hat - im Falle des Renegaten Clauberg sogar gegen die eigene comenianische Vergangenheit. 151 Doch dies waren, wie wir 146

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Zur cartesischen Physik vgl. S. Gaukroger, Descartes' Philosophy, Mathematics, Physics. Brighton 1980. La science chez Descartes. Hg. von G. Rodis-Lewis. New York 1987. D. Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie. S. 88, und dann Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia. Prima responsio. In: ders., Œuvres. Hg. von Ch. Adam und P. Tannery. Paris 1897-1913. Bd. 7. S. 109: »ipsum esse qui se revera conservet«. Vgl. zur cartesischen Gotteslehre M. Gueroult, Descartes selon l'ordre des raisons. 2 Bde. Paris 1953. J. L. Marion, Sur la théologie blanche de Descartes. Analogie, création des vérités éternelles et fondement. Paris 1981. Vgl. Descartes, Principia Philosophiae. II, 37. In: ders., Œuvres Bd. 8/1. S. 62f. J. Clauberg, Defensio Cartesiana. S. 1102. Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Kap. 2. Vgl. M. Mulsow, »Sociabilitas. Zu einem Kontext der Campanella-Rezeption im 17. Jahrhundert.« In: Bruniana & Campanelliana 1 (1995). S. 205-232. Bes. 213; U. G. Leinsle, Comenius in der Metaphysik des jungen Clauberg. (Im Erscheinen). Zu Clauberg vgl. weiter F. Trevisani, Johannes Clauberg e l'Aristo-

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gesehen haben, eher Gegeneffekte aus der Modernisierung der Naturphilosophie, oder es sind Invektiven gegen persistierende avicennistische und biologistische Formen von offensiver Modernisierung gewesen. Offensichtlich hatte die neuplatonisch-hermetische Vereinnahmung der >neuen Naturphilosophie< seit Patrizi und die unendlich vielfachen Verbindungen von Paracelsismus, christlicher Kabbala und Naturmagie mit empirischen Innovationen diese >vorcartesische< Wissenschaft als Ganze diskreditiert. Aber man sollte sich nicht von Descartes und Clauberg beirren lassen und differenzieren. Das Mißverständnis liegt letztlich darin, den Selbsterhaltungsbegriff mit dem Aufkommen der offensiven Modernisierung zu identifizieren. Doch wie wir gesehen haben, ist das nicht richtig. Zwar spielt der Begriff auch in diesen Strömungen eine gewisse Rolle, ergab sich aber zunächst gerade in der Absetzung von ihnen. Außerdem ist die Gleichung von biologistischem Denken und einer Selbsterhaltung des Lebenwesens Welt - bei dessen Ablösung wegen Verhaftung in Triebmetaphorik bei Descartes die nominalistische creatio continua erst wieder aufbräche - nicht zwingend. Ich will nur ein Beispiel vorführen, das zeigt, wie sich die Situation im späten 16. Jahrhundert darstellt. Dort erweist sich, daß eine stoisch-biologistische Konzeption keineswegs auf Selbsterhaltung der Welt im Sinne ihrer Autonomie von Gott hinauslaufen muß. Man kann für den Fall der französischen Medizin im Gefolge von Fernel sehr gut beobachten, wie sich eine >avicennistische< Naturphilosophie der ständigen göttlichen Mitwirkung, gegen die in Italien >Konservative< wie Fracastoro eingeschritten waren, ungehemmt mit Vorstellungen von der creatio continua und stoisch-animistischen Modellen verbunden hat. Diese Philosophie vom animai mundi hat keineswegs ein Bollwerk und sei es ein unvollkommenes, wie Blumenberg meint - gegen den Nominalismus des Spätmittelalters gelegt. Gerade in der Renaissancetendenz, das calidum innatum in seiner >himmlischen< Natur zu akzentuieren, kommt ein transitiver Erhaltungsgedanke, also ein Gedanke der Fremderhaltung zum Ausdruck. Das Göttliche ist in uns, aber es ist es, das uns erhält, nicht wir selbst. Ganz besonders sieht man diese Tendenz bei Jean Riolan père, dem Fernel-Schüler und -Nachfolger: tele riformato. In: L'interpretazione nei secoli XVI e XVII. Hg. von G. Canziani und Y. Ch. Zarka. Milano 1993. S. 103-126. Zum niederländischen Cartesianismus, in dessen Milieu viele der Abgrenzungskämpfe stattgefunden haben, die einen Selbsterhaltungsbegriff im Sinne von Beharrung gegen renaissancetypische Formen von conservado sui durchgesetzt haben, vgl. allg. C. L. ThijssenSchoute, Nederlands Cartésianisme. Amsterdam 1954; Th. Verbeek, Descartes and the Dutch. Carbondale, 111. 1992.

197 Da jener als Erhalter gilt, der der Schöpfer des Lebewesens gewesen ist, die ätherische Wärme aber, die aufgrund des täglichen Sonnenumlaufes entstanden ständig vom Himmel herabfließt, der allgemeine Ursprung alles Sublunaren ist, wendet diese zweifellos zur Erhaltung ihres Werkes alle Mühe auf. Wenn sie da ist, blüht alles, wenn sie sich verdunkelt, schwindet alles hin. [...] Während die Stoiker durch die Macht dieser Wärme auch unter der Erde Lebewesen entstehen sehen und keine Partikel der Welt ihrer Präsenz entzogen, zweifeln sie nicht, daß sie als Aushängeschild der ersten und übergeordneten Ursache, nämlich Gott, aufwartet, der als gegenwärtiger die Welt und alles Weltliche erhält, als abwesender sie verdirbt. Denn wäre Gott auch nur einen Augenblick abwesend, würde sich das Gefüge der Welt auflösen: Man stelle sich vor, geht durch Schicksal oder Gewalt die Wärme in einem Lebewesen aus, was wird anderes zurückbleiben als eine träge Masse und ein wertloser Klotz? 152

Die Vorstellung von der Welt als großem Lebewesen bedeutet hier nicht den Weg zu einer pantheistischen Selbsterhaltung; die Wärme ist als göttliche Weltseele nur vorübergehend präsent, und zöge sie sich zurück, wie die Sonne sich verdunkelt, dann ist kein Leben mehr möglich. Gerade das >biologische< Denken konnte also die Fremderhaltung zementieren. Man kann auf der anderen Seite - mit Blick auf Telesio - die Renaissancephilosophie weder immer als Pantheismus bezeichnen noch sagen, sie sei auf einem organisch-animistischen Ni152

J. Riolan (père), Commentarius de spiritu et calido innato. In: ders., In libros Ferneiii partim physiologicos partim therapeuticos. Mompelgarti 1592. S. 66f.: »Cum ille sit servator qui fuit autor vitae, ethereus autem tepor, qui diurno circumactu Solis excitatus quotidie coelitus affluit, sit communis sublunarium omnium parens, haud dubie ad operis sui conservationem operam omnem convertit. Ilio vigente florent, eodem languente contabescunt omnia: Aspicis ineunte vere dum Sol ad nos redit, ut terra se resolvit in flores, et arbores fronde virent nova, autumno vero cum primum recedit, ut illae defrondescunt? Vere calor redit ossibus, et Vitalis spiritus afflatu animalia ad procreationem excitantur: cuius quidem caloris potentia dum viderent Stoici etiam in subterraneis animalia generari, nullamque mundi particulam eius praesentia destitutam, non dubitarunt illum primae et continentis causae, quinetiam Dei, titulo salutare, qui praesens mundum mundanaque omnia conservet, eadem absens corrumpat. Nam si vel momento abesset, illico syntaxis mundi solveretur: Finge fato aut violentia in animali calorem extinctum quid aliud quam pondus iners et inanis truncus remanebit?« Riolan fährt fort: »At mundus Platonis opinione est primum et maximum animal. Enimvero quid magis inimicum vitae quam frigus? quid ad naturae aut animae functiones minus idoneum? quid stupidius animali, quod natura genuit temperatura frigidiore? quid ad mores efformandos pituita ineptius? Dicet aliquis, etiam media hyeme vermes in nive generari, autor est Arist. de ortu anim. itaque non solus calor Vitalis. An in terra sub nive a concluso illic et per antiperistasim aucto calore generantur? an coelo tepidore, ut plena luna liquata nive? an eadem vetustate putrì? Equidem non negarim istum calorem viventibus inaequaliter distribuí, datur enim ut sit animae ad obeundas functiones instrumentum, sive dispensetur ab anima mundi, quam Avie, propterea Arabico Colcodeam appellavit, sive a materia, pro ut convenit, a secundis causis praeparata partieipetur: Vegetantis animae paucae sunt neque admodum nobiles functiones: Stirpibus ergo a natura in terra defixis, paueus calor satis est, nobiles vero et entientes animantes, ad motum copiosiore opus habuerunt.«

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veau der Begründung von Selbsterhaltung stehengeblieben. Daß Telesios Fragestellung nicht pantheistisch ist, sondern im Gegenteil diese Deutung im Ansatz verhindert, ist bei der Rekonstruktion seiner Grundgedanken deutlich geworden. Mit der Abwehr eines Pantheismus geht bei Telesio die Abwehr eines Weltorganismus Hand in Hand; sein >Sensualismus< orientiert sich an einer defensiven Modernisierung, die eher vorhandene Theoriestücke uminterpretiert, als sich auf ungeschützte Analogien einzulassen. Die Renaissance hat nicht blind mit einem stoischen animal mundi auf die Spätfolgen des Nominalismus reagiert, sondern mit einer Transformation des Aristotelismus auf ein vielfältiges Syndrom: einer nachvollziehbaren Veränderung formaler Konzeptionen. Die cartesianische Polemik hat, nochmals, das theistische, antiokkultistische und skeptische Moment der defensiven Modernisierung der 1530er und 1540er Jahre völlig verkannt. Ihre Errungenschaften, die nur noch einem Minimalbegriff von >sensus< verpflichtet waren, weist Johann Clauberg in der Defensio cartesiana kurzerhand als Vitalismus zurück. Vor allem die exzessive Verbindung von Selbsterhaltung mit dem Begriff der Ähnlichkeit - ein Indiz für offensive Modernisierung - ist es, die er in der cartesianischen Selbsterhaltung elimiert sehen will; dies sei eine unrechtmäßige Verwendung des Begriffs der Selbsterhaltung, improprie hic usurpari servandi ac conservandi vocabulum,153 Als Cartesianer beharrt Clauberg auf der strengen Scheidung von res cogitans und res extensa. Ein Streben zum Ähnlichen aber würde kognitive und affektive Rudimente in der Materie voraussetzen, was einer Unterbietung des wissenschaftlichen Niveaus gleichkäme. Natürlich ist Claubergs Fehleinschätzung im Kontext seiner Epoche verständlich. Die cartesische Unterscheidung hatte ja ihre Funktion nicht zuletzt darin, ein ganzes Bündel von theoretisch und mathematisch nicht handhabbaren Komplexen von Strebungen, okkulten Kräften und Naturaktivitäten auszuschalten. Über die erregten Polemiken bezüglich der okkulten Qualitäten im Zeitalter der wissenschaftlichen Revolution muß hier nicht im einzelnen gehandelt werden. Man kennt die Angriffe von Mersenne und Kepler auf Fludd und die Verwahrungen der Schulphilosophen, seien es Cartesianer oder Aristoteliker, gegen die paracelsischen und hermetischen Systeme; 154 dann aber auch wieder der Cartesianer und Atomisten gegen die Aristoteliker. Das späte 17. Jahrhundert hat diese Kämpfe als Teil der Querelle des anciens et des modernes gesehen und in der ihm eigenen Art beschrieben: »Die Peripatetikerburg schien am schwer153 154

Clauberg, Defensio cartesiana. S. 1102. Vgl. dazu etwa A. G. Debus, The chemical philosophy. 2. Bde. New York 1977.

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sten zu seyn einzunehmen. Die hohen Felsen, die entsetzlichen Klüffte, welche rund um dieselbe waren, und die Kriegs-Rüstungen, hielten alle Zugänge bedeckt. Die Mauren waren mit gantzen Legionen von Scholasticis besetzt, deren wildes Ansehen und barbarisches Geschrey auch die allerbehertztesten furchtsam machte. Aristoteles, welcher von den mächtigsten Printzen unterstützt wurde, führte seine Leute, als Haupt der Armee, an, und munterte sie zu einer tapferen Gegenwehr auff. Cartesius gerieth auf den Anschlag, Bomben in die Festung zu werffen, welche auch die allerstandhaftigsten zitternd machten. Die Doctores, welche durch die Spiritus ígneos, die Materiam subtilissimam, und die Virtutem elasticam aeris waren in die Flucht gejaget worden, ruffen umsonst die Qualitates occultas zu Hülffe, welche nach einem kurtzen Wiederstande schändlicher Weise die Flucht ergriffen.« 155 Dieses Bild der cartesianischen Absetzbewegung sieht die Begriffe wie den vom >feuerhaften Spiritusorganischen< Aspekte der neuplatonisch-stoischen Theorien durch die Dualitätskonstruktion der >reactio< in einer Balance zu kompensieren. Das ist vielleicht keine dauerhafte und überzeugende Lösung gewesen. Aber man muß ihr bescheinigen, daß sie tatsächlich in einigen Punkten den Weg freigehalten hat für eine postanimistische Konzeption von Selbsterhaltung. 157 Sie hat von Anfang an die Probleme einer zum >Animismus< hin offensiven Modernisierung gesehen 155

So die deutsche Übersetzung einer französichen Polemik: Beschreibung des Landes / Der / Alten und Neuern / Und / des zwischen ihnen entstandenen / Krieges - Aus dem Französischen übersetzt und und mit einigen Anmerckungen erläutert. In: Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen auf das Jahr 1715 (Hg. von J. G. Krause). 2. Aufl. Leipzig 1716. 156 Ygi z u r Naturphilosophie von Hobbes St. Shapin und S. Schaffer, Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle and the Experimental Life. Princeton 1985; zur Entwicklung der Lehre von den okkulten Qualitäten vgl. P. R. Blum: Qualitates occultae. HWPh Bd. 7. Sp. 1743-1748. 157 Vgl. zu den möglichen Bezügen Telesios zum Materialismus des 17. Jahrhunderts etwa K. Schuhmann, »Hobbes and Telesio«. In: Hobbes Studies 1 (1988). S. 109-133.

200 und hat diese Probleme im Zusammenhang einer zu unmittelbaren Abkopplung vom Aristotelismus verstanden. 158 158

Wie zweischneidig es ist, den epistemologischen Bruch zur neuzeitlichen Rationalität in der Orientierung am Beharrungsbegriff zu bestimmen, wie dies Henrich und im Anschluß an ihn Blumenberg tut, zeigt noch eine weitere Überlegung. Das - aristotelische - Streben der Dinge nach ihrem natürlichen Ort wird, schaut man auf die Mechanik, im 17. Jahrhundert in der Tat in einem Prozeß von Galilei bis Newton von der perseverano als Beharrung abgelöst. Blumenberg will diese intransitive Erhaltung als Paradigma der endgültig neuzeitlichen, nicht mehr stoischen Selbsterhaltung verstanden wissen. Jede andere Denkweise scheint irreparabel mit organologischen oder quasimagischen Rationalitätstypen verquickt zu sein. Doch eine andere Perspektive führt zu ganz anderen Ergebnissen. Von Fracastoro über Telesio bis Campanella können wir eine Radikalisierung des Konzeptes vom natürlichen Ort beobachten, die eng verbunden ist mit der Weiterentwicklung des Gedankens der Selbsterhaltung. Telesio distanziert sich eindeutig von der aristotelischen Konzeption des Strebens nach dem natürlichen Ort - einer Konzeption, die selbst Fracastoro noch bewahrt hatte. Nicht nur gibt es keine Sphären von Luft, Wasser etc. mehr, weil die Zahl der Elemente reduziert worden ist; vor allem die Begründung hat gewechselt. Feuer ist nicht mehr >das, was nach oben strebtabsoluten Raumes< im Sinne des Raumes als einer Manifestation Gottes. Patrizis spatium und Campanellas Raum als Gottesattribut sind Erhaltungsgrund der Dinge. Auf der anderen Seite sind auch die metaphysischen Prinzipien bei Patrizi und Campanella auf eine eigentümliche Weise >verortetOrganischen< auszuweiten. Man kennt genügend die

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per animam, et ita non sequitur quod lapides sunt animati. Cum postea dicebat quod calor vel est anima vel animae instrumentum, dico quod dubium adhuc est apud omnes quid anima sit, nedum quod sit calor. Itaque non valet: quae generantur habent animam - lapides generantur, ergo habent animam; non valet inquam, quia maxima est differentia inter generationem lapidum et animatorum.« Zu Falloppia vgl. G. Zanier, Gabriele Falloppia e la filosofia dei minerali. In: ders., Medicina e filosofia tra '500 e '600. S. 5 - 1 9 . J. B. Montanus, In primum et secundum librum Aphorismorum Hippocratis lectiones. Venedig 1555. Kommentar zu Aphor. XIV, sect.I; zitiert nach Daniel Sennert, Opera. Lugduni 1676. Bd. I. S. 422: »Ego, ut ingenue fateor, profitebar me Doctorem esse, et vix tandem senex cognovi, quid esset calor innatus.« Vgl. z. B. G. Zanier, »Piatonic Trends in Renaissance Medicine«. In: Journal of the History of Ideas 48 (1987). S. 509-519; Ν. G. Siraisi, »Some Current Trends in the Study of Renaissance Medicine«. In: Renaissance Quarterly 37 (1984). S. 585-600. Vgl. allg. auch Β. Hoppe, Biologie.

204 Texte der Renaissance, in denen Wachstumsvorgänge in Mineralien beschrieben, Vergleiche zwischen physiologischen Abläufen und den makrokosmischen Vorgängen im großen Lebewesen Welt gezogen und die Verwandlungsprozesse von Stoffen im Feuer studiert werden. Man kennt weniger die semantischen, die theoretischen und philosophischen Niederschläge, die diese Veränderungen begleitet haben. Wie sollte man auf die Forschungen reagieren? Sollte man den Begriff der Seele auch für scheinbar Unbelebtes verwenden, Phänomene wie den Magnetstein zum Paradigma auch der einfachen Natur machen? Oder sollte man umgekehrt im Vertrauen darauf, wie viel man mit den scholastisch verfeinerten Theorien der Feuer- und Wärmeprozesse erklären zu können meinte, nun auch die Stufen höheren Lebens wie Affektivität und Erkennen als Aktivität der Wärme verstehen? War Lebenswärme als das Instrument der Seele ihre Verlängerung in die konkreten Naturprozesse hinein, oder machte die immer umfassendere Theorie der Lebenswärme den Begriff der Seele überflüssig? Der Begriff des calidum innatum ist ein notorischer Grenzbegriff zwischen diesen Möglichkeiten gewesen. Ich will zeigen, daß er eben deshalb im 16. Jahrhundert - so sehr er immer schon latent im Zentrum gestanden hatte - in den Mittelpunkt des Interesses und der Begriffsarbeit gerückt ist; die theoretische Situation der Renaissancephilosophie hatte eine solche Spannung zwischen den Möglichkeiten erzeugt, daß im Feld dieses Begriffes die Erscheinungen der Spannung sichtbar wurden; ich will zeigen, daß die Varianten und Strategien, die er zugelassen hat, den theoretischen Raum der philosophischen Innovation ermöglicht und definiert haben; daß für die neuen naturphilosophischen Theorien seit Cardano und Telesio die Begriffsabgrenzungen und -Überlagerungen von ignis, calor, spiritus und anima zentral und bestimmend gewesen sind. Damit ist es möglich, die Fragerichtung, in die wir uns bewegen wollen, näher zu bestimmen. Es muß darum gehen, die Veränderungen im theoretischen Verhältnis von >Seele< auf der einen und >Wärme< auf der anderen Seite anzugeben. Es muß möglich sein zu sehen, mit welchem der beiden Pole der Begriff des Lebens assoziiert wird, vor allem aber ist jener Punkt aufzufinden, an dem die argumentativen Räume, die die beiden Begriffe jeweils eröffnen, aufeinanderstoßen. Denn an diesem Punkt treffen auch verschiedene Weisen von Rationalität aufeinander. Während die Orientierungen an einer elementaren Sprache von Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit - seien sie aristotelisch oder galenistisch - an empirischen Phänomenen des Wandels ausgerichtet sind und Kausalitäten auf der >horizontalen< Ebene der causae proximae aufsuchen, argumentieren die Theoretiker, die sich an Plotin oder Ficino anlehnen

205 und für eine Präsenz der >himmlischen< Qualitäten in der Seele eintreten, anders: Ihr Diskurs ist von Erwägungen über Denkvoraussetzungen und Einheit bestimmt, sie beschreiben >Einflüsse< und Partizipationen - Denkmuster, die für Aristoteliker eigentlich nur in bezug auf die supralunaren Regionen, und auch dort eingeschränkt, akzeptierbar sind. Aber wie wir am Beispiel Ferneis sehen werden, konstituiert sich dieser zweite Diskurs auf doppelte Weise. Zum einen über die genannte >metaphysische< Rationalität, zum anderen über die negative Absetzung von den empirischen und naturalistischen Erklärungen: Dort, wo die Defizienzen in der empirischen Rationalität sichtbar werden, wo manifeste Ursachen Phänomene nicht angemessen erklären können, meint man diese Rationalität übersteigen zu müssen. Daß dies bei Lebensprozessen leicht - und mit Recht - der Fall sein konnte, ist evident. Doch bewirkt diese doppelte Konstitution des Diskurses einer >himmlischen< Rationalität, daß eine Anzahl ungeklärter Phänomene und metaphysischer Erwägungen ungeschieden nebeneinanderstehen, daß okkulte Qualitäten und Einheitsspekulation weitgehend identifiziert werden. Dabei muß man vorsichtig sein mit Zuweisungen der Bezogenheit auf empirische Phänomene. Es ist keineswegs so, daß nur die naturalistischen Beschreibungen auf neue empirische Fakten eingehen. Im Gegenteil, sie zeigen sich oft behindert durch die Last der autoritativen Tradition, die sich in Quaestionen und Distinktionen teilweise immun gegen neue Sichtweisen gemacht hat; dagegen zeigt der Fall Cardano, daß die Modernisierung der Wissenschaft mit >okkulten< und >metaphysischen< Elementen wie sympathia und antipathia Möglichkeiten eröffnet, die Organisation des Wissens neu und offen zu gestalten. Der Einheitsbegriff ermöglicht es, so etwas wie Funktionalität zu denken, die platonisch inspirierte Renaissancemetaphysik erweist sich als flexibel für neue Entwicklungen. Aber der Diskurs dieser >metaphysischen< Rationalität bleibt immer auch belastet durch seine negative Komponente, Sammelbecken des Unerklärten, des Okkulten zu sein. Auf fast unlösbare Weise hat er manche dieser Phänomene, sei es Magnetismus oder Astrologie, zu seinen Leitevidenzen und Theoriemodellen gemacht. 7 7

E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Leipzig und Berlin 1927. S. 107, hat das Dilemma bündig formuliert: »Die Natur >nach eigenen Prinzipien< (juxta propria principia) zu begreifen: dies schien nichts anderes zu bedeuten, als sie aus den in ihr selbst liegenden eingeborenen Kräften zu erklären. Wo aber lagen diese Kräfte deutlicher zutage, wo zeigten sie sich faßbarer und allgemeiner, als in der Bewegung der Himmelskörper? Wenn irgendwo, so mußte hier das immanente Gesetz des Kosmos, die allumfassende universelle Regel auch für alles besondere Geschehen ablesbar sein.

