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German Pages [248] Year 2012
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Flammer/Freitag/Hanschmidt
Anlässlich seines 200. Todestages wurden im Rahmen einer Tagung in Münster Leben und Werk Fürstenbergs näher beleuchtet, deren Beiträge nun im vorliegenden Band erscheinen. Sie geben Einblicke in ausgewählte Handlungsfelder Fürstenbergs im Bereich der Wirtschafts-, Religions- und Bildungspolitik sowie in das kulturelle und gesellschaftliche Leben im Fürstbistum Münster im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert.
Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte
Franz von Fürstenberg
Am 16. September 1810 starb in Münster mit Franz von Fürstenberg eine der bedeutendsten Gestalten der westfälischen Geschichte. Zusammen mit Fürstin Amalia von Gallitzin war er die zentrale Figur des so genannten Kreises von Münster. Fast ein halbes Jahrhundert prägte Fürstenberg als Minister und Generalvikar die religiösen und politischen Geschicke des Fürstbistums Münster. So bemühte er sich um die Sanierung des Landeshaushalts und trug maßgeblich zur Reform der Justizverwaltung sowie des Militär- und Polizeiwesens bei. Bekannter ist Fürstenberg allerdings wegen seines Engagements für das Bildungswesen. Seit den 1770er Jahren reformierte er die Gymnasien (Schulverordnung 1776), initiierte die Gründung einer Landesuniversität in Münster (1780) und sorgte schließlich für eine Verbesserung des ländlichen Elementarschulwesens.
ISBN 978-3-402-15051-1
Westfalen in der Vormoderne
Band 11
Thomas Flammer, Werner Freitag, Alwin Hanschmidt (Hg.)
Franz von Fürstenberg Aufklärer und Reformer im Fürstbistum Münster
Flammer/Freitag/Hanschmidt Franz von Fürstenberg
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Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen Neue Folge 3
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Thomas Flammer Werner Freitag Alwin Hanschmidt (Hg.)
Franz von Fürstenberg (1729–1810) Aufklärer und Reformer im Fürstbistum Münster
Beiträge der Tagung am 16. und 17. September 2010 in Münster
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Westfalen in der Vormoderne Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte Herausgegeben von Werner Freitag, Stefan Gorißen, Thomas Schilp, Eva-Maria Seng und Siegrid Westphal Geschäftsführender Herausgeber: Werner Freitag Band 11
Gedruckt mit Unterstützung des Instituts für die Geschichte des Bistums Münster an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Abbildung auf der folgenden Seite: Porträt Franz von Fürstenbergs (Bistumsarchiv Münster, Nachlass Fürstenberg 221) © 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2, UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Druck: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Münster Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ISBN 978-3-402-15051-1
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Inhalt
Vorwort ....................................................................................................................
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Grussworte Ursula Nelles, Rektorin der Universität Münster ................................................
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Norbert Kleyboldt, bischöflicher Generalvikar des Bistums Münster ..............
13
Michael Pavlicic, erster stellvertretender Vorsitzender der Landschaftsversammlung im Landschaftsverband Westfalen-Lippe .................
15
Mechthild Black-Veldtrup, Vorsitzende des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Münster .................................................
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Beiträge Alwin Hanschmidt Für „Glückseligkeit“ und gegen „Regierungsstürmerey“. Ziele und Grundzüge der „Bildung des Volkes“ bei Franz von Fürstenberg ....
19
Werner Freitag Tridentinische Reform(en)? Zum Profil katholischer Aufklärung in den Fürstbistümern Westfalens ...........
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Wilfried Reininghaus Fürstenberg und das Kommerzienkollegium 1764–1767. Wirtschaftspolitik im Fürstbistum Münster nach dem Siebenjährigen Krieg ...
59
Bertram Haller Buchmarkt und Lesekultur in Münster zur Zeit Fürstenbergs ...........................
81
Sabine Kötting Reform aus Überzeugung. Franz von Fürstenberg und das Elementarschulwesen ....................................... 107
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Lena Krull „Es würde […] dieselbe nicht mehr das seyn, was sie ist“. Franz von Fürstenbergs Einsatz für die Große Prozession in Münster 1805 ... 127 Irmgard Niehaus „Gott gebe uns Licht und Liebe“. Die religiöse Dimension in der Freundschaft zwischen Franz von Fürstenberg und Amalia von Gallitzin ............................................... 147 Horst Conrad Friedrich Leopold zu Stolberg (1750–1819) und der katholische Adel Westfalens ............................................................................ 165 Beate Sophie Fleck und Mechthild Black-Veldtrup Spuren von Franz von Fürstenberg in Münster ................................................... 191
Anhang Thomas Flammer Franz von Fürstenberg – Tabellarische Biographie .............................................. 221 Thomas Flammer Auswahlbibliographie zu Franz von Fürstenberg ab 1961 ................................. 225
Autorenverzeichnis ................................................................................................. 233 Personenregister ...................................................................................................... 237 Register der Orte, Territorien und Regionen ........................................................ 243
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Vorwort Am 16. September 1810 starb mit Franz von Fürstenberg eine der herausragendsten Gestalten der westfälischen Geschichte. Als Minister des Fürstbistums Münster sorgte er sich um die Sanierung der Finanzen und kümmerte sich unter anderem um die Verbesserung und Modernisierung des Justiz-, Medizinal- und Militärwesens. In seiner kirchlichen Funktion als Generalvikar war ihm insbesondere die Bildung – sei es durch sein Engagement bei der Gründung der Universität oder der Reform des Schulwesens – ein Anliegen. Die Liste der Tätigkeitsfelder des von der ‚Katholischen Aufklärung‘ geprägten Fürstenberg ließe sich noch erweitern. Würde er in der heutigen Zeit leben, könnte man ihn wohl als ‚Generalisten‘ bezeichnen. Jenseits der Politik war er neben der Fürstin Amalie von Gallitzin (1749–1806) die zentrale Figur des philosophisch-religiös geprägten Freundschaftsbundes, der als ‚Kreis von Münster‘ bekannt ist. Aus Anlass seines 200. Todestages fanden auf Anregung von Alwin Hanschmidt am 16. und 17. September 2010 in Münster ein öffentlicher Festakt und ein Kolloquium zum Thema „Franz von Fürstenberg (1729–1810) – Aufklärer und Universitätsgründer“ statt. Die Beiträge der Veranstaltung, die sich zeitlich von Fürstenbergs früher Ministertätigkeit bis zu seinen letzten Jahren als Generalvikar erstrecken und inhaltlich auf die Themenfelder Wirtschaft, Bildung, Kultur und Religion beziehen, werden im vorliegenden Tagungsband einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Unser Dank gilt in diesem Zusammenhang zunächst den Kooperationspartnern des Festaktes und des Kolloquiums, der Universität, dem Bistum Münster, dem Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens (Abteilung Münster), der Historischen Kommission für Westfalen und dem Institut für die Geschichte des Bistums Münster der Westfälischen Wilhelms-Universität. Den beiden letzteren Institutionen sei zudem an dieser Stelle für die großzügigen Druckkostenzuschüsse gedankt, welche die Realisierung des Tagungsbandes ermöglichten. Unser Dank gilt gleichfalls allen Autorinnen und Autoren für die zeitnahe Ausarbeitung ihrer Vortragsmanuskripte und für die pragmatische Zusammenarbeit. Zudem möchten wir unsere Mitarbeiter hervorheben, welche die zügige Fertigstellung des Tagungsbandes ermöglichten: Irmin Broker, Anne Grüßing, Rebecca Syma und insbesondere Christian Helbich, der einsatzfreudig und mit gewohnter Zuverlässigkeit Gestaltung und Redaktion übernahm. Herzlichsten Dank! Dem Aschendorff-Verlag und seinem Mitarbeiter Dr. Burkhard Beyer gebührt ein Dankeschön für die gute Kooperation. Münster und Vechta im November 2011 Thomas Flammer
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Grußwort der Rektorin der Universität Münster Sehr geehrter Herr Kleyboldt, sehr geehrter Herr Pavlicic, sehr geehrter Herr Flammer, sehr geehrte Frau Black-Veldtrup – und damit hätte ich die Repräsentanten der Institutionen, Institute und Vereine benannt, die das Kolloquium aus Anlass des 200. Todestages von Franz von Fürstenberg ausrichten, sehr geehrte Familie von Fürstenberg, sehr geehrte Damen und Herren. Ein Bildungssystem, das „ein einziges systematisch geordnetes Ganzes ausmacht und wonach alle Teile ineinander greifen und sich wechselseitig voraussetzen“, ist nicht etwa die Forderung, meine Damen und Herren, die ich als Ergebnisse des x-ten Bildungsgipfels anführe, oder einer der zahlreichen Bildungsreformen, die momentan die politische und gesellschaftliche Diskussion bestimmen. Ich zitiere Franz Friedrich Wilhelm Freiherr von Fürstenberg, den zu ehren wir heute gemeinsam anlässlich seines 200. Todestages in einem der zentralen, nach ihm benannten Lehrgebäude der Universität zusammengekommen sind. Fürstenberg selbst hatte eine jesuitische Bildung genossen, mit der er persönlich ganz und gar nicht einverstanden war. Objektiv ist daraus indessen Gutes erwachsen, denn aus seiner Erfahrung erwuchs das Bedürfnis, als späterer Minister für das Fürstbistum Münster und als Generalvikar das Bildungswesen in Münster im Sinne der Aufklärung zu reformieren. Diese selbst gewählte Aufgabe war aber, auch in seiner Zeit, nicht mit der schlichten Anordnung von Maßnahmen zu bewältigen oder gar zu diktieren. Es gibt vielmehr – für mich erstaunliche – Parallelen zur heutigen Zeit. Man kann deshalb eher konstatieren: Fürstenberg hat der Region trotz aller Widrigkeiten ein Bildungssystem ermöglicht, ohne das wir heute nicht eine der größten Universitäten Deutschlands in unserer Stadt beherbergen würden. Und das ist der Punkt, auf den ich mich nun konzentrieren möchte, denn die – gewiss nicht weniger bedeutenden – politischen und kirchlichen Leistungen Fürstenbergs werden in der Veranstaltung noch aus weitaus berufenerem Munde gewürdigt werden. Meine Damen und Herren, was Sie nicht wissen können, aber was ich Ihnen nun verrate, ist, dass ich in meinem Dienstzimmer im Schloss Tag und Nacht einen Kollegen um mich habe: Franz von Fürstenberg, als Bronzebüste auf einem Marmorsockel. Zudem bewacht eine weiße Marmorbüste auf einem Sandsteinsockel im Schloss den Zugang zum Zimmer des Kanzlers. Warum? Nicht weil das heutige Verwaltungsgebäude der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) das fürstbischöfliche Schloss ist, sondern wegen seiner Bedeutung für die WWU. Ich will nicht sagen, dass er mir im Nacken sitzt, aber er schaut mir schon aufmerksam über die Schulter und erinnert mich daran, dass diese Universität bereits 230 Jahre überdauert hat und ein Schatz ist, den es nicht nur zu wahren, sondern dessen Glanz es auch zu mehren gilt. In gewisser Weise wacht er darüber, dass mit seinem Werke sorgsam umgegangen wird.
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Grußworte
Denn es war sein Werk, meine Damen und Herren. In den 1770er Jahren gelang es Franz von Fürstenberg und Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels, dem Erzbischof von Köln und Bischof von Münster, die Gründung einer Universität voranzutreiben. Als Startkapital nutzte Fürstenberg den Erlös aus Auflösungen zweier Klöster in Münster, dem Kloster Liebfrauen-Überwasser und dem Jesuitenkolleg. Die Folgen dieses Finanzierungsmodells beschäftigen uns rechtlich, tatsächlich und finanziell bis in die heutigen Tage, nicht wahr Herr Generalvikar? Nach der Verleihung der Privilegien für eine Landesuniversität durch Papst Clemens XIV. am 28. Mai, beziehungsweise durch Kaiser Joseph II. am 8. Oktober 1773, wurde schließlich am 16. April 1780 die Universität feierlich eröffnet. Ziel der gegründeten Einrichtung sollte „die universitäre Ausbildung begabter Einheimischer in den Fakultäten Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft und Medizin sein, um diese anschließend an die Kölner Universität zu berufen“. Erster Kanzler der Universität wurde Franz von Fürstenberg. Das Amt des ersten Rektors bekleidete Fürstbischof Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels. Die Universität fand früh Anerkennung und war sehr eng mit der Person Fürstenbergs verknüpft: Wichtig war ihm eine praxisnahe Ausbildung, die vorrangig den akademischen Nachwuchs im eigenen Landesteil dazu befähigen sollte, höhere Verwaltungstätigkeiten auszuüben, die aber auch hochrangige kirchliche Würdenträger heranbilden sollte. Meine Damen und Herren, was können wir aus den Anstrengungen, die Fürstenberg bei der Reform des Bildungswesens auf sich nahm, lernen? Damals wie heute braucht es ambitionierte Ideen. Es braucht Beharrlichkeit in der Bildungspolitik und nicht kurzatmige Wechsel um politischer Profilierung willen. Und es braucht Schultern im Anzug! Was ich damit meine? Nun – obwohl Fürstenberg sein Ministeramt nach einer verlorenen Wahl abgeben musste, hielt er an seinen Idealen und Zielen fest und schaffte es mit jahrzehntelanger Überzeugungsarbeit, sie zum Erfolg zu führen. Ich möchte deshalb mit einem wichtigen Leitsatz Fürstenbergs schließen: „Menschen bilden bleibt alle Zeit die wichtigste Staatsangelegenheit!“ Die WWU ist Fürstenberg zu Dank verpflichtet, denn er nutzte das Thema Bildung nicht für Sonntagsreden, sondern erhob es tatsächlich zu einem der wichtigsten Anliegen in Münster, bis heute. Danke, Herr Kollege! Ihr Werk ist uns anvertraut und wir werden versuchen, es in Ihrem Sinne fortzusetzen. Münster im September 2010 Ursula Nelles
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Grußwort des bischöflichen Generalvikars des Bistums Münster Hochverehrte Rektorin Nelles, sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr, Sie stellvertretend für das Bistum Münster zu diesem Festakt und zum morgigen Kolloquium zu Ehren Franz von Fürstenbergs begrüßen zu dürfen und Ihnen gleichzeitig die herzlichsten Grüße unseres Bischofs Dr. Felix Genn zu übermitteln. Auch wenn Goethe einmal sagte: „Das Tun interessiert, das Getane nicht“, ist es gut und richtig, dass wir uns in diesen Tagen an diese herausragende Persönlichkeit der Universitäts-, Stadt-, Landes- und nicht zuletzt der Bistumsgeschichte erinnern. Aufgrund seiner Herkunft zeichnete sich bei Fürstenberg schnell eine kirchliche Laufbahn ab. Bereits 1741 erhielt er mit lediglich zwölf Jahren die Tonsur, sieben Jahre später dann Domherrenpräbenden in Paderborn und Münster, bis er 1754 Vollmitglied im hiesigen Domkapitel wurde und 1757 die Subdiakonatsweihe empfing. Fürstenbergs Interesse lag dabei aber nicht primär wie bei anderen seiner Zeit in der Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz. Er wollte vielmehr sein Umfeld gestalten. In einer gesellschaftlichen Umbruchszeit lenkte er so als Generalvikar 37 Jahre von 1770 bis 1807 – mitunter gegen den Widerstand der hiesigen Archidiakone und Domkapitulare – die Geschicke der Diözese. Ein langer Zeitraum, den nach ihm kein Generalvikar mehr ausfüllen musste. Und ich hoffe mich da einschließen zu dürfen, da ich andernfalls noch 26 Jahre im Amt vor mir hätte, wenngleich ich dann natürlich wiederum die Grußworte zum 225. Todestag Fürstenbergs sprechen könnte. Als sein derzeitiger Amtsnachfolger kann ich nur staunen, in wie vielen Bereichen, ob als Mitglied des Landtags, als Minister oder in der Militär- und Außenpolitik, Fürstenberg zusätzlich tätig war. Dabei hatte er stets den Blick auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung gerichtet. Für den Bereich des Bistums möchte ich an dieser Stelle lediglich das Bildungswesen herausgreifen. Erinnert sei an seine bereits in den 1760er Jahren begonnenen Schulreformen, sei es im Gymnasial- oder noch bedeutender im Elementarschulbereich. Nicht von ungefähr gilt das Bistum Münster auch heute noch mit seinen 51 katholischen Schulen in freier Trägerschaft als das ‚Schulbistum‘ in Deutschland. Wenn wir heute des 200. Todestages Fürstenbergs gedenken, ist insbesondere auch die rund 230jährige Zusammenarbeit zwischen Bistum und Universität zu nennen. Zwar gehört es nicht mehr, wie zu Fürstenbergs Zeiten, zum Amt des Generalvikars, geeignete Personen für die Lehrstühle der Universität vorzuschlagen, was manchmal recht reizvoll wäre. Auch werden heute die Stellen sämtlicher Professuren nicht mehr wie damals aus den Einkünften des ehemaligen Überwasserklosters und den Mitteln des 1773 aufgehobenen Jesuitenordens bestritten – wobei ich an dieser Stelle betonen möchte, dass künftig mit dem Land dringend über den Fortbestand des Studienfonds zu diskutieren ist –, dennoch sind die Anknüpfungspunkte zwischen dem Bistum und der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU)
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Grußworte
nach wie vor groß. Zu nennen wären die Hochschulgemeinde, gemeinsame Projekte und Kooperationen – wie das kürzlich aus der Wiege gehobene Ausstellungsprojekt „Goldene Pracht“ –, das der WWU angegliederte und vom Bistum getragene Institut für die Geschichte des Bistums Münster oder diese gemeinsam vorbereitete Veranstaltung am heutigen Abend. Ich bin mir sicher, dass Fürstenberg die bestehende Verbundenheit zwischen Universität und Bistum begrüßen würde. Ich wünsche Ihnen und uns allen einen interessanten und anregenden Abend und morgen ein erfolgreiches Kolloquium. Vielen Dank. Münster im September 2010 Norbert Kleyboldt
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Grußwort des ersten stellvertretenden Vorsitzenden der Landschaftsversammlung im Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) Sehr geehrte Frau Rektorin Prof. Dr. Nelles, sehr geehrte Frau Dr. Black-Veldtrup, sehr geehrter Herr Generalvikar Kleyboldt, meine sehr geehrten Damen und Herren, als erster stellvertretender Vorsitzender der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe begrüße auch ich Sie im Namen des LWL herzlich zum FürstenbergKolloquium. Ein besonderer Willkommensgruß geht an die heute anwesenden Angehörigen der Familie von Fürstenberg sowie an den Weihbischof em. Herrn Friedrich Ostermann. Auch Herr Prof. Dr. Wilfried Reininghaus, der Vorsitzende der Historischen Kommission für Westfalen, sei begrüßt. Meine Damen und Herren, es ist mir eine große Freude, anlässlich der Eröffnung eines Kolloquiums über eine für Münster und Westfalen so bedeutende Persönlichkeit zu Ihnen sprechen zu dürfen. Eben haben wir bereits von der großen Bedeutung gehört, die Franz von Fürstenberg für Münster als Initiator der Universitätsgründung und als Generalvikar gehabt hat. Fürstenberg hatte aber auch über die Grenzen des Fürstbistums Münster hinaus auf die Geschichte Westfalens Einfluss. So war er nicht nur Domherr in Münster, sondern seit 1757 auch Vollmitglied des Domkapitels zu Paderborn. Als Minister des Kölner Kurfürsten für das Fürstbistum Münster erlangte Fürstenberg wichtige Bedeutung als Staatsmann. In seiner Funktion als Statthalter des Fürstbischofs versuchte er mit seiner Politik das Fürstbistum Münster, das nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges hoch verschuldet und geschwächt war, zu modernisieren und zu stärken. Als zentrales Element seines umfassenden Modernisierungsprogrammes werden in der Forschung häufig seine Reformen im Bildungswesen genannt. Sie verbesserten die Qualität der Schulbildung im Fürstbistum Münster erheblich und wirkten auch über Münster hinaus, so unter anderem in das Hochstift Paderborn und die zum Niederstift Münster gehörenden Ämter Meppen, Cloppenburg und Vechta. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte heute Abend eine Brücke schlagen von den Errungenschaften Franz von Fürstenbergs als Schulreformer zu der Arbeit des LWL. „Menschen bilden“ galt Fürstenberg als „wichtigste Staatsangelegenheit“. Den nur gering angesehenen Bauernstand wollte er emanzipieren, indem er die Qualität der Schulen und Lehrer auf dem Land verbesserte. Die Bildungschancen von Frauen und Mädchen auszubauen, war ebenso eines seiner vorrangigen Ziele. Der LWL hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung ihren Fähigkeiten entsprechend zu fördern. Etwa 6.200 von ihnen erhalten in den 35 Förderschulen, die sich in der Trägerschaft des LWL befinden,
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Grußworte
verbesserte Lernchancen. Darüber hinaus unterstützt der LWL die Integration von Schülerinnen und Schülern mit einer Behinderung in den allgemeinen Schulen. Fürstenbergs Wünsche und Ziele im Bereich der Bildung haben also auch heute noch eine Aktualität. Ich freue mich daher schon sehr auf den Festvortrag von Herrn Prof. Dr. Alwin Hanschmidt über die Bildungspolitik Franz von Fürstenbergs und wünsche der gesamten Veranstaltung einen erfolgreichen Verlauf. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Münster im September 2010 Michael Pavlicic
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Grußwort der Vorsitzenden des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Münster Sehr geehrte Frau Rektorin, sehr geehrter Herr Generalvikar, sehr geehrter Herr Vorsitzender der Landschaftsversammlung, sehr geehrte Gäste! Franz von Fürstenberg – der Schulreformer, der Universitätsinitiator, der Minister, der Generalvikar und Modernisierer – war der bedeutendste Staatsmann des Fürstbistums Münster im 18. Jahrhundert. Das ist auch für den Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Münster, ein Grund, einerseits an ihn zu erinnern und andererseits die aktuellen Forschungsergebnisse zu seiner Person einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Und das hat sogar schon Tradition: An der Ausrichtung der Gedenkfeier zu Fürstenbergs 200. Geburtstag 1929 war der Verein auch bereits beteiligt, damals in Kooperation mit dem Domkapitel und dem Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik. Lassen Sie mich an dieser Stelle auf einige Aspekte von Fürstenbergs Leben hinweisen, die über den Schulreformer, den Mann hinter der Universitätsgründung, den Politiker und den Generalvikar hinausgehen. Die Stadt Münster hat sich während seiner langen Amtszeit, zum Teil mit seinem Zutun, stark verändert. Nach dem Siebenjährigen Krieg wurden die Festungen geschleift und die Promenade entstand. Das Schloss wurde an der Stelle der Zitadelle als Residenz für den Fürstbischof gebaut, der in seiner Wahlkapitulation versprochen hatte, seiner Residenzpflicht nachzukommen. Die Friedhöfe wurden aus der Stadt hinaus verlegt. In Münsters geistigem Leben im Zeitalter der Aufklärung spielte Fürstenberg eine führende Rolle. Im ‚Kreis von Münster‘, der ‚Familia sacra‘, einem „Freundschaftsbund“, wie Alwin Hanschmidt ihn genannt hat, entstand eine besondere Form des Katholizismus, der die innige Verbundenheit mit Gott betont und Wert legt auf caritative Werke, die dieser Haltung entspringen. Fürstenberg und die Fürstin Amalie von Gallitzin bildeten den Kern dieses Kreises, der sich im Salon der Fürstin in der Grünen Gasse traf. Dazu gehörten der Schulreformer Bernard Heinrich Overberg, die Brüder Clemens August und Caspar Maximilian Droste zu Vischering, Johann Georg Hamann, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg und der Dichter und Jurist Anton Matthias Sprickmann sowie der niederländische Philosoph Frans Hemsterhuis. Der Gründung der münsterischen Freimaurerloge „Zu den drei Balken“ stand Fürstenberg anscheinend mit Wohlwollen gegenüber, ohne ihr – im Unterschied zu Sprickmann – beizutreten. Ich habe mich gefragt, ob Fürstenberg wohl Mitglied des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde Westfalens geworden wäre, hätte es den Verein zu seinen Lebzeiten schon gegeben. Er hatte keine Chance: Der Verein wurde erst 15 Jahre nach seinem Tod gegründet, auf Initiative des Oberpräsidenten Ludwig Freiherr von Vincke, des nächsten wichtigen und einflussreichen Staatsmanns nicht nur in Müns-
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ter, sondern in der neuen preußischen Provinz Westfalen. Mit den Vereinszielen hätte Fürstenberg sich vielleicht identifizieren können. Der Verein war unter anderem deshalb ins Leben gerufen worden, um die nach der Säkularisation 1803 herrenlos gewordenen sogenannten Altertümer, also neudeutsch die ‚3D-Objekte‘, aber auch Bücher und Archivalien aus den aufgelösten 21 Staaten, aus den etwa 150 Klöstern und Stiften Westfalens aufzukaufen und zu sammeln, das heißt sie zu retten, um sie in ein noch zu errichtendes Landesmuseum zu integrieren. Für Fürstenberg stellte sich diese Frage noch nicht. Ich zitiere Alwin Hanschmidt: „Die Säkularisation des geistlichen Staates und des Kirchengutes hatte Fürstenberg hinnehmen müssen. Gegen eine innere Säkularisierung hat er sich bis zuletzt gewehrt.“ Fürstenberg war jedoch Mitglied im „Adelichen Club“, dem auch sein Bruder Franz Egon, der Fürstbischof von Paderborn, angehörte. Beide bezahlten regelmäßig ihre Mitgliedsbeiträge von zehn Reichstalern – die Quittungen sind im Nachlass Fürstenberg im Bistumsarchiv erhalten. Als der Verein sich 1809 auflöste, gehörte Fürstenberg zu den Mitgliedern, welche die Schulden des Clubs bezahlten. Dies als kleiner Hinweis darauf, dass Fürstenberg auch am gesellschaftlichen Leben seiner Zeit teilgenommen hat. Wir haben heute Musik aus der Zeit Fürstenbergs für Sie ausgesucht. Klaus Storm und Ulrich Hoth werden auf der Oboe und auf dem Fagott Musik von Leonhard Call zu Gehör bringen. Ich wünsche uns allen einen interessanten Abend rund um Franz von Fürstenberg. Münster im September 2010 Mechthild Black-Veldtrup
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Alwin Hanschmidt
Für „Glückseligkeit“ und gegen „Regierungsstürmerey“ Ziele und Grundzüge der „Bildung des Volkes“ bei Franz von Fürstenberg* Am 11. Februar 1759, mitten im Siebenjährigen Krieg (1756–1763), in dem Franz von Fürstenberg (1729–1810) im Auftrag der Landstände der Fürstbistümer Paderborn und Münster und des kurkölnischen Herzogtums Westfalen zahlreiche Verhandlungen mit französischen, mehr noch aber mit alliierten Heerführern über Kontributionen und Lieferungen von Fourage (Pferdefutter) geführt hat, um die Lasten der Durchmärsche und Besatzungen zu mildern, trug er in sein Tagebuch ein: „Ich weiß nicht, ob ich den politischen Angelegenheiten [affaires] vollständig entsagt habe. Ich spüre, dass ich mein Vaterland [Patrie] liebe, […]. Dieselbe Eitelkeit [vanité], dieselbe Ruhmsucht [passion pour la gloire] beherrscht mich.“ Zwei Tage später fügte er hinzu: „Ich sehe, dass ich mehr ein Mann für Pläne [homme à projets] als für politische Geschäfte [affaires] bin.“1 Knapp 50 Jahre später zog Fürstenberg am 9. März 1807, zwei Monate nachdem er von dem letzten ihm noch verbliebenen Amt, dem des Kapitularvikars, entlastet worden war, in einem Brief an Goethe folgende Lebensbilanz: „In meinem 78 jahre hab ich noch so zimlich den gebrauch meiner sinne und Glieder und etwas Kopf: das überströmende unwesen sehe ich mitleidend an: man konte es vorsehen: es lage im Geist der Zeit verschlossen. – Die Zukunfft ist in unzählbare Möglichkeiten gehüllt. Ich vertraue auff des Allmächtigen Vorsehung und Barmherzigkeit, alles was von Ihm kommt, ist gut: warte, und * 1
Grundlegend überarbeitete und stark erweiterte Fassung meines Festvortrages vom 16. September 2010, der den Titel „Gegen Rückständigkeit und Umsturz. Ziele und Grundzüge der Bildungspolitik Franz von Fürstenbergs“ trug. Tagebuch Franz von Fürstenbergs 1758–1762, Bd. 1, S. 81 und 85 (Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Handschriftenabteilung). – Zur Biographie Fürstenbergs: Erich Trunz, Franz Freiherr von Fürstenberg. Seine Persönlichkeit und seine geistige Welt, in: Westfalen 39 (1961), S. 2–44 (in diesem Heft weitere Aufsätze zu Fürstenberg und dem ‚Kreis von Münster‘); Alwin Hanschmidt, Franz von Fürstenberg als Staatsmann. Die Politik des münsterschen Ministers 1762–1780, Münster 1969; Friedrich Keinemann, Franz Friedrich Wilhelm von Fürstenberg (1729–1810), in: Norbert Andernach u. a. (Bearb.), Fürstenbergsche Geschichte, Bd. 4: Die Geschichte des Geschlechtes von Fürstenberg im 18. Jahrhundert, Münster 1979, S. 101–224; Alwin Hanschmidt, Franz von Fürstenberg. „Große Politik“ und Reformpolitik im Hochstift Münster zwischen Siebenjährigem Krieg und Säkularisation, in: Petra Schulz und Erpho Bell (Hg.), Amalia Fürstin von Gallitzin (1748–1806). „Meine Seele ist auf der Spitze meiner Feder“. Ausstellung zum 250. Geburtstag in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Münster 1998, S. 43–51; ders., Das Fürstbistum Münster im Zeitalter der Aufklärung. Die Ära Fürstenberg, in: Westfalen 83 (2005), S. 62–79.
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ruhe. Die Fürstin v. Galizin ist todt: wann Gott mich von der welt abruffet, so hoffe Ich mit Ihr in Ihm vereinigt zu werden.“2 Zwischen diesen Wegemarken, der des Ehrgeizes des jungen Mannes, gepaart mit Unsicherheit über das ihm angemessene Tätigkeitsfeld, und derjenigen der von Gottvertrauen bestimmten Abgeklärtheit des „edlen Greise[s]“, wie Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819) ihn zwei Tage später ebenfalls in einem Brief an Goethe bezeichnete,3 hat sich Fürstenbergs Leben bewegt. Die Verhandlungen mit Offizieren der alliierten Armee (Preußen, England, Hannover, Braunschweig) waren eine politische Lehrzeit für Fürstenberg auch insofern, als im Umgang mit diesen sehr oft über das Militärische hinausgreifende politische Themen – beispielsweise die Verfassung des Reiches und der geistlichen Staaten – erörtert wurden. Nach dem Tod Kurfürst Clemens Augusts von Köln aus dem Hause Wittelsbach (1700–1761) am 6. Februar 1761, der seit 1719 Landesherr des Hochstifts Münster war, lieferte Fürstenberg gewissermaßen sein ‚Gesellenstück‘ ab, indem er sich nachdrücklich und erfolgreich für die Wahl des neuen (seit 1761) Kölner Kurfürsten Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels (1708–1784) zum Fürstbischof von Münster 1762 einsetzte. Im selben Jahr wurde er, der zu diesem Zeitpunkt Domherr zu Münster und Paderborn (seit 1748) und dem kirchlichen Weihegrad nach Subdiakon (1757) war, von dem neuen Landesherrn zum „Minister […] von wegen dem Hochstift Münster“ ernannt. Das ‚Meisterstück‘, nämlich selbst Fürstbischof von Münster zu werden, ist Fürstenberg allerdings nicht gelungen. Bei der Koadjutorwahl im Jahr 1780 unterlag er dem habsburgischen Erzherzog Maximilian Franz (1756–1801), dem jüngsten Sohn der Kaiserin Maria Theresia.4 Er musste daraufhin von seinem Ministeramt zurücktreten, wodurch er erheblich an Einfluss verlor, aber auch seiner umfassenden Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für alle Politikfelder des Hochstifts Münster enthoben war.
1. „Menschen bilden“ als Lebensaufgabe In einem erläuternden Schreiben zu seinem erzwungenen Entlassungsgesuch legte Fürstenberg allerdings dar, dass er das Amt des Generalvikars und die Direktion des Schulwesens nicht niedergelegt habe, da diese von seinem „Ministerial-Departement“ getrennt seien. Er hoffe, in diesen beiden Ämtern weiterhin nützliche Arbeit leisten zu können, „ohne daß ich dadurch in einige politische Verhältnisse verfloch-
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Zitiert nach: Schulz/Bell, Amalia Fürstin von Gallitzin, S. 239 f. Stolberg an Goethe 11.03.1807 (zitiert ebd., S. 240). – Zu Stolberg: Andreas Holzem, „Ein Weltling oder ein Christ“. Friedrich Leopold von Stolberg im „Kreis von Münster“, in: ebd., S. 102–113, sowie der Beitrag von Horst Conrad in diesem Band. Zu diesem: Max Braubach, Maria Theresias jüngster Sohn Max Franz. Letzter Kurfürst von Köln und Fürstbischof von Münster, Wien und München 1961 (zur Koadjutorwahl: S. 51–64); zur Koadjutorwahl im Einzelnen: Hanschmidt, Staatsmann, S. 249– 288.
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ten werde“.5 Kurfürst Maximilian Friedrich entsprach diesem Wunsch und äußerte die Erwartung, „daß Ihr mittels Vollziehung der dahin gehörigen Verrichtungen fernere ersprießliche Dienste zu leisten fortfahren werdet“.6 Gut einen Monat nach seiner Entlassung schrieb Fürstenberg seinem Bruder Clemens Lothar: „Ich werde jetzt meine ganze Achtsamkeit auf das Geistliche, auf die Erziehungs- und vielleicht auf die Medizinal-Anstaltung verwenden. Menschen bilden bleibt alle Zeit die wichtigste Staatsangelegenheit“; das gelte auch, wenn es von den Staatsmännern „großenteils verkannt“ werde.7 Das Amt des Generalvikars, zu dessen Zuständigkeitsbereich auch das Schulwesen gehörte, war Fürstenberg 1770 vom Landesherrn in dessen Funktion als Bischof der Diözese Münster übertragen worden.8 Er hatte es bis 1807 inne, seit 1801 nach dem Tod von Kurfürst Maximilian Franz (26. Juli 1801) als Kapitularvikar im Auf5 6 7
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Fürstenberg an den Geheimen Rat Adam Franz Wenner, Münster 16.09.1780: Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Fürstbistum Münster Kabinettsregistratur P X D 2. Kurfürst Maximilian Friedrich an Fürstenberg, Bonn 17.09.1780: Bistumsarchiv Münster (im Folgenden BAMs), Nachlass Fürstenberg 225. Franz an Clemens Lothar von Fürstenberg, 23.10.1780, zitiert nach Hanschmidt, Staatsmann, S. 290. Im Jahr 1789, als der neue Kurfürst Maximilian Franz argwöhnte, Fürstenberg habe die Entlassung aus dem Ministeramt noch nicht verwunden und intrigiere womöglich gegen ihn, versicherte Fürstenberg ihm: „Ich fand mich weit glücklicher durch direction der Erziehungsanstalten und übersicht über das Geistliche fach, zur Ausführung Ew. Churfstl. D[urc]hl[auch]t Gott gefälliger erhabener Absichten beyzutragen, als wenn ich die ganze Last der Geschäfte und der repraesentation hätte tragen müßen.“ BAMs, Nachlass Fürstenberg 250/1 (10.07.1789), unpag. Dabei war, weil Fürstenberg zu diesem Zeitpunkt noch Minister war, vereinbart worden, dass die dem Generalvikar obliegenden Dienstgeschäfte weitestgehend von Georg Heinrich Tautphaeus wahrgenommen wurden. Dieser war am 07.05.1717 in Mergentheim geboren, hatte sich zunächst am 11.12.1730 an der Universität Würzburg eingeschrieben und erhielt 1735 ein Kanonikat am Kollegiatstift St. Martini in Münster. Nach Erlangung des Grades eines Dr. jur. utr. an der Universität Salzburg am 12.08.1737 und nach seiner Priesterweihe (wohl nicht in Salzburg) wurde er am 26.02.1738 für sein Kanonikat emanzipiert. Am 13.01.1783 wurde er von Fürstbischof Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels (1762–1784) zum Stiftsdechanten an St. Ludgeri in Münster ernannt; am 06.05.1793 ist er dort gestorben: Alois Schröer, Stiftsdechanten von St. Ludgeri-Münster. Mit einer Lebensskizze des Georg Heinrich Jacobi v. Tautphäus, in: Sancti Ludgeri Parochia Monasteriensis 1173–1973. Beiträge zum 800-jährigen Bestehen der Pfarre St. Ludgeri in Münster, Münster 1973, S. 77–101, hier S. 83–101. Da Fürstenberg sich auch nach Tautphaeus’ Tod anscheinend nicht stärker persönlich den Generalvikariatsaufgaben gewidmet hat, kam es deswegen in den 1790er Jahren zu Spannungen zwischen ihm und Kurfürst Maximilian Franz. Zu den Missständen und Reorganisationsversuchen im Generalvikariat Ende der 1790er Jahre: Johannes Katz, Das letzte Jahrzehnt des Fürstbistums Münster unter besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit des Geheimen Staatsreferendars Johann Gerhard Druffel, Würzburg 1933, S. 101–104. Fürstenbergs Zuständigkeit und Tätigkeit als Generalvikar sind m. W. bisher noch nicht umfassend untersucht worden. Er war von 1772 bis 1799 auch Stiftspropst an St. Martini in Münster: Peter Veddeler, Münster – Kollegiatstift St. Martini, in: Karl Hengst (Hg.), Westfälisches Klosterbuch, Teil 2, Münster 1994, S. 53–58, hier S. 55 und 57.
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trag des Domkapitels.9 Fürstenberg musste somit sechs weitere Jahre die Last eines Amtes tragen, von dem ihn zu entbinden er den Kurfürsten am 17. Januar 1801 gebeten hatte, weil er sich dessen Anforderungen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gewachsen fühlte. Sein Gewissen gebiete ihm, dem Kurfürsten „mein unvermögen […] nicht zu verhelen“. Wenn ihm die Entlassung aus dem Amt des Generalvikars gewährt werde, „Dann hoffe Ich in Schul=, Gymnasium, Universität, Seminarium und anderen Geschäften noch einige Dienste leisten zu können“.10 Wie 20 Jahre zuvor gegenüber seinem damaligen Landesherrn und gegenüber seinem Bruder bekräftigte Fürstenberg hier erneut, dass er im inhaltlichen und organisatorischen Aufbau des Bildungswesens seine Hauptaufgabe sah. Seit der förmlichen Eröffnung der unter seiner maßgeblichen Mitwirkung gegründeten Universität zu Münster im Jahr 1780 war Fürstenberg deren Kurator. Aus diesem Amt wurde er 1805 von der seit 1802 eingerichteten preußischen Verwaltung hinausgedrängt, weil er sich der von Preußen eingeleiteten Simultanisierung von Universität und Gymnasium Paulinum, die gemäß der Landeskonfession katholisch waren, widersetzte. Da Fürstenberg auch Kurator des Gymnasiums und Vorsitzender der für das Elementarschulwesen zuständigen Schulkommission (gegründet 1783) war, befasste er sich in administrativer Hinsicht auf allen drei Ebenen mit den Institutionen des münsterischen Bildungswesens. In diesen Funktionen war er aber nicht nur Verwalter, sondern ebenso stark Ideengeber, allerdings nicht alleiniger. In den 1760er Jahren widmete Fürstenberg sich zunächst vornehmlich dem äußeren Wiederaufbau des Landes, darunter der Schuldentilgung und der Wirtschaftsförderung.11 Doch wird auch schon in dieser Zeit seine Hinwendung zum Bildungswesen greifbar. Dabei standen zunächst die Reform des Gymnasiums (erste Maßnahmen 1763, 1768, 1770; Schulordnung von 1776)12 und die Gründung der Universität (erste vom Landtag ausgehende Initiative 1765; Aufnahme des Lehrbetriebs an der Philosophischen und Theologischen Fakultät nach Aufhebung des Je-
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Nachfolger Fürstenbergs in diesem Amt wurde Clemens August Droste zu Vischering (1773–1845), zunächst als Koadjutor (18.01.1807), dann nach Fürstenbergs Rücktritt (09.07.1807) als Kapitularvikar. BAMs, Nachlass Fürstenberg 250/1, Bogen 1–10. Bei diesem Schreiben handelt es sich um einen vom Kurfürsten angeforderten Entwurf zur „wieder Erweckung des fast abgestorbenen Vicariats“, der organisatorische, finanzielle und personelle Vorschläge enthielt. Für seinen Entlassungswunsch führte Fürstenberg vor allem die Abnahme „der in taglichen Vorkommenheiten zur Entschließung so nothiger Erinnerung“ an; er strenge sich dabei „ängstlich und mit mir unzufrieden an“. – Schon am 10.07.1789, vier Wochen vor Vollendung seines 60. Lebensjahres, hatte er Kurfürst Maximilian Franz geschrieben: „Meine alten Tage in den Erziehungs Anstalten stille, sogar unbemerkt, verleben, wäre mir das Liebste.“ Ebd. (unpag.). Dazu Hanschmidt, Staatsmann, S. 97–124. – Zum Kommerzienkollegium vgl. den Beitrag von Wilfried Reininghaus in diesem Band. Hanschmidt, Staatsmann, S. 135–142; ders., 1773 bis 1815. Vom Jesuitengymnasium zum preußischen Gymnasium, in: Günter Lassalle (Hg.), 1200 Jahre Paulinum in Münster 797–1997, Münster 1997, S. 43–98, hier S. 63–72.
