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German Pages 280 Year 2015
Gereon Wulftange Fremdes – Angst – Begehren
Theorie Bilden | Band 36
Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Andrea Sabisch und Michael Wimmer, im Auftrag der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.
Gereon Wulftange (Dr. phil) wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Fachbereich Allgemeine, Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg (Arbeitsbereich Bildungs- und Transformationsforschung).
Gereon Wulftange
Fremdes – Angst – Begehren Annäherungen an eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse
Dissertation 2014 im Fach Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg.
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Inhalt
1.
Anfänge: Statt eines Vorworts ................................................................... 9
2.
Empirische Exposition der Fragestellung: Erzählte Krisenerfahrungen im narrativen Interview mit Herrn Salman ....... 13 „Da fing mein grösstes Problem an“ ................................................................ 14 „Das war so eine peinliche Situation“ .............................................................. 22 Da „hat sich meine komplette Einstellung gegenüber Schule verändert“ ........ 30 „Da ist meine Welt zusammengebrochen“ ....................................................... 35 Zur empirisch herausgestellten Fragestellung .................................................. 44 Übergang .......................................................................................................... 45
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4
Theoretische Exposition: Zu Kokemohrs Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie.............................................................. 47 Bildung als Prozess der Veränderung von Welt- und Selbstverhältnissen ................................................................... 51 Zur Funktion des Erzählens .............................................................................. 57 Das Fremde als Herausforderung von Bildungsprozessen ............................... 59 Zusammenfassung der Fragestellung ............................................................... 70 Übergang .......................................................................................................... 71
4.
Das Fremde zwischen Pathos und Response: Eine bildungstheoretische Akzentverschiebung ................................ 73 4.1 Waldenfels’ Anliegen und Grundzüge seines Problemzusammenhangs ......... 74 4.2 Pathos ............................................................................................................... 80 4.2.1 Gefühl – Emotion – Empfinden ....................................................................... 87 4.2.2 Die Erfahrung des Fremden als Diastase von Pathos und Response ............... 91 4.3 Bildungstheoretische Wendungen .................................................................. 101 4.3.1 Zum Fremden als Herausforderung oder Verheissung zukunftsoffener Möglichkeit .......................................................................... 103 4.3.2 Zur bildungstheoretischen Bedeutung des diastatischen Charakters von Pathos und Response ...................................................................................... 105 4.3.3 Zur kreativen Antwort als Erfindung einer lebbaren Ordnung ...................... 108 Übergang: Rekapitulation und Reflexion ....................................................... 112 5. 5.1
Zur Lacan’schen Psychoanalyse und ihren Anregungen für die Bildungstheorie ............................................................................ 115 Zu Lacans Anliegen: Rückkehr zu Freud und Aufbruch der Psychoanalyse .......................................................................................... 116
5.2 Zu einigen Schwierigkeiten der Lacan’schen Texte....................................... 118 5.3 Zu Lacans Theorie des Spiegelstadiums ........................................................ 128 5.3.1 Die Spaltung des Ich in ‚Je‘ und ‚Moi‘ .......................................................... 142 5.3.2 Vorwegnahme und Nachträglichkeit .............................................................. 144 5.3.3 Zur bildungstheoretischen Bedeutung des Spiegelstadiums .......................... 149 Übergang: Das Imaginäre, Das Symbolische, Das Reale ............................... 156 5.4 Zu Lacans Theorie der Angst: Vorbemerkungen ........................................... 162 5.4.1 Angst und Begehren im Blick der Gottesanbeterin ........................................ 165 5.4.2 Bedürfnis, Anspruch und Begehren ............................................................... 173 5.5 Das Unheimliche als das Altbekannte und Längstvertraute bei Freud ............................................................................... 185 5.6 Das Unheimliche als Mangel am Mangel bei Lacan ...................................... 191 5.7 Die Angst ist nicht ohne Objekt ..................................................................... 197 5.8 Die Angst als Affekt ....................................................................................... 204 5.8.1 Die Angst als Affekt, der nicht täuscht .......................................................... 210 5.9 Bildungstheoretische Wendungen .................................................................. 220 5.9.1 Zur ‚Instanz‘ des Bildungsprozesses und der Struktur von Welt-Selbstentwürfen .............................................................................. 223 5.9.2 Zu Angst und Begehren als Momenten in Bildungsprozessen ....................... 233 5.9.3 Zur Entstehung des Neuen .............................................................................. 237 Übergang: Kritische Reflexionen ................................................................... 239 6. 6.1 6.2 6.3
7.
Ausblick: Weiter machen ......................................................................... 245 Eine psychoanalytische Bildungsprozesstheorie empirisch erproben: Näher zu untersuchende Fragen ..................................................................... 245 Fragen zum Verhältnis des Geschehens in der analytischen Kur und in Prozessen der Bildung .................................................................................... 252 Ein aktueller Anknüpfungspunkt zum Verhältnis von bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung und Psychoanalyse .......................................................................................... 256 Literatur ........................................................................................................ 259 Internetquellen ................................................................................................ 276 Im laufenden Text verwendete Siglen ............................................................ 276
Danksagung
Für die vielfältige Unterstützung meiner Arbeit möchte ich folgenden Personen besonders herzlich danken: Hans-Christoph Koller, Karl-Josef Pazzini, Rainer Kokemohr, Anke Walzebug, Margarita Giannoutsou, Judith Zimmer, Manfred Steger, Mechthild Wulftange, Dorothea und Winfried Lenk und ganz besonders Catherine Wulftange und unseren Kindern Ria und Milan.
1. Anfänge: Statt eines Vorworts
Von 2006 bis 2008 habe ich die Anfänge einer Universitätsgründung in Kamerun forschend begleitet. Insgesamt fünf mehrwöchige Aufenthalte als Forschungsassistent haben mir einen Einblick in ein interkulturelles Kooperationsprojekt ermöglicht, an dem Rainer Kokemohr von Beginn an maßgeblich beteiligt war. Diese Kooperation, die als Reformprojekt angelegt war, hatte sich seit Mitte der 80er Jahre aus intensiven Feldforschungen entwickelt, die Anfang der 90er Jahre in den Aufbau einer Pilotschule (École pilote de Mbô) mündeten, einer Primarschule mit sechs Jahrgangsklassen und vorausgehendem Kindergarten. Die Erfahrungen, die im Rahmen dieses Reformprojekts gemacht wurden, mündeten in den Plan, ein wissenschaftlich-akademisch gestaltetes Lehrerausbildungsinstitut aufzubauen. Die Planung und Realisierung dieses Instituts, das IPSOM1 genannt wurde, ist seit 1998 vorangetrieben worden. Im Jahr 2005 hat das Institut den Lehr- und Studienbetrieb aufgenommen. Diese Institution, auf die sich meine Begleitforschungstätigkeit bezog, hatte im Jahr 2006 also den Status eines Instituts zur Lehrerfort- und -ausbildung. Sie ist inzwischen (seit 2010) zur Université Evangélique du Cameroun (UEC) mit mehreren Fakultäten geworden (vgl. Kokemohr 2014b: 59-86; zu Fragen der Entwicklungszusammenarbeit vgl.: Kokemohr/Kokebe 2007b: 627-636). Während meines ersten Aufenthalts lernte ich Josier Husseini kennen (der Name ist aus Datenschutzgründen maskiert), einen jungen Kameruner Studenten, der mich neugierig machte und den ich näher kennenlernte. Wir sahen uns beinahe täglich, tauschten uns über unsere Herkunftsländer aus und diskutierten gemeinsame Arbeitsmöglichkeiten. In diesen Kontakten entwickelte sich schnell eine vertraute, freundschaftliche Beziehung. Eines Abends trafen wir uns auf der Terrasse des Hauptgebäudes des IPSOM. Es ging bei diesem Treffen um die
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IPSOM: Institut pédagogique pour des societés en mutation. Etwa: Pädagogisches Institut für Gesellschaften in Mutationsprozessen.
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Vorbereitung eines narrativen Interviews, das ich an einem der folgenden Tage mit ihm durchführen und für meine im Entstehen begriffene Diplomarbeit nutzen wollte. Wir saßen also unter freiem Himmel auf einer malerisch gelegenen Anhöhe und unterhielten uns, nachdem die organisatorischen Fragen geklärt waren. Die Dämmerung brach an und wir schauten auf das vor uns liegende sattgrüne Tal und den gegenüberliegenden Hügel, auf dem sich die Referenzschule des IPSOM (die Pilotschule von Mbô) langsam unserer Sicht entzog. In diesem Moment, in dem die scharfen Konturen der Tageslandschaft zu verschwimmen begannen, bemerkte ich, wie sich der Ausdruck auf dem Gesicht meines Gegenübers veränderte. Josier Husseini lächelte wissend, nicht arrogant, aber trotzdem irgendwie überlegen, und etwas blitzte in seinen Augen auf. Ich hatte das Gefühl, dass ich neben jemand völlig Unbekanntem saß, den ich in eben diesem Augenblick zum ersten Mal sah. Er schaute mich an und erzählte mir, dass er als Zwilling geboren sei und dass Zwillinge eine besondere Macht und besondere Kraft hätten. Und dann sagte er in ernstem Ton, eher beiläufig und als gäbe es nichts Selbstverständlicheres und Gewöhnlicheres, dass er mich blind machen könne, sodass ich nichts mehr sehen könne. Ich erschreckte plötzlich, zuckte zusammen und ein Schauer lief mir über den Rücken. Mir schoss durch den Kopf, dass Josier Husseini da gerade ernsthaft behauptet hatte, er könne mich kraft seines Zwillingsstatus physisch erblinden lassen und, seltsamer noch, mir schoss kurz durch den Kopf, dass er das vielleicht tatsächlich könnte. Die zuvor vertraute Situation wurde mit einem Schlag unheimlich und gleichzeitig war ich seltsam aufgeregt und ungewohnt aufgedreht. Dieses Erlebnis in Kamerun war für mich sehr befremdlich. Ich hatte den Eindruck, dass hier etwas Bemerkenswertes geschehen war. Im Nachhinein betrachtet hat diese Erfahrung mein Nachdenken über die Frage angetrieben, wie Bildungsprozesse zustande kommen. Die anschließende theoretische Auseinandersetzung mit dieser Frage hat mich zu der Annahme geführt, dass Bildungsprozesse, herausgefordert durch Erfahrungen des Fremden, mit Angst und Begehren verbunden sein könnten. Diese Annahme wird in der vorliegenden Arbeit entwickelt und genauer ausgearbeitet. Nach diesem ersten Einstieg wird im nächsten Kapitel (vgl. Kapitel 2) die Ausgangsfragestellung der Arbeit auf der empirischen Grundlage eines narrativen Interviews herausgestellt. Nach einem kurzen Übergang dient das dritte Kapitel der theoretischen Entwicklung der Fragestellung und der Verortung der Arbeit im noch näher zu erläuternden Feld der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. In diesem Kapitel wird Rainer Kokemohrs Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie in ihren Grundzügen vorgestellt. Sie stellt den Ausgangspunkt dar, an den die vorliegende Arbeit anschließt. Dieses Kapitel führt
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zu der Frage, welche Rolle das pathische oder affektive Getroffenwerden in Bildungsprozessen spielen könnte. Nach einem kurzen Übergang wird im vierten Kapitel Bernhard Waldenfels’ Begriff des Fremden zwischen Pathos und Response erläutert und hinsichtlich seines Beitrags zur Beantwortung der Ausgangsfragestellung diskutiert und bildungstheoretisch reflektiert (vgl. Kapitel 4). Die Ergebnisse dieses Kapitels leiten über zum fünften und zentralen Teil der Arbeit (vgl. Kapitel 5). Hier verschiebt, konkretisiert und präzisiert sich die Frage nach dem pathischen oder affektiven Getroffenwerden hin zur Frage nach der Bedeutung von Angst und Begehren für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Dieses Kapitel ist zweigeteilt: Im ersten Teil steht Jacques Lacans Theorie des Spiegelstadiums unter besonderer Berücksichtigung von Angst und Begehren im Zentrum (vgl. Kapitel 5.1-5.3). Im zweiten Teil werden Lacans theoretische Überlegungen zu Angst und Begehren vor allem anhand seines Seminar über die Angst erläutert und in ihrer Bedeutung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse reflektiert (vgl. Kapitel 5.4-5.9). Der anschließende Übergang, in dem kritische Perspektiven auf die erarbeiteten, bildungstheoretischen Reflexionen angedeutet werden, leitet über zum Ausblick (vgl. Kapitel 6). In diesem Ausblick, der sich als offenes Ende oder nachträgliche Rückkehr zu einem anderen Anfang zeigen wird, werden Perspektiven für eine Weiterführung der vorliegenden Arbeit unter folgendem Arbeitstitel angedeutet: „Zur empirisch gehaltvollen Erprobung einer psychoanalytischen Bildungsprozesstheorie“. Dieser letzte Hinweis soll kurz kommentiert werden: Wie bereits angedeutet wurde, sind der vorliegenden Arbeit, die vor allem innerhalb der letzten drei Jahre Gestalt angenommen hat, verschiedene Vorarbeiten vorausgegangen, die forschungspraktisch bis ins Jahr 2006 zurückreichen. Im Rahmen meiner Diplomarbeit wurden Vorarbeiten geleistet, die in der vorliegenden Arbeit gänzlich neu bedacht und konsolidiert wurden. Der ursprüngliche und lange verfolgte Plan bestand darin, diese Konsolidierungen sowohl theoretisch anzugehen als auch empirisch gehaltvoll zu erproben. Allerdings hat sich im Laufe des Arbeitsprozesses erstens herausgestellt, dass ein solches Vorhaben den quantitativen Umfang dieser Arbeit gesprengt hätte. Zweitens hat sich gezeigt, dass die Konsequenzen und Fragen, die sich aus Waldenfels’ phänomenologischen und Lacans psychoanalytischen Überlegungen für die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung methodologisch und methodisch ergeben, nicht beiläufig und ohne eine veränderte Anlage der Arbeit angehen lassen. In diesem Sinne überfrachten die zu bearbeitenden systematischen, methodologischen und methodischen Fragen und der quantitative und inhaltliche Umfang einer empirischen Studie eine einzelne Monographie. Ich habe mich deshalb für eine Verschlankung und Konzentration auf bildungstheoretische
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Überlegungen entschieden. Dennoch mag der vorliegenden Arbeit an manchen Stellen anzumerken sein, dass sie längere Zeit vor dem konzeptionellen Hintergrund des Vorhabens geschrieben wurde, die erarbeiteten Theoriefiguren empirisch gehaltvoll zu erproben. Im Kern verfolgt diese Arbeit also das Anliegen, einen Beitrag zur Bildungstheorie zu leisten und insofern zur theoretischen Grundlagenforschung im Rahmen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft beizutragen. Es wird am Ende der vorliegenden Arbeit die These vertreten, dass transformatorische Bildungsprozesse immer mit Angst zu tun haben und dass sie immer mit Begehren zu tun haben. Beides gehört zusammen. Es wird die Annahme abfallen, dass die Trias aus imaginärem Ich, symbolischem Individuum und realem Subjekt, wie sie angeregt durch Lacan gedacht werden kann, hilfreich ist, um das Subjekt von Bildungsprozessen theoretisch genauer zu fassen.
2. Empirische Exposition der Fragestellung: Erzählte Krisenerfahrungen im narrativen Interview mit Herrn Salman
Im Rahmen eines Forschungsprojekts, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde, untersuchten Vera King und Hans-Christoph Koller gemeinsam mit ihren Mitarbeitern1 von 2008 bis 2011 Bildungskarrieren und adoleszente Ablösungsprozesse bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien (vgl. King/Koller/Zölch/Carnicer 2011). In diesem Zusammenhang wurde eine Reihe narrativer Interviews geführt, unter anderem vom wissenschaftlichen Mitarbeiter Javier Carnicer mit Herrn Hakan Salman (der Name ist aus Datenschutzgründen maskiert). Dieses narrative Interview war Gegenstand einer erziehungswissenschaftlichen Tagung im Mai 2012, auf der es um Perspektiven bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung ging. Das Spezifische dieser Tagung bestand konzeptionell darin, dass sich alle Tagungsteilnehmer in ihren Vorträgen auf dieses empirische Dokument bezogen, das den Referenzpunkt Ihrer Ausführungen und der anschließenden Diskussionen bildete. Es liegt also eine Vielzahl verschiedener Interpretationen dieses narrativen Interviews vor, die in dem Tagungsband „Lebensgeschichte als Bildungsprozesse? Perspektiven bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung“ (Koller/Wulftange 2014) veröffentlicht wurden. Die vollständige Transkription des Interviews ist in diesem Sammelband abgedruckt, sodass sie in das vorliegende Buch nicht noch einmal aufgenommen wurde (vgl. a.a.O.: 311-351).
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Mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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Im Folgenden dient dieses narrative Interview zur empirischen Herausstellung der Ausgangsfragen der vorliegenden Arbeit.2 Der Interviewte ist zum Zeitpunkt des Interviews (2008) 22 Jahre alt und studiert Medizintechnik an einer deutschen Hochschule.
2.1 „D A
FING MEIN GRÖSSTES
P ROBLEM
AN “
Im Interview lässt sich zu Beginn lesen: „I: Dann ja, erzähl mir dein (.) Lebensweg, dein Bildungsweg. H: okay, äm geboren und aufgewachsen bin ich in deutsche Stadt [mh]“ (Z. 1-2)
Herr Salman greift die Erzählaufforderung des Interviewers auf, indem er zunächst sein Einverständnis signalisiert („okay“ Z. 2) und orientierend auf die Stadt hinweist, in der er geboren und aufgewachsen sei. Daran anschließend gibt er zunächst seinen Kindergartenbesuch als ein „sehr schönes“ (Z. 6) Erlebnis zu verstehen und erwähnt, dass er in dieser Zeit viele neue Freunde kennengelernt habe, die ihn „bis jetzt“ (Z. 8) begleiten. So spannt der Erzähler zu Beginn des Interviews einen zeitlichen Bogen von der vergangenen Kindergartenzeit bis heute über das Motiv der Freundschaft, das im weiteren Verlauf des Interviews noch häufiger aufgenommen wird (vgl. z.B. Z. 305 ff. und Z. 424 ff.). Das nächste Thema, das Herr Salman für die Eröffnung seiner Lebens- und Bildungsgeschichte wählt, betrifft sein Aufwachsen mit zwei verschiedenen Sprachen. Er kommt darauf ausgehend von der Schwierigkeit zu sprechen, genauer anzugeben, wie er die deutsche Sprache gelernt hat: „Äm (2) wie ich die deutsche Sprache damals, äh, aufgenommen habe, weiß ich ehrlich gesagt nicht, also un- auf unbewusster Weise“ (Z. 8-10). Diese Aussage erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich. Während Herr Salman zunächst konstatiert, dass er nicht wisse, wie er die deutsche Sprache aufgenommen habe, wird im Fortgang des Satzes gerade die Art und Weise, also das Wie dieser Aufnahme genannt: Sie sei „auf unbewusster Weise“ erfolgt. Die Art und Weise der Aufnahme der deutschen Sprache wird mittels einer Redefigur logischer Schlussfolgerung („also“) eingeführt, sodass sich diese Bemerkung
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Ich danke Frau King und Herrn Koller für ihr Einverständnis, mir dieses Interview im Rahmen meiner Dissertation zum Zwecke der Exposition der Fragestellung zur Verfügung zu stellen. Ebenso danke ich Herrn Salman und Herrn Carnicer für die Durchführung des Interviews und Frau Kaul für die Überarbeitung der Transkription.
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folgendermaßen paraphrasieren lässt: Nicht zu wissen wie er die deutsche Sprache aufgenommen hat, heißt für Herrn Salman nicht, nichts über die Art und Weise ihrer Aufnahme sagen zu können. Die Formulierung deutet darauf hin, dass es für ihn einen Aufnahmemodus zu geben scheint, der mit dem Attribut ‚unbewusst‘ präzisiert werden kann und damit implizit von einem ‚bewussten‘ Modus des Sprachlernens unterschieden wird, der ihm womöglich mehr oder andere Reflexionsmöglichkeiten über die Art und Weise des Spracherwerbs eröffnet hätte. Diese anderen Reflexionsmöglichkeiten scheinen ihm aber hinsichtlich der Aufnahme der deutschen Sprache gerade nicht zur Verfügung zu stehen. Die beiden Sprachen Türkisch und Deutsch werden von Herrn Salman zunächst verschiedenen Kontexten zugeordnet, in denen sie jeweils gesprochen wurden. Während mit den Eltern zu Hause türkisch gesprochen worden sei, sei im Kindergarten „immer deutsch gesprochen“ (Z. 12) worden. Es lässt sich hier eine Unterscheidung der beiden Sprachen hinsichtlich der institutionellen Kontexte bemerken, nämlich Familie und Kindergarten, in denen sie je und je gesprochen worden seien. Die beiden Sprachwelten werden an dieser Stelle als unproblematisch und konfliktfrei nebeneinander stehend zu verstehen gegeben. Die Sprachwelt zu Hause wird noch weiter differenziert: Denn wenn es bislang so schien, als bestünde die Trennung der beiden Sprachen in der strikten Zuordnung zur Welt des Kindergartens einerseits und zur häuslichen Welt andererseits, erwähnt Herr Salman nun, dass er mit seiner Schwester auch „zu Hause“ (Z. 13) Deutsch gesprochen habe, was ein „gutes Training“ (Z. 14) für ihn gewesen sei. Er habe jedoch „strikt getrennt“ (Z. 14): Mit Mutter und Vater sei Türkisch, mit der Schwester Deutsch gesprochen worden. Die strikte Trennung der Sprachen erfolgt also nicht mehr auf der Ebene der Institutionen, nämlich der Familie einerseits und dem Kindergarten andererseits. Es wird vielmehr eine Binnendifferenzierung innerhalb der Institution Familie zu verstehen gegeben, in der Deutsch und Türkisch personenabhängig gesprochen worden seien. Im Unterschied zur Welt des Kindergartens hat in der familiären Welt sowohl die türkische als auch die deutsche Sprache einen Ort. Nach diesen einleitenden Bemerkungen gibt Herr Salman ein Problem zu verstehen, das mit dem Beginn der Grundschulzeit angefangen habe. Mit eben diesem Schulbeginn hatte Herr Salman seine Erzählung beginnen wollen, bevor er in einem Einschub die erwähnte Kindergartenzeit und das zunächst unproblematische Nebeneinander der beiden Sprachwelten thematisiert hatte. Diese eingeschobenen Aspekte scheinen für ihn relevant im Zusammenhang mit dem dann problematischen Beginn seiner Schulzeit zu sein: „äm ich war sechs Jahre alt, da kam ich (2) kam ich in die erste Klasse (.), aber vorweg (.) Kindergartenbesuch [mh] äm mit zwei oder drei, so weit ich mich erinner“ (Z. 3-4).
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Ich erwähne dieses Detail, um darauf hinzuweisen, dass Herr Salman die Erzählung seiner Lebensgeschichte mit der Zeit seiner Einschulung in die erste Klasse einleitet. Dieser Zeit scheint eine besondere Bedeutung für den Verlauf seiner Lebensgeschichte zuzukommen und der kurze Einschub und Rückzug von dieser anfänglichen Erzählstrategie spricht dafür, dass Herr Salman das Vorgeschehen im Sinne einer Hintergrundinformation als wichtig für das nun Folgende einschätzt. Denn wenn es der bloßen biographischen Vollständigkeit halber thematisiert worden wäre, hätte eine einfache Erwähnung der Kindergartenzeit und der zwei Sprachen im Sinne einer Benennung von Daten ausgereicht und es hätte keiner inhaltlichen Rekonstruktion und Erläuterung bedurft, wie sie hier vorliegt.3 Der folgende Abschnitt leitet eine längere Redesequenz ein, in der vielfältige Facetten eines Problems in verschiedenen Zusammenhängen zur Sprache gebracht werden: „So (.) äm irgendwann (.) sprich mit (.) sechs, (.) sechs / sieben das war (.) zweiundneunzig glaube ich, kam ich in die erste Klasse, (.) und (.) ja, da fing (.) mein größtes Problem an. [mh] (.) Mein Problem bestand darin, (.) äm (2) den Schulstoff (.) sich selber aneignen“ (Z. 15-18)
Herr Salman entwirft seine Lebensgeschichte als Problemgeschichte, es wird ein Vorstellungsraum eröffnet, der als Problemraum zu verstehen gegeben wird. Dieser Raum wird zunächst in einer Figur unbestimmter Zeitdeixis bestimmt („irgendwann“), der mit dem Hinweis auf das Alter und das Jahr des Problembeginns an Kontur gewinnt. Die Formulierung „da fing mein größtes Problem an“ deutet mittels des Zeigwortes „da“ auf den Ort und die Zeit der Entstehung dieses Problems. Es wird, wie sich in Anlehnung an Karl Bühler sagen lässt, mithilfe einer deiktischen Bestimmung ein Raum eröffnet, den die weitere Erzählung ausgestaltet (vgl. Bühler [1934] 1965: 107, 136, 149). Dass da das Problem „angefangen“ habe, gibt den Problembeginn lediglich als punktuellen Auftakt eines längerfristigen Geschehens zu verstehen. Es wird nicht in der Form der vollendeten Vergangenheit zur Sprache gebracht (etwa: Da hatte ich ein Problem), sodass es potenziell bis in die Erzählgegenwart des Interviews hineinreichen könnte. Es könnte also um ein noch nicht gelöstes, ein noch nicht abschließend bearbeitetes Problem gehen. Anders formuliert: Herr Salman entwirft einen Vorstellungsraum, in dem das erzählte Ich als Protagonist einer
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Es wäre jedoch ebenso möglich, dass sich der Aufbau dieser Antwort der zweideutigen Eingangsfrage des Interviewers verdankt, sowohl „dein Lebensweg“ als auch „dein Bildungsweg“ (Z. 1) zu erzählen.
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Problemgeschichte erscheint, die mit der ersten Schulklasse beginnt. Es wird ein „größtes Problem“ markiert, dem durch den Superlativ eine besondere Relevanz zugesprochen wird. Dieser Superlativ legt nahe, dass es neben dem größten Problem eine Reihe anderer, vergleichsweise kleinere Probleme gegeben habe. Das Problem wird zu Beginn des Interviews und damit an prominenter Stelle zur Sprache gebracht und zieht eine ausführliche Erzählsequenz mit einer Reihe von Verwicklungen und Ereignisverkettungen nach sich. Es spricht daher Einiges dafür, dass an dieser Stelle ein Thema von lebensgeschichtlich hoher Relevanz eingeführt wird. Aber inwiefern ist dieses Thema bedeutsam und worin besteht überhaupt dieses größte Problem? Im ‚semantischen Kern‘4 geht es anscheinend darum, dass Herr Salman mit Beginn der Schulzeit daran scheitert, sich den Unterrichtsstoff selbständig zu erarbeiten. Das Problem des Aneignens wäre dann so zu verstehen, dass es Herrn Salman nicht gelingt, sich den Schulstoff selbständig zu eigen zu machen, ihn zu verinnerlichen und in diesem Sinne zu beherrschen. Der Eintritt in die Schule ist offenbar mit der Erfahrung verbunden, auf eine institutionelle Anforderung zu treffen, die sich von den Anforderungen des Kindergartens unterscheidet und darin besteht, dass man sich einen Schulstoff selbständig aneignen soll, eine Anforderung, die Herrn Salman vor ein Problem stellt. Problematisch könnte diese Erfahrung auch deshalb sein, weil der Wunsch besteht, zu eben jenen Schülern in der Klasse zu gehören, die solcher Erwartung entsprechen, und weil Herr Salman bemerkt, dass eben das nicht gelingt. Aus dieser Perspektive könnte in dem hier aufgeworfenen Problem auch das Problem der institutionellen Zugehörigkeit angedeutet sein. Herr Salman wiederholt im direkten Anschluss, dass er schon zu Beginn seiner Schulzeit „ziemlich schwierige Probleme“ (Z. 19) gehabt habe. Vor allem die deutsche Sprache sei sein „größtes Handicap“ (Z. 21) gewesen, aber das Problem habe bei jeglichem Unterrichtsstoff darin bestanden, ihn sich „alleine anzueignen“ (Z. 21). Das Problem besteht demzufolge darin, dass er keine oder nur sehr unzureichende Unterstützung bei seiner Bewältigung hatte, sondern sich den Schulstoff alleine, im Sinne fehlender Unterstützung durch andere aneignen musste:
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Die implizite Behauptung eines ‚semantischen Kerns‘ erscheint mir voraussetzungsreich und erläuterungsbedürftig. Ich setze sie daher in einfache Anführungszeichen, um darauf hinzuweisen, dass ich sie hier nicht theoretisch entfalte, sondern im uneigentlichen Sinne des bloß vermuteten zentralen Bedeutungsgehalts des hier zu verstehen gegebenen Problems verwende. Es geht aus dieser Perspektive lediglich um die lexikalische Ebene dieser Aussage und nicht um ihre Pragmatik.
18 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN „[…] bei einigen Sachen (.) hab ich natürlich meine ältere Schwester fragen können. [mh] Sie hat mir auch ä zur Seite gestanden, so weit sie konnte aber (.) äm (.) zu Mama rennen, zum Papa rennen, das ging natürlich nicht (.) äm zumal meine Mutter (.) kein bisschen Deutsch spricht [mh]“ (Z. 21-25)
Das Problem gewinnt an Kontur: Es besteht offenbar vor allem darin, dass die Eltern als Ansprechpartner für schulstoffrelevante Fragen ausfallen. Hinsichtlich der Mutter hänge das damit zusammen, dass sie kein Deutsch spreche. Sich den Schulstoff selber anzueignen, heißt für Herrn Salman, sich ihn alleine in dem Sinne aneignen zu müssen, dass die Hilfestellungen der Schwester an Grenzen stoßen. Sie habe ihm zwar geholfen, aber lediglich „so weit sie konnte“. Bislang wurde Herr Salmans Problem im Kern interpretiert als: Mein Problem bestand darin, dass ich mir den Schulstoff alleine, ohne ausreichende Unterstützung anderer aneignen musste und dass die Erfüllung dieser institutionellen Erwartung mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit zur Institution Schule verbunden sein könnte. Es gibt jedoch noch eine andere Lesart, die sich erst bei der genaueren Betrachtung der sprachlichen Besonderheiten dieses Satzes eröffnet und den Problemhorizont erweitert, der hier vielleicht zu verstehen gegeben wird: „Mein Problem bestand darin, (.) äm (2) den Schulstoff (.) sich selber aneignen.“ (Z. 18) Was geschieht hier? Mein Problem bestand darin. Kurze Pause. äm. Wieder eine Pause von langen zwei Sekunden. Den Schulstoff. Wieder eine kurze Pause. Sich selber aneignen. Unterbrochen von mehreren Pausen scheint der Erzähler nach einer passenden Formulierung seiner Problemlage zu suchen. Sie wird in einer grammatikalisch ungewöhnlichen Form ausgedrückt. Betrachtet man die Besonderheiten des Satzbaus, dann erscheint die bisherige Interpretation vorschnell. Denn er formuliert an dieser Stelle gerade nicht: Mein Problem bestand darin, mir den Schulstoff selber anzueignen. Der Satz wird vielmehr in der ersten Person Singular mit dem Possessivpronomen „Mein“ (Problem bestand darin) begonnen, dann aber in der Grammatik der dritten Person Singular weitergeführt, indem das Reflexivpronomen „sich“ (selber aneignen) angeschlossen wird. Der Erzähler gibt das Problem in einem Satzbruch, in Form eines Anakoluth zu verstehen. Er steigt von der Satzkonstruktion, mit der er den Satz beginnt, auf eine andere Satzkonstruktion um. Solche Satzbrüche sind in mündlicher Rede keineswegs ungewöhnlich. Ein Satzplan kann sich beispielsweise ändern, wenn er von einem hereinbrechenden Gedanken gestört wird, der dann einen anderen Anschluss erfordert. Das Spannende an diesem konkreten Wechsel der Satzkonstruktion besteht nun darin, dass der Sprechakt „Mein Problem“ auf ein ‚Ich‘ verweist, während das angeschlossene Pronomen der dritten Person „sich“ auf
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ein ‚Er‘, ‚Sie‘ oder ‚Es‘ verweist. Das genutzte Reflexivpronomen „sich“ lässt das erzählte Ich als eines hervortreten, das im Blick nach Außen entworfen wird, es wird im zweiten Teil des Satzes sozusagen über soziale Bezüge konfiguriert und der Blick wird vom Innen des ‚Mir‘ und ‚Mich‘ abgewendet. Es gibt noch eine weitere Eigenheit: Das Reflexivpronomen „sich“ der dritten Person lässt im Unterschied zu den Reflexivpronomen ‚mich‘ und ‚mir‘ der ersten Person offen, was der grammatikalische Fall ist, weil das Reflexivpronomen der dritten Person sowohl im Dativ als auch im Akkusativ ‚sich‘ lautet. Das hat zur Folge, dass dieser Satz sowohl in der bereits erwähnten Weise, also als Dativkonstruktion, gelesen werden kann: Mein Problem bestand darin, mir den Schulstoff anzueignen. Ebenso kann er aber auch als eine Akkusativkonstruktion gelesen werden: Mein Problem bestand darin, mich selber anzueignen. Die Möglichkeit dieser Lesart wird durch die ungewöhnliche Position verstärkt, in der das Reflexivpronomen „sich“ hier steht. Denn es heißt nicht: Mein Problem bestand darin, sich den Schulstoff selber anzueignen, sondern: Mein Problem bestand darin, den Schulstoff (.) sich selber aneignen. Dadurch kommt für die Interpretation dieser Stelle sowohl der Schulstoff als Objekt der Aneignung in Frage, als auch er selber. Die Positionierung des „sich“ im Satzgefüge führt dazu, dass an dieser Stelle zwei Objekte der Aneignung angeboten werden, sodass hier nicht nur die Aneignung des Schulstoffs als das größte Problem zu verstehen gegeben wird, sondern auch Herrn Salmans Aneignung seiner selbst als Problem thematisch wird. Das weist auf eine komplexe Problemlage hin, die nicht nur in der relativ offen ersichtlichen Problematik der selbständigen Aneignung des Schulstoffs besteht, sondern eine tieferliegende Identitätsproblematik andeutet, die an dieser Stelle kurz aufbricht. Allerdings wird diese Problematik in den anschließenden Sätzen kaum weiter bearbeitet, in denen das Problem auf die Aneignung des Schulstoffs reduziert wird. Herr Salman erzählt weiter, dass sich seine Eltern zur Zeit seiner Einschulung getrennt hätten, weil die gewalttätigen Übergriffe des Vaters so sehr eskaliert seien, dass er schließlich mit seiner Schwester und seiner Mutter ins Frauenhaus gezogen sei. Dort hätten aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse Bedingungen bestanden, die das Lernen einfach unmöglich gemacht hätten. Zwar habe sich seine Mutter nach Kräften bemüht aber die Grundausstattung an Kleidung und Schulmaterial sei einfach nicht so vorhanden gewesen wie bei seinen Klassenkameraden. Und doch habe er „eine schöne Kindheit gehabt“ (Z. 39), obgleich, wie der Erzähler diesen frühen Lebensabschnitt bilanziert: Das „alles hat einen geprägt“ (Z. 38-39).
20 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN „Äm nach der Trennung(.) bin ich halt im Frauenhaus eingeschult worden (.) und (.) dort Zeit zum Lernen (2) das Lernen allgemein dort [mmm] konnte man nicht- man, es gab keine Einrichtung zum Lernen das Zimmer (2) die Probleme, die (.) in einem schwirren und (.) Angst vorm Vater, der [mh] kommt jetzt und sucht er uns und (.) Katz und Maus Spiel [mh] da is die Schulbildung in der Anfangsphase meines Lebens (2) echt auf der Strecke geblieben [mh]“ wie manch anderer, [mh] der von sein Eltern ää vom feinsten gefördert wird [mh] (.) „so mein Sohn, eins plus eins ist zwei“ [mmhh, ja] und ich hatte Angst dass mein Vater (2)/hebt die Augenbrauen nach oben, zeigt beide Handflächen, um sie sodann auf den Tisch fallen zu lassen/ ne? [ja] Äm (4) (Z. 39-48)
Die Trennung der Eltern scheint das Problem zu verschärfen und zu verändern. Herr Salman schildert hier Hintergründe für seine Schwierigkeiten in der Schule. Es werden in dieser Passage auffällig viele raumzeitliche Figuren genutzt: Es habe keine Zeit gegeben, im Frauenhaus habe es an Einrichtung gefehlt und das Zimmer sei mit sechs mal sechs Quadratmetern viel zu beengt gewesen. Auffällig an diesem Abschnitt ist zudem die stark nominalistische Erzählweise. Die Nomen beherrschen diese Passage, die wie abgehackt nebeneinander gestellt werden, „keine Einrichtung zum Lernen“, „das Zimmer“, „die Probleme“ usf. Auffällig ist ebenso der plötzliche und kurzzeitige Tempuswechsel vom Präteritum („es gab keine Einrichtung“) zum Präsens („die Probleme, die in einem schwirren, Angst vorm Vater, kommt der jetzt“). Während die äußeren Umstände und Widrigkeiten in der Vergangenheitsform erzählt werden, brechen die Probleme, die im Inneren schwirren plötzlich in die Gegenwart der Erzählsituation ein. Alles dreht sich plötzlich um die Angst vor dem Vater, die die Aneignung des Schulstoffs in den Hintergrund zu rücken scheint, sodass die Schulbildung „auf der Strecke“ geblieben sei. Erzählerisch vergegenwärtigt Herr Salman die Angst vor dem Vater und gibt das Bedrohliche der Situation mit der ständig gegenwärtigen Möglichkeit seines plötzlichen Auftauchens zu verstehen („kommt der jetzt“). Er fasst das Bedrohliche dieser Situation in der Metapher des Katz-und-Maus-Spiels. Obwohl von einem Spiel die Rede ist, geht es um eine existenziell bedrohliche Situation. Herr Salman gibt seine Angst vor den später ausführlich geschilderten Gewaltausbrüchen des Vaters gestisch zu verstehen, indem er die Augenbrauen hochzieht und die geöffneten Handflächen auf den Tisch knallt (vgl. Z. 47-48). Der Interviewer wisse dann schon, was er meine, „ne?“ (Z. 48). Dem Erzähler scheinen hier die Worte zu fehlen, sodass er eine Geste wählt, um die Angst vor dem gewaltsamen Vater zum Ausdruck zu bringen. Das Katz-und-Maus-Spiel lässt an ein Geschehen zwischen Jäger und Gejagtem denken, es hat lediglich aus der Perspektive der Katze den Charakter eines
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Spiels. Für die Maus geht es um Leben und Tod, um ihre Existenz. Für die Katze ist die Maus lediglich ein Spielobjekt, ein Spielzeug, das ihr weder gefährlich werden noch entkommen kann. Eine Maus befindet sich angesichts der übermächtigen Katze in einer ausweglosen Situation, deren Ende unvermeidlich und zweifelsfrei vorhersehbar zu sein scheint. Sie kann sich nicht in einer Weise zur Wehr setzen, die das Spiel zu einem Spiel mit offenem Ausgang machte.5 Sie nimmt nur so lange am Spiel teil, wie es der Katze gefällt, nämlich eben so lange, wie sie ihr zur Befriedigung ihres Spieltriebs zweckdienlich ist. Dieser Spieltrieb hat für die Katze den Zweck, das Jagen zu lernen, und dient daher letztlich der Selbsterhaltung. Aber diesen Trainingszweck hat die Maus irgendwann erfüllt und sobald das Spiel der Katze langweilig wird, hat die Maus als Spielzeug ausgedient und wird mit schnellem Tatzenhieb getötet. Die Maus hat demgegenüber allem Anschein nach keine andere Möglichkeit als das Spiel angesichts ihres übermächtigen Gegners so lange und so gut wie möglich mitzuspielen, flinke Haken zu schlagen, Täuschungsmanöver zu erfinden und der Katze immer wieder zu entwischen, sodass das Unvermeidliche zumindest so lange wie möglich hinausgezögert wird. Gleichwohl haben beide Spieler letztlich das gleiche Ziel und den gleichen Beweggrund dafür, dieses Spiel überhaupt zu spielen: Es geht ums Überleben. Für die Katze ist das Spiel eine Art Überlebenstraining für die Zukunft, sie ist im Rahmen des Spiels nicht existenziell gefährdet. Für die Maus ist jeder Haken, den sie schlägt, eine Frage des Überlebens. Der Ausgang des Spiels ist dabei für die Maus von bestechender Gewissheit: Am Ende stehen der Tod und das Gefressen-Werden. Wenn nun Herr Salman seine Angst vor dem Vater in dieser Metapher zum Ausdruck bringt, dann erscheint unstrittig, dass er sich in diesem ungleichen Spiel mit der Position der Maus identifiziert, die sich der übermächtigen Katze (dem Vater) auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sieht. Das Bedrohliche besteht offenbar darin, dass mit dem plötzlichen Auftauchen des Vaters jederzeit zu rechnen ist („kommt der jetzt und sucht er uns“) und so das existenzgefährdende Katz-und-Maus-Spiel in jedem Augenblick neu zu beginnen droht. Diese ständig gegenwärtige Gefahr wird als Hintergrund dafür bemerkbar, dass die „Schulbildung echt auf der Strecke“ geblieben ist. Die bisherigen Interpretationsspuren dieser ersten Sequenz lassen sich in etwa folgendermaßen engführen: Herr Salman entwirft sich zu Beginn des Interviews in einer Welt, die durch zwei voneinander getrennte Sprachwelten
5
Dass das keine notwendige Interpretation ist, lässt sich im Zeichentrickfilm Tom und Jerry bemerken, der davon lebt, dass das Katz-und-Maus-Spiel immer wieder von Neuem und in teilweise vertauschten Rollen beginnt und wieder eröffnet wird.
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gekennzeichnet wird. Sie werden zunächst als unproblematisch und konfliktfrei nebeneinanderstehend zu verstehen gegeben. Das die Weltanforderungen bewältigende Nebeneinander der Sprachen stößt angesichts der Institution Schule an eine Grenze. Denn im Kontext Schule erfährt Herr Salman sich als Adressat von Erwartungen und Anforderungen, die sich anscheinend nicht bewältigen lassen, indem er auf eingelebte Ordnungsfiguren und Orientierungen zurückgreift. In der Schule geht es um mehr oder anderes als darum, neue Freunde zu finden. Es geht um einen Schulstoff, den er sich selbst aneignen muss, und bei Schwierigkeiten, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, erweist sich der naheliegende Weg zu den Eltern als Sackgasse. Insofern wird Herr Salman mit einer Grenze seiner vorhandenen und eingelebten Orientierungen konfrontiert, da diese zur Lösung des Problems ungeeignet zu sein scheinen. Er gibt sich als jemand zu verstehen, für den der Beginn seiner Schulzeit eine Problemlage markiert, für deren Lösung oder Bearbeitung die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht mehr ausreichen. Die Analyse der spezifischen Art und Weise, auf die das größte Problem zu verstehen gegeben wird, führte zu der Einschätzung, dass das genannte Problem auch eine Identitätsproblematik eröffnet, die jedoch im weiteren Verlauf der Sequenz zunächst nicht weiter bearbeitet wird, sondern durch die Reduktion auf das Problem der Schulstoffaneignung verdeckt wird. Durch die krisenhaften Umbrüche in der Familie verschärfte und veränderte sich das Problem. Die neue Wohnsituation im Frauenhaus und die Angst vor dem existenziell bedrohlichen Vater bilden einen kontextuellen Hintergrund, der die Lösung des Problems erschwert. Andererseits verändert sich das Problem, weil der Beschäftigung mit der Katz-und-Maus-Situation wegen ihres existenziell bedrohlichen Charakters Priorität zuzukommen scheint.
2.2 „D AS
WAR SO EINE PEINLICHE
S ITUATION “
Herr Salman erzählt weiter, dass es nach dem Aufenthalt im Frauenhaus und den innerfamiliären Konflikten, die er in ihrer Brisanz an späterer Stelle ausführlicher aufgreift, mit dem Umzug in eine neue, schöne Wohnung „sehr bergauf“ (Z. 52) gegangen sei. Er habe die Hausaufgaben nun täglich erledigt, aber die Probleme seien trotzdem nicht abgerissen, weil die Hausaufgaben wegen der fehlenden Förderung „natürlicherweise“ (Z. 63) falsch waren und er den Schulstoff nach wie vor alleine zu bewältigen hatte. Diese Passage (Z. 64-84) zeichnet sich dadurch aus, dass der Erzähler sich detailgenau an erlebte Situationen zurückerinnert. Die Verwendung der indirekten Rede nimmt zu, es werden
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Redeweisen anderer Personen, z.B. der Lehrerin, zitiert und der Abschnitt zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass er weniger argumentativen und Fakten berichtenden, sondern stark erzählenden, narrativen Charakter hat: „ich erinner mich noch (3) es war halt in der zweiten (.) dritten Klasse“ (Z. 65). Herr Salman erwähnt nach dieser Einleitung, dass er zu dieser Zeit die Schreibschrift lernen musste und erzählt in diesem Zusammenhang von seiner älteren Schwester, die diese schon sehr gut beherrscht habe, weil sie damals bereits in der fünften oder sechsten Klasse gewesen sei. Er ergänzt, dass er die gleiche Grundschullehrerin wie seine Schwester gehabt habe und bei dieser Lehrerin auch als ihr Bruder (vgl. Z. 71) bekannt gewesen sei. Seine Schwester habe ihm damals sehr viel geholfen, allerdings nicht, indem sie ihm die Schreibschrift beigebracht hätte, sondern indem sie „zack, zack, zack“ (Z. 73) die Aufgaben für ihn erledigt habe. Dieser Schwindel sei allerdings von der Lehrerin entdeckt worden: „Meine Lehrerin hat’s damals gemerkt. [mh] (.) Und hat gesagt das ist die Schrift deiner Schwester. Und (.) das war so (.) eine peinliche Situation (.) [mh] für mich vor meinen Mitschülern (.) [mh] eine eine (.) Bloßstellung, Demütigung (.) [mh] (.) andererseits auch sehr lehrreich für mich [aha] (.) um einfach Ansporn – ich, ich muss es doch auch können; ich muss es doch auch schaffen können (3) ä Nach dem Erlebnis, es war (.) halt ein kleines Erlebnis, aber für mich ausschlaggebend. Danach habe ich selber wirklich (.) versucht (.) die Schreibschrift zu lernen [mh] kontinuierlich jeden Tag, auch wenn ich’s ä falsch mache ob richtig mache Hauptsache ich versuche es. [mh] Es hat sich denn verbessert, sehr gut sogar (.)“ (Z. 74-83)
Die Bedeutung, die diesem Erlebnis zugeschrieben wird, wird in einer ambivalenten Figur entworfen. Es sei sowohl eine peinliche „Bloßstellung“ als auch ein lehrreicher „Ansporn“ gewesen. Anders als die zuvor thematisierte Angst vor dem Vater, die dazu geführt habe, dass die „Schulbildung echt auf der Strecke geblieben“ sei, wird hier eine als unangenehm zu verstehen gegebene Situation, ein peinliches, demütigendes, bloßstellendes Erlebnis als ausschlaggebend für eine Veränderung im Umgang mit den Hausaufgaben gedeutet. Das erzählte Ich versucht die Schreibschrift nun „selber“ zu lernen, regelmäßig zu üben und auch wenn die Hausaufgaben fehlerhaft bleiben, wird der Versuch nun zur Hauptsache. Diese veränderte Haltung habe im Ergebnis zu einer deutlichen Verbesserung geführt. Bloßgestellt zu werden hat wörtlich verstanden etwas damit zu tun, sich nackt vor anderen zu erfahren. Eine Bloßstellung kann auch bedeuten, bei etwas ertappt zu werden, das als unkonventionell gilt, das eine Norm verletzt. Herr
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Salman präzisiert sein Erlebnis, indem er das Substantiv Demütigung anschließt. Das legt die Vorstellung nahe, dass der Selbstwert und Stolz, die Ehre und Würde des erzählten Ich in dieser Situation angetastet wurden. Auch ein Misserfolg, der als persönliches Scheitern oder persönliche Niederlage interpretiert wird, kann als Demütigung erfahren werden. Für Herrn Salman scheint wichtig zu sein, dass sich die Situation „vor“ seinen Mitschülern abspielt. Diese Präposition wird betont und lauter gesprochen und damit in ihrer Relevanz akzentuiert. Die räumliche Konstellation der Szene scheint bedeutsam für ihren peinlichen und demütigenden Charakter zu sein. Wenn man sich die Szene vor Augen führt, heißt vor seinen Mitschülern zu sein, den Blicken der gesamten Gruppe und allen einzelnen Augenpaaren ausgesetzt zu sein, die ihn mit der entlarvenden Ansprache der Lehrerin konfrontiert sehen, was offenbar das Peinliche und Demütigende der Situation ausmacht. Die Situation könne als „kleines Erlebnis“ erscheinen, für Herrn Salman sei sie jedoch „ausschlaggebend“ gewesen. Sie wird als Auslöser oder Anlass für eine Verbesserung seines Umgangs mit dem Problem der Hausaufgaben gedeutet. Worin aber besteht das Ausschlaggebende dieser Erfahrung? Der Erzähler entwirft den Charakter der Situation in einer Redefigur der zwei Seiten. Vor den Mitschülern bloßgestellt zu werden sei peinlich gewesen, eine Demütigung, „andererseits auch sehr lehrreich“, ein „Ansporn“. Die Situation wird im Rahmen einer Figur interpretiert, in der sowohl die peinliche Demütigung als auch der lehrreiche Ansporn als die zwei Seiten der Situation zum Vorschein kommen. Wie sind diese beiden Seiten zu verstehen? Wie die zwei Seiten der gleichen Medaille, die eine Vorder- und eine Rückseite hat, die insofern zusammengehören? Oder eher wie die rechte und die linke Seite einer Straße, die zwar auch zusammengehören, aber vom Weg in der Mitte getrennt sind und ihn begrenzen, sodass sie sich nie berühren? Oder wie zwei Seiten, die von einem Fluss in der Mitte getrennt werden, der nicht überbrückt werden kann? Die beiden Seiten zeichnen sich in allen diesen Versionen zunächst dadurch aus, dass die Situation durch beide Seiten in ihrer Zusammengehörigkeit konstituiert wird. Die Bloßstellung und der lehrreiche Ansporn werden vor diesem Hintergrund in ihrer Zusammengehörigkeit als konstitutives Merkmal dieser Situation entworfen. Erst beide Aspekte geben in ihrer Verbundenheit den Ausschlag für die gesagte Veränderung im Umgang mit den Hausaufgaben. Semantisch legt das Adverb ‚andererseits‘ eine Gegenüberstellung von Gegensätzlichem nahe, ähnlich wie bei einem Fluss, über den es keine Brücke gibt. Auch die peinliche Situation, die Bloßstellung und Demütigung steht auf den ersten Blick in einem semantischen Gegensatz zum lehrreichen Ansporn. Das Adverb ‚andererseits‘ dient üblicherweise in Verbindung mit dem Adverb
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‚einerseits‘ dazu, widersprüchliche Sachverhalte einander gegenüber zu stellen. Ebenso kann es aber bei Aufzählungen einander ergänzender Sachverhalte verwendet werden. Für diese zweite Lesart spricht im vorliegenden Abschnitt vor allem die von Herrn Salman gewählte Verknüpfung „andererseits auch“. Denn das Adverb „auch“ weist darauf hin, dass die Situation ebenso und gleichfalls ein lehrreicher Ansporn war. Insofern kennzeichnet Herr Salman diese Situation durch zwei Aspekte, die nur dem Anschein nach in einem widersprüchlichen Gegensatzverhältnis stehen, von Herrn Salman aber eher als Ergänzungsverhältnis entworfen werden und in diesem Sinne zusammengehören. So wird statt einer auf den ersten Blick zu erwartenden Entweder-oder-Logik eine Redefigur gewählt, in der die zwei Momente nicht als Gegensätze, sondern sowohl als auch zum Vorschein kommen. Mit Entweder-oder-Logik ist gemeint, dass eine Situation entweder als peinlich und demütigend erfahren wird oder aber als lehrreich und anspornend, nicht jedoch als beides. Denn peinlich demütigende Bloßstellungen, so könnte man meinen, wirken destruktiv, demotivierend und hemmend und gerade nicht als Ansporn. Hier gehört jedoch beides zusammen und gibt den Ausschlag für die gesagte Veränderung. An dieser Stelle wird ein Ich erzählt, das sich mit der Rede von der peinlichen Demütigung und dem lehrreichen Ansporn in seinem Getroffenwerden artikuliert, das als ausschlaggebend für einen beginnenden Veränderungsprozess zu verstehen gegeben wird. Das Getroffenwerden, die demütigende Bloßstellung und der Ansporn hängen für Herrn Salman offenbar damit zusammen, dass er vor den Mitschülern als jemand erscheint, der etwas selber nicht schafft und kann. Es geht weniger, vielleicht sogar überhaupt nicht darum, wie sich ebenso vermuten ließe, dass er bei einem Betrugsversuch ertappt wird, der unangenehme Konsequenzen für seine weitere Schullaufbahn haben könnte oder z.B. moralische Grenzen überschreitet. Wie lässt sich bislang der Umgang des hier erzählten Ich mit seiner Problemlage beschreiben? Der erste Problembearbeitungsversuch von Herrn Salman besteht darin, dass bisher zwar nicht aktivierte, potenziell aber bereit liegende Lösungen ausgelotet und in eine Verhaltensoption übersetzt werden, die realisiert wird. Herr Salman bemerkt, dass er sich den Schulstoff möglicherweise gar nicht alleine aneignen muss, damit sich sein Problem löst. Vielmehr entdeckt er seine Schwester als Ansprechpartnerin, die die Aufgaben erledigen kann, sodass sein Problem zwar nicht von ihm, wohl aber für ihn gelöst ist. Das heißt, er entdeckt in der familiären Welt zu Hause ein vorhandenes Potenzial zur Lösung des Problems, das bislang nicht ausgeschöpft worden war. Herr Salman hatte bereits an früherer Stelle erzählt, dass er mit der Schwester auch zu Hause Deutsch spricht und wichtiger noch: Seine Schwester hat die Grundschule bereits erfolgreich abgeschlossen. Die Aktivierung oder Realisierung dieses
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bereit liegenden Potenzials war zur Bewältigung jener eher sozialen Anforderungen, die ihm vor dem Schuleintritt gestellt worden waren, aber schlicht nicht nötig, sodass es zunächst nicht als eine Lösungsmöglichkeit für das Problem vergegenwärtigt wurde. Es stellt sich hier die allgemeinere Frage, wie neue oder neuartige Problemlagen bearbeitet werden. Finden solche Bearbeitungen möglicherweise statt, indem nicht aktualisierte, aber bereit liegende Potenziale eines Welt- und Selbstentwurfs auf ihre Problemlösungskapazität hin ausgelotet werden? Anders formuliert: Geht es angesichts neuer Problemlagen zunächst darum, den Reichtum eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs in Bezug auf sein Problembearbeitungspotenzial allererst zu entdecken? Möglicherweise ähnlich wie man den Wert ausländischer Münzen im eigenen Portemonnaie erst dann bemerkt und einsetzen kann, wenn man sich im Ausland aufhält, in dem die Münzen sich in ihrem Wert allererst erweisen können? Sich an die Schwester zu wenden und sie die Hausaufgaben erledigen zu lassen, kann vor diesem Hintergrund als durchaus erfolgreiche Problemlösungsstrategie gelten, weil das Problem für das erzählte Ich damit gelöst zu sein scheint. Sie lässt sich als Versuch beschreiben, das Problem zu bearbeiten, indem zunächst neue Verhaltensoptionen entdeckt und ausprobiert werden. Die Problembearbeitung erfolgt in diesem Fall, indem Problemlösungspotenziale ausgelotet werden, die bereits vorliegen, aber bis zum Eintritt in die Schule nicht aktualisiert und realisiert zu werden brauchten. Das Spannende ist jedoch, dass diese Strategie scheitert und dass dieses Scheitern verbunden ist mit einem Getroffenwerden, das seinen Ausdruck in der Ambivalenz von peinlicher Demütigung und lehrreichem Ansporn findet. Herr Salman fliegt auf und findet sich nun in einer Situation wieder, die er als peinlich demütigende Bloßstellung und sehr lehrreichen Ansporn zu verstehen gibt. Das Bemerkenswerte daran ist, dass sich die Problematik hier erneut erweitert und verschärft. Herr Salman wird damit konfrontiert, dass das Problem, um das es geht, zumindest nicht mithilfe dieser Lösungsstrategie bearbeitet werden kann. Das erzählte Ich verknüpft die erinnerte Bemerkung der Lehrerin: „das ist die Schrift deiner Schwester“ (Z. 75-76) in einer spezifischen Art und Weise. Sie wird, wie in jeder kommunikativen Interaktion, aufgegriffen, indem bestimmte Deutungsangebote realisiert werden und andere nicht. So enthält die Bemerkung der Lehrerin unter anderem folgende Deutungsmöglichkeiten, die Herr Salman hätte aufgreifen können:
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1. „Das ist die Schrift deiner Schwester.“ Das heißt, du hast betrogen und dich im Rahmen der Institution Schule moralisch falsch verhalten. Mit dieser Aufnahme wäre also eine Art ‚moralisches‘ Deutungsangebot aufgegriffen worden. 2. „Das ist die Schrift deiner Schwester.“ Das heißt, dass dir die Erledigung der Hausaufgabe für deinen eigenen Lernfortschritt überhaupt nichts gebracht hat. Mit einem solchen Anschluss wäre ein klassisch pädagogisches, selbstreflexives Deutungsangebot aufgenommen worden. 3. „Das ist die Schrift deiner Schwester“. Das heißt, dass du dich beim nächsten Versuch, mich zu täuschen, einfach cleverer anstellen musst. Diese Variante ließe sich als Aufnahme eines pragmatisch-strategischen Deutungsangebots beschreiben. 4. „Das ist die Schrift deiner Schwester.“ Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass die Lehrerin soeben behauptet hat, dass das deine Schwester geschrieben hat. Sie gibt also vor, ihre Schrift erkannt zu haben, sich an ihre Schrift zu erinnern etc. Diese Version ließe sich als Aufnahme eines deskriptiv-neutralen, Fakten feststellenden Deutungsangebots charakterisieren. In der Sequenz gibt es jedoch kaum Hinweise darauf, dass eines dieser Deutungsangebote realisiert würde. Der erinnerte Satz der Lehrerin wird vielmehr bearbeitet, indem eine fünfte Deutungsmöglichkeit realisiert wird. Diese scheint zwar auch von den Regeln der Institution Schule und dem asymmetrischen Verhältnis zwischen Lehrerin und Schüler grundiert zu sein, hebt jedoch vor allem auf Herrn Salmans Position vor seinen Mitschülern ab.6 „Das ist die Schrift deiner Schwester“ deutet Herr Salman als: Du bist nicht fähig deine Hausaufgaben alleine, also ohne die Hilfe der anderen zu erledigen. Du kannst das einfach nicht. Vielleicht wird hier diese Unfähigkeit bloßgestellt und macht die Nacktheit vor seinen Mitschülern aus, vielleicht besteht in dieser sichtbar werdenden Unfähigkeit die Demütigung. Wörtlich genommen entwirft sich Herr Salman hier als ein Jemand, der es nicht kann, als unfähig, das heißt als jemand, der vor der Klasse nicht potent erscheint. Das lässt ihn nicht unberührt, sondern spornt ihn an. Diese Interpretation erscheint gerechtfertigt, weil an die Bemerkung der Lehrerin und die Rede von Peinlichkeit und Ansporn der Hinweis geknüpft wird, „ich, ich muss es doch auch können; ich muss es doch auch schaffen können“ (Z. 79). Die Aufgabe wird einem ‚Ich‘ gestellt, das hier
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Es fällt auf, dass auch an dieser Stelle Erwartungen eine Rolle spielen, die den anderen, hier den Mitschülern, zugesprochen werden und die bereits in der Rede vom „größten Problem“ zu Beginn des Interviews eine Rolle spielten.
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drei Mal, also auffallend häufig und ohne grammatikalische Notwendigkeit artikuliert wird, dem es doch auch gelingen müsse, die verlangte Schreibweise, die Schreibschrift wie die Schwester zu beherrschen. Damit verschiebt sich aber gleichzeitig die Rolle der Schwester als einer Ansprechpartnerin, die seine Probleme für ihn löst, hin zu einer Vorbildfigur, die bereits beherrscht, was er anstrebt. Durch diese Orientierung an einem Vorbild und nicht die Erledigung des Problems durch die Schwester kann das Problem nun von ihm gelöst werden. Die Schwester spornt ihn an, weil sie bereits bewiesen hat, dass es zu schaffen ist, dass das Problem also auch von ihm alleine gelöst werden kann und gleichzeitig aber auch von diesem ‚Ich‘ („ich, ich“) gelöst werden muss. Denn die Schwester hatte es ja auch alleine geschafft, auch sie hatte keine elterliche Hilfe. Hinzu kommt, dass die Situation vor den Mitschülern strukturell vor allem unter einer der zwei folgenden Voraussetzungen (oder Vorstellungen) zur peinlichen Demütigung und Bloßstellung wird. Erstens, wenn zumindest einem Teil von ihnen unterstellt wird, dass auch sie zur Erledigung der Schreibschrift alleine fähig sind und insofern den Erwartungen der Institution Schule entsprechen. Zweitens, wenn Herr Salman voraussetzt, dass die Mitschüler bemerkt haben, dass seine Schwester es ja auch alleine geschafft hat und also auch er es schaffen können muss, weil er ja die gleichen familiären Bedingungen hat. Wenn jedoch vorausgesetzt würde, dass niemand die Aneignung der Schreibschrift ganz alleine schafft, könnte Herr Salman in ihrem Blick auch nicht als unfähig dastehen. Wenn seine Schwester es aber alleine geschafft hat, dann verlieren auch die von Herrn Salman genannten inneren und äußeren Umstände an Begründungskraft für seine Schwierigkeit, sich den Schulstoff alleine anzueignen. Denn von den fehlenden Deutschkenntnissen der Mutter und dem gewalttätigen Vater war ja auch die Schwester betroffen. Es liegt dann ausschließlich an Herrn Salman selbst, an seiner Unzulänglichkeit als Individuum, dass er es nicht schafft. Nicht die Umstände sind die Ursache seines Versagens, er selbst versagt. Aus dieser Perspektive geht es in dieser Szene um das demütigende Erlebnis, sich in seiner individuellen Unzulänglichkeit bloßgestellt zu sehen. Diese Struktur ist m.E. im Verlauf der Sequenz angelegt. Sie lässt sich jedoch nur interpretativ erschließen und wird von Herrn Salman weder explizit
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thematisiert noch bewusst reflektiert.7 Es geht vor diesem Hintergrund in dieser Sequenz um unterstellte Erwartungen anderer, mit denen Herr Salman sich identifiziert und denen er nicht entspricht. Es geht hier um einen Abstand, der zwischen einem Selbstbild, dass er vor den Anderen präsentieren will und erfahrener Wirklichkeit besteht. Von diesem Abstand scheint das erzählte Ich hier getroffen zu werden. Festzuhalten ist an dieser Szene, dass Herr Salman sich als bloßgestellt, gedemütigt und peinlich berührt entwirft. Das Getroffenwerden gibt dieser Situation ihre spezifische Färbung. Auch der motivierende Ansporn weist in diese Richtung, wenn man bedenkt, dass der Ansporn wörtlich verstanden jenen Impuls bezeichnet, den das Pferd verspürt, sobald der Reiter ihm die Sporen gibt (vgl.: Grimm/Grimm [1854] 1971, Bd. 1, Sp. 467).8 Diese Qualität wird von Herrn Salman als ausschlaggebend für seine Veränderung interpretiert. Zweitens lässt sich ausgehend von dieser Sequenz eine Vermutung darüber formulieren, wie Herr Salman seine Problemlage strukturell zu bearbeiten scheint: Das Problem wird hier in ein Verhaltensproblem übersetzt, um dann auf dieser Ebene bearbeitet und in dieser Sequenz auch gelöst zu werden. „Es hat sich denn verbessert, sehr gut sogar.“ (Z. 83) Herr Salman verändert nach diesem ausschlaggebenden Erlebnis seinen Umgang mit Hausaufgaben. Er versucht, selber „die Schreibschrift zu lernen“, kontinuierlich und jeden Tag. Dadurch verschiebt sich eine seiner Orientierungen: Es sei nun egal gewesen, ob er die Aufgaben richtig oder falsch mache, die Hauptsache sei gewesen, es zu versuchen.
7
Es handelt sich hierbei um ‚latente Sinnstrukturen‘. Dieser Begriff ist jedoch theoretisch, methodologisch und methodisch voraussetzungsreich. Daher hebe ich ihn hervor und setze ihn in einfache Anführungszeichen. Im Grundgedanken geht es darum, dass Interviewtexte nicht nur einen manifesten, offen ersichtlichen textuellen Sinn enthalten, sondern ebenso eine darunter liegende, latente Bedeutungsschicht. Vgl. zur latenten Sinnstruktur, z.B. aus Oevermanns objektiv hermeneutischer Perspektive einleitend und zusammenfassend Wernet 2000: 18-19.
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Dort formulieren die Grimms: „Anspornen, das Pferd anspornen, ihm die spornen geben; und davon oft figürlich, zur Eile, zur Rache, zur Tugend anspornen; durch die immer nahe gefahr des mangels angespornt. (Wieland 7, 229)“ (Ebd.).
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2.3 D A „ HAT
E INSTELLUNG VERÄNDERT “
SICH MEINE KOMPLETTE
GEGENÜBER
S CHULE
In der nächsten Sequenz ist von einem Erlebnis die Rede, das der Erzähler einleitend als „sehr großen emotionalen und familiären Knick“ (Z. 98-99) bezeichnet. Der getrennt lebende und gewalttätige Vater sei zu ihnen nach Hause gekommen, um ihn und seine Schwester mitzunehmen (vgl. Z. 98). Er habe die Mutter mit einem „Messer in der Hand“ (Z. 100) bedroht und krankenhausreif geschlagen. Herr Salman, damals etwa 15 Jahre alt, habe versucht dazwischen zu gehen, allerdings erfolglos, weil der Vater ihm körperlich überlegen gewesen sei (vgl. Z. 105). Aber irgendwie habe es die Mutter schließlich geschafft, die Polizei zu rufen, die den Vater letztlich vor seinen Augen in Handschellen abgeführt habe. Um einen Eindruck von der Brisanz und Intensität dieser Szene zu vermitteln, wird an dieser Stelle entgegen dem chronologischen Ablauf der Erzählung eine kurze Passage aus dem Nachfrageteil zitiert, in der die besagte Situation ausführlich aufgegriffen wird: „Dann kam auch die Polizei (.) und dann sagte die Polizei, ja, sie sorgen für Unruhe hier und et cetera und da fragte mich ich erinner´ mich noch an genau die Worte. Wer hat diese Menschen gerufen, mein Sohn? [mh] (.) Ich natürlich, weiß ich nicht. (.) Man kann sich das nicht vorstellen, wie (.) man in dieser Situation sich fühlt [mm] das ist nicht zu beschreiben, weiß ich nicht, hab ich gesagt. Wurde er in Handschellen abgeführt, ich schaute noch durchs Fenster (.) er hat sich aber nicht mehr umgedreht. [mm] Das war das Signal dafür, dass er hier nichts mehr zu holen hatte, [mh] (.)“ (Z. 726-733)
Diese Begegnung sei die letzte mit dem kurz danach verstorbenen Vater gewesen. Dann sei die Pubertät gekommen, eine für ihn schlimme Zeit, in der ihm die meisten seiner Lehrer gesagt hätten, dass sie für ihn „keine so großen“ (Z. 116) Zukunftschancen sähen, mit Ausnahme seiner Klassenlehrerin, die „sehr viel Potenzial“ (Z. 135) in ihm gesehen und ihm vorgeschlagen habe, einige Dinge zu verändern und mit einer kleinen Veränderung anzufangen, nämlich mit einem neuen Platz in der Sitzordnung: „Ich habe mir gedacht wa was (.) kann (.) sich für mich verändern, wenn ich (.) neben (.) jemanden anderen sitze? [mh] Und damit fing es an: sehr viel [ok] (.) ich saß neben Robert Lange ich vergesse es nicht. [mh] Robert Lange (.) studiert zur Zeit, der (.), ok, nicht so viel von anderen erzählen, aber deren Eltern waren (.) ä sind es immer noch Lehrer, einer (.) der Vater ist Professor (.) [mh] und die Mutter ist (.) Ärztin [mh] (3) So und durch das alleinige Umsetzen [mh] (.) in der siebten Kl (3) a-acht(.) achte Klasse, [mh] ich (.) weiß
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nicht mehr welcher Zeitraum das war (.) äm allein (.) durch das Umsetzen (.) hat sich meine Aufmerksamkeit im Unterricht (.) meine (.) mein Denken, meine (3) meine komplette Einstellung gegenüber Schule (2) verändert. [mh] Grund auf (.) ich hab gesehen, dass (.) der nebensitzende Mensch es beherrscht [mh] und habe mich immer gefragt, warum kannst du es nicht auch? [mh] (4) Es war ein Ansporn, [mh] (.) genau so gut zu werden (2) trotz meine Defizite [mh] und das habe ich auch geschafft. [okay] Der Freund, der neben mir saß (.) ich danke ihm immer noch (.) sei es Gruppenarbeiten, sei es für Klausuren lernen, Referate (2) ich (.) eine Ausgrenzung gab es nicht. Wir haben echt alles gemeinsam gemacht, [mh] Referate (.) und dann hieß es Hakan Hakan Hakan ich möchte gerne mit dir ein Referat machen, wollen wir? [mh] (2) Warum? Weil ich es auf einmal beherrscht habe [mh] (2) aber aufgrund (.) deren Mithilfe habe ich mich hoch gerappelt, hochgezogen (4) das war das (.) bed-deutendste /Ein Klopfen mit dem Finger auf dem Tisch zwischen der ersten und der zweiten Silbe/ (4) das war das bedeutendste daran, dass ich mich (.) so verändert habe, [mh] also in die gute Richtung würde ich mal sagen [mh] würde ich immer noch neben ein türkischsprachigen Schülern sitzen, wäre ich glaube ich nie so weit gekommen [mh] (2) es klingt einfach a ein bisschen labil, aber es ist einfach so.“ (Z. 140-164)
Herr Salman gibt den Wechsel der Sitzordnung als etwas zu verstehen, mit dem „sehr viel“ angefangen habe. Dieser scheinbaren Kleinigkeit wird eine hohe Relevanz hinsichtlich jenes Prozesses zugesprochen, der schließlich zur Veränderung seiner Aufmerksamkeit im Unterricht und zur Veränderung seiner gesamten Einstellung gegenüber Schule geführt habe. Er gibt in der Rückschau zu verstehen, dass er diese für ihn weitreichende Veränderung von der anscheinend eher belanglosen Veränderung der Sitzordnung keineswegs erwartet hätte. „Ich habe mir gedacht wa was (.) kann (.) sich für mich verändern, wenn ich (.) neben (.) jemanden anderen sitze?“ Diese rhetorische Frage legt nahe, dass eine für ihn bedeutsame Veränderung durch die Maßnahme der Sitzplatzänderung seiner damaligen Erwartung nicht entsprach. Allerdings täuscht er sich, denn „durch das alleinige Umsetzen (.) hat sich meine Aufmerksamkeit im Unterricht (.) meine (.) mein Denken, meine (3) meine komplette Einstellung gegenüber Schule (2) verändert. [mh] Grund auf (.)“ Sieht man von den sprachlich bemerkenswerten Nuancen dieser Passage zunächst einmal ab, dann wird hier darauf hingewiesen, dass einzig und allein der neue Platz in der Sitzordnung seine Aufmerksamkeit und Einstellung bezüglich Unterricht und Schule von Grund auf verändert hat. Denn das Umsetzen hat unerwartete Folgen. Es lässt ihn bemerken, dass sein Sitznachbar es beherrscht, was ihn wieder zu der Frage bringt, warum er es nicht auch kann, sodass er
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erneut dazu angespornt wird, genauso gut zu werden, in diesem Fall wie sein Mitschüler. Dies sei ihm trotz seiner Defizite schließlich auch gelungen. Auch in dieser Sequenz wird eine Krisenerfahrung, ein Ereignis, das ihn tief trifft, als Ausgangspunkt für einen Veränderungsprozess zu verstehen gegeben. Der sehr große „emotionale und familiäre Knick“ (Z. 100), den die Gewalttaten des Vaters bedeutet hätten, habe ihn in eine schlimme Zeit geführt. Diese Krise wirkt sich schließlich auch negativ auf seine Schulleistungen aus. Er habe den Verlust des Vaters zudem erst mit der Pubertät „gespürt“ (Z. 111) und das insbesondere im Kontext Schule, wenn seine Mitschüler von ihren Vätern, den erfolgreichen Ärzten, Anwälten und Mathematiklehrern erzählten. Er dagegen habe weiterhin das Defizit gehabt, nicht gefördert zu werden. „Es hat einfach gefehlt.“ (Z. 119-120) Die Krisenerfahrung, die sich in der Schule auswirkt, wird auch hier als ein Verhaltensproblem bearbeitet (den Sitzplatz wechseln), um auf dieser Ebene gelöst zu werden (denn er habe es auch geschafft so gut zu werden wie sein Sitznachbar). Allerdings ist diese erste Rekonstruktion der Passage nicht präzise, denn im Vergleich zur vorausgehenden Sequenz zeigen sich gleichzeitig Unterschiede, die sich in etwa so beschreiben lassen: Herr Salman erzählt in der vorangegangenen Sequenz ein emotional unangenehmes und gleichzeitig anspornendes Erlebnis, das sich im Kontext Schule abspielt. Nach dieser Situation wird das Handeln des erzählten Ich als verändert zu verstehen gegeben. Diese Veränderung betrifft den Umgang mit einer konkreten Anforderung, nämlich den Umgang mit Hausaufgaben. Dieses Problem wurde dann als nicht mehr für ihn, sondern von ihm bearbeitetes und gelöstes rekonstruiert. In dieser Sequenz ist nun die Rede von einer Krisenerfahrung im Kontext der Familie. Sie hat zwar deutliche Auswirkungen auf seine Schulrealität und findet dort ihren emotionalen Widerhall, entsteht jedoch in einer Familien- und nicht in einer Unterrichtssituation. Es ist denkbar, dass Unterschiede zwischen der Qualität des je erzählten Getroffenwerdens bestehen, die mit diesen verschiedenen Kontexten zusammenhängen. Bemerkenswert ist zudem, dass in dieser Sequenz die konkrete Problemlösungsstrategie zur Veränderung seiner Situation von der Lehrerin vorgeschlagen wird und nicht Herrn Salman eigener Initiative entspringt. Durch die rhetorische Frage wird deutlich, dass Herr Salman in diesem Vorschlag zunächst keinerlei Veränderungspotenzial gesehen hat. Diese, aus seiner Perspektive kaum vielversprechende Maßnahme habe nun nicht nur seine Aufmerksamkeit im Unterricht, sondern sein Denken und seine komplette Einstellung gegenüber Schule verändert. Wörtlich genommen wird hier Herrn Salmans Stellung zur Schule als vollständig und in Gänze verändert zu verstehen gegeben. Das heißt, das Ver-
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hältnis, in dem das erzählte Ich zur Schule steht, wird als grundlegend verändert behauptet. Bildungstheoretisch sensibilisiert lässt sich vermuten, dass hier die Veränderung eines Welt- und Selbstentwurfs zur Sprache gebracht und damit ein möglicher Bildungsprozess angedeutet wird (vgl. zu diesem noch zu erläuternden Begriff von Bildung Kapitel 3). Wie lässt sich die von Herrn Salman gesagte Veränderung seines Denkens und seiner Einstellung interpretieren? Ein Element der Veränderung besteht darin, dass das Problemmotiv der alleinigen Bewältigung des Schulstoffs gelockert wird und in einer verschobenen Gestalt zum Vorschein kommt. Herr Salman entwirft sich hier nicht mehr als jemand, der den Schulstoff entweder ganz und gar alleine zu bewältigen hat oder ihn von anderen erledigen lässt. Er folgt vielmehr dem Änderungsvorschlag einer anderen Person, der ihm, wenn er es recht bedenkt, abwegig erscheint. Er sieht zunächst nicht, dass darin ein Potenzial für die Lösung seines Problems enthalten sein könnte. Obwohl Herr Salman rhetorisch bezweifelt, dass ein neuer Sitzplatz etwas verändern könnte, beginnt sich sehr viel zu ändern. Man könnte sagen, Herr Salman vertraut sich dem Vorschlag der Lehrerin an, die „sehr viel Potenzial“ in ihm sieht. Obwohl er den Sinn des Vorschlags nicht einsieht, entfaltet er Wirkungen. Im Kontakt mit dem neuen Sitznachbarn macht er Erfahrungen, die dazu führen, dass das Motiv, den Schulstoff alleine bewältigen zu müssen, gelockert und verschoben wird. Der Sitznachbar wird zum Freund, mit dem er „echt alles gemeinsam“ (Z. 156) macht. Seien es Referate, Vorbereitungen auf Klausuren, Gruppenarbeiten oder was auch immer. Und plötzlich ist er auch bei den anderen Mitschülern gefragt, die mit ihm zusammenarbeiten wollen, weil er es auf einmal beherrscht. Spannend sind in diesem Zusammenhang nun die sprachlichen Nuancen, die bisher nicht berücksichtigt wurden: Herr Salman formuliert, dass durch das „alleinige Umsetzen“ (Z. 145) die komplette Einstellung gegenüber Schule verändert worden sei, „[mh] Grund auf“ (Z. 149). Vielleicht lässt sich das nun auch wörtlich verstehen: Das Alleinige, also das Motiv des alleine alles bewältigen Müssens selbst wird umgesetzt, verändert, es bekommt einen anderen Ort, einen anderen Platz und eine inhaltlich veränderte Bedeutung. Den Schulstoff alleine zu bewältigen steht hier nicht mehr in striktem Gegensatz zur gemeinsamen Arbeit und Kooperation mit anderen, was Herr Salman im Kontakt mit dem leistungsstärkeren Sitznachbarn erfährt, dessen Fähigkeiten ihn anspornen. Es heißt auch nicht mehr, dass ein von ihm alleine nicht zu lösendes Problem nur zu lösen ist, indem es, wie in der Episode mit der Schwester, für ihn gelöst wird. Dadurch, dass Herr Salman einen neuen Platz in der Ordnung der Klasse besetzt, bemerkt er, dass das Problem von ihm alleine gelöst werden kann, indem er gemeinsam mit anderen arbeitet, die sich als Quelle der Problemlösung erweisen.
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Das Alleinige umsetzen heißt insofern auch, dass die Vorstellung in Bewegung gerät, dass er ganz und gar alleine und ohne jede Unterstützung vor der Bewältigung seiner Aufgabe steht und sie nicht mehr in einem Widerspruch zum Gemeinsamen zu entwerfen. Den Schulstoff alleine zu bewältigen heißt also auch, ihn gemeinsam mit anderen zu bewältigen. Das ist kein Widerspruch mehr und insofern wird die Figur des Alleinigen selbst umgesetzt. Eine Vorstellung wird hier geöffnet und es geht hier vielleicht auch ein Grund in dem Sinne auf, dass ein verfestigtes Fundament, auf dem Herr Salman bis dahin zu stehen schien, eine festgefahrene Vorstellung (sich den Schulstoff alleine aneignen zu müssen) durch den neuen Sitzplatz geöffnet und in Bewegung gebracht wird. Diese Öffnung entsteht im Kontakt mit dem neuen Sitznachbarn und mündet in eine veränderte Haltung. Die erzählerische Bewegung dieser Sequenz lässt sich alternativ auch so formulieren: Die Krise zeichnet sich dadurch aus, dass mit den Gewaltausbrüchen des Vaters und dessen Verschwinden aus Hakans Lebenswelt eine familiäre Instanz ausfällt. Diese Instanz hätte potenziell zur Verfügung gestanden, um Orientierung zu bieten und ihn anzuspornen. Sie hätte die Funktion eines Vorbilds oder Ideals übernehmen können. Diese mögliche Quelle von Strategien zur Problembearbeitung und Orientierung versiegt nicht nur durch die bereits erwähnte Problematik der Vaterfigur, sondern stärker noch dadurch, dass die Polizei als Repräsentantin staatlicher Autorität den Vater als Repräsentanten familiärer Autorität abführt. Durch das Abführen des Vaters in Handschellen sind diesem nun einerseits im Wortsinn die Hände gebunden, sodass er etwas von jener unmittelbar existenziellen Bedrohung für Herrn Salman verliert, die im Katz-und-Maus-Spiel zum Ausdruck gekommen war (vgl. Kapitel 2.2). Andererseits entsteht dadurch aber auch eine Leerstelle. Es fehlt etwas. Dieses Fehlen betrifft vielleicht die Orientierungs- oder Idealfunktion, weil auch die andere Autorität, die Polizei, nicht als Ansprechpartnerin für Herrn Salmans Schulprobleme in Frage kommt. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit und vielleicht die Notwendigkeit, diese Leerstelle neu und anders zu besetzen. Die Leerstelle, um die es hier geht, deutet der Erzähler an, wenn er die Redeweisen seiner Mitschüler vergegenwärtigt, die von ihren Vätern als Ärzten, Anwälten und Mathelehrern erzählen: Diese Väter, die in ihren gesellschaftlich hoch angesehenen Berufen stark idealisiert erzählt werden, stehen in scharfem Kontrast zu seinem eigenen gewalttätigen, früher arbeitslosen und inzwischen verstorbenen, also fehlenden Vater. Mit dem Verlust des Vaters scheint insofern ein Orientierungsverlust im Sinne des Verlusts einer Funktion einherzugehen, der mit dem Vorschlag der Lehrerin, den Platz zu wechseln, eine Wendung erfährt, die Spielräume eröffnet. Herr Salman entwirft den neuen Sitznachbarn als jemanden, der
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sich als Vorbild oder Ideal eignet und damit jene leer gewordene Stelle neu besetzt. Die Einschätzung, dass der Sitznachbar es beherrscht, spornt ihn dazu an, genauso gut zu werden wie er. Herr Salman entwirft sich im direkten Vergleich mit dem idealisierten Sitznachbarn, dem er nachzueifern sucht, und spricht davon, dass es sich komisch angefühlt habe, dass er so habe werden wollen wie er (vgl. dazu auch Z. 1056-1058 aus dem Nachfrageteil des Interviews). Aus dieser Interpretation der Sequenz lassen sich drei Aspekte festhalten: Erstens lässt sich auch hier ein Zusammenhang zwischen einem Getroffenwerden, einer emotionalen Krise und einem Veränderungsprozess bemerken. In dieser Sequenz zeigt sich zweitens das Motiv des alleine etwas bewältigen Müssens, des sich den Schulstoff alleine Aneignens in strukturell veränderter Art und Weise. Es wird nicht im Widerspruch zum gemeinsamen Arbeiten mit anderen entworfen und auch nicht mehr für ihn bearbeitet und gelöst. Durch die Veränderung des Sitzplatzes scheint das erzählte Ich einen anderen symbolischen Platz einzunehmen, der vom Erzähler als grundlegende Veränderung einer gesamten Haltung gegenüber Schule gedeutet wird. Dieser neue symbolische Platz scheint drittens in einem Zusammenhang mit dem Ausfall des Vaters in seiner Vorbild- und Orientierungsfunktion zu stehen und neue Besetzungen einer Leerstelle herauszufordern.
2.4 „D A
IST MEINE
W ELT
ZUSAMMENGEBROCHEN “
In der nächsten Sequenz erzählt Herr Salman von seinem sehr guten Realschulabschluss, den er durch das gemeinsame Lernen mit seinen Klassenkameraden und deren Hilfe erreicht habe (vgl. z.B. Z. 158). Anschließend habe er sich entschieden, die gymnasiale Oberstufe mit dem Ziel zu besuchen, das Abitur zu machen. Zwar sei diese Oberstufenzeit sehr anstrengend gewesen, weil vielfältige neue Aufgaben und Themengebiete auf ihn zugekommen seien (vgl. Z. 210213), insgesamt habe er die Anforderungen aber weitgehend bewältigen können. In der Vorbereitung auf das Abitur sei weiterhin gemeinsam gelernt worden und man habe sich erneut gegenseitig geholfen (vgl. Z. 266). Trotz der intensiven Vorbereitungen habe er jedoch die schriftlichen Abiturklausuren nicht bestanden, sodass er gezwungen gewesen sei, eine mündliche Nachprüfung abzulegen (vgl. Z. 269). Auch für diese Prüfung habe er noch einmal intensiv gelernt, in der Prüfungssituation alle Fragen beantworten und die ihm gestellten Aufgaben lösen können (vgl. Z. 281). Er erzählt von der Situation im Anschluss an die mündliche Prüfung wie folgt:
36 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN „Nach der Prüfung musste ich raus, weil die drei sich beraten wollten (.) Gebraucht habe ich (3) s-sieben Punkte [mh] (.) und ich hätte ein (.) Abiturschnitt von 2,9 [mh] (3) sieben Punkte [mm] das ist (.) nicht viel, das ist machbar, das ist (4) ja, und dann saß ich vor der Tür. (.) Unterstützt mit einigen (.) ä Freunden, die (.) zu mir standen, bei mir standen, besser gesagt. Ich erinnere mich noch (4) fünf Minuten später kam mein Biolehrer raus, mit einem strahlenden Lächeln [mh] (.) is in die andere Richtung, also es war ne Glastür zwischen uns [mh] er ist raus in die andere Richtung, hat aber mich angeguckt, gelächelt (.) [mh] und die Daumen hochgezeigt [mh] es (.) kann sogar (.) jeder Freund der neben mir stand bes bezeugen (6) Aber es hat nicht gereicht, (.) [mh] ich habe sechs Punkte bekommen. [mm] (5) Da ist meine Welt zusammengebrochen. [mh] (4) Also das war sogar schlimmer als (.) der Tod meines Vaters, [mm] (.) kann ich so sagen. (4) Ne, jegliches Vertrauen (.) in einen Menschen (.) ist in diesem Augenblick (.) [mh] von Winde verweht. Das (.) ist nicht zu beschreiben [mh] es (.) deine Freunde haben ihr’n Abitur (.) und du (3) hast deine letzte Chance (.) verspielt. [mm] (2) Das Gefühl kann ich nicht (.) ä [ne] weiß ich nicht, [ne] großartig beschreiben, es ist (3) ja. (.) Zu der Zeit war’n es halt ein sehr sehr großer Niederschlag für mich. [mm] (3) /atmet ein/ Ich bin natürlich nach Hause und (3) habe erstmal einige Stunden geweint [mh] (.) Aber wer hat mich aufgebaut? Das war meine Mutter [mh] die hat gesagt ja und? (.) meinst du (.) das Leben ist zu Ende? [mm] Wirst noch so viel erreichen, macht doch nichts, (.) ich weiß, dass du es kannst und du wirst es auch irgendwann schaffen. (2) Na gut in dem Moment, (.) möchte man kann man so was nicht hören, [mm ja] weil der Schmerz einfach noch zu groß ist. (.) Aber es kamen zwei Freunde zu mir gerannt, nach Hause und haben mich getröstet ich [mh] Freunde, Freunde das ist das größte was es auf dieser Welt gibt. [mh] (.) Nicht nur in guten, sondern auch im schlechten Tagen /Unterstreicht die Worte mit einem Klopfen mit den Fingern auf den Tisch/. Es hat mich einfach aufgebaut [mm] (.) Es hat einige Stunden gedauert, ich war natürlich (2) deprimiert [mm] gekränkt (.) Vertrauen an die Menschheit weg [mm] ne?“ (Z. 282-311)
Zu Beginn dieser Passage formuliert Herr Salman, dass er „raus“ gemusst habe, weil sich die Lehrer beraten wollten, und informiert in beschreibendem Ton über die Ausgangskonstellation seiner mündlichen Prüfung. Er habe „sieben Punkte“ gebraucht, um das Abitur zu bestehen, was als „machbar“ beurteilt wird. Nach einer Pause von langen vier Sekunden setzt Herr Salman fort: „ja, und dann saß ich vor der Tür.“ Das dynamische Interaktionsgeschehen der mündlichen Prüfung, in dem die Fragen der Prüfer zu beantworten und die Aufgaben vom Prüfling zu lösen waren, weicht einem Zustand, in dem das Ich statisch vor der Tür sitzend erzählt wird. Es sitzt ausgeschlossen vor der Tür zu jenem Raum, in dem die Entscheidung darüber getroffen wird, ob er zur Gruppe der erfolgreichen Abiturienten gehört oder nicht.