206 Die Unschärfe und kontroverse Natur von calor und anima, die Falloppia und Da Monte beklagen, haben ihre Vorteile und ihre Nachteile gezeitigt. In jedem Fall sind sie prägend für die Diskussion gewesen. Und diese Diskussion hat viele Seiten; zunächst: Die Auseinandersetzungen um den Begriff des calidum innatum haben natürlich auch ihre Beziehungen zu einer Legitimierung durch Autorität und ihre Orientierungen an loci der Tradition gehabt. Ich will, bevor ich auf Einzelheiten in der Diskussion der Lebenswärme eingehe, an einem Indikator die Umrisse und das Ausmaß der Veränderungen ablesen, auf die es sich einzustellen gilt. Der Indikator ist der Umgang mit einer solchen vorgegebenen, durch Autorität sanktionierten Textquelle, nämlich einer Stelle aus Aristoteles. Die Indikation über einen veränderten Umgang mit Texten erbringt ein grobrastriges Bild ohne kausale Zuschreibungen, aber sie hat den Vorteil, in vorbegriffliche Wahrnehmungsweisen von überlieferten Darstellungen hineinreichen zu können. Selbstverständlichkeiten im Textumgang zeigen Wandlungen auf einer Ebene an, die theoretische Erfahrungen und Erwartungen widerspiegelt und die in einer gewissen Weise fundamentaler ist als jene der expliziten Interpretation. Die Aristotelesstelle, die am besten den Punkt indiziert, an dem Elementarisches und Überelementarisches aufeinanderstoßen - oder aufeinanderzustoßen scheinen - , ist ein Text aus De generatione animalium. Astrologie und Magie stehen daher in der Epoche der Renaissance so wenig im Widerstreit gegen den >modernen< Naturbegriff, daß sie vielmehr beide zu seinem mächtigsten Vehikel werden.« Wir haben aber gesehen, daß eine d e fensive Modernisierung< in theistischer Perspektive diese Tendenzen ihrerseits weitgehend zu neutralisieren versucht hat. Um so stärker der Katholizismus des 17. Jahrhunderts: Marin Mersenne wird später zu den denen gehören, die diese Vermischung am meisten bekämpfen; überhaupt hat die doppelte Konstitution dieses Diskurses maßgeblich an seinem Niedergang im Laufe des 17. Jahrhunderts beigetragen; die suspekt gewordenen materialen Gehalte haben auch die an sie angelehnten Denkmodelle diskreditiert. Vgl. Mersenne, L'impiété des deistes. Paris 1624. Ndr. Stuttgart 1975. Bd. II. S. 372ff.: »Vous voyes donc que cette âme pretendue [l'âme universelle] ne nous donne pas plus de lumiere, ny de facilité pour la Philosophie, que font nos formes particulières; et par ainsi que nous ne scaurions non plus donner raison des effets, que nous appercevons tous les iours, par cette âme universelle, que par les formes particulières: car ie vous prie, quelle raison me rendra le Platonicien, ou le Pythagoricien, quand on l'interrogera pourquoy l'Aimant attire le fer, et se tourne vers le Pole? Dira-t-il pas que c'est l'âme universelle, qui regarde vers ce lieu, et qui y attire ses accidens, ou qui cognoist, et ayme l'estoille Polaire, et le fer, et laquelle desire retourner à sa source? Nous voila fort doctes par cette response; n'attendez point de meilleures raisons de ces gens là, car ils ne scauroient vous en donner. Ne vous semble-t-il pas estre aussi satisfait, quant les Peripateticiens vous respondent que cet effet vient de la forme particulière de l'Aimant, laquelle nous est incongnue, et qu'on appelle spécifique? asseurément vous ne recrevrez non plus de satisfaction des uns que des autres sur les effets, la cause desquels est cachée dans l'interieur des individus.«

207 2. Die Konjunktur von De generatione animalium

11,3

Aristoteles hat an einzelnen Stellen seines Werkes, in sehr vagen und vorsichtigen Formulierungen, Bedingungen für so komplexe Phänomene wie Leben und Erkenntnis eingeräumt, die über den sonst benutzten Erklärungsrahmen hinausgehen. So spricht er in seinem späten Text De generatione animalium von dem, was den Samen dazu befähigt, daß sich ein Lebewesen aus ihm entwickelt: Es sei Wärme, allerdings nicht die elementare Wärme des Feuers, sondern eine andere Wärme; man könne sie mit dem Element, aus dem die Sterne sind, also dem Äther vergleichen. Als lateinischen Text las man diese Passage so: »Inest nempe in semine omnium, quod facit ut foecunda sint semina, videlicet quod calor vocatur, idque non ignis, non talis facultas aliqua est, sed spiritus, qui in semine spumosoque corpore continetur, et natura, quae in eo spiritu est, proportione respondens elemento stellarum.« 8 Diese vorsichtigen Formulierungen haben eine eigene Geschichte durchgemacht, während derer aus ihnen eine fundamentale Zweiteilung der Wärme geworden ist, während derer das vage proportione respondens elemento stellarum zu einer himmlischen Qualität vereindeutigt oder als göttlich ausgedeutet worden ist. Doch die Deutungen haben nicht zu jeder Zeit eine große Rolle gespielt. Die Texte über das calidum innatum wurden oft dominiert von den Aristoteles-Stellen aus dem IV. Buch der Meteorologie. Wenn man dazu Galen-Stellen heranzog, hatte man ohnehin eine vornehmlich naturalistische Auffassung der Lebenswärme vor sich. Die Beispiele, die ich im folgenden nenne, können wegen der Fülle der Quellen nicht streng repräsentativ sein; dennoch ergibt die Durchsicht vieler einschlägiger Texte ein relativ deutliches Bild für das frühe und mittlere 16. Jahrhundert. Wenn der Neapolitaner Mediziner Bozzavotra in seiner kleinen Monographie De calido nativo von 1542 neben Galen einmal Aristoteles zitiert, dann bezieht er sich ausschließlich auf Meteorologica IV, aber nicht auf De generatione animalium.9 Oder nehmen wir einen anderen Text, den eines Philosophen. Marcantonio Genua, der in den 1540er Jahren in Padua seine Philosophievorlesungen hält, 10 erwähnt die Aristotelische Stelle im De an/ma-Kommentar zwar, aber nur beiläufig. Sie ist eingebettet in eine Reihe von Angaben aus Averroes und Petrus von Abano und Pietro 8

9 10

So die Aristoteles-Averroes-Ausgabe Venedig 1562: Aristotelis et Averrois Opera omnia. Hg. von M. A. Zimara und B. Tomitiano. Ndr. Frankfurt 1960. Bd. 6. S. 74 H/I. J. Bozzavotra, Quaestiones de calido nativo. Neapel 1542. Vgl. Lohr, Art. >JanuaeGöttlichen< einräumen. Nach Fernel ist eine deutlich gestiegene Aufmerksamkeit für die Stelle 11,3 zu verzeichnen. Erörterungen über das calidum innatum, die auch von ihrer Zahl her zunehmen, steuern fast zwangsläufig auf diesen Punkt zu. Die Stelle verdrängt die sonst üblicheren Meteora IV-Zitierungen; Fernel-Anhänger bauen die Konnotationen des >himmlischen< Charakters weiter aus, besonders in platonischer und christlicher Richtung; konservative Aristoteliker bis hin zu Cremonini sehen sich genötigt, die Spekulationen einzudämmen. Joachim Cureus beispielsweise, lutheranischer Aristoteliker aus Wittenberg, weist Ferneis Berufung auf 11,3 als eine Strapazierung dieser Stelle zurück. »Fernel betont in seinen Dialogen sehr jene Stelle bei Aristoteles, die sich im zweiten Buch De generatione animalium, Kapitel 3 findet.« 15 14

15

J. Fernel, De abditis rerum causis. Paris 1548. S. 151: »Sic enim ohm Platonici corpus quoddam excellentis naturae perlucidum et aethereum, animae facultatibusque substerni prodiderunt, quo illae cum terreno et denso corpore consocierentur. Hoc in problematis imitatus Alexander Aphrodisaeus: quod Aristoteles plane indicaverat, spiritum animae facultatumque corpus, et illius divinam ac coelestem esse naturam, quae respondeat elemento stellarum. Locus est enim libro superiore produxi [Marginalie: Lib.2 D e generat. Animalium, cap. 3] : Sed enim (inquit) omnis animae sive virtus sive potentia, corpus aliud participare videtur: idque magis divinum, quam ea quae elementa appellantur. Verum prout nobilitate obscuritateve animae inter se differunt, ita et natura eius corporis differt. Inest enim in semine omnium, [...].« J. Cureus, Libellus Philosophicus, continens doctrina de natura et differentiis colorum, sonorum [...]. Wittenberg 1572. S. 263: »Fernelius in Dialogis suis multum urget locum ilium Aristotelis, qui est in secundo libro de ortu animalium, cap. 3.« Vgl. auch Cureus gegen Fernel S. 264: »Quia igitur Aristoteles calorem nominavit corpus divinum, et dixit, illud esse analogon elemento stellarum, inferí inde Fernelius, calorem esse aethereum et coelestem, nullo modo cognatum elementis. Non accusabo Fernelium, virum de Philosophia et nostra arte meritum praeclare, sed tarnen manifestum est, ipsius paradoxa de caelesti origine formarum, quae inducuntur arcano modo, non vero educuntur per generationem ex materia: item has hyperbolas de calore et spiritu aethereo et similes, praebere occasionem ingeniis petulantibus et ventosis, ut temere a doctrina veterum discedant, et quasi concitata seditione omnes artes conturbent. Nos retinemus intellectum, qui congruit cum perpetua mente autoris: Calor est divinus, quia similis est divino vel aeterno corpori: et est quid analogon coeli, quia similes habet effectiones, quales corpus coeleste habet in hac natura inferiore.«

210 Die Wirkung Ferneis läßt sich noch 1651 bei William Harvey feststellen, der im dem calidum innatum gewidmeten Teil seines De generadone animalium die Stelle 11,3 sogleich im Zusammenhang mit Fernel bespricht. 16 Harveys Lehrer Cesare Cremonini hatte im übrigen 1623/ 26 ein De calido innato gegen den Paduaner Kollegen Caimo verfaßt. 17 Wenn Cremonini sich gegen neuplatonisierende Ausdeutungen der Aristotelesstelle wendet, dann tut er es bezeichnenderweise mit Albert, aber gegen Fernel. Wir werden dieser Struktur noch öfter begegnen: Offenbar ist in Albertus Magnus (im Meteora-Kommentar) und den avicennistischen Strömungen der Naturphilosophie schon angelegt, was im 16. Jahrhundert durch Fernel vor aller Augen tritt. 18 Fernel mag wie eine Verstärkung dieser Avicenna-Albert-Tradition gewirkt haben, wie ein offenes Heraustreten dieser Strömung aus der Schulmedizin, um sich humanistisch und platonisch zu geben, in pointierter Absetzung jetzt von eben dieser Schulmedizin. Aristoteliker wie Cremonini versuchen dann, die Interpretation mit Albert innerhalb des Aristotelismus zu halten und so Ferneis Pointierungen abzuwehren. Dennoch: Auch wenn Ferneis Universa medicina in Konkurrenz zu Avicennas Canon tritt und ihn als Lehrbuch verdrängen will, darf man nicht übersehen, daß Fernel in der Betonung des calidum innatum und auch in den Anbindungen an einen göttlichen Formengeber völlig in der Tradition Avicennas steht. Es sind die Naturalisten, die Anhänger Alexanders und Galens, von denen er sich in der Sache absetzt. Fernel hat vielleicht in Nordeuropa stärker gewirkt als in Italien, wo man avicennistische Autoren aus eigener Tradition hatte. 19 So zum Beispiel Contarini, der das vierte Buch von De elementis mit einem indirekten Zitat der Aristotelesstelle beschließt; er verweist dort, bei aller Exzellenz der elementaren Wärme und ihrer Fähigkeiten in Mischungen, auf den Unterschied zur Lebenswärme: »Was nämlich ist daran verwunderlich, wenn die untergeordnete Kraft in der höheren und exzellenteren enthalten ist? Wir sagen deshalb, daß jene Mischungen mittels natürlicher Vermögen oder Eigenschaften wirken, 16 17

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W. Harvey, De generatione animalium. Amsterdam 1651. S. 470ff. Vgl. dazu H. C. Kuhn, Venetischer Aristotelismus im Ende der aristotelischen Welt. Aspekte der Welt und des Denkens des Cesare Cremonini (1550-1631). Bern 1996. Kap. 3.4. Zur Avicenna-Rezeption in Italien vgl. M. Heitzmann, »L'agostinismo avicennizzante e il punto di partenza della filosofia di Marsilio Ficino«. In: Giornale critico della filosofia italiana 16 (1935). S. 295 - 322, 460 - 480; 17 (1936), S. 1 11; M.-T. d'Alverny, Avicenne et les médicins de Venise. In: Medioevo e Rinascimento. Studi in orore di Bruno Nardi. Firenze 1955. Bd. 1. S. 178-198; Ν. G. Siraisi, Avicenna in Renaissance Italy. The Canon and Medical Teaching in Italian Universities after 1500. Princeton 1987. Zur Rezeption von Fernel in Padua vgl. Ν. G. Siraisi, Avicenna in Renaissance Italy. S. 102.

211 mittels dieser Wärme oder Hitze; und außer diesen auch viele andere, über die die Mediziner schreiben. Sie sind aber nicht geeignet, Wirkungen dieser Art hervorzubringen, wenn sie nicht von einer animalischen Wärme erzeugt worden sind - einer Wärme, die der ätherischen Wärme ähnlich ist und durch die alle Kräfte erzeugt und zu den jeweiligen Aktionen befördert werden.« 20 Die nach Fernel neu und verstärkt aufgeflammten Diskussionen um das calidum innatum haben auch ihre Wirkungen auf die Aristotelesstelle De gen. an. 11,3 als autoritativen Ort gehabt: Die Stelle wird sehr geläufig, man konzentriert sich schnell auf ihre Aussagen, wenn es um Lebenswärme geht, und vor allem - man wird unbedenklicher im Umgang mit ihr, man tut sich leicht als Naturphilosoph mit platonischem Hintergrund, diesen Text eines Aristoteles anzuführen, der ja auch die himmlische Natur des Lebens vertrete. Als Beispiel für diese Unbedenklichkeit, die aus der platonisch-aristotelischen Irenik der Spätrenaissance resultiert, seien nur Campanella und Cesalpino genannt. Der Campanella von De sensu rerum et magia hat nicht zufällig den avicennistischen Begriff der Colcodea21 - jenes dator formarum, der für die Zuordung von konstanten Formen gegenüber den komplexionalen Elementarprozessen sorgt - als Gottesbegriff aufgenommen. Denn seine platonistische Lesart Telesios bringt ihn genau wieder auf die Spuren jener Tradition, die von >himmlischen< Einflüssen auf die Naturvorgänge gesprochen hatte. Anführungen der Aristotelesstelle bei Campanella sind keine ernstgemeinte Interpretation, sondern eine willkommene Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß ja auch Aristoteles den himmlischen Einfluß zugebe. »E altrove, in ogni seme dice essere il calor fecondo simile all'elemento delle stelle.«22 Andrea Cesalpinos medizinisches Lehrbuch, das unter dem Titel Káτοπτρον sive speculum medicae hippocraticum 1605 erscheint, beginnt gleich auf Seite 2 mit einem einführenden Abschnitt De calido innato. Und bereits der erste Satz sagt: 20

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G. Contarini, De elementis. S. 72: »Quid enim mirum est, si inferioris virtus contineatur in superiori et excellentiori? Dicemus ergo, quod mixta illa per naturales potentias seu proprietates agunt, eum calorem, seu rigorem: multaque alia praeter haec, de quibus medici tractant. Non autem aptae sunt cogéré huiusmodi effectus, nisi excitatae fuerint a calore animalis: qui similis est aethero tepori; a quo vires omnium excitantur et promoventur ad suas quaeque actiones.« Latinisiert auch als dator formarum\ zur Tradierung des Begriffes in der Renaissance, etwa durch Nifo, vgl. A. Bruers, La >Colcodea< d'Avicenna e T. Campanella. In: T. Campanella, Il senso delle cose e la magia. Hg. von A. Bruers. Bari 1925. Appendice. S. 339-341, in dem die Forschungen von C. A. Nallino resümiert werden. Vgl. weiter H. A. Wolfson, Studies in the History of Philosophy and Religion. London 1973 und 1977. Campanella, Il senso delle cose e la magia. S. 47.

212 Von der eingeborenen Wärme spricht Aristoteles zum Beispiel in D e Gen. An. II, daß im Samen aller Dinge enthalten ist, was macht, daß die Samen fruchtbar sind, was Wärme genannt wird, nicht Feuer, aber Spiritus, der in Proportion dem Element der Sterne entspricht, ein Körper nämlich, der an der Fähigkeit und dem Vermögen der ganzen Seele teilzuhaben scheint, mehr göttlich als was Elemente genannt wird, je nachdem in welcher Edelheit oder Unedelheit sich die Seelen unterscheiden. [...] Es genügt anzunehmen, daß dieses Prinzip das in der Medizin am meisten notwendige ist; daß die eingeborene Wärme, die den ganzen Körper regiert, in sich eine himmlische Fähigkeit enthält, die im Menschen bei weitem edler und vollkommener ist als bei den übrigen sterblichen Wesen. 23

Cesalpino ist ein Aristoteliker, der sich den neuen Strömungen der Allbelebtheit des Kosmos und des Analogiedenkens zwischen den diversen Lebensbereichen angeschlossen hat, um aus den Analogien empirische Thesen zu formen. 24 Es gibt zur Aristotelesstelle andere loci, die zu ihr in einer Allianzbeziehung stehen, das heißt die oft dort in einer textuellen Nähe angetroffen werden, wo auch die erste Stelle zitiert wird. Eine solche Allianzstelle ist das Hippokratische Diktum, daß etwas Göttliches in den Krankheiten ist. Davon spricht Hippokrates in den Prognostica.25 Das Diktum konnte als pathologisches Pendant zur physiologischen Aussage des Aristoteles über die Wärme gelesen werden. In der Tat trifft man das Hippokrates-Zitat besonders dort an, wo, von Fernel und seiner Schule an bis zu neuplatonisierenden Aristotelikern, der Lebensbegriff supraelementarisch aufgefaßt worden ist. Fernel geht in De abditis rerum causis explizit von diesem Diktum aus,26 Cesalpino begründet von ihm her seine Ergänzung zu den Quaestiones peri-

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A. Cesalpino, κάτοπτρον sive speculum medicae hippocraticum. Frankfurt 1605. S. 2f.: »De calido autem innato inquit Arist. 2. Gen. an. e.g. in semine omnium inesse, quod facit ut foecunda sint semina, quod calor vocatur, non ignis, sed spiritus proportione respondens elemento stellarum, corpus scilicet, quod omnis animae virtus seu potentia participare videtur, magis divinum quam quae elementa a p p e l l a n t e , prout nobilitate aut ignobilitate animae differunt; [...]; 4: Satis enim est accipere hoc principium in Medicina maxime necessarium; Calidum innatum, quod totum corpus regit, continere in se virtutem coelestem, quae in homine longe nobilior et perfectior est, quam in caeteris mortalibus.« Zu Cesalpino vgl. auch Kap. VI. »Et si quid divini in morbis inest, etiam huius praenotionem ediscere. Ita enim merito admirationi fuerit et medicus bonus extiterit.« Hippocratis Coi liber Praenotionum. In: Hippocratis Coi Medicorum omnium longe principis, Opera quae ad nos extant omnia, per Janum Cornarium medicum physicum latina lingua conscripta. Venetiis 1546. S. 529. Vgl. D e abditis rerum causis. Praefatio; dazu M. L. Bianchi, Occulto e manifesto nella medicina del Rinascimento. In: Atti e Memorie dell' Accademia Toscana di Scienze e Lettere La Colombaria, XLVII (1982). S. 185-248; S. 188ff.

213 pateticae, die er Daemonum investigado peripatetica nennt. 27 Aber auch der aristotelische Satz aus Physik II, text. 26 - Sol et homo generat hominem - wird gern in diesen Zusammenhängen zitiert. Man kann ihn so verstehen, daß dort neben der >horizontalen< Weitergabe der Formen auch der >vertikale< Einfluß der Sonne und der himmlischen Wärme benannt ist. Bei Francesco Patrizi zum Beispiel findet man alle diese Stellen in unmittelbarer Nachbarschaft. Im Abschnitt De primario calore seines großen Buches Nova de universis philosophia von 1591 heißt es: »Die Sonne nämlich und der Mensch zeugen einen Menschen. Und die Wärme, die in den Lebewesen ist, entspricht dem Element der Sterne; wenn allerdings die Sonne länger auf uns einwirkt, vertilgt sie die von ihr erzeugte Sache auch wieder. Das ist von Hippokrates sehr geschickt formuliert worden: Dieselbe Wärme, die uns konstituiert, vertilgt uns auch. Aber sie sind die Herzen der Dinge, die Wärme und das Feuer, die belebende Kraft nämlich, durch die sie allen Dingen, mit denen sie sich selbst verbindet, Leben und Beseelung zukommen läßt [.,.].« 28 Doch fragen wir nun direkt zur Sache des calidum innatum.

3. Physiologie in Kommentaren zu Aristoteles, Galen und Avicenna Die unmittelbare Evidenz des Unterschiedes zwischen der Wärme eines lebenden Wesens und ihrer Abwesenheit im toten Körper hat schon in der Antike die Auffassung begünstigt, daß Leben nur unter Rekurs auf eine Konzeption von Wärme zu erklären sei. Hippokrates spricht von einer eingeborenen Lebenswärme, setzt sie in Beziehung zur krankhaften Wärme des Fiebers und zur Wärme und Kälte der äußeren Umgebung. 29 Auch für Aristoteles ist der Begriff der Wärme Explanans für Lebensprozesse; in den Parva naturalia, insbesondere aber im IV. Buch der Meteorologie. Der große Kommentator ist hier Albertus Magnus gewesen. 30 Die Galenischen Zentralstellen zum ca27

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A. Cesalpino, D a e m o n u m investigatio peripatetica. Florenz 1580; vgl. Saitta II. S. 254ff. F. Patrizi, Nova de universis philosophia. Ferrara 1591. Fol. 76v b: »Sol enim, et homo hominem générant. Et calor qui in animalibus est, elemento respondeat stellarum: attamen si quando diutius nos ferit sol, res a segenitas etiam consumit. Et ab Hippocrate scitissime est pronunciatum. Idem calor, qui nos constituit, etiam consumit. Sed animi rerum, calor, ignisque, vigor nempe vivificus, quo rebus omnibus, quibus ipse iungitur, vitam tribuit, et animatione [...].« Vgl. etwa Hippokrates, Aphorismen; Septenarium; D e natura foetus. Vgl. (mit Belegen aus Biagio Pelacani di Parma) G. Federici Vescovini, >Arti< e filosofia nel secolo XIV. Studi sulla tradizione aristotelica e i >modernitraditionelle< und >neue< Naturphilosophie im Problembestand verknüpft sind, macht die CHRP die deutliche Trennung in zwei verschiedene Abschnitte; zu meiner Kritik daran vgl. Mulsow, Rezension zur »Cambridge History of Renaissance Philosophy«. In: Philosophisches Jahrbuch 97 (1990). S. 435-438. R. Megliorati, D e putredine, ad Argenterium. Florenz 1552; vgl. auch N. Siraisi, »Giovanni Argenterio and Sixteenth-Century Medical Innovation. Between Princely Patronage and Academic Controversy«. In: Osiris 6 (1990). S. 161 — 180. L. Joubert, Paradoxae demonstrationes medicales. Lugduni 1566.