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suitenordens 1773)13 im Vordergrund. Die Bemühungen um eine Verbesserung des Elementarschulwesens setzten erst später ein (1772 erste Erfassung der Schulverhältnisse auf Antrag der Landstände). Nicht zufällig fielen die Elementarschulverordnungen von 1782 (mit der 1783/84 gemäß dieser vorgenommenen Schulvisitation in den niederstiftischen Ämtern Meppen, Cloppenburg und Vechta), von 1788 und von 1801 in die Zeit nach Fürstenbergs Entlassung als Minister, als er sich als für die Schulen zuständiger Generalvikar Menschenbildung als vornehmste Aufgabe vorgenommen hatte.14
2. Die Säkularisation: Gefahr für das „System der öffentlichen Bildung“ Das System der Einrichtungen zur „Unterweisung und Bildung des Volks“, „nicht etwa die Bildung irgendeines einzelnen Standes“, wie er es in seiner Esquisse des ganzen Schulsystems im Hochstifte Münster von 1791 ausgedrückt hatte,15 sah Fürstenberg 1801 als im höchsten Maße gefährdet an. Die Gefährdung lag für ihn grundsätzlich in der seit der Mitte der 1790er Jahre drohenden Säkularisation der geistlichen Staaten, die Münster seiner Eigenständigkeit berauben würde. Verschärft aber sah er die Gefahr des Verlustes der Selbständigkeit und, damit verbunden, des Verfassungsgefüges einschließlich der Bildungseinrichtungen des Landes nach dem unerwarteten Tod von Kurfürst Maximilian Franz. Denn ohne einen Landesherrn war das Hochstift noch leichter als Verteilungsmasse für die durch die Säkularisation auf Gebietsgewinne hoffenden weltlichen Staaten verfügbar.16 13 14
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Alwin Hanschmidt, Die erste münstersche Universität 1773/80–1818. Vorgeschichte, Gründung und Grundzüge ihrer Struktur und Entwicklung, in: Heinz Dollinger (Hg.), Die Universität Münster 1780–1980, Münster 1980, S. 3–28, hier S. 7–9. Alwin Hanschmidt, Schulverordnung – Schulvisitation – Schulkommission – Lehrerprüfung – Normalschule. Die Entstehung der Institutionen der Elementarschulreform im Fürstbistum Münster 1772 bis 1784, in: ders. (Hg.), Elementarschulverhältnisse im Niederstift Münster im 18. Jahrhundert. Die Schulvisitationsprotokolle Bernard Overbergs für die Ämter Meppen, Cloppenburg und Vechta 1783/84, Münster 2000, S. 152–174; Hubert Steinhaus, Die Reform des niederen Schulwesens im Fürstbistum Münster 1782–1801, in: ebd., S. 175–185. BAMs, Nachlass Fürstenberg 179. Zur Übereinstimmung dieser Esquisse mit dem Entwurf eines zusammenhängenden Unterrichts-Institut (Nachlass Fürstenberg A VI Nachtrag 4) siehe Anm. 27. Zu Recht bezog diese Sorge sich hauptsächlich auf Preußen. Dieses hatte im Sonderfrieden von Basel (05.04.1795) mit Frankreich eine norddeutsche Neutralitätszone ausgehandelt, in die das Hochstift Münster einbezogen war, weshalb seit 1795 ein preußisches Observationskorps unter Generalmajor Gebhard Leberecht Blücher (1742–1819) in Münster lag. In einem Geheimvertrag vom 05.08.1796 waren Preußen von Frankreich das Vest Recklinghausen und Teile des Fürstbistums Münster zugesprochen worden. In Münster war seit April 1797 bekannt, dass Preußen das Hochstift als Entschädigung für seine linksrheinischen Gebietsverluste erwerben wollte. Im April 1799 äußerte Fürstenberg, der während seiner Ministerzeit und auch noch danach durchaus preußenfreundlich gesinnt war: „Von Preußen müssen wir uns nichts versprechen.“ Zitiert nach: Monika Lahrkamp, Münster in napoleonischer Zeit 1800–1815. Adminis-
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Von dieser Furcht getrieben und in zutreffender Einschätzung der Machtverhältnisse, dass eine Säkularisation bei allem Annexionshunger deutscher Fürsten letztlich nur durch die Entscheidung Frankreichs und Russlands vollzogen werden konnte,17 wandte Fürstenberg sich am 11. August 1801, also 14 Tage nach dem Tod des Landesherrn, an einen russischen Diplomaten mit der Bitte, die vom Domkapitel erbetene Protektion des Zaren zu unterstützen.18 Er wies auf die schwierige Lage seines kleinen Landes hin, in dem man seit etwa 30 bis 40 Jahren große Anstrengungen unternommen habe, um nützliche Kenntnisse und lautere Sitten zu befördern und eine empfindsame („sentie“) und praktische Religion zum Blühen zu bringen. Man habe dem ganzen System der öffentlichen Bildung („à tous le Systeme de l’Education publique“) möglichst viel Einheitlichkeit (im Sinne eines inneren Zusammenhangs) zu geben versucht. Es reiche von der Universität, dem Priesterseminar, dem Medizinalkolleg bis zur Ausbildung der Elementarschullehrer und zeichne sich durch eine enge Verbindung der Grundsätze und der Methode aus. Diese Bemühungen seien auch jenseits der Grenzen des Hochstifts nicht unbekannt geblieben, insbesondere durch Bernard Overbergs (1754–1826) Werk für die Ausbildung der Schulmeister und durch die Medizinalordnung, die in wichtigen publizistischen Organen gelobt worden seien.19 Auch seien münsterische Maßnahmen zur Bildung, zur Förderung der Industrie und zur Gesundheitsversorgung und Ar-
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tration, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen von Säkularisation und französischer Herrschaft, Münster 1976, S. 25. Zur Haltung in Münster zur Französischen Revolution und zu Preußen bis zur preußischen Okkupation im Jahr 1802: ebd., S. 16–47. Zur Beobachtung der Ereignisse durch Fürstenberg: Ernst Marquardt, Fürstenberg über die politischen und militärischen Ereignisse seiner Zeit. Nach seinen Briefen an die Fürstin Gallitzin 1781 bis 1801, in: Westfalen 33 (1955), S. 55–73. Bereits am 13.07.1801, also noch vor dem Tod des Kurfürsten, schrieb Fürstenberg in „Gedanken in Beziehung auff unsere Lage“, welche Reichsstände „von Frankreich Ihre Indemnisation [Entschädigung für linksrheinische Gebietsverluste] zu erhalten hoffen“, werde sich bald zeigen. Vgl. BAMs, Nachlass Fürstenberg 206, Bl. 112–115, hier Bl. 115. Ebd., Bl. 116–125. Bei dem ungenannten Adressaten handelt es sich um Graf Nikita Petrowitsch Panin (1770–1837), Vizekanzler des Zarenreiches. Dies geht aus dem Brief hervor, den Friedrich Leopold Graf zu Stolberg am 09.08.1801 an Ludwig Heinrich von Nicolay (1747–1820), den Präsidenten der Russischen Akademie der Wissenschaften, geschrieben hat. Darin heißt es: „Zugleich werden Briefe des Domcapitels an Se M[ajes]tät den Kaiser u: an den Fürsten Kurakin; wie auch einer vom Freiherrn von Fürstenberg u: einer von mir an den Grafen Panin abgehen.“ (Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Briefe, hg. von Jürgen Behrens, Neumünster 1966, Brief Nr. 400, S. 374 f., Zitat S. 375). Am 10.08.1801 hat Stolberg auch ein Bittschreiben zur Erhaltung des Hochstifts Münster an die Zarin Maria Feodorowna (1759–1828), geb. Prinzessin Sophia Dorothea von Württemberg), die Gattin des am 12.03.1801 ermordeten Zaren Paul I. (geb. 1754; reg. seit 1796), gerichtet (ebd., Nr. 401, S. 375–377). Gemeint waren Bernard Overberg, Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterricht für die Schullehrer im Hochstifte Münster, Münster 1793, und die Münstersche Medizinalordnung vom 14.05.1777, das Werk des kurfürstlichen Leibarztes Christoph Ludwig Hoffmann (1721–1807), den Fürstenberg 1764 aus dem Dienst der Grafschaft Steinfurt nach Münster geholt hatte. Vgl. Hanschmidt, Staatsmann, S. 126.
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menfürsorge anderswo nachgeahmt worden. Durch solche Maßnahmen sei erreicht worden, dass die Ansteckung mit dem falschen Geist der Aufklärung („la Contagion de ce faux Esprit de Lumiere“), mit dem revolutionären Geist und mit dem dadurch verursachten Taumel („vertige“), der zu so viel Blutvergießen geführt und so viel Schlimmes angerichtet habe, sich in Münster nicht ausgebreitet habe. „Die Wahrheit, die Sitten, die Religion haben über Illusionen gesiegt“ („La verité, les Mœurs, la Religion ont triomphé des Illusions“). Diese, nämlich Wahrheit, Sitten und Religion, wären aber gefährdet, wenn infolge des Entschädigungsplans der Säkularisation „unser kleiner Staat“ („notre petit Etat“) in eine große Monarchie oder Republik einverleibt werde. Dann würde Münster nicht nur seine politische Existenz und die Anmut („douceur“) seiner gegenwärtigen Verfassung verlieren, sondern auch die Hoffnung, die moralische Vervollkommnung („perfection morale“) weiterhin zu fördern. Denn mit einer neuen Religionsverfassung, die in diesem Falle zu erwarten sei, könne es zu einer Abkühlung der religiösen Praxis kommen, was die Grundlage der Sitten und des menschlichen Glücks untergrabe. Nach einer Skizze der demographischen, wirtschaftlichen und militärischen Verhältnisse des Hochstifts schloss Fürstenberg sein Schreiben mit der Hoffnung, dass seinem Adressaten die Aufhebung („degradation“) eines Systems nicht gleichgültig sein werde, das zu größter Vervollkommnung zu gelangen sich bemühe. Das scharfe negative Urteil Fürstenbergs über die Aufklärung war bestimmt durch die Entwicklung, welche die Französische Revolution genommen hatte. Dadurch waren viele Zeitgenossen aus abwartenden und anfangs nicht selten wohlwollenden Beobachtern zu deren entschiedenen Gegnern geworden. Für Fürstenberg als Amtsträger eines geistlichen Fürstentums waren dabei insbesondere die Enteignung des Kirchengutes (1789) und der erzwungene Verfassungseid des Klerus (Zivilverfassung 1790) ausschlaggebend. Deren Ergebnis hatte er in Gestalt der zahlreichen französischen Emigranten aus Klerus und Adel vor Augen, die seit 1792 mit seiner nachdrücklichen Unterstützung im Hochstift Zuflucht fanden.20 Wenn bestimmte Auswirkungen der Französischen Revolution die Aufklärung und das von dieser angestrebte Ziel der moralischen Vervollkommnung und damit der „Glückseligkeit“ der Menschen pervertiert hatten, was war dann für Fürstenberg wahre Aufklärung und wie musste ein Erziehungs- und Bildungssystem aussehen, welches die Menschen zu diesseitiger und jenseitiger „Glückseligkeit“ führen konnte? Antworten darauf finden sich – allerdings im Blick auf bestimmte Bildungseinrichtungen spezifiziert – in den Präambeln der Schulverordnungen (für das Gymnasium 1776, für die Elementarschulen 1782, 1788 und 1801). Hier sollen jedoch Denkschriften herangezogen werden, die Fürstenberg seit der zweiten Hälfte der 1780er Jahre auf Anforderung seines Landesherrn ausgearbeitet hat. Diese nahmen häufig Bezug auf die neue politische und geistige Lage, die sich aus der Französischen Revolution ergab. 20
Dazu: Peter Veddeler (Bearb.), Französische Emigranten in Westfalen 1792–1802. Ausgewählte Quellen, Münster 1989; Bernward Kröger, Der französische Exilklerus im Fürstbistum Münster (1794–1802), Mainz 2005.
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3. Volkserziehung – „allgemeine Glückseligkeit“ – Staatswohl Schon in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre, die von Spannungen zwischen Kurfürst Maximilian Franz und Fürstenberg überschattet waren und in denen dieser mangelndes Interesse des Landesherrn am weiteren Ausbau der Bildungseinrichtungen, insbesondere der Universität, feststellen zu müssen meinte, hatte Fürstenberg dem Kurfürsten Berichte zugehen lassen, in denen er „das gantze Systeme der mir aufgetragenen Gegenstände […] in einem Zusammenhang“ darlegte.21 Fürstenberg sah diese Berichte nicht hinreichend gewürdigt. Das gelte namentlich „von einem Zweige der regierungs Geschäffte […], an welchem freylich alle übrigen hangen“: der „volks Erziehung“. Wie weit man „in der Bildung des Volks vorgerückt“ sei, möge der Kurfürst selbst beurteilen: „Wie nahe dem punckte Ihrer Geistlichkeit eine vollständige Bildung zu geben! Welche beständig anwachsende Zahl sich zu werkzeugen in der weltlichen Administration darbietet!“ Die nach seiner Auffassung ausschlaggebende Bedeutung der Erziehungs- und Bildungspolitik für das Gedeihen des gesamten Staatswesens – er spricht öfters von „das Gemeine wohl“ – hob er noch einmal hervor, indem er dem Kurfürsten vor Augen stellte, dass dessen „erhabene und weise Entwürffe, auß abgang von werkzeugen nicht zu ihrer Vollkommenheit gelangen würden“, wenn „daß Erziehungs System einen Stoß bekommen“ sollte.22 Kurfürst Maximilian Franz hat in diesen Ausführungen Fürstenbergs einen versteckten Vorwurf gesehen und in seinem Antwortschreiben vom 16. Juli 1789 nachdrücklich hervorgehoben, „daß ich auf den Unterricht und die Erziehungs-Anstalten jederzeit ein besonderes Augenmerk hatte“.23 Das lasse sich daran ablesen, dass er aus eigenen und nicht aus Landesmitteln das Gymnasium und das ehemalige Jesuitenkolleg in einen ordentlichen Stand habe bringen lassen und auf ähnliche Weise „den Unterricht der Geistlichkeit mit Erbauung des Seminariums“ gefördert habe.24 „Die Volksschulen, für welche unter voriger Regierung fast nichts gethan war, habe ich für das mänliche so wohl als weibliche geschlecht empor zu bringen getrachtet […].“ Nach Zurückweisung des Vorwurfs, er habe zu wenig für die Bildungseinrichtungen getan, hielt er umgekehrt Fürstenberg vor, dass er dessen Anträge, sofern sie sich darauf beschränkt hätten, „einen oder andern zu feurigen Enthousiasten, der die Köpfe der Studierenden mehr erhitzen als aufklären thäte, Zulagen beizulegen, während die nötigsten Fächer zum Zusammenhang unbesetzt blieben“, nicht beant21 22
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Fürstenberg an Kurfürst Maximilian Franz, Münster 10.07.1789: BAMs, Nachlass Fürstenberg 250/1, unpag. Auf das angespannte Verhältnis zum Kurfürsten, bei dem er sich von seinen Gegnern verleumdet fühlte, eingehend, fügte Fürstenberg hinzu, in einer Atmosphäre des Misstrauens „würde ich niehmahls in meinem Department die wirkung hervorbringen können, welche der fortgang und sogar die Erhaltung eines solchen weitläufigen noch nicht vollendeten Systems erfodern“ (ebd.). Kurfürst Maximilian Franz an Fürstenberg, Bonn 16.07.1789: BAMs, Nachlass Fürstenberg 249, Bl. 46–55. Zur Gründung und zum Ausbau des Priesterseminars: Thomas Schulte-Umberg, Profession und Charisma. Herkunft und Ausbildung des Klerus im Bistum Münster 1776– 1940, Paderborn u. a. 1999, S. 33–73.
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wortet habe, könne dieser ihm „nicht verargen“: Er habe dadurch verhüten wollen, „dass auch in dem Schul und Erziehungswesen der so schädliche Partheigeist und Jesuitismus“ einreiße. An den Vorwurf eines übertriebenen „Enthousiasmus“ Fürstenbergs anknüpfend, schrieb der Kurfürst abschließend, er habe sich verpflichtet geglaubt, dessen „in verschiedenen Fächer zu weit getriebenen Entwürfe zu mäßigen. […] Ich dachte, das Feuer Ihrer Entwürfe würde, durch meine Kaltblütigkeit gedämpfet, zum gedeihlichen Ausführen in dem gedrängten würkungs kreis unseres Münsterlandes geleitet werden können.“ Bei diesem Verhalten hätten ihn nie „abneigung oder persönlicher widerwillen“ gegen Fürstenberg geleitet: „Der persönliche umgang eines Mannes von so ausgebreiteten Kenntnißen aller Fächer war mir steets angenehm und belehrend. Ihre Kenntniße vom Lande wünschte und suchte ich steets zu benutzen, aber freilich steets nach dem Verhältniße, wo Uns das Schicksal gesetzet hatte.“25 Hatte also mangelndes Zutrauen des Kurfürsten gegenüber Fürstenberg, das in dessen vermutetem generellen Oppositionsgeist gegenüber dem neuen Landesherrn seine Ursache hatte,26 den Entwurf eines „gemeinsamen Plan[s]“ für das Bildungswesen des Hochstifts zu diesem Zeitpunkt verhindert, so sah das einige Jahre später anders aus. Am 2. September 1791 hatte Fürstenberg dem Kurfürsten den Entwurf eines zusammenhängenden Unterrichts-Institut für dieses Land mit einer Reihe von Spezialanlagen, die sich auf bestimmte Einrichtungen (Gymnasium, Universität, Landschulen, Priesterseminar) bezogen, zugesandt.27 Darauf antwortete Maximi25
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In den ersten Jahren nach Maximilian Franzens Regierungsantritt (Tod seines Vorgängers am 15.04.1784) war dessen Verhalten zu Fürstenberg noch von Wohlwollen und Erwartungen bestimmt, wenn er ihm Badekuren und Reisen genehmigte. Er tue das umso bereitwilliger, „als nach denen von ihnen für das Beste und die Aufklärung des Hochstifts hegenden patriotischen Absichten solche Reise zu diesem so heilsamen Zwecke nur noch mehr und mehr beitragen kann“: Kurfürst Maximilian Franz an Fürstenberg, Münster 08.09.1784: BAMs, Nachlass Fürstenberg 249. Als er Fürstenberg 1785 die Reise nach Weimar genehmigte, schrieb er, er sei davon überzeugt, dass Fürstenberg „alle erwerbende Kenntnisse zum Besten der Aufklärung des Hochstifts verwenden werde“: Kurfürst Maximilian Franz an Fürstenberg, Bonn 08.08.1785: ebd. Die Entfremdung zwischen beiden, die auf dem Kurfürsten unliebsame Landtagsbeschlüsse und auch seine Erfolglosigkeit bei der Koadjutorwahl in Paderborn (1786), die Fürstenbergs Bruder Franz Egon (1737–1825) gewann, zurückzuführen ist, wird in einem Briefwechsel zwischen beiden im Februar 1786 greifbar (z. T. zitiert, z. T. referiert bei: Joseph Galland, Zeit- und Lebensbilder aus der neueren Geschichte des Münsterlandes. VII. Franz von Fürstenberg und Kurfürst Maximilian Franz von Oesterreich, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 83 [1879], S. 190–206, hier S. 193–195). Distanz und Konflikt zwischen dem Kurfürsten und Fürstenberg waren auch verflochten mit Parteiungen im münsterischen Domkapitel, bei denen sich ‚Maximilianer‘ und ‚Fürstenberger‘ gegenüberstanden. Dazu: Friedrich Keinemann, Das Domkapitel zu Münster im 18. Jahrhundert. Verfassung, persönliche Zusammensetzung, Parteiverhältnisse, Münster 1967, S. 185–197. BAMs, Nachlass Fürstenberg A VI Nachtrag 4, unpag. Diesem Bericht sind drei Promemorien angefügt. Das erste Über den allgemeinen Unterricht enthält Ausführungen über „dem Endzweck der Errichtung“ des Gymnasiums und der Universität, über die Landschulen, „die Erziehung des weiblichen Geschlechts vornehmen Standes“ und
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lian Franz zwar erst am 15. Oktober 1792, bezeugte ihm aber „mit Vergnügen […] für eure Bemühung, und die diesem so wichtigen Gegenstande so thätig gewidmete Arbeit Unsere besondere Zufriedenheit“.28 Er bezeichnete Fürstenbergs „Abhandlung über den allgemeinen Unterricht“ als „das Resultat eines tiefen Nachdenkens“ und fügte hinzu: „Wir sind mit den Sätzen: allgemeine Glückseligkeit ist der Zweck, Religiöse und Sittliche Bildung ist das wesentliche Mittel zu diesem Zwecke, jedes Individuum muß einer solchen zu seiner Glückseligkeit nothwendigen Bildung fähig seyn, der wesentliche Unterricht gehört für Alle, völlig einverstanden. […] zur näheren Bestimmung der Frage: wie und auf welche Art ist Volksbildung möglich?“, habe Fürstenberg eine „Untersuchung über die Entstehung und Beibringung der hiezu wesentlichen Begriffe“ vorausgeschickt und daraus „wichtige Gedanken über Lehrart in den gemeinen Schulen, über Bildung der Schulmeister, Seelsorger und über die Theologische Facultät“ hergeleitet. Der Kurfürst fasste seine an Fürstenbergs Entwurf ausgerichtete Auffassung folgendermaßen zusammen: „Grundlage zur Volksbildung und Prinzip, um Gute, Glückliche und Zufriedene Unterthanen zu ziehen, ist also eine angemessene Lehrart in den gemeinen Schulen, und die damit verknüpfte Bildung der Schulmeister.“29 Fürstenberg beginnt seinen Entwurf mit der Bestimmung des Zielpunktes: Da der Kurfürst die Absicht habe, „diese Anstalten ganz auf den einigen Zweck der allgemeinen Glückseligkeit zu richten“, habe er sich bemüht, „alle Theile in ihrer Beziehung auf diesen Zweck zu ordnen“. Dem lässt er eine gewissermaßen programmatische Grundaussage folgen: „Die religiöse und sittliche Bildung ist das
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schließlich eine 113 Paragraphen umfassende Ausarbeitung zu Erziehungsgrundlagen, -inhalten und -methoden generell und für einzelne Institutionen und Fächer (letztere gedruckt bei Wilhelm Esser, Franz von Fürstenberg. Dessen Leben und Wirken nebst seinen Schriften über Erziehung und Unterricht, Münster 1842, Teil 2: Schriften, S. 3–40; Esser hat dieser Ausarbeitung die Überschrift „Ueber den Volksunterricht“ gegeben; wieder abgedruckt bei Joseph Esch, Franz von Fürstenberg. Sein Leben und seine Schriften, Freiburg i. Br. 1891, S. 263–297); das zweite Promemoria bezieht sich auf das Priesterseminar und dessen innere Ordnung; das dritte noch einmal auf das Gymnasium und auf Desiderata des Ausbaus der Universität (gedruckt bei Esser, Franz von Fürstenberg, S. 107–130; bei Esch, Franz von Fürstenberg, S. 186–189 und 196–219). Unter der Bezeichnung Esquisse Des ganzen Schulsystems im Hochstifte Münster ist der Entwurf auch überliefert in BAMs, Nachlass Fürstenberg 179. Nach der Paginierung im Original 102 Seiten, sind es in Wirklichkeit 56 Seiten, weil jeweils eine Seitenzahl ausgelassen wurde, vermutlich um diese für Ergänzungen und Korrekturen der Esquisse zu reservieren; solche finden sich darin allerdings nicht. BAMs, Nachlass Fürstenberg 179. Bezüglich der Lehrart fügte er noch an, er zweifle nicht, „daß Overberg in seinem Werke“ Fürstenbergs Ausführungen dazu „zum Grunde gelegt“ habe. Mit Overbergs „Werk“ konnte sowohl seine Arbeit in der 1783 für die Ausbildung der Elementarschullehrer gegründeten Normalschule als auch dessen in Arbeit befindliche, 1793 erschienene Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterricht für die Schullehrer im Hochstifte Münster gemeint sein. Der Inhalt des kurfürstlichen Schreibens beschränkte sich nicht auf die wiedergegebenen grundsätzlichen Äußerungen, sondern enthielt zum größeren Teil Stellungnahmen zu organisatorischen und personellen Fragen der einzelnen Bildungsinstitutionen, insbesondere der Universität.
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wesentliche Mittel zur wahren Glückseligkeit. Sie würde es sogar seyn, wenn auch unsere Glückseligkeit nur im Genusse dieses Lebens bestände. Die Claße der Unstudirten ist ohne Vergleich die zahlreichste: da wir aber alle zum nämlichen lezten Zwecke erschaffen sind, so muß, da die Bildung zu diesem Zwecke nothwendig ist, erstere derselben ebensowohl fähig seyn, als die sogenannte gelehrte Claße; der wesentliche Unterricht muss beyden gemein seyn.“30 Wenn auch „der wesentliche Unterricht“ beiden „Claßen“ gleicherweise zukommen sollte, so war eine Stufung des Bildungssystems doch unerlässlich. Diese begründete Fürstenberg funktional: „da die Gelehrten, Lehrer, Führer und Richter der Ungelehrten seyn sollen“, gelte es einzusehen, wie weit und auf welche Art die Bildung der „Unstudirten“ möglich sei, um dann zu bestimmen, welche Bildung für die gelehrte ‚Funktionselite‘ erforderlich sei. Dem aber habe „eine Art von Kritik der Vernunft über die Entstehung und das Beybringen der zu diesem Zwecke wesentlichen Begriffe“ vorauszugehen. Weil „darüber, was wahre Aufklärung des Volkes, und wie weit solche möglich sey, […] so viel Widerspruch und Unbestimmtheit“ herrsche, habe er seine Meinung dazu „ganz bestimmt darzustellen und zu beweisen“ gesucht, um die Bildungseinrichtungen „auf festen und sicheren Grund bauen zu können“.31 Demjenigen „Theil des Unterrichts, welcher die Gesundheits und Hauswirtschaftslehre betrifft“ – an anderer Stelle sagt er „die Gesundheit und das Vermögen“ –, habe er keine grundsätzlichen begrifflichen Ausführungen gewidmet, weil dieser „den nämlichen Widersprüchen nicht ausgesetzet“ sei. Wenig später konkretisiert er das Doppelziel der religiös-moralischen und der lebenspraktischen Bildung so: Sie habe „den Unstudirten den Weg zur theoretischen und practischen Religion zu erleichtern und ihnen über ihre Gesundheit und die Verwaltung ihres Vermögens mehr Erkenntniß beizubringen“. Sodann spricht er den Einfluss allgemeiner Bildung auf die Ordnung von Staat und Gesellschaft an, ihre sozusagen ‚antirevolutionäre‘ Funktion: „Dieses scheint mir die Art von Aufklärung zu seyn, welche den öffentlichen Unruhen am meisten vorbeugt; dieses trägt 30
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BAMs, Nachlass Fürstenberg A VI Nachtrag 4, unpag. Fürstenbergs Verständnis von Glück/Glückseligkeit, für dessen Erlangung Erziehung und Tugend eine zentrale Rolle spielen, steht in der Tradition der Ethik von Aristoteles über Thomas von Aquin bis zur deutschen Aufklärung vor Kant. Glückliches Leben ist vernunftgemäßes und sittliches Leben; der Staat kann Glück nicht schaffen, aber Bedingungen dafür, die zugleich dem bonum commune (Gemeinwohl) und der Erlangung des individuellen ewigen Heils förderlich sind. Vgl. Robert Spaemann, Art. Glück/Glückseligkeit. III.1–2 (Renaissance, Barock, Aufklärung), in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel und Stuttgart 1974, Sp. 697–703; Günther Bien, Art. Glück. I. Philosophisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (1995), Sp. 757–759; Otfried Höffe, Art. Glück, in: ders. (Hg.), Lexikon der Ethik, 7. Aufl. München 2008, S. 114– 118. Hierzu auch Ulrich Engelhardt, Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts (J. H. G. v. Justi), in: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 37–79. Ein Vergleich zeigt, dass der Kurfürst in seinem Schreiben an Fürstenberg vom 15.10.1792 viele Formulierungen aus dessen Entwurf übernommen hatte. Zum Verständnis der Begriffe „Aufklärung“ und „Volksaufklärung“: Werner Schneiders, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, S. 19–39.
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dazu bey, daß wenigstens der größeste Theil mit seinem Zustande zufrieden ist, aus Religions und sittlichen Gründen, weil er den Vorkehrungen der Regierung mehr Gerechtigkeit wiederfahren läßt, oder wenigstens darüber so übereilt nicht urtheilt, und dann wegen verbeßerter Hauswirtschaft sein Auskommen hat. Je roher, ungesitteter und dabey irreligiöser der gemeine Mann ist, desto leichter kann man ihm beybringen, daß es weder Eigenthum noch Obrigkeit, noch Verfassung giebt, desto wüthender ist er im Aufstande.“ Da die Führer des gemeinen Mannes auf dem Gymnasium und der Universität ausgebildet würden, werde bei der Besetzung der Lehrstühle darauf geachtet, dass „der unsinnigen Regierungsstürmerey, dem Neuerungsgeiste, der hiezu viel beygetragen, dem litterarischen Leichtsinne und Schwärmerey und der sittlichen Ueppigkeit entgegen gearbeitet“ werde. Deshalb habe er versucht, „der Modephilosophie, der Paradoxie, dem Neoterismo [Neuerungssucht; A. H.], Religion, ächte Philosophie, Geschichtskunde und Wahrheitsliebe, der Belletristerey gründliche klassische Litteratur entgegen zu stellen“.
4. „Aufklärung“ des Volkes über „Religion und Moral und dann seine physischen Bedürfnisse“ Fürstenberg hat in seinem Entwurf von 1791 das Konzept einer zugleich religiössittlichen und wirtschaftlich nützlichen Bildung skizziert, die in staatspolitischer Hinsicht ordnungsstützend und somit konservativ, unter dem Gesichtspunkt der Utilität wegen der Verbesserung der physischen Existenzgrundlagen aber zugleich fortschrittlich war, weil sie Rückständigkeit überwinden helfen konnte. Da das Gymnasium nach Fürstenbergs Auffassung der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Bildungssystems sein musste, hat er in seiner Spezialausarbeitung „Ueber den Endzweck der Errichtung des Gymnasiums“ konsequenterweise „die Unterweisung und Bildung des Volks“ wieder aufgegriffen. Dabei betont er, auch wohl um Vorwürfe des Kurfürsten, es sei vor dessen Regierungsantritt auf manchen Feldern der Bildung nicht genug geschehen, zurückzuweisen, dass schon dessen Vorgänger Maximilian Friedrich „nicht etwa die Bildung irgend eines einzelnen Standes, nicht eine einseitige Beförderung dieser oder jener Wissenschaft, sondern Volksbildung“ sich „zum Endzweck gemacht“ habe. „Dieser Endzweck umfaßete alle Stände, und befassete alles, was wahre Menschenbildung im ganzen Sinne fodert.“ Zwar habe „die Verschiedenheit der Umstände“, das heißt die von Ungleichheit bestimmte soziale Schichtung der Gesellschaft, „eine gleiche Entwickelung für alle“ nicht zugelassen; doch sollten „alle zu Menschen und Christen gebildet werden, die wohl unterrichtete Menschen und Christen wären, und zu ihrem Gewerbe und Beruf die nöthigen Kenntnisse vollständig mitbrächten“. Daraus leite sich die Erwartung ab, „daß eine Gesellschaft solcher Menschen glücklich seyn müste, glücklich genug wenigstens, um größtentheils frey von jenen Uebeln zu bleiben, die aus den Lastern der Menschen entspringen“. Daher habe „der öffentliche Unterricht an den Gymnasien“ die „Volkslehrer“, unter denen nicht Elementarschullehrer zu verstehen sind, sondern diejenigen, die als „tüchtige Geschäfts Männer und Volkslehrer“ die weltliche Ver-
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waltung und als Geistliche den Seelsorgedienst zu versehen hatten, „zur Religion und zur Tugend auszubilden“. Tugendhaftigkeit galt ihm auch für das „dieseitige“ Leben als Fundament des Glücks. In dem Kapitel „Von den Landschulen“ hat Fürstenberg die in der Einleitung und in dem auf das Gymnasium bezogenen Kapitel dargelegten Zielbestimmungen der „Bildung des Volks“ wieder aufgegriffen. „Religion und Moral und dann seine physischen Bedürfnisse sind die Gegenstände, über welche man dem Volke nähere Aufklärung zu geben wünscht.“32 Dabei sei die Aufklärung über Religion und Moral unstreitig die „wichtigste“ und „schwerste“. Ebenso gewiss sei es „doch auch von großem Nutzen, wenn über seine physischen Bedürfnisse dem Landmanne auch bessere Begriffe beygebracht werden, als er gewöhnlich zu haben pflegt“. Hinsichtlich der Vermittlung der nützlichen und möglichen Begriffe, die „dem Landmanne jene Aufklärung zu geben“ vermöge, könne „mehr geschehen, als man durchgehends vorgibt. Man hat von dem gemeinen Mann einen zu schlechten, zu verächtlichen Begriff, als ob es eine andere Art von Menschen wäre.“ Im Blick auf diese Schicht müsse man auch den „verbesserten Erziehungsmethoden“ den Vorwurf machen, „daß sie zu viel auf das Gedächtniß, und zu wenig auf die Bildung der Vernunft arbeiten, da doch dieselbe gerade beym Landmanne, wenn sie einmal eine gute Richtung erhalten hat, sich länger unverdorben erhält“. Solcher unverdorbene Vernunftgebrauch, durch den sich die ländliche Bevölkerung von der Versuchbarkeit der akademischen Jugend, die Fürstenberg anderenorts beklagt, unterscheide, solle sich in der „Achtsamkeit“ als „erste Bildung“ niederschlagen, die dann „bey der Anweisung zur Rechenkunst fortgesetzt werden“ könne. Deren alltagsweltliche Nützlichkeit liege darin, dass wenigstens die begabten Kinder „so weit gebracht werden, daß sie ihre Rechnungen mit den Schatzungs- und Pachteinnehmern so wie mit andern Schuldigern und Gläubigern selbst machen, und in ihrer Wirtschaft über Vortheil und Schaden eine kleine Balance ziehen können“. Diese Fähigkeit konnte dem Landmann wachsende Unabhängigkeit verschaffen und somit ‚emanzipatorisch‘ wirken. Zusammengefasst: Volksbildung sollte für Fürstenberg aus den drei Elementen Religiosität, Moralität und Utilität bestehen.
5. Volkserziehung und „Geist der jetzigen Zeit“ Einige Jahre nach den Promemorien von 1791 hat Fürstenberg unter dem Titel Über Volkserziehung eine weitere bildungspolitische Denkschrift verfasst.33 In dieser stellt er seinen Gegenstand als das Ergebnis einer langen Entwicklung vom 15. Jahr32 33
Hier wird nach der Esquisse (vgl. Anm. 27) zitiert. BAMs, Nachlass Fürstenberg 179. Diese von Schreiberhand vorliegende Ausarbeitung hat Fürstenberg eigenhändig korrigiert und ergänzt. Sie ist frühestens 1793 verfasst worden, weil Bernard Overbergs in diesem Jahr erschienene Anweisung darin bereits erwähnt ist, vielleicht aber auch erst später, weil die Darlegung und Beurteilung der geistigen Zeitverhältnisse in ihrer ablehnenden Schärfe vermutlich schon die Radikalisierung der Französischen Revolution in der Terrorphase seit 1793/94 reflektiert.
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hundert bis in seine Gegenwart dar. Er beginnt mit der Feststellung: „Über Volkserziehung läßt sich in diesem Zeitpuncte nichts Passendes sagen, wenn man nicht zugleich auf den Geist der jetzigen Zeit Rücksicht nimmt. Es ist eine allgemeine Gährung, die Fieberbewegungen unregelmäßig, und diejenigen, welche sich einer nahen Crisis schmeicheln, oder eine crisin perfectam für möglich halten, sind gewiß im Irrthume.34 Die ganze Geschichte der Menschheit liefert eine Folge von Veränderungen, wo dem Denker der Grund einer jeden sich ziemlich vollständig in den vorher gehenden darbietet.“ Der dieser These folgende Abriss der kirchen-, wissenschafts- und geistes-, partiell auch der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung in Italien, Frankreich, England und Deutschland kann an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden. Das gegenwärtige „allgemeine Mißvergnügen und die Verderbniß hat in und durch den gelehrten Stand am meisten gewürkt“. Dieser habe „Grundwissenschaften“ vernachlässigt und stattdessen „übereilte Brodcollegia“ angeboten, die „der Bildung gründlicher Gelehrten sehr“ schadeten, vielmehr „Charlatans“ hervorbrächten, „welchen à la modische Belletristerey und Polyhistorie, Journal Gelehrsamkeit sehr behülflich ist“. Das habe eine „Zerrüttung des ganzen wissenschaftlichen Faches“ bewirkt. Daraus entspringe „bey so vielen halb Unterrichteten allgemeine Praetension nach Philosophie, Paradoxie, und diese bringen natürlicher weise Religionsspötterey, Unsittlichkeit, Irreligion, Regierungsstürmerey, als die leichtesten Arten des Scheinwitzes hervor“. Eine unmittelbare Verbindung sah Fürstenberg zwischen diesem Verfallszustand der Wissenschaft und der Freimaurerei: „In diesem Zustande von Gährung war die Freymaurerey eine höchst bequeme Einrichtung. Die Menge der Narrheiten, wozu sich diese Gesellschaft, und vom Strome hingerissen, auch sehr gute Köpfe, unter der Direction ihres berühmten unsterblichen Oberhauptes, haben hinreißen lassen, wäre unerklärbar, wenn man den Grund dazu in der ganz unphilosophischen Schwärmerey des Zeitalters nicht fände.“35 Er resümierte: „Dieses ist ungefähr die Lage des Zeitalters, worauf bey aller Volksbildung Rücksicht genommen werden muß.“ 34
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Das Wort „crisis“ ist hier in seiner ursprünglichen Bedeutung als „Entscheidung, entscheidende Wendung“ zu verstehen. In der Sache könnte hier die Hoffnung auf eine vollständige Wendung („crisin perfectam“) der Französischen Revolution im Sinne ihrer Überwindung gemeint sein. Zu Fürstenbergs Haltung zur Freimaurerei und zur 1778 gegründeten münsterischen Loge „Friedrich zu den drei Balken“, der Fürstenberg anfangs wohlwollend gegenübergestanden, aber wohl nicht angehört hat: Elmar Wildt, Die Loge zu Münster, ihr Umfeld und ihre Mitglieder um 1780, in: Westfälische Zeitschrift 143 (1993), S. 71–142. Dass Fürstenberg sich in der Freimaurerei und ihren Richtungen auskannte, zeigt folgender Satz in der Denkschrift: „Hieraus entstanden Martinisten, Africaner, Egyptici, Magen und endlich Illuminati.“ Bei den Martinisten handelt es sich um die von Louis Claude de Saint-Martin (1743–1803) gegründete Richtung; sein grundlegendes Werk Des erreurs et de la vérité (1773) hat Matthias Claudius, mit dem Fürstenberg im Kontext des ‚Kreises von Münster‘ in Verbindung stand, 1782 unter dem Titel Irrtümer und Wahrheit ins Deutsche übersetzt. Zu der Richtung „Afrikanische Bauherren“: Eugen Lennhoff und Oskar Posner, Internationales Freimaurerlexikon, Zürich u. a. 1932 (ND Wien 1980), Sp. 25 f.; der ägyptische Ritus hatte den Hochstapler Alexander von Cagliostro (1743–1795) zum Gründer (ebd., Sp. 246–249); zur „Magischen Maurerei“:
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Im Weiteren erörtert Fürstenberg den Zusammenhang zwischen dem Zustand der Staatsordnung und den Defiziten der Bildung. Die Fürsten gefährdeten durch „Despotismus und Egoismus“, die Aristokratie durch „Vorurtheile, welche durch Abgang von Erziehung und Kenntnisse ihren Standort in der wirklichen Welt gar nicht kennen“, durch Üppigkeit und Pflichtvergessenheit die gegebene Ordnung. Er kritisiert aber auch die „im democratischen Geiste“ handelnden Gruppen der Gesellschaft, von denen ein Teil „alle Staaten in Republiken verwandeln“ wolle, andere sich gegen die Aristokraten richteten, aber „ebenso wenig als der schlechtere Theil der Aristocraten durch Erkenntniß eines neuen Verhältnisses zum gemeinen Wohl, sondern eben so durch Eigennutz geführet“ würden. Nicht selten beherrsche diese „ein hämischer Geist“, der sie „cynisch, stolz, gefühllos gegen das Schöne, sogar gegen das Schöne der Künste macht. Von diesem letzten liefert die französische Revolution nie erhörte Beyspiele.“ Wenn diese „Claße“ eine Verfassung aus „Democratie und Despotismus“ anstrebe, zeige „die Erfahrung aller Zeiten, daß diese in den härtesten mit Verachtung der Menschheit verbundenen Despotismus ausartet“.36 Um den Gefahren der „Regierungsstürmerey“ zu wehren, galt es für Fürstenberg, angesichts der gestuften Gesellschaftsordnung und der dieser eigenen rechtlich-politischen Ungleichheit die Tugend der „Gerechtigkeit“ zu festigen. Er versprach sich davon: „Den Vornehmen wird hierdurch die ursprüngliche Gleichheit des Menschen, seiner Natur nach, einleuchten und lieb werden. Der mittlere und niedrigere Stand wird ungerechte Empörungen und Revolutionen verabscheuen.“ Zu diesem Zwecke müssten die Besucher von Gymnasium und Universität „durch Philosophie und Geschichte unterrichtet, über das Wohl eines Staates und über Verfassung in etwa richtiger urtheilen lernen; daß bey ihnen ein solides Raisonnement gebildet werde, und die Gewohnheit des kalten Nachdenkens: dann werden sie dem Sophisten und der Declamation nicht so übereilt Gehör geben.“ Dieses den ‚Volksbildnern‘ zugedachte, dem philosophisch-historischen Wissen und der Rationalität verpflichtete Bildungsprogramm sollte grundsätzlich, wenn auch nicht dem Umfange nach, auch für den „gemeinen Mann“ gelten. Auch bei ihm müsse „das Raisonnement gebildet“ werden; er müsse begreifen, dass er „aus Abgang von Kenntnissen […] von unruhigen Köpfen sehr leicht irre geführet“ werden könne. Da der „Hang zur politischen Kannengießerey […] in dieser Classe nothwendig böse Wirkungen“ habe, müsse man ihn „zu verhüten suchen. […] Man muss ihnen die Vortheile der Ordnung und daß irgend niemahls eine Regierungsform, wegen Schwachheit der menschlichen Natur, ohne Fehler seyn wird, begreifflich machen.“
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ebd., Sp. 979–981. Der 1776 von dem Ingolstädter Kirchenrechtler Adam Weishaupt (1748–1830) gegründete Illuminatenorden wurde 1786 in Bayern verboten, wirkte aber fort, vgl. Helmut Reinalter (Hg.), Der Illuminatenorden (1776–1785/87). Ein politischer Geheimbund der Aufklärungszeit, Frankfurt 1997. Fürstenberg gesteht allerdings zu, dass es im Unterschied zu dieser Haupttendenz „einen kleinen auserwählten Theil der Democraten“ gebe, die „ihre Absicht auf das gemeine Wohl“ richteten, „gerechte und wohlthätige Reformen“ hervorbrächten, aber wegen des Hasses der radikalen Strömung „fast alle die Ehre [hätten], Märtyrer zu werden“. Ebd.