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Eine Eigenart der Szene, die dem Leser hier vor Augen geführt wird, besteht darin, dass sie zur Produktion von Vorstellungen über das Geschehen in der Innenwelt des erzählten Ich anregt, das mit dem draußen vor der Tür sitzen verbunden ist: „ja, und dann saß ich vor der Tür.“ Der Satz wirkt wie eine Einleitung, wie eine Sprechblase, die geöffnet wird, eine Sprechblase, in der z.B. die innere Ohnmacht, die Einsamkeit oder die quälende Spannung angesichts der unbeeinflussbaren Entscheidung der Prüfer zur Sprache kommen könnte. Anders formuliert: Dieser Satz eröffnet einen Vorstellungsraum, der erwarten lässt, mehr darüber zu erfahren, was sich während des Sitzens vor der Tür im Innenleben des Sitzenden abgespielt hat, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, welche Gefühle aufstiegen oder was ihn ansonsten innerlich beschäftigte. Das, was innen geschieht, bleibt jedoch seltsam stumm, es wird nicht weiter thematisiert und der Blick des Erzählers geht nach außen, hin zu den Freunden, die sich mit ihm gemeinsam vor der Tür befunden und ihn unterstützt hätten: „ja, und dann saß ich vor der Tür. (.) Unterstützt mit einigen ä Freunden, die (.) zu mir standen, bei mir standen, besser gesagt.“ Er sei in seiner Situation also nicht von einigen Freunden unterstützt worden, sondern mit einigen Freunden, die auch nicht zu ihm standen oder ihm beistanden, sondern, wie besser zu sagen sei, bei ihm gestanden hätten. Die lokalen Präpositionen mit und bei verorten die Freunde in der Position Gleichrangiger, was eine andere räumliche Ordnung nahe legt als das Verb unterstützen. Die Unterstützung der Freunde scheint nicht so zu verstehen zu sein, dass sie für Herrn Salman einen sicheren Halt im Sinne eines tragfähigen Fundaments darstellt. Die Präposition mit im Zusammenhang mit dem Verb unterstützen kündigt als anzuschließendes Dativobjekt ein Etwas an, ein verdinglichtes Objekt, das nicht in die semantische Funktion eines Subjekts eintritt, das die Unterstützung handelnd vollzieht. Umgekehrt kündigt die Präposition von im Zusammenhang mit dem Verb unterstützen als angeschlossenes Dativobjekt ein subjektiviertes Objekt an, das nicht in die semantische Funktion eines verdinglichten Objekts eintritt. Folgende Beispielsätze können diesen Unterschied vielleicht verdeutlichen: 1. Ich wurde während meiner Ausbildung mit 500 € monatlich unterstützt. 2. Ich wurde während meiner Ausbildung von meinen Eltern unterstützt. Herr Salman vollzieht in diesem Satz durch die Verwendung der Präposition mit eine Art Verdinglichung der Freunde und gibt damit eine Form von Unterstützung zu verstehen, die nicht die Qualität erreicht, die von aktiv handelnden Subjekten ausgehen könnte. Ihre Unterstützung besteht lediglich darin, dass sie bei ihm stehen, gleichrangig neben ihm wie eine Aufstellung von Pappkameraden. Das Ich, das hier entworfen wird, wäre aus dieser Perspektive zwar nicht alleine, aber wegen der verdinglichenden Konfiguration der anderen dennoch
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einsam in seiner Situation. Allerdings ist diese Interpretation vorschnell, weil die Präposition mit ausschließlich in ihrer Funktion gesehen wird, den nachfolgenden Ausdruck zu regieren. Die Rede von einigen Freunden benennt aber ebenso ein potenziell subjektivierbares Dativobjekt, was ebenfalls zu berücksichtigen ist. Vielleicht gibt diese Art und Weise, auf die Herr Salman den Moment mit seinen Freunden vor der Tür erzählt, zu verstehen, dass sich das erzählte Ich hier in der Schwebe befindet. In der Schwebe befindet er sich nicht nur, weil er sich zwischen dem Status erfolgreicher Abiturient oder durchgefallener Abiturient befindet. Die Schwebe, in der er sich angesichts dieser Entscheidung befindet, berührt grundlegende Aspekte des Themas Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, Einsamkeit und Gemeinschaft sowie den Status, den seine Freunde für ihn haben. Herr Salman erwähnt, dass seine Leistung nicht gereicht habe, er habe lediglich sechs Punkte bekommen: „Da ist meine Welt zusammengebrochen.“ Mit dem deiktischen Ausdruck „Da“ zeigt Herr Salman auf jenen prozesshaften Moment der nicht bestandenen Abiturprüfung, den er als den Zusammenbruch seiner Welt zu verstehen gibt. Der Weltzusammenbruch wird nach einer längeren Pause (von vier Sekunden) biographisch eingeordnet: „Also das war sogar schlimmer als (.) der Tod meines Vaters.“ Der Zusammenbruch seiner Welt wird in komparativer Steigerung mit dem als schlimm zu verstehen gegebenen Tod des Vaters in Beziehung gesetzt. Der Vatertod wird nicht als singuläres Ereignis zur Sprache gebracht, sondern als Vergleichsmaßstab für die subjektive Bedeutung der gescheiterten Abiturprüfung, die sich nicht beschreiben lasse: „Das (.) ist nicht zu beschreiben.“ Dieser Satz gibt nicht nur zu verstehen, dass Herr Salman hier an die subjektive Grenze seiner Beschreibungsmöglichkeit gerät, sondern er enthält die Allaussage, dass das erfahrene „Das“ generell nicht zu beschreiben sei. „Das (.) ist nicht zu beschreiben“ deutet möglicherweise darauf hin, dass der sprachliche Modus des Beschreibens, der im Kern darin besteht, einem Objekt ein Prädikat zuzuordnen, nicht geeignet ist, das Geschehene zur Sprache zu bringen. Dass dem Erlebnis eine generalisierte Unbeschreibbarkeit zugeschrieben wird, ist nicht deshalb von Interesse, weil sich der Wahrheitswert dieser Aussage von außen befragen lässt und auf seine objektiv logische Schlüssigkeit hin geprüft werden kann. Spannend ist vielmehr das Verhältnis zwischen dieser Allaussage und Herrn Salmans eigenem sprachlichen Handeln. Denn mit den Sprechhandlungen, dass da „meine Welt zusammengebrochen“ sei, dass das „sogar schlimmer als der Tod meines Vaters“ gewesen sei, dass „jegliches Vertrauen (.)“ in einen Menschen verweht und „deine letzte Chance (.) verspielt“ sei, wird beständig jenes „Das“ beschrieben. Diesem „Das“ wird eine Vielzahl
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von Prädikaten zugeordnet, obwohl eben das als unmöglich ausgesagt wird, sodass ein innerer Widerspruch zwischen der Allaussage der gesagten Unbeschreibbarkeit und jenem Geschehen zu bestehen scheint, das Herr Salman sprachlich vollzieht. Es stellt sich deshalb die Frage, was es besagt, dass „Das“ nicht zu beschreiben sei, wenn es doch beständig beschrieben wird. Es scheint zunächst, als markiere die Zuschreibung der Unbeschreibbarkeit des erfahrenen „Das“ eine Differenz zwischen der erlebten Erfahrung und ihrer Fassung im Modus der Beschreibung. Paraphrasieren ließe sich diese Differenz vielleicht folgendermaßen: Ich habe dieses Scheitern in der Abiturprüfung erlebt, aber was das für mich bedeutet hat, das lässt sich nicht zur Sprache bringen, indem ich diesem Erlebnis bestimmte Prädikate zuordne. Vielleicht entzieht sich etwas an dieser Erfahrung jeder Form von Versprachlichung. Herr Salman schreibt dem Zusammenbruch seiner Welt eine Qualität zu, die weder in seinem Sagen, noch im Sagen überhaupt aufgeht. Es bleibt etwas, das nicht zu sagen ist, und eben das kennzeichnet die Erfahrung in ihrer Besonderheit. Oder aber: Der Satz „Das (.) ist nicht zu beschreiben“ verweist darauf, dass Herr Salman mit dem gescheiterten Abitur und der dadurch zusammengebrochenen Welt etwas erlebt hat, dass mit den ihm geläufigen und in der Erzählgegenwart des Interviews bereitliegenden Beschreibungsmöglichkeiten nicht zu beschreiben ist. Dass das nicht zu beschreiben ist, würde dann bedeuten, dass der Erzähler in der Gegenwart der Interviewsituation auf ein Problem stößt, das mit den ihm vertrauten Beschreibungsmöglichkeiten nicht bearbeitet werden kann. So interpretiert wird in diesem Satz nicht nur eine Differenz zwischen Erfahrung und Erfahrungsbeschreibung formuliert. Es zeigt sich auch ein Problem oder ein Thema, das einen Aufbruch hin zu einem noch nicht eingelebten und vertrauten Sprechen herausfordert, das das bislang noch nicht zu Beschreibende des Erlebten in ein anderes Sagen überführt, das in neue oder neuartige Beschreibungen mündet, die das nicht zu Beschreibende sagbarer und damit bearbeitbar machen. Im direkten Anschluss heißt es: „Das (.) ist nicht zu beschreiben [mh] es (.) deine Freunde haben ihr’n Abitur (.) und du (3) hast deine letzte Chance (.) verspielt [mm].“ In dem Nachsatz erscheint die gesagte Unbeschreibbarkeit des geschehenen „Das“ erneut fraglich, indem als wichtiges Moment der Situation die scharfe Trennung zwischen den Freunden mit Abitur hier und ihm, Hakan, dort, der seine letzte Chance verspielt habe, beschrieben wird, also gerade das getan wird, was zuvor als unmöglich ausgesagt wurde. Auch an dieser Stelle wendet der Erzähler seinen Blick nicht dem zu, was innen geschieht, sondern sein Blick richtet sich erneut nach außen, auf seine Freunde, die ihr Abitur im Unterschied
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zu ihm bestanden haben. In diesem Ausschnitt geschieht noch mehr: Die Personendeixis wechselt vom Ich einer einmaligen Vergangenheit (ich habe sechs Punkte bekommen) über deine Freunde, die ihr Abitur haben, hin zum Du, das seine letzte Chance verspielt habe. Das ins Deine und Du versetzte Ich erscheint im historischen Präsenz: „deine Freunde haben ihr’n Abitur (.) und du (3) hast deine letzte Chance (.) verspielt [mm].“ Der Wechsel der Personendeixis vom Ich zum Du hat an dieser Stelle vielleicht vor allem zwei pragmatische Funktionen. Zum einen adressiert „deine Freunde haben ihr Abitur und du hast deine letzte Chance verspielt“ den Interviewer, der dazu angeregt wird, sich in die Lage des Herrn Salman hineinzuversetzen, sich seine Lage vorzustellen sodass sie ihm nachvollziehbar und verständlich wird. Zudem wird das Ich eines einmaligen Geschehens in der Vergangenheit ins historische Präsenz des distanzierten und verallgemeinernd objektivierten Du übersetzt, das seine letzte Chance verspielt habe, eine verspielte Chance, von der das erzählte Ich nicht mehr unmittelbar getroffen zu sein scheint. Der Deklarativsatz „deine Freunde haben ihr’n Abitur (.) und du (3) hast deine letzte Chance (.) verspielt [mm]“ wird vorgetragen, als böte er die Klärung oder Erklärung des Sachverhalts. Er wirkt, als wäre mit dieser Beschreibung des zuvor noch unbeschreibbaren „Das“ nun doch alles gesagt und hinreichend geklärt, als wäre mit dem Nachsatz die gesamte, zuvor aufgebaute Unbeschreibbarkeit der Situation aus der Welt geschafft. Es wirkt plötzlich, als gehe es hier ganz und gar nicht um ein schwer zu beschreibendes Phänomen, sondern die zuvor eröffnete Differenz zwischen Erlebnis und Beschreibung wird anscheinend völlig problemlos geschlossen. Der Satz wirkt, als müsste nicht nur ihm, Hakan, sondern auch seinen Zuhörern nun unmittelbar einleuchten, worin das zwar schwerwiegende, aber letztlich sehr simpel zu verstehende Problem der gescheiterten Abiturprüfung bestand. Es scheint also nicht nur nicht zu beschreiben zu sein, sondern sogar ganz simpel zu erklären zu sein. In etwa: Freunde waren und sind für Herrn Salman ein wichtiger Bestandteil seiner Lebenswelt, zu denen er jetzt nicht mehr dazuzugehören droht, weil die Freunde nun eben ihr Abitur haben und er nicht. Er ist daher vom Ausschluss bedroht und gehört nicht mehr dazu. Deshalb bricht seine Welt zusammen. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen, die eröffnete Lücke zwischen Erfahrung und Beschreibung ist geschlossen, der Aufbruch in ein neues Sagen verstellt, weil sich alles im Rahmen vertrauter Figuren sagen lässt. So scheint es. Herr Salman erzählt weiter: „Das Gefühl kann ich nicht (.) ä [ne] weiß ich nicht, [ne] großartig beschreiben, es ist (3) ja. (.)“
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Er gerät erneut in eine Beschreibungsnot. Mit der beschreibenden Benennung von ihm hier, der seine letzte Chance verspielt habe, und den befreundeten Abiturienten dort, scheint die Eigenart der Situation gerade nicht hinlänglich bearbeitet zu sein. Herr Salman gibt zu verstehen, dass mit der Situation ein Gefühl verbunden gewesen sei und dass es dieses Gefühl sei, das er nicht beschreiben könne. Dieser Hinweis eröffnet wieder eine erzählerische Wendung hin zum inneren Geschehen, zum inneren Erleben dieser Situation, das danach drängt, nun thematisch zu werden. „Zu der Zeit war’n es halt ein sehr sehr großer Niederschlag für mich.“ Der eröffnete Raum der erzählerischen Bearbeitung des inneren Geschehens wird sogleich wieder geschlossen, indem es in die Ferne und Distanz einer abgeschlossenen Vergangenheit („zu der Zeit“) versetzt wird und mit dem „Niederschlag“ in einem Wort beschreibend gebannt wird. Es sei „halt“ so gewesen. Die Abtönungspartikel „halt“ gibt den Niederschlag als eine Art nicht weiter thematisierbare und befragbare Gegebenheit zu verstehen, zu der im Grunde nichts weiter gesagt werden kann (das Gefühl lasse sich nicht großartig beschreiben). Das „Halt“ lässt sich an dieser Stelle vielleicht auch wörtlich verstehen als eine Art Stoppschild, ein Signal, Halt zu machen, das die erzählerisch eröffnete Suche nach einer Beschreibung oder einer anderweitigen Artikulation des inneren Geschehens, die Suche nach einer Artikulation des Gefühls sogleich wieder unterbricht. Trotz dieser Unterbrechung gibt sich Herr Salman mit der Rede vom Niederschlag in einem gefühlsmäßigen Getroffenwerden zu verstehen, ein inneres Getroffenwerden, dem er sich jedoch nicht weiter zuwendet. Herr Salman gibt den prozesshaften Moment des Scheiterns im Abitur als Zusammenbruch seiner Welt zu verstehen, sodass sich aus dieser Passage die Konturen der zusammengebrochenen Welt erschließen lassen. Bemerkenswert ist, dass der „Verlust jeglichen Vertrauens in einen Menschen“ entscheidend für die Krise zu sein scheint und dass eben dieser Verlust die besondere Qualität des Weltzusammenbruchs ausmacht. Mindestens vier Aspekte verlorenen Vertrauens lassen sich aus dem Interview erschließen: Erstens hatte der Erzähler seiner Ansicht nach jede Aufgabe gelöst, sodass er darauf vertrauen konnte, sofern seine Leistung nur angemessen oder gerecht beurteilt würde, dass er die Prüfung bestanden hat. Aus dieser Perspektive geht es um das verlorene Vertrauen in die gerechte Beurteilung seiner Leistung, das wodurch das Vertrauen in eine gerechte Welt insgesamt zusammenbricht. Zweitens habe der ihm sympathische und wohlgesonnene Biologielehrer eindeutig signalisiert (strahlendes Lächeln und Daumen hoch), dass die mündliche Prüfung erfolgreich absolviert worden sei. Vor diesem Hintergrund wird das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Signale ihm sympathischer und zugeneigter Personen er-
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schüttert, das in ein generelles Misstrauen gegenüber den Menschen insgesamt umzuschlagen scheint. Damit hängt drittens der Verlust oder zumindest die Verunsicherung des Vertrauens in seine Interpretation scheinbar eindeutiger Gesten zusammen (Daumen hoch und strahlendes Lächeln heißt: Die Prüfung ist bestanden). Es geht insofern auch um den Verlust des Vertrauens in die Verlässlichkeit der Interpretationen der eigenen Wahrnehmungen. Für diesen Vertrauensverlust spricht der Verweis auf die Freunde, die bezeugen könnten, was er gesehen habe, sodass seine Wahrnehmung intersubjektiv abgesichert werden muss. Der Verlust jeglichen Vertrauens in einen Menschen schließt viertens auch ihn selbst ein, das Vertrauen in das erzählte Ich selbst, das seine letzte Chance verspielt und insofern versagt hat und damit das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten verliert. Eine Grundfigur der zusammengebrochenen Welt lässt sich damit folgendermaßen skizzieren: Letztlich lebe ich in einer Welt, in der es gerecht zugeht. Letztlich kann ich in dieser Welt zumindest jenen Menschen vertrauen, die ich selbst für vertrauenswürdig halte. Letztlich kann ich in dieser Welt auf meine eigene Wahrnehmung in dem Sinne bauen, dass sich daraus verlässliche Interpretationen ableiten lassen, die eindeutig sind. Und letztlich kann ich auf mich selbst und meine eigene Leistungsfähigkeit vertrauen. Mindestens das Vertrauen in diese vier Gewissheiten lassen sich aus dieser Passage als zusammengebrochene erschließen. Der Zusammenbruch der Welt hängt für Herr Salman mit einem Gefühl zusammen, das sich nicht beschreiben lasse. Es wird eine Grenze des Beschreibbaren gesagt. Herr Salman wählt also eine Redefigur gesagter Unsagbarkeit, um den Zusammenbruch seiner Welt zu versprachlichen. Diese Unsagbarkeit führt nicht in ein Schweigen, in dem sie stumm verbliebe. Vielmehr drängt sie, geradezu umgekehrt, nach Symbolisierungen, die insofern in Klammern stehen, als sie die Differenz zur unsagbaren Erlebnisqualität mitführen. Die Reden vom „Niederschlag“, vom „Weinen“, vom „gekränkt“ und „deprimiert sein“ lassen sich insofern als sprachliche Annäherungsversuche an etwas interpretieren, das sich der Symbolisierung widersetzt. Diese Versuche lassen sich über die nächsten vierzig Zeilen der Erzählung nicht stillstellen. Herr Salman vergleicht sein Erlebnis, wenn auch mit Einschränkungen, gar mit einem KZ-Lager, in dem man, ähnlich wie er, dem Herrschaftsurteil anderer radikal ausgeliefert sei (vgl. Z. 314-316). Er wählt damit einen Vergleich, der ein kulturelles Motiv aufgreift, das mit dem höchstmöglichen Grad an Unsagbarkeit besetzt ist, um sein subjektives Empfinden zu verstehen zu geben. Er erwähnt, dass sie „einfach zu tief sitzt (.) diese Niederlage“ (Z. 328-329) und dass er noch nie so sehr von Menschen
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enttäuscht worden sei. Nach dieser letzten Bemerkung setzt allerdings eine Wendung ein: „aber es ist halt passiert, und (.) ich (.) eine Zeit lang (.) später ging es auch eigentlich (.) [mh] also ich bin mit dem Gedanken klar geworden, ich muss jetzt /Unterstreicht das „jetzt“ indem er mit dem Zeigefinger auf den Tisch klopft/ (4) entweder habe ich zwei Möglichkeiten: Wiederholen [mh] die dreizehnte, (2) den ganzen Stress erneut [mh] (3) Schaffst du das? (.) Welche Lehrer bekommst du? (.) [mm] (3) Weil ich Vertrauen hatte ich (.) kein bisschen mehr [mm] (3) Schaffst du es, schaffst du es, schaffst du es? Ich hab gesagt, nein, ich kann das nicht (.) nein, nicht ein zweites Mal (2) und habe denn (.) entschlossen (.) mein Fachabi zu machen.“ (Z. 330-338)
Der Erzähler macht eine Art Schnitt und übersetzt das Ereignis, das ihn tief getroffen hat, erneut in ein Verhaltensproblem, um es auf dieser Ebene anzugehen und zu bearbeiten. Das erzählte Ich verändert seine Zielperspektive und entscheidet sich gegen das Abitur und für das Fachabitur und ein Praktikum. Auch diese Veränderung nimmt ihren Ausgang vom Getroffenwerden von einer krisenhaften Erfahrung, die eine starke gefühlsmäßige Färbung aufweist. Aber mit dieser Entscheidung für das Fachabitur und ein Praktikum bei einem Anlageberater lässt sich diese Ebene der Erzählung nicht beruhigen. Denn die Zeit des nicht bestandenen Abiturs wird in der Erzählung noch einmal aufgegriffen und Herr Salman erinnert sich zurück an seinen Abiball. Ihm fällt ein, wie die Zeugnisse dort ausgegeben wurden. Er sei dort hingegangen, obwohl er die Prüfung als Einziger des gesamten Jahrgangs nicht bestanden habe: „Das war auch so was Bewegendes für mich.“ (Z. 348) Sein Name sei aufgerufen worden und er sei nach vorne gegangen, um sein Zeugnis trotz der nicht bestandenen Abiturprüfung vor dem gesamten Jahrgang entgegen zu nehmen. In der Aula habe er „den größten Applaus“ (Z. 363) bekommen, den es „überhaupt gibt“ (Z. 363), und wieder deutet Herr Salman die Situation in einer ambivalenten Figur, in der es um ein Gefühl geht: „Also (.) alle standen hinter mir, es war das einerseits das (.) schlimmste Gefühl, [mh] andererseits auch das schönste Gefühl,[mm] dass so viele hinter mir stehen.“ (Z. 365-367) Die krisenhafte Erfahrung lässt sich durch ihre Bearbeitung als ein Verhaltensproblem offenbar nicht einfach stillstellen, sondern bricht erneut als Thema in den Verlauf der Erzählung ein.
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2.5 Z UR EMPIRISCH HERAUSGESTELLTEN F RAGESTELLUNG Die interpretatorische Auseinandersetzung mit Herrn Salmans Erzählung seines Lebens- und Bildungswegs führt mich zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen krisenhaften Erfahrungen und Veränderungen von Welt- und Selbstentwürfen. Das Interview legt die Vermutung eines Zusammenhangs nahe. Es wird ein Ich erzählt, das sich in verschiedener Art und Weise in seinem Getroffenwerden artikuliert und dieses Phänomen in Bezug auf Veränderungsprozesse als bedeutsam zu verstehen gibt. Da sei erstens die peinliche Demütigung und der Ansporn im Zusammenhang mit der vor den Mitschülern aufgeflogenen Unfähigkeit gewesen, die Aufgaben zur Schreibschrift alleine zu bewältigen. Dieses Erlebnis habe auf der Ebene des Handelns in einen veränderten Umgang mit der Bewältigung der Hausaufgaben gemündet. Da seien zweitens die Ereignisse im Zusammenhang mit dem aggressiven und gewalttätigen Vater gewesen, die zu einem emotionalen und familiären „Knick“ führten, der sich später in der Schule niederschlug. Diese Episode führte schließlich zur veränderten Sitzordnung in seiner Schulklasse, eine Maßnahme, der zunächst keinerlei Problemlösungskraft zugesprochen worden war. Wider Erwarten habe sich dadurch aber eine gesamte Haltung, eine Aufmerksamkeit, ja ein Denken gegenüber der Schule insgesamt verändert. In diesem Zusammenhang wurde auch die zuvor verfestigte Vorstellung, das Problem stets und ohne Unterstützung alleine bewältigen zu müssen und daran zu scheitern, gelockert und in einer verschobenen Art und Weise zur Sprache gebracht. Da waren drittens die herausgearbeiteten Beschreibungsgrenzen im Zusammenhang mit der nicht bestandenen Abiturprüfung. Dieses Scheitern wurde als Zusammenbruch der Welt im Sinne des Verlusts jeglichen Vertrauens zu verstehen gegeben. Die gefühlsmäßige Qualität dieses Erlebnisses wurde als unbeschreiblich erzählt, fand also in Redefiguren gesagter Unsagbarkeit ihren Ausdruck. Diese Grenze des Beschreibbaren mündete jedoch nicht in ein sprachloses, stummes Schweigen, sondern eröffnete zumindest ansatzweise Symbolisierungsversuche und sprachlichen Suchbewegungen, die jedoch sogleich wieder unterbrochen worden. Allerdings brach die Zeit des Abiturs in den Verlauf der Erzählung noch einmal ein und es wurde erneut ein bewegendes Erlebnis erzählt, das in seiner gefühlsmäßigen Ambivalenz betont wurde. Und da sei viertens die Sprachlosigkeit und Ohnmacht angesichts des gewalttätigen Vaters gewesen, der Herrn Salmans Mutter mit einem Messer
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bedroht und angegriffen habe und dem das erzählte Ich hilflos ausgeliefert gewesen sei. Diese krisenhaften Erfahrungen führen jeweils zu Veränderungen, allerdings werden sie strukturell im Rahmen eines Deutungsmusters be- und verarbeitet, das stabil zu bleiben scheint. Die Krisen weisen regelmäßig eine Komponente auf, die zum Beispiel als Demütigung, Ohnmacht gegenüber Gewalt, Vertrauensverlust, Angst und unbeschreibliches Gefühl zur Sprache gebracht wird. Ebenso regelmäßig werden diese Erfahrungen in Verhaltensprobleme übersetzt, also umgearbeitet, umgedeutet, um dann auf dieser Ebene bearbeitet zu werden. Das Schema, kraft dessen die Verhaltensprobleme bearbeitet werden, scheint in diesem Sinne stabil zu bleiben. Die gefühlsmäßige oder emotionale Problemdimension der Krisenerfahrungen bricht immer wieder in den Verlauf der Erzählung ein und wird durch die Be- und Verarbeitung als Verhaltensproblem offenbar nicht gelöst. Die Ausgangsfragen, die sich mir ausgehend von diesem Interview stellen, lauten daher: Wie lässt sich das krisenhafte Getroffenwerden begrifflich fassen, das im Interview mit Herrn Salman zur Sprache kommt? Wie lässt sich der vermutete Zusammenhang mit Veränderungsprozessen aus einer bildungstheoretischen Perspektive denken und beschreiben?
Ü BERGANG Die bisherigen Fragen wurden in einem ersten Schritt vor allem auf der Grundlage eines narrativen Interviews herausgestellt. In einem zweiten Schritt soll die Frage nach dem krisenhaften Getroffenwerden aus einer bildungstheoretischen Perspektive entwickelt werden, um sie gegebenenfalls weiter zu präzisieren oder zu modifizieren. Zu diesem Zweck werden im nächsten Kapitel die Grundzüge von Rainer Kokemohrs Bildungstheorie skizziert, wie er sie insbesondere in dem ausführlichen Aufsatz Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden (Kokemohr 2007: 13-86) entwickelt. Diese theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie eignet sich für eine Präzisierung der bislang herausgestellten Fragen besonders deshalb, weil sie Bildungsprozesse als ein krisenhaftes Geschehen begreift und dieses Geschehen theoretisch zu erfassen sucht. Vor allem Kokemohrs bildungstheoretische Reflexion des Fremden als Anlass oder Herausforderung von Bildungsprozessen bietet begriffliche Anschlussmöglichkeiten und eine theoretische Perspektive in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Getroffenwerden und Veränderungen von Welt- und Selbstentwürfen.
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Kokemohr greift in seinen Ausführungen an zentraler Stelle auf Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden zurück, weshalb bereits im folgenden Kapitel auf Grundzüge des Waldenfels’schen Fremden eingegangen wird. Da Waldenfels Theorie jedoch nicht nur einen theoretischen Baustein der Kokemohr’schen Bildungstheorie darstellt, sondern, wie zu zeigen sein wird, weitere Präzisierungsmöglichkeiten für die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit enthält, wird Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden im anschließenden vierten Kapitel ausführlicher thematisiert, um ihren bildungstheoretischen Beitrag im Lichte meiner Fragestellung auszuarbeiten.
3. Theoretische Exposition: Zu Kokemohrs Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie
Um Kokemohrs Anliegen der Entwicklung einer theoretisch-empirischen Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie (vgl. Kokemohr 2007: 13) nachzuvollziehen, werden im Folgenden in groben Zügen einige disziplinäre Hintergründe in Bezug auf den Bildungsbegriff vergegenwärtigt. Insgesamt lässt sich Bildung als ein polyvalenter und umstrittener Begriff in Bewegung beschreiben. Angesichts der sowohl traditionsreichen als auch traditionsbelasteten Geschichte des Bildungsbegriffs (vgl. Koller 1999: 11 ff.) und der Vielzahl bildungstheoretischer Konzeptionen (vgl. für einen Überblick Pleines 1978) wird immer wieder betont, dass es keine Definition gebe, „mit der festgelegt werden könnte, was Bildung ein für allemal inhaltlich bedeutet, so daß jedermann einer solchen Bestimmung beipflichten müßte.“ (Menze [1983] 1995: 350) Hinzu kommt die Herausforderung, den Begriff Bildung einzugrenzen und von anderen erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffen abzugrenzen: „Niemand kann derzeit gar nichts mit ihm verbinden, wenige können ihn allerdings auch präzis von seinen Kombattanten wie Kompetenz, Wissen, Information und Identitätsfindung sowie lebenslanges Lernen abgrenzen.“ (Meyer-Drawe 2007: 84)
Zu den Definitions- und Abgrenzungsschwierigkeiten kommt hinzu, dass der Bildungsbegriff bereits in den erziehungswissenschaftlichen Diskussionen der 60er und 70er Jahre zum Teil heftig kritisiert wurde. So wurde er von Vertretern der kritischen Erziehungswissenschaft wegen seiner sozialhistorischen Verankerung im Bildungsbürgertum als hoch problematisch eingeschätzt. Denn er habe, so der Grundgedanke, eben jenem Bürgertum zur Abgrenzung von den unteren sozialen Schichten gedient und letztlich ökonomisch motivierte
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Machtverhältnisse aufrecht erhalten und aufrecht erhalten sollen. Wegen seiner ideologischen Verwurzelung im 18. und 19. Jahrhundert erschien der Bildungsbegriff seinen Kritikern außerdem nicht mehr angemessen, um den vielfältigen und neuartigen Anforderungen der modernen Industriegesellschaft zu begegnen (vgl. Koller 1999 a.a.O.: 12f). Im Zuge der so genannten realistischen „Wendungen“ (Roth [1962] 1962: 481) und im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen im Rahmen des Positivismusstreits der 60er Jahre, wurde die Forderung laut, dass die Erziehungswissenschaft zu einer empirisch forschenden Sozialwissenschaft werden müsse. Sowohl die philosophische Tradition des Bildungsbegriffs als auch seine enge Verknüpfung mit normativen Fragen ließen ihn aber aus Sicht seiner Kritiker zur Realisierung gerade dieses Anliegens völlig ungeeignet erscheinen, sodass der Begriff Bildung als abgenutzt und veraltet, als obsolet beurteilt wurde. Die zentrale Kritik der 60er und 70er Jahre lässt sich daher so zusammenfassen, dass er erstens als unzeitgemäß und zweitens als nicht empiriefähig beurteilt wurde (vgl. z.B. Koller 1999 a.a.O.: 2; Blankertz [1974] 1989: 65). Diese Einschätzungen blieben zwar weder unwidersprochen noch haben sie bekanntlich dazu geführt, dass der Begriff Bildung aus dem Vokabular der Disziplin gestrichen worden wäre. Wohl aber haben diese Diskussionen zu einer Schwerpunktverlagerung beigetragen, sodass der empirischen Bildungsforschung und der Orientierung an natur- und sozialwissenschaftlichen Verfahren innerhalb der Disziplin ein zunehmend höherer Stellen-Wert1 zukam und bildungstheoretische bzw. bildungsphilosophische Perspektiven eine eher randständige Position einnahmen. Parallel zu dieser Entwicklung lässt sich jedoch seit Anfang der 80er Jahre eine Art Renaissance, ein wiederentdecktes Interesse an bildungstheoretischen und bildungsphilosophischen Fragestellungen und Positionen feststellen: „In diesem Zusammenhang lässt sich sogar von einer ›Rephilosophisierung‹ der erziehungswissenschaftlichen Kommunikation sprechen und verdeutlichen, wie neben dem Bildungsbegriff auch andere philosophisch fundierte Begriffe seit den 1980er Jahren eine Konjunktur erleben.“ (Fuchs 2011: 16)
Im Zusammenhang mit diesen angedeuteten, disziplinären Entwicklungen und Diskussionen zum Verhältnis von Bildungstheorie (Bildungsphilosophie) und empirischer Bildungsforschung ist nun auch Kokemohrs Arbeit seit etwa Mitte der 70er Jahre zu verorten, die bis heute andauert.
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Das ist auch im Wortsinne der Widmung von Professuren und der Vergabe von Geldern für Forschungsprojekte gemeint.
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Denn trotz der Wiederbelebung bildungsphilosophischer Auseinandersetzungen stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von empirischer Bildungsforschung und Bildungstheorie (bzw. Bildungsphilosophie) und verlangte nach Antworten und Positionierungen. Dieses Verhältnis hatte rückblickend betrachtet insgesamt den Charakter einer tendenziell strikten Arbeitsteilung zwischen beiden Zugängen zu Bildung, die dem jeweils anderen eher ablehnend, zumindest skeptisch gegenüberstand. Diese arbeitsteilige Haltung findet in dem Aufsatztitel Denen die Daten – uns die Spekulation (Meyer-Wolters 2006: 37) ihren zugespitzten Ausdruck. Allerdings ist die darin anklingende Polarisierung eher als Karikatur eines populären Missverständnisses zu lesen, denn als ernst gemeinter Vorschlag zu einer auf diese Weise zu treffenden Unterscheidung von Gegenstandsbereichen, weshalb der Autor sogleich präzisiert: der Bildungsforschung die Daten, der Bildungsphilosophie die skeptischen Rückfragen (vgl. ebd.). Trotzdem deutet auch diese Präzisierung noch auf das gespannte Verhältnis zwischen beiden Perspektiven auf Bildung hin. Mit diesem Spannungsverhältnis wurde und wird nun, je nach Einschätzung seiner Eigenart, unterschiedlich umgegangen. So diagnostiziert beispielsweise Heinz-Elmar Tenorth, dass Bildungsforschung und Bildungsphilosophie heteronome Thematisierungsformen darstellen (vgl. Tenorth 1997: 969-984), die miteinander grundsätzlich unvereinbar seien, sodass das Spannungsverhältnis als unüberbrückt, vielleicht sogar als unüberbrückbar erscheint. Demgegenüber betont beispielsweise Arnd-Michael Nohl, indem er auf Arbeiten von Ralf Bohnsack und Lothar Wigger verweist: „Für die Bildungsforschung ist das Verhältnis von Empirie und Theorie von zentraler Bedeutung. Hier einen unüberwindbaren Gegensatz zwischen empirischer Forschung und theoretischer Reflexion zu hypostasieren oder gar Empirie und Theorie zwei unterschiedlichen Subdisziplinen zur ausschließlichen Beschäftigung zuzuweisen, würde in die Sackgassen theorieloser Empirie und empirieloser Theorie führen.“ (Nohl 2006: 157)
Die These von der Unüberwindbarkeit des Gegensatzes zwischen Bildungstheoretikern (bzw. Bildungsphilosophen) auf der einen und empirischen Bildungsforschern auf der anderen Seite führt laut Nohl in eine Sackgasse, die die Diskussion nicht weiter bringe und deshalb nach anderen Wegen verlange. Die skizzierte, traditionelle „Frontstellung“ (Schäfer 2006: 87) wurde und wird auch von Kokemohr als wenig fruchtbar eingeschätzt, sodass er einen Ansatz entwickelte und immer noch entwickelt, der die „Bearbeitung des Verhältnisses von Bildungstheorie und Bildungsforschung wohl mit entschiedenstem Engagement betreibt.“ (Fuchs 2011: 19) Die Rede ist von einem Ansatz, den Winfried
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Marotzki 1991 als „bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung“ (Marotzki 1991: 119) bezeichnete. Dieser Ansatz stellt den Versuch dar, bildungstheoretische (bildungsphilosophische) und empirische Analysen wechselseitig aufeinander zu beziehen und damit zur Überwindung der strikten Trennung beider Zugänge beizutragen. Auch wenn sich die verschiedenen Ansätze, die sich diesem Versuch programmatisch zuordnen lassen, hinsichtlich ihrer Bezugstheorien und Akzentuierungen im Einzelnen unterscheiden, besteht eine Gemeinsamkeit doch darin, dass die Verknüpfung von bildungstheoretischen Überlegungen mit empirischen Analysen nicht nur für möglich, sondern für geboten gehalten wird, weil sie als erkenntniserweiternd eingeschätzt wird.2 Ebenso verbindet zumindest die meisten Vertreter dieses Ansatzes (vgl. Fuchs: 12 ff.) der theoretische Ausgangspunkt, dass es in Bildungsprozessen im weitesten Sinne um „den Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Veränderung von Welt- und Selbstreferenzen“ (Marotzki 2006: 60) geht, die auch empirisch untersucht werden. In diesem Zusammenhang steht auch Kokemohrs Ansatz, dessen Relevanz für die vorliegende Arbeit bereits im Titel eines Aufsatzes anklingt, der seine zwar nicht jüngste, bislang aber ausführlichste bildungsprozesstheoretische Reflexion enthält: „Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie.“ (Kokemohr 2007: 13) Kokemohr knüpft mit der Rede vom Welt- und Selbstentwurf an klassische bildungstheoretische Positionen seit Humboldt an, er geht jedoch darüber hinaus, insofern er Bildung mit dem Begriff des Fremden als einen krisenhaften Prozess in den Blick bringt. Sein Begriff von Bildung habe den Vorteil, das „grundsätzlich Prekäre eines jeden Welt- und Selbstentwurfs gegenwärtig“ (a.a.O.: 16) zu halten. Vor diesem Hintergrund wird die Auffassung von Bildung als einer harmonischen Entfaltung „der Kräfte zu einem Ganzen“ (Humboldt [1793] 1955: 64), in deren Verlauf sich innere Kräfte zu einer vollständigen Ganzheit ordnen, problematisiert und weiter entwickelt. Kokemohrs Ansatz verspricht mit der Betonung von Bildung als krisenhaftem Geschehen eine theoretische Perspektive auf jenes Getroffenwerden, das in der Analyse des Interviews mit Herrn Salman als Ausgangsfrage herausgestellt wurde. Kokemohr weist seine Überlegungen im Titel als Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie aus. Darin klingt an, dass der Ansatz noch nicht in allen Teilen vollständig ausgearbeitet vorliegt, sondern weiteres Nachdenken ermöglicht und erfordert. Die Kennzeichnung seines
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Vgl. dazu auch z.B.: Baacke/Schulze 1979; Henningsen 1981; Felden 2006; Wigger 2004; Wigger 2006; Marotzki 1991; Kokemohr 2007; Koller 1999.
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Ansatzes als Annäherung legt nahe, dass sich aus Kokemohrs Überlegungen Fragestellungen ergeben können, die weitere begrifflich-theoretische Anschlussmöglichkeiten und Perspektiven eröffnen und empirische Untersuchungen herausfordern können.
3.1 B ILDUNG ALS P ROZESS DER V ERÄNDERUNG W ELT - UND S ELBSTVERHÄLTNISSEN
VON
Kokemohr geht in seinen begrifflichen Bestimmungen von einer Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen aus, die er in der mittleren Phase seines Schaffens in informationstheoretischen Begriffen zu fassen sucht (Kokemohr 1992: 16 ff.). Lernen lasse sich als ein Prozess verstehen, in dem neue Informationen aufgenommen, angeeignet und verarbeitet werden, wobei jedoch der Rahmen stabil bleibe, in dem die Informationsverarbeitung erfolge. In Bildungsprozessen sei im Unterschied dazu entscheidend, dass nicht nur neue Informationen verarbeitet würden, sondern dass sich auch der Rahmen verändere, in dem sich die Informationsverarbeitung vollziehe. Kokemohr begreift Bildung deshalb als einen höherstufigen Lernprozess, der die Veränderung der Kategorien oder besser, des kognitiven Verarbeitungsmodus betrifft, kraft dessen Informationen verarbeitet werden (vgl. zusammenfassend dazu: Koller 2012: 15). Er stellt seine bildungstheoretischen Überlegungen (ähnlich wie Peukert) insgesamt in einen weiten, gesellschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Kontext, indem er sich kritisch zu einer Auffassung von moralischer Erziehung positioniert, die nicht einfach als ein sozialisatorischer Vorgang begriffen werden könne, „in dem die nachwachsende Generation die Sitten, Gebräuche und normativen Orientierungen einer Gesellschaft übernimmt.“ (Benner/Peukert 1995: 394) Denn, so der Grundgedanke, die gegenwärtigen Gesellschaften verfügen nicht mehr über einen unstrittigen Bestand normativer Orientierungen, sondern die vielfältigen, krisenhaft zugespitzten Entwicklungen globaler Art fordern grundlegend neue Orientierungen heraus, die sich nicht schlicht aus einem bereits vorhandenen Wissensbestand ableiten lassen, den es lediglich zu tradieren gälte. Angesichts dieser gesellschaftlichen Herausforderung wird für Kokemohr die Frage bedeutsam, wie neue Problemerfahrungen empirisch be- und verarbeitet werden. Seine bildungstheoretischen Überlegungen gewinnen ihre Relevanz also auch in Bezug auf gegenwärtige gesellschaftliche Herausforderungen. Kokemohr versteht
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Der Hinweis auf den prozessualen Charakter von Bildung macht deutlich, dass sie Kokemohr zufolge nicht als ein erreichter und erreichbarer statischer Zustand zu denken ist, sodass z.B. anhand formaler Merkmalsausprägungen zu bestimmen wäre, ob jemand gebildet ist oder nicht. Bildung wird von Kokemohr nicht als etwas verstanden, das man in dem Sinne hat oder ist, dass man z.B. über ein bestimmtes Maß an kanonischem Wissen verfügt und deshalb dann gebildet wäre. Die konkreten Kenntnisse und Fähigkeiten, die ein Einzelner möglicherweise hat, wie z.B. die Fähigkeit ein klassisches Instrument zu spielen oder antike Sprachen zu beherrschen, haben mit Bildung im Kokemohr’schen Sinne zunächst einmal wenig zu tun. Stattdessen ist für ihn entscheidend, dass es in jenen Prozessen, die als Bildung angesprochen werden können, um Transformationen im Sinne grundlegender Veränderungen geht. Gegenstand dieser Veränderungen sind Welt- und Selbstverhältnisse, die dadurch herausgefordert werden, dass die bereits erworbenen Orientierungen nicht mehr ausreichen, um auf eine neue Problemerfahrung angemessen zu antworten. Greift man die Rede von den Welt- und Selbstverhältnissen auf, dann kann man in diesem Verständnis von Bildung nicht nicht gebildet sein, insofern ein jeder in einem wie auch immer gearteten Verhältnis zur Welt und zu sich selbst steht. Der entscheidende Punkt besteht für Kokemohr darin, dass es in Bildungsprozessen eben um die grundlegende Veränderung jenes Verhältnisses geht, in dem wir zur Welt und zu uns selbst stehen. Mit diesem Zugang weist Kokemohr einerseits alltagssprachlich geläufige Auffassungen ab, die Bildung mit vorhandenen Wissensbeständen oder formalen Bildungsabschlüssen gleichsetzen. Andererseits grenzt er sich aber auch von solchen Perspektiven ab, die Bildung als eine messbare Ausprägung bestimmter, operationalisierbarer Merkmale und Kompetenzen auffassen, die mithilfe quantifizierender Verfahren in den Blick geraten könnten. Denn er versteht Bildung nicht als substantialistisches Etwas, das man haben kann und das sich direkt beobachten ließe. Bildungsprozesse betreffen vielmehr die Veränderung eines Verhältnisses und der Begriff Bildung ist insofern als relationaler Begriff konzipiert. Kokemohr betont in seiner Konzeption also den prozessualen, verändernden und relationalen Charakter von Bildung. Wenn es in Bildungsprozessen um die Veränderung von Verhältnissen, von Relationen geht, dann stellt sich zunächst die Frage, wie die Welt- und Selbstverhältnisse als der Gegenstand dieser Transformation zu denken sind. Denn man könnte das und in dieser Formulierung ja zunächst so
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auffassen, dass es um zwei voneinander getrennte Veränderungen geht: Einerseits wäre Bildung dann die Transformation des Verhältnisses zur Welt und andererseits diejenige des Verhältnisses zu uns selbst. Zum besseren Verständnis des Problems, das Kokemohr mit der Rede von den Welt- und Selbstverhältnissen in den Blick bringt, ist der bereits genannte Aufsatz aufschlussreich, der die bislang ausführlichste Ausarbeitung seiner bildungstheoretischen Überlegungen darstellt, die ansonsten eher verstreut publiziert wurden (vgl. dazu Koller 2012: 15). Darin heißt es: „Bildungsprozesse werden gemeinhin als Prozesse der Bezugnahme des Subjekts auf Welt gedacht. Doch schon das Zwielicht der Formulierung des Subjekts der Bildung zwischen dem Genitivus subiectivus ‚das Subjekt bildet sich‘ und dem Genitivus obiectivus, formulierbar als ‚Bildung vollzieht sich am Subjekt‘ deutet ein Problem an, dem dieser Bildungsbegriff nicht entgeht. Es besteht in der cartesianischen Neigung, Subjekt und Welt als zwei Entitäten vorzustellen“ (Kokemohr 2007: 15)
Kokemohr hält nun eben diese Neigung, Subjekt und Welt als voneinander getrennte Entitäten vorzustellen, für problematisch und sucht sie zu lockern und in Bewegung zu bringen. Denn Subjekt und Welt stellen für ihn gerade keine gegebenen Größen dar, die unabhängig voneinander zu denken sind. Sie sind seiner Auffassung nach vielmehr wechselseitig und konstitutiv aufeinander bezogen. „,Ich‘ und ,die Welt‘, ,das Selbst‘ und ,die Welt‘ sind deiktische, voneinander abhängige Ausdrücke, die ohne ihr Pendant ohne Bedeutung sind.“ (Kokemohr 2014: 23)
Kokemohr weist darauf hin, dass Welt und Selbst deiktische Ausdrücke seien, die sich wechselseitig bedingen, sodass das Eine nicht ohne das Andere zu denken ist. Ich und Welt sind für ihn systematisch gleichursprüngliche und relationale Ausdrücke, die in diesem Sinne wechselseitig aufeinander bezogen sind. Aber noch das Wort Verhältnis lege semantisch eine Distanz des sich Verhaltenden zum Gegenstand des Verhaltens nahe, sodass erneut die missverständliche Vorstellung entstehen könne, dass das Subjekt als eben diese sich verhaltende Instanz vorausgesetzt werde. Diese Missverständlichkeit sei jedoch nicht zu vermeiden, weil sie den Formulierungsmöglichkeiten der deutschen Sprache geschuldet sei, die hier an eine Grenze stoßen. Wenn Kokemohr von Bildungsprozessen schreibt, dann geht es dabei nicht zuletzt um die Infragestellung und Problematisierung jener neuzeitlich-europäischen Auffassung, die ein Subjekt
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unterstellt, das sich autonom auf die Welt und sich selbst bezieht. Es geht um den Versuch, „zur kritischen Klärung jener cartesianisch-neuzeitlichen Voraussetzung beizutragen, die sich als Präsupposition des selbstreferentiellen Subjekts niederschlägt.“ (Kokemohr 2007: 21)
Greift man die Auffassung von Bildung als Veränderung des Welt- Selbstverhältnisses auf, dann kann zumindest für Europäer der Neuzeit (als der sich auch der Verfasser dieser Arbeit kaum nicht begreifen kann) eine Herausforderung für das Denken entstehen. Wie lässt sich die Veränderung eines Verhältnisses denken, ohne das Subjekt der Veränderung vorauszusetzen, das Gegenstand dieser Veränderung wäre? Es fällt auf, dass es Kokemohr in den begrifflichen Bestimmungen seiner Texte sorgfältig vermeidet anzugeben, wer eigentlich einen Bildungsprozess durchläuft oder an wem er sich vollzieht. Er vermeidet Ausdrücke wie der Mensch oder das Individuum, um die Frage nach dem ‚Subjekt‘ von Bildungsprozessen nicht durch Begriffe zu belasten, die von jenem cartesianischen Erbe kontaminiert sind, um dessen kritische Infragestellung es Kokemohr geht. Denn für ihn steht die Frage nach dem Verhältnis von Instanzen und Prozess im Zentrum seiner bildungstheoretischen Überlegungen. Anders formuliert: Für Kokemohr geht es nicht darum, vom ‚Menschen‘, vom ‚Ich‘, ‚Individuum‘ oder ‚Subjekt‘ im Sinne eines Gegebenen ausgehen, das in ein Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selbst tritt und es verändert. Es geht um den Versuch zu denken, dass sich diese ‚Instanzen‘ oder besser ‚Momente‘ und das, was sie je und je bedeuten im Verlauf von Bildungsprozessen allererst herausschälen und verändern. Er denkt also das ‚Subjekt‘ nicht als vorausgesetzte Instanz, sondern als Moment eines Prozesses, das in diesem Prozess allererst hervorgebracht wird.3 Die erziehungswissenschaftliche Tragweite dieses Anliegens wird sogleich in aller Schärfe deutlich: „Der Bildungsbegriff der Aufklärungstradition gilt dem selbstreferentiellen Subjekt und seiner Autonomie. Die Figur des selbstreferentiellen Subjekts ist jedoch, ebenso wie sein Kontext, das Projekt der Moderne, dem Verdacht imaginärer Konstruktion ausgesetzt und der Kritik unterworfen worden. Der vorgeschlagene Bildungsbegriff steht dieser Kritik nahe, insofern er darauf verweist, dass die Konstruktion eines Subjekts ein Prozess ist, der
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Die Bearbeitung dieser Problematik wird am Ende der vorliegenden Arbeit (vgl. Kapitel 5.9.1) mit und von Lacan aus bildungstheoretisch gewendet.
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sich auf eine Weise symbolisch-imaginär vollzieht, die den Autonomie-Topos untergräbt.“ (Ebd.)
Kokemohr schlägt vor, die Vorstellung des autonomen Subjekts als den Bezugspunkt bildungstheoretischen Denkens zu lockern und bezieht sich damit kritisch auf den Autonomie-Topos der bildungstheoretischen Aufklärungstradition, in dem er eine imaginäre Konstruktion vermutet. Er schlägt stattdessen vor, das Subjekt nicht selbstreferentiell, sondern, wie er betont, vorläufig sozialreferentiell zu denken. Dieser Vorschlag sei jedoch „mehr als der Austausch eines Prädikats, das dem Subjekt zu- oder abgesprochen werden könnte. Er betrifft die Konstruktion des Subjekts im Kern.“ (A.a.O.: 22) Das Subjekt selbstreferentiell zu denken heißt, seinen Bezugspunkt in ihm selbst zu verorten. Wie in Descartes’ berühmter Formulierung ‚Ich denke, also bin ich‘ anklingt, gewinnt das so verstandene Subjekt die Gewissheit seiner selbst als eines Seienden durch die Gewissheit des eigenen Denkens, genauer, durch die Gewissheit des Zweifels, die ihrerseits unbezweifelbar sei. Das Subjekt gewinnt die unbezweifelbare Gewissheit seiner selbst also durch den Bezug auf sich selbst und lässt sich deshalb als selbstreferentiell beschreiben. Diese Auffassung stellt aus cartesianischer4 Perspektive nun die unerschütterliche Grundlage (fundamentum inconcussum) dar, auf der jede weitere Erkenntnis aufbaut. Es soll an dieser Stelle selbstverständlich nicht behauptet werden, dass damit Descartes’ philosophischer Gedankengang erfasst wäre oder sich auf diese wenigen Hinweise reduzieren ließe. Es soll hier auch nicht auf die sprachlogische und sprachtheoretische Kritik an der Figur des Cogito-Subjekts eingegangen werden und erst an späterer Stelle soll eine psychoanalytische, nämlich Lacans Position skizziert werden (vgl. Kapitel 5.8 und 5.8.1). Kokemohr weist jedoch aus seiner bildungstheoretischen Perspektive bereits darauf hin, dass „manche Kulturen innerhalb ihres symbolischen Kosmos kein selbstreferentielles Subjekt konstruieren. […] So gibt es im Japanischen verschiedene ich-Pronomina, deren Wahl von der Beziehung abhängt, in der ein Sprecher zum je angesprochenen steht, und artikuliert zugleich die Qualität der Beziehung.“ (Kokemohr 2007: 22, Herv. i.O.)
Mit diesem Hinweis gerät der Autonomie-Topos als kulturell spezifische Vorstellung in den Blick. Vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit dem selbstreferentiellen, autonomen Subjekt lässt sich eine originelle Eigenart des Kokemohr’schen Bildungsdenkens bemerken: Denn im Kern
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Das heißt, es geht um einen rezeptionsgeschichtlichen Aspekt des Cogito-Subjekts.
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nimmt seine Bildungstheorie mit dem selbstreferentiellen Subjekt als einer Möglichkeit eines Welt- und Selbstverhältnisses selbst eine grundlegende, kulturelle Figur auf und sucht diese zu verändern. Kokemohrs Bildungsdenken hat vor diesem Hintergrund eine performative Dimension, insofern es mit der Veränderung der grundlegenden kulturellen Figur des selbstreferentiellen Subjekts vollzieht, was es bezeichnet. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass es in Bildungsprozessen immer um eine Veränderung der neuzeitlichen SubjektObjekt-Struktur gehen muss. Es geht um Veränderungen der Art und Weise, in der eine irritierende Erfahrung wahrgenommen wird, eine Veränderung, die in neue Ordnungs- und Interpretationsfiguren münden kann. Kokemohrs Bildungsbegriff lässt sich weiter konturieren, wenn berücksichtigt wird, dass er im Verlauf seiner Veröffentlichungen vor allem zwei Formulierungen verfeinert: Einerseits schreibt er seltener von Welt- und Selbstverhältnissen und häufiger von Welt- und Selbstentwürfen und andererseits präzisiert er, dass es in Bildungsprozessen um die Veränderung grundlegender Figuren des Welt- und Selbstentwurfs gehe. Er schlägt vor: „Bildung als Prozess aufzufassen und als Prozess der Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen zu untersuchen, die der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen.“ (A.a.O.: 21)
Mit Figuren sind bei Kokemohr rhetorische Figuren im Sinne sprachlicher Redefiguren gemeint, kraft derer wir uns und unsere Welt entwerfen. Damit geraten Bildungsprozesse als sprachlich, zeichenhaft oder semiotisch verfasste Prozesse in den Blick. Denn Subjekt und Welt treten für Kokemohr immer nur als ‚Subjekt‘ und ‚Welt‘, das heißt als Gesagte in den Horizont der Wahrnehmbarkeit, sodass insbesondere sprachliche Artikulationen für die Untersuchung von Bildungsprozessen relevant werden, die auf ihre je besonderen, Grund legenden Redefiguren und deren Veränderungen hin befragt werden. Kokemohr fasst Bildung vor diesem Hintergrund als einen textuellen Prozess auf: „Wir sind anderen wie uns selbst noch in intimster Zuwendung nur kraft der symbolischen Konfiguration unseres ,Ich‘ zugänglich. Das vor aller Figuration wirkende Reale unserer Existenz kann zwar Unruhe stiften, nicht aber gleichsam frei von aller Figuration als solches erscheinen. Auch eine Formulierung wie ,ein als solches nicht sagbares Reales‘ ist eine textuelle Figur – eine Figur der gesagten Unsagbarkeit.“ (A.a.O.: 15)
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E RZÄHLENS
Um zu entfalten, was er unter einem Text versteht, greift Kokemohr auf Paul Ricœurs Erzähltheorie zurück, die die Welt- und Selbstentwürfe der Menschen als Resultat einer spezifisch sprachlichen Aktivität, nämlich des Erzählens beschreibe (a.a.O.: 33). Ricœurs weise in seiner Erzähltheorie das Erzählen „als Existenzial menschlichen In-der-Welt-Seins aus, das sich als Weltentwurf vollziehe. Weltentwürfe sind für ihn notwendige Artikulationen humaner Existenz, da uns Welt nie als solche gegeben sei, sondern stets nur als ,Welt‘ figuriert werde.“ (A.a.O.: 32)
Eben diese Figuration von Welt als ‚Welt‘ ermögliche Ricœur zufolge, „die Grenzen einer Ordnung zu sichern oder im Entwurf einer anderen „Welt“ zu verändern.“ (A.a.O.: 32) Kokemohrs Interesse gilt in der weiteren Argumentation Ricœurs Mimesiskonzept, das Erzählen als einen dreifachen Vorgang von Prä-figuration, Konfiguration und Refiguration beschreibt. Kokemohr zufolge übernimmt Ricœur den Mimesisbegriff von Aristoteles, der mimesis, also eine Art und Weise der Anähnelung oder Anähnlichung anders als Platon verstanden habe. Während für Platon das Kunstwerk im Rahmen seiner Ideenlehre mimesis in dem Sinne sei, dass es eine Idee, ein ideales Urbild nachahme, von dem es entfernt bleibe und das die letzte Grundlage des Kunstwerks sei, betone Aristoteles in Bezug auf mimesis eine Entfaltungsdimension, nämlich die des menschlichen Tuns in den Kompositionskünsten, sodass sich zum Beispiel die Komposition des tragischen Gedichts als mimetischer Prozess begreifen lasse. Für Kokemohr besteht die Pointe dieses Unterschieds darin, dass durch die Entkoppelung der mimesis von der Ideenlehre, Aristoteles die praktische Würde der mimesis als sprachlicher Handlung herausgestellt habe. Anders formuliert: Menschliches Tun wie beispielsweise die Komposition eines tragischen Gedichts ist mimetisch, insofern es den Versuch darstellt, das Dissonante der Zeit in der Erzählung konsonant zu binden. Tragisch ist es ob des notwendigen Versagens gegenüber dem dissonanten Gesetz der Zeit selbst und gleichzeitig finde es darin seine Würde. So werde sprachliches Handeln als Versuch denkbar, Dissonanz in Konsonanz entwerfend zu binden, ohne diesen Prozess in der platonischen Ideenlehre verankern zu müssen. Mimesis ist in dieser Hinsicht also keine Nachahmung einer vorgängigen Idee, sondern eher eine Art heikler, tragischer Versuch der Anähnlichung zwischen einer dissonanten Zeiterfahrung und dem notwendig aporetischen Versuch einer konsonanten Erzählung, die nie ohne Verluste gelingen kann und die ohne Rückgriff auf die ursprüngliche Idee des Guten, Wahren und Schönen
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auskommt. Das Erzählen selbst trete bei Aristoteles an die Stelle der Ideen. Eine Erzählfigur oder besser ein Erzählgenre, in dem solche Bindungen des Dissonanten im Konsonanten versucht würden, sei für Ricœur nun der aristotelische mythos, „die sprachliche Artikulation eines welthaltigen Handlungszusammenhangs, der notwendig Zusammenhang in und durch Zeit sei.“ (A.a.O.: 35) Das Erzählen als mimetischer Prozess umfasse für Ricœur sowohl historisches als auch fiktionales Erzählen, alles Sprechen, das etwas als Sachverhalt zur Sprache bringe und entweder alte Ordnungen anerkenne oder neue zu entwerfen suche. Er denkt das Erzählen in drei Phasen (vgl. dazu: Ricœur 1988, Bd.1: 90 ff.). Die erste Phase, die Mimesis I meine, dass ein jedes Erzählen aus einem Reservoir präfigurierter Elemente schöpfe. Gemeint sind hiermit Figuren, die im Sprachvorrat einer Kultur bereitliegen und als Elemente möglicher Bedeutung genutzt werden können. In der Mimesis II, der Phase der Konfiguration werden diese Elemente in einem Akt zusammengesetzt, der durch die spezifische Verknüpfung der präfigurierten Elemente neue Bedeutungen ermögliche, sie zu einem „textuellen Ensemble neuer Bedeutungen“ (Kokemohr 2007: 36) synthetisiere. Realisiert würden diese neuen Bedeutungen dann in der Mimesis III, der Phase der Refiguration, dem Akt der Lektüre. In dieser Phase der Refiguration werde die zu einem Text konfigurierte Bedeutung refigurierend als Entwurf einer ‚Welt‘ wirklich. Kokemohr betont, dass Ricœur in diesem Rahmen auch das Problem des Erzählers durch eine Unterscheidung kläre, die erzähltheoretisch dem Subjektproblem entspreche. „Den im konfigurierten Text auftretenden Erzähler, der in der Erzählung selbst konfiguriert wird, nennt er den ,implizierten Erzähler‘, in dessen Gestalt allein ein empirischer Erzähler auftreten könne.“ (A.a.O.: 35-36)
Der empirische Erzähler selbst, der nur in der Gestalt des implizierten Erzählers erscheine, sei dem Text unzugänglich. Kokemohr nutzt Ricœurs Grundgedanken, indem er auch an anderen Stellen (vgl. z.B. Kokemohr 2014: 24) betont, dass er beispielsweise narrative Stegreiferzählungen als Texte in dem Sinne analysiert, dass er nicht die psychosoziale Entität mit dem Namen XY untersucht, sondern vielmehr den Text des Erzählers mit diesem Namen. Er vermeidet mit dieser Unterscheidung spekulativ-psychologisierende Aussagen über die empirische Person, die dem Interviewer beispielsweise im narrativen Interview gegenüber sitzt und markiert dadurch die textuellen Konfigurationen als den Gegenstand seiner Analysen und nicht die psychosozialen Entitäten im Sinne empirischer Erzähler. Das heißt für ihn, einen Text als Text ernst zu nehmen und ihn als Text zu interpretieren.
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3.3 D AS F REMDE ALS H ERAUSFORDERUNG B ILDUNGSPROZESSEN
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VON
Ein weiterer, entscheidender Baustein für Kokemohrs theoretischen Zugang betrifft nun die Frage nach der Herausforderung oder dem Anlass von Bildungsprozessen. Denn wenn Bildung als transformatorisches Geschehen begriffen wird, dann stellt sich die Frage, wie solche Veränderungen zu denken sind, wie sich also der Anlass für Bildungsprozesse genauer bestimmt lässt. Einen ersten Hinweis auf diesen Anlass gibt die bereits erwähnte Formulierung, dass es dort zu Transformationen komme, wo auf neue Problemerfahrungen in schon erworbenen Orientierungen nicht mehr geantwortet werden könne. Bildungsprozesse werden laut Kokemohr durch eine Erfahrung des Scheiterns herausgefordert, dadurch, dass die bestehenden Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsdispositionen nicht mehr ausreichen, um einem Problem angemessen zu begegnen. In seinem späteren Aufsatz nimmt er diesen Grundgedanken wieder auf und präzisiert ihn begrifflich. Er schlägt vor, Bildung als Prozess der Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen zu untersuchen, „die der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen. Der Vorschlag lässt sich auch so formulieren, dass Bildung der Prozess der Bezugnahme auf Fremdes jenseits der Ordnung ist, in deren Denk- und Redefiguren mir meine ,Welt‘ je gegeben ist. Widerständige Erfahrungen können in Texten, Bildern oder anderen Formen auftreten. Von Bildung zu sprechen sehe ich dann als gerechtfertigt an, wenn der Prozess der Be- oder Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von Grund legenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt. Weil aber stets nahe liegt, dass eingelebte Figuren durch Abdunkelung, Abwehr, Negation, Diffamierung oder Umdeutung textuell-symbolischer oder bildhaftimaginärer Einbrüche aufrecht erhalten werden, ist mit diesem Bildungsbegriff vorausgesetzt, dass nicht jede subsumtionsresistente Erfahrung in einen Bildungsprozess einmündet.“ (Kokemohr 2007: 21)
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Kokemohr weist hier darauf hin, dass Erfahrungen des Fremden Veränderungen grundlegender Figuren des Welt- und Selbstentwurfs herausfordern können.5 Denn der Subsumtion unter gegebene Figuren widerstehende Erfahrungen, wie die neuen Problemlagen nun präzisiert werden, lassen sich aus Kokemohrs Perspektive paradigmatisch als Erfahrungen des Fremden beschreiben. Den Begriff des Fremden, den Kokemohr hier bildungstheoretisch fruchtbar macht, entnimmt er der phänomenologischen Philosophie von Bernhard Waldenfels, vor allem seiner Topographie des Fremden (vgl. Kokemohr a.a.O.: 27-32) Bei Waldenfels selbst heißt es: „Das Fremde als das, was in seiner Unzugänglichkeit zugänglich ist, bedeutet kein unbestimmtes X, das auf seine Bestimmung wartet. Das Fremde zeigt sich, indem es sich uns entzieht. Es sucht uns heim und versetzt uns in Unruhe, noch bevor wir es einlassen oder uns seiner zu erwehren trachten.“ (Waldenfels 1997: 42, Herv. i.O.)
Die Herausforderung oder der Anlass von Bildungsprozessen hat aus Waldenfels’ Perspektive den Charakter einer Heimsuchung. Das Fremde trifft uns in einer beunruhigenden Art und Weise, noch bevor eine Entscheidung darüber getroffen werden könnte, ob es eingelassen wird oder nicht. Das Fremde widerfährt dem Subjekt und ist ihm in diesem Sinne unverfügbar. Wenn wir von etwas getroffen werden, das unseren gewohnten Orientierungen und Deutungsmustern widersteht und darin nicht eingeordnet werden kann, dann fordert ein solches Widerfahrnis Kokemohr zufolge dazu heraus, die eingelebten Denk- und Redefiguren zu verändern, kraft derer mir meine Welt je gegeben ist. In dieser Bestimmung des Fremden als etwas, das sich zeigt, indem es sich uns entzieht, kommt sein paradoxaler Charakter zum Vorschein. Das Fremde, so lässt sich Waldenfels’ Grundgedanke vorläufig formulieren, entzieht sich der Ordnung, die unsere Wahrnehmungen und Deutungsmöglichkeiten strukturiert. Es zeigt sich im Ausfall eben jener Ordnung. Es zeigt sich, indem es als beunruhigende Störung in die Ordnung einbricht und einen Anspruch erhebt, auf den nicht nicht geantwortet werden kann. Waldenfels begreift das Fremde vor diesem
5
Auch in einem neueren Aufsatz schlägt Kokemohr vor, den Terminus ‚Transformation‘ durch den Terminus ‚Veränderung‘ zu ersetzen. Das Wort Transformation lege nahe, das Veränderungsgeschehen in Bildungsprozessen als logisch rekonstruierbaren Prozess zu sehen. Der Terminus Veränderung habe demgegenüber den Vorteil der größeren Offenheit. Sie führt dazu, dass vielfältige Möglichkeiten der Veränderung in den Blick geraten und nicht nur solche, die eine Transformation darstellen (vgl. Kokemohr 2014: 19-20).
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Hintergrund auch als das Außerordentliche, das außerhalb einer gegebenen Ordnung Stehende.6 Für Kokemohr ist aus bildungstheoretischer Perspektive das formale Kriterium entscheidend, wonach etwas störend in einen vertrauten Weltund Selbstentwurf einbricht, das der Deutung, Einordnung und Kategorisierung wiedersteht. Durch Fremdes herausgeforderte Bildung betrifft deshalb Kokemohr zufolge (anders als ein Lernprozess) die kategorialen Figuren, „kraft derer sich das Verhältnis von Subjekt und Welt entwirft und modifiziert. Diese Auffassung schließt ein, dass ein Bildungsprozess ,Subjekt‘ und ,Welt‘ in ihrer je gegebenen symbolisch typisierenden Konfiguration aufbricht und anders refiguriert. Dieser Bildungsbegriff hat den Vorteil, das Krisenhafte von Bildungsprozessen in den Blick zu bringen und das grundsätzlich Prekäre eines jeden Welt- und Selbstentwurfs gegenwärtig zu halten.“ (Kokemohr 2007: 16)
Das Fremde erschüttert insofern gegebene Ordnungsfiguren und bringt sie damit in ihrer Unbeständigkeit als eine Konstruktion zum Vorschein, die auch anders sein könnte. Die Erfahrung des Fremden verweist aus Kokemohrs Perspektive auf eine radikale Seinsungewissheit,7 die damit zusammenhängt, dass es im Projekt der Moderne und bereits mit Nietzsche keinen „den Lebenshorizont transzendierenden Maßstab“ (Kokemohr 1973: 91) mehr gebe, anhand dessen die Lebensvorgänge beurteilt werden könnten (vgl. zum Motiv der Seinsungewissheit auch Kokemohr 2007: 27-28). Es gebe, mit Waldenfels gesprochen, keine übergeordnete und universale Vernunftordnung, die Eigenes und Fremdes umfasse. Mit diesem Verlust einer Gesamtordnung sei das Fremde unwiderruflich in den Kern der Vernunft eingedrungen.8 In seiner Auseinandersetzung mit der Bildungsphilosophie des jungen Nietzsche arbeitet Kokemohr Nietzsches
6
Zum Verlust der Gesamtordnung vgl. Waldenfels 1997: 16 ff. Zur Bedeutung der von Husserl zitierten Rede vom Fremden als „bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ (Husserl zitiert nach Waldenfels 1997: 25 ff.).
7
Die Rede von der Seinsungewissheit verweist auf das cartesianische, selbstreferentielle Subjekt, das die Gewissheit seines Seins in der Gewissheit des eigenen Zweifels verankert, also in sich selbst, dadurch, dass es denkt.
8
Solche zeitdiagnostischen Einschätzungen klingen im Übrigen auch an, wenn z.B. Lyotard das Ende der großen Erzählungen als ein Kennzeichen der so genannten Postmoderne feststellt. Selbstverständlich geschieht das bei Lyotard mit anderer Akzentuierung und mit einem anderen Erkenntnisinteresse (vgl. dazu Lyotard [1979] 1986, 112). Zu einer bildungstheoretischen, bildungskritischen Perspektive, die die machttheoretischen Zusammenhänge in den Blick bringt, vgl. Ricken 2006: 159.
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Position heraus, dass das Selbst innerhalb des ihm zugehörigen Lebenshorizonts auf sich selbst zurückgeworfen sei und die Kraft in sich mobilisieren müsse, die die Statik eingewöhnter Lebensformen zu überwinden erlaubt, weil es keinerlei vorgegebenen Maßstab gibt, an den es sich halten könnte (vgl. Kokemohr 1973). Ein entscheidender Aspekt des Fremden, wie Waldenfels es begreift, geht in eine ähnliche Richtung. Während wir aufgrund unseres historischen, das heißt unter anderem klassisch griechischen Erbes gewohnt seien, Kultur in einem Rahmen zu begreifen, der als kosmisches Ordnungsgefüge Eigenes und Fremdes umfasst, sei mit dem Beginn der Neuzeit die „Kette des Seins“ (Waldenfels 1997: 16) zerrissen, die einstmals alles mit allem verknüpft habe. Das Subjekt, in dem diese Gesamtordnung ihr Zentrum und ihren Gipfel fand, sei damit aus eben jenem Zentrum verrückt worden. „Diese Zersplitterung der Vernunft und diese Dezentrierung des Subjekts gehören zu den Abenteuern der westlichen Moderne.“ (A.a.O.: 16) Das Fremde konfrontiert das Subjekt mit seiner ‚Seinsungewissheit‘, das Fremde konfrontiert es damit, dass es weder in sich selbst (selbstreferentiell) noch kraft einer übergreifenden und vorgegebenen, transzendentalen Vernunftordnung einen Halt finden kann. Angesichts dieser philosophisch anmutenden Figur der ‚Seinsungewissheit‘ stellt sich die bildungstheoretische Anschlussfrage nach den Effekten von Erfahrungen des Fremden: Was geschieht und wie ist das Geschehen zu denken, wenn angesichts des Fremden lebensgeschichtlich erworbene Ordnungsfiguren ihre orientierende Kraft radikal verlieren? Ist nicht anzunehmen, dass sich ein solcher Orientierungsverlust, die Erfahrung der Brüchigkeit und Grundlosigkeit des eigenen Welt- und Selbstentwurfs auch auf einer emotionalen, gefühlsmäßigen oder affektiven Ebene niederschlägt? Müsste die Erfahrung der radikalen Haltlosigkeit und Seinsungewissheit angesichts des Fremden nicht auch mit Angst verbunden sein? Und wenn ja, hieße das nicht aus bildungstheoretischer Perspektive, dass sich Bildungsprozesse, die durch Fremdes herausgefordert werden, nicht ohne Angst begreifen lassen? Diese Fragen schließen m.E. an Kokemohrs Überlegungen zum Fremden an, wie er sie in Anlehnung an Waldenfels bildungstheoretisch fruchtbar macht. Kokemohrs Bildungsprozesstheorie soll im Folgenden noch einmal mit anderen Worten in ihren Grundzügen zusammengefasst werden und vor dem Hintergrund seiner Rezeption der Waldenfels’schen Philosophie skizziert werden, um den Einsatzort der Fragestellung der vorliegenden Arbeit zu pointieren: In einem ersten Schritt lassen sich Bildungsprozesse so denken, dass kulturell bereit liegende, präfigurierte Figuren des Welt- und Selbstentwurfs lebensgeschichtlich angeeignet werden und in diesem Prozess in einer bestimmten Weise konfiguriert werden. Diese Figuren legen sozusagen den Grund, kraft
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dessen begegnende Phänomene, Informationen und Erfahrungen eingeordnet, gedeutet, interpretiert und kategorisiert werden können. Sie stellen dadurch Ordnungsmöglichkeiten bereit und orientieren das situative Handeln. Sie eröffnen also Handlungsoptionen, die in den verschiedensten Situationen und angesichts der verschiedensten inneren und äußeren Erfahrungen aktualisiert und realisiert werden können. Ebenso begrenzen und beschränken sie die Art und Weise, die Modi, kraft derer wir uns zum je Begegnenden verhalten können. In den refigurierenden Lektüren lassen sich die spezifischen Konfigurationen als Welt- und Selbstentwürfe beschreiben, die etwa in Form wiederkehrender, grundlegender Redefiguren zum Ausdruck kommen. Welt- und Selbstentwürfe lassen sich damit als semiotische, sprachlich verfasste, zeichenhafte Strukturen denken, die die Deutungsmuster zur Interpretation von Wahrnehmungen bereit stellen. Solche lebensgeschichtlich entstehenden Ordnungen strukturieren mit den Interpretationsmöglichkeiten des Wahrgenommenen gleichzeitig die Handlungsmöglichkeiten. Nun gibt es in einem zweiten Schritt jedoch Erfahrungen, die sich dem Rahmen dieser eingelebten Ordnungsfiguren nicht fügen. Sie sprengen sozusagen die vorhandenen Deutungsmuster und stellen sie dadurch in Frage, dass diese Erfahrungen kraft der vorhandenen Deutungsfiguren nicht angemessen be- und verarbeitet werden können. Anders formuliert: Solche Erfahrungen finden keinen Ort in der gegebenen Ordnung. Sie lassen sich als Erfahrungen des Fremden begreifen, das sich den eingelebten Figuren des Welt- und Selbstentwurfs entzieht und störend und beunruhigend in die Ordnung einbricht. Sie entziehen sich also jenem Gefüge, kraft dessen wir Handlungssicherheit erlangen und uns angemessen verhalten können. Sie stellen damit vor ein Problem und lassen sich als etwas beschreiben, das sich zeigt, indem es sich uns entzieht. An diesem Punkt lässt sich nach den Wirkungen, den Begleitumständen oder Effekten der Erfahrung des Fremden fragen. Diese Frage lässt sich in mindestens zwei Richtungen stellen, die Waldenfels mit den beiden Polen Pathos und Response benennt (vgl. Waldenfels GMPF 2006: 34-55).9 Aus Waldenfels’ Perspektive haben Erfahrungen des Fremden sowohl eine Wirkung auf der Ebene des Antwortens (Response) als auch auf einer Ebene, die berührt und trifft (Pathos). Beide Ebenen sind bei ihm miteinander verbunden, insofern er sie als Pole der Erfahrung des Fremden begreift. Auf der Ebene des Antwortens, so Kokemohrs bildungstheoretische Wendung, können Erfahrungen des Fremden eine Veränderung von Welt- und Selbstentwürfen herausfordern, die sich als produktive, als kreative Antwort auf den Anspruch des Fremden verstehen lässt.
9
Vgl. zu den in im laufenden Text verwendeten Siglen das Literaturverzeichnis.
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Waldenfels unterscheidet in seiner phänomenologisch-philosophischen Arbeit vor allem drei mögliche Umgangsweisen mit dem Fremden (vgl. Waldenfels TdF 1997: 45-50). Die erste Möglichkeit besteht in der Aneignung des Fremden. Diese Reaktion nimmt dem Fremden seinen beunruhigenden Charakter, indem es im Lichte des Eigenen gedeutet und damit vereinnahmt wird, sodass es den gegebenen Ordnungsfiguren letztlich eingefügt wird. Mit dieser Subsumtion unter eigene Figuren des Welt- und Selbstentwurfs wird das Fremde seiner Fremdheit beraubt und verliert seinen beunruhigenden Charakter, indem es den vorhandenen Orientierungsmöglichkeiten gleichsam ein- und angepasst wird. Die zweite Umgangsweise besteht in einer Art Ausschluss, einer Enteignung oder Exkommunikation des Fremden dort, wo Fremdes solcher Vereinnahmung widersteht. Diese Reaktion lässt sich dort bemerken, wo der Fremde zum Feind gemacht wird, wo Fremdes als etwas bewertet wird, das z.B. die Regeln einer vermeintlich allgemein anerkannten, vernünftigen oder menschlichen Weltordnung verletzt und deshalb ausgeschlossen werden muss. Den beiden Umgangsweisen ist gemeinsam, dass sie dem Fremden seine Fremdheit nehmen, seinen beunruhigenden Charakter abwehren und das vorhandene Ordnungsgefüge stabilisieren und insofern nicht in einen Bildungsprozess münden. Waldenfels beschreibt jedoch noch eine dritte Möglichkeit, die er als ein Antworten auf den Anspruch des Fremden bezeichnet. In diesem Rahmen unterscheidet er wiederum zwischen reproduktiven Antworten, in denen ein bereits existierender Sinn wiedergegeben oder vervollständigt wird und produktiven, kreativen Antworten auf den Anspruch des Fremden, die sich dadurch auszeichnen, dass neuartige Gedanken zwischen mir und dem Anderen entstehen, die weder „mir noch dem Anderen gehören“ (a.a.O.: 53). Der Bann der Vereinnahmung des Fremden lasse sich nur brechen, wenn man nicht direkt auf das Fremde zugehe, sondern von der Beunruhigung durch das Fremde ausgehe, von der pathischen Dimension des Fremden. Die Erfahrung des Fremden zeichne sich durch ein pathisches Moment aus, das Waldenfels an dieser Stelle wie folgt formuliert: „Pathos bedeutet, daß wir von etwas getroffen sind, und zwar derart, daß dieses Wovon weder in einem vorgängigen Was fundiert, noch in einem nachträglich erzielten Wozu aufgehoben ist. […] Den Gegensatz zum Pathos bildet nicht die Sinnwidrigkeit und auch nicht die Sinnlosigkeit im geläufigen Sinne, die aus enttäuschten Erwartungen erwächst, sondern die Apathie, die Indifferenz, wo es nicht mehr darauf ankommt, ob dieses oder jenes geschieht, wo alles in die Monotonie der Gleich-gültigkeit versinkt wie im Falle von
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Dostojewskis lächerlichem Menschen, dem selbst der Griff nach dem Revolver noch zuviel des Aufwandes bedeutet.“ (Waldenfels GMPF 2006: 43-44, Herv. i.O.)10
Das Erlebnis, dass uns plötzlich und ohne unser Zutun etwas widerfährt, das störend in unsere Ordnung einbricht, das sich nicht deuten lässt und sich insofern nur un-deutlich als Grenze der Deutung zeigt, konfrontiert aus bildungstheoretischer Perspektive mit der Begrenztheit und Haltlosigkeit vorhandener Welt- und Selbstentwürfe. Das Widerfahrnis des Fremden konfrontiert mit einer Ohnmacht, die eine Bedrohung darstellt, weil der Grund, auf dem der Getroffene zu stehen meinte, also der gegebene Welt- und Selbstentwurf, auf- und zusammenzubrechen droht und verspricht. Die Erfahrung des Fremden ist damit von vornherein von einer Ambivalenz gekennzeichnet: „Bedrohlich ist sie, da das Fremde dem Eigenen Konkurrenz macht, es zu überwältigen droht; verlockend ist sie, da das Fremde Möglichkeiten wachruft, die durch die Ordnungen des eigenen Lebens mehr oder weniger ausgeschlossen sind. Diese Ambivalenz durchdringt auch den Ursprung der Philosophie, die sowohl aus dem Staunen wie aus der Angst geboren ist und die mit dem Eros wie mit dem Tod im Bunde steht.“ (Waldenfels 97: 44)
Es könnte in Erfahrungen des Fremden also darum gehen, dass etwas aufbricht und sich eine Öffnung auftut, in der der Erfahrende sowohl untergehen als auch ein anderer werden könnte. Hier zeigt sich eine theoretische Spur, die auf einen Zusammenhang von Erfahrungen des Fremden und Angst hindeutet, der in Bildungsprozessen eine Rolle spielen könnte. Eine vorläufige Vermutung wäre, dass das Fremde in eine Art Engpass der Angst führt, in dem veränderte Figuren des Welt- und Selbstentwurfs entstehen können. Hier stellen sich weitere Fragen: Lassen sich möglicherweise verschiedene Formen oder Strukturen von Angst differenzieren, deren Qualität einen Einfluss darauf hat, ob Bildungsprozesse im Sinne grundlegender Veränderungen des Welt- und Selbstentwurfs wahrscheinlich werden oder nicht? Oder ist das so dichotomisch nicht zu denken? Eine theoretische Auseinandersetzung mit Angst könnte auch einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, warum stets nahe liegt, wie es bei Kokemohr
10 Der Hinweis auf das Versinken in der Monotonie der Gleichgültigkeit ist im Übrigen spannend hinsichtlich der Struktur der Depression. Sie stellt vielleicht den Versuch dar, das Getroffenwerden-Können, das wütend machen kann, loszuwerden und die Wut gegen sich selbst zu richten, um sich der Zudringlichkeit des anderen zu entziehen. Der Preis dieser Struktur, in der einen nichts mehr berühren kann, ist die Leblosigkeit.
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heißt, dass „eingelebte Figuren durch Abdunkelung, Abwehr, Negation, Diffamierung oder Umdeutung textuell-symbolischer oder bildhaft-imaginärer Einbrüche aufrecht erhalten werden“ (Kokemohr 2007: 21). Gibt es möglicherweise weitere Reaktionen auf die Störung eingelebter Figuren, die im Lichte einer theoretischen Auseinandersetzung mit Angst näher bestimmt werden können? Die Beschäftigung mit diesen Fragen erfordert begriffliche Arbeit und die Diskussion über Grenzen und Möglichkeiten bestehender Theorieangebote zur Angst. In diesem Zusammenhang sind besonders solche Theorien von bildungstheoretischem Interesse, die geeignet sind, der oben beschriebenen Ambivalenz des Fremden Rechnung zu tragen, Theorien also, die es ermöglichen, sowohl den ängstigenden als auch den verlockenden Aspekt des Fremden zu bedenken. Meines Erachtens stellen Lacans Überlegungen zum Zusammenhang von Angst und Begehren, die noch näher zu erläutern sein werden, einen solchen Theorieentwurf dar. Die vorläufig leitende Vermutung lautet, dass Bildungsprozesse, die durch Fremdes herausgefordert werden, mit einem Moment der Angst einhergehen könnten, weil das figurative Fundament zerbröselt, kraft dessen die Welt- und Selbstorientierung sicher gestellt werden konnte. Der Zustand der Angst lädt jedoch nicht zum Aufenthalt ein, sondern drängt vielleicht nach der Erfindung neuer Orientierungen. Angst hätte ausgehend von dieser Vermutung eine produktive Dimension und könnte eine strebende Bewegung in Gang bringen und zu neuen, veränderten Figuren des Welt- und Selbstentwurfs führen. Noch einmal anders gewendet: Ich vermute, dass Erfahrungen des Fremden ein Getroffenwerden implizieren, dass solche Erfahrungen eine affektive, pathische emotionale oder gefühlsmäßige Dimension einschließen, die genauer auszuarbeiten ist und dies z.B., indem sie um ein theoretisches Konzept der Angst ergänzt wird, das auch ihre produktive Dimension in den Blick nimmt. Da Angst in ihrer Eigenart als Affekt, Emotion, pathisches Moment oder Gefühl jedoch nicht nur ein Gegenstand der wissenschaftlichen Disziplin Psychologie ist, sondern auch im Rahmen der Psychoanalyse zentral thematisiert wurde und wird (vgl. Freud [1926] 1971; Lacan [1962-63] 2004; Gondek 1990; Michels 2001), kommt auch diese ‚Wissenschaft‘ des Unbewussten in Frage, um sie bildungstheoretisch zu wenden. Es stellt sich also die Frage, ob und inwiefern theoretische Überlegungen zur Angst die bildungstheoretische Diskussion erweitern und Kokemohrs Ansatz weiter ausarbeiten können. Sowohl bei Waldenfels als auch bei Kokemohr lassen sich Andeutungen finden, die diese bildungstheoretische Auseinandersetzung mit Angst aussichtsreich erscheinen lassen. Waldenfels deutet einen Zusammenhang zwischen Fremdem und Angst jedoch lediglich an, wenn er darauf
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hinweist, dass die Freud’sche Figur des Unheimlichen als das Fremde in uns selbst um den harten Bedeutungskern des Fremden kreise (Waldenfels TdF 1997: 25). Dieser Zusammenhang sei jedoch zu erörtern und zu explizieren.11 Bei Kokemohr heißt es im Zusammenhang mit seiner bildungstheoretischen Wendung des Fremden: „Die Schwelle meiner Ordnung kann ich nicht in der Weise überschreiten, dass ich mich in die Ordnung des Anderen versetze. Da eine jede Ordnung, die eigene wie die fremde, das vorgestalthaft Amorphe ihrer Herkunft als vergessenes Erbe in sich trägt, ist sie kein Ort, an den ich gehen könnte. Zugänglich wird sie mir nur, indem ich auf die Spuren antworte, die ihr Anspruch kraft seiner dem Amorphen abgerungenen Gestalt in meiner dem Amorphen abgerungenen Ordnung auslöst. Einfacher formuliert: Auf den Anspruch des Fremden kann ich nur antworten, indem ich eingedenk des Grauens, der Angst vor dem ungefasst Gestaltlosen, dem meine Ordnung abgewonnen ist, eben diese meine Ordnung durch das Oszillieren eines Grauens, einer Angst aufstören lasse, der auch jener Anspruch abgewonnen ist, und eine Ordnung erfinde, in der sich der Anspruch des Fremden auslegen lässt.“ (Kokemohr 2007: 32)
Das im und als Entzug sich zeigende Fremde wird hier mit einem Grauen, mit einer Angst vor dem ungefasst Gestaltlosen in Verbindung gebracht und fordert eine Antwort auf den Anspruch des Fremden im Sinne der Erfindung einer Ordnung heraus, in der er sich auslegen lässt. Das Zitat enthält zumindest die Spur, dass eine genauere bildungstheoretische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Fremdheit und Angst aussichtsreich sein könnte. Gründe dafür, Fremdheit und Angst als Zusammenhang zu betrachten, finden sich darüber hinaus beispielsweise bei Maya Nadig: „Das sogenannte ‚Fremde‘ ist heute in aller Munde, ein oft Angst auslösendes, politisch brisantes und erkenntnistheoretisch vielbesprochenes Phänomen. In einer globalisierten Welt, in der die Grenzen durchlässig geworden sind und in der die Trennlinien zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Anderen‘ als weniger scharf als angenommen anerkannt werden, ist das ‚Fremde‘ in ein neues Licht gerückt.“ (Nadig 1999: 9)
11 Waldenfels kommt zu dieser Einschätzung übrigens in kritischer Auseinandersetzung mit Kristeva, die eben diese Erörterung und Explikation nicht leiste. Waldenfels selbst kann oder will sie wohl deshalb nicht leisten, weil sein Zugang philosophischphänomenologisch und weniger philosophisch-psychoanalytisch angelegt ist. Zwar gibt es wiederholt psychoanalytische Bezüge, allerdings steht die Psychoanalyse nicht im theoretischen Zentrum.
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Auch aus dieser ethnopsychoanalytischen Perspektive wird ein Zusammenhang zwischen Fremdheit und Angst angedeutet. Die erziehungswissenschaftliche Relevanz der bislang erarbeiteten Fragen ergibt sich aber noch aus einer anderen Perspektive. Es ist auffällig, dass die erziehungswissenschaftliche Diskussion des Themas Angst vor allem in der pädagogischen Psychologie geführt und dort insbesondere auf lerntheoretische und lernpsychologische Fragestellungen bezogen wird (vgl. z.B. Bassmann 1980, Sembill 1992; Cortina 1998). Insgesamt lässt sich eine eigenartig normative Art und Weise bemerken, wie Angst im Zusammenhang mit pädagogischen Fragen häufig thematisiert wird. Während Bildung häufig als Zauberformel für persönliche und gesellschaftliche Verbesserungen fungiert, haftet Angst tendenziell eine ausschließlich negative Konnotation an (vgl. z.B. Miller 1983: 290 ff.). Sie sei in pädagogischen Zusammenhängen zu verhindern, eine schädliche, lähmende und zutiefst unangenehme Erfahrung (vgl. Miller a.a.O.: 290 ff.). Dass Angst unangenehm ist, mehr noch, kaum aushaltbar sein kann, wird kaum jemand bestreiten wollen. Dass sie allerdings aus pädagogischer Perspektive ausschließlich schädliche, weil lähmende Wirkungen hat, erscheint mir als eine sehr weitgehende und fragliche Einschätzung, ließe sich doch in Abwandlung eines Zitats, das Ernst Bloch zugeschrieben wird, umgekehrt ebenso thetisch behaupten: Wer keine Angst hat, kommt darin um.12 Wenig differenzierte und wenig differenzierende Normativierungen eines Phänomens führen tendenziell zu einer Tabuisierung, die z.B. in Form folgender Gesellschaftsdiagnose zum Ausdruck kommt: „Angst, so tönt es manipulativ in allen Medien, sei minderwertig, schädlich, kläglich, lächerlich. Aber alle Diffamierungen und Stigmatisierungen vermögen sie nicht zu tilgen. Es ist ja auch geradezu Ausdruck einer kollektiven Neurose, eine psychische Tatsache von so enormer sozialer Bedeutung mit einem Tabu zu belegen, statt sie in ihren Wurzeln und ihren Auswirkungen zu untersuchen.“ (Richter 1992: 24)
Es gibt zwar eine Vielzahl an erziehungswissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema Angst, jedoch nur wenige, die explizit bildungstheoretische Bezüge enthalten und meines Wissens keine größere wissenschaftliche Arbeit, die sich im Rahmen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung ausführlicher mit diesem Thema beschäftigen würde. Es sind vor allem zwei Monographien, die die Angst in ihrer Bedeutung für bildungstheoretische Fragen ins Zentrum stellen: Die eine Arbeit wurde 1990 von Manuela Pietraß als
12 Das Bloch zugeschriebene Zitat lautet: Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Geschrieben hat Bloch diesen Satz m.W. nirgendwo.
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Dissertationsarbeit eingereicht und trägt den Titel: Der Situationsumschlag. Die Angst beim plötzlichen Einbruch eines radikal Anderen (Pietraß 1995). Allerdings werden in dieser verdienstvollen Arbeit, anders als in der hier vorliegenden, Lacans Überlegungen zur Angst nicht berücksichtigt. Ihr Schwerpunkt liegt vor allem auf der Ausarbeitung der Konsequenzen des Situationsumschlags der Angst für eine Konzeption integrativer Pädagogik. Das heißt, dass die Schwerpunktsetzung eine andere als in der vorliegenden Arbeit ist. Die zweite, mir bekannte Arbeit, die meinem Vorhaben in Bezug auf ihren Schwerpunkt näher kommt, ist die von Tim Schmidt vorgelegte Dissertation mit dem Titel: „,Ich kratz ihr die Augen aus‘ – Phantasmen einer Welt ohne den Anderen. Bildungsprozesstheoretische Lektüren nach Jacques Lacan“ (Schmidt 2010). Diese Arbeit verfolgt ebenso wie die vorliegende das noch zu erläuternde Anliegen, mit Lacan einen Beitrag zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zu leisten (vgl. a.a.O.: 5-11) und reflektiert an exponierter Stelle die Rolle von Angst und Begehren bzw. die Rolle des Realen in diesem Zusammenhang. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied in der dann unterschiedlichen Akzentuierung beider Vorhaben. Schmidts Vorhaben läuft darauf hinaus, auf der Grundlage dreier Filme die These zu entfalten, dass Film als implizierte Bildungstheorie zu denken und zu untersuchen sei. So steht im Zentrum jener Arbeit weniger die Bedeutung einer psychoanalytischen Fassung der Begriffe Angst und Begehrens für die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung, sondern vielmehr das Verhältnis zwischen Bildungstheorie, Psychoanalyse und Film, der sowohl als Untersuchungsgegenstand wie auch als implizierte Bildungstheorie verstanden wird (vgl. a.a.O.: 54-58; 74-75; 107-112; 198-204; 275-286). Abgesehen von diesen Arbeiten liegen eine Reihe von Veröffentlichungen vor, die zwischen Philosophie und Psychoanalyse zu verorten sind. Einige dieser Arbeiten, insbesondere Hans-Dieter Gondeks Arbeiten zum Lacan’schen Angstbegriff (vgl. Gondek 1990; Gondek 1992) werden im Folgenden in die bildungstheoretischen Reflexionen einbezogen. Darüber hinaus gibt es einen Aufsatz von Otmar E. Klein mit dem Titel: Bildung durch Angst. Philosophieren heißt sterben lernen (Klein 1995: 187-195). Allerdings steht in diesem Aufsatz Karl Jaspers’ Erziehungs- und Bildungsphilosophie im Zentrum, die m.W. keinen nennenswerten Eingang in die Diskussionen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung gefunden hat und bei dessen Lektüre wegen des darin kaum erläuterten Bildungsbegriffs auch keine Anschlussmöglichen in Bezug auf die hier gestellten Fragen entdeckt werden konnten. Außerdem liegen eine Reihe von Diplom- und Bachelorarbeiten vor, die im Umfeld von Winfried Marotzki entstanden sind. Allerdings habe ich bei der Sichtung dieser Arbeiten keine Überlegungen entdeckt, die mir Antworten
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auf meine konkreten Ausgangsfragen gegeben hätten. Angesichts dieser Skizze des gegenwärtigen Forschungsstandes komme ich insgesamt zu der Einschätzung, dass die bislang herausgearbeitete Fragestellung, das heißt dieses Thema, mit dieser Schwerpunktsetzung und in diesem Forschungsfeld bislang nur wenig Beachtung gefunden hat. Aus diesem Grund soll im Folgenden ein diesbezüglicher Beitrag zur bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung geleistet werden.