217 ner Aristoteliker Mercenario geht es in den achziger Jahren dezidiert um das Problem der Fäulnis.36 Die Kommentare zur Aristotelischen Meteorologie IV, zu Galen, zu Avicennas Canon tradieren die je spezifischen Behandlungsweisen des calidum-Problems. Außerdem geht man in der - gelegentlichen Kommentierung der Aristotelischen Parva naturalia auf das Wärmeproblem ein, auch in den Werken über Lebensentstehung, Entwicklung und Spontangeneration. Bei botanischen oder mineralogischen Werken hat man immer auch den Ansatz zu bekennen, von dem aus man diese Bereiche angeht, und an welche Vorstellungen der konstituierenden Wärme man anknüpft. Es ist ein Symptom für die gewachsene Komplexität der physiologischem Fragen im 16. Jahrhundert, daß ein Meteora-Kommentar wie der des Bologneser Professors Buccafereus zu Dimensionen anwachsen kann, die seine anderen Kommentierungen übersteigen. Allein die Vorlesungen über das IV. Buch der Meteorologie aus den dreißiger und vierziger Jahren, die 1563 separat veröffentlicht wurden, füllen einen Folianten mit 300 Seiten. 37 Ein Symptom sind auch die nach und nach erscheinenden Monographien. Es gibt bis zum Jahre 1573 kaum wirkliche Monographien zum Thema der Wärme, auch wenn die Abhandlungen etwa Ferneis große Abschnitte in seiner Universa medicina ausmachen. 38 Es ist dann ein Mediziner aus der Provinz in Perugia, Sebastiano Paparella, der das gestiegene Bedürfnis nach einer einheitlichen Abhandlung über elementare Wärme, Lebenswärme und Fieberwärme aufgreift und ihm in einem umfassenden De calido libri III genüge tut. Paparella ist sich im Vorwort dieser Lage bewußt: »In der Tat, deshalb, weil die alten Philosophen und Mediziner nichts darüber geschrieben haben, oder zumindest weil von dem, was sie geschrieben haben, praktisch nichts auf uns gekommen ist, wurde bis jetzt jemand ersehnt, der die Arbeit auf sich nehmen würde, über die Natur der Wärme, ihre Attribute und Wirkungen zu schreiben.« 39 36

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Zu den Diskussionen vgl. I. Lonie, Fever Pathology in the 16th Century. Tradition and Innovation. In: Theories of Fever from Antiquity to the Enlightenment. Hg. von W. F. Bynum und V. Nutton. (Medical History. Beiheft 1). London 1981. S. 19-44. L. Buccafereus, Lectiones in IV libros Meteorologicorum Aristotelis. Venedig 1563; zu Buccafereus (Boccadifero) vgl. Lohr, Art. Buccafereus. Vgl. auch Persios Auseinandersetzung mit Buccafereus in De natura ignis et caloris. J. Fernel, Universa Medicina. Paris 1554. Teil I. Kap .IV. S. Paparella, D e calido libri tres. Perugia 1573. Dritte Seite der Praefatio. »Verum vel propterea quod nihil de eo [phylosophi, et medici veteres] scripserint, vel quod scripserint quidem, eorum tarnen libri minime pervenerint ad nos; desiderabatur adhuc aliquis, qui hunc laborem sumeret, de caloris natura, attributis, atque effectibus disserendi.« Paparella fährt fort: »Ego igitur, non

218 Schon kurze Zeit später folgen in Rom 1586 eine weitere Monographie über die Lebenswärme von Sallusto Salviani40 und in Venedig 1584 eine Monographie über die Spiritus von Domenico Bertacchi. 41 In dem relativ kurzen Zeitraum von 1550 bis 1580 hat also die Wissenschaftsdiskussion eine Anreicherung und Ausformulierung dieses ganzen Komplexes erfahren. Es ist dies exakt die gleiche Zeit, in der sich auch die sogenannten >neuen Naturphilosophien konstituieren. 42 Ein Beispiel dafür, wie leicht und elegant die Schulmedizin die neuplatonischen Theorien eines Ficino in sich aufnehmen konnte, weil sie seit Albert und den avicennistischen Strömungen eigenes, zu diesem affines Gedankengut in sich hatte, ist die kleine und wenig beachtete Schrift des eben genannten Sebastiano Paparella, De efficientia primi motoris in naturalium rerum omnium factura.43 Paparella behandelt die >vertikale< Verursachungsrichtung von der prima causa des ersten Bewegers hinab in die Lebensprozesse hinein, die das Thema der Medizin sind. Man kann hier studieren, wie das Naturund Weltbild eines Mediziners, der sonst Kommentare zu Hippokrates 44 oder Abhandlungen über Kartharre 45 verfaßt, in einem weitergehenden, aber immer noch naturwissenschaftlichen Rahmen, sehr platonisch beeinflußt sein kann. Der Einfluß beschränkt sich keineswegs nur auf Humanisten oder eine populär-moralische filosofia d'amore. Die Ursache ist, wie schon erwähnt, daß die Grundbegriffe der Wissenschaft vom Lebendigen, wie eingeborene Wärme, Spiritus und Zeugungskraft, immer der Ansatzpunkt für eine Rationalität des >Himmlischen< in der Medizin gewesen sind. Längst vor Ficino und Fernel sind diese Konzepte von Albert in seinem Metheora-Kommentar und anderen Rezipienten Avicennas in die Schulmedizin übernommen worden. So kann Paparella der Ficinianischen Fünfzahl der ontologischen Stufen von Gott abwärts zwanglos eine entsprechende Stufenzahl benennen, die aus der aristotelisch-galenischen Sprache

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quod ingenioli mei viribus admodum confiderem, quas perexiguas esse optime novi; sed ut illud temporis, quod ab interpretandi publico muñere, medendique; labore mihi relinquebatur, honeste, atque in litteris consumerem, quibus me sestagesimum iam agentem omnem nihil magis nec delectat, nec delectare aut debet; aut potest, universum hoc negocium suscepi.« Das Werk konnte also ohne die Lehrplanbindungen auf Kommentierungen bestimmter Werke geschrieben werden. S. Salviani, De calore naturali acquisitio et febrili. Rom 1586. D. Bertacchi, D e spiritibus. Venedig 1584. Zu den neuen Naturphilosophien vgl. A. Ingegno, The New Philosophy of Nature. In CHRP S. 236-263. S. Paparella, De efficientia primi motoris in naturalium rerum omnium factura liber. Florenz 1562; zu Paparella siehe auch unten Abschnitt 6. Paparella, D e natura humana. Venedig 1551. Paparella, D e Cartharro. Camerium 1556.

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der Medizin schöpft. Wo es bei Ficino heißt deus-angelus-anima-corpus-qualitas, unterscheidet Paparella primi mobilis motor - pianetarum motores - generatrix facultas - connatum viventis calidum - formater spiritus.46 Das ist noch ein Schritt über den Avicennismus Contarinis hinaus. Paparella macht die Entsprechung zu Ficino nicht explizit, aber dem zeitgenössischen Leser, zumal wenn er die Berufungen auf Orpheus oder Trismegistos hörte, ist sie auch so sichtbar gewesen. 47 In Paparellas späterem Buch De calido, das nicht wie das frühere als >Essay< verfaßt und in italicis gedruckt ist, sondern sich in antiqua an das medizinische Fachpublikum wendet, ist es dann Albert und nicht mehr der hinter der Anspielung Platonici stehende Ficino, der zitiert wird. 48 Nichts verdeutlicht besser als diese Austauschbarkeit je nach angesprochenem Leserkreis die Nähe von den Lebensbegriffen in der Medizin und den neueren philosophischen Strömungen. Man muß also in der Schulmedizin mit mehr hintergründigem >Platonismus< rechnen, als die Terminologie prima facie verrät. Anders ausgedrückt: Die Transformation des Aristotelismus und der galenisch-avicennistischen Medizin geht unter einem platonischen Einfluß vor sich, der zum Teil aus nichtuniversitären Bereichen indirekt auf die Schulwissenschaft wirkt. Von dieser Sicht aus ist die Galen-Konjunktur der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch als eine Gegenbewegung in Betracht zu ziehen. Ich habe das im Falle Ferneis schon erwähnt, und wir werden diese Ambivalenz auch im Abschnitt 5 etwas genauer beleuchten. Die galenischen Schriften waren durch die Philologen des medizinischen Humanismus am Beginn des 16. Jahrhunderts nach und nach neu ediert und übersetzt worden, so daß in einem Prozeß von wenigen Jahrzehnten ein umfassendes corpus zur Verfügung stand, mit großer Wirkung auf den Fortgang der Medizin. R. Durlings Chronological Census hat gezeigt, in welcher imposanten Quantität, mit oft 15 bis 20 Editionen jährlich, die Galenausgaben auf den Buchmarkt des frühen 16. Jahrhunderts drängen. Einen Höhepunkt markieren die vierziger Jahre, dann ebbt die Intensität der philologischen Arbeit langsam ab. 49 Bevor ich das Phänomen >Galenismus< etwas genauer in den Blick nehme, ist es nötig, die Überschneidungen von medizinischen und philosophischen Diskussionen deutlicher zu erkennen. 46

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Nach diesen Stufen untergliedert Paparella seine Kapitel; vgl. D e efficientia primi motoris. Fol. 3. Vgl. ebd. Fol. lOr, 12r und öfter; Fol. l l v spricht Paparella in deutlicher Anspielung an Ficinos De vita vom »triplex ordo vitae«. Vgl. Paparella, D e calido libri tres. Perugia 1573. Vgl. R. Durling, » A chronological Census of Renaissance Editions and Translations of Galen.« In: Journal of the Warburg and Courtauld Insitutes 24 (1961). S. 2 3 0 - 3 0 5 .

220 4. Der Hintergrund der De an/ma-Diskussion, Ficino, Fernel und Cardano Nicolas Nancel, ein französischer Naturphilosoph und Ramus-Biograph, fügt an jene Stelle seiner großen Enzyklopädie De microcosmi ad macrocosmum analogia, wo es um das calidum innatum geht, einen Exkurs ein: De immortalitate animae. Denn es geht ihm um die Gleichsetzung von calidum und Seele, die er bei Galenisten beobachtet, und die er mit Argumenten aller Art bekämpfen will. Der Herausgeber beschreibt sein Vorgehen so: »Und indem er es ad absurdum führt, entkräftet er das gottlose Anhängen der Sterblichkeit der Seele; teils aus Argumenten der großen Philosophen und des heidnischen Anteils der prisca theologia, teils aus der sakralen Autorität beider Testamente weist er es zurück; mit diversen Historien und eigenen Gründen hat er gegen die falsche, gottlose und von verdammenswerten Gefahren volle Ansicht und für die Fähigkeiten des Geistes argumentiert, sie besiegt und niedergemacht.« 50 Naneéis Text ist ein spätes Zeugnis für die Verquickungen der medizinischen Diskussionen um das calidum mit denen über das Wesen und die Unsterblichkeit der Seele.51 Da die Aristoteliker der Bestimmung von >Seele< als Form eines lebendigen organischen Körpers gefolgt sind, sind sie in ihren Erörterungen immer auch von der Körpergebundenheit der Seele ausgegangen. Hier treffen sie sich mit den Medizinern, die an der Seele nur wegen ihrer organischen Lenkungsfunktion interessiert sind. Mediziner haben sich leichter getan, diese Seele mit Galen oder Hippokrates kurzerhand mit der Wärme zu identifizieren.

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N. Nancel, De Microcosmi ad Macrocosmum analogia. Paris 1611. S. 84b/85a: »Postquam de summi Dei & hominis analogia quadam, excellentiaque ac dignitate, opere in id dicato, praefatus est Nancelius: partim mundi universalium cum praeeipuis hominis partibus comparationem instituit, aetheris cum anima, coeli & planetarum capite ac sensibus, eorumque dueibus atque authoribus nervis a cerebro exortis. deinde meteorum & aeris, aeriarumque impressionum, cum spiritibus, & iis quae in capite fiunt, atque ab eodem defluunt. Hinc de caloris nativi cum igne elementari, proportione agere incipit: deque illius vi ac dominatu in humano corpore, adversariique caloris externi tyrannide: reliqua subinde eodem opere percursurus elementa, & cum humanis contentis, continentibus & impetentibus sigillatim & adamussim collaturus. Qua ex occasione, Galeni sententiam de anima (ceu calore isto nativo) eiusque substantia, exagitat: atque ex absurdo, consectarium impium de animae interitu elevat; partimque rationibus magnorum philosophorum, et priscae Theologiae ethnicae momentis; partim authoritate sacri utriusque instrumenti confutat, et variis historiis, privatisque rationibus, falsam, impiam, erroris et periculi damnosi plenam opinionem, pro ingenii viribus, arguit, convincit, et confiât.« Zu den letzteren vgl. G. di Napoli, L'immortalità dell' anima nel Rinascimento. Torino 1963.

221 Man muß deshalb von der Nähe ausgehen, die auf der philosophischen Seite Alexandrinisten, 52 auf der medizinischen Galenisten zueinander gehabt haben; ihr Naturalismus ist die gemeinsame Tendenz. Auf der anderen Seite scheint die Allianz etwas komplexer zu sein: Den Medizinern, die mit avicennistischen Richtungen und dann vor allem mit Fernel etwas Göttliches im Menschen annehmen, stehen auf der philosophischen Bühne die Platoniker zur Seite, aber auch jene simplicianisch-averroistischen Aristoteliker, die sich stärker den platonischen Strömungen geöffnet haben. 53 Bei der Überschneidung der Disziplinen und der Diskussionen ist es besser, die alternierenden Richtungen eher jeweils als Einheiten zu behandeln als die disziplinaren Ausrichtungen. Im einzelnen ist diese Verquickung von calidum- und anima-Diskussion noch ein unbearbeitetes Forschungsfeld. Man kann aber und das will ich hier für drei Fälle tun - diese Allianzen auch intern in den Argumentationsstrukturen aufzeigen. Ich will nur andeuten, wie aus der disziplinübergreifenden Perspektive Linien sichtbar werden, die zwanglos von den Theorien der Lebenswärme zu den berühmten Lehren zur Seele, ihrer Individualität und Immortalität führen. Die Avicenna und Albertus folgende Linie in der frühen Naturphilosophie der Renaissance, die in der Lebenswärme die Repräsentanz eines >himmlischen< Einflusses sieht, macht ja Verbindungen zum Vermittlungsdenken der Platoniker möglich, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß in dieser Linie auch die Ermöglichung der Rezeption der neuplatonischen Texte und der neuplatonischen griechischen Aristoteleskommentatoren zu suchen ist - in internen Erfordernissen der Schultradition selbst. 54 Wenn Ficino sich in der Theologia platonica den Theorien der Seele aus der naturalistischen Tradition des calidum innatum zuwendet, 55 sie in einer Reihe examiniert und schließlich ablehnt, dann 52

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Soweit man diesen verallgemeinernden Terminus überhaupt verwenden kann. Gemeint sind Aristoteliker mit naturalistischer Tendenz. Vgl. E. Keßler, »Von der Psychologie zur Methodenlehre. Die Entwicklung des methodischen Wahrheitsbegriffs in der Renaissancepsychologie«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987). S. 548-570. Diesen Gedanken betont E. Keßler, The Transformation of Aristotelianism during the Renaissance. Vgl. Ficino, Theologia Platonica VI,1 (Théologie platonicienne de l'immortalité des âmes. Hg. und ins Frz. übers, von R. Marcel. Paris 1964. Bd. I. S. 222/224): »Aut enim anima corpusculum aliquod est tenuissimum corpori huic crassiori suffusum, sive igneum id sit ut Democritus, Leucippus et Hipparchus existimant, [...]. Aut melius aliquid est anima, id est non moles ipsa corpusculi sparsa, puta calor vel complexio calida, quod voluisse videntur Zeno [...]. Aut purius aliquid, veluti punctum aliquod lucidum qualitatis illius in quadam ipsius qualitatis et corpusculi parte potiori, puta corde vel cerebro assignatum, ibi

222 kann man diese Reihe auch als immer weitere Präzisierung hin zu einer adäquaten Seelenauffassung ansehen, in der die anderen, naturalistischen Positionen >aufgehoben< sind. Ficino nennt erst den Spiritus, dann die eingeborene Wärme, dann eine in einem Punkt, in der Körpermitte konzentrierte Wärme, schließlich einen nichtlokalisierten Punkt von höchster Qualitätsintensität. Diese Beschreibungen nähern sich immer mehr an die ficinianische Theorie der Seele als eines endlich-unendlichen Vermittlungspunktes an. Doch verfolgen wir ein wenig die Konnotationen des Begriffs >Punktaufgehobenen< Theorien der Seele her, werden die >realen< Konnotationen von Punktualität angezeigt: Sie weisen auf den Punkt als Kondensat von Wärme, von Lebenswärme. Denken wir an Bovillus, für den die Punktualität der antiperistasis, als reale Manifestation der coincidentia oppositorum, das Paradigma von Aktivität überhaupt war. Und in Contarinis Erklärungen wurde durch das Zusammenziehen auf einen einzigen Punkt eine solche Intensität erreicht, daß Aktion möglich wurde. So ist auch für Ficino erst Kontrarietät und Intensitätssteigerung die Voraussetzung für wirkliche Aktion. Er ist damit ganz in Übereinstimmung mit Gaetano, seinem Zeitgenossen, und Ficino fügt noch das Moment der Unkörperlichkeit hinzu, das bei einer punktuellen Konzentrierung der Terminus ad quem ist. Für den Platoniker zeigt das: Das Prinzip von Aktion ist selbst nicht körperlich, es führt hinaus aus der Welt der Prozesse zu einer Rationalität der Einheit. 56 Corpus natura sua nihil

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residens, inde reliqua membra gubernans, ut est apud Chrysippum, Archelaum et Heraclidem Ponticum. Aut liberius adhuc quiddam, ceu punctum aliquod nulli parti affixum, sed ab omni determinatio situ seclusum, ac totum parti corporis cuique praesens, sed tale ut sit ab ipsa corporis natura dependens. Dependens, inquam, duobus modis scilicet, vel quia corporis complexio ipsum genuerit, vel quia licet complexio ipsum non genuerit, tamen genitor suus, quicumque sit ille, ipsum ex materiae potentia eiusque visceribus eduxerit, id est ex aliquo semine sive inchoatione seu proportione materiae ipsius in lucem eruerit atque ipsi materiae, tamquam naturali gremio, prorsus addixerit. [...] Aut postremo divinum quiddam est hominis anima, id est aliquid individuum, totum cuique parti corporis adstans et ab incorporeo authore ita productum, ut ex agentis virtute solummodo, non ex materiae inchoatione aut capacitate aut formento dependat, sicut nos docent prisci theologi. [...].« Man kann hier durchaus Parallelen zu Telesios Theorie des Rückzugs des Spiritus im Schlaf in die Gehirnventrikel als seinem eigentlichen Ort ziehen (vgl. Kap. V). Zwar ist der Gedanke des Rückzugs auf sich selbst durchaus traditionell, aber in ihm liegen auch die Vorstellungen, daß punktuelle Konzentration als Selbstbezogenheit eine Voraussetzung für Aktivität und auch für Selbster-

223 agit, s a g t g l e i c h d a s z w e i t e K a p i t e l d e s e r s t e n B u c h e s d e r platonica51.

Theologia

U n d F i c i n o b e z i e h t sich d a b e i auf d i e V e r e i n i g u n g d e r

W ä r m e , s e i e s i m Fall d e r antiperistasis,

s e i e s i m Fall v o n B r e n n s p i e -

g e l n . » U n d w e n n s e i n e g a n z e W ä r m e g l e i c h s a m auf i h r e n P u n k t z u r ü c k g e t r i e b e n wird, w i r d sie w e g e n d e r m a x i m a l e n V e r e i n i g u n g z u h ö c h s t f ä h i g z u m B r e n n e n s e i n , u n d s o e n s t e h t durch e i n e Q u a l i t ä t , z u m a l w e n n sie in d i e E n g e g e t r i e b e n w i r d , e i n e A k t i o n . « 5 8 W i e wir g e s e h e n h a b e n , ist e s b e i G a e t a n o so, d a ß L i c h t d u r c h d i e rung in d e r R e f l e x i o n d i e Aktionskraft

Intensivie-

d e r E r w ä r m u n g erhält.