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6. Erziehung zu „Bürgergeist“, Gemeindegeist und „Patriotismus“ Um dieses Ziel einer an realistischen, nicht idealistischen Maßstäben ausgerichteten Staatsloyalität zu erreichen, müsse „der Unterricht des Landmann in Religion und Sittenlehre nicht Psittarismus [= papageienhaftes Nachplappern, A. H.], sondern Überzeugung seyn, sonst wird kein Gefühl von Gerechtigkeit erzeuget werden“. Dazu genüge aber nicht kognitive Wissensvermittlung und -aneignung: „Gefühl von Liebe und Gerechtigkeit muß er auch practisch gelehret werden durch Beyspiele und eigene Gewohnheiten.“ Auch hier maß Fürstenberg der Rechenkunst besondere Bedeutung zu: „Raisonnement, Besonnenheit und Klugheit lehret ihn Rechenkunst, ordentliche Lehrart und Vortrag, und eine Sammelung wohl gewählter Denksprüche.“ Der Landmann sollte aber auch dazu befähigt werden, „die Bedrückungen, welche er fühlet, gehörigen Ortes vorzutragen“. Hierdurch konnte er gegenüber Obrigkeiten gewissermaßen ‚wehrhaft‘ gemacht werden. Andererseits erwartete Fürstenberg von ihm „neben dem allgemeinen Bürgergeiste einen solchen auch für seine Gemeinde“. Über den unmittelbar erfahrbaren Bereich seiner Obrigkeit und seiner Gemeinde hinaus aber sollte er keine ‚politische Bildung‘ genießen: „Zu weiter Untersuchung über politische Verfassung, welche er nie auf den Grund einsehen lernet, muß er nie angeleitet werden.“ Nach Fürstenbergs staatspolitischem Bildungskonzept wurde aber nicht nur vom Landmann, das heißt von der übergroßen Masse der Bevölkerung, erwartet, sich mit „Bürgergeist“ in die ständisch gegliederte Gesellschaft einzufügen. Im Sinne der zuvor von ihm angesprochenen ‚Beispielpädagogik‘ sollten umgekehrt Adel und Geistlichkeit „seine Hochachtung und Vertrauen erwerben“. Insbesondere die Geistlichkeit müsse dies tun „durch guten Lebenswandel, durch eifrige und liebevolle Erfüllung ihrer Pflichten, durch Uneigennützigkeit, und daß sie sich nicht leicht in weltliche Händel mischet“.37 Wenn das für den Landmann entworfene Bildungsziel erreicht werden solle, seien „eine vortreffliche Lehrart […] und gewiß besser unterwiesene Schulmeister und Geistliche“ nötig. Dafür biete Overbergs Anweisung die Grundlage. Dieses „tiefsinnige Werk“ würden zwar nicht alle Schulmeister „gründlich fassen“, das heißt begreifen und nutzen. Selbst bei Anwendung dieser Lehrart sei es „nicht möglich, daß die ganze Gemeinde die nehmliche Gründlichkeit erlange“. Doch würden in einer „gut unterrichteten Gemeinde sich einige vorzüglich gut und zweckmäßig gebildete Landleute hervor thun, was wegen ihres Einflusses auf alle übrigen“ wichtig sei, weil „dadurch der gute Geist sich durch mehrere Generationen fortpflanzet“. Dass „Bürgergeist“ und Gemeindegeist, wie Fürstenberg sie als Frucht eines an der Aufklärung der Bevölkerung ausgerichteten Bildungssystems erwartete, 37
Gemäß solcher Vorbildpädagogik hatte auch Kurfürst Maximilian Franz in seinem kritischen Schreiben an Fürstenberg vom 16.07.1789 geäußert, er wünsche, dass diejenigen, „so die strengsten Tugendlehren ihren Schülern vortragen, auch durch ihre Handlungen und Beispiele den Einfluß dieser Philosophischen Regeln bestärken mögten“: BAMs, Nachlass Fürstenberg 249/1.
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unerlässliche Bedingungen einer auf die Erhaltung des Staates ausgerichteten Gesamtpolitik sein mussten, hatte er bereits in einer Landtagsrede am 3. Mai 1780 – also noch als Minister – dargelegt. Von einer Politik der „Beföderung der gemeinen Glückseligkeit“ sei vorauszusehen, „daß der Untertan allzeit glücklicher werden würde, und hievon wäre die nothwenige Folge, daß jeder Bürger des Staates an desselben Erhaltung beständig einen größeren Antheil nehmen“ werde, woraus sich „wahrer Patriotismus“ entwickele.38 Natürlich wurden dadurch aus Untertanen nicht „Bürger des Staates“ im Sinne der zeitgenössischen Verfassungsbewegungen in den USA und im Frankreich der Revolution. Ihre patriotische Identifikation mit dem zugleich monarchischen und aristokratisch-ständischen Staat ließ sich aber – davon war Fürstenberg überzeugt – nur erreichen, wenn nicht nur Gehorsam sie dazu zwang, sondern auch die Verbesserung der eigenen Lage ihnen das nahelegte. Aus dem Untertanenstaat sollte hinsichtlich der Bewusstseinslage, nicht aber bezüglich der politisch-rechtlichen Teilhabe, eine „Nation“ werden. Diesen im damaligen Deutschland auch für kleinere und mittlere Territorien geläufigen Begriff hat Fürstenberg schon früh auf das Hochstift Münster angewandt. Wenn er ihn also in seinem zusammenfassenden Bericht „an die Königlich Preußische Regierung über die Lehranstalten des Münsterlandes“ vom Oktober 1802 des Öfteren benutzte, war das nicht ausschließlich dem Siegeszug der „Nation“ seit der Französischen Revolution geschuldet.
7. „Bildung des Kopfes“ und „Bildung des Herzens“ In diesem von der preußischen Regierung in Münster angeforderten Bericht, in den viele Bestandteile seiner Promemorien von 1791 zum Teil wörtlich eingeflossen sind, hat Fürstenberg vor allem die innere und organisatorische Stimmigkeit des Bildungssystems hervorgehoben. Er schließt seinen Bericht so: „Diese Schilderung zeigt, daß die Institute der Nationalerziehung im hiesigen Lande ein einziges, systematisch geordnetes Ganze ausmachen, wovon alle Teile ineinander eingreifen und sich wechselseitig voraussetzen.“ (§ 69).39 Beim Erziehungswesen sei es „um den Unterricht des gemeinen Mannes und die wissenschaftliche Ausbildung der höheren Stände“ gegangen, weshalb „zwei verschiedene Institute: Landschulen und Universität“ erforderlich gewesen seien, die „beide ein wohlgeordnetes Ganze bilden“ sollten (§ 1). Noch wichtiger aber war 38 39
Hanschmidt, Staatsmann, S. 182 f. Gedruckt bei Esch, Franz von Fürstenberg, S. 297–310; Zitate werden nicht mit der Seitenzahl, sondern mit den in Klammern gesetzten Paragraphen nachgewiesen. „Nation“ und mit dem Adjektiv „national“ gebildete Begriffe finden sich in den Paragraphen 16, 28, 51, 55, 56 und 69. Wenn er eingangs darauf hinwies, dass Kurfürst Maximilian Friedrich „beim Antritte seiner Regierung sein erstes Augenmerk auf die vernachlässigte Bildung des Volks und das zurückgekommene Erziehungswesen“ gerichtet habe (§ 1), konnte er seinen eigenen Anteil an dessen Verbesserung andeuten, ohne seinen Namen zu nennen.
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ihm eine dritte Institution: „Das Gymnasium musste der Mittelpunkt aller Zweige der öffentlichen Erziehung und zugleich der Grundstein der ganzen Anlage werden.“ (§ 2). Dessen wichtigste Aufgabe sei die „Bildung der Volkslehrer und Seelsorger“, weniger von Rechtsgelehrten und Ärzten; denn: „Der Lehrer des Volks mußte notwendig im Volke selbst die Anstalt seiner Bildung finden.“ (§ 6). Der eigentliche Lehrer des Volks sei der Seelsorger, dem neben seinen Pflichten der Katechese, Predigt und Sakramentenspendung auch die „Direction der Schullehrer“ und die „direkte Doktion“, also eigener Schulunterricht oblagen (§§ 7, 8 und 17). Nach der Nennung des Vermittlers bestimmte er als „die Gegenstände des Volksunterrichts […] hauptsächlich […]: a) die Religion und Moral, b) die Erhaltung der Gesundheit und der Erwerb der bürgerlichen Nahrung“ (§ 10). Nicht nur die „in der Diätetik [= auf die Nahrungsmittel bezogene Gesundheitslehre; A. H.] und der Wissenschaft der Hauswirtschaft“ vorkommenden Begriffe, sondern auch diejenigen in der Religions- und Sittenlehre müssten den Kindern „anschaulich“ erklärt werden. Bei letzteren seien „metaphysische Spitzfindigkeiten“ zu vermeiden, vielmehr müssten „die Wahrheiten durch wirkliche Erwägung dem Verstande und dem Herzen fühlbar gemacht werden“ (§ 11).40 Da „eine praktische und möglichst vollständige Bearbeitung und Bildung der verschiedenen Kräfte und ihrer Tätigkeiten in der Seele des Kindes“ Ziele des Schulunterrichts seien (§ 13), leite sich von dort „die Norm zur Bildung der Schullehrer in Hinsicht auf Kenntnisse und Charakter“ her (§ 14). Der Schullehrer sollte neben gründlicher Kenntnis der Religions- und Sittenlehre „das Rechnen, die ersten Anfangsgründe des Feldmessens und den praktischen Teil der Mechanik und der Naturwissenschaft verstehen“. In methodischer Hinsicht sollte er über „eine gründliche Menschenkenntnis“ und „einen geschmeidigen Vortrag“ verfügen, in charakterlicher Beziehung „Ernst, Liebe, Geduld, Bescheidenheit, Arbeitsamkeit, wahren Eifer oder gar Begeisterung für sein Amt und die Religion besitzen“. Über dieses zweifellos idealistisch überhöhte Lehrerbild könne man sich in Bernard Overbergs Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterrichte informieren und es in der von diesem geleiteten „Nationalanstalt der Normalschule“ einüben (§§ 14 und 16).41 In höherem Maße noch als der Schullehrer sollte der Seelsorger über die von jenem erwarteten Kenntnisse, Fähigkeiten und Eigenschaften verfügen (§ 18). Dazu gehörten neben „gründlicher theologischer Wissenschaft“ ein „reines, tiefes Gefühl 40 41
Dafür verweist er hier und später noch einmal (§ 22) auf seine Schrift Über das Gefühl des Wahren, worin es vor allem um die Deutlichkeit und Logik der Begriffe geht (gedruckt bei Esch, Franz von Fürstenberg, S. 189–193). Dazu: Hubert Steinhaus, Bernard Overbergs „Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterricht für die Schullehrer“ (1793). Die Rezeption der Aufklärungspädagogik im Fürstbistum Münster, in: Westfälische Zeitschrift 137 (1987), S. 89–126; Alwin Hanschmidt, Lehrerexistenz und Heils- und Gemeinwohlverantwortung. Zum Lehrerbild Bernard Overbergs, in: Willigis Eckermann und Karl Josef Lesch (Hg.), Dem Evangelium verpflichtet. Perspektiven der Verkündigung in Vergangenheit und Gegenwart, Kevelaer 1992, S. 67–84; ders., Art. Overberg, Bernard Heinrich, in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 727 f.; ders., Schulreform durch Lehrerbildung. Zur Professionalisierung der Lehrerschaft in Westfalen um 1800, in: Westfalen 79 (2001), S. 119–134.
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der Religion“, „Kenntnis des menschlichen Herzens“ ebenso wie „der Theorie der Wahrheitserkenntnis“, außerdem hoher Berufseifer, „Menschenliebe im Geiste des Evangeliums und eine durch strenge Wachsamkeit über sich selbst erzeugte Harmonie seiner sittlichen Neigungen“. Es war ein anspruchsvolles Programm intellektueller, sittlicher und religiöser Vertiefung, das Fürstenberg den Seelsorgern und Schullehrern im Blick auf die Überzeugungskraft ihrer volksbildnerischen Tätigkeit zumutete. Die von ihm immer wieder geforderte Verbindung von „Bildung des Kopfes zum richtigen und gründlichen Denken“ und von „Bildung des Herzens zur Gottseligkeit und Tugend“ (§ 20) habe in der Schulverordnung für das Gymnasium von 1776 ihre Ausformung gefunden (§ 19). Gegenstände des gymnasialen Unterrichts sollten einerseits „vollständige Erkenntnis Gottes, seiner [d. h. des Menschen, A. H.] selbst und des ganzen Natursystems“ sein, andererseits aber auch die „Fähigkeit, erkannte Wahrheit durch Deutlichkeit und Beredsamkeit des Vortrages anderen nützlich und wichtig zu machen“ (§ 21).
8. Nützliche Fächer: Geschichte, Naturwissenschaft, „Chirurgie“ und Landwirtschaft Für die Unterweisung in Religion und Sittenlehre, deren Wahrheiten „Bedingungen des menschlichen Wohls“ seien (§ 26), sei der Unterricht in Geschichte, wenn er mit empirischer Psychologie verbunden sei, besonders nützlich, weil sie den Einfluss zeige, „welchen die öffentliche und Privatglückseligkeit von der Tugend und Tätigkeit und diese von dem Nationalgeiste der Erziehung und der öffentlichen Verfassung empfangen“. Zugleich aber werde „durch die philosophische Bearbeitung“ der Geschichte „ein richtiger Grundriß für die Zukunft“ vermittelt (§ 28). Eine solche Funktion der Geschichte als ‚politische Bildung‘ war Fürstenberg auch für die Ausbildung der Juristen an der Universität wichtig. Hier habe der Lehrer des Naturrechts „die Theorie der natürlichen Rechte und Verbindlichkeiten [d. h. Pflichten; A. H.] aus ihrem Princip, dem Vernunftgesetze, und dieses aus der richtigen Idee der menschlichen Freiheit abzuleiten“; zugleich aber habe er „die Revolutionen [d. h. Veränderungen; A. H.] darzustellen, wodurch in den verschiedenen Epochen der allgemeinen Geschichte der Mensch […] zu organisierten und zweckmäßig eingerichteten Verfassungen emporgehoben wurde“ (§ 50). Dabei sei die „besondere Geschichte der Nationen“ zu berücksichtigen. Nur die Geschichte könne zeigen, „wie das Ideal der vernünftigen Rechtsverfassung, welches das Naturrecht aufstellt, durch Charakter, Sitten, Religion, Lage und Schicksale des Volkes modifiziert, in seiner positiven Rechtsverfassung ausgedrückt wurde“ (§ 51).42 In 42
Einen solchen induktiven historisch-genetischen Ansatz statt eines deduktiven prinzipiengebunden-abstrakten bevorzugte Fürstenberg auch bei der Aufgabenbeschreibung der Reichsgeschichte (§ 55) und des deutschen Staatsrechts. Auch hier zeige die Geschichte, „wie die Grundsätze des allgemeinen Staatsrechts und die Form der Ver-
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einer solchen Sicht sollte Geschichte auch das Rüstzeug liefern, die gegebene ständische Verfassung des Hochstifts zu rechtfertigen und so der „Regierungsstürmerey“ entgegenzuarbeiten. Eine solche Auffassung, die an das Geschichtsverständnis des Osnabrücker Staatsmannes und Geschichtsschreibers Justus Möser (1720–1794) erinnert, legte Fürstenberg auch zugrunde, wenn es um die Rechtfertigung konkreter Verfassungsverhältnisse ging. So schrieb er in seiner Denkschrift Über Volkserziehung, die Demokraten, welche die Umwandlung der Staaten in Republiken forderten, möchten damit „in thesi [d. h. im Prinzip; A. H.] wohl kein Unrecht haben“; es komme aber laut Aristoteles nicht darauf an, „welche Verfassung in thesi die beste sey, sondern was unter den gegebenen datis das Schicklichste“.43 Im gleichen Sinne schrieb er dem Kurfürsten am 31. Dezember 1800: „Wenn man mit Hintansetzung des Positiven der stehenden Staatsverfassung, reinen Metaphysisch-politischen Ideen folgt, als wenn die Frage von einer ersten Stiftung eines Staats wäre: So findet man ohne Mühe ein offenes Feld, um einen metaphysisch-politischen Entwurf einer vollkommenen Staatsverfassung anzulegen; aber wo führet dieser Weg hin? Davon zeugen die schrecklichen Begebenheiten in unserer Zeit.“44 Auf eine spezifische Weise sollte auch der naturwissenschaftliche Unterricht zur Verbesserung der Verhältnisse und damit zur Stabilisierung von Gesellschaft und Staat beitragen. Er sollte einerseits „Anleitung zur Kenntnis Gottes“ (im Sinne einer natürlichen Theologie) und zur „Erweiterung der Begriffe über das ganze Gebiet des Universums“ bieten. Er hatte aber auch, soweit er sich auf „Chemie, Ackerbau und Gewerbe“ bezog, „den künftigen Rechtsgelehrten und Kameralisten zu allen Arten von Regierungs-, Polizei- und Nahrungsgeschäften vorzubereiten und den Geistlichen in den Stand zu setzen, seiner künftigen Gemeinde auch in Hinsicht auf ihre zeitliche Wohlfahrt manche Vorteile verschaffen zu können.“ (Bericht von 1802, § 29). Solche praxisbezogene Qualifizierung der ‚Funktionselite‘ war auch bei der Bestimmung der Aufgabe der Medizinischen Fakultät der Universität maßgebend. Der Medizinalunterricht habe einen doppelten Zweck: „1. die Bildung der gründlichen Ärzte; 2. die Unterweisung der Chirurgen. Zu dieser letztern Klasse gehören auch die Geburtshelferinnen“ (§ 60). Dabei galt der Ausbildung fähiger Chirurgen der Vorrang, was Fürstenberg so begründete: Man könne nicht so viele „gründliche Ärzte“
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fassung, welche dasselbe aufstellt, durch die besonderen Schicksale einer Nation modifiziert und bestimmt werden, und gibt so den richtigen Gesichtspunkt, um in den Geist der gegenwärtigen Verfassung einzudringen“ (§ 56). Zu Fürstenbergs Geschichtsauffassung: Bernd Mütter, Die Geschichtswissenschaft in Münster zwischen Aufklärung und Historismus unter besonderer Berücksichtigung der historischen Disziplin an der münsterschen Hochschule, Münster 1980, S. 35–50. BAMs, Nachlass Fürstenberg 179. BAMs, Nachlass Fürstenberg 250/1. Anlass für diese Aussage war die Weigerung von Klerus und Adel – die das Privileg der Steuerfreiheit genossen – auf dem Landtag gewesen, durch eine außerordentliche Abgabe zur Finanzierung der „Zulage“ für die Schullehrer beizutragen.
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(d. h. Mediziner im Vollsinne) ausbilden, „daß sie bei allen geringeren, insonderheit den zerstreut wohnenden Landleuten zustoßenden, leicht zu erkennenden und zu behandelnden Krankheitsfällen gebraucht werden könnten“. Da „diese Gattung der Krankheiten“ aber nicht „ganz ohne Hülfe gelassen oder der Heilung von Quacksalbern überlassen werden“ könne, seien „zu ihrer Behandlung fähige Chirurgen unentbehrlich“ (§ 60). Weil sie der Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse der Landbevölkerung dienen sollten, werde den Chirurgen, obwohl ihnen „die medizinische Praxis […] im Ganzen nicht erlaubt“ war, nicht untersagt, „die Behandlung der ganz leichten Fälle“ vorzunehmen, sofern sie auf dem Lande wohnten (§ 67). Wie hier zog sich das Erfordernis der Praxisbezogenheit durch Fürstenbergs Ausführungen zu den anderen Fakultäten und Disziplinen. Die Universität war somit in erster Linie eine berufsqualifizierende Lehruniversität – wie übrigens damals fast alle deutschen Universitäten. Wegen ihrer hauptsächlich pädagogisch-praktischen und territorial-konfessionellen Funktion, aber auch wegen ihrer beschränkten finanziellen Mittel sollte sie nicht mit größeren Universitäten konkurrieren. Die Professoren rekrutierte Fürstenberg möglichst aus dem eigenen Lande. Da man zu ihrer Aus- und Weiterbildung – insbesondere in den Rechtswissenschaften und der Medizin – aber nicht auf auswärtige Studien verzichten konnte, wurden ihnen Studienaufenthalte an anderen Universitäten ermöglicht.45 Wollte Fürstenberg durch die Anwendung des Landeskinderprinzips die Homogenität des Lehrkörpers sichern, so war damit doch auch die Gefahr von Verengung und Einseitigkeit verbunden.46 Unmittelbarer noch, als Gymnasium und Universität es konnten, sollte der Unterricht in den Elementarschulen die Lebensverhältnisse verbessern helfen. In der Schulverordnung von 1801 fand sich nicht nur die Aussage, „wie sehr des Landes wahre Wohlfahrt von der Verbesserung des Schulwesens abhange“, sondern auch Anweisungen, die sich auf die Wirtschaft und insbesondere auf die Landwirtschaft als deren wichtigsten Zweig bezogen. So sollte „in allen Landschulen von den ersten theoretischen ungezweifelten Grundsätzen des Ackerbaues und der Landwirtschaft Unterricht erteilt werden“.47 Ferner sei Bedacht darauf zu nehmen, „ob nicht einige 45
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Zumindest in einem Fall war Kurfürst Maximilian Franz sogar mit einem Studienaufenthalt eines Theologieprofessors an einer protestantischen Universität einverstanden. So schrieb er am 15.10.1792 an Fürstenberg: „Auch würden wir dabei keinen Anstand haben, dem für die Scriptur [Heilige Schrift] und Moral bestimmten [Professor] die Mittel zu einer zweckmäßigen Reise auf andere Katholische, auch wohl Protestantische Universitäten/: wann sich bei den reisenden Individuen ein besonderer Nutzen von der Besuchung fremder Academien erwarten ließe:/anweisen zu laßen.“: BAMs, Nachlass Fürstenberg 179. So die Kritik des Freiherrn vom Stein 1804. Vgl. Hanschmidt, Fürstbistum Münster, S. 75. Verordnung für die Deutschen und Trivialschulen des Hochstifts Münster vom 02.09.1801, gedruckt bei Esch, Franz von Fürstenberg, S. 235–262 (Zitate S. 235 und 238). Bereits 1790 war Anton Bruchausens Buch Anweisung zur Verbesserung des Ackerbaues und der Landwirtschaft Münsterlandes, das eigens „für die Landschulen und den Landmanne des Hochstiftes Münster verfertiget“ worden war, kostenlos an alle Schulen verteilt worden. Bruchausen hatte auch in der Normalschule eine Vorle-
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kleine Industrie- oder Handarbeit mit der Schule […] verbunden […] werden könne“, um die Kinder „zur Handarbeit und zum Fleiße zu gewöhnen“ und um „den einen oder andern in der Gegend etwa unbekannten, doch nützlichen Zweig der Industrie und Nahrung einzuführen“. Solche durch die Schule zu bewerkstelligende Steigerung der Erwerbsmöglichkeiten würde sowohl der ‚Betriebswirtschaft‘ des Einzelnen wie der ‚Volkswirtschaft‘ des Landes zugute kommen, mithin der gesamtgesellschaftlichen Stabilisierung dienen.
Fazit Fürstenberg ging es in seiner Bildungspolitik einerseits um die „Glückseligkeit“ des Einzelnen im Diesseits, mehr noch aber im Jenseits. Daher meinte Bildung für ihn stets religiöse Bildung, die den Einzelnen befähigen sollte, eine gläubige und sittlich handelnde Person zu werden. Sie sollte ihm eine von Glaubenswissen, also von Einsicht und Vernunft aufgehellte Lebenspraxis ermöglichen, die zugleich durch Tugendhaftigkeit als Grundlage des Glücks bestimmt sein sollte. Die Religionspraxis sollte sich nicht auf bloße Annahme des dogmatisch und moralisch Vorgeschriebenen beschränken, sondern zu dessen existentieller Vertiefung führen. „Aufklärung“ war bei ihm somit nicht gegen konfessionelle Gläubigkeit und Kirchlichkeit gerichtet, sondern sollte eine Glaubwürdigkeit bewirken, die einen unbefragten Traditionalismus überwand. Auf der anderen Seite war ihm die alltagsweltlich-irdische Dimension der Glückseligkeit wichtig. „Verbesserung“ der physischen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse des „gemeinen Mannes“, des „Landmannes“, also der breiten Masse der Bevölkerung, sollte durch eine elementare Bildung geschehen, welche die Lebenstüchtigkeit förderte. Dazu war eine gründliche Ausbildung der Seelsorger und der Schullehrer als Vermittler erforderlich, aber auch der Inhaber öffentlicher Ämter. Dem sollten die ihrerseits stets zu verbessernden Bildungsinstitutionen – das Gymnasium als Kernstück, die Universität und die Schullehrerqualifizierung (Normalschule) – dienen. Nutzen von solcher praktisch-aufklärerischen Politik habe des Weiteren aber nicht nur die Bevölkerung, sondern auch der Staat. Denn die Verbesserung der materiellen Existenzgrundlage führe zur Bejahung des gegebenen monarchisch-aristokratischen Staates und beuge somit der „Regierungsstürmerey“ vor. Durch die Überwindung von Rückständigkeiten werde der Staat an Zukunftsfähigkeit gewinnen.48 Gemeinwohl und Herrschaft würden somit zugleich gefördert bzw. gesichert.
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sung über Landwirtschaft gehalten (Kurfürst Maximilian Franz an Fürstenberg, Bonn 15.10.1792: BAMs, Nachlass Fürstenberg 179). Zum Problem der angeblichen Rückständigkeit und mangelnden Existenzfähigkeit der Geistlichen Staaten: Alwin Hanschmidt, Die Säkularisation von 1803 nach 200 Jahren. Eine Umschau in der Literatur zu einem „Mega-Ereignis“ historischen Gedenkens, in: Historisches Jahrbuch 129 (2009), S. 387–459, hier S. 396–403.
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Zudem sollte die Gesellschafts- und Staatsordnung auf der ‚Diskursebene‘ durch den Hinweis auf die Historizität der Verfassung abgestützt werden. Nicht abstrakte („metaphysisch-politische“) Prinzipien dürften die Staatsform bestimmen. Solchem Idealismus müsse der Positivismus einer historisch-genetisch gerechtfertigten, wenn auch in manchem defizitären Staatsgestaltung entgegengestellt werden. Durch diese Argumentation sollte auf der ideenpolitischen Ebene gegen die bedrohlichen Strömungen, die von der Französischen Revolution ausgingen, ein Damm gebaut werden. Ob dieser bei Fortdauer der Selbständigkeit des Hochstifts Münster gehalten hätte, muss offen bleiben; denn dessen Existenz wurde durch die Säkularisation von 1803 von außen gewaltsam beendet. Beweise seiner Entwicklungsfähigkeit, die von Anfang an ein zentrales Motiv der politischen Bemühungen Fürstenbergs war, hatte es insbesondere durch dessen bildungspolitische Maßnahmen erbracht.49 Daher spricht kaum etwas dagegen, dass die dadurch erzielten Erfolge sich auch in einem selbständig gebliebenen Hochstift fortgesetzt hätten. Dafür lässt sich auch – trotz zwischen beiden bald auftretender Meinungsverschiedenheiten über die Gestaltung des Bildungssystems50 – das Urteil des Freiherrn vom Stein über Fürstenberg vom 6. Oktober 1802 anführen: „Durch seine Erziehungsanstalt hat er einen großen Vorrath von Kenntnissen, ordentlichem logischen Denken und Moralität unter die Menschen gebracht, und wenn man diesen Geist nicht zertritt, sondern wirken läßt, so kann selbst unter den Trümmern dieser Verfassung sehr viel Gutes werden.“51
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Dazu: Lahrkamp, Münster, S. 419–430 („Das Erbe Fürstenbergscher Bildungspolitik“). Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Bildungspolitik zwei Fallbeispiele: Alwin Hanschmidt, Schulen und Lehrer und ihre „Verbesserung“ im Kirchspiel Lohne um 1800, in: Laon – Lohne 5 (2005), S. 7–23; Maria Anna Zumholtz, „Ist nicht der Ackerbau die Seele des Staates?“. Die Rezeption der Elementarschulreformen Franz von Fürstenbergs und Bernard Overbergs im Emsland, in: Franz Bölsker und Joachim Kuropka (Hg.), Westfälisches aus acht Jahrhunderten zwischen Siegen und Friesoythe – Meppen und Reval. Festschrift für Alwin Hanschmidt zum 70. Geburtstag, Münster 2007, S. 277–310. Alfred Hartlieb von Wallthor, Fürstenberg und Stein, in: Westfalen 39 (1961), S. 76–84. Stein an Frau von Berg, Münster 06.10.1802 (Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, bearb. von Erich Botzenhart, neu hg. von Walther Hubatsch, Bd. 1: 1773– 1803, Stuttgart 1987, S. 576 f.).
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Tridentinische Reform(en)? Zum Profil katholischer Aufklärung in den Fürstbistümern Westfalens* Das unter Katholischer Aufklärung gefasste Anliegen von Bischöfen, Generalvikaren, Ordensgemeinschaften und Pfarrklerikern, Vernunft und Offenbarung in Einklang zu bringen,1 beruhte in den westfälischen Fürstbistümern Münster und Paderborn nicht nur auf der Rezeption aufgeklärter Ideen. Vielmehr war die Katholische Aufklärung auch und gerade mit dem umfangreichen Reformprogramm des Konzils von Trient (1545–1563) verwoben; sie knüpfte demzufolge mit ihren Maßnahmen an das konfessionelle Zeitalter an. Zwar setzten sich die Promotoren der Aufklärung kritisch mit dem Erbe ihrer klerikalen Vorgänger auseinander, doch führte die von ihnen vorgenommene Grenzziehung zwischen ‚wahrer‘ Aufklärung und einer tendenziell deistischen und deshalb ‚falschen‘ Aufklärung dazu, die im 17. Jahrhundert aufgebauten Strukturen beizubehalten. Kontinuität ist also das Leitmotiv meines Vortrages; es würde mir schwerfallen, meinen Vortrag mit der Überschrift „Die Katholische Aufklärung in den westfälischen Fürstbistümern von ca. 1760 bis 1803“ zu versehen. Meine Nachzeichnung der Kontinuitätslinien weist fünf Markierungspunkte auf: Zunächst werde ich den Charakter der Fürstbistümer und den institutionellen Rahmen skizzieren; es folgt die Ausarbeitung der These, dass für ein aufgeklärtes Reformprogramm zwar das Instrumentarium bereitstand, dieses aber nicht genutzt wurde. Im dritten Teil werde ich dann einige der Reformmaßnahmen daraufhin überprüfen, ob sie vom Geist der Aufklärung oder vom Erbe des konfessionellen Zeitalters geprägt waren. Im vierten Teil gehe ich auf die Gesellschaft der Aufklärer ein, und im fünften Abschnitt werde ich Ihnen das Kirchenvolk als Bollwerk des Tridentinums vorstellen.
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Um zentrale Belege ergänzte Fassung meines Festvortrags vom 16. September 2010. Der Vortragsstil ist beibehalten worden. Für eine kritische Durchsicht danke ich Dr. Christian Helbich, Münster. Einführend zur Katholischen Aufklärung Eduard Hegel, Die katholische Kirche in Deutschland unter dem Einfluß der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Opladen 1975; Harm Klueting, „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht.“ Zum Thema Katholische Aufklärung – oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung, in: ders. (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, S. 1–35.
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1. Geistliche Staatlichkeit In den Fürstbistümern Münster und Paderborn – gelegentlich werde ich auch auf das Fürstbistum Osnabrück eingehen2 – fielen weltliche und geistliche Macht in der Person des Fürstbischofs zusammen. Ein kurzer Blick auf die landesgeschichtlichen Befunde zeigt, dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Fürstbistümern wenig Neues tat: Die Behördenbildung blieb auf dem Stand des 17. Jahrhunderts stecken; eine Justizreform, die mit den preußischen Reformen zu vergleichen ist,3 fehlte ebenso wie eine wirklich überzeugende Merkantilpolitik – der unvollendet gebliebene Max-Abschnitt des Max-Clemens-Kanals ist für das Fürstbistum Münster ein noch heute sichtbares Beispiel.4 Die dominante Stellung der Domkapitel und der adligen Ritterschaft als Landstände blieb als Strukturmerkmal der Fürstbistümer ebenso erhalten wie die zahlreichen, aus der Grundherrschaft herrührenden Privilegien des Adels.5 Die ätzende Kritik, welche aufgeklärte Schriftsteller an den Zuständen der Westfalia Sacra äußerten – die Reisebeschreibung Justus Gruners mit seiner Hervorhebung des katholischen ‚Schlendrians‘ ist Ihnen sicherlich noch aus der Ausstellung des Landesmuseums 2003 geläufig6 – und auch die 2
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Das Fürstbistum Osnabrück wurde aufgrund der „Immerwährenden Kapitulation“ im Betrachtungszeitraum von einem lutherischen Fürstbischof, Friedrich August von Braunschweig-Lüneburg (= Frederick Augustus, Duke of York and Albany), regiert (1764–1802). In dieser Zeit war der Erzbischof von Köln für die Katholiken im gemischt-konfessionellen Fürstbistum zuständig. Notwendig ist eine konfessionsvergleichende Studie mit den Themenfeldern Pfarrerschaft und Gemeinde im Fürstbistum Osnabrück im Zeitalter der Aufklärung. Möglicherweise verstellt die ‚Lichtgestalt‘ Justus Möser den Blick auf die (unvollkommene?) Rezeption der Aufklärung vor Ort. Vgl. die Studie über lutherische Gemeinden von Monika Fiegert, „… eine vollständige Übersicht von den Angelegenheiten Kirche und Gemeinde …“ Über die Schwierigkeiten einer Aufklärung von „oben“ in Osnabrücker Kirchspielen um 1800, in: Osnabrücker Mitteilungen 108 (2003), S. 161–178. Dort (Anm. 5–8) Verweise auf weitere Studien von Fiegert. Dies wird deutlich an den letztlich gescheiterten Bemühungen einer Verwaltungs- und Gerichtsreform am Ende des 18. Jahrhunderts im Fürstbistum Münster. Vgl. Johannes Katz, Das letzte Jahrzehnt des Fürstbistums Münster unter besonderer Berücksichtigung des Geheimen Staatsreferendars Johann Gerhard Druffel, Würzburg 1933. Heinrich Knüfermann, Geschichte des Max-Clemens-Kanals im Münsterland, Hildesheim 1907. Elizabeth Harding, Landtag und Adligkeit. Ständische Repräsentation der Ritterschaften von Osnabrück, Münster und Ravensberg 1650 bis 1800, Münster 2011; Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979. Gerd Dethlefs und Gisela Weiß (Hg.), „Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians“. Westfalens Aufbruch in die Moderne, Münster 2002. Gruners Wallfahrt zur Ruhe und Hoffnung ist neuerdings leicht zugänglich in Gerd Dethlefs und Jürgen Kloosterhuis (Bearb.), Auf kritischer Wallfahrt zwischen Rhein und Weser. Justus Gruners Schriften in den Umbruchsjahren 1801–1803, Köln u. a. 2009, S. 117–432. Vgl. zur „Andächtelei“ in Münster ebd., S. 274 f. Zusammenschau der Reisebeschreibungen in Friedrich Keinemann, Zeitgenössische Ansichten über die Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in den westfälischen Territorien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts,
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katholische Selbstreflexion im Journal von und für Deutschland änderten an dieser Verfassungswirklichkeit nichts.7 Doch ging die Kritik der Aufklärer am Wesen eines geistlichen Territoriums vorbei; denn das Ziel fürstbischöflicher Herrschaft war zwar auch die Sorge um das ‚weltliche‘ bonum commune und nach 1750 um die „zeitliche Glückseligkeit der Untertanen“, doch der eigentliche Zweck eines Fürstbistums als Form hierokratischer Herrschaft war die Sicherung katholischer Konfessionalität als Weg zum Heil. Und dieses Staatsziel blieb auch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erhalten! Die Rahmenbedingungen für diese Durchsetzung allein seligmachender Katholizität waren aber von den tridentinisch orientierten Bischöfen im 17. Jahrhundert geschaffen worden. Unter anderem wurden Andachtsformen propagiert, bei denen die Gemeinde aktiv beteiligt war: eucharistischer Kult, Bruderschaften, Wallfahrten, Prozessionen und volkssprachliche Andachten.8 Diese Wechselwirkung zwischen Bekenntnis und sozialer Praxis machte die Prägekraft des Barockkatholizismus aus, so der Kirchenhistoriker Andreas Holzem.9 Stießen sich die Aufklärer an dieser Frömmigkeit? Sollte sie in Richtung „Vernunft und wahre Aufklärung“ verändert werden? Die Vernunft sollte den Menschen zu Gott leiten und ihn zu dessen Anbetung ermuntern.10 Doch dem Weg zur Erkenntnis Gottes stand der Aberglauben entgegen, der als Sieg des Vorurteils aufge-
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in: Westfälische Zeitschrift 120 (1970), S. 349–454; Cornelis Neutsch, Religiöses Leben im Spiegel von Reiseliteratur. Dokumente und Interpretationen über Rheinland und Westfalen um 1800, Köln 1986. Für eine andere Wertungsperspektive ist nach wie vor als Standardbeleg zu nutzen Peter Hersche, Intendierte Rückständigkeit: Zur Charakteristik des geistlichen Staates im Alten Reich, in: Georg Schmidt (Hg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, S. 133–149. Entscheidend die breite Debatte im Anschluss an die 1786 gestellte Preisfrage im Journal von und für Deutschland bezüglich der „Mängel“ der geistlichen Staaten. Die Preisfrage wurde vom Herausgeber, dem Fuldaer Domherrn und Kammerpräsidenten Philipp Anton von Bibra, gestellt. Vgl. Peter Wende, Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik, Lübeck und Hamburg 1966, S. 9–47. Werner Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster, Paderborn 1991; ders., Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400–1803, Bielefeld 1998; Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800, Paderborn 2000. Zu Paderborn sind m. W. noch keine einschlägigen Studien zur Formierung von Frömmigkeit erschienen. Hinweise finden sich bei Christoph Völker, Aus dem religiösen Volksleben im Fürstbistum Paderborn während des 17. und 18. Jahrhunderts, Paderborn 1937. „Religion wurde gelebt mit einem hohen Maß an Habitualität, die sich den Menschen durch eine Sozialisation des Miterlebens und Mittuns vermittelte. Christentum erschien im Horizont des Erfahrungslernens vor allem als ein Ensemble von Praktiken, deren erhoffte Sinnhaftigkeit sich auf die räumlich enge und emotional nahe Umgebung bezog.“ Holzem, Religion und Lebensform, S. 460. So der Tenor der Schrift des münsterischen Philosophieprofessors und ehemaligen Jesuiten Ferdinand Überwasser, Ueber Vernunft, Vernunftbegriffe und den Begriff zur Gottheit insbesondere. Eine philosophische Vorlesung, Münster 1799, und bei Fürstenberg in dessen Aufsatz Ueber den Volksunterricht in: Wilhelm Esser, Franz von Fürstenberg. Dessen Leben und Wirken nebst seinen Schriften über Erziehung und
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fasst wurde. Aus diesen Begriffen von Vernunft und Aberglauben leiteten sich die Reformimpulse ab. Wie aber konnte eine Umsetzung breitenwirksam erfolgen? Was waren die institutionellen Rahmenbedingungen?
2. Das Erbe des Konzils von Trient Da kein neues Konzil zusammentrat, gaben die dogmatischen Festlegungen, die kirchenrechtlichen Bestimmungen und die einzelnen Reformdekrete von Trient auch nach 1760 den Rahmen vor. Das bedeutete, dass die Kirche sich auch in der Aufklärungszeit als Heilsanstalt verstand. Obwohl der strafende Gott aus dem Vokabular der westfälischen Aufklärer langsam verschwand, bedurften die klar vom Klerus geschiedenen Laien der Sakramente und Sakramentalien der „Wunderkirche“, so Ernst Troeltsch.11 Die Messe als Opfergottesdienst erlebte konsequenterweise in den Bistümern keine Änderung. Nur am Rande sei vermerkt: Deutschsprachiges Liedgut als Begleitung der sonntäglichen missa cantata war kein Produkt der Aufklärung, sondern war schon im 17. Jahrhundert weit verbreitet.12 Eine Reform der kirchlichen Instanzenzüge fand in beiden Bistümern nicht statt. An der Spitze stand der Fürstbischof, für den kein neues Bischofsideal gefunden wurde. Auch die Bischofsstühle wurden nach dem überkommenen Primat dynastischer Interessen besetzt. Das münsterische Domkapitel wählte mit Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels (1762–1784) und Maximilian Franz von Österreich (1784–1801) nachgeborene Söhne reichsgräflicher bzw. reichsfürstlicher Geschlechter. Beide waren in Personalunion auch Erzbischof und Kurfürst von Köln.13 Das Paderborner Kapitel wählte Kandidaten aus dem landsässigen Adel – Wilhelm Anton von der Asseburg (1763– 1782), seinen Neffen Friedrich Wilhelm von Westphalen (1782–1789) und den Bru-
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Unterricht, Münster 1842, Anhang A, S. 1–40. Siehe auch den Beitrag von Alwin Hanschmidt in diesem Band. Ernst Troeltsch, Art. Kirche III. Dogmatisch, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart 3 (1912), Sp. 1147–1155. Gustav Waters, Die münstrischen katholischen Kirchenliederbücher vor dem ersten Diözesangesangbuch1677, Münster 1917; Erika Heitmeyer und Maria Kohle (Hg.), Das Paderborner Gesangbuch 1628. Reprint mit Kommentar, Paderborn 2007; Maria Kohle, Das Paderborner Gesangbuch 1609. Das älteste erhaltene katholische Gesangbuch Westfalens und sein gottesdienstlicher Gebrauch im Dienst der Katholischen Reform, Paderborn 2004 (mit Reprint). Für die westfälische Landesgeschichte wäre deshalb der Vergleich zwischen den Fürstbistümern und dem kölnischen Herzogtum Westfalen von Interesse. Hierzu liegt mit der Studie von Elisabeth Schumacher, Das kölnische Westfalen im Zeitalter der Aufklärung unter besonderer Berücksichtigung der Reformen des letzten Kurfürsten von Köln, Max Franz von Österreich, Olpe 1967, S. 213–263, ein erster Zugriff vor. Vgl. auch die instruktive Zusammenschau von Harm Klueting, Das Herzogtum Westfalen als geistliches Territorium, in: ders. (Hg.), Das Herzogtum Westfalen, Bd. 1: Das kurkölnische Herzogtum Westfalen von den Anfängen bis zur Säkularisation 1803, Münster 2009, S. 443–518, hier S. 512–516.
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der Franz von Fürstenbergs, Franz Egon von Fürstenberg (1789–1802/25).14 Zwar unterstützten diese Bischöfe aufgeklärte Maßnahmen, doch sehen wir sie nicht rastlos bei der Verwirklichung dieser Ideale voranschreiten.15 Und dieses Voranschreiten meine ich im Wortsinne, hatten doch die Bischöfe des 17. Jahrhunderts Gemeinde für Gemeinde persönlich visitiert, um sich vom Fortschritt des Tridentinums zu überzeugen.16 Anderswo gab es den Typus des aufgeklärten Reformbischofs. Franz Ludwig von Erthal, Fürstbischof von Bamberg und Würzburg von 1779 bis 1795, kann im Sinne des Guten Hirten als Verkünder des Wortes angeführt werden. Er bereiste sein Bistum „in eigener Person“ mit dem Ziel, so Erthal, seine „Stimme zu denen, die meiner oberhirtlichen Sorge anvertraut sind, selbst zu erheben, sie durch Unterricht, durch Ermahnungen, ja durch inständiges Bitten auf den Weg des ewigen Heils zu leiten“.17 Auch das Stellenprofil der Generalvikare änderte sich wenig. Dass Franz von Fürstenberg bis zu seinem Sturz 1780 als Minister wesentliche Gestaltungsmöglichkeiten besaß, hing mit der Absenz der Kölner Erzbischöfe zusammen, doch wirkten im geistlichen Bereich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer noch
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Vgl. auch Alwin Hanschmidt, Das 18. Jahrhundert, in: Wilhelm Kohl (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des alten Reiches, Düsseldorf 1983, S. 605–685, hier S. 611–617. Diese Zuspitzung ist dem Vortrag und der westfälischen Perspektive geschuldet. Im Sinne der Aufklärung kann auf Maximilian Friedrichs Zustimmung zum Episkopalismus hingewiesen werden. Auch Maximilian Franz von Österreich stützte in einigen Punkten die Katholische Aufklärung im Erzstift Köln. Fürstbischof Wilhelm Anton war insbesondere als wirtschaftlicher Modernisierer im Sinne des Kameralismus im Fürstbistum Paderborn tätig. Max Braubach, Max Franz von Österreich. Letzter Kurfürst von Köln und Fürstbischof von Münster, Münster 1925; Alfred Heggen, Staat und Wirtschaft im Fürstentum Paderborn im 18. Jahrhundert, Paderborn 1978, S. 104– 143. Vgl. zu den bischöflichen Visitationen im Bistum Münster (1654–1660 und 1671) Manfred Becker-Huberti, Die Tridentinischen Reformen im Bistum Münster unter Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Reform, Münster 1978, S. 120–143, 350–352 und 357. Vgl. zu den bischöflichen Visitationen im Bistum Osnabrück (1651) Franz Flaskamp, Die große Kirchenvisitation an der oberen Ems. Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 70 (1972), S. 51–105, und 71 (1973), S. 155–196. Vgl. zu den bischöflichen Visitationen im Bistum Paderborn (1654–1656 und 1687–1691) Mareike Menne, Herrschaftsstil und Glaubenspraxis. Bischöfliche Visitation und die Inszenierung von Herrschaft im Fürstbistum Paderborn 1654–1691, Paderborn 2007, sowie Bernhard Fluck, „Ein Bild vom Antlitz seiner Herde“. Die Lage der Pfarreien im Bistum Paderborn nach den Protokollen der Visitation Dietrich Adolfs von der Recke 1654–1656, hg. von Roman Mensing, Paderborn 2009. Predigten dem Landvolke vorgetragen von Franz Ludwig, Bischof zu Bamberg und Würzburg, auch Herzog zu Franken, aus dem freiherrlichen Geschlechte von und zu Erthal. Höchst seligen Andenkens. 2. Aufl. Würzburg und Bamberg 1841 (1. Aufl. 1797), Erste Predigt zu Joh 15,13: „Wenn aber der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch die Wahrheit lehren“.