3.4 Z USAMMENFASSUNG
DER
F RAGESTELLUNG
Die empirische Analyse zu Beginn der vorliegenden Arbeit führte zu der Einschätzung, dass Erfahrungen des Getroffenwerdens eine wichtige Rolle in Bildungsprozessen spielen. Es stellt sich die Frage, wie sich dieses Moment begrifflich präzisieren und theoretisch entfalten lässt. In der Auseinandersetzung mit Kokemohrs Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie wurde die Vermutung entwickelt, dass die Erfahrung des Fremden mit der Haltlosigkeit des eigenen Welt- und Selbstentwurfs und einer damit einhergehenden Seinsungewissheit konfrontiert, die mit Angst verbunden sein könnte. Diese Angst wurde bislang lediglich angedeutet und die Produktivität einer Theorie der Angst für bildungstheoretische Fragen wurde lediglich vermutet, nicht jedoch aufgezeigt. Vor diesem Hintergrund ist es vielversprechend, eine Theorie der Angst danach zu befragen, was sie zum Nachdenken über Bildungsprozesse beitragen kann. Kern und Ziel der vorliegenden Arbeit ist es dementsprechend, den Begriff Angst in seiner Vielschichtigkeit und Angst in ihren Wirkungen zu beschreiben, um daraus Rückschlüsse auf eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zu ziehen. Dabei konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die theoretischen Aspekte der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Die methodologischen und methodischen Konsequenzen, die sich aus den Erläuterungen zum Fremden (von Waldenfels) und zu Angst und Begehren (von Lacan) ergeben (vgl. Kapitel 3 und 4), bleiben ebenso weiterer Arbeit vorbehalten wie die Erprobung des empirischen Gehalts der Theoriefiguren und werden im Rahmen des Ausblicks lediglich programmatisch skizziert (vgl. Kapitel 6).
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Ü BERGANG Nach diesen Erläuterungen zum Einsatzort der vorliegenden Arbeit im erziehungswissenschaftlichen Feld, stellt das nächste Kapitel Waldenfels’ Verständnis des Fremden näher dar, in dem die Begriffe Pathos und Response eine zentrale Rolle spielen. Es wird gefragt, was Waldenfels’ Auffassung des Fremden zur Beantwortung der vorgestellten bildungstheoretischen Fragen beiträgt. Es wird gezeigt, dass und inwiefern das Fremde mit Waldenfels als ein diastatisches Geschehen zwischen Pathos und Response zu denken ist. Während Kokemohr die Herausforderung des Fremden vor allem als Herausforderung eines responsiven Geschehens aufgreift und in den Fokus der bildungstheoretischen Aufmerksamkeit rückt, wird im Folgenden herausgearbeitet, dass die Berücksichtigung der pathischen Dimension des Fremden aufschlussreich für eine transformatorische Bildungsprozesstheorie ist und Anschlussmöglichkeiten zur theoretischen Ausarbeitung spezifischer Affekte bietet, die in Bildungsprozessen eine besondere Rolle spielen könnten.
4. Das Fremde zwischen Pathos und Response: Eine bildungstheoretische Akzentverschiebung
Das Fremde, das in Waldenfels’ Grundmotiven einer Phänomenologie des Fremden1 zwischen Pathos und Response in einem noch näher zu erläuternden Verständnis dieser Begriffe angesiedelt ist, wird im Folgenden hinsichtlich seiner Bedeutung für die bislang herausgestellten bildungstheoretischen Fragen genauer diskutiert. Der Schwerpunkt liegt auf Waldenfels’ Überlegungen zum „alte[n] Wort Pathos“ (BLdE: 9, Herv.i.O.), die er vor allem in den Bruchlinien der Erfahrung2 mit dem Ziel entwickelt, ein Gegengewicht zur so genannten Responsivität von Fremdheitserfahrungen zu erarbeiten, die er einige Jahre zuvor in dem Buch Antwortregister3 ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt hatte. Die Einschätzung von der grundsätzlichen Kraft des Waldenfels’schen Denkens, Konturen auch im Rahmen erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen zu schärfen und neue Perspektiven zu eröffnen, muss inzwischen nicht mehr eigens erläutert werden (vgl. exemplarisch: Meyer-Drawe 1984, Kokemohr 2007, Sabisch 2007, Schäfer 2009, Koller 2012, Zahn 2012). Es bleibt jedoch zu erläutern, inwiefern eine Berücksichtigung der pathischen Dimension des Fremden die Perspektiven der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung bereichert. Diese Rahmung deutet bereits an, dass es im Folgenden nicht darum geht, die Begriffe Pathos und Response in ihrer Allgemeinheit zu rekonstruieren, was ein unabsehbar weites Feld eröffnen würde und selbst im Rahmen einer einzelnen Arbeit einzugrenzen wäre. Ein solches, tendenziell ideengeschichtlich angelegtes Vorgehen wäre zudem in seiner
1
Im Folgenden zitiert als GMPF.
2
Hier und im Folgenden zitiert als BLdE.
3
Im Folgenden zitiert als AR.
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systematischen Relevanz für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse allererst auszuweisen und zu begründen. Kurz: Es wäre eine eigene, eine andere Arbeit. Stattdessen geht es im Folgenden darum, an Waldenfels’ phänomenologische Überlegungen zum Fremden anzuknüpfen und das alte Wort Pathos aus bildungstheoretischer Perspektive zu diskutieren. Diese Diskussion ist für die vorliegende Arbeit von Interesse, weil die Frage nach dem Getroffenwerden als Moment von Bildungsprozessen, die in den ersten beiden Kapiteln herausgestellt wurde, theoretische Präzisierungen verlangt. In diesem Kapitel werden daher begriffliche Differenzierungen und theoretische Anschlussmöglichkeiten erkundet, die einen Beitrag zu den bildungstheoretischen Fragestellungen leisten. Diese an Waldenfels anknüpfende Auseinandersetzung mit dem Fremden zwischen Pathos und Response erfolgt in drei Schritten: In einem ersten Schritt wird nach einer einleitenden Zusammenfassung des Waldenfels’schen Anliegens insgesamt skizziert, an welcher Stelle seiner theoretischen Architektur die Auseinandersetzung mit Pathos und Response ansetzt, sodass nachvollziehbar wird, wie und warum er sich mit diesen Begriffen im Zusammenhang mit dem Fremden näher befasst (vgl. Kapitel 4.1). In einem zweiten Schritt wird der Grundgedanke zum Fremden zwischen Pathos und Response genauer rekonstruiert (vgl. Kapitel 4.2). Dieser Schritt beginnt mit einer Erläuterung des alten Wortes Pathos und wird fortgesetzt mit Waldenfels’ Problematisierung der Begriffe Gefühl, Emotion und Empfindung (vgl. Kapitel 4.2.1). Im Anschluss daran steht das Verhältnis von Pathos und Response im Zentrum (vgl. Kapitel 4.2.2). Ziel dieses zweiten Schrittes ist die Rekonstruktion der entscheidenden Grundzüge der Waldenfels’schen Theoriefigur des Fremden in Bezug auf Pathos und Response. In einem dritten Schritt wird die Bedeutung dieser Waldenfels’schen Figur für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse skizziert (vgl. Kapitel 4.3). Das Kapitel endet mit einer Rekapitulation und Reflexion des Argumentationsgangs der ersten vier Kapitel, die zum nächsten Teil der Arbeit überleiten (vgl. Übergang).
4.1 W ALDENFELS ’ A NLIEGEN UND G RUNDZÜGE P ROBLEMZUSAMMENHANGS
SEINES
Bernhard Waldenfels ist bekanntlich weder Bildungstheoretiker noch Bildungsforscher, sondern Philosoph. Sein Anliegen ist also qua Profession ein philosophisches, genauer, ein phänomenologisches. Im Kern geht es ihm um die Ausarbeitung einer Phänomenologie des Fremden, die er seit Beginn der 90er Jahre zunächst unter dem Titel Der Stachel des Fremden (1990) entwickelt, im
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Rahmen seiner vierbändigen Reihe Studien zur Phänomenologie des Fremden aus den Jahren 1997 bis 1999 vorantreibt und die mit den Grundmotiven einer Phänomenologie des Fremden (2006) zu einer Art Zusammenschau der einzelnen Etappen seiner Arbeit gerinnt. In diesem zuletzt genannten, programmatischen Überblick benennt Waldenfels die Begriffe Ordnung, Pathos, Antwort, Leib, Aufmerksamkeit und Interkulturalität als die Schlüsselthemen, auf die sich seine Phänomenologie des Fremden konzentriert (vgl. GMPF 2006: 9). Ein zentrales Anliegen, das Waldenfels mit seinen Überlegungen zum Fremden verfolgt, betrifft die Frage nach der Struktur dessen, was Erfahrung genannt wird. Ausgehend von seiner Beschäftigung mit dem Fremden geht es ihm nicht zuletzt darum, Husserls Verständnis der Intentionalitätsstruktur der Erfahrung im Lichte und im Schatten des Fremden zu beleuchten und in kritischer Absicht weiterzuentwickeln (vgl. GMPF: 8). Den Ausgangspunkt für Waldenfels’ Umschreibung des Fremden zwischen Pathos und Response bildet der Grundgedanke, dass die Eigenart des Fremden darin besteht, dass es die „Grenzen einer jeglichen Ordnung übersteigt […]“ (a.a.O.: 34).4 Er stellt sich deshalb die Frage, wie denn Erfahrungen aussehen, in denen sich ein solches Übersteigen einer Ordnung vollzieht. Um diese Frage zu beantworten weist Waldenfels zunächst die Erwartung ab, dass eine Kombination „aus Sinn und Regel, aus intentionalen und regelgeleiteten Akten eines Subjekts mitsamt der konsensuellen Abstimmung zwischen verschiedenen Subjekten den Herausforderungen des Fremden gewachsen ist.“ (Ebd.)
Diese Einschätzung lässt sich in einer ersten Annäherung so verstehen, dass das Subjekt angesichts des Fremden vor der Herausforderung steht, gerade nicht mehr auf vorhandene Regelsysteme und sinnhaft strukturierte Ordnungen zurückgreifen zu können, die dem ihm Begegnenden seine Bedeutung verleihen und ihm so einen Platz innerhalb eines vorhandenen Ordnungsgefüges zuweisen könnten. Denn eben diesem Ordnungsgefüge entziehe sich das Fremde und gerade in diesem Entzug zeige es sich. Mindestens ebenso wichtig ist, dass sich der Überstieg, also das Hinausgehen über die Grenzen einer Ordnung auch nicht so interpretieren lasse, dass verschiedene Subjekte einen gemeinsamen und möglicherweise neuen Konsens finden würden, der kommunikativ ausgehandelt
4
Jegliche Ordnung ist hier so zu verstehen, dass das Fremde jedwede Art von Ordnung, also z.B. funktionale, segmentäre, hierarchische oder umfassende Lebensordnungen übersteigt (vgl. dazu auch TdF: 34).
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und intersubjektiv geteilt werden könnte. Der entscheidende Punkt ist an dieser Stelle, dass dem Fremden eine Störkraft innewohnt, die der Möglichkeit der Herstellung eines gemeinsam geteilten und kommunikativ hervorgebrachten Sinns (Kon-sens) widersteht. Das Übersteigen der Ordnung qua Fremdem zeichnet sich insofern zunächst negativ dadurch aus, dass es sich nicht als ein dialogisches Geschehen vollzieht, in dessen Verlauf es gelingt, sich wechselseitig bruchlos, also voll und ganz zu verstehen. Die Vorstellung, die das Motiv des kommunikativen Konsens nahe legt, verweist für Waldenfels vielmehr auf ein Problem des klassischen Verständnisses des Dialogs. Denn sein Prestige beruht Waldenfels zufolge darauf, dass er Widrigkeiten und Unstimmigkeiten zu beseitigen verspricht. Das heißt, dass er klassischerweise als symmetrisch angelegt begriffen wird und letztlich zu einer Art harmonischer Übereinstimmung führt, die dann z.B. im und als bruchloser Konsens ihren Ausdruck finden zu können beansprucht (vgl. GMPF: 59). Diese Überlegung ist nun mehr als eine bloß rhetorische Spitze gegenüber Theorien, die das kommunikative Handeln als eine Form der praktischen Anerkennung des Fremden zu begreifen suchen. Aus Waldenfels’ Perspektive wird dem Fremden mit einer solchen Auffassung des Dialogs sein Stachel geradezu genommen. Waldenfels geht stattdessen von der Beunruhigung durch das Fremde und einem Verständnis des Dia-logs aus, das die Brüche und unausgleichbaren Ansprüche zu bedenken sucht und ins Zentrum stellt. Statt das Dia- des Dialogs von der Sphäre eines gemeinsamen Sinnes, gemeinsamer Zwecke, gemeinsamer Regeln und Praktiken her zu verstehen, geht es ihm umgekehrt darum, den Dialog von seinen Brüchen, Spaltungen und Asymmetrien her zu begreifen. Diese Denkbewegung dient m.E. dazu, das Fremde vor dem vereinnahmenden Zugriff einer Vernunftordnung zu bewahren, deren Problematik darin besteht, dass sie eine allen gemeinsame und in diesem Sinne universale Ordnung unterstellt und damit dasjenige voraussetzt, was durch das Fremde gerade in Frage gestellt wird. Mit Waldenfels formuliert geht es darum, den Dialog nicht vom Logos her zu denken, sondern die „jeweiligen Logoi vom Dia-“ (BLdE: 215) her zu verstehen. Das heißt, er denkt den Dialog als etwas Hindurchgehendes, das von seinen Brüchen her anzugehen ist und begreift ihn als ein Zwischengeschehen, was alle synthetischen und synthetisierenden Ordnungsmuster unterlaufe. Statt also die letztliche Einheit, Stimmigkeit und Kontinuität der Erfahrung zu beschwören, betont Waldenfels den Bruch und die Brüchigkeit, welche die Erfahrung des Fremden kennzeichnen. In der Erfahrung des Fremden ist der Möglichkeit der Herstellung eines gemeinsam geteilten Sinns sozusagen der Boden entzogen, weil eben keine universale Gesamt- oder Vernunftordnung zur Verfügung steht, auf deren Basis ein von allen gemeinsam geteilter Sinn
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('Kon-sens') gefunden werden könnte und müsste.5 Auf der anderen Seite verspricht aber auch der Rückzug auf eine kulturalistische oder kontextualistische Position zum Fremden keine Lösung, weil das Fremde das Subjekt gleichwohl in einer Weise trifft, die es direkt und unausweichlich im Kern angeht und betrifft, insofern es dessen Ordnung fundamental stört. Das Skandalöse des Fremden besteht insofern darin, dass es sich nicht bruchlos durch kommunikative Praktiken ausgleichen und harmonisieren lässt, dass es in keinen allseits zustimmungsfähigen Einklang gebracht und überführt werden kann, der es ein für alle Mal beruhigen und seine Widerständigkeit aufheben würde (vgl. a.a.O.: 186). Mit Waldenfels’ Auffassung des Dialogs ist also verbunden, dass er nicht auf ein bruchloses, wechselseitiges Verstehen abzielt, sondern auch in Bezug auf das Verstehen die Bruchlinien zu berücksichtigen sind, die das Dia- des Dialogs in den theoretischen Fokus bringt. Eine der Bruchlinien der Erfahrung besteht für Waldenfels nun zwischen dem, was er den Anspruch des Fremden nennt und dem, was er als die Antwort auf den Anspruch des Fremden bezeichnet. Diese Bruchlinie, der ein beunruhigender Charakter zukomme, bestehe zunächst darin, dass es im strengen Sinne keine ganz und gar passende Antwort auf den Anspruch des Fremden gebe. Das Spannende ist, dass dem Fremden mit dieser ‚Antwortgrenze‘ ein Moment originaler Unzugänglichkeit eingeräumt wird, die mir in zweierlei Hinsicht bemerkenswert erscheint: Zum einen kommt durch diese Perspektive die Gewaltsamkeit oder zumindest die Aggressivität zum Vorschein, die der Vorstellung der Möglichkeit eines bruchlosen, wechselseitigen Verstehens des Fremden (z.B. qua Dialog) innewohnt, sodass der oder das Fremde in der Gefahr steht, im Verstehen vereinnahmt und überwältigt zu werden. Zum anderen fordert diese Überlegung die Suche nach Denkfiguren heraus, die das Brüchige und Asymmetrische des Verhältnisses zwischen dem Anspruch des Fremden und der Antwort auf den Anspruch des Fremden begrifflich genauer zu fassen vermögen. Eine solche Formulierungsmöglichkeit sieht Waldenfels darin, die Erfahrung des Fremden zwischen Pathos und Response anzusiedeln (vgl. GMPF: 34-55). Wie ist das zu verstehen? Zur Erläuterung seines Vorschlags geht Waldenfels zunächst von Husserls Konzeption der Erfahrung aus, in der der Begriff Intentionalität eine zentrale Rolle spielt. Für Husserl hatte Intentionalität gar den Status eines unentbehrlichen „Ausgangs- und Grundbegriffs“ (Husserl [1913] 1950: 207, 203 ff.) der Phänomenologie. Es geht um den Grundgedanken, dass die Eigenart jeglichen Bewusstseins darin bestehe, dass es stets ein
5
Das Fremde unterläuft oder übersteigt in diesem Sinne auch die Idee eines allen gemeinsamen Allgemeinen.
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„Bewußtsein von Etwas“ (a.a.O.: 203 ff.) sei, das als solches direkter Aufweisung und Deskription zugänglich sei. Intentionalität meint im phänomenologischen Verständnis also nicht etwa bestimmte Absichten, die beispielsweise ein Handelnder mit seinem Handeln verfolgt, wie das Alltagsverständnis von Intention nahe legen könnte: „In ihrer prägnanten Form bedeutet Intentionalität, dass sich etwas als etwas zeigt, daß etwas in einem bestimmten Sinn und in einer bestimmten Weise gemeint, gegeben, gedeutet, verstanden oder behandelt wird, nämlich als frisches Grün, als Blutfleck, als Erdbeergeschmack, als Tisch, als geflügelter Pegasus, als arabische Zahl, als Liebesbrief, als Schreibprogramm, als fiebrige Entzündung, als Attentat, als Terrorakt und so fort.“ (GMPF: 34)
Für Waldenfels ist in Bezug auf die Intentionalitätsstruktur der Erfahrung, diesem „Schibboleth“ (ebd.) der Phänomenologie entscheidend, dass die Formel etwas als etwas besagt, dass sich Wirkliches, Vorhandenes, Mögliches und auch Unmögliches stets mit einer bestimmten Bedeutung oder einem Sinn verbunden zeigt, der aber zugleich von der Wirklichkeit des Bedeuteten geschieden ist. Diese verbundene Geschiedenheit funktioniere wie eine „Fuge“ (a.a.O.: 35), die das Wirkliche und seine Bedeutung sowohl aneinander binde als auch voneinander trenne.6 Eben darin bestehe die Funktion des winzigen Wortes als, das einen Zusammenhang herstellt, der allerdings als gebrochener Zusammenhang zu charakterisieren ist, weil das als gleichzeitig die Wirklichkeit des Etwas von der Bedeutung des Etwas trennt. Waldenfels präzisiert, dass die Formel etwas als etwas nicht besagt, dass es etwa zwei anfängliche Realitäten gäbe, also eine tatsächliche (wirkliche, physische) und eine ideale (psychische), zwischen die sich dieses als im Sinne einer dritten Entität schöbe. Diese Formel ist für Waldenfels mithin nicht statisch zu verstehen, sondern weist vielmehr auf ein dynamisches Gefüge hin, „ohne welches es buchstäblich nichts gäbe, was sich zeigt, und somit auch niemanden, dem sich etwas zeigt.“ (Ebd.). Den Aspekt der gleichzeitigen Verbundenheit und Geschiedenheit, der in der Formel etwas als etwas anklingt, fasst Waldenfels unter anderem 7 in sprachtheoretischen Termini als „signifikative Differenz“ (GMPF: 35), die allerdings
6
Es lässt sich in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Fuge denken, welche die Kacheln im Bad sowohl miteinander verbindet als auch voneinander trennt.
7
Waldenfels arbeitet zudem appetitive, repräsentative und responsive Differenzlinien aus (vgl. BLdE 2002: 27). Zumindest von der responsiven Differenz wird noch die Rede sein.
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nicht gleichzusetzen sei mit einer bloß formalen Differenz von Signifikanten, die sich laut Waldenfels auf ein pures Andersbedeuten reduziere. Für ihn meint signifikative Differenz vielmehr eine „originäre Verschiebung oder Versetzung. Etwas ist anders als es selbst, indem es als dieses oder jenes auftritt; aber es ist nicht etwas anderes als es selbst, etwa ein bloßes Bild oder Zeichen.“ (BLdE: 30; Herv. i.O.)
Mit dieser Präzisierung weist Waldenfels vor allem auf zweierlei hin: Es geht ihm einerseits darum, die Idee einer reinen Gegebenheit zu vermeiden, die den Dingen und Worten ‚tatsächlich‘ und ‚wirklich‘ zugrunde läge. Es geht darum zu betonen, dass etwas zwar niemals einfach so oder so ist, aber trotzdem stets als solches auftritt. Es geht also darum, eine Differenz aufrecht zu erhalten, die die Formel etwas als etwas weder ontologisiert noch in einen bloßen Konstruktivismus mündet. Waldenfels geht in seiner Argumentation nun zunächst von dieser intentionalen Grundstruktur der Erfahrung aus und verbindet sie mit dem differentiellen Charakter der Bedeutungslehre. Jedes Erfahrungsgeschehen verweist laut Waldenfels auf Ordnungen, insofern etwas nicht nur als etwas, sondern immer auch nur so und nicht anders erscheint und zutage tritt, sodass bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten ausgesondert und andere ausgeschlossen werden. Diese „gleichzeitige Selektion und Exklusion führt dazu, daß es bestimmte Ordnungen gibt, nicht aber eine einzige Ordnung. Diese Kontingenz begrenzter Ordnungen bildet die Vorbedingung dafür, daß es Fremdes gibt, und zwar in dem präzisen Sinne, daß etwas sich dem Zugriff der Ordnung entzieht.“ (TdF: 20)
Die Rede von der Kontingenz und das Vorhandensein bestimmter Ordnungen weist darauf hin, dass jedem Sinn eine konflikthafte Perspektivität anhaftet. Wenn zum Beispiel eine Pflanze als Heilkraut verwendet oder als Unkraut abgetan wird, ein Ausländer als Asylbewerber oder illegaler Einwanderer behandelt wird und ein Messer als Essgerät oder Waffe dient (vgl. zu diesen Beispielen GMPF: 37), dann verweisen diese je verschiedenen Erscheinungsformen von etwas als etwas auf die je verschiedenen Ordnungen, die sich eben dadurch auszeichnen, dass sie bestimmte Eigenschaften und Bedeutungen eines Phänomens auswählen (selektieren) und dadurch gleichzeitig andere ausschließen (exkludieren). Für Waldenfels bleibt es grundsätzlich fruchtbar, das Erfahrungsgeschehen aus der Perspektive der Intentionalität zu denken. Er sieht keinerlei Grund diese theoretische Perspektive auf das Erfahrungsgeschehen gänzlich
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aufzugeben und den Begriff schlicht durch einen anderen zu ersetzen. Ein solcher Versuch entspräche einem herkömmlichen Prinzipien- oder Methodenstreit, den er für naiv hält. Gleichwohl sieht er in der Erfahrung des Fremden ein Grenzphänomen, das die Intentionalitätsstruktur der Erfahrung in dieser Striktheit in spezifischer Weise übersteigt beziehungsweise unterläuft (vgl. a.a.O.: 38). Es geht Waldenfels vor diesem Hintergrund „nirgends um abrupte Entgegensetzungen oder um bloße Ergänzungen, sondern wir haben es mit Verschiebungen zu tun, deren nachhaltige Wirkungen sich wie bei einem Farbgemälde in Nuancen bekunden.“ (Ebd.)
Sein Ansatz lässt sich daher als eine kritische Infragestellung der Intentionalitätsstruktur von Erfahrung beschreiben (vgl. a.a.O.: 38), die aber nicht als Grundsatzkritik angelegt wird, sondern als Verschiebung von Feinheiten in der Farbgebung, die das Gesamtbild dennoch nachhaltig zu verändern vermögen. Diese Verschiebung ohne Grundsatzkritik ist für Waldenfels notwendig, weil sich die Erfahrung des Fremden der Formel etwas als etwas weder gänzlich beugt, noch ihr gänzlich zuwiderläuft. Eben dieses da-zwischen, diese Spannung, die über die Figur der Intentionalität hinausgeht und sie in Nuancen zu verschieben verlangt, sucht er genauer zu fassen, indem er das Fremde als ein Doppelereignis versteht, das in Pathos und Response auseinandertritt. Wie ist dieses Spannungsverhältnis, dieses Auseinandertreten nun zu verstehen?
4.2 P ATHOS Waldenfels hebt mehrfach hervor, dass er das Wort Pathos im alten Sinne des Wortes aufgreift (vgl. z.B. BLdE 2002: 9, GMPF 2006: 42). Damit verweise es auf „Widerfahrnisse, die uns zustoßen, uns zuvorkommen, uns anrühren und verletzen, keine Grundschicht also, sondern ein Geschehen, in das wir wohl oder übel und auf immer verwickelt sind.“ (Waldenfels BLdE: 9)
Widerfahrnisse zeichnen sich für Waldenfels durch ihren passiven Charakter aus, sie kommen unserer Eigeninitiative zuvor und treffen das Subjekt in verletzender Weise in seinem Kern. Mit dem alten Wort Pathos wird ein Geschehen bezeichnet, „das uns ohne unser Zutun zustößt oder entgegenkommt.
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Im Hintergrund steht die grammatische Form des Passivs, die Leideform, die sich von der Tätigkeitsform abhebt; […]“ (a.a.O.: 15). Es geht damit um Ereignisse, denen wir ausgesetzt sind, und die in diesem Sinne dem eigenen Zutun zuvorkommen, was selbstverständlich nicht heißt, dass wir nicht an ihnen beteiligt wären, aber eben nicht im Sinne eines Initiators oder eines Akteurs, der Erfahrungen macht wie jemand, der etwas aktiv herstellt, sondern beteiligt im dativischen Sinne als jemand, dem etwas und an dem etwas geschieht. Der Blick in ein historisches Wörterbuch der Philosophie zeigt, dass das griechische Wort πάθος (pathos) „ursprünglich jede Art von Erleiden im Gegensatz zum Tun […] .“ (Meyer-Kalkus 2007: 193) bezeichnet. Das Wort Affekt (πάθος, passio, Leidenschaft) „erscheint im griechischen Sprachgebrauch als spezielle Bedeutung des umfassenderen Begriffs πάθος. Außerphilosophisch meint das Wort das, was einem zustößt, insbesondere Leid und Schmerz.“ (Lanz 2007 a.a.O.: Bd. 1: 89)
Das griechische Wort πάθος bezeichnet vor diesem Hintergrund ein Widerfahrnis, das den Charakter des passiven Getroffenwerdens von etwas hervorhebt. Die Worte Pathos und Affekt beziehen sich vor diesem Hintergrund auf einen grundsätzlich gemeinsamen Phänomenbereich. Sie sind in ihrer alten Bedeutung eng miteinander verbunden und Waldenfels greift eben diese enge Verbindung auf und macht darauf aufmerksam, dass die grundlegende Bedeutung von πάθος als „Widerfahrnis“ (BLdE: 15) darauf verweist, dass Erfahrungen machen nicht heißt, etwas herzustellen, sondern etwas in der Weise durchzumachen, dass jemandem etwas geschieht oder eben widerfährt. Der Hauptunterschied, der hier anklingt, betrifft die allgemeinere bzw. speziellere Bedeutung, nämlich einerseits jedwede Art des passiven Erleidens (Pathos) zu bezeichnen, andererseits speziellere Erleidensformen und bestimmte Leidenschaften (Affekte) zu bezeichnen. Aus Waldenfels’ Perspektive lässt sich das Motiv des Pathos deshalb „mit der herkömmlichen Sprache der Affekte und Affektionen in Zusammenhang bringen, doch nur dann, wenn das An- der Af-fekte und Af-fektionen als eine Form des Antuns, des Angehens, des Anrufs zum Klingen gebracht wird, wie es andeutungsweise schon bei Husserl, Scheler und Heidegger geschieht.“ (GMPF: 42-43)
Das Fremde zeichnet sich vor diesem Hintergrund dadurch aus, dass es in einer Weise widerfährt, der nicht ausgewichen werden kann. ‚Antun‘, ‚Angehen‘ und ‚Anrufen‘ beschreiben allesamt ein Geschehen, dem wir zunächst passiv ausgesetzt sind, noch bevor eine Aktivität einsetzen kann, die z.B. darüber entscheidet,
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ob der Anruf angenommen wird oder nicht, ob mich Etwas etwas angeht oder nicht, ob ich mir Etwas antun lasse oder nicht. Ähnlich wie der fremde Blick, der mich immer schon getroffen und in den Blick genommen hat, noch bevor ich mich entscheide, ob ich mich von ihm abwende oder mich ihm zuwende, klingt in Waldenfels’ Auffassung vom Widerfahrnis des Fremden eine leibliche Dimension an, der der Getroffene insofern ausgesetzt ist, als sich sowohl die Ab- als auch die Zuwendung dem vorgängigen Getroffenwerden durch das Fremde verdankt. „Die leibliche Verankerung in einer physischen und sozialen Welt ist es, die unsere Verletzlichkeit ausmacht, und diese nimmt zu, je mehr wir uns auf etwas einlassen. Dabei können wir mit Freud drei Leidensquellen unterscheiden. Das Leiden droht ,vom eigenen Körper her, der, zu Zerfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen‘ (Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, 434).“ (Waldenfels 1991: 123, Herv. i.O.)
In diesen Zeilen klingt an, dass sich das pathische Getroffenwerden durch Fremdes nicht auf den personalen Fremden oder das dinghaft Fremde reduzieren lässt. Neben einer intersubjektiven und interkulturellen Fremdheit klingt hier sowohl eine intrasubjektive wie eine intrakulturelle Fremdheit an, sodass sich vier Ebenen unterscheiden lassen, auf denen sich Fremdes zeigt, indem es sich uns entzieht.8 Waldenfels stellt in Der Stachel des Fremden den anthropologischen Bezug und die handlungstheoretischen Implikationen seiner Überlegungen zur pathischen Dimension des Fremden heraus: „Ein Handelnder, der sich nicht selbst mitsamt seinen Taten aus dem Nichts hervorzaubert, hat es immerzu mit etwas zu tun, was ihm geschieht, ihm zustößt, ihm angetan wird, was ihn überrascht, herausfordert, lockt, antreibt, bedroht oder schließlich verletzt und vernichtet. Ich nenne dies mit einem Ausdruck aus Kamlahs Anthropologie (1972, 34 ff.) ein Widerfahrnis (Pathos), das jeder Erfahrung und Handlung als Ingredienz beigemischt ist, und dies umso mehr, je einschneidender die Erfahrungen sind und je stärker sie uns verwandeln. Solche Widerfahrnisse treten auf als etwas, das sowohl Staunen wie Schrecken auslöst, Lust und Schmerz, Freude und Trauer weckt und sich in Hoffnung und
8
Vgl. zu Waldenfels Auffassung von Interkulturalität als Zwischensphäre auch Waldenfels: GMPF 2006: 109ff und zu den verschiedenen Ebenen des Fremden Waldenfels: TdF 1997: 72.
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Furcht ankündigt. Eine Situation, in die wir geraten oder in der wir uns befinden, läßt sich nicht auf kognitive und praktische Leistungen reduzieren.“ (Waldenfels 1991: 122, Herv. i.O.)
Waldenfels formuliert an dieser Stelle einen Zusammenhang zwischen dem einschneidend-verwandelnden Charakter von Erfahrungen und dem ‚Ausmaß‘ an Pathos, das solche Erfahrungen enthalten. Je einschneidender eine Erfahrung wirkt und je stärker sie uns verändert, desto mehr pathische oder affektive Komponenten beinhalte sie. Waldenfels umschreibt, wie dasjenige, was uns in einer einschneidend verändernden Weise widerfährt, auftritt und was es auslöst. Er wählt jeweils Begriffspaare wie Staunen und Schrecken, Lust und Schmerz, Freude und Trauer, Hoffnung und Furcht, die sich auf den ersten Blick durch ihre Gegensätzlichkeit auszuzeichnen scheinen. Aus Waldenfels’ Perspektive treten einschneidende Erfahrungen, denen ein veränderndes und verwandelndes Potenzial zukommt als etwas auf, das ambivalente Affektkonstellationen auslöst. Um die Eigenart pathischer Widerfahrnisse zu erläutern nennt Waldenfels in den Bruchlinien der Erfahrung unter anderem Beispiele wie den Blitzschlag, den plötzlichen Schrei und den gewaltsamen Zugriff. Diese Phänomene zeichnen sich durch ihre Schockhaftigkeit aus, dadurch, dass plötzlich etwas auftaucht, dass etwas zufällt und zustößt, noch bevor es als etwas aufgefasst, gedeutet, verstanden oder abgewehrt werden kann. Es geht insofern nicht um ein bestimmtes das, sondern um ein unbestimmbares dass. Widerfahrnisse sind laut Waldenfels durch ihren Störcharakter gekennzeichnet und die von ihm gewählten Beispiele seien geeignet nachzuvollziehen, dass und inwiefern sich das Widerfahrnis einer ausschließlich intentionalen Struktur der Erfahrung entzieht. Denn Störerfahrungen seien nicht zu verwechseln mit ihrer nachträglichen Deutung als Störung. Jenes Etwas, das in der Form des Pathos plötzlich und unerwartet wie z.B. der Blitz einschlägt, erweist sich laut Waldenfels zunächst als bedeutungs-los. „[…] [D]ieses etwas, das nicht als etwas erscheint, entzieht sich den geläufigen Sinnerwartungen und Regelungen, es übersteigt deren Fassungskraft bis hin zu dem Punkt, wo für uns eine Welt zusammenbricht. Das Pathos, das hier inmitten des intentional gerichteten und geregelten Geschehens auftaucht als ein être sauvage, zeigt, daß etwas, das als etwas aufgefaßt und gedeutet wird, mehr oder weniger ist, als das, was es bedeutet. Es zeigt sich jeweils mehr und anderes, als sich sagen läßt. Das als Widerfahrnis zu verstehende Pathos ist nicht intentional verfaßt.“ (Waldenfels BLdE: 33, Herv. i.O.)
An Beispielen wie dem Blitz oder dem plötzlichen Schrei wird Waldenfels zufolge deutlich, dass sie mehr oder weniger sind, das heißt in jedem Fall
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anderes als das, als was sie aufgefasst werden können. Es geht um eine Differenz. Sie bewirken und bedeuten mehr als sich durch ihre Interpretation, also dadurch, dass sie als etwas Bestimmtes gedeutet werden, sagen lässt. Im Ereignis des Blitzes zeigt sich mehr und anderes als sich durch die Bestimmung des Blitzes als Blitz und das heißt z.B. als physikalisches Wetterphänomen oder als ein Zeichen der Götter, sagen lässt. Die durchlebte oder durchgemachte Erfahrung geht nicht in jenem bestimmten Sinne auf, der durch die intentionale Bestimmung des Blitzes als Blitz vorgenommen wird. Um weiter zu verdeutlichen, dass und inwiefern die Erfahrung des Fremden über die Intentionalitätsstruktur der Erfahrung hinausgeht, stellt Waldenfels in seinen Grundmotiven eine Szene aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (Musil [1930] 1978) vor, in dem von einem beunruhigenden Ereignis die Rede ist: In der Eingangspassage dieser Erzählung wird ein Wiener Passantenpaar zum Zeugen eines Geschehens, „das wir als Verkehrsunfall zu beschreiben gewohnt sind.“ (GMPF: 39, Herv. i.O.) Allerdings wird diese sachlich-neutrale und ordnungsgemäße Beschreibung des Ereignisses aus der Außenperspektive des Lesers, von Musil und den Handlungsträgern seines Romans in einer anderen Weise zur Sprache gebracht. Denn alles beginne nicht etwa mit der Einordnung des Ereignisses als Verkehrsunfall, sondern mit einem Auflauf, einer gestauten Bewegung, die wie eine Klippe den Erfahrungsstrom bricht und unterbricht. Das Passantenpaar hält plötzlich in seinem Schritt inne, „[s]chon einen Augenblick vorher“ (Musil a.a.O.: 10) war etwas „aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand.“ (Ebd.)
Die Szene hebt nicht damit an, dass sich etwas in seiner Bedeutung und seinem Sinn, also in seiner bestimmten und problemlos bestimmbaren Weise zeigt und sich der Ordnung umstandslos fügt, sondern mit einer Bewegung, die ins Stocken gerät, unterbrochen wird und den gewohnten Ablauf stört, ohne dass sich die Störung zunächst einordnen lässt. Auch die Feststellung des Störcharakters ist vom Außerordentlichen der treffenden Störung selbst zu unterscheiden, dass nämlich schon einen Augenblick vorher etwas außer der Reihe gesprungen und quer geschlagen war. Erst allmählich fügt sich dieses, schon einen Augenblick vorher, vorgängig Eingeschlagene, das als solches uneinholbar bleibt und sozusagen immer schon eingebrochen ist und den gewohnten Gang unterbrochen haben wird, das dann nur als vages Etwas, das sich dreht und seitwärts gerutscht war, zur Sprache kommt, zu einer näheren Bestimmung.
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Ein entscheidender Punkt ist an dieser Stelle, dass die Dynamik der Erzählung von etwas Uneinholbarem in Gang gebracht wird, das sich der Ordnung entzieht, das schon einen Augenblick vorher aus der Reihe gesprungen war. Allmählich zeigt sich dieses Etwas als jäh gebremster Lastwagen und Musil erzählt weiter von der Tiefe eines Loches und der Schwelle des Gehsteigs, an der ein Verkehrsopfer wie tot daliegt. Dieses Ereignis manifestiert sich in verschiedenen Wirkungen beim Passantenpaar: „Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl.“ (Musil a.a.O.: 11) Ein Moment des Schweigens tritt ein, bevor der Begleiter der Dame seine Erklärungen über zu lange Bremswege und Informationen über amerikanische Unfallstatistiken vorbringt, die die Dame spürbar erleichtern: „Es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorgang in irgend eine Ordnung gebracht war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging“ (Ebd.) Die sozialen Einrichtungen tun nun ihr Übriges, umstehende Passanten versuchen das Verkehrsopfer abwechselnd aufzurichten und hinzulegen, ein Rettungswagen trifft ein, und die in solchen Fällen üblichen Hilfsmaßnahmen und Abläufe werden abgespult, sodass man schließlich fast mit dem berechtigten Eindruck davon ging, „daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe“ (ebd.). Die Dame wird ihr beunruhigendes Gefühl jedoch nicht los. „ ,Meinen Sie, daß er tot ist?‘ fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben.“ (Ebd.) Für Waldenfels ist diese Szene aus vor allem drei Gründen bemerkenswert: Sie zeigt seiner Auffassung nach erstens, wie ein Unglücksfall zu einem Normalfall gemacht wird. Die schockhaft und plötzlich einbrechende Singularität eines als solchen sich entziehenden Ereignisses wird be- und verarbeitet, indem es einer Ordnung aus Statistiken und Zahlen eingeschrieben wird, sodass es schließlich in den gewöhnlichen Fall eines Verkehrsunglücks verwandelt wird.9 Es wird zu einem ordnungsgemäßen Geschehen gemacht, das lediglich als „affektiven Mehrwert ein subjektives Gefühl hinterläßt.“ (Waldenfels a.a.O.: 40) Zweitens erzähle Musil hier aber nicht bloß einen Unglücksfall, sondern er führe vor, wie die Übersetzung eines schockhaft einbrechenden Ereignisses in ein sinnhaftes Geschehen zustande komme, wie ihm eine Bedeutung zugeschrieben werde, die sich dem Ordnungsgefüge, dem vorhandenen Regelsystem letztlich füge. Drittens hält Waldenfels diese literarische Beschreibung eines Unglücksfalls für prototypisch. Denn es stehe für all das,
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Es geht somit auf Kosten der Singularität des Ereignisses um die Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine.
86 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN „was uns einfällt, auffällt, was sich aufdrängt, uns anlockt, abschreckt, auffordert, was uns verletzt, uns zu denken gibt und uns im äußersten Fall als ,denkende Schilfrohre‘ vernichtet.“ (GMPF 2006: 41, Herv. i.O.)
Waldenfels sieht solche Ereignisse (in Anspielung auf Blaise Pascals Auffassung von der Natur des Menschen als denkende Schilfrohre) dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in ihrer Bedeutung entziehen und nicht einordnen lassen. Sie treten nicht als abrufbares Etwas auf, als warteten sie bloß auf unser „Stichwort“ (a.a.O.: 42) oder unseren „Tastenbefehl“ (ebd.). Für solche Ereignisse „die uns vielmehr widerfahren, zustoßen, zufallen, uns überkommen, überraschen, überfallen, scheint mir das alte Wort ›Pathos‹ angebracht, das in dem sprichwörtlichen πάθει µάθος ein Lernen durch Leiden, nicht aber ein Erlernen des Leidens verheißt.“ (A.a.O.: 42, Herv. i.O.)
Mit dem Wort Pathos wird auch hier ein Widerfahrnis bezeichnet, etwas, das uns ohne unser Zutun entgegenkommt und zustößt, dass in unsere Welt einbricht und den gewohnten Gang störend unterbricht. Etwas nimmt die Aufmerksamkeit in Beschlag, ohne dass und noch bevor dieses Etwas überhaupt gefasst und zur Sprache gebracht werden kann. Gerade dadurch stellt es einen erregenden Eingriff in unsere Ordnung dar. Dieses Beispiel verdeutlicht den vorgängigen Charakter des Widerfahrnisses im Sinne seiner Uneinholbarkeit. Waldenfels bringt an dieser Stelle mit dem sprichwörtlichen Lernen durch Leiden ein Wort ins Spiel, dem im erziehungswissenschaftlichen Vokabular der Status eines Grundbegriffs zukommt. Auch wenn Waldenfels kein Lerntheoretiker ist, klingt hier der erziehungswissenschaftlich bemerkenswerte Gedanke an, dass Lernprozesse mit solchen Widerfahrnissen in einem Zusammenhang stehen, insofern letztere ersteres verheißen. Waldenfels präzisiert, dass der Durchgang durch Leiden, der ein Lernen verheißt von einem Erlernen des Leidens zu unterscheiden ist. Die produktive Dimension des Pathos (µάθος) hinsichtlich des Lernens besteht insofern gerade nicht darin, dass etwa das Leiden in dem Sinne zu erlernen wäre, dass man es automatisiert, sich darin einrichtet, zu beherrschen sucht, auszuhalten und zu ertragen weiß, es verwertet u.s.f. Stattdessen scheint es eher um eine Art strukturelle Dimension zu gehen, darum, dass Lernprozesse von ordnungsstörenden Widerfahrnissen ausgelöst werden können. Dass im Durchgang durch dieses pathische Moment der Erfahrung des Fremden ein Lernen verheißen wird, lässt sich vielleicht auch so interpretieren, dass dem Getroffenen eine Zukunftsmöglichkeit im Sinne einer neuen Ordnung eröffnet wird, die in ihrer Erfüllung aber offen bleibt, insofern das auf Zukunft
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hin verheißene Lernen sich eben auch nicht verwirklichen kann. Anders als eine Prophezeiung oder eine Prognose lässt eine Verheißung seine Erfüllung oder Verwirklichung in höherem Maße offen.10 Allerdings ist das Verhältnis von Lernen und Leiden für Waldenfels nicht im Sinne einer wechselseitigen Konstitutionsbedingung zu verstehen. Das Sprichwort funktioniere keineswegs umgekehrt. Die Auffassung ohne Leiden kein Lernen hält er für problematisch (vgl. BLdE 2002: 414), da sie eher als die Folge einer „pathologischen Dissoziation von Rationalität und Gefühlen“ (ebd.) zu charakterisieren wäre. Mit dem Hinweis auf den Lernen verheißenden Charakter des pathisch gefärbten Widerfahrnisses wird gleichwohl nicht nur seine Verwirklichung möglich, sondern auch die Möglichkeit seiner Nicht-Verwirklichung eröffnet.11 4.2.1 Gefühl – Emotion – Empfinden Waldenfels’ Vorschlag, das Wort Pathos in seiner alten Bedeutung im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Fremden fruchtbar zu machen, gewinnt weiter an Kontur, wenn man sich die Abgrenzungen vor Augen führt, die er in Bezug auf begriffliche Konzeptionen des Gefühls, der Emotion und des Empfindens andeutet. Diese Begriffe stehen zwar alle in einer Verwandtschaft zum altgriechischen Wort πάθος, haben laut Waldenfels aber begriffsgeschichtliche Entwicklungen genommen, die ihn dazu bringen, diese Konzepte im Rahmen seiner Phänomenologie des Fremden nicht als Schlüsselthemen zu berücksichtigen. In den Bruchlinien der Erfahrung skizziert Waldenfels, dass und inwiefern die Begriffe Gefühl, Emotion und Empfinden im Unterschied zum alten Wort Pathos hinsichtlich seiner Phänomenologie des Fremden unzureichende Konzeptionen darstellen. Diese Einschätzung mag aus einer alltagsweltlichen Perspektive überraschen, aus der das Fremde durchaus mit angenehmen und unangenehmen Gefühlen, mit vielfältigen Emotionen und ambivalenten Empfindungen verbunden erscheint. So kann das Fremde z.B. abschrecken oder Neugier wecken, verwirrend und anziehend wirken oder in einer anderen Art und Weise das Gemüt bewegen. Aus Waldenfels’ Perspektive
10 Für diese Lesart spricht zumindest, dass Kamlah, auf den sich Waldenfels in Bezug auf den Pathosbegriff als Widerfahrnis direkt bezieht, den Begriff Verheißung in etwa in diesem Sinne versteht (vgl. dazu Kamlah 1951: 217-228). 11 An dieser Stelle ließe sich auch eine Diskussion über die produktive Dimension des Gesetzes aus psychoanalytischer Perspektive anschließen, dass etwas allererst dadurch, dass es im Sinne der Verheißung gesetzt wird, übertreten und damit auch nicht erfüllt werden kann.
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besteht das Problem des Begriffs Gefühl darin, dass er stark subjektivistisch konzipiert ist, sodass er ihn nicht für geeignet hält, um das Fremde in seiner Eigenart als Geschehen zwischen Subjekt und Objekt angemessen zu umschreiben. Waldenfels weist darauf hin, dass diese starke Subjektivierung der Gefühle erst mit dem Beginn der Neuzeit einsetzt, „die überhaupt erst so etwas wie eine private Gefühlswelt und einen subjektiven Gefühlsausdruck aufkommen lässt.“ (BLdE 2002: 18) In der antiken Bedeutung des Wortes πάθος (Pathos) entdeckt er eine vieldeutigere und komplexere Ausgangslage, die im Begriff Gefühl jedoch reduktionistisch auf das Subjekt verengt wird, was dem Waldenfels’schen Grundgedanken zum Fremden als eines Geschehens zwischen Subjekt und Objekt nicht entspricht. Die Idee einer privaten Gefühlswelt entspringt seiner Auffassung nach der Verwandlung der Lebenswelt in bloße Natur und was bei dieser physikalischen Abstraktion nicht unterzubringen sei, wandere nun nach innen, um dort eine Innenwelt psychischer Realitäten zu bilden, die dann Gefühle genannt werden. „Diese Konstitution innerer Gefühle, die wesentlich zur modernen Subjektbildung beiträgt, hat eine Reihe von Konsequenzen. Von dem Subjektivismus habe ich schon gesprochen; die Redensart ,ich habe das Gefühl‘ wird wörtlich genommen im Sinne von Zuständen, die ich mir zuschreibe.“ (Ebd., Herv. i.O.)
Indem das Gefühl als ein Phänomen aufgefasst wird, das sich das Individuum selbst zuschreibt, dem es gehört und über das es selbst dann noch verfügt, wenn es sich als altruistisches oder soziales Gefühl auf Andere richtet, zementiert es eine Eigenheitssphäre, der das Fremde als statisches Objekt gegenüber steht. Der Begriff Gefühl erscheint Waldenfels wegen seines stark subjektivistischen Zuges kaum geeignet zu sein, um das dynamische Verhältnis zwischen Fremdem und Eigenem zu umschreiben und um-zuschreiben. Dieser possessive Individualismus, der auch vor den Gefühlen nicht halt mache, die ausschließlich dem Individuum zugerechnet werden, diese Subjektivierung der Gefühle führe zu deren „Entweltlichung“ und „Entgemeinschaftung“ (ebd.). Sein alternativer Vorschlag, das alte Wort Pathos im Sinne des Widerfahrnis zu nutzen, befreie stattdessen „von all dem Plunder subjektiver, privater Gefühlszustände […]“ (GMPF: 42), die eine Eigenheitssphäre voraussetzen, die übersehe, dass vom Fremden ein Anspruch ausgeht, der das „Fürunssein sprengt und uns selbst in unserer Eigenheit in Frage stellt.“ (TdF: 18) Es genügt an dieser Stelle festzuhalten, dass Waldenfels’ Nachdenken über das Fremde aus diesen Gründen auf eine ausführlichere Berücksichtigung des Begriffs Gefühl verzichtet.
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Einen Schritt weiter geht Waldenfels zufolge der Begriff Emotion, die er als Empfindung thematisiert. Mit einem Hinweis auf Max Scheler, dem die Phänomenologie der Gefühle einiges verdanke, weist Waldenfels darauf hin, dass dessen wichtige sprachliche Neuerung darin zu sehen ist, „daß das Substantiv Empfindung, das allzu gut in das psychologische Baukastenmodell paßt, durch das Verb Empfinden ersetzt wird. […]. Gleichzeitig wird das Gefühlsleben, das mit spezifischen ,Antwortreaktionen‘ aufwartet, […] von seiner intellektualistischen Überwucherung befreit. Es gibt einen Drang zu etwas, der jeder Vorstellung von etwas vorausgeht, selbst wenn es in ihr seine Artikulation und Spezifikation findet und dabei durch Phantasievorstellungen belebt wird.“ (BLdE: 20-21, Herv. i.O.)
Es lässt sich zunächst bemerken, dass das Substantiv Emotion im Unterschied zur Empfindung im Deutschen keine Verbform kennt, wohl aber die Attributform ‚emotional‘, was der oben genannten Problematik des Subjektivismus ähnelt. Problematisch ist für Waldenfels in Bezug auf den Begriff Empfindung seine Nähe zum psychologischen „Baukastenmodell“, in dem es seinen theoretischen Ort habe und in das er „allzu gut“ hinein passe. Das lässt sich vielleicht so verstehen, dass die Komplexität der menschlichen Psyche, die Komplexität des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns, des Erlebens und Verhaltens aus Waldenfels’ Perspektive nicht angemessen gefasst werden kann, indem diese Komplexität als aus Einzelteilen zusammengesetzt gedacht wird, auch wenn das Ergebnis über die Summe der einzelnen Teile hinausgehen mag. Der Grundgedanke des Baukastens legt aber die Vorstellung nahe, dass einzelne Bauteile, die z.B. in Bezug auf ihre je spezifische Funktion, Wirkung und Beschaffenheit unterschieden werden können, sich zu unterschiedlichen Konstellationen, z.B. der Persönlichkeit, seiner Weise des Denkens, Fühlens und Handeln, seines Erlebens und Verhaltens zusammensetzen. Zu diesem Baukastenmodell passt der Begriff Empfindung nur allzu gut, insofern er als ein Baustein gedacht wird, der beispielsweise die Begriffe Denken und Kognition ergänzt und so das Modell vervollständigt. Auch gegenüber den Begriffen Emotion und Empfinden klingt bei Waldenfels deshalb eine gewisse Zurückhaltung an. Bemerkenswert ist allerdings sein Hinweis auf Erwin Straus, den deutsch amerikanischen Psychiater, Psychologen und Philosophen, in dessen Buch Vom Sinn der Sinne es heiße: „,Das Jetzt des Empfindens gehört weder der Objektivität noch der Subjektivität allein, es gehört notwendig stets beiden zusammen. Im Empfinden entfaltet sich für den Erlebenden
90 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN zugleich Ich und Welt, im Empfinden erlebt der Empfindende sich und die Welt, sich in der Welt, sich mit der Welt.‘“ (Straus zitiert nach Waldenfels a.a.O.: 21)
Spannend ist an diesem Verweis auf Straus, dass das Empfinden weder ausschließlich der Sphäre des Subjekts noch der des Objekts zugeordnet wird, sondern beides notwendig zusammengehörig gedacht wird. ‚Ich‘ und ‚Welt‘, so ließe sich aus bildungstheoretischer Perspektive interpretieren, bilden sich im Empfinden gleichursprünglich, sodass sich zumindest das Problem des Subjektivismus, das im Zusammenhang mit dem Gefühl zur Sprache kam, hier nicht zu stellen scheint. Das Problem des Verbs empfinden besteht in Bezug auf Erfahrungen des Fremden für Waldenfels darin, dass es eine doppelte und lineare Bewegung nahe lege, dass es sich polar auf etwas richte und dass der Empfindende pathisch durch etwas getroffen werde. In dieser Polarität werde dem Fühlen zwar ein zentraler Platz eingeräumt, die Fremdheit dessen, was uns widerfahre, werde aber nicht angemessen gefasst. Waldenfels schreibt: „Allerdings hat diese ontologische Ausweitung der Gefühle zur Folge, dass die Eröffnung der Welt in der Freigabe und Freilegung eines Ermöglichungsspielraumes die Fremdheit dessen, was uns widerfährt, abschwächt und entschärft. Die Ekstatik des Daseins behält gegenüber einer möglichen Diastatik die Oberhand.“ (A.a.O.: 22)
Das Problem besteht für Waldenfels auf der ontologischen Ebene in der Ekstatisierung des gemeinsamen Empfindens, das zwar durchaus eine Rolle spiele, allerdings nicht die Oberhand über eine mögliche Diastatik habe. Das heißt, dass Waldenfels hier einen Unterschied zwischen einem ‚aus sich heraus treten, außer sich sein‘ (ekstatisch) und einem ‚auseinander-treten, auseinanderstehen‘ (diastatisch) andeutet. In Bezug auf diese beiden Bewegungen ist jedoch seiner Auffassung nach die Diastatik zu akzentuieren. Der Begriff Empfinden verführt jedoch dazu, das pathische Moment des Fremden als gerichtet zu denken. Das heißt, es als etwas zu denken, das sich der Logik der Intentionalität bruchlos fügt. So kommt Waldenfels in seinem kurzen und aus seiner Sicht auch durchaus ergänzungsbedürftigen Überblick zu folgender Einschätzung: „[D]ie Erneuerung einer Macht des Pathischen ist nicht von einer affektiven Intentionalität zu erwarten, die sich den kognitiven und praktischen Bestrebungen und Regelungen als sozusagen dritte Kraft beigesellt. Vielmehr ist zu erwarten, daß sich das Pathische als besondere Modalität herausstellt, als die Art und Weise nämlich, in der wir auf das ansprechen, was wir meinen und erstreben, was wir verstehen und behandeln.“ (Ebd.)
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Das Problem der Begriffe Gefühl, Emotion und Empfinden besteht für Waldenfels mit anderen Worten darin, dass sie dazu tendieren, wie gerichtete Vektoren aufgefasst zu werden, wie Kräfte in einem Kräftefeld, die der gleichen intentionalen Logik wie die kognitiven und praktischen Akte folgen und zu diesen als lediglich weitere, dritte Kraft hinzukommen. Dasjenige, was die pathische Dimension des Fremden in ihrer Wirkmächtigkeit auszeichnet, ist im Unterschied zur Kraft aber gerade nicht im Sinne eines linear gerichteten Vorgangs zu begreifen, sondern als ein Bruch. Damit wird angedeutet, dass das Fremde zwischen Pathos und Response nicht einfach zu den kognitiven und praktischen Bestrebungen hinzukommt, insofern es sich auch auf etwas richtet und damit in der intentionalen Struktur der Erfahrung aufgeht. Die Erneuerung der Macht, durchaus im Sinne der Erneuerung einer Macht durch eine Relektüre des Wortes Pathos in seiner alten Bedeutung, ist von woanders her zu erwarten, was Waldenfels in seinem methodologischen Ansatz und seinem methodischen Vorgehen dazu bringt, indirekte Zugänge zum Fremden zu suchen. Es genügt an dieser Stelle festzuhalten, dass Waldenfels’ Nachdenken über das Fremde deshalb ohne eine ausführliche Berücksichtigung der Begriffe Emotion und Empfinden auskommt. Diese Überlegungen bilden nun den Hintergrund vor dem deutlicher werden kann, wie das Waldenfels’sche Fremde als diastatisches Auseinandertreten in Pathos und Response theoretisch angelegt ist. Die Figur der Diastase erscheint ihm geeignet, um die Auffassung einer ausschließlich intentional verfassten Struktur der Erfahrung des Fremden zu erweitern und gleichzeitig den Anspruchscharakter des Fremden zum Vorschein zu bringen, der nach einer Antwort, nach einer Response verlangt. 4.2.2 Die Erfahrung des Fremden als Diastase von Pathos und Response Laut Waldenfels hat die Erfahrung des Fremden einen diastatischen Charakter. Damit ist gemeint, dass sie durch ein Auseinandertreten in ein vorgängig pathisches Widerfahrnis und eine nachträglich responsive Antwort gekennzeichnet ist (vgl. GMPF: 49). Wie ist das zu verstehen? Waldenfels geht auch hier wieder von dem Grundgedanken aus, dass sich das Fremde in der paradoxalen Weise zeigt, indem es sich uns entzieht, sodass es der schlichten Bestimmung als etwas widersteht. Denn jede Bestimmung als etwas schriebe das Fremde in eine gegebene Ordnung ein, der es sich jedoch gerade entzieht. Trotzdem versteht Waldenfels das Fremde aber keineswegs als nichts, was bereits in der Rede vom Entzug, von der Störung und vom Ausfall der Ordnung anklingt
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und ebenso in dem argumentativen Grundzug widerhallt, den Begriff Intentionalität lediglich in Nuancen zu verschieben und ihn nicht etwa gänzlich aufgeben oder ersetzen zu wollen. Für Waldenfels ist der Entzugscharakter des Fremden nun einerseits pathisch gefärbt und andererseits verbunden mit einem Anspruch, der nach einer Antwort verlangt. Er präzisiert die spezifische Eigenart dieser Antwort, indem er sie als responsives Geschehen bzw. als Response fasst. Waldenfels’ Grundgedanke lässt sich auch so formulieren, dass er die Erfahrung des Fremden als eine Art Doppelereignis denkt, das durch ein pathisches Getroffenwerden von etwas Außerordentlichem und einer Response gekennzeichnet ist. Der Begriff der Diastase dient ihm dazu, das Verhältnis von Pathos und Response als die zwei Momente dieses Doppelereignisses näher zu bestimmen. Entscheidend ist, dass Waldenfels das Doppelereignis des Fremden zwar als ein zusammengesetztes denkt, nicht aber als ein bruchlos zusammengesetztes. „Vorgängiges Pathos und nachträgliche Antwort sind zusammenzudenken, aber über einen Spalt hinweg, der sich nicht schließt und der eben deshalb nach erfinderischen Antworten verlangt.“ (A.a.O.: 49)
Das Verhältnis von Pathos und Response wird hier durch eine Art Hiatus oder eine Spaltung gekennzeichnet. Es wird von Waldenfels nicht als symmetrisches, symmetrisierbares oder synchronisierbares Entsprechungsverhältnis gedacht, das die Einheit der Erfahrung sichern würde, sondern konstitutiv gespalten. Dieser Spalt bestehe zwischen dem, wovon ich getroffen werde und dem, worauf ich antworte (vgl. a.a.O.: 50). Aus dieser Differenz folgt, dass sich das Fremde nicht durch eine Auffassung des Dialogs harmonisieren und beruhigen lässt, die den Dialog vom logos her denkt. Oder anders formuliert: Mit Waldenfels gedacht kommt der vom logos her gedachte Dialog als eine Denkfigur der Harmonisierung und Beruhigung des Fremden zum Vorschein, die ihm seine Fremdheit nimmt, wie weiter oben erläutert wurde. Stattdessen sucht Waldenfels das Dia-Logische vom Dia her zu denken und stellt damit die Spaltungen, Öffnungen, Brüche und Risse in den Vordergrund, die seiner Auffassung nach die Erfahrung des Fremden kennzeichnen. „Dieses Wovon des Getroffenseins verwandelt sich in das Worauf des Antwortens, indem jemand sich redend und handelnd darauf bezieht, es abwehrt, begrüßt und zur Sprache bringt.“ (A.a.O.: 44-45, Herv. i.O.).
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Waldenfels unterscheidet also dasjenige, wovon wir getroffen sind von demjenigen, worauf wir antworten und bezeichnet diese Unterscheidung als „Urdiastase“ (BLdE: 60): Dasjenige, wovon wir getroffen seien, verwandle sich in etwas, auf das wir antworten. Zwischen diesen beiden Momenten, also dem wovon (ich getroffen bin) und dem worauf (ich antworte) klaffe eine unüberbrückbare Lücke oder ein Spalt, der sich nicht schließe. Dasjenige, wovon wir getroffen sind, lässt sich in der Response also nicht einfach einholen, es geht nicht in ihr auf, sondern unterliegt einer Verwandlung, die dasjenige darstellt, worauf geantwortet wird. Die Response geht damit zwar vom pathischen Getroffensein aus, bezieht sich aber nicht bruchlos auf das pathische Getroffensein selbst. Waldenfels begreift das Verhältnis von Pathos und Response in einer paradoxalen Weise als gleichzeitig radikale Differenz und relative Verschränkung. Diese Urdiastase lässt sich auch vor dem Hintergrund verstehen, dass die Tatsache, dass etwas stets als etwas erscheint eben nicht bedeutet, dass es etwas ist: „Es wird zu etwas, indem es einen Sinn empfängt und damit sagbar, traktierbar, wiederholbar wird. Es genügt nicht, von einer Genese des Sinnes auszugehen, als würde lediglich etwas aus den Schächten der Erfahrung ans Licht treten, es handelt sich vielmehr um eine Umsetzung in Sinn, eine Sinngewinnung, ähnlich wie man von Energiegewinnung spricht.“ (GMPF: 38, Herv. i.O.)
Das diastatische Verhältnis von Pathos und Response zeichnet sich laut Waldenfels dadurch aus, dass es ein schöpferisches oder kreatives Potenzial enthält. Es wird eine Art responsiver Sinnüberschuss ermöglicht, der vom pathischen Getroffensein in Gang gesetzt werden kann. Bei der Response handelt es sich für Waldenfels damit „um ein Reden und auch um ein Tun, das nicht bei sich selbst, sondern anderswo beginnt und deswegen stets Züge einer fremden Eingebung an sich trägt. Die Eigenheit, ohne die niemand er oder sie selbst wäre, verdankt sich dem Eingehen auf Fremdes, das sich uns entzieht. Eben dies bezeichne ich als Antworten, als Response. Die Instanz, die in der Moderne den Titel ›Subjekt‹ trägt, tritt vorweg als Patient und als Respondent auf, also in der Weise, daß ich beteiligt bin, aber nicht als Initiator, sondern als jemand, der buchstäblich bestimmten Erfahrungen unterworfen ist, als Subjekt in jenem unüblichen Wortsinn, den Lacan und Levinas sich zunutze machen.“ (A.a.O.: 45)
Das Antworten, das Waldenfels mit dem Begriff Response zu fassen sucht, bedeutet ganz allgemein „ein Eingehen auf einen Anspruch, der sich erhebt und von anderswoher kommt.“ (Waldenfels 1994: 188; Herv. i.O.) Der Anspruch hat
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für Waldenfels einen appellativen Charakter. Er fordert einerseits dazu auf und heraus, auf ihn zu antworten, was nie bruchlos gelingt, weil das Widerfahrnis in etwas verwandelt wird, worauf geantwortet wird und andererseits fordert der Anspruch dazu auf, überhaupt zu antworten. Mit dem Hinweis auf das Eingehen auf einen Anspruch erweitert Waldenfels den Bedeutungsumfang des Antwortens gegenüber dem konventionellen Sprachgebrauch. Denn das gewohnte Verständnis des Antwortens hebt darauf ab, dass der in einer Frage erfragte Antwortgehalt sprachlich übermittelt wird. Linguistisch ausgedrückt geht es beim Antworten also darum, dass der propositionale Gehalt einer Frage, also ihr Inhalt oder der qua Frage erfragte Sachverhalt beantwortet wird. Ein Fragesatz, wie z.B.: ‚Wie komme ich zum Bahnhof?‘ erfährt in dem Antwortsatz, etwa ‚Gehen Sie immer geradeaus und an der Ampel links‘ seine Beantwortung. Antworten in diesem Sinne meint also die „sprachliche Beantwortung einer sprachlich geäußerten Frage.“ (A.a.O.: 320, Herv. i.O.) Waldenfels’ Erweiterung besteht nun darin, dass er zwischen einem solchen Beantworten als Mitteilung oder Übermittlung eines erfragten Fragegehalts und dem Antworten als Akt des Eingehens auf die im Fragesatz laut werdende Aufforderung zu antworten unterscheidet. „Diesen Unterschied, dem im Englischen die Differenz von answer und response bzw. reply entspricht, fasst Waldenfels terminologisch durch die Unterscheidung von ,Beantworten‘ und ,Antworten‘. Antworten meint auf dieser ersten Stufe der Ausweitung also das ,sprachliche Eingehen auf den Frageanspruch, der sich in der Frage als Aufforderung kundtut‘ (AR 321).“ (Feiter 2010: 148, Herv. i.O.)
Für Waldenfels geht aber der Anspruch des Fremden über jede mögliche zu gebende Antwort hinaus. Anders formuliert: Das Be-anspruchte geht nicht in der Antwort auf, weil das Worauf des Antwortens vom Wovon des Getroffen-seins, dem der Anspruch entspringt, zu unterscheiden ist. Trotzdem enthält der originäre Anspruch einen Appell, auf den nicht nicht geantwortet werden kann. Das Eingehen auf die im Fragesatz laut werdende Aufforderung zu antworten und nicht anders zu können, lässt sich als eine Art ‚Antwortlichkeit‘ verstehen, die mit dem pathischen Widerfahrnis des Fremden untrennbar verbunden ist. Gleichzeitig begreift Waldenfels diese Verbindung als Bruch zwischen Anspruch und Antwort. Waldenfels’ Responsivität zielt also einerseits auf eine Art Unausweichlichkeit des Antwortens ab, die damit zusammenhängt, dass eine jede Frage, sobald sie gehört wird und alleine dadurch, dass sie gehört wird, ein ‚Sich-verhalten-zu‘ der Frage oder ein ‚Eingehen auf‘ die Frage nach sich zieht bzw. impliziert. Dieses ‚sich-verhalten zu‘ oder ‚eingehen auf‘, sei es ein
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Nicken oder Kopfschütteln, sei es die Zornes- oder Schamesröte, die aufsteigt, das Stellen einer Gegenfrage, das viel zitierte beredte Schweigen oder auch das Ignorieren und Hinweggehen über die Frage; alle diese Phänomene lassen sich mit Waldenfels als Response begreifen, also als ein Geschehen, das auf unterschiedliche Art und Weise auf einen Anspruch eingeht, insofern es von ihm seinen Ausgang nimmt. Das alte Sprichwort, nach dem ‚Keine Antwort auch eine Antwort‘ sei, trifft vor diesem Hintergrund recht gut dasjenige, was Waldenfels mit dem responsiven Geschehen angesichts eines Widerfahrnisses in den Blick zu bringen sucht. Wie in den eben genannten Beispielen anklingt, reduziert Waldenfels das Antworten nicht auf verbalsprachliche Phänomene. Er verstünde auch das Zucken der Mundwinkel, die Verfärbung der Gesichtsfarbe, die Stimmlage oder parasprachliche Ausdrucksformen wie ein Knurren oder Seufzen als ein responsives Geschehen, weil es sich als ein Eingehen auf einen Anspruch verstehen lässt. Waldenfels weist in einer Fußnote darauf hin, dass er die Ausdrücke Responsivität und Response der Medizin und der nichtbehavioristischen Verhaltenspsychologie entlehnt (vgl. z.B. GMPF 2006: 57, Waldenfels 1985: 132). Der Anspruch des Fremden provoziert zwar eine Antwort, allerdings nicht im Sinne eines unkonditionierten Reizes, der, obwohl nicht antrainiert, stets eine ganz bestimmte und nur diese Reaktion hervorruft und sich deshalb innerhalb des Schemas von Reiz und Reaktion ausdrücken lässt. Waldenfels’ Unterscheidung zwischen Beantworten (answer) und Antworten (response) kann in ihrem Grundzug m.E. deutlicher werden, wenn man sich Differenzierungen vor Augen führt, die in Fremdsprachen wie beispielsweise im Englischen oder Französischen geläufiger sind als im Deutschen: So wird im Englischen bekanntlich zwischen to listen und to hear in ähnlicher Weise unterschieden wie im Französischen zwischen écouter und entendre. Ein äquivalenter Unterschied lässt sich zwar auch in den deutschen Verben zuhören und hören ausdrücken, wird dort allerdings lediglich durch ein Präfix markiert und tendiert daher zumindest in alltagssprachlichen Redeweisen dazu, zu verwässern. So kann beispielsweise die Äußerung: ‚Ich habe gehört, was Du gesagt hast‘ sowohl meinen, dass die Signale eines Senders beim Empfänger akustisch angekommen sind, also auf der Ebene der Sinneswahrnehmung gehört wurden, als auch, dass der Rede des Senders mit gerichteter Aufmerksamkeit zugehört wurde. Im Englischen und Französischen würden für den ersten Fall die Verben to hear bzw. entendre eingesetzt, für den zweiten Fall to listen bzw. écouter. Strukturell Ähnliches gilt im Übrigen für den Unterschied von to see und to watch (frz. voir und regarder, dt. sehen und zusehen bzw. ansehen). Es geht hier um eine Unterscheidung, die in Bezug auf Wahrnehmungsphänomene getroffen
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werden kann: Während das Zuhören (to listen, écouter) die bewusst gerichtete Wahrnehmungsaufmerksamkeit bezeichnet, betont das Hören (to hear bzw. entendre) eher die ungerichtete, grundsätzliche Aufnahmefähigkeit des Ohrs in seiner Funktion als Sinnesorgan. Nicht von ungefähr weist die Redewendung ‚Ich bin ganz Ohr‘ auf eine Aufmerksamkeitsspanne hin, die über das bloße Funktionieren des einzelnen Körper-Organs hinausgeht. Dem schrillen und plötzlichen Schrei oder dem Donner kann in diesem Sinne nicht zugehört werden (to listen, écouter). Er wird vielmehr gehört (hear, entendre) und kann nicht nicht gehört werden, weil das Organ Ohr sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass es zumindest im Wachzustand grundsätzlich aufnahmebereit und in diesem Sinne stets auf Empfang gestellt ist. Der Schrei, sofern er plötzlich und unerwartet einschlägt, erhebt einen Anspruch, der nach einer Response (Antwort) verlangt. Die Response zeichnet sich dadurch aus, dass sie, ähnlich wie eine körperliche Reaktion, ein Verhalten darstellt, das sich nicht der Initiative des Getroffenen verdankt, ohne dadurch eindeutig determiniert zu sein. Waldenfels selbst formuliert: „Das Antworten, das als response über jede bloße answer ähnlich wie die Verneinung über das negative Urteil hinausgeht, trägt dazu bei, daß etwas zur Sprache kommt, daß etwas Beachtung findet, daß etwas uns anspricht. Der Anspruch, der im Imperativ seinen Ausdruck findet, hat als solcher keinen Sinn, und er folgt keiner Regel. Darin gleicht er allem, was Beunruhigung, Staunen oder Erschrecken auslöst.“ (TdF: 119, Herv. i.O.)
Dass der fremde Anspruch keiner Regel folge, weist darauf hin, dass sich das Antworten nicht im Sinne einer regelhaft eintretenden und vorhersehbaren Reaktion wie in einem Reiz-Reaktions-Schema fassen lässt. Trotzdem geht es in der Response um eine körperlich-sprachliche oder körpersprachliche Reaktion, um ein sprachliches Verhalten in einem weiten Sinne. Waldenfels unterscheidet insgesamt drei verschiedene Reaktionsformen auf den pathisch gefärbten Anspruch des Fremden. Die erste Form beruht auf der Gleichsetzung von Fremdem und Feind. Diese Reaktion kann als Bewegung des Ausschlusses oder der Exklusion des Fremden verstanden werden. Eine zweite Form stellt die Bewegung der Aneignung des Fremden dar. Diese Reaktion zeichnet sich dadurch aus, dass ein pathisches Widerfahrnis eingeebnet wird, indem es einer bestehenden Ordnung subsummiert wird, die als Norm fraglos vorausgesetzt wird, wie im Fall des Ereignisses aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften, das als Verkehrsunfall in die Ordnung der Unfallstatistiken und routinemäßigen Abläufe der Hilfsmaßnahmen eingeschrieben und dadurch normalisiert wird. Während diese beiden Reaktionsformen dem Fremden
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tendenziell gewaltförmig begegnen, markiert Waldenfels eine dritte Reaktionsform, die er Antworten auf den Anspruch des Fremden nennt. Allerdings gebe es auch beim Antworten Formen, die einen reproduktiven Charakter haben, weil sie einen bereits existierenden Sinn und eine bestehende Ordnung wiedergeben und stabilisieren. Deshalb stellt Waldenfels eine weitere Antwortform heraus, die er produktiv oder kreativ nennt, weil sie Neues hervorbringt (vgl. zu den verschiedenen Reaktionen auf Fremdes und den Antwortformen: TdF: 45-53). Entscheidend für die kreative Antwort auf den Anspruch des Fremden ist, dass sie weder dem getroffenen Subjekt noch dem treffenden Objekt zugeordnet werden kann, sondern zwischen beiden entsteht. „Berücksichtigen wir die Möglichkeit, daß im Antworten nicht bloß ein existierender Sinn wiedergegeben wird, weitergegeben oder vervollständigt wird, sondern daß im Gegenteil Sinn im Antworten selbst entsteht, so stoßen wir auf das Paradox einer kreativen Antwort, in der wir geben, was wir nicht haben. Kleists Verfertigung der Gedanken in der Rede entspräche eine Verfertigung von Gedanken im Antworten. Das Ereignis des Antwortens definiert sich nicht durch das Ich des Sprechers, sondern das Ich bestimmt sich umgekehrt durch das Antworten als Antwortender. Wo neuartige Gedanken entstehen, gehören sie weder mir noch dem Anderen. Sie entstehen zwischen uns. Ohne dieses Zwischen gäbe es keine Inter-subjektivität und Inter-kulturalität, die ihren Namen verdient.“ (A.a.O.: 53) 12
Aller Vorsicht zum Trotz mögen die bisherigen Rekonstruktionen den Eindruck erwecken, dass Waldenfels das Verhältnis von Pathos und Response letztlich kausallogisch und linear chronologisch begreift, also in etwa: Das Fremde bricht zunächst störend in eine gegebene Ordnung ein, zeigt sich also, indem es sich ihr entzieht. Dieser Einbruch widerfährt oder geschieht dem Subjekt, das ihn im Sinne des Pathos passiv erleidet. Aus diesem Einbruch folgt ein nicht zu negierender Anspruch, der somit die Ursache für die Response darstellt, die dem Widerfahrnis im Sinne einer chrono-logischen, das heißt einer zeitlogisch linearen Wirkung folgt. Die Response kann dann wiederum verschiedene Formen annehmen, nämlich reproduktive oder produktive bzw. kreative, wobei letztere weder mir noch dem anderen gehören und am Angemessensten auf den Anspruch des Fremden antworten. Diese Rekonstruktion der Erfahrung des Fremden in einer quasi kausallogischen Wirkungskette kommt dem gewohnten
12 Aus bildungstheoretischer Perspektive ließe sich formulieren: Wo neuartige Welt- und Selbstentwürfe entstehen, gehören sie weder mir noch dem Anderen. Sie entstehen zwischen uns. Ohne dieses Zwischen gäbe es keine neuartigen Welt- und Selbstentwürfe, die den Namen Bildung verdienen.
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Denken entgegen und erscheint deshalb einleuchtend. Waldenfels betont jedoch, dass eine solche Auffassung einen synthetisierenden Begriff des logos voraussetzt, eine Logik, die es ausgehend von der Rätselhaftigkeit des Fremden gerade zu befragen gilt: „Schwer auszurotten ist die Neigung, immer dann, wenn uns etwas zustößt, den einen Teil auf kausale Außeneinwirkungen, den anderen Teil auf spontane Freiheitsakte zurückzuführen, als ginge es auch hier um Amboß oder Hammer, um Leiden oder Triumphieren. Wenn es etwas gibt, das uns von dieser Alternative abbringt, so ist es die genuine Zeitlichkeit, die das Doppelgeschehen von Pathos und Response durch und durch prägt.“ (GMPF: 49)
Zur Erläuterung der spezifischen Zeitlichkeit wählt er den Begriff der Diastase, den er wie folgt einführt: „Zwischen mir und dem Anderen, zwischen uns und den Anderen, zwischen Eigenem und Fremdem geschieht etwas, was weder auf die Initiative und das Vermögen einzelner Individuen oder Gruppen, noch auf eine vermittelnde Ordnungsinstanz, noch auf codierte Regelungen zurückgeführt werden kann. Es geschieht etwas zwischen uns, was uns aufschreckt, anrührt, angeht, anspricht, was trennend verbindet und verbindend trennt. Für dieses Zwischengeschehen wähle ich den Ausdruck Diastase.“ (BLdE: 174)
Im altgriechischen Vokabular bedeutet das Verbalsubstantiv Diastasis wörtlich ein Auseinanderstehen oder ein Auseinandertreten, das sprachlich mit dem Aus-sich-herausgehen der ekstasis verwandt ist. In Waldenfels’ Zusammenhang bezeichnet das Wort Diastase „die Gestaltungskraft der Erfahrung, die etwas oder jemanden entstehen läßt, indem sie auseinandertritt, sich zerteilt, zerspringt.“ (A.a.O.: 9) Mit dem Wort Diastase ist daher kein Auseinandertreten von etwas bereits Vorhandenem gemeint, das beispielsweise in Form einer ursprünglichen Einheit bestanden hätte und erst dann gespalten worden wäre und in diesem Sinne auseinandertreten würde. Stattdessen geht es um ein Zwischengeschehen, in dem etwas Neues, z.B. eine Unterscheidung allererst entsteht, die sich aus keiner ursprünglichen Einheit ableiten lässt und in keiner Synthese auflösen lässt, sondern den Zusammenhang als einen gebrochenen allererst hervorbringt. So in etwa lässt sich vielleicht die Formulierung von der trennenden Verbindung und der verbindenden Trennung des Doppelereignisses Pathos und Response verstehen, die mit dem Begriff der Diastase zur Sprache gebracht wird. Waldenfels selbst vermeidet es, den zuvor erwähnten
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„Doppelaspekt von Worauf und Wovon wiederum als Differenz zu fassen. Statt dessen spreche ich von einer Urdiastase, einem genuinen Auseinandertreten. Hier klafft ein Spalt auf inmitten des Geschehens, dem eine Welt, Andere und ich selber entspringen.“ (A.a.O.: 60)
Pathos und Response zeichnen sich als Kennzeichen der Erfahrung des Fremden für Waldenfels dadurch aus, dass sie in einer Weise originär oder genuin auseinandertreten, die allererst einen Zusammenhang hervorbringt und zwar einen gebrochenen (vgl. GMPF: 49). Wenn man diesen diastatischen Charakter nicht berücksichtigt, so Waldenfels’ These, verwickele man sich in Ungereimtheiten, weil man genötigt ist, einen Referenten X zu unterstellen, beispielsweise das Subjekt, das mit zwei Attributen versehen wird oder unter zwei Aspekten auftritt, nämlich einmal unter dem Aspekt des Getroffenen, also als Patiens und einmal als antwortender Agens. „Es stimmt zwar, wir antworten auf das, wovon wir getroffen sind, und wir sind von dem getroffen, worauf wir antworten, doch beides geschieht in eins, wenngleich in einer zeitlichen Verschiebung, die eben aus der Antwort ein nachträgliches, aus dem Widerfahrnis ein vorgängiges Ereignis macht.“ (BLdE: 60)
Das Fremde zwischen Pathos und Response als diastatisches Geschehen zu begreifen kann für ihn deshalb nicht heißen, sie als statische Pole zu begreifen. Eine solche Auffassung würde die Bewegungen des Fremden zwischen Pathos und Response verfestigen, also die Bewegung in einen Zustand überführen, sodass das Zwischen lediglich einen bloßen 'Ab-stand' bezeichnete. „Das Zwischen ist anders zu denken: als Riß ohne etwas, das zerreißt, als Spalt ohne etwas, das sich aufspaltet, als Pause, ohne etwas, das aufhört und wieder beginnt, als Abweichung, ohne etwas, das abweicht – und so eben auch als Diastase, ohne etwas, das auseinandertritt. ,›Diastase‹ bezeichnet einen Differenzierungsprozess, in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht.‘ (AR 335)“ (BLdE 2002: 174, Herv. i.O.)
Anhand dieses Zitats lässt sich bemerken, dass der Versuch, die vielfältigen logoi vom dia her zu denken, gewohnte Vorstellungen irritiert. Denn die benannten Phänomene Riss, Spalt, Pause, Abweichung und Auseinandertreten gewinnen ihre gewohnte Bedeutung, man könnte vielleicht sogar sagen, ihre Definition doch allesamt durch jene Bezugsgrößen oder Voraussetzungen, die Waldenfels hier eine nach der anderen aus ihrer gefestigten, weil logisch vorausgesetzten Position löst. Das Zwischen, so wie Waldenfels es denkt, trennt und
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verbindet nicht etwas bereits Bestehendes, sondern bringt es qua verbindender Trennung und trennender Verbindung geradezu umgekehrt allererst hervor. Das Zwischen, wie es hier aufgefasst wird, birgt in diesem Sinne ein kreatives, gestaltendes Potenzial. Die Produktivität des Fremden besteht vor diesem Hintergrund darin, dass es einen Differenzierungsprozess in Gang bringt, in dem das, was unterschieden wird, als Unterschiedenes und Unterscheidbares allererst hervorgebracht wird. Mit dem diastatischen Auseinandertreten in ein vorgängig pathisches Widerfahrnis und eine nachträglich responsive Antwort sucht Waldenfels eine Zeitlichkeit der Erfahrung des Fremden zu denken, die dem Anspruch nach über das lineare Zeitschema der klassischen Physik hinausgeht. „Das lineare Zeitschema, das der Kausalitätsauffassung der klassischen Physik zugrunde liegt, versagt, wenn das Getroffensein nachträglich eine Geschichte erzeugt, indem es auf das Vergangene zurückstrahlt.“ (GMPF: 50)
Es lässt sich an dieser Stelle einwenden, dass das Widerfahrnis auch dann linear strukturiert bleibt, wenn der Zeitstrahl nicht nur in eine Richtung verläuft. Nimmt man jedoch den Hinweis auf die Kausalitätsauffassung der klassischen Physik hinzu, nach der die Wirkung (zum Zeitpunkt t2) logisch und chronologisch auf eine Ursache (zum früheren Zeitpunkt t1) folgt und nicht umgekehrt, dann wird der Grundgedanke deutlicher. Linearität ist in diesem Sinne als einsinnige, also unilineare Gerichtetheit zu begreifen und über eben diese Logik geht das hinaus, was Waldenfels mit der Diastase in den Blick zu bringen sucht. Denn die Ursache wird nachträglich hervorgebracht und ist insofern als Wirkung des Späteren auf das Frühere zu verstehen. Die scheinbare Wirkung, also die Response, so ließe sich interpretieren, bringt ihre eigene Ursache, nämlich das pathische Widerfahrnis durch seine Verwandlung in dasjenige, worauf geantwortet wird, zeitlich verschoben allererst hervor. Die grammatikalische Zeitform der Nachträglichkeit ist das Futur II: Das pathische Widerfahrnis ist, was es durch die Response gewesen sein wird. In diesem Sinne bewirkt das Spätere das Vorherige und so wird die Rede von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit nachvollziehbar. Waldenfels selbst zieht zur Verdeutlichung seines Arguments auch hier das literarische Beispiel des Verkehrsunfalls aus Musils Roman heran. Denn das Passantenpaar komme erst hinterdrein dazu, schon vorher war etwas aus der Reihe gesprungen: „Das Widerfahrnis zeichnet sich offensichtlich dadurch aus, daß es zu früh, die Response dadurch, daß sie zu spät kommt, aber zu früh und zu spät, gemessen woran? Gewiß nicht
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an dem Ereignis selbst, das gerade in dieser zeitlichen Verschiebung hervortritt und nirgends sonst.“ (A.a.O.: 49)
Für Waldenfels resultiert daraus eine verschobene Zeitlichkeit, denn es gibt keine Möglichkeit, auf das Widerfahrnis des Fremden zu warten, es zu erwarten, um es sozusagen „in flagranti“ (ebd., Herv. i.O.) zu fassen zu bekommen, weil dann eben nichts Ungewöhnliches vorgefallen wäre. Vielmehr schlägt die nachträgliche Antwort auf das pathische Widerfahrnis zurück und macht es allererst zu dem, worauf geantwortet wird ohne dadurch dasjenige aufzuheben, was es darüber hinaus ‚war‘. Nachdem nun einige Grundzüge der Waldenfels’schen Überlegungen zum Fremden zwischen Pathos und Response nachgezeichnet wurden, geht es im nächsten Schritt um die Frage, worin ihr Beitrag zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse bestehen könnte.
4.3 B ILDUNGSTHEORETISCHE W ENDUNGEN Aus einer bildungstheoretischen Perspektive lässt sich die Bedeutung der Waldenfels’schen Konzeption des Fremden zunächst darin sehen, dass sich die Grundfiguren des Welt- und Selbstentwurfs als Ordnungen präzisieren lassen, in denen wir wahrnehmen, interpretieren und handeln. Welt- und Selbstentwürfe als jener Gegenstand, der in Bildungsprozessen eine Veränderung erfährt, lassen sich mit Waldenfels als Ordnungsgefüge begreifen, die uns ermöglichen, Phänomene einzuordnen, zu deuten und uns zu ihnen verhalten. Eben diese Ordnungen geraten in der Konfrontation mit dem Fremden in eine Krise, insofern sich das Fremde dadurch auszeichnet, dass es sich jenen Ordnungen entzieht. Es lässt sich daher festhalten, dass sich der Anlass oder die Herausforderung von Bildungsprozessen mit Waldenfels so denken lässt, dass vorhandene Ordnungen grundlegend irritiert werden und in diesem Sinne in eine Krise geraten. Auch auf die Frage, wie neue Figuren des Welt- und Selbstentwurfs entstehen, lässt sich ausgehend von Waldenfels’ Überlegungen eine erste Antwort formulieren: Die Entstehung neuer Figuren des Welt- und Selbstentwurfs wäre im Unterschied zu Umgangsweisen mit dem Fremden, die es vereinnahmen oder ausschließen und damit die vorhandenen Ordnungen letztlich aufrecht erhalten, als eine kreative Antwort auf den Anspruch des Fremden zu begreifen. Neue Figuren des Welt- und Selbstentwurfs zeichnen sich aus dieser Perspektive dadurch aus, dass sie nicht von einem Subjekt im Sinne eines Aktivitätszentrums
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des Antwortens hergestellt werden, sondern in einer Zwischensphäre zwischen mir und dem anderen hervorgebracht werden, die keinem von beiden gehört.13 Der Anlass oder die Herausforderung für Bildungsprozesse besteht insofern in einer Irritation oder besser einer radikalen Infragestellung jener Ordnungsfiguren, die den vorhandenen Welt- und Selbstentwurf grundieren. Allerdings meint die radikale Infragestellung durch das Fremde nicht etwa das Vorhandensein eines absolut Fremden. Während das Fremde eine vorhandene Ordnung nur deshalb in Frage stellen kann, weil Ordnungen bestimmte Möglichkeiten selektieren und andere ausschließen, wäre das absolut Fremde nichts, das sich zeigen könnte, nicht einmal als Entzug. Bildungstheoretisch formuliert: Welt- und Selbstentwürfe zeichnen sich durch ihren Ordnungs- und Orientierungscharakter aus, also dadurch, dass sie selektieren und bestimmte Möglichkeiten ausschließen. Diese Grundstruktur ist die Vorbedingung dafür, dass sich überhaupt etwas dem Zugriff der Ordnung entziehen kann. Das Vorhandensein begrenzter und kontingenter und in diesem Sinne relativer Ordnungen ist vor diesem Hintergrund die Bedingung der Möglichkeit für Bildungsprozesse. Gleichzeitig konfrontiert das Fremde als Herausforderung einer Veränderung von Welt- und Selbstentwürfen mit einer originalen Unzugänglichkeit, die auch vor dem eigenen Selbst nicht Halt macht. Wenn das Fremde sich auch intrasubjektiv zeigt, indem es sich uns entzieht, dann kann auch das Widerfahrnis eines solchen Selbstentzugs Bildungsprozesse herausfordern, sodass der Selbstentzug nicht in ein stummes Schweigen treibt (z.B. weil man ja doch nie zu sich selbst kommen kann), sondern vielmehr umgekehrt, gerade wegen dieser Unzugänglichkeit erfinderische Antworten im Sinne neuer Welt- und Selbstentwürfe provoziert. Mit Waldenfels lässt sich die spezifische Eigenart von Erfahrungen, die Bildungsprozesse herausfordern, noch weiter präzisieren: Er begreift die Ordnungsstörung, die das Fremde bedeutet, als ein pathisches und responsives Doppelereignis. Veränderungen grundlegender Figuren des Welt- und Selbstentwurfs im Sinne des Erfindens kreativer Antworten auf den Anspruch des Fremden sind aus dieser Perspektive mit einem vorgängigen, pathischen Getroffensein verbunden. Das Verhältnis zwischen Pathos und Response zeichnet sich durch seine gleichzeitige relative Verschränkung und radikale Differenz aus. Bildungsprozesse werden vor diesem Hintergrund durch Erfahrungen herausgefordert, deren Bedeutung sich radikal entzieht und die dennoch bewirken, dass es etwas zu sagen gibt.