E s scheint also eine gewisse B e z i e h u n g von Ficinos Seelenpunkt zur p u n k t u e l l e n , d a m i t i n t e n s i v e n , u n d d a m i t a g i e r e n d e n W ä r m e z u g e b e n . D a m i t k o m m e n wir in d i e N ä h e e i n e r z w a r a n d e r e n , a b e r v e r g l e i c h b a r e n Struktur, n ä m l i c h der, b e i d e r B r u n o v o n d e r zione

Verifica-

g e s p r o c h e n hat; wir e r i n n e r n uns: D i e A k t i o n d e r W ä r m e ver-

k ö r p e r t als V e r i f i k a t i o n d i e g e o m e t r i s c h e r s c h l o s s e n e n S t r u k t u r e n d e r W e l t . 5 9 Ä h n l i c h k a n n m a n s c h o n b e i F i c i n o j e n e n Punkt,

der Aus-

g a n g s p u n k t für e i n e g e o m e t r i s c h g e d a c h t e K o n s t i t u t i o n d e r W e l t ist,

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haltung ist; nur muß der Gedanke nicht geometrisch im Sinne von Punktualität ausgestaltet werden, sondern kann in der Richtung auf den locus propriusGedanken oder der Aufgehobenheit der Teile im Ganzen als dem sie Erhaltenden gedeutet sein. Die Gebundenheit an einen fixierten Ort - die Gehirnventrikeln - läßt für Telesio die zweite Variante vermuten. Theologia Platonica 1,2 (S. I, 40); und genauer S. 44: »Ad qualitatem praecipue in exiguum redactam pertinet actio. Haec utique corpus non est, ac maxime cum ad punctum colligitur fit incorporea.« Theologia platonica 1,2 (S. I ,42): »Ac si totus eius calor quasi ad punctum sui redigatur, propter maximam unionem potentissimus erit ad comburendum, sic beneficio qualitatis, praesertim in angustum coacta, provenit actio.« Von hier aus lassen sich auch jene Stellen bei Bruno erhellen, wo dieser die cusanische contractio mit medizinisch-magischen Bedeutungen aus seiner Ficino-Lektiire anreichert. Vgl. Bruno, Sigillus sigillorum. In: Opera latine conscripta. Bd II, 2, bes. S. 213f.; ders., Theses de magia. In: Opera III, S. 455ff. Der Ficino-Bezug ist Theologia platonica XIII, 2). Denn Bruno sieht in der Kontraktion entsprechend Ficinos sieben vacationes animi Weisen des Rückgangs der Seele auf sich. Vgl. A. Ingegno, Regia pazzia. Bruno lettore di Calvino. Urbino 1987. S. 134: »Per Ficino si trattava di quei fenomeni in cui si realizzasse l'autonomia dell'anima rispetto al corpo ed il suo disporsi in tal modo a ricevere influenze superiori, il suo inserirsi in un sistema di cause ed effetti che poneva in gioco il rapporto tra mondo inferiore e mondo superiore, assegnando all'anima, nella sua qualità di stumento privilegato, funzioni eccezionali di carattere cosmico. Anche le contractiones bruniane sono caratterizate tutte da un raccogliersi dell' anima in se stessa, come se essa si riducesse ad un punto; non solo, esse implicando una originaria disposizione passiva sul piano della conoscenza che chiama in causa le facoltà intermedie dell' immaginazione, intervenire sulle quali decide del destino stesso della conscenza.« Brunos Konzept der >Kontraktionen< erlaubt zum einen, Ficino weiterführend, eine >geometrische< Darstellung von Kontraktionstypen; davon zeugen die geometrischen Figuren der >SiegelPomponazzi-Affäre< verweise ich nochmals auf E. Gilson, Autour de Pomponazzi; E. Keßler, The intellective soul; Ch. Lohr, The Sixteenth-Century Transformation of the Aristotelian Natural Philosophy. Vgl. Cardano, Lebensbeschreibung. Übers, von H. Hefele. Jena 1914. S. 72; auch: A. Bellini, Girolamo Cardano e il suo tempo (sec.XVI). Milano 1947. S. 163. Zu Cardano vgl. Girolamo Cardano. Philosoph, Naturforscher, Arzt. Hg. von E. Keßler. Wiesbaden 1994 (darin besonders E. Keßler, Cardanos Naturbegriff; M. L. Bianchi, Scholastische Motive im ersten und zweiten Buch des De subtili-

225 seiner Abweichung vom traditionellen Diskurs geholfen haben, sind Hippokrates und Plotin gewesen. In seinen ausgedehnten medizinischen Schriften verfolgt Cardano ein >Hippokrates-ProjektGöttlichen< der hippokratischen Lebenswärme und in der göttlichen Exzellenz der Seele bei Plotin treffen sich die beiden Inspirationen: Cardano ist dafür bekannt, daß er das Feuer aus der Zahl der Elemente nimmt und ihm eine neue Stelle außerhalb ihrer, nämlich als Veränderungsprinzip, zuweist. Damit zieht er als erster eine radikale Konsequenz aus der gestiegenen Bedeutung der Wärme, in der Medizin 64 und bei den destillatores. Cardano hat explizit eingeräumt, daß er den neueren Praktiken der Wissenschaft Rechnung tragen will: »Auch kannte Galen die Kunst der Destillation nicht, die damals noch gar nicht erfunden war. Bei mir aber muß naturgemäß diese Erfindung, deren große Bedeutung und Nützlichkeit unbestritten sind, eine nicht geringe Rolle spielen.«65 Indem Cardano das Feuer aus der Reihe der Elemente herausnimmt, 66 überholt er die Frage nach dem himmlischen oder elementaren Charakter der Wärme: Alle Wärme ist überelementar, denn sie ist Verwandlungsprinzip. 67 Und indem er die Seele als Bewegungsprinzip in allen Wesen, nicht nur in Menschen, Tieren und Pflanzen, annimmt, macht er sie weniger exklusiv: Sie ist Aktionsprinzip schon dort, wo es Streben nach dem natürlichen Ort gibt. Allein schon die Referenz- und Bedeutungserweiterung der beiden Terme bedeutet eine Annäherung von Wärme und Seele: Beides sind universale Begriffe, die Wärme hat Prinzipiencharakter angenommen und ist so in ihrer Bedeutung der Seele näher gekommen, die Seele hat auch dort ihren Platz gefunden, wo für Aristoteliker nur die Natur der Dinge die Prozesse bestimmt, bei elementaren Vorgängen. In einem groben

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tate Girolamo Cardanos); A. Ingegno, Saggio sulla filosofia di Cardano. Firenze 1980. Vgl. Ν. Siraisi, Cardano, Hippocrates, and Criticism of Galen. In: Girolamo Cardano. S. 131-155. Zum calidum innatum vgl. bes. Cardanos Contradicentium medicorum libri XII. Liber I. In: Opera omnia VI. S. 300ff.; Cardano beginnt gleich in der 2. contradictio des 1. Abschnittes mit dem Problem von Hipp. Aph. 1,15, was noch einmal unterstreicht, welche Leitfunktion dieses Problem gehabt hat. Cardano, Lebensbeschreibung. S. 173; vgl. auch De varietate rerum. Lib. X. In: Opera omnia III. S. 192-209: »De ignis artificiis«. Vgl. De subtilitate. Lib. II. In: Opera omnia III. S. 375. Vgl. ebd.: »Nunc solum scire sufficat, quod duas tantum sint qualitates, calor coeli, et humidum elementorum.« Zur Reduktion des elementaren Feuers auf etwas Akzidentielles vgl. S. 377: »Ignis igitur accidens omnino est, atque caliditas cum siccitate summa, inhaeretque substantiae semper quemadmodum reliqua accidentia [...].«

226 Bild: Die Referenz der Wärme ist nach oben, die der Seele nach unten ausgeweitet worden. Dennoch gibt es bei Cardano keine einfachen Identifizierungen. Der Problembestand, den er übernimmt und fortführt, ist zu komplex für eine Einebnung. In De uno unterscheidet er deutlich zwischen Seele und Leben. Leben oder Wärme sind in Lebewesen überallhin ausgegossen und bewirken Aktivität. »Das Leben aber ist ausgebreitet, aufgrund dessen wir alles tun, was wir tun, oder das, was wir leiden, uns vollendet. Prinzip aber ist das Leben nicht, denn das Leben ist in einem jeden Teil des Körpers, die Seele aber ist es nicht.« 68 Die Seele ist Prinzip des Lebens, seine Einheit, und sie ist nicht körperlich oder an einem bestimmten Punkt lokalisierbar. Cardano übernimmt den Begriff des Instrumentes, um Seele und Wärme miteinander in Beziehung zu setzen. »Es befiehlt nämlich zuerst die Seele dem Festen durch die Wärme, die vom Herzen ausgeht, dann den Spiritus, durch die sie die Glieder bewegt.« 69 Das ist traditionelle Medizin. In De natura ist die Natur der »Eindruck, den die Seele in die Körper macht.« 70 Diese Metapher zeigt schon einen engeren Zusammenhang, als ihn der Instrument-Begriff ausdrückt. Die Seele reicht in jede Natur hinein, und sie agiert in jeder Natur auch mit der Wärme. Der Ausdruck Instrument bedeutet nicht, daß die Seele früher wäre als die Wärme; in gewisser Weise sind Seele und himmlische Wärme dasselbe. 71 68

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Cardano, D e uno. S. 279a: »Vita autem diffunditur, per quam operamur omnia quae agimus, aut quae patiendo nos perficiunt. Principium autem non est vita: vita enim est in corporis parte unaquaque, anima autem non est.« Cardano, De uno. S. 278b: »Imperat enim primo anima solidis, diffuso ex corde calore: inde spiritibus, per quos membra movet: [...].« Cardano, D e natura. S. 286a: »dicamus ergo quod natura est impressio animae facta in corpora.« Vgl. De subtilitate. Lib. II. In: Opera omnia III. S. 388b/389a: »Unde animae substantia ipsa manifesta est, quia calore quodam coelesti constat. Ñeque ergo putredo ulla fit, quae non sit generado. Et calor idem semper hoc générât, illud corrumpit. [...] Calor enim naturalis, et putridus solum comparatione differunt, re autem idem sunt. Namque omnis calor coelestis generat, et corrumpit, estque anima, vel animae instrumentum, aut causa: instrumentum autem non est, quia anima prior est: neque causa, manet enim: sed anima. Propter quod non male dixit Anaxagoras, omnia esse mista, atque anima praedita. Nam quaecunque mista sunt, generantur, et corrumpuntur: quod autem generat, et corrumpit, calor est naturalis, aut anima, aut non sine anima. Mista igitur omnia calida, et calidum omne vivit, aut ad vitam properat. Calor enim ille coelestis nunquam cessât, donee aliquid generaverit, et quod generat, iuxta sui potentiam, et magnitudinem generat. [...] Principia enim generationis calor coelestis, et elementorum humidum: ob hoc neque in glacie, quoniam nullus calor, neque in arena quicquam generatur, quia húmido omni caret. Altera enim harum qualitatum agens, altera patiens est: nam nulla alia qualitas (ut dixi) invenitur, sed humidi privatio siccitas, velut caloris frigus. Sed dices: si anima solum est calor coelestis, non erit substantia, sed accidens. Et si solum lumen, corruptibilis est enim lumen, quia lux, et sublata luce, lumen et corrumpitur: quare nec generabit. Nec

227 Auch Fernel 72 ist im Spannungsfeld von Medizin und Seelendiskussion zu sehen. Sein Dialog De abditis rerum causis, 1548 veröffentlicht, aber schon früher geschrieben und in den folgenden Jahrzehnten mehrmals neu aufgelegt, befindet sich immer im Seitenlicht der Seelendiskussion. Die Schrift ist das Nebenstück zur großen Physiologie der Universa medicina, und sie widmet sich in Ausgiebigkeit dem Problem der okkulten Kräfte in der Medizin. Der Gegenspieler von >EudoxosBrutuscaldo< d'origine celeste è detto talora >principio vitale< e >caldo animaleNella terra e nell'umido si generano le piante e gli animali, poiché nella terra c'è acqua, nell' acqua lo spirito, e in tutto quanto il calore animale, sì da poter dire in certo modo che tutte le cose sono piene di animaNaturalist< alle, auch die höheren Prozesse, mit der warm-kalt-Sprache der traditionellen Qualitäten erklären. Vielmehr verändert er diese Sprache so, daß ihre Prädikate die Wärme und die Kälte - mit weit mehr Eigenschaften ausgestattet sind als bisher. So entsteht der Schein, daß es immer noch die einfache Wärme des Feuers ist, die nun Paradigma für alle weiteren Vorgänge sein kann. In der Tat ist die Einheitlichkeit der Beschreibung das wichtigste Ziel. Und hier kommen die Reduktionisten auf den >elementarischen< Diskurs mit denen auf den >metaphysischen< überein: Ob die Seele in allen Dingen ist oder ob die Wärme auch noch Prinzip der Lebensprozesse ist - offenbar ist es die Verhinderung einer Zweiteilung der Natur, die abzuschaffen am ehesten konsensfähig ist. Wir haben schon mehrfach erwähnt, daß die Vereinheitlichung, die Referenzausweitung zu semantischen Effekten führt. Nicht daß die jeweilige Perspektive der Reduktion beliebig wäre. Aber entweder der Seelenbegriff zahlt mit einer Verflachung, oder der Wärmebegriff muß um andere Eigenschaften erweitert werden. Das zweite ist bei Telesio zu beobachten. Wir müssen uns die Bemühung vorstellen, die Intentionen jenes Diskurses aufzunehmen, der von der Lebenswärme spricht, die in allen Dingen ist und sie konstituiert, und dennoch diese Wärme in die Semantik der >elementaren< warm-kalt-Sprache zu zwingen. Man kann dieses Bemühen eine Naturalisierung des >animistischen< Diskurses nennen. Es ist diese Doppelbewegung, das sich Einlassen auf die Referenzerweiterung und dann die Rücknahme in eine basale Sprache, mit der einzig sich die telesianische Terminologie verstehen läßt. Es gibt Modelle für diese Naturalisierungsstrategie, und wir sehen uns erst einen auf Fernel bezogenen Fall an, um sie besser einschätzen zu können, bevor wir zu Telesio zurückkehren. Ferneis offene Ausweitung des calidum innatum bis an die neuplatonischen Bedeutungen von Astralleib ist von vielen Medizinerkollegen, bei aller Anerkennung der physiologischen Erkenntnisarbeit, nicht hingenommen worden. 94 Besonders deutlich hat Giovanni Argenterio Ferneis himmlisches calidum kritisiert. Er legt seinen Finger auf all jene wunden Punkte der Theorie, an denen die >himmlische< Natur mit der elementaren zusammenstößt. So zum Beispiel im Fall der Erhaltung dieser Natur durch Ernährung: »Denn wenn sie jenes ernähren und erhalten wollten, aus was für einer Materie, frage ich, sollte das geschehen? 94

Zu den Kritikern von Fernel vgl. D. P. Walker, The astral body in Renaissance Medicine; L. D e e r Richardson, The generation of disease.

237 Etwa aus ätherischer und himmlischer Materie? Warum muß sich, was himmlisch ist, ernähren? Dann müßte man auch sagen, daß Himmel und Sterne Speise brauchen.« 95 Das läßt sich weiter ausführen. Argenterio kann sich dabei auf die lange Problemtradition der calidum mnafura-Diskussion stützen. Schon seit der Antike ging es ja um die kritischen Fragen des Austausches von Lebenswärme mit normaler Wärme. Aber darin, wie gesagt, scheint mir Fernel sich getäuscht zu haben, daß er, während er jene Wärme als himmlische einzuführen bemüht ist, nicht sieht, was der Wärme zuzugestehen ist, und was dagegen der Seele übrigzulassen bleibt. Wenn Aristoteles die Ursachen des natürlichen Todes untersucht, hat er nicht unternommen zu lehren, was der eingeborenen Wärme entgegengesetzt ist, sondern wie im Lauf der Zeit, wenn die Nahrung der Wärme verbraucht ist, sie verscheidet und die Ursache des Todes eintritt; denn wenn diese Wärme kein Gegenstück aus dieser unteren Welt hat, was geschieht, daß Pflanzen und Tiere aus einer gewaltigen Kälte der Luft und des Wassers zerstört werden? Also, wenn das Leben endet durch fehlende Wärme, diese aber von den Elementen und Qualitäten, die in ihnen sind, zugrunde geht, dann steht fest, daß jene in dieser Welt ihre Natur haben muß und daß es eine elementare ist; aus welcher Gattung nämlich es genommen wird, von der geht es zugrunde. Wenn außerdem die eingeborene Wärme gehegt und unterstützt wird >vom Blut und dem einströmenden Spirituss zudem sowohl die Säfte als auch der Spiritus in dieser Weise aus Dingen erzeugt werden, die aus Elementen bestehen, dann ist es natürlich notwendig, daß jene Wärme aus demselben besteht; wenn nämlich Ähnliches durch Ähnliches ernährt wird, dann kann nicht, was himmlisch ist, von den Elementen seine Substanz nehmen. Außerdem, wenn die eingeborene Wärme aus dem Samen ist, wie kann sie dann göttlich sein? Wenn der Samen aus Blut entsteht, wird es nötig sein, auch das für himmlisch zu halten. So läßt sich nichts mehr in unserem Körper finden, was aus Elementen gemacht ist. 96

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G. Argenterio, De somno et vigilia. Florenz 1556. S. 275: »Nam cum illum nutriri et conservari velint, ex quo quaeso materia id fiet? An ex materia aethera, et coelesti: ex quo pacto quod coeleste est, nutrimento eget? perinde enim est ac si dicamus, coelum, aut sidera cibo egere.« G. Argenterio, De somno et vigilia. S. 41f.: »sed in hoc, ut dixi, videtur mihi ille deceptus, quod, dum calidum illud coeleste introducere studet, non videat, quid calor sit concedendum, quid vero animae relinquendum. Aristoteles dum naturalis mortis causas quaerit, non instituit docere, quid nativo calori opponantur, sed quo modo ille aetatis cursu, consumpto suo pabulo, expiret, mortisque causa fiat: quod si contrarium non habet ex inferiore hoc mundo huiusmodi calor, qui fit, ut plantae, et ammalia ex vehementi aeris, aut aquae frigore pereant? Igitur si vita desinit abeunte calore; hic autem ab elementis, et qualitatibus, quae in illis sunt, extinguitur, constat, illum in hoc mundo suam habere naturam et elementalem esse, ex quo scilicet genere sumitur id, a quo peremitur. Si praeterea calidum innatum fovetur, augeturque a sanguine, et spiritu influente, gignuntur autem tum humores, tum spiritus huiusmodi ex rebus constantibus ex elementis, necesse profecto est, illud ex iisdem constare: siquidem similia similibus nutriuntur, nec, quod est coeleste, ab elementis substantiam suam sumere potest. Praeterea si ex semine est calidum innatum, quomodo divinum? si semen ex sanguine sit, oportebit quoque hunc coelestem credere; ita nihil in nostro corpore invenietur quod ex elementis conficiatur.«

238 Argenterio beschwört eine konzeptionelle Ansteckung: Erklärt man ein Glied eines Gefüges als zugehörig zu einer anderen Sphäre, dann muß man bald alles, was mit ihm in Beziehung steht, auch zu dieser Sphäre rechnen. Trotz dieser Kritik will er nicht auf manche medizinischen Innovationen Ferneis verzichten. Der Begriff der ganzen Substanz ist auch für ihn von großer Bedeutung, ebenso viele physiologischen Erklärungen über die Funktionen Anziehung, Abstoßung usw.; er übernimmt sie, ohne den Rahmen der aristotelischen >elementarischen< Sprache zu verlassen - nur die Tragweite der Konzepte etwa von Wärme und des Spiritus dehnt sich in seiner naturalisierten Fernel-Rezeption aus. Auch Telesio läßt sich zunächst weit auf die neuen Strömungen ein. »Alle Seienden sind durch Wärme konstituiert, keines durch Kälte.« 97 Telesio führt, ähnlich wie es Cardano tut, die Wärme nicht nur in Pflanzen und Tieren, sondern auch in Steinen und Metallen an. Auf den ersten Blick mag sich hier tatsächlich ein weiteres Werk über die allbeseelte Natur, über die Seele und die Empfindungen in allen Wesen auftun. Aber nichts wäre falscher, als Telesio umstandslos mit solchen Renaissancetendenzen zu identifizieren, Telesio als >Panpsychisten< zu bezeichnen. Luigi de Franco hat völlig recht, wenn er vehement gegen eine solche Titulierung protestiert: »non ci sia errore maggiore, a tal proposito, di quello che definicsco il naturalismo telesiano come >pampsicisticoAnimismusüber ein Instrument wirkt, so daß aus dieser Perspektive alles andere außer den ersten Prinzipien, sei es organisch, sei es anorganisch, gleich ist. Bei Telesio ist diese Perspektive aber noch viel umfassender eingenommen. Nicht nur gibt es eine Gleichheit dadurch, daß alles andere vermittelt und somit nicht notwendig voraussagbar ist, sondern es ist auch sämtlich durch eine Wärme konstituiert. Alle Dinge haben diesen praeinexistens calor.l0X Höhere und beseelte Lebewesen zeichnen sich lediglich dadurch aus, daß sie aus dem Samen, durch den sie in der Fortpflanzung erzeugt werden, eine besonders reine und weiße Wärme (perblandus calor)102 entnehmen, aus der sich der spiritus bildet, jene Vermischung von extrem weißer Wärme mit extrem dünner Materie, die dann die höheren Funktionen von Beseeltheit und Leben möglich macht. Ich werde gleich noch darauf zurückkommen. Die Differenz bleibt aber graduell. Da die Wärme selbst schon >sieht, fühlt und weißschlummernder< potentieller Formen. Ähnlich wie später bei Spinozas Kritik an der Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit handelt es sich auch bei Telesio um reine Aktualität. 104 Das bedeutet auch, daß die Wärme Telesios, anders als bei Avicenna, keine Instrumentfunktion für Formen innehat. 105 Statt dessen haben Wärme und Kälte selbst Substanzcharakter. Doch wie kann man sich das >Eingehen< der Wärme in die Materie vorstellen? Telesio kennt hier verschiedene Begriffe. Zu Beginn von De rerum natura, wo es allgemein um das elementare und konkurrierende >Besetzen< der Materie durch Wärme und Kälte geht, spricht Telesio von >überwältigen< (exsuperare) und >verwandeln< (immutare)}06 Doch wie wir in Kapitel II gesehen haben, hat er in den späteren Büchern, vor allem in Buch IV, eine speziell optische Theorie entwickelt, wie das Eingehen des Lichtes und damit der Wärme in die Materie zu denken sei. Dort ist der Terminus für das Eingehen subire}07 Dieses Eingehen geschieht auf je unterschiedliche Weise. Denn es »ist selbst die oberste Oberfläche der Erde, und die, die scheinbar völlig glatt und völlig gleichförmig und in der gleichen Weise der Sonne ausgesetzt ist, höchst ungleich und durch kleinste kaum wahrnehmbare, aber fortlaufende Aufschwellungen unterschieden; die auch selbst, genauso wie große Berge, an den einen Seiten länger und mehr direktes, an den anderen kürzer und indirekteres Licht aufnehmen.« 108 Da die auftreffende Wärme - in Form von 104 105

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Vgl. D R N 1586 II, 1 (S. I, 228ff.) Vgl. etwa D R N 1570 I, 52 (S. 36): »Calorem neque in igne, ñeque in animalibus; neque alio in ente ullo substantiae alterius, ut Peripateticis placet, Organum esse; sed ipsum per se in omnibus agere, et omnium substantiam esse.« Vgl. D R N 1586 I, 1 (S. I, 32/34). Vgl. etwa D R N 1586 IV, 10 (S. II, 54): »Lucem e densis, in quae insilit, resilire, et ad eosdem, ad quos accedit, resilire ángulos, et quae subit eadem subire ratione.« D R N 1586, 1,13 (S. I, 118): »Adhuc, et quod suprema terrae superficies, vel quae bene plana beneque aequabilis et eodem soli expósita apparet modo, maxime inaequabilis et minimis quidem paene et sensum fugientibus, at continuis, distincta est tumoribus: qui et ipsi, veluti et magni montes, aliis sui partibus diuturniorem magisque directam, breviorem aliis magisque obliquam excipiunt lucem. Propterea, dum terram in se ipsum immutai, sol adeo in multa interea adeoque diversa earn agit entia, quod maxime ipse diverso maximeque difformi agit calore et in terram agit longe diversissimam.«

242 Lichtstrahlen - wegen der Unebenheit der Oberfläche immer in anderen Winkeln auftrifft, ergeben sich unterschiedliche Weisen des subire der Wärme in die Materie. Die Terminologie, die er für den Vorgang benutzt, ist - wie immer bei Telesio - sehr genau zu nehmen. Er spricht von unterschiedlichem calor, von unterschiedlicher dispositio und von unterschiedlicher species.109 Das Erscheinungsbild - wenn man species hier in dieser Weise übersetzen will - hängt von den beiden anderen Faktoren ab; wie präzise diese Formulierung von der Eingabe einer species gemeint ist, wenn Telesio sagt, »und gemäß der eingegebenen Disposition und ihrer eigenen Reichhaltigkeit gibt sie die species ein«, 110 haben wir im Kapitel II gesehen. Und dort haben wir auch gesehen, daß die Identifizierung von Licht und Wärme es Telesio möglich gemacht hat, den Lichteinfluß himmlicher Wärme direkt als die Erwärmung von Körpern zu verstehen, somit platonisierende überelementarische und konstituierende Wirkung von oben mit realer Konstitution von Mischungen kurzzuschließen. Deshalb hat das Eingehen von Wärme in Materie bei Telesio zugleich die Komponente von calor coelestis und von elementarischer Wärmewirkung. Und wenn Materie von Wärme durchdrungen und verwandelt worden ist, dann hat die in der Materie befindliche Wärme, der calor praeinexistens, ebenfalls zugleich die Eigenschaften von einem himmlischen calidum innatum und einer elementarischen konstituierenden Wärme in Mischungen. Wir sehen wieder, wie elegant und radikal Telesio die verwickelten Diskussionen wie einen gordischen Knoten durchschlägt, dank seiner Lösung des aristotelischen Erwärmungsproblems durch die Identifizierung von Licht und Wärme, oder diskurstheoretisch ausgedrückt, durch seine Überlagerung von Bedeutungen neuplatonischer und aristotelischer Denkweisen über Licht und Wärme. Ein Aristoteliker wie Zabaralla hat sich zur gleichen Zeit sehr abmühen müssen, um ein >zugleich< von himmlischer und elementarer Wärme im Lebewesen plausibel zu machen. 111 109