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die Ausweitung der Befugnisse des Generalvikars nach.18 Für uns wichtiger ist, dass die in der Regel mit Domherrenpfründen verbundenen Archidiakonate auch im 18. Jahrhundert nicht zugunsten einer Dekanatsverfassung abgeschafft wurden. Diese Mittelinstanz war hingegen von Fürstbischof Franz Wilhelm von Wartenberg im Fürstbistum Osnabrück 1628/30 erfolgreich eingeführt worden.19 Auch eine neue aufgeklärte Klerusausbildung ließ in beiden Bistümern noch auf sich warten. Immerhin errichtete der Paderborner Fürstbischof Wilhelm Anton von der Asseburg im ehemaligen Jesuitenkolleg 1779 ein Priesterseminar,20 doch erfüllte er mit dieser Maßnahme eine in Paderborn über zwei Jahrhunderte hinweg nicht eingelöste Forderung des Konzils von Trient! Nach der Weihe blieb der Klerus auf die von Pfarre zu Pfarre, von Vikariat zu Vikariat unterschiedliche Pfründenstruktur angewiesen; ein vertikaler Aufstieg war in der Adelskirche nur in Ausnahmen möglich.21 Ebenso wenig änderte sich das Anforderungsprofil: Der Pfarrer blieb Kultpriester; er wurde nicht wie im josephinischen Österreich als „Bürgerpriester für einen aufgeklärten Kult“ verstanden.22 Immerhin hätten praxiserprobte Instrumente bereitgestanden, um die Frömmigkeit der Gläubigen in Hinblick auf eine vernunftgemäße Erkenntnis Gottes zu fördern und den Aberglauben als praktiziertes Vorurteil zu bekämpfen: die Weisung mittels Synode, die Erfassung mit Hilfe der Visitation oder des Berichts, die Verbesserung der Glaubenspraxis durch Bildung und die Abstrafung von Missständen durch das Sendgericht.23 Die Befunde bezüglich einer Nutzung sind allerdings mager: Es gab in beiden Bistümern keine große Reformsynode, auf der ein Bischof oder ein Generalvikar 18
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Die Ausweitung der Befugnisse des Generalvikariats im Sinne der katholischen Reform erfolgte in den Fürstbistümern Münster und Osnabrück in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Vgl. Freitag, Pfarrer, S. 142 f. In Paderborn wurde zunächst das Amt des Offizials aufgewertet. Vgl. Karl Hengst, Kirchliche Reformen im Fürstbistum Paderborn unter Dietrich von Fürstenberg (1585–1618), München u. a. 1974, S. 37–42. Einführung auf der Frühjahrssynode 1628, Stellenprofil auf der Frühjahrssynode 1630. Vgl. Johannes Brogberen (Hg.), Acta Synodalia Osnabrugensis Ecclesiae ab Anno Christi MDCXXVIII, Köln 1653, S. 42, 212 f., 215 und 231 f. Vgl. zu den Synoden Bischof Wartenbergs Hermann Hoberg, Das Konzil von Trient und die Osnabrücker Synodaldekrete des 17. Jahrhunderts, in: Georg Schreiber (Hg.), Das Weltkonzil von Trient. Sein Werden und Wirken, Bd. 2, Freiburg 1951, S. 371–386. In Münster wurde drei Jahre zuvor ein Priesterseminar gegründet. Vgl. Thomas Schulte-Umberg, Profession und Charisma. Herkunft und Ausbildung des Klerus im Bistum Münster 1776–1940, Paderborn u. a. 1999, hier bes. S. 42–44. Hier muss natürlich der Name Overberg genannt werden. Christine Schneider, Der niedere Klerus im josephinischen Wien. Zwischen staatlicher Funktion und seelsorgerischer Aufgabe, Wien 1999. Allerdings entsteht der Eindruck, dass das Sendgericht am Ende des 18. Jahrhunderts religiöse Devianz nicht mehr mit der Konsequenz ahndete wie in den Jahrzehnten zuvor. Ob dieser Bedeutungsverlust mit dem Machtzuwachs weltlicher Gerichte oder mit der aufgeklärten Praxis der Archidiakone zusammenhing, bedarf weiterer Recherchen. Vgl. Christine D. Schmidt, Sühne oder Sanktion? Die öffentliche Kirchenbuße in den Fürstbistümern Münster und Osnabrück während des 17. und 18. Jahrhunderts, Münster 2009, S. 89 f.
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ein auf das Bistum zugeschnittenes aufgeklärtes umfassendes Reformprogramm dem versammelten Klerus verkündete und diesen auf die Umsetzung einschwor, was aber in Münster 1616 und 1655, in Osnabrück 1625 und 1628 und in Paderborn 1669 und 1686 unter jeweils tridentinischen Vorzeichen geschehen war.24 Einige Maßnahmen wurden zwar in unserem Betrachtungszeitraum auf den weiterhin stattfindenden Synoden verkündet, doch sie setzten nur punktuell an. Darauf werde ich noch zurückkommen. Prüfen wir das zweite zentrale Instrument, die Visitation als Bestandsaufnahme, Stabsdisziplinierung und ‚Auf-den-Weg-bringen‘ von Maßnahmen. Im 17. Jahrhundert waren es Generalvikare, Weihbischöfe und – wie erwähnt – die Fürstbischöfe, welche weite Wege unternahmen, um jede Gemeinde zu besuchen. Doch die Zeit für Visitationen scheint im späten 18. Jahrhundert vorbei gewesen zu sein; lediglich die Schulvisitationen Overbergs und die gelegentlichen Lehrerexamina Fürstenbergs in seinem Archidiakonat sind hier zu nennen.25 Es gab keinen reformfreudigen Bischof oder Generalvikar, der den Geist der Aufklärung von Pfarre zu Pfarre zu Fuß oder per Kutsche umzusetzen suchte. Um es überspitzt zu formulieren: Man(n) blieb in der Kathedralstadt, pflegte ständeübergreifende aufgeklärte Geselligkeit, in Münster etwa im Kreis um die Fürstin Gallitzin und in der Loge „Zu den drei Balken“.26 Die Bistumsverantwortlichen vertrauten auf Bildungsbemühungen und, überspitzt formuliert, auf den Sieg des Bürokratisierungsprozesses in Gestalt schriftlicher Ausführungen. Für Letzteres sprechen die Statusberichte, die wir schon aus dem 17. Jahrhundert kennen, welche nun jedoch differenziertere Fragekataloge nach aufgeklärten Kriterien enthielten. Für Münster sind die umfangreichen Statusberichte von 1771 zu nennen,27 für Paderborn die große Erfassung der Prozessionen, Wallfahrten und anderer volksfrommer ‚Missbräuche‘ 1783.28 Fassen wir diesen Punkt zusammen, so scheint mir für die Umsetzung katholischer Aufklärung kein neues Instrument gesucht worden zu sein; vielmehr wurde selektiv Bewährtes genutzt, ohne dass aber ein Konzept, neudeutsch: ein Master24
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Max Bierbaum, Diözesansynoden des Bistums Münster, Freiburg 1928; Alois Schröer, Die Pastoralbriefe des Münsterer Fürstbischofs Christoph Bernhard v. Galen (1650– 1678). In Verbindung mit den bischöflichen Lageberichten an den Papst und dem Testament des Bischofs, Münster 1998; Paul Aufderbeck, Die Reform des Paderborner Weltklerus im 17. Jahrhundert, theol. Diss. Freiburg i. Br. 1961; Wilhelm Josef GrosseKracht, Das Bistum Osnabrück unter der Einwirkung der Trienter Konzilsbeschlüsse bis zur großen Synode vom Jahre 1628, theol. Diss. Freiburg i. Br. 1944. Eine Edition findet sich bei Alwin Hanschmidt (Hg.), Elementarschulverhältnisse im Niederstift Münster im 18. Jahrhundert. Die Schulvisitationsprotokolle Bernard Overbergs für die Ämter Meppen, Cloppenburg und Vechta 1783/84, Münster 2000. Vgl. auch den Beitrag von Sabine Kötting in diesem Band. Zum Zusammenkommen von Bürgern und landsässigem Adel in der Loge vgl. das Mitgliederverzeichnis von 1779 in Theodor Förster, Geschichte der Loge „Zu den drei Balken“ in Münster i. W. mit kulturgeschichtlichen Zeitbildern der deutschen Freimaurerei von 1778 bis 1902, Berlin 1902, S. 19 f. Bistumsarchiv Münster, Handschrift 140 (Status ecclesiae 1771/72). Diese Erfassung findet sich als Hauptbeleg in Völker, Volksleben.
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plan, bezüglich Erfassung und Umsetzung ausgearbeitet worden wäre. Den möglichen Einwand, dieser sei auch gar nicht nötig, da ja nach aufgeklärter Überzeugung die Bildungsbemühungen auf lange Sicht zum Erfolg führen würden, lasse ich nicht gelten: Der Widerspruch der Aufklärung bestand ja darin, zwar auf die Bildungsfähigkeit und -willigkeit des Volkes zu setzen, aber dieses weiterhin als gehorsame Herde zu betrachten. Wichtig scheint mir zudem, dass das Elementarschulwesen keine Erfindung der Katholischen Aufklärung war, auch wenn es zu einer Professionalisierung der Lehrer und einer besseren Ausstattung kam.29 Dieser Schultypus war im Münsterland schon von Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen seit den 1650er Jahren zur Unterstützung der Katechese flächendeckend eingeführt worden.30 Auch die städtischen Gymnasien waren in der Epoche der Konfessionalisierung von den Jesuiten oder den Franziskanern neu fundiert worden, womit nicht in Abrede gestellt werden soll, dass die aufgeklärten Gymnasialreformen zu einer radikalen Veränderung der Unterrichtsinhalte führten.31 Und unsere Universität Münster übernahm nach ihrer Gründung 1773/80 nicht nur Gebäude und Vermögen der Jesuiten – und auch das Vermögen des unter Fürstenbergs Ägide aufgelösten Klosters Überwasser –, sondern ganz im Sinne des pragmatischen Vorgehens Fürstenbergs auch die jesuitischen Professoren.32
3. Aufgeklärte Reformen Der dritte Abschnitt meiner Ausführungen ist als religionsgeschichtliche Analyse derjenigen Maßnahmen angelegt, welche in der Forschung als typisch für die Aufklärungszeit gelten. Besaßen diese tatsächlich eine dezidiert aufgeklärte Stoßrich29
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Zum Bistum Münster expl. Hanschmidt, Elementarschulverhältnisse, zum Bistum Paderborn als ‚late-comer‘ Heggen, Staat und Wirtschaft, S. 133 f.; zu Westfalen insgesamt Alwin Hanschmidt, Schulreform durch Lehrerbildung. Zur Professionalisierung der Lehrerschaft in Westfalen um 1800, in: Westfalen 79 (2001), S. 119–134. Becker-Huberti, Reformen, S. 282–290; eine aussagekräftige Fallstudie zum Elementarschulwesen bietet Hans-Peter Boer, Drei Dörfer und viele Schulen. Zur Geschichte der Schulen in der heutigen Gemeinde Senden im 16. bis 20. Jahrhundert, in: Werner Frese und Christian Wermert (Red.), Senden. Eine Geschichte der Gemeinde Senden mit Bösensell, Ottmarsbocholt, Venne, Senden 1992, S. 319–335. Alwin Hanschmidt, Auswirkungen der „Katholischen Aufklärung“ auf Schule und Bildung im Niederstift Münster, in: Michael Hirschfeld (Hg.), Das Niederstift Münster an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, Cloppenburg 2004, S. 43–60, hier S. 48–52; ders., 1773 bis 1815. Vom Jesuitengymnasium zum preußischen Gymnasium, in: Günter Lassalle (Hg.), 1200 Jahre Paulinum in Münster 797–1997, Münster 1997, S. 43–98. Einführend Alwin Hanschmidt, Die erste münstersche Universität 1773/80–1818. Vorgeschichte, Gründung und Grundzüge ihrer Struktur und Entwicklung, in: Heinz Dollinger (Hg.), Die Universität Münster 1780–1980, 2. Aufl. Münster 1980, S. 3–28. Alle drei Lehrstühle der Philosophischen Fakultät – es gab bis 1782 nur diese drei – waren zunächst mit Ex-Jesuiten besetzt; von den fünf Lehrstühlen der theologischen Fakultät waren zu Beginn vier mit ehemaligen Jesuiten besetzt. Ich danke Fabian Weimer, Münster, für diesen Hinweis.
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tung oder wurden überkommene Denkmuster aufgenommen? Die Vermengung von tridentinischer und aufgeklärter Argumentation untersuche ich zum einen an der Heiligen- und Bilderverehrung und zum anderen an dem Versuch, die Grenze zwischen profan und heilig schärfer zu konturieren. Zunächst möchte ich auf die Feiertagsreduzierung eingehen. Diese Reformmaßnahme war eine generelle Erscheinung im aufgeklärten katholischen Deutschland. Das Erzstift Trier machte mit einer Feiertagsreduzierung am 13. November 1769 den Anfang, am 15. März 1770 folgte im Schlepptau des Erzstifts Köln auch das Fürstbistum Münster, 1784 dann Paderborn nach Mainzer Vorbild.33 Das münsterische Dekret ist symptomatisch für die neuen religiösen Vorstellungen: Die Heiligung der Feiertage lasse zu wünschen übrig, da der Gläubige an diesen Tagen meine, durch die „alleinige Anhörung eines kleinen Meß-Opfers seiner Pflicht genug gethan zu haben; die übrige Zeit wird meistentheils mit blossem Müßiggange, eitelen Besuchen, Spielen, Tanzen und anderen unnützen Zeit-Vertreiben, ja gar mit Fras, und Füllerey zugebracht“. Als Konsequenz fassten die Autoren jedoch nicht, wie in der Konfessionalisierung noch geschehen, das Verbot solcher Praktiken unter Beibehaltung des Feiertages ins Auge, sondern forderten deren völlige Aufhebung. Es sei Gott wohlgefälliger, der Gläubige arbeite den ganzen Tag, als dass er einen Feiertag mit weltlichem Tun entheilige. Ein Weniger an Heiligentagen bringe ein Mehr an Andacht an den beibehaltenen Sonn- und Feiertagen. Sechzehn der bisherigen Heiligenfeiertage wurden durch das Edikt aufgehoben, ebenso der dritte Tag des Oster-, Pfingst- und Weihnachtsfestes. Die geforderte religiöse Durchdringung von Sonn- und Alltag versetze die „wahren und vollkommenen Christen, die von dem reinen Lichte des Glaubens und der Liebe bestrahlet sind“ in die Lage, „Gott alle Tage heilige Opfer im Geist und in der Wahrheit“ darzubringen. Die Anbetung Gottes „im Geist und in der Wahrheit“, ein Zitat aus dem Johannesevangelium (4,14), war der Leitspruch Katholischer Aufklärung schlechthin und findet sich in diesem Dekret wieder.34 Während das Feiertagsdekret folglich neben der Bildungsreform ein wichtiges Indiz für die Eigenständigkeit der Katholischen Aufklärung in den Fürstbistümern darstellt, sind weitere Maßnahmen nicht so eindeutig zuzuordnen: Erneut ging es um die Ausschaltung von als profan wahrgenommenen Handlungen und um das Vertrauen auf die Hilfe der Heiligen. Ein gewichtiges Zeugnis für vermeintlich aufgeklärte Reformen im Fürstbistum Paderborn sind die Gnädigsten Verordnungen wegen der im Hochstift Paderborn üblich gewesenen allerhand Proceßionen und sonstigen Miß Bräuchen aus den Jahren 1784 und 1785.35 Stadt für Stadt, Dorf für Dorf schränkte Fürstbischof Friedrich Wilhelm von Westphalen aufgrund der 1783 eingeforderten Berichte der Pfarrer die ortsüblichen Andachten und Prozessionen 33
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Georg Wagner, Bischof und Brauchtum. Zum Brauchtumswandel im Zeitalter der Aufklärung, in: Paul-Werner Scheele (Hg.), Paderbornensis Ecclesia. Beiträge zur Geschichte des Erzbistums Paderborn (FS Lorenz Kardinal Jaeger), München u. a. 1972, S. 403–426, hier S. 415 f. Zitate nach Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit, S. 334–336. Bistumsarchiv Paderborn, Handschrift XVI.
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ein.36 Die Anzahl der Prozessionen und die Wegstrecken derselben wurden verringert, die Pausen auf dem Weg abgestellt; Predigten sollten nur noch in der Kirche stattfinden; die Zahl der mitgeführten Bilder wurde reduziert und deren Bekleidung verboten, und dem Allerheiligsten sollte die gebührende Andacht gewidmet werden. Insbesondere die Verkleidungen und lebenden Bilder bei den Karfreitagsprozessionen waren dem Bischof ein Dorn im Auge, die ja als jesuitische Inszenierung der Heilsgeschichte entstanden waren und bei den Gläubigen großen Anklang gefunden hatten. Es handele sich, so der Fürstbischof, um Darbietungen verkleideter Personen, „welche die Andacht nicht nur behindern, sondern sogar Spotterey, unziemliches Lachen und allerhand Ausgelassenheit“ herbeiführen würden. Stattdessen sollte, so die Verordnung wegen der Karfreytags-Procession zu Delbrück vom 11. Februar 1784, dem Leiden und Sterben des „Heylands“ mit „Stille“ und mit „andächtigem Singen und Beten“ gedacht werden.37 Doch auch die genuin aufgeklärten Argumentationen der Feiertagsreduzierung und der Prozessionsbeschränkungen weisen für beide Bistümer auf Synodalbeschlüsse des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zurück. Auch in ihnen ging es um die Trennung von profan und heilig sowie um die Begrenzung der Bilder- und Reliquienverehrung.38 Zu einem strikten Verbot oder einer systematischen Einschränkung des Wallfahrtswesens konnten sich die aufgeklärten Spitzen in beiden Bistümern bis 1803 nicht durchringen.39 Auch für die Begräbnisse lässt sich die longue durée derjenigen Maßnahmen nachweisen, die auf die Reinheit der Riten abzielten und die ‚profan-orgiastische‘ Vergemeinschaftung auszuschließen suchten. So wurden in den münsterischen Synoden von 1694, 1700, 1712, 1721, 1726 und 1765 die Zusammenkünfte im Haus des Toten sowie der Schmaus und das Trinken nach dem Begräbnis und nach der Seelenmesse verboten. Doch noch 1789 stellte die münsterische Bistumsspitze fest, dass gegen alle Bestrebungen der letzten 150 Jahre „das Auskleiden der Leiche mit Bändern, Blumen oder sonstigem Flitterstaat, und das Ausstellen derselben zur Schau“
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Völker, Volksleben, S. 62 f. Bistumsarchiv Paderborn, Handschrift XVI, Bl. 8. Frdl. Hinweis Daniel Fischer, Münster. Vgl. auch Völker, Volksleben, S. 38. Für das Fürstbistum Münster gibt es mehrere Verweise darauf, dass diese Prozessionen vor Ort dann verboten wurden, wenn es zu antijüdischen Ausschreitungen im Dorf bzw. in der Stadt kam. Vgl. zu Sendenhorst Wilhelm Ribhegge, Franz Darup. Westfälischer Landpfarrer in revolutionären Zeiten, Münster 2003, S. 18 f., zu Beckum Wagner, Bischof und Brauchtum, S. 410 f. Dekrete der münsterischen Synoden der 1750er Jahre bei Bierbaum, Diözesansynoden, S. 326. Für Paderborn weist Völker auf den Entwurf der Synodalstatuten von 1669 hin, in dem das Mitführen von Reliquien und Heiligenbildern bei Prozessionen sowie das Bekleiden der Heiligenbilder verboten wurden. Völker, Volksleben, S. 49–51. Vgl. Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit, S. 351–353. Vgl. zu den Verboten im Erzstift Köln und im Bistum Münster nach 1826/30 ebd., S. 353 f., und Volker Speth, Katholische Aufklärung, Volksfrömmigkeit und ‚Religionspolicey‘. Das rheinische Wallfahrtswesen von 1816 bis 1826 und die Entstehungsgeschichte des Wallfahrtsverbotes von 1826. Ein Beitrag zur aufklärerischen Volksfrömmigkeitsreform, Frankfurt a. M. u. a. 2008.
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ebenso wenig nachgelassen habe wie die im Zusammenhang mit dem Begräbnis und den Seelenämtern stattfindenden „Tractamente und Zechereyen“.40 Halten wir fest, dass einzelne Bereiche des Barockkatholizismus ins Visier der katholischen Aufklärer gerieten; dabei wies ein Teil ihres Vorgehens Übereinstimmungen mit einzelnen Reformen des 17. Jahrhunderts auf. Verlassen wir für die weitere Betrachtung die institutionelle Perspektive und betrachten nun die Akteure. Damit komme ich zum vierten Abschnitt meiner Ausführungen:
4. Die Gesellschaft der katholischen Aufklärer Wie in anderen Territorien entstand auch in den Fürstbistümern eine Öffentlichkeit, in der, ganz im Sinne der Vorstellungen Kants, ein aufgeklärtes „Publicum“ über die Zustände in den Fürstbistümern räsonierte. Eines der Organe, das dem Publikum zur Verfügung stand, war das von 1785 bis 1804 erschienene Münsterische Gemeinnützliche Wochenblatt; in Paderborn gab es seit 1764 das Intelligenzblatt.41 Ferner ist auf die rege Buchproduktion und auf die Lesegesellschaften hinzuweisen. Die Weiten des Münsterlandes wurden über die Theissingsche Buchhandlung mit aufgeklärten Büchern versorgt.42 Beamte, Kleriker und Stadtbürger sind als Autoren und Leser nachzuweisen. Diese Einbeziehung von Bürgern bei Religionsfragen scheint mir ein gewichtiger Unterschied zur tridentinischen Epoche zu sein. Am Beispiel einer Wunderheilung möchte ich dieses erläutern: Wunder waren in der Epoche der katholischen Konfessionsbildung ein Lebenselixier des Wallfahrtswesens. Als hingegen am Wallfahrtsort Warendorf 1774 eine 30jährige Frau geheilt wurde, betonte der zu einer Stellungnahme aufgeforderte Arzt Mosellage, dass eine solch plötzliche Genesung medizinisch möglich sei. Es bestehe die Wahrscheinlichkeit, dass die Natur „eine besondere Wirkung just eben auf Mariä Himmelfahrtstag unter der Prozession“ hervorbringe. Typische Argumentationslinien der Aufklärung wurden offenbar auch in Warendorf rezipiert. Der Arzt verstand Gott als Weltenschöpfer, der sich an die von ihm in Gang gesetzten Abläufe zu halten habe. Wunderheilungen schloss er demzufolge aus.43 Diese Quelle lässt vermuten, dass zumindest ein Teil des städtischen Bürgertums den Wandel der religiösen Vorstellungen mit beförderte. Dies deckt sich mit den 40
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Zitiert nach Jan Brademann, Mit den Toten und für die Toten. Kulturgeschichtliche Untersuchungen zur Konfessionalisierung der Sepulkralkultur in ländlichen Kirchspielen des Münsterlandes (16.–18. Jahrhundert), phil. Diss. Münster 2010, S. 127–150 und 361. Überblick in Carl d’Ester, Das Zeitungswesen in Westfalen von den ersten Anfängen bis zum Jahre 1813, Münster 1907, S. 124–131 und 176. Das Kundenverzeichnis der Buchhandlung Theissing weist viele Kleriker und Beamte auf. Vgl. Stadtarchiv Münster, Msc. 110, Bd. 1 und 2. Eine Fallstudie zum Buchkauf in Freitag, Pfarrer, S. 349 f. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Bertram Haller in diesem Band. Zitiert nach Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit, S 346–348.
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Überlegungen in Rudolf Schlögls Studie zu Münster, Köln und Aachen.44 Ein zweites Beispiel lässt sich für Rheine anführen: Dort war es der Bürgermeister, der mit einigen Ratsherren und dem Pfarrer Heiligenbilder aus der Dionysiuskirche entfernen ließ, um diese „monströsen“, das heißt gotischen Statuen der Andacht der Gläubigen zu entziehen. Auf die Geschehnisse in Rheine werde ich noch zurückkommen.45 Auch der Klerus war Glied der ‚Gelehrtenrepublik‘; wir sehen einen Marienfelder Zisterziensermönch als Autor eines Buches über das Leben Jesu,46 und auch aus der niederen Geistlichkeit beteiligten sich einzelne Pfarrer vor 1803 am aufgeklärten Diskurs. Ein Beispiel sei angeführt: Im neunten und zehnten Stück des Wochenblattes im Jahr 1789 antwortete ein Pfarrkleriker – es wird sich um den späteren Sendenhorster Pfarrer Franz Darup gehandelt haben – aus dem Fürstbistum Münster auf die Preisfrage: „Wie kann ein angehender Landgeistlicher gleich beym Antritte seines Ambts Aufklärung in seiner neuen Gemeinde verbreiten?“47 Darup betonte, „tausendfacher Aberglauben“ verhindere „wahre Frömmigkeit und Tugend“. Es sei das Ziel für die Seelsorge, das „wahre, Wesentliche, Praktische, Sittliche des Christentums“ durchzusetzen.48 Wie aber verhielten sich die Kleriker tatsächlich beim Antritt ihres Amtes und in den Jahren danach? Einige der Archidiakone sehen wir im Sinne der Aufklärung in Eigenregie das Wallfahrtswesen einschränken, bei Versuchen, das Armenwesen im Sinne der neuen Arbeitsethik zu regulieren.49 Auch ehemalige Jesuiten lassen sich als Exponenten der Aufklärung festhalten.50 Doch noch mehr als diese Eliten war der Pfarrklerus für die Umsetzung der Aufklärung von Bedeutung. Meine Fallstudie zum Klerus im Niederstift Münster zeigt, dass die Dorfpfarrer in ihren Testamenten für die Schulen ihres Sprengels erhebliche Zuwendungen vornahmen; einer von ihnen, Pastor Hoyng aus Langförden, begleitete Overberg 1784 bei seiner Visitationsreise im Dekanat Vechta.51 In Verl (Grafschaft Rietberg) ließen der Dorfpfarrer und 44 45 46 47 48 49
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Rudolf Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster 1700–1840, München 1995. Vgl. Abschnitt 5. Hermann Marx, Versuch der Geschichte Jesu von Nazareth, ein Lese- und Sittenbuch für Kinder, 14. Auflage Münster 1831 (1. Aufl. 1789). Ribhegge, Darup, S. 25. Münsterisches Gemeinnützliches Wochenblatt 5 (1789), X. Stück, S. 88. Für das Wallfahrtswesen vgl. Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit, S. 339 f. Vgl. zum Armenwesen Kirsten Bernhardt, Die Armenhausstiftungen des münsterländischen Adels. Funktionen und Wandlungsprozesse zwischen Gründung und Auflösung (16.– 20. Jahrhundert), phil. Diss. Münster 2010, S. 84–86. Doch erlebte das Armenwesen auf dem Lande bis zum Ende der fürstbischöflichen Ära keine wesentliche Änderung. Hier ist etwa auf den Ex-Jesuiten Anton Bruchausen (1735–1815, Ordenseintritt 1754) zu verweisen, der an der Philosophischen Fakultät den Lehrstuhl für Physik innehatte. 1782 wurde er zum Domvikar ernannt und verzichtete deshalb auf seine Professur. 1790 veröffentlichte er eine Schrift, die physiokratische Ideen verbreiten sollte. Adressaten waren die Landschullehrer und damit die Schuljugend. Anton Bruchhausen, Anweisung zur Verbesserung des Ackerbaues und der Landwirthschaft des Münsterlandes, Münster 1790 (ND Vreden 1982). Freitag, Pfarrer, S. 352 f.
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der Landesherr, Fürst Wenzel Anton von Kaunitz, eine klassizistische Kirche ohne „unnöthigen und überflüssigen Zierrathe“ errichten.52 Es gab also Bereiche, in denen die Pfarrer nicht nur räsonierten, sondern agierten. Aber die Mehrzahl der Kleriker blieb der tridentinischen Reform verhaftet. Warum aber hielt die Trennung zwischen der Welt der räsonierenden Gelehrten und jener der Pfarrei an? Zum Ersten, weil der institutionelle Rahmen erhalten blieb, zum Zweiten weil Räsonieren und Handeln gemäß den aufgeklärten Vorgaben zu scheiden waren. Der dritte Grund ist, dass die Verfechter der neuen Ideen bemerkten, dass die Mehrzahl der Gläubigen trotz erfolgter Volksaufklärung von den überkommenen Praktiken nicht lassen wollte. Deshalb möchte ich meinen fünften und letzten Punkt ansprechen:
5. Die volksfromme Beharrung Die Reform des Schulwesens war erfolgreich. Einigermaßen komplikationslos setzte sich die Feiertagsreduzierung durch, denn tatsächlich wurden in den Gemeinden die Feiertage auf den nachfolgenden Sonntag verlegt:53 Dies gilt auch und gerade für die damit verbundenen Bruderschaftsandachten, Prozessionen und Wallfahrten.54 So wurde die große Paderborner Wallfahrtsprozession nach Werl im Herzogtum Westfalen im Jahr 1763 in Richtung des im Fürstbistum Paderborn gelegenen Wallfahrtsorts Verne bei Salzkotten umdirigiert.55 Die unproblematische Veränderung der Prozessionen und Wallfahrten scheint auf einen Kompromiss zwischen den volksfrommen Bedürfnissen und dem lokalen Pfarrer hinzudeuten.56 Die Modifikation der Frömmigkeit stieß jedoch auch an ihre Grenzen. Die Bilder- und Heiligenverehrung blieb für viele Gläubige eine stimmige Andachtsform, denn es gehörte zur volksfrommen Praxis, die Heiligen um Fürbitte anzurufen und in den Bildern der Heiligen und des Gekreuzigten mehr als nur Verweise zu sehen. Wenn aber aufgeklärte Bürger und Pfarrer die ‚Gelehrtenrepublik‘ verließen, um dieses Vertrauen auf Bilder und Heilige als „Aberglauben“ zu brandmarken, scheiterten sie. Hier sei nochmals auf das Beispiel Rheine verwiesen, wo im Juni 1791 Pfarrer, Amtsrentmeister, Bürgermeister und ein Hofkammerrat 37 „monströse Bil52
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Georg Wagner, Die Errichtung der Verler Pfarrkirche St. Anna 1792–1800. Ein klassizistischer Kirchbau in Westfalen unter österreichischer Direktive im Geiste des Josefinismus, in: Theologie und Glaube. Zeitschrift für den katholischen Klerus 73 (1983), S. 176–187. Von Protesten wird aus Rheine berichtet, doch unter Androhung von Militärgewalt machten sich 1772 die Rheiner an den abgeschafften Heiligenfeiertagen zur Arbeit auf. Vgl. den Bericht in Heinrich Büld (Hg.), Rheine an der Ems. Chroniken und Augenzeugenberichte 1430–1950, Rheine 1977, S. 165–167. Viele Beispiele in Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit, S. 336–338. Ulrich Falke und Rüdiger Weinstrauch, Das Gnadenbild von Verne. Unerwartete Erkenntnisse zu einer westfälischen Wallfahrt, Verne 1997, S. 346 f. Weitere Beispiele, auch zum kölnischen Vest Recklinghausen, bei Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit, S. 337 f.
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der“ aus der Kirche warfen. Das Gerede begann in der Stadt und nahm auch Bezug auf die Feiertagsreduzierung: „Heilige Tage weg, Bilder weg, Lutherisch werden“, so ein Augenzeugenbericht.57 Die Aufklärer vor Ort wurden als diejenigen betrachtet, welche die überkommene Katholizität beseitigen wollten, die ja auch aus der Abgrenzung gegenüber anderen Konfessionen ihre identitätsstiftende Kraft bezogen hatten. Als nämlich der Prädikant von Ohne, einem Nachbarort in der reformierten Grafschaft Bentheim, die Stadt betrat, verstärkte sich die Unruhe in den „Bier- und Fuselhäusern“: „Da ist der Kerl schon, Morgen wird er davon predigen, daß die Catholiken ihre Bilder abgeschafft, und zu den Reformierten kommen.“ Am Sonntag, dem 20. Juni, kam es zur Resakralisierung der Heiligenbilder. Zunächst wurden die entfernten Bilder nach der Messe besichtigt; die „alten Weiber“ beteten mit brennenden Kerzen vor den Bildern, eine Deputation wurde zum Pfarrer abgesandt, um die Wiederanbringung der Bilder zu verlangen, was dieser ablehnte. Unter Beteiligung der Ratsherren brachte daraufhin eine Menge von ungefähr 500 Personen die Bilder in die Kirche zurück und befestigte sie an ihren alten Plätzen. „Jeder, der da war, mußte seine Hände anlegen“. Vor jedem Bild wurden Lichter angezündet und ein „tiefgebeugtes Gebet verrichtet“. Am Sonntagabend beendeten eine Andacht und ein „frommes Gebet am Calvarienberg“ das Geschehen.58 Die alte Ordnung war wiederhergestellt, und dies wurde durch das rituelle Trinken in den Wirtshäusern besiegelt. Die hier aufgezeigte volksfromme Beharrung ist auch die Ursache dafür, dass die Berichte der aufgeklärten Reiseschriftsteller über „Aberglauben“ und „Bigotterie“ in den Bistümern Münster und Paderborn nicht etwa tiefer Rückständigkeit geschuldet waren.59 Gruner und andere sahen durch ihre aufgeklärte Brille nichts anderes als die Resultate einer erfolgreich umgesetzten tridentinischen Reform. Mit vereinzelten, dezidiert aufgeklärten Reformen war diese barockkatholische Durchdringung der Gesellschaft nicht zu überwinden. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen zu zeigen versucht, dass die westfälischen Verfechter Katholischer Aufklärung den Gesamtrahmen der tridentinischen Reform nicht veränderten. Zwar kann für die beiden westfälischen Fürstbistümer von einer spezifischen Aneignung aufgeklärter Gedanken gesprochen werden, doch als Signum der Epoche erscheint mir die Überschrift „Katholische Aufklärung“ ungeeignet. Ein solches Fazit ist – Sie werden es bemerkt haben – meiner Betrachtung kirchlicher Strukturen und einer auf Maßnahmen abzielenden Vogelschau geschuldet. Es ist ein Blick, der sich mit dem Charakter eines Jubiläumsvortrages rund um eine Gründergestalt nur schwer in Einklang bringen lässt. Als Korrektiv hätte ich Intentionen, Gestaltungs- und Schaffenskraft des Generalvikars und Ministers von Fürstenberg stärker gewichten müssen. Gleichwohl: Wenn man die Strukturen und Prozesse in den Mittelpunkt stellt, dann werden die Brüche mit dem Jahr 1803 an57 58 59
Büld, Rheine, S. 173–180 (Bericht des Richters van Coevorden), hier S. 174. Ebd., S. 175–178. Gruner, Wallfahrt, in: Dethlefs/Kloosterhuis, Auf kritischer Wallfahrt, S. 158 (Wegebilder), 165 f. (Bistum Paderborn) und 274 f. (Stadt Münster).
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Zum Profil katholischer Aufklärung in den Fürstbistümern Westfalens
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zusetzen sein. Erst die Auflösung der Fürstbistümer schuf die Basis für eine Neuorientierung. Befreit von den Privilegien des Adels, konnten sich Bistumsleitung und Pfarrklerus auf eine Verbesserung der Seelsorge im Sinne der Aufklärung konzentrieren.
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Fürstenberg und das Kommerzienkollegium 1764–1767 Wirtschaftspolitik im Fürstbistum Münster nach dem Siebenjährigen Krieg 1. Die Einrichtung des Kommerzienkollegiums 1764 Am 9. Oktober 1764 setzte der münsterische Fürstbischof Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels unter der Oberaufsicht seines Geheimen Rats eine neue Institution ein: das Kommerzienkollegium.1 Einen Monat später ließ er am 10. November 1764 die Mitglieder des Kollegiums berufen, das sogleich seine Arbeit aufnahm. Beide Schreiben trugen einen „Videt“-Vermerk seines leitenden Ministers Franz von Fürstenberg. Weder in der allgemeinen Landesgeschichte noch in der westfälischen Wirtschaftsgeschichte hat dieses Kommerzienkollegium bisher ausführliche Beachtung gefunden.2 Wenn überhaupt, wurde es allenfalls am Rande erwähnt. Dennoch ist es lohnend, die Tätigkeit des Kommerzienkollegiums und seiner Mitglieder näher zu untersuchen, und zwar nicht nur, weil der 200. Todestag von Fürstenberg ansteht. Vielmehr sieht die Forschung heute die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches in einem neuen Licht und attestiert ihnen nicht mehr, eine – im Vergleich zu Preußen – antiquierte Wirtschaftspolitik betrieben zu haben.3 Eine gründlichere
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1767 wurde der Name in „Kommerzienkommission“ geändert. Der Einheitlichkeit wegen wird das Gremium hier durchgängig als Kommerzienkollegium oder Kollegium bezeichnet. Erwähnungen in der Literatur: Helmut Richtering, Firmen- und wirtschaftsgeschichtliche Quellen in Staatsarchiven, dargestellt am Beispiel Westfalens vornehmlich für das 19. Jahrhundert, Dortmund 1957, S. 7; Alwin Hanschmidt, Franz von Fürstenberg als Staatsmann. Die Politik des münsterschen Ministers 1762–1780, Münster 1969, S. 99 f.; Stefanie Reekers, Beiträge zur statistischen Darstellung der gewerblichen Wirtschaft Westfalens um 1800. Teil 1: Paderborn und Münster, in: Westfälische Forschungen 17 (1964), S. 83–176, hier S. 118 f.; dies., Quellen zum Wolltuchgewerbe in Städten des Münsterlandes im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: ebd. 33 (1983), S. 104–115, hier S. 105–108; Bettina Schleier, Territorium, Wirtschaft und Gesellschaft im östlichen Münsterland (1750–1850), Warendorf 1990, S. 142; Thomas Küster, Das Krameramt in Münster und die Auswirkungen staatlicher Zunft- und Gewerbepolitik (1661–1810), in: Franz-Josef Jakobi (Hg.), Das Krameramtshaus zu Münster 1589–1989. Zeugnis für 400 Jahre Stadtgeschichte, Münster 1989, S. 93–135, hier S. 121–126; Wilfried Reininghaus, Warendorfs Wirtschaft vor 1806, in: Paul Leidinger (Hg.), Geschichte der Stadt Warendorf, Bd. 1, Warendorf 2000, S. 567–602, hier S. 588 f. Vgl. Frank Göttmann, Über Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsentwicklung geistlicher Staaten in Oberschwaben im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Wüst (Hg.), Geistliche Staaten in Oberdeutschland im Rahmen der Reichsverfassung, Epfendorf 2002,
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Untersuchung dieser von Fürstenberg und seinem Landesherrn eingerichteten Institution kann daher zu aktuellen Forschungsfragen einen Beitrag leisten. Wichtigste Quelle ist ein im Umfeld des Geheimen Rats entstandenes Memorialschriftwerk, das die Rechtsgrundlagen, die Sitzungsprotokolle und die großen Memoranden des Kollegiums sowie die von ihm erhobenen Statistiken enthält, allerdings nur bis 1767 reicht.4 Es wurde angefertigt, als in jenem Jahr die Vorschläge des Kollegiums von den Landständen zur Umsetzung an den Geheimen Rat zurückgegeben wurden. Ergänzt werden die Protokolle durch Akten aus der in Bonn geführten landesherrlichen Kabinettsregistratur sowie aus den Nachlässen Fürstenbergs und seines Vertrauten Goswin Anton von Spiegel. Die Überlieferung ist insgesamt fragmentarisch, weil aus der Zeit vor 1780 die Akten des Geheimen Rats zu Münster, dem das Kommerzienkollegium zugeordnet war, fehlen. Die Instruktion vom 9. Oktober 1764 verdeutlicht die Intentionen des Fürstbischofs und seines Ersten Ministers. Maximilian Friedrich bekundete, er habe sich von Anbeginn seiner Herrschaft „die Aufsicht und Verbesserung der Handellschafft, Manufacturen und Fabriquen wie imgleichen des Ackerbaues […] zur Beförderung des allgemeinen Wohlstandes unserer Unterthanen vorzüglich zu Gemüht gezogen“.5 Aufgrund der positiven Erfahrungen anderer Länder setze er das Kommerziumkollegium ein, dem Mitglieder angehören sollten, die sich durch „gute Wissenschafft und Erkäntnüß“ hervorgetan und „umbs gemeine beste verdient gemacht“ haben. Was erwarteten Fürstenberg und sein Landesherr vom Kommerzienkollegium? Dessen Einberufung fiel in die bewegte Zeit nach dem Ende des Siebenjährigen Kriegs, als der neue Fürstbischof und sein Erster Minister sich mit der Sanierung der zerrütteten Finanzen des Landes auseinandersetzen mussten.6 1763 war das Vorhaben einer „Maut“ genannten Verbrauchssteuer in Verbindung mit einer Schutzzollpolitik am Widerstand der Städte gescheitert. Das bereits von Maximilian Friedrich unterzeichnete Edikt zur Maut wurde nicht veröffentlicht und schließlich am 29. Januar 1764 im Einvernehmen mit allen drei Ständen wieder zurückgenommen. Alternative Konzepte zur Geldbeschaffung ließen sich nur in Grenzen durchsetzen, denn eine allgemeine Personenschatzung scheiterte am Widerstand des Domkapitels und der Ritterschaft und wurde schließlich nur als einmalige Abgabe von den Landständen beschlossen.
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S. 331–376; Bettina Braun u. a. (Hg.), Geistliche Staaten im Nordwesten des Reiches. Forschungen zum Problem frühmoderner Staatlichkeit, Köln 2003. Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen (im Folgenden LAV NRW W), Msc. VII 1914. Für ergänzende Hinweise danke ich Ursula Schnorbus (Landesarchiv NRW) und Dr. Heinz Mestrup (Bistumsarchiv Münster). LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 6r, folgendes Zitat ebd., fol. 6v. Für das Folgende vgl. Heinrich Joseph Brühl, Die Tätigkeit des Ministers Freiherrn von Fürstenberg auf dem Gebiet der inneren Politik des Fürstbistums Münster 1763–1780, in: Westfälische Zeitschrift 63 (1905), H. 1, S. 167–248, hier S. 190–196; Hanschmidt, Fürstenberg, S. 97–109.