13 Diese grundsätzlichen Aspekte der bildungstheoretischen Bedeutung der Waldenfels’schen Konzeption des Fremden sind bereits von verschiedenen Autoren thematisiert worden (vgl. dazu z.B. Kokemohr 2007: 27-32 und Koller 2012: 79-86).
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Mit dem Wort Pathos gerät der treffende, verletzende Charakter des Anlasses von Bildungsprozessen in den Blick, eine Verletzung, die uns widerfährt und passiv erlitten wird. Sie kommt unserer Eigeninitiative zuvor und wir sind ihr in diesem Sinne ausgesetzt. Die Ordnungsstörung gegebener Welt- und Selbstentwürfe stellt damit keine bloß kognitive Herausforderung dar und auch kein Problem, das sich etwa bloß praktisch regulieren ließe. Diese Ordnungsstörung bedeutet vielmehr eine Zumutung, weil sie mit einem Ordnungs- und Orientierungsverlust einhergeht, der mit dem Wort Pathos auf der Ebene seiner affektiven Wirkungen hervorgehoben wird. Hierbei lässt sich in Anlehnung an Waldenfels annehmen, dass die Intensität der Affekte in einem engen Zusammenhang mit dem verwandelnden oder verändernden Potenzial von Erfahrungen steht. Bildungstheoretisch gewendet bedeutet das, dass der Anlass für Veränderungen grundlegender Figuren des Welt- und Selbstentwurfs eine starke affektive Färbung aufweist. Bemerkenswert und zu ergänzen ist an dieser Stelle mindestens zweierlei: Erstens, dass jene Widerfahrnisse, die uns laut Waldenfels grundlegend verwandeln, in Gestalt ambivalenter Affekte auftreten. Das heißt, dass sie sowohl Staunen als auch Schrecken auslösen, Freude und Trauer wecken und sich in Hoffnung und Furcht ankündigen (vgl. Waldenfels 1991: 122). Das Fremde als Anlass von Bildungsprozessen zu begreifen heißt also auch, dass er in ambivalenten Affektkonstellationen einen Ausdruck findet. Zweitens stellt sich jedoch aus bildungstheoretischer Perspektive die Frage, welche spezifischen Affekte und welche spezifische Ambivalenz in Bildungsprozessen auf welche Art und Weise eine Rolle spielen könnte. 4.3.1 Zum Fremden als Herausforderung oder Verheissung zukunftsoffener Möglichkeit Auch Waldenfels’ Erinnerung an das alte Sprichwort, in dessen Übersetzung das Wort ‚Lernen‘ auftaucht, ist aus bildungstheoretischer Perspektive interessant: Das pathische Moment der Erfahrung des Fremden im Sinne eines Widerfahrnisses, das zustößt, würde, bildungstheoretisch gesprochen, die zukunftsoffene Möglichkeit einer Veränderung grundlegender Figuren des Welt- und Selbstentwurfs verheißen. Das heißt, dass eine Möglichkeit durch das pathische Getroffenwerden eröffnet wird, die in ihrer Realisierung oder Verwirklichung jedoch ungewiss bleibt. Dass Bildungsprozesse durch Fremdes veranlasst werden, wäre demnach so zu verstehen, dass die pathische Dimension des Fremden Veränderungen von Welt- und Selbstentwürfen lediglich als Möglichkeit eröffnet. Das Fremde als Anlass für Bildungsprozesse zu begreifen heißt vor diesem
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Hintergrund nicht, dass ein kausal-logischer, mechanischer Prozess in Gang gesetzt wird. Anders als ein Zündschlüssel, der den Automotor automatisch in Bewegung bringt, sofern alle weiteren kausal-logischen Bedingungen erfüllt sind, also z.B. Bedingungen wie ein funktionierender Anlasser, genug Benzin im Tank, funktionierendes Getriebe etc., führt das Fremde keineswegs im Sinne einer Ursache-Wirkungsrelation quasi automatisch zu veränderten Welt- und Selbstentwürfen. Bildungstheoretisch formuliert bedeutet das, dass das Fremde eher als eine Herausforderung für Transformationen, denn als ein Anlass im Sinne des mechanistischen Zündschlüssel-Beispiels zu bestimmen wäre. Der Begriff Herausforderung hat den Vorteil, dass er den Aspekt der Zumutung stärker akzentuiert und die Möglichkeit eines Scheiterns impliziert. Herausforderungen können auch nicht angenommen werden, trotzdem enthalten sie ein provozierendes und anregendes Potenzial. Die pathische Dimension des Fremden lässt sich also so verstehen, dass neue Welt- und Selbstentwürfe im Sinne neuer Antworten herausfordert werden, die sich als zukünftig Mögliche eröffnen und sich neue Ordnungsmöglichkeiten auftun, die realisiert werden können, aber eben nicht müssen wie es die Rede vom Anlass stärker nahe legt. Zwar wurde das pathische Moment des Fremden als etwas rekonstruiert, auf das nicht nicht reagiert werden kann, allerdings wurde ebenso darauf hingewiesen, dass auf den Anspruch des Fremden auch anders als kreativ geantwortet werden kann. In Bezug auf Bildungsprozesse ginge es um die Erfindung kreativer Antworten auf den fremden Anspruch und nicht um reproduzierende Antworten. Allerdings sollte das Fremde als Herausforderung oder Anlass von Bildung nicht vorschnell als Verheißung begriffen werden. Denn die im Wortfeld des Begriffs Verheißung enthaltenen theologischen Konnotationen legen Assoziationen zu Begriffen wie Heilserwartung oder Prophezeiung nahe, die arge Nebengeräusche produzieren und in metaphysische Diskussionen führen können, die den Zusammenhang von Bildung sprengen und vermutlich in die Irre führen würden. Festzuhalten ist jedoch der Grundgedanke, dass die Herausforderung für Bildungsprozesse mit Waldenfels nicht im Sinne einer kausal-logischen oder finalistischen Ursache-Wirkungs- Beziehung zu verstehen ist, sodass Bildung als mehr oder weniger automatisches Resultat eines pathischen Widerfahrnisses zum Vorschein käme. Stattdessen erscheint es angemessener, im skizzierten Sinne von einer Herausforderung zukunftsoffener Möglichkeiten zu sprechen, die in ihrer Verwirklichung offen bleibt. Dieser Aspekt ist von Belang, weil damit jenen pädagogischen und bildungspolitischen Positionen ein Argument entgegengehalten werden kann, die Bildung als ein herstellbares Produkt oder einen kausallogisch planbaren Vorgang begreifen.
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4.3.2 Zur bildungstheoretischen Bedeutung des diastatischen Charakters von Pathos und Response Waldenfels’ Denkfigur der Diastase zwischen Pathos und Response ist herausfordernd für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse insofern sie die Frage nach der zeitlichen Struktur der Veränderung von Welt- und Selbstentwürfen aufwirft. Zur Erinnerung: „Pathos und Response folgen nicht aufeinander wie zwei Ereignisse, es handelt sich überhaupt nicht um zwei Ereignisse, sondern um eine einzige gegenüber sich selbst verschobene Erfahrung, eben um eine genuine Zeitverschiebung.“ (GMPF: 50)
Möglicherweise verlaufen Bildungsprozesse nicht chronologisch-unilinear, sondern vollziehen sich in einer Struktur von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit, in der das Spätere (die Response, der neue Welt- und Selbstentwurf) auf das uneinholbar Frühere (das Widerfahrnis als die Irritation des ‚vorhandenen‘ Welt- und Selbstentwurfs) wirkt. Zum anderen könnten die vorhandenen Welt- und Selbstentwürfe im Lichte der Waldenfels’schen Überlegungen als etwas zu begreifen sein, das durch die Erfahrung des Fremden allererst als bewusst bemerkbarer, eigener Welt- und Selbstentwurf zum Vorschein kommt und so einer Reflexion zugänglich werden kann. Bildungsprozesse wären demnach nicht so aufzufassen, dass eine bestimmte Form oder Ordnung, ein gegebener Welt- und Selbstentwurf a) schlicht besteht, in den das Fremde ordnungsstörend einbricht und sich prozessual ein neuer, nun veränderter und der Problemlage angemessener Welt- und Selbstentwurf b) formiert. Der bildungstheoretisch herausfordernde Punkt besteht darin, dass der diastatische Charakter des Fremden, wie Waldenfels ihn andeutet, eine für das Denken ungewohnte Zeitlichkeit in den Blick bringt. Es gibt m.E. mindestens zwei Möglichkeiten, die Figur der Diastase bildungstheoretisch zu wenden: Die erste Möglichkeit besteht darin sie so aufzugreifen, dass zwischen dem pathischen Anspruch des Fremden und der responsiven Antwort auf das Fremde unterschieden wird. Diesem Auseinandertreten entspräche bildungstheoretisch die pathisch gefärbte, ordnungsstörende Irritation des Welt- und Selbstentwurfs einerseits und die kreativ-responsive Erfindung eines neuen Welt- und Selbstentwurfs andererseits. Die zweite Möglichkeit besteht darin, den Gegenstand von Bildungsprozessen, also die Welt- und Selbstentwürfe als etwas aufzufassen, das durch das Fremde in gewisser Hinsicht allererst entsteht. Die Diastase als einen Differenzierungsprozess zu verstehen, in dem das, was unterschieden wird,
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allererst entsteht, heißt dann, dass die eigenen, selbstverständlichen und selbstevidenten Welt- und Selbstentwürfe als von anderen unterschiedene und bewusst unterscheidbare durch das Fremde allererst zum Vorschein kommen können. Die Waldenfels’sche Figur würde dann nicht mit dem Anspruch des Fremden einerseits und den veränderten Welt– und Selbstentwürfen andererseits parallelisiert, sondern auf die für das Bewusstsein bemerkbar entstehenden Welt- und Selbstentwürfe und in diesem Sinne entstehenden bezogen. Warum dieser Gedanke? Grund legende Figuren des Welt- und Selbstentwurfs im Sinne vorhandener Ordnungsfiguren zeichnen sich möglicherweise vor allem dadurch aus, dass sie aus der Perspektive des ‚Ich‘ selbstverständlich, selbstevident und in diesem Sinne fraglos sind. Wegen dieser fraglosen Selbstverständlichkeit sperren sie sich der bewussten Reflexion. Vielleicht liegen die grundlegenden Ordnungsfiguren den jeweiligen Welt- und Selbstentwürfen wie das Fundament dem Bauwerk oder wie die Grammatik der Muttersprache zugrunde, in deren Ordnung und Regelsystem der Sprechende eingetaucht ist, insofern diese Regeln die Grenzen dessen markieren, was wie gesagt werden kann und was nicht.14 Erst durch die Konfrontation und im Kontrast mit einer fremden Sprache können diese Ordnungsleistungen bemerkbar und reflektiert werden. Das würde bedeuten, dass die konkreten Ordnungen möglicherweise so selbstverständlich verinnerlicht sind, dass sie beständig verdeckt bleiben. Es hieße, dass sich die Ordnungen, um die es in Welt- und Selbstentwürfen geht, geradezu dadurch auszeichnen, dass dem Sprechenden strukturell verdeckt bleibt, was und wie sie je und je selektieren und was und wie sie je und je ausschließen. Erst dadurch, dass sich etwas dem Zugriff der Ordnungen entzieht, kann also zutage treten und in diesem Sinne ‚bewusst‘ werden, dass und welche quasi axiomatischen Figuren den eigenen Welt- und Selbstentwürfen zugrunde liegen. Das Fremde würde insofern eine Art Kontrastfolie darstellen, die grundlegend Eigenes allererst zur Erscheinung bringt, sodass das Eigene, die eigenen Welt- und Selbstentwürfe zumindest in diesem Sinne allererst entstehen. Das heißt, erst durch die Konfrontation mit dem Fremden kann sich die vorhandene Ordnung in ihren konkreten Selektions- und Ausschlussoperationen als kontingente kenntlich machen und erst dadurch kann bemerkbar und reflektierbar werden, was diese Ordnung grundiert. Zur Erinnerung: „ ,›Diastase‹ bezeichnet einen Differenzierungsprozess, in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht‘ (AR 335).“ (BLdE: 174) Auf Bildungsprozesse bezogen hieße das, dass der eigene Welt- und Selbstentwurf durch das Fremde als unterscheidbarer erst bewusst bemerkbar wird.
14 Man könnte vielleicht auch sagen, dass die jeweiligen Grenzen der eigenen Sprache die möglichen Welt- und Selbstentwürfe begrenzen.
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Waldenfels’ Hinweis auf die Entstehung des Unterschiedenen besagt jedoch mehr als es diese bildungstheoretische Interpretation der Bewusstwerdung des eigenen Welt- und Selbstentwurfs nahe legt. Denn dass etwas erst entsteht heißt für ihn nicht nur, dass es zuvor nicht bewusst war, sondern zudem, dass es nicht vorhanden, nicht existent war. Anders formuliert: Entstehen meint für Waldenfels mehr und anderes als bewusst werden. Zumindest in Bezug auf die Frage nach der Herausforderung von Bildungsprozessen erscheint die radikalere Überlegung der Entstehung jedoch bildungstheoretisch kaum zu übersetzen zu sein. Denn hier muss ja bereits eine vorhandene Ordnung vorausgesetzt werden, ein bereits wirksamer und in diesem Sinne schon bestehender Welt- und Selbstentwurf, damit die Ordnung durch das Fremde irritiert werden kann. Möglicherweise trägt Waldenfels’ Figur des diastatischen Entstehens in ihrer Radikalität deshalb weniger zu der Frage nach der Herausforderung der Veränderung von Welt- und Selbstentwürfen bei, sondern mehr zu der Frage nach der Struktur der Entstehung von Welt- und Selbstentwürfen.15 Mit Waldenfels’ Hinweis auf die zeitliche Diastase des Fremden gerät möglicherweise eine grundlegende, kulturelle Ordnungsfigur in den Blick, die die europäisch-abendländischen Welt- und Selbstentwürfe grundiert. Das lineare Zeitschema, das der Kausalitätsauffassung der klassischen Physik zugrunde liegt, erfährt hier selbst eine Ordnungsstörung. Das Fremde wäre aus dieser Perspektive die Bedingung der Möglichkeit einer linear-chronologischen Zeiterfahrung, die sich als kulturell und historisch spezifische Konstruktion zeigt und keineswegs als einzig mögliche. Das Fremde als Herausforderung für Bildung zu denken heißt zudem, dass ihr eine performative Dimension eignet, insofern das Fremde einen Differenzierungsprozess anstößt, in dem das, was unterschieden wird, im Sinne der bewussten Wahrnehmbarkeit der gewohnten und selbstverständlichen Orientierungen, erst entsteht. Wenn man davon ausgeht, dass eigene Welt- und Selbstentwürfe durch das Fremde allererst bewusst bemerkbar werden, dann beunruhigt das Fremde, weil plötzlich die zuvor zwar reflexiv ungewusste, aber stumm vorhandene Grundlage bröckelt, kraft derer ‚Welt‘ und ‚Selbst‘ entworfen werden. Sie bröckelt, weil sie in dem Moment, in dem sie bemerkt wird, zugleich in Frage gestellt wird und zwar dadurch, dass etwas erscheint, das sich der Ordnung entzieht, obwohl es wegen der Selektions- und Exklusionsoperationen, denen sich der
15 Ich komme auf diesen Zusammenhang der Entstehung von Welt- und Selbstentwürfen im Kapitel 5 über das Spiegelstadium von Lacan und über das Angstseminar zurück.
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Welt- und Selbstentwurf bzw. die vorhandene Ordnung verdankt, nicht hätte erscheinen dürfen, aus dem Bereich des Möglichen ausgeschlossen war.16 Die Ordnung zeigt sich angesichts des Fremden als eine grundlose oder kontingente Grundlage und konfrontiert sowohl mit der Bedrohung, im sich öffnenden Abgrund zu versinken als auch mit der zukunftsoffenen und verlockenden Möglichkeit eines neuen Welt- und Selbstentwurfs. Dieser neue, veränderte Welt- und Selbstentwurf wäre vor diesem Hintergrund nicht als Beantwortung, sondern vielmehr als eine Response (eine Antwort) im Waldenfels’schen Sinne zu denken, die kreativ oder reproduktiv ausfallen kann. Allerdings antwortet der veränderte Welt- und Selbstentwurf auf Anderes als auf den genuinen Anspruch des Fremden, der als solcher uneinholbar und original unzugänglich bleibt. Dem Anspruch des Fremden kann man insofern nicht in dem Sinne gerecht werden, dass er sich durch die veränderten Welt- und Selbstentwürfe, also eine neue Ordnung aufheben oder erfüllen ließe. Etwas bleibt fremd. Trotzdem gibt es laut Waldenfels eine Antwortform auf den Anspruch des Fremden, die sich dadurch auszeichnet, dass sie der originalen Unzugänglichkeit des Fremden Rechnung trägt. Waldenfels nennt diese Antwortmöglichkeit wie bereits erwähnt: die kreative Antwort (vgl. Kapitel 3.3). Die Entstehung kreativer Antworten, in denen grundlegende Figuren des Welt- und Selbstentwurfs verschoben oder gelockert werden, wäre im Unterschied zu einem reproduktiven responsiven Geschehen, das vorhandene Ordnungen stabilisiert, als ein Bildungsprozess zu begreifen. Vor diesem Hintergrund wird nun in einem nächsten Schritt weiter präzisiert, wie Waldenfels’ Denkfigur der kreativen Antwort bildungstheoretisch formuliert werden kann. Dieser Schritt erfolgt, indem Kokemohrs diesbezügliche Überlegungen aufgegriffen und diskutiert werden. 4.3.3 Zur kreativen Antwort als Erfindung einer lebbaren Ordnung Kokemohr sieht das bildungstheoretische Potenzial des Waldenfels’schen Fremden vor allem darin, dass das platonische Motiv anwesender Abwesenheit, dass etwas sich zeige, indem es sich uns entziehe, in „ein Handlungs- und Kommunikationsmotiv“ (Kokemohr 2007: 31) übersetzt werde. Kommunikation wird jedoch nicht als ein Geschehen gedacht, das ein vollständiges, wechselseitiges Verstehen des Anderen ermöglicht, weil eine solche Auffassung gerade jenen gemeinsamen Boden voraussetzt, den es zu befragen gilt und der durch das
16 In Bildungsprozessen geht es insofern um das Unheimliche. Vgl. dazu Kapitel 5.5-5.6.
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Fremde fraglich wird. Der Verstehbarkeit des Fremden ist die Grenze seiner originalen Unzugänglichkeit konstitutiv eingeschrieben, eine Grenze, die gleichzeitig Antworten herausfordert und antreibt. „Auf die Beunruhigung durch das Fremde antworten heißt hier, das mich ansprechende Fremde als erregenden Eingriff in meine Ordnung zu erfahren und jede Antwort, die ich zu geben versuche, als Moment eines Prozesses zu entwerfen, in dem ich dem, was sich den Figuren meiner Ordnung entzieht, eine andere Gestalt zu geben suche, eine Gestalt, unter deren Gebot ich, wissend, dass sie als Gestalt aus dem Erregungspotenzial meiner Ordnungsfiguren dem Anspruch des Fremden nie in seiner originalen Unzugänglichkeit entsprechen kann, eine für den Anderen und für mich lebbare Ordnung zu entwerfen suche.“ (A.a.O.: 32)
Diese Zeilen lassen sich m.E. als Kokemohrs bildungstheoretische Formulierung dessen lesen, was bei Waldenfels die kreative Antwort auf den Anspruch des Fremden genannt wird. Kokemohr weist darauf hin, dass das mich ansprechende Fremde als ein erregender Eingriff in meine Ordnung erfahren wird. Mit diesem Hinweis wird das Motiv des pathischen Moments des Fremden als Ordnungsstörung aufgenommen, das das Potenzial jenes Antwortgeschehens enthält, das sich als Bildungsprozess beschreiben lässt. Dieses Antwortgeschehen wird prozessual gedacht. Jede Antwort, die zu geben versucht wird, stellt den Moment eines Prozesses dar, der vor der Herausforderung steht, den Figuren meiner Ordnung, denen sich das als befremdlich Erfahrene entzieht, eine andere Gestalt, eine andere Form und Kontur zu geben. Diese andere Gestalt wird einerseits dadurch gekennzeichnet, dass sie auf eine Grenze stößt, insofern auch sie dem Anspruch des Fremden nie in seiner originalen Unzugänglichkeit entsprechen kann, weil sie dem Erregungspotenzial meiner Ordnungsfiguren entspringt. Andererseits steht im Zentrum des Antwortprozesses die Suche nach dem Entwurf solcher anderer Figuren, die unter dem Gebot der Lebbarkeit für mich und den Anderen stehen. Dieser Hinweis auf das Gebot der Lebbarkeit der Ordnung enthält ein ethisches Motiv, das mit der Antwort auf den Anspruch des Fremden verbunden ist. Das ethische Motiv der lebbaren Ordnung zeichnet sich m.E. zum einen dadurch aus, dass sie als ein Entwurf und etwas zu Suchendes aufgefasst wird. Zum anderen wird dieses Motiv gerade nicht näher bestimmt, sondern in dieser Allgemeinheit belassen, sodass die Gefahr vermieden wird, weitergehende Normativierungen zu setzen, die stets das Risiko beinhalten, kulturell Spezifisches für allgemeingültig zu erklären, sodass Fremdes tendenziell imperialer Vereinnahmung unterworfen würde. Kokemohr fährt fort: „Die Schwelle meiner Ordnung kann ich nicht in der Weise überschreiten, dass ich
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mich in die Ordnung des Anderen versetze.“ (Ebd.) Er weist erneut auf eine Grenze hin, die sich nicht qua Einfühlung oder Hineinversetzen in die Ordnung des Anderen überschreiten lässt.17 „Da eine jede Ordnung, die eigene wie die fremde, das vorgestalthaft Amorphe ihrer Herkunft als vergessenes Erbe in sich trägt, ist sie kein Ort, an den ich gehen könnte.“ (A.a.O.: 32) Sowohl die eigenen als auch die fremden Ordnungen zeichnen sich demzufolge durch ein Moment der Unzugänglichkeit aus. Ordnungen werden hier als etwas gedacht, das aus vorgestalthaft Amorphem hervorgegangen ist.18 In diesem Punkt geht Kokemohrs bildungstheoretische Interpretation über Waldenfels hinaus, der zwar Strukturen der Ordnung, aber weniger die Frage nach ihrer Herkunft ausgearbeitet hatte. Ordnungen lassen sich mit Kokemohr als Gebilde charakterisieren, die dem vorgestalthaft Amorphen erst mühsam abgerungen werden müssen, Gebilde, die dennoch das vormals Gestaltlose weiterhin in sich tragen, allerdings im Sinne eines vergessenen Erbes, das sich deshalb direkter Zugänglichkeit sperrt. Vielleicht kann man diese Überlegung in anderer Terminologie auch so formulieren, dass die Herkunft der eigenen wie der fremden Ordnung unbewusst ist. Denn zugänglich wird mir die Ordnung laut Kokemohr nur, indem ich auf die Spuren antworte, die ihr Anspruch kraft seiner dem Amorphen abgerungenen Gestalt in meiner dem Amorphen abgerungenen Ordnung auslöst (vgl. ebd.).19 Die eigene Ordnung enthält damit ebenso ein Moment der Unzugänglichkeit wie die des Anderen, ihr Anspruch hinterlasse aber Spuren, auf die zu antworten sei: „Einfacher formuliert: Auf den Anspruch des Fremden kann ich nur antworten, indem ich eingedenk des Grauens, der Angst vor dem ungefasst Gestaltlosen, dem meine Ordnung abgewonnen ist, eben diese meine Ordnung durch das Oszillieren eines Grauens, einer Angst aufstören lasse, der auch jener Anspruch abgewonnen ist, und eine Ordnung erfinde, in der sich der Anspruch des Fremden auslegen lässt.“ (A.a.O.: 32)
17 Es lässt sich hier vielleicht an jene Grenzen denken, die von Freud in Totem und Tabu über die Schutzfunktion der Einfühlung thematisiert worden waren (Vgl.: Freud [1914] 1986: 308). 18 An dieser Stelle ließe sich das vorgestalthaft Amorphe der Herkunft der Ordnung mit Lacans Rede vom gestückelten Körper aus dem Aufsatz über das Spiegelstadium verbinden. Auf die Figur des gestückelten Körpers wird später näher eingegangen (vgl. Kapitel 5.3). 19 Die Zugänglichkeit der Ordnung wäre insofern vergleichbar mit der Antwort auf jene Erinnerungsspuren, die z.B. in Träumen, d.h. einer Bildung des Unbewussten hinterlassen werden.
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Auffällig und neu ist zunächst, dass hier an einer wichtigen Stelle des Argumentationsgangs die Antwort auf den Anspruch des Fremden mit dem Grauen, der Angst vor dem ungefasst Gestaltlosen in Verbindung gebracht wird. Zwar deutet auch Waldenfels einen Zusammenhang des Fremdem mit der Angst, dem Staunen und dem Unheimlichen an, allerdings nicht an so exponierter Stelle (vgl. Waldenfels TdF: 44). Vielleicht lässt sich Kokemohrs Hinweis auf das Grauen und die Angst so interpretieren, dass die Erfahrung des Fremden mit Angst einhergeht, weil sie strukturell an jene lebensgeschichtliche Zeit des ungefasst gestaltlosen Amorphen gemahnt, dem eine Ordnung erst mühsam abgerungen wurde, eine Ordnung, die gleichzeitig durch diese Angst aufgestört werden und ins Schwanken geraten kann. Die Angst hätte insofern einen produktiven Charakter, weil sie die Erfindung anderer Ordnungsfiguren im Sinne des interpretierenden Auslegens des fremden Anspruchs in Gang bringt oder diesen Prozess zumindest begleitet. Der mit Angst verbundene fremde Anspruch fordert laut Kokemohr Prozesse des Auslegens heraus. Sie lassen sich vielleicht im weitesten Sinne als hermeneutische Prozesse, als Erfindungen von Lesarten verstehen, die sich nicht aus dem bisherigen Interpretationsrepertoire ableiten lassen. Das Auslegen des fremden Anspruchs zielt jedoch nicht auf die Artikulation seiner Wahrheit oder seines tatsächlichen Wesens, er bleibt von einer konstitutiven, originalen Unzugänglichkeit gekennzeichnet. Das Argument lässt sich vielleicht eher umgekehrt so verstehen, dass die Unzugänglichkeit des Fremden, also die Unmöglichkeit ihm seinen Ort innerhalb bestehender Ordnungen zuzuweisen, die Suche nach anderen Figuren und Auslegungen antreibt. Die mit Grauen und Angst verbundene Erfahrung führt damit nicht in ein sprachloses Verstummen, sondern fordert die Suche nach der Erfindung lebbarer Ordnungen heraus, in denen der fremde Anspruch ausgelegt werden kann. Kokemohr akzentuiert in seiner bildungstheoretischen Annäherung begrifflich und systematisch diese Responsivität des Fremden, sein Potenzial, kreative Antworten im Sinne anderer Figuren des Welt- und Selbstentwurfs herauszufordern. Das Motiv des Pathos, des pathischen Getroffenwerdens durch Fremdes wird zwar der Sache nach aufgegriffen, wie in der Rede vom erregenden Eingriff in meine Ordnung und dem Hinweis auf das Grauen und die Angst vor dem ungefasst Gestaltlosen anklingt. Der mit Angst einhergehende Aspekt des Fremden wird aber bildungstheoretisch nicht weiter vertieft, sondern tritt in Kokemohrs bildungstheoretischer Wendung zugunsten des responsiven Potenzials des Fremden in den Hintergrund. Kokemohrs Überlegungen zum Waldenfels’schen Fremden eröffnen insofern Anschlussmöglichkeiten für ein Nachdenken über die Bedeutung der Angst für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir deshalb aussichtsreich, das pathische
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Moment von Bildungsprozessen über eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Affekt der Angst genauer zu fassen zu suchen, um so Kokemohrs bildungstheoretische Annäherungen aufzugreifen und möglicherweise in Nuancen zu verschieben und zu erweitern.
Ü BERGANG : R EKAPITULATION
UND
R EFLEXION
Die ersten vier Kapitel enthalten Überlegungen, die im Folgenden kurz rekapituliert und reflektiert werden sollen, um zum nächsten Kapitel überzuleiten und das weitere Vorgehen zu plausibilisieren. Erstens: Die empirische Exposition der Fragestellung (vgl. Kapitel 2) hatte zu der Einschätzung geführt, dass in Bildungsprozessen ein Moment des Getroffenwerdens eine Rolle spielt, das begriffliche Präzisierungen erfordert. In der theoretischen Exposition (vgl. Kapitel 3) wurden in Auseinandersetzung mit Kokemohrs Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie begriffliche Anschlussmöglichkeiten herausgearbeitet und ein theoretischer Rahmen vorgestellt, in dem Bildungsprozesse als ein krisenhaftes Geschehen begriffen werden. In diesem Rahmen wurde die Erfahrung des Fremden als etwas herausgearbeitet, das mit der Haltlosigkeit des eigenen Welt- und Selbstentwurfs konfrontiert und mit der Erfahrung von Seinsungewissheit einhergeht. Diese Seinsungewissheit, so die Vermutung, hat eine stark affektive bzw. pathische Komponente, deren Ausarbeitung begrifflicher Arbeit bedarf. In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern diese Komponente in Richtung einer theoretischen Konzeption der Angst genauer ausgearbeitet werden konnte. Die Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Figur des Fremden (vgl. Kapitel 4) als Herausforderung von Bildungsprozessen hatte zu dem Ergebnis geführt, dass das Moment des Getroffenwerdens mit Waldenfels als pathisches Widerfahrnis im alten Sinne des Wortes begrifflich näher bestimmt werden kann. Die Intensivierung der bildungstheoretischen Auseinandersetzung mit dem Waldenfels’schen Fremden über die Begriffe Pathos und Response hatte vor allem zu folgenden Überlegungen geführt: Die Begriffe Gefühl, Emotion und Empfinden erschienen aus Waldenfels’ Perspektive wenig geeignet, um das Moment des Getroffenwerdens durch das Fremde angemessen zu fassen. Mit Hilfe dieser Begriffe konnten die herausgestellten theoretischen Probleme und Fragen nicht genauer gefasst und angegangen werden. Es wurde herausgearbeitet, dass eine begriffliche Entscheidung für einen der Begriffe, also Pathos oder Affekt nicht vonnöten war. Diese erübrigt sich, wenn Pathos in jenem alten Sinne des Wortes verstanden wird, den Waldenfels vorschlägt, und an den die vorliegende Arbeit angelehnt ist. Weiter
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wurde argumentiert, dass der Begriff Pathos eine bildungstheoretisch größere Reichweite bietet, weil er eine allgemeinere Perspektive beleuchtet als der Affekt-Begriff, der demgegenüber speziellere Phänomene in den Blick bringt. Mit Waldenfels konnte eine ausführliche Begriffsdiskussion umgangen werden, weil dieser Pathos und Affekt auf der Ebene der Worte eng miteinander verbunden sieht und sich diese Verbindung bildungstheoretisch fruchtbar machen lässt. So gerieten spezifische Affekte wie die Angst in den bildungstheoretischen Blick. Die weitere Diskussion zum Fremden als diastatischem Geschehen zwischen Pathos und Response hatte zu der Überlegung geführt, dass eine stärkere Fokussierung der pathischen Dimension von Bildungsprozessen zu bildungstheoretischen Verschiebungen in Nuancen führen würde, die nachhaltig wirken könnten. Das Potenzial dieser Fokussierung in Bezug auf Kokemohrs Überlegungen bestand darin, ein Gegengewicht zur von Kokemohr betonten Responsivität zu stärken und dessen Annäherung über diese Verschiebung des Akzents weiter auszubalancieren. Im Weiteren gerieten Bildungsprozesse, die durch Fremdes herausgefordert werden, sowohl als krisenhaftes Geschehen in den Blick als auch als ein Geschehen, dem eine spezifische Zeitlichkeit zueigen sein könnte. Vor diesem Hintergrund konnten theoretische Einwände gegen folgende Logik des zeitlichen Verlaufs von Bildungsprozessen angedeutet werden: Zum Zeitpunkt t1 besteht ein Welt- und Selbstentwurf a). Das Fremde trifft zu einem Zeitpunkt t2. Zum Zeitpunkt t3 besteht ein nun veränderter Welt- und Selbstentwurf b). Es wurde vermutet, dass Bildungsprozesse in Bezug auf ihre Zeitlichkeit anders zu denken sein könnten. In diesem Zusammenhang wurde die Waldenfels’sche Figur des Fremden zwischen vorgängig pathischem Widerfahrnis und nachträglich responsiver Antwort in Ansätzen bildungstheoretisch gewendet. Hierbei blieb jedoch die Frage offen, wie genau Vorgängigkeit und Nachträglichkeit anders denn als bloßes Vor- und Nachhinein bildungstheoretisch zu fassen wären. In diesem Zusammenhang wurde die Vermutung formuliert, dass Entstehung und Veränderung von Welt- und Selbstentwürfen als diastatischer Prozess im Waldenfels’schen Sinne zu begreifen sein könnten. In Bezug auf diese Vermutung und angelehnt an die Waldenfels’sche Auffassung von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit kommt die Psychoanalyse als Denkraum in Betracht. Der Grundgedanke lautet, dass das psychoanalytische Konzept der Nachträglichkeit über die chronologisch-lineare Auffassung der Zeit hinausgeht und dass diese Auffassung aufschlussreich für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse sein könnte. Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass die Entstehung und Veränderung von Welt- und Selbstentwürfen auch in Bezug
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auf ihre Zeitlichkeit anders als in einer unilinear chronologischen Abfolge zu denken sein könnte. In der Auseinandersetzung mit Kokemohrs bildungstheoretischer Wendung der kreativen Antwort auf den Anspruch des Fremden wurde darauf hingewiesen, dass das Fremde in seiner Verbundenheit mit einer Angst vor dem ungefasst Gestaltlosen an einer wichtigen Stelle des Argumentationsgangs zur Sprache gebracht wird. Der daran anschließende Gedanke einer möglicherweise produktiven Dimension von Angst im Sinne der Herausforderung des Entwurfs veränderter Figuren des Welt- und Selbstentwurfs, wird von Kokemohr an dieser Stelle jedoch lediglich angedeutet und nicht genauer ausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund soll in einem nächsten Schritt eine theoretische Auseinandersetzung mit der Angst erfolgen und ihr Beitrag zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse herausgearbeitet werden.
5. Zur Lacan’schen Psychoanalyse und ihren Anregungen für die Bildungstheorie
Das folgende Kapitel beginnt mit einigen einleitenden Bemerkungen zu Jacques Lacans Anliegen insgesamt (vgl. Kapitel 5.1). Daran anschließend wird die viel zitierte Unverständlichkeit und Unzugänglichkeit des Lacan’schen Werks thematisiert. Denn Lacan gilt als ein Autor, der seine Äußerungen häufig an die Grenzen der Verstehbarkeit treibt. Anhand einiger Beispiele soll das Irritierende der Lacan’schen Texte dargestellt werden, um eine Lektürehaltung zu gewinnen, die dazu beiträgt, das Lacan’sche Denken bildungstheoretisch fruchtbar zu machen. Dieser Einstieg dient dazu, die anschließende Lektüre der Lacan’schen Texte vorzubereiten (vgl. Kapitel 5.2). Im nachfolgenden Abschnitt geht es dann aus vor allem zwei Gründen um eine ausführliche Lektüre des Aufsatzes über das so genannte Spiegelstadium: Erstens bietet dieser Text Denkfiguren an, um die Entstehung und Struktur von Welt- und Selbstentwürfen theoretisch genauer zu fassen. Diese Denkfiguren sollen durch eine Lektüre erarbeitet werden, die Lacans textuelle Bewegungen verfolgt und nachzuzeichnen sucht (vgl. zur lecture: Lacoue-Labarthe/Nancy 1990: 15-18). In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der spezifischen Zeitlichkeit der Bildung des ‚Ich‘ und ihren Konsequenzen für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Zweitens enthält, wie zu erläutern sein wird, bereits dieser frühe Aufsatz zum Spiegelstadium Grundlagen, um Lacans Verständnis der Angst in ihrem Zusammenhang mit dem Begehren nachzuvollziehen. Diese Grundlagen tragen einerseits zum Verständnis beider Begriffe im Rahmen der späteren Ausarbeitung dieser Begriffe bei und sind andererseits bemerkenswert, um die Auffassung der Angst als Angst vor dem ungefasst Gestaltlosen (vgl. Kapitel 4.4) zu differenzieren (5.3). Daran anschließend werden anhand entscheidender Aspekte aus Lacans Seminar L’angoisse (Die Angst) die Begriffe Angst und Begehren in ihrem Zusammenhang ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt (vgl. Kapitel 5.4).
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In einigen Abschnitten wird an jenen Stellen, an denen es für die Rekonstruktion und das Verständnis der Lacan’schen Grundgedanken hilfreich ist, auf Grundzüge von Sigmund Freuds theoretischen Überlegungen eingegangen. Dieser Hintergrund ist zu berücksichtigen, weil Lacan sich selbst immer wieder an zentralen Stellen auf Freud bezieht und einige seiner Überlegungen erst klarer werden können, wenn man sie im Lichte der Freud’schen Bezugstheorien liest. Anschließend wird der Beitrag der Lacan’schen Theoriefiguren für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse erläutert. Diese bildungstheoretischen Wendungen erfolgen der Übersichtlichkeit halber am Ende des Abschnitts über das Spiegelstadium (vgl. 5.3.3) und am Ende des Abschnitts über das Angstseminar (vgl. 5.9).
5.1 Z U L ACANS A NLIEGEN : R ÜCKKEHR A UFBRUCH DER P SYCHOANALYSE
ZU
F REUD
UND
Insgesamt bestand Jacques Lacans zentrales Anliegen in dem Versuch einer Reformulierung der Freud’schen Psychoanalyse. Es ging dabei vor allem um ihre sprachtheoretische, in heutiger Terminologie kann man sagen kulturtheoretische Reformulierung, die einen Anschluss an die „ ,Pilotwissenschaften‘ “ (Gondek 1990: 14) seiner Zeit ermöglichen sollte (vgl. Ragland-Sullivan 1989: 13; Koller 2012: 45). Diese Anschlussmöglichkeit sah Lacan in Freuds eigenem Werk angelegt, in dem entscheidende Überlegungen Ferdinand de Saussures und des Prager Kreises um den Linguisten Roman Jakobson bereits in psychoanalytischem Erkenntnisinteresse vorweggenommen gewesen seien, allerdings ohne, dass Freud sich davon bereits Rechenschaft zu geben gewusst hätte und seine Vorwegnahme sprachtheoretischer Einsichten bereits hätte ausarbeiten können, weil ihm dazu die begrifflichen Mittel noch gefehlt hätten (vgl. Lacan [1970] 1988: 7). Vor diesem Hintergrund setzte sich Lacan mit der strukturalen Linguistik Ferdinand de Saussures auseinander, dessen Grundfragen zur allgemeinen Sprachwissenschaft zwar schon von 1906 bis 1911, also bereits zu Freuds Lebzeiten, im Rahmen einer Vorlesungsreihe universitätsöffentlich wurden, allerdings erst posthum (nämlich 1916, drei Jahre nach de Saussures Tod) und zunächst ausschließlich in französischer Sprache von einigen Schülern publiziert wurden, bevor sie einige Jahre später (1931) auch in einer deutschen Übersetzung vorlagen (vgl.: de Saussure [1916 a] 1916). Diese erste, deutschsprachige Übersetzung erschien allerdings in einer Auflage von lediglich 500 Exemplaren (de Saussure [1916 b] 1931). Eine intensivere Saussure-Rezeption begann im deutschsprachigen Raum erst in den 50er Jahren, also über ein
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Jahrzehnt nach Freuds Tod. Hinzu kommt, dass Freud nach 1931 nur noch vergleichsweise wenige Arbeiten1 publiziert hat, sodass insgesamt davon ausgegangen werden kann, dass de Saussures Überlegungen keinen maßgeblichen Eingang in Freuds Arbeiten gefunden haben (vgl. Kokemohr 2007: 53). Gleichwohl hatte Freud bereits in der Traumdeutung einige der zentralen Mechanismen unbewusster Vorgänge mit Begriffen wie Verdichtung und Verschiebung zu erfassen gewusst, Begriffe, die sich aus Lacans Perspektive sprachtheoretisch reformulieren ließen. So entwickelte er in Auseinandersetzung mit Roman Jakobson beispielsweise ein Konzept von Metapher und Metonymie, das psychoanalytische und sprachtheoretische Überlegungen miteinander verknüpfte (vgl. Lacan [1957b] 1986). Eine Serie weiterer Arbeiten führte im Laufe der Zeit zur Formulierung einer der zentralen Thesen Lacans, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei (a.a.O.: 19). Insgesamt kann Lacans sprachtheoretische Reformulierung und Fundierung der Psychoanalyse als eine Rückkehr zu Freud beschrieben werden. Diese, Lacan nicht nur von Samuel Weber zugesprochene (vgl. Weber 2000: 19), sondern von ihm selbst so bezeichnete „retour à Freud“ (Lacan [1956a] 1966: 403) war insbesondere der Einschätzung geschuldet, dass die zwischenzeitlichen Entwicklungen der Psychoanalyse hin zur so genannten Ich-Psychologie, die sich vor allem ausgehend von der US-amerikanischen Freud-Rezeption etablierte (vgl. Hartmann [1939] 1975), eine Fehlentwicklung, mehr noch, eine regelrechte Verfälschung des Freud’schen Denkens darstellte, die Lacan Zeit seines Lebens entschieden kritisierte und bekämpfte (vgl. Lacan [1964] 1996: 7-20; Evans 2002: 140-141). Der Freud’sche Text war dabei für Lacan „nicht der absolute Referent einer neuen Orthodoxie psychoanalytischer Theorie, sondern selbst der Ort der Auseinandersetzung um die Bestimmung des Objekts der Psychoanalyse, des Zugangs zu diesem und des Bezugs der Psychoanalyse zur Wissenschaft. Lacans Rekonstruktion ist implizit genötigt, Freuds Werk auch als radikale Vorwegnahme der eigenen Ausarbeitung im methodisch unzureichenden Gewand zu lesen.“ (Gondek a.a.O.: 14)
1
Abgesehen vom Abriß der Psychoanalyse und Der Mann Moses verfasste Freud vor allem kürzere Abhandlungen und Zeitschriftenbeiträge (vgl. dazu die FreudBibliographie des Freud-Museums Wien: 31-32).
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Diese allgemeine Einschätzung ergänzend, kann in inhaltlicher Perspektive gesagt werden, dass die Verbindung des Freud’schen ‚Unbewussten‘2 mit den Funktionsgesetzen der Sprache ein zentrales Anliegen Lacans darstellt. In diesem Sinne lässt sich Lacans Rückkehr zu Freud als sprachtheoretischer Aufbruch der Psychoanalyse verstehen, als sein Versuch, „mit Freud über Freud hinaus“ (Widmer 1997: 17) zu gehen.
5.2 Z U
EINIGEN S CHWIERIGKEITEN DER L ACAN ’ SCHEN T EXTE
Lacans Texte bereiten Probleme. Sie gelten zurecht als schwer zugänglich. Sein Sprechen, Schreiben und Denken fordern nicht nur wegen ihres gelegentlich aphoristischen Charakters und des eigenartigen Stils heraus, sondern auch wegen ihrer Vieldeutigkeit, die den Leser bisweilen an die Grenzen des Verstehens treibt und mitunter auch darüber hinaus. Ein Beispiel: Im Interview „Television“ wird Lacan aufgefordert etwas zu seinem eigenwilligen Stil zu sagen: „– Kratzen Sie doch mal ein bißchen an der Wahrheit, die Boileau3 wie folgt in Verse bringt: ,Was gut erfaßt ist, sagt sich klar.‘ Ihr Stil, usw. Lacan: – Darauf antworte ich Ihnen sofort. Es genügen zehn Jahre, damit, was ich schreibe, klar für alle wird, ich habe das bei meiner Doktorarbeit gesehen, wo doch mein Stil noch nicht kristallen war. Das ist also eine Erfahrungstatsache. Immerhin vertröste ich Sie nicht auf den St. Nimmerleinstag. Ich stelle richtig: was sich gut sagt, wird klar erfasst – klar bedeutet, daß das seinen Weg geht. […]. Unmöglich sich darin zurechtzufinden ohne wenigstens eine Ahnung dessen, was die Kastration sagen will. Und das klärt uns über die Geschichte auf, die Boileau darüber in Umlauf setzte, „klar“, damit man sich darin täusche, nämlich daran glaube. Das médit (übel Gesagte), eingelassen in sein reputierliches Ocker: „Es gibt keine Abstufung vom Medi-okren zum Schlimmsten“, sehen Sie, es fällt mir schwer, das
2
Ich belasse diese Formulierung in ihrer Mehrdeutigkeit zwischen Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus. Die Frage, was unter Unbewusstem zu verstehen ist und um welches Unbewusstes es geht, wenn vom Freud’schen Unbewussten die Rede ist, ist schon deshalb kompliziert, weil das Unbewusste mit Lacan nicht umstandslos als Begriff qualifiziert werden kann (vgl. dazu: Evans 2002: 321-324; Waldenfels BLdE: 295).
3
Nicolas Boileau war ein französischer Autor des späten 17. Jahrhunderts.
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dem Verfasser jenes Verses zuzuschreiben, der den Humor dieses Wortes so gut wiedergibt.“ (Lacan [1970] 1988: 94, Herv. i.O.)
Lacan lässt sich nicht lang bitten und kündigt an, „sofort“, ohne Umschweife auf die Frage nach seinem Stil zu antworten. Dann jedoch, so scheint es auf den ersten Blick, werden vage Andeutungen, sprachverliebte Wortspiele und Behauptungen aneinandergereiht, deren Zusammenhang sich keineswegs offensichtlich erschließt. Der Leser sieht sich vor die Herausforderung gestellt, einen Zusammenhang allererst herzustellen, zumindest muss er gesucht werden, wenn er diese Aussagen nicht einfach als Gefasel abtun will. Der Leser muss also seinen Zugang zu diesen Zeilen allererst finden und erfinden: Was will Lacan (mir) mit seiner Antwort sagen? Sieht man zunächst einmal von der Selbstironie oder der manierierten Arroganz ab, mit der Lacan hier an der Wahrheit kratzt, dann geht es hier der Sache nach um den Vorschlag einer Wendung, mehr noch, um die Korrektur oder Richtigstellung einer geläufigen Vorstellung. Lacan hält es offenbar für eine irrige Vorstellung, dass etwas zunächst gut erfasst wird, um dann klar gesagt zu werden. Er kehrt diese Vorstellung um zum Vorrang eines Sprechens, das dem Erfassen vorauszugehen scheint: Was sich gut sagt, wird klar erfasst. Das Sprechen oder das, was sich gut sagen lässt, hat hier offenbar das Erfassen zur Folge und nicht umgekehrt. Die gewohnte Chronologie von Erfassen und anschließendem Ausdruck des Erfassten wird umgedreht und dadurch, Lacan zufolge, klar gestellt. Klarheit erscheint hier nicht als Durchsichtigkeit oder Transparenz eines Phänomens, sondern besteht darin, dass das Sagen seinen Weg geht, in Gang kommt und Wirkungen entfaltet, die sich nicht im Vorhinein kalkulieren lassen. Der Vorrang des guten Sagens wird mit dem Hinweis auf die Wichtigkeit der Kastration verbunden, was jedoch nicht weiter erläutert wird. Die Präzisierung fehlt und damit auch Klarheit und Transparenz. Der Leser sieht sich so dazu gezwungen oder zumindest herausgefordert dieser Spur nachzugehen, zumindest wenn er eine Ahnung davon bekommen will, was es mit diesem Hinweis auf sich haben könnte. Lacan winkt zwar wie mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl, dass hier die Kastration ins Spiel komme, die an dieser Stelle wichtig sei. Worin die Wichtigkeit der Kastration an dieser Stelle jedoch besteht, bleibt der Deutungsarbeit des Lesers überlassen. Lacan winkt bloß. Und so versucht der Leser sich eine Ahnung zu verschaffen, vorausgesetzt er unterstellt Lacan, dass dieser Hinweis nicht völlig grundlos gegeben wurde. Lacan setzt in seiner Äußerung offenbar auf die Neugier des Lesers und dessen Wunsch, etwas verstehen zu wollen. Und er setzt darauf, dass ihm ein Wissen unterstellt wird, das der Leser nicht hat. Er legt eine Spur, die Kastration, die sich verzweigt, mit anderen Spuren Verbindungen eingeht und dem Leser
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Interpretationsarbeit abverlangt, sodass er am Lacan’schen Text mitzuschreiben genötigt wird. Lässt man sich auf diese Zumutung ein, können Lesarten entstehen, Versuche des Erfassens. Möglicherweise geht es darum, dass in Boileaus Versen ein Verhältnis von Erfassen und Sagen zum Ausdruck kommt, das Lacan für naiv hält, weil etwas Entscheidendes, etwas Einschneidendes übersehen wird. Die Auffassung eines gedanklichen Erfassens vor dem Sprechen könnte eine Fiktion sein, der Lacan eine andere Fiktion, ein anderes Verhältnis von imaginärem Erfassen und symbolischem Ausdruck entgegensetzt. Und schon ist man als Leser ins Spiel der Signifikanten eingetreten, beginnt Lacan’sche Konzepte und Begriffe zu recherchieren, sich auf die Suche nach einem Wissen z.B. zur Kastration zu machen, das im Text selbst fehlt. Und das vielleicht sogar aus gutem Grund, denn in der Kastration geht es möglicherweise genau darum, dass etwas fehlt. Vor diesem Hintergrund würde Lacan hier vollziehen, was er bezeichnet und in diesem Sinne performativ arbeiten. Psychoanalytische Wörterbücher, weitere Stellen in Lacans Werk oder Sekundärliteratur sollen Abhilfe schaffen, damit verständlicher, erfassbarer wird, worum es hier geht. Es entstehen Anknüpfungspunkte: Lacan nutze den Begriff der Kastration, so lässt sich lesen, um neben Frustration und Privation eine der drei Formen des Objektmangels zu beschreiben (vgl. Evans 2002: 160). Es geht also offenbar darum zu bemerken, dass etwas fehlt, nicht zu fassen ist und sich nicht (er-)fassen lässt. Lacan definiert, so kann man weiter lesen, die Kastration im Unterschied zu den beiden anderen Formen des Objektmangels als symbolischen Mangel eines imaginären Objekts (ebd.). In diesem Zusammenhang heißt das möglicherweise, dass die Rede vom klaren Erfassen und Begreifen der Dinge eine Vorstellung darstellt und in diesem Sinne als ein imaginäres Objekt zu charakterisieren ist. Sobald dem Anschein nach klar Erfasstes zur Sprache gebracht, artikuliert wird, zeigt es sich in seiner Unvollständigkeit oder seinem Mangelcharakter. Eben diese symbolische Kastration, dass es für Lacan kein Sprechen gibt, dass in absoluter und restloser Fülle die Vorstellungen zum Ausdruck bringt oder repräsentiert, dass die Worte vielmehr der Mord an der Sache sind, wie Lacan einmal Hegel aufgreift, wird in Boileaus Auffassung des Verhältnisses von Erfassen und Sagen nicht berücksichtigt. Möglicherweise sprechen wir eben deshalb, weil sich die Dinge nicht sagen lassen und allem Sprechen insofern etwas fehlt. Vielleicht weist Lacan darauf hin, dass Boileau diesen Mangel übersieht, wenn er den Übergang vom Erfassen hin zum klaren Sagen des Erfassten als ein bruchloses Hinübergleiten oder Repräsentationsverhältnis nahe legt. Lacan hat offenbar eine andere Auffassung von Klarheit, die nicht auf Transparenz und Durchsichtigkeit aus ist, sondern darauf, die Fiktion von
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Klarheit zu irritieren, um so andere Fiktionen in Gang und in Bewegung zu bringen. Vielleicht lässt sich Lacans Grundgedanke ähnlich wie Kleists Auffassung Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (Kleist [1804] 1946) verstehen, die nicht immer schon vor dem Sprechen vorliegen, sondern beim Reden allererst entstehen. Lacan bemerkt bei Boileau offenbar eine Art Passungsverhältnis zwischen gut Erfasstem (in der Vorstellung) und klar Gesagtem (in der Symbolisierung), das ihm widerstrebt. Boileaus Auffassung von Klarheit nährt vielleicht die Auffassung eines repräsentativen Verhältnisses zwischen vorrangigem Signifikat (Vorstellungsbild) und anschließender klarer Äußerung (Signifikant). Das entspricht laut Lacan eher einem Glaubenssatz, denn einer Einsicht oder einer Erfahrung und Lacan kehrt eben dieses Verhältnis um. In Bezug auf die Kastration lässt sich, wie bereits angedeutet, auch der performative Zug des Lacan’schen Sprechens und Schreibens bemerken. Im Fehlen der Erläuterungen und Ausführungen zur Kastration vollzieht Lacan eben jenen symbolischen Mangel, den er bezeichnet und bringt durch das wie der Darstellung dasjenige hervor, worum es geht. Aus den Andeutungen anhand dieses Beispiels wird ersichtlich, dass Lacans Texte dem Leser in besonderer Weise Deutungsarbeit zumuten und dass die Art und Weise des Sprechens und Schreibens nicht von den Gegenständen zu trennen ist, um die es geht, sondern performativ zur Darstellung kommt oder zumindest kommen soll, worum es geht. Lacans Texte sperren sich daher mit Macht dem Zugriff jenes Lesers, der davon ausgeht, dass ihr Autor zunächst Gedachtes und Erfasstes in Worten zur Sprache eines Textes bringt, der dann in seiner geordneten Rekonstruktion und Interpretation aufgeht, weil Lacan das Verhältnis von Erfassen und Sagen anders begreift. Lacans Texte sperren sich der schlichten Konsumtion, sie verlangen in besonderem Maße eigene Denkanstrengungen, ohne die sie schlicht kryptisch bleiben. Vielleicht lässt sich die Eigenart von Lacans Texten in Anlehnung an Waldenfels auch so beschreiben: Sie zeigen sich, indem sie sich uns entziehen. Ihnen ist etwas Fremdes zueigen und das nicht nur dann, wenn die Muttersprache des Lesers nicht Französisch ist. Die Fremdheit des Lacan’schen Werks hängt vielleicht mit seiner Bemühung zusammen, „das von der Aufklärung Ausgeschlossene, Vernachlässigte, Umgangene zu bearbeiten. Er treibt seine Äußerungen an die Grenze der Verständlichkeit. Wenn man zunächst einmal nicht hingeht und Lacan vorwirft, er formuliere mit Absicht und aus Arroganz hermetische Texte, so wird etwas von der Ungesichertheit, auch von der Bedrohung für unser gewohntes Denken und Wahrnehmen deutlich.“ (Pazzini 1989: 165)
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Die Schwierigkeit der Lacan’schen Texte hängt deshalb auch mit dem Versuch zusammen, bereits bekannte, vertraute Worte oder Konzepte noch einmal und vor allem noch einmal anders zu denken. Das heißt nicht zuletzt, Gewohnheiten zu irritieren und Begriffe zu rekonzeptualisieren, fremd werden zu lassen, um Verdecktes und möglicherweise Verdrängtes zum Vorschein zu bringen, das unter dem Mantel des Vertrauten und verstanden Geglaubten verborgen war (vgl. Ragland-Sullivan 1989: 8). Die Irritation des Vertrauten betrifft bei Lacan auch das Verstehen selbst, das er bereits in seinen frühen Texten und Seminaren problematisierte und scharf kritisierte. „Je weniger Sie verstehen, desto besser hören Sie.“ (Lacan [1954-55] 1991: 171) Oder: „Hüten Sie sich zu verstehen.“ (Lacan [1955-56] 1997: 14) Oder auch: „Sie haben Ohren, um nicht zu hören.“ (A.a.O.: 127) Lacan fordert die Hörer seiner Seminare und die Leser seiner Texte in variierenden Formulierungen immer wieder auf, weniger zu verstehen und stattdessen mehr zu hören. Wie kommt es zu diesem Vorbehalt gegenüber dem Verstehen? Diese Ratschläge beziehen sich zwar vor allem auf das Geschehen in der analytischen Situation, lassen sich jedoch auch als Ratschlag für die Lektüre seiner Texte auffassen. Ausgehend von der in Deutschland im 19. Jahrhundert geführten, epistemologischen Diskussion zur Opposition von Erklären und Verstehen, hatte sich Lacan bereits in seiner Thèse (Lacan [1932] 1975) ausführlich mit Karl Jaspers’ Konzept der Verstehenden Psychologie (Jaspers [1913] 1973: 250 f.) auseinandergesetzt. So betont beispielsweise François Leguil, dass der Einfluss, den Jaspers auf Lacan ausgeübt habe, dessen Denken Lacan alles oder doch beinahe alles schulde, häufig unterschätzt worden sei, obwohl Lacans spätere Positionierung gegen die existentialistische Psychologie nicht zuletzt Resultat eben dieser Auseinandersetzung gewesen sei (vgl. Leguil 1989: 5 ff.). In einem Text aus den Écrits (Schriften), in dem Lacan die damalige Situation der Psychoanalyse und die Ausbildung der Psychoanalytiker thematisiert, empfiehlt er: „,Gardez-vous de comprendre!‘ et laissez cette catégorie nauséeuse à Mrs Jaspers et consorts. Qu’une de vos oreilles s’assourdisse, autant que l’autre doit être aiguë. Et c’est celle que vous devez tendre à l’écoute des sons ou phonèmes, des mots, des locutions, des sentences, sans y omettre pauses, scansions, coupes, périodes et parallélismes, car c’est là que se prépare le mot à mot de la version, faute de quoi, l’intuition analytique est sans support et sans objet.“ (Lacan [1956b] 1966: 471, Herv. G.W.)
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Reinhart Meyer-Kalkus übersetzt diese Passage wie folgt: Hüten sie sich vor dem Verstehen und „lassen Sie diese abgestandenen Kategorien den Jaspers und Konsorten. Eines Ihrer Ohren sollte sich taub machen, während das andere umso gespitzter ist. Und eben dieses sollte sich richten auf die Hörwahrnehmung der Töne oder [!] Phoneme, der Worte, Redeweisen, Sätze, ohne die Pausen auszulassen, der Skandierung, der Einschnitte, Perioden und Parallelismen, denn nur hier setzt die Wort-für-Wort-Übersetzung [im Sinn der Metapher] an, ohne welche die psychoanalytische Intuition ohne Grundlage und Objekt bliebe.“ (MeyerKalkus 1995: 277; Einfügungen in Klammern: Meyer-Kalkus)
Lacan äußert auch hier seinen deutlichen Vorbehalt gegenüber der Kategorie (cette catégorie) Verstehen, die eine Gefahr zu enthalten scheint. Er ermuntert stattdessen zu einer Haltung des Hörens oder Zuhörens, die Aufmerksamkeit für etwas anderes zu schaffen verspricht. Diese Aufmerksamkeit steht in Zusammenhang mit Freuds Ratschlägen zu jener psychoanalytischen Behandlungsmethode, die Anna O., eine der ersten Patientinnen Freuds als talking cure bezeichnet hatte. Im Rahmen dieser Kur komme dem Analytiker die Aufgabe zu, den Einfällen des Analysanten ohne besondere Richtung in einer Haltung „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ (Freud [1912] 1986: 171) zuzuhören. Diese Haltung bildet noch in Freuds Abriß der Psychoanalyse das Gegenstück zur freien Assoziation des Patienten, der im Sinne der psychoanalytischen Grundregel ohne Zensur alles mitteilen solle „was ihm in den Sinn kommt“ (Freud [1938] 1971: 33), auch und gerade jene Einfälle, die ihm unangenehm sind, unwichtig oder sogar unsinnig erscheinen (vgl. ebd.). Die freie Assoziation dient für Freud vor allem dazu, Selbstkritik und Zensur auszuschalten, um an die Fülle eines Materials zu gelangen, das unter dem Einfluss des Unbewussten steht und den Analytiker in die Lage versetzen soll, das „verdrängte Unbewußte zu erraten“ (ebd.). Die gleichschwebende Aufmerksamkeit auf Seiten des Analytikers soll dazu beitragen, die Einfälle des Patienten nicht immer schon durch das Verstehen zu überwältigen. Sie dient ebenso der Ausschaltung der Zensur, nun auf Seiten des Analytikers und soll zu einer Haltung der psychischen Entspannung und Aufnahmebereitschaft führen. Diese Haltung soll verhindern, das Gehörte immer schon gemäß der bestehenden Erwartungen und Neigungen auszuwählen. Mit anderen Worten könnte man sagen, dass die gleichschwebende Aufmerksamkeit verhindern soll, dass die Einfälle des Analysanten sogleich in den bestehenden Verstehenshorizont eingeordnet werden. Laut Freud höre man stattdessen besser zu, ohne sich darum zu kümmern, ob man sich irgendetwas
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etwas merke. Ansonsten sei man in Gefahr „niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß.“ (Freud [1912] 1986: 172) Wenn man nun davon ausgeht, dass jedes Verstehen sich den Erwartungen, den verfügbaren Ordnungsfiguren oder den vorhandenen Modi des Verstehens verdankt, kraft derer eine Äußerung als verstanden gelten kann, dann lässt sich solches Verstehen mit Freud als eine Stabilisierung des bereits Verstandenen und eine Abwehr des Unverstandenen auffassen. Vor diesem Hintergrund kann das Verstehen als ein Hindernis für die Entdeckung von Neuem und Anderem begriffen werden und steht in diesem Sinne einer Erweiterung des bestehenden Wissens und neuer Verstehensmöglichkeiten geradezu im Wege. Lacans Warnungen vor dem Verstehen greifen dieses Problem auf. Er geht jedoch gleichzeitig über Freud hinaus, indem er die Aufmerksamkeit auf die konkrete Art und Weise des Sprechens des Analysanten4 jenseits der semantischen Bedeutung lenkt. Es geht für Lacan darum zu bemerken, wie gesprochen wird, welche Tonlage gewählt wird, wie und wo Betonungen vorgenommen werden, an welchen Stellen Sätze abgebrochen werden, Pausen entstehen, welche Inhalte parallelisiert werden u.s.f. Kurz: Lacan hält die Aufmerksamkeit für die Besonderheit der Sprechweisen für relevant, um den Artikulationen des Unbewussten des Analysanten auf die Spur zu kommen. Die Kategorie des Verstehens hält Lacan dagegen für brechreizerregend. Das in den Écrits gewählte Adjektiv nauséeuse weist noch deutlicher auf die Qualität der körperlichen Abneigung gegen die Kategorie Verstehen hin als es das deutsche Wort abgestanden nahe legt (vgl. Petit Robert 1996: 1474). Lacan markiert diese Kategorie nicht nur als geschmacklich fad oder veraltet und in diesem Sinne abgestanden, sondern formuliert ihren Übelkeit erregenden Charakter. Es wäre nicht übertrieben hier näher am französischen Original zu interpretieren, dass Lacan die Jaspersche Kategorie des Verstehens ‚zum Kotzen‘ findet. Stattdessen solle sich eines der Ohren, wie es in der deutschen Übersetzung heißt, auf die Hörwahrnehmung der Töne richten. Da dieser Aufsatz aus dem Jahr 1956 nicht in die deutschsprachigen Schriften I-III aufgenommen wurde, die bekanntlich lediglich eine Auswahl aus den Écrits enthalten, stammt diese Übersetzung offenbar von
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Lacan spricht von Analysant und nicht von Patient, weil weder Krankheiten diagnostiziert werden noch Symptome geheilt werden sollen. Vielmehr geht es darum, verdrängte Triebkonflikte zur Sprache zu bringen, die aktive Rolle des Analysanten wird hervorgehoben, der sein Begehren zur Sprache bringen soll. Das soll zu einer Minderung der Leiden machenden Aspekte des Symptoms führen.
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Meyer-Kalkus selbst.5 Dieses Detail ist bemerkenswert, weil Lacan an dieser Stelle von l’écoute schreibt. Er wählt also gerade nicht das erwartbare ouïe (Gehörsinn) oder Hilfskonstruktionen wie perception auditoire (auditive Wahrnehmung), sondern ein Substantiv, das ein vom deutschen Wort Hörwahrnehmung abweichendes Bedeutungsfeld eröffnet, sodass sich auch die Bedeutung des Ohres verschiebt, das es zu spitzen gilt. Die Konnotationen, die l’écoute nahe legt, verweisen etymologisch auf Geheimnisse im militärischen und religiösen Feld (vgl. Petit Robert 1996: 713). L’écoute meint zunächst den Lauscher auf Horchposten. Es geht also im Unterschied zum Späher um eine Person, die qua Gehör und nicht mithilfe des Sehsinns, den im Verborgenen schleichenden Feind zu bemerken sucht. Die Funktion dieses Wachpostens bestand darin, die Bewegungen des Feindes auch dann zu bemerken, wenn wegen der nächtlichen Dunkelheit nichts zu sehen war. L’écoute bezeichnet ursprünglich den auf Horchposten Wache haltenden Lauscher, der aufmerksam für die Geräusche des nahenden Feindes wird. Bereits diese wenigen Hinweise eröffnen eine Metaphorik, die sich von der nüchternen und eher anatomisch klingenden Hörwahrnehmung unterscheidet. Das Wort écoute im Sinne des Lauschers enthält im Unterschied zu Hörwahrnehmung Verbindungen zum Spion, dessen Tätigkeit sich darum dreht, etwas Geheimes und Feindliches zu entdecken, das nicht entdeckt werden will. Jean-Luc Nancy schreibt: „Erst hat das Wort ,écoute‘ eine Person bezeichnet, die horcht (die spioniert), und dann einen Ort, von dem aus man heimlich horchen kann. ,Être aux écoutes‘ bestand zunächst darin, an einem der Sicht entzogenen Ort zu sein, von dem aus man ein Gespräch oder eine Beichte belauschen konnte. ,Être à l’écoute‘ – ,abhören‘,auf Horchposten sein‘ – war ein Ausdruck der Militärspionage, bevor er über die Radiophonie (,auf Empfang sein‘) wieder in den öffentlichen Raum gelangte; im Bereich des Telephonischen aber behielt er den Beiklang des Vertraulichen oder des entwendeten Geheimnisses im Lauschangriff.“ (Nancy 2010: 11-12)
Lacans Wortwahl erinnert vor diesem Hintergrund an eine Metapher, die Freud gewählt hatte, um das Ideal der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, das der Arzt in der psychoanalytischen Kur anstreben soll, zu präzisieren:
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Meines Wissens gibt es bislang keine autorisierte Übersetzung dieses Aufsatzes ins Deutsche und mir ist auch keine graue Quelle bekannt.
126 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN „Er soll dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist.“ (Freud [1912] 1986: 175)
In Lacans Wortwahl klingt an, dass es im analytischen Setting um die Ausbildung oder Kultivierung eines lauschend-horchenden Spionageohrs geht, das auf Empfang gestellt werden soll, damit etwas aus der Dunkelheit des Unbewussten zu Gehör kommen kann. Das Verstehensohr taub zu machen heißt, den Empfang auf etwas anderes zu richten (tendre à l’écoute). Es geht in der Psychoanalyse offenbar um eine Aufmerksamkeit für etwas im Sprechen, das, wie der Angreifer, der sich anpirscht, gerade nicht bemerkt und gehört werden will. Nachvollziehbar wird diese Überlegung vor dem Hintergrund des Freud’schen Grundgedankens, dass im Es etwas treibt und sich regt, das durch die anderen Instanzen des psychischen Apparats niedergehalten werden soll, weil die Triebregungen im Konflikt mit den Ansprüchen des Über-Ich, des Ich oder der Außenwelt stehen. Das Unbewusste zeichnet sich dadurch aus, unentdeckt bleiben zu wollen, es macht sich Techniken der Camouflage zunutze, weil seine Entdeckung Gefahr für das Ich bedeutet und eine Durchschlagskraft entwickeln kann, die vom Über-Ich gerade gebändigt werden soll. Das Verstehen lässt sich nun aus psychoanalytischer Sicht als eine Rationalisierung auffassen, die im Dienste des Ich steht, und als Abwehrmechanismus beschrieben werden kann. Dieser funktionale Mechanismus steht der Annäherung an die unbewussten Triebkonflikte im Wege, die dazu beitragen soll, ihr Leiden machendes Potenzial zu bemerken oder das Leiden überhaupt erst zu ermöglichen, statt es zu verdrängen, sodass zum Beispiel Trauerarbeit einsetzen kann. In der Psychoanalyse geht es in diesem Sinne um Unerhörtes, Empörendes, etwas, das weder gehört noch für wahr genommen werden will. Die Kategorie Verstehen trägt jedoch dazu bei, Irritationen abzuwehren, sie tendiert dazu, die Entstehung eines veränderten, verschobenen oder neuartigen Verständnisses z.B. eines Symptoms zu verhindern. Nach dieser Erläuterung der Problematik des Verstehens werden weitere Eigenheiten der Lacan’schen Texte deutlich. Erstens: Wenn man Lacans Vorbehalt gegenüber dem Verstehen und die zuvor erwähnte Performativität seiner Schreibweise zusammennimmt, dann wird einsichtiger, dass die viel gescholtene Unverständlichkeit des Lacan’schen Werks keiner bloßen Attitüde oder Unfähigkeit des Autors entspringt, sondern dass diese Unverständlichkeit mit dem Gegenstand und Erkenntnisinteresse der Psychoanalyse zu tun hat, also mit der Sache, um die es geht. Die vielbeklagte obscuritas des Lacan’schen Werks lässt sich daher als „Konsequenz einer für die Psychoanalyse zwingenden
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systematischen Komplikation“ (Cremonini 2003: Klappentext) begreifen, wie Cremonini am Beispiel der Denkfigur des unbewussten Subjekts erläutert. Die sachlichen und stilistischen Eigenheiten der Lacan’schen Texte hängen insofern mit dem Gegenstand der Psychoanalyse zusammen, damit, dass beides nicht voneinander zu trennen ist, „sein Stil gehört zur Sache“ (Widmer 1997: 9). Zweitens ist angedeutet geworden, dass dem Hören in der Psychoanalyse ein besonderer Stellenwert zukommt, der auch in Bezug auf Lacans Sprech- und Schreibweise relevant ist. Das heißt, dass es die Lektüre bereichert, wenn Lacans Texte auch danach befragt werden, was sich darin hören lässt. Diese Ebene des Textes lässt sich bemerken und interpretativ ausmünzen, wenn der französische Originaltext mitberücksichtigt wird, sodass sich an besonders vertrackten oder spannenden Stellen weitere Lesarten eröffnen. Es empfiehlt sich daher eine Lektüre, die nicht nur verständig zu lesen versucht, sondern den Texten zuhört, um ihnen jene Version mehr abzulauschen, die der buchstäblichen Lektüre verborgen bliebe. Die Schwierigkeit der Lacan’schen Texte hängt vor diesem Hintergrund nicht nur mit den Schwierigkeiten in der Sache zusammen, sondern auch damit, dass durch die Übersetzungen Interpretationsspuren verdeckt werden, die sich nur im französischen Originaltext hören und entdecken lassen. Drittens lässt sich ausgehend von Lacans Anliegen und diesen wenigen Beispielen zumindest erahnen, dass seine Schreibweise auch den performativen Versuch darstellt, Ausdrucksformen zu finden und zu erfinden, um die Verbindung des Unbewussten mit den Funktionsgesetzen der Sprache zur Darstellung zu bringen. Gerade diese Schwierigkeiten machen sowohl den Reiz als auch die Zumutung der Lacan’schen Texte aus, die sich nicht konsumieren lassen und nur sehr selten abgeschlossene und fertige Antworten bereit stellen. Sie machen eher auf Fraglichkeiten aufmerksam, die zuvor im Dickicht des anscheinend Selbst-verständlichen verdeckt geblieben waren. In diesem Sinne irritieren sie das Denken, sie irritieren das Verständliche selbst und das verständliche Selbst und fordern auch deshalb neuartige Fragen und Antworten heraus. Das hier angedeutete Irritationspotenzial geht auch von Lacans frühem Aufsatz über das Spiegelstadium aus, in dem die Figur des cartesianischen, selbstreferentiellen Subjekts in Bewegung gebracht wird. Auch innerhalb der Psychoanalyse wurden Lacans Überlegungen immer wieder als derart unkonventionell wahrgenommen, dass sie z.B. zu dessen Ausschluss aus Institutionen wie der IPA6 führten. Ernest Jones, der dem psychoanalytischen Kongress in Marienbad 1936 vorsaß, auf dem Lacan seinen Vortrag über das Spiegelstadium
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International Psychoanalytical Association.
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zum ersten Mal hielt, unterbrach ihn nach 15 Minuten.7 Ob diese Unterbrechung nicht zuletzt mit Lacans inhaltlichen Positionen zu tun hatte oder ausschließlich damit, wie Roudinesco schreibt, dass er die Redezeit überschritten hatte, sei an dieser Stelle dahin gestellt (vgl. Roudinesco 2000: 7).
5.3 Z U L ACANS T HEORIE
DES
S PIEGELSTADIUMS
Lacans Aufsatz über das Spiegelstadium ist oft interpretiert worden. Allerdings findet der französische Originaltext zumindest in der deutschsprachigen Rezeption nur wenig Berücksichtigung. Die folgenden Überlegungen versuchen aus den zuvor erläuterten Gründen an ausgewählten Stellen auch diese französischsprachigen Formulierungen in die Interpretation mit einzubeziehen. Lacan vertritt in seinem Aufsatz von 1949 die These, dass die psychische Instanz des Ich in einer Phase ab dem 6. Lebensmonat dadurch gebildet wird, dass sich das Infans, also das nicht sprechende Kleinkind, mit seinem Spiegelbild identifiziert (vgl. Lacan [1949 a] 1986: 63; Lacan [1949 b] 1966: 93). Der Begriff Spiegelstadium sei daher geeignet, die Funktion des Ich (Je) zu verdeutlichen und Lacan betont zu Beginn seines Aufsatzes, dass die psychoanalytische Erfahrung jeder Philosophie entgegenstehe, „die sich unmittelbar vom cogito ableitet“ (Lacan [1949 a] 1986: 63, Herv. i.O.). Es geht ihm in seinen Überlegungen um eine kritische Auseinandersetzung mit der Vorstellung eines autonomen oder selbstreferentiellen Vernunft-Subjekts, das sich seiner selbst durch sein eigenes Denken gewiss werde, also durch einen referentiellen Bezug auf sich selbst (vgl. dazu: Braun 2007: 55 ff.). Lacan geht in seinen Überlegungen zu dieser Konstituierungsphase des Ich von einer Beobachtung der vergleichenden Psychologie aus, die er James Mark Baldwin zuschreibt, die aber bereits zuvor von Henri Wallon im Rahmen des so genannten Spiegeltests gemacht worden war (vgl. dazu: Evans a.a.O.: 277; Wallon 1931: 705-748). Lacan fasst diese Beobachtung folgendermaßen zusammen: „Das Menschenjunge erkennt auf einer Altersstufe von kurzer, aber durchaus merklicher Dauer, während der es vom Schimpansenjungen an motorischer Intelligenz übertroffen wird, im Spiegel bereits sein eigenes Bild als solches.“ (Lacan 1949a: 63)
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Lacan hatte seine Überlegungen also bereits 1936, im Rahmen eines Vortrags auf dem Vierzehnten internationalen psychoanalytischen Kongress in Marienbad vorgestellt. Der Text dieser ursprünglichen Rede ist nicht veröffentlicht worden.
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„[L]e petit d’homme à un âge où il est pour un temps court, mais encore dépassé en intelligence instrumentale par le chimpanzé, reconnaît pourtant déjà son image dans le miroir comme telle.“ (Lacan 1949b: 93)
Ein scheinbar simpler Sachverhalt wird hier angesprochen. Das Infans blickt in den Spiegel und bemerkt: ‚Das bin ich‘. Lacans Formulierung beinhaltet jedoch sogleich eine Zweideutigkeit, wenn er schreibt, dass das Infans sein eigenes Bild als solches (comme telle) erkenne. Denn bereits an dieser Stelle stellt sich die Frage, ob sich das Erkennen auf das Bild als Bild oder auf das Bild als eigenes Bild bezieht. Das Spiegelbild als Bild zu erkennen hieße potenziell, es im Unterschied zum gespiegelten Objekt vor dem Spiegel zu bemerken, also als eine Differenzerscheinung. Das Bild als sein eigenes Bild zu bemerken hieße stattdessen verstärkt, es als Bild von sich zu bemerken und damit in seiner Ähnlichkeitsbeziehung zu demjenigen vor dem Spiegel, vielleicht gar als Repräsentation in einer eher abbildlichen Logik. Eben diese Zweideutigkeit der Formulierung führt hinein in die Fragen, Verwicklungen und Spannungsverhältnisse, die in Lacans Spiegelstadium eine Rolle spielen: Was heißt es sich zu erkennen? Wie ist der Prozess des Sich-Erkennens zu denken? Und wie die Bildung oder Entstehung jener psychischen Instanz, die Ich genannt wird und erkennt? Die Doppeldeutigkeit des Erkennens des eigenen Bildes als solchem macht noch auf ein weiteres Problem aufmerksam. Sie ist vom Standpunkt eines Beobachters aus formuliert, der im Unterschied zum Infans bereits einen mehr oder weniger souveränen Umgang mit dem eigenen Spiegelbild gefunden hat. So sind wir einerseits in der Lage, uns das Ähnlichkeits- oder Identitätsverhältnis zwischen uns und unserem Spiegelbild zunutze zu machen. Wir wissen zum Beispiel während wir uns rasieren, dass nicht nur die Barthaare des betrachteten Spiegelbildes entfernt werden, sondern vor allem, denn darin besteht der Zweck der Rasur, diejenigen im eigenen Gesicht. Andererseits käme kaum jemand auf den Gedanken, den Rasierapparat auf der Spiegeloberfläche in der Erwartung anzusetzen, dass dadurch unsere Barthaare oder auch nur die des Spiegelbildes entfernt würden. Wir wissen also handlungspraktisch sowohl um die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen uns und dem Spiegelbild, wie um seine Virtualität und Differenz zu demjenigen vor dem Spiegel. Diese nur dem Anschein nach selbstverständliche Einsicht ist eine Errungenschaft, die sich im Verlauf des Spiegelstadiums erst allmählich entwickelt. Die Schwierigkeit der Beobachterposition in Bezug auf das Infans hat damit zu tun,
130 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN „mit der Logik des Ichs in eine Welt vor dem Ich eindringen zu wollen und – konkreter – ein Geschehen außerhalb des Zugangs zur Sprache ans symbolische Medium assimilieren, in diesem darstellbar machen zu wollen.“ (Leiser 2002: 106)
Diese Schwierigkeit konfrontiert auch mit den Grenzen der Darstellbarkeit, an die gerät „wer sich auf die Psychoanalyse einläßt“ (Pazzini 2006c: 227) und die bereits Freud in seiner Traumdeutung bemerkt hatte. Mit Lacans Worten: „Das ist sehr wichtig, die Modelle. Nicht, dass das etwas heißen würde – das heißt nichts. Aber so sind wir nun einmal, – das ist unsere animalische Schwäche – wir brauchen Bilder. Und wenn’s an Bildern fehlt, dann kommt es vor, dass die Symbole nicht zu Tage treten.“ (Lacan [1954-55] 1991: 116 f.)
Lacans Rede vom Erkennen des eigenen Bildes als solchem weist zunächst darauf hin, dass das Infans im Unterschied zu anderen Primaten im Verlauf des Spiegelstadiums erfährt: ‚Das bin ich‘. Erst allmählich wird das Spiegelbild auch in seiner Differenz zu demjenigen vor dem Spiegel erfahren. Denn Lacans Grundgedanke lautet zunächst, dass das Infans das Spiegelbild in seiner Eigenschaft als Differenzerscheinung imaginär grundlegend verkennt, insofern es sich mit dem Spiegelbild identifiziert. Diese Verkennungsstruktur denkt Lacan nicht etwa als eine ein für alle Mal abschließbare Entwicklungsphase, sie repräsentiert vielmehr eine grundlegende Struktur menschlicher Subjektivität. Lacan bemerkt im Spiegelstadium einen Unterschied zu anderen Primaten, die sich bald gelangweilt ob der „Nichtigkeit des Spiegelbildes“ (Lacan [1949 a] 1986: 63) von ihm abwenden, bald aggressiv gegen das Spiegelbild angehen, weil sie es z.B. für einen Artgenossen halten, der in ihr Revier eindringt.8 Das heißt, dass es anderen Primaten nicht oder zumindest nicht in der gleichen Weise wie dem Menschen gelingt, den Bezug zwischen sich und dem Spiegelbild herzustellen. Von einer Nichtigkeit des Bildes kann beim Infans nicht die Rede sein, denn seine Mimik signalisiere ein Aha-Erlebnis, in dem sich die Wahrnehmung der Situation ausdrücke (vgl. a.a.O.: 63). Es ist etwas eingefallen, ein Groschen ist gefallen und das Infans bemerkt plötzlich einen Zusammenhang zwischen sich
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Dass die Unterscheidung zwischen Menschenjungen und anderen Primaten anhand des Umgangs mit dem Spiegelbild inzwischen so nicht mehr zu treffen ist, soll hier nicht weiter diskutiert werden. Es lässt sich jedoch aus psychoanalytischer Perspektive darauf verweisen, dass von anderen Primaten zumindest nicht bekannt ist, dass sie über das Spiegelverhältnis wiederum diskutieren oder Texte verfassen würden.
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und dem Spiegelbild, den es in dieser Weise vorher offenbar noch nicht wahrgenommen hatte. Der Begriff Aha-Erlebnis bezeichnet „[e]in eigenartiges im Denkverlauf auftretendes lustbetontes Erlebnis, das sich bei plötzlicher Einsicht in einen zuerst undurchsichtigen Zusammenhang einstellt.“ (Bühler [1907] 1907: 297-365)
Mit diesem Begriff des Sprachpsychologen und Sprachtheoretikers Karl Bühler deutet Lacan an, dass das Spiegelbild für das Infans eine Bedeutung gewinnt und dass ihm die Einsicht in den Zusammenhang zwischen ihm und seinem Spiegelbild Lust bereitet. Es wird mit einer jubilatorischen Geste begrüßt und in lustvoller Geschäftigkeit versucht das Infans einen momentanen Aspekt des Bildes noch einmal zu erhaschen, einen Gesichtsausdruck oder eine Körperhaltung einzunehmen und sie zu fixieren (vgl.: Lacan a.a.O.: 63). „Solche Aktivität behält für uns bis zum Alter von achtzehn Monaten den Sinn, den wir ihr geben. Sie verrät nicht nur einen libidinösen Dynamismus, der bis dahin problematisch geblieben ist, sondern auch eine ontologische Struktur der menschlichen Welt, die in unsere Reflexionen über paranoische Erkenntnis eingeht.“ (A.a.O.: 64)
Lacan erkennt hier einerseits einen Fortschritt des Infans in Bezug auf die Beweglichkeit der Lust-Besetzung von Objekten, die zuvor eher statisch konstelliert war. Es lässt sich hierbei an die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Hunger oder Durst über die statische Bindung an die mütterliche Brust denken, diese Statik gewinnt an Beweglichkeit, weil in diesem Prozess auch das eigene Spiegelbild zu einem Objekt wird, das mit einem Lustgewinn verbunden ist. Andererseits interessiert ihn diese Aktivität, weil sie etwas über die wahnhafte Struktur des Erkennens verrate, die im Werden des einzelnen Subjekts und in diesem Sinne ontologisch begründet zu sein scheint. Am Rande sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Lacan hier mitthematisiert, dass die Interpretation des Spiegelstadiums, sein Sinn sich keineswegs von selbst versteht, sondern dass er ihm gegeben, qua Deutung zugesprochen wird. Damit reflektiert Lacan die psychoanalytische Theoriebildung selbst als einen SinnGebungsprozess, der einräumt, dass die Darstellung des Phänomens das Phänomen selbst nicht unberührt lässt. Man könnte auch sagen: Lacan denkt hier den Vorstellungscharakter, die Wahnhaftigkeit seiner eigenen Theoriebildung mit, um sie in ihrem Sinn gebenden Charakter vorzuführen und so der Auffassung entgegen zu wirken, dass sich Sinn ausschließlich aus den Phänomenen selbst
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ableiten lässt und Theorien beispielsweise als Repräsentationen der Wirklichkeit zu begreifen sind. Entscheidend am Spiegelstadium ist laut Lacan, dass das Spiegelbild dem Infans als eine gestalthafte Ganzheit und Einheit gegenübertritt, über die es faktisch noch nicht verfügt. Denn im Gegensatz zur Vollständigkeit des Spiegelbildes erfährt es sich „eingetaucht in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege.“ (A.a.O.: 63) Die motorischen Funktionen und Koordinationsmöglichkeiten sind in diesem Alter nur unvollständig ausgebildet und elementare Bedürfnisse wie Hunger, Durst oder körperliche Berührung lassen sich nur durch Andere befriedigen. Allerdings bemerkt sich das Infans erst durch das gestalthafte Spiegelbild in seiner Angewiesenheit auf andere. Der Zustand davor lässt sich eher als eine Art Symbiose zwischen Innenwelt und Umwelt vorstellen, eine Situation, in der für das Infans noch keine Differenz zwischen ‚sich‘ und z.B. der ‚Mutterbrust‘ besteht. Die Wahrnehmung der ganzen Gestalt führt insofern gleichzeitig zur Wahrnehmung des eigenen Körpers als gestückelt, als „morcelé“ (Lacan [1949 b] 1966: 97).9 Das Infans sieht und bemerkt sich Lacan zufolge in Teilen, als lose Ansammlung einzelner Glieder, die zunächst in keinem erfahrbaren Zusammenhang, sondern losgelöst nebeneinander bestehen. Die Ohnmacht und die Angewiesenheit auf andere haben laut Lacan mit der spezifischen Vorzeitigkeit (der so genannten Prämaturation oder Foetalisation) der menschlichen Geburt zu tun. Der Mensch werde im Vergleich zu anderen Säugetieren vergleichsweise instinktarm und verfrüht als unfertiges Mängelwesen geboren. Diese spezifische Vorzeitigkeit der menschlichen Geburt ist einerseits der Grund für die Erfahrung von Ohnmacht und Angewiesenheit und markiert andererseits die spezifische Weltoffenheit des Infans, sein Potenzial, sich in Auseinandersetzung mit einer Welt, mit einem Außerhalb bilden zu können, aber eben auch zu müssen und nicht aus sich selbst heraus zu einem Ich kommen zu können. Gerade die gestalthafte Vollständigkeit macht das Spiegelbild nun so attraktiv für das Infans. Gleichzeitig setzt es wegen seiner Überlegenheit eine aggressive Spannung, eine Art Rivalität zwischen dem Infans und seinem Spiegelbild ins Werk. Denn das Spiegelbild verspricht ihm in seiner Überlegenheit nicht nur eine zukünftige Vollständigkeit, über die es faktisch noch
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In der deutschen Fassung wird corps morcelé mit zerstückelter Körper übersetzt (vgl. Lacan [1949 a] 1986: 67). Diese Übersetzung legt die Vorstellung einer einstmals vorhandenen Ganzheit nahe, die erst anschließend zerstückelt wird. Die Übersetzung von morcelé mit gestückelt betont demgegenüber die Disparatheit einzelner Teile, eine Gestückeltheit, der keine ursprüngliche Ganzheit vorausgeht.
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nicht verfügt, sondern wirkt auch bedrohlich, da es gleichzeitig mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers als gestückelt einhergeht. Das Infans erfährt sich vor diesem Hintergrund durch das Spiegelbild in seinem Mangel. Bemerkenswert ist hierbei, dass diese Erfahrung mit der Wahrnehmung des gestalthaften Spiegelbildes zusammen gedacht wird: „Das Kleinkind sieht sein Spiegelbild als ein Ganzes und diese Wahrnehmung verursacht als Gegenstück die Wahrnehmung seines eigenen Körpers als geteilt und zerstückelt, da ihm in diesem Stadium die motorische Koordinationsfähigkeit noch fehlt.“ (Evans 2002: 355)
Dieses Gegenstück der Wahrnehmung des eigenen Körpers als gestückelt (corps morcelé) lässt sich nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass das Infans seinen Körper immer nur in Teilen, teilweise und insofern zusammenhanglos sieht, es hat noch keine Vorstellung von sich als eines vollständigen Ganzen, kein einheitliches Körperbild.10 Die Wahrnehmung der Gestückeltheit verursacht in diesem Prozess eine Angst, die die Identifikation mit dem Spiegelbild antreibt. Drei Momente, die attraktive Ganzheit des Spiegelbildes, die aggressive Spannung zwischen Infans und rivalisierendem Spiegelbild und die Angst vor dem gestückelten Körper sind also die Motoren für die Identifikation des Infans mit dem Spiegelbild, die zur Lösung oder zumindest zur Reduktion der Anspannung dienen soll. Lacan begreift das Spiegelstadium als eine Identifikation im vollen Sinne der Psychoanalyse. Das heißt als „eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung“ (Lacan a.a.O.: 64) (frz. „transformation“, vgl. Lacan [1949 b] 1966: 94). Diese Verwandlung wird durch ein Bild ausgelöst, das Lacan nicht als ein Abbild von etwas zeitlich und räumlich vorher Vorhandenem denkt, sondern als ursächlich für das in Entstehung begriffene Ich vor dem Spiegel. Lacan versteht das Spiegelbild als eine Art Urbild oder Vorbild für das entstehende Etwas vor dem Spiegel und nicht umgekehrt. Er kehrt damit die gewohnte Ursache-Wirkungs-Relation um. „Bei Lacan gibt es erst den Spiegel und dann das Bild, erst das Bild und dann das Abgebildete.“ (Weber 2000: 36) Etwas vor dem Spiegel wird hier deshalb geschrieben, weil das Infans bis zu seinem Aha-Erlebnis laut Lacan weder ein Ich noch ein einheitliches Körperbild hat. Es lässt sich einwenden: Aber es muss doch etwas vor dem Spiegel da sein, damit es überhaupt ein Spiegelbild geben
10 Die Möglichkeit der Stückelung des Körperbildes lässt sich auch nach dem Spiegelstadium bemerken, wenn Kleinkinder zum Beispiel erklären, nachdem sie ein anderes Kind geschlagen haben: ‚Das war ich nicht, das war meine Hand.‘
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kann. Dieser nahe liegende Einwand verdankt sich einer langen Bildtradition, einem Verständnis des Bildes, gegen das sich Lacans Auffassung jedoch sträubt: „Das Bild in der philosophischen Tradition – und im gemeinen Menschenverstand – wird immer als eine Repräsentation bestimmt, die eine vorgeordnete und vorhergehende Empfindung, Eindruck oder Idee mit verminderter Intensität reproduziert. Das Subjekt stellt sich etwas vor, das Bild bildet ab. Bei Lacan wird diese Auffassung des Bildes leicht aber entscheidend verschoben. Das Bild bildet ab, nicht aber wie eine Reproduktion oder eine Repräsentation, sondern vielmehr wie ein Abbau: das Bild bildet ab und baut ab, und das, was es ab-bildet, ist erst durch dieses Abgebildetsein.“ (Weber a.a.O.: 34, Herv. i.O.)