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DRN 1586 1,14 (S. 1,122): »Diversa quidem sunt entia, quod diverso calore, diversa dispositione, diversa donata sunt specie. Et qui calor quaeque dispositio et quae inditur species, ab externo calore, a quo efficiuntur, inditur omnis: isque talem iis, in quae agit exuperatque, perpetuo sese indit, qualis ipse est; talisque dispositione et specie ea donat, quali donari se ea sinunt; juxta proprias videlicet ipsius vires, et rerum, quas subit, dispositionis renitentiam, perpetuo eas disponit; et juxta inditam dispositionem suique ipsius copiam, speciem indit.« DRN 1586,1,15 (S. 1,122): »et iuxta inditam dispositionem suique ipsius copiam, speciem indit.« Vgl. J. Zabarella, D e calore coelesti. Sp. 581f.: »Non autem ob ea, quae dicta sunt, putandum in vivente duos esse distinctos calores, unum elementarem, alterum vitalem, siquidem fieri non potest ut in eodem subiecto simul insint duo accidentia eiusdem speciei distincta numero; sed unus numero est calor ex

243 So haben denn die Aristoteliker auch Schwierigkeiten gehabt, mit der Fremdheit von Telesios Lösung zurechtzukommen. Für Francesco Verino ist das Eingehen der Wärme ein Verhältnis von einer causa efficiens zur causa materialis. Er gibt Telesios These so wieder, daß »il cielo per virtu del sole come ragione efficiente, e della Terra, come ragione materiale ne nascono tutte le cose.« 1 1 2 Aber letztlich ist das nur der Versuch, in aristotelischen Kategorien das auszudrücken, was in ihnen nur mehr ungenau ausgedrückt werden kann. Immerhin machen diese Worte deutlich, daß Kausalität bei Telesio in erster Linie nur noch diese zwei Komponenten hat: causa efficiens und causa materialis. 113 Im einzelnen ist der Vorgang des subire von einiger Komplexität. Zwar ist die Wärme ursprünglich immer eine und dieselbe, 1 1 4 aber sie kann in stärkerer und schwächerer Weise auf die Materie treffen, 1 1 5 sie kann je nach Beschaffenheit der Materie auf unterschiedlichen Widerstand im Eindringen treffen, es gibt Intensivierungsphänomene in einem dichten Medium des Eindringens 1 1 6 und andere zu berücksichtigende Faktoren. Im übrigen begegnet Telesio bei der These, daß alles Seiende oberhalb der Erde durch die Wärme konstituiert ist, auch jenes Problem, das Aristoteles zur antiperistasis-ErkläTung geführt hat: der Hagel. 1 1 7 Hagel ist weiß und weist dadurch nach Telesio schon auf die Wärme hin, aber er ist dicht und kalt, was der Behauptung zu widersprechen

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duobus conflatus, etsi pendens a duobus principiis: quemadmodum enim si in eodem cubiculo splendeant noctu duae candelae ardentes, unum numero est lumen in aere illius loci, licet pendens a duabus lucibus secundum gradus, adeo ut altera candela extincta minus luminis in ilio aere maneat; quia secundum aliquot gradus prodibat ab una candela, & secundum aliquot ab altera: ita in vivente est unus numero calor conflatus ex duobus, nempe ex calore elementari, qui etiam dici potest calor mistionis, seu temperaturae, & ex calore vitali animam conséquente; isque totus calor secundum aliquos gradus provenit a natura elementorum calidorum, secundum aliquos vero ab anima; ideo sublata anima remanet minor calor, solus enim elementaris calor relinquitur, qui postea interit per putredinem.« F. Verino, Conclusione dell libro della natura dell' universo. Ms. Biblioteca Nazionale Firenze Magi. ΧΙΙ,ΙΙ. Fol. 35v. Vgl. aber für einen Bezug der Telesianischen Terminologie zur Begrifflichkeit der Vier-Ursachen-Lehre N. van Deusen, »The Place of Telesio in the History of Philosophy«. In: The Philosophical Review 44 (1935). Vgl. dazu Kap. III.3. Vgl. D R N 1586 (S. 1,124): »Quamobrem, vel idem robore qui est calor si materiae indatur, quae diversam sortita sit dispositionem, a se ipso differens fiat differentesque edat actiones oportet.« Evidenzgrundlage bei diesen Beschreibungen sind für Telesio Flammenbeobachtungen: die unterschiedlichen Prozesse bei verschiedener Materie, die mit verschieden starken Flammen zusammenkommt; also gewissermaßen eine >chemische< Phänomenologie. Vgl. dazu Kap. II.6. D R N 1586 1,7 und 1,8.

244 scheint, er wäre durch Wärme konstituiert. Es ist wichtig, hier zu sehen, daß Telesio nicht auf die Erklärung durch antiperistasis rekurriert. Das bedeutet, daß er sich zwar für die Konzipierung der Eigenschaften seiner naturae agentes an das Modell der antiperistasis-Argumentation angelehnt hat, aber nicht gleichzeitig materialiter diese Argumentation für ihre ursprünglichen Anwendungsfälle, wie den Hagel, akzeptiert. Das werden wir auch später (Kapitel V, 5) für die a η t iperis tas is -Fälle in der Medizin sehen. Telesios Erklärung für die Dichte des Hagels ist eine andere: »Und offensichtlich verdichtet die Wärme dadurch, daß sie die innewohnende Dünnheit verstärkt und ihr den Ausgang öffnet, aus dem sie entschlüpft; und das tut sie, ehe sie die herumdrängende Dicke weich macht. Deshalb geschieht es von selbst und zieht sich alles, während die entweichende und fliehende Dünnheit gleichsam die Dicke verfolgt, in sich selbst zusammen und erstarrt zu einem dichteren und härteren Seienden; wie etwas nämlich seiner Natur nach ist, so erscheint es auch.« 118 Das ist genau die Umkehrung des Porenverschließungsmodells für die warmen Bäuche im Winter: Nicht die Kälte schließt die Poren und steigert die innere Wärme, sondern die Wärme verursacht ein Herausgehen aller innen existierenden Dünnheit, so daß ein dichter Körper übrigbleibt. Nur ein Rest von antiperistasis ist dort geblieben, wo Telesio davon spricht, die jetzt nach außen getretene Dünnheit Verfolges also bedrohe die Dicke. Dieser Teil der Theorie ist von großer Wichtigkeit, denn er negiert die Proportionalität von Wärme und Dünnheit - nach der die Wesen um so dünner, beweglicher und leichter wären, je mehr Wärme sie in sich hätten - und hält statt dessen den Platz frei für eine andere Proportionalität: die zwischen Wärme und Vermögen. Je mehr Wärme Wesen in sich haben, desto mehr von den Aktionsfähigkeiten der Wärme besitzen sie. Telesio fragt sich, »warum durch eine einzige Wärme so viele und so sehr voneinander verschiedene Seiende konstituiert werden, und in keiner Weise die einzelnen Seienden mit um so größeren Bedingungen der Wärme begabt sind, je stärker die Wärme ist, durch die sie konstituiert wurden (denn sie sind nicht um so dünner, weißer und zur Bewegung geeigneter, je wärmer sie sind, denn die bei weitem meisten durch große Wärme konstituierten Seienden sind dennoch nicht dünn und weiß noch beweglich, sondern gut dicht und schwarz und unbeweglich; viele sind ihrerseits beweg118

D R N 1586 (S. I, 74): »Et manifeste propterea ea densat calor, quod inexistentem tenuitatem summam facit, egressumque, quo elabatur, ei aperit; et prius id, quam circumfusam crassitiem emolliat. Itaque per se haec facta et universa, dum elabantem effugientemque illam veluti sectatur, in se ipsam coacta, densius duriusque concrescit in ens, qualis nimirum sui natura est, talis apparet.«

245 lieh und flüssig, aber entweder mit schwarzer oder mit mittleren Farben begabt) [.. ,].«119 Diese Frage kann nun durch die neue Proportionalität beantwortet werden. Genau hier ist der Punkt, an dem Telesio der Bedeutungsübergang von den Konnotationen der elementaren Wärme zu denen der höheren ratio caloris der Lebenswärme gelingt. Erst dann kann er seine entscheidende Frage stellen: Wie kann eine einzige Wärme eine solche Vielfalt von Lebewesen hervorbringen? Denn die Frage hat jetzt zwei semantische Ebenen: Für die erste treffen die Erklärungsversuche optischer Art zu, in denen mit verschiedenen Auftreffwinkeln auf verschiedene Medien argumentiert wird. Doch gleichzeitig zielt die Frage der Verschiedenheit auf eine Abstufung der Seienden nach immer höheren Fähigkeiten. Die semantische Doppelung, die in Telesios Theorie vorhanden ist, kann man demonstrieren an paradoxen Parallelismen in den Erklärungsmustern. Denn ebenso, wie Telesio die Weiße von Hagelkörnern erklärt hat - durch ein übergroßes Maß an Wärme nämlich - , so erklärt er auch die weiße Wärme, aus der Pflanzen und Tiere entstehen. »Was aber offensichtlich aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist, wie Tiere und Pflanzen, entsteht aus sehr wenig homogener Materie - ob es nun ein Samen oder etwas anderes ist - und von einer äußerst weißen Wärme.« 120 Der Grund für die Parallelität ist wieder die semantische Ambiguität zwischen bloß stärkerer Wärme und vermögenderer Wärme. Die Qualität der >vermögenderen< Wärme manifestiert sich farblich, durch ihre besondere Weiße. Aber Telesio ist sich offenbar dieser Schwierigkeiten seines Syntheseversuches von Elementenwärme und Lebenswärme sehr wohl bewußt gewesen; er versucht, dem Parallelismus entgegenzusteuern und wehrt den Vergleich mit der Hagelbildung ab. In Gegensatz zum Wärmeentzug durch Wärme beim Hagel - einer einheitlichen Materie - gibt es im Fall der komplexen Materien von Lebewesen keinen Wärmeentzug durch äußere Wärme. Sie entstehen zum einen durch eben jene sehr weiße Wärme, zum anderen aus einer nicht homogenen Materie. Deshalb kann diese Wärme auch nicht leicht entzogen wer119

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D R N 1586 1,10 (S. I, 102): »[...] deineeps cur uno a calore tot adeoque inter se diversa constituantur entia, et nequaquam singula eo amplioribus caloris donata condicionibus, quo et robustiore calore (non scilicet eo tenuiora, albiora magisque ad motum apta, quo et calidiora: sed entia longe plurima magno a calore constituía, at non tenuia albaque nec mobilia, sed bene crassa nigraque et immobilia; multa, contra, mobilia fluidaque, at vel nigro vel mediis donata coloribus) [...].« D R N 1586,1, 24 (S. 1,186): »Quae vero manifeste e diversis partibus composita sunt, cuiusmodi ammalia et plantae, e materia valde dissimilari, sive semen seu quidvis aliud sit, et a calore fiunt perblando.«

246 den. Telesio hat darauf zu achten, daß er bei solchen Schwierigkeiten doch nicht wieder die entscheidende Differenz in der Wärme durch die Hintertür einführt. Die Lösung dieser Frage verschiebt er vom ersten Buch von De rerum natura auf das fünfte, das zum größten Teil der Frage der Entstehung von Lebewesen gewidmet ist. Der Begriff spiritus, den er dort einführt, ist ein Kompromiß mit der traditionellen Wissenschaft vom Leben. 121 Spiritus ist zwar noch die Wärme in den Dingen, mit ihren Eigenschaften von Beweglichkeit, Dünnheit und Empfindung, aber es ist doch eine qualitativ neue Stufe, die hier zugestanden wird. Telesio bestimmt die Entstehung eines ausgebildeten Lebewesens aus dem Samen nach den Kriterien seiner Farbmethodologie:122 Der weiße Samen - Zeichen der Wärme - mit seinem Spiritus wird zuerst zu den weißen Teilen im Körper. 123

7. Persios De natura ignis et caloris Telesio selbst hat sich von einer Bezugnahme auf die zeitgenössischen Diskussionen, die das calidum innatum betreffen, zurückgehalten. Er entscheidet sich dafür, sein Buch allein als eine Auseinandersetzung mit Aristoteles und Galen - den Klassikern also - zu entwickeln; moderne Namen nennt er nur höchst ungern. Es mag vielerlei Gründe für dieses Vorgehen geben, nur sollte man sich vor der voreiligen Schlußfolgerung hüten, seine Theoriebildung sei allein aus einem Aristotelesstudium und ohne Kenntnisnahme des Diskussionsstandes erwachsen. Diese Ansicht würde die Textdarbietung mit der Theoriebildung verwechseln. Es ist erstaunlich, wie viele TelesioKommentatoren dennoch ihre Gegenüberstellungen >Telesio und Aristoteles< für ausreichend gehalten haben. 124 Im 16. Jahrhundert genügte eine solche Kommentierung nicht. Deshalb hat sich Telesios Schüler und Apologet Antonio Persio die Mühe gemacht, in seinem Werk De natura ignis et caloris gleichsam ex post jene Zusammenhänge wiederherzustellen, die schon bei der Genese der telesianischen Theorie ihre Rolle gespielt haben. Er fügt die Argumentation Telesios in den Kontext von aristotelischen und galenischen Diskussionen über Wärme und eingeborene Wärme ein, und der Befund, wie gut die Argumente sich in diesen Kontext einpassen lassen, ist ein guter Beleg dafür, daß Telesio sie in ihm gewon121 122 123 124

Vgl. Kap. V. Vgl. Kap. II. Zur Entstehung des Foetus aus dem Samen vgl. D R N 1586 VI,Iff. Beginnend mit F. Fiorentino, Bernardino Telesio ossia studi storici sull' idea della natura nel Risorgimento italiano. Firenze 1872-74.

247 nen hat. Es ist dabei nicht notwendig, daß sich Persios - nicht historisch gemeinte - Rekonstruktion im Detail mit Telesios Aufarbeitung deckt; die gemeinsame Perspektive sagt genug aus. In De natura ignis behandelt Persio im VI. Buch das calidum innatum, im VII. Buch das Problem der putredo und im VIII. Buch die Wärmeprozesse der concoctio. Der Rahmen von Persios Argumentation ist die Apologie der telesianischen These, daß der Wärme Feuchtigkeit zugeschrieben werden muß, nicht Trockenheit. Der Kontext dieser Behauptung wird in einem späteren Kapitel noch thematisch sein. Persio ist bemüht, die telesianische Theorie dort, wo es möglich ist, als zu Ende gedachte Konsequenz bestimmter aristotelischer Positionen darzustellen. So beginnt er in Buch VII. mit einer Darstellung der Fäulnis-Theorie, die Remigio Megliorati 1553 entwickelt hatte 125 - um dann zu sagen: »Aus der genannten Ansicht des Remigius bestätigt sich, wenn sie von den Peripatetikern akzeptiert wird, daß Feuer und überhaupt alle Wärme feucht ist.«126 Dabei ist Meglioratis kleines Buch eine Gegenschrift gegen Giovanni Argenterio, der mit von Aristoteles abweichenden Ansichten zur Fäulnis seinem Kollegen in Pisa unangenehm aufgefallen war. 127 Persio beruft sich in diesem Falle nicht auf die originelle Theorie - die Argenterios sondern auf eine konventionelle und aristotelische, die sich aber in sein Konzept fügt, die Aristoteliker mit ihren eigenen Mitteln schlagen zu wollen. Eine bekanntere und ausgiebigere Kontroverse über das Wesen von Fäulnis war die zwischen Thomas Erastus und Archangelo Mercenario in den 1580er Jahren. 128 Auch auf sie geht Persio ein, und er verfolgt die Argumente in ihrer Reihe, um eine Anknüpfung an die telesianischen Positionen finden und namhaft machen zu können. 129 Aber der kurze Blick auf Persio soll genügen. 130 Ich kann an dieser Stelle seine Rekapitulation der Debatte nicht weiter verfolgen und muß das Vorhaben auf eine spätere Ausarbeitung verschieben. Statt 125

Remigio Megliorati, D e putredine; vgl. oben, Abschn. 3. A. Persio, D e natura ignis et caloris. Biblioteca Corsiniana Roma Ms.Linceo VII. Buch VII,3 (Fol. 6r): »ex praedicta Remigli opinione de putredine si a Peripateticis ea acceptatur, confirmatur ignem, et calorem omnem humidum esse.« 127 Vgl. Ν. Siraisi, Giovanni Argenterio and Sixteenth-Century Medical Innovation. 128 Th. Erastus, D e putredine. Basel 1580; A. Mercenario, Disputatio de putredine. Basel 1583; zu Mercenario vgl. Lohr s.v. >Mercenariusnormalen< S c h l a f in d e r N a c h t . E r ist nicht z u l e t z t n a c h d e r causa

finalis

der Selbsterhaltung der Lebens-

w ä r m e z u d e n k e n , d i e sich z u r ü c k z i e h t , u m sich z u e r h o l e n u n d z u s t ä r k e n . 9 U n d e s gibt n o c h w e i t e r e A s p e k t e d e s P h ä n o m e n s Schlaf, d i e d i e A u f m e r k s a m k e i t T e l e s i o s e r r e g e n m u ß t e n , als er d a b e i war, e i n e P h y s i o l o g i e d e s Spiritus z u e n t w e r f e n . D e n n Schlaf ist g l e i c h s a m ex negativo

e i n I n d i k a t o r für E i g e n s c h a f t e n v o n B e w u ß t s e i n u n d Sin-

n e s w a h r n e h m u n g : I m Schlaf f a l l e n g e r a d e d i e s e F ä h i g k e i t e n d e s L e b e w e s e n s - b e w u ß t z u h a n d e l n , sich z u b e w e g e n , w a h r z u n e h m e n

-

aus. A r g e n t e r i o h a t d i e s e n S a c h v e r h a l t p o i n t i e r t a u s g e d r ü c k t : » [ . . . ] wenn Wachen Wahrnehmen bedeutet und Schlafen Nicht-Wahrnehm e n , o d e r w e n n m a n l i e b e r will: w e n n b e i m W a c h e n W a h r n e h m u n g auftritt u n d b e i m S c h l a f e n W a h r n e h m u n g s l o s i g k e i t , [ . . . ] d a n n w e r d e n die U r s a c h e n des Wachens es sein, was das L e b e w e s e n w a h r n e h m e n läßt.«10 Jede T h e o r i e der Sinnlichkeit m u ß deshalb so b e s c h a f f e n sein, 8

9 10

G. Argenterio, De somno et vigilia. Florenz 1556. S. 5f.: »Putat igitur Aristoteles somnum fieri a vapore, genito vi caloris in alimenti concoctione, elatoque postea ad cerebrum, ibique converso in humorem, ab ipsius cerebris frigiditate, quod tactu (ut ille ait) frigidum sentitur, eo modo, quo pluvia ex vapore, in aere frigido fieri agnoscitur, qui humor quum gravitatum pariat, deorsum pellitur, et descendens per venas, calorem repellit versus cor, illudque réfrigérât: unde per antipersitasim vocatum, somnus inquit oboritur. Hunc humorem calidum esse oportere scribit: quandoquidem is qui frigidus est, somnum procreare nequit, ut ostendunt soporosi affectus, quos ex calida materia simul et húmida, consistere ait: et pueri, qui eo quod calido humore abundant, plurimum dormiunt: Unde somnum refrigerationem, causas vero illius caliditas esse statuit.« Vgl. Aristoteles, De somno. 456b 20ff. Vgl. Galen, De causis pulsuum libri quatuor 111,10. Argenterio, De somno et vigilia. S. 26: »[...] si vigilantia est sentire, et dormire

254 daß sie auch die Abwesenheit von Sinnlichkeit zu erklären vermag. Noch für Leibniz ist der Schlaf aus diesem Grunde von Wichtigkeit gewesen, wenn auch mit umgekehrter Tendenz: Seine petites perceptions machen es möglich, die Kluft zu überbrücken und auch im Schlaf einen Restbestand von Sinnlichkeit bewahrt zu finden. Und dieser Überlegung läßt sich ihm sogar ein Argument gegen die Kluft des Todes abgewinnen: »La nature nous a monstré dans le sommeil et dans les evanouissemens un échantillon, qui nous doit faire juger, que la mort n'est pas une cessation de toutes les fonctions, mais seulement une suspension de certaines fonctions plus remarquables.«11 Die Theorie des Schlafes ist aus den genannten Gründen für Telesio zweifellos von großem Interesse gewesen, und wir können annehmen, daß De somno, das offenbar in engem Zusammenhang mit Quod animal universum entstanden ist, 12 sich für ihn als Anknüpfungs- und Einstiegspunkt in den Bereich der Physiologie angeboten hat. Aber bleiben wir zunächst noch bei Argenterios Buch von 1556. Für Argenterio, der in Paris studiert hat, 13 ist die neue Emphase für die Theorie des calidum innatum von großer Bedeutung. Auch wenn er, wie wir in Kapitel IV gesehen haben, Ferneis Auffassung vom >himmlischen< Charakter der Wärme klar ablehnt, so hat er doch manche Anregungen der neuen Medizin übernommen. Schon im Jahr 1550 gibt er eine kleine Arbeit De calidi signification et de calido innato liber heraus. 14 Im Zusammenhang mit der Bedeutung der

11

12

13 14

est non sentire, aut si mavis, ad vigiliam sequitur sensus, ad somnum insensibilitas, [...] causae erunt vigiliae, quae faciunt ut animai sentiat.« Leibniz, Considérations sur la doctrine d'un ésprit universel unique. In: Die Philosophischen Schriften. Hg. von C. J. Gerhardt. Bd. VI. S. 534. Es gibt, wie auch sonst, keine genauen Datierungen für die Werke. Vgl. De Francos Vorwort zu VNRL, S. XXVII f.; Quod animal universum wird schon in D R N 1565 erwähnt; für De somno kann man sagen, daß es 1575 schon existiert haben muß, weil Antonio Persio im Liber novarum Positionum einige Sätze nahezu wörtlich übernimmt: Problemata de somno, 203ff. So zum Beispiel Position 308: »Cur homo, dum somno detinetur, veluti demortuus apparet, sensu omni, omnique externo destituus motu.« Oder Position 309: »Cur vel dum dormit, a paullo vehementiori contactu, sonoque, et paucis omnino dormiens horis, per se expergetit, et veluti reviviscit, sensu restitutus, motuque.« Vgl. dazu Telesio, VNRL, 380. Wahrscheinlich ist aber auch De somno früher entstanden; inhaltlich gibt es viele Übereinstimmungen zu Quod animal, besonders in Kap. IV von De somno. Dieses Kapitel stützt sich zwar auf die Theorie von Quod animal, aber es ist durchaus möglich, daß die Ausarbeitung parallel gelaufen ist. Für die Nähe der beiden Schriften sprechen auch Persios Aufzeichnungen in Ms. Linceo 1, wo einige Galenzitate aus Kap. X und XII von De somno sowie Kap. XIX von Quod animal universum notiert sind, alle unter der Überschrift De somno (fol. 146vff.). Vgl. DBI Bd. 4. Sp. 114-116 (F. Mondella). Das Werk ist auch enthalten in: Opera omnia nunquam excusa, Venedig 1606. Pars II, 169-179.