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In dieser verfahrenen Situation mochte sich Fürstenberg weitere Anregungen von Praktikern aus der Wirtschaft erhoffen. In stichwortartigen Bemerkungen hatte er im Frühjahr 1763 ein Memorandum über den Zustand und die künftigen Aussichten der Wirtschaft des Fürstbistums Münster entworfen.7 Fürstenbergs Programm erstreckte sich kaum auf die Landwirtschaft, sondern vielmehr auf die Gewerbe und den Handel. Die Gewerbe kennzeichnete er knapp mit „schlecht“ („mauvais“) und bezog in das Urteil sowohl die Textil- wie das Metallgewerbe ein. Er beabsichtigte, durch Eingriffe in den Handel die inländischen Gewerbe, vor allem das Wollund Leinengewerbe, neu zu beleben: „En gênant le commerce nous augmentons les manufactures“. Der Handel sollte sich auf England ausrichten,8 dorthin sollten die junge Leute in die Lehre gehen, ein englisches Handelshaus sollte nach Münster geholt werden, und überhaupt könnte Münster zum Umschlagplatz Englands auf dem Kontinent gemacht werden: „Nous pourrions devenir l’entrepôt anglois“. Verbesserte Kanäle und Straßen gehörten zum Förderprogramm für den Handel. Nur als ein Stichwort taucht auch jener „Conseil de commerce“ auf, der dann 1764 tatsächlich eingerichtet wurde. Wir dürfen es als eine originäre Idee Fürstenbergs ansehen, den Sachverstand von Fachleuten für seine wirtschaftspolitischen Ideen zu bündeln und zu mobilisieren. Die Instruktion vom 9. Oktober 1764 legte den Standort des Kommerzienkollegiums im Behördenaufbau des Fürstbistums fest.9 Sie beschrieb die Anbindung an den Geheimen Rat in Münster, der all das weiterzugeben hatte, was im Kommerzienkollegium mit Mehrheit beschlossen worden war. Aus dem Geheimen Rat gingen die Vorschläge in das Kabinett in Bonn, von dort nach einer Entscheidung des Kurfürsten oder seines Ersten Ministers entweder an die Hofkammer oder an den Landtag zur Umsetzung oder zur Festlegung von Steuern. Auch wenn er nie persönlich erschien, nahm Fürstenberg an den Beratungen des Kollegiums regen Anteil, wie wir aus der erhaltenen Korrespondenz mit Goswin Anton von Spiegel wissen. Außerdem finden sich in seinem Nachlass fragmentarisch Originalmaterialien, die das Kommerzienkollegium gesammelt hat und die es nach Bonn weiterleitete.10 Der umständliche Behördenweg verrät, dass das Kollegium im Fürstbistum Münster – wie in anderen deutschen Territorien – nicht recht in den Behördenaufbau des 17. und 18. Jahrhunderts passte.11 In Kommerzialbehörden wurden mit Spezialauftrag Beamte entsandt, die sich durch sachverständige Vertreter aus Handel und 7 8 9 10 11
Bistumsarchiv Münster (im Folgenden BAMs), Nachlass Fürstenberg 146/3 B (vgl. die Edition im Anhang zu diesem Beitrag); dazu Hanschmidt, Fürstenberg, S. 96. Weitere Belege für diese Funktion Englands in der Korrespondenz zwischen Fürstenberg und Goswin Anton von Spiegel 1765; LAV NRW W, Nachlass G. A. von Spiegel Nr. 11a, 29. Vgl. für einen raschen Überblick immer noch: Ludwig Dehio, Zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Fürstbistums Münster im 17. und 18. Jahrhundert, in: Westfälische Zeitschrift 79 (1921), H. 1, S. 1–24. BAMs, Nachlass Fürstenberg 68. Friedrich Facius, Wirtschaft und Staat. Die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945, Boppard 1959, S. 19–30.
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Gewerbe ergänzten. Trotz ihrer zentralen Aufgaben war die Stellung der Kommerzialbehörden in den fürstlichen Verwaltungen schwach, weil sie selten mit direkten Durchgriffsrechten versehen waren und keinen eigenen Apparat aufbauen konnten. Aus welchem Territorialstaat Fürstenberg die Idee eines Kommerzienkollegiums nahm, ist nicht bekannt. 1763 gründete zum Beispiel Österreich einen Kommerzienrat als selbständige Zentralbehörde, die aber bereits nach zwei Jahren wieder der Hofkanzlei eingegliedert wurde. Preußen besaß zur gleichen Zeit mehrere Kommerzienkollegien als Provinzialbehörden, allerdings nicht in den westlichen Provinzen.12 Spätestens 1765 hatte Fürstenberg Kenntnis von einem englischen „Conseil de Commerce“, der 1715 ins Leben gerufen worden war. Er verschaffte sich über den englischen Gesandten Cressener am Bonner Hof aus Whitehall eine Abschrift über den Auftrag des Königs an das sechsköpfige Gremium: „to examine into & take an account of the state & condition of the British trade in foreign ports and to lay before His Majesty how the same may be improved and extended“.13 Die Beratungsfunktion englischer Kaufleute für die Krone resultierte aus der traditionell engen Verbindung der Exporteure mit der Regierung in London.14 Vergleichbares für das binnenländische Fürstbistum Münster zu erhoffen, mochte verwegen sein, doch Fürstenberg setzte in sein Kommerzienkollegium sicher einige Erwartungen. Wer gehörte ihm an? Aus dem Geheimen Rat berief der Fürstbischof vier Mitglieder: die Domkapitulare Goswin Anton von Spiegel15 und Franz Anton von Landsberg16 sowie die Geheimen Referendare Dr. Hermann Anton Böddiger17 und Dr. Adam Franz Wenner.18 Sowohl die beiden Domkapitulare als auch Wenner waren enge Vertraute Fürstenbergs; Wenner fungierte als „eine Art Unterstaatssekretär“.19 ‚Gesetzt‘ waren als Mitglieder auch die beiden Gildemeister der Kramer in der Residenzstadt Münster Peter Franz Vogelsang und Hermann Ribbers.20 Mit dem Krameramt kooperierten die landesherrlichen Behörden seit langem, unter ande12 13 14 15 16 17 18
19 20
Ebd., S. 193 f. und 199. BAMs, Nachlass Fürstenberg 68/22 (Abschrift vom 15.01.1765); anschließend beriet sich Fürstenberg darüber mit Spiegel, LAV NRW W, Nachlass Goswin Anton v. Spiegel Nr. 11 (Fürstenberg an Spiegel, 15.06.1765). Vgl. Thomas Southcliffe Ashton, An Economic History of England, Bd. 3: The 18th Century, London 1972 (zuerst 1955), S. 136 f. Goswin Anton von Spiegel zu Desenberg und Canstein (1712–1793), vgl. Friedrich Keinemann, Das Domkapitel zu Münster im 18. Jahrhundert. Verfassung, persönliche Zusammensetzung, Parteiverhältnisse, Münster 1967, S. 283–285 (Nr. 101). Franz Karl Anton Arnold von Landsberg zu Erwitte (gest. 1779), ebd., S. 316 f. (Nr. 152). Hermann Anton Ignaz Böddiger (gest. 1776), Dr. jur., Hofrat, 1766 Kanzleidirektor, vgl. Wilhelm Kohl (Bearb.), Das Bistum Münster, Bd. 7,4: Die Diözese, Berlin und New York 2004, S. 184. Adam Franz Wenner (gest. 1788), Dr. jur., Hofrat, 1771–1778 Hofkammerdirektor, 1785 Vizekanzler, vgl. ebd.; Gudrun Jacob, Die Hofkammer des Fürstbistums Münster von ihrer Gründung bis zu ihrer Auflösung (1573–1803), in: Westfälische Zeitschrift 115 (1965), S. 1–100, hier S. 98. Dehio, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 19. Küster, Krameramt, S. 121.
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rem 1729/31 bei der Festsetzung der Frachttarife auf dem Kanal bis Maxhafen.21 Als „Actuarius“ wirkte der Geheime Kanzlist Detten. Über die schon genannten Personen hinaus wurden vier weitere im November ernannt: aus Münster der Kaufmann Orsett, aus Warendorf und Bocholt die jeweiligen Bürgermeister Zurstrassen und Frencke sowie aus Rheine der Mühlenpächter Striethorst. Johann Heinrich Orsett und Johann Dietrich Striethorst waren seit 1762 Geschäftspartner und gemeinsam mit Johann Joseph Meunier Teilhaber der kommerziell arbeitenden Grütz-, Walk-, Papier- und Perlmühle an der Ems bei Rheine; eigentlicher Mühlenpächter war Striethorst.22 Orsett betrieb ein erfolgreiches Handelsgeschäft und beriet Fürstenberg 1763 unter anderem in Währungsangelegenheiten.23 Zurstrassen galt als Textilexperte; er brachte das fast schon untergegangene Wolltuchgewerbe in Warendorf zu neuer Blüte und beschäftigte, wahrscheinlich in einer Manufaktur, 1766 50 Meister. Er unterhielt intensive Geschäftsbeziehungen unter anderem nach Hessen.24 Frencke trat praktisch nicht in Erscheinung, wohl auch wegen der beträchtlichen Entfernung zur Landeshauptstadt.25 Über den Kreis der genannten Kaufleute zog das Kommerzienkollegium bei Bedarf weitere Experten aus einzelnen Branchen heran. Erwartet wurden Expertisen zum Handel und zur Kaufmanschaft im Hochstift, vor allem zum Export der inländischen Produktion, „wodurch das Geld ins Land gebracht wird“. Importe sollten auf unentbehrliche Waren „für den leidlichsten Preis“ beschränkt, Ackerbau und Viehzucht nach lokaler Gegebenheit befördert werden, um den inländischen Konsum anzuregen. Die Einführung „neuer, dem Publico besonders nützlichen Fabriquen und Manufacturen“ oder Vorschläge dazu waren erwünscht. Das Kommerzienkollegium sollte zu diesem Zweck Gutachten erstellen und im Vorfeld über Handel und Gewerbe Informationen einholen. Städte, Bürger und Zunftmeister mussten ihnen Auskunft erteilen. Ein Reskript machte dies landesweit bekannt.26 Nur eine Woche nach der definitiven Besetzung des Kommerzienkollegiums nahm es am 17. November 1764 seine Arbeit auf. Es behandelte auf dieser ersten Arbeitssitzung die Schiffbarmachung der Lippe, die Ausfuhr von Häuten, die Verlängerung des Kanals über Clemenshafen hinaus bis zur Ems, den Leinwandhandel sowie die Wandmacherei. Zu letzterem Punkt wurde ein besonderes Gutachten von Bürgermeister Zurstrassen erbeten, um die wirtschaftliche Lage Warendorfs zu verbessern. Ob damit gegen eine besondere Anforderung an die Mitglieder des Kommerzienkollegiums verstoßen wurde, lassen wir dahingestellt. Ihnen war nämlich 21 22 23 24 25 26
Heinrich Knüfermann, Geschichte des Max-Clemens-Kanals im Münsterland, Hildesheim 1907, S. 66. LAV NRW W, Kabinettsregistratur (KR) 596 und 667; vgl. Hermann Kaiser, Handwerk und Kleinstadt. Das Beispiel Rheine/Westf., Münster 1978, S. 190. BAMs, Nachlass Fürstenberg 68. Reininghaus, Wirtschaft, S. 594 f. Frencke handelte nach Ausweis einer Warendorfer Urkunde mit dortigen Textilwaren, vgl. Siegfried Schmieder (Bearb.), Die Stadt- und Gilderechte der Stadt Warendorf, Warendorf 1993, S. 209. LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 125r–127r.
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aufgegeben worden, bei abzugebenden Gutachten „allen Eigennutz und private Absichten auf ihr besonders oder etwa eines einzelnen Ambtes Interesse gäntzlich auf die Seithe zu setzen“.27 In sieben weiteren Sitzungen beriet das Kommerzienkollegium diese und weitere Einzelmaßnahmen zur territorialen Wirtschaftspolitik, bevor es am 16. Februar 1765 dem Geheimen Rat ein Promemoria in Punkten mit der Bitte um Umsetzung vorlegte.28 Mit den darin vorgeschlagenen Einzelmaßnahmen befasste sich das Kollegium weiter. Es legte am 11. Februar 1767 ein weiteres Promemoria vor, in dem die Umsetzung der Vorschläge zusammenfassend beurteilt und weitere Empfehlungen ausgesprochen wurden.29 Im Folgenden werden zunächst die gutachterlichen Vorschläge des Kommerzienkollegiums vorgestellt, wobei einzelne der vorangegangenen Gutachten von Experten im Land einbezogen werden (Kap. 2). Anschließend werden diese vor dem wirtschaftspolitischen Hintergrund des Fürstbistums geprüft. Leitfragen sind: Waren die vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen taugliche Mittel, um die Lage des Landes nach dem Siebenjährigen Krieg zu verbessern? Erfüllten sich Fürstenbergs Erwartungen? (Kap. 3)
2. Zwei Gutachten des Kommerzienkollegiums 1765 und 1767 Die in den Gutachten erörterten Themen deckten nicht vollständig die Wirtschaft, sondern nur verschiedene Zweige von Handel und Gewerbe im Fürstbistum Münster ab. Allerdings lassen sich daraus jene wirtschaftspolitischen Konzepte ablesen, die das Kommerzienkollegium verfolgte. Der zuerst diskutierte Vorschlag, zum Wohle der inländischen Lohgerberei keine unbehandelten rohen Häute ohne Zoll zum Export zuzulassen, legt schon eine Grundhaltung des Kommerzienkollegiums offen.30 Es wollte die gewerblichen Kräfte des eigenen Territoriums stärken und Rohstoffe inländisch verarbeiten lassen. Hierzu hätte es aber Unternehmer bedurft, die Manufakturen gründeten. Auf das von den englischen Freikrämern Grammer & Wright gegenüber Fürstenberg gemachte Angebot, eine Gerberei zu gründen, ging das Kollegium nicht weiter ein. Zwei Interessenten, einerseits die Kaufleute Gerhard Hermann Giese und Heinrich Schlebrügge, andererseits der Lohgerber Wickinghoff, meldeten sich. Letzterer benötigte 6.700 Rtlr., Giese & Schlebrügge 9.000 Rtlr., um Häute auf Vorschuss zu kaufen. Für diese Investition wollten das Kollegium und der Geheime Rat eine Befreiung von allen bürgerlichen Lasten auf fünf Jahre gewäh27 28 29 30
Ebd., fol. 9v. Ebd., fol. 156r–188r. Ebd., fol. 205r–261v. Ebd., fol. 157v–161r und 205r–208r. Dieser Vorgang ist als einziger der vom Kommerzienkollegium behandelten Themen auch in LAV NRW W, KR Nr. 2675 dokumentiert. Der Vorschlag von Grammer & Wright (o. D.) findet sich in BAMs, Nachlass Fürstenberg 68/19. Zu Schlebrügge vgl. Wilhelm Kohl, Hofrat Heinrich Schlebrügge, ein Anhänger der französischen Revolution in Münster, in: Westfalen 38 (1960), S. 202–208, hier S. 204; vgl. auch Reekers, Beiträge, S. 134, zum Scheitern des Gerbereiprojekts.
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ren. Giese und Schlebrügge hatten auf die Anwerbung auswärtiger Gerber gedrängt und wünschten deshalb nicht von den Zünften verfolgt zu werden. Das blieb ihnen versagt, denn ein Monopol auf den Ankauf von Fellen wurde nicht bewilligt. Zwei Jahre später meldete sich mit dem Lohgerber Sybatz aus Münster ein weiterer Interessent, der gutes Leder aus Ochsenfellen zu liefern versuchte, aber faktisch passierte nichts. Die geplante zentrale Lohgerberei kam nicht zustande. Der zweite Themenkomplex der Promemorien, die Leineweberei, behandelte ein Massengewerbe, welches das Einkommen vieler Landesbewohner berührte.31 Die zur gleichen Zeit von Justus Möser angestoßenen Impulse zur Analyse der Marktchancen des Osnabrücker Leinens wirkten zweifellos auf das Nachbarterritorium ein.32 Es galt in Osnabrück wie in Münster, den Ruf des Leinens für den Export zu sichern und wenn möglich zu vermehren. 1764 fragte das Kommerzienkollegium zunächst bei mehreren Experten an. Drei Antworten sind erhalten: Dr. Johann Gerhard Schnoer, ein Jurist aus Stadtlohn, der sich im Handel mit Holland engagierte, lotete die Absatzchancen des Leinens aus Münster bei einem Geschäftsfreund in Amsterdam aus und meldete keine gute Nachrichten. Sein eingereichtes Gutachten wies angeblich nach, dass bei einer durchschnittlichen Jahresproduktion eines Haushaltes von Garn oder Leinwand im Wert von 15 Rtlr. das Fürstbistum wegen der jährlichen Einfuhr von Tee, Kaffee, Zucker und anderen Konsumartikeln von 20 Rtlr. pro Haushalt vor ernste Konsequenzen gestellt werde. Um die negative Handelsbilanz auszugleichen, riet er daher dringend zum Ausbau des Leinenhandels mit Holland.33 Der Dülmener Textilkaufmann Anton Hackebrahm beklagte die Heimlichkeit der ländlichen Leineweberei, vor allem in den Ämtern Ahaus, Horstmar und Lüdinghausen, die allerdings vor dem Krieg den Bauern wegen der Bleiche ein sicheres Geldeinkommen von 40 bis 50 Rtlr. pro Jahr beschert habe. Für die veränderte Nachkriegssituation machte er die vielen fremden und inländischen Kramer verantwortlich, die den Landspinnern und -webern ihre Waren abnehmen, „wodurch sie gleichfalß den besten Honig heimlich aus dem Lande stehlen“. Er hielt es für notwendig, „den vielen eingeschlichenen Handel zu hemmen“.34 1765 schlug das Kommerzienkollegium zwei Maßnahmen zur Hebung des Leinengewerbes vor: Zum einen sollte das Leggewesen erneuert werden und nur solches Leinen gestempelt werden, das die vorgesehene Länge und Breite aufwies. Zum anderen setzte es sich mit der Weberei auf dem Lande auseinander. Sollte die Landweberei verboten werden, weil die Weber auf dem Lande zu unvermögend waren, um sich in die Städte und damit unter die Aufsicht von Zünften zu begeben? Zu be31 32 33 34
LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 161r–164v und 208r–210r; vgl. Carl Biller, Der Rückgang des Handleinwandindustrie des Münsterlandes, Leipzig 1906 (S. 18–36 zu den Leggen). Justus Möser, Sämtliche Werke, Bd. 8: Den Patriotischen Phantasien verwandte Aufsätze, Hamburg 1956, S. 27–46 und 67 f. BAMs, Nachlass Fürstenberg 68/18. Zu Schnoer vgl. Hermann Terhalle, Die Berkelschiffahrt in der Wirtschaftsgeschichte des niederländisch-westfälischen Grenzraumes, 2. Aufl. Vreden 1990, S. 76 Anm. 49. BAMs, Nachlass Fürstenberg 68/11.
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denken sei, „dass es vielen Landtleuthen unbequämer, auch kostbahrer seyn würde, in den Städten für Baargeld alß anjetzo in denen Dörfern, Bauerschafften oder eygenen Häußern weben zu laßen“.35 Dort war es möglich, Leinwand im Tauschgeschäft zu erstehen. Das Kommerzienkollegium betonte, „dass man die Freyheit des Webens allerdings einem jehden frey laßen müße“, hielt aber die Einführung bzw. die Beibehaltung von Zünften in allen Städten weiterhin für notwendig, ebenso die Einhaltung der Legge und der Stempelordnung. Es war sich bewusst, dass die Qualität des Warendorfer Leinens nicht an anderen Standorten erreicht werden konnte. Um die Motivation der Zünfte zu erhöhen und auf die Qualität der Produkte zu achten, sollten die Zünfte anstelle der Städte die Stempelgelder kassieren. Aus eventuell anfallenden Überschüssen sollten Prämien für die Fertigung von Damast und anderem Feinleinen gezahlt werden. Während die Zünfte die Webstühle zu beaufsichtigen hatten, sollten die Städte das Haspelmaß kontrollieren. Schließlich empfahl das Kommerzienkollegium, die Landweber zum Umzug in die Stadt zu ermuntern, indem ihnen die Freistellung von Beitragsgeldern zur Zunft in Aussicht gestellt wurde. Die Anregung des Kommerzienkollegiums zur Anlage weiterer Leggen stieß allerdings nicht überall auf fruchtbaren Boden. Zwei Leinenhändler aus dem Amt Stromberg, Johann Gerhard Helweg und Heinrich Georg Hüffer, widersprachen heftig.36 Die Legge in Oelde sei zu alten Konditionen 1765 wiederverpachtet worden. Diese Maßnahme sei unbefriedigend, weil dem Leggepächter zuerst das gestempelte Leinen angeboten werden müsste. Das Kommerzienkollegium teilte diese Einschätzung, konnte sich aber mit seinen Ideen trotz der Unterstützung aus dem Geheimen Rat nicht durchsetzen, weil die Hofkammer aufgrund ihres fiskalischen Interesses die Leggepächter nicht schlechter stellen wollte. Überhaupt fiel die Bilanz 1767 ernüchternd aus. Obwohl Warendorf ein schärferes Leggeregiment eingeführt hatte, fand die Leinwand aus dem Münsterland keinen Absatz mehr wie in der Vergangenheit. Mit Hofrat Giese und Kommerzienrat Zurstrassen hatten zwar gleich zwei Beauftragte der Landesregierung „ein wachsames Auge“ auf das Leinengewerbe im Territorium geworfen, auch hatten Ahaus und Horstmar eine Legge zu Warendorfer Konditionen neu eingeführt, doch blieb die Situation höchst unbefriedigend. Aus Sicht des Kommerzienkollegiums wurden die Chancen auf den Export nicht genutzt. Die Schuld gab es einerseits den Importverboten benachbarter und entfernter Staaten, andererseits dem Mangel an Damast („feinem Bildwerk“), dessen Fertigung inzwischen von Warendorf nach Bielefeld abgewandert war.37 Angeregt wurde deshalb, Prämien für feines Leinen zu vergeben. Das Wolltuchgewerbe hatte offenbar unter dem Siebenjährigen Krieg noch stärker gelitten als das Leinengewerbe. Fürstenberg erreichten noch vor Gründung des Kommerzienkollegiums dramatische Zahlen. So wurde im Februar 1764 aus Rhei35 36 37
LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 162v. LAV NRW W, KR 876 sowie Msc. VII 1914, fol. 54r. Zur Legge in Oelde: Biller, Rückgang, S. 21–26; Schleier, Territorium, S. 144. Vgl. ebd., S. 139–150; Reininghaus, Wirtschaft, S. 587 f.; Axel Flügel, Kaufleute und Manufakturen in Bielefeld, Bielefeld 1993.
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ne berichtet, dass dort zur Blütezeit des Gewerbes 120 Meister im Wandmacheramt beschäftigt worden seien, jetzt aber nur noch 70 bis 80.38 Fürstenberg drängte deshalb die Mitglieder des Kommerzienkollegiums persönlich, schnellmöglichst Maßnahmen gegen den Niedergang des Tuchgewerbes einzuleiten. Am 3. Juni 1766 schrieb er an Goswin Anton von Spiegel: „L’etablissement d’une fabrique de draps est un objet si important, que je vous le recommande de toute facon.“39 Zu diesem Zeitpunkt hatte das Kommerzienkollegium allerdings längst reagiert und Vorschläge unterbreitet, doch war Fürstenberg offenbar ungeduldig. „Zu Imstandebringung der [von Fürstenberg geforderten (Woll-)] Tuchmanufacturen“ hielt das Kommerzienkollegium in seinen Gutachten einen ganzen Maßnahmenkatalog für nötig.40 Es wollte 1765 den Absatz der Wandmacher mit dem Einzelhandel derartig verzahnen, dass die Wandmacherzünfte in Münster, Rheine, Telgte, Metelen, Bevergern und Coesfeld einmal im Monat einen Musterbrief mit Proben ihrer Tuche mit dem dazugehörigen Stückpreis nach Münster senden. Auf diese Weise hätten der Handel, das Wandschneideramt in Münster und die übrigen Tuchhändler im Land einen Überblick über die Qualität der Tuchproduktion erhalten. Ziel war es, einen Stapel für inländische Tuche zu schaffen. Hier stand die regionale Wirtschaftspolitik Preußens in der Grafschaft Mark Pate, wo seit dem späten 16. Jahrhundert die wichtigsten Metallgewerbe, vor allem die Drahtproduktion, in Stapeln organisiert waren.41 Ein Kartell von Händlern kaufte die gesamte Produktion der Branche auf und betrieb mit den gestapelten Waren den Export. Im Textilgewerbe war die Bildung von Stapeln selten. 1753 hatte allerdings Preußen im märkischen Plettenberg einen Stapel für den Wollstoff Kirsey eingesetzt, der Vorbild für die Tuchmacher des Münsterlands gewesen sein dürfte.42 Ein anonymer Gutachter forderte, in Münster einen Stapel anzulegen und dessen Teilhabern das Privileg zu gewähren, allein mit inländischen Tuchen en gros und en detail zu handeln. Ihnen sollte auch freistehen, alle Läden im Lande visitieren und fremde Tücher konfiszieren zu lassen.43 Ein weiteres Gutachten, das des Textilhändlers Hackebrahm aus Dülmen, monierte, dass die Münsterländer Tuche fehlerhaft, ohne „Wissenschaft“ und desorientiert über die aktuellen Modefarben gewebt seien.44 Aus diesem Grunde forderte er, alle Tuche zu examinieren. In Verbindung mit dem geplanten Stapel stand die Erkenntnis, durch ein neues Reglement für Tuchmanufakturen und durch eine Schauanstalt für Wolltuche deren 38 39 40 41 42 43 44
BAMs, Nachlass Fürstenberg 68/10 (Bericht des Richters Linder, 24.02.1764); zum Wandmacheramt in Rheine vgl. Kaiser, Handwerk, S. 186–204. LAV NRW W, Nachlass G. A. von Spiegel Nr. 11a. LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 164v–167r und 210r–225v; vgl. Reekers, Quellen. Vgl. Karl Heinrich Kaufhold, Das Metallgewerbe der Grafschaft Mark im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Dortmund 1975. Wilfried Reininghaus, Zünfte, Städte, Staat in der Grafschaft Mark, Münster 1989, S. 198. BAMs, Nachlass Fürstenberg 68/12 (undatiert). Wegen des Bezugs auf die späteren Maßnahmen ist das Schreiben auf ca. 1764 anzusetzen. BAMs, Nachlass Fürstenberg 68/11.
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Qualität zu steigern. Tatsächlich ist schon am 14. September 1765 ein solches Reglement verabschiedet worden.45 Es lässt sich als Rahmen für das Wolltuchgewerbe im gesamten Territorium interpretieren und operierte mit Geboten und Verboten für den gesamten Produktionsprozess von der Wollerzeugung über das Weben, Scheren und Walken bis zur Abnahme der exportreifen Tuche in Schauanstalten. In jeder Stadt sollte ein Packhaus oder ein Stapel eingerichtet werden. Von den lokalen Schaumeistern sollte monatlich ein Muster der gelagerten Tuche mit Angabe der Länge und des Preises sowie ein „von ihnen unterschriebene[r] Muster-Brief dem Actuario der Commercien-Commission“ eingesandt werden; das Wandschneideramt in Münster sollte prüfen, ob die Bestimmungen eingehalten worden waren.46 Anfänglich ist diese Vorschrift eingehalten worden; im Protokollbuch des Kommerzienkollegiums finden sich daher Stoffmuster der Tuch- oder Wandmachergilden aus dem Hochstift. Später geriet das gesamte Reglement in Vergessenheit. Produktionsvorschriften für die inländischen Tuchmacher allein reichten aber nicht. Vielmehr musste die einheimische Produktion vor Importen geschützt werden. Deshalb hofften Fürstenberg und das Kommerzienkollegium auf die Wirkung einer fiskalischen Maßnahme, die per Edikt am 25. Mai 1764 im Rahmen der Entschuldungspolitik des Fürstbistums nach dem Siebenjährigen Krieg eingeführt worden war. Auf alle ausländischen Wolltuche, die im Wert einen Reichstaler nicht überstiegen, wurde eine Abgabe von sechs Groschen pro Elle erhoben.47 Allerdings war die Erhebung dieser Abgabe durch die Vorsteher der Tuchmacherzünfte an erhebliche bürokratische Hindernisse gebunden. Die Zünfte sollten fünf Prozent dieser Abgaben und die Hälfte der verhängten Strafen für sich behalten dürfen. Sie intervenierten beim Kommerzienkollegium deswegen, weil solche Umstände wenig praktikabel erschienen, um das einheimische Tuchmachergewerbe wirkungsvoll vor ausländischer Konkurrenz abzuschotten. 1767 monierte das Kollegium, wie unsinnig und teuer dieses Instrument war. Verstöße gegen das Edikt konnten nicht sinnvoll bekämpft werden, eine Kontrolle der Importe war faktisch unmöglich. Dennoch fiel in jenem Jahr eine vorläufige Bilanz scheinbar positiv aus. Gegenüber 1764 war die Zahl der Meister um 129 gewachsen und pro Jahr waren 894 Stück Tuch mehr produziert worden. Insbesondere „die feine Tuchfabrique“ von Zurstrassen in Warendorf erfuhr ein Lob, das zugleich ein Eigenlob des Kommerzienrats für sich selbst war. Das Kollegium führte vier Faktoren für die insgesamt positive Entwicklung an. Zum einen habe die Belastung der billigen Tuche Importe abgeschreckt, zum anderen das Manufaktur-Reglement ebenso wie die Prämien für einzelne Tuchmacher positive 45
46 47
Johann Josef Scotti, Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Königlich Preußen Erbfürstenthume Münster und in den standesherrlichen Gebieten Horstmar, Rheina-Wolbeck, Dülmen und Ahaus-Bocholt-Werth über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege vom Jahre 1359 bis zur französischen Militär-Occupation und zur Vereinigung mit Frankreich und dem Großherzogthume Berge in den Jahren 1806 und resp. 1811 ergangen sind, Münster 1842, Bd. 2, S. 75–86 (Nr. 455). Ebd., S. 86. Brühl, Tätigkeit, S. 190 f. und 211; Hanschmidt, Fürstenberg, S. 103.
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Wirkung gezeigt. Kontrovers diskutiert wurde der Effekt der Kleiderordnung von 1764, die dem „Bauernstand“ verboten hatte, kostbare Stoffe im Wert von mehr einem Reichstaler pro Elle zu tragen; Seide, Zitze (teurere Baumwollstoffe), kostbare Spitzen, Silber und Gold auf Hauben waren vollständig verboten.48 Offenkundig hielt sich aber niemand an die Verbote, die schon im September 1765 durch Edikt wiederholt und durch Strafandrohung verschärft werden mussten. Offiziell fiel die Kleiderordnung erst 1791. Sorgen bereiteten dem Kollegium die Preissteigerung für Wolle. Es fragte sich aber, ob das Tuchgewerbe zu diesen Konditionen überhaupt die gesamte Wollproduktion der münsterländischen Schäfereien abnehmen könne. 1767 war dies jedenfalls nicht abzusehen, weil viele Tuchmacher nur zwei oder drei Stück Tuch pro Jahr erzeugten. Dies war ein deutlicher Hinweis, dass die so hoch bewertete Steigerung der Meisterzahlen lediglich auf Nebenbeschäftigungen zurückging und keinen Professionalisierungsschub bedeutete. Gegen die Ausfuhr der Wolle schlug das Kollegium einen Exportzoll auf Wolle bzw. ein Verbot vor, solange nicht ein Preis von 15 Rtlr. pro Zentner erzielt wurde. Das heißt, die teurere Wolle konnte exportiert werden, mittlere und niedrige Qualitäten sollten im Lande bleiben. Bemerkenswerterweise fehlt im Vorschlagskatalog des Kommerzienkollegiums jeder Hinweis auf die von Fürstenberg geplante Einrichtung einer Tuchmanufaktur im Zuchthaus zu Münster. Fürstenberg hatte auf Empfehlung der Zuchthauskommission im Herbst 1765 Kontakt zu einem Manufakturunternehmer aus Eupen, Ludwig Imhausen, aufgenommen.49 Dieser erwartete zunächst einen Zuschuss von 15.000 bis 20.000 Rtlr., um mit seinem Kompagnon Germeau aus Köln im Zuchthaus spanische Wolle zu Tuch verweben zu lassen. Fürstenberg verhandelte brieflich mit Imhausen und erzielte mit ihm einen Kompromiss. Seine Firma Germeau & Imhausen bot gegen einen Zuschuss von 2.000 Rtlr. pro Jahr an, die Zuchthausinsassen ganzjährig in Arbeit zu halten. Ein entsprechender Vertragsentwurf lag Fürstenberg vor, wurde aber nie unterzeichnet. Dass die Verhandlungen am Kommerzienkollegium vorbei geführt wurden, lässt sich gut nachvollziehen, denn die Etablierung von ausländischen Unternehmern hätte alle Versuche, das inländische Tuchgewerbe zu fördern, zunichte gemacht. Warum Fürstenberg überhaupt Derartiges plante, lässt sich wohl nur mit seiner Ungeduld erklären. Wahrscheinlich wurde ihm zur Jahreswende 1765 bewusst, dass die Vorschläge des Kommerzienkollegiums nicht zügig genug zu einem Erfolg führten. Seine Äußerungen zum Handel gliederte das Kommerzienkollegium 1765 und 1767 in drei Abschnitte: (1.) über die Kramer auf dem platten Lande, (2.) über die „Niederlagen“ auswärtiger Kaufleute und (3.) über die ausländischen Packenträger.50 1. Die ländliche Konkurrenz der städtischen Kramer (und Handwerker) wurde für den Niedergang der Städte verantwortlich gemacht. In fast allen Dörfern und sogar in den Bauerschaften gebe es allerhand Handwerker, Handel und Gewerbe, 48 49 50
Scotti, Sammlung, S. 51 f. (Nr. 441); Brühl, Tätigkeit, S. 213. Die Darstellung folgt BAMs, Nachlass Fürstenberg 68 (die Korrespondenz liegt ohne weitere Signatur dieser Akte bei). LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 167v–173v und 225v–230r.
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die im Gegensatz zur Stadt keine Schatzung zahlen müssten, konstatierte das Kollegium. Dieses war sich mit den Städten im Stift nicht in jedem Punkt einig, aber den Einzelhandel der Kramer auf dem Lande wollte man allgemein einschränken. Dieser hatte nicht nur eine wirtschafts-, sondern auch eine sozialpolitische Komponente, denn Bauern, die Kaffee, Tee oder Wein einkaufen konnten, handelten, so das Kommerzienkollegium, zum Nachteil ihrer Gutsherrn. Viele würden sich dann aus Trägheit und Abscheu vor dem Ackerbau auf Kosten der anderen Dorfbewohner ernähren. Die Landstände nahmen die Argumente auf, wollten 1766 das Übel an der Wurzel packen und schlugen daher vor, die Kramer auf dem Lande drastisch zu besteuern. 2. Die Depots ausländischer Kaufleute in Münster und anderen Städten schätzte das Kollegium als schädlich ein, weil die Betreiber keine Steuern zahlten. Der Verkauf en detail sollte völlig verboten werden. Der Verkauf en gros sei, so das Kollegium, allerdings nicht völlig nachteilig, weil Münster dadurch vom Transithandel profitiere. 3. Ausführlich listete das Kollegium 1765 die angeblichen Schäden auf, welche die ausländischen Packenträger trotz eines Verbots von 1754 anrichteten: Sie schwatzten, so das Kommerzienkollegium, der Landbevölkerung unnötige Galanteriewaren auf und entzögen ihr die Nahrung, ohne Steuern zu zahlen.51 Die Ansiedlung der ausländischen Packenträger im Fürstbistum sollte zur Pflicht gemacht werden, wollten sie auf Dauer Handel im Lande treiben. Diese weigerten sich jedoch, weil sie ihre Familien nicht nachholten. Nur inländische Wanderhändler, zum Beispiel aus Hopsten, sollten sich im Land bewegen und verkaufen dürfen, jedoch nur inländische Ware absetzen. Als Ziel und Maß wurden ihnen die begrenzten Möglichkeiten der Juden zu hausieren auferlegt. Nur auf Jahrmärkten, bei Kirchweihfesten und großen Prozessionen sollten sie tätig werden. Aus den Vorgutachten erfahren wir von den Ressentiments, die den umherziehenden Kaufleuten von ihren städtischen Konkurrenten entgegengebracht wurden. Eine anonyme Eingabe, wegen der ungelenken Hand wahrscheinlich ein Zunftmeister, monierte um 1764, „daß die so genanten Hopster, Pakkenträger, so doch keine Hopster seindt, sondern wonnen in den Ambt Lingen und der Grafschaft Tecklenburg, dass die in hiesigen Hochstift gar auß und ein bey etliche hundert Persohnen an der Zal seindt, handeln, hausieren, von Haus zu Haus nach ihren Gefallen, ohne den geringsten Forteil des Landes, zum Schaden des gemeinen [Mannes] und zum großen Nachtheil hiesig wohnender Kauffleuthe“.52 Der gleiche Verfasser schwärzte auch Iserlohner Händler an: „Ebensolche Handelsßleutte gibt eß, die sich Ißserloher nennen, so ihre Wahr […]
51
52
Zum Wanderhandel: Hannelore Oberpenning, Migration und Wanderhändler im „Töddensystem“. Wanderhändler aus dem nördlichen Münsterland im mittleren und nördlichen Europa, Osnabrück 1996; Wilfried Reininghaus (Hg.), Wanderhandel in Europa, Dortmund 1993. BAMs, Nachlass Fürstenberg 68/13.
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in Schnallen und allerhand Knöppe, auch Strümpfe, Mützen, Sch[n]uptücher auff Karren und Wagen herumbefahren lassen, ohne Landeß nutzen“.53 1767 wurde aufgrund der Intervention des Kommerzienkollegiums den Packenträgern (nochmals) das Umherziehen verboten. Ausländische Kaufleute (Augsburger, Italiener und andere) sollten dagegen ihre Warenlager in den Städten auch außerhalb der Jahrmärkte in eigenen Zimmern ausbreiten können. Kritisch wurde gesehen, dass die Italiener ihre Familien nicht nachkommen ließen. Der Agrarsektor blieb in den Überlegungen des Kommerzienkollegiums weitgehend ausgespart. Fürstenberg selbst hatte ihn in seinem Memoire sur l’etat vernachlässigt. Möglicherweise löste ein anonymes Promemoria über die teuren Lebensmittel auf den Märkten von Münster aus dem Jahr 1765 weitere Überlegungen bei Fürstenberg und dem Kollegium aus. Wenigstens näherte es sich nun Einzelaspekten an. Das Promemoria verwies darauf, dass „der gemeine Mann“ die Lebensmittel „kaum für Geld, weit minder für billigen Preiß haben“ könne.54 Mögliche Gegenmaßnahmen zielten auf eine Verpflichtung der schatzungspflichtigen Landbewohner, „Victualien“ in festem Turnus auf den Markt zu bringen. Das Kommerzienkollegium schlug eine Vermehrung der Obstbäume vor.55 Es wollte die jährliche Schatzung der Landbevölkerung mit dem Pflanzen von zwei bis drei Obstbäumen verbinden. Wer dies nicht tat, musste seinem Grundherrn neun bis zwölf Groschen Strafe zahlen. Offenbar griff das Kollegium eine Praxis auf, die bei bäuerlichen Hofsprachen üblich war. Ziel war nicht nur, mehr Obst zu ernten, sondern auch gute Baumschulen zu errichten und mehr Bauholz zu gewinnen. Am Rande wurden weitere Maßnahmen erörtert: der Anbau von Hopfen, Rübsamen, Futterkräutern und Tabak. Das Kollegium stand in enger Verbindung mit den Landständen, die sich 1765 für Prämien für den Anbau der meisten Pflanzen aussprachen. Lediglich Prämien für den Anbau von Hopfen wurden als überflüssig angesehen, offenbar weil dieser Rohstoff zum Bierbrauen ausreichend vorhanden war. Der Bau von Papiermühlen konnte im Fürstbistum Münster zum Ziel wirtschaftspolitischer Überlegungen werden, weil es im Territorium zu wenige gab und Geld zum Ankauf des Papiers nach außen abfloss.56 1767 lagen ganze zwei im Oberstift, bei Haus Ostendorf und Haus Heessen, sowie in Haselünne im Niederstift. Das Kommerzienkollegium behandelte 1764 ein Angebot des berühmten Regensburger Theologen und Erfinders Dr. Jacob Christian Schäffer, der mit der Gewinnung von Papier aus Pflanzenfasern experimentierte.57 Eines seiner Mitglieder, Orsett, sowie 53 54 55 56
57
Ebd. Zum Handel Iserlohner Kaufleute im Münsterland vgl. Wilfried Reininghaus, Die Stadt Iserlohn und ihre Kaufleute 1700–1815, Dortmund 1995, S. 220 und 320. BAMs, Nachlass Fürstenberg 68/6. LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 174r–176v und 230v–234r. Ebd., fol. 177r und 235r–235v; Peter Theißen, Mühlen in Münsterland. Der Einsatz von Wasser- und Windmühlen vom Ausgang des Mittelalters bis zur Säkularisation (1803), Münster 2001, S. 448 f.; Alma Langenbach, Westfälische Papiermühlen und ihre Wasserzeichen, 2 Bde., Witten 1938. LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 30v; zu Schäffer vgl. Ernst Wunschmann, Art. Schäffer, Jacob Christian, in: Allgemeine Deutsche Biographie 30 (1891), S. 531 f.