Dasjenige, worum es Lacan geht, nämlich das Ich (‚Je‘ vor dem Spiegel) entsteht allererst durch das Spiegelbild und nicht umgekehrt. Peter Widmer schlägt in einer anderen Terminologie vor, dieses Problem mithilfe von Hegels Unterscheidung zwischen an sich und für sich zu bedenken (Widmer in einem Vortrag im Warburghaus in Hamburg zum Thema Körperbild und Angst im Jahr 2006). An sich sei da etwas vor dem Spiegel, das die Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens eines Spiegelbildes bereitstelle. Über dieses an sich lasse sich aber über seine apriorische oder ‚reale‘ Notwendigkeit für das Erscheinen von etwas hinaus weder etwas sagen noch etwas vorstellen. Für sich trete das Menschenjunge als Ich erst mit dem Durchgang durch das Spiegelstadium heraus, das heißt es trete erst durch die Identifikation mit einem Bild in Existenz. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass das Ich vermittelt über ein Außerhalb, über einen anderen, eine ganze Gestalt entsteht, die im Spiegelbild erscheint. Diese Funktion der gespiegelten Ganzheit können auch andere Personen, die Stimme des Anderen oder die Augen des anderen übernehmen, es ist also kein materieller Spiegel vonnöten, damit es zum Spiegelstadium kommt. In der Identifikation mit dem Spiegelbild, in dem Aha-Erlebnis ‚Das bin Ich‘, verkennt das Infans nun sowohl die Andersheit des Spiegelbildes als auch seine Angewiesenheit auf andere. Das Ich wird durch diese doppelte Verkennung
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erzeugt, die sich als wirksame Fiktion von Ganzheit beschreiben lässt.11 Diese Fiktion wirkt wie eine orthopädische Stütze, die das Ich imaginär zusammenhält. Für Lacan ist das Sich-Erkennen grundlegend wahnhaft oder paranoisch strukturiert, denn das Infans wähnt sich im Spiegelstadium mit seinem Bild identisch, es stellt sich als eine Ganzheit vor, die sich als eine imaginäre Fiktion charakterisieren lässt. Vor diesem Hintergrund begreift Lacan die Ich-kenntnis (me-connaissance) als Ich-Verkennung (méconnaissance). Sich zu erkennen (me – connaissance) heißt für ihn konstitutiv sich zu verkennen (méconnaissance). Damit es nun zur Identifikation mit dem Spiegelbild kommt, bedarf es der deutenden Besprechungen der anderen, die auf das Spiegelbild und also gerade nicht auf das Infans vor dem Spiegel zeigen und es damit in seiner Verkennungsleistung unterstützen, indem sie ihm zu verstehen geben: ‚Das da im Spiegel bist Du‘. Lacan erwähnt nicht nur in diesem Aufsatz diese stützende Funktion der Bezugspersonen (vgl. a.a.O.: 63; Lacan [1962-62] 2010: 40). Das Infans dreht den Kopf zur Mutter oder zum Vater, die es halten, weil es noch nicht laufen kann, fordert so auf und heraus, das Spiegelbild zu deuten, bedeutsam zu machen, das Rätsel zu lösen, das ihm im Spiegel vorgestellt wird. Seine Bedeutung wird ihm durch eine Variante des Satzes ‚Das bist Du‘ zugesprochen. Wie begreift Lacan nun die Struktur des Prozesses der Identifikation im Sinne der Aufnahme eines Bildes im Einzelnen? Er schreibt: „L’assomption jubilatoire de son image spéculaire par l’être encore plongé dans l’impuissance motrice et la dépendance du nourissage qu’est le petit homme à ce stade infans, nous paraîtra dès lors manifester en une situation exemplaire la matrice symbolique où le je se précipite en une forme primordiale, avant qu’il ne s’objective dans la dialectique de l’identification à l’autre et que le langage ne lui restitue dans l’universel sa fonction de sujet.“ (Lacan [1949 b] 1966: 94, Herv. i.O.)
11 Auch die Inschrift ‚Erkenne Dich selbst‘ vor dem Orakel von Delphi gerät vor diesem Hintergrund in ihrer Funktion als Warnung vor Hybris in den Blick und nicht als Imperativ zur Bewältigung eines lösbaren Problems. Die vollständig erreichte Selbsterkenntnis gelingt, um mit Lacan zu sprechen, wohl nur als pathologisches Wahnsystem. Der Gedanke einer unerreichbaren Selbsterkenntnis bietet im Übrigen trotz der damit verbundenen Trauerarbeit enorme Erleichterung. Er macht die scheiternden Selbstfindungsstrategien und Selbstverwirklichungsphantasien leichter zu ertragen und lässt zum Beispiel Energie für die Frage frei werden, was ich will, die ansonsten für die Frage wer ich bin gebunden bleibt.
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In der deutschen Übersetzung von Peter Stehlin heißt es: „Die jubilatorische Aufnahme seines Spiegelbildes durch ein Wesen, das noch eingetaucht ist in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege, wie es der Säugling in diesem Infans-Stadium ist, wird von nun an – wie uns scheint – in einer exemplarischen Situation die symbolische Matrix darstellen, an der das Ich (je) in einer ursprünglichen Form sich niederschlägt, bevor es sich objektiviert in der Dialektik der Identifikation mit dem andern und bevor ihm die Sprache im Allgemeinen die Funktion eines Subjektes wiedergibt.“ (Lacan [1949 a] 1986: 64, Herv. i.O.)
Dieser sehr konzentrierte und verdichtete Satz versteht sich kaum von selbst, er verlangt nach Erläuterungen: Sieht man zunächst einmal von den verschiedenen Einschüben, Gliedsätzen und Spezifikationen im ersten Teils des Satzes ab, dann scheint Lacans Grundgedanke hier zu sein, dass die Aufnahme des Spiegelbildes wie eine Art Matrix zu verstehen ist, in der das Ich eine ursprüngliche Form gewinnt. Diese ursprüngliche Form scheint von nun an in einer Weise wirksam zu bleiben, die sich nicht einfach überwinden lässt. Der Ausdruck Matrix lässt an mathematische Ordnungen denken, z.B. an tabellarisch angeordnete Zahlenwerte oder geometrische Objekte, die ein Grundmuster bilden. Im französischen matrice klingt zudem die Matritze an, eine Guss- oder Prägeform, die als Vorlage zum Beispiel zur Erzeugung von Lettern dient. Die Lettern erhalten durch die Matritze ihre spätere Form. Das französische matrice ist aus dem lateinischen matrix entlehnt, das mit Muttertier, Zuchttier, Mutterleib übersetzt werden kann. Die griechische Version (µήτρα) wird häufig mit Gebärmutter übersetzt. Im weiteren Sinne bezeichnet das französische matrice auch die Hülle, in der etwas Form annimmt. Die lateinische Wurzel des Ausdrucks matrice (matrix) enthält zudem die Bedeutung Erzeugerin bzw. Grund und Ursache sowie, ähnlich wie im Griechischen, Gebärmutter (vgl. Etymologisches Wörterbuch 1995: 849). Es geht in den hier skizzierten Bedeutungsfeldern um einen formgebenden bzw. Formen ermöglichenden Aspekt. Plausibel erscheint daher, dass durch die Aufnahme des Spiegelbildes eine erste Form erzeugt wird, durch die das Ich (‚Je‘) Gestalt annimmt. Lacan wählt an dieser Stelle das Verb se précipiter, um die Wirkung zu beschreiben, die die Aufnahme des Bildes in Bezug auf das ‚Je‘ (‚Ich‘) ausübt. Peter Stehlin übersetzt dieses Zeitwort mit sich niederschlagen. Im französischen Wort se précipiter klingt jedoch deutlicher ein zeitlicher (pré; prae – vor, voran) und ein dynamischer Aspekt der Körperlichkeit an (caput – Kopf) als im deutschen Verb niederschlagen (vgl. Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch 1995 Bd. 2: 1829). Es lässt sich auch mit sich Hals über Kopf in etwas hineinstürzen, mit sich überstürzen oder sich über-
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schlagen übersetzen (vgl. ebd.). Das Ich (‚Je‘) nimmt sich vor diesem Hintergrund durch die Aufnahme des Spiegelbildes in einer überstürzenden Bewegung in einer uranfänglichen Form vorweg. Es entwirft sich sozusagen Hals über Kopf qua Aufnahme der ganzen Gestalt. Für diese Interpretation spricht auch Lacans Hinweis, dass das Subjekt im Spiegelstadium die Reifung seiner Macht vorwegnehme (vgl. Lacan a.a.O.: 64). Lacan ergänzt, dass die Form der Gestalt eher bestimmend als bestimmt sei (vgl. ebd.). Das heißt zwar einerseits grundlegend und formgebend, aber andererseits wie eine nicht weiter determinierte, leere Hülle, durch die sich das ‚Ich‘ (‚Je‘) überstürzend vorwegnimmt. Einige Aspekte werden sowohl deutlicher als auch rätselhafter, wenn die französische Wortwahl weiter berücksichtigt wird. Denn Lacan schreibt von der assomption jubilatoire, was Stehlin mit jubilatorische Aufnahme übersetzt. Im Lexikon findet sich unter assomption jedoch überraschender Weise die Bedeutung ‚Mariä Himmelfahrt‘.12 Ist die Aufnahme des Spiegelbildes entsprechend als Himmelfahrtskommando zu verstehen? In seiner vorrangigen Bedeutung geht es um die Aufnahme Marias in den Himmel, jene Himmelfahrt der Mutter Jesu, die die katholische Kirche am 15. August des Kalenderjahres feiert.13 Bemerkenswert wird Lacans Wortwahl, wenn man sich den theologischen Zusammenhang der assomption vor Augen führt: In der assomption (lateinisch assumptio) geht es im Rahmen der mariologischen Dogmen um die leibliche und passive Aufnahme Marias in den Himmel, die im Unterschied zu Christi Himmelfahrt (ascensio) gefasst wird: „Die lateinische Sprache macht die qualitative Differenz der beiden Feste und der dahinter stehenden Glaubenswahrheiten sofort deutlich: die Erhöhung des Herrn heißt ascensio, die eschatologische Marienaussage wird als assumptio bezeichnet. Im ersten Fall wird das aktive Moment, im zweiten das passive klar herausgehoben: Christus stieg aus eigener
12 Vgl. Larousse 1996: 55; Langenscheidts 1998: 51; Larousse 2001: 47; Petit Robert 1996: 140. In diesen vier Quellen, also in zwei deutsch-französischen Wörterbüchern, einem französischsprachigen Etymologielexikon und einem ausschließlich französischsprachigen Wörterbuch wird an erster Stelle die Bedeutung von assomption im Sinne von Mariä Himmelfahrt genannt. Im Unterschied zu Peter Stehlins Übersetzung des Spiegelstadiums, der diese Bedeutung nicht berücksichtigt, erwähnt Klaus Laermann in seiner Übersetzung des Vortrags von Rom (Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse) in einer Fußnote diesen Bedeutungshorizont (vgl. Lacan [1953] 1986: 89). 13 Dem neutraleren Wort Aufnahme entsprächen im Französischen eher Substantive wie prise, absorption, accueil, intégration, assimilation oder réception.
138 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN Kraft, d.h. kraft seiner Gottheit auf; Maria erfährt ihre Herrlichkeit als Aufnahme, d.h. als etwas an ihr Geschehendes, aber nicht von ihr Geleistetes.“ (Beinert 1984: 291)
Vor diesem Hintergrund akzentuiert Lacan durch die Wortwahl assomption in Bezug auf das Geschehen im Spiegelstadium insbesondere die Aspekte Passivität und Leiblichkeit. Die jubilatorische Aufnahme des Spiegelbildes erscheint weniger als eine Aktivität des Infans, sondern vielmehr als ein Geschehen, das ihm passiv widerfährt. Das Spiegelbild fällt sozusagen in das Infans ein, bildet sich ihm ein und bringt das Ich in eine Form, bringt ihm ein Körperbild. L’assomption jubilatoire konnotiert also deutlicher den körperlichen und passiv dynamischen Aspekt des identifikatorischen Geschehens als es die deutsche Übersetzung jubilatorische Aufnahme nahe legt. Zudem schreibt Lacan in diesem Satz nicht mehr vom Infans als Subjekt der jubilatorischen Aufnahme, sondern vom „par l’être encore plongé […]“ (Lacan a.a.O.: 94), vom Wesen, das noch eingetaucht sei in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege. Die französische Formulierung ist bemerkenswert, weil sie etwas anderes hören lässt als die deutsche Übersetzung. Es lässt sich hier eine Homophonie bemerken, die Lacans späteren Neologismus vom Menschen als ‚parlêtre‘ bereits vorwegnimmt. Diesen Neologismus hatte Lacan Jahre später gewählt, um den Menschen in einer nicht-humanistischen Weise als Sprech- oder Sprachwesen zu charakterisieren (vgl. Cremonini 2010: 42-61). Dadurch wird diese Stelle in einer Weise lesbar, die weiteres Licht auf das Subjekt des Prozesses der jubilatorischen Aufnahme wirft. Der Mensch in seiner Eigenschaft als parlêtre, als sprechendes Wesen oder Sprachwesen kündigt sich hörbar an, ohne dass er in dieser Phase vor dem Spracherwerb, dem Stadium des Infans bereits als solcher ausgeschrieben wäre. Er ist zunächst noch eingetaucht in Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege und wird als Sprech- oder Sprachwesen allererst durch die Sprache wieder aufgetaucht sein. Auch an dieser Stelle lässt sich im Übrigen eine der Eigenarten des Lacan’schen Schreibens bemerken, die zuvor erläutert wurde (vgl. Kapitel 5.2): Dasjenige, wovon die Rede ist, also das Werden des Subjekts, schlägt sich auch in der Schreibweise nieder. Ähnlich wie das werdende Ich sich überstürzt und Hals über Kopf vorwegnimmt, überstürzt sich auch die hörbar vorweggenommene Bedeutung des par lêtre, die antizipiert, was Lacan erst ab Anfang der 50er Jahre auszuarbeiten beginnt (vgl. Lacan [1953] 1986; Lacan [1975-76] 2005: 66). Im Seminar XXIII, aus dem Jahr 1975-76, Le sinthom, auf das zuletzt verwiesen wurde, ist das Sprechwesen, das parlêtre auch ausgeschrieben und die Homophonie zu einem Neologismus geworden. Wenn man diese Textstelle laut liest und die grammatikalische Konstruktion zunächst einmal vernachlässigt, ergeben sich mindestens drei Möglichkeiten, das par
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l’être an dieser Stelle zu hören: Nämlich erstens so, wie es von Lacan ausgeschrieben wird, als par l’être, zweitens als parlêtre und drittens als par lettre. Alle drei Varianten werden im Französischen nahezu identisch ausgesprochen, lassen sich also als Homophonien charakterisieren, die je unterschiedliche Bedeutungsebenen eröffnen: Erstens lässt sich diese Wendung konventionell verstehen, indem das par (durch) als Konjunktion das substantivierte être näher bestimmt, sodass mit durch ein Wesen zu übersetzen wäre, also so, wie es Peter Stehlin vorschlägt. Der Grundgedanke ist vor diesem Hintergrund eine Spezifikation des Infansstadiums, dessen Eigenart oder Wesen in seiner Ohnmacht und Angewiesenheit auf Andere genauer bestimmt wird. Zweitens kann diese Wendung zusammengezogen gehört werden, sodass ein Neologismus zum Vorschein kommt, in dem das Verb parler und das Verb bzw. Substantiv être (sein, Sein, Wesen) zur Wortneuschöpfung parlêtre (Sprechwesen, Sprachwesen, sprechsein) verbunden werden. Im Bedeutungszusammenhang würde dadurch angedeutet, dass es das Sprechwesen ist, das noch eingetaucht ist in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege. Zunächst konstituiert sich das Ich als Bild, als eingebildetes Sein. Erst die Aufnahme des Spiegelbildes stellt die Möglichkeit bereit, ein Körperbild zu entwickeln, das eine Voraussetzung für den Sprung vom (bloß an sich vorhandenen) être zum (für sich entstehenden) parlêtre zu sein scheint. Die Wichtigkeit der Sprache für das Werden des Subjekts markiert Lacan auch im letzten Teil dieses Abschnitts, wenn er betont, dass die Sprache im Allgemeinen dem Kind die Funktion eines Subjekts wiedergebe oder wiederherstelle, restituiere. Auch diese Version spezifiziert oder besser differenziert den kleinen Menschen (le petit homme) in seinem Infansstadium, insofern es nicht mehr ausschließlich das nicht sprechende Kleinkind markiert, sondern in seiner Bezogenheit auf Sprache, auf Symbolisches zumindest angedeutet wird. Denn es stellt sich die Frage, wie zu denken ist, dass die Sprache dem Ich die Funktion eines Subjekts im Allgemeinen wiedergibt. Denn die Rede von der Restitution des Subjekts legt nahe, dass es bereits ein Subjekt gab, das wiederhergestellt wird. Dieses im Voraus gesetzte Subjekt ist nun laut Lacan keine bewusste oder gar sprachmächtige Instanz, sondern eher ein Effekt der Sprache und des Sprechens der Anderen, die es von Anfang an durchziehen und der es immer schon unterworfen ist oder unterliegt. Das Lacan’sche Subjekt (subiectum) ist unbewusst. Als parlêtre ist es im Spiegelstadium nur hörbar zu bemerken und der bewusst ausgeschriebenen Schrift entzogen. Es klingt jedoch noch eine dritte Möglichkeit an, wie sich das par l’être hören lässt: als par lettre, was mit per Brief oder durch Schreiben von übersetzt werden kann. Das Substantiv lettre lässt an den Buchstaben und die Letter
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denken. Diese Lesart widerstreitet zwar den grammatikalischen Regeln im vorliegenden Satzzusammenhang, ergibt aus dieser Perspektive also keinen Sinn, lässt sich jedoch in ihrem Signifikantenwert als strukturelle Ergänzung der jubilatorischen Aufnahme interpretieren. Die jubilatorische Aufnahme des Bildes geschieht, während der Buchstabe in seiner Materialität, die Letter dem Infans fehlt, bevor es durch ein Frist setzendes, gesetzliches Schreiben, durch einen Brief durchgestrichen wird und mit der symbolischen Kastration durch die Funktion des Vaters konfrontiert wird. Wird das par lettre in dieser Weise gehört, klingt eine reale und eine weitere symbolische Dimension der Aufnahme des Spiegelbildes an. In dieser Hinsicht wäre es die Sprache in ihrem Bezug zum Gesetz, die noch fehlt, die aber die Voraussetzung dafür schafft, dass die duale Struktur zwischen Mutter und Kind in der ödipalen Situation durch das Inzestverbot des Vaters getrennt wird. Die in der Sekundärliteratur geläufige Einteilung des Lacan’schen Werks in frühe Arbeiten zum Imaginären, mittlere Arbeiten zum Symbolischen und späte Arbeiten zum Realen zeigt sich vor diesem Hintergrund als eine Vereinfachung. Sie mag für eine grobe Orientierung analytisch hilfreich sein, allerdings erscheinen zumindest die Register des Imaginären und des Symbolischen in diesem Abschnitt bereits miteinander verknüpft, eine Verknüpfung, auf die auch Lacan selbst, z.B. im Seminar X hingewiesen hat: „Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass es in dem, was ich jemals gelehrt habe zwei Zeitmetren gibt: eines, das um das Spiegelstadium zentriert wäre, um etwas auf das Imaginäre Ausgerichtetes, und danach – mit jenem Moment unserer Geschichte, den man an der Rede von Rom festmacht – die Entdeckung, die ich ganz plötzlich gemacht hätte: die des Signifikanten. Sie werden darin sehen [G.W.: in dem Text Propos sur la causalité psychique von 1946], dass diese beiden Register in ihrem Zusammenspiel nicht erst jetzt von mir auf intime Weise miteinander verflochten worden sind.“ (Lacan [1962-63] 1998: 38)
Und in einer kurzen Notiz, die den Werdegang seiner Arbeiten thematisiert, bemerkt Lacan: „Wir befinden uns also in der Lage, diese Texte in eine zweite Zukunft (futur antérieur) versetzen zu müssen: sie werden unsere Einfügung des Unbewussten in die Sprache vorausgenommen haben.“ (Weber 2000: 23; vgl. Lacan 1966: 71)
Berücksichtigt man Lacans Formulierungen der Aufnahme des Spiegelbildes in der bislang skizzierten Vieldeutigkeit, dann ließe sich das Geschehen im Spiegelstadium vielleicht so reformulieren:
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Im Spiegelstadium kündigt sich qua Aufnahme des Spiegelbildes bereits das zukünftige Sprechwesen an, das faktisch noch nicht vorhanden ist. Es wird eine uranfängliche Form des Je gebildet, das sich wie in einer Hülle entwirft und vom Bild her entworfen wird, bevor es sich objektiviert, das heißt bevor es sich als Objekt von einem anderen Standpunkt aus erfahren kann. Die Struktur der Identifikation mit dem Spiegelbild stellt das Vorbild oder die Matrix für die Struktur der Identifikation mit dem Anderen dar. Sie funktioniert dialektisch im Sinne eines Abgleichs zwischen dem Je vor dem Spiegel und dem gestalthaft idealen Ich (moi) im Spiegel, der zum Versuch der Synthese wird, die lediglich phantasmatisch gelingt, faktisch aber nicht zu erreichen ist. Im Spiegelstadium kündigt sich das Werden zu einem Sprechwesen bereits an. Der Buchstabe, die Einführung in die symbolische Ordnung ist jedoch noch nicht an der Oberfläche des Subjekts aufgetaucht. Ganz und gar auftauchen wird das Subjekt laut Lacan nie. Es bleibt unbewusst, das heißt, es bleibt das, was nicht gekannt werden kann. Vom Sprechwesen schreibt Lacan einige Jahre später: „Le parlêtre adore son corps, parce qu’il croit qu’il l’a. En réalité, il ne l’a pas, mais son corps est sa seule consistance – consistance mentale, bien entendu, car son corps fout le camp à tout instant.“ (Lacan [1975-76] 2005: 66)
Übersetzung: „Das Sprechwesen himmelt seinen Körper an, weil es glaubt, dass es ihn hat. In Wirklichkeit hat es ihn nicht, aber der Körper ist seine einzige Festigkeit, eine mentale Festigkeit, wohlgemerkt, denn sein Körper macht sich jeden Moment aus dem Staub.“ (Übersetzung G.W., da das Seminar bislang nicht ins Deutsche übersetzt vorliegt)
In diesem Abschnitt wird die Flüchtigkeit und Fiktionalität des Körpers aus der Perspektive des Sprechwesens deutlich. Gleichzeitig wird die imaginäre Dimension der Festigkeit dieses Körpers als mentale, das heißt als vorgestellte Festigkeit thematisiert. Die Bewunderung des eigenen Körpers von Seiten des Sprechwesens verdankt sich als sekundäre Identifikation dem primären Narzissmus des Spiegelstadiums, auf den der Glaube daran aufsetzen kann, dass das Infans einen Körper hat. Nachdem das Ich (‚Je‘) durch die Aufnahme des Spiegelbildes (‚Moi‘) seine uranfängliche Form gewonnen hat, sind es laut Lacan also zwei weitere Schritte, die zur Bildung der Ich-Funktionen führen: Erstens, dass es sich in der Dialektik der Identifikation mit dem anderen objektiviert und zweitens, dass die Sprache im Allgemeinen ihm die Funktion eines Subjekts wiedergibt.
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5.3.1 Die Spaltung des Ich in ‚Je‘ und ‚Moi‘ Ein weiterer Aspekt des Lacan’schen Spiegelstadiums wird deutlicher, wenn man das Ich als eine Spaltung in ein Je vor dem Spiegel und ein Moi als IdealIch im Spiegel begreift. Das Spiegelbild stellt ein imaginäres Ideal-Ich dar, insofern es das Versprechen einer zukünftigen Ganzheit und Einheitlichkeit enthält, die immer nur annäherungsweise erreicht werden kann. Während dieses IdealIch laut Lacan als Quelle der imaginären Projektionen beschrieben kann, geht es bei den Ich-Idealen um symbolische Introjektionen, also um Signifikanten, die als Vorbild eines Gesetzes fungieren, das verinnerlicht wird (vgl. Evans 2002: 139-140). Im Spiegel erscheint dem Infans ein gestalthaftes, ideales Bild. Dieses Bild versucht es auch buchstäblich zu erreichen. Es kann aber an diesen Ort im Raum nicht gelangen, weil es sich den Kopf an der Oberfläche des Spiegels stößt, es stößt sich sozusagen den Kopf an der Realität. Das kleine Menschenkind untersucht, was sich hinter dem Spiegel befindet, entdeckt, dass sich da eine Wand befindet und kein Raum, in dem sich etwa die zuvor wahrgenommene virtuelle Gestalt befände. Es gerät angesichts der eigenen Unzugänglichkeit und Unzulänglichkeit in einen Engpass oder eine Sackgasse (frz. impasse). Hier springt nun die innere Spannung des Spiegelstadiums von der eigenen Unzulänglichkeit und Unzugänglichkeit auf die Antizipation über: So, wie das Infans dort im räumlich unerreichbaren Spiegelbild schon erscheint, will und wird es in der Zeit werden, also ganz und einheitlich ideal wie die Gestalt im Spiegel. Es geht insofern um einen Umschlag von einer räumlichen in eine zeitliche Anordnung. Dieses Moi im Spiegel ist dem Infans räumlich vor-gestellt und geht ihm, wie angedeutet, auch zeitlich voraus. Das Ich wird durch etwas außer ihm erzeugt, das ihm entgegen kommt, wie in einer der frühesten Übersetzungen des lateinischen Objectum als Gegenwurf (vgl. Grimm/Grimm [1854] 2014: Sp. 23042305) anklingt. Das Ich entwickelt sich nicht aus sich heraus, sondern es wird ihm entgegen geworfen. Das Infans identifiziert sich wie beschrieben mit diesem Objekt im Sinne einer Verwandlung (transformation). Gleichzeitig treten im Spiegelstadium das Ich (Je) und das Ich (Moi) auseinander, es wird eine Differenz eingezogen, die sich immer nur asymptotisch, annäherungsweise schließen lässt. Diese Differenz oder Spaltung des Ich schlägt sich laut Lacan als erotisch-aggressive Spannung nieder. Bearbeitet wird diese Konstellation der Gespaltenheit des Ich in Je und Moi durch einen Sprung von der räumlichen Anordnung in eine zeitliche Dimension: ‚So wie ich an diesem Ort jetzt schon erscheine, werde ich eines Tages in der Zukunft sein.‘ Dieser doppelte Aspekt des Zeit-Raums klingt im französischen Wort stade (du miroir) an, das sowohl das Stadion im Sinne eines räumlich befestigten Lagers, als auch das Stadium im
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Sinne einer zeitlichen Phase bezeichnet. In Bezug auf die Zeitlichkeit fasst Lacan den Prozess der Identifikation mit dem Spiegelbild also als eine antizipierende Vorwegnahme: „Diese Entwicklung [Anmerkung G.W.: die durch die spezifische Vorzeitigkeit der menschlichen Geburt notwendig werde] wird erlebt als zeitliche Dialektik, welche die Bildung des Individuums entscheidend als Geschichte projiziert: das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden. So bringt der Bruch des Kreises von der Innenwelt zur Umwelt die unerschöpfliche Quadratur der Ich-Prüfungen [récolements du moi] hervor.“ (Lacan [1949 a] 1986: 67, Herv. i.O.)
Die innere Spannung oder Kluft, die sich zwischen dem Infans vor dem Spiegel und dem faktisch unerreichbaren Ideal im Spiegel (Moi) räumlich auftut, springt auf einen Entwurf auf Zukunft hin um. Diese imaginierte, ideale Ganzheit wird jedoch niemals erreicht, sondern immer nur annäherungsweise, wie eine Asymptote, die sich der Nulllinie eines Koordinatensystems lediglich annähert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die faktisch fehlende Ganzheit nicht nur auf Zukunft hin entworfen wird, ‚so werde ich einmal sein‘, sondern in dem Sinne vorweggenommen wird, dass sie phantasmatisch erreicht wird. Denn Lacan begreift die Identifikation als eine wirksame Fiktion in dem Sinne, dass das Subjekt eben diese Fiktionalität auszublenden oder zu verkennen weiß. An dieser Stelle lässt sich vielleicht nachvollziehen, warum Lacan von der wahnhaften Struktur des Ichs spricht. Er versteht das Spiegelstadium als einen Prozess, in dessen Verlauf sich das Infans vollständig wähnt, es erkennt sich, ‚als ob‘ es ein einheitliches Ganzes wäre. Michael Wimmer fasst die Struktur des Wahns pointiert zusammen, wenn er darauf hinweist, dass er weniger „in falschen Vorstellungen von der Wirklichkeit [besteht], als vielmehr in der Verkennung, dass es sich um Vorstellungen handelt. […] Der Wahn besteht so gesehen in seiner Verleugnung, oder genauer: in der Verkennung, dass es keine klare und eindeutige Grenze zwischen Wahn und Wissen gibt. Er besteht daher wesentlich in der Gewissheit, keiner zu sein.“ (Wimmer 2007: 97)
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Das Erreichen der wirksamen Fiktion von Ganzheit ist nun der primäre Gewinn oder Sinn der Identifikation mit dem Spiegelbild. Damit es zur Identifikation im vollen psychoanalytischen Sinne einer Verwandlung kommt, benötigt das Infans also die oben beschriebene Angst vor dem Rückfall in den gestückelten Körper, die diesen Prozess sozusagen antreibt. Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass das Infans die Bedrohung durch die ganze Gestalt, die gleichzeitig als Bedrohung der ganzen Gestalt erfahren wird, also als Gefahr des Rückfalls in den gestückelten Körper, insbesondere qua Einbildungskraft bearbeitet. Die Bedrohung wird abgewendet, indem sie durch ein Phantasma, durch eine Einbildung abgewehrt wird. Allerdings ist diese Lösung kein ein für alle Mal erreichter Zustand, weil die phantasmatische Vorwegnahme des ganzen Ich von nun an „kontinuierlich von der Erinnerung an diesen Eindruck der Gestückeltheit bedroht, […]“ (Evans 2002: 356) bleibt. Diese Bedrohung zeige sich laut Lacan z.B. in Träumen als Loslösung einzelner Glieder, Beflügelung und Bewaffnung einzelner Organe oder auch in den Malereien eines Hieronymus Bosch, die die inneren Verfolgungen des Subjekts für immer festgehalten hätten (vgl. Lacan a.a.O.: 67). Lacan schreibt weiter: „Die totale Form des Körpers, kraft der das Subjekt in einer Fata Morgana die Reifung seiner Macht vorwegnimmt, ist ihm nur als ,Gestalt‘ gegeben, in einem Außerhalb, wo zwar diese Form eher bestimmend als bestimmt ist, wo sie ihm aber als Relief in Lebensgröße erscheint, das sie erstarren läßt, und einer Symmetrie unterworfen wird, die ihre Seiten verkehrt - und dies im Gegensatz zu der Bewegungsfülle, mit der es sie auszustatten meint.“ (Lacan a.a.O.: 64, Herv. i.O.)
Die Rede von der Vorwegnahme der Reifung des Subjekts lässt sich vielleicht so verstehen, dass die antizipierte Zukunft die erlebte Gegenwart entscheidend beeinflusst insofern sie eine Wahrnehmung von Ganzheit ermöglicht, über die das Infans faktisch noch gar nicht verfügt. Diese Vorwegnahme der ganzen Gestalt lässt aber gleichzeitig die Form des Ich erstarren, sie führt zur Fixierung, weil das Ich sozusagen von der Zukunft aus festgestellt und durch die starre Ganzheit der Gestalt gebannt wird. 5.3.2 Vorwegnahme und Nachträglichkeit Lacan deutet im Spiegelstadium eine Auffassung der Zeitlichkeit der psychischen Kausalität an, die schon Freud in der Frühphase seines Schaffens beschäftigt hatte. „So wie in der Nachträglichkeit die Gegenwart die Vergangenheit
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beeinflußt, so beeinflußt in der Vorwegnahme die Zukunft die Gegenwart.“ (Evans a.a.O.: 355) Freuds Auffassung von der nachträglichen Struktur psychisch bedeutsamer Prozesse entspricht strukturell der gleichen Logik, die Lacan mit der Vorwegnahme thematisiert. Der Freud’sche Grundgedanke der Nachträglichkeit lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: „Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren werden später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen einer anderen Entwicklungsstufe umgearbeitet. Sie erhalten somit einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit.“ (Laplanche/Pontalis 1977: 313)
Freud geht es aber nicht nur darum, dass Erfahrungen ihren spezifischen Sinn im Verlauf des Lebens verändern können, sobald sich durch andere Erfahrungen erweiterte Interpretations- und Reflexionsmöglichkeiten öffnen. Bereits 1896 formulierte Freud laut Laplanche und Pontalis in einem Brief an Wilhelm Fließ seine „Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt.“ (Laplanche/Pontalis 1977: 314, Herv. i.O.)
Das heißt, dass die Struktur des Psychischen nach dem Muster einer Aufschichtung funktioniert, deren chronologische und räumliche Anordnung allerdings nicht stabil bleibt. Das Material, die Erfahrungen, Eindrücke und Erinnerungsspuren können stattdessen umgeschrieben, in eine andere Ordnung gebracht werden, sodass später Geschehenes unter früher Geschehenes zu liegen kommen kann und das Material erst von dieser neuen Anordnung her seinen Sinn erhält. Entscheidend sei für Freud hierbei: „Nicht das Erlebte allgemein wird nachträglich umgearbeitet, sondern selektiv das, was in dem Augenblick, in dem es erlebt worden ist, nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden konnte.“ (Laplanche/Pontalis 1977: 312)14
Freud erläutert bereits in seinem frühen Entwurf einer Psychologie das Phänomen der Nachträglichkeit anhand des Beispiels der Verführung eines Kindes
14 Hier lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten in Bezug auf Waldenfels’ Auffassung der Erfahrung des Fremden bemerken, wie sie in Kapitel 4 rekonstruiert wurde.
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durch einen Erwachsenen. Er argumentiert, dass die chronologisch erste Szene einer sexuellen Verführung für das Kind noch keinerlei sexuelle Bedeutung habe. Erst ein chronologisch zweites Ereignis, das gewisse Ähnlichkeiten mit dem ersten aufweise, die sehr oberflächlich sein können, ermögliche zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt durch die inzwischen eingetretene Pubertät eine sexuelle Empfindung. Diese sexuelle Empfindung knüpfe das Subjekt nun jedoch bewusst an das zweite Ereignis, das lediglich oberflächliche Ähnlichkeiten mit dem ersten Ereignis haben kann, tatsächlich aber durch die Erinnerung an das erste Ereignis ausgelöst worden sei. Entscheidend ist, dass es für Freud allein die spätere, zweite Szene ist, die der ersten ihren pathogenen und traumatischen Wert verleiht. Insofern wurde die erste Szene erst nachträglich zu dem, was sie war, sie erhält nachträglich nicht nur ihren neuen Sinn, sondern auch eine veränderte psychische Wirksamkeit. Freud schreibe: „überall findet sich, daß eine Erinnerung verdrängt wird, die nur nachträglich zum Trauma geworden ist.“ (Zitiert nach Laplanche/Pontalis ebd.) Aus Freuds Perspektive lässt sich das Trauma deshalb nicht gegenwärtig bewusst erfahren, weil die Eigenart der traumatischen Erfahrung gerade darin besteht, dass die bewussten Erfahrbarkeitskapazitäten überschwemmt, überfordert oder überstiegen werden. Die Grundstruktur der Nachträglichkeit gilt nicht nur für den Fall traumatischer Erfahrungen, nach deren Vorbild das psychische Phänomen der Nachträglichkeit erläutert wird. Denn: „Jede adoleszente Person hat Erinnerungsspuren, welche erst mit dem Auftreten von sexuellen Empfindungen verstanden werden können.“ (A.a.O.: 315) Das meint selbstverständlich nicht, dass es etwa keine sexuellen Erfahrungen im Sinne von mit Lustgewinn verbundenen Empfindungen während der Kindheit gäbe. Der Grundgedanke von Lacans Vorwegnahme folgt einer ähnlichen Struktur, nur dass in der Vorwegnahme die antizipierte Zukunft die Erfahrung der Gegenwart beeinflusst. Das Ich konstituiert sich, indem es die eigene Zukunft imaginär vorwegnimmt und strukturiert so die gegenwärtige Erfahrung des Infans vor dem Spiegel. Die Struktur dieser Vorwegnahme verdeutlicht Lacan an anderer Stelle anhand der grammatikalischen Zeitform des Futur II, die im Französischen Futur antérieur genannt wird. In Bezug auf die Entstehung des Subjekts lässt sich formulieren: Ich bin, der ich gewesen sein werde. Das Subjekt nimmt im Spiegelstadium eine Zukunft vorweg, die seine Gegenwart als imaginäre Ganzheit bestimmt. Ähnlich wie in dem Satz: ‚Heute in einem Jahr werde ich dieses Buch veröffentlicht haben‘ wird ein gegenwärtiger Seinszustand von einer erwarteten, antizipierten Zukunft aus entworfen und fixiert damit die Gegenwart und nähere Zukunft. Die Vorwegnahme der zukünftigen Ganzheit
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fixiert das Ich auf ein Ideal von Ganzheit hin, das seine zukünftige Vergangenheit in Bezug auf das Erreichen von Ganzheit festschreibt. Statt das Subjekt also mit jener koordinierten Bewegungsfülle auszustatten, die das überlegene Spiegelbild dem Infans zu versprechen schien, wird es vom Spiegelbild eher gebannt, fixiert, gerahmt. Es wird von nun an mit dem Problem zu tun haben, diese Festung, diese orthopädische Stütze, dieses Stadion und den Panzer des Ich immer wieder zu lockern und in Bewegung zu bringen, damit die Vorstellungen und notwendigen Fiktionen, die sich das Ich von sich macht, nicht festfahren. Eben darin lässt sich das Drama der doppelten Struktur des Spiegelstadiums bemerken, dass Fiktionen notwendige Stützen darstellen, die jedoch immer wieder in Bewegung gebracht werden müssen, damit sie nicht festfahren. Es lässt sich erahnen, warum Lacan den Weg der Stärkung des Ich, den die so genannte Ich-Psychologie verfolgt, nicht für den angemessenen Weg der Psychoanalyse hält, sondern für einen fatalen Irrweg. Denn die Herausforderung für die Psychoanalyse, den Analytiker und den Analysanten besteht gerade darin, die vorhandenen Panzerungen und imaginären Verfestigungen des Ich beispielsweise in Bezug auf seine Idealbildungen und narzisstischen Strukturen immer wieder zu irritieren, zu lockern und zu unterbrechen. Das heißt, es geht darum, die verfestigten Fixierungen immer wieder mit dem Ziel zu lockern, neue Fiktionen zu ermöglichen und nicht darum, die Imaginationen des Ich noch weiter zu stärken, weil das die vorhandenen Fixierungen lediglich verstärkte. Diese Orientierung bedeutet selbstverständlich nicht den Versuch der absoluten Auflösung aller Ich-Fiktionen. Dieses Ziel käme einer Psychotisierung des Subjekts gleich. Es geht vielmehr um die Infragestellung jener Identifikationen des neurotischen Subjekts, die es Leiden machen, sodass sie nicht länger aufrechterhalten werden müssen, sondern andere Identifizierungen möglich werden und sich damit auch ein anderes oder verandertes Ich bilden kann.15 Eine solche Veränderung scheint Narcissus im Mythos des Ovid nicht zu gelingen, der Freud zur Namensgebung des Narzissmus angeregt hatte. Narcissus bleibt möglicherweise auf der Ebene des primären Narzissmus haften, jenem Zustand, in dem das Kind sich selbst mit seiner gesamten libidinösen Energie
15 Lacans Andeutung der Funktion der Angst in Bezug auf die antizipierende Vorwegnahme der Ganzheit, also die Identifikation mit dem Spiegelbild, erinnert an Freuds spätere Auffassungen vom Fortschrittscharakter der Angst als Angstsignal oder Erwartungsangst im Unterschied zur automatischen Angst. Der Fortschrittscharakter besteht laut Freud darin, dass eine Situation antizipierend vorweggenommen wird, eine ökonomisch gefährliche Situation also vor ihrem Eintritt erwartet wird. Ich komme im zweiten Teil dieses Kapitels darauf zurück.
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besetzt. Aus der Perspektive, die Lacan in seinem Aufsatz über das Spiegelstadium entwirft, kann Ovids Mythos von Narcissus als ein Scheitern der dialektischen Identifikation mit dem anderen verstanden werden. Die Verschiebung und Objektivierung des Ich misslingt und Narcissus verschmilzt mit dem eigenen Bild, er wird mit sich selbst identisch. Er nähert sich der fiktiven Linie, auf der das Ich (Moi) situiert ist, nicht nur asymptotisch an, sondern wird mit seiner Fiktion von sich wie mit einer Nullinie identisch. Narcissus geht in seinem Bild ganz und gar auf, sucht ohne Brüche und Spaltungen differenzlos identisch mit ihm sein, sodass die unerschöpfliche Quadratur der Ich-Prüfungen zum Erliegen kommt bzw. gar nicht erst einsetzen kann. Er verliebt sich Hals über Kopf in ein Bild, das er, wie das Infans, zunächst nicht als Bild von sich begreift. Narcissus „weiß nicht, was er da schaut, doch was er schaut, daran brennt er.“ (Ovid [vermutlich 1-8 n.Chr] 2002: 91) Es macht ihn wahnsinnig. Er ist wahnsinnig in sich selbst verliebt. Diese als Phase strukturell notwendige Selbstverliebtheit ins eigene Bild wird jedoch so übermächtig und permanent, dass Narcissus gar nicht mehr von sich absehen kann, sein Begehren besteht vielmehr ausschließlich darin, mit sich ganz und gar identisch zu sein, sich ein für alle Mal zu haben, ohne diese störende Differenz zwischen Je und Moi. Das Problem besteht darin, dass es bei diesem wahnhaften Phantasma bleibt. Nichts Drittes trennt diese duale Anordnung. Selbst die Nymphe Echo, ein auditives Äquivalent der visuellen Spiegelanordnung, führt nichts Drittes ein, das diese Dualität unterbrechen könnte, sondern reflektiert lediglich Narcissus eigene Worte, seine letzten Silben wiederholend. Die Stimme eines Anderen, die anderes sagt und von woanders her kommt, ihn mit dem eigenen Mangel und dem des Anderen konfrontieren könnte, fehlt hier. Narcissus Selbstidentität verwirklicht sich schließlich im Realen. Er stirbt. Narcissus erkennt nichts über sich hinaus, weil es keinen Anderen gibt, alles Erkannte und Begehrte ist an ihm, an dem Ort, wohin er nur gelangen kann, wenn er sogar den eigenen Körper als Möglichkeit der Differenzerfahrung aufgibt. Schließlich erkennt er: „Der da bin Ich! Ich erkenne! Mein eignes Bild ist’s! In Liebe Brenn’ ich zu mir, errege und leide die Flammen! Was tu ich? Laß ich mich bitten? Bitt’ ich? Was sollte ich dann auch erbitten? Was ich begehre ist an mir! Es läßt die Fülle mich darben. Könnte ich scheiden doch von meinem Leibe!“ (A.a.O.: 92)
Der übermächtige Wunsch vom eigenen Leibe zu scheiden, um mit dem Bilde eins zu werden, erfüllt sich. Alles Begehrte ist an ihm. Die Objektivierung in
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einer dialektischen Bewegung der Identifikation mit dem anderen gelingt nicht. Narcissus erträgt keine Differenz, will Differenzlosigkeit am eigenen Leibe erfahren, um endlich mit sich, dem über alles geliebten Bild von sich ein für alle Mal identisch zu sein. Das, was ihn als lebendigen Menschen ausmachte, eine Differenz zum eigenen Ideal, die zwar nicht angenehm sein mag, aber am Leben halten würde, muss dafür negiert werden: Er verwandelt sich schließlich, verschwindet entmenschlicht und wird zu etwas ausschließlich Schönem, aber nicht mehr spannungsvoll menschlich Begehrendem, er wird zu einer Blume. In Lacans Spiegelstadium wird das Subjekt, wie erläutert, gespalten in ein ‚Ich‘ (Je) und ein ‚Ich‘ (Moi) gedacht. Allerdings nicht gespalten in dem Sinne, dass zuvor eine Ganzheit da gewesen wäre, die anschließend gespalten und getrennt würde, sondern eher in der Weise, dass das ‚Ich‘ durch diese Spaltung allererst entsteht und in dieser Spaltung besteht. Die Vorstellung einer differenzlosen, symbiotischen Einheit von ‚Ich‘ und ‚Welt‘ ist vor diesem Hintergrund eine nachträgliche Fiktion. In diesem Sinne lässt sich das Spiegelstadium, um mit Waldenfels zu sprechen, als ein Differenzierungsprozess auffassen, in dem das, was unterschieden wird (Je und Moi) als Unterschiedenes (Je und Moi) allererst entsteht. Durch diese Spaltung treten beobachtendes Ich (Je) und beobachtetes Ich (Moi) auseinander. 5.3.3 Zur bildungstheoretischen Bedeutung des Spiegelstadiums Nachdem einige der Grundzüge des Lacan’schen Aufsatzes über das Spiegelstadium rekonstruiert wurden, geht es in einem nächsten Schritt um die Frage, worin der Beitrag dieser Überlegungen zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse bestehen könnte. Zunächst ist ähnlich wie im Zusammenhang mit Waldenfels’ Figur des Fremden darauf hinzuweisen, dass auch Lacan weder Bildungstheoretiker noch Erziehungswissenschaftler ist. Es gilt daher zu bedenken, dass seine Theorie des Spiegelstadiums die Frage nach der Bildung oder Entstehung der Ich-Funktion in psychoanalytischem Erkenntnisinteresse thematisiert. Lacan greift psychoanalytische Begriffe wie beispielsweise Ideal-Ich, Ich-Ideal oder Narzissmus auf, die im Zusammenhang mit Freuds Auffassung der Arbeitsweise des komplexen psychischen Apparats stehen, den er in seiner so genannten zweiten Topik bekanntlich in die Instanzen Es, Ich, und Über-Ich zergliedert hatte. Diese Instanzen waren aber laut Lacan vor allem von der so genannten Ich-Psychologie in einer Art und Weise verstanden worden, die er für eine Verfälschung des Freud’schen Denkens hielt. Lacans Überlegungen stehen
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also nicht zuletzt in diesem Kontext der Kritik an den Entwicklungen innerhalb der Psychoanalyse. Dennoch enthalten Lacans Überlegungen zur Bildung oder Formation des Ich bildungstheoretische Anregungen, die zu präzisieren ermöglichen, wie die Entstehung oder Erzeugung von Ich und Welt gedacht werden kann. Lacans Überlegungen ermöglichen sowohl Einsichten in die Struktur von Welt- und Selbstentwürfen als auch Antworten auf die Frage nach der Herausforderung von Bildungsprozessen. Diese Einsichten und Antworten werden im Folgenden in drei Punkten erläutert: Bildungstheoretisch bemerkenswert sind erstens Lacans Hinweise auf die spezifische Vorzeitigkeit der menschlichen Geburt und die relative Instinktarmut des Menschenjungen. Sie machen verständlich, warum und inwiefern ihm überhaupt seine besondere, anthropologische Möglichkeit und Notwendigkeit zur Bildung zukommt. Denn der Hinweis, dass das Ich des Menschen gerade nicht durch mitgebrachte Instinkte festgelegt und gesteuert wird, spricht dafür, dass das menschliche Ich nicht als Ergebnis eines natürlich-biologischen Reifungsprozesses zu denken ist. Vielmehr bildet sich das Ich des Menschen nur über ein Außerhalb, das ihm sein Ich und ein Verhältnis zu sich und zur Welt allererst ermöglicht. Diese spezifische Weltoffenheit, die mit der Formierung des Ich verbunden ist, kann mit Lacan als anthropologische Voraussetzung für die Möglichkeit von Bildungsprozessen, für seine Bildsamkeit verstanden werden. In diesem Zusammenhang ist jedoch auch darauf hinzuweisen, dass Lacan die Bildung der Ichfunktion in diesem frühen Aufsatz mit der Rede vom Menschen als Frühgeburt auf der Grundlage eines letztlich biologischen Kriteriums begründet. Die Auffassung von der spezifischen Weltoffenheit oder Angewiesenheit des Ichs auf Welt ist keine bildungstheoretische Neuigkeit, sondern ein Grundgedanke, der in der bildungstheoretischen Tradition geläufig ist. Sie erinnert zum Beispiel an Humboldts Überlegung, dass die Aufgabe unseres „Daseyns“ (Humboldt [1793] 1960: 235) darin besteht, dem Begriff der Menschheit in unserer Person einen möglichst großen Inhalt zu verschaffen, eine Aufgabe, die „allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.“ (A.a.O.: 235-236) gelöst wird. Auch Humboldt begreift das Verhältnis von Ich und Welt als eine Wechselwirkung, konzentriert sich jedoch vor allem auf die Beantwortung der Frage, wie diese Wechselwirkung optimaler Weise vonstatten gehen soll, nämlich frei, rege und allgemein (vgl. Koller 2006: 80-84). Damit enthält Humboldts Gedanke ein stark normatives oder idealistisches Moment und zumindest in diesem Zitat weniger theoretische Einsichten darüber, wie sich das Verhältnis genauer denken und beschreiben lässt. Er begreift das Ich und die Welt zwar wechselseitig aufeinander
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bezogen, führt aber nicht genauer aus, wie diese wechselseitige Wirkung denn zu verstehen ist, ob zum Beispiel als Wirkung zwischen zwei bestehenden Entitäten, die vorauszusetzen sind und durch das je andere lediglich beeinflusst werden oder ob als Wechselwirkung, die Ich und Welt bewirken, sodass beide durch diese Wechselwirkung allererst entstehen und in diesem Sinne konstitutiv miteinander verknüpft sind. In Bezug auf diese, bei Humboldt offene Frage, lassen sich Lacans Überlegungen nun als Präzisierung einer Form von Wechselwirkung auffassen, die Ich und Welt als unterscheidbare im Sinne der zweiten Möglichkeit allererst erzeugen oder bewirken. Das Ich bildet sich aus sich heraus, wird zu einem anderen, indem es sich gerade nicht aus sich heraus bildet, sondern qua Anderem gebildet wird. Das Ich ist mit Lacan also nicht als eine kernhaft angelegte Substanz zu begreifen, die sich in einem natürlichen Reifungs- oder Entwicklungsvorgang aus sich heraus entfaltet, sondern entsteht relational durch den Anderen. Dieses Ich wird durch die Ein-Bildung eines gestalthaften anderen gebildet, es bildet sich die Welt im Sinne der Identifikation mit einem anderen ein und verwandelt sich durch diese Identifikation mit einem Außerhalb in einem aktiv-passiven Prozess. Ich und Welt entstehen aus der Lacan’schen Perspektive des Spiegelstadiums einerseits als gleichursprüngliche Differenz und dadurch als Unterschiedene und Unterscheidbare. Andererseits treibt diese Differenz das Ich zur Identifikation mit der Welt, die die (reale) Differenz imaginär (fiktiv) und symbolisch überzieht und verdeckt. Für die Bildung des Ich sind andere wie die Gestalt im außerhalb des Spiegels und andere Personen konstitutiv. Ebenso wird die Welt als getrennt wahrnehmbare und vom Ich unterschiedene und unterscheidbare allererst durch den Differenzierungsprozess des Auseinandertretens in Je und Moi erzeugt. Lacan denkt das Ich als eine Spaltung ohne etwas, das sich aufspaltet. Diese Überlegungen sprechen dafür, einen Vorschlag von Kokemohr aufzugreifen und seine ältere Formulierung von den Welt- und Selbstentwürfen oder Welt- und Selbstverhältnissen zu modifizieren, indem das ‚und‘ aus dieser Formulierung getilgt wird. Kokemohr schlägt stattdessen vor, von Welt-Selbstentwürfen bzw. „von WeltSelbstverhältnissen“ (Kokemohr 2014: 23) zu sprechen. Diese Modifikation hebt hervor, dass ‚Welt‘ und ‚Selbst‘ nicht als voraussetzbare Entitäten zu begreifen sind, sondern gleichursprünglich entstehen und sich wechselseitig bedingen. Sie hebt hervor, dass jeder Selbstentwurf den Entwurf einer Welt impliziert und umgekehrt. ‚Welt‘ und ‚Selbst‘ sind voneinander abhängige Ausdrücke und beschreiben keine feststehenden Entitäten (vgl. ebd.). Zweitens verdankt sich die Entstehung des Ich aus Lacans Perspektive einer doppelten Verkennung, die einerseits in der Verkennung der Andersheit des anderen und andererseits in der Verkennung der Angewiesenheit auf andere
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besteht. Was heißt das für die Struktur von Welt-Selbstentwürfen bzw. WeltSelbstverhältnissen? Bildungstheoretisch gedacht ordnen und orientieren grundlegende Figuren die Möglichkeiten, kraft derer wir uns auf ‚Welt‘ und auf ‚uns selbst‘ beziehen. Sie strukturieren die Gesamtheit der Sichtmöglichkeiten auf uns selbst, auf andere und die Welt. Grundlegende Figuren des WeltSelbstentwurfs lassen sich aus psychoanalytischer Perspektive als strukturell gestalthafte Ganzheiten oder als die Totalität des uns Selbstverständlichen beschreiben, kraft derer wir je und je Begegnendes einordnen, sortieren, subsummieren und interpretieren.16 Diese Gesamtheit oder Ganzheit des WeltSelbstentwurfs versetzt uns insofern in die Lage, etwas als etwas wahrzunehmen. Das Spannende an Lacans Interpretation des Spiegelstadiums ist, dass sie diese Ganzheit oder Totalität des Welt-Selbstentwurfs als eine wirksame und notwendige Fiktion zu denken ermöglicht, die die Andersheit von Welt und Selbst verkennt. Die unsagbare und unvorstellbar reale Dimension von Welt und Selbst, dass es etwas gibt, wird wie mit einer „Couverture“ (Pazzini 2009: 65), einer Glasur aus Vorstellungen und Fiktionen überzogen, die die symbolische Sagbarkeit von ‚Welt‘ und ‚Selbst‘ „betreibt“ (Pazzini 2014: 4). Welt-Selbstentwürfe bzw. Welt-Selbstverhältnisse mitsamt ihren unzweifelhaften, impliziten und expliziten Selbstverständlichkeiten lassen sich mit Lacan als wahnhafte Struktur auffassen, nicht wegen der falschen Vorstellungen, die sich das Ich von seiner ihm selbstverständlichen Wirklichkeit macht, sondern weil es verkennt und verkennen muss, dass es sich um Vorstellungen handelt, damit das Phantasma seine stützende Funktion ausüben kann. In diesem Zusammenhang wird mit Lacan der Betreiber der Identifikation des Infans mit dem Spiegelbild, also die Angst vor dem gestückelten Körper bildungstheoretisch bemerkenswert. Lacans Beobachtungen des Infans legen nahe, dass ihm die Einordnung des Spiegelbildes Probleme bereitet oder besser, dass zumindest die Ordnung des ‚Ich‘ in der Beschäftigung mit dem Spiegelbild
16 Aus Lacans Perspektive ließe sich vermutlich das, was Kokemohr eine Figur nennt, als eine Verbindung aus einer imaginären Gestalt und einem symbolischen Signifikanten beschreiben, die das Reale überziehen.
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erst allmählich erzeugt wird.17 Das Aha-Erlebnis ist lediglich ein Moment dieses Prozesses, denn das Infans untersucht weiterhin in verschiedenen Anläufen sowohl den Spiegel und die Spiegelfläche als auch das Spiegelbild. Es experimentiert mit diesem gesamten Komplex, das Spiegelbild scheint dem Infans zunächst fremd in dem Sinne zu sein, dass es sich zeigt, indem es sich in seiner Bedeutung und seinem Verhältnis zum Gespiegelten entzieht. Erst im Verlauf der experimentierenden Untersuchung, die vor allem die fragende Wendung an die Eltern enthält, wird dem Infans das Spiegelbild in seiner Bedeutung als sein ‚Ich‘ zugesprochen, zugeschrieben und zugänglich. Der Entzug zieht das Infans in jene Bewegung der Identifikation, die von der lustbesetzten Wahrnehmung der Ganzheit des gestalthaften Spiegelbildes und der gleichzeitigen Wahrnehmung der Gestückeltheit des eigenen Körpers angetrieben wird, die mit Angst besetzt ist. Das eigene Ich wird in diesem Sinne durch Fremdes erzeugt, das sowohl mit Lust als auch mit Angst verbunden ist und beide Affekte treiben die Identifikation mit dem Spiegelbild an. Die Angst im Spiegelstadium lässt sich nun aber ausgehend von Lacan als eine Gefahr verstehen, die aus zwei Richtungen droht, die den Engpass der Angst kennzeichnen. Aus der einen Richtung droht die Gefahr vom gestückelten Körper her, der gleichursprünglich mit der Wahrnehmung der überlegenen ganzen Gestalt entsteht. Diese Gefahr lässt sich zugespitzt als Gefahr identitätsloser Differenz im Sinne bloßer Gestückeltheit disparater Teile ohne Zusammenhang formulieren. Aus der anderen Richtung droht aber gleichzeitig die Gefahr vom Erreichen der Ganzheit im Sinne des absoluten Verschmelzens mit dem eigenen Bild her, mit dem IdealIch, dem sich der Narcissus des Mythos um den Preis seines eigenen Verschwindens ganz und gar hingibt. Diese Gefahr lässt sich zugespitzt als Gefahr differenzloser Identität im Sinne eines fehlenden Mangels formulieren. Diese beiden Gefahren ergeben in ihrem Zusammenspiel jenen Engpass, in dem das Angstsignal gegeben wird, weil sich das Subjekt von beiden Richtungen her aufzulösen droht. Vor dieser Gefahr soll die Angst das Subjekt bewahren. Vergegenwärtigt man sich, dass die Grundstruktur des Spiegelstadiums sich auch im Verhältnis zu anderen Personen ausspielt, lässt sich diese Struktur der
17 Allerdings muss m.E. irgendeine, zumindest rohe Form von Ordnung oder Vorordnung vorhanden sein, an die angeschlossen werden kann, ansonsten könnte das Infans nicht experimentieren. Wie sich diese Ordnung jedoch vor dem Vorhandensein der psychischen Instanz des Ich denken lässt, ist eine andere Frage, die hier nicht genauer geklärt werden kann und soll. Möglicherweise ist sie vor allem durch LustUnlustreihen wie Nahrung-Nicht-Nahrung, warm-kalt, hell-dunkel, Mutter anwesendabwesend, Verdauung ja nein etc. strukturiert.
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Angst aus psychoanalytischer Perspektive auch aus der libidinösen Dynamik zwischen dem Infans und der Mutter erschließen: „In seiner gleichermaßen alles vereinnahmenden Eigenliebe setzt es [das kleinkindliche Subjekt; Anm.: G.W.] voraus, dass sie [die Mutter; Anm.: G.W.] es ebenso wiederliebt. Indem es versucht, sich dies vorzustellen, wird es buchstäblich eng. […] Wenn nämlich die riesige Mutter ihren kleinen Fratz ebenso in überschwänglicher Liebe verschlingen wollte, wie er selbst es von sich vorstellt und wie sie das gemäß seiner Forderung der gleich großen Gegenliebe eigentlich tun müsste – wir sagen dazu: das Kind hält sich für den Phallus der Mutter –, dann würde es bedrohlich eng, ja vernichtend für das kindliche Subjekt werden. Spätestens hier steht es einer libidinösen Konstellation gegenüber, die Gefahr bedeutet: Es steht seinen eigenen Wünschen hilflos gegenüber. Befriedigung heißt Vernichtung. Verzicht bedeutet, dem Ansteigen der unlustvollen Erregung hilflos ausgeliefert zu sein, und er bedeutet, das geliebte Objekt, insbesondere das lebensvolle Gefühl geliebt zu werden, zu verlieren, also den wichtigsten Teil des Gefühls überhaupt zu leben, zu verlieren. […]. Das Subjekt droht, sich aufzulösen. Das ist die eigentliche Gefahr, vor der das Angstsignal es bewahren soll.“ (Arlt-Niedecken 2006: 84)
In Bezug auf das Fremde als Herausforderung für Bildungsprozesse lässt sich vermuten: Dadurch, dass uns etwas begegnet, das sich unserer Ordnung entzieht, werden wir einerseits konfrontiert mit der Unvollständigkeit und dem fragmentarischen Charakter des gegebenen Welt-Selbstentwurfs. Das heißt, dass wir mit jener Gestückeltheit und Unvollständigkeit konfrontiert werden, die durch die wirksame Fiktion der eigenen Ganzheit phantasmatisch verdeckt wurde und insofern überwunden zu sein schien. Das Fremde konfrontiert also insofern mit der Vorläufigkeit und Haltlosigkeit unseres Welt-Selbstentwurfs als es die Fiktionalität und Wahnhaftigkeit des Selbstverständlichen bemerkbar werden lässt. Erst durch diese Konfrontation können andere Vorstellungen von der Wirklichkeit, andere Welt-Selbstentwürfe gebildet werden. Andererseits konfrontiert das Fremde gerade kraft seiner Andersheit mit der neuerlichen Möglichkeit der Gewinnung von Ganzheit qua Identifikation, deren bruchlose Realisierung das Subjekt aus der anderen Richtung gefährdet, zumindest wenn sie im Sinne einer absoluten Identifikation mit dem Fremden zu einer differenzlosen Identität würde. Lacan hatte jedoch betont, dass die Identifikation des Subjekts mit seinem Ideal-Ich lediglich asymptotisch erreicht wird, wie erfolgreich die dialektischen Synthesen auch immer verlaufen mögen, kraft derer es als Ich seine Nicht-Übereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muss. Es bleibt vor diesem Hintergrund ein Rest oder Mangel, eine Differenz, die sich nicht aufheben oder beheben lässt und gerade diese Unaufhebbarkeit
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hält möglicherweise das Subjekt in Existenz und den Prozess der Erfindung kreativer Antworten auf das Fremde im Sinne der Erfindung neuer Fiktionen in Gang. Diese Überlegung läuft im Kern darauf hinaus, dass die Konfrontation mit dem Fremden an jene angstbesetzte Gestückeltheit unseres Körpers erinnert, die gemeinsam mit der lustbesetzten Wahrnehmung des gestalthaften Bildes erfahren wurde und die durch die Identifikation mit dem Bild beantwortet und in diesem Sinne abgewehrt wurde.18 Aus diesem Grund wäre die Erfahrung des Fremden als Herausforderung für transformatorische Bildungsprozesse konstitutiv mit Angst verbunden. Diese Denkfiguren tragen dazu bei, Kokemohrs Einschätzung zu erläutern, warum und inwiefern „stets nahe liegt, dass eingelebte Figuren durch Abdunkelung, Abwehr, Negation, Diffamierung oder Umdeutung textuell-symbolischer oder bildhaft-imaginärer Einbrüche aufrecht erhalten werden […].“ (Kokemohr 2007: 21)
Aus psychoanalytischer Perspektive lässt sich formulieren, dass subsumtionsresistente Erfahrungen strukturell der Infans-Erfahrung des fremden Spiegelbildes ähneln und deshalb dazu tendieren, durch vorhandene Identifikationsmuster phantasmatisch verdeckt zu werden, weil sie an eine frühe Phase des werdenden Subjekts erinnern, in der bereits eine andere Bedrohung qua Identifikation abgewehrt wurde. Vor diesem Hintergrund ließe sich begründen, warum nicht jede subsumtionsresistente Erfahrung in einen Bildungsprozess mündet. Allerdings stellen sich hier Fragen: So zum Beispiel, ob es Formen von Identifikation oder Phantasmen gibt, die sich mit einer Veränderung eingelebter Figuren parallelisieren lassen und auf welcher Ebene eine solche Veränderung dann stattfinden müsste. Wäre das noch auf der Ebene des Bewussten zu situieren? Ebenso stellt sich die Frage nach der Qualität oder der Eigenart der soeben erwähnten Erinnerung an den gestückelten Körper. Ist diese Erinnerung im Sinne einer schlichten Wiederbelebung einer infantilen Konstellation zu verstehen? In Analogie zum Geschehen im Spiegelstadium würde das Fremde durch seine Aufnahme und Vereinnahmung ja eher angeeignet und in diesem Sinne seiner Fremdheit beraubt. Eine solche Reaktion würde zwar mit Lacan eine geläufige Umgangsweise mit dem Fremden erklären, wäre ja aber geradezu das Gegenteil einer kreativen Antwort auf den Anspruch des Fremden, die mit einem Bildungsprozess gleich zu setzen wäre. Für die Beantwortung dieser Fragen sind
18 Die Auffassung, dass die Identifizierung als Abwehrmechanismus des Ich im Sinne des Schutzes gegen Triebansprüche verstanden werden kann, geht auf Freud zurück (vgl. dazu z.B.: Freud [1926] 1971, Bd. VI: 301).
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weitere theoretische Überlegungen vonnöten, die über die Denkfiguren des Spiegelstadiums und dessen Formulierungsmöglichkeiten hinausgehen. Ausgehend von Waldenfels’ Überlegungen wurde die Vermutung formuliert, dass Welt-Selbstentwürfe durch das Fremde allererst in dem Sinne entstehen, dass sie ‚bewusst‘ bemerkt werden können. Mit Lacans Überlegungen aus dem Spiegelstadium lässt sich diese Vermutung präzisieren: Auf der Ebene ihrer Konstitution treten Welt und Selbst im Spiegelstadium zwar gleichursprünglich auseinander und entstehen durch diese Unterscheidung allererst als Unterschiedene, sodass sich die Entstehung von Welt und Selbst insofern auch als Veränderung oder Verwandlung des Infans begreifen lässt. In Bezug auf die Figuren des Welt-Selbstentwurfs, die andeuten, dass es um ein sprachliches, symbolisches oder zeichenhaft strukturiertes Phänomen geht, lässt sich die Erfahrung des Fremden jedoch plausibler und nahe liegender so auffassen, dass sie die Selbstverständlichkeit der Figuren des Welt-Selbstentwurfs als eine Fiktion zum Vorschein bringt, die fraglich wird und deshalb andere Fiktionen herausfordert. Welt-Selbstentwürfe entstehen vor diesem Hintergrund nicht in dem Sinne durch Fremdes, dass sie ex-nihilo hervorgebracht werden, sondern eher in dem Sinne, dass sie durch Fremdes in ihrer Selbstverständlichkeit fraglich und damit reflektierbar werden können. Dadurch, dass sich das Fremde entzieht, provoziert es einen Zug, eine Bewegung, die hin zu einer Veränderung führen kann.
Ü BERGANG : D AS I MAGINÄRE , D AS S YMBOLISCHE , D AS R EALE Nachdem im ersten Teil dieses Kapitels anhand von Lacans früher Theorie über das Spiegelstadium einige Überlegungen zur Struktur und Funktion von Angst und Begehren angedeutet und bildungstheoretisch gewendet wurden, geht es im zweiten Teil um Lacans Theorie der Angst. Diese Verknüpfung stellt nicht nur einen zeitlichen Sprung von einer Etappe der Lacan’schen Theoriebildung zur nächsten dar, sondern überspringt auch theoretische Weiterentwicklungen des Lacan’schen Denkens insgesamt. Während die Überlegungen zum Spiegelstadium in einer ersten Version bereits 1936 vorgetragen wurden, hielt Lacan das Seminar X mit dem Titel ‚Die Angst‘ im Jahr 1962/1963 ab. Es liegt nahe, dass sich Lacans Denken während der 26 Jahre, die dazwischen liegen, weiterentwickelt hat. Zudem versteht sich, dass eine Rekonstruktion dieser theoretischen Entwicklungen eine eigene Arbeit wäre und im Rahmen meines Vorhabens nicht umfassend geleistet werden kann. Im Rahmen der Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist jedoch zumindest eine theoretische Grundfigur des Lacan’schen
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Denkens in groben Zügen zu skizzieren, die an die Überlegungen aus dem Spiegelstadium anschließt. Denn wenn Lacans Interesse am Spiegelstadium zwar nicht nur, aber doch insbesondere der ‚Ichfunktion‘ galt, die in ihrem theoretischen Wert besonders in die Denkfigur des Imaginären mündete, ermöglichte Lacans weiterer Denkweg die Formulierung zweier weiterer, so genannter Register, nämlich des Symbolischen und des Realen. Diese Ordnungen ermöglichen unter anderem zu differenzieren, was aus Lacans Perspektive unter ‚Ich‘, ‚Individuum‘ und ‚Subjekt‘ verstanden werden kann. Diese Differenzierung ist aus bildungstheoretischer Perspektive relevant, weil sie dazu beiträgt, jenes etwas zu denken, dessen Welt-Selbstentwürfe im Verlauf eines Bildungsprozesses einer Veränderung unterliegen. Die folgende, holzschnittartige Skizze der drei Register ist im Rahmen der bildungstheoretischen Fragstellung zudem von Belang, weil der Kokemohr’sche Bildungsbegriff in kritischer Auseinandersetzung mit dem selbstreferentiellen, cartesianischen Subjekt ein Subjekt zu denken sucht, das nicht als Instanz, sondern als Moment eines (sprachlich strukturierten) Prozesses aufzufassen ist. Zunächst ist hervorzuheben, dass die Begriffe ,Ich‘, ‚Individuum‘ und ‚Subjekt‘ aus Lacans Perspektive Funktionen bezeichnen und nicht Instanzen in dem Sinne, dass sie etwa fest stehende Entitäten oder statische Gegebenheiten bezeichnen würden (vgl. Evans 2002: 141 ff.; 291 ff.; Lacan [1945] 1986: 121). Bereits bei Freud hatte der Begriff ‚Instanz‘ eine ähnliche Bedeutung. Er bezeichnet dort eine von verschiedenen Substrukturen, die in Zusammenhang mit seiner topischen und dynamischen Konzeption der Funktionen des psychischen Apparats stehen (vgl. Freud [1900] 1976 Bd. II: 516, 577; Freud [1923] 1955: 286, 315; Laplanche/Pontalis 1977: 230-231). Das heißt beim späten Freud, dass sich eine ‚Instanz‘ durch ihr Verhältnis zu anderen ‚Instanzen‘ auszeichnet. Auch Lacan versteht vor diesem Hintergrund unter einer ‚Instanz‘ nichts Statisches, sondern eher etwas Drängendes, etwas in anderes Hineinragendes, das insistiert, und zum Beispiel, ähnlich wie das Freud’sche Es, auf etwas besteht. Im Falle des Es geht es stark vereinfacht formuliert darum, dass sich die Triebansprüche Geltung verschaffen, indem sie sich in den anderen ‚Instanzen‘ (Ich und Über-Ich) bemerkbar machen und dort verschiedene Schicksale erfahren. Im Übrigen benutzt Lacan den Begriff Instanz (frz. instance) zwar an prominenter Stelle, nämlich in Zusammenhang mit der Entwicklung seiner sprachtheoretischen Reformulierung der Freud’schen Psychoanalyse, hinsichtlich des Feldes des Psychoanalyse spricht er bei dem, was Freud
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‚Instanz‘ nennt, jedoch eher von Funktionen (vgl. Lacan [1957b] 1986: 19).19 Insofern geht es bei der Unterscheidung zwischen ‚Subjekt‘, ‚Ich‘ und ‚Individuum‘ mit Lacan um je verschiedene Funktionen, die ihnen zukommen, Verhältnisse, die sie unterhalten, Ansprüche, die sie vertreten und Aufgaben, die sie erfüllen. In Lacans Terminologie, die bekanntlich mit Freud über Freud hinauszugehen sucht, lassen sich die drei Begriffe in ihrer jeweiligen realen, imaginären und symbolischen Dimension darstellen und insofern verschieden akzentuieren und perspektivieren. Was ist damit gemeint? Lacans Unterscheidung des Imaginären, Symbolischen und Realen stellt eine übergeordnete theoretische Struktur oder Ordnung dar, die im Verlauf dieser Arbeit bereits an einigen Stellen angedeutet wurde. Es handelt sich bei dieser Unterscheidung um ein grundlegendes, allerdings keineswegs starres Ordnungssystem des Feldes der Psychoanalyse. Lacan bezeichnet die Ordnungen des Realen, Imaginären und Symbolischen als die verschiedenen Register, in denen er jene Phänomene denkt, die aus psychoanalytischer Perspektive relevant sind. Es kann und soll an dieser Stelle lediglich der Grundgedanke in groben Zügen skizziert werden. Das Imaginäre ist jener Bereich des Psychischen, der bildhaft und dual organisiert ist. In den Rekonstruktionen des Spiegelstadiums dürfte deutlich geworden sein, dass beim Imaginären die Prävalenz der Beziehung des Bildes zum Ähnlichen, die Identifikation mit dem kleinen anderen im Sinne eines personalen anderen und der Bereich der Vorstellungen und Fiktionen eine grundlegende Rolle spielen. Das Symbolische kennzeichnet die Klasse von Phänomenen, die wie eine Sprache strukturiert sind. Es geht beim Symbolischen um die Beziehungen von Signifikant, Signifikat und großem Anderen. Das Symbolische ist insofern im Unterschied zum Imaginären triadisch organisiert. Die symbolische Ordnung ist jedoch nicht einfach gleichzusetzen mit der Sprache. Denn die Sprache schließt ebenso eine imaginäre und eine reale Dimension ein. Lacan entwickelt das Register des Symbolischen in Anlehnung an Lévi-Strauss’ ethnologisch angelegten Ausdruck der symbolischen Funktion, die grob zusammengefasst darin bestehe, Verwandtschaftsbeziehungen zu strukturieren und durch den Austausch von Geschenken zu regeln (vgl. Evans 2002: 299; Lévi-Strauss [1949] 1963: 203f.). Die Grundform des Tauschs bestehe im Austausch von Wörtern und in der Gabe des Sprechens und für Lacan sind Begriffe wie Gesetz, Struktur und Sprache entscheidend für seine Auffassung des Symbolischen, das im Wesentlichen eine
19 Vgl. zur bildungstheoretischen Bedeutung der Lacan’schen Sprachtheorie Koller 1990a: 55 ff.; Koller 2012: 49-53.
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linguistische Dimension enthält. Das Symbolische spielt deshalb eine besondere Rolle bei der Entwicklung einer der zentralen Thesen Lacans, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei (vgl. z.B.: Lacan [1957a] 1986: 19). Das Reale lässt sich zunächst nur negativ fassen und bestimmen. In gewissem Sinne lässt es sich überhaupt nicht fassen und bestimmen, insofern jede Bestimmung und Fassung dem Symbolischen zugehört und Vorstellungen, also Imaginäres enthält. Insofern kennzeichnet das Reale den Bereich des Unbestimmbaren und Unfassbaren. Es ist jedoch keine bloße Negation. Lacan sucht mit dem Realen einen Bereich zu denken, der weder imaginär noch symbolisch ist. In diesem Sinne ist das Reale das Unmögliche. Es zeichnet sich durch seine konstitutive und radikale Unzugänglichkeit aus, was jedoch nicht heißt, dass es nicht wirkt. Denn seine Wirkungen bekunden sich am oder im rohen Körper, das Reale hat eine Nähe zum Kantschen Ding, zum Schock und zum Trauma, womit es jedoch sogleich wieder ins Symbolische und Imaginäre übersetzt ist. Es ist insofern dieses bloße, dass es etwas gibt, das sich jedoch stets entzieht, insofern es weder symbolisiert noch vorgestellt werden kann.20 Das Reale entzieht sich dem ‚Ich‘ und dem ‚Individuum‘ ebenso radikal wie dem philosophischen Bewusstseins-‚Subjekt‘. Das Reale ist nicht zu verwechseln mit der Realität. Es markiert einen Aspekt von Realität, der weder imaginär noch symbolisch ist, sondern Vorstellungen und Symbolisierungen in Gang setzt und bewirkt. Da Realität jedoch stets nur als ‚Realität‘, das heißt als aussagend ausgesagte zugänglich ist (vgl. Kokemohr 2007: 50), die stets auf Vorstellungen verweist, ist das Reale der Realität dasjenige, was darin unzugänglich bleibt. Das lässt sich bis zu diesem Punkt vielleicht auch so formulieren: Das Reale ist die Bedingung der Möglichkeit imaginärer und symbolischer Realität. Das heißt, dass das Reale der Realität sich als solches außerhalb des Feldes der Erkenntnis befindet. Eben deshalb, so ließe sich bildungstheoretisch formulieren, sind Vorstellungen von uns selbst und der Welt, sind Entwürfe von uns und der Welt möglich und notwendig. Eben deshalb können und müssen wir uns und unsere Welt im weitesten Sinne sprachlich, zeichenhaft entwerfen. Das heißt, dass das Reale eine Potenzialität darstellt, die uns Welt-Selbstentwürfe ermöglicht und uns zu ihnen nötigt. Aus Lacans Perspektive ist das Reale jedoch dadurch gekennzeichnet, dass es sich nicht nur der Erfahrung, sondern sogar noch dem Denken selbst entzieht. Zumindest jenem Denken, das bei Kant im transzendentalen Selbstbewusstsein verankert wird und im cartesianischen Cogito-Subjekt einen
20 Aus dieser Perspektive und auf dieser Ebene besteht eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Lacans Begriff des Realen und Waldenfels’ Begriff des Fremden.
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Ankerpunkt findet. Das Reale, so könnte man sagen, ist nicht im Denken verankert, sondern, wie zu erläutern sein wird, in Angst und Begehren. Abbildung 1: Borromäischer Knoten
(Gereon Wulftange, angeregt durch Lacan, nach einer Interpretation von Pazzini)
Vor diesem Hintergrund lässt sich in den Überschneidungsraum der drei Ordnungen, die Lacan in der Figur des so genannten borromäischen Knotens (vgl. Evans 2002: 64f.) darstellt, der Begriff ‚Realität‘ eintragen. Dieser Knoten hat seinen Namen vom italienischen Adelsgeschlecht der Familie Borromeo, in dessen Wappen er abgebildet ist. Es handelt sich um eine Anordnung von drei Ringen, deren Besonderheit darin besteht, dass das Herauslösen eines Ringes dazu führt, dass auch die anderen beiden Ringe frei werden und nicht mehr miteinander verbunden sind. Das heißt, dass die Ringe paarweise unverschlungen angeordnet, zu dritt aber unlösbar miteinander verbunden sind. Der Borromäische Knoten dient Lacan zur Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen den drei Ordnungen. Anders formuliert: Ein Einbruch des Realen, ein unsagbares und in der Vorstellung nicht repräsentierbares etwas, ein bloßes, dass es etwas gibt, treibt die Entstehung von Vorstellungen und Symbolisierungen an, sodass der Überschneidungsraum aus Realem ‚dass‘, Imaginärem und Symbolischem ‚das‘ als dasjenige bezeichnet werden kann, was Realität genannt wird. Da es
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sich um eine topologische, das heißt um eine dreidimensionale Figur handelt, ist die Realität als ein Raum zu beschreiben, der durch die nicht kongruente Überschneidung der drei Register entsteht und durch diese Register zusammengehalten wird. Die drei Register markieren insofern drei Aspekte oder besser drei Seinsweisen in der Realität. Lacan begreift die Realität als eine Art Verknüpfung oder Verbindung aus Imaginärem, Symbolischem und Realem, die nicht ein für alle Mal feststeht, sondern sich immer wieder neu konfigurieren kann. Die drei Register halten wie die Verknüpfung dreier Ringe dasjenige zusammen, was die spezifische Realität ausmacht. Die topologische Figur verdeutlicht, wie oben angedeutet, dass die Herauslösung eines der Ringe aus seiner Verknüpfung mit den anderen auch die Verbindung der beiden anderen auflösen würde. Aus Lacans psychoanalytischer Perspektive wird es dann pathologisch und die klinische Struktur der Psychose ist erreicht. Es ist an dieser Stelle also darauf hinzuweisen, dass sich die drei Register zwar auch vor einem erkenntnistheoretischen Hintergrund verstehen lassen und vor allem das Register des Realen unter anderem vor diesem Hintergrund entwickelt wurde. Das Reale ist „ein ontologisches Absolutes, ein wahrhaftiges Selbst-Sein“ (Meyerson [1925], zitiert nach Evans 2002: 250). Möglicherweise hatte eine Formulierung Freuds Lacan auf den Gedanken gebracht, dieses Register einzuführen: „Das Reale wird immer ,unerkennbar‘ bleiben.“ (Freud [1938] 1955: 126, Herv. i.O.) Die Ordnung des Realen gewinnt für Lacan ihren Wert jedoch insgesamt dadurch, dass sie das psychoanalytische Feld ordnet und die Freud’schen Überlegungen verstehbarer macht. Lacan verdeutlicht an verschiedenen Beispielen, unter anderem an der realen, imaginären und symbolischen Dimension des Vaters und an optischen Modellen, dass die Vernachlässigung der Unterscheidungsmöglichkeiten, die diese drei Ordnungen bieten, zu den größten Missverständnissen in Bezug auf das Freud’sche Werk geführt haben (vgl. Lacan: [1953/54] 1990: 97 ff.). In die Schnittmenge der drei Ordnungen können deshalb auch andere Begriffe eingesetzt werden, um von dort aus ihre jeweilige imaginäre, symbolische und reale Dimension zu thematisieren, zu unterscheiden und ihre Verhältnisse untereinander zu beschreiben. So lässt sich beispielsweise auch das ‚Symptom‘ in die Schnittmenge der drei Ringe eintragen, sodass sich seine jeweiligen imaginären, symbolischen und realen Dimensionen innerhalb der psychischen Ordnung unterscheiden und beschreiben lassen. Allerdings ist zu betonen, dass Lacans Unterscheidungen, zumindest wie sie in diesem Rahmen rekonstruiert werden können, vor allem heuristischen Wert haben. Dadurch, dass der Borromäische Knoten ein Modell ist, hat es selbst einen stark imaginären Charakter. Das heißt, er tendiert dazu, zu täuschen und
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verführt dazu, für ‚wahr‘ zu nehmen, für eine Repräsentation der psychischen Wirklichkeit zu halten, was ein Versuch der Vorstellung ist. Das Modell für die Repräsentation der Wirklichkeit zu nehmen, birgt auf der Ebene der Theoriebildung die Gefahr, dass die Theorie selbst wahnhaft wird. Das heißt ein Denkgebäude, das von der Fiktion bestimmt ist, jedem Phänomen seinen richtigen und tatsächlichen Platz zuordnen zu können. Theorie würde dann zu einer Art Wahnsinnsgebäude, in dem alles ineinander fasst (vgl. zu diesem Zitat aus einem narrativen Interview und dessen Interpretation: Koller 1990b: 177-196). Aus diesem Grund erfüllt der Hinweis auf die heuristische Funktion der Lacan’schen Register eine Schutzfunktion. Er schützt vor dem Abrutschen in jene, ihrerseits wahnhafte Gewissheit, dass die Theorie keine wahnhaften Elemente enthält (vgl. dazu: Wimmer 2007: 97).
5.4 Z U L ACANS T HEORIE V ORBEMERKUNGEN
DER
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Nach diesem Übergang steht im Folgenden Lacans Seminar Buch X im Mittelpunkt. Dieses Seminar aus dem Jahr 1962-1963, das Die Angst (L’angoisse) im Titel trägt, enthält Überlegungen, die sowohl über die Dimensionen des Spiegelstadiums hinausgehen als auch die Freud’sche Theorie der Angst in einigen Aspekten erweitern und in anderen grundlegend umdeuten (vgl. Lacan 2010: 114 ff.; Widmer: 2004: 11-23). Lacan entfaltet in diesem Seminar einen engen Zusammenhang zwischen Angst und Begehren, eine Überlegung, die er bereits in seinem Seminar Die Übertragung (Seminar VIII) eingeführt hatte (vgl. Lacan [1960/61] 2008: 439 ff.) und im Seminar X weiter präzisiert. Eine der entscheidenden Thesen aus dem Seminar VIII hatte gelautet, dass die Angst eine Möglichkeit sei, Begehren zu erfahren, wenn das Objekt fehle (vgl. ebd.; vgl. Evans 2002: 43). Ein zentrales Thema, das Lacan in seinem Seminar X beschäftigt, dreht sich entsprechend um die Frage nach dem Verhältnis des Objekts der Angst zum Objekt des Begehrens. Lacan kommt zu dem überraschenden Ergebnis, so viel sei bereits vorweggenommen, dass das von ihm so genannte Objekt a sowohl das Angstobjekt par excellence als auch die Objektursache oder den Objektgrund des Begehrens darstellt. Mit dieser These, die noch zu erläutern sein wird, modifiziert er nicht nur psychoanalytische Theoriefiguren zur Angst, sondern ebenso existenzphilosophische Positionen. Lacans Überlegungen zum Objekt a und zur Angst als fehlendem Mangel, die noch zu erläutern sein werden, versprechen zumindest potenziell weitere Einsichten in das Fremde, das sich zeige, indem es
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sich uns entziehe. Sie könnten insofern zu einer theoretischen Präzisierung der Herausforderung von Bildungsprozessen beitragen. Diese und weitere bildungstheoretisch relevante Aspekte werden im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Lacans Seminar X diskutiert. Zu Beginn sei eine kurze Vorbemerkung zur Textgrundlage vorangestellt, auf die sich die folgenden Rekonstruktionen beziehen. Denn zu den Schwierigkeiten, die in Bezug auf das Lacan’sche Schreiben, Sprechen und Denken in Kapitel 5.2 herausgestellt wurden, kommt hinsichtlich der Seminartexte und insbesondere in Bezug auf das Seminar X eine weitere Herausforderung oder Besonderheit hinzu, die nicht übergangen werden soll: Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei jenen Büchern, Texten und Transkriptionen, die unter dem Stichwort Das Seminar von Jacques Lacan kursieren, um verschriftlichte und in diesem Sinne übersetzte Versionen eines gesprochenen Diskurses. Für die meisten von Lacans Seminaren (seit dem Seminar VIII) gilt, dass er die einzelnen Sitzungen stenographieren ließ. Diese Kurzschriften bildeten dann die Grundlage für die verlagliche Veröffentlichung der Seminare. Zudem gibt es eine Reihe von Mitschriften der Seminarteilnehmer und gelegentlich Audiomitschnitte, deren Qualität (man bedenke die technisch begrenzten Möglichkeiten dieser Zeit) jedoch stark variiert. In Bezug auf das Seminar X stellt sich die Situation in etwa folgendermaßen dar: Gert Schmitz, der im Jahr 1998 m.W. die erste vollständige und sehr akribische Übersetzung des Séminaire X L’angoisse ins Deutsche besorgt hat, weist in seinem editorischen Vorbericht darauf hin, dass für eben dieses Seminar keine Stenotypie vermerkt sei. Allerdings existiere eine Tonbandaufnahme, die im Nachhinein transkribiert worden sei. Seine Übersetzung gehe zum einen auf die vermutliche Transkription dieser Tonbandaufnahme zurück, die wegen vielfachen Kopierens und einer geringen Farbbandqualität jedoch nur als schwer lesbares Schreibmaschinen-Typoskript vorliege. Zum anderen habe er seine Übersetzung auf der Grundlage eines gut lesbaren, wohl elektronischen Typoskripts erstellt, das wahrscheinlich später erstellt worden sei, weil es Korrekturen und Anmerkungen enthalte, die in der ersten Transkription noch handschriftlich vorgenommen worden seien. Die beiden Textversionen habe er miteinander verglichen, wichtige Unterschiede vermerkt und als Grundlage seiner Übersetzung gewählt. Allerdings ist nun diese Übersetzung von Schmitz eine Privatübersetzung, also eine so genannte graue Quelle. Das heißt in diesem Fall, dass sie nicht autorisiert und nicht von einem Verlag publiziert wurde. Schmitz’ Übersetzung kursiert zwischen Lesern, die an Lacan interessiert sind, lediglich als Datei oder Kopiervorlage und liegt wegen der verlagsrechtlichen Situation nicht in Buchform vor. Schmitz weist mit einem Seitenhieb auf Jacques Alain
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Miller, den Nachlassverwalter des Lacan’schen Werks, Psychoanalytiker und Ehemann von Lacans jüngster Tochter Judith, auf Folgendes hin: „Mit der vorliegenden Übersetzung des Seminars X, »L’angoisse« steht den deutschsprachigen Lesern erstmals ein Seminar von Jacques Lacan zur Verfügung, dessen Wortlaut nicht auf einer von J.-A. Miller hergestellten Textgrundlage basiert, sondern auf dem integralen Vergleich zweier Überlieferungsträger, die zunächst näher beschrieben werden sollen. […].“ (Lacan [1962-63] 1998: 5)
In Frankreich erschien erst im Jahre 2004 die vom Nachlassverwalter autorisierte Version des Seminars L’angoisse (Lacan [1962-63] 2004), selbstredend in französischer Sprache und redigiert von Jacques-Alain Miller und seiner Ehefrau Judith. In einer Notiz am Ende dieses Buches schreibt Miller: „Die Erstellung des Textes dieses Seminars hat von der Existenz eines ausnahmsweise vorliegenden maschinegeschriebenen Exemplars profitiert. Lacan schickte nämlich jede Sitzung an seine Tochter Judith, die damals fern von Paris lebte, und trug auf dem maschinegeschriebenen Text handschriftliche Anmerkungen und Korrekturen ein, die ich verwandt habe.“ (Lacan [1962-63] 2010: Notiz Miller: 427)
Vor diesem Hintergrund wäre also Millers Textgrundlage in Bezug auf eine vermeintliche Authentizität im Vergleich zu den anderen Textherstellungen im Vorteil. Miller erläutert jedoch nicht, ob Lacan die Sitzungen in Form von Notizen, in Form eines Typoskripts oder was auch immer an seine Tochter geschickt hat.21 Die Textgrundlage wird hier thematisiert, um auf zwei Punkte hinzuweisen: Erstens soll transparent werden, dass in den folgenden Rekonstruktionen vor allem von der 2010 erschienenen, deutschen Übersetzung des Lacan-Seminars ausgegangen wurde, die von Hans-Dieter Gondek besorgt wurde und deren Grundlage der von Miller hergestellte Text bildet. Die französischsprachigen Zitate sind ebenso Millers, 2004 bei Seuil (vgl. Lacan [1962/63] 2004) erschienenen Version entnommen. Diese Entscheidung mag eine nicht unproblematische sein, ist jedoch vor allem eine pragmatische, weil diese
21 Es ist insgesamt zu bedenken, dass die Rolle, die der Nachlassverwalter Miller im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Lacan’schen Seminare und anderer seiner Texte spielt, innerhalb der psychoanalytischen Diskussion, gelinde gesagt, kontrovers diskutiert wird. Diese Kontroverse ist hier jedoch nicht das Thema, weshalb ich nicht näher darauf eingehe.