255 Lebenswärme übernimmt Argenterio auch Ferneis Konzeption von dem morbus totius substantiae,15 einer durch Fernel wieder aktuell gewordenen Kategorie für Krankheiten, die als das Lebewesen in seiner ganzen Form betreffend gedacht werden müssen. Argenterio will in der Richtung dieser innovativen Medizin auch das Phänomen des Schlafes angehen. Er erklärt den Schlaf als Affektion des ganzen Lebewesens. »Ich glaube, hieraus ist klar, daß Schlaf und Wachen weder Affektionen des Gemeinsinns noch der Wärme sind, auch wenn sie von ihnen beiden herrühren, sondern Affektionen des Lebewesens als solchem: Und deshalb geschehen sie nicht entweder im Herzen oder im Gehirn, sondern im ganzen Lebewesen.« 16 Argenterio will damit die widerstreitenden Ansätze von Aristoteles und Galen in einer übergreifenden Lösung überwinden. Für Aristoteles ist das Herz das zentrale Organ und die Schlaferklärung ein Defekt des Gemeinsinnes durch Rückzug der Wärme, für Galen ist das Lebewesen durch drei verschiedene Grundfunktionen charakterisiert, und das Gehirn spielt eine besondere Rolle. Der Schlaf ist für Galen ein Effekt des Rückzugs des spiritus animalis ins Gehirn. 17 Argenterio baut denn auch in sein Buch zwei große Exkurse zu den Begriffen des calidum innatum und des spiritus ein; sie sind der eigentliche Kern der Abhandlung. In ihnen entwickelt er sehr originelle Thesen zum Wirken der Wärme und des Spiritus. Motiviert durch anatomische Neuerkenntnisse, 18 vor allem das Fehlen des rete mirabile beim Menschen, bestreitet Argenterio die Existenz eines gesonderten spiritus animalis und schlägt dagegen vor, nicht nur das calidum innatum, sondern auch 15 16

17 18

Vgl. DBI; zu diesem Begriff vgl. L. Deer-Richardson, The generation of disease. Argenterio, De somno et vigilia. S. 322: »Ex quibus vim patere puto somnum et vigiliam nec communis sensus nec caloris passiones esse, etsi ab illis utrumque fiat: sed ipsius animalis: et propterea non in corde fieri, aut in cerebro, sed in universi animali.« Vgl. Aristoteles, D e somno; Galen, passim. Wichtig ist hier Berengario da Carpis und Vesalius' Bestreitung der Existenz des rete mirabile beim Menschen (vgl. Vesalius' De humani corporis fabrica von 1543, S. 622ff. und passim); in dem rete mirabile soll nach der Galenischen Theorie der spiritus Vitalis in spiritus animalis umgewandelt werden; wenn es aber anatomisch nicht nachweisbar ist, gibt das einen gewissen Anlaß, auch die Existenz des spiritus animalis zu bestreiten (vgl. auch O. Temkin, Galenism. Rise and Decline of a Medical Philosophy. Ithaca und London 1973. S. 142; Wear, Galen in the Renaissance. S. 233-237; zur Galenischen Theorie: R. E. Siegel, Galen's System of Physiology and Medicine. An Analysis of his Doctrines and Observations on Bloodflow, Respiration, Humors and Internal Diseases. Basel und New York 1968. I, G (S. 104ff.): »Cerebral bloodflow and the function of the brain«. Schon früher hatte vor allem Mainardi die Existenz des spiritus naturalis bestritten; diese Spiritusart war nie als ganz gesichert erschienen. Die Bestreitung des spiritus animalis dagegen ist erstmals von Argenterio vorgebracht worden.

256 den spiritus als einheitlich zu begreifen. Statt der in der galenischen Tradition angenommen drei Spiritusarten (naturalis, Vitalis und animalis) gebe es nur den einen spiritus Vitalis. Und es sei unsinnig, den Spiritus nach diversen Vermögen oder Seelenteilen in drei Typen aufzuteilen. »Jene glauben [...], daß der Spiritus ein Vehikel des Vermögens sei, und daß der Spiritus, der vom Herzen ausgeht, in sich verschiedene Vermögen eingemischt habe; aber wir sind der Ansicht, daß es im Spiritus überhaupt keine Kraft gibt. Und daß er aus keinem anderen Grund wirkt, als weil er jene in den Gliedern innewohnende Wärme verstärkt, damit ihre eigenen Vermögen anregt und sie geeignet macht, dank der stärkeren Wärme ihre eigenen Aufgaben besser auszuführen.« 19 Indem Wärme und Spiritus so im Zusammenspiel gedacht und zugleich die Theorien irgendwelcher geheimnisvoller >Kräfte< oder transportierter >Vermögen< verabschiedet werden, ist es Argenterio möglich, den Schlaf als Rückzug der Wärme nach innen und gleichzeitig als Affektion des ganzen Lebewesens zu erklären. Warum behandele ich diese Theorie so ausführlich? Ich tue das deshalb, weil ich die These vertreten werde, daß Telesio dieses Buch Argenterios von 1556 sehr genau studiert hat und daß es ihm der Ausgangspunkt für seine eigene Theorie nicht nur des Schlafes, sondern auch des einen Spiritus geworden ist.20 Dazu müssen wir nun übergehen zu Telesios physiologischen Schriften. Auch sie erwähnen außer Galen und Aristoteles 21 keinerlei Namen, die uns Indizien geben können. Um den Kontexten von Telesios Theorie auf die Spur zu kommen, werden wir deshalb zunächst einmal die Reaktion eines 19

20

21

Argenterio, De somno et vigilia, S. 320 (falsch paginiert als S. 308): »Credunt illi suos spiritus vehiculum esse facultatum, et eum qui a corde prodit, confusas in se habere universas facultates: at nos arbitramur in spiritu nullam esse virtutem: nec alia quidem ratione conferre, nisi quod ille calidum insitum membris augeat, facultatesque ipsas excitet, reddatque aptas, amplioris caloris beneficio ad propria officia exercenda.« Eine gewisse Beziehung zwischen Argenterio und Telesio hat schon Temkin gesehen (Galenism. S. 145): »But the idea as form of the body was anathema to a group of naturalist philosophers led by Bernardinus Telesius, who were Anti-Aristotelian as well as anti-Galenic. They too have to be considered for a better understandig of the position of Argenterius, as well as of Galen, around 1600.« Aber eine genaue Verbindung ist nie hergestellt worden. Andere haben lose Verbndungen zwischen Telesio und Fernel sehen wollen; Thorndike, Bd. V. S. 559, assoziiert: »From such pre-Telesian and pre-Campanellian doctrine Fernel turs to occult diseases.« Und auch Walker, Astral body, sagt über Fernel: »On the other hand, though the main motive for Fernel's astrology may have been only intellectual comfort, this does not mean that it was worthless or sterile. It contains perhaps the seeds of the by no means empty philosophies of nature later develloped by such thinkers as Telesio and Campanella, Patrizi, Bacon or William Harvey.« (S. 126; zu Argenterio: S. 127). Und in einigen Fällen Celsus und Theophrast.

257 zeitgenössischen Lesers betrachten, der das medizinische und philosophische Umfeld der Diskussionen um den Spiritus kannte. Andrea Chiocco, ein in Padua ausgebildeter Veroneser Arzt, verfaßt nur drei Jahre, nachdem Antonio Persio Telesios kleine Schriften als Varii de naturalibus rebus libelli herausgegeben hatte, eine Replik auf die Thesen zur Einheit des Spiritus. Chioccos Abhandlung De facúltate irascibili et pulsifica pro Galeni sententia findet sich in seinen Quaestionum philosophicarum et medicarum libri tres. Sie ist Telesianum quendam Virum doctissimum gewidmet, eine Formel, mit der Antonio Persio gemeint ist. 22 Und sie scheint genau das Herz der Argumentation freizulegen, die Telesio in Quod animai universum ab unica animae substantia gubernatur vorführt. Chiocco macht als Telesios Kernpunkt die These aus, daß die facultas irascibilis, die bei der traditionellen Dreiteilung der Seele die Mittelstellung einnimmt und dem pulsierenden Herzen zugeordnet ist, eine Sache des Gehirns sei, genauer jenes spiritus animalis, der in den Gehirnventrikeln seinen Ort hat. »Hier nämlich ist euer Asteropaeus, euer Junonischer Foetus, der gewährleistet, daß euch die Philosophie der Seele immer ausgebessert und gesichert ist.« 23 Was will Chiocco damit sagen? In der Tat war ja Telesios Seelentheorie das brisanteste Stück seiner Philosophie, und Telesio hatte allein die Anfangspassage von De somno wegen der problematischen Beziehung von anima ex semine deducía und anima de Deo creata ein halbes Dutzend Male umgeschrieben , 24 Chiocco fährt fort, Telesio zu charakterisieren: Er verurteilt dann die Lehre von Galen, daß das Pulsierungsvermögen dem Herzen zugeschrieben wird, weil es eher dem oben genannten Spiritus zuzuschreiben ist, denn wenn das Gehirn verletzt sei, wie bei der Apoplexie, verändern sich sogleich die Pulsschläge, was ein Anzeichen dafür ist, daß nicht das Herz, sondern der Spiritus des Gehirns verletzt ist; es gibt nämlich dann im Herzen keinerlei Schaden, andernfalls würde folgen, daß das Herzinnere animalisch sei, dessen Aktion beschädigt werden kann, wenn es selbst überhaupt nicht affiziert ist, in welcher Eigenschaft die animalischen Teile von den naturalischen sich nach Galen unterscheiden; niemals nämlich wird eine Aktion der naturalischen angegriffen, wenn nicht auch diese selbst affiziert werden, während bei den animalischen vom Gehirn aus so wie die Helligkeit von der Sonne eine zugehörige Aktionskraft herabfließt; aber das Herz ist ein naturalisches Glied, und weil die Pulsschläge sich bei Apoplexie verändern und das Herz offensichtlich nicht affiziert wird, scheint man zu recht folgern zu müssen, daß anderswoher die Ursache des natürlichen und außernatürlichen Pulses gesucht werden muß; [.. .].25 22 23

24 25

Zu Persios Reaktion auf diese Widmung vgl. Kap. VI. A. Chiocco, Quaestionum philosophicarum et medicarum libri tres. Verona 1593. S. 124; vgl. den Text in der übernächsten Anm. Vgl. die Varianten in V N R L S. 409-414. A. Chiocco, Quaest. phil. et med. S. 123ff.; »Vereor sane doctissime Vir, ne

258 D a s A r g u m e n t b e r u h t a l s o auf d e r U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n u n d animalis,

w o b e i h i e r d e r B e r e i c h d e s spiritus

animalis

naturalis

g e m e i n t ist.

D i e s e s A p o p l e x i e - A r g u m e n t ist s e h r auffällig; e s b e s a g t , d a ß b e i e i n e m Schlaganfall die H ö h l e n und G ä n g e des Gehirns so verstopft w e r d e n , d a ß d e r spiritus

animalis

sich n i c h t m e h r d e m R e s t d e s K ö r -

pers übermitteln kann. A u s dieser Ursache heraus geraten dann auch d i e P u l s s c h l ä g e d e s H e r z e n s , d a s n u n n i c h t m e h r v o m spiritus g e s t e u ert ist, in U n o r d n u n g . W i r w o l l e n d e m A r g u m e n t e i n w e n i g f o l g e n , denn es kann uns durch das Gewirr der medizinischen Diskussionen f ü h r e n . T e l e s i o f ü h r t d a s A p o p l e x i e - A r g u m e n t in Quod versum

s e h r detailliert d u r c h .

26

animal

uni-

E r b e w e g t sich d a m i t z w a r i m g a l e n i -

quod vulgo dicitur ώς καικίας εφ' έαυτόντα νέφη ελκών in te iuremerito quadrare possit; cum enim vestra haec Telesiana Accademia iam fere veluti aetate ingravescente exolescat, et ad senium perducatur Aristotelis nostri, ut credo, fulgore, et semper fiorente gloria (ut Lucretianis utar verbis) praestricta, atque adeo ad internectionem usque devicta, sedulo id satagitis vos, ut ex omni natione simplices, et incautos Aristotélicos argumentorum quorundam specie in sectam vestram alliciatis: Quoiure, quave iniuria reliqui Telesiani id praestent, nolo in praesentia acrius exquirere: Tantum sane abest, te Virum doctissimum, et Aristotelis, et Telesii dogmatum scientissimum et μάστιγιπωθοΰς, ut ille ait, των α ν θ ρ ώ π ω ν φρένας δονοΰντα me propositis obiectionibus a veterum disciplina avertisse, ut potius me eidem longe addictiorem, nescio quo bono meo fato, reddideris. Obiicit igitur imprimis Telesius nullo pacto in corde irascibilem animae facultatem, aut sentientem omnino collocandam esse, idque Aristoteli, et Galeno in lib. de plac. et alibi vitio vertendum esse; hoc autem ex irascibilis conditionibus probare te existimas, malum enim ex contemptu, bonum ex honore dignoscere sentientis est facultas, et ratione maxima se gubernantis at cordis substantia cum sensus, et rationis sit expers ab omni irascendi muñere necessario erit abdicanda, paeterea animal iracundia praeditum appétit aliquid ultionem scilicet, et vindictam, movetur etiam, atque agitatur, quae omnes actiones non brutae cordis naturae, sed spiritui animali in cerebri ventriculis residenti sunt ascribendae, hic enim vester est Asteropaeus, vester Iunonius faetus, qui philosophiam de anima vobis semper sarctam, et tutam praestat; Damnat deinde Galeni decretum, quod pulsifica facultas cordi tribuatur, cum praedicto spiritui potius sit tribuenda, laeso enim cerebro, ut in Apoplexia, statim immutantur pulsus, quod inditio est non cor, sed cerebri spiritum oblaedi, nullum enim tunc in corde vitium est, alioquin sequeretur corviscus esse animale, cuius actio laedi potest ipso minime affecto, qua in re animales partes a naturalibus Galeno discrepant, nunquam enim naturalium actio offenditur, nisi ipsae quoque afficiantur, cum animalibus a cerebro tamquam lumen a sole cognata actionis vis defluat, at cor membrum est naturale, cumque pulsus in apoplexia alterentur, neque cor manifeste afficiatur, iure videtur esse colligendum aliunde pulsus naturalis, et praeter naturam constituí causam esse requirendam; Haec ratio fuit Telesii cap. 19 sui libelli de unica anima contra Galenum.« 26

Telesio, Quod animai universum ab unica animae substantia gubernatur. Kap. XIX; V N R L S. 237f.: »Inde etiam patere Galeno poterai ab anima in cerebro residente dilatari constringique cor, quod corde nihil affecto, at cerebro tantum, maxima fit in pulsibus alterado, et deficere etiam interdum videntur, quod iis cognata actionis vis insit, animalibus vero a principio, veluti lumen a Sole, ipsa defluat. >Quare Solis (inquit) partibus, quae sentiendi et sese movendi vim habent (quae scilicet ab anima omnes regi videntur Galeno) accidit ut ipsis, ne-

259 sehen Kontext, 27 verwendet das Argument aber dezidiert gegen Galen. Läßt sich über dieses Argument eine Spur finden, von wo her Telesio seine medizinischen Inspirationen bezogen haben kann? Ja. Der wohl differenzierteste Galen-Kritiker in der Mitte des 16. Jahrhunderts ist Giovanni Argenterio gewesen, der oben genannte Verfasser des Buches über den Schlaf. Argenterios großer Kommentar In artem medicinalem Galeni28 ist eine eindringliche Kritik an vielen Lehrstücken Galens. 29 Argenterio ist, nachdem er lange Zeit in Pisa verbracht hat, 1555 bis 1560 Professor für Medizin in Neapel gewesen, also sehr nah am Umkreis von Telesio. Nun beruht die Argumentation in De somno et vigilia dieses Autors in einem wesentlichen Stück auf der Betrachtung von Affektionen des Gehirns: bei Lethargie, Bewußtlosigkeit, Epilepsie oder Apoplexie. 30 Dieses Vorgehen folgt aus seinem Ansatz, Schlaf besonders als Defekt von sinnlichen Vermögen zu betrachten. Der Apoplexievergleich mit dem Schlaf ist sonst eher ungewöhnlich, und man hat denn auch Argenterio mit diesem Ansatz identifiziert, wie die Reaktion eines zeitgenössischen Mediziners, Celsus Mancinius aus Ravenna, zeigt. 31

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quaquam interdirai affectis, eorum nihilominus actio exsolvatur, id quod naturalibus minime evenire soletphilosophi< scheint mir eine rhetorische zu sein, da die Zitate eindeutig nur einem Autor entnommen sind. Vgl. Argenterio, De somno et vigilia. S. 74: »Si diceret internas partes calorem ad se allicere, ut eo munimento se tueantur, et liberent ab eo, quod nocet, aliquid forte diceret: at proponere illum sponte moveri, est absurdum.« Edb. S. 67f. (ich kursiviere die von Telesio zitierten Passagen): »Nam cum animae, et corporis sit instrumentum, utique oportet illud sequi illorum motus: trahunt ergo partes corporis calidum innatum, quando illius opera opus habent. Illud idem a se repellunt, quando quiescere volunt: siquidem eo praesente, necesse est actiones fieri: ubi enim opus est concoctione, partes in quibus illa perficitur, nativum calidum ad se alliciunt; ita partes quae sentire, vel movere aut cogitare, aut aliquid aliud facturae sunt, trahunt ad se innatum calidum, et humores solos alliciunt, quando illis est opus nutritione; et non solum quidem nativum calidum advocant membra corporis, sed contrahunt simul, aut extramittunt, aut absumunt, et fervore in eo excitant: et denique eo utuntur, ut illis est opus, et in eo moliuntur, quod postulant animae facultates, et partium actiones; ut in ira, timore, tristitia, laetitia, et aliis diis huiusmodi affectionibus contingere videmus, in quibus cor diversis animae facultatibus agitatum, calido nativo varie utitur, et cum eo, et in eo vim suam exercet.«

261 expandunt, ut in ira et gaudio. 35 Siquidem non id est caloris ingenium, ut vel a partibus, quibus inest, ullo ipsarum motu repellatur, vel aliarum motu allectus inde ad alias migret, et excitari quidem augerique a rerum quibus inest motu, at imminui et veluti in torporem deiici nunquam apparet; et summopere mirari licet quibus calor stupidus sui natura immobilisque videtur, partes ipsius praesentia sentientes mobilesque iis fieri videri, itaque facultatibus ab eo, quibus ipse penitus caret, eas donari; et magis etiam quod, obstructis clausisque cerebri ventriculis, animai sopiri, et apoplecticos propterea sensu motuque privari intuiti, quod cerebri ventriculi cavitatesque occlusae sint; itaque sentiendi motusque aedendi facultatem a re partibus afferri, quae manifeste ventriculis inexistat, et ab iis ad illas accedat, a spiritu nimirum in illis contento (neque enim res alia ulla illis inesse videri potest); non perpetuo a spiritu sentiendi seseque commovendi vim partibus indi, itaque et somnum eius e partibus abscessu fieri statuant, cum praesertim nulla id ponentibus incommoda substinenda nullaeque subeundae sint difficultates, quae innumerae inexplicabilesque positiones alias quasvis excipiant; sed positionis tenaces spiritui calidum innatum immiscent et sanguini id indunt in arteriis contento, quod igitur nullum prorsus ventriculis inesse potest. >Quoniam (inquiunt) 3 6 nervi visorii e cerebri parte quae ventrículos constituit fere enascuntur, spiritusque et calidum nativum, cuius merito somnus fit magna ex parte in illis continetur, optima ratione fit ut in sopore magis ventriculi afficiantur quam cerebri ipsius substantia; argumento quod cerebro per vulnera aut inflammationes affecto, non affectis ventriculis, sopores haudquaquam sequuntur; at ventriculis clausis atque obstrictis, illaeso cerebro, animal sopitur, adeo ut vere dicere possimus ob ventriculorum affectionem calidum impediri et perpetuo somnos fieriApoplectici (inquiunt) 3 7 35

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Ebd. S. 78: »Sunt autem ex partibus internis, quae calorem advocant, eo quod ille opus habeant ad sua opera peragenda: quo modo ventriculus calore utitur, dum alimentum concoquit, alia vero, ut cor, certas habet passiones, certos motus, quae peculiari quadam ratione, calorem contrahunt, ut in timore, et tristitia contigit: nam ut in ira, et gaudio cor certos aedit motus, per quos calor expanditur, sic in timore, et tristitia alios facit, quos necessario sequitur caloris contractio.« Ebd. S. 326: »Quapropter optime Galenus in Apoplexia utranque partem anteriorem, et posteriorem laborare scribit: quoniam pari modo sensus, et motus laedantur: In cataphora, autem caro, et lethargo, quia sensus solum, aut magis quam motus offenditur, ideo anteriorem magis pati rationi consonum est. Quoniam vero nervi sensorii a cerebri parte quae ventrículos constituit, fere nascuntur, spiritusque et calidum nativum, cuius merito somnus fit, magna ex parte in illis continetur, optima ratione fit, ut magis afficiantur ventriculi in sopore, quam cerebri ipsius substantia: argumento quod cerebrum affectum per vulnera, aut inflammationem, non affectis ventriculis, sopores haudquaquam sequantur: ventriculis autem clusis, et obstructis, cerebro illaeso, sopiatur animal: adeo ut vere dicere possimus, ob affectionem illorum ventriculorum, nativum calidum impediri, et perpetuo somus fieri, umquam autem ob cerebri passionem, nisi quatenus ilia ventriculis obest. Itaque si soporosum affectuum, qui vere soporosi sunt, locus est cerebri anterior pars, et maxime ventriculi, necesse est naturalium quoque somnorum ex Galeni opinione eundem esse locum: non quod aliquid peculiariter patiatur, ut in aliis, qui praeter naturam consistunt: sed quod ea loca calido nativo destitua vim suam ad sensoria transmittere nequeant.« Ebd. S. 28: »Quod vero paralitici non sentiant, aperte agnoscunt medici id fieri, propterea quod facultas nequit, ob affectum nervorum pervenire ad sensoria. Atqui apoplectici omni sensu, et motu privantur, quia cerebri ventriculi, et cavitates occlusae sunt, ita ut per illas facultati, et calido, via non pateat ad ñervos. Porro in vehementi timore homo non videt, non audit, non movetur: quoniam in huiusmodi passionibus innatum calidum ad suam originem, nempe cor, con-

262 omni sensu et motu privantur, quia cerebri ventriculi et cavitates occlusae suntquod per illos facultati et calido via non pateatDa die Sehnerven (sagen sie) fast aus dem Gehirnteil, der die Ventrikel ausmacht, heraus entstehen, und der Spiritus und die eingeborene Wärme, durch deren Verdienst der Schlaf eintritt, zu einem großen Teil in ihnen enthalten sind, geschieht es aus bestem Grund, daß bei einer Betäubung mehr die Ventrikel affiziert sind als die Gehirnsubstanz selbst; aus dem Argument, daß durch ein verwundetes oder entzündetes Gehirn, nicht durch affizierte Ventrikel, Betäubungen in keiner Weise folgen; aber bei verschlossenen oder zugeschnürten Ventrikeln, aber unverletztem Gehirn, ist das Lebewesen betäubt, so daß wir also zu recht sagen können, daß wegen der Affektion der Ventrikel die Wärme behindert wird und ein beständiger Schlaf eintritt.< Dann an einer anderen Stelle: >Die Apoplektiker (sagen sie) sind jedes Gefühls und jeder Bewegung beraubt, weil die Ventrikel und Kammern des Gehirns verschlossen sindWeil dem Warmen und dem Vermögen der Weg durch sie hindurch nicht offen seiApoplektiker (sagen sie) sind jeden Sinnes und jeder Bewegung beraubt, weil die Ventrikel und Höhlen des Gehirns verstopft sindhimmlische< und >intelligente< Wärme Ferneis, die er naturalisieren wollte, indem er sie mit dem Spiritus vermischte. Aber Telesio ist weniger besorgt um die neuplatonischen Auswirkungen eines Fernel; für ihn ist Argenterios Kompromiß mit einer >dummen< Wärme und einem intelligentem Spiritus schon aus anatomischen Gründen nicht annehmbar: Die großen Arterien enthalten zwar viel Blut, sind aber eher in den unsensiblen Körpergegenden zu finden, die sensiblen Teile dagegen, besonders Gehirn und Sinnesorgane, sind sehr viel weniger mit großen Arterien versorgt. Deshalb ist nach Telesio weder die Ferneische >himmlische< Wärme noch der Argerteriosche Kompromiß zu akzeptieren, sondern nur eine radikale Lösung: Der sensible Spiritus muß allein als Prinzip betrachtet werden, und zwar auch für die Leistun41 42

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Telesio, D e somno. V N R L S. 4041; vgl. den oben zitierten Text. Telesio, De somno. V N R L S. 401: »[...] at quae omnes calorem nativum (qui a corde derivare et in arteriis contineri, cuiusque ad externas partes accessu et praesentia sensus fieri videtur) ad internas repellant vel imminuant vel ad motum ineptum faciant.« Telesio, D e somno. V N R L S. 406; vgl. den oben zitierten Text.