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der Kaufmann Budde aus Warendorf wollten weitere Papiermühlen anlegen. Doch blieben diese Offerten aus unbekannten Gründen ungenutzt; wahrscheinlich fehlte es an Bereitschaft, hierfür Subventionen zu zahlen. Die Gründung weiterer Papiermühlen hätte ein anderes Ärgernis beseitigt. Die von Ochtruper Töpfern beim Verkauf ihrer Produkte beiläufig eingesammelten Lumpen gingen in die Niederlande und wurden von den dortigen Papiermühlen als Rohstoff benutzt. Die Leitidee des Kollegiums war, diese Lumpen inländisch zu verwenden und auf diesem Weg einen Geldtransfer zu vermeiden. Schon seit 1763 tobte zwischen Hofkammer, Geheimen Rat und Kabinett ein heftiger Streit über das Lumpensammeln, der bis 1767 dauerte.58 Die Hofkammer wollte das Lumpensammeln in den einzelnen Amtsbezirken meistbietend verpachten. Dagegen protestierten (und handelten) die Ochtruper Töpfer, die für sich Handelsfreiheit forderten. Der Geheime Rat und Fürstenbergs Kabinett standen den Ochtrupern nicht ohne Sympathie gegenüber und setzten dem Kameralinteresse das Interesse des Publikums gegenüber.59 Deshalb nahm 1765 der Geheime Rat mit dem Einverständnis Fürstenbergs das Lumpensammeln ebenso wie den Absatz der Fayencen vom Hausierverbot aus und sicherte so letztendlich die Position der Ochtruper. Möglicherweise regte der Konflikt um das Lumpensammeln das Kollegium an, sich auch mit den inländischen Gewerben der Verarbeitung von Steinen und Erden zu befassen.60 Es attestierte zwar genug Gruben für Töpferlehm im Münsterland, monierte aber dennoch, dass zu viel Geld außer Landes für Ziegelpfannen und Kalk ging. Vor allem sollten die Kalksteinvorkommen bei Nienborg und Münster-Dyckburg genutzt werden. Zur Anlage von Ziegelöfen sollten Prämien vergeben werden. Insbesondere für den Bau des Schlosses in Münster prognostizierte das Kollegium 1767 weiteren Bedarf an Ziegeln und Kalk. Es sah freilich die Versorgung der Ziegelöfen durch den Brennstoff Holz nicht als gefährdet an und verwies 1765 darauf, dass der Holzpreis keinen Mangel signalisiere. Die Wasserstraßenpolitik des Fürstbistums Münster im 18. Jahrhundert tangierte auch das Kommerzienkollegium.61 Sowohl die Erweiterung des Kanals von Münster über Klemenshafen hinaus sowie der Ausbau der Schifffahrtswege in Richtung Niederlande wurden vom Kollegium intensiv begleitet. Es initiierte eine Abfrage über den Nutzen, den eine Kanalisierung der Ems über Greven und die Schleuse Schöneflieth hinaus für den Handel bis nach Warendorf, Paderborn und schließlich in Richtung Lippe und Herzogtum Westfalen mit sich bringen würde. Die bis 1765 gemachten Vorschläge für wirtschaftspolitische Maßnahmen wurden vom Kommerzienkollegium 1767 in seinem zweiten Gutachten um weitere Empfehlungen ergänzt. Allein drei galten dem Textilgewerbe, was dessen Wichtigkeit 58 59 60 61
LAV NRW W, KR 530; Hofkammer-Protokolle XXIV, Bd. 70–72; behandelt bei Hans Jürgen Warnecke, Zur Geschichte der Töpferei in Ochtrup, in: Wilhelm Elling (Red.), Ochtruper Irdenware, Ochtrup 1998, S. 17–54, hier S. 28–35. LAV NRW W, KR 530, fol. 48r. LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 183v–188 r und 237r–239r. Ebd., fol. 177v–182r und 236r–237r; vgl. Knüfermann, Geschichte; Terhalle, Berkelschiffahrt (ebd. weitere Literatur).
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unterstreicht. Dabei war die Baumseidenmacherei örtlich von einigem Gewicht.62 Sie beschäftigte in Warendorf 80 Weber, in Bocholt 123. Allerdings kränkelte dieser Zweig des Textilsektors, weil auswärtige Baumwollware vom Publikum favorisiert wurde. Im Kommerzienkollegium bestanden Zweifel, ob die Baumseidenmacher in Bocholt und Warendorf wirklich im Stande seien, das gesamte Land zu beliefern. Dagegen wandte sich in einem Minderheitsvotum Kommerzienrat Zurstrassen, der für Warendorf erklärte, das gesamte Hochstift beliefern zu können. Er rühmte das dort hergestellte Bettzeug („Bettbühren“) auch als bestens geeignet für den Export und empfahl, auswärtige Konkurrenzprodukte entweder ganz zu verbieten oder doch mit erheblichem Eingangszoll zu versehen. Die Strumpfweberei und Strickerei beschäftigte schon seit 1763 das Kollegium.63 Es hatte wahrgenommen, dass auf dem Lande Schäfer, Bauernknechte und -mägde Wolle zu Strümpfen verarbeiteten, und spekulierte daher, dass viele hundert Menschen sich im Hochstift von diesem Beruf ernähren könnten. Es bestanden jedoch nur einige wenige städtische Betriebe, in Münster drei, in Dülmen sechs, in Telgte neun und in Ahlen einer. Ihr Zustand war 1764 kritisch; die meisten Inhaber waren nicht imstande, sich selbst zu ernähren und sich gegen die einströmende Konkurrenz, vor allem aus Frankfurt und Bremen zu behaupten. Seit 1764 hatte sich die Situation erheblich verbessert; in Münster hatte sich die Zahl der Betriebe von drei auf 13 erhöht. 60 Menschen fanden hier Arbeit. Die Ursachen für den Aufschwung waren aber vor allem staatliche Vorgaben: Der Geheime Rat hatte nämlich den inländischen Wanderhändlern und den Freikrämern, die außerhalb der Zünfte standen und von der Zustimmung des Geheimen Rats abhingen, auferlegt, jeweils fünf Dutzend Strümpfe abzunehmen. Zwar wurde die Besteuerung der auswärtigen Strümpfe kritisch gesehen, weil ein zu großer „Unterschleif“ befürchtet wurde. Dennoch schlug das Kollegium vor, nur die billigen Strümpfe, von denen ein Paar unter einem Rtlr. kostete, zu besteuern. Gegen ein völliges Verbot von Importen sprach der Zweifel, ob die inländischen Betriebe die Nachfrage nach besserer Qualität decken konnten. Zur Umsatzsteigerung seit 1764 hatte auch beigetragen, dass Kommerzienrat Orsett den Strumpfstrickern Vorschuss für den Wolleinkauf gewährte und offenbar als Verleger auftrat. Als weitere Fördermaßnahme zugunsten der Textilgewerbe wurde die Einrichtung einer Krapp-Plantage erörtert.64 Aus der Krappwurzel konnte Färberröte gewonnen werden, welche die Herstellung hochwertiger Textilien für den Export möglich gemacht hätte. Der aus Seeland und dem Elsass importierte Samen gedieh jedoch auf den münsterländischen Böden ebenso wenig wie der Tabak, so dass die geplanten Tabakplantagen Chimäre blieben. 62
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LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 239r–241v, sowie KR 3210, fol. 240r–241v; vgl. Reininghaus, Wirtschaft; Stephanie Reekers, Die Bocholter Gewerbe im 18. Jahrhundert bis zur Einführung der Gewerbefreiheit im Jahre 1811, in: Bocholter Quellen und Beiträge 1 (1976), S. 155–200. LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 242r–249v, sowie KR 3210, fol. 242r–249v. LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 249v–250v; KR 3210, fol. 248v–250r.
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Erstmals wurde 1767 auch des Mineralienbereichs gedacht.65 Das Kommerzienkollegium verband einige Hoffnung mit der St. Michaelishütte bei Bocholt, die auf Raseneisenerz basierte. Es fragte außerdem bei seinem Mitglied Striethorst nach der Qualität der Vorkommen bei Altenrheine und Dreierwalde und erwähnte beiläufig Probegrabungen, die schon zu Zeiten von Bischof Christoph Bernhard und nochmals 1745 bei Ennigerloh durchgeführt wurden, welche Hoffnung auf Steinkohle, Kupfer und Silber gemacht haben sollen. Neben Rheine (Bentlage) sollte ein zweites Salzwerk bei Bevergern betrieben werden.66 Die abschließend im Promemoria vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Instrumente zielten auf die Einheitlichkeit der Maße und Gewichte, deren Vielfalt kontraproduktiv für den Handel war, sowie auf den Arbeitszwang der Bettler in den Wolltuchmanufakturen, wie er seit 1763 vorgeschrieben war.67 Das Kommerzienkollegium wollte endlich den entsprechenden Paragraphen angewendet sehen, um den Mangel an Arbeitskräften zu überwinden. Wie reagierten die Landstände, deren Landtagskommission die Memoranden des Kommerzienkollegiums am 20. Februar 1767 vorgelegt wurden? Die Landstände schlossen sich den allermeisten Voten des Gremiums an: Erstens befürworteten sie 15-prozentige Zölle auf Billigimporte von Textilwaren. Der Exportzoll auf unbereitete Häute sollte per Edikt verordnet werden. Zweitens sahen die Landstände Prämien für neue oder verbesserte Produkte vor. Die Anlage einer neuen Papiermühle sollte mit 200 Rtlr. Prämie bezuschusst werden. Noch mehr, nämlich 500 Rtlr., wurden demjenigen in Aussicht gestellt, der im Amt Stromberg oder andernorts Steinkohle finden würde. Eine Reise ins Elsass zur Beschaffung von Krappwurzeln sollte aus Landesmitteln finanziert werden. Drittens wurden alle Vorschläge des Kollegiums zur Begrenzung des unerlaubten Handels auf dem Lande und in der Stadt gebilligt, allerdings mit dem Zusatz, dass Juden in gleicher Weise einzubeziehen seien. Viertens wünschten sich die Stände in Sachen Kanalbau, nicht vom Postpächter Duesberg durch höhere Frachten beschwert zu werden, und sie erbaten sich die Freiheit, die Fracht per Kanal oder per Achse zu organisieren. Fünftens folgten die Landstände dem Vorschlag, weitere Leinenleggen nach Warendorfer Vorbild einzuführen. Sie rieten zur Gründung von Leggen in Coesfeld, Billerbeck, Stadtlohn und Neuenkirchen. Dieser scheinbare Erfolg des Kommerzienkollegiums steht in einem krassen Widerspruch zum Schweigen der Quellen. Nach 1767 finden sich in den bekannten Archivbeständen keine weiteren Spuren für ein gemeinsames Auftreten des Kommerzienkollegiums. Die einzelnen Mitglieder firmierten zwar weiter als Kommerzienräte und wurden vereinzelt auch im Auftrag des Geheimen Rats tätig, tagten aber wohl nicht mehr als Gremium. Kerkerink zu Borg hielt 1780 in seiner bekannten Denkschrift für Maximilian Franz lakonisch fest, der Kommerzienrat existierte
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LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 250v–252r. Jacob, Hofkammer, S. 75. LAV NRW W, Msc. VII 1914, fol. 252r–254r; KR 3210, fol. 252r–253v.
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zwar, führe aber nichts außer dem Namen.68 In seiner kompletten Ursprungsbesetzung tauchte das Kommerzienkollegium in den Hofkalendern letztmals 1772 auf. 1791 wurde als einziges Mitglied noch Goswin Anton von Spiegel genannt. Mit seinem Tod 1793 erlosch das Kommerzienkollegium offiziell.69 Sind dafür Lücken in der Überlieferung verantwortlich oder war das Kollegium überflüssig geworden? Dies wird im abschließenden dritten Abschnitt zu klären sein.
3. Grundzüge der wirtschaftspolitischen Auffassungen des Kommerzienkollegiums Uns interessiert aber zunächst, welche wirtschaftspolitischen Intentionen in den Gutachten des Kollegiums enthalten sind und ob sie halfen, die Ausgangsinteressen Fürstenbergs zu verwirklichen. Messen lassen muss sich das Kollegium an seinem Auftrag, der sich am Bekunden von Maximilian Friedrich orientierte, den allgemeinen Wohlstand seiner Untertanen zu befördern und dazu alle Wirtschaftszweige beaufsichtigen und verbessern zu wollen. Der Spezialauftrag an das Kollegium zielte auf eine erhöhte Ausfuhr der landeseigenen Produkte, Importe möglichst zu beschränken und den inländischen Verbrauch zu erhöhen. In den Kategorien der ökonomischen Dogmengeschichte war dieses Paket halb merkantilistisch, halb kameralistisch ausgerichtet.70 Handel und Gewerbe waren zwar vor allem angesprochen, doch sollte die Landwirtschaft nicht vernachlässigt werden. Immerhin riet das Kollegium an, Industriepflanzen wie Krapp, Futterkraut, Rübsamen anzubauen, um so die Produktivität des Agrarsektors zu steigern. Es verwendete allerdings keinen Gedanken auf den Getreideanbau und -export, weil es strikt auf die Sicherung der inländischen Versorgung achtete. Getreide zu exportieren, um so andere gewerbliche Produkte bezahlen zu können – solche Überlegungen waren außerhalb des Horizonts des Kollegiums, obwohl Fürstenberg daran in seinem Memoire von 1763 gedacht hatte. Faktisch vollzog sich dessen ungeachtet in den fraglichen Jahren bereits die Kommerzialisierung der Landwirtschaft im Oberstift, denn die Nachfrage nach Lebensmitteln aus der Grafschaft Mark erreichte das südliche Münsterland und führte zum Export auf die Getreidemärkte an der Ruhr.71 Die Problematik der Abschottung der Grenzen zugunsten der gewerblichen Produktion im Inland wird 68 69 70
71
Georg Erler, Die Denkschrift des Reichsfreiherrn Clemens August von Kerkerink zu Borg über den Zustand des Fürstbistums Münster im Jahre 1780, in: Westfälische Zeitschrift 69 (1911), H. 1, S. 403–450, hier S. 448 f. Churfürstlich-Cölnischer Hof-Calender auf das Jahr 1766, S. 177, desgl. 1772, S. 115 f.; Hof- und Adreßkalender des Hochstifts Münster auf das Jahr 1785, S. 37, desgl. 1791, S. 34. Vgl. Fritz Blaich, Die Epoche des Merkantilismus, Wiesbaden 1973; Erhard Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten, Darmstadt 1974; Jutta HosfeldGruber, Der Merkantilismusbegriff und die Rolle des absolutistischen Staates im vorindustriellen Preußen, München 1985. Vgl. Michael Kopsidis, Marktintegration und Entwicklung der westfälischen Landwirtschaft 1780–1880: Marktorientierte ökonomische Entwicklung eines bäuerlich strukturierten Agrarsektors, Münster 1996.
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deutlich im debattierten Verbot der Häute- und Wollausfuhr. Bei der Wolle kamen dem Kollegium selbst Zweifel, weil es angesichts der Schwäche der eigenen Strumpfweber und Tuchmacher bezweifelte, die gesamte Wolle im Land absetzen zu können. Die überregional gestiegenen Preise für Wolle lösten keine Überlegungen zur interterritorialen Arbeitsteilung aus, sondern führten nur zu weiterer Schließung der Grenze. Bemerkenswert ist der von Vorurteilen behaftete Blick auf die Landbevölkerung. Bauern und Bäuerinnen reduzierten sich für das Kollegium auf Menschen, die zum Luxuskonsum neigten, den Verlockungen durch die Wanderhändler erlagen und im Zweifel dem Ackerbau zum Schaden ihrer Grundherren fernblieben! Niemand im Kollegium fragte, warum wohl sich die Landbevölkerung die Handelswaren Kaffee, Tee, Zucker und teures Tuch leisten konnte, niemand dachte daran, über den Konsum der Landbevölkerung Handel und Gewerbe im gesamten Land zu fördern.72 Eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik war undenkbar. An diesem Beispiel zeigte sich sehr deutlich, in welchen mentalen Schranken die Mitglieder des Kommerzienkollegiums gefangen waren. Sie standen als stadtsässige Kaufleute, hohe geistliche Würdenträger adliger Herkunft oder weltliche Amtsinhaber bürgerlicher Herkunft der Welt der Bauern und damit der Mehrzahl der Bevölkerung fern! Nicht von ungefähr rückten bei den produzierenden Gewerben die Textilgewerbe in den Vordergrund. Das Leinengewerbe war die einzige nennenswerte, auf den Export gerichtete Branche des Landes. Ihre Produkte trennte das Kollegium in zwei Segmente. Die billigen Leinentuche und Strümpfe sollten im Inland produziert und konsumiert werden, obwohl dem Kollegium kaum verborgen bleiben konnte, dass der Aufwand für die flächendeckenden Visitationen groß war und ohne Effekt verpuffen musste. Zugunsten der Exportförderung fiel dem Kollegium wenig mehr ein, als die Leggen zu reaktivieren und durch Edikte eine Steigerung der Qualität zu erzielen. Ernsthafte Überlegungen, wie man auf den überseeischen Märkten reüssieren konnte, fehlten. Wie problematisch die Leggen als Instrument der Qualitätskontrolle waren, zeigt das Beispiel des Amtes Stromberg, wo die Legge mehr ein fiskalisches Objekt als eine Anstalt zur Prüfung der Standards und Normen war. Die ausgesetzten Prämien für die Lieferung qualitätvoller Wolltuche blieb auch deswegen wenig hilfreich, weil sie letztlich im Dienst des inländischen Handels stehen sollte. Die Errichtung eines Tuchstapels sollte dem einheimischen Handel, vor allem den Wandschneidern und Kramern in Münster, zu einem Monopol verhelfen und die Tuchmacher nicht in die Hände auswärtiger Verleger treiben. Deswegen sollten auch die Landweber in die Stadt umziehen, weil sie dort besser zu kontrollieren gewesen wären. Der Widerstand der Landbevölkerung gegen den für sie aufwendigen Anschluss an die städtische Weberei führte aber nicht zur Überlegung, auf dem Land Gewerbefreiheit einzuführen und so die Kosten der Produktion zu senken. Zwar 72
Die Bedeutung des Konsumentenverhaltens für das wirtschaftliche Wachstum im 18. Jahrhundert ist von der Forschung in den letzten Jahrzehnten herausgearbeitet worden: Roman Sandgruber, Die Anfänge der Konsumgesellschaft, München 1982; Hannes Siegrist u. a. (Hg.), Europäische Konsumgeschichte, Frankfurt 1997.
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befürwortete das Kollegium eine Freiheit des Webens selbst auf dem Land, wollte aber eine Kontrolle durch Zünfte und durch Leggen nicht missen. Die Politik zugunsten des städtischen Handels, vor allem zugunsten der Kramer und Wandschneider in Münster, ist deutlich zu erkennen. Diese Gruppe, deren Einfluss wegen ihrer ständigen Präsenz gar nicht groß genug eingeschätzt werden kann, bestimmte die Vorschläge des Kommerzienkollegiums maßgeblich mit. Die angemahnte Neutralität und die Vermeidung von Eigennutz und Privatabsichten leiteten das Kollegium zu keiner Zeit. Das Ideal des Krameramtes zu Münster war nicht der freie Wettbewerb, sondern die Wahrung seiner ererbten Privilegien durch die Abwehr von Außenseitern, die Dorfkramer, die Packenträger oder die sogenannten Freikrämer, die Fürstbischof Clemens August ins Land gelassen hatte. Aber nicht nur die Händler, sondern auch die Zünfte der Handwerker in Münster und in anderen Städten des Fürstbistums achteten strikt auf ihre Vorteile. Sie wurden dabei sogar handgreiflich. 1769 musste in Münster sogar Militär eingesetzt werden, um die englischen Freikrämer Grammer & Wright vor Tumulten zu schützen, die das Schmiedeamt inszeniert hatte, um den Engländern importierte Schlösser und Eisenwaren wegzunehmen. Sowohl die herrschenden gewerberechtlichen Verhältnisse als auch die geographischen Rahmenbedingungen stellten die Durchsetzbarkeit der Vorschläge des Kommerzienkollegiums massiv infrage. Im weiträumigen Oberstift ließen sie sich jedenfalls nicht realisieren. In jedem Dorf oder Kirchspiel entzogen sich Landkrämer oder Leineweber dem Zugriff einer Obrigkeit, die in einem Ständestaat wie dem Fürstbistum Münster viel zu schwerfällig organisiert war, um die Abläufe des Wirtschaftslebens nachhaltig beeinflussen zu können. Fallstudien zeigen, wie wirkungslos zu jener Zeit obrigkeitliche Vorgaben schon 20 Kilometer außerhalb von Münster blieben.73 Im Übrigen erging es auch dem Vorbild Preußen nicht viel besser. Trotz der weitgehenden Ausschaltung der Landstände und trotz einer in der Fläche wahrscheinlich stärker zupackenden Verwaltung gelang es Preußen in der Grafschaft Mark nicht, vor 1793 Handel und Gewerbe auf dem Lande möglichst weit zurückzudrängen.74 Der dann vollzogene Schritt, auf dem Lande faktisch Gewerbefreiheit einzuführen, war im Fürstbistum Münster undenkbar, denn allzu sehr blockierten sich die verschiedenen politischen Kräfte im Lande gegenseitig. Als der Geheime Rat wirklich einmal den Handel mit Lumpen freigeben wollte, durchkreuzte die Hofkammer aus fiskalischen Gründen diese Absicht. Daher, so muss festgehalten 73 74
Wilfried Reininghaus, Ein Kötter, Landkramer und Leinenhändler aus Nottuln-Stevern: Bernd Wilhelm Növer (1726–1779), in: Geschichtsblätter für den Kreis Coesfeld 32 (2007), S. 59–90. Vgl. Stefan Gorißen, Die Steuerreform in der Grafschaft Mark 1791, in: Stefan Brakensiek u. a. (Hg.), Kultur und Staat in der Provinz, Bielefeld 1992, S. 189–212; Wilfried Reininghaus, Die Wirkung der Steuern auf Wirtschaft und Gesellschaft in der Grafschaft Mark im 18. Jahrhundert, in: Eckart Schremmer (Hg.), Steuern, Abgaben und Dienste vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 15. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 14. bis 17. April 1993 in Bamberg, Stuttgart 1994, S. 147–169.
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werden, waren auch Fürstenbergs große wirtschaftspolitischen Pläne und Visionen weitab von der Realität angesiedelt. Aus dem Leinen- und Wollgewerbe mit seinen wenig qualitätvollen Produkten im Fürstbistum Münster ließen sich in den 1760er Jahren trotz aller Reformversuche keine Impulse für eine exportorientierte Wirtschaft gewinnen. Die meisten der Reformansätze erforderten obrigkeitliche Kontrollen und waren daher angesichts der Möglichkeiten, ihnen zu entgehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Schweigen des Kommerzienkollegiums nach 1767 bedeutete daher das Eingeständnis, dass Fürstenbergs Vorgaben in der Wirtschaftspolitik des Fürstbistums praktisch nicht umzusetzen waren.75
Quellenanhang: [Friedrich von Fürstenberg:] Memoire sur l’état76 Agriculture. Elle est médiocrement en état. Introduction du tabac. Vente des blés en Hollande. Augmentation des bestiaux. Haras. Métiers. Mauvais. Monopoles. Point de manufactures de laine. Drap pour la milice. Choix des laine. Draps étrangers. Vice dans les manufactures de toile, dans le filage, dans des devidoirs. Sortie du fil. Tannerie, projet sans étrangers. Boulangerie. Culture du lin dans les domaines. Chapellerie. Fayence réussi. Fabrique du tabac. Maison de correction. Doit être fabrique de laine. Nourriture elle peut-être affermée. Forgerie. Maréchal-ferrants, serrurier, selliers, cordonniers également mauvais. Charpente dans les troupes et dans l’artillerie. Moulins à poudre, armes etc. Aiguilles. Tabac. En gênant le commerce nous augmentons les manufactures. Hôtellerie. Papeterie. Haillons
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Vgl. ein etwas freundlicheres Fazit bei Hanschmidt, Fürstenberg, S. 122 f. BAMs, Nachlass Fürstenberg 146/3 B, 2 Bl. Fürstenbergs Text ist nach dem Buchstabenbestand wiedergegeben, lediglich die diakritischen Zeichen wurden ergänzt.
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Commerce. Le commerce nous est avantageux à Munster. Pays pour fournir. Nous prend[r]ons par les superfluités que nous tirons et surtout les Italiens et par les vins que nous tirons du Rhin. Pour tout le reste nous sommes manufacturiers ou entrepôt. Il faudroit donc adroitement gêner le commerce afin qu’il tombe sur la consommation seule et sur les marchandises francoises. Une maison angloise. Envoyer les jeunes gens en Angleterre. Nous pourrions devenir l’entrepôt anglois. Peut-être tirer des laines d’Espagne. Peut-être vendre le cuir de nos tanneurs pour cuir d’Angleterre. Même nous serions par-là protegés par l’Angleterre. Canal petite à vers Zwoll[e]. Vers Rhede. Projets qu’il faut presser. Distinguer les commerces. Argent a trop tant intérêt. Réparation des chemins, surtout de celui de Hamm. Il faut mettre la poste sur en meilleur piè[ce]. Conseil de commerce. Juridiction. Monnaies. Chemins à réparer par des corvées.
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Buchmarkt und Lesekultur in Münster zur Zeit Fürstenbergs Als Heinrich von Kleist im Jahre 1800 in Würzburg eine Leihbibliothek besuchte, um die Kultur und den literarischen Geschmack dieser Stadt kennen zu lernen – denn dies gelinge nirgends schneller und besser als in einer Leihbibliothek –, spielte sich nach seinen Worten folgende häufig zitierte kleine Komödie zwischen ihm und dem Bibliothekar ab:1 „Wir wünschen ein paar gute Bücher zu haben.“ Hier steht die Sammlung auf Befehl. „Etwas von Wieland.“ Ich zweifle fast. „Oder von Schiller, Goethe.“ Die möchten hier schwerlich zu finden sein. „Wie, sind alle diese Bücher vergriffen, wird hier so stark gelesen?“ – Das eben nicht. „Wer liest denn hier eigentlich am meisten?“ Juristen, Kaufleute und verheiratete Damen. „Und die unverheirateten?“ Sie dürfen keine fordern. „Und die Studenten?“ Wir haben Befehl, Ihnen keine zu geben. „Aber sagen Sie uns in aller Welt, wenn so wenig gelesen wird, wo sind denn die Schriften Wielands, Goethes, Schillers?“ Halten zu Gnaden, diese Schriften werden hier gar nicht gelesen. „Also Sie haben sie gar nicht in der Bibliothek?“ Wir dürfen nicht. „Was stehn denn also eigentlich für Bücher an den Wänden?“ Rittergeschichten, lauter Rittergeschichten, rechts die Rittergeschichten mit Gespenstern, links ohne Gespenster, nach Belieben.
Kleist hatte für die Würzburger Leihbibliothek nur Hohn und Spott, nur beißende Kritik übrig.2 War dies das Niveau der literarischen Bildung der Öffentlichkeit 1 2
Brief an Wilhelmine von Zenge vom 14.09.1800, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, 6. Aufl. München 1977, Bd. 2, S. 562. Karl Gottfried Scharold, Würzburg und die umliegende Gegend für Fremde und Einheimische beschrieben, Würzburg 1805, S. 135, vermittelt ein anderes Bild: „Trotz der Lesesucht, die dahier unter allen Ständen herrscht, haben wir nur eine einzige Leihbibliothek, welche Hr. J. B. Soelner im Bronnbacher Hofe unterhält. Sie besteht aus 3 tausend Bänden der neuesten und besten Werke sowohl für ernstes Studium als für amüsante Lektüre“, dazu 70 Journale, Zeitungen, Monats- und Wochenschriften. Dass
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in einer Residenz- und Hauptstadt eines geistlichen Fürstentums um 1800? Hätte sich dieser Dialog auch in der Residenz- und Hauptstadt Münster zutragen können? Wenn wir der Meinung des bekanntermaßen sehr kritischen Justus Gruner folgen, müssten wir diese Frage mit „Ja“ beantworten. Gruner schrieb 1802: „Der Mangel an literarischer Bildung in Münster beweist sich auch vorzüglich dadurch, dass bis jetzt noch keine gute Lesebibliothek existiert“; denn diese „bezeichnen […] doch offenbar den Grad der geistigen Kultur eines Ortes“.3 In der Tat bestanden damals um 1800 in Münster nur die „von der Policey nicht einmal priviligirte“ Leihbibliothek des Bernhard Claessen,4 die nach Fürstenbergs Worten „eine Menge nichts werther zum Theile hochschädliche Bücher“ ausleihe,5 und die genehmigten der Witwe Marie Colson und des Professors Mauritz Detten, über die wir nichts Genaues wissen. Eine Besonderheit stellte die Leihbibliothek des französischen Emigranten Des Essart dar, der als Untermieter bei Claessen sein Geschäft betrieb. Fürstenberg beurteilte sie als eine „Collection von so schlechtem Zeuge, […] daß ich mich mit der Durchsicht des Plunders [nicht] abgeben würde“.6 Erst später (1803 und 1807) richteten die Buchhändler Friedrich Theissing und Peter Waldeck Leihbibliotheken ein, welche die gesamte Breite des zeitgenössischen Buchmarktes von wissenschaftlichen Fachpublikationen über Werk- und Einzelausgaben von Dichtern bis zur Trivialliteratur präsentierten und gleichzeitig auch Zeitungen und Zeitschriften bereithielten, so etwa Theissing in einer eigens eingerichteten „Journal-Lese-Anstalt“. Die Leistung dieser Leihbibliotheken für die Bildungsgeschichte Münsters kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie waren weit davon entfernt, vornehmlich Vermittler von „Plunder“ zu sein.7 Es waren nicht selten gerade die Dichter, die in Leihbibliotheken moralische ‚Giftbuden‘ sahen, die nur Schmutz und Schund verbreiteten. Sie belasteten mit ihrer Kritik diese Einrichtungen mit einem negativen Vorurteil.8 Auch Annette von Droste-Hülshoff äußerte sich enttäuscht über das Angebot an
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Studenten der Zugang zur Leihbibliothek verwehrt war, ist wohl darin begründet, dass sie das Angebot der Bibliothek der Universität nutzen sollten. Gerd Dethlefs und Jürgen Kloosterhuis (Bearb.), Auf kritischer Wallfahrt zwischen Rhein und Weser. Justus Gruners Schriften in den Umbruchsjahren 1801–1803, Köln u. a. 2009, S. 272. Zitat nach Bodo Plachta, Literaturvermittlung und Zensur. Die Auseinandersetzung beim Betreiben einer Leihbibliothek in Münster zwischen 1798 und 1802, in: Westfalen 66 (1988), S. 113–123, hier S. 117. Zitat nach Alex Metz, „Lese Bibliotheken können überhaupt, zumahl in itzigen Zeiten, misslich würken.“ Das Verbot der Claessen’schen Lesebibliothek in Münster 1801/02, in: Westfälische Zeitschrift 158 (2008), S. 93–103, hier S. 99. Zitat nach ebd. Dass die Theissingsche Leihbibliothek in Münster einen guten Ruf genoss, zeigt die Tatsache, dass im Jahr 1806 ein Antrag des Buchhändlers Josef Heinrich Coppenrath auf Eröffnung einer Lesebibliothek mit Hinweis auf die Theissingsche von der Zensurbehörde abgelehnt wurde; dazu Leopold Schütte, Universität und Buchwesen, in: Heinz Dollinger (Hg.), Die Universität Münster 1780–1980, Münster 1980, S. 175–179, hier S. 177. Alberto Martino, Die deutsche Leihbibliothek, Wiesbaden 1990, S. 106–108, bringt Beispiele.
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schöner Literatur der Leihbibliotheken in Münster, aus der ihre Familie für ihre gemeinschaftlichen Lesungen die meisten Bücher bezog. 1819 schrieb sie an Anna von Haxthausen: „[…] mit den Büchern aus der Leihbibliothek haben wir es diesen Winter auch schlecht getroffen, es wird abends etwas vorgelesen, aber gewöhnlich schlafen ein paar aus der Gesellschaft, und vieles haben wir halb gelesen wieder um geschickt“; und an Dorothea von Wolff-Metternich: „[…] obschon wir den ganzen Winter hindurch eingeschrieben waren und zudem haben wir immer so dummes Zeug geschickt erhalten, daß wir meistens mitten im Buche aufgehört haben, […] wir haben uns schon so lange in den münstrischen Leihbibliotheken herum getrieben und sie schaffen so wenig Neues an, daß wir das Beste schon herausgelesen haben.“9
1. Der Buchhandel in Deutschland in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts Werfen wir zunächst einen Blick auf die Situation des Büchermarktes in Deutschland und in Münster nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges. In Deutschland trat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein tiefgreifender Wandel des literarischen Lebens ein, der den herstellenden und den vertreibenden Buchhandel und das Lesepublikum gleichermaßen betraf, ein Strukturwandel, der die Produktion und die Rezeption literarischer Erzeugnisse veränderte. Der Buchhändler wurde in eine neue Rolle des Vermittlers zwischen Autor und Leser gedrängt, die nicht mehr die des Mittlers zwischen schreibenden und lesenden Gelehrten war, sondern die des Mittlers zwischen Autor und einem unbegrenzten und anonymen Publikum. Es entstand ein Markt für Druckschriften, der jedermann zugänglich wurde, der lesen konnte und über genügend Geld zum Kauf von Büchern verfügte: ein Ziel der Aufklärung.10 9
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Zitate bei Bodo Plachta (Hg.), Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848). „aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden“, Wiesbaden 1979, S. 106; vgl. auch Bernd Kortländer, Annette von Droste-Hülshoff und die deutsche Literatur, Münster 1979, S. 69; Kortländer weist auf die Benutzung der Leihbibliothek Theissing durch die Droste (bzw. auf die Möglichkeit dazu) hin: S. 77 Gellert, S. 81 Wieland, S. 112 Voß, S. 113 Hölty, S. 116 Claudius, S. 119 Matthisson, S. 122 f. Ritter- und Gespenstergeschichten, S. 125 Kotzebue, S. 125 f. Julius von Voß, S. 128 Schiller und Goethe, S. 143 f. Goethe; S. 159 Schlegel, S. 168 Tieck, S. 210 Karoline Pichler und Amalia Schoppe, S. 236 Theaterschriften, S. 289 Halem, S. 319 Elise von Hohenhausen, S. 343 Johanna Schopenhauer. Diese Entwicklung ist vielfach beschrieben worden: Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, Frankfurt 1970; Helmut Kiesel und Paul Münch, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert, München 1977; Reinhard Wittmann, Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts?, in: Roger Chartier und Guglielmo Cavallo (Hg.), Die Welt des Lesens, Frankfurt u. a. 1999, S. 419–454; Hans Erich Bödeker, Buchhandel und Bibliotheken im Diskurs der Aufklärung, in: Bernhard Fabian (Hg.), Buchhandel – Bibliothek – Nationalbibliothek, Wiesbaden 1997, S. 87–143; für Münster s. Hans Erich Bödeker, Der Buchhandel in Münster in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Frédéric Barbier (Hg.),
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Die Aufklärung hatte nicht nur eine intellektuelle Ausrichtung. Sie war auch eine praxisorientierte Bewegung, welche die wissenschaftlichen Erkenntnisse in einen vernünftig gestalteten Alltag einbringen wollte. Diese Bewegung wurde insofern bedeutsam für den Buchhandel, als sie die Buchproduktion enorm anwachsen ließ. Es erschien eine unübersehbare Flut von Büchern und Zeitschriften: theoretische und praxisnahe Schriften aus allen Wissensgebieten, leicht lesbare Überblicke und Spezialliteratur sowie daneben das weite Feld der schönen Literatur. „Mit der quantitativen Expansion des Druckmarktes ging ein qualitativer Wandel des Gedruckten einher. Vor allem verschoben sich die inhaltlichen Akzente: Der Anteil religiöser Literatur (Bibel, Gebet- und Gesangbücher, Erbauungsschriften) am Gesamtaufkommen des Buchhandels ging zurück. Dagegen stieg der Anteil der wissenschaftlichen und ‚schönen‘ Literatur. Die Zahl der lateinischen Schriften nahm ab zugunsten der volkssprachlichen; die Zahl der populären Lesestoffe wuchs gegenüber der der fachgelehrten Schriften (obwohl auch diese insgesamt anstieg).“11 Dass für diese Büchermassen ein Markt vorhanden war, lag an der zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung, einem weiteren Anliegen der Aufklärung. Seit der Mitte des 18. Jahrhundert wird aus ganz Mitteleuropa ein wachsendes Leseverhalten gemeldet: Jedermann liest, man liest im Wagen, auf der Promenade, im Theater, im Café, im Bad. Es lesen Frauen, Kinder, Gesellen, Lehrlinge, das Dienstpersonal, die Zofen und Stubenmädchen, die Friseure, die Lakaien, die Kutscher, die Soldaten. Erhaltene Abonnentenlisten populärer Wochenzeitschriften weisen auch Beamte als Leser aus. In Deutschland und Münster trat diese Bewegung – auch als Lesewut oder Leserevolution bezeichnet – mit einer Verzögerung von einigen Jahrzehnten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf: Die Leserevolution „besteht im Übergang von der intensiven Lektüre – wiederholte Lektüre eines einzigen Buches oder einer kleinen Auswahl von Büchern, meist religiösen und moralischen Inhalts – zur extensiven einmaligen Lektüre zahlreicher, meist profaner Bücher“.12 Man liest ein Buch nicht mehr viele Male, sondern viele Bücher einmal. Was die Zahl der damals lesenden Menschen betrifft, so gehen die Schätzungen der Zeitgenossen und der heutigen Forscher weit auseinander. Friedrich Nicolai bezifferte 1773 das gelehrte lesende Publikum in Deutschland auf etwa 20.000 Menschen (0,01 Prozent der Bevölkerung); Jean Paul schätzte das an Belletristik interessierte Publikum um 1800 auf 300.000 (etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung). Heute geben sich die Forscher weit großzügiger: um 1770 15 Prozent der Bevölkerung, um 1800 ca. ein Viertel.13 Der Anteil der lesenden Bürger an der Gesamtbevölke-
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L’Europe et le livre. Réseaux et pratique du négoce de librairie, XVIe–XIXe siècles, Paris 1996, S. 485–526; ders., Lesen als kulturelle Praxis: Lesebedürfnis, Lesestoffe und Leseverhalten im ‚Kreis von Münster‘ um 1800, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangszeiten, Göttingen 1992, S. 327–365. Barbara Stollberg-Rilinger, Europa im Zeitalter der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 136. Martino, Leihbibliothek, S. 9; zur Leserevolution und Lesesucht siehe ebd., S. 1–29. Schenda, Volk ohne Buch, S. 444; Kiesel/Münch, Gesellschaft und Literatur, S. 162. Diese Zahlen beziehen sich auf ein wirklich lesendes Publikum, d. h. auf Personen, die
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rung in Münster, die auch als potentielle Bücherkäufer in Frage kamen, dürfte diese Größenordnungen kaum überschritten haben: „Münster wird im Allgemeinen nicht als Stätte bedeutenden literarischen Lebens beschrieben. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Münster zwar eine Residenzstadt, aber ohne einen residierenden Landesherren. Dieser war Fürstbischof von Münster, aber gleichzeitig auch Kurfürst von Köln und residierte in Bonn. So fand ein Hofleben mit all seinen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Erscheinungen, die für die Literatur so fördernd waren, in Münster so gut wie nicht statt. Es existierte zwar der ‚Kreis von Münster‘ um Franz von Fürstenberg und die Fürstin Gallitzin, der darum bemüht war, den Anschluss Münsters an die Entwicklung des geistigen Lebens im übrigen Deutschland zu gewinnen; doch dieser Kreis war als ein elitärer Zirkel entstanden und entfaltete sich abseits von der städtischen Bevölkerung“14 mit einem Leseverhalten, das sich von dem der übrigen Bevölkerung Münsters unterschied.15 Auch der Einfluss der münsterischen Universität auf das literarische Leben war – wenn überhaupt – gering. Hier ging es zunächst mehr um Theologie, Naturwissenschaft, Medizin und Volkserziehung. Als dann 1801 eine Professur für deutschen Stil und deutsche Literatur eingerichtet wurde, die erste dieser Art in Deutschland, war dies für die damalige Zeit sehr fortschrittlich.16
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ein Buch in die Hand nahmen. Die Lesefähigkeit war selbstverständlich darüber hinaus weiter verbreitet. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts konnten bei den Männern „acht von zehn mindestens etwas lesen“, bei den Frauen sogar etwas mehr. Vgl. Rudolf Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster – 1700–1840, München 1995, S. 51 (Die Schätzung beruht auf seinen Recherchen anhand von Testamenten und Inventaren). Handwerker und Kaufleute waren schon allein wegen der Buchführung auf die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben angewiesen. Doch zählen diese Berufsgruppen damals in der Regel nicht zu denen, die sich z. B. literarischen Texten zuwandten. Lesen eines Buches war für sie sehr oft Geldund Zeitverschwendung. Zu diesen Ergebnissen ebd., S. 60. Hinzu kommt auch, dass berufliche Anreize zum Lesen für das Wirtschaftsbürgertum kaum gegeben waren. Da zeitgenössische Statistiken fehlen, sind all diese Aussagen mit vielen Unwägbarkeiten verbunden. Bertram Haller, ‚Ausgesuchteste Bücher in allerhand Sprachen und von allen Arten der Gelehrsamkeit.‘ Beobachtungen zum münsterschen Buchhändler Philipp Heinrich Perrenon (1734–1794), in: Nine Miedema und Rudolf Suntrup (Hg.), Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, Frankfurt u. a. 2003, S. 351–368, hier S. 352. Zum Leseverhalten im ‚Kreis von Münster‘: Bödeker, Lesen als kulturelle Praxis, S. 357–365. Erich Trunz, Franz von Fürstenberg – seine Persönlichkeit und seine geistige Welt, in: Westfalen 39 (1961), S. 2–44, hier S. 14.
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2. Der Buchmarkt in Münster nach dem Siebenjährigen Krieg Auch Münster blieb nicht unberührt vom Gedankengut der Aufklärung, und die geschilderte Entwicklung auf dem Buchmarkt ist auch dort an den Angeboten der Buchhändler zu beobachten, wenngleich die Stadt weiterhin ein literarischer Nebenschauplatz blieb. Die münsterischen Buchhändler haben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch ihr Buchangebot mit zur Popularisierung des Lesens beigetragen und das bedeutete, dass durch sie auch die „Ergebnisse der Forschung denen zugänglich gemacht wurden, die selbst keinen Anteil daran hatten: dem ‚gemeinen Volk‘, vor allem dem ‚Landmann‘.“17 Münsterische Buchhändler waren in chronologischer Reihenfolge Philipp Heinrich Perrenon (1768–1793) und sein Nachfolger Franz Platvoet (1793–1805), die bereits erwähnten Friedrich Theissing (seit 1786) und Peter Waldeck (1800–1818) sowie schließlich Josef Heinrich Coppenrath (seit 1805). Bevor sich diese Buchhändler in Münster niederließen, hatten die Bürger schon immer die Möglichkeit, Bücher zu kaufen, und zwar bei Buchbindern und Buchdruckern. Aber dort waren meist nur die ortsüblichen Gebet-, Gesang- und Schulbücher zu haben, und die Buchdruckereien der Familie Raesfeld (bzw. ihr Nachfolger Koerdinck) seit 1591 und des Anton Wilhelm Aschendorff seit 1762 boten in der Regel nur ihre eigenen Produkte an. Raesfeld/Koerdinck war der Verlag für die offiziellen und inoffiziellen staatlichen und kirchlichen Angelegenheiten. Aschendorffs Stärke lag auf dem Feld der religiösen Schriften vom Gesangbuch und Katechismus über Erbauungsbücher bis zur wissenschaftlichen Abhandlung, allerdings mit dem Schwerpunkt auf nichtwissenschaftlichen Texten. Bei ihm sind erste Ansätze eines überregionalen Buchhandels zu erkennen, er hatte aber nur „zeitweise und nur indirekten Kontakt zu dem […] modernen literarischen Markt“.18 1798 warfen ihm, der bis dahin kein Buchhändlerprivileg besaß, sondern Universitätsbuchdrucker war, seine Konkurrenten Theissing und Platvoet unfaires Verhalten vor: „[…] es erlaubt sich der im ganzen Reich bekannte Universitätsbuchdrucker Aschendorff den Nachdruck aller im katholischen Teutschland erscheinenden, nur etwas gangbarer Werke. Der Schade, den er durch diese, in öffentlichen Reichsgesetzen missbilligte Dieberey, den hiesigen Buchhandlungen zufügt, ist unermesslich. Denn alle Werke, die er im gestohlenen Verlag wohlfeiler biethen kann, sind für Erstere keine Ware mehr.“19 Perrenon, Theissing, Waldeck und Coppenrath waren die wichtigsten Verleger und Buchhändler, die energisch versuchten, Münster in den modernen deutschen Büchermarkt einzubinden. Moderner Buchhandel, das bedeutete vor allem die Abkehr vom Tauschhandel mit dem Messeplatz Frankfurt als Zentrum und die Hinwendung zum Geldhandel mit seinen kapitalistischen Erscheinungsformen (Preis-
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Stollberg-Rilinger, Europa, S. 183. Bödeker, Buchhandel, S. 506; vgl. Simon Peter Widmann, Die Aschendorffsche Presse 1762–1912, Münster 1919, S. 29–41. Zitiert nach Plachta, Literaturvermittlung, S. 177.