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Quellen für eine etwaige Überprüfung und einen Vergleich gut zugänglich sind. Außerdem wurden, ohne dass die Lektüre diesen Fokus gehabt hätte, in inhaltlicher Beziehung im Ganzen gesehen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen Schmitz’ und Gondeks Übersetzung bemerkt. Aus den angedeuteten Gründen wird dennoch zweitens und um der Sache willen, an fraglichen oder wenig plausibel erscheinenden Stellen in Gondeks Übersetzung auch Schmitz’ unautorisierte Version berücksichtigt. 5.4.1 Angst und Begehren im Blick der Gottesanbeterin Hans-Dieter Gondek zufolge hebt Lacan in diesem Seminar „mit einer breit gefächerten Phänomenologie an, welche die Angst des Analytikers in der Übertragung genauso thematisiert wie die Angst als paranormale oder freie pathologische Erfahrung (so charakterisiert er das Kierkegaardsche Unternehmen, sich selbst der Angst auszusetzen), die Angst der Kinder nicht minder wie die sogenannten pathologischen Angstformen, die symptomatologisch auf Neurosen, Psychosen und Perversionen verrechnet werden, und sogar die Angst der Gehirngeschädigten und ihre katastrophale Reaktion.“ (Gondek 1990: 225)
Verglichen mit Freud, der vor allem die neurotische Angst im Unterschied und im Verhältnis zur normalen Angst untersucht und ausgearbeitet hatte, stelle dieser breit angelegte Zugang Lacans eine deutliche Erweiterung des Gegenstandsbereichs dar. Die scheinbare Beliebigkeit seiner Auseinandersetzung mit diesen sehr unterschiedlichen und auf den ersten Blick eher disparaten Phänomenen werde dadurch gebannt, dass Lacan die Angst als ein Bindeglied oder Scharnier begreife, das verschiedene Elemente seiner theoretischen Architektur miteinander verknüpfe (vgl. ebd.). Lacan formuliert das folgendermaßen: „Die Angst ist ganz genau der Treffpunkt, an dem alles das auf Sie wartet, was schon in meinem früheren Diskurs zu finden war. Sie werden sehen, wie jetzt eine gewisse Anzahl von Gliedern untereinander eine Verbindung wird eingehen können, die Ihnen bis jetzt nicht hinreichend verknüpft erscheinen konnten.“ (Lacan [1962-63] 2010: 11)
Der Hinweis auf den früheren Diskurs legt zum einen nahe, dass es für das Verständnis der Lacan’schen Angsttheorie hilfreich und an einigen Stellen notwendig zu sein scheint, Begriffe aus früheren Seminaren und Schriften zu berücksichtigen beziehungsweise in Erinnerung zu rufen. Zum anderen erinnert
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der verbindende Stellenwert der Angst, der in der Rede vom Treffpunkt anklingt, an Freuds Einschätzung, für den das Angstproblem „ein Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedenen und wichtigsten Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes Seelenleben ergießen würde.“ (Freud [1916/17] 1982: 380)
Lacan führt bereits in der ersten Seminarsitzung ein Bild ein, in dem einige dieser begrifflichen Glieder angedeutet werden, die über die Angst miteinander verbunden seien. Im so genannten „Apolog“ (Lacan [1962-63] 2010: 14) der Gottesanbeterin erinnert Lacan an eine „Metapher“ (a.a.O.: 15), die er seinen Zuhörern bereits im Rahmen einer vergangenen Tagungsreihe vorgestellt hatte: „Ich selbst hatte mich, mit der Tiermaske bekleidet, mit der sich der Zauberer aus der so genannten Grotte der Trois frères bedeckt, vor Ihnen einem anderen Tier gegenüber, einem echten dieses Mal, für den Fall als riesig unterstellten, nämlich einer Gottesanbeterin (mante religieuse), imaginiert. Da ich nicht wusste, was für eine Maske ich da trug, können Sie sich leicht vorstellen, dass ich einigen Grund hatte, mich nicht sicher fühlen zu können, was den Fall anging, dass zufälligerweise diese Maske nicht ungeeignet gewesen wäre, meine Partnerin zu irgendeinem Irrtum über meine Identität zu verleiten. Die Sache wurde noch besonders durch meine Hinzufügung unterstrichen, dass ich in dem rätselhaften Spiegel des Augenballs des Insekts nicht mein eigenes Bild sehen konnte.“ (A.a.O.: 14-15, Herv. i.O.)
Lacan lässt seine Zuhörer zu Beginn des Seminars an einer Vorstellung, einer Imagination oder Phantasie teilhaben, in der eine Konstellation des NichtWissens in eine Art Zu-viel-Wissen umschlägt, die einen bedrohlichen Zug annimmt, der die Sicherheit des eigenen Seins in Frage stellt. Es geht in dieser Phantasie um eine intersubjektive Relation, die eine stark sexuell konnotierte Komponente mit der Gefahr der Auslöschung des Subjekts verknüpft. Denn bekanntlich besteht die besondere Eigenschaft der Gottesanbeterin darin, dass sie ihr Männchen nach dem Fortpflanzungsakt auffrisst. Lacan stellt sich und seinen Zuhörern also vor, dass er sich gegenüber einer solchen Gottesanbeterin befindet und zwar weiß, dass er eine Tiermaske trägt, nicht aber, um welche Maske es sich handelt. Diese Ausgangslage gewussten Nicht-Wissens führt den Maskierten in eine Situation potenziell existenzieller Gefahr, weil sie die Vorstellung ermöglicht, dass er die Maske eines Gottesanbetermännchens trägt und das Weibchen ihn deshalb und irrtümlicherweise nicht nur für den geeigneten Sexualpartner halten könnte, sondern ihn nach dem Paarungsakt aufzufressen,
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das heißt in seiner Existenz auszulöschen droht. Diese Vorstellung, dieses imaginäre Wissen ist bedrohlich. Zu akzentuieren ist, dass die Konstellation der Bedrohung damit zusammenhängt, dass eine Spiegelung, die Aufschluss darüber geben könnte, wie, das heißt mit welcher Tiermaske bekleidet, das Subjekt der Gottesanbeterin erscheint, in den ballförmigen Facettenaugen des Insekts unmöglich ist. Lacan verwendet diese Metapher, weil er sie für geeignet hält, den „wesentlichen Bezug der Angst zum Begehren des Anderen“ (a.a.O.: 14) anzuzeigen. Ihr Wert besteht für Lacan darin, Aufschluss über das Verhältnis des Subjekts zum Signifikanten zu geben. Dieser Apolog nimmt damit einen Grundzug der Lacan’schen Auffassung der Angst, nämlich ihre Verbindung mit dem Begehren des Anderen, in stark verdichteter Form vorweg (vgl. Widmer 2004: 53). Widmer vertritt sogar die These, dass in diesem Anfang oder Apolog bereits das Entscheidende der Lacan’schen Auffassung zur Angst enthalten sei, sodass es sich an diese Einschätzung anschließend lohnt, diese Metapher etwas genauer zu interpretieren, auch wenn daran selbstverständlich nicht alles entfaltet werden kann, worum es in der Angst geht (vgl. a.a.O.: 53). Der Grundgedanke, der in dieser Metapher anklingt, lässt sich in einer ersten Annäherung so interpretieren, dass das ‚Subjekt‘ nicht weiß und mehr noch, nicht wissen kann, wie und als was es seinem Gegenüber erscheint. Versteht man dieses Gegenüber als einen personalen anderen, dann geht es hier um das Problem, nicht wissen zu können, wie mein Gegenüber mich sieht, welche Erwartungen er an mich stellt, was er von mir will und so fort. Klar scheint lediglich zu sein, dass das ‚Subjekt‘ vom anderen nicht in seiner ‚eigentlichen‘ Gestalt gesehen wird, nicht in jener Besonderheit bemerkt wird, die seine singuläre ‚Identität‘ oder sein ‚tatsächliches‘ Antlitz ausmacht. Was der andere also sieht, ist lediglich eine Maske, eine immer schon maskierte Version meiner selbst, hinter der sich anderes verbirgt, das der Wahrnehmung jedoch unzugänglich bleibt. Wir können, so könnte man diesen Gedanken aus einem etwas anderen, anthropologischen Blickwinkel vielleicht allgemeiner formulieren, uns selbst weder mit den Augen des anderen sehen, noch uns in dessen Perspektive einfühlen oder hineinversetzen. Was der andere in und an mir sieht und bemerkt, unterscheidet sich ebenso von meiner eigenen Sicht auf mich selbst, wie sich beides wiederum von jener ‚Singularität‘ unterscheidet, die weder mir noch dem anderen zugänglich ist und in diesem Sinne intransparent, nicht spiegelbar bleibt. Lacan betont an verschiedenen Stellen seines Seminars:
168 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN „Die Besetzung des Spiegelbildes ist eine grundlegende Phase (temps) der imaginären Beziehung. Sie ist grundlegend darin, dass sie eine Grenze hat. Nicht jede libidinöse Besetzung geht durch das Spiegelbild. Es gibt einen Rest.“ (Lacan [1962-63] 2010: 54)
Im Apolog ist dem maskierten Subjekt radikal undurchsichtig, wie und als was es der Gottesanbeterin erscheint, weil weder imaginäre Spiegelungs- noch symbolische Austauschmöglichkeiten bestehen, die zumindest eine Annäherung an die Perspektive des anderen ermöglichen würden. Diese Grenze der Spiegellogik lässt sich nun als ein Einfallstor für Phantasmen darüber begreifen, wie und als das ‚Subjekt‘ vom anderen gesehen wird. Das Phantasma des ‚Subjekts‘ wird dabei von dem Wunsch strukturiert, wie und als was der andere es sehen möge. Das Phantasma enthält aus Lacans Perspektive ein Wissen, das in Verbindung mit dem Angstsignal steht. Lacan zufolge formiert sich das Phantasma ausgehend von einer Frage, auf die es vom anderen aus den genannten Gründen keine Antwort gibt. Dennoch richtet sie sich an den anderen und ist aus Lacans Perspektive in einem später noch zu erläuternden Sinne vom Anderen her gestellt. Diese Frage lautet: „Che vuoi? Was willst Du?“ (A.a.O.: 15). In dieser Frage geht es um das Begehren als das Begehren des kleinen anderen und des großen Anderen. Was heißt das? Lacan erläutert an dieser Stelle nicht, warum diese Frage hier plötzlich in italienischer Sprache gestellt wird. In früheren Seminaren weist er jedoch darauf hin, dass dieses „Che vuoi?“ der Novelle Der verliebte Teufel (Le diable amoureux) des französischen Romanciers Jacques Cazotte aus dem 18. Jahrhundert entlehnt ist (vgl. Lacan [1956/57] 2003: 198f; Widmer 2004: 55-56). In dieser Novelle beschwört der Held der Erzählung, ein junger Hauptmann in der Garde des Königs von Neapel (deshalb also italienisch), den Teufel herauf. Angetrieben von seinen stärksten Leidenschaften, der Neugier, der Hoffnung auf echte Erweiterung seines Wissens und angeleitet durch die geheimnisvollen Lehren eines rätselhaften Alten, ruft der Held schließlich den Teufel mit einer magischen Beschwörungsformel an. Dieser zeigt sich ihm denn auch in einem gegenüberliegenden Haus, in dem sich die Fensterflügel eines Zimmers weit öffnen und den Blick auf eine Szenerie freigeben, in der der Diabolische in der scheußlichen Gestalt eines Kamelkopfes mit riesigen Ohren erscheint. Mit grässlich dröhnender Stimme stellt das so heraufbeschworene „Trugbild“ (Cazotte [1772] 1996: 8) den Helden vor die besagte Frage: „Che vuoi?“ (ebd.) ‚Was willst Du?‘. All seinen Mut angesichts der furchtbaren Stimme zusammennehmend, erwidert der Held endlich unerschrocken: „Was verlangst Du selbst, Vermessener, indem Du mir in solch verabscheuungswürdiger Gestalt sichtbar
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wirst?“ (Ebd.) Und das Trugbild gibt, wie es weiter heißt, mit minder lauter Stimme zurück: „Du hast nach mir verlangt, […].“ (Ebd.) Lacan hatte in seinen frühen Seminaren auf diese Novelle verwiesen, um anhand dieses literarischen Beispiels die dynamische, imaginäre Dialektik des Begehrens zu verdeutlichen, die durch die Frage Che vuoi? in Gang gesetzt werde (vgl. Lacan [1956/57] 2003: 198). Die Frage nach dem Begehren des anderen stellt sich hier wechselseitig und pendelt hin und her. Das diabolische Trugbild nimmt im weiteren Verlauf der Handlung der Novelle immer neue, verführerische Gestalten an und verkörpert sich in wechselnden, hinreißend begehrenswerten Objekten, in immer neuen phantasmatischen Trugbildern wie zum Beispiel schönen Frauen, attraktiven Männern und kleinen Hunden. Die These, dass das Begehren das Begehren des anderen sei, besagt zunächst, dass sich das Begehren des Subjekts auf den anderen richtet. Sie besagt weiter, dass das Subjekt vom anderen begehrt werden will. Es geht auch darum, dass die Objekte des Begehrens nur dadurch begehrenswert werden, dass sie vom anderen begehrt werden. Aus Lacans Perspektive ist das Begehren des anderen unzugänglich, weil wir nicht wissen können, was der andere an uns begehrt, was er von uns will. Außerdem geht es um das Begehren nach einer grundlegenden Alterität, einem Begehren nach etwas immer Anderem. Schließlich erscheint das Begehren ursprünglich im Feld des Anderen, das heißt im Unbewussten. Bemerkenswert ist, dass Lacan mit dem Satz Das Begehren ist das Begehren des anderen offen lässt, ob er als Genitivus obiectivus oder Genitivus subiectivus zu verstehen ist. Lacans Auffassung von der dialektischen Struktur des Begehrens spricht dafür, dass es um beides geht. Genitivus obiectivus: Das Begehren richtet sich auf den anderen im Sinne eines begehrten Objekts. Genitivus subiectivus: Beim Begehren geht es darum, was der andere im Sinne eines begehrenden Subjekts begehrt. Es geht beim Begehren insofern darum, das Begehren des anderen auf sich zu ziehen. Der Satz ist strukturell ähnlich aufgebaut wie die Formulierung ‚Die Wahrnehmung des Vaters ist gestört‘, die sowohl besagen kann, dass der Vater als Objekt in einer gestörten Art und Weise wahrgenommen wird als auch, dass der Vater selbst als Subjekt in einer gestörten Art und Weise wahrnimmt. Die Frage Che vuoi?, die zwischen dem Ich und dem anderen hin- und herpendelt, zielt aus der Perspektive des Ich laut Lacan nicht lediglich auf eine bloß deskriptive oder neutrale Antwort vom anderen, der schlicht beschreiben soll, wie und als was das Ich ihm erscheint, sondern fragt danach, was der andere hinsichtlich dieses Platzes des Ich begehrt. Angesichts der Metapher der Gottesanbeterin lässt sich bereits erahnen, dass Lacans Konzeption des
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Zusammenhangs von Angst und Begehren eng mit der Frage der Sexualität verknüpft ist. Es ist hierbei jedoch zu berücksichtigen, dass die psychoanalytische Auffassung von Sexualität nicht auf die genitalen Funktionen beschränkt ist. Es geht in der Psychoanalyse um einen weiten Begriff von Sexualität, der, vereinfacht formuliert, alle Erregungen und Aktivitäten umfasst, die mit einem Lustgewinn verbunden sind, und nicht auf die Befriedigung eines physiologischen Bedürfnisses beschränkt werden können, wie es beispielsweise bei der bloßen Nahrungszufuhr per Infusion der Fall wäre. Bereits das einfache Abendessen bei Tisch wäre von dieser Funktion zu unterscheiden und insofern durchaus mit einer sexuellen Komponente versehen. Vor diesem Hintergrund ist das unbewusste Begehren, das Lacan besonders interessiert, ausschließlich sexuell. Allerdings richtet sich das Begehren nicht auf die Nachkommenschaft, sondern auf ein, vom biologischen Standpunkt aus betrachtet, völlig nutzloses Objekt. Im Seminar X weist Lacan mit der Metapher der Gottesanbeterin darauf hin, dass die Angst in dem Moment entsteht, in dem das Subjekt mit dem Begehren des anderen konfrontiert wird und nicht weiß, welches Objekt es für dieses andere Begehren ist (vgl. Lacan [1962-63] 2010: 410). In diese Ungewissheit fällt das konkrete Phantasma des Maskierten ein, das heißt ein imaginäres Wissen, das die Vorstellung enthält, er könne exakt dasjenige Objekt repräsentieren, das der Gottesanbeterin zu ihrem größten Glück fehlt. „Was ist, so aufgefasst, das Phantasma? – wenn nicht das, was wir uns schon ein wenig denken können, ein Wunsch*, und sogar wie alle Wünsche ein ziemlich unbefangener.“ (A.a.O.: 68, Die Herv. i.O. markiert, dass Lacan hier den deutschen Ausdruck Wunsch verwendet)
Im französischen Text wird der spezifische Charakter des phantasmatischen Wunsches mit dem Adjektiv „naïf“ (Lacan 2004: 62) näher bestimmt, was Gondek mit unbefangen übersetzt. Es handelt sich aus Lacans Perspektive um einen etwas blauäugigen, einen naiven Wunsch, wenn man sich vorstellt, im Blick des anderen ausgerechnet als exakt dasjenige zu erscheinen, was dieser sich am meisten wünscht. Das ist nun nicht nur wegen der Vielzahl der möglichen Masken, in denen das Ich der Gottesanbeterin erscheinen könnte, etwas einfältig. Dieser Wunsch impliziert auch ein Wissen über das Begehren des anderen, das das Ich nur imaginär hat und haben kann (vgl. Kap.5.3). Es impliziert insofern eine Täuschung. Die narzisstische Komponente des Wunsches vereinnahmt das Begehren des anderen und verkennt den anderen strukturell in dem, was er begehrt und in dem, was das Ich begehrt.
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In Bezug auf das Verständnis der Struktur der Angst ist der entscheidende Punkt an dieser Stelle jedoch weniger die Naivität solchen Wünschens, sondern, dass der Maskierte sich als ein Objekt des Begehrens des anderen imaginiert, das ihn auszulöschen droht. Das heißt, es geht um die spezifische Struktur des Begehrens im Verhältnis zur Angst. Denn wenn dieser Imagination im zuvor genannten Sinne des Phantasmas der Charakter eines unbewussten Wunsches zukommt, der nach Erfüllung strebt (vgl. Laplanche/Pontalis 1977: 634f), dann gerät das Subjekt hier in einen Engpass: Die Befriedigung des Wunsches bedeutet seine Vernichtung, der Verzicht auf die Befriedigung bedeutet jedoch, dem Ansteigen der unlustvollen Erregung hilflos ausgeliefert zu sein. Dieses Ansteigen der Unlust hängt mit der Gefahr zusammen, das lebensvolle Gefühl geliebt zu werden insgesamt zu verlieren, und das dadurch, dass der andere das Ich nicht begehrt (vgl.: Arlt Niedecken 2006: 84). In diesem Engpass entsteht die Angst, die auf dieser Ebene eine Art Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen Triebwünschen oder Strebungen signalisiert, deren Befriedigung ebenso eine existenzielle Gefahr bedeutet wie seine NichtBefriedigung. Allem Anschein nach signalisiert die Angst also eine Konstellation der Ausweglosigkeit, eine Art Dilemma, aus dem es nicht nur kein Entrinnen gibt, sondern das zudem zu wählen zwingt wie zwischen Pest oder Cholera. Die bildhafte Umschreibung als Engpass kommt bestimmten Formen der Angsterfahrung durchaus nahe, die häufig als ausweglose und diffuse Enge erlebt wird und dem Betroffenen wie mit unsichtbaren Händen die Kehle zuschnürt und die Luft zum Atmen nimmt.22 Allerdings bietet die Angst in dieser signalisierenden Funktion die Möglichkeit, die spezifische Struktur des je wirksamen Phantasmas zu bemerken und, wie es in Lacans Seminar zu den Grundbegriffen der Psychoanalyse heißt, da hindurch zu gehen, es zu durchqueren und zu durchkreuzen, indem es zunächst einmal zur Sprache gebracht wird, sodass es überhaupt bemerkt werden kann (vgl. Lacan [1964] 1996: 288). Es lässt sich dann z.B. bemerken, dass das Ich sich zu viel zu wissen vorgenommen hat, zu
22 Aus klinischer Perspektive wird diese Aporie in der manisch-depressiven Haltung unbewusst besonders gut verstanden. Der Trick der Depression besteht aus dieser Perspektive in der Aufrechterhaltung der Einschätzung, dass ja doch alles keinen Sinn habe und man daher morgens am besten auch gleich liegen bleiben sollte. Erfahren wird jedoch ebenso, dass auch das Liegenbleiben eine Entscheidung ist, dass es also unmöglich ist, sich nicht zu entscheiden, auch wenn es keine sinnhaften Entscheidungen gibt. Erfahren wird auch, dass die Lebenszeit weiter abläuft. Das kann dann zum Auslöser für manische Schübe werden, zum Auslöser der Vorstellung, alles an einem Tag schaffen zu können, was das Leiden jedoch verstärkt.
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viel zu wissen glaubt, wenn es sich vorstellt, dass begehrte Sexualobjekt des anderen zu sein. Dieses Wissen kann dann als eine Vorstellung bemerkt werden, die eine Durchquerung des Phantasmas in Gang bringen kann, die im Rahmen der analytischen Kur dazu dient, imaginäre Fixierungen im Sprechen zu bemerken und durch das Sprechen zu lockern, zu verschieben, zu verändern. Lacan treibt den Gehalt des Che vuoi? also über das bloße Was willst Du? hinaus, denn diese Frage zielt für ihn nicht nur darauf ab herauszufinden, was der andere konkret von mir will oder wie er mich will, sondern diese Frage betrifft vielmehr existenziell „diesen Platz des Ichs “ (Lacan [1962/63] 2010: 15). Die Frage lässt sich daher auch so interpretieren: „Jegliches Phantasma ist eine Antwort auf die Frage des Anderen ,Was willst Du mir? Was willst Du, daß ich für Dich bin?‘ “ (Pazzini 2006a: 22; vgl. zu weiteren Implikationen dieser Frage a.a.O.: 22 ff.).
Auf diese Frage nach dem Begehren des anderen in Bezug auf das Sein des Subjekts gibt es in der Metapher im Blick der Gottesanbeterin jedoch keine Antwort, weil sie dem Maskierten nicht sprachlich (also symbo-logisch) antworten kann, sondern ihn in einem bio-logischen Register sieht. Da diese Antwortlosigkeit jedoch wegen der Dialektik des Begehrens mit einer unaushaltbaren Angst verbunden ist, wird die Frage nach dem Begehren der Gottesanbeterin auf den Maskierten zurückgeworfen und führt dort zu imaginären (und symbolischen) Produktionen, zu Antworten im Sinne der beschriebenen Vorstellungen und Phantasien bezüglich ihres unzugänglichen Begehrens. Das Phantasma stellt insofern einen Schauplatz dar, an dem ein unbewusstes Begehren im Sinne eines Wunsches inszeniert wird. Es erfüllt eine Art Schutz- oder Abwehrfunktion gegen die radikale Antwortlosigkeit des Begehrens des anderen, der ansonsten als solcher eine traumatisierende Qualität zukäme. Die Angst in ihrer realen Dimension wird durch das ebenso beängstigende Phantasma gemindert. Die symbolische und imaginär vermittelte Angst signalisiert dem Subjekt eine existenzielle Bedrohung, vor der es sie gleichzeitig schützt. Im Grundzug erinnert diese Rekonstruktion an Freuds Unterscheidung zwischen traumatischer Primärangst und sekundärer Signalangst, die er in seiner zweiten, psychologischen Angsttheorie vorschlägt und der er einen Fortschrittscharakter zuschreibt: „Es ist nun ein wichtiger Fortschritt in unserer Selbstbewahrung, wenn eine solche traumatische Situation von Hilflosigkeit nicht abgewartet, sondern vorhergesehen, erwartet, wird. Die Situation, in der die Bedingung für solche Erwartung enthalten ist, heiße die Gefahrensituation, in ihr wird das Angstsignal gegeben. Dies will besagen:
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ich erwarte, daß sich eine Situation von Hilflosigkeit ergeben wird, oder die gegebene Situation erinnert mich an eines der früher erfahrenen traumatischen Erlebnisse. Daher antizipiere ich dieses Trauma, will mich benehmen als ob es schon da wäre, solange noch Zeit ist, es abzuwenden. Die Angst ist also einerseits Erwartung des Traumas, andererseits eine gemilderte Wiederholung desselben.“ (Freud [1926] 1971: 303)
Das Phantasma, das Lacan mit der Gottesanbeterin andeutet, kann vielleicht als eine solche Antizipation des Traumas verstanden werden, das eine gemilderte Version des hilflosen Ausgeliefert-Seins an das unzugängliche Begehren des anderen darstellt und die Funktion erfüllt, sich zu benehmen, als ob es schon da wäre. Und es lässt sich ergänzen: Imaginär und symbolisch ‚ist‘ das Trauma da, beide Register verdecken und mildern das Reale der Angst. Die Situation mit der Gottesanbeterin ist insofern bedrohlich und angsteinflößend, weil sie das Phantasma des Maskierten ermöglicht, er könnte in den Augen der Gottesanbeterin exakt jenes Objekt repräsentieren, auf das sich ihr Begehren richtet. Denn die Realisierung dieses Begehrens hätte ja die Auslöschung des Maskierten als Subjekt zur Folge, die Aufgabe dieser Position jedoch den Verlust des lebensvollen Gefühls, geliebt zu werden. Eines der begrifflichen Glieder, das laut Lacan neben dem Begehren seinen Platz „noch besser“ (Lacan [1962/63] 2010: 12) einnimmt und in diesem Apolog bereits anklingt, ist also das Phantasma. 5.4.2 Bedürfnis, Anspruch und Begehren Um sich dem Verhältnis zwischen Phantasma, Angst und Begehren und der Spezifik des Objekts weiter anzunähern, um das es dabei geht, ist es hilfreich, an eine Unterscheidung zu erinnern, die Lacan bereits in einem früheren Text zwischen den Begriffen Bedürfnis (besoin), Anspruch (demande) und Begehren (désir) eingeführt hatte. Diese Unterscheidung, die sich auch auf die drei SeinsWeisen in der Realität beziehen lässt, also die drei Ordnungen oder Register des Realen, Imaginären und Symbolischen (vgl. den Übergang von Kapitel 5 nach 6), hat Lacan vor allem in dem Aufsatz Die Bedeutung des Phallus (vgl. Lacan [1958c] 1986: 119-132, darin: 125 ff.) entfaltet. Er greift diese Unterscheidung jedoch auch in seinem Seminar über die Angst an verschiedenen Stellen wieder auf (vgl. z.B. Lacan 2010: 88-89). Unter einem Bedürfnis versteht Lacan zunächst einmal einen rein biologischen, körperlich bedingten Mangelzustand, wie beispielsweise Hunger oder Durst, der auf der somatischen Ebene nach Beseitigung oder Befriedigung verlangt. So kann das körperliche Bedürfnis ‚Hunger‘ durch die Nahrungsaufnahme befriedigt werden, bis sich ein neues Bedürfnis meldet, das erneut befriedigt
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werden will und so fort. Das Bedürfnis ist insofern im Register des Realen zu verorten und weist eine Nähe zum Freud’schen Instinktbegriff auf, der in erster Linie biologisch konzipiert ist (vgl. Laplanche/Pontalis 1977: 231-232). Wie Lacan bereits im Spiegelstadium ausgeführt hatte, zeichnet sich der Mensch jedoch dadurch aus, dass er nur sehr unzureichend mit Instinkten im Sinne biologisch festgelegter Verhaltensmuster ausgestattet ist und im Säuglings- und Kleinkindalter zur Befriedigung seiner Bedürfnisse deshalb fundamental auf andere angewiesen ist. Das heißt, dass das Menschenjunge seine Bedürfnisse in irgendeiner Weise artikulieren muss, damit sie befriedigt werden können. Für Lacan stellt nun bereits der Schrei des Säuglings eine solche Artikulationsform dar, der durch die Antwort der Erwachsenen in Sprache eingelassen ist. Den Ruf oder Schrei des Kindes nach seiner Mutter oder einer anderen Bezugsperson, diese Artikulation eines Bedürfnisses begreift Lacan als einen Anspruch oder ein Verlangen (demande). Entscheidend für die Struktur des Anspruchs ist nun einerseits, dass er sich an einen anderen richtet, der das Objekt des Bedürfnisses, also z.B. die Nahrung zur Verfügung stellen soll. Andererseits geht jedoch der Anspruch weit über die bloße Befriedigung des einzelnen Bedürfnisses hinaus: „Der Anspruch an sich zielt auf etwas anderes als die Befriedigungen, nach denen er ruft. Er ist Anspruch auf eine Gegenwart oder auf eine Abwesenheit. Das bringt jene ursprüngliche Beziehung zur Mutter zum Ausdruck, die schwanger geht mit jenem Anderen, das diesseits der Bedürfnisse zu situieren ist, die es befriedigen kann. Sie konstituiert er bereits als Inhaber des ‚Privilegs‘, die Bedürfnisse zu befriedigen, das heißt der Macht, ihnen das vorzuenthalten, wodurch allein sie befriedigt wären. Dies Privileg des Andern umreißt so die radikale Gestalt der Gabe dessen, was es nicht hat, das heißt dessen, was man seine Liebe nennt. Auf diesem Weg hebt der Anspruch die Besonderheit von alledem, was gewährt werden kann, auf und verwandelt es in einen Liebesbeweis, wobei selbst die Befriedigungen, die er für das Bedürfnis erwirkt, erniedrigt werden dadurch, daß sie nicht mehr darstellen als das Zerschellen des Liebesanspruchs […].“ (Lacan [1958c] 1986: 127, Herv. i.O.)
Der im Schrei an die Mutter gerichtete Anspruch ziele also auf mehr als auf die Befriedigung des einzelnen Bedürfnisses. Er richtet sich auf eine möglichst vollständige Präsenz oder eine vollständige Abwesenheit. Das heißt, dass der Anspruch auf eine Totalität abzielt. Die Totalität, auf die der Anspruch zielt, lässt sich aus Lacans Perspektive mit einem Wort als Anspruch auf Liebe bezeichnen, in der es zentral darum geht, zu geben, was man nicht hat, worin bereits eine Abwesenheit anklingt. Gleichzeitig konstituiert der Anspruch den anderen als Inhaber des Privilegs, dem allein die Macht zukommt, dem Subjekt
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die zur Befriedigung des Bedürfnisses notwendigen Objekte vorzuenthalten. Insofern geht es im Anspruch an die Mutter oder eine andere Bezugsperson darum, das Verhältnis von An- und Abwesenheit zu strukturieren. Der Anspruch funktioniert zwar wie der sprichwörtliche Schrei nach Liebe, es geht um die Frage (demande) und das Verlangen (demande) nach Liebe, das ebenso eine Bitte (demande) um die Gabe der Liebe enthält, die auf eine Antwort wartet. Da lieben für Lacan jedoch heißt zu geben, was man nicht hat, kann die Antwort auf diesen imaginär absoluten Liebesanspruch nicht im Sinne der Erfüllung aller Ansprüche gegeben werden, weil ganz und gar kongruente Antworten auf die Vorstellungen des Subjekts unmöglich sind. Weil die Befriedigung des einzelnen Bedürfnisses für Lacan also immer weniger ist als die im Liebesanspruch vorgestellte oder beanspruchte Totalität, bleibt er strukturell unerfüllt. Aus diesem Rest oder Überschuss, der im unerfüllten Liebesanspruch übrig bleibt, resultiert das, was Lacan das Begehren nennt. Es ist das, was bei der Artikulation des Bedürfnisses im Anspruch übrig bleibt und als Rest hervorgeht (vgl. Evans 2002: 55). Das Begehren lässt sich vor diesem Hintergrund vorrangig in seiner symbolischen Funktion akzentuieren.23 „C’est ainsi que le désir n’est ni l’appétit de la satisfaction, ni la demande d’amour, mais la différence qui résulte de la soustraction du premier à la seconde, le phénomène même de leur refente (Spaltung) .“ (Lacan [1958d] 1966: 691, Herv. i.O.) „Daher ist das Begehren weder Appetit auf Befriedigung, noch Anspruch auf Liebe, sondern vielmehr die Differenz, die entsteht aus der Subtraktion des ersten vom zweiten, ja das Phänomen ihrer Spaltung* selbst.“ (Lacan [1958c] 1986: 127, Herv. i.O.)
Das Begehren im Sinne dieser Spaltung oder Differenz von Bedürfnisbefriedigung und Anspruch (Anspruch minus Bedürfnisbefriedigung) ist also anders als das je einzelne Bedürfnis nicht zu stillen, weil der Anspruch immer auf mehr und anderes zielt als in der einzelnen Bedürfnisbefriedigung gegeben werden kann. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass der Anspruch laut Lacan auf eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit zielt. Die strukturelle Gemeinsamkeit besteht vielleicht in beiden Fällen in der Totalität oder Stetigkeit des dual konstellierten Anspruchs. Das Begehren ist vor diesem Hintergrund nicht auf Erfüllung oder Befriedigung ausgerichtet, sondern realisiert sich vielmehr dadurch,
23 Die Rekonstruktion der begrifflichen Unterscheidung zwischen Bedürfnis, Anspruch und Begehren ist unter anderem durch einen Ausschnitt aus Koller 1990a: 42ff angeregt.
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dass seine Befriedigung oder Stilllegung strukturell scheitert, weil sowohl die absolute und stetige Anwesenheit der ‚Mutter‘ in ihrer Funktion wie die absolute und stetige Abwesenheit der ‚Mutter‘ in ihrer Funktion unmöglich ist. Durch dieses Scheitern wird das Begehren immer neu hervorgebracht. Anders gewendet: Wir sprechen und symbolisieren, gerade weil wir die Dinge nicht sagen können, und nicht, weil wir sie qua Sprache benennen, repräsentieren könnten. Diese Auffassung ist lediglich eine Fiktion, die gelegentlich hilfreich ist, z.B. in Situationen der Alltagskommunikation: Dann ermöglicht die Fiktion zu wissen, dass die Bitte des anderen, ich möge ihm die Kaffeetasse, die auf dem Tisch steht, geben, sich auf genau dieses singuläre und als solches unfassbare und von allen Beteiligten anders wahrgenommene Objekt bezieht. Lacan begreift das Begehren als eine Bewegung, in der die Objekte fortwährend verschoben werden. Das Begehren zeichnet sich in diesem Sinne dadurch aus, dass es ein „Begehren nach etwas anderem“ ist (Lacan [1957b] 1986: 44; vgl. Lacan [1957a] 1966: 518). Anders formuliert: Die erreichten und die erreichbaren Objekte sind stets weniger als das, worauf sich das Begehren richtet, weshalb der rote Ferrari in dieser Hinsicht in genau dem Moment seine Attraktivität einbüßt, in dem man ihn besitzt und sich das Augenmerk sogleich auf die Frau in dem roten Minikleid richtet, die auf dem Beifahrersitz Platz nehmen soll und so fort. Die Unterscheidung von Bedürfnis, Anspruch und Begehren wird nun im Seminar X in Verbindung mit dem Problem der Angst gebracht: „Die Existenz der Angst ist daran gebunden, dass jeder Anspruch, und wäre es der archaischste, stets etwas Köderndes im Verhältnis zu dem hat, was den Platz des Begehrens bewahrt. Das erklärt auch die beängstigende Seite an dem, was auf diesen Anspruch eine erfüllende Antwort gibt. Ich sah vor gar nicht so langer Zeit im Diskurs eines meiner Patienten auftauchen, dass seine Mutter ihm bis zu einem gewissen Alter nicht von den Fersen gewichen war – kann man das besser sagen? Sie hatte auf seinen Anspruch bloß eine falsche Antwort gegeben, eine wahrlich abseitige Antwort, denn wenn der Anspruch richtig durch den Signifikanten strukturiert ist, ist er nicht buchstäblich zu nehmen. Was das Kind von seiner Mutter beansprucht, ist dazu bestimmt, für es die AnwesenheitAbwesenheit-Beziehung zu strukturieren, die das ursprüngliche Spiel des Fort-Da* demonstriert, das eine erste Beherrschungsübung ist. Es gilt stets eine gewisse Leere zu bewahren, die nichts mit dem Inhalt des Anspruchs zu tun hat, weder positiv noch negativ. Aus ihrer totalen Ausfüllung entsteht die Störung, in der sich die Angst manifestiert.“ (Lacan [1962-63] 2010: 88-89, Herv. i.O.)
Lacan spricht in diesem Abschnitt eine strukturelle Problematik an, eine ködernde Verführung, die darin besteht, den vermeintlichen Anspruch des Kindes nach
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vollständiger Anwesenheit total erfüllen zu wollen. Das Beispiel zeigt, dass diese Mutter den Köder geschluckt hat, indem sie ihrem Sohn auf Schritt und Tritt folgt, ihn nicht aus den Augen lässt, ihm stets auf den Fersen bleibt und damit sozusagen ständig im Nacken sitzt. Sie fasst den Anspruch als Bedürfnis nach umfassender Anwesenheit auf und sucht ihn restlos zu befriedigen. Damit wird jedoch verfehlt, worauf der Anspruch zielt, insofern die Mutter dadurch nichts zur Strukturierung der An-Abwesenheitsbeziehung beiträgt und die Öffnung hin zu einer dialektisch begehrenden Bewegung verstellt wird. Diese Antwort stellt aus Lacans Perspektive vor allem deshalb eine falsche Antwort dar, weil der Anspruch nicht ‚buchstäblich‘ (‚au pied de la lettre‘)24 zu nehmen sei, sondern darauf zielt, das Spannungsfeld zwischen An- und Abwesenheit zu strukturieren. Denn die Eröffnung dieses Spannungsfeldes ermöglicht beispielsweise die Erfahrung, dass die Abwesenheit der Mutter überlebt werden kann. Sie fordert wegen des bedrohlichen Charakters dieser Erfahrung umgekehrt symbolische Beherrschungsübungen wie das Fort-Da-Spiel heraus, das Freud als einen bedeutenden Entwicklungsschritt und einen Zugewinn an Autonomie interpretiert hatte (vgl. Freud [1920] 1955 Bd. XIII: 11-15). Dieser Fortschritt wird mit der Antwort der hier erwähnten Mutter tendenziell verhindert, sicherlich aber erschwert. In Jenseits des Lustprinzips (a.a.O.) hatte Freud im Zusammenhang mit besagtem Fort-Da-Spiel darauf hingewiesen, dass die große kulturelle Leistung, nämlich der Verzicht auf die Befriedigung des ‚Wunsches‘25 nach Anwesenheit der Mutter, einen erheblichen Fortschritt in der Entwicklung des Kindes bedeute. Denn die zunächst ausschließlich passiv erfahrene Unlusterfahrung der Abwesenheit der Mutter ist die Voraussetzung dafür, dass das Kind Artikulationsformen wie das Spiel mit der Garnrolle entwickelt, die symbolisch zum Verschwinden und Wiedererscheinen gebracht wird (o-o-o – a-a-a; Fort-Da). Der Wert des Spiels sei darin zu sehen, dass das Kind in Bezug auf die An- und Abwesenheit der Mutter in eine symbolisch aktive Position gelange, die es zum „Herren der Situation“ (a.a.O.: 14-15) mache. Angst entsteht für Lacan vor diesem Hintergrund also sowohl aus der totalen Anwesenheit der Mutter als auch aus ihrer totalen Abwesenheit. In beiden Fällen fehlt es wegen der Totalität strukturell betrachtet am Mangel.
24 Deshalb im Übrigen auch Lacans Bemerkung, dass man es nicht besser sagen könne als sein Analysant. Im auf den Fersen sein wird ebenso der Körperteil Fuß angesprochen wie in der französischen Rede von der Buchstäblichkeit (au pied de la lettre heißt wörtlich übersetzt: am Fuße des Buchstabens). 25 Freud schreibt hier vom Trieb nach Anwesenheit der Mutter (vgl. ebd.).
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Angst entsteht in diesem Sinne durch die fehlende Trennung von der absoluten Totalität der Mutterfunktion in einer der Varianten von An- und Abwesenheit. Angst entsteht im Sinne des Beispiels aus der stetigen Anwesenheit der Mutter in ihrer Funktion, im Sinne des Versuchs der totalen Ausfüllung und Erfüllung eines falsch verstandenen Anspruchs. Sie entsteht strukturell durch eine fehlende Trennung. Denn Wohl und Wehe des Kindes bleiben in dieser Konstellation ausschließlich von der Mutter abhängig, es verbleibt in einem Zustand passiven Ausgeliefertseins und wird nicht herausgefordert oder veranlasst, Symbolisierungsformen wie das durch Freud berühmt gewordene Fort-Da-Spiel oder strukturell ähnliche Spiele zu erfinden, die seine Ohnmacht, Hilflosigkeit und Abhängigkeit von der Mutter reduzieren. Für Lacan gilt es deshalb eine Leere zu bewahren, die durch Abwesenheit allererst entstehen kann und einen Spielraum für die Einbildungs- und Symbolisierungskraft des Kindes eröffnet, der nicht dadurch verstopft wird, dass ihm die Erwachsenen z.B. jeden Wunsch von den Lippen abzulesen suchen. Denn diese Bewegung bedeutet eher, dass das Kind mit den Wünschen der Erwachsenen voll- und zugestopft wird. Lacan geht mit der Einschätzung, dass Angst durch die fehlende Trennung von der Mutter entstehe, mit Freud über Freud hinaus. Denn Freud hatte in seiner Theorie der Angst die Trennung von der Mutter während des Geburtsakts als Quelle und Vorbild für die Entstehung des Angstaffekts herausgestellt. In Hemmung, Symptom und Angst begreift Freud die Angst zwar als Reaktion auf eine Erwartung, auf etwas also, das noch gar nicht eingetreten ist und somit vor jeder ökonomischen Logik liegt. Angst trete auf, wenn das Eintreten einer Gefahrensituation erwartet werde. Diese Gefahrensituation könne jedoch nur deshalb antizipiert werden, weil sie auf ein Ereignis zurückverweise, das ein traumatisches Gefahrenpotenzial enthalten habe und das mit einer automatischen Angst verbunden sei, die um jeden Preis vermieden werden solle: Für Freud gilt der Geburtsakt und darin vor allem die Trennung von der Mutter als ein solches Ereignis, in dem er die so genannte Primärangst lokalisiert. Dieses primäre Angsterlebnis, diese Urangst, die wesentliche Merkmale späterer Angstsymptomatiken aufweise, wie z.B. Atemnot, gesteigerte Herzfrequenz etc. gilt ihm als Quelle und Vorbild des Angstaffekts (vgl. Freud [1916/17] 1982: 384). Freud begreift diese Angst als automatische, weil sie als spontane Reaktion des Organismus auf ein traumatisches Ereignis auftritt, das vor der Möglichkeit einer Verdrängung oder einer anderen psychischen Verarbeitung liegt. Das Traumatische des Ereignisses bestehe im Kern in der Trennung vom mütterlichen Körper, der das Subjekt hilflos und ohnmächtig ausgeliefert sei. Im Gegensatz dazu steht die Signalangst als sekundäres Phänomen. Hierbei signalisiere die psychische Instanz des Ich eine drohende und erwartete Gefahr, was einen Fortschritt
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im Verhältnis zum hilflos-traumatischen Ausgeliefertsein in der Primärangst darstelle: „Mit der Erfahrung, daß ein äußeres, durch Wahrnehmung erfassbares Objekt der an die Geburt mahnenden gefährlichen Situation ein Ende machen kann, verschiebt sich nun der Inhalt der Gefahr von der ökonomischen Situation auf seine Bedingung, den Objektverlust. Das Vermissen der Mutter wird nun die Gefahr, bei deren Eintritt der Säugling das Angstsignal gibt, noch ehe die gefürchtete ökonomische Situation eingetreten ist. Diese Wandlung bedeutet einen ersten großen Fortschritt in der Fürsorge für die Selbsterhaltung, sie schließt gleichzeitig den Übergang von der automatisch ungewollten Neuentstehung der Angst zu ihrer beabsichtigten Reproduktion als Signal der Gefahr ein.“ (Freud: [1926] 1971: 278)
Lacan steht der Verankerung der Angst im Geburtstrauma skeptisch gegenüber: „Doch damit ist die charakteristische Trennung am Anfang, die Trennung, die es uns ermöglicht, uns dem Verhältnis zu nähern und es zu begreifen, nicht die Trennung von der Mutter. Der Schnitt, um den es geht, ist nicht der des Kindes von der Mutter.“ (Lacan [1962-63] 2010: 153)
Er vertritt zunächst wie Freud die Auffassung, dass die Angst durch einen Schnitt, durch eine charakteristische Abtrennung eines Objekts entsteht. Er begründet seine Modifikation der Freud’schen Auffassung zunächst mit Hinweisen auf die Embryologie, die an dieser Stelle nicht weiter entfaltet werden sollen. Festzuhalten ist jedoch, dass die Angst dem Ich etwas signalisiert, das mit dem Verhältnis des Bildes des anderen (i(a)) zu einem abgetrennten Objekt zu tun hat, nämlich dem so genannten, rätselhaften Objekt a (vgl. Lacan [1962-63] 2010: 154), das noch zu erläutern sein wird, weil der Schnitt oder die Trennung, um die es nach Lacans Einschätzung in der Angst geht, dieses Objekt betrifft. Zunächst aber noch einmal zurück zum Apolog der Gottesanbeterin, denn dieser lässt sich nicht nur, wie bisher akzentuiert wurde, als Metapher der verschiedenen und spezifischen Relationen zwischen einem personalen anderen, also dem von Lacan so genannten kleinen anderen und dem Subjekt interpretieren. Die mantis religiosa steht, wie zu Beginn des Abschnitts (vgl. Kapitel 5.4.1) erwähnt, nicht nur für den anderen im Sinne des personalen Gegenübers, sondern stellt zudem eine Metapher für jene grundlegende Alterität dar, die Lacan mit dem Begriff des großen Anderen thematisiert. Diesen großen Anderen (algebraisch geschrieben als A) bezeichnet Lacan als den Ort des Signifikanten (vgl. Lacan [1960] 1986: 188). Es geht damit im Unterschied zum imaginären, kleinen
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anderen, der nach dem spiegelbildlichen Modus einer Ähnlichkeitsbeziehung strukturiert ist, um die subjektivierende Funktion der symbolischen Ordnung, das heißt um das Verhältnis des Subjekts zum Signifikanten. Der große Andere verweist auf die symbolische Dimension und Funktion der Sprache für das Subjekt: „Ist die Dimension der Sprache, wie Lacan sie denkt, auch nicht schon gleichzusetzen mit der Idee eines vollkommenen Wesens, so bezeichnet sie doch jenen ,dritten Ort‘, den ,Ort der signifikanten Konvention‘, der ein jedes subjektive Verhalten zu Objekten des Begehrens übergreift. Der große Andere (l’Autre) als ,Garant des Guten Glaubens‘ [Bonne foi] ist immer schon am Werk, wenn ich mich sprechend auf 'etwas' richte oder mich an 'jemanden' wende.“ (Cremonini 2003: 126, Herv. i.O.)
Für Lacan verweist das eigene Sprechen ebenso wie das Sprechen des anderen auf einen dritten Ort, von dem es seinen Ausgang nimmt und durch den es vermittelt wird. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Frage Che vuoi? vom großen Anderen her gestellt ist. Aus dieser Perspektive lässt sich der große Andere als das Reale der Sprache beschreiben, das reflexiv nicht einholbar ist und sich den Vorstellungen entzieht. In Bezug auf den Ort der Signifikanten als eines dritten Ortes lässt sich beispielsweise an das Gesetzt-sein und die Konventionen der Sprache denken, die jedem individuellen Sprechen im Voraus gesetzt sind und die dem Individuum weder angeboren sind, noch von ihm erfunden werden. Für Lacan ist der große Andere der „lieu du trésor du signifiant“ (Lacan [1960] 1966: 806), also der Ort, die Schatzkammer oder der Hort des Signifikanten, der sich in topologischer Hinsicht einerseits durch seine Unerfindlichkeit und Unzugänglichkeit auszeichnet und andererseits dadurch, dass das Subjekt allererst dadurch zum Subjekt wird, dass es von diesem Platz aus strukturiert wird. Denn Lacan begreift das Subjekt grundlegend als Effekt der Sprache. Es geht ihm darum, „dass es ein begreifbares Erscheinen eines Subjekts als solches nur ausgehend von der ersten Einführung eines Signifikanten gibt, und zwar des einfachsten Signifikanten, desjenigen, der sich der unäre Zug (trait unaire) nennt. Der unäre Zug ist vor dem Subjekt. Im Anfang war das Wort besagt Im Anfang ist der unäre Zug.“ (Lacan [1962-63] 2010: 34, Herv. i.O.)
Der Grundgedanke dieses einzigen Zuges, der dem Subjekt vorausgeht und es allererst hervorbringt, lässt sich vielleicht anhand der Struktur und der Wirkungen des Eigennamens andeuten: Der Eigenname zeichnet sich dadurch aus, dass er dem Infans zugesprochen und gegeben wird. Er schreibt das Infans über den
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Nachnamen in die Generationenfolge ein und damit in eine Geschichte, die nicht die individuell eigene ist, sodass das Infans insofern bereits in eine Vorgeschichte eingeschrieben wird. Der Vorname belegt oder besser beschreibt das Infans zudem mit einer Mehrzahl möglicher Bedeutungen, die jedoch nicht unendlich, sondern begrenzt sind. Durch diese Bedeutungen des Vornamens wird das Infans auch konfrontiert mit den bewussten und unbewussten Wünschen der Eltern und damit mit einem Erbe, das ganz und gar nicht anzutreten dem Infans unmöglich ist, weil es den ihm gegebenen Namen von nun an immer schon getragen haben wird und ebenso von ihm getragen wird. Damit schreibt sich der Eigenname als eine Art fremd geschriebenes Vorwort in jene Geschichte ein, die aus der individuellen Perspektive des Infans allererst zu schreiben sein wird. Die hier lediglich angedeutete und keineswegs erschöpfende, strukturierende und gleichzeitig entfremdende Funktion des Eigennamens verdeutlicht exemplarisch einige der Wirkungen des großen Anderen im Sinne der realen Dimension der Sprache. Es geht um eine Bewegung, in der das Subjekt vom Zeichen des Anderen geschlagen wird, wie es Gondek formuliert (vgl. Gondek 1990: 26), und allererst dadurch als Subjekt hervorgebracht wird, dass es als seiner selbst entfremdetes durch den Signifikanten strukturiert und „in seine Schranken verwiesen wird“ (a.a.O.: 26). Das Subjekt ist durch diese bezeichnende und trennende Wirkung des Signifikanten gekennzeichnet und konstituiert. Lacans Apolog weist nun sowohl auf die strukturierende als auch auf die entfremdende Wirkung der Signifikanten hin, wenn er mit der Metapher der Gottesanbeterin auf Maurice Blanchots Roman Thomas l’obscure, Thomas der Dunkle (Blanchot [1950] 1987)26 anspielt, in dem der Protagonist von den Signifikanten eines Textes strukturiert wird, in denen er immer mehr versinkt, in denen er sich zunehmend verstrickt oder besser, die sich zunehmend in ihn versenken und verstricken und sich in ihn einschreiben: „Thomas blieb, um zu lesen, in seinem Zimmer. Er hatte sich gesetzt, die Hände oberhalb der Stirn verklammert, die Daumen gegen den Ansatz der Haare gepreßt, derart versunken, daß er ohne jede Bewegung blieb, als man die Tür öffnete. Diejenigen, die eintraten, dachten – sein Buch sehend, immer noch geöffnet auf denselben Seiten –, daß er zu lesen vortäuschte. Er las. Er las mit unübertrefflicher Genauigkeit und Aufmerksamkeit. Er war jedem der Zeichen gegenüber in der Situation, in der sich das Männchen befindet, wenn die Gottesanbeterin ansetzt, es zu verschlingen. Der eine und die andere sahen sich an.“ (Blanchot, zitiert nach Gondeks Übersetzung in Gondek 1990: 21, Herv. G.W.)
26 Widmer weist im Übrigen darauf hin, dass Lacan eng mit Blanchot befreundet war (vgl. Widmer 2004: 55).
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Mit diesen Zeilen leitet Blanchot die Erzählung einer intensiven und außergewöhnlichen Lektüreszene ein, die im weiteren Verlauf in einen Kampf auf Leben und Tod mündet. Thomas, der Held des Romans, ist mit seiner gesamten Aufmerksamkeit und hoch konzentriert in ein Buch versunken, das ihn alles um sich herum ausblenden lässt. Er ist, wie man gemeinhin sagt, mit den Gedanken woanders, lediglich physisch anwesend in der Realität seines Zimmers. Die Tür öffnet sich, veranlasst jedoch keinerlei Bewegung dieses Lesenden, der in die Welt seines Buches eingetaucht ist. Der Protagonist wird hier, dem Anschein nach, als eine Art Bücherwurm oder Leseratte (vgl. Widmer 2004: 55) zu verstehen gegeben, versunken in eine Lektüre, die ihn alles andere ausblenden lässt. Allerdings werden die Positionen von Lesendem und Gelesenem mit dem Hinweis auf die Gottesanbeterin verschoben, sodass sich auch der erste Eindruck modifiziert, dass es hier um eine Leseratte oder einen Bücherwurm geht. Denn die Metaphern Bücherwurm und Leseratte situieren den Lesenden in der Position eines aktiven, zeichenverschlingenden Subjekts, Blanchots Bild der Gottesanbeterin legt jedoch etwas anderes nahe: Nicht Thomas verschlingt das Buch, vielmehr droht der Text, drohen die Zeichen ihn zu verschlingen. Thomas befindet sich dem Gelesenen gegenüber in der Position des Männchens, das von den Zeichen wie von einer Gottesanbeterin verschlungen zu werden droht. Die Dynamik dieser Lektüreszene geht damit von den Zeichen des Textes aus, der sich seines Lesers ganz allmählich in bedrohlicher Weise bemächtigt und nicht umgekehrt. Folgende, etwas längere Passage aus dem Roman erzählt, wie diese Dynamik Schritt für Schritt Fahrt aufnimmt: „Die Worte, hervorgetreten aus einem Buch, das eine tödliche Gewalt gewann, übten auf den sie berührenden Blick eine sanfte und friedvolle Anziehung aus. Jedes von ihnen ließ – wie ein halbgeschlossenes Auge – den zu sehr lebendigen Blick eintreten, den es unter anderen Umständen nicht ausgehalten hätte. Thomas ließ sich folglich gleiten den Korridoren entgegen, denen er sich schutzlos näherte, bis zu dem Augenblick, in dem er vom Innersten des Wortes erblickt wurde. Das war noch nicht erschreckend; im Gegenteil, es war ein beinahe angenehmer Moment, den er gern hätte verlängern wollen. Der Lesende erfreute sich am Anblick dieser kleinen Spanne an Leben, die erweckt zu haben er nicht zweifelte. Er sah sich mit Lust in diesem Auge, das ihn sah. Seine Lust wurde gar noch größer. Sie wurde so groß, so unerbittlich, daß er sie mit einer Art Schrecken erlebte und daß er aufgerichtet verharrend – ein unerträglicher Moment –, ohne von seinem Gegensprecher ein Zeichen des Entgegenkommens zu empfangen, die völlige Fremdheit wahrnahm, die darin lag, von einem Wort wie von einem Lebewesen beobachtet zu werden, und nicht nur von einem Wort, sondern von allen Worten, die sich in diesem Wort trafen, von allen denen, die es begleiteten und ihrerseits in sich andere Worte enthielten, wie eine
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Reihe von Engeln, sich öffnend in die Unendlichkeit bis hin zum Auge des Absoluten. Weit entfernt, sich von einem ohnehin verbotenen Text abzuwenden, setzte er alle seine Kraft in den Willen, sich zu fassen, und weigerte sich hartnäckig, seinen Blick zurückzunehmen, noch dann im Glauben, ein gründlicher Leser zu sein, als bereits die Worte sich seiner bemächtigten und ihn zu lesen begannen.“ (Blanchot, zitiert nach Gondek 1990: 23-24)
Dieser Ausschnitt beginnt mit der Beschreibung einer Anziehungskraft, die die Worte auf Thomas’ Blick ausüben. Die hier blickende ‚Instanz‘ ist zunächst der Held Thomas, Herr einer Situation, in der er sich von dem Buch vor seinen Augen faszinieren lässt. Zwar geht die Anziehungskraft von den Zeichen aus, der Blick ist jedoch auf Seiten des Helden situiert. Er lässt sich weiter auf den Text ein, gleitet die Korridore der Sätze entlang und überlässt sich ihnen bis er schließlich vom Innersten des Wortes erblickt wird. Bereits an dieser Stelle wechseln die Blickpositionen, das Wort wird nun zur ‚Instanz‘ (zum ‚Subjekt‘), das ihn in den Blick nimmt und angeht (regard). Aber diese Veränderung wird vom Protagonisten noch nicht als erschreckend, bedrohlich oder problematisch erlebt, sondern im Gegenteil als beinahe angenehmer Moment, den er gerne verlängert hätte. Denn trotz der Veränderung der Blickrichtung besteht für ihn noch kein Zweifel daran, dass er es ist, der diese Worte zum Leben erweckt hat, dass er es ist, der sie zu ihn anblickenden gemacht hat. Er erkennt sich in diesen Worten wieder, sieht sich in diesem Auge, das ihn ansieht. Das heißt, er erfährt eine Art Spiegelbeziehung und diese als eine Art Ergebnis seiner eigenen Aktivität, erfährt sie möglicherweise gar als einen schöpferischen Akt, der mit Lust verbunden ist, weil er es ist, der die Worte belebt hat und sich in ihnen wiederzuerkennen weiß. Trotz der Veränderung der Blickrichtung, die Thomas bereits in die Position des beobachteten Objekts zu verschieben beginnt, hält er offenbar ein gewisses Maß an Autonomie oder reflexiver Distanz aufrecht, er weiß sich in und mit den Worten zu identifizieren, die letztlich von ihm, dem souveränen Subjekt des Lesens belebt wurden. Gleichzeitig beginnt die Situation jedoch in diesem Moment zu kippen, die Lust wird unerbittlich größer und verwandelt sich schließlich in einen Schrecken. Denn die Worte transformieren sich ohne sein Zutun weiter, entwickeln ein Eigenleben: Diese Objekte, die Zeichen, die vom Leser imaginär belebt wurden, damit er selbst sich in ihnen erkennen kann, werden plötzlich zu lebendigen Wesen, die eine unbeherrschbare Eigendynamik und Funktion gewinnen. Thomas ist nur noch der vermeintliche Leser dieser Zeichen. In diesem Moment bemerkt er die völlige Fremdheit, die darin liegt, von einem Wort wie von einem Lebewesen beobachtet zu werden. Diese Erfahrung stellt
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nun ein neues, bedrohliches und beängstigendes Gefüge dar, weil völlig unklar ist, was die lebendig gewordenen Zeichen von Thomas wollen, wie sie ihn sehen und wie sie ihn lesen. Dass sie ihn existenziell angehen, war von Blanchot bereits durch die Metapher der Gottesanbeterin nahegelegt worden. Sie könnten also ein wenig zu viel von ihm wollen. Thomas aber wendet seinen Blick nicht von den Worten ab, er wird von ihnen gebannt, begehrt und er hält selbst dann noch die Illusion (den Glauben) aufrecht, lediglich ein sehr genauer Leser zu sein, als die Bewegung dieser Szene bereits vollends umschlägt und die Worte sich seiner vollständig bemächtigen und nun anfangen ihn zu lesen. Die Positionen von lesendem Subjekt und gelesenem Objekt haben sich damit gänzlich umgekehrt. Thomas ist zum fixierten, festgestellten Objekt lesender Zeichen geworden, aufgerichtet verharrender Gegenstand der Lektüre von Signifikanten, die nun ihn lesen, ihn interpretieren und damit sogleich wieder in eine Bewegung bringen. Diese Bewegung entspringt jedoch nicht seiner Initiative, sondern ist der Eigenaktivität der Signifikanten geschuldet. In diesem Sinne wird Thomas nun vom Ort des großen Anderen, dem Hort der Signifikanten strukturiert, der ihn seiner selbst entfremdet, indem er zum Objekt des Begehrens des Anderen wird. Maurice Blanchot ist für Lacan derjenige, der in Bezug auf die Realisierung des Phantasmas weiter gegangen ist als irgendjemand sonst (vgl. Gondek 1990: 21). Das heißt aus psychoanalytischer Perspektive, dass es hier um das Begehren des Subjekts des Unbewussten geht und um eine literarische Inszenierung dieser Struktur. Es heißt aus Lacans Perspektive aber auch, dass Blanchot das Phantasma als den privilegierten Schauplatz des Auftretens der Angst zur Sprache gebracht hat. Sowohl in diesen Zeilen aus Blanchots Roman, in dem Buchstaben zu lebendigen Wesen werden und ihren Leser aufzufressen drohen als auch in der monströsen Gottesanbeterin, die dem maskierten Objekt ihres vermeintlichen Begehrens riesengroß gegenübersteht, klingt eine unheimliche Dimension an. Lacan bezieht sich an mehreren, entscheidenden Stellen seines Seminars auf Freuds diesbezügliche Überlegungen und nutzt sie für seine Angsttheorie. Für ihn ist Freuds Unheimlichkeit sogar der „unabdingbare Pflock […], um die Frage der Angst anzugehen. Genauso wie ich das Unbewusste über den Witz* angegangen bin, werde ich dieses Jahr die Angst über die Unheimlichkeit* angehen.“ (Lacan [1962-63] 2010: 58, Herv. i.O.)
Das Unheimliche stellt für Lacan den ‚cheville‘, das heißt den Bolzen, Dübel oder eben Pflock dar, in jedem Fall ein befestigendes Element, das er für
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unverzichtbar hält, um die Angst theoretisch zu erfassen. Aus diesem Grund wird das Freud’sche Unheimliche im nachfolgenden Abschnitt nicht nur in seinen zentralen Aussagen zusammengefasst sondern schrittweise rekonstruiert. Diese Rekonstruktion dient zur Vorbereitung der Vertiefung der Lacan’schen Angsttheorie.
5.5 D AS U NHEIMLICHE ALS DAS A LTBEKANNTE L ÄNGSTVERTRAUTE BEI F REUD
UND
Die Auseinandersetzung mit Freuds Überlegungen zum Unheimlichen führt Lacan zur Formulierung dreier Thesen, die zentral für das Verständnis seiner Theorie der Angst sind. Die erste These besagt, dass Angst nicht durch einen Mangel entsteht, sondern umgekehrt dadurch, dass ein Mangel fehlt, dass es also am Mangel mangelt. Diese These, die im letzten Abschnitt mit dem Hinweis auf die fehlende Trennung von der Mutter bereits angedeutet wurde, gewinnt in Lacans Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen weiter an Kontur. Die zweite These, die mit dieser Überlegung verbunden ist, lautet, dass die Angst nicht ohne Objekt ist. Lacans Theorie stellt damit einerseits die philosophisch und psychoanalytisch geläufige Unterscheidung zwischen objektbezogener Furcht und objektloser Angst in Frage. Andererseits entwickelt er mit dem so genannten Objekt klein a eine Theoriefigur, die die Besonderheit des Objekts der Angst zu fassen sucht (vgl. Kapitel 5.7). Im Zusammenhang mit der Fragestellung dieser Arbeit ist das Objekt a bemerkenswert weil es sich dadurch auszeichnet, wie zu erläutern sein wird, dass es nicht nur das Objekt der Angst darstellt, sondern ebenso die Objektursache bzw. den Objektgrund des Begehrens.27 Die dritte These schließlich besagt, dass die Angst ein Affekt ist, genauer, sie ist der einzige Affekt, der nicht täuscht. Um diese drei Thesen nachzuvollziehen, ist es in einem ersten Schritt hilfreich, sich zunächst Freuds Grundgedanken in Bezug auf das Unheimliche zu vergegenwärtigen. In einem zweiten Schritt wird Lacans diesbezügliche retour à Freud erläutert. In seinem Aufsatz Das Unheimliche von 1919 (Freud [1919] 1970: 241-274) beschäftigt sich Freud mit der Frage, wie jene spezifische Gefühlsqualität des Ängstlichen zustande kommt, die mit der Verwendung des „besonderen Begriffswortes“ (a.a.O.: 243) unheimlich gefasst wird. Freud versteht das Unheimliche insgesamt als ein psychisches Phänomen, das zwar in hervorragender
27 Das Objekt a erinnert strukturell an das Fremde, das sich zeigt, indem es sich uns entzieht (vgl. dazu Lacan 2010: 82).
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Weise im Bereich der ästhetischen Erfahrung anzutreffen ist, ohne jedoch auf dieses Feld begrenzt zu sein, weil es ebenso in Situationen der Alltagserfahrung wie im Rahmen der psychoanalytischen Kur auftritt. Für Freud besteht in Bezug auf das Unheimliche im Ganzen: „Kein Zweifel, daß es zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden gehört, und ebenso sicher ist es, daß dies Wort nicht immer in einem scharf zu bestimmenden Sinne gebraucht wird, so daß es eben meist mit dem Angsterregenden überhaupt zusammenfällt.“ (A.a.O.: 243)
Die Vereinheitlichung von Unheimlichem und Angsterregendem hält Freud jedoch für vorschnell und wenig differenziert, weil das Unheimliche zwar zum Feld des Angsterregenden dazugehört, jedoch keineswegs in ihm aufgeht oder gar mit ihm identisch ist. So sei beispielsweise nicht alles, was zur Entstehung von Angst führe und in diesem Sinne Angst errege, deshalb sogleich unheimlich. Aus Freuds Perspektive markiert das Unheimliche eine ganz bestimmte Form oder Struktur der Angst. Diese Form lässt sich unter anderem von der bereits angedeuteten Realangst abgrenzen, in der eine tatsächliche, äußere Gefahr den Anlass der Angstentstehung ausmacht und bestimmte Verhaltensreaktionen nach sich zieht. Es lässt sich beispielsweise an die Begegnung eines unbewaffneten Touristen mit einem Löwen in freier Wildbahn denken, die zwar zu Flucht, Angriff oder Erstarrung führen mag und insofern den Angstaffekt erregt, aber nicht notwendig als unheimlich erfahren wird. Freud schlägt zwei Wege vor, um sich dem Phänomen des Unheimlichen anzunähern. Der erste Weg besteht darin zu untersuchen, „welche Bedeutung die Sprachentwicklung in dem Worte ,unheimlich‘ niedergelegt hat, […]“ (a.a.O.: 244, Herv. i.O.), der zweite darin, zusammenzutragen, „was an Personen und Dingen, Sinneseindrücken, Erlebnissen und Situationen das Gefühl des Unheimlichen in uns wachruft und den verhüllten Charakter des Unheimlichen aus einem allen Fällen Gemeinsamen erschließen.“ (Ebd.)
Freud verfolgt beide Wege, die ihn zu dem gleichen Ergebnis führen und er formuliert bereits zu Beginn des Aufsatzes die zentrale These, dass das Unheimliche jene Art des Schreckhaften sei, „welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“ (Ebd.) Wie ist das zu verstehen? Freud weist zu Beginn seines Aufsatzes darauf hin, dass das deutsche Wort ‚unheimlich‘ üblicherweise als Gegensatz zum Heimlichen im Sinne des Heimischen und Vertrauten verstanden wird, sodass der Schluss nahe zu liegen scheint, dass etwas eben
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deshalb schreckhaft oder angsterregend wird, weil es nicht bekannt und nicht vertraut ist. Diese Einschätzung wäre jedoch auch im Rahmen dieses gewohnten Verständnisses nicht umkehrbar, weil eben nicht alles erschreckend ist und Angst erregt, was neu und nicht vertraut ist, sodass etwas hinzukommen muss, damit die unheimliche Wirkung zustande kommen kann. Die zeitgenössischen Überlegungen seien nun im Wesentlichen bei dieser Beziehung des Unheimlichen zum Nichtvertrauten, Neuartigen stehengeblieben, sodass die Entstehung des unheimlichen Gefühls im Kern in der intellektuellen Unsicherheit verankert worden sei, die auftrete, wenn man sich mit etwas nicht auskenne, in der Umwelt nicht vertraut sei und so fort. Freud entdeckt jedoch im Verlauf seiner sprachlichen Analyse der Semantik des Wortes ‚unheimlich‘, dass das Wort ‚heimlich‘ nicht auf das Bedeutungsfeld des Heimischen, Vertrauten und Gewohnten begrenzt ist, sondern vielmehr zwei verschiedenen „Vorstellungskreisen zugehört, die, ohne gegensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind.“ (A.a.O.: 248) Denn einerseits enthält das ‚Heimliche‘ zwar das Heim, das Vertraute, Heimelige und Behagliche. Es bezeichnet den Ort, an dem man sich zu Hause fühlt und auskennt. Darüber hinaus enthält es jedoch andererseits das Bedeutungsfeld des Geheimen, Verborgenen und Versteckten. Der ‚heimliche‘ Ort bezeichnet beispielsweise den geheimen Ort, an dem man den neugierigen Blicken der anderen entzogen ist. Es geht bei diesem Bedeutungsaspekt des Heimlichen um etwas, das versteckt und im Verborgenen gehalten wird. Dieser zweite Vorstellungskreis des Geheimen wird im Übrigen recht deutlich in Verwendungskontexten wie ‚eine Akte heimlich verschwinden lassen‘, ‚heimlich rauchen‘, oder ‚heimlich unter der Decke lesen‘. Dass beide Vorstellungskreise nicht völlig gegensätzlich sind, kann man sich dadurch vor Augen führen, dass sich sowohl das Heim im Sinne des Zuhauses als auch das Geheime im Sinne des Verborgenen dadurch auszeichnen, dass es in beiden Vorstellungskreisen um einen geschützten und insofern sicheren Raum geht. Nun bezieht sich der Gegensatz zum Heimlichen, also das ‚Unheimliche‘ dem geläufigen Verständnis nach jedoch lediglich auf die Negation des ersten Vorstellungskreises und nicht auch auf die Negation des zweiten, also des Geheimen und Verborgenen. Das ‚Unheimliche‘ erscheint aus diesem Grund auf den ersten Blick als das nicht Bekannte, das Unvertraute, dasjenige, worin man sich nicht auskennt und so fort. Weniger geläufig und irritierend erscheint dagegen die Überlegung, dass das Unheimliche mit einem offen gelegten Geheimnis zu tun hat, mit dem Erscheinen von etwas Verborgenem und Privatem, das plötzlich auftaucht, eine Überlegung, die aus Freuds Perspektive durch den zweiten Vorstellungskreis des Heimlichen aber durchaus gerechtfertigt ist.
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Freud entdeckt im Verlauf seiner semantischen Analyse noch eine weitere Eigenartigkeit und weist darauf hin, dass das Wort heimlich „unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt.“ (Ebd.) Deutlich wird dieses Zusammenfallen des Heimlichen mit seinem eigenen Gegensatz in einem Zitat, das die Gebrüder Grimm wählen, das exemplarisch auf das Phänomen verweist, dass das Wort heimlich in einer seiner Verwendungen eben jene Bedeutung annimmt, die sonst dem Wort unheimlich zukommt. Die Gebrüder Grimm führen folgendes Beispiel an: „mir ist zuzeiten wie dem menschen, der in der nacht wandelt und an gespenster glaubt, jeder winkel ist ihm heimlich und schauerhaft.“ (Zitiert nach Freud [1919] 1970: 250)
Im zweiten Teil dieses Satzes müsste erwartungsgemäß das Wort unheimlich anstelle des Wortes heimlich stehen. Freud hebt nun diese Seltsamkeit des Wortes heimlich hervor, das an dieser Stelle so viel wie schauerhaft unheimisch oder eben unheimlich bedeute. Im Zuge seiner Wörterbuchrecherche fällt ihm nun Schellings Definition des Unheimlichen auf, die ihm plötzlich etwas ganz Neues vom Inhalt dieses Begriffs sage, indem sie vor allem den zweiten Vorstellungskreis des Wortes auf einen Begriff bringe. Denn für Schelling gelte: „Unheimlich nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen … bleiben sollte und hervorgetreten ist.“ (A.a.O.: 248) Für Freud, der diese Bestimmung aufgreift, ist das Unheimliche bereits auf sprachsemantischer Ebene ganz und gar nichts Neues. Es bezeichnet etwas nicht mehr Geheimes und nicht mehr geheimnisvoll Verborgenes, sondern etwas zutiefst Vertrautes, das jedoch dadurch keineswegs seinen schreckhaften und angsterregenden Charakter verliert, sodass die zu Beginn erwähnte Formulierung klarer wird: Das Unheimliche ist „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“ (A.a.O.: 244) Das Unheimliche ist insofern semantisch eng mit dem Heim, mit dem Eigenen verbunden, das im und ein Geheimnis, im Verborgenen hätte bleiben sollen und unerwartet hervorgetreten ist. Auch wenn es für die Rekonstruktion des Freud’schen Grundgedankens an dieser Stelle nicht entscheidend ist, sei noch einmal die doppelte Negation des Wortes unheimlich herausgestellt, weil diese Herausstellung das Verständnis von Lacans algebraischer Theoriefigur des Minus –phi vorbereitet, eine ebenso doppelte Negation, auf die im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird (vgl. Kapitel 5.6). Die erste Negation bezieht sich darauf, dass das Wort heimlich selbst in einer seiner Bedeutungsnuancen den eigenen Gegensinn annimmt. Das heißt, dass heimlich zugleich unheimlich
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im Sinne von schauerlich bedeuten kann. In diesem Sinne enthält das Wort heimlich also auf semantischer Ebene seine eigene Negation. Die zweite Negation bezieht sich auf die Vorsilbe un- , also die negativierte Form des Heimlichen. Diese lässt sich sowohl auf die Negation des Vertrauten, Heimischen beziehen als auch auf die Negation des Geheimen, des Geheimnisses und des Verborgenen, also des zweiten Vorstellungskreises, der von Freud hervorgehoben wird, sodass das Unheimliche etwas Entborgenes meint. Das Unheimliche bezeichnet etwas, das erscheint, was nicht hätte erscheinen sollen. Die von Freud herausgestellte Semantik des Wortes ‚unheimlich‘ ist zweifelsohne bereits für sich genommen bemerkenswert.28 Sie erklärt Freud aber noch nicht, wie die psychische Wirkung des Unheimlichen zustande kommt und wie ihre Entstehung aus psychoanalytischer Perspektive begriffen werden kann. Deshalb geht Freud den zweiten von ihm angekündigten Weg und erstellt eine Art Phänomenologie des Unheimlichen, indem er verschiedene literarische Beispiele,29 Situationen aus seiner eigenen Alltagserfahrung und Erzählungen von Patienten zusammenträgt, um Gemeinsamkeiten zu diskutieren und Bedingungen für die Entstehung dessen zu formulieren, was er das unheimlichen Erleben nennt. Er kommt auf diesem Wege zu dem Schluss, dass das Unheimliche stets auf etwas zutiefst Vertrautes und Geheimes im Seelenleben desjenigen verweist, dem es widerfährt. Das Unheimliche geht sogar auf etwas so zutiefst Zueigenes und dem Erlebenden Zugehöriges zurück, dass er am liebsten nichts davon wissen will. Denn die erste Quelle des Unheimlichen ist für Freud etwas Verdrängtes, etwas, das aus den verborgenen Schichten des Verdrängten wiederkehrt. Etwas Bedrohliches tritt in Erscheinung, das nicht ohne Grund verborgen und verdrängt worden war. In diesem Sinne interpretiert Freud beispielsweise die herausgerissenen Augen aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann als die Wiederkehr einer verdrängten Vorstellung, nämlich der Kastrationsphantasie des Protagonisten Nathanael. Andererseits entsteht das Unheimliche dadurch, dass ein entwicklungslogisch überwundenes Realitätsverständnis wiederbelebt wird. Ein Beispiel für diese zweite Quelle des Unheimlichen sieht Freud in der Erzählung eines zwangsneurotischen Patienten, der das gewünschte Zimmer in einem
28 Lacan spricht im Seminar X vom meisterlichen unheimlich des Deutschen (vgl. Lacan 2010: 99) und deutet an, dass die französischen Übersetzungsversuche mit dem Grauenhaften (l’horrible), Undurchsichtigen (le louche) und Beunruhigenden (l’inqiétant) lediglich Annäherungen seien, weshalb er sehr häufig den deutschen Ausdruck beibehält. 29 Vor allem eine ausführliche Interpretation von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann.
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Krankenhaus, das sich in direkter Nachbarschaft zu einer liebenswürdigen Pflegerin befand, nicht beziehen konnte, weil es bereits von einem alten Herrn belegt war. Da die besondere Lage des Zimmers aus Sicht des Patienten aber bereits während eines vergangenen Aufenthalts als der entscheidende Grund für die Besserung seines Gesundheitszustand gesehen worden sei, habe er seinem Unmut mit den Worten Ausdruck verliehen: „Dafür soll ihn aber der Schlag treffen.“ (A.a.O.: 262, Herv. G.W.) Als dieser ältere Herr nun aber nach vierzehn Tagen tatsächlich einen Schlaganfall erlitten habe, sei dieses Erlebnis dem Patienten unheimlich geworden. Die diesem Erlebnis zugrunde liegende Vorstellung, die so genannte „Allmacht der Gedanken“ (a.a.O.: 263), dass also erwünschte oder befürchtete Ereignisse allein Kraft der Gedanken Wirklichkeit werden können, verweist für Freud auf ein infantiles Realitätsverständnis, in dem die uneingeschränkte narzisstische Selbstüberschätzung sich noch erfolgreich gegen die Einsprüche der Realität zur Wehr setzte (vgl. ebd.). Zu diesem infantilen Realitätsverständnis gehören für Freud auch der Animismus und der Glaube an Magie. Freud führt das Unheimliche, diese spezifische Form des Ängstlichen also auf zwei Quellen zurück, auf die Wiederkehr des Verdrängten und auf die Wiederbelebung eines überwundenen, infantilen Realitätsverständnisses. Er gruppiert die Entstehung unheimlicher Wirkungen folgendermaßen: „Es bedarf jetzt nur noch weniger Ergänzungen, denn mit dem Animismus, der Magie und Zauberei, der Allmacht der Gedanken, der Beziehung zum Tode, der unbeabsichtigten Wiederholung und dem Kastrationskomplex haben wir den Umfang der Momente, die das Ängstliche zum Unheimlichen machen, so ziemlich erschöpft.“ (A.a.O.: 265)
Freud gelangt insgesamt zu der Einschätzung: „Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.“ (A.a.O.: 271, Herv. i.O.)
Die beiden Ursachen für die Entstehung des unheimliche Erlebens, also verdrängte infantile Komplexe oder überwundene Realitätsauffassungen, seien dabei nicht strikt voneinander getrennt zu denken, denn es gelte stets zu berücksichtigen, dass die primitiven Überzeugungen auf das Innigste mit den infantilen Neurosen zusammenhängen (vgl. ebd.).
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5.6 D AS U NHEIMLICHE ALS M ANGEL AM M ANGEL BEI L ACAN Lacan greift Freuds Überlegungen zum Unheimlichen auf, indem er sie einerseits auf seine Auffassung der konstitutiven Mangelstruktur des Begehrens bezieht und andererseits für die Frage nach dem Objekt der Angst fruchtbar macht. Er stellt das Unheimliche insgesamt ins Zentrum seines Zugangs zur Angst und entwickelt in diesem Zusammenhang Formalisierungen wie optische Schemata und algebraische Formeln, die in Bezug auf die Frage nach dem Objekt der Angst und dem Objektgrund des Begehrens mit Freud über Freud hinausgehen. Abbildung 2: Vereinfachtes optisches Schema
(Lacan 2010: 55)
Wie bereits im Abschnitt über die Gottesanbeterin erwähnt (vgl. Kapitel 5.4.1), geht Lacan davon aus, dass die libidinöse Besetzung des Spiegelbildes nicht vollständig gelingt. Während das Spiegelstadium seinen Wert vor allem innerhalb der Dialektik des Narzissmus gewinne (vgl. Lacan 2010: 54), verdeutliche dieses optische Schema oder Experiment die Grenzen des Spiegelstadiums, das noch im Rahmen einer Logik des unverzerrten Planspiegels verbleibe, während die Darstellung des Unheimlichen ein weiteres Element verlange, nämlich einen konkaven Hohlspiegel. Diesen Hohlspiegel bezeichnet Lacan mit groß S, was in seiner Algebra, also seinem Versuch der stärkeren Formalisierung der Psychoanalyse, sowohl für das Subjekt als auch für den Signifikanten steht. Der groß geschriebene Buchstabe (groß S) legt nahe, dass mit diesem Element die Funktion der symbolischen Ordnung in Bezug auf das Subjekt thematisiert wird. Zwischen Hohl- und Planspiegel befindet sich ein Objekt, eine Vase. Die Funktion,
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in der sie erscheint, bezeichnet er in Analogie zum Spiegelstadium als Bild des kleinen anderen i(a), (image de l’autre). Den Platz im oder virtuell hinter dem Planspiegel, der selbst mit groß A gekennzeichnet wird, benennt er analog zu i(a) als i’(a), also als den Ort des Bildes des kleinen anderen im Spiegel. Diese Unterscheidung i(a) vor dem Spiegel und i’(a) im oder hinter dem Spiegel entspricht im Übrigen der Unterscheidung von Je und Moi, wie sie im Spiegelstadium formuliert wird (vgl. Kapitel 5.3.1).30 Den Platz über jener Vase, die im oder hinter dem Spiegel erscheint, bezeichnet er als (-φ), gesprochen minus klein phi. Ihr Äquivalent, also der Platz über der Vase vor dem Spiegel, wird mit a im Sinne des Objekts klein a gekennzeichnet. Es ist an dieser Stelle zu beachten, dass sich das von Lacan gewählte Objekt, also die Vase, dadurch auszeichnet, dass sie einen Hohlraum umschließt, also gewissermaßen eine Leere umgibt, jedoch nicht abschließend, weil sie nach oben hin geöffnet ist. Wegen des Hohlspiegels erscheint unter dem Ort, der mit i(a) bezeichnet ist, eine weitere, auf dem Kopf stehende Vase, die die nach unten verschobene oder verdrängte Spiegelung der im Planspiegel erscheinenden Vase darstellt und ebenso mit (-φ), gesprochen minus phi gekennzeichnet wird. Lacan erläutert ausgehend von diesem Schema, dass der mit den Mitteln des Spiegelstadiums nicht repräsentierbare Rest eng mit dem so genannten imaginären Phallus (klein phi) verbunden sei. Was heißt das? Zunächst ist hier an Freuds Beobachtung zu erinnern, dass Kinder beiderlei Geschlechts dem biologischen Organ Penis eine große Bedeutung beimessen und dass die Entdeckung, dass einige Menschen keinen Penis haben, wichtige psychische Auswirkungen habe (vgl. Evans 2002: 223). Lacan greift diesen Grundgedanken auf und erläutert, dass das Kind im Laufe der Zeit die Vorstellung entwickelt, dass der Penis ein Teilobjekt darstellt, das fehlt oder nicht fehlt, was mit der Phantasie verbunden wird, dass dieses Objekt durch Kastration vom Körper abgetrennt werden kann. In der präödipalen Phase, also vor den Wirkungen des väterlichen Gesetzes, werde der Phallus in der Vorstellung des Kindes zu jenem Objekt, das die Mutter mehr als alles andere begehre, das sie sogar noch mehr begehre als das Kind selbst. Diese Vorstellung nennt Lacan imaginärer Phallus. Wegen der Dialektik des Begehrens (das Begehren ist das Begehren des anderen) suche sich das Kind mit diesem Objekt zu identifizieren. Der Ödipuskomplex beinhalte nun jedoch den Verzicht auf eben diese Position, imaginärer Phallus der Mutter zu sein. Vereinfacht formuliert kommt hier die Funktion des Vaters im Sinne des Trägers
30 Lacan macht in diesem vereinfachten Schema nicht klar, an welcher Stelle sich der Betrachter befindet. Sein differenzierteres Schema legt jedoch nahe, dass sich der Augenpunkt leicht erhöht kurz vor dem Hohlspiegel befindet.
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des Gesetzes ins Spiel, der die Mutter aus dem Feld der möglichen Sexualobjekte ausschließt. Bereits bei Freud enthält das Verbot, das sich vom Über-Ich an das Ich richtet, einen doppelten Imperativ: „So (wie der Vater) sollst Du sein, so (wie der Vater) darfst du nicht sein, das heißt nicht alles tun, was er tut; manches bleibt ihm vorbehalten.“ (vgl. Freud [1923a] 1955: 262, kursivierte Herv. i.O. gesperrt gedruckt)
In verallgemeinerter Form lässt sich der zweite Teil dieses doppelten Imperativs, das Inzesttabu, strukturell als eine Variante des Satzes ausdrücken: ‚Hier und jetzt ist nicht alles möglich‘.31 Das Inzestverbot lässt sich strukturell als ein Akt der symbolischen Kastration verstehen, weil es dem Kind eine Grenze setzt, die einschneidend wirkt. Sie kann jedoch vom Kind entweder angenommen werden, indem es (unbewusst) akzeptiert, dass es nicht der Phallus der Mutter sein kann, oder (unbewusst) zurückweist (z.B. verwirft), dass es nicht der Phallus der Mutter sein kann, sodass im zweiten Fall die phallische Vorstellung aufrecht erhalten bleibt.32 Diese Vorstellung, Objekt des Begehrens der Mutter zu sein, wird von Lacan also mit dem Begriff imaginärer Phallus benannt und mit dem algebraischen Ausdruck (φ), gesprochen klein phi formalisiert. Die Bewegung oder der Akt der symbolischen Kastration wird als Negation dieser Vorstellung mit (-φ) bezeichnet. Lacan begreift den Vater insofern als jene Instanz, die die symbolische Kastration vollzieht, sodass das imaginäre Objekt (die Vorstellung, Phallus der Mutter zu sein) zu einem fehlenden oder mangelnden wird. Wenn man sich das optische Schema vor Augen führt, kann man auch sagen, dass dieses Objekt vom Signifikanten ‚Vater‘ verdrängt wird, es wird aus dem Feld des imaginären Körperbildes ausgeschlossen. In Bezug auf den imaginären Phallus heißt das übersetzt, dass dem Kind durch die symbolische Kastration die Vorstellung genommen wird oder besser, dass es von der Vorstellung entlastet wird, es könne (und müsse) das Objekt des Begehrens der Mutter sein. Das heißt, es geht um eine fehlende oder mangelnde Vorstellung und insofern um eine imaginäre Kastration. Aus diesem Grund erscheint das klein phi in der Erweiterung um den Hohlspiegel lediglich in der Form einer Abwesenheit, als Negation, algebraisch ausgedrückt als minus phi. Das heißt, es erscheint im
31 Der erste Teil ließe sich äquivalent formulieren mit: Hier und jetzt soll etwas möglich werden. 32 Die klinische Struktur der Verwerfung ist vermutlich die Psychose, die klinische Struktur des unbewussten Akzeptierens (qua Verdrängung) die Neurose. Die Umarbeitung müsste dann die Perversion sein.
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Spiegelbild nicht als ein positiviertes Etwas, nicht als positiviertes Objekt der Wahrnehmung, sondern in Form eines Mangels, als etwas, das fehlt. Lacans Grundgedanke ist nun, dass die Angst entsteht, wenn an diesem Platz, der sich qua symbolischer Kastration durch eine Leere, ein Fehlen, einen Mangel im Imaginären auszeichnet, plötzlich etwas erscheint. Dieses Etwas, das an dem Platz erscheint, der strukturell leer bleiben sollte, ist nach Lacans Auffassung das Unheimliche: „Das ist es, was an diesem Platz erscheint. Nun, das, was an diesem Platz sein müßte, das ist – deshalb habe ich es heute für Sie hingeschrieben – das ist das –phi, das Etwas, das uns daran erinnert, daß das, womit alles anfängt, die imaginäre Kastration ist, daß es – und mit Grund – kein Bild des Mangels gibt. Wenn da etwas erscheint, dann folglich, wenn ich mich so ausdrücken kann, daß der Mangel mangelt.“ (Lacan [1962/63] 1998: 49)
Es wurde an dieser Stelle Schmitz’ Version zitiert, weil die von Miller hergestellte Textgrundlage hier in einer kleinen, aber wichtigen Nuance abweicht, die zu unnötigen Missverständnissen hinsichtlich des Lacan’schen Argumentationsgangs führen kann. Die entsprechende Stelle aus Gondeks Übersetzung ist nachfolgend hervorgehoben: „Das unheimlich* ist das, was an dem Platz erscheint, an dem das Minus-phi sein sollte. Das, wovon tatsächlich alles ausgeht, das ist die imaginäre Kastration, denn es gibt, und das mit Grund, kein Bild des Mangels. Wenn etwas da erscheint, ist das folglich so, dass, wenn ich mich so ausdrücken kann, der Mangel zu mangeln beginnt.“ (Lacan [1962/63] 2010: 58, Herv. kursiv i.O., fett G.W.)