265 gen, etwa die Pulsation oder die Alterationsprozesse, die sonst der natürlichen Wärme zugeschrieben werden. Das ist, wenn man will, eine ultragalenistische Lösung: Sie betont die Prävalenz des Gehirns - besser des spiritus animalis, des Asteropaeus der Telesianer, wie Chiocco gesagt hat - noch mehr als Galen es getan hat und behauptet gegen Argenterio, daß sein eigenes Apoplexie-Argument erst in dieser Annahme voll ausgeschöpft sei. Wahrscheinlich konnte nur ein Nicht-Mediziner wie Telesio, frei von Skrupeln über medizinische Folgeprobleme und Details, auf eine so radikale Konzeption verfallen. 44 Auf den ersten Blick erstaunt es, daß Telesio, der Philosoph, der die Wärme zum entscheidenden Agens der Natur iuxta propria principia macht, in der Physiologie nicht Fernel und Argenterio folgt und wie sie auch dort die eingeborene Wärme als Grundprinzip ausbaut; nichts anderes wäre zu erwarten gewesen. Statt dessen aber entscheidet sich Telesio für eine Physiologie des spiritus animalis. Warum? Hat es mit der Absetzung von der aristotelischen Tradition zu tun? Mit der Absetzung von Argenterio? Schaut man genauer auf den telesianischen Begriff des Spiritus, dann werden einige krasse Behauptungen wieder verständlicher. Der Spiritus ist ja für Telesio nichts anderes als eine ganz und gar von Wärme bestimmte subtile Materie: Er ist dünn, beweglich, empfindend. Deshalb ist es keine alternativenlose Preisgabe, wenn sich Telesio von der eingeborenen Wärme verabschiedet und Argenterios mit Spiritus versetztes arterielles Blut ablehnt. An die Stelle des herkömmlichen calidum innatum wird ein calidum gesetzt, das als übermäßig feine Verbindung aus Materie und Wärme gedacht ist und das die Eigenschaften des spiritus animalis mit denen einer >intelligenten< Wärme synthetisiert. So sehr weit ist dann Telesios Konzeption von der Argenterios nicht; in beiden Fällen geht es um ein Überwinden von aristotelischen und galenischen Positionen in der calidum innatum-Frage hin zu einer einheitlichen, monistischen Auffassung. Auf den Schultern von Argenterio stehend, kann sich Telesio die Reduktion der drei Spiritus-Arten auf eine erlauben. Die Innovation und die argumentative Auseinandersetzung innerhalb der medizinischen Diskussion hat Argenterio geleistet, als er erstmals für einen einzigen Spiritus plädierte. »Wenn nämlich die eingeborene Wärme identisch ist mit dem Spiritus, eine spirituose Substanz (wie ich vorher aus der Ansicht von Galen bewiesen habe), ist es in der Tat notwendig, daß der einströmende Spiritus einer ist, und es gibt niemanden, 44

In D R N 1586, V, 30, faßt Telesio den Vergleich von Schlaf und Apoplexie noch einmal zusammen: »Temporarii itidem interitus, apoplexia, animae delinqua et somnus, idem declarant.«

266 der sagt, daß die einströmende eingeborene Wärme dreifach sei, naturale, vitale und animale. Deshalb ist das Blut eines, eine die Masse der Säfte, die zur Zeugung und Ernährung des ganzen Körpers für ausreichend angesehen wird, und einer wird auch der Spiritus sein; er entsteht nämlich aus dem Blut und Saft durch Ausdünstung.« 45 Dieses Plädoyer für einen medizinischen Unitarismus hat Telesio aufgenommen, auch wenn er es auf seine Weise für den spiritus animalis umgesetzt hat. Und über diesen Weg ist der Ausgang geschaffen worden für neue, fruchtbare erkenntnistheoretische Folgeprobleme: Denn mit dem einen Spiritus kann nun als monistischer Grundlage für Operationen der Wahrnehmung, des Erkennens und des Handelns gerechnet werden. Das wissenschaftliche Prestige, die reale Möglichkeit, solche Konzeptionen überhaupt in den Diskurs einführen zu können, borgt Telesio von der Innovation Argenterios. Ohne sie wäre die Spekulation Telesios keine relevante Spekulation gewesen. Allerdings ist der Ausgang von Argenterio natürlich nur die eine Stütze der Argumentation. Für die Absetzung von ihm muß er die Beweislast tragen. Daß ihn dabei die von Galen angeführte Analogie mit Sonne und Helligkeit leiten kann, werde ich in Abschnitt 5 genauer betrachten; aber diese Analogie ist nicht der Ersatz für ein Argument. Telesio muß vor allem zwei Dinge zeigen: 1) Es muß bewiesen werden, daß so essentielle Dinge des >natürlichen< Bereiches von Herz und Wärme wie die Pulsation vom Spiritus, und nicht von der Wärme oder der facultas irascibilis der Seele gesteuert werden. 2) Es muß gegenüber einem Konzept von calidum innatum, das dieses als eine Komplexion aus Wärme und Kälte versteht, gezeigt werden, daß das neue calidum, das mit dem spiritus identisch ist, auch für Körperprozesse aufkommen kann, die sonst über die Kälte-Komponente des calidum innatum erklärt worden sind. Die Antwort auf das erste Problem wollen wir in Abschnitt 3 erörtern, die Antwort auf das zweite in Abschnitt 6.

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Argenterio, De somno et vigilia. S. 305: »Si enim innatum calidum idem est cum spiritu, spiritosaque substantia (ut antea ex Galeni opinione demonstravi) necesse profecto est, unum esse influentem spiritum, quoniam huiusmodi calidum unum est: nec est aliquis, qui dicat, influens calidum nativum triplex esse, naturale, inquam, vitale, & animale. Praeterea, si unus est sanguis, una humorum massa, quae ad generationem, & nutritionem universi corporis sufficere agnoscitur, unus quoque erit spiritus; utpote qui ex sanguine, & humore per evaporationem fiat.«

267 3. Puls Der allgemeine Kontext vieler Diskussionen ist offenbar immer wieder die Differenz zwischen Galenisten und Aristotelikern über die Prävalenz von Gehirn oder Herz. Aus der heutigen Distanz mag uns diese Kontroverse unfruchtbar erscheinen, aber wir sehen, wieviel Dynamik im 16. Jahrhundert aus ihr erwachsen ist. Auch Philosophen wie Simone Porzio haben sich in diese Debatten eingeschaltet, und Argenterio geht auf ein Argument seines Kollegen in Pisa leicht kritisierend ein; er nennt ihn nostri temporis philosophus, eine Bezeichnung, die dann Telesio auf Argenterio selbst anwendet. Porzio hat in seinem Buch De dolore, das einem weiteren Pisaner Medizinerkollegen, Vidus Vidius, gewidmet ist,46 aristotelische Auffassungen über Empfindung, Schmerz und Lust mit denen der medizinischen Tradition konfrontiert. Er hat sich dort auch auf spezielle Probleme eingelassen. Argenterio geht auf diese Passagen bei Porzio ein. »Dieses Argument jedenfalls hat, als es Porzio, ein Philosoph unserer Zeit, ausspielen wollte, seine Ungeeignetheit verraten: Denn er sagte, daß seine Fußgicht nach einem Schnitt der Vene im Ellenbogen nachlasse und daß deshalb das Übel nicht in den Teilen sei, in denen das Heilmittel angewendet wird; aber er wußte wie viele andere nichts von der doppelten Art der Heilmittel.« 47 Wieder geht es um die Lokalisierung von Funktionen und Krankheiten. Porzio und Argenterio sind von 1545 bis 1554 am studio in Pisa Kollegen gewesen, der eine auf dem philosophischen, der andere auf dem medizinischen Lehrstuhl. 48 Beide haben enge Verbindungen nach Neapel. Es gibt in Mittelitalien manche Bestrebungen, eine Naturphilosophie im engen Kontakt zur Medizin zu entwerfen, die nicht unbedingt mehr originär aristotelisch oder galenisch ist. G. Saitta sagt 46 47

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S. Porzio, De dolore. Florenz 1551. S. 3. G. Argenterio, De somno et vigilia. S. 322: »Quod quidem argumentum, quum Portius nostri temporis philosophus eludere voluisset, suam podidit inscitiam: nam podagram suam venae sectione in cubito mitescere dicebat, non propterea malum esse in illis partibus, quibus remedia adhibentur: at ille, ut multa alia, ignorabat duplex esse remediorum genus [...].« Weiter: »quoddam, quod revellendo, fluxionesque sistendo, partibus longe distantibus succurrit: aliud vero quod malis medetur in parte affecta conceptis: quae ob id localia auxilia dicuntur, de quibus Galenus agit. Iam dicat ille an cataplasma quae ad dolorem pedem faciunt, prosint si cubito applicentur. Habebat ille aliud, quo posset commodius opinionem Galeni refeilere, quod nempe refrigerantia auxilia, quae cordi admoventur somnum etiam concilient.« Zur aufstrebenden Universität Pisa in diesen Jahren vgl. Ch. Β. Schmitt, The Studio pisano in the European Cultural Context of the Sixteenth Century. In: Firenze e la Toscana dei Medici nell' Europa del '500. Firenze 1983. S. 19-36. Ders., The Aristotelian Tradition and Renaissance Universities. London 1984.

268 über Porzio: »II Porzio non sa staccarsi dallo spirito della filosofia aristotelica ma in essa inserisce concetti che sono tutt' altro che aristotelici.«49 Ähnliches gilt für Argenterio. Die Themen sind immer wieder: Sinnlichkeit, Wärme, Licht, Affekte. Nach diesen Präliminarien muß man sich nicht mehr wundern, wenn man Telesio, den Philosophen, mitten in einer medizinischen Debatte wiederfindet. Kommen wir also auf das Problem, wie sich Telesio von Argenterio absetzt. Argenterio hatte klar gesagt. »[...] nulla a corde emanai vis in alias partes, praeterquam in arterias pulsandi facultas.« 50 Das war zwar eine Befreiung des Herzeinflusses von obskuren >Kräftenmechanistischen< Theorie der Arterienerweiterung durch Spiritus verbunden, aber zumindet umgekehrt gilt, daß bei Wirken des Spiritus Ungleichzeitigkeit folgt. Andrea Chiocco ordnet Telesios Ansicht einer bestimmten antiken Quelle zu. »Über das pulsgebende Vermögen ist Telesios Meinung von größerer Absurdität und Paradoxie. Er scheint die Lehre, die schon als die von Asclepiades und Erasistratus verworfen worden war, wieder aufzufrischen; beide nämlich haben gemeint, daß Arterien erweitert werden, weil in sie Spiritus einfließt, bei Asclepiades äußerlich durch übermittelten Spiritus, bei Erasistratus durch vom Herzen her einfließenden; sie kannten kein Wirkungsvermögen des Pulses an. Telesio, der gleichfalls meint, daß vom spiritus animalis der Puls der Arterien hervorgebracht wird, scheint mehr mit Asclepiades übereinzustimmen.« 56 Chiocco kann sich hier zwar in der Sicherheit des Galenisten zurücklehnen, der weiß, daß seine Meinung die herrschende ist und daß die andere Ansicht längst von Galen zurückgewiesen wurde, aber er ist im Unrecht, wenn er Telesios Rückgriff auf Asclepiades und Erasistratos einfach als absurd abtut. 54 55

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Bylebyl, Disputation and Description. S. 229ff. Vgl. Bylebyl, Disputation and Description, 233f.; Chiocco, Quaest.phil. et med., 132f. Chiocco, Quaest. phil. et med. S. 131: » D e pulsifica facultat maior absurditas, et π α ρ α δ ο ζ ό τ ε ρ ο ς est Telesii sententia. Videtur vero Asclepiadis, et Erasistrati explosum iam dogma refricare, utrique enim dilatari arterias censuerunt influente in eas spiritu Asclepiades quidem spiritu extrinsecus transmisso, Erasistratus a corde influente; nullam hi pulsus facultatem effectricem agnoscebant;

271 Denn gerade in den Jahren der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gibt es erste Versuche, wegen anatomischer Beobachtungen und theoretischer Probleme die mechanistische Position von Erasistratos wieder aufzuwerten. So kann man in De re anatomica, einem Buch, das Realdo Colombo 1559 herausgibt, den Satz lesen: »Arteria non per se sed a spiritu movetur.« 57 Und auch Julius Caesar Scaliger schreibt 1557 in seinem Exotericarum exercitationum Uber, das Herz werde von der Seele bewegt, aber die Erweiterung der Arterien resultiere aus der Kontraktion des Herzens und des Einströmens von Spiritus.58 Das sind zwar sehr vereinzelte Positionen, aber sie zeigen eine neue Richtung an. Im übrigen sind die Daten 1557 und 1559 möglicherweise ein weiteres Indiz dafür, daß Telesio seine Theorien von Quod animai universum und De somno in den Jahren nach 1556, und womöglich nach 1560, entworfen hat. An dieser Stelle ist eimal eine genauere Bestimmung möglich, wenn man von Antike-Rezeption oder gar Stoa-Rezeption bei Telesio sprechen will. Aber man sieht zugleich auch, wie sehr diese Rezeption von Erasistratos, des Mechanisten - durch das galenische Werk hindurch natürlich - in aktuelle Diskussionen eingebunden ist und wie wenig Sinn es macht, im Fall solcher selektiver und strategisch bestimmter Akzentsetzung innerhalb der aristotelisch-galenischen Spiritus- bzw. Pnei/ma-Überlieferung pauschal von einer >Stoa-Rezeption< zu sprechen. 59 Der zweite Aspekt von Telesios Argument, die Steuerung vom spiritus animalis her, gibt Telesios Auffassung in Quod ani mal universum noch eine ganz andere Richtung. Sie geht auf die Prävalenz des Gehirns in der Steuerung sämtlicher Körperfunktionen und will die Ausgangsbasis bereiten für eine reduzierte und monistische Erklärung leib-seelischer Prozesse. Die Feststellung Telesios quod animai universum ab unica anima gubernatur hat Persio in der einen Begründung zusammengefaßt, »quia omnes effectus uni illi reduci possunt.« 60 Erst der Monismus kann philosophisch interessante Folgekonzeptionen generieren, ohne daß man sich auf Konstrukte wie die diversen facultates animae stützen müßte.

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Talesius [sic!] pariter a spiritu animali pulsum arteriarum edi existimans, cum Asclepiade magis convenire videtur.« R. Colombo, D e re anatomica. Venedig 1559. S. 180; zit. nach Bylebyl, Disputation. S. 238. J. C. Scaliger, Exotericarum exercitationum liber. Paris 1557. S. 365; nach Bylebyl, Disputation. S. 239. Zu Erasistratos und zu den antiken Kontroversen über das Pneuma vgl. W. Jaeger, »Das Pneuma im Lykeion«. In: Hermes 48 (1913). S. 29-74; vgl. auch F. Solmsen, »The Vital Heat, the Inborn Pneuma and the Aether«. In: The Journal of Hellenic Studies 77 (1957). S. 119-123. A. Persio. Ms. Linceo 1. Fol. 145v.

272 Die Phänomene, welche Telesio die Evidenz für den Einfluß des Gehirns auf den Puls liefern, sind in erster Linie die Veränderungen des Pulses bei Affektzuständen. Er entnimmt sie den Beschreibungen, die Galen gibt, insbesondere in den Werken De causis pulsuum, De utilitate respirationis und De difficultate respirationis,61 Genaue Pulsbeobachtung ist für Telesio offenbar eine paradigmatische Methode für seine sensitive Philosophie, ebenso wie im Bereich des Elementarischen die Beobachtung von Flammen. Nicht nur De somno beginnt mit einer Phänomenbeschreibung von schwachen und starken, von langsamen und schnellen Pulsschlägen. 62 Die Veränderung von Atmung und Puls im Affekt führen zu Überlegungen, die so etwas wie das Zentrum von Telesios Spiritus-Physiologie zu sein scheinen.

4. Affektphysiologie als Kern In den Passagen, die Telesio aus Argenterio zitiert, sind auch Aussagen über Körperreaktionen auf Affekte wie Zorn, Trauer oder Freude. Nach Argenterio ziehe sich aus einem bestimmten Grund das Herz und mit ihm die Wärme bei Furcht und Trauer zusammen, bei Freude dagegen gebe es eine Ausdehnung. 63 Diese aus Galen übernommenen Theoreme spielen bei Argenterio eine große Rolle; aber nach Telesios Kritik sind sie nicht wirklich mit den anderen Theoremen über das Verhalten der Wärme verbunden. Bei Argenterio geschähen diese Phänomene nur abseits der anderen, sagt Telesio: »et cor seorsum certas passiones certosque habet motus, qui peculiari quadam ratione calorem contrahunt.« 64 Nach seiner eigenen Auffassung sollte man nicht diese affektiven Phänomene von einer nichtsensiblen Wärme trennen, sondern die Erweiterungen und Zusammenziehungen als unmittelbare Manifestationen der Seele selbst begreifen. Nur wenn ein sensibler spiritus animalis als Ursache für die 61 62

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Vgl. Quod animai universum. Kap. X I X ff. Vgl. Telesio, D e somno. V N R L , S. 380: »Et qui dormientibus internis in partibus fiunt motus, pulsus nimirum in somni quidem initio (si Galeno credimus) minores languidiores fiunt, tum et tardiores rarioresque, postea vero tarditatem pedententim augent et raritatem, praesertim a cibo, at maiores fiunt vehementioresque; quod si diuturnior fiat somnus, ad remissionem et parvitatem redeunt, tarditatem et raritatem retinent; et ubi somnus cessât, e vestigio magni vehementes celeres crebrique fiunt et cum quaedam vibratione; at mox mediocritatem assequuntur.« Telesio, D e somno. V N R L , S. 405: »et cor seorsum certas passiones certosque habet motus, qui peculiari quadam ratione calorem contrahunt, ut in timore et tristitia; quosdam itidem qui ipsum expandunt, ut in ira et gaudio.« Vgl. dazu Argenterio, D e somno et vigilia. S. 78. Telesio, D e somno. V N R L , S. 405.

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Körperprozesse angenommen wird, können diese Affektreaktionen adäquat verstanden werden. In Quod animal universum werden die einzelnen Auswirkungen der Affekte auf den Puls sehr genau auseinandergelegt. Die Beobachtungen aus der Aristotelischen Affektrhetorik 65 und dann vor allem aus den Kreisen der Stoa, 66 die in Galens Werk enthalten sind, geben eine reiche Grundlage für Überlegungen zur Funktion des spiritus. Und Telesio geht so weit, daß er aus den Affektwirkungen auf den Puls in aller Direktheit auf ein Pulsieren der Seele selbst schließt. »Pulsus, qui in ea animae perturbatione, quae e metu et iracundia composita est, fieri Galeno videtur, animam pulsare manifestai.« 67 Und so ist denn auch der Schlaf für Telesio im Gegensatz zu Galen nicht nur ein Rückzug des spiritus animalis in die Gehirnventrikel, sondern ein Rückzug der Seele selbst, die sich erneuern und erhalten will.68 Der Seele selbst - denn Telesio reduziert ja nicht nur das calidum innatum und die drei Spiritusarten auf den einen Spiritus, er identifiziert diesen Spiritus gleichzeitig mit der Seele. Auch die Kautele von der anima ex semine educía gegenüber der anima a Deo creata kann nicht die Radikalität dieser Reduktion verschleiern. Der Spiritus ist, wie Chiocco richtig beschrieben hat, die Grundlage von Telesios Philosophie der Seele. Noch in dieser Reduktion klingt Argenterios von Fernel übernommenes Konzept eines Zugriffs auf das animai universum nach. Aber man konnte die Reduktion auch, wie es das 16. Jahrhundert so gern tat, als Rückkehr zu archaischen Ungetrenntheiten verstehen; man konnte Hippokrates zitieren, der doch das calidum und die Seele noch ungeschieden behandelt hatte. Bei überzeugten Galenisten, die zum Materialismus tendierten, kann man im 16. Jahrhundert diese Überzeugung antreffen. So bei Donato Antonio Altomare, auch er ein Mediziner aus dem Neapolitaner Milieu,69 der im Vorwort zu De alteratione, concoctione, digestione, schreibt, »daß eingeborene Wärme, Natur und Seele dasselbe sind.«70 Altomare relativiert zwar diesen Satz mit einem Bezug auf Hippokrates und mit einer Unterwerfung unter die Dogmen der Kirche; aber die Aussage bleibt trotzdem deutlich.

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Vgl. Aristoteles, Rhetorik, Buch II. Vgl. M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 7. Aufl. Göttingen 1992. Bd. I. S. 149. Telesio, Quod animai universum. VNRL, S. 241. Bei Galens schillerndem Seelenbegriff ist dagegen nicht immer deutlich, ob es sich nur um den Spiritus oder um die Seele selbst handelt. Vgl. DBI Bd. 2. Sp. 568f. (A. Meola). D. A. Altomare, De alteratione, concoctione, digestione [...] methodus. Neapel 1542. Fol. l l v ; Altomare hatte ein Verfahren vor der Inquisition zu bestehen

274 Warum ist die Gedankenlinie Puls - Affekt - spiritus animalis Seele für Telesio das Zentrum seiner physiologischen Argumentation? Mit der Theorie des zugleich quasimechanistisch wirkenden und empfindenden Spiritus kann er anschließen an die in den meteorologischen Schriften entwickelte Konzeption von einer Wärme, die als reale Kraft auf Kälte und in Materie wirkt und gleichzeitig als empfindend gedacht ist. Dabei war, so hatten wir gesehen, das Vermögen des sensus nicht ein Freibrief für unkontrolliert animistische Theoreme gewesen. Der sensus hatte auf der Basis bestimmter Erklärungsweisen einen Gestaltwandel der Interpretation herbeigeführt, der keine neuen Phänomene postuliert hatte. Jetzt, in der Physiologie, lehnt sich Telesio - ohne dies ausdrücklich zu machen - an den sensus-Begriff Galens an: sensus ist perceptio passionisi eine zweistufige Eigenschaft also. Sensus ist die interne Registrierung einer Einwirkung, ist also völlig an die Passions-Fähigkeit des Spiritus gebunden, der sich ausdehnen und zusammenziehen kann. Diesen Veränderungen entsprechen die Affekte Lust und Unlust. 72 Im letzten Kapitel von Quod animai universum führt Telesio eine Theophrast-Stelle aus De sensu an, die ihm sehr teuer gewesen sein muß, da er sie mehrfach in seinen Werken verwendet. 73 Es geht um die physiologische Reaktion im Affekt des Zorns, die Erhitzung und die Pulsbeschleunigung; besonders aber geht es um die Reaktion der Augen. Die Augen werden weit, weil, so Telesio nach Galen, Spiritus in sie einfließt, und sie senden gleichsam Flammen aus. Das ist das Bild des Theophrast. In diesem Bild vereinigen sich die Bedeutungsfelder von elementarer Wärme (Flamme), von Affektivität und Licht, von Physiologie der Augen und des Spiritus und einem aktiv zurückweisenden Blick. Es mag die Dichte dieses Bildes gewesen sein, die Telesio angesprochen hat.