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erhöhungen) mit dem Messeplatz Leipzig.20 Sie haben den Handel mit Ideen und das Denken gegen Bezahlung – von manchem Zeitgenossen als peinlich empfunden – nicht verachtet. Sie verbanden Geschäftstüchtigkeit mit dem Ziel der Aufklärung, Literatur und Wissen zu verbreiten.21 Folgende Quellen zur Geschichte von Verlag und Buchhandel in Münster in der Zeit Fürstenbergs stehen zur Verfügung: 1. Die jährlich erscheinenden Messkataloge als die zentralen Verzeichnisse, in denen Verleger, die auf den Buchmessen vertreten waren, ihre Neuerscheinungen ankündigten; 2. Das Münsterische Intelligenzblatt seit 1776, in dem alle Buchhändler und Verleger aus Münster und Umgebung ihre Neuerscheinungen anzeigten (Waldeck nutzte zusätzlich auch überregionale Zeitschriften); 3. Lager- bzw. Sortimentskataloge, Kreditbücher und gedruckte Verlagsverzeichnisse;22 4. Werbung der Verlage für ihre Bücher in der eigenen Verlagsproduktion; 20
21
22
Zur Entstehung des modernen Buchhandels siehe Reinhard Wittmann, Geschichte des Buchhandels, München 1991, S. 111–142; Mark Lehmstedt, Die Herausbildung des Kommissionshandels in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Barbier, L’Europe et le livre, S. 451–483. Literatur zu den genannten Verlagen: zu Aschendorff: Widmann, Aschendorffsche Presse, und Gottfried Hasenkamp (Hg.), Dem Worte verpflichtet. 250 Jahre Verlag Aschendorff 1720–1970, Münster 1970; zu Coppenrath: Dagmar Drüll, Der Verlag Coppenrath in Münster und seine Publikationen. Hausarbeit zur Prüfung für den höheren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken, Köln 1980; zu Raesfeld/Koerdinck: Hans Thiekötter, 375 Jahre Raesfeld – Koerdinck – Regensberg, in: Joseph Prinz (Hg.), Ex Officina litteraria. Beiträge zur Geschichte des westfälischen Buchwesens, Münster 1968, S. 159–198; zu Perrenon: Haller, Ausgesuchteste Bücher; zu Theissing: Hans Thiekötter, Verlag und Buchhandlung Theissing, in: Auf Roter Erde 21 (1965), S. 1 f. Für Koerdinck liegt ein handschriftlicher Katalog der zu verkaufenden Bücher aus dem Jahr 1778 vor (Universitäts- und Landesbibliothek Münster [ULB], Depositum Regensberg). Es handelt sich um einen Lagerbestand mit Titeln auch aus früherer Zeit: 220 Titel allein zur Justiz und Verwaltung (70 Prozent), darunter wiederum 184 landesherrliche Edikte; der Rest verteilt sich auf die Bereiche Religion, Gottesdienst und Volksfrömmigkeit sowie Grammatik. Für Perrenon existieren gedruckte Sortimentskataloge für die Jahre 1770, 1771, 1772 (Fürstliche Bibliothek Burgsteinfurt) und 1776 (ULB Münster). Waldecks Sortimentskataloge sind nicht überliefert; er veröffentlichte zusätzlich Fachkataloge, von denen der für die Theologie erhalten ist (ULB Münster). Für Theissing ist auf das handschriftliche Kundenkreditbuch für die Jahre 1790 bis 1823 hinzuweisen, das auf rund 1.660 Seiten die Namen von etwa 750 Kunden, meist Angehörige der geistigen Führungsschicht der Stadt, verzeichnet, die auf Rechnung bei Theissing ca. 19.000 Titel kauften (Stadtarchiv Münster, Hs 110); die Zahlen bei Franz Josef Jakobi, Wandlungsprozesse sozialer und wirtschaftlicher Strukturen des 18. und 19. Jahrhunderts im Spiegel der lokalen Überlieferung – Beispiele aus dem Stadtarchiv Münster, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe 28 (1988), S. 3–8, hier S. 5. Für Aschendorff ist das gedruckte Verlagsverzeichnis der Aschendorffschen Presse 1762 bis 1912 zu benutzen. Bis 1804 ist dieser Verlag in den Messkatalogen nicht zu finden. Für die Buchhandlung des Ferdinand Coppenrath liegen keine Quellen aus der Zeit Fürstenbergs vor. Coppenrath besuchte erst ab 1809 die Buchmessen. Bestands-
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5. Subskriptionslisten in eigenen Verlagswerken; 6. Die Kataloge der Leihbibliotheken der Buchhändler Theissing und Waldeck von 1807, deren Bestände nicht nur entliehen, sondern auch erworben werden konnten. Diese Quellen sind nicht nur Zeugnisse für die literarische Geschmacksbildung, sondern in gewissen Maßen auch für das Kaufverhalten in Münster. Aus ihnen ergeben sich folgende Zahlen für die Bücherproduktion in Münster: Verlag
Zeitraum
Anzahl Titel/Jahr
Quelle
Koerdinck
bis 1778
316
Aschendorff
1762–1810
181
4
Perrenon
1768–1793
ca. 300
12
Platvoet
1793–1805
35
4
Bödeker, Buchhandel, S. 510–514
Theissing
1786–1800
69
5
Bödeker, Buchhandel, S. 510–514
Waldeck
1800–1818
ca. 60
3
eigene Recherche
Verkaufskatalog 1778 Bödeker, Buchhandel, S. 510–514 eigene Recherche
Aus diesen Zahlen dürfen wir vermuten, dass etwa 900 bis 1.000 Titel in Münster zur Zeit Fürstenbergs verlegt wurden. Damit erweist sich Münster wie viele andere Städte lediglich als eine Randerscheinung in der deutschen Verlagslandschaft. „In den achtziger und neunziger Jahren schätzten Zeitgenossen die Produktion des deutschen Sprachraums ohne das Habsburgerreich auf rund 5000 Novitäten pro Jahr.“23 Perrenon war das belebende Element des münsterischen Buchhandels in den 1770er und 1780er Jahren, war laufend auf der Leipziger Buchmesse vertreten und unterhielt geschäftliche Beziehungen zu Verlegern und Buchhändlern in Berlin (Friedrich Nicolai), Braunschweig (Friedrich Vieweg), Leipzig (Johann Samuel Heinsius, Friedrich Gottlob Jakobäer), Nürnberg (Endter) und Weimar (Johann
23
kataloge seiner Buchhandlung haben sich erst für die Jahre 1816 und 1819 erhalten (ULB Münster). Wittmann, Geschichte, S. 112. Zahlenangaben über den Umfang der Buchproduktion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts können nur ungenau sein. Sie wurden damals nirgends systematisch erfasst. Die Messkataloge erweisen sich für statistische Erhebungen als ungeeignet, weil nicht alle Buchhändler auf den Buchmessen vertreten waren und weil sie nicht verzeichnen, was zwischen den Messen herausgegeben wurde. Andererseits nennen sie viele Titel, die in Wirklichkeit nie erschienen sind. Dazu Kiesel/Münch, Gesellschaft und Literatur, S. 180 f. Daher sind die Zahlen bei ebd., S. 185 f., mit Vorsicht zu betrachten. Dort findet sich eine Rangordnung der deutschen Verlagsorte nach ihrer Verlagsproduktion der Jahre 1765 bis 1805 (angeordnet nach dem Durchschnitt eines Jahrzehnts). Münster nimmt darin mit 116 Titeln den 44. Platz unter 92 Städten ein. Leipzig führt die Liste an mit 5.556 Titel, gefolgt von Berlin mit 2.423. Frankfurt/M. liegt mit 1.137 Erscheinungen auf Platz 5. Den Schluss bilden Dortmund und Mainz mit 37 bzw. 36 Titeln.
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Joachim Bode).24 Sein Verlagsprogramm enthielt viele Titel mit ganz praktisch aufklärendem Inhalt besonders aus den Gebieten Medizin, Landbau und Wirtschaft, zum Beispiel Bücher über die Sicherheit und Einrichtung von Blitzableitern, über die Verbesserung des Lehmbodens in der Landwirtschaft, über Rationalisierung der Hühnerzucht oder des Tabakanbaus, über das Stillen und Pflegen von Kindern, über die Behandlung von unterschiedlichen Arten des Fiebers, über Rechtsfragen bei der Teilung von Ländereien, über das richtige Aufnehmen von Landkarten. Seine Sortimentskataloge sind Verzeichnisse der wichtigsten Aufklärungsliteratur, die einen Eindruck von dem vermitteln, was damals in Münster wirklich gelesen wurde oder gelesen werden konnte. Sie „sind alphabetisch nach Autoren und Sachtiteln geordnet. Dazwischen befinden sich bisweilen Schlagworte, unter denen Werke zu diesem Thema aufgeführt sind. Solche Begriffe sind Bienenbücher, Briefsteller, chemische Bücher, Gartenbücher, Gebetbücher, Gedichte, Geschichte, Hebammenbücher, Kochbücher, Kriegsbücher, Lebensgeschichte, Lexika, Musicalia, Pferdebücher, Rechenbücher, Reisen und Reisebeschreibungen, Schauspiele, Tanzbücher und Wörterbücher. Hier erkennt man deutlich die praxisorientierte Seite im Bücherangebot Perrenons: Aufklärung im eigentlichen Sinn des Wortes.“25 Hinzukommen die Bereiche der traditionellen Theologie und Philosophie, besonders die deutschen Popularphilosophen, die bis zum Anfang des 19. Jahrhundert ein beliebter Lesestoff waren. Die Reaktion auf Kant fiel in Münster unterschiedlich aus, mehr ablehnend als zustimmend, aber seine „Kritiken“ wurden von Perrenon angeboten und standen in den Leihbibliotheken zur Verfügung. Fürstenberg selbst hat sie bei Theissing erworben. Erst 1799, also nach der Französischen Revolution, kam er zu der Ansicht, dass die kantische Philosophie und fast noch mehr die Fichtes unnachsichtige zensorische Strenge verdiene.26 Der aktuelle Spinoza-Streit zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Moses Mendelssohn (1785) fand auch im Buchhandelsangebot in Münster seinen Widerhall. „Die freimaurerischen Bücher, mit welchen die Loge im Jahre 1783 eine kleine Bibliothek einrichtete, wurden bei dem münsterschen Buchhändler Perrenon bezogen; dieser war auch 1779 für die Auslieferung eines freimaurerischen Almanachs vorgesehen, wie sich aus Sprickmanns Korrespondenz mit Johann Joachim Bode, dem Herausgeber, in Weimar ergibt.“27 Sortimentskataloge waren einerseits Werbung für den Händler, aber auch Informationsmittel für den Kunden. Indem Perrenon auch die Allgemeine Deutsche Bibliothek (1765–1806) des Friedrich Nicolai aus Berlin vertrieb – ein Monumentalwerk, in dem versucht wurde, alle wichtigen deutschen Neuerscheinungen anzuzeigen und zu besprechen –, bot er den Münsteranern die beste Möglichkeit, den literarischen und wissenschaftlichen
24 25 26 27
Die folgenden Ausführungen zu Philipp Heinrich Perrenon beruhen auf meinem Beitrag aus dem Jahre 2003; siehe Haller, Ausgesuchteste Bücher. Ebd., S. 358. So Rudolf Schlögl, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster – 1700–1840, München 1995, S. 77. Elmar Wildt, Die Loge zu Münster, ihr Umfeld und ihre Mitglieder um 1780, in: Westfälische Zeitschrift 143 (1993), S. 71–142, hier S. 95.
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Buchmarkt zu beobachten. Es mangelte also nicht an Angeboten und Informationsmitteln. Perrenon unterhielt eine Niederlassung auch in Hamm. Nach einer ersten Analyse des Hammer Bestandes in seinen Sortimentskatalogen scheint es so zu sein, dass dort Bücher protestantischer Verfasser zum Kauf standen, die im katholischen Münster weniger Absatz versprachen, dazu auch Schriften französischer Aufklärer wie Voltaire, die im ganzen Römisch-Deutschen Reich verboten waren. Aber nicht nur diese, auch sehr freizügige Werke hielt Perrenon in Hamm auf Lager. Man findet sie nicht in seinen gedruckten Verzeichnissen angezeigt, sie sind uns aber durch Angebote Perrenons an den Grafen Karl von Bentheim-Steinfurt bekannt. Diesem bot er 1770 unter anderem auch Standardwerke der erotisch-antiklerikalen Literatur an, hinter deren galanten Geschichten sich die Abkehr von der Autorität der christlichen Kirchen und ihrer Moralvorstellung und nicht selten eine Hinwendung zu radikaler atheistischer Aufklärung offenbaren, also eine Gesellschafts- und Religionskritik. Dies sind Romane wie die Memoirs of a woman of pleasure der Fanny Hill von John Cleland oder die Pucelle d’Orléans von Voltaire, eine mit spitzer Feder geschriebene Satire gegen Wunderglauben und Marien- und Heiligenkult. Es waren Titel, die sich nicht so recht mit dem münsterischen literarischen Geschmack der Zeit vereinbaren ließen. Perrenon bezeichnet sie im Begleitschreiben an den Grafen als verbotene Bücher, die ungleich teurer seien als andere, weil auch er mehr dafür bezahlen müsse; er könne sie aber, wenn der Graf eine ganze Partie übernehmen wolle, mit einem Rabatt von zehn Prozent liefern. 1771 bittet er darum, die Angebotslisten nicht jedermann zu zeigen: „ich möchte nicht gerne haben, dass man hier wüsste, dass ich dergleichen Bücher hätte.“28 Wie aus den Rechnungen zu erkennen ist, ging der Graf zu Bentheim-Steinfurt offenbar auf diese Angebote nicht ein. Im Buchbestand der münsterischen Buchhändler finden wir im Bereich der schönen Literatur Bewährtes und Althergebrachtes neben Neuem und Modernem. Ein sehr beliebter und viel gelesener Schriftsteller der deutschen Literatur war erwartungsgemäß immer noch Friedrich Gottlieb Klopstock mit dem Messias, den Oden und den Geistlichen Liedern. Klopstock war der wohl bekannteste deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts, das Idol einer ganzen Lesergeneration. Sein Messias gewann in Münster und Umgebung den Rang eines Erbauungsbuches, das die Fürstin Gallitzin noch 1791 mehrfach mit ihren Kindern las29 und das in der Familie DrosteHülshoff selbst noch im Jahr 1813 der Familienlektüre für den Sonntag vorbehalten blieb.30 Fürstenberg unterbreitete Klopstock den (vergeblichen) Vorschlag, Münster „für allezeit oder für einen großen Theil des Jahres zu Ihrem Aufenthalte zu wählen […], nur um Ihren freundlichen Rath zu nutzen, und durch Ihren Umgang mehr 28 29
30
Fürstliches Archiv Burgsteinfurt, ohne Signatur. Amalia von Gallitzin, Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 3, Münster 1876, S. 452; Hans Erich Bödeker, Lesestoff, Lesebedürfnis und Leseverhalten im „Kreis von Münster“, in: Petra Schulz und Erpho Bell (Hg.), Amalia Fürstin von Gallitzin (1748–1806). „Meine Seele ist auf der Spitze meiner Feder“. Ausstellung zum 250. Geburtstag in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Münster 1998, S. 52–60, hier S. 58. Kortländer, Annette von Droste-Hülshoff, S. 86.
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Geist und Aufklärung in mein Vaterland zu bringen“.31 Der gleichen Beliebtheit erfreuten sich Dichter wie Johann Wilhelm Gleim und Christian Fürchtegott Gellert. Sie waren in Münster mit ihren gesammelten Schriften und als Einzelausgaben zu bekommen, ebenso wie die Vertreter der älteren deutschen Literatur Johann Christoph Gottsched, Friedrich von Hagedorn, Ewald von Kleist und aus der Barockzeit Martin Opitz oder Friedrich von Logau, um nur einige zu nennen. Erfolgreichstes münsterisches Verlagsprodukt im Bereich der Belletristik war der Schelmenroman von Carl Arnold Kortum Leben, Meynung und Thaten von Hieronimus Jobs […]; eine Historia lustig und fein in neumodischen Knittelverselein, der 1784 bei Perrenon erschien. Diese Jobsiade, die zahlreiche Auflagen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein erlebte, ist eines der wirklich großen grotesk-komischen Bücher der deutschen Literatur und war so erfolgreich, dass Kortum sie später um zwei Fortsetzungen erweiterte. An ausländischer Literatur fanden die Leser in Münster bei allen Buchhändlern und in den Leihbibliotheken damals so beliebte Werke vor wie John Miltons Paradise lost, François Fénelons Télémaque und Jean-Jacques Rousseaus La Nouvelle Héloïse, den wohl erfolgreichsten Bestseller des Ancien régime mit über 70 Auflagen vor 1800. Samuel Richardsons Pamela galt wegen seiner akribischen Schilderung einer spezifisch weiblichen Erlebniswelt seit langem als „Kultur-Heldin […] lesender Kammermädchen“.32 Die genannten Werke entsprachen dem Angebotskanon vieler Buchhandlungen auch anderswo, eine Offerte, die sich als bürgerliche Bildungslektüre in Münster reibungslos in das von der Tradition eines geistlichen Territoriums geprägte Weltbild seiner Bürger einfügte. An den bei Perrenon zum Verkauf stehenden Büchern zeigt sich aber darüber hinaus – sicher auch durch ihn mitbewirkt – zwischen 1770 und 1790 ein zaghafter Wandel in der literarischen Geschmacksbildung bei den münsterischen Lesern.33 Dies lässt sich an zwei Beispielen verdeutlichen, etwa an Friedrich Nicolais Roman Leben und Meinung des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, dessen dritten Teil Perrenon 1776 in Hamm auf Lager hielt und der Fürstenberg „nicht gänzlich misfallen“ hat.34 Nicolai widmete Fürstenberg aufgrund dieser Aussage den dritten Teil des Werkes. Man kann in diesen Gesten eine vorsichtige Annäherung Fürstenbergs an die Berliner Aufklärungsgesellschaft um Nicolai und Moses Mendelssohn erkennen. „Es gehörte zur Toleranz der Aufklärungszeit, dass sich auch ein Domherr dem neuen, selbst antiklerikalen Schrifttum keineswegs verschloß.“35 Das zweite Beispiel sind Christoph Martin Wielands Versdichtungen und Romane. In ihnen bedient sich Wieland eines feinsinnigen und raffiniert stilistischen Umgangs mit erotischen Szenen, zum Beispiel in seiner Geschichte des Agathon, und einer graziösen, das 31 32 33 34 35
Zitat bei Siegfried Sudhof, Von der Aufklärung zur Romantik. Die Geschichte des „Kreises von Münster“, Berlin 1973, S. 87. Ian Watt, Der Bürgerliche Roman, Frankfurt 1974, S. 52. Zum folgenden siehe Haller, Ausgesuchteste Bücher, S. 361 f.; vgl. auch Bödeker, Buchhandel, S. 520. Zitat bei Sudhof, Aufklärung, S. 93. Ebd.
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Sinnenfrohe und Frivole elegant umspielenden Sprache, so im Musarion oder Philosophie der Grazien. Es ist seine Fähigkeit, Sinnlichkeit und Vernunft in Einklang zu bringen, die nur wenig zur Bewertung von Literatur nach moralischen Kriterien passt, wie wir sie bis dahin in Münster kennen.36 Aber dennoch, diese Werke fanden die Gunst des Publikums.37 Dass sie angeboten und gekauft werden konnten, zeigt einmal mehr, welche Freiheiten zur Zeit Fürstenbergs vor 1790 in Münster gewährt wurden und dass eine Pressezensur so gut wie nicht stattfand. Nach 1790 verschwinden Wielands Werke aus dem münsterschen Buchhandel. Im Kundenkreditbuch der Firma des Friedrich Theissing der Jahre 1790 bis 1823 finden sie sich nicht mehr. Ja, Fürstenberg möchte Wielands Gedichte im Jahre 1802 wohl als Reaktion auf die Französische Revolution aus den münsterischen Leihbibliotheken entfernt wissen. Aber wurde diese erwähnte Freiheit vor 1790 auch genutzt? Von den Mitgliedern des ‚Kreises von Münster‘ offenbar nicht – von Anton Matthias Sprickmann einmal abgesehen. Hier wurden die zeitgenössischen deutschen Autoren immer noch mehr nach moralischen und religiösen Maßstäben beurteilt denn nach literarischen. Beliebt blieben und gekauft wurden in diesem Kreis nach dem Zeugnis des Theissingschen Kundenkreditbuchs – wie gesagt – Klopstock, Gellert, Kotzebue, Claudius, nicht aber Autoren wie Lessing, Schiller und Wieland, auch nicht die Frühromantiker und Jean Paul.38 Abgelehnt wurde ebenfalls der leidenschaftliche Franz von Sonnenberg aus Münster mit seinem Epos Donatoa. Bezeichnend für das Kaufverhalten des ‚Kreises von Münster‘ scheint in diesen Zusammenhang die Äußerung des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg zu Schillers Tod 1805 zu sein: „Schiller ist also todt! Gott habe ihn selig. Für die Philosophie, Religion und den Geschmack des Wahren und Schönen ist sein Tod Gewinn. Er hatte Talent zum glänzenden Falschen, nicht für’s Wahre.“39 Schiller hatte vor allem durch sein Gedicht Die Götter Griechenlands Anstoß erregt. Auch in der Familie Droste war die Mutter lebhaft bemüht, ihrer Tochter Annette die Schriften Schillers und auch Goethes möglichst vorzuenthalten.40 Wieweit die übrige städtische Gesellschaft in Münster, die gebildeten Stände des Klerus, der Beamten, Ärzte, Advokaten, Professoren, Lehrer und Studenten das Angebot der Buchhändler angenommen hat, bedarf noch einer genau36 37
38 39 40
Zu den Differenzen in der Beurteilung der christlichen Glaubenslehre und der Moral zwischen Wieland und dem ‚Kreis von Münsters‘ vgl. Erich Trunz, Goethe und der Kreis von Münster, 2. Aufl. Münster 1974, S. 258 f. „Wie stark das Interesse an seinen Schriften z. B. in Münster war, zeigt sich an der verhältnismäßig großen Zahl von Subskribenten für den ‚Agathon‘. Das Subskriptionsverzeichnis von 1773 nennt 15 Subskribenten aus Münster und Telgte.“ Ebd., S. 219; als Muster einer Charakterdarstellung wurde das Stück „Archytas von Athen“ aus dem Agathon 1774 in das Schulbuch Oratorische Chrestomathie (Münster 1774), S. 1–5 aufgenommen; dazu: Waltraut Foitzik, Die Lektüre der Dichtung auf Fürstenbergs Schulen, in: Westfalen 33 (1955), S. 29–33, hier S. 31; in der 2. Auflage von 1798 ist dieser Text nicht mehr enthalten. Bödeker, Lesen, S. 353. Stolberg an seine Schwägerin Luise zu Stolberg am 20.05.1805, in: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Briefe, hg. von Jürgen Behrens, Neumünster 1966, S. 395. Kortländer, Annette von Droste-Hülshoff, S. 127 f.
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en Analyse vor allem anhand des Theissingschen Kundenkreditbuches und anhand von Subskriptionslisten.
3. Belletristische Literatur Was für andere deutsche Regionen galt, bestätigte sich auch für Münster am Ende des 18. Jahrhunderts: „Die Belletristik gewann einen größeren Anteil am Buchmarkt als je zuvor; die große Zeit des ‚bürgerlichen Romans‘ brach an“41 – aber auch die des Trivialromans. „Statistisch war dabei der Roman der Renner, der massenweise verfasst und verschlungen wurde“,42 zu deren beliebtesten am Ende des 18. Jahrhunderts die Ritter- und Schauerromane zählten. Für Münster kennen wir Zahlen des Jahres 1807 aus den Angeboten der Leihbibliotheken, welche die Buchhändler Peter Waldeck und Friedrich Theissing ihrem Buchladen angeschlossen hatten. Im Jahr 1807 überwog im Angebot der münsterischen Leihbibliotheken noch die gelehrte und die Sachliteratur, 20 Jahre später hatte die Belletristik die Oberhand gewonnen:43 Leihbibliothek
Titel insgesamt
Romane, Gedichte, Theaterliteratur
Anteil in %
Waldeck 1807
2503
1185
47,34
Theissing 1807
3720
1323
35,56
Theissing 182844
5260
2876
54,67
Zeitgenössische Stimmen zur Leihbibliothek des Peter Waldeck sind nicht bekannt. Zu Theissing hat sich Heinrich Karl Berghaus geäußert: „Friedrich Theyßing, ein eingeborener Münsteraner, aber durch längeren Aufenthalt in anderen, nament41 42 43
44
Stollberg-Rilinger, Europa, S. 136. Terence James Reed, Mehr Licht in Deutschland. Eine kleine Geschichte der Aufklärung, München 2009, S. 112. Erstes Verzeichnis der in der Leihbibliothek des Buchhändlers Peter Waldeck in Münster enthaltenen Bücher. Nach den Fächern geordnet, Münster 1807 (ULB Münster); Verzeichnis der Bücher welche in der Theissingschen Leihbibliothek zu Münster enthalten sind, 2. Aufl. Münster 1807 (Stadtarchiv Münster); zum Theissingschen Verzeichnis 1807 siehe Christine Lunemann, Die Leihbibliothek Friedrich Christian Theißing in Münster. Analyse eines Buchbestands zu napoleonischer Zeit (1807), Diplomarbeit im Studiengang Bibliothekswesen, FH Hannover 1995. Das Theissingsche Verzeichnis von 1807 ist ohne Titelblatt überliefert, so dass eine genaue Titelbeschreibung nicht möglich ist. Die hier benutzte Titelfassung ist der 3. Aufl. 1828 nachgebildet. Verzeichnis der Bücher welche in der Theissingschen Leihbibliothek zu Münster enthalten sind, 3. Aufl. Münster 1828 (ULB Münster) mit Nachträgen für die Jahre 1829, 1832, 1834, 1836 und 1838.
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lich protestantischen Gegenden Deutschlands frei geworden vom spezifischen Heimaththum, führte den angesehensten Buchladen, in der Pferdestraße, dicht am Jesuiten-Collegio. […] Theyßing war durch seine Betriebsamkeit die Eselsbrücke geworden, über welche die Dichterwerke und die Schriften der schönen Literatur der Deutschen auch nach Münster und dem Münsterlande überhaupt, man kann sagen, eingeschmuggelt wurden, theils dadurch, dass er für diese Schriften Abnehmer und Käufer zu erwischen suchte, theils durch die Leihbibliothek, welche er errichtet hatte.“45 Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis seines Leihbibliothekskatalogs von 1807 soll hier dazu dienen, das breite literarische und wissenschaftliche Spektrum anzudeuten, das dort angeboten wurde, wobei Theissings Angebot auch dem des Peter Waldeck entsprach: „Religion, Moral [hierbei auch Philosophie; B. H.], Erziehungsund Kinderschriften, Naturkunde, Physik, Chemie, Botanik, Mineralogie, Mathematik, Astronomie, Medizinische Schriften, Politik, Policey, Cameralwissenschaft, Baukunst, Kriegsbücher, Handlung, Manufaktur, Oekonomische Schriften, Forstbücher, Geographie, Reisebeschreibungen, Geschichte, Völker- und Länderkunde, Lebensbeschreibungen, Romane und Erzählungen, Theaterschriften, Gedichte, schöne Wissenschaften, Vermische Schriften, Französische Literatur, Englische Literatur, Italiänische Literatur.“46 Ein Zeitgenosse stellte zur verbreiteten Lesesucht fest: „So lange die Welt stehet, sind keine Erscheinungen so merkwürdig gewesen als in Deutschland die Romanleserey, und in Frankreich die Revolution.“47 Von allen Seiten wurde das Romanlesen kritisiert. In zahllosen Varianten wurde beklagt, dass Romane die Phantasie reizten, die Moral verdürben und von der Arbeit ablenkten. Diese Kritik fiel auch auf die Leihbibliotheken mit überwiegend belletristischem Bestand zurück. Aufgrund ihres großen Angebots an Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten und an rührseligen Liebes- und Familienromanen galten sie als moralische ‚Giftbuden‘ und ‚Bordelle‘. Neben den bürgerlichen Romanen und neben Schriften, Gedichten und Theaterstücken von Klassikern wie etwa Molière, Shakespeare, Tasso, Gellert, Gleim, Lessing, Klopstock, Schiller, Goethe, Wieland, Herder, Iffland, Moritz, Kotzebue, Jean Paul, Hölderlin, Tieck, Schlegel, der Brüder Stolberg, Ernst Moritz Arndt, Johann Heinrich Voß und anderen in Gesamt-, Teil- oder Einzelausgaben – darunter auch Sammlungen wie das Kultbuch der Romantik Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano – finden wir im Angebot bei Theissing und Waldeck 45 46
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Heinrich Karl Berghaus, Wallfahrt durch’s Leben vom Baseler Frieden bis zur Gegenwart, Bd. 3, Leipzig 1862, S. 8 f. Verzeichnis der Bücher welche in der Theissingschen Leihbibliothek zu Münster enthalten sind, 2. Aufl. Münster 1807, S. 333 f. Interessant für die Rezeption wissenschaftlicher Bücher ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung Theissings im Katalog seiner Leihbibliothek von 1828, S. 1, dass „die in den früheren Verzeichnissen […] aufgeführt gewesenen Schriften aus der Naturwissenschaft, Medizin, Cameralwissenschaft, Baukunst und Kriegswissenschaft, da sie fast gar nicht benutzt wurden, in dieses Verzeichnis nicht wieder mit aufgenommen, sondern gänzlich aus der Bibliothek entfernt worden“ sind. Johann Georg Heinzmann, Appell an meine Nation über die Pest der deutschen Literatur, Bern 1795, S. 139, zitiert nach Wittmann, Leserevolution, S. 421.
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viele Arten von Trivialromanen, etwa die Geheimbundromane des Carl Grosse, die Schauer-, Geister- und Ritterromane von Christian Heinrich Spieß und Carl Gottlob Cramer, die moralisch-sentimentalen Romane des August Heinrich Lafontaine oder die Räubergeschichten des Christian August Vulpius, Goethes Schwager. Diese Autoren zählten damals zu den Vielschreibern. Nicht selten sind die Titel im Katalog ohne Verfasser- und Jahresangaben verzeichnet oder mit dem Zusatz „vom Verfasser des […]“ versehen. Molly’s Bekenntnisse oder so führt Unbefangenheit ins Verderben. Eine wahre Geschichte zur Warnung für alle Wildfänge unter den heirathslustigen Mädchen oder Der Beichtvater vom Verfasser des Weibes wie es ist seien als Beispiele genannt. Münsters Leihbibliotheken folgten damit dem literarischen Trend der Zeit und dem Geschmack des breiten Publikums. Hierbei ist zu beachten, dass mit dem Angebot der Leihbibliotheken auch immer ein Kaufangebot an den Leser verbunden war.48
4. Theaterliteratur Einen wichtigen und umfangreichen Teil im Sortiment der münsterischen Buchhändler und in ihren Leihbibliotheken nahm die Theaterliteratur im weitesten Sinn ein. Dies muss man vor dem Hintergrund der Bemühungen zu Beginn der 1770er Jahre sehen, in Münster ein ständiges Theater zu errichten und zu erhalten.49 Andererseits ist das enorme Anwachsen der Theaterliteratur in dieser Zeit eine allgemeine Erscheinung in Deutschland und Europa. In den Lagerkatalogen Perrenons der Jahre 1770 bis 1776 finden wir insgesamt 362 Schauspiele und Textbücher, darunter von vielen Autoren, die heute vergessen sind, aber auch von Klassikern wie Torquato Tasso, Shakespeare, Goldoni, Corneille, Racine, Molière, Voltaire, Klopstock, Gleim, Lessing, Goethe und Schiller. Später, im Jahre 1807, boten Peter Waldeck und Friedrich Theissing in ihren Leihbibliotheken 298 bzw. 253 zum Teil mehrbändige Ausgaben von Schau-, Lust- und Trauerspielen an. Im eigenen Verlag betreute Perrenon vor allem Schauspielliteratur und Texthefte für Aufführungen der münsterischen Bühne. Sprickmanns Theaterstücke Die natürliche Tochter (1774) und das erfolgreiche Lustspiel Der Schmuck (1780) sind Beispiele dafür. Zeitgenössische Autoren wie Johann Nepomuk Rothmann, einer der Musikdirektoren am münsterischen Theater, Johann Jacob Engel, Friedrich Ludwig von Korff, F. G. von Nesselrode zu Hugenboett oder Wilhelm Stühle sind heute nur noch Spezialisten bekannt. Daneben übernahm Perrenon auffallend viele Übersetzungen damals sehr beliebter 48 49
Waldecks Katalog von 1807, Vorwort o. S.; Theissings Katalog von 1807, S. 12. Zum Theater in Münster der Fürstenberg-Zeit siehe Sudhof, Aufklärung, S. 98–103; Walter Gödden und Iris Nölle-Hornkamp, Theaterblüten. Szenen auf der Münsterischen Theaterbühne, in: Walter Gödden (Hg.), „Von den Musen wachgeküßt …“. Als Westfalen lesen lernte, Paderborn 1990, S. 148–158; Peter Heßelmann, Anton Matthias Sprickmann und das Theater, in: Erpho Bell (Hg.), Anton Matthias Sprickmann (1749– 1833). „Dank Gott und Fürstenberg, dass sie mich auf den Weg brachten“, Münster 1999, S. 55–75.
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französischer Theaterstücke in seinen Verlag: von Denis Diderot, Charles Simon Favart, Charles Georges Falbaire, Claude Marie Giraud, Jean François Marmontel, Thomas d’Hèle und Philipp Poissont. Einige davon sind als Singspiele bzw. Operetten gestaltet und von André Grétry vertont worden. Seinen Ankündigungen dieser Titel im Münsterischen Intelligenzblatt fügte Perrenon häufig die Bemerkung hinzu, dass das Stück demnächst „auf dem hiesigen Theater“ aufgeführt werde, so auch bei Wielands Alceste im Oktober 1777. In die Welt des Theaters führte er seine Kunden mit einer Reihe von Theaterzeitschriften ein, darunter mit der bedeutendsten seiner Zeit, dem Theaterkalender aus Gotha, der zu den wichtigsten Quellenwerken zur Theater- und Musikgeschichte im 18. Jahrhundert überhaupt zählt. Das Bühnenstück in seinem Verlag, das wirklich Aufsehen erregte, war Goethes Stella: ein Schauspiel für Liebende von 1776, von dem Goethe selbst sagt, dass es nicht für jedermann geeignet sei. Die Erstausgabe erschien Ende Januar 1776 in Berlin, die Uraufführung fand in Hamburg im Februar 1776 statt, bereits Anfang April brachte Perrenon einen Nachdruck heraus. Das Impressum der münsterischen Ausgabe lautet: „Auf Kosten der Hofschauspielergesellschaft, und in Commission bey dem Hofbuchhändler Perrenon“. Der Druck ist möglicherweise von Anton Matthias Sprickmann initiiert worden, dem Spiritus rector des münsterischen Theaters. Perrenons Ausgabe war ein nicht lizenzierter Nachdruck. Der Verleger griff damit zu einer auch damals schon fragwürdigen Praxis. Der Nachdruck war, da es kein Urheberrecht im Römisch-Deutschen Reich gab, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert eine durchaus übliche Erscheinung, war er doch eine sehr billige Art der Literaturproduktion; denn man brauchte keine Autorenhonorare zu bezahlen. Nachdruckende Verleger wurden auf das Heftigste kritisiert. „Daß der Nachdruck unbillig sei, daß der Nachdrucker sich schämen sollte, zu ernten, was er nicht gesäet hat, und der faulen Hummel gleich über den Honig der fleißigen Biene herzufallen: wer leugnet das?“, so schimpfte bereits Lessing.50 Stella ist ein Schauspiel, dessen Grundmotiv einfach ist und das Konfliktstoff in sich birgt: ein Mann zwischen zwei Frauen – ein altes und klassisches Motiv mehr für ein Lustspiel. Goethes Lösung, die polygame Version, das Leben zu dritt, überschritt durchaus die herrschende Moralvorstellung und war damit für viele Zeitgenossen nicht nur in Münster anstößig und gotteslästerlich. In Hamburg und Berlin wurde das Stück verboten, im katholischen Münster dagegen nicht. Auch dort war eine Ausgabe der Stella ein durchaus mutiges Unternehmen und zumindest eine Zumutung für das moralische Empfinden der Bürger; andererseits wiederum ein Zeugnis für die liberale Zensurpolitik zur Zeit Fürstenbergs.51 Doch diese Theater-Angebote des Buchhandels und in den Leihbibliotheken fanden offensichtlich in Münster nur wenig Anklang. Heinrich Karl Berghaus be50 51
Gotthold Ephraim Lessing, Freimaurergespräche und anderes. Ausgewählte Schriften, hg. von Claus Träger, München 1981, S. 329 f. Für die Aufführung in Weimar 1806 hat Goethe den Schluss radikal geändert: die Liebenden begehen Selbstmord – ein Zugeständnis an die zeitgenössische Moralvorstellung. Der Untertitel lautete nicht mehr Ein Schauspiel für Liebende, sondern Ein Trauerspiel.
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richtet, dass die Schauspiele Goethes, Schillers, Kotzebues und Ifflands in der Theissingschen Leihbibliothek immer schnell zu bekommen waren, weil „Theaterstücke in Münster wenige Leser fanden“.52 Also: ein großes Angebot – aber eine geringe Akzeptanz. Die Münsteraner haben Goethe offensichtlich mehr geschätzt als bisher angenommen. Perrenon bot ihnen auch die Schriften in der ersten und zweiten Auflage (1775/76 bzw. 1777) an. Theissing begann seine buchhändlerische Tätigkeit in Münster 1785 mit dem Subskriptionsangebot auf die achtbändige Werkausgabe (1787–1790), für die er immerhin zwölf Kunden gewinnen konnte, darunter mehrere Mitglieder des ‚Kreises von Münster‘.53 Auf Veranlassung von Fürstenberg wurden eine Szene aus der Iphigenie und die „Lieder an Selma“ aus dem Ossian in Goethes Übersetzung, wie sie im Werther zu lesen ist, im Jahr 1800 in gekürzter und leicht veränderter Fassung in die Poetische Chrestomathie, dem deutschen Schulbuch für das Fürstbistum Münster, aufgenommen.54 „Daß Ossian aufgenommen wurde, ist leicht zu verstehen: er war noch im Jahre 1800 der Liebling der Zeit, etwa seit 30 Jahren; dass man Goethes Übersetzung wählte, geht darauf zurück, dass ‚Werther‘ so ungewöhnlich bekannt und verbreitet war, doch wird Goethe als Übersetzer nicht genannt. […] Auffallender ist die Berücksichtigung von Goethes ‚Iphigenie‘. Das Werk war 1787 zum erstenmal erschienen. Daß es im Jahre 1800 in diesem Schulbuch auftaucht, war für jene Zeit sehr fortschrittlich.“55 1774 waren Goethes Die Leiden des jungen Werther erschienen. Dass der Werther auch in Münster begeisterte Leser gefunden hat, können wir an dem Werther-Kult des Anton Matthias Sprickmann ablesen. Zu kaufen und zu entleihen war der Werther in der Tat, wenn auch vielleicht nicht in der Erst-, so doch in Goethes Werkausgaben. In Perrenons Verzeichnis von 1776 finden wir unter dem Schlagwort „Wertherische Schriften“ die wichtigsten Werke, die sich mit ihm auseinandersetzten – meist polemisch und sehr kritisch –, dazu Bühnenbearbeitungen und trivialisierte Werther-Nachahmungen, zum Beispiel Die Leiden der jungen Wertherin oder Die Freuden des jungen Werther (von Friedrich Nicolai, der sich damit den Zorn des jungen Goethe zuzog) oder Werther in der Hölle und philosophisch-theologische Behandlungen zum Thema Selbstmord. Perrenon nutzte die Werther-Begeisterung zu gewinnbringenden Geschäften. Das Wort „Goethe ja, aber bitte keinen Werther“ wird man angesichts dieses Befundes so pauschal nicht mehr gelten lassen können.56 52 53
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Berghaus, Wallfahrt, S. 107. Dazu siehe Theodor Heinermann, Die erste Ausgabe von Goethes gesammelten Werken (1787 f.) in Münster, in: Westfalen 24 (1939), S. 45–47, und Trunz, Goethe, S. 289 f.; Münster lag mit Königsberg und Prag auf Platz 4 nach Berlin mit 19, Wien mit 18 und Leipzig mit 16 Subskribenten. Johann Hyacinth Kistemaker (Hg.), Poetische Chrestomathie oder Muster der höheren Poesie zum Gebrauch der vierten und fünften Schule der Gymnasien im Hochstift Münster, 2. Aufl. Münster 1800, S. 295–303 (Ossian) und 340–348 (Iphigenie). Trunz, Goethe, S. 455 f.; dazu auch Foitzik, Lektüre, S. 33. Walter Gödden, Lesekultur in Westfalen. Das Panorama des Themas, Fragen, Perspektiven, in: ders., Musen, S. 8–54, hier S. 23.