Zwar scheint der Grundgedanke der gleiche zu sein, es ist an dieser Stelle jedoch zumindest unklar, ob das Schriftzeichen der hervorgehobenen Stelle ein Minuszeichen oder einen Gedankenstrich darstellen soll. Aus diesem Grund wird es missverständlich, weil aus dem zuvor Gesagten hervorgeht, dass das Unheimliche keineswegs an dem Platz erscheint, an dem das Minus minus phi (also bereits eine doppelte Negation) sein sollte, sondern an dem Platz, an dem das Minusphi sein müsste, also die einfache Negation der Vorstellung vom imaginären Phallus, die Leere oder das Fehlen, die mit der imaginären Kastration zusammenhängen. Denn das Entscheidende am Unheimlichen ist für Lacan an dieser Stelle ebenso wie für Freud, dass es an einem Platz erscheint, der leer hätte bleiben sollen, an dem es nicht hätte auftauchen dürfen, wo etwas im Verborgenen hätte bleiben sollen. Es handelt sich hier jedoch nicht um einen etwaigen Übersetzungsfehler Gondeks, sondern um eine unklare Nuance in
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Millers Textherstellung, sodass im vorliegenden Fall die Entscheidung getroffen wurde, das fragliche Schriftzeichen als Wortverbindungsstrich und nicht als Minuszeichen zu lesen. In der französischen Version heißt es: „L’unheimlich est ce qui apparaît à la place où devrait être le moins-phi.“ (Lacan [1962/63] 2004: 53, Herv. i.O.) Wenn Lacans These lautet, dass in der Angst der Mangel fehlt, dann heißt das, mathematisch ausgedrückt, dass die Angst durch eine doppelte Inversion oder Umkehrung entsteht, die aus der Kombination zweier negativer Faktoren einen positiven Wert macht. Das Fehlen des Fehlens führt zum Erscheinen eines Wahrnehmungsobjekts. Hier kommen die beiden semantischen Negationen des Unheimlichen wieder ins Spiel, die zuvor mit Freud herausgestellt wurden: Das unheimliche Etwas ist das Minus minus phi, das einen positiven Wert ergibt, weil zwei negative Faktoren miteinander kombiniert ein kalkulatorisch positives Produkt ergeben. Lacan formuliert: „Nun, was habe ich Ihnen das letzte Mal gesagt, um Sie auf eine gewisse wesentliche Bahn zu bringen, die es zu erfassen gilt? Dass die Angst nicht das Signal eines Mangels, sondern von etwas ist, dass man auf einer verdoppelten Ebene begreifen muss, das der Ausfall der Stütze ist, die der Mangel abgibt.“ (Lacan 2010: 73-74)
Lacan sieht die Wirkung dieses unheimlichen Etwas darin, dass es den notwendigen, weil stützenden Mangel der imaginären Kastration verstopft, der das Begehren aufrecht erhält. Das minus phi, das sich nur als Fleck, als Ausfall am Platz des Objekts a zeige, werde zu einem positivierten Etwas und der Mangel fehle. Jérome Taillandier, einer der Zuhörer dieses Seminars, weist darauf hin, dass die Relation zwischen dem Objekt klein a und dem minus phi als doppelte Inversion beschrieben werden kann (vgl. Taillandier 1998: 9-32).33 Das Objekt a werde nicht in das Körperbild des anderen, in das Ich-Ideal aufgenommen (vgl. a.a.O.: 14). Es fehle dort. Nur im Hohlspiegel, im Ideal-Ich, erscheine das Fehlen als Mangel, als Fleck.34 Eben dieser Mangel sei es aber, der das Begehren antreibe und Objektalität ermögliche, das heißt, die Möglichkeit der Konstitution von Objekten des Begehrens biete. Lacan begreift die Angst ebenso wie Freud als ein Signal, allerdings nicht als Signal eines Mangels, sondern als Signal eines fehlenden Mangels, das den
33 Der mathematische Begriff der Inversion aus der Ebenengeometrie beschreibt die Gesetze der Vertauschung von Innen und Außen eines gegebenen Kreises. 34 Im Seminar XI hat Lacan später mithilfe des Begriffs der Anamorphose bzw. der anamorphotischen Verzerrung anhand des Gemäldes „Die Gesandten“ von Holbein die Funktion des Flecks ausführlich beschrieben (vgl. Lacan [1964] 1996: 85-97).
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drohenden Ausfall der stützenden Funktion des Mangels anzeigt. Er formuliert weiter: „Die Angst entsteht, wenn ein Mechanismus etwas auf dem Platz erscheinen lässt, den ich, um mich verständlich zu machen, als natürlich bezeichnen werde, nämlich den Platz (–φ), der, rechte Seite, dem Platz entspricht, den, linke Seite, das a des Objekts des Begehrens einnimmt. Ich sage etwas – verstehen Sie darunter irgendwas.“ (Lacan 2010: 58, Herv. i.O.)
Lacans Grundgedanke ist, dass mit diesem Erscheinen von irgendetwas, es geht also um eine Struktur und nicht um ein spezifisches, benennbares Objekt der Angst, die libidinöse Stütze des Begehrens ausfällt. Das heißt diejenige Leere, derjenige Mangel oder dasjenige Fehlen, welches das Begehren stützt und unterstützt. Wenn man hier an die zuvor erläuterte Unterscheidung von Bedürfnis, Anspruch und Begehren zurückdenkt (vgl. Kapitel 5.4.2), regiert in der Angst die duale Logik erfüllbarer Ansprüche, die keinen Spielraum, keinen Leerraum für das Begehren enthält, das von der Aufrechterhaltung einer Differenz in Gang gehalten wird und eben nicht auf Erfüllung ausgerichtet ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Lacans Bemerkung zur Funktion der Norm, in der auch die Funktion des Gesetzes anklingt: „Ich werde Sie einfach nur beobachten lassen, dass so manche Dinge im Sinne der Anomalie zustande kommen können, und dass es das nicht ist, was uns ängstigt. Aber wenn plötzlich jede Norm zu fehlen beginnt, das heißt das, was die Anomalie ausmacht als das, was den Mangel ausmacht, wenn es plötzlich nicht mangelt, genau in diesem Moment beginnt die Angst.“ (Ebd.)
Lacan deutet hier an, dass es nicht die Anomalien seien, nicht die (z.B. inneren oder äußeren) Abweichungen vom Gewohnten und Vertrauten, die uns ängstigen. Vielleicht lässt sich der Grundgedanke so verstehen, dass Anomalien immer auf eine Norm verweisen und die Abweichung verweist darauf, dass es der Norm an etwas mangelt, dass etwas darin nicht aufgeht etc. Von dieser Mangelstruktur der Norm, die in der Rede von der Anomalie anklingt, unterscheidet Lacan die Situation, wenn plötzlich jede Norm, jedes Gesetz fehlt, also das, was die Anomalie ermöglicht, was den Mangel macht. Wenn es an diesem Mangel plötzlich fehlt, beginnt laut Lacan die Angst. Es klingt an dieser Stelle der Gedanke an, dass das Fehlen des Gesetzes, das den je besonderen Verboten vorausliegt, die sich durch ihre Mangelstruktur auszeichnen, in die Angst führt. Wenn es kein Gesetz gibt, nichts, dass im Voraus gesetzt ist, kann es auch keine Gebote geben,
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die eingehalten oder übertreten werden können. Man kann vielleicht sagen, dass die Angst entsteht, wenn jenes Gesetz fehlt, das die Voraussetzung für die Mangelstruktur des Begehrens darstellt, die dann entfällt. Vor diesem Hintergrund ist nicht die Kastration die Ursache der Angst, sondern umgekehrt, die fehlende Kastration.
5.7 D IE A NGST
IST NICHT OHNE
O BJEKT
In diesem Zusammenhang lässt sich in einem nächsten Schritt Lacans zweite These rekonstruieren, dass die Angst nicht ohne Objekt sei. Er entwickelt diese Überlegung ausgehend von dem vereinfachten Schema der zwei Vasen, das ihm zur topologischen Verdeutlichung des Platzes gedient hatte, an dem das Unheimliche erscheint. Lacan erinnert zunächst an einen Freud’schen Grundgedanken, an den er seine eigene, erweiternde Behauptung anschließt: „Die Angst, hat uns Freud gelehrt, übernimmt im Verhältnis zu etwas die Funktion eines Signals. Ich behaupte, dass dies ein Signal in Beziehung mit dem ist, was hinsichtlich der Beziehung des Subjekts mit dem Objekt a in seiner ganzen Allgemeinheit vor sich geht.“ (Lacan 2010: 112)
Lacan deutet also an, dass die Angst die Funktion eines Signals übernimmt, das auf ein Objekt verweist, das in einer Beziehung zum Subjekt steht. Er geht den Status oder, wie er es nennt, die „Revision“ (Lacan 2010: 109) des Status dieses spezifischen Objekts an, indem er erneut eine algebraische Formalisierung vornimmt und entfaltet, wie das Objekt a zu verstehen ist (vgl. ebd.: 112). Gondek fasst einige seiner grundlegenden Aspekte folgendermaßen zusammen: „Das Objekt a ist kein beobachtbares, kein im Feld der Wahrnehmung situiertes Objekt. Lacan betont immer wieder, dass das Objekt a in der Psychoanalyse nichts mit dem Erkenntnis- oder Wahrnehmungsobjekt zu tun hat, dass es sich allein im Ausfall der Sinnlichkeit erweist, im Fleck, der das Spiegelbild um seine Vollkommenheit bringt und damit etwas anzeigt, das der Spiegelung widersteht. Das Objekt a ist ,eine formale und keine deskriptive Kategorie‘, es ist eine Konstruktion: das gilt für den Prozeß einer einzelnen Analyse wie für die psychoanalytische Theorie im Allgemeinen. Konstruktion, die in der Hauptsache Rekonstruktion von Wirkungen ist, die dieses nicht unmittelbar und als solches wahrnehmbare Objekt ausübt. (Eine gewisse Anschauung gibt der häufig angewandte Vergleich mit einem unsichtbaren Planeten, der durch seine Gravitation auf die Bahn eines anderen einwirkt, so daß aus dessen Abweichungen auf die Existenz dieses
198 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN nicht zu beobachtenden Himmelskörpers geschlossen werden kann.) Als ein solches Konstrukt hat das Objekt a eine Matrixfunktion – deshalb die 'algebraische' Schreibung: ,a‘ – als erstes Element einer prinzipiell unabgeschlossenen und unabschließbaren Reihe. Es verzeichnet eben den Ursprung der ,Objektalität‘ […], der nicht beobachtet, sondern nur postuliert und unterstellt werden kann.“ (Gondek 1992: 111, Herv. i.O.)
Dieses Objekt a, das als solches nicht wahrnehmbar, sondern nun anhand seiner Wirkungen zu rekonstruieren sei, erfüllt für Lacan vor allem zwei theoretische Funktionen, die ihm eine Modifikation der bestehenden Auffassungen zum Objektbezug der Angst erlauben. Denn einerseits sucht er mit dieser Konstruktion das privilegierte Objekt der Angst zu erfassen und andererseits den Objektgrund oder die Objektursache des Begehrens, sodass sich Angst und Begehren aus Lacans Perspektive in diesem spezifischen Objekt a treffen und miteinander verschränken. Wie geht das zu? „Es wird gemeinhin angenommen, die Angst sei ohne Objekt. Dies, was nicht dem Diskurs Freuds, sondern einem Teil seiner Diskurse entnommen ist, ist streng genommen das, was ich durch meinen Diskurs korrigiere. Sie können also für gewiss halten, dass sie, […] nicht ohne Objekt ist. So lautet exakt die Formel, an der das Verhältnis der Angst zu einem Objekt aufgehangen sein muss.“ (Lacan 2010: 115, Herv. i.O.)
An diesem Zitat ist mindestens dreierlei bemerkenswert, das einen ausführlicheren Kommentar lohnt und verlangt. Erstens behauptet Lacan hier implizit, dass es eine Vereinfachung oder Verkürzung darstellt, dass Freud die Angst ausschließlich objektlos begriffen hätte. Er legt damit nahe, dass es Stellen im Freud’schen Werk gibt, die in Bezug auf diese Einschätzung einer Relektüre bedürfen. Auch wenn Lacan in seinem Seminarkontext nicht die entsprechenden Stellen benennt, auf die er hier anspielt, erweist er sich dennoch einmal mehr als ein genauer Leser Freuds. Freud legt zwar an einigen Stellen nahe, dass die Angst als objektlose Relation zu verstehen ist, gleichzeitig fordern jedoch eben diese Stellen differenziertere Interpretationen heraus. Es seien lediglich zwei Beispiele erwähnt, die Lacans Einschätzung bekräftigen: In den Einführenden Vorlesungen in die Psychoanalyse (von 1916-17) weist Freud im Rahmen seiner Vorlesung zur Angst darauf hin, dass er es vermeiden wolle, näher auf die Frage einzugehen, ob unser Sprachgebrauch „mit Angst, Furcht, Schreck das Nämliche oder deutlich Verschiedenes bezeichnen will. Ich meine nur, Angst bezieht sich auf den Zustand und sieht vom Objekt ab, während Furcht die Aufmerksamkeit gerade auf das Objekt richtet.“ (Freud [1916/17] 1982: 382)
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Freud umgeht hier eine eindeutige Positionierung hinsichtlich sprachlich gebräuchlicher Unterscheidungen zwischen Angst, Furcht und Schreck. Diese Stelle legt trotzdem nahe, dass Freud die Phänomene Angst und Furcht zumindest anhand ihres fehlenden beziehungsweise vorhandenen Objektbezugs unterscheidet, auch wenn man sogar anhand dieses Zitats einwenden könnte, dass Freuds Aussage, dass im Zustand der Angst vom Objekt abgesehen werde, noch keineswegs bedeutet, dass es keinerlei Objekt gibt. In Hemmung, Symptom und Angst (vgl. Freud [1926] 1971) lässt sich eine ähnliche Differenzierungsnotwendigkeit bemerken: „Die Angst hat eine unverkennbare Beziehung zur Erwartung; sie ist Angst vor etwas. Es haftet ihr ein Charakter von Unbestimmtheit und Objektlosigkeit an; der korrekte Sprachgebrauch ändert selbst ihren Namen, wenn sie ein Objekt gefunden hat, und ersetzt ihn dann durch Furcht.“ (Freud [1926] 1971: 302, Herv. i.O.)
An dieser Stelle erweckt Freud nun deutlicher und auch in Bezug auf den Sprachgebrauch eindeutiger den Anschein, dass die Angst als unbestimmt und objektlos zu charakterisieren sei und die Furcht als bestimmt und objekthaft. Aber auch hier lässt sich die Einschätzung problematisieren, dass Freud damit die Angst radikal objektlos aufgefasst hätte. Denn die Formulierung zu Beginn des Zitats, dass die Angst Angst vor etwas sei, legt nahe, dass sie keineswegs gänzlich ohne Objektbezug begriffen wird. Ausgehend von dieser Formulierung ist die Freud’sche Auffassung des Verhältnisses von Angst und Objekt deshalb zu differenzieren. Dieses Zitat ist bemerkenswert, weil die Formulierung ‚Angst vor etwas‘ sowohl ein temporales als auch als ein lokales Verhältnis anzeigen kann. In ökonomischer Hinsicht tritt die Angst für Freud auf, noch bevor es überhaupt eine ökonomisch bedrohliche Situation gibt. In diesem temporalen Sinne ist sie objektlos. Seine Auffassung der Angst zeichnet sich im Kern dadurch aus, dass sich kein gegenwärtiges oder gegenständliches Objekt der Wahrnehmung bestimmen lässt, kein gegenwärtiges Etwas benennen lässt, auf das sich die Angst im Moment ihres Aufkommens bezieht. Andererseits legt die Formulierung Angst vor etwas nahe, dass es zwar um etwas gegenwärtig Unbestimmbares und Abwesendes geht, das sich aber imaginär als ein zukünftig Eintretendes, in Zukunft erwartetes Objekt charakterisieren lässt. Die Rede von der Erwartung setzt eine Antizipation voraus, das heißt eine imaginäre Vergegenwärtigung. In diesem Sinne könnte ‚Angst vor etwas‘ zu haben heißen, dass es ein Objekt gibt, das im Imaginären lokalisiert und in diesem Sinne vorhanden ist. Freuds theoretische Überlegung lässt sich hier so verstehen, dass sich die Angst auf etwas bezieht, das noch nicht eingetreten ist,
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aber in naher Zukunft einzutreten droht und deshalb vorher in gemilderter Form antizipiert, vorweggenommen wird. Die Angst, die eine erwartete Bedrohung signalisiert, etwas, das zeitlich vor dem Eintritt einer ökonomischen Gefahr liegt, verweist insofern auf ein Objekt, wenn auch auf ein zukünftiges und gegenwärtig abwesendes, das heißt auf ein imaginäres. Aus Freuds Perspektive verweist das in der Angstsituation in diesem Sinne anwesend-abwesende Objekt auf eine vergangene Situation. In dieser Situation vermutet er die primäre, traumatische oder automatische Angst, namentlich den Geburtsakt, dessen zentrale Funktion in der Trennung von der Mutter bestehe. Diese vergangene Situation fungiert in Bezug auf die Angstentstehung als Erinnerungsbild, an das sich der Angstaffekt anheftet. Sobald ein zeitlich gegenwärtiges Objekt gefunden und benannt werden kann, handelt es sich nicht mehr um Angst, sondern um eine Furcht vor etwas Bestimmtem, dieses Mal im temporal und lokal strengen Sinne eines gegenwärtig anwesenden und benennbaren Objekts. Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich die Angst von der Furcht also nicht absolut durch ihren Objektbezug, sondern relativ durch die spezifische Temporalität und Lokalität des Objektbezugs. Anders und etwas vereinfacht formuliert: Die Furcht hat ein bestimmtes und benennbares Objekt im Hier und Jetzt. Die Angst hat ebenso ein Objekt, allerdings ein unbestimmtes und unbestimmbares, das auf einen anderen Ort und auf zwei andere Zeiten, nämlich Vergangenheit und Zukunft verweist. Der zweite bemerkenswerte Aspekt des Lacan’schen Zitats betrifft die auf den ersten Blick unnötig komplizierte Formulierung, dass die Angst nicht ohne Objekt sei. Einfacher und klarer erschiene doch die Aussage: Die Angst hat ein Objekt, denn um genau diesen Aussagegehalt scheint es Lacan in seiner Formulierung doch zu gehen. Lacan weist jedoch auf eine Besonderheit des Bezugs der Angst zum Objekt hin: „Dieser Bezug des nicht sein ohne zu haben bedeutet nicht, dass man wüßte, um welches Objekt es sich handelt. Wenn ich sage ,Er ist nicht ohne Mittel‘ […], ,Er ist nicht ohne List‘, so bedeutet das ja gerade, daß seine Mittel – zumindest für mich – dunkel sind und daß seine List keine gewöhnliche ist.“ (Lacan [1962/63] 1998: 93, Herv. i.O.)35
35 An dieser Stelle erscheint die Übersetzung von Schmitz deutlicher und weniger missverständlich. Zum Vergleich sei jedoch auch die Übersetzung auf Grundlage der Miller’schen Textherstellung zitiert: „Dieses Verhältnis, nicht zu sein, ohne zu haben, heißt nicht, dass man weiß, um welches Objekt es sich handelt. Wenn ich sage Er ist nicht ohne Mittel/mittellos, Er ist nicht ohne Schläue, so heißt das, dass, wenigstens für mich, seine Mittel fragwürdig sind, seine Schläue nicht gesellschaftsfähig ist.“ (Lacan [1962/63] 2010: 116, Herv. i.O.).
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Lacan deutet hier an, dass es sich beim Objekt der Angst weder um ein erkennbares Objekt des Wissens noch um ein gewöhnliches Objekt handelt, sondern um ein listenreiches, das im Dunkeln liegt und sich der Sichtbarkeit entzieht. Die Formulierung: ‚Die Angst hat ein Objekt‘ wäre vor diesem Hintergrund zwar möglicherweise einfacher, würde aber den Gedanken nicht klären, um den es Lacan hier geht. Denn für ihn zeichnet sich die Angst gerade dadurch aus, dass sich das Objekt, auf das sie sich bezieht und von dem sie ausgelöst wird, immer wieder entzieht. Das Objekt der Angst entwischt dem Ich immer wieder. Sobald das Ich sagen könne „das ist es“ (Lacan 2010: 100), wovor ich mich ängstige, werde die Angst verschlossen. Das heißt, die Angst wird verwandelt in Furcht oder Phobien, die die Angst verdecken (vgl. a.a.O.: 107) und insofern einen Schutz vor der Angst darstellen. Diese zeichnet sich jedoch im Unterschied dazu dadurch aus, dass ihre Objekte in ständiger Bewegung bleiben, und was bleibt ist lediglich die wiederholte Einsicht, dass es das wieder nicht war, wovor sich das Ich geängstigt hatte. Es sei an dieser Stelle auf eine sprachliche Nuance von Lacans Formulierung hingewiesen, die im französischen Text mitschwingt und nicht umstandslos ins Deutsche übersetzt werden kann. In Bezug auf die Formel, die Angst ist nicht ohne Objekt, konkretisiert Lacan: „Telle est exactement la formule où doit être suspendu le rapport de l’angoisse à un objet.“ (Lacan [1962/63] 2004: 105) „So lautet exakt die Formel, an der das Verhältnis der Angst zu einem Objekt aufgehangen sein muss.“ (Lacan [1962/63] 2010: 115) Das von Lacan gewählte Verb suspendre enthält nicht nur den Vorstellungskreis des Aufhängens, Festmachens und Befestigens, sondern ebenso das Bedeutungsfeld suspendieren, unterbrechen, entbinden und ein Verhältnis zeitweilig aufheben. Berücksichtigt man diese zweite Bedeutungsebene, dann schwingt in diesem Satz auch folgender Gedanke mit: Dass die Angst nicht ohne Objekt ist, das ist exakt die Formel, wo das Verhältnis der Angst zu einem Objekt ‚zeitweilig unterbrochen‘ werden muss. Diese Nuance ist bemerkenswert in Bezug auf das Geschehen in der analytischen Kur, in der es nicht zuletzt darum geht, das aufgetauchte, unheimliche Objekt, nachdem es namhaft geworden ist, wieder zu verflüssigen und zeitweilig von den zu Furcht und Phobien gerinnenden Fixierungen zu trennen. Vor diesem Hintergrund ist die Angst ein Produktionsmoment im Rahmen der analytischen Kur. Sie kann nicht ein für alle Mal genommen und in diesem Sinne zum Verschwinden gebracht werden, weil sie sich immer wieder an neue Objekte heftet, wohl aber kann sie in Bezug auf die je konkreten Objektfixierungen unterbrochen und in diesem Sinne auch gelöst, das heißt immer wieder überwunden werden.
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Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Lacan die Angst als Signal für etwas zu verstehen gibt, was hinsichtlich des Subjekts im Verhältnis zum Objekt a „in seiner ganzen Allgemeinheit“ (Lacan 2010: 112) vor sich geht, dann gewinnt seine These, dass die Angst weder ohne Objekt ist noch mit einem Objekt zusammenfällt, eine weitere Dimension. Das Spannende an Lacans diesbezüglicher Überlegung ist, dass sie die gewohnte Unterscheidung von ‚innerem Subjekt‘ und ‚äußerem Objekt‘ unterläuft. Das Objekt a zeichnet sich im Verhältnis zum Subjekt dadurch aus, dass es die binäre Opposition von Außen und Innen subvertiert. Lacan verdeutlicht diesen Grundgedanken anhand des so genannten Möbiusbandes, das auch auf dem Umschlag der französischen Version des Seminars X abgebildet ist (vgl. Lacan [1962/62] 2004). Diese dreidimensionale Figur kann aus einem langen, rechteckigen Papierstreifen konstruiert werden, dessen Ende einmal um 180 Grad gedreht und dann mit dem anderen Ende zusammengefügt wird. Zwar scheint diese Figur zwei Seiten zu haben, also eine Innenseite und eine Außenseite und an jedem einzelnen, definierten Punkt kann auch eine Innen- und eine Außenseite unterschieden werden. Wenn man jedoch mit dem Finger an dem Papierstreifen entlangfährt, zeigt sich, dass es nur eine einzige Seite und auch nur eine einzige Kante gibt. Insofern lassen sich Innen und Außen nur punktuell und durch die Dauer, durch die Zeit unterscheiden, die nötig ist, um den gesamten Papierstreifen abzufahren. Anhand des Möbiusbandes verdeutlicht Lacan die Art und Weise, wie die Psychoanalyse häufig binär gedachte Gegensätze wie Innen und Außen, Liebe und Hass, Signifikant und Signifikat und eben auch Subjekt und Objekt problematisiert. Mit der theoretischen Konstruktion Objekt a sucht Lacan den extimen Kern des Subjekts zu beschreiben. Lacan verknüpft das Wort Intimität mit dem Präfix ex zum Neologismus l’extimité (vgl. Lacan [1959-60] 1996: 171 ff.) Dieser Neologismus verweist darauf, dass das Objekt a, obwohl es den innersten, intimen Kern des Subjekts ausmacht, dem Subjekt gleichzeitig äußerlich und unerreichbar ist. Lacan versteht das Objekt a als Objektgrund oder Objektursache des Begehrens, also als Grund dafür, dass Objekte begehrt werden können. Lacan hatte den Grundgedanken zum Objekt a bereits in seiner Auseinandersetzung mit dem ‚Ding‘ im Ethikseminar eingeführt: „Nach dem Seminar 1959/60 verschwindet der Terminus Ding fast vollständig aus Lacans Werk. Doch die damit verbundenen Ideen bieten die Grundlage für die von Lacan ab 1963 betriebenen Neufassungen des Begriffs ,Objekt klein a‘.“ (Evans 2002: 78, Herv. i.O.)
Dieser Neufassung des Objekts a widmet Lacan in seinem Angstseminar von 1962/63 mindestens elf Sitzungen. Nicolas Langlitz beschreibt das Lacan’sche
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Ding, das den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Objekts a darstellt, folgendermaßen: „Es ist der blinde Fleck des Subjekts, von dem aus dessen gesamte Welt organisiert wird. Aber zugleich beschrieb Lacan es ,als Fremdes, gelegentlich sogar Feindliches, jedenfalls als das erste Außen‘, das immer als der entscheidende Bezugspunkt fungieren wird, ,als absolutes Anderes‘, welches das Subjekt sein Leben lang vergeblich wiederzufinden versucht (ohne ihm jemals wirklich begegnet zu sein), als ,das, woran sich der ganze Weg des Subjekts orientiert.‘ “ (Langlitz 2004: 23, Herv. i.O.)
Strukturell Ähnliches gilt für das Objekt a, das etwas bezeichnet, das zwar aus dem Körper des Subjekts stammt, aber in ein Außerhalb herausgesetzt ist und für immer oder besser immer schon verloren ist. In diesem Sinne stellt das Objekt a sowohl ein fremdes als auch ein zutiefst vertrautes Objekt dar. „Gäbe es nicht die Psychoanalyse, so wüsste man es aus diesem hier, dass es Momente des Erscheinens des Objekts gibt, die uns in eine ganz andere Dimension werfen, die in der Erfahrung gegeben ist und es verdient, als primär in der Erfahrung abgehoben zu werden. Das ist die Dimension des Fremden.“ (Lacan [1962/63] 2010: 82)
Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Lacan das Objekt a und das Fremde über den Begriff der Erfahrung (expérience) verknüpft, die er nicht auf die psychoanalytische Erfahrung beschränkt sieht.36 Die Dimension des Fremden hat für Lacan zur Folge, dass das auf seine eigene Erkenntnis hin transparente und autonome Subjekt unmöglich wird. Diesem fremden Objekt gegenüber „schwankt das Subjekt buchstäblich, und alles an dieser angeblich primordialen Beziehung des Subjekts zu jeder Erkenntniswirkung wird in Frage gestellt.“ (Ebd.) Dieser Seitenhieb gegen das philosophische, cartesianische Erkenntnissubjekt, das zur Voraussetzung bzw. zum fundamentum inconcussum der Gewissheit des Seins erhoben wird, leitet über zum dritten bemerkenswerten Aspekt, der zumindest benannt sei. Denn mit der These, dass die Angst nicht ohne Objekt sei, widerspricht Lacan geläufigen, philosophischen Positionen zur Subjektivität,
36 Der Grundgedanke ist also ein ganz ähnlicher wie bei Waldenfels (vgl. Kapitel 4) Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Verbindung, auf die z.B. Phillipe Lacoue-Labarte aufmerksam macht, der das Wort expérience etymologisch auf das lateinische ex – periri im Sinne des ‚Durchlaufens einer Gefahr‘ zurückführt. (vgl. Lacoue-Labarthe 1986: 30; ders. 1991: 29).
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indem er die Angst in ihrem spezifischen Objektbezug als den nicht täuschenden Ort der Gewissheit behauptet. „Es gibt im Werk Lacans zwei Orte, an denen die Auseinandersetzung zwischen Psychoanalyse und Philosophie besonders brisant wird: die Theorie des Subjekts und die Analyse der Angst.“ (Gondek 1992:107)
Lacans Korrektur der Auffassung, dass die Angst ohne Objekt sei, bezieht sich also nicht nur auf den Freud’schen Diskurs, sondern ebenso auf die existenzphilosophischen Positionen von Kierkegaard über Gabriel Marcel bis Martin Heidegger, um nur einige ihrer bekanntesten Vertreter zu nennen. „Die Angst, lehrt man uns seit jeher, sei eine Furcht ohne Objekt. Eine Leier, könnten wir bereits hier behaupten, worin eine andere Rede zum Ausdruck kommt – eine Leier, die, so wissenschaftlich sie auch sein mag, der des Kindes nahe kommt, das sich beruhigen will – denn die Wahrheit, die ich für Sie aussage, ich formuliere sie so – sie ist nicht ohne Objekt.“ (Lacan 2010: 165)
Wie sich diese Auffassung von Lacan aus psychoanalytischer Perspektive verstehen lässt, ist bereits angedeutet worden und wird weiter konturiert worden (vgl. Kapitel 5.8.1): Es geht im Zentrum um die Artikulation der Wahrheit des eigenen Begehrens. Nachdem Lacans These, dass die Angst nicht ohne Objekt sei, in ihren entscheidenden Aspekten rekonstruiert wurde, wird in einem nächsten Schritt Lacans Bestimmung der Angst als Affekt und seine Behauptung, dass sie der einzige Affekt sei, der nicht täusche, erläutert.
5.8 D IE A NGST
ALS
A FFEKT
Lacan geht zu Beginn seines Seminars auf Freuds letzten, ausführlicheren Text über die Angst, nämlich Hemmung, Symptom und Angst ein, allerdings nicht etwa, indem er den Freud’schen Argumentationsgang rekonstruiert, sondern indem er den Titel aufgreift, den er als „Seil“ (Lacan [1962/63] 2010: 19) nutzt, auf dem er balanciert, um seine eigene Auffassung der Angst zu entwickeln. Es geht ihm um den Versuch, sich und das Seminar direkt in die Fragen der Angst „hineinzuwerfen“ (a.a.O.: 11) und sich zu seiner eigenen Theorie der Angst wie ein Seiltänzer Schritt für Schritt vorzutasten, ohne sich dabei durch das aus seiner Sicht trügerische Netz des Freud’schen Diskurses abzusichern. Lacan
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macht auf seinem Denkweg darauf aufmerksam, dass es den Verstand anspringe, dass die drei Freud’schen Titelbegriffe Hemmung, Symptom und Angst nicht auf der selben Stufe stehen. Er schlägt deshalb vor, sie auf drei diagonal gegeneinander versetzten Zeilen zu positionieren, sodass sich eine Art Tabelle ergibt (vgl. Lacan [1962-63] 2010: 24). Lacan benennt zwei Achsen, die durch diese Versetzung entstehen. Auf der einen Achse trägt er die Schwierigkeit ab, auf die die Begriffe jeweils verweisen, die andere Achse beschreibt die jeweilige Bewegung, die mit den verschiedenen Begriffen zusammenhängt. Nach und nach füllt und erläutert er die einzelnen Felder, wobei die zwei Felder, die sich direkt neben und über der Angst befinden, zunächst noch nicht gefüllt werden und erst an späterer Stelle des Seminars mit ‚acting out‘ (vereinfacht: impulsives, symbolisches Ausagieren) und ‚passage à l’acte‘ (vereinfacht: reales Ausagieren aus dem Affekt) bezeichnet werden: Tabelle 1:
Bewegung (Mouvement)
Schwierigkeit (Difficulté) Hemmung (Inhibition)
Hinderung (Empêchement)
Bedrängnis (Embarras)
Emotion (Emotion)
Symptom (Symptom)
X
X
Angst (Angoisse)
Verwirrung (Emoi)
(Übersetzung der Tabelle von Lacan 2010: 24)
Es geht Lacan in dieser Skizze darum zu zeigen, dass die drei fett markierten Termini aus seiner Sicht nicht dieselben Begriffe als Kontext oder Umgebung haben. Lacan erläutert ausgehend von den einzelnen Etymologien der französischen Wörter, dass die Hemmung in direkter Nähe zur Emotion stehe, insofern das Wort Erregung (emotion) etymologisch auf Bewegung (mouvement) zurückgehe und die Hemmung der Sache nach ebenso mit dem Anhalten oder der Unterbrechung einer Bewegung in Zusammenhang stehe. Ohne an dieser Stelle näher darauf einzugehen, verortet Lacan die Emotion also in direkter Nachbarschaft zur Hemmung, die sich auf einer anderen Ebene als das befinde, was die
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Angst auszeichne. Die Emotion gehört für ihn zu einer Struktur, die in eine in Verwirrung geratende Bewegung (emoi) mündet. Statt die Angst als Emotion zu begreifen, schlägt er vor, sie einem anderen begrifflichen Rahmen zuzuordnen: „Die Angst, was ist sie? Wir haben zurückgewiesen, dass sie eine Emotion sei. Um sie einzuführen, werde ich sagen, dass sie ein Affekt ist.“ (A.a.O.: 24) Auch wenn Lacan keine allgemeine Theorie der Affekte vorlegt, lässt sich doch zumindest konturieren, was Lacan meint, wenn er die Angst als Affekt bestimmt. Er nimmt diese Bestimmung zunächst negativ vor, indem er betont, dass der Affekt nicht etwa das gegebene Sein in seiner Unmittelbarkeit ist und auch nicht das Subjekt in einer rohen Form (vgl. a.a.O.: 25). Der Affekt sei keinesfalls „protopathisch“ (ebd.). Das heißt, dass er nicht einem als vorgängig gedachten, biologischen, rohen Körper zuzuordnen ist, in dem er ursprünglich zu verankern wäre und dem er entspringt. Und das wiederum heißt, dass der Affekt mit der symbolischen Ordnung verbunden ist, obgleich Lacan ihn nicht als einen Signifikanten denkt, sondern als ein Signal. Dieses Signal bekundet sich zwar im und am Körper, die Funktion des Affekts besteht jedoch darin, dass er etwas anzeigt. Diese signalisierende und in diesem Sinne symbolische Funktion betrifft in erster Linie das Subjekt (vgl. Gondek 1992: 121). Lacan versteht den Affekt Angst also als ein Signal, das dem Subjekt gilt. In dieser Bestimmung klingt an, dass Lacan die Freud’sche Auffassung der Signalfunktion der Angst grundsätzlich aufnimmt, allerdings konzentriert er die Angst, anders als Freud, nicht auf das ‚Ich‘ als alleiniger Angststätte, sondern weitet den Ort der Angst auf das Subjekt aus, das heißt bei Lacan auf das Subjekt des Unbewussten. Worin besteht nun im Zusammenhang mit dem Affekt der Unterschied zwischen seinem von Lacan behaupteten Status als Signal und dem von ihm zurückgewiesenen Status als Signifikant? Bereits in einem früheren Seminar (vgl. Lacan [1959/60] 1996) hatte Lacan hervorgehoben, dass Freud auf dem konventionellen, künstlichen Charakter der Affekte beharrt habe, „auf ihrem Charakter nicht als Signifikanten, aber als Signal, worauf sie alles in allem zu reduzieren sind.“ (Lacan [1959/60] 1996: 127) Signifikanten zeichnen sich laut Lacan dadurch aus, dass sie als solche bedeutungslos seien, niemals eine eindeutige und fixierte Bedeutung haben können und vor allem dadurch, dass sie verdrängt werden können. Im Unterschied zum Signifikanten sei das Signal dadurch gekennzeichnet, dass es zwar verschoben, verkehrt und verwandelt werden könne, dass es aber nicht verdrängt werden könne. Zudem kann es im Rahmen eines gegebenen Kontexts potenziell eindeutig sein. Diese Überlegung lässt sich vielleicht anhand eines Beispiels nachvollziehen: Im Kontext Straßenverkehr gilt das Ampelsignal grün qua Konvention als Signal dafür, die Straße überqueren zu dürfen. Allerdings ist der entscheidende Punkt von Lacans Argument weniger
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diese potenzielle Eindeutigkeit auf der Ebene der Bedeutung, sondern vielmehr, dass Signale nicht nicht bemerkt werden können und in diesem Sinne bewusstseinsfähig sind, während die Signifikanten sich zumindest nicht in der gleichen Weise bemerkbar machen, weil sie der Verdrängung unterliegen können. In Bezug auf das Ampelbeispiel heißt das, dass die Farbe Grün affektiv bemerkt wird und zwar deshalb, weil sich der Wahrnehmungseindruck im oder am Körper bemerkbar macht und auswirkt. Gleichzeitig steht das Signal Grün für etwas anderes und hat insofern die Funktion, dass es den Körper in Gang bringt, weil es bedeutet, dass die Straße überquert werden darf. Mit der Bestimmung des Affekts als Signal und nicht als Signifikant betont Lacan also vor allem, dass er nicht verdrängt werden kann. Nach dieser negativen Bestimmung fasst Lacan den Affektbegriff im direkten Anschluss auch in einer positiven Bestimmung: „Umgekehrt habe ich über den Affekt gesagt, dass er nicht verdrängt sei. Dies sagt Freud genauso wie ich. Er ist aus seinen Vertäuungen gerissen, er driftet ab. Man findet ihn verschoben, verrückt, verkehrt und verwandelt (métabolisé) wieder, nur verdrängt ist er nicht. Verdrängt sind die Signifikanten, die ihn vertäuen.“ (Lacan 2010: 25, Herv. i.O.)
Lacans negativer Bestimmung, dass der Affekt nicht verdrängt werden kann, folgt die positive Beschreibung von Bewegungen, denen er unterliegen kann (er wird aus den Vertäuungen gerissen, verschoben u.s.f.). Er deutet an dieser Stelle an, dass der Affekt verschiedenen Umwandlungsprozessen unterliegt, die insgesamt jenen Mechanismen entsprechen, die Freud bereits in der Frühphase seines Schaffens als Affektverwandlung in der Konversionshysterie, Affektverschiebung in der Zwangsvorstellung und Affektvertauschung in der Angstneurose bzw. der Melancholie erkannt habe (vgl. Laplanche/Pontalis 1977: 37). Lacans Abgrenzung des Affekts von der Verdrängung, die er dem Signifikanten zuschreibt, wird deutlicher, wenn man zudem an jene Phänomene erinnert, die Freud beschrieben hatte, um das Geschehen in der Traumarbeit zu charakterisieren, auch wenn Lacan an dieser Stelle nicht alle diese Phänomene, nämlich Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit und sekundäre Bearbeitung (vgl. Laplanche/Pontalis 1977: 519) benennt. Mit diesen Operationen hatte Freud den Prozess beschrieben, kraft dessen das ursprüngliche Traummaterial in den manifesten Traum umgewandelt wird. Der manifeste Traum ist das Ergebnis dieser Operationen und insofern eine Entstellung des als solchen unzugänglichen, ursprünglichen Traums. Wenn jedoch zutrifft, was Lacan an anderen Stellen entfaltet, dass nämlich das Unbewusste strukturiert sei wie eine Sprache, dann wird zumindest erahnbar, dass auch in der Sprache ein Element
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der Verdrängung unterliegt. Dieses sprachliche Element ist der Signifikant.37 Lacans Überlegung läuft vor diesem Hintergrund darauf hinaus, dass Signale von Signifikanten dadurch zu unterscheiden sind, dass letztere der Verdrängung unterliegen und dass den Signifikanten in Bezug auf den Affekt die Funktion zukommt, ihn zu binden oder vielleicht besser, zu verankern. Mit der Rede von der Verdrängung des Signifikanten wird ein Ort angespielt, der sich in Bezug auf seine Zugänglichkeit von den Verschiebungen, Verrückungen, Verkehrungen und Verwandlungen dadurch unterscheidet, dass er unbewusst ist. Lacan wählt an dieser Stelle einige nautische Begriffe aus der Schiffahrtssprache (abdriften, vertäuen), um die Bewegungen, denen der Affekt unterliegt, zu umschreiben. Hier das französische Zitat, in dem sich zwei spannende Nuancen bemerken lassen, die sich nicht umstandslos ins Deutsche übersetzen lassen: „En revanche, ce que j’ai dit de l’affect, c’est qu’il n’est pas refoulé. Cela, Freud le dit comme moi. Il est désarrime, il s’en va à la dérive. On le retrouve déplacé, fou, inversé, métabolisé, mais il n’est pas réfoulé. Ce qui est réfoulé, ce sont les signifiants qui l’amarrent.“ (Lacan [1962-63] 2004: 23, Herv. G.W.)
Es geht in dieser Nuance also um die beiden Verben désarrimer und amarrer, die in der deutschen Version substantiviert als gerissene Vertäuungen und als Zeitwort vertäuen übersetzt werden. Wenn beispielsweise fest verstaute Schiffsladungen verschoben, umgeladen oder umgestaut werden, wird im Französischen von désarrimer gesprochen. Lacan verwendet diesen Ausdruck, um die Bewegung des Affekts im Sinne eines Signals zu charakterisieren. Das Wort désarrimer weist insofern darauf hin, dass eine ursprünglich festgezurrte (arrimer) Schiffsladung, also etwas fest Fixiertes, gelöst wird und frei beweglich wird. Übersetzt man diese Metapher auf den Affekt der Angst heißt das, dass Lacan die Angst ähnlich wie Freud als frei flottierend begreift. Spannenderweise verwendet Lacan für die Bewegung der Signifikanten, die verdrängt seien und den Affekt binden eine zwar grundsätzlich ähnliche Metaphorik, nicht jedoch das gleiche Wort, wie es die zitierte Übersetzung Gondeks nahelegt, der an den entsprechenden Stellen zwei Mal das deutsche Grundwort vertäuen (einmal als Substantiv Vertäuung einmal als Verb vertäuen) nutzt. Lacan verwendet jedoch an der ersten Stelle die Negation des Verbs arrimer und an der zweiten Stelle das Verb amarrer. Das Wort amarrer beschreibt zwar in der nautischen Bedeutung eine vergleichbare Bewegung, nämlich das Festmachen mit einem Tau,
37 Vgl. zur erziehungswissenschaftlichen bzw. bildungstheoretischen Relevanz der Lacan’schen Sprachtheorie Koller 1990a: 45-55 und Koller 2012: 49-53.
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es hat jedoch zudem die stärkere Bedeutung des Verankerns, zum Beispiel des Verankerns von Schiffen mit Tauen an einem Hafenanleger oder mit einem Anker im Meeresboden. Dieser kleine Unterschied ist bemerkenswert, weil er die Interpretation nahe legt, dass die Signifikanten, die verdrängt sind, die Funktion haben, den Affekt am Grund des Unbewussten zu verankern (amarrer). Denn das Wort, das Lacan wählt, gehört zwar dem gleichen metaphorischen Vorstellungskreis nautischer Befestigungsmittel zu, amarrer verweist aber auf einen Mechanismus, der auf die grundlegendere Bedeutung des Signifikanten anspielt. Dieser bindet und vertäut nicht nur Schiffsladungen, sondern verankert das Schiff selbst in der Tiefe des Meeresbodens, in einem dunklen Außerhalb. Wenn das Schiff als Metapher für das Subjekt begriffen wird, lässt sich weiter sagen, dass das Subjekt in den Signifikanten verankert ist wie ein Schiff am Meeresgrund. Die Verschiebungen des Affekts lassen sich dagegen eher mit einer Schiffsladung vergleichen, die aus ihren Vertäuungen gerissen wird und deshalb z.B. innerhalb des Schiffsbauchs abdriften, was das Schiff ins Ungleichgewicht bringen kann. Affekte wie Freude, Hass und Wut sind insofern als etwas zu verstehen, dass aus der Fassung bringt und gleichzeitig zur Herstellung eines neuen Gleichgewichts beitragen kann. Allerdings ist das, worin der Affekt verankert ist, also das, was das Subjekt (Schiff) vor dem Abgleiten oder Abdriften in die differenzlose Weite des Ozeans bewahrt, ein Signifikant, der verdrängt, das heißt unbewusst ist. Der Angst als Affekt einen Signalcharakter zuzuschreiben bedeutet auch insofern, dass sie zwar verschoben, verrückt, verkehrt und verwandelt auftreten kann, nicht aber der Verdrängung unterliegt. Die verdrängten Signifikanten verankern den Affekt. Das heißt, dass der Affekt mit der symbolischen Ordnung verbunden ist, allerdings in einer Art und Weise, die für das bewusste Ich unzugänglich ist. Lacan geht an dieser Stelle nicht näher auf die Frage ein, ob die verdrängten Signifikanten, die den Affekt unbewusst oder im Unbewussten verankern, ebenso gelöst werden können und ihre Vertäuungsfunktion verlieren können. Eine mögliche Interpretation wäre vielleicht, dass diese Lösung der Verankerung zum Abdriften in die Psychose führt. Insgesamt weist Lacan auf die Komplexität der Entfaltung des Verhältnisses des Affekts zum Signifikanten hin, die „ein ganzes Jahr Theorie der Affekte erfordern“ (Lacan 2010: 25) würde.38
38 Diese Frage ist meines Erachtens im Übrigen nach wie vor eine offene und wäre insofern interessant für die weitere psychoanalytische Theoriebildung. Zumindest Lacan hat sich meines Wissens nicht weiter in der von ihm für nötig erachteten Ausführlichkeit mit dem Verhältnis des Affekts zum Signifikanten beschäftigt.
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In Lacans Bestimmung des Affekts, der verschoben, verrückt, verkehrt werde, klingt an, dass er ihn zwar als etwas versteht, das sich am Körper bekundet, ohne deshalb jedoch unabhängig von Sprache und vom Sprechen zu sein. In diesem Zusammenhang verweist Lacan neben den erläuterten Hinweisen auf den Signalcharakter des Affekts und den impliziten Andeutungen zur Funktion des Signifikanten auch auf Aristoteles’ zweites Buch der Rhetorik, in dem die Affekte oder Leidenschaften ebenso mit der Sprache zusammengedacht werden. In diesem Buch sei das Beste zu finden, was Aristoteles über die Affekte oder Leidenschaften gesagt habe und es sei kein Zufall, dass die Leidenschaften im Netz oder Netzwerk der Rhetorik eingefangen seien (vgl. a.a.O.: 25). 5.8.1 Die Angst als Affekt, der nicht täuscht Nach dieser Erläuterung der Angst als Affekt, dem Signalcharakter zukomme, stellt sich die Anschlussfrage: Wenn die Angst ein Affekt ist und wenn diesem Affekt Signalcharakter zukommt, worauf weist sie dann hin? Was signalisiert sie? Lacan gibt auf diese Fragen eine sowohl kurze als auch vertrackte Antwort: Die Angst sei „das, was nicht täuscht, das Außer-Zweifel.“ (A.a.O.: 101, Herv. i.O.) „[…] l’angoisse, c’est le ce qui ne trompe pas, le hors de doute.“ (Lacan 2004: 92, Herv. i.O.) Für Lacan ist nun diese Definition, dass die Angst das sei, was nicht täusche und das Außerhalb des Zweifels (le hors de doute) markiere, die „wahre Substanz der Angst“ (Lacan 2010: 101). Wie ist das zu verstehen? Die Vertracktheit dieser Antwort lässt sich ein wenig enträtseln, indem zunächst erläutert wird, was diese These nicht besagt. Die Bestimmung der Angst als Affekt impliziert für Lacan, dass sie verschoben, verrückt, verkehrt und verwandelt auftritt bzw. wiedergefunden wird. Diese Beschreibung, insbesondere die Verwandelbarkeit der Angst verweist ganz allgemein darauf, dass die Angst in einer Gestalt auftreten kann, die ihr ‚wahres‘ Gesicht verbirgt. In diesem Sinne und auf dieser Ebene kann die Angst also durchaus täuschen. Dieser Täuschungscharakter lässt sich beispielsweise anhand der Verwandlung der Angst in eine Phobie bemerken, in der ein spezifisches, benennbares Angstobjekt gefunden wird. Hinter solchen Phänomenen verbirgt sich laut Lacan eine andere Angst. Dass die Angst das ist, was nicht täuscht, besagt also nicht, dass sie nicht jenen Mechanismen unterliegt, die nach Lacans und Freuds Auffassung ganz allgemein für den Affekt gelten.39
39 Das wäre ja auch ein Selbstwiderspruch zwischen der Bestimmung der Angst als Affekt und der These, dass sie nicht täuscht.
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Es geht daher um einen Punkt, der sich auf einer anderen Ebene befindet. Diese andere Ebene lässt sich m.E. in zwei Schritten näher bestimmen, indem zum einen an Lacans psychoanalytische Überlegungen zum Spiegelstadium erinnert wird und zum anderen, indem auf Lacans Modifikation der philosophischen, genauer, der cartesianischen Figur des Verhältnisses von methodischem Zweifel und erkennender Seinsgewissheit des Subjekts eingegangen wird, also auf Lacans Kritik am berühmten cogito ergo sum. Zunächst also zur Bedeutung der These, dass die Angst nicht täuscht, wie sie sich ausgehend von der Lacan’schen Psychoanalyse entfalten lässt: Lacan hatte in seinem Text über das Spiegelstadium ausgeführt (wie in Kapitel 5.3 genauer rekonstruiert wurde), dass sich die psychische Instanz des ‚Ich‘ als Ort einer doppelten Verkennung oder imaginären Täuschung begreifen lässt. Aus dieser Perspektive ist Selbsterkenntnis ein Prozess konstitutiver Selbstverkennung (me connaissance bedeutet konstitutiv méconnaissance). Diese Struktur betrifft auch die Erkenntnis des anderen, insofern sie die Matrix der Erkenntnismöglichkeiten des Ich darstellt. Das Ich ist vor diesem Hintergrund der Ort einer unaufhebbaren und gleichzeitig notwendigen, imaginären Täuschung. Das nicht Täuschende der Angst bezieht sich für Lacan jedoch nicht auf die Instanz des Ich, sondern auf das Subjekt des Unbewussten.40 Das Signal der Angst gilt diesem Subjekt als einem Ort, an dem trotz aller Täuschungen, denen das Ich unterliegt, zumindest eine Gewissheit möglich ist. Diese Gewissheit ist für Lacan die Gewissheit der Angst, die immun gegen den Zweifel ist, weil sie die Ursache des Zweifels ist, der bereits eine Abwehr der Angst darstellt. „Und diese Angst gibt die Gewißheit eines unmittelbar bevorstehenden Schnittes, den ein Signifikant im Realen ziehen wird und gegen dessen Bedeutung sich der Zweifel zur Wehr setzt.“ (Gondek 1992: 112)
Das Reale, das sich weder sagen noch vorstellen lässt und sich insofern dem Symbolischen und dem Imaginären entzieht, lässt sich in diesem Zusammenhang positiv noch am ehesten mit dem physischen Körper in seiner ungeordneten Gegebenheit bestimmen. Das Reale ist dieses bloße, ‚dass es etwas gibt‘. Dadurch aber, dass auch dieser Satz ein Satz ist, der aus Lacans Perspektive notwendig der symbolischen Ordnung angehört und dadurch, dass er z.B. die Vorstellung ermöglicht, dass es auch nichts geben könnte, ist mit ihm eine unvermeidbare
40 Aus diesem Grund lässt sich die Struktur der Angst auch nicht hinreichend mit den Mitteln des Spiegelstadiums formulieren, weil es darin insbesondere um die Ausarbeitung des Imaginären geht (vgl. Kapitel 5.3-5.3.2).
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Verfehlung des Realen verbunden. Die Gewissheit der Angst besteht darin, dass ein Schnitt unmittelbar bevorsteht, der etwas von der rohen Unmittelbarkeit des Realen abtrennt und zwar allein durch die Tatsache, dass gesprochen wird. Denn damit ist die Möglichkeit von Bedeutung im Spiel, eine Differenz zum Realen. Ein Potenzial dieses Schnitts wäre die Möglichkeit der Anerkennung der symbolischen Kastration, dass jedem Sprechen etwas fehlt, das dem Realen Gewalt antut, insofern das (symbolische) Wort der Mord an der Unmittelbarkeit der (realen) Sache ist. Gegen diese und andere Bedeutungen setzt sich jedoch sogleich der Zweifel zur Wehr und es kann z.B. daran gezweifelt werden, ob denn das Sprechen überhaupt sinnvoll ist, wenn es die Dinge doch nicht repräsentieren kann, sondern ihnen sogar Gewalt antut und so fort. Der Zweifel ist jedoch für Lacan bereits eine Reaktion auf die Angst, in der ein Schnitt des Signifikanten unmittelbar bevorsteht. Die ängstigende Gewissheit des Realen kann nicht positiv formuliert werden, eben weil sie real ist. Ebenso wenig lässt sie sich reflexiv einholen. Das ängstigende Reale treibt zu imaginären und symbolischen Produktionen, nicht obwohl es uneinholbar ist, sondern gerade weil es uneinholbar ist. Diese Produktionen werden in Gang gebracht, weil die Angst nicht zum Aufenthalt einlädt. Lacan hat bereits in einem seiner ersten Seminare formuliert, dass das Reale das Objekt der Angst ist. Es fehlt dem Subjekt jede mögliche Vermittlung und deshalb ist das Reale „das wesentliche Objekt, das kein Objekt mehr ist, sondern Etwas, gegenüber dem alle Worte und Kategorien versagen, das Angstobjekt par excellence.“ (Zitiert nach Evans 2002: 252, vgl. Lacan [1954/55] 1991: 196)
Lacans Überlegung, wie sie oben von Gondek reformuliert wird, lässt sich vielleicht anhand der Struktur des Zwangsneurotikers verständlicher machen. Worum geht es aus psychoanalytischer Perspektive, wenn jemand beispielsweise an einem Waschzwang leidet, also dem Zwang unterliegt, sich stets und ständig die Hände waschen zu müssen? Es lässt sich sagen, er zweifelt daran, dass es unmöglich ist, absolut saubere, keimfreie Hände zu haben. Das heißt, er hält die Vorstellung für eine Täuschung, dass absolute Keimfreiheit unmöglich ist und weiß allerlei Gründe und Modelle aus den neuesten Untersuchungen der Hygieneforschung dafür vorzubringen. Es entsteht ein symbolisches und imaginäres Gebäude, das die Notwendigkeit und Rationalität des ständigen Waschens evident begründet und deshalb dazu zwingt. Das heißt, es wird qua Zweifel an der Unmöglichkeit absoluter Reinheit eine Gewissheit hergestellt, die laut Lacan eine Abwehr gegen die Gewissheit der Angst darstellt, die dem Zweifel zugrunde liegt. Es ist an dieser Stelle zu bedenken, dass auch die ‚alternative’, absolute
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‚Gegen-Gewissheit‘ der Unmöglichkeit von Reinheit strukturell zwanghaft ist. Sie kann in Phänomene der Verwahrlosung münden wie sie in bestimmten Varianten des Messie-Syndroms auftreten. Wenn der Psychoanalytiker also das Spiel mitspielt und sich auf die Suche nach der ‚wissenschaftlichen Wahrheit‘ macht, wird er kaum weit kommen. Es geht darum zu bemerken, dass der Zweifel dem Zwangsneurotiker zur Abwehr einer anderen, mit Angst besetzten Gewissheit dient, nämlich der Gewissheit, dass Hände stets ein wenig schmutzig sein können und es trotzdem sinnvoll ist, sich gelegentlich zu waschen. Anders formuliert: Es geht hier um die Angst, die dadurch entsteht, dass es keine absolute Gewissheit gibt. Der Zweifel dient insofern mindestens zweierlei: Er dient erstens dazu, die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit abzuwehren und zweitens der Vermeidung der Anerkennung der Angst, die mit der eigenen Vergänglichkeit verbunden ist und z.B. Trauerarbeit ermöglicht. Unter anderem aus diesem Grund ist der Zweifel das bevorzugte Mittel des Zwangsneurotikers, „um dem Signifikanten seine offene Wirksamkeit zu nehmen“ (Gondek 1992: 112) Das lässt sich vielleicht auch so formulieren, dass der Zwangsneurotiker versucht, die symbolische Kastration zu verleugnen, indem er qua Zwang eine symbolische Handlung vollzieht (Waschen), die es ihm erlaubt, das unbewusste Phantasma absoluter Reinheit aufrecht zu erhalten, dass ihm imaginär ewiges Leben verspricht. Umgekehrt ist jedoch die Gewissheit, dass absolute Keimfreiheit unmöglich ist, wie bereits erwähnt, ebenso zwanghaft strukturiert. Das wäre die Konfrontation mit der schlichten Kehrseite dieses Phantasmas. Es geht insofern um eine Auseinandersetzung mit Vorstellungen von Endlichkeit und Unvergänglichkeit. Bleibt man bei der hier beschriebenen Struktur, dann fällt auf, dass der Zwangsneurotiker in beiden Versionen oder auf beiden Kehrseiten zu etwas verdammt ist. Im ersten Fall ist er dazu verdammt, seine eigene Endlichkeit (oder wie es bei Heidegger heißt: das Vorlaufen zum Tode) anzuerkennen, im zweiten Fall ist er dazu verdammt, ewig zu leben. Aus dieser Konstellation der Verdammung im Sinne der Abhängigkeit vom Willen und der Willkür des großen Anderen, entspringt eine dritte mögliche Vorstellung, das ‚Schicksal‘ in die eigene Hand zu nehmen und z.B. Suizid zu begehen, der nicht grundlos Freitod genannt wird. Dieses Phantasma der Freiheit konfrontiert den Zwangsneurotiker mit dem Bild der eigenen Macht, das ihn jedoch sogleich daran zweifeln lässt, ob denn diese Entscheidung tatsächlich seine ganz und gar eigene wäre, eine wahrhaft freie Entscheidung, oder ob nicht auch sie der Sozialisation, den gesellschaftlichen Bedingungen oder was auch immer geschuldet wäre. Es lässt sich hier im Übrigen bemerken, dass die zwangsneurotische Struktur des Zweifels manchmal lebensrettend sein kann. Hier schützt der Zweifel vor der Angst, die ihm zugrunde liegt und die von dem eigenen
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Nicht-mehr-Sein-Können unausweichlich ausgeht und insofern nicht täuscht. Hier ginge es um die Anerkennung einer Unentscheidbarkeit und gleichzeitig um die Entscheidung für ein Leben. Vielleicht wird an diesem Beispiel deutlicher, inwiefern die Angst aus psychoanalytischer Perspektive die Ursache des Zweifels darstellt, vor deren Gewissheit der Zwangsneurotiker zurückschreckt, dem es nicht gelingt, sie anzuerkennen oder in anderer Weise auszuhalten als durch eine zwangsneurotische Symptombildung. Dieser Zweifel, und das ist im Übrigen ein weiteres Strukturmerkmal der Zwangsneurose, bedarf der Wiederholung, um das jeweilige Phantasma aufrecht zu erhalten. In einem zweiten Schritt wird nun Lacans Vorschlag der Modifikation der philosophischen, genauer, der cartesianischen Verankerung des Seins im zweifelnden Denken fokussiert. Lacan kritisiert den cartesianischen, methodischen Zweifel sowohl auf der Ebene seiner Voraussetzung wie auf der Ebene seiner Argumentationslogik. Descartes geht bekanntlich davon aus, dass uns unsere Sinne, unsere Wahrnehmung und auch ein Betrügergott stets täuschen können. Diese Instanzen sind insofern nicht geeignet, um gewisse, wahre Aussagen auf ihrer Grundlage zu formulieren. Alles das, woran sich zweifeln lässt, muss für Descartes deshalb methodisch zurückgewiesen werden und als falsch gelten. Weil Descartes nun aber zunächst nichts findet, woran sich nicht zweifeln lässt, nichts, was nicht täuschen kann, bleibt ihm lediglich die Einsicht in die Tatsache des Zweifelns, das heißt des zweifelnden Denkens, die nun ihrerseits zum einzig unzweifelhaften fundamentum inconcussum wird und zudem die Gewissheit des eigenes Seins zur Folge habe: Cogito ergo sum. Je pense, donc je suis. Ich denke, also bin ich.41 Problematisch ist für Lacan erstens die cartesianische Voraussetzung, dass alles und jedes täuschen kann und zu bezweifeln ist, weil sie aus psychoanalytischer Perspektive einen künstlichen und tendenziell zwanghaften Charakter aufweist. Zweitens weist Lacan darauf hin, dass der Satz ‚Ich denke, also bin ich‘ ein logisches Paradox enthält, dem man nur entgeht, wenn man zwei Ebenen des Sprechens unterscheidet, die er mit dem Subjekt des Aussagens (sujet de l’énonciation) und dem Subjekt der Aussage (sujet de l’énoncé) bezeichnet (vgl. Lacan [1964] 1996: 144-148). Die Problematik der cartesianischen Aussage bestehe darin, dass sie diesen Unterschied übersehe und das Subjekt des Aussagens mit dem Subjekt der Aussage identifiziere. Was heißt das? In dem Beispielsatz ‚Wenn ich daran denke, wie oft ich als Kind krank war‘ wird klar, dass das
41 Gondek weist darauf hin, dass Descartes mehr als eine Formulierung dieses Satzes vorgelegt hat, eine Rekonstruktion der epistemologischen Problematik dieses Satzes kann hier jedoch nicht geleistet werden (vgl. Gondek 1992: 113ff.).
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erste ‚Ich‘, also das aussagende Subjekt, das als denkend ausgesagt wird, nicht mit dem zweiten ‚Ich‘ identisch ist, über das die Aussage des als Kind oft krank gewesen-Seins gemacht wird (ausgesagtes Subjekt). Streng genommen müsste man hier sogar noch ein drittes, empirisches ‚Ich‘ unterscheiden, das den Sprechakt vollzieht. Das logische Problem der Formulierung ‚Ich denke, also bin ich‘ bestehe in der Verletzung einer formalen Bedingung der Logik, weil die in der Aussage ausgesprochene Schlussfolgerung sich auf den Aussagenden beziehe, der das Urteil aussage. Lacans ist der Auffassung, dass das ‚Ich denke‘ für Descartes selbst kein Gedanke sein könne. Wäre es ein solcher, so würde der Satz des Cogito bereits vollzogen sein, ohne überhaupt zu der logischen Schlussfolgerung ‚also bin ich‘ gelangt zu sein. Das eigene Denken bzw. das zweifelnde Denken könne deshalb nicht die Gewissheit des eigenen Seins garantieren und insofern auch nicht als fundamentum inconcussum gelten. Auch vor diesem philosophischen Hintergrund formuliert Lacan nun in Bezug auf die Frage nach der Gewissheit seinen Gegenvorschlag der Angst als das, was nicht täuscht, allerdings weniger in philosophischen Termini, sondern in Begriffen seiner strukturalen Psychoanalyse. Er geht zunächst von einer strukturalen Notwendigkeit aus: „Das Verhältnis des Subjekts zum Signifikanten macht die Strukturierung des Begehrens im Phantasma notwendig, und das Funktionieren des Phantasmas impliziert eine zeitlich bestimmbare Synkope der Funktion des a, das sich zwangsläufig in einer solchen Phase des phantasmatischen Funktionierens ausstreicht und verschwindet.“ (Lacan 2010: 272273, Herv. i.O.)
Lacans Ausgangspunkt ist an dieser Stelle die Frage nach dem Verschwinden des Objekts a in seiner realen Dimension, das mit Angst zu tun hat, insofern diese den unmittelbar bevorstehenden Schnitt des Signifikanten signalisiert. Lacan begreift das Subjekt, wie bereits erwähnt, als vom Signifikanten gezeichnetes oder gebarrtes. Dadurch wird das Subjekt allererst zum Subjekt, das heißt zum darunter liegenden subiectum, zum unbewussten Subjekt. Wegen dieser Eigenart ist das Begehren unbewusst strukturiert und diese Struktur gewinnt ihre Form durch das, was Lacan das Phantasma nennt. Das Phantasma fungiert wie erläutert als imaginäre Realisierung eines unbewussten Wunsches, die zugleich vor der bedrohlichen Realisierung des Wunsches im Realen schützt. So wie Synkopen aus sprachwissenschaftlicher Perspektive den Ausfall unbetonter Vokale im Inneren eines Wortes bezeichnen (z.B. mittelhochdeutsch obest, neuhochdeutsch obst oder poetisch goldnem statt goldenem), um den Rhythmus oder das Versmaß eines Gedichtes aufrecht zu erhalten, so fällt auch
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in der phantasmatischen Szene ein Objekt (ein Signifikant) ab oder aus der Szene heraus und seine Wirkung wird dadurch in der Zeit verschoben, dass es verdrängt wird. Am Beispiel des Goldnen und Goldenen kann man sehen, dass die Bedeutung des ersten dadurch gesichert wird, dass der verdrängte Signifikant „e“ auf der Ebene des Signifikats im Nachhinein wieder eingesetzt werden kann, falls die Frage auftaucht, was ‚Goldnen‘ bedeutet. Dieses fehlende Objekt zeigt das Objekt a an, von dem bereits die Rede war. Es fungiert als eine Art verschwundener Überschuss, der einen Mehrwert an Bedeutung schafft und keinen Gebrauchswert besitzt, sondern nur für die Lust, hier für die Lust am ausgewognen Versmaß besteht. „Diese aphanisis des a, das Verschwinden des Objekts […] ist das, wovon wir den Widerschein in der Funktion der Ursache haben. Jedes Mal, wenn wir uns diesem letzten Funktionieren der Ursache gegenüber befinden, unreduzierbar selbst für die Kritik, müssen wir dessen Grundlage und Wurzel in diesem verborgenen Objekt als einem synkopierten suchen.“ (A.a.O.: 273, Herv. i.O.)
An dieser Stelle deutet Lacan die Funktion des Objekts a als Objektursache oder Objektgrund des Begehrens an, das ein schwindendes oder immer schon verlorenes Objekt bezeichnet, das nur anhand seiner Wirkungen rekonstruiert werden kann.42 Als Objekt besticht es dadurch, dass es fehlt und dieses Fehlen hat eine Funktion. Sie besteht darin, der Grund oder die Ursache für das Begehren zu sein. Lacan nutzt dieses fehlende Objekt im weiteren Verlauf seiner Argumentation um eine Kritik an jenen Gottesbeweisen anzudeuten, die beispielsweise bei Descartes in einem Zusammenhang mit der Figur des Betrügergottes (genius malignus) stehen. Dessen Existenz hatte Descartes zwar gemäß seines methodischen Zweifels in den frühen Meditationen zunächst abgelehnt, bzw. nur argumentationshalber eingeräumt, später jedoch mit dem Gegenargument korrigiert, dass eine Ursache (Gott) nicht weniger vollkommen als ihre Wirkung (das Sein) sein könne. Da die eigene Vorstellung von Gott jedoch vollkommener sei als die eigene Vollkommenheit und Realität, könne daraus geschlossen werden, dass Gott existiere. Nach Lacans Auffassung gründet dieser Beweis jedoch auf der Voraussetzung der objektiven Vollkommenheit einer Idee (Gott), woraus nicht auf seine Existenz in der Realität geschlossen werden kann. Zur Erinnerung: Das
42 Im Übrigen lässt sich hier eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Lacans Objekt a, das eine zeitliche Verschiebung (Synkope) anzeigt und Waldenfels zeitlicher Verschiebung durch das diastatische Auseinandertreten des Fremden in Pathos und Response bemerken.
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Objekt a ist laut Lacan keines, das im strengen Sinne des Wortes existiert oder für das Subjekt existiert hat, es ist immer schon verloren, eine Leerstelle, die das Begehren in Gang bringt und hält. Man könnte bis hierhin den Eindruck gewinnen, dass das Nicht-täuschende der Angst darin besteht, dass sie dem Subjekt signalisiert, dass es dem Objekt a zu nahe zu kommen droht, sodass nichts mehr zu wünschen übrig bleibt. Es wird eine etwas längere Passage en bloc zitiert, die diesen Eindruck differenziert: „[…] wenn sie [die Gewissheit dieser Idee, G.W.] aller Kritik zum Trotz aufrechterhalten wird, und wenn wir stets über irgendeinen Umweg dazu veranlasst werden, darauf zurückzukommen, so ist sie der Schatten einer anderen Gewissheit, und diese Gewissheit, ich habe sie bereits hier genannt, bei ihrem Namen, ist die Gewissheit der Angst. Die Angst, ich habe es Ihnen gesagt, dass man sie als das definieren muss, was nicht täuscht, genau insofern jedes Objekt ihr entgeht. Die Gewissheit der Angst ist begründet, nicht zweideutig. Die an den Rückgriff auf die erste Ursache gebundene Gewissheit ist nur der Schatten dieser grundlegenden Gewissheit. Ihr Charakter als Schatten verleiht ihr ihre essentiell heikle Seite. Diese Seite wird nur durch die affirmative Artikulation wahrhaft überwunden, die das charakterisiert, was ich das essentialistische Argument genannt habe, aber diese überzeugt nicht, denn diese Gewissheit, sucht man sie in ihrer wahren Grundlage, erweist sich als das, was sie ist, eine Verschiebung, eine zweite Gewissheit im Verhältnis zur Gewissheit der Angst. Was impliziert das? Sicherlich eine radikalere Infragestellung der Funktion der Erkenntnis, als sie je in unserer abendländischen Philosophie artikuliert wurde. Diese Kritik kann erst dann auf radikalste Weise geleistet werden, wenn wir uns klar machen, dass es Erkenntnis bereits im Phantasma gibt. Von welcher Art ist diese Erkenntnis, die es bereits im Phantasma gibt? Nichts anderes als dies hier – der Mensch, welcher spricht, das Subjekt, sowie es spricht, ist bereits durch dieses Sprechen in seinem Körper impliziert. Die Wurzel der Erkenntnis ist diese Einbindung (engagement) in den Körper.“ (A.a.O.: 273-274, Herv. i.O.)
Aus Lacans psychoanalytischer Perspektive ist die an eine erste Ursache (also z.B. das eigene, zweifelnde Denken oder Gott) gebundene Gewissheit nur der Schatten der grundlegenden Gewissheit der Angst, die sich dadurch auszeichnet und in dem Sinne nicht täuscht, dass ihr jedes Objekt entgeht. In diesem Zitat klingt sowohl die philosophische Dimension als auch die philosophische Provokation von Lacans These an, dass die Angst nicht täuscht. Ein entscheidender Punkt in Bezug auf Lacans Konzeption des Verhältnisses von Angst und Gewissheit besteht darin, dass das üblicherweise für eine Täuschung oder Einbildung gehaltene, unbewusste Phantasma als Ort der Erkenntnis für das Subjekt markiert wird (vgl. dazu auch Gondek 1990: 121). Anders formuliert
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lässt sich mit Lacan vielleicht sogar die Hypothese wagen: Das Unbewusste ist ein Ort nicht täuschenden Wissens. Wissen nicht im Sinne einer imaginären Erkenntnis des Ich, die fixiert und gestalthaft strukturiert ist (connaissance), sondern eines symbolischen Wissens (savoir) des Subjekts, eines unbekannten Wissens, das dennoch wirkt und sich z.B. am Körper symbolisch bekundet, zum Beispiel als Symptom. Warum? „Weil das Symptom an sich selbst durch und durch Bedeutung ist, das heißt Wahrheit, in Form gebrachte Wahrheit.“ (Lacan [1954-55] 1991: 406) Dasjenige, was die Angst signalisiert und worin sie nicht täuscht, lässt sich mit anderen Worten auch so formulieren: Sie signalisiert, dass das Subjekt dem Objekt a, dem Objektgrund des Begehrens zu nahe gekommen ist und eröffnet ihm damit einerseits einen Weg zur Artikulation der Wahrheit seines eigenen Begehrens und verschließt ihn andererseits sofort wieder, weil sie auf die existenzielle Gefahr und die Bedrohung aufmerksam macht, die es wegen der Dialektik des Begehrens bedeuten würde, das Objekt des Begehrens zu ‚haben‘.43 So hält die Angst das Begehren in Gang, indem sie dafür sorgt, dass das Objekt a nicht erreicht wird und sich das Begehren auf immer neue Objekte verschieben kann. Ohne Angst gäbe es auch keinen Grund und keine Ursache mehr zu begehren und diese Konstellation ist für Lacan gleichbedeutend mit dem Zustand des Todes. In Abwandlung eines berühmten Zitats, das Ernst Bloch zugeschrieben wird,44 könnte man vor diesem Hintergrund – wie bereits in Kapitel 3.3. angeführt – formulieren: Wer keine Angst hat, kommt darin um. Vielleicht ist aus diesem Grund Lacans einziger, positiv formulierter, ethischer Imperativ: Lasse nicht ab von deinem Begehren: „Ich behaupte, daß es nur eines gibt, dessen man schuldig sein kann, zumindest in analytischer Perspektive, und das ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren.“ (Lacan [1959/60] 1996: 380) „Je propose que la seule chose dont on puisse être coupable, au moins dans la perspective analytique, c’est d’avoir cédé sur son désir.“ (Lacan [1959-60] 1986: 368)
Diese These stellt eine der zentralen Aussagen des Ethikseminars dar und ist damit zu umfangreich, als dass sie hier differenziert ausgeführt werden könnte.
43 Dieses Bemerken ist auch verbunden mit dem Einsetzten einer Trauerarbeit, die sich auf den Verlust von allerlei Illusionen bezieht. 44 Dieser Ausspruch wird zwar Ernst Bloch zugeschrieben und auch ein Lied von Wolf Biermann trägt diesen Titel. Der Verfasser konnte jedoch keine schriftliche Quelle von Bloch finden, in der er diesen Satz formuliert.
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Lacans Grundgedanke besteht vereinfacht formuliert darin, dass sich das ethische Problem in der Psychoanalyse sowohl auf Seiten des Analysanten als auch auf Seiten des Analytikers stellt. Beim Analysanten handelt es sich um das Problem der Schuld, das mit der pathogenen Gesellschaftsmoral verknüpft ist. Auf Seiten des Analytikers stellt sich die Frage, wie er mit der pathogenen Gesellschaftsmoral und dem Schuldgefühl des Analysanten umgehen soll. Lacans Antwort besteht darin, dass es nicht darum gehen kann, dem Analysanten zu versichern, dass er unschuldig sei, sein Schuldgefühl als neurotische Illusion abzutun oder zu versuchen es „abzuschwächen, stumpf zu machen, […].“ (Lacan [1959/60] 1996: 9). Das Schuldgefühl ist aus seiner Perspektive ein Hinweis darauf, dass der Analysant von seinem Begehren abgelassen hat und es geht darum aufzudecken, wo, das heißt an welchem Punkt das geschehen ist (a.a.O.: 381). Vor diesem Hintergrund formuliert Lacan zunächst eine analytische Ethik als eine Verbindung von Handlung und Begehren. Es geht ihm um die Frage, deren Beantwortung ein ethisches Urteil ermögliche: „Habt Ihr konform mit Eurem Begehren gehandelt, das Euch innewohnt? Es ist nicht leicht, diese Frage aufrecht zu erhalten“ (a.a.O.: 374)45 Es geht für Lacan in der analytischen Kur also darum, die Wahrheit über das eigene Begehren auszusprechen und nicht um die Stärkung des Ich, die Anpassung an die Wirklichkeit, das Glück oder die Heilung. Denn die Analyse sei kein therapeutisches Verfahren, sondern eine Suche nach der Wahrheit des eigenen Begehrens und diese sei keineswegs immer heilsam. Nicht von seinem Begehren abzulassen heißt insofern, nicht aufzuhören nach jener unbewussten Wahrheit zu suchen, die durch die Übertragung angetrieben und von Widerständen immer wieder blockiert wird. Es geht insofern um die Zumutung, jenes unbewusste Begehren zur Sprache zu bringen, das sich vor allem dadurch auszeichnet, nicht zur Sprache (zu Bewusstsein, zur Vorstellung) gebracht werden zu wollen, weil seine Inhalte den gesellschaftlichen Auffassungen zur Moralität widersprechen. Diese Inhalte des unbewussten Begehrens zur Sprache zu bringen ist jedoch nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die Inhalte ansonsten im Realen realisiert werden. Auch wenn der Analysant oft „aus gutem Grund“ (a.a.O.: 381) von seinem Begehren abgelassen hat, betont Lacan, dass ein Handeln um des Guten willen immer die Frage aufwerfe, „um wessen Gut es dabei geht.“ (Ebd.) Pädagogisch geläufige Sprechweisen wie ‚ich will doch nur
45 Evans schreibt: „Im Jahr 1970 verschiebt Lacan den Schwerpunkt der psychoanalytischen Ethik von der Frage des Handelns […] hin zur Frage des Sprechens. […]. Dies ist aber eher eine Verschiebung in der Betonung als ein Gegensatz, denn für Lacan ist das wahre Sprechen selbst eine Handlung.“ (Evans 2002: 96).
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dein Bestes‘ sind vor diesem Hintergrund Versuche, dem anderen seinen Willen und sein Begehren aufzuzwingen. Sie sind daher zurückzuweisen, indem z.B. formuliert wird: ‚Mein Bestes gebe ich dir aber nicht.‘ Nicht abzulassen von seinem Begehren heißt vielleicht, die Logik von Bedürfnis und Anspruch hinter sich zu lassen und die Unerfüllbarkeit oder Unabschließbarkeit des Begehrens als ein Charakteristikum des Lebens anzuerkennen. Es geht Lacan also nicht um eine moralische oder normative Schuld, die man trägt, wenn man von seinem Begehren ablässt, sondern um einen ethischen Aspekt, der auf der imaginären Ebene letztlich in der Phantasie besteht, ‚Ich‘ könnte den anderen auch nichts schuldig bleiben. Das kann kein Mensch, sondern nur ein Gott und von dieser Position sagt Lacan überdies, dass sie nicht existiere. Lacans ethischer Imperativ begreift die Suche nach der Wahrheit des eigenen Begehrens als unabschließbar. Sobald die Suche vor dem Ziel steht, wird das Angstsignal gegeben. Trotzdem gilt es, nicht von seinem Begehren abzulassen, das heißt weiter danach zu suchen, was im Unbewussten gewollt, gewünscht, begehrt wird und nicht gewollt, gewünscht, begehrt werden durfte oder konnte.
5.9 B ILDUNGSTHEORETISCHE W ENDUNGEN Nachdem einige der Grundzüge der Lacan’schen Angsttheorie unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Angst und Begehren rekonstruiert wurden, geht es nun im nächsten Schritt um die Frage, worin der Beitrag dieser Rekonstruktionen für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse bestehen könnte. Um diese Frage anzugehen sei zunächst an Kokemohrs Vorschlag erinnert, Bildungsprozesse als Prozesse der Veränderung Grund legender Figuren des Welt-Selbstentwurfs aufzufassen. Ausgehend von diesem Vorschlag sind insbesondere drei Fragen zu beantworten, an denen sich die folgende, bildungstheoretische Wendung der Lacan’schen Überlegungen orientiert. Erstens: Wie lassen sich die Welt-Selbstentwürfe als der Gegenstand jener Veränderung, die als Bildung angesprochen werden kann, theoretisch genauer bestimmen? Zweitens: Wie lässt sich die Herausforderung einer solchen Veränderung theoretisch fassen, also dasjenige, was bei Kokemohr die neue Problemlage bzw. die Erfahrung des Fremden genannt wird? Und Drittens: Wie ist die Entstehung des Neuen, also die Entstehung veränderter Welt-Selbstentwürfe zu denken?46
46 Vgl. zu diesen bildungstheoretisch zentralen Fragen Koller 2012: 16-17.
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Lacans Überlegungen zu Angst und Begehren enthalten Ansätze für Antworten auf alle drei Fragen, vor allem jedoch auf die Frage nach der Herausforderung von Bildungsprozessen, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht. Um Lacans Beitrag zur Bildungstheorie zu erläutern, sei zunächst an eine weitere, bildungstheoretisch bedeutsame Frage erinnert, die sich mit Lacan sowohl stellen als auch ansatzweise beantworten lässt. Sie stellt eine Konkretisierung oder Präzisierung der ersten Frage dar, insofern sie einen spezifischen Aspekt zu fokussieren ermöglicht, der deshalb kurz in Erinnerung gerufen und erneut aufgeworfen sei: Im Verlauf dieser Arbeit (vgl. Kapitel 3) wurde mit Kokemohr darauf hingewiesen, dass Bildung gemeinhin als Prozess der Bezugnahme des ‚Subjekts‘ auf ‚Welt‘ gedacht werde. Diese, aus Kokemohrs Perspektive nicht unproblematische Denkfigur, stelle die Bildungstheorie vor die Aufgabe, zur kritischen Klärung der „cartesianisch-neuzeitlichen Voraussetzung beizutragen, die sich als Präsupposition des selbstreferentiellen Subjekts niederschlägt.“ (Kokemohr 2007: 21) Mit anderen Worten: Eine Bildungsprozesstheorie müsste zwar eine „Theorie der Struktur jener Welt- und Selbstverhältnisse enthalten, die den Gegenstand transformatorischer Bildungsprozesse darstellen.“ (Koller 2012: 17, Herv. i.O.)
Und dies zum Beispiel, indem philosophische, soziologische und in der vorliegenden Arbeit eben psychoanalytische Theorien darauf hin geprüft werden, „was sie zur begrifflich-theoretischen Erfassung der Struktur des Verhältnisses beitragen können, in dem Individuen zur Welt, zu anderen und zu sich selbst stehen.“ (Ebd.) Mit einer solchen Theorie der Struktur von Welt-Selbstentwürfen hängt jedoch die Frage zusammen, ‚wessen‘ Welt-Selbstentwürfe denn bildungstheoretisch zu erfassen wären. Das heißt, es stellt sich die Frage, wie die ‚Instanz‘ bzw. das ‚Moment‘ zu denken ist, deren Welt-Selbstentwürfe sich transformieren oder transformiert werden. Anders formuliert: Wie sind die von Koller genannten ‚Individuen‘ zu verstehen, die in einem Verhältnis zu sich, anderen und der Welt stehen? Wie lässt sich das ‚Subjekt‘ von Bildung anders als in der cartesianischen Fassung des selbstreferentiellen Bewusstseins-Subjekts denken? Kann das ‚Subjekt‘ von Bildungsprozessen dann überhaupt noch als ‚Instanz‘ bezeichnet werden und wenn ja, in welchem Sinne? Konkreter gefragt: Geht es in Bildungsprozessen um die Veränderung der Welt-Selbstentwürfe des Individuums, des Subjekts oder des Ich? Damit hängt die Frage zusammen, ob diese Begriffe, also Individuum, Subjekt und Ich, wie beispielsweise Kokemohr in Bezug auf den Subjektbegriff vorschlägt, gar nicht als ‚Instanzen‘, sondern als ‚Momente eines
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Prozesses‘ zu denken sind? Und was heißt es, wenn diese Begriffe eher Relationen als Substanzen bezeichnen? Man könnte auf den Gedanken kommen, dass es unerheblich oder zumindest nicht entscheidend ist, welchen dieser Begriffe man als den Bezugspunkt von Bildung einsetzt, weil es zumindest im Rahmen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung um die semiotische Verfasstheit von WeltSelbstentwürfen geht und in dieser Hinsicht könnten alle drei Begriffe mehr oder weniger ähnlich, zumindest vergleichbar funktionieren. Es fällt in bildungstheoretisch interessierten Texten auf, dass Begriffe wie Individuum, Subjekt, Person und Mensch häufig mehr oder minder äquivalent zur Beschreibung jenes Bezugspunktes dienen, auf den sich Bildungsprozesse zu beziehen scheinen. So schreibt beispielsweise Koller keineswegs einheitlich von Individuen (vgl. Koller 2012: 17) und dem Verhältnis, in dem sie zur Welt, zu anderen und sich selbst stehen. An anderer Stelle schreibt er gemeinsam mit Marotzki und Sanders z.B. vom „Welt- und Selbstverhältnis eines Menschen“ (Koller/Marotzki/Sanders 2007: 7), das „durch die Konfrontation mit neuartigen Problemlagen eine weitreichende Veränderung“ (ebd.: 7) erfahre. An wiederum anderer Stelle weist Koller im Rahmen einer historischen Rekonstruktion darauf hin, dass sich Bildung um etwa 1800 und anders als noch in den theologischen Spekulationen eines Meister Eckhart nicht mehr nur auf das „Erscheinungsbild“ (Koller 2006: 73), auf die „äußere Gestalt des Menschen, sondern vor allem auf die Entwicklung der gesamten Person“ (ebd.: 73) bezogen habe. In Bildung und Widerstreit (vgl. Koller 1999) heißt es im Rahmen einer Erläuterung der bildungstheoretischen Relevanz von Lyotards sprachtheoretischen Überlegungen: „Im Mittelpunkt dieses Bildungsbegriffs stünde so nicht länger ein sich bildendes Subjekt, das als ‚ursprünglich‘ bzw. der Sprache logisch vorhergehend aufzufassen wäre; Bildung wäre mit Lyotard vielmehr als ein sprachlicher Prozess zu verstehen, als Mobilisierung und Freilegung kreativer Potentiale, die es erlauben, angesichts neuer, bislang nicht artikulierbarer individueller oder gesellschaftlicher Problemlagen neue Diskursarten zu erfinden.“ (Koller 1999: 17)
Als Bezugspunkt von Bildung erscheinen in Kollers Formulierungen also einmal das Individuum, an anderer Stelle der Mensch, historisch betrachtet sei es einmal um die äußere Gestalt des Menschen gegangen und später um die Person in ihrer Gesamtheit. Schließlich wird eine bestimmte Auffassung des Subjekts, nämlich das sich selbst bildende Subjekt als etwas Ursprüngliches und der Sprache logisch Vorhergehendes zurückgewiesen und stattdessen die sprachliche Verfasstheit des Subjekts der Bildung herausgestellt. In Kollers aktuellster
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Monographie wird Judith Butlers Konzept der Subjektivation (engl. subjection) aufgegriffen, um Antworten auf die Frage „nach der Struktur und Genese des Verhältnisses, in dem Subjekte zur Welt, zu anderen und zu sich selbst stehen.“ (Koller 2012: 55) zu formulieren. Vor allem das Zitat aus Bildung und Widerstreit (Koller 1999:17) macht deutlich, dass es Koller im Kern um die Frage nach der sprachlichen Verfasstheit von Bildung geht und die Frage nach der ‚Instanz‘ von Bildungsprozessen damit aus nachvollziehbaren Gründen in den Hintergrund rückt. Diese Fokussierung erscheint mir gerechtfertigt, in sich schlüssig, konsequent und vor dem Hintergrund der bildungstheoretischen Herausforderungen der Postmoderne auch aufschlussreich. Allerdings verzichtet Koller nicht gänzlich auf den Subjektbegriff im Sinne einer Bezeichnung der Instanz von Bildungsprozessen, wie im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Butler deutlich wird. Es lässt sich festhalten, dass Koller die ‚Instanz‘ der Bildung zumindest nicht einheitlich bezeichnet. Vor dem Hintergrund seines zentralen Interesses an der sprachlichen Verfasstheit dieser Instanz erscheint das auch nachvollziehbar. Das heißt jedoch umgekehrt nicht, dass der Versuch der begrifflichen Differenzierung der ‚Instanz‘, die qua Bildung sprachlich verfasst wird, sich erübrigen würde. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auch der Beitrag erläutert und diskutiert, den Lacans Theorie möglicherweise zu dieser Differenzierung leistet. 47 5.9.1 Zur ‚Instanz‘ des Bildungsprozesses und der Struktur von Welt-Selbstentwürfen Eine erste Annahme lautet, dass Lacans Theorie zum Zusammenhang von Angst und Begehren die Bildungstheorie vor die Herausforderung stellt, mehr noch, sie dazu nötigt, das ‚unbewusste Subjekt‘ oder ‚Subjekt des Unbewussten‘ in seinem Verhältnis zum ‚Ich‘ und zum ‚Individuum‘ in ihre Reflexionen einzubeziehen. Denn dieses Verhältnis trägt zur begrifflichen Differenzierung jener ‚Instanz‘ im
47 Vgl. zur Unterscheidung von Subjekt, Individuum und Person auch Manfred Franks Überlegungen (Frank 1986, Frank 1998). Darin setzt er sich kritisch mit der postmodernen Toterklärung dieser Konzepte auseinander.
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Sinne eines dynamischen Moments bei, auf das sich die Veränderung sprachlich verfasster Welt-Selbstentwürfe bezieht.48 Was ist damit gemeint? Zur Beantwortung dieser Frage wird zunächst von den drei Ordnungen ausgegangen, wie sie im Übergang vom Abschnitt über das Spiegelstadium zum Angstseminar skizziert wurden, um sie als eine Art Heuristik zu nutzen. Es geht darum, die bildungstheoretische Frage nach der ‚Instanz‘ des Bildungsprozesses zu erörtern und in ihren Bezug zu Angst und Begehren zu stellen. Der bildungstheoretische Grundgedanke lautet erstens, dass sich die ‚Instanz‘, um die es in Bildungsprozessen geht, aus den Verhältnissen oder Funktionen zwischen Ich, Individuum und Subjekt erschließen lässt.49 Und dass zweitens alle drei Thematisierungsformen dieser ‚Instanz‘ in je unterschiedlicher Weise sowohl sprachlich strukturierte Welt-Selbstentwürfe darstellen, als auch qua sprachlich strukturierter Welt-Selbstentwürfe allererst entstehen. Allerdings liegt der Fokus auf der Entfaltung des ersten Grundgedankens. Die Begriffe ‚Ich‘, ‚Individuum‘ und ‚Subjekt‘ lassen sich mit Lacan als Thematisierungsformen der ‚Instanz‘ von Bildung im Sinne von ‚Momenten eines Prozesses‘ beschreiben. In diesem Zusammenhang legen Lacans Überlegungen zu Angst und Begehren nahe, das Subjekt des Unbewussten ins bildungstheoretische Zentrum zu rücken. In Bezug auf das Verhältnis von Angst und Begehren lassen sich mithilfe der heuristischen Unterscheidungsmöglichkeiten der drei Ordnungen des Imaginären, Symbolischen und Realen folgende Perspektivierungen oder Akzentuierungen vornehmen. Zunächst zum ‚Ich‘: Das ‚Ich‘ (als Spaltung in Je und Moi) zeichnet sich wie erläutert (vgl. Kapitel 5.3) dadurch aus, dass es in seiner imaginären Funktion zu akzentuieren ist. Auf dieser Ebene ist das ‚Ich‘ bewusst und gleichzeitig der Ort fundamentaler Verkennungen oder Täuschungen, die es in der Phase ihrer
48 Zudem kommt der Psychoanalyse in ihrem seltsamen Status an der Grenze oder jenseits der Wissenschaft in Bezug auf die Bildungstheorie der Status des Fremden zu. Das heißt, ein produktiver Einbezug der Psychoanalyse in die Bildungstheorie kann wahrscheinlich nur gelingen, wenn ihr Fremdheitscharakter gewahrt wird und sie weder inklusiv vereinnahmt, noch exkludierend ausgeschlossen wird. Dann allerdings können Bildungstheorie und Psychoanalyse in ein wechselseitiges Spannungsverhältnis geraten, das beide bereichert. Das heißt, dass die Bildungstheorie zur weiteren Wissenschaftswerdung der Psychoanalyse beitragen kann und die Psychoanalyse umgekehrt die Bildungstheorie in Bewegung bringen kann. 49 Erschließen heißt an dieser Stelle, dass es um Interpretationen geht. Sie erheben nicht den Anspruch, vollständig und erschöpfend zu sein. Trotzdem stellen diese erschließenden Interpretationen die Grundlage dar, um meinen Standpunkt zu begründen.