5. Der sonnenhafte Spiritus In den Kopien von Antonio Persios Aufzeichenungen, die sich heute im Ms. Linceo 1 befinden, sind einige Textstücke, die aus den Opus-

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(vgl. DBI), das sicherlich nicht zuletzt mit seinen materialistischen Ansichten in Zusammenhang stand. Vgl. Galen, D e placitis Hippocratis et Piatonis. Buch VII. S. 469 mit Bezug auf Hippocrates; Telesio, D R N 1586, Buch VII; vgl. auch A. Donio, D e natura hominis. Basel 1581. Vgl. D R N 1586, Buch V und VII. Telesio, Quod animai universum, VNRL, S. 287; vgl. auch S. 255.

275 cula Telesios die Galenzitate extrahiert haben. 74 Unter ihnen ist das Zitat, das Telesio im 19. Kapitel von Quod animal universum herangezogen hatte und das wir oben schon in Chioccos Referat kennengelernt haben, als dieser sagte, daß den animalischen Teilen des Körpers vom Gehirn ihre Aktivitätskraft zufließe wie die Helligkeit von der Sonne. Das Zitat lautet: »Daher geschieht es durch die Teile der Sonne (sagt er), die die Kraft zu empfinden und sich zu bewegen haben (die nach Galen gewissermaßen alle von einer Seele regiert zu werden scheinen), daß durch sie selbst, obwohl sie unterdessen affiziert sind, die Wirkung nichtsdestoweniger ausgelöst wird, etwas, was sonst in der Natur keineswegs zu geschehen pflegt.« 75 Telesio hatte in seiner Lichttheorie ja zeigen können, daß die Wärme-species sich durch das dünne Medium der Luft fortpflanzen, ohne ihre Wirkung zu verlieren. Im Satz vor diesem Zitat weist Telesio auf den Vergleich von spiritus animalis und Sonne hin. 76 »Daher konnte es auch Galen klar sein, daß das Herz von einer im Gehirn residierenden Seele erweitert und zusammengezogen wird, weil im Herzen bei einem Gefühl nichts, aber im Gehirn viel, ja die größte Pulsänderung geschieht und bisweilen der Puls auch schwach zu werden scheint; denn nach Galen scheinen die naturalischen Organe von den animalischen verschieden zu sein, weil den naturalischen eine zugehörige Handlungskraft innewohnt, bei den animalischen die Handlungskraft aber von einem Ursprung her, wie das Licht von der Sonne, herausfließt.« 77 Der Ver74

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Ms. Linceo 1, Fol. 146vff.; die - etwas veränderten - Zitate sind aus De somno X und XII sowie Quod animai universum XIX extrahiert. »Quare Solis (inquit) partibus, quae sentiendi et sese movendi vim habent (quae scilicet ab anima omnes regi videntur Galeno) accidit ut ipsis, nequaquam interdum affectis, eorum nihilominus actio exsolvatur, id quod naturalibus minime evenire solet.« Vgl. Galen, De placitis Hippoctratis et Piatonis. Hg. von de Lacy. Berlin 1980. Buch VII. S. 455; ich zitiere aus der engl. Übersetzung: »It seems that the effect produced on the air around us by the emission of the pneuma is of the same sort as the effect produced on it by the light of the sun. For sunlight, touching the upper limit of the air, transmits its power to the whole; and the vision that is carried through the optic nerves has a substance of the nature of the pneuma, and when it strikes the surroundig air it produces by its first impact an alteration that is transmitted to the furthest distance - the surrounding air being, of course a continuum, so that in a moment of time the alteration spreads to the whole of it. This sort of thing is clearly seen also in the case of the sun's power.« Es wäre sehr ergiebig, en detail das VII. Buch De placitis mit Telesios Theorie zu vergleichen. Viele Anregungen, auch als Meinungen der Stoiker oder von Erasistratos, waren von hier zu beziehen; man findet neben der Pneumatheorie hier Aussagen zu Farben (461), Erkenntnis (471), Wahrnehmung, Lust und Schmerz (469), Spiritus im Auge (453) usw. VNRL, S. 237: »Inde etiam patere Galeno poterai ab anima in cerebro residente dilatad constringique cor, quod corde nihil affecto, at cerebro tantum,

276 gleich von Spiritus und Sonne hat für die Telesianer einen besonderen Reiz: Da der Spiritus für sie Wärme ist, empfindende Wärme, und diese Wärme diejenige der Sonne, bietet sich ein Ausdeuten der Metapher in der Weise an, daß die Grundlage der Metapher eine reale Konsubstantialität sei. In Persios Trattato dell ingegno dell' huomo heißt es dann ganz direkt: lo spirito nostro solare,78 Damit ist ein Berührungspunkt mit der verbreiteten Hochschätzung der Sonne in der Renaissance, 79 besonders unter Piatonikern, gegeben. Nun ist die Sonnenanalogie allerdings nicht einfach neuplatonisch oder stoisch, und sie ist auch nicht spezifisch auf den spiritus animalis beschränkt; im Gegenteil, gebräuchlicher ist sie fast im aristotelischen Kontext des Herzens als Zentralorgan. So findet sie sich auch bei Chiocco, für den feststeht, »daß die Seele nämlich ganz und gar im Herzen residiert, und, wie man sagt, wurzelt, [...]. [...] Ein Beispiel dieses Sachverhaltes ist das Licht, das in der Sonne wie an seiner Wurzel haftet, von der aus es an die übrigen Teile der Welt verteilt wird.«80 Nach diesem Bild hat man sich oft vorgestellt, die eingeborene Wärme gelange vom Herzen instantan wie ein Strahl in die Körperperipherie. 81 Diese Zuordnung sieht man auch ex negativo. Denn dem Spiritus entspricht zumeist nicht die Sonne, sondern eine andere Weltregion. In Naneéis großer Analogie zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos werden die spiritus mit der Luft und den meteorologischen Erscheinungen parallelisiert. 82 Der von Persio weitergeführte telesianische Vergleich von spiritus und Sonne ist deshalb auch als Transformationsarbeit in einem symbolbeladenen und metaphernträchtigen Feld zu sehen. Die Sonne als Symbol und Urgrund des einen Spiritus steht für die telesianische Physiologie als Wärmephysiologie, aber auch als >Lichtphysiologie< im Sinne von instantaner Ausbreitung und Empfindung. Nicht zuletzt steht sie für den monistischen Anspruch dieser Physiologie.

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maxima fit in pulsibus alteratio, et deficere etiam interdum videntur; nam Galeno hoc differre ab animalibus naturalia organa videntur, quod iis cognata actionis vis insit, animalibus vero a principio, veluti lumen a Sole, ipsa defluat.« A. Persio, Trattato dell ingegno dell' huomo. Venedig 1576. S. 35. Vgl. den Sammelband »Le soleil à la Renaissance. Sciences et mythes«. Brüssel und Paris 1965. Vgl. weiter P. Pissavino, L'altro sole di Francesco de' Vieri. In: Atti Cosenza. S. 207-220. A. Chiocco, Quaest. phil. et med. S. 137f.: »animam scilicet in corde potissimum residere, et, ut vocant, radicari, [...]. [...] Exemplum huisce rei accomodatissimum est lumen, quod in Sole veluti radice adhaerescit, a quo ad caeteras omnes mundi partes distribuitur: [...].« So etwa Pietro Torrigiano, Plus quam commentum in parvam Galeni artem. Venedig 1512; vgl. J. J. Bylebyl, Disputation and description. S. 231. N. Nancel, Analogia microcosmi ad macrocosmum. Paris 1611. S. 66.

277 6. Monistische Reformulierung der Medizin Nach Hippokrates ist die Vielheit von Körperprozessen und auch Krankheiten nur durch die Annahme einer Mehrheit von wirkenden Qualitäten im Körper zu erklären. Krankheit ist grundsätzlich ein Ungleichgewicht dieser Qualitäten. Telesios Medizin bestreitet diese Annahme. 83 Aufgrund seiner Veränderung der Elementenlehre steht Telesio vor der Notwendigkeit, auch für die Physiologie die Konsequenzen der Doktrin zu ziehen, daß allein die Wärme als konstituierende Kraft zu denken ist. Aber Telesios Physik stellt ihm zugleich die begriffliche Möglichkeit bereit, eine monistische, allein auf Wärmeaktivität begründete Physiologie zu artikulieren. Der Anspruch, vor dem er steht, ist nicht weniger, als eine monistische Reformulierung der gesamten Medizin zu leisten. In seinen späten Jahren hat Telesio begonnen, sich in einigen kleineren Studien dieser Anforderung zu stellen. Insbesondere jene Effekte waren neu zu erklären, die in der traditionellen Medizin als Kälteeffekte oder Effekte des Kälteanteils am calidum innatum beschrieben werden. 84 Ein solcher Fall sind etwa die Fieberschauer bei bestimmten Fiebern, die starke Ähnlichkeit mit Kälteschauern besitzen. 85 In der kleinen Schrift De rigore aestusque, qui rigorem excipit, causis, die mit der anderen Quae et quomodo febres faciunt verwandt ist, beschäftigt sich Telesio mit diesem Problem. Er muß zeigen können, daß auch diese Phänomene Effekte der Wärme - bzw. des spiritus - sind. 86 Dafür argumentiert er eingehend gegen Galens Konzeption des calidum innatum.87 83

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Die eingehende Argumentation gegen Hippokrates findet sich in D R N 1586 III, 30ff.; Telesio argumentiert, daß aus der Verschiedenheit der Schmerzen nicht folge, daß der Mensch aus mehreren handelnden Naturen bestehe. Kap. III, 31 zeigt, daß nicht Wärme und Kälte zugleich im selben Wesen sein können. Vgl. D R N 1586, III, 34: »Morbos, qui frigore in corporibus exsuperante Galeno oriuntur et qui frigoris sensum nobis inferunt et qui calidis rebus laborantibus partibus appositis curantur, a calore ortum habere omnes.« Zu den Entwicklungen in der Fieber-Diskussion der Renaissance, die in der Medizin von durchaus zentraler Bedeutung gewesen ist, vgl. I. M. Lonie, Fever Pathology in the Sixteenth Century: Tradition and Innovation. Vgl. auch N. Abbagnano, Telesio. S. 86ff. De rigoris aestusque, qui rigorem excipit, causis; VNRL, S. 439ff.; Telesios Position S. 452: »Ac si (quomodo nobis positum est) propterea scilicet rigore cessante partes a calore corripiantur, quod spiritus, qui effluentis bilis morsum exhorrescens e venarum arteriarumque fibris aufugerit, aut in iis immoratus et ab ilio perterrefactus et veluti in veternum coniectus, vasa agitandi immemor impotensque factus stertebat torpebatque, proprias ad sedes redierit; et non amplius quidem ab elabente bili devexatus nec impeditus stertat, at ab eius tamen reliquie vasis inexistentibus stimulatus, illas ut amoliatur frequentius haec vehementiusque exagitet, itaque sanguinem proindeque et corpus universum accendat, qualis quamdiuque aestus fit, fiat oportet; languidius nimirum in

278 In der Studie De usu respirationis,88 einer weiteren Galen- und Aristoteles-Auseinandersetzung, versucht Telesio die entsprechende Reformulierung der Atmungslehre. Atmung sei nicht zu verstehen als Minderung der inneren Wärme durch die äußere, eingeatmete Kälte, so wie es Aristoteles gedacht hatte, sondern im Gegenteil als ein Zusammenhalten und Einen der inneren Wärme, die sich sonst verflüchtigen würde. 89 Auch hier keine Moderierung im Ausgleich von Warm und Kalt, sondern Steigerung, mit dem telesianischen Hintergedanken, daß Wärmesteigerung nicht corruptio, sondern Funktionssteigerung bedeutet. Dieses Zusammenhalten der Wärme erinnert an die aristotelische antiperistasis in ihren hippokratischen Kontexten. Aber es ist festzuhalten, daß der Konzentrationseffekt durch die Kälte bei Telesio nicht als interner physiologischer Prozess von Wärme und Kälte verstanden wird, sondern als ein äußerliches Eindämmen der einzigen Lebenswärme. Die monistische Medizin läßt es nicht zu, daß interne Prozesse als Wechselwirkung von Warm und Kalt rekonstruiert werden. So distanziert sich später auch Antonio Persio von der AntiperistasisErklärung im medizinischen Kontext. In Del bever caldo geht es um die Wirkung von in den Körper aufgenommenem kalten Wasser: »Dapoi il freddo, se per entrasse nel corpo del animale, dicono costoro, che augumentarebbe il calore per antiperistasi. ma io dico che s' augumentarebbe meglio dal calore dell istessa specie, che del suo contrario, e però sia meglio che si beva caldo, che freddo.« 90 Es ist nicht nur das Prinzip des Ähnlichen, das hier eingesetzt wird, sondern Persio steht auch Telesios Alternativerklärung für die Zusammenballung bei vermehrter Wärme zur Verfügung, das wir bereits in Kapitel IV. 5 kennengelernt haben.

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principio, non universo nimirum spiritu ad proprias sedes regresso nec bene dum excito, tum copiosiore assidue facto spiritu eiusque vigore aucto, proindeque et sanguine vehementius exagitato vehementior fiat aestus, at bilis tandem reliquiis tenuissimisque et caldissimis sanguinis partibus in flúores solutis elapsisque omnibus, proindeque minus assidue spiritu a sanguinis incendio stimulato, proptereaque languidius assidue pulsante, sanguinis proindeque et corporis universi fervor imminuatur oportet.« VNRL, S. 289ff. D e usu respirationis. VNRL, S. 310: »E quibus ita patere existimo respirationem pulsationemque ad cohibendum uniendumque et ob id ad augendum, non (quod Aristoteli prius, postea et Galeno placuit) ad moderandum refrigerandumque et imminuendum calorem animalibus tributas, ut nihil amplius, quod dubitari possit, relictum videatur.« A. Persio, Del bever caldo. Venezia 1593. Fol. 81v.

279 7. Affektbestimmung, Erkenntnis und Individuation Die Spiritus-Physiologie hat in Telesios Gesamtentwurf nicht nur Konsequenzen für die Medizin, sondern auch für die Erkenntnispsychologie und Ethik gehabt. Die Charakteristik eines aus der Perspektive der Affektphysiologie entworfenen Spiritus-Konzeptes mit physikalischer Abstützung muß sich notwendigerweise deutlich in den Bereichen eines ethischen Handelns und Erkennens auswirken, das als solches des Spiritus verstanden wird. Ethik wird dann aufs engste verknüpft sein mit der Affektenlehre; und auch Erkenntnis und affektive Reaktion werden strenggenommen untrennbar sein. Wer die telesianischen Konsequenzen prüfen will, wird vor allem an die Übergänge der Theoriebereiche zu verweisen sein. Zu erinnern ist an dieser Stelle noch einmal an den in Kapitel IV festgestellten Zusammenhang zwischen den medizinisch-naturphilosophischen Entwicklungen zum Problem der Wärme und den De am'raa-Diskussionen. Denn man wird Telesios im neunten und letzten Buch von De rerum natura ausgeführte, am Selbsterhaltungsbegriff orientierte Affekt· und Tugendlehre historisch motivationslos als >Stoa-Rezeption< mißverstehen müssen, wenn man nicht jene Bruchstellen beachtet, die dieser Lehre in der telesianischen Theorie ihren Platz geben. Neuartige (und das heißt in der Spätrenaissance oft: an einer AntikeRezeption ausgebildete) Theoriestücke treten im allgemeinen erst dann auf, wenn das sonst diesen Platz einnehmende traditionelle Theoriestück in irgendeiner Weise destruiert oder verschoben worden ist. So zeigt zum Beispiel Arno Seifert, wie in der frühen Neuzeit aufgrund einer partikularisierten und eingeschränkten Sakralhistorie, die für die Interpretation und Voraussage zukünftiger Ereignisse hatte benutzt werden können, nun genau jene antiken Traditionen wiederbelebt werden und Platz greifen, die für die ausgefallenen Leistungen Ersatz bieten können. 91 Oft findet man im 16. und 17. Jahr91

A. Seifert, »Von der heiligen zur philosophischen Geschichte. D i e Rationalisierung der universalhistorischen Erkenntnis im Zeitalter der Aufklärung«, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 8 1 - 1 1 7 ; S. 106: »Ersatz für die >entkräftete< Sakralhistorie war daher letztlich von der Profanhistorie nicht zu erwarten, sondern nur von der Wiederaufnahme einer antiken, kosmos- und kulturgeschichtlichen Spekulation, die die Verlaufsrichtung und -rhythmik des geschichtlichen Prozesses in prognostischer Absicht zu bestimmen suchte. Schon seit dem 16. Jahrhundert machte eine Geschichtsphilosophie avant la lettre in dieser Weise Anstalten, das von der Offenbarungsexegese entblößte Terrain interpretatorisch zu besetzen: sei es als Geschichtsastrologie, die dem Zyklus der >großen Konjunktionen< ein Periodenschema der Geschichte ablesen zu können glaubte, oder als geschichtsphilosophisch begründete Verfallsoder Zyklentheorie; im Gegensatz dazu wieder als die bis zum 18. Jahrhundert nicht biologisch, sondern erkenntnispsychologisch argumentierende Fortschritts-

280 hundert in diesem Sinne prämoderne Konstellationen, in denen naturalisierte und aus überkommenem Material gewonnene Modelle Ersatz bieten für Lücken im theoretischen Bedarf, die durch den Legitimationsverlust von traditionellen Theorien entstanden sind. 92 Deshalb scheint es mir schließlich auch für Telesio unabdingbar, seine naturalistische Theorie von Affekt und Ethik wie auch die von der intellektiven Erkenntnis von der Lücke her zu bestimmen, die sie ausfüllt und durch die sie ex negativo bestimmt wird. Die Telesio-Kritik eines Schülers von Simone Porzio, Alessandro Maranta, kann uns helfen, diejenige Perspektive zu finden, von der aus die neue Theorie als Substituierung sichtbar wird. 93 Maranta interpretiert Telesios Spiritus-Lehre als Lösungsversuch des Problems von intellectus agens und intellectus passibilis. Das scheint eine ungewöhnliche, aus einer verhärtet aristotelischen Sichtweise geborene Lesart dieser doch aus medizinischen Kontexten stammenden Konzeption. Aber in der Tat finden sich im achten Buch von De rerum natura einige Kapitel zur Frage des intellectus agens. Und sie finden sich genau dort, wo der Übergang geschieht zu einer klimabedingten Spezifizierung der spiritus-Arten. Was aber hat Klimatheorie mit Erkenntnis zu tun? Der Grund wird in einem Passus des spanischen Galenisten Juan Huarte in seinem Traktat von 1575 deutlich. »Wenn der Verstand ganz und gar von dem Körper abgesondert wäre, und gar nichts mit der Wärme, der Kälte, der Trockenheit und der Feuchtigkeit, und allen übrigen körperlichen Beschaffenheiten zu thun hätte; so würde daraus folgen, daß alle Menschen einerley Verstand haben, und auf einerley Art schliessen müßten.« 94

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idee; sei es schließlich (wie bei Bodin und seinen Nachfolgern) in Gestalt klimatheoretischer, also geschichtsphysikalischer Kombinationen.« Vgl. etwa auch K. Pomian, Astrology as a Naturalistic Theology of History. In: Astrologi hallucinati. Stars and the End of the World in Luther's Time. Hg. von P. Zambelli, Berlin und N e w York 1986. Man kann im Fall Campanellas sehen, wie auch auf mehrere der Ersatzmöglichkeiten zurückgegriffen werden konnte: Campanella benutzt eine telesianisch modifizierte Klimatheorie für politische Prognosen zur Spanischen Monarchie (vgl. G. Ernst, Religione, ragione e natura. Firenze 1991; G. Bock, T. Campanella. Politisches Interesse und philosophische Spekulation. Tübingen 1974; N. Badaloni, Campanella. Milano 1965), und eine im Anschluß an Cardano entwickelte Geschichtsastrologie. D a ß Maranta in Pisa Schüler Porzios gewesen ist, enthüllt eine Formulierung aus seinen Miscellanea: »Simon Portius praeceptor meus«. Vgl. E. Garin, »Telesiani minori«. In: Rivista critica della storia della filosofia 26 (1971). S. 1 9 9 204; S. 203. J. Huarte, Examen de ingenios para las ciencias, donde se muestra la diferencia de habilidades que hay en los hombres, y el género de letras que a cada uno responde en particular. [...] Zuerst Baeza 1575; ich zitiere aus der Übersetzung von Lessing, Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Zerbst 1752. Ndr. München 1968. S. 124.

281 Telesios

klimatheoretische

Spiritusdifferenzierung95

wäre

also

e b e n s o w i e in R i c h t u n g auf s e i n e A f f e k t - E t h i k a u c h in R i c h t u n g auf s e i n e T h e o r i e d e s intellectus

z u l e s e n . M a r a n t a s R e z e p t i o n zeigt, d a ß

T e l e s i o s kurze, a b e r p r ä g n a n t e A u s f ü h r u n g e n zur intellectus

agens-

Kontroverse96 v o n den Aristotelikern sehr aufmerksam gelesen word e n sind. W o l l t e m a n T e l e s i o s P o s i t i o n i m V e r l a u f d i e s e r K o n t r o v e r s e l o k a l i s i e r e n , h ä t t e m a n in M a r a n t a s Disputatio natura tores

adversus

Bernardinum

Tilesium

et reliquos

de Intellectus huius farinae

Agentis secta-

e i n e gute Grundlage für die Analyse. D a s kann an dieser Stelle

nicht geschehen; ich b e g n ü g e mich mit einigen H i n w e i s e n . Maranta, d e r A l e x a n d r i n i s t u n d sich als christlich v e r s t e h e n d e D e n k e r , s c h e i n t T e l e s i o in m a n c h e n P u n k t e n a u f d e r S e i t e d e r A v e r r o i s t e n z u s e h e n . S c h o n in s e i n e r D i s p u t a t i o n ü b e r d a s P a r m e n i d e i s c h e S e i e n d e , auf d i e wir i m K a p i t e l V I n o c h z u r ü c k k o m m e n w e r d e n , n o t i e r t er e i n e Ü b e r e i n s t i m m u n g Telesios mit einigen Averroisten, w e n n auch nur i m P u n k t d e r Kritik a n A r i s t o t e l e s ' V e r u r t e i l u n g d e r v o r s o k r a t i s c h e n Naturphilosophen.

» D a h e r ist e s g e s c h e h e n , d a ß

hervorstechende

neuere Philosophen unserer Zeit wie Lodovico Boccadiferro, Marcantonio Genua, Francesco Vimercati, Bernardino Telesio und andere berühmte M ä n n e r dieselbe M e i n u n g aus e i n e m M u n d e und zusamm e n s t i m m e n d billigten.«97 95

Vgl. D R N 1586 VIII, 29ff.; auch L. de Franco, Aspetti poco noti della concezione telesiana della natura humana. S. 164: »Un altro nutrimento (außer dem der Luft) è quello offerto dai vapori, che il caldo riesce ad estarre dai cibi; detti vapori, secondo Telesio, mantengono naturalmente le stesse caratteristiche che posseggono i cibi, da cui essi provengono, e per tal motivo risultano buoni e graditi per lo spirito oppure molesti e nocivi, a seconda che la natura dei cibi, da cui vengono prodotti, è buona oppure cattiva nei suoi riguardi. La conclusione che il filosofo trae é la seguente: >Perciò coloro che ricercano quali spiriti si producono, devono studiare non solo la natura, la disposizione e la purezza delle cose da cui si producono, cioè dell' aria, dei vapori e dell' evaporazione, ma anche a natura e la disposizione delle cose da cui questi esalano, cioè della terra e dei cibi e del sangue, e la loro uniformità e difformità e la robustezza del caldo che li genera.