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Entstehung nicht bemerken kann und auch aus einer reflexiven Position lediglich begrenzt. Denn die imaginäre Verkennung (méconnaissance) kennzeichnet die grundlegende Struktur des Erkennens des ‚Ich‘ (me connaissance) und bleibt auf dieser Ebene lebenslang wirksam. Im Register des imaginären ‚Ich‘ gibt es struktural betrachtet kein Begehren, sondern lediglich dual strukturierte Ansprüche, die nach einer Antwort verlangen. Allerdings hat das ‚Ich‘ auch eine symbolische Dimension oder Funktion. Diese Funktion ist das sprechende ‚Ich‘ in seinem Verhältnis zum kleinen und großen Anderen. Auf dieser Ebene fällt das Reale des Bildes ein, das mit Angst verbunden ist und imaginäre und symbolische Produktionen antreibt. Mit dem Realen des Bildes ist seine Materialität im Sinne der Fülle seiner bloßen Vorhandenheit gemeint. Es geht um jenen Aspekt des Bildes, der weder imaginär noch symbolisch ist. Mit diesem Einfall des Realen, dass es etwas gibt, das etwas vorzustellen und zu sagen gegeben haben wird, wird gleichzeitig die Differenz von ‚Ich‘ (Je vor dem Spiegel) und ‚Ich‘ (Moi im Spiegel) eingezogen. Auf dieser Ebene entstehen gleichursprünglich ein unerfüllbarer Anspruch auf Ganzheit und die Angst vor dem Rückfall in den gestückelten Körper. Der Anspruch auf Ganzheit und die Angst vor Gestückeltheit gehören jedoch bereits zur imaginären und symbolischen Funktion, was Lacan jedoch noch nicht im Spiegelstadium, sondern erst im Seminar X ausarbeiten konnte. Auf der Ebene des symbolischen oder sprechenden ‚Ich‘ befinden sich die Mechanismen oder Operationen, denen jeder Affekt und also auch die Angst unterliegt, nämlich seine Verwandlung, seine Verschiebung und seine Vertauschung. Das Reale des ‚Ich‘, also dasjenige, was weder vorzustellen noch zu sagen ist, lässt sich wohl am ehesten im plötzlichen Moment des Verharrens vor dem Spiegel verorten, kurz vor dem Aha-Erlebnis, in dem das pure dass, dass ‚Ich‘ das da im Spiegel bin, einfällt. Das Aha-Erlebnis und die jubilatorische Geste des Infans können bereits als symbolische und imaginäre Reaktionsbildungen auf diesen Einfall des Realen interpretiert werden. Das Reale, das mit Angst besetzt ist, treibt ebenso die imaginäre Identifikation mit dem Bild an und beides, Identifikation und symbolische Reaktionsbildung bedeuten einen Lustgewinn. Entscheidend für die Funktion von Angst und Begehren ist jedoch vor allem die imaginäre und symbolische Dimension des ‚Ich‘. Zum Subjekt, der zweiten Thematisierungsform: Während das imaginäre ‚Ich‘ der Ort der Täuschung ist, signalisiert die symbolische Dimension des ‚Ich‘ dem realen Subjekt zweierlei: Sie signalisiert eine Bedrohung, nämlich die Nähe des Objekts a, das sowohl das reale Angstobjekt par excellence als auch den Objektgrund des Begehrens im Realen darstellt. Das Objekt a erscheint in dieser realen Dimension jedoch nicht, sondern zwischen dem symbolischen Ich und
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dem imaginären Subjekt in der Gestalt des Phantasmas. Das Phantasma lässt sich insofern als die imaginäre Gestalt des realen Objekts a interpretieren. Auch hier lässt sich eine ordnende Akzentuierung vornehmen: Das Subjekt ist in Bezug auf Angst und Begehren vor allem das reale Subjekt. Das heißt, dass das Subjekt des Unbewussten nicht nur das bezeichnet, was das ‚Ich‘ und das ‚Individuum‘ nicht kennen, sondern das, was sie nicht kennen können. In dieser Hinsicht steht das reale Subjekt von Lacan in einer Nähe zum Freud’schen unbewussten Es. Die Angst, die eine Bedrohung signalisiert, hat ihre Funktion in Bezug auf das reale Subjekt des Unbewussten. Auf dieser Ebene ist die Angst das, was nicht täuscht. Und auf dieser Ebene, das heißt auf der Ebene des Unbewussten oder Realen, gibt es laut Lacan über das imaginäre Phantasma bereits so etwas wie ein unbewusstes Wissen. Dieses Wissen hat jedoch eine symbolische Funktion für das Subjekt, weil der Affekt Angst nicht verdrängt werden kann. Was verdrängt wird, sind die Signifikanten, die das reale Subjekt verankern oder vertäuen. In diesem Sinne gibt es ein unbewusstes Wissen. Das heißt etwas, das im Realen wirkt, aber symbolisch strukturiert ist. Und in diesem Sinne lässt sich auch formulieren, dass es einen unbewussten Welt-Selbst-Entwurf gibt. Zum Individuum: Die dritte Thematisierungsform, also das Individuum, ist hinsichtlich des Verhältnisses von Angst und Begehren vor allem in seiner symbolischen Funktion zu akzentuieren. In Bezug auf den Begriff Individuum ist jedoch vorab zu berücksichtigen, dass er weder einen zentralen Begriff innerhalb der Psychoanalyse insgesamt darstellt, noch von Lacan in der gleichen Ausführlichkeit ausgearbeitet wurde wie die Begriffe ‚Ich‘ und ‚Subjekt‘. Neben anderen Fachwissenschaften ist der Begriff Individuum vor allem in der Philosophie und dort z.B. in Bezug auf die Frage nach der Gemeinschaft und in der Soziologie in Bezug auf die Frage nach der Gesellschaft von Interesse. Aber auch Lacan thematisiert das Individuum zumindest in Ansätzen, wenn er beispielsweise anhand des so genannten Gefangenensophismas die verzeitlichte Logik des Bezugs des Individuums auf den Anderen mit der Grundform einer Logik des Kollektivs verbindet (vgl. Lacan [1945] 1986: 103-121).50 Auf der Ebene des Individuums lässt sich sagen, dass das Begehren gesellschaftlich vermittelt ist. Die Angst im Lacan’schen Sinne hat insofern in einer indirekten Weise mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu tun.
50 Lacan schließt seine Überlegungen mit der spannenden These: „das Kollektiv ist nichts als das Subjekt des Individuellen.“ (A.a.O.: 121). Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, um diese These zu entfalten. Festzuhalten ist an dieser Stelle jedoch der Grundgedanke, dass Lacan das Individuum als Individuum qua Relation zu anderen entstehen sieht.
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Indirekt, weil dadurch, dass das Begehren stets das Begehren des anderen ist, die je spezifischen Objekte des Begehrens oder Partialobjekte gesellschaftlich vermittelt sind. Deutlich wird das beispielsweise am perversen Partialtrieb, der in der Sexualität nicht auf das Objekt Fortpflanzung gerichtet ist, sondern auf Lustgewinn und Reduktion der Triebspannung. Was zur Reduktion der Triebspannung in Frage kommt, ist nicht unabhängig von gesellschaftlichen anderen. An dieser Stelle kommen zudem die gesellschaftlichen Imperative ins Spiel, die sich im Individuum als ‚Über-Ich-Imperative‘ ablagern. Auf dieser Ebene ist das Individuum nicht nur über das Begehren auf Gesellschaft bezogen, sondern auch über die Angst vor dem strafenden oder belohnenden ‚Über-Ich‘.
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Die bisherigen Überlegungen lassen sich in etwa in der Form des folgenden Schemas zur Darstellung bringen. Die drei Ringe sind drei- und nicht zweidimensional zu verstehen: Abbildung 3: Bildungstheoretische Wendung der Instanz / des Moments von Bildung, angeregt durch Lacan, Lesart G.W.
Es geht in diesem Darstellungsversuch um das Geflecht aus Realem, Imaginärem und Symbolischem und den Versuch, diese drei Register mit den Begriffen Subjekt, Ich und Individuum zu verbinden, um einen Diskussionsvorschlag zur Instanz, zum Moment des Bildungsprozesses zu formulieren, also jenes Etwas zu denken, dem Transformationen grundlegender Figuren des Welt-Selbstentwurfs widerfahren. Aus bildungstheoretischer Perspektive könnte das Folgendes heißen: Die ‚Instanz‘, der in Bildungsprozessen die Veränderung grundlegender
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Figuren des Welt-Selbstentwurfs widerfährt, setzt sich aus dem imaginären Ich, dem symbolischen Individuum und dem realen Subjekt zusammen. Sie befindet sich in der Schnittmenge oder im Treffpunkt zwischen diesen drei Funktionen, die den drei Registern zugeordnet wurden. Entscheidend ist hierbei jedoch, dass die drei Thematisierungsformen der ‚Instanz‘ ebenso wie die ‚Instanz‘ selbst nicht etwa bestehen oder vorausgesetzt werden können, sondern prozessual entstehen und selbst allererst gebildet werden. Der Motor oder das Vehikel dieses Entstehungsprozesses ist die Sprache, wiederum in ihrer realen, imaginären und symbolischen Funktion. In diesem Sinne und auf dieser Ebene lässt sich mit Lacan paradox formulieren, dass die ‚Instanz‘ des Bildungsprozesses (als Schnittmenge zwischen Ich, Individuum und Subjekt) durch ihr Objekt (den zeichenhaft strukturierten WeltSelbstentwurf) allererst entsteht. Das bewusste ‚Ich‘ allein kann keinen Bildungsprozess durchlaufen, weil seine Funktion die Verkennung ist, die strukturell lebenslang wirkt. Zwar können sich die je spezifischen Fiktionen bzw., mit Kokemohrs Worten, die Entwürfe, die sich das ‚Ich‘ von sich selbst, anderen und der Welt macht, verändern. Allerdings wäre für eine grundlegende Veränderung, im Sinne der Veränderung des strukturellen Modus der Informationsverarbeitung, auch eine Veränderung im Register des Realen und Symbolischen vonnöten. Zwar würde das den Modus der Täuschung auf der Ebene des ‚Ich‘ nicht transformieren, der lebenslang wirksam bleibt, es würde jedoch eine Täuschung auf einem höherstufigen Niveau bedeuten. Veränderungen innerhalb des ‚Ich‘ können durchaus stattfinden und der Welt-Selbstentwurf der Instanz des ‚Ich‘ wird verwandelt, vertauscht und verschoben. Diese Prozesse wären jedoch aus bildungstheoretischer Perspektive immer noch als Prozesse des Lernens im Sinne von Marotzki (vgl. Marotzki: 1990: 52) zu qualifizieren, weil sich dafür die Modi der Informationsverarbeitung (im symbolischen und realen Register) nicht notwendig verändern müssen. In Bezug auf die Struktur von Welt-Selbstentwürfen ist mit Lacan bis hierhin folgendes festzuhalten: Sowohl das Ich als auch das Individuum und das Subjekt sind nicht unabhängig von Sprache zu verstehen. Sie zu unterscheiden heißt, unterschiedliche Aspekte sprachlich strukturierter Welt-Selbstentwürfe in den Blick zu bringen. Die Begriffe Ich und Subjekt bezeichnen keine feststehenden Instanzen, sondern dynamische Momente oder Funktionen, die sie durch ihren Bezug zueinander gewinnen. Das bedeutet, dass weder die ‚Instanz‘ des Bildungsprozesses noch ihr ‚Gegenstand‘ (der Welt-Selbstentwurf) ursprünglich vorhanden sind und in diesem Sinne vorausgesetzt werden können. ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ der Bildung entstehen als Momente in einem Prozess, der
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semiotisch, das heißt im weitesten Sinne sprachlich oder zeichenhaft strukturiert ist. Konkreter: Der Welt-Selbstentwurf auf der Ebene des ‚Ich‘ ist vor diesem Hintergrund durch seine Bewusstseinsfähigkeit und seinen Täuschungscharakter gekennzeichnet. Hinsichtlich der sprachlichen Strukturiertheit von WeltSelbstentwürfen heißt das, dass das symbolische oder sprechende ‚Ich‘ Verhältnisse von sich, der Welt und den anderen entwirft, deren Funktion vor allem darin besteht, sich einem wie auch immer gearteten, idealen Welt-, Selbst- und Anderen-Bild anzunähern. Ideal ist hier weniger im normativen Sinne des Begriffs zu verstehen, dass das sprechende ‚Ich‘ etwa versuchen würde, ein möglichst positives Bild von sich zu entwerfen, sondern struktural so, dass das sprechende ‚Ich‘ versucht, ein Bild von sich, den anderen und der Welt zu entwerfen, das seinem spezifischen Ideal-Ich (Moi) und seinen Ich-Idealen (Je) möglichst nahe kommt (asymptotisch). Das kann auch bedeuten, dass das sprechende ‚Ich‘ ein sehr negatives Ideal von sich entwirft. Es geht darum, dass der Lustgewinn des ‚Ich‘ vom Begehren des anderen her strukturiert wird. Das heißt, dass sich das sprechende ‚Ich‘ so zu verstehen gibt, wie es sich selbst zu sehen wünscht, weil es sich vorstellt, dass die anderen sich wünschen, dass es sich selbst so sehen möge und dass auch die anderen es so sehen mögen.51 Um ein Beispiel zu nennen: Sich als ohnmächtig und unfähig zu entwerfen kann in ökonomischer Hinsicht den gleichen Lustgewinn verschaffen wie sich als omnipotent, kompetent und hilfsbereit zu entwerfen. Masochismus und Sadismus sind in ökonomischer Hinsicht (aus der Perspektive der Struktur der Perversion) zwei gleich große Quellen der Lust und die Wahl der Struktur hängt vom erfahrenen Begehren des anderen ab. Der Welt-Selbstentwurf auf der Ebene des symbolischen ‚Individuums‘ ist vor allem gekennzeichnet durch die gesellschaftlichen Imperative im Sinne der kulturell geltenden Vorschriften. Das heißt, dass der Welt-Selbstentwurf des symbolischen ‚Individuums‘ durchaus kollektiv strukturiert sein kann, insofern die gesellschaftlichen Imperative und kulturellen Vorschriften den Einzelnen dazu aufrufen, sich in Figuren des Kollektivs oder als Kollektiv zu entwerfen. Diese Überlegung mag überraschen, weil sie zumindest gängigen europäischneuzeitlichen Auffassung von ‚Individualität‘ zuwider läuft. Diese gängige Auffassung ist zwar eine gewordene, gesellschaftlich und kulturell vermittelte und in
51 Auf dieser Ebene wären im Übrigen in empirischer Hinsicht, also zum Beispiel in narrativen Interviews Phänomene wie Provokationen, Selbststilisierungen, Selbstinszenierungen, sozial erwünschte Redeweisen, extreme (idealisierte) SelbstPositionierungen z.B. als Erleidender oder Beherrscher des eigenen Lebens etc. zu verorten.
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diesem Sinne kontingent. Das heißt, dass sie bewusst reflektiert werden kann, sie ist jedoch symbolisch in die Einzelnen eingeschrieben und deshalb nur begrenzt reflexionsfähig. Vielleicht können aus diesem Grund Fremdheitserfahrungen zum Beispiel im Rahmen interkultureller Kooperationen bildungsbedeutsam werden. Sie können mit Welt-Selbstentwürfen konfrontieren, die sich mithilfe vorhandener Deutungsfiguren nicht fassen lassen, weil in ihnen ‚Individualität‘ möglicherweise etwas völlig anderes bedeutet. Und selbst der Versuch einer Beschreibung als sozialreferentieller oder nicht-dualistischer Welt-Selbstentwurf entspringt noch einer Denkwelt, die dualistisch aufgebaut ist und somit jenes Fremde nicht restlos zur Sprache bringen kann. (Das aber stellt eine Herausforderung zur Erfindung neuer Fiktionen dar.) Die Funktion des symbolischen Individuums besteht vor diesem Hintergrund darin, dass Welt-Selbstentwürfe in eine Austauschbeziehung mit gesellschaftlich und kulturell fremden Welt-Selbstentwürfen treten können. Das Welt- Selbstverhältnis52 auf der Ebene des realen ‚Subjekts‘ ist dadurch gekennzeichnet, dass es nicht täuscht und dass es unbewusst ist. Das heißt, dass die Angst auf den in diesem Sinne realen Welt-Selbstentwurf verweist und das unbewusste Begehren signalisiert. Das bedeutet vor allem, dass dieses WeltSelbstverhältnis als solches weder vom ‚Subjekt‘ selbst, noch vom ‚Individuums‘ noch vom ‚Ich‘ gekannt werden kann. Und auch von anderen kann es zumindest nicht als solches gekannt (erforscht und untersucht) werden. Wie beim Traum, der sich durch die Traumarbeit hindurch und nur mit Rücksicht auf Darstellbarkeit zeigt, zeigt sich auch das reale Welt-Selbstverhältnis lediglich in entstellter Form. Trotzdem besteht der Königsweg der analytischen Kur in der Traumanalyse, in der es darum geht, qua Deutung so nah wie möglich an den verdrängten Trauminhalt zu gelangen. Es geht in diesem Zusammenhang um eine Grenze des vorbewussten und bewussten Wissens über WeltSelbstverhältnisse. Man könnte das in einer anderen Terminologie vielleicht auch so formulieren: Dieses Wissen ist präreflexiv, befindet sich jenseits der bewussten Reflektierbarkeit und jenseits der klaren und distinkten Unterscheidung der Grenzen zwischen Körper, Geist und Seele. Die Einschätzung, dass dieses unbewusste Welt-Selbstverhältnis als solches nicht erkannt werden kann,
52 Es erscheint mir an dieser Stelle klarer, vom Welt-Selbstverhältnis und nicht vom Welt-Selbstentwurf zu schreiben. Zwar enthält die Rede vom Entwurf den Gedanken der Vorläufigkeit, Unabgeschlossenheit und Zukunftsbezogenheit, sie legt jedoch ebenso die Vorstellung der aktiven Leistung eines Subjekts nahe, von der auf der Ebene des realen ‚Subjekts’ eher nicht die Rede sein kann.
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markiert eine Grenze wissenschaftlichen Wissens. Dieses Wissen ist als solches weder sagbar noch vorstellbar. Trotzdem existiert es und trotzdem wirkt es. Auf der Ebene des unbewussten Subjekts bleibt der Welt-Selbstentwurf unzugänglich. Das heißt jedoch nicht, dass sich unbewusste Welt-Selbstentwürfe nicht bemerkbar machen würden. Ganz im Gegenteil: Aus psychoanalytischer Perspektive können sie sich in den Bildungen des Unbewussten bemerkbar machen, also z.B. im Traum, im Symptom, im Witz und in Fehlleistungen. Das heißt aber in allen Fällen, in bereits entstellter, übersetzter Form. Im Affekt der Angst als einzigem Affekt, der nicht täuscht, kommt das Subjekt der Wahrheit des eigenen Begehrens, das heißt der unbewussten Wahrheit seines singulären Welt-Selbstentwurfs so nahe wie nirgends sonst. Allerdings ist diese ‚Wahrheit‘ nie als solche zu haben, sondern lediglich als imaginäre und symbolische ‚Wahrheit‘, weil das Unbewusste nicht als es selbst erscheint, sondern immer schon verdichtet und verschoben, mit Rücksicht auf Darstellbarkeit und in der Form einer sekundären Bearbeitung, um zumindest jene Operationen zu benennen, die laut Freud die Arbeit kennzeichnen, die der Traum leistet.53 In Lacans Registern ausgedrückt heißt das Bisherige aus bildungstheoretischer Perspektive: 1. Bildung als Prozess der Veränderung der wirksamen Fiktionen des ‚Ich‘ in Bezug auf sein Ideal-Ich und seine Ich-Ideale zu untersuchen (Imaginär). 2. Bildung als Prozess der Veränderung der wirksamen Signifikanten des ‚Individuums‘ in Bezug auf seine Signifikate und den Anderen zu untersuchen (Symbolisch). 3. Bildung als Prozess der Veränderung der wirksamen Verdrängungen des ‚Subjekts‘ in Bezug auf sein ängstigendes Begehren über die Bildungen des Unbewussten zu untersuchen (Real). Diese drei Aspekte hängen miteinander zusammen. Das heißt jedoch gleichzeitig, dass sich der Welt-Selbstentwurf des unbewussten Subjekts zwar nicht als solcher zu erkennen gibt, es aber trotzdem um das unerreichbare Ziel geht, die Produktionen des Unbewussten qua Deutung zu erschließen. Mit Lacans Theorie der Angst und des Begehrens lässt sich daher begründen, dass und inwiefern Welt-Selbstentwürfe im Sinne eines symbolischen und nicht reflexiven Entwurfs
53 Es wäre in diesem Zusammenhang interessant, Lacans Seminar zu den ‚Bildungen des Unbewussten‘ unter der Fragestellung zu lesen, was die dortigen Überlegungen zum Verhältnis von Unbewusstem und Sprache bildungstheoretisch bedeuten.
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des Subjekts über sich selbst, die Welt und die anderen bereits auf der Ebene des Realen bzw. des Unbewussten bestehen. 5.9.2 Zu Angst und Begehren als Momenten in Bildungsprozessen Der zweite Punkt betrifft die Frage nach der Herausforderung von Bildungsprozessen, die in den bisherigen Wendungen zwar bereits angeklungen sein mag, aber im Folgenden stärker von der Bildungstheorie aus gedacht wird. Mit Lacan lassen sich Welt-Selbstentwürfe als die je wirksamen imaginären und symbolischen Ordnungsfiguren angesichts des Realen verstehen, kraft derer wir uns selbst und die Welt entwerfen. Kokemohr zufolge werden Veränderungen solcher Entwürfe durch Problemerfahrungen herausgefordert, die vor allem durch ihre Subsumtionsresistenz gekennzeichnet sind, das heißt dadurch, dass sie sich im Rahmen bereit liegender Figuren nicht bearbeiten lassen und eben deshalb deren Veränderung herausfordern (vgl. Kapitel 3). Solche Problemerfahrungen werden von Kokemohr paradigmatisch als Erfahrungen des Fremden begriffen. Mit Lacan lässt sich der Grundgedanke dieses Arguments aufnehmen, indem die Problemerfahrung als ein Einbruch des Realen begriffen wird. Das heißt, dass etwas geschieht, das sich weder imaginieren noch symbolisieren lässt. Dadurch kann der vorhandene Zusammenhang bzw. die gegebene Konfiguration aus Realem, Imaginärem und Symbolischem in Bewegung geraten und eine Veränderung erfahren. In diesem Sinne lässt sich formulieren, dass die Herausforderung von Bildungsprozessen weder im Imaginären noch im Symbolischen, sondern im Register des Realen zu verorten ist. Das Reale, dass also etwas einbricht, das sich weder vorstellen noch sagen lässt, ist immer mit dem Affekt der Angst verbunden. Dieser Affekt hat die Funktion dem Subjekt zu signalisieren, dass es seinem Objekt des Begehrens zu nahe kommt und der Objektgrund oder die Objektursache des Begehrens zu fehlen droht. An diesem Punkt treffen sich die Angst und das Begehren im Objekt klein a. Die Herausforderung von Bildungsprozessen als einen Einbruch des Realen zu begreifen heißt deshalb, dass Bildungsprozesse konstitutiv mit Angst und Begehren verbunden sind. Es geht um einen plötzlichen Einbruch in eine Ordnung, die unbewusste Anteile hat und sich als eine Art Überschwemmung oder Überforderung der psychischen Funktionen charakterisieren lässt. Vor allem geht es jedoch darum, dass die Herausforderung von Bildungsprozessen vor dem Hintergrund der Lacan’schen Überlegungen mit einem Fehlenden, genauer, mit einem fehlenden Mangel zu tun hat. Insofern lässt sich
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die Herausforderung von Bildungsprozessen auch mit Lacan als eine Krise beschreiben. Allerdings ist bemerkenswert, worin aus Lacans Perspektive die Krise besteht. Denn sie besteht nicht darin, dass plötzlich eine Mangelstruktur entsteht oder eine Ganzheit verloren wird, sondern im Fehlen des Mangels und in der Gefahr, dass Ganzheit oder Fülle bevorsteht. Das heißt aber, dass die Herausforderung von Bildungsprozessen nicht als Gefährdung einer vollständigen Ordnung zu denken ist, sondern dass die Ordnung als Unvollständigkeit zu begreifen ist, die in Gefahr gerät. Diese Wendung ist m.E. ein entscheidend neuer Aspekt, den die Lacan’sche Theorie zur Frage nach der Herausforderung von Bildungsprozessen beiträgt. Das Spannende ist an dieser Stelle also, dass mit Lacan die Krise des WeltSelbstentwurfs gerade nicht darin besteht, dass die Gewissheit des Seins ungewiss wird, sondern vielmehr umgekehrt darin, dass die fehlende Gewissheit des Seins plötzlich mangelt. Anders formuliert: Die Herausforderung von Bildungsprozessen besteht vor diesem Hintergrund strukturell gerade nicht in jenem Anspruch des Fremden, der mit der Angst vor dem ungefasst Gestaltlosen verbunden ist, dem die eigene Ordnung abgewonnen ist, sondern in jenem Anspruch des Fremden, der mit der Angst vor dem gestalthaft Gefassten verbunden ist. Das heißt, dass die Ordnung des Welt-Selbstentwurfs mit Lacan von einem Mangel her zu verstehen ist und nicht von einer Fülle. Welt-Selbstentwürfe sind damit nicht als gestalthafte Grundfiguren im Sinne von Ganzheiten zu verstehen, sondern selber nur insofern ordnend, als ihnen etwas fehlt. Wie ist das in bildungstheoretischer Hinsicht zu verstehen? Welt-Selbstentwürfe können mit Lacan zwar als die spezifisch zusammengesetzte Ordnung aus Realem, Symbolischem und Imaginäre verstanden werden, allerdings ist diese Ordnung selbst von einer konstitutiven Mangelstruktur gekennzeichnet, insofern das Reale dem Symbolischen und Imaginären immer wieder entwischt. Die Mangelstruktur lässt sich z.B. aus der Perspektive des imaginären ‚Ich‘ so beschreiben, dass sein Begehren, sein Streben gerade dadurch aufrecht erhalten wird, dass es die ideale Vorstellung seiner selbst (das Moi im Spiegel) nicht erreicht. Das heißt, dass das Begehren davon abhängt, dass es eine Differenz gibt, also etwas, das dem ‚Ich‘ zu seiner vollständigen Idealität und das heißt in diesem Fall Identität fehlt. Wenn das ‚Ich‘ nämlich mit ‚sich‘ (mit seinem Bild von sich) identisch ist, zerbricht die Mangelstruktur des Begehrens und die Gefahr dieses fehlenden Mangel ist es, den die Angst signalisiert, um das Subjekt vor jener dualen Anspruchslogik zu schützen, die das Subjekt existenziell bedroht.
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Bildung im Sinne eines höherstufigen Lernprozesses (vgl. Kapitel 3) würde in diesem Beispiel eine Art Umarbeitung oder Veränderung der dualen Struktur bedeuten. Dieses Argument ist nun nicht so verstehen, dass das ‚Ich‘ in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr spielte, keine Funktion mehr hätte, oder etwa nicht mehr zur ‚Instanz‘ des transformatorischen Bildungsprozesses gehörte. Ganz im Gegenteil. Der entscheidende Gedanke ist jedoch, dass Bildungsprozesse mit Lacan formuliert, vom ‚Ich‘ lediglich angestoßen werden oder zum ‚Ich‘ durchdringen können müssen, weil es Wahrnehmungseindrücke von Innen, vom ‚Individuum‘ oder von Außen, von der ‚Gesellschaft‘ braucht. Gleichzeitig wirken Bildungsprozesse auf das ‚Ich‘ zurück, allerdings ist das in einem bildenden Sinne nur möglich über den ‚Umweg‘ über das ‚Subjekt des Unbewussten‘. Denn zumindest der bewusste Aspekt des ‚Ich‘, also das, was mit Lacan das imaginäre ‚Ich‘ genannt wurde, kann gleichsam nicht anders als sich zu täuschen, sich täuschen lassen und getäuscht zu werden. Dasjenige, was nicht täuscht, hat seinen Ort im unkennbaren Unbewussten und zeigt sich im Affekt der Angst. Die Angst macht sich bemerkbar als das, was nicht täuscht. Sie verweist auf das Objekt a und dieses Signal fordert neue Bildungen aller Thematisierungsformen oder Aspekte der ‚Instanz‘ der Bildung heraus. Dieses Signal fordert eine Verschiebung oder Lockerung ihrer Verhältnisse untereinander heraus. Allerdings erscheint das Objekt a in verstellter Form, zum Beispiel in Form des Phantasmas, des Symptoms, des Unheimlichen. Wenn das Phantasma als Inszenierung eines unbewussten Begehrens zu verstehen ist und wenn seine Funktion darin besteht, eine Abwehr oder ein Schutz gegen das Reale zu sein und die symbolische Kastration zu verschleiern, dann zeigt sich das Phantasma auf der phänomenalen Ebene der Angst als das Unheimliche. Bildungsprozesse würde das Unheimliche herausfordern, weil es sowohl auf das zurückliegende als auch auf das unmittelbar bevorstehende Reale unserer Existenz verweist und signalisiert, dass es keine andere Möglichkeit gibt als eine strukturell neue Fiktion oder einen strukturell neuen Entwurf zu riskieren. Das wäre dann jedoch kein ausschließlich bewusster Prozess mehr. Dieser neue Entwurf kann nicht aus den alten Fiktionen abgeleitet werden. Er muss riskiert werden wie der Sprung in einen offenen Abgrund oder die Reise eines Entdeckers in neue, unbekannte Gefilde, bei dem es keine anderen Rationalisierungsmöglichkeiten gibt als darauf zu hoffen und darauf zu vertrauen, dass irgendwann neuer Boden unter den Füßen gefunden wird, dass irgendwann Land in Sicht sein wird und das ‚Ich‘ ein neues, wieder nur vorläufiges Verhältnis zu sich, zur Welt und zu den anderen gewinnt, eine neue Fiktion, ein neues Phantasma, das das Subjekt und das Individuum so lange wieder zusammenhält, bis es zur nächsten Fixierung
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des Begehrens kommt; das heißt zur Gefahr des nächsten fehlenden Mangels, zum nächsten Symptom, zur nächsten Problemlage. Dann nötigt das Angstsignal erneut dazu, das sich auf einen Anspruch reduzierende und fixierte Begehren wieder zu lockern und ein neues Verhältnis des ‚Ich‘ zu sich, zur Welt und zu den anderen zu gewinnen. Die bisherigen Überlegungen weisen insgesamt darauf hin, dass Bildungsprozesse als Veränderungen imaginärer, symbolischer und realer WeltSelbstentwürfe gefasst werden können, die dadurch herausgefordert werden, dass eine der diesen Funktionen entsprechenden Thematisierungsformen der ‚Instanz‘ der Bildung irgendein fundamentum inconcussum unbezweifelbarer Gewissheit gefunden hat, vorgestellt hat, symbolisiert hat oder vorfindet oder dass das Finden einer solchen Gewissheit unmittelbar bevorsteht. Das Reale verspricht jedoch aus Lacans Perspektive und im Unterschied zu Waldenfels’ Fremdem präzise eine solche Gewissheit. Denn im Realen gibt es keine Abwesenheit, es ist in sich selbst undifferenziert. Bereits in den philosophischen Zusammenhängen, auf die sich Lacan seit seinen frühesten Arbeiten zum Realen bezog, heißt es: Das Reale ist ein ontologisch Absolutes, ein wahrhaftiges Selbstsein (vgl. Evans 2002: 250). Das heißt, dass es im Realen keinen Mangel gibt. Bereits in seinen frühen Seminaren geht Lacan davon aus, dass es im Realen keine Abwesenheit gibt. Es ist im Unterschied zum Symbolischen in sich selbst ohne Differenz. „Das Reale ist ohne Riß.“ (Lacan [1954-55] 1991: 129). Es bezeichne das bloße Dasein ohne jede Vermittlung und könne nicht anders als durch Vermittlung des Symbolischen aufgefasst werden (vgl. ebd.). Wie kann nun diese Überlegung auf Waldenfels’ Begriff des Fremden bezogen werden, den Kokemohr bildungstheoretisch fruchtbar macht? Dadurch, dass sich etwas zeigt, indem es sich uns entzieht, wird beispielsweise die imaginäre Vorstellung, das Phantasma möglich, dass durch die Integration dieses Fremden die Ordnung des Welt-Selbstentwurfs vollständig wäre. Es müssen nur die richtigen Begriffe gefunden werden und die Ordnung wird komplett. Auf der Ebene des Symbolischen kann sich das z.B. in sprachlichen Figuren zweifelloser Gewissheit und Konsistenz äußern. Aus psychoanalytischer Perspektive wären das wahnhafte Systeme, die ihre eigene Ordnung nicht mehr als Konstruktionsleistung bemerken können, sondern z.B. als differenzlose Repräsentation der Wirklichkeit. Anders ausgedrückt: Bildungsprozesse werden dadurch herausgefordert, dass ein Zu-viel, ein Überschuss an Ordnung droht, weil dann nichts mehr zu wünschen, zu begehren übrig bleibt. Ordnung ist zu verstehen als etwas, dem es an etwas mangelt, damit es noch Ordnung sein kann. Auf dieser Ebene erinnert Lacans Denkfigur an Waldenfels’ Beschreibung des Ordnungsgeschehens qua
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Selektion und Exklusion (vgl. Kapitel 4.1). Das Widerfahrnis, das bei Waldenfels in Pathos und Response auseinandertritt, weist strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Realen von Lacan auf, das in den Affekt Angst und das Begehren auseinanderritt. Die Angst, die hier in ihre Funktion eintritt, lädt jedoch nicht zum Aufenthalt ein, sie ist kaum auszuhalten und fordert daher neue imaginäre Fiktionen und neue symbolische Produktionen (neue Figuren des WeltSelbstentwurfs) heraus. 5.9.3 Zur Entstehung des Neuen Eine erste Möglichkeit, die Entstehung neuer Figuren des Welt-Selbstentwurfs mit Lacan zu denken, besteht darin, sie als neue Zusammensetzung der Thematisierungsformen der ‚Instanz‘ von Bildung, das heißt des imaginären Ich, des symbolischen Individuums und des realen Subjekts zu verstehen. Eine solch neue Zusammensetzung würde durch das reale Widerfahrnis der Angst, das Zu nahe-Kommen des Objekts des Begehrens herausgefordert, wodurch das Ich zu veränderten Fiktionen, das Individuum zu veränderten Symbolisierungen in Bezug auf ‚sich selbst‘, ‚andere‘ und ‚die Welt‘ gedrängt wird. Diese Veränderungen wären im Sinne neuer Deutungen, imaginärer und symbolischer Bildungen zu verstehen, die auch im Realen etwas an einem neuen Platz Statt finden lassen, weil Imaginäres und Symbolisches auch im Realen fungiert. Die Entstehung neuer Welt-Selbstentwürfe lässt sich mit Lacan also grundsätzlich als Entstehung neuer Welt-Selbst-Fiktionen verstehen, die in einer Veränderung der symbolischen Ordnung ihren Ausdruck findet und auch im Realen wirkt. Allerdings bleibt in dieser Überlegung fraglich, ob eine solche, neue Konfiguration aus bildungstheoretischer Perspektive nicht noch als ein Lernprozess zu beschreiben wäre. Denn Bildungsprozesse im Sinne grundlegender Veränderungen bzw. eines höherstufigen Lernprozesses müssten ja ebenso den Verarbeitungsmodus und die grundlegende Veränderung der Ordnung selbst betreffen. Mit anderen Worten: Möglicherweise müssten Bildungsprozesse die Ordnung oder die Register des Realen, Imaginären und Symbolischen selbst verändern. Es ist schwer zu entscheiden, ob eine Veränderung der Fiktionen des ‚Ich‘, die symbolisch Ausdruck im ‚Individuum‘ findet und im realen ‚Subjekt‘ fungiert, nicht bereits als grundlegende Veränderung und in diesem Sinne als Bildungsprozesse zu bewerten wäre, weil sie die gesamte innere Ordnung des Psychischen in Bewegung bringt, wenngleich die Struktur der Ordnung als Ordnung des Realen, Imaginären und Symbolischen selbst in Kraft bleibt. So könnte beispielsweise die Einsicht in die Unerkennbarkeit seiner selbst, anderer und der Welt durchaus als eine grundlegend neue Fiktion des ‚Ich‘
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gelten, allerdings verbleibt sie innerhalb der oppositionslogischen, also dualen oder binären Figur von Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit. Vor diesem Hintergrund wurde vom ‚Ich‘ zwar etwas gelernt, eine grundlegende Veränderung des Welt-Selbstentwurfs könnte jedoch beispielsweise bedeuten, die binäre Oppositionslogik zu verändern. Einen Schritt weiter hilft möglicherweise Lacans ethischer Hinweis darauf, nicht von seinem Begehren abzulassen. Die Entstehung des Neuen wäre vor diesem Hintergrund jener Prozess, in dem nicht davon abgelassen wird, seinem Begehren zu folgen, ihm eine Rechtmäßigkeit zuzubilligen, den Weg seiner Realisierung weiter zu suchen und seiner ‚Wahrheit‘ immer näher zu kommen. Dieser letzte Gedanke führt in die Nähe einer Lacan’schen Überlegung, die dazu beitragen könnte, Waldenfels’ Unterscheidung zwischen der Entstehung des Neuen und der Entstehung von Neuartigem zu übersetzen. Zur Erinnerung: Waldenfels hatte im Zusammenhang mit der Figur der kreativen Antworten betont, dass sie nicht ohne Erfindung zu denken sei, sich aber auch nicht auf bloße Erfindung reduzieren lasse (vgl. Kapitel 4.4). „Wir erfinden, was wir antworten, wir erfinden aber nicht, worauf wir antworten.“ (Waldenfels 1998: 97) In diesem Zusammenhang hatte er Neues von Neuartigem unterschieden. Während er Neues als etwas begreift, das innerhalb bestehender Ordnung entstehen könne, überschreite Neuartiges die bestehenden Ordnungen. Dieses Neuartige lasse sich nicht nur auf Umbrüche in Kunst, Wissenschaft oder Politik beziehen, sondern könne auch das Leben Einzelner heimsuchen und gehe dann mit einem Staunen und einer Angst einher, bis es zum Eingriff der geltenden Ordnungsmechanismen komme (Waldenfels 1999: 180). In Bezug auf die bisherigen Überlegungen zur Entstehung neuer Welt-Selbstentwürfe lässt sich vor diesem Hintergrund einwenden, dass mit Lacan zwar neue, nicht aber neuartige Welt-Selbstentwürfe gedacht werden können. Denn die Ordnung der drei Register und die ihnen zugeordneten Thematisierungsformen der ‚Instanz‘ von Bildung selbst ändern sich nicht. Dieser Zusammenhang lässt sich im Übrigen so wenden, dass Bildung auch theoretisch so zu denken ist, dass die Theorie der Bildung selbst eine Transformation oder grundlegende Veränderung erfahren kann. Lacan hat in seinem Spätwerk (vgl. Lacan [1975/76] 2005) einen Begriff eingeführt, der an dieser Stelle zwar nicht ausführlich eingeführt werden kann und soll, der aber für eine anschließende Arbeit interessant sein könnte und daher zumindest kurz genannt werden soll. Lacan hat diesem Begriff ein ganzes Jahr seines Seminars gewidmet, das den Titel Das Sinthom (frz. Le sinthome) trägt (vgl. a.a.O.). Dieses Seminar liegt m.W. noch in keiner vollständigen deutschen Übersetzung vor. Bei dem Wort sinthome handelt es sich um eine archaische Schreibweise des Wortes ‚le symptôme‘ (das Symptom). Es stellt in
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der Anlage der Lacan’schen Theorie einen zusätzlichen, vierten Ring dar, der die Ordnung der drei Register erweitert und damit die theoretische Ordnung des Psychischen selbst verändert. Denn Lacan behauptet das Sinthom als dasjenige, was die anderen drei Ringe zusammenhalte (vgl. Evans 2002: 273-275). Es sei dasjenige, was einem erlaube zu leben. Es geht hier m.E. um eine Singularität, ein reines Genießen, das an niemanden gerichtet ist. Aus bildungstheoretischer Perspektive könnte in diesem Zusammenhang die Spur verfolgenswert sein, dass die Entstehung neuartiger Welt-Selbstenwürfe als Erfindung und Identifikation mit dem Sinthom gedacht werden kann. Diese Überlegung wäre jedoch genauer zu prüfen und zu untersuchen. Es lässt sich zudem vermuten, dass die Frage nach der Entstehung des Neuartigen nicht nur in Bildungsprozessen, sondern auch in der psychoanalytischen Kur von zentraler Bedeutung ist. Eine Arbeitshypothese könnte lauten, dass die Entstehung neuartiger Welt-Selbstentwürfe und die Entstehung neuartiger Konfigurationen des Realen, Imaginären und Symbolischen strukturell ähnlich verlaufen. Ebenso ließe sich ausgehend von dieser Überlegung vermuten, dass die Entstehung neuartiger Welt-Selbstentwürfe durch das Geschehen in der psychoanalytischen Kur begünstigt werden kann. Allerdings wäre in diesem Zusammenhang näher zu untersuchen, wie sich das Geschehen in transformatorischen Bildungsprozessen zum Geschehen in der analytischen Kur verhält.
Ü BERGANG : K RITISCHE R EFLEXIONEN Es hat vermutlich mit der Eigenart wissenschaftlicher Arbeiten zu tun, dass sich zu ihrem Ende hin nicht nur die Antworten auf die Ausgangsfragen als vorläufig und unvollständig erweisen, sondern dass sich zudem neue Fragen stellen, deren Beantwortung weiterer Arbeit vorbehalten bleibt. Zumindest gilt das für meine Einschätzung der Eigenart der vorliegenden Arbeit. Aus diesem Grund soll im letzten Kapitel in Form eines Ausblicks skizziert werden wie die bisherigen Annäherungen an eine transformatorische Bildungsprozesstheorie m.E. fortgeführt werden könnten. Das Anliegen dieses Ausblicks besteht also darin, eventuelle Ansatzpunkte und mögliche Anschlussperspektiven für die weitere Arbeit zu skizzieren. Das geschieht im Folgenden in einer zwar programmatischen, an manchen Stellen jedoch noch sehr tastenden, teilweise assoziativen und ungeordneten Art und Weise. Das heißt, dass die folgenden Überlegungen und Fragen vorläufige Spuren darstellen, die näher zu untersuchen sind und hinsichtlich ihrer Relevanz für bildungstheoretische Fragestellungen allererst geprüft und näher erläutert werden müssten.
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In der vorliegenden Arbeit sind kritische Bezugnahmen auf die Lacan’sche Psychoanalyse lediglich gestreift worden und in mancher Hinsicht offen geblieben. Die kritische Reflexion der Lacan’schen Theorie und die Konsequenzen, die sich daraus für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse ergeben, stehen also noch aus. Lacans Überlegungen zu Angst und Begehren, die er über das Objekt a miteinander zu verbinden sucht und die vorliegende bildungstheoretische Reflexion, die diese Verbindung aufgreift, kreisen im Grundgedanken um den Mangel bzw. um die Problematik eines fehlenden Mangels. Das lässt sich auch so formulieren, dass sich Lacan stark auf die Kastration konzentriert, in der es strukturell darum geht, dass etwas (imaginär oder symbolisch) fehlt. Lacans Betonung der Bedeutung der Kastration ist nun von verschiedenen Seiten und anhand verschiedener Problemstellungen teilweise scharf kritisiert worden. In diesem Zusammenhang könnte es weiterführend sein, Arbeiten der Poststrukturalistin Hélène Cixous zu berücksichtigen, die Lacans Position insgesamt für kastrations-obsediert hält (vgl.: Cixous 2013) und ebenso könnte es hilfreich sein, die diesbezüglichen kritischen Überlegungen der Psychoanalytikerin und Kulturtheoretikerin Luce Irigaray zu berücksichtigen. Ein in diesem Zusammenhang wichtiger Einwand gegen Lacans Theorie, der insbesondere am Begriff ‚Phallus‘ als eine Art Wahrheitsgarant ansetzt, wurde von Jacques Derrida formuliert. Derrida setzt sich hierbei kritisch mit Lacans Auffassung von Wahrheit auseinander. Er begreift Lacans Phallusbegriff als eine Art facteur de la vérité, einen Lieferanten, einen Postboten, einen Faktor von Wahrheit und Lacan schaffe insgesamt ein Gedankensystem, in dem der ‚Phallus‘ als idealer Garant der Bedeutung fungiere. „Derrida führt an, daß trotz Lacans Beteuerungen des Antitranszendentalismus der Phallus als transzendentales Element fungiert, und somit idealer Garant für die Bedeutung ist. Wie kann es so etwas wie einen 'privilegierten Signifikanten geben', fragt Derrida, wenn doch jeder Signifikant nur durch die Differenz zu anderen Signifikanten definiert wird? Mit anderen Worten: Der Phallus führt die Metaphysik der Präsenz wieder ein. Er nennt Lacans Position Phallozentrismus und bezichtigt Lacan, ein phallogozentristisches Gedankensystem geschaffen zu haben.“ (Evans 2002: 228)
Die hier lediglich zusammengefasste Kritik wäre genauer nachzuzeichnen und in Bezug auf ihre Konsequenzen für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zu reflektieren. Dazu bietet sich z.B. eine genauere Lektüre von Derridas Text Le facteur de la vérité; Der Facteur der Wahrheit an (Derrida 1999; Derrida 1987), worin Derridas kritische Auseinandersetzung mit der Lacan’schen Psychoanalyse zur Sprache kommt.
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Einen erziehungswissenschaftlichen Anknüpfungspunkt bietet in diesem Zusammenhang Kollers Darstellung des Verhältnisses zwischen Lacan und Derrida in Bezug auf die Schrift, die insbesondere Antworten auf die Frage nach der psychoanalytischen Interpretation von Texten enthält (vgl. Koller 1990a: 55-82) und in diesem Zuge methodologische und methodische Perspektiven für die empirische Untersuchung von Texten eröffnet. Man kann den Eindruck gewinnen, dass mit dem Schema in Abbildung 3 und der zuletzt formulierten, bildungstheoretischen Wendung (in Kap. 5.9.3) ein tendenziell hermetisches, also in sich abgedichtetes Theoriegebäude konstruiert wurde. Der Eindruck lässt sich aus psychoanalytischer Perspektive vielleicht auch so formulieren, dass es sich hier strukturell um eine Art wahnhaftes Theoriegebäude in dem Sinne handeln könnte, dass jeder bildungstheoretisch relevanten Fragen und jeder Antwort von dort aus ihr Platz zugewiesen wird. Dieser Eindruck lässt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Wahn thematisch werden, eine Frage, die sich bereits Freud in seiner Analyse der Biographie des Gerichtspräsidenten Schreber aufgedrängt hatte: „Es bleibt der Zukunft überlassen zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaubhaft finden.“ (Freud [1911] 1973: 200)
Freud weist hier auf die Möglichkeit hin, dass seine Theorie wahnhafte Elemente enthalten könnte und bringt damit die klare Grenzziehung zwischen Wissenschaft (Theorie) auf der einen und Wahn auf der anderen Seite als Problem zur Sprache. Während Freuds Rede von der Theorie, die mehr Wahn enthalten könne als er möchte wie eine Befürchtung oder eine Sorge klingt, in der auch die Sehnsucht mitschwingt, möglicherweise wahnhafte Elemente seiner Theorie zumindest zu reduzieren, versteht Lacan das Verhältnis von Psychoanalyse, Wahn und Wissenschaft in einer radikaleren Weise. „,Die Psychoanalyse ist keine Wissenschaft. Sie hat keinen Wissenschaftsstatus – sie wartet und hofft nur darauf. Die Psychoanalyse ist ein Wahn – ein Wahn, der Wissenschaft hervorbringen soll … Es ist ein wissenschaftlicher Wahn, was aber nicht heißt, daß die analytische Praxis je eine Wissenschaft hervorbringen wird.‘“(Lacan [1976-77]; zitiert nach Evans 2002: 349)
Es lässt sich vor dem Hintergrund dieser beiden Äußerungen zunächst festhalten, dass es nicht unbedingt verwunderlich ist, dass eine bildungstheoretisch interessierte Arbeit, in der die Lacan’sche Psychoanalyse aufgegriffen wird, zumindest
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in die Nähe des Wahns geraten kann. Lacans Formulierung irritiert geläufige Vorstellungen des Verhältnisses von Wissenschaft und Wahn. Er deutet die Psychoanalyse als einen Ort an, an dem die Irritation dieses Verhältnisses zur Sprache kommen und bemerkt werden kann. Lacan trennt die Psychoanalyse zunächst scharf von der Wissenschaft und bezeichnet sie als einen Wahn, um im direkten Anschluss sowohl die scharfe Trennung als auch die eindeutige Bestimmung als Wahn sogleich wieder aufzuheben. Sie wird nun als ein wissenschaftlicher Wahn bezeichnet, sodass die Psychoanalyse als eine Disziplin erscheint, die sich zwischen Wissenschaft und Wahn befindet, die sich an ihren Rändern aufhält und dadurch sowohl die Wahnhaftigkeit von Wissenschaft als auch die für die Wissenschaft produktive Kraft des Wahns hervorführen kann. Die geläufigere Einschätzung, dass Wahn und Wissenschaft in einem wechselseitigen Ausschlussverhältnis zueinander stehen oder zumindest stehen sollten, wird in diesem Zitat also zunächst aufgegriffen, um sogleich wieder dekonstruiert zu werden. Zugespitzt lässt sich das geläufige Verständnis des Ausschlussverhältnisses zwischen Wissenschaft und Wahn vielleicht so beschreiben: Ein Text ist entweder in sich konsistent, empirisch fundiert, evidenzbasiert, überprüft, intersubjektiv nachprüfbar, transparent etc. und kann dann als wissenschaftlicher Text gelten. Oder aber er enthält Brüche, innere Widersprüche, seine Behauptungen lassen sich in der empirischen Realität nicht überprüfen etc. und kann dann als wahnhafter Text gelten. Was aber, wenn der zuerst beschriebene Text mindestens ebenso nah, vielleicht sogar viel näher an der Struktur des Wahns wäre als der zweite? Was, wenn das Problem des ersten Textes nicht darin besteht, dass er sich falsche Vorstellungen von der Wirklichkeit macht, sondern darin, dass nicht bemerkt wird, dass es sich um Vorstellungen, um Konstruktionen handelt? (vgl. dazu und zum Verhältnis von Bildung und Wahn Wimmer 2007: 83-112). Freud hatte in Bezug auf den Wahn bemerkt: „Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion“ (Freud [1911] 1973:193) Das lässt sich vielleicht so lesen, dass die Wahnbildung eine Reaktion auf verloren gegangene Gewissheiten darstellt, genauer, eine Reaktion auf die Unmöglichkeit der Herstellung von Gewissheit. Wahnhafte, „paranoide Konstruktionen sind in der Lage, orientierend, spannend und dabei beruhigend zu wirken.“ (Pazzini 2007a: 128) Im Verlauf des Argumentationsgangs wurde versucht, die Gefahr der Wahnhaftigkeit der bildungstheoretischen Wendungen über die Betonung des heuristischen Werts der Lacan’schen Theoriefiguren zu mildern und gleichzeitig hervorzuheben, dass eine jede Theorie imaginäre Anteile enthält, sodass ihre Fiktionalität berücksichtigt werden kann.
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Es geht vor diesem Hintergrund darum, die beruhigenden Orientierungen, die die bildungstheoretische Auseinandersetzung mit den Lacan’schen Denkfiguren möglicherweise bewirkt, wieder in Bewegung und Unruhe zu versetzen. Solche Lockerungen könnten z.B. durch die Auseinandersetzung mit den bereits angedeuteten, kritischen Bezugnahmen auf der Theorieebene entstehen. Es gibt eine weitere Möglichkeit, die theoretischen Überlegungen wieder zu öffnen, sodass Theorie nicht zu einem hermetisch abgeschlossenen Denkraum wird. Sie besteht in einer Erprobung des empirischen Gehalts der Theoriefiguren und der Reflexion von Theorie und Empirie in Bezug auf ihre Bedeutung für die pädagogische Praxis. Hierbei wäre mit einer forschungsoffenen Haltung vorzugehen, die dem empirischen Material einräumt, Einspruch gegen die skizzierten Theoriefiguren zu erheben und so die Theorieentwicklung wieder in Bewegung zu bringen. Die Kritik und die empirische Erprobung des empirischen Gehalts von Theoriefiguren können dazu beitragen, Grenzen und Möglichkeiten der psychoanalytischen Theorie und der eigenen Interpretationen dieser Theorie zu bemerken und sie dadurch ggf. zu erweitern, zu modifizieren, oder grundlegend in Frage zu stellen.
6. Ausblick: Weiter machen
Ein vorläufiger Arbeitstitel, der vor dem Hintergrund der Überlegungen der vorliegenden Arbeit zum Ausgangspunkt einer Anschlussarbeit dienen könnte, könnte lauten: ‚Zur empirisch gehaltvollen Erprobung einer psychoanalytischen Bildungsprozesstheorie‘. Im Zentrum einer solchen Arbeit stünde die bildungsprozesstheoretisch perspektivierte Frage nach dem empirischen Gehalt von Angst und Begehren in ihrer möglichen Funktion als Herausforderung von und für Bildungsprozesse. Diese Frage enthält einige, durchaus nicht unproblematische Implikationen, die im Folgenden in einem ersten Schritt angedeutet werden. In einem zweiten Schritt werden daran anschließend einige der verfolgenswerten Spuren und Anknüpfungspunkte skizziert, die in den psychoanalytischphilosophischen Diskussionen und denen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung bestehen.
6.1 E INE PSYCHOANALYTISCHE B ILDUNGSPROZESSTHEORIE EMPIRISCH N ÄHER ZU UNTERSUCHENDE F RAGEN
ERPROBEN :
Der Arbeitstitel und die daran anschließende Fragestellung implizieren, dass eine psychoanalytische Bildungsprozesstheorie einer empirisch gehaltvollen Erprobung grundsätzlich zugänglich ist. Diese behauptete Zugänglichkeit verlangt nach methodologischen und methodischen Antworten auf die Frage, was die Lacan’sche Theorie zu Angst und Begehren (und Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden) für die Erforschung von Bildungsprozessen bedeutet. Von einer problemlosen oder bruchlosen Kompatibilität von Empirie, Bildungstheorie und Psychoanalyse kann jedenfalls nicht ausgegangen werden. Die Verknüpfung von Empirie, Bildungstheorie und Psychoanalyse wirft vielmehr eine Fülle von Fragen auf, die sich nicht beiläufig beantworten lassen, sondern eher eine Art
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Minenfeld eröffnen. So lässt sich bereits auf den ersten Blick zweierlei einwenden: Erstens, dass, wie in Kapitel 3 thematisiert, bereits das Verhältnis zwischen Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung als gespannt zu charakterisieren ist. Allerdings ließe sich auf diesen Einwand entgegen, dass mit dem Ansatz der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung ein Zugang vorliegt, der sich zwar nicht nur, wohl aber auch als Antwort auf eben dieses Spannungsverhältnis inzwischen durchaus etabliert hat (vgl. z.B. Fuchs 2011: 11-28). Zumindest verspricht dieser Zugang Vorschläge zum produktiven Umgang mit dieser Spannung. Der zweite Einwand erscheint mir gewichtiger: Denn es stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise psychoanalytische Theoriefiguren einer empirisch gehaltvollen Erprobung zugänglich sind und sein können, bzw. was unter Empirie dann zu verstehen wäre. Was heißt das konkreter? Es ist aus der Binnenperspektive sowohl der Freud’schen als auch der Lacan’schen Psychoanalyse kaum zu bestreiten, dass sich ihre Einsichten und Erkenntnisse zwar nicht nur, wohl aber auch und keineswegs zuletzt empirischer Forschung verdanken. Zwar schreibt Freud sehr viel häufiger von Erfahrung als von Empirie, allerdings verwendet er diesen Begriff, wenn er ihn denn verwendet, an prominenter Stelle, so z.B. in seiner Traumdeutung. Darin weist er darauf hin: „Wir haben früher empirisch gefunden daß die bestehenden inkorrekten Vorgänge sich nur mit Gedanken abspielen, die in der Verdrängung stehen.“ (Freud [1900] 1976: 574) Auch Lacan hatte sich bereits seit seiner Dissertation, in der es unter anderem um die Motive für ein paranoisches Verbrechen anhand des Verbrechens der Schwestern Papin ging, mit Fallgeschichten auseinandergesetzt (vgl. Lacan [1932] 1975). Das heißt zumindest aus der Binnenperspektive der Psychoanalyse, dass sie empirisch arbeitet. Auch aus manchen Außenperspektiven, wie z.B. der von Waldenfels, werden bereits die disziplinhistorischen Anfänge der Freud’schen Psychoanalyse als etwas beschrieben, das seinen Ausgang von Phänomenen nahm, die „den normalen Gang der Erfahrung unterbrechen, […].“ (Waldenfels BldE 2002: 287) Hier steht die Erfahrung (Empirie) sogar am Beginn der Entstehung der Psychoanalyse als einer gänzlich neuen Disziplin. Dass die Unterbrechung des normalen Gangs der Erfahrung selbst als ein Widerfahrnis zu denken ist, um Waldenfels’ Formulierung aufzugreifen, dürfte nach dieser Arbeit deutlich geworden sein. Aus dieser Perspektive scheint die Psychoanalyse eine erfahrungswissenschaftlich fundierte Theorie, Praxis und Methode darzustellen. Freud war in der Begegnung mit hysterischen Phänomenen etwas widerfahren, das sich mit den wissenschaftlichen Theorien, Methodologien und Methoden, die ihm als naturwissenschaftlich sozialisiertem Mediziner seiner Zeit vertraut waren, nicht fassen ließ. Wie aber verstand Freud jene Disziplin, die
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dann als Psychoanalyse Konturen annahm und immer noch auf dem Weg ihrer Konturierung ist? „Psychoanalyse ist der Name 1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.“ (Freud [1923] 1955: 211)
Es lässt sich ergänzen, dass auch die seelischen Vorgänge selbst auf das Verfahren der Psychoanalyse einwirken und das sowohl auf Seiten des Analytikers wie des Analysanten. Konzentriert man sich auf die wissenschaftstheoretische Anlage der Psychoanalyse, die in diesem Zitat anklingt, dann fällt auf, dass sie mit den Hinweisen auf das Verfahren zur Untersuchung seelischer Vorgänge, die Behandlungsmethode und die auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die zu einer wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen, eine Trias aus Empirie (Verfahren; Erfahrung der seelischen Vorgänge, Methode der Untersuchung), Praxis (Methode und Geschehen der analytischen Kur) und Theorie (methodisch gewonnene Einsichten) enthält. Diese Trias scheint grundsätzlich ein potenziell ähnliches, nämlich dynamisches und wechselseitiges Spannungsverhältnis zu enthalten, wie es in Kokemohrs Position anklingt, der als einer der maßgeblichen Vorbereiter und Vertreter der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung dargestellt wurde (vgl. Kapitel 3) und dessen wissenschaftstheoretische Haltung folgendermaßen zusammengefasst wird: „Theorie, Empirie und Praxis bilden für ihn eine dynamische Triade, die keine festen Hierarchien kennt. Stattdessen gelte es alles gegeneinander so stark wie möglich zu machen.“ (Koller/Marotzki/Sanders 2007: 8, Einleitung)
Das heißt in Übereinstimmung mit Grundpositionen qualitativer Sozialforschung, dass eine empirisch gehaltvolle Erprobung nicht bzw. nicht nur die Funktion hat, theoretische Figuren zu illustrieren oder theoretisch abgeleitete Hypothesen im Sinne einer Verifikation zu prüfen. Qualitative Sozialforschung geht in ihrem Anspruch z.B. insofern darüber hinaus, dass sie qua empirischer Forschung Neues, bislang Unbekanntes, z.B. in Form neuer oder neuartiger Hypothesen zu entdecken sucht. Für Kokemohr gelte es, Empirie gegen Theorie und gegen Praxis stark zu machen, das heißt allen Elementen der dynamischen Triade im Rahmen der Forschungspraxis einzuräumen, Einspruch gegen je und je gewonnene Einsichten zu erheben. Dass beispielsweise die Praxis keinen
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unmittelbaren Einspruch erheben kann, sondern Praxis allererst zum Einspruch gemacht werden muss, verweist auf notwendige institutionelle Rahmungen und ein Bewusstsein davon, dass Theorie keine rezeptartigen Handlungsanleitungen für das praktische Handeln bietet. Insofern ist unter Einspruch nicht die Falsifikation von Hypothesen zu verstehen, sondern ein produktiver Einwand, der das wechselseitige Spannungsverhältnis zwischen Theorie, Empirie und Praxis, also alle Elemente dieser dynamischen Triade, in Bewegung hält und bringt. Kokemohrs Grundgedanke entspringt einem komplexen gedanklichen Hintergrund, der an dieser Stelle nicht entfaltet werden kann und soll. Holzschnittartig lässt sich Kokemohrs Grundgedanke jedoch so zusammenfassen, dass weder induktive noch deduktive Schlussverfahren geeignet sind, um die interaktive Praxis pädagogischer Prozesse bruchlos zu erforschen. Vielmehr gilt es, die Brüche zwischen Empirie, Theorie und Praxis als solche zu bemerken und anzuerkennen. Das Erstellen einer Regel qua Subsumtion des Besonderem unter ein Allgemeines (Deduktion) und das Erstellen einer Hypothese qua Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine (Induktion) wären Verfahren, denen sich dasjenige, was sich laut Kokemohr in Bildungsprozessen vollzieht, sperrt. Anders gesagt: Theorie (allgemeine Regel) und Empirie (im Sinne der Deduktion und Induktion) stehen nicht in einem wechselseitigen Passungsverhältnis, das die pädagogische Praxis bruchlos zu erklären, zu verstehen oder gar anzuleiten vermöchte. Eine wissenschaftstheoretische Position zum Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis, die Kokemohr mit Blick auf die Untersuchung von Bildungsprozessen für aussichtsreich hält, weil sie Erkenntnis erweiternde Potenziale enthalte, ist von Charles Sanders Peirce’ Überlegungen zur Abduktion als drittem Schlussverfahren angeregt. Dieses Verfahren setzt auf die Grundfähigkeit, vielleicht lässt sich auch formulieren, die Grund-Notwendigkeit des Menschen zur Kreativität. Induktion sei dagegen durch Erfahrung bestimmt und nur Deduktion sei streng logisch organisiert. Aus einer allgemeinen, kulturwissenschaftlichen Perspektive kann die Abduktion als erster Schritt aller Prozesse der Zeichendeutung gelten, die eine Kopplung von Beobachtung und Theorie vornehmen. Die Vermutung, dass eine durch Peirce angeregte, wissenschaftstheoretische Position die Frage zum Verhältnis von Empirie, bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung und Psychoanalyse bereichern könnte, wäre genauer zu prüfen und auszuarbeiten. Es wird im Folgenden also lediglich eine mögliche Spur gelegt: Denn auch Freud ließ sich im Verlauf seiner Entwicklung der Psychoanalyse von einem Verfahren anregen, das seiner Auffassung nach mit der Technik der Psychoanalyse verwandt ist, und vom Grundgedanken der Abduktion nicht allzu weit entfernt zu sein scheint.
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So kommentiert Freud seine eigene und die Vorgehensweise des italienischen Arztes und Kunsthistorikers Giovanni Morelli folgendermaßen: „Auch diese ist gewöhnt, aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem ,refuse‘ – der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten.“ (Freud [1914] 1986a: 207, Herv. i.O.)
Dieser Abhub stammt aus einer versuchten Homogenisierung von Beobachtung und Theorie, die fehlschlug, weil ein wechselseitiges Ineinander-Aufgehen, ähnlich wie in Kokemohrs Auffassung von Bildungsprozessen, nicht möglich wurde und eine homogene Masse wie beim hysterischen Symptom Widerstand (‚refuse‘) leistete. Kurz: Das hysterische Phänomen widersetzte sich den Schlussverfahren Deduktion und Induktion. Das psychoanalytische Verfahren oder die psychoanalytische Methode zeichnet sich in diesem spezifischen Fall (der Analyse des Kunstwerks Moses von Michelangelo) dadurch aus, dass sie von Resten (dem Abhub) der Beobachtung ausgeht, die üblicherweise geringgeschätzt werden und der gewohnten Beobachtung entgehen, weil sie als ‚refuse‘, als im Wege stehender und nicht benötigter Beobachtungs-Müll aussortiert werden. Eben solchen, nicht beachteten oder geringgeschätzten Beobachtungen sei nun in besonderer Weise Aufmerksamkeit zu schenken, um Geheimes und Verborgenes zu erraten. Dieses Erraten ist weder Ergebnis eines induktiven noch eines deduktiven Schlussverfahrens, noch irgendeiner mystischen oder mysteriösen Praxis. So werden, wie z.B. der Kulturwissenschaftler Ginzburg bemerkt (vgl. Ginzburg 1985, 125-179), Symptome bei Freud nicht mehr im Rahmen eines Indizienparadigmas gefunden, sondern durch abduktive Operationen theoriegeleiteten Ratens hergestellt. Das Erraten im psychoanalytischen Verständnis lässt sich daher auch als ein Versuch der Erfindung oder Herstellung von Konjekturen beschreiben, welche die prinzipiellen Leerstellen ergänzen und Textfehler korrigieren bzw. bedeuten sollen. In ähnlicher Weise hat Lacan die Psychoanalyse zu verschiedenen Zeitpunkten seines Arbeitslebens und immer wieder in Abgrenzung von den so genannten exakten Wissenschaften und den Humanwissenschaften (sciences humaines) im Kern als konjekturale ‚Wissenschaft‘ charakterisiert (Lacan [1953] 1986: 126 ff.; Lacan [1956a] 1966: 435). Es stellt sich jedoch insgesamt und in jedem Fall das Problem, dass die Gütekriterien psychoanalytischer Forschung nicht eins zu eins mit gängigen Gütekriterien qualitativer Sozialforschung wie beispielsweise Validität, Reliabilität und Objektivität übereinstimmen. Es geht anders formuliert darum, dass Empirie in der Psychoanalyse etwas anderes bedeutet als im geläufigen
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Verständnis qualitativer Sozialforschung. Die Andeutungen zum Wahn enthalten ebenso wie das obige Zitat ein darüber hinausgehendes Problem, das die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung betrifft, insofern sie sich als erziehungswissenschaftlich begreift. Vereinfacht formuliert: Wenn eine Bildungstheorie beansprucht sowohl psychoanalytisch als auch wissenschaftlich sein zu wollen und wenn die Psychoanalyse im Lacan’schen Sinne als Wissenschaft hervorbringende nicht ohne den Wahn zu denken ist, dann käme auch eine psychoanalytische Bildungstheorie, die sich als erziehungswissenschaftlich begreift, nicht ohne wahnhafte Elemente aus. Sie wäre zumindest gezwungen, sich mit dem Verhältnis von Theorie und Wahn auseinanderzusetzen (vgl. zum Verhältnis von Bildung und Wahn Wimmer 2007: 83-112). Lacans Psychoanalyse bildungstheoretisch ernst zu nehmen hieße dann möglicherweise anzuerkennen, dass keine Theorie ohne wahnhafte Elemente auskommt und dass es Erkenntnis bereits im Phantasma gibt (vgl. Kap.5). Eine verfolgenswerte, zu prüfende und auszuarbeitende Spur wäre vor diesem Hintergrund, das Verhältnis von Wahn und Wissen anhand des Begriffs Phantasma näher zu untersuchen und in seiner Bedeutung für die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung vor allem aus methodologischer und methodischer Perspektive zu reflektieren und fruchtbar zu machen. In diesen ersten, ausblickhaften Bemerkungen klingt bereits an, dass sich die Psychoanalyse der normalwissenschaftlichen Disziplinierung widersetzt. Das hat unter anderem mit ihren Gegenständen, mit dem Unbewussten und dem seelischen Apparat zu tun: „Alle Wissenschaften ruhen auf Beobachtungen und Erfahrungen, die unser psychischer Apparat vermittelt. Da aber unsere Wissenschaft diesen Apparat selbst zum Objekt hat, findet hier die Analogie ein Ende.“ (Freud [1938] 1955: 81)
Ich vermute, dass die Psychoanalyse ihre produktive Kraft und ihre Anstößigkeit gerade aus den Grenzen dieser Analogie bezieht. Auch wenn die Anfänge und Weiterentwicklungen der Psychoanalyse auf Widerfahrnissen basieren, lässt sich der Empiriebegriff der Psychoanalyse nicht bruchlos den gängigen Standards quantitativer oder qualitativer Sozialforschung unterwerfen und in diese Standards1 übersetzen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn man davon ausgeht, dass die psychoanalytische Kur (nicht nur) für Freud den wichtigsten
1
Der Begriff ‚Standard‘ enthält mit seinem militärischen Erbe Konnotationen, dem sich das, worum es in der Psychoanalyse geht, fundamental sperrt. Keine Psychoanalyse gleicht der anderen. Das, was da geschieht, lässt sich nicht standardisieren. Es geht immer auch um die Singularität des Geschehens.
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Erfahrungsraum und die wichtigste Erkenntnisquelle darstellt, dann ist zu bedenken, dass das psychoanalytische Setting keinen Dritten verträgt. Etwas Drittes (oder mit Lacans Begriff formuliert: der große Andere; vgl. Kapitel 5) ist zwar stets im Spiel, aber die psychoanalytische Kur verträgt weder eine dritte, anwesende und zuhörende Person noch irgendwelche Aufzeichnungsgeräte oder stenographische Wortmitschriften während der psychoanalytischen Sitzung.2 Irgendein drittes, technisches Medium wäre aber die Voraussetzung zur Erfüllung des gängigen Gütekriteriums qualitativer Sozialforschung nach intersubjektiver Nachprüfbarkeit (vgl. z.B.: Steinke 2005: 324-326) und solch ein Drittes gefährdet gerade die Entstehung jener Produktionen des Unbewussten, um die es in der Psychoanalyse geht. Das hieße, dass die Psychoanalyse und die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung, sofern letztere sich dem Gütekriterium intersubjektiver Nachvollziehbarkeit verpflichtet sieht, zumindest in diesem Punkt in einem Spannungsverhältnis zu stehen scheinen. Eine der verfolgenswerten Spuren zur Bearbeitung dieses Spannungsverhältnisses, dieses möglichen Widerspruchs, wäre ein Konzept von Zeugenschaft, in dem es z.B. darum ginge, den Forschenden als bezeugenden und erzeugenden Zeugen für das ‚so ist es gewesen‘, ‚so habe ich es erfahren‘ oder ‚so erinnere ich es‘ eines Wortes, einer Interaktion, einer Fehlleistung oder welchen Phänomens auch immer aufzurufen, zuzulassen und als Forschungsdatum ernst zu nehmen (vgl. z.B.: Devereux [1967] 1992). Etwas strukturell oder prinzipiell anderes, das wäre die Arbeitshypothese, leistet trotz aller zu berücksichtigenden Unterschiede im Einzelnen weder eine Videographie noch eine Transkription, noch eine exakte experimentelle Anordnung. Und das schon allein deshalb, weil alle diese technischen Apparaturen von jemandem an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit mit einem bestimmten Ziel eingesetzt und arrangiert werden und werden müssen und weil allein dieser Einsatz und dieses Arrangement das ‚gemessene‘ und zu ‚messende‘ Material beeinflusst. Zugespitzt formuliert: Der Prozess der Messung eines Datums stellt das Datum in seiner Eigenart allererst her. Dieser Grundgedanke lässt sich m.a.W. auch mit Überlegungen aus der Quantenphysik verbinden, wie sie in der Heisenbergschen Unschärfe- oder Unbestimmtheitsrelation zum Ausdruck kommen. Diese besagt grob vereinfacht, dass jedes Messinstrument Einfluss auf das Messergebnis nimmt. Diese Unschärfe ist nicht Folge technisch behebbarer Unzulänglichkeiten eines Messinstruments, sondern prinzipieller Natur. Selbstverständlich wären die Unschärfen,
2
Eine Ausnahme könnten die so genannten Gruppenanalysen darstellen, wie sie beispielsweise von Bion (vgl. Bion [1961] 2001) entwickelt und praktiziert wurden. Aber selbst dort stellen sich dann z.B. forschungsethische Fragen.
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die durch den Forschenden entstehen, der als Zeuge, als zeugender Be- und Erzeuger seines empirischen Materials auftritt, andere und deshalb in der Interpretation oder Deutung der ‚Daten‘ auch in anderer Weise zu berücksichtigen als jene, die durch eine Videokamera oder ein Aufnahmegerät entstehen. Zusammengefasst stellt sich die Frage, wie die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung und die Psychoanalyse miteinander vermittelt werden können, sodass sich die These erproben lässt, dass Fremdes, Angst und Begehren eine Herausforderung für Bildungsprozesse darstellen. Mit anderen Worten: Es geht darum Antworten auf die Frage zu suchen, was aus Lacans theoretischen Überlegungen zu Angst und Begehren, respektive Waldenfels’ Überlegungen zum Fremden für die Erforschung von Bildungsprozessen im Rahmen der herausgestellten Fragestellung folgt und wie eine solche Erforschung vorgehen könnte und müsste. Die auszuarbeitenden methodologischen und methodischen Antworten betreffen nicht nur konkrete Probleme wie die Entscheidung für Datensorten, Datenerhebungs- und Auswertungsmethoden, sondern gehen darüber hinaus (vgl. Flick/Kardorff/Steinke 2005: 250). Als hilfreich könnte sich, wie angedeutet, zunächst die Ausarbeitung einer übergeordneten Ebene herausstellen, in der das Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis aus geeigneten Perspektiven der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung (z.B. Kokemohr, Koller, Marotzki) und der Psychoanalyse (z.B. Freud und Lacan) miteinander konfrontiert und wissenschaftstheoretisch reflektiert wird. In diesem Zusammenhang wären auch vorhandene Ansätze zur psychoanalytischen Textinterpretation als sozialwissenschaftlichem Verfahren (vgl. z.B. Leithäuser/Volmerg 1979) und psychoanalytisch angeregte Literaturinterpretationen zu berücksichtigen.
6.2 F RAGEN
ZUM V ERHÄLTNIS DES G ESCHEHENS IN DER ANALYTISCHEN K UR UND IN P ROZESSEN DER
B ILDUNG Eine zum Ende des letzten Kapitels formulierte Vermutung lautete, dass neuartige Welt-Selbstentwürfe durch das Geschehen in der psychoanalytischen Kur entstehen können oder deren Entstehung zumindest begünstigt werden kann (vgl. Kapitel 5.9.3). Diese Vermutung wirft die Frage auf, wie sich das Geschehen in transformatorischen Bildungsprozessen zum Geschehen in der analytischen Kur verhält. Sie ist daher näher zu untersuchen. In diesem Zusammenhang sind eine Reihe von Fragen zur Datenerhebungsmethode, zu Datensorten, zur Auswertungsmethode und zur Ergebnisdarstellung zu beantworten.
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Es geht z.B. um die Frage, wie die Psychoanalyse und wie die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung jeweils an empirisches Material gelangen. Hierbei sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und zu reflektieren. Konkreter formuliert: Worin besteht beispielsweise der Unterschied zwischen der Aufforderung des Analysanten zur freien Assoziation, also dazu, alles zu erzählen, was ihm einfällt, und der Stegreiferzählung eines Interviewpartners im Rahmen eines narrativen Interviews, die auf eine erzählgenerierende Aufforderung zur Erzählung der eigenen Lebensgeschichte erfolgt? Und worin bestehen Gemeinsamkeiten? Es geht dann um die Frage: Worin unterscheidet sich das psychoanalytische Forschungssetting ‚psychoanalytische Kur‘ vom sozialwissenschaftlichen Forschungssetting ‚narratives Interview‘ und worin nicht? Es stellt sich die Frage, welche Art von Material in beiden Zugängen entsteht und inwiefern sich das Material durch die Unterschiedlichkeit seiner jeweiligen Entstehungsbedingungen unterscheidet. Konkreter formuliert: Sowohl Freud als auch Lacan beschäftigten sich mit Narrationen, mit Fällen oder Fallgeschichten und auch bildungstheoretisch orientierte Biographieforscher untersuchen Narrationen, die sich ebenso als Fall oder Fallgeschichte beschreiben lassen. Allerdings stellt sich die Frage, ob lebensgeschichtliche Interviews und Fallgeschichten im Sinne der Psychoanalyse das Gleiche meinen bzw. worin sie sich unterscheiden. Freud hatte in seinen frühen Studien über Hysterie folgenden, berühmt gewordenen Absatz geschrieben, den er seinem Text im Übrigen nachträglich hinzugefügt3 hatte: „Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich ist als meine Vorliebe; […].“ (Freud/Breuer [1893] 1955: 227)
Es fällt nicht nur auf, dass es für Freud seltsam (eigentümlich) zu sein scheint, dass die Krankengeschichten einen novellenartigen, literarischen Charakter haben, sondern auch, dass Freud seine eigene Beteiligung an der Entstehung dieser Geschichten, die er schreibe, offenlegt.
3
Ich danke Marianne Schuller für diesen Hinweis und die Überlegungen zur Novelle als Narrativ, die meine folgenden Überlegungen angeregt haben.
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Der Tradition der medizinisch-psychiatrischen Gutachten gemäß wäre zu erwarten, dass ein Fall möglichst sachlich, neutral und diagnostisch korrekt zu beschreiben ist, ohne literarisches Beiwerk, sodass anhand der objektiven Sachlage begründet darüber geurteilt werden kann, worum es sich beim je vorliegenden Fall handelt. Mit dem hier erwähnten ‚Ich‘, das die Krankengeschichten schreibe, bringt Freud sich selbst in seiner Eigenschaft als Autor jener Fallgeschichten in den Blick, die wie Novellen zu lesen seien. Allerdings hänge das mit der Natur des Gegenstandes zusammen und nicht mit Freuds Vorliebe. Aber sind nicht die Kranken selbst zumindest auch die Autoren der Fallgeschichten? Denn hier werden ja ihre Erzählungen aufgeschrieben, dasjenige, was Freud im Rahmen der analytischen Kur zu Ohren gekommen war, woran er sich jeden Abend nach der täglichen Analyse vieler Patienten erinnerte. Es ging in diesen Analysen um unerhörte Begebenheiten, deren Darstellung offenbar eine Form jenseits der geläufigen Methoden der Wissenschaft verlangte. Die wie Novellen zu lesenden Krankengeschichten geraten als das Ergebnis eines Geschehens zwischen möglicherweise mehreren Autoren in den Blick. Damit wird die Frage der Autorschaft der Fallgeschichten thematisch, die vielleicht damit zusammenhängt, dass Freud in einer Übertragungsbeziehung Unerhörtes zu Gehör kam, das in Form von novellenartigen Texten einen Ausdruck fand. Vielleicht berührt auch diese Frage der Autorschaft den Freud des Textes, ihn, der bei den naturwissenschaftlichen Methoden und Techniken seiner Zeit erzogen worden war und nun bemerkt, dass seine Fallgeschichten des „ernsten Gepräges“ (ebd.) der Wissenschaft entbehren. Trost, womöglich als Konsequenz einer vorgängigen Trauerarbeit, findet der Freud des Textes in der Einsicht, dass dafür nicht seine persönliche Vorliebe (für die Literatur, für Goethe etc.), sondern eher die Natur seines Gegenstandes verantwortlich ist. In diesen wenigen Bemerkungen klingt an, dass die eindeutige Zuordnung eines Daten aufnehmenden Forschersubjekts auf der einen und eines Daten liefernden Forschungsobjekts auf der anderen Seite mit der Freud’schen Psychoanalyse als Problem thematisch wird. Dieses Problem wird nun im Rahmen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung keineswegs rundweg übersehen. Auch im Rahmen qualitativer Sozialforschung wird der Einfluss, den der Forscher z.B. über seine Anwesenheit in der Interaktionssituation Interview und bei der Erstellung der Transkription ausübt, gesehen und reflektiert. Allerdings sind jene Prozesse, die offenbar mit Übertragungen verbunden sind, vielleicht am konsequentesten von der psychoanalytischen Theorie bedacht worden, in der Phänomene der Übertragung im theoretischen, methodischen und praktischen Zentrum stehen. Was daraus für die Untersuchung von Bildungsprozessen folgt, ist genauer auszuarbeiten.
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In Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Geschehen in transformatorischen Bildungsprozessen und dem Geschehen in der analytischen Kur erscheint mir zudem die Frage wichtig, was Interpretieren und Deuten je und je heißt. Eine Deutung zwischen Analytiker und Analysant im Rahmen des psychoanalytischen Settings wäre in Bezug auf die Frage zu diskutieren, worin es sich vom Interpretieren von Bildungsprozessen im Rahmen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung unterscheidet und worin nicht. Um nur eine Andeutung zu machen: Die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen einer psychoanalytischen Deutung, wie sie beispielsweise von Lacan konzipiert wird, einer Interpretation im hermeneutischen Verständnis eines Ricœur oder Gadamer und einer Lektüre, wie sie beispielsweise Derrida durchführt, macht auf die Tragweite des Fragefeldes aufmerksam, das hier angespielt wird. Lacan hat zu seiner Auffassung einer Deutung (frz. interpretation) an verschiedenen Stellen seines Werks Position bezogen. Besonders aufschlussreich für eine genauere Beschreibung seiner Position könnte der Aufsatz Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht (Lacan [1958]) sowie das Seminar XI (Lacan [1964] 1996: 257-276) sein, in denen der Übergang von der Frage nach der Deutung zur Übertragung im Zentrum steht. So geht es Lacan insgesamt nicht mehr, wie noch im klassisch psychoanalytischen Verständnis der Deutung darum, die verborgene Bedeutung eines Traum, eines Symptoms, einer Fehlleistung oder einer Assoziation aufzudecken. Stattdessen ziele eine Deutung darauf ab, bestehende Bedeutungen zu verstören, zu irritieren, qua Deutung das Verhältnis von Signifikant und Signifikat auf der Ebene des Signifikats zu bearbeiten, um einen Kern von „non-sense“ (Lacan [1964] 1996: 263) zu isolieren, einen Kern von Nicht-Sinn, der neue Signifikanten hervortreten lasse. Diese Auffassung heiße nicht, dass die Deutung selbst Un-Sinn sei, denn Lacan geht davon aus, dass Deutungen keineswegs für jeden Sinn offen seien (vgl. ebd.). Auch Ricœurs Freud-Arbeit Die Interpretation. Ein Versuch über Freud (Ricœur [1965] 2004) enthält hilfreiche Spuren für die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Deuten und Interpretieren. Ebenso kommt Derridas Der ununterbrochene Dialog, seine Auseinandersetzung mit Gadamers Hermeneutik im Hinblick auf die Frage in Betracht, was eine Interpretation von einer Lektüre unterscheidet und worin sich Derridas Zugang von der hermeneutischen Interpretationstradition und der psychoanalytischen Deutung unterscheidet und worin nicht. Aus der Perspektive der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung erscheinen mir darüber hinaus vor allem einige frühere Arbeiten von Koller (Koller 1990a: 26-83; Koller 1990b: 177-196) zur Verknüpfung der Lacan’schen Sprachtheorie mit den rhetorischen Figuren Metapher und
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Metonymie aufschlussreich, um sie mit den Lacan’schen Theoriefiguren Angst und Begehren zu konfrontieren und die Frage nach möglichen Untersuchungsgegenständen innerhalb empirischer Materialien ggf. daran anzuschließen. Auch Kokemohrs Arbeiten zum Verhältnis von Interpretation, Lektüre und Interkulturalität enthalten Beiträge zur Weiterführung dieser Diskussion, wie beispielsweise seine stark linguistisch akzentuierten Überlegungen zur Inferenzanalyse (Kokemohr 2001; Kokemohr 2010; Kokemohr 2014). Zusammengefasst heißt das, dass sich im Anschluss an die vorliegende Arbeit die Frage stellt, ob und inwiefern sich die Psychoanalyse und die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung methodologisch und methodisch so vermitteln lassen, dass die These empirisch gehaltvoll erprobt werden kann, dass das pathische bzw. affektive Moment von Bildung im Sinne des Fremdem, der Angst und des Begehrens eine Herausforderung für Bildungsprozesse darstellt.
6.3 E IN AKTUELLER A NKNÜPFUNGSPUNKT ZUM V ERHÄLTNIS VON BILDUNGSTHEORETISCH ORIENTIERTER B IOGRAPHIEFORSCHUNG UND P SYCHOANALYSE Greift man Waldenfels’ metaphorische Warnung auf, dass die Tür für den sporadischen und anonymen Gast Psychoanalyse in seinen Texten stets angelehnt gewesen sei, dass, sie weit zu öffnen aber hieße, eine Flut von Fragen zu öffnen, die sich nicht beiläufig behandeln ließen, lässt sich aus der Perspektive der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung bemerken: Die Tür zur Psychoanalyse ist in den letzten Jahren zumindest wieder einen Spalt weiter geöffnet worden. Es wurden Auseinandersetzungen wieder aufgenommen, die dazu führten, dass Prozesse der Wiederaufnahme brach liegender Bezüge zwischen Psychoanalyse und Bildungstheorie angestoßen werden konnten (vgl. dazu Koller 1990a; Koller 1990b; Koller 2012; Kokemohr 2007, Pazzini 2007b; 2013). Auch aus der Perspektive der Qualitativen Sozialforschung liegt inzwischen zumindest eine Einführung vor, die über die Trias „forschen – entdecken – erzählen“ (Hofstadler 2012) einen Vorschlag zur Anwendung der Psychoanalyse für die Qualitative Sozialforschung formuliert, in dem die gegenwärtig wichtigsten Strömungen (Freud, Klein, Lacan) berücksichtigt werden. In der jüngeren Vergangenheit haben sich Mitglieder aus den DGfE-Kommissionen ‚Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung‘ und ‚Psychoanalytische Pädagogik‘
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„auf einen Prozess der Neubesinnung über gemeinsame Forschungsgegenstände und somit auch über das Verhältnis von Psychoanalyse und Biographieforschung eingelassen. Während nämlich in den 1970er Jahren der Psychoanalyse innerhalb der Geschichte der qualitativen Sozialforschung durchaus noch die Bedeutung einer Leitdisziplin zuerkannt wurde […] hat sie diesen Rang in den letzten Jahrzehnten eingebüßt.“ (Dörr/von Felden/Marotzki 2008: 8, Editorial)
Von der in diesem Zitat angesprochenen DGfE-Tagung zum Thema: Erinnerungsarbeit – zum Verhältnis von Psychoanalyse und Biographieforschung aus dem Jahr 2005 heißt es, dass sie eine positive Erfahrung gewesen sei, sodass Folgearbeiten dazu geführt hätten, dass im Jahr 2008 in der Zeitschrift für qualitative Forschung folgender Schwerpunkt gewählt worden sei: „Zugänge zu Erinnerungen. Psychoanalytisch-pädagogische und biographietheoretische Perspektiven und ihre theoretischen Rückbindungen“ (a.a.O.: 5). Dieser Band enthält eine Sammlung von Aufsätzen, deren Besonderheit darin besteht, dass sich alle Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven auf das gleiche empirische Dokument, nämlich ein narratives Interview beziehen. Bereits bei der oberflächlichen Durchsicht der einzelnen Beiträge fällt auf, dass sich die Mehrzahl der Autoren in ihren psychoanalytischen Bezugnahmen, wenn auch in je unterschiedlicher Akzentuierung, auf Alfred Lorenzers Arbeiten stützen. Das leuchtet bei dem Vorhaben einer Wiederaufnahme bestehender Bezüge auch ein, hatte Lorenzer doch mit seiner interdisziplinären Tiefenhermeneutik methodologische und methodische Grundlagen geschaffen, an die die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung anschließen konnte. Ebenso fällt auf, dass Autorennamen von Psychoanalytikern wie Sigmund Freud oder Melanie Klein in den Literaturverzeichnissen eher die Ausnahme darstellen und dass der Autorenname Jacques Lacan in den Literaturverzeichnissen kein einziges Mal explizit auftaucht. Zwar wird Lacan im Editorial genannt und es wird darauf hingewiesen, dass Jochen Schmerfelds Beitrag sich auf Lacan beziehe, denn „[a]ls Referenztheorie dienen ihm Überlegungen von J. Lacan zum Verhältnis von Prozess und Ergebnis bei der Konstitution von Subjektivität“ (a.a.O.: 11). Weder in Schmerfelds Text noch in seinem Literaturverzeichnis taucht Lacan dann jedoch explizit auf (vgl. a.a.O.: Schmerfeld 2008: 99-108). So eröffnet denn auch der erste, von Theodor Schulze verfasste Aufsatz mit einem Zitat von Alfred Lorenzer: „Die Beschäftigung mit autobiographischen Texten erscheint prima vista der ideale Drehpunkt für die Verbindung erziehungswissenschaftlicher und psychoanalytischer Erfahrungen zu sein: selbstdargestellte Lebensgeschichten als Niederschrift der
258 | B ILDUNG – A NGST – B EGEHREN Persönlichkeitsentwicklung, beide Male wissenschaftlich befragt auf ihre exemplarische Bedeutung als Typus menschlicher Bildungsverläufe.“ (Zitiert nach Schulze 2008 a.a.O.: 16)
Die Neubesinnung auf eine Verbindung psychoanalytischer und erziehungswissenschaftlicher Erfahrung qua Beschäftigung mit autobiographischem Material wird hier als grundsätzlich aussichtsreich eingestuft. Der disziplinhistorische Anknüpfungspunkt wird hierbei vor allem mit dem Namen Alfred Lorenzer markiert, der 1979 mit diesen Worten einen Aufsatz begonnen habe, um darin sogleich zur Vorsicht zu mahnen und hervorzuheben, dass unter Typus, also typischer Bedeutung jeweils etwas ganz „Unterschiedliches in ganz verschiedenen Erkenntnisrichtungen gemeint“ (a.a.O.: 16) sei. Schulze konstatiert ausgehend von Lorenzer, dass sich erziehungswissenschaftliche Biographieforschung und Psychoanalyse, trotz erheblicher innerdisziplinärer Fortschritte seit den späten 70er Jahren, „kaum näher gekommen“ (ebd.) seien. Der im Jahr 2005 wieder aufgenommene Versuch einer Annäherung habe vielleicht nicht mehr die Auffassung von autobiographischen Texten als idealem Drehpunkt gestärkt, wohl aber zu der Überzeugung geführt, dass „autobiographische Texte nach wie vor […] ein zentraler Bezugspunkt für die Verbindung der beiden Forschungsrichtungen sein könnten.“ (Ebd.) Sowohl die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung als auch die Psychoanalyse lassen sich aus dieser Perspektive über ihr gemeinsames Interesse an autobiographischen Texten miteinander verknüpfen. Wie diese Verknüpfung jedoch über Lorenzer hinaus und angeregt von Lacans theoretischen Überlegungen zu Angst und Begehren empirisch aussehen kann, bleibt eine zu bearbeitende Frage. So bestehen z.B. in Bezug auf den Subjektbegriff zwischen Lacan und Lorenzer, dessen Methode der Tiefenhermeneutik gleichwohl hilfreiche Anregungen versprechen mag, substanzielle Unterschiede. Diese Unterschiede gilt es genauer auszuarbeiten, methodologisch und methodisch zu reflektieren und für die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung fruchtbar zu machen.
7. Literatur
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Theorie Bilden Peter Faulstich Menschliches Lernen Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie 2013, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2425-0
Peter Faulstich Aufklärung, Wissenschaft und lebensentfaltende Bildung Geschichte und Gegenwart einer großen Hoffnung der Moderne 2011, 196 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1816-7
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Nadine Rose Migration als Bildungsherausforderung Subjektivierung und Diskriminierung im Spiegel von Migrationsbiographien
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