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5. Zeitschriften Nach dem Ende der Perrenonischen Buchhandlung 1793 gewann Friedrich Theissing die Vormachtstellung unter den münsterischen Buchhandlungen. Franz Platvoet, der das Geschäft Perrenons bis 1805 weiterführte, war ihm kein echter Konkurrent. Seit 1800 existierte zusätzlich die Buchhandlung und der Verlag des Peter Waldeck, der sich in größerem Umfang um Belletristik, auch um die regionale, bemühte. Es war in Münster bis zur Jahrhundertwende keine literarische Zeitschrift von längerer Dauer verlegt worden. Offenbar von Karl Reinhard, dem letzten Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs, angeregt, versuchte Waldeck sein Glück mit der Herausgabe eben solcher Zeitschriften. Der überregionalen Öffentlichkeit wurde er dadurch bekannt, dass Karl Reinhard den Jahrgang 1804 des weit verbreiteten Göttinger Musenalmanachs bei ihm erscheinen ließ. Reinhard publizierte später bei Waldeck zwei ähnliche Almanache, die Polyanthea 1807 und das Taschenbuch für das Jahr 1812. Beide erreichten nur ein Alter von einem Jahr. Seit 1804 übernahm Waldeck den Verlag der Zeitschrift Irene des Oldenburger Gerhard Anton von Halem, die von 1801 bis 1803 in Berlin erschienen war. Halem hatte 1801 Schiller als Beiträger gewonnen und versuchte, über ihn auch Goethe die Mitarbeit an dieser Zeitschrift schmackhaft zu machen. Dieser brachte dafür aber nur Hohn und Verachtung auf, die Irene war ihm ein Beispiel für schlechten literarischen Geschmack. Er schrieb an Schiller: „Ich wünsche Ihnen einen recht guten Humor und eine recht derbe Faust, wenn sie auf die irenische Einladung antworten. Es wäre recht schön wenn Ihnen eine Epistel glückte, die auf alle das Packzeug passte, dem ich immer größeren Haß widme und gelobe.“57 Auch den Unternehmungen von Friedrich Raßmann, den literarischen Zeitschriften Eos und Mimigardia, blieb der Erfolg versagt, trotz des Aufrufs an „Westfalens Dichter und Prosaisten“, sich an der Mimigardia zu beteiligen.58 Heinrich Karl Berghaus liefert dazu eine Erklärung: „Mehr als ein Mal machte er [Raßmann] den kecken Anlauf, eine belletristische Zeitschrift zu gründen; allein der Versuch missglückte jedes Mal. Münster war dazu nicht der Platz. Das Tübinger ‚Morgenblatt‘, die Leipziger ‚Zeitung für die elegante Welt‘ und das Weimarsche ‚Journal für Kunst, Luxus und Mode‘ […] waren die Beherrscher des belletristischen Literaturmarktes, auf dem andere Unternehmungen ähnlicher Art gar nicht zum gedeihlichen Leben gelangen konnten.“59 Den Buchhändlern 57
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Goethe an Schiller am 19.03.1802, zitiert nach Kortländer, Annette von Droste-Hülshoff, S. 289. In der Irene war 1801 Schillers Prolog zur Jungfrau von Orleans erschienen; 1804 wurde dort trotz Goethes Warnung das Berglied veröffentlicht, siehe Peter Heßelmann, Gerhard Anton Halem (1752–1819). Ein Vermittler der Aufklärung in Nordwestdeutschland, in: Literatur in Westfalen 2 (1994), S. 77–100, hier S. 87. Raßmanns Aufruf im Beiblatt zum Westfälischen Anzeiger Nr. 89 (1807) ist abgebildet bei Gödden, Lesekultur, S. 38. Berghaus, Wallfahrt, S. 52 f.; siehe auch Walter Gödden, Das vergebliche Wirken des Zeitschriftenherausgebers, Anthologisten und Dichters Friedrich Raßmann (1772– 1831), in: Literatur in Westfalen 1 (1992), S. 31–58; zum Zeitungswesen in Westfalen vgl. Karl d’Ester, Das Zeitungswesen in Westfalen von den ersten Anfängen bis zum Jahre 1813, Münster 1907; Iris Nölle-Hornkamp, Streifzüge durch die politische, ge-
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und Verlegern in Münster gelang es nicht, an der tiefgreifenden Veränderung des Buchmarkts, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beobachten war, produktiv zu teilzunehmen, nämlich an der Expansion periodischer Schriften. Das galt nicht nur für literarische, sondern auch für politische, gelehrte und unterhaltende Zeitschriften. Dabei wurden Zeitschriften sehr wohl gelesen und abonniert. In Perrenons Angebot während seiner Zeit standen insgesamt an die 250 Zeitschriften aller Couleur zur Verfügung, wissenschaftliche und populäre wie die Angenehme Lektüre für Frauenzimmer, Fidibus, eine satirische Monatsschrift, das Journal der Moden (von Bertuch), der Göttinger und Hamburger Musenalmanach, die Deutsche Chronik von Schubart, der Teutsche Merkur“ von Wieland, die Allgemeine historische Bibliothek und das Historische Journal (beide herausgegeben von Johann Christoph Gatterer), um nur wenige aufzuzählen. Perrenon selbst verlegte 1789 bis 1792 eine Medicinisch-praktische Bibliothek für Ärzte und Wundärzte. Wir wissen aus dem entsprechenden Verzeichnis, dass im Lesezirkel der Theissingschen Leihbibliothek im Jahr 1807 35 Zeitschriften zur ständigen Ausleihe bereitstanden. Dort konnte man für fünf Taler im Jahr wöchentlich zwei Zeitschriftenhefte entleihen. Gelesen wurden zum Beispiel die Göttingischen gelehrten Anzeigen, die Allgemeine Literatur-Zeitung aus Jena und aus Halle, die Minerva von Archenholz, das Hamburgische politische Journal, Haeberlins Staats-Archiv, das Journal für Luxus und der Moden, das Morgenblatt für die gebildeten Stände oder Büschings Allgemeine geographische Ephemeriden. Abonnenten von Zeitschriften waren in Münster neben Einzelpersonen auch Gesellschaften, wie der „Münsterische Bürgerliche Clubb“ (heute Civil-Club), der zu Anfang in den Räumen der Buchhandlung Perrenon tagte, wo Zeitschriften und die wichtigsten Zeitungen auslagen.60 Aber die Zahl der Abnehmer für münsterische Journale reichte nicht aus für die häufig zu hohen Auflagen. Die münsterischen Verleger blieben auf ihren Jahrgängen sitzen. Peter Waldeck griff in seiner Not zu einer „Handelslist“. Er hatte – wie bereits gesagt – 1804 den Göttinger Musenalmanach verlegt, offensichtlich ohne den erwarteten Absatz zu erzielen. 1807 bot er den Band textidentisch erneut an, jetzt mit dem Hinweis „Fünf und dreißigster und letzter Jahrgang“. Dazu schreibt ein Rezensent: „Einige dieser zuerst erschienenen [Musenalmanache] erlebten, gleich als ob sie Romane wären, sogar zweyte Auflagen, und jetzt ist der letzte Sprössling des Stammvaters dieser einst so üppig blühenden
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lehrte und gemeinnützig unterhaltende Presse Westfalens im 18. Jahrhundert, in: Gödden, Musen, S. 99–138; Martina Kurzweg, Presse zwischen Staat und Gesellschaft. Die Zeitungslandschaft in Rheinland-Westfalen (1770–1819), Paderborn 1999. Eugen Müller, Altmünsterisches Gesellschaftsleben, in: Westfalen 9 (1917/18), S. 33– 69, hier S. 48, zählt diese Zeitschriften und Zeitungen auf. Gleichwohl sollte man den bisweilen gebrauchten Vergleich des Civilclubs mit einer Lesegesellschaft fallen lassen. Ihre Ziele (Erholung und Gesellschaftsleben hier – Befriedigung und Förderung von Lesenbedürfnissen dort) waren zu unterschiedlich. Im Übrigen ließ sich bisher die Existenz einer echten Lesegesellschaft in Münster nicht nachweisen. 1794 soll die Gründung solcher Gesellschaften im Bistum Münster verboten worden sein; vgl. August Meyer zu Stieghorst, Verhandlungen der Landstände des Fürstbistums Münster zur Zeit der französischen Revolution 1789–1802, Hildesheim 1911, S. 49 f.
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Geschlechter so tief gesunken, dass er auf Mittel suchen muß, wie er sich im eigentlichen Sinne auf die Toiletten, oder in die Lesebibliotheken – stehle. Dieser fünf und dreißigste und letzte Jahrgang des Göttinger Musenalmanachs erschien nähmlich bereits in der Michaelismesse 1803, und sollte dahmals nicht der letzte seyn. […] Das Büchlein fand […] wenig Käufer, […] so lässt Herr Peter Waldeck dasselbe nun drey Jahre später sein Heil unter einem neuen Titel suchen. Dieses Mittel, auf Strand gerathene Bücher wieder flott zu machen, ist zwar nicht unerhört, aber wir erinnern uns nicht, daß es jemahls sonderlich gerühmt worden wäre. […] Übrigens wünschen wir doch, daß man diese Handelslist nicht strenger richte, als eine Kriegslist.“61 Ungeachtet dieser Kritik wandte Waldeck diese „Handelslist“ 1812 erneut an, als er das oben genannte Taschenbuch für das Jahr 1812 herausgab. Dieses Taschenbuch ist nichts anderes als der im Titelblatt abgeänderte Restbestand der Polyanthea des Jahres 1807. Dass Waldeck auch sonst Schwierigkeiten mit dem Verkauf seiner Bücher hatte, zeigen seine Anzeigen „Herabgesetzte Bücher“ aus dem Jahr 1811, in denen er Preisnachlässe für seine Bücher aus den Jahren 1800 bis 1804 von bis zu 50 Prozent ankündigt, „theils um die manchem Bücherliebhaber in der jetzigen geldarmen Zeit für den Ladenpreis zu schwer fallende Anschaffung derselben zu erleichtern und ihre größere Verbreitung zu befördern, theils um mich der davon gemachten zu starken Auflage einigermaßen zu entschlagen“.62
6. Der Buchmarkt in Münster um 1800 Die weitere Entwicklung des Buchhandels in Münster schildert der zeitgenössische Beobachter Berghaus sehr anschaulich: „Im Jahre 1809 schien Theyssing einen gefährlichen Concurrenten an Coppenrath erhalten zu haben. Coppenrath […] hatte in seinem Hause in der Königstraße einen kleinen Buchhandel betrieben; jetzt eröffnete er mit einem Mal einen großen Buch- und Kunstladen am Prinzipalmarkt […]. Was in Münster unerhört, und in mancher andern großen Stadt Deutschlands damals gewiß auch noch nicht durchweg üblich war, that Coppenrath; […] er stellte an den Fenstern seines großen Ladens neue Bücher und in Kupfer gestochene Bilder aus; […] bei Theyssing sah man die Bücher noch in losen Blättern in Repositorien von gewöhnlichen Eichenbrettern liegen; bei Coppenrath erblickte man elegante Schränke von Mahagoniholz, in denen die gangbarsten Bücher elegant gebunden, oder auch broschiert, standen […]. Bilder und Landkarten […] hatte man bis dahin nur auf dem Send kaufen können, […] jetzt konnte man das Alles bei Coppenrath haben, – doch nicht Alles, sondern nur das Gute und Auserlesene! […] Die Coppenrath’sche Buchhandlung setzte sich bald in der Gunst des Publikums fest und wurde für den 61 62
Uebersicht der neuesten Taschenbücher und Almanache, in: Morgenblatt für gebildete Stände 1 (1807), S. 6. Gleichlautende Anzeige in: Intelligenzblatt Nr. 20 zum Morgenblatt für gebildete Stände 5 (1811), S. 28, und in: Allgemeiner typographischer Monats-Bericht für Teutschland 1 (1811), S. 332 f.
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alternden Theyssing, der sich an die neuen Ideen, welche Coppenrath auf die Bahn brachte, nicht gewöhnen konnte, auch nicht wollte, ein gefährlicher Concurrent im Einzelverkauf. Sie unternahm auch die Herausgabe einer politisch-belletristischen Zeitung unter dem Namen ‚Echo‘, welche Friedrich Raßmann leitete, die aber nicht recht gedeihen wollte.“63 Mit der Einrichtung der Coppenrathschen Buchhandlung 1805 befinden wir uns in der Zeit nach der Französischen Revolution. Münsters Verlage zeigten sich von diesem politischen Ereignis nicht unberührt. Bei Franz Platvoet erschien 1796 von Johann Wilhelm Hermanni Ueber Menschen-, Bürger- und Regentenrechte und Pflichten wie auch über Freyheit und Gleichheit, bei Aschendorff im gleichen Jahr anonym Die französische Volksempörung und 1798 Dominicus Athanasius Guilleaumes Blick auf die französischen Staatsumwälzung oder Beweise, daß die Französische Revolution eine Frucht der heutigen Philosophie ist, ein Werk, das sich dem Konflikt der Revolution mit der Kirche widmete. Peter Waldeck verlegte seit 1804 François Emmanuel Toulongeon Geschichte von Frankreich seit der Revolution von 1789 in fünf Bänden. Wie die Begegnung mit der Französischen Revolution das Kaufverhalten der Münsteraner beeinflusste, lässt sich wieder am Theisssingschen Kundenkreditbuch ablesen.64 Es fehlte keineswegs an Interesse am Geschehen: die Skala der Autorennamen und Zeitschriftentitel ist breit. Es überrascht nicht, dass die kritisch-gemäßigten und konservativen Stimmen die revolutionsbegeisterten übertrafen. Dabei war die Marseillaise auch in Münster gesungen worden.65 Die Werke von Edmund Burke, Ernst Brandes, August Wilhelm Rehberg, Johann Gottfried Eichhorn und Friedrich Schulz über die Revolution,66 vor allem Abbé Augustin Barruels Memoiren über das Jakobinertum, waren häufig gekaufte Titel. Mit einer Neuausgabe des Barruel begann Waldeck seine Verlegertätigkeit.67 Die Werke der revolutionsbegeisterten Johann Heinrich Campe, Johann Friedrich Reichardt oder Gerhard Anton von Halem68 standen zwar im Angebot, fanden aber nur wenige 63 64
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Berghaus, Wallfahrt, S. 10–12. Entgegen der Aussage von Berghaus ist die Coppenrathsche Buchhandlung nicht 1809, sondern 1805 eingerichtet worden; dazu Drüll, Verlag. Zum folgenden Monika Lahrkamp, Münster in napoleonischer Zeit (1800–1815), Münster 1975, S. 14–16; Hans Erich Bödeker, Livres pour et contre la Révolution Française. La clientèle du libraire de Münster Theissing entre 1790 et 1800, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 1 (1991), S. 139–153. Johann Hermann Hüffer, Lebenserinnerungen. Briefe und Aktenstücke, Münster 1952, S. 42. Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution. Nach dem Englischen […] bearb. von Friedrich Gentz, 2 Teile, Berlin 1793; Ernst Brandes, Politische Betrachtungen über die Französische Revolution, Jena 1790; August Wilhelm Rehberg, Untersuchungen über die Französische Revolution, Osnabrück 1793; Johann Gottfried Eichhorn, Die Französische Revolution in einer Übersicht, 2 Bde., Göttingen 1797; Friedrich Schulz, Geschichte der großen Revolution in Frankreich, Berlin 1790. Augustin Barruel, Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jacobinismus, 4 Bde., Münster 1800–1803. Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution, geschrieben 1790, Braunschweig 1790; Johann Friedrich Reichardt, Vertraute Briefe über Frankreich, auf einer Reise geschrieben 1792, 2 Bde., Berlin 1792/93; Gerhard Anton von Halem, Bli-
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Käufer. Man hat sie wohl bei Theissing und Waldeck eher ausgeliehen als gekauft; dort standen sie in den Leihbibliotheken bereit. Das gleiche gilt auch für Johann Gottlieb Fichtes Beiträge […] über die Französische Revolution von 1793. Die besten Informationsmittel über die Revolution und ihre Folgen waren Zeitungen und Zeitschriften.69 In Münster wurden Schlözers Statsanzeigen abonniert (acht Abonnenten), außerdem die Berlinische Monatsschrift, die Aufklärungszeitschrift par excellence, oder die Minerva: ein Journal für Geschichte, Politik und Literatur (drei Abonennten) des Johann von Archenholtz, deren Ziel es war, deutschen Lesern möglichst objektive Informationen über die Französische Revolution zu liefern. Allerdings fanden diese Journale keinen Abnehmer im ‚Kreis von Münster‘. Dessen Mitglieder bezogen ihre Kenntnisse eher aus antirevolutionären und konservativen Blättern, aus dem Revolutionsalmanach des Heinrich Ottokar Reichard, von dem in Münster etwa 150 Exemplare verkauft wurden und aus der Eudämonia. Ein Journal für Freunde von Wahrheit und Recht. Christian Gritanners Historische Nachrichten und politische Betrachtungen über die Französische Revolution und das Hamburgische Politische Journal von Gottlob Benedikt von Schirach waren die bevorzugten Blätter. Durch das vielfältige Angebot fehlte es dem münsterischen Lesepublikum jedoch nicht an Möglichkeiten, sich objektiv über die Ereignisse zu informieren. Die Zeit nach der Französischen Revolution ist die Zeit, in der die Leihbibliotheken auch in Münster immer mehr in das Visier der Obrigkeit gerieten. Sie hatten eine große Bedeutung für die Distribution und Rezeption literarischer und wissenschaftlicher Werke und für die Schaffung einer literarischen Öffentlichkeit gewonnen. Diese Art von Literaturvermittlung unterlag Zensurverordnungen. Wenn also Werke von Wieland usw. wie in Würzburg fehlten, musste das nicht unbedingt an mangelnder Nachfrage, sondern konnte auch am Vorgehen der Zensur liegen.70 1798 wurde Fürstenberg durch Zufall auf die von der Polizei in Münster nicht genehmigte Leihbibliothek des Weinhändlers Bernhard Claessen aufmerksam, deren Schließung er nach langer Auseinandersetzung 1802 durchsetzte, aber nicht weil er sich
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cke auf einen Teil Deutschlands, der Schweiz und Frankreichs bei einer Reise vom Jahre 1790, 2 Bde., Hamburg 1791. Zum folgenden (insbesondere zu den Zahlen) Bödeker, Livres, S. 147. Das Thema Zensur ist seit geraumer Zeit ein bevorzugtes Forschungsfeld und war vielfach Gegenstand wissenschaftlicher Kongresse. Genannt seien hier beispielhaft entsprechende Veröffentlichungen zu diesen Tagungen: 1985 in Wolfenbüttel: Herbert G. Göpfert (Hg.), „Unmoralisch an sich …“. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1988; 2000 in Frankfurt: Hubert Wolf (Hg.), Inquisition, Index, Zensur. Wissenskulturen der Neuzeit im Widerstreit, Paderborn u. a. 2001, 2. erw. Aufl. 2003; 2002 in Wolfenbüttel: Wilhelm Haefs und York-Gothart Mix (Hg.), Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis, Göttingen 2007; 2005 in Münster: Hubert Wolf (Hg.), Verbotene Bücher. Zur Geschichte des Index im 18. und 19. Jahrhundert, Paderborn u. a. 2008; 2009 in Münster: ders. (Hg.), Inquisition und Buchzensur im Zeitalter der Aufklärung, Paderborn u. a. 2011; 2009 in Mainz: Ludolf Pelizaeus und Franz Stephan Pelgen (Hg.), Kontrolle und Nutzung – Medien in geistlichen Gebieten Europas 1680–1800, Frankfurt/M. u. a. 2011. Die folgenden Aussagen sind der Versuch, die Zensurpraxis in Münster zur Zeit Fürstenbergs bei aller Vorläufigkeit in diese Forschungen einzuordnen. Prof. Dr. Alwin Hanschmidt danke ich für manchen Hinweis.
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gegen eine Leihbibliothek als solche wandte, sondern weil Claessen eindeutig gegen die ihm gemachten Auflagen verstieß.71 Es war also keine Zensur gegen die Institution, sondern eine Kontrolle des Buchangebots: „Wenn eine wohl eingerichtete Leihbibliothek zu Münster sich erhalten kann, so kann sie Gutes stiften, so wie die Claessensche viel Böses gestiftet hat“, formulierte Fürstenberg.72 Böses hatte Claessen dadurch gestiftet, dass er Bücher, die als sittlich verwerflich eingestuft wurden, unter das Volk brachte und dies auch auf eine entsprechende Auforderung hin nicht unterließ, vor allem Romane, deren „Lektüre keinen soliden Nutzen verbreitet“ (so Fürstenberg),73 welche die Phantasie reizen, die Moral verderben und die Selbständigkeit des Verstandes blockieren, Romane etwa wie Voltaires Das Mädchen von Orleans. Dass Heinses Roman Ardinghello und die glückseeligen Inseln Fürstenbergs Missfallen fand, mag politische Gründe haben, wird darin doch die Demokratie als ideale Herrschaftsform gepriesen. Später im Jahr 1802 wollte Fürstenberg allerdings auch Bücher wie Herders Älteste Urkunde der Menschengeschichte (1774–1776), Friedrich Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 (1783–1796), Goethes Neue Schriften (1792–1800), Wielands Gedichte (1777–1779 oder 1784–1787) und andere aus den Leihbibliotheken entfernt wissen, weil sie antiklerikale Äußerungen enthielten. Er stieß damit allerdings auf heftige Kritik des Freiherrn vom Stein.74 Bis zur Affaire Claessen fand in Münster Zensur so gut wie nicht statt. Das war jedenfalls der Schluss, den Fürstenberg selbst 1799 in einem Schreiben an Kurfürst Maximilian Franz zog, der einen Bericht über den Stand der Zensur eingefordert hatte. Diese Anordnung war für Fürstenberg Anlass, in einer Denkschrift einen Zensurplan zu entwickeln, in den im Gegensatz zu früher auch Leihbibliotheken eingebunden werden sollten.75 Hinsichtlich der Leihbibliotheken ging er ganz realistisch davon aus, dass sie vor allem kommerzielle Absichten verfolgten. Aus volkspädagogischen Gründen hielt er eine Kontrolle und Zensur des Buchbestandes anhand der Ausleihkataloge für notwendig, nicht aber ein Vorgehen gegen die Institution als solche. Insbesondere die Romanleserei war immer als Flucht in illusionäre Gegenwelten gesehen worden, als Angriff auf bestehende Normen, sie müsse kontrolliert und gesteuert werden. Diese Steuerung könne durch ein Angebot guter Literatur erfolgen, auf die die Leihbibliotheken verpflichtet werden sollten, also durch die „Beförderung eines von der Obrigkeit favorisierten Lektürekanons“.76 Das be71
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Zur Affaire Claessens und die Schließung seiner Leihbibliothek Plachta Literaturvermittlung; ders., Damnantur – Toleratur – Admittitur. Studien und Dokumente zur literarischen Zensur im 18. Jahrhundert, Tübingen 1994, S. 192 und 202 f.; Metz, Lese Bibliotheken. Zitat bei Metz, Lese Bibliotheken, S. 103. Zitat ebd., S. 97. Dazu Trunz, Goethe, S. 351 f., und Plachta, Literaturvermittlung, S. 121 f.; Steins Schreiben ist gedruckt bei Alfred Hartlieb von Wallthor, Fürstenberg und Stein, in: Westfalen 39 (1961), S. 76–84, hier S. 82. Dazu Schlögl, Glaube und Religion, S. 77 f. Plachta, Literaturvermittlung, S. 120.
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deutete für den Leser eine Einschränkung seiner Lektürewahl. Die Leihbibliothekare waren immer darauf bedacht, den Wünschen ihres Publikums nachzukommen und aus ökonomischen Gründen ihren Leserkreis zu erweitern. In Münster war es ihnen dabei gelungen, geschickt die Freiräume zu nutzen, die ihnen die Zensur unter Fürstenberg zugestanden hat. Claessens Behauptung, er habe die beanstandeten Bücher nicht an Einheimische, sondern an Fremde ausgeliehen, zeugt von seiner Unerschrockenheit gegenüber der Behörde. Fürstenberg hat dies offensichtlich in Kauf genommen, vielleicht in der Annahme, durch die Leihbibliotheken eine breitere Leserschicht an ‚gute‘ Literatur heranführen zu können. Angesichts der damals recht hohen Bücherpreise hat Fürstenberg diese Möglichkeit durchaus richtig eingeschätzt. Trotz Vorbehalten gegen die Literaturvermittlung durch Leihbibliotheken ist sein Vorgehen geprägt von wirtschaftlichen Überlegungen, nicht um jeden Preis das Geschäft des Buchgewerbes zu behindern. Hätte er anders entschieden, hätte er auch die Sortimentskataloge der Buchhändler gleichermaßen kontrollieren müssen, die bisher nicht erfasst worden waren. Es galt für Fürstenberg, im Fall der Leihbibliothek Claessens nicht mehr als nötig in den Konkurrenzkampf des Buchgewerbes in Münster einzugreifen. Mit Fürstenbergs Entscheidung erweist sich das Fürstentum Münster als liberaler als etwa Österreich nach Joseph II. oder Bayern, wo Leihbibliotheken ganz allgemein verboten worden waren. Unter der französischen Herrschaft wurden die Zensurmaßnahmen wesentlich strenger gehandhabt. Das erlebten der Verleger Peter Waldeck und der Professor Johann Hyacinth Kistemaker im Jahr 1811.77 Bei beiden fand eine Hausdurchsuchung der französischen Geheimpolizei statt. Kistemaker musste sich wegen seiner Schrift Exegetische Abhandlungen über Matth. XVI, 18–19 und XIX, 3–12 oder über den Primat Petri und das Eheband (Göttingen 1806) verantworten, bei dem die Behörden ultramontane Tendenzen zu erkennen glaubten, weil darin angeblich vom Recht des Papstes, Kaiser und Könige zu entthronen, die Rede sei. Bei Waldeck beschlagnahmte die Behörde die kleine unbedeutende Broschüre Dürfen wir uns schämen, Deutsche zu sein? (1810) eines gewissen Friedrich von Wrede, der darin mit nationalem Stolz auf Deutschlands Vergangenheit blickte. Beide Bücher stellten durchaus keine Gefährdung für die französische Herrschaft dar. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass ausgerechnet der Verlag Waldeck Ziel dieser Polizeiaktion war; war er es doch gerade, der im gleichen Jahr 1810 eine juristische Untersuchung „nach Anleitung des Napoleonischen Gesetzbuches“ herausbrachte78 und darin im Anhang mehr als 50 französischsprachige Titel zum Code Napoléon als 77
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Karl d’Ester, Zur Geschichte der Zensur in Westfalen während der französischen Herrschaft, in: Dortmundisches Magazin 1 (1909), S. 80–83; Lahrkamp, Münster, S. 227. Kistemaker selbst berichtet über die Hausdurchsuchung und das anschließende Prüfungsverfahren der Franzosen an einer abgelegenen Stelle: Johann Hyacinth Kistemaker, Canticum Canticorum illustratum ex Hierographia Orientalium, Münster 1818, S. VII–XII (in lateinischer Sprache). Reinhard Friedrich Terlinden, Systematische Darstellung der Rechtslehre von der Gemeinschaft der Güter unter Eheleuten nach Anleitung des Napoleonischen Gesetzbuches, Münster 1810.
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lieferbar ankündigte. Waldeck war also gerade im Begriff, sein Sortiment an der neuen französischen Gesetzgebung in Münster auszurichten. Beide Maßnahmen zeigen, wie nervös die französischen Behörden reagierten, wenn sie Franzosenfeindlichkeit vermuteten, machen aber gleichzeitig deutlich, dass im Gegensatz dazu das aufgelöste frühere Fürstentum „durchaus nicht so intolerant und rückständig war, wie dies später von den territorialen Gewinnern der Säkularisation – nicht zuletzt zur Legitimierung ihrer Annexion der geistlichen Staaten – behauptet wurde“.79
7. Fürstenberg und die „libri prohibiti“ Ein Blick auf die „libri prohibiti“ in der Bibliothek Fürstenbergs vermittelt einen Eindruck von der Lesegewohnheit eines geistlichen Herrn, der als verantwortlicher Minister die staatliche Erneuerung des Fürstbistums Münster mit einer Neuorientierung des geistigen Lebens verband. Wie in allen katholischen Territorien galten auch in Münster die Vorschriften der römisch-katholischen Buchzensur. Man richtete sich nach dem Index librorum prohibitorum. Fürstenberg erteilte im Jahr 1780 Anton Matthias Sprickmann die erbetene Indexerlaubnis zur Lektüre der LutherBibel.80 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich Perrenon im katholischen Münster bereits 1773 nicht scheute, Luthers Kleinen Katechismus für Kinder zu verlegen.81 Es ist dies „ein Zeichen geistiger Aufgeschlossenheit, die die frühe Zeit des ‚Kreises von Münster‘ so sympathisch erscheinen lässt“.82 Münsters Bürger hatten auch später durchaus die Möglichkeit, Luthers Bibelübersetzung und seinen Katechismus neben Schriften anderer protestantischer Theologen wie Johann Friedrich Kleuker, Johann Kaspar Lavater oder Friedrich Schleiermacher zu lesen und zu erwerben.83 Fürstenberg besaß Bücher, die auf dem kirchlichen Index standen. Er hat in den Jahren 1805 bis 1807 drei Verfügungen verfasst, aus denen hervorgeht, dass er sich um die Nutzung dieser Bände nach seinem Tod sorgte.84 „Meine Bibliothec enthaltet 79 80 81
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Metz, Lese Bibliotheken, S. 103. Sudhof, Aufklärung, S. 63. Siehe Perrenons „Verzeichniß einiger vom Verleger dieses selbst gedruckten Bücher“, in: Friedrich Christian Müller, Beschreibung einer neuen und vollkommene Art, Plans aufzunehmen, und zu verzeichnen, Frankfurt und Leipzig 1775, S. [117]. Bisher konnte allerdings kein Exemplar des Katechismus ausfindig gemacht werden. Sudhof, Aufklärung, S. 121. Theologisch-religiöse Handbibliothek oder Verzeichnis von älteren und neueren Schriften aus dem Gebiete der Theologie, Religion und Moral, welche […] bey Peter Waldeck […] zu bekommen sind. Nro. I. Bis und mit Ende 1807, Münster 1808, S. 17, 25, 49, 53, 54 und 82 (ULB Münster). In diesem Verzeichnis sind die protestantischen Verfasser mit einem * gekennzeichnet. BAMs, Nachlass Fürstenberg Nr. 222 (Depositum). Die drei Verfügungen sind Nachträge zu einem undatierten „Codicill“, das viele Legationen Fürstenbergs enthält. Den Hinweis auf diese Quelle gab mir Prof. Dr. Alwin Hanschmidt, dem ich an dieser Stelle herzlich danke.
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eine quantitas verbotener bücher[;] sollte ich durch den Todt übereilt, dieselbe nicht reinigen können, so belaste ich meine Herren Erben dieselbe gleich in Verschläge einpacken zu laßen [am Rand: oder in ein verschloßenes Zimmer einzusperren] und sorge zu tragen, daß dieselbe gereiniget werde und die gefährlichen bücher in niemands händen kommen, welchem diese bücher zu lesen nicht erlaubt. Ich bitte hierüber meine Herren Erben sehr um Verzeichnung[;] die gegenwärtige umstände machen diese Vorsorge an welche ich zu späth gedacht habe nothwendig“ (4. August 1805). In der zweiten Verfügung vom 2. November 1807 heißt es: „Wegen meiner Bibliothec ersuche ich des Herrn Bischofs, Freyherrn von Droste Hochwürden85 mit Zuziehung des Herrn Professors Kistenmaker [sic!] alle Sorge zu tragen, damit, wenn in meiner Büchersammlung sich noch verbotene, oder doch gefährliche Bücher finden sollten, dieselbe daraus weggenommen, verbrannt, oder doch solchen Männern überliefert werden, die zu deren Aufbewahrung Erlaubnis haben.“ In einer dritten undatierten Anweisung „Instruction wegen meiner Bücher“ von fremder Hand werden insgesamt nur 26 Titel gefährlicher und verbotener Bücher aufgelistet.86 Dabei wird unterschieden nach Titeln, die „beyseite zu legen“ sind, das heißt die vernichtet werden sollen, nach solchen, von denen Fürstenberg nicht zu bestimmen wagte, ob sie „beyseite zu schaffen“ seien, und nach denjenigen, die ihm zu unbekannt sind, um darüber zu urteilen. Rousseaus Confessions, Diderots Œuvres, Hobbes Elementa Philosophica de cive, die Hauptwerke des evangelischen Theologen und „enfant terrible der deutschen Aufklärungstheologie“ Carl Friedrich Bahrdt87 sowie die Predigt über die falsche Lehre von ewigen Höllenstrafen von Johann Heinrich Schulz sollten vernichtet werden. Was mit den Schriften aus dem Umfeld der Encyclopédie Diderots, mit Schriften von Montesquieu und Machiavelli, mit dem Nothanker von Nicolai und dem Agathon von Wieland geschehen sollte, wollte Fürstenberg nicht entscheiden. Einen Teil dieser Bände hat Fürstenberg – wie aus seinen späteren Randbemerkungen hervorgeht – Kistemaker „à discretion“ zugeschickt. Machiavellis Opera und Montesquieus Lettres persannes wollte er dagegen noch behalten. Die „Libri prohibiti“ in der Bibliothek Fürstenbergs bestätigen die erwähnte Feststellung: „Es gehörte zur Toleranz der Aufklärungszeit, daß sich auch ein Domherr dem neuen, selbst antiklerikalen Schrifttum keineswegs verschloß.“88
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Caspar Maximilian Droste zu Vischering (1770–1846), von 1795 bis 1825 Weihbischof, von 1826–1846 Bischof von Münster. Die geringe Zahl der Titel überrascht, da Fürstenberg eine umfangreiche Arbeitsbibliothek besessen hat, die neben Pferden „sein einziger Luxus“ war: Trunz, Fürstenberg, S. 33. Teile der Bibliothek haben sich in der Bibliothek Fürstenberg-Stammheim in der ULB Münster erhalten, dazu Bertram Haller, Die Bibliothek Fürstenberg-Stammheim, in: Helga Oesterreich u. a. (Hg.), Bibliothek in vier Jahrhunderten. Jesuitenbibliothek – Bibliotheca Paulina – Universitätsbibliothek in Münster 1588–1988, Münster 1988, S. 165–194. Friedrich Wilhelm Bautz, Carl Friedrich Bahrdt, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 1 (1990), Sp. 346 f. (elektronische Ressource). Sudhof, Aufklärung, S. 93.
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Reform aus Überzeugung Franz von Fürstenberg und das Elementarschulwesen Das Schulwesen des 18. Jahrhunderts, das man auch als das ‚pädagogische Jahrhundert‘ bezeichnet hat, ist seit langem ein prominentes Forschungsfeld für Historiker, Pädagogen und Wissenschaftler anderer Fachrichtungen,1 wovon zahlreiche übergreifende Darstellungen sowie Lokalstudien zeugen. Auch das Schulwesen des Fürstbistums Münster, welches am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem mit den Namen Franz von Fürstenberg und Bernard Heinrich Overberg verbunden wird, ist bereits mehrfach Gegenstand der Forschung gewesen.2 Dieser Beitrag kann und will demnach keine völlig neuen Erkenntnisse präsentieren, sondern die bereits gemachten Beobachtungen durch Hinzunahme weiterer, bisher weniger auf diese Thematik bezogener Quellen um einige Facetten erweitern. Der Fokus dieser Ausführungen liegt auf dem Charakter des beruflichen und persönlichen Engagements des Ministers und Generalvikars Franz von Fürstenberg (1729–1810) bezüglich des niederen Schulwesens. Unbestritten hat sich dieser 1
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Nur beispielhaft herausgehoben aus der Masse der Veröffentlichungen seien hier einige Werke genannt: Wolfgang Schmale und Nan L. Dodde (Hg.), Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung 1750–1825. Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte, Bochum 1991; Heinz-Elmar Tenorth, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, 5. Aufl. Weinheim und München 2010; Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert, München 2005; Heinz Schilling und Stefan Ehrenpreis (Hg.), Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel, Münster u. a. 2003. Eine gute knappe Zusammenfassung über Alphabetisierung sowie Leistungen und Grenzen von Schulpolitik und Schulreformen im 18. Jahrhundert bietet auch Ernst Hinrichs, Alphabetisierung. Lesen und Schreiben, in: Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln u. a. 2004, S. 539–561, hier S. 549–554. Siehe beispielsweise die Beiträge in Alwin Hanschmidt (Hg.), Elementarschulverhältnisse im Niederstift Münster im 18. Jahrhundert. Die Schulvisitationsprotokolle Bernard Overbergs für die Ämter Meppen, Cloppenburg und Vechta 1783/84, Münster 2000; ders., Auswirkungen der „Katholischen Aufklärung“ auf Schule und Bildung im Niederstift Münster, in: Michael Hirschfeld (Hg.), Das Niederstift Münster an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, Cloppenburg 2004, S. 43–60; Clemens Menze (Hg.), „Katholische Pädagogik“ oder „Katholische Christen als Pädagogen“, Münster 1989, hier vor allem der Aufsatz von Hubert Steinhaus, Schulreform aus dem Geist katholischer Aufklärung: Bernard Overberg (1754–1826) im Dienste des Generalvikars Franz von Fürstenberg (1729–1810), S. 3–24; Franz Bölsker und Joachim Kuropka (Hg.), Westfälisches aus acht Jahrhunderten zwischen Siegen und Friesoythe – Meppen und Reval. Festschrift für Alwin Hanschmidt zum 70. Geburtstag, Münster 2007.
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für die Verbesserung des Landschulwesens vor allem während seiner Amtszeit als Generalvikar eingesetzt. Doch wie weit ging dieses Engagement, war es persönlich motiviert? Inwieweit war Fürstenberg als agierende Person in das Geschehen einbezogen – delegierte er nur oder schritt er tatkräftig selbst zur Sache? Befasste er sich mit dem Elementarschulwesen, weil er darin eine Verpflichtung sah, der er im Sinne eines Aufgabenkataloges nachzukommen hatte? Oder handelte er aus tiefer Überzeugung für die Sache? Um über diese Fragen Aufschluss zu erhalten, werden vor allem Selbstzeugnisse herangezogen. Neben seiner schriftstellerischen Aktivität zählt seine bisher in der Forschung vernachlässigte Tätigkeit als Archidiakon dazu. Inwiefern er sich mit den zeitgenössischen wissenschaftlichen Überlegungen zum Elementarschulwesen auseinandersetzte, soll sein Bibliotheksbestand zu klären helfen, ebenso wie ein Blick in die Briefe an Amalia von Gallitzin.
1. Ausgangssituation und Handlungsrahmen Zwar hatten die Fürstbischöfe Münsters vereinzelt – wie beispielsweise Christoph Bernhard von Galen in seinen Kirchen- und Schulordnungen –3 schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Schulordnungen und Edikte das Landschulwesen betreffend erlassen, an einer Verbesserung wurde jedoch nicht kontinuierlich gearbeitet. Dies änderte sich erst mit den 1770er Jahren, als sich zunächst die Landstände den Verhältnissen in den Landschulen zuwandten und in dem Minister und Generalvikar Franz von Fürstenberg, welcher sich auch um die Errichtung der Universität und um die Schulordnung des Gymnasiums verdient gemacht hat, einen Befürworter und Unterstützer ihres Anliegens fanden.4 Um 1770 wurden zumindest einzel3
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Ein erster Aufschwung der Elementarschulen auf dem Lande ist den Bestrebungen Bischof Christoph Bernhards von Galen zu verdanken. Dieser erließ 1674 für die Ämter Cloppenburg und Vechta, nachdem 1668 auch die geistliche Jurisdiktion über das Niederstift Münster (d. h. die Ämter Meppen, Cloppenburg und Vechta) auf die Bischöfe von Münster übertragen worden war, eine Verordnung für das Schulwesen. Ein Jahr später wurde eine Kirchen- und Schulordnung für das Oberstift übernommen, vgl. den Text bei Alois Schröer (Hg.), Die Pastoralbriefe des Münsterer Fürstbischofs Christoph Bernhard von Galen (1650–1678), Münster 1998, Nr. 38, S. 297 f. Vgl. zur Rolle der 1693 und 1739 wiederholten Kirchen- und Schulordnungen im Prozess der Konfessionalisierung Andreas Holzem, Der Konfessionsstaat. 1555–1802, Münster 1998, S. 113. Deutschunterricht, Schulpflicht für Mädchen, Unterrichtung der Mädchen durch Lehrerinnen, Eignungsprüfungen und Sicherung des Einkommens der Lehrer waren Punkte dieses Erlasses. Zu den Verhältnissen im Fürstbistum Münster und den weiteren Tätigkeitsfeldern Fürstenbergs siehe den zusammenfassenden Aufsatz von Alwin Hanschmidt, Das Fürstbistum Münster im Zeitalter der Aufklärung. Die Ära Fürstenberg, in: Westfalen 83 (2005), S. 62–79; zu Fürstenberg vgl. Friedrich Keinemann, Franz Friedrich Wilhelm von Fürstenberg, in: Norbert Andernach u. a. (Bearb.), Fürstenbergsche Geschichte, Bd. 4: Die Geschichte des Geschlechtes von Fürstenberg im 18. Jahrhundert, Münster 1979, S. 101–224; Alwin Hanschmidt, Franz von Fürstenberg als Staatsmann.
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ne Pfarrer befragt und aufgefordert, über die Zustände in den örtlichen Schulen zu berichten und zugleich Verbesserungsvorschläge einzureichen.5 Auch wurde schon 1772 eine Schulerhebung in allen Ämtern des Hochstifts angeordnet, welche zeigte, dass ein großer Teil der ländlichen Schullehrer die Fähigkeiten zu diesem Amt gar nicht besaß.6 Fürstenberg selbst konnte sich aber vor allem seit dem Spätsommer des Jahres 1780 intensiver dem Bildungswesen auf dem Land widmen, da er infolge seiner missglückten Kandidatur als Koadjutor sein Ministeramt niederlegen musste. Das Amt des Generalvikars und die Aufsicht über das Schulwesen behielt er auf ausdrücklichen eigenen Wunsch bei, da er, wie er dem Staatsreferendar Adam Franz Wenner mitteilte, meinte, „in diesem Fache nützlich und vielleicht in einem sichern Betracht noethig“7 zu sein. An seinen Bruder schrieb er kurz darauf am 23. Okto-
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Die Politik des münsterschen Ministers, 1762–1780, Münster 1969, und Maria Anna Zumholtz, „Ist nicht der Ackerbau die Seele des Staates?“. Die Rezeption der Elementarschulreformen Franz von Fürstenbergs und Bernard Overbergs im Emsland, in: Bölsker/Kuropka, Westfälisches, S. 277–310, hier bes. S. 281–290. Dass in vielen Territorien des Heiligen Römischen Reiches das Elementarschulwesen nach dem Siebenjährigen Krieg nicht nur in den Blick der um Reformen bemühten Fürsten, sondern auch der Landstände, der staatlichen sowie kirchlichen Behörden und Beamten sowie allgemein lokaler und kirchlicher Institutionen gelangte, hat die jüngere Forschung zur Revision der fürstenzentrierten Sicht veranlasst, wie Alwin Hanschmidt, Schulverordnung – Schulvisitation – Schulkommission – Lehrerprüfung – Normalschule. Die Entstehung der Institutionen der Elementarschulreform im Fürstbistum Münster 1772–1784, in: ders., Elementarschulverhältnisse, S. 152–174, hier S. 152, zusammenfasst. Auf das Fürstbistum Münster bezogen resümiert er, dass die Schulreform, „eingefügt in einen doppelten Dualismus, in ein doppeltes Zusammenwirken, in das strukturelle und funktionale Gegen- und Miteinander von Landesherr und Landständen einerseits und von weltlichen und kirchlichen Instanzen andererseits“, geprägt worden sei, vgl. ebd., S. 163. Ebenso zeigte dies Wolfgang Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen, Berlin 1985, sowie ders. (Hg.), Schule und Absolutismus in Preußen, Akten zum preußischen Elementarschulwesen bis 1806, Berlin 1992. Die Nachfrage nach kulturellen Angeboten im Dorf seitens der Bewohner führte auch aus Eigeninitiative zu Schulgründungen und darf in der Betrachtung des Elementarschulwesens nicht vernachlässigt werden, vgl. ders., Kultureller Lokalismus und schulische Praxis. Katholisches und protestantisches Elementarschulwesen im 17. und 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, in: Peter Claus Hartmann (Hg.), Religion und Kultur im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2004, S. 385–408, hier S. 386. Vgl. dazu und zur Stellungnahme des Langfördener Pfarrers Hoyng: Alwin Hanschmidt, „Verbesserung der deutschen Landschulen“. Vorschläge des Langfördener Pfarrers Bernard Sigismund Hoyng (1771), in: Oldenburger Jahrbuch 96 (1996), S. 87– 97, hier S. 88. Im Nachlass Fürstenbergs befinden sich weitere Briefe Hoyngs, der ein guter Freund Bernard Overbergs war und Zeit seines Lebens für die Verbesserung des Landschulwesens arbeitete. Vgl. ebd., S. 89. Hanschmidt, Fürstbistum Münster, S. 76. Wilhelm Esser, Franz von Fürstenberg. Dessen Leben und Wirken nebst seinen Schriften über Erziehung und Unterricht, Münster 1842, S. 138. Der Meinung war auch Kurfürst Maximilian Friedrich, denn er schrieb am 17. September 1780: „So viel aber das General-Vicariat und die Direction des dasigen schulweesens betrifft (: als welche mit besagtem Ministerio nicht unmittelbar verbunden sind:) ist Unsere Gnädigste intenti-
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ber 1780 einen Brief, in dem sich einer seiner bekanntesten Aussprüche findet: „Ich werde jetzt meine ganze Achtsamkeit auf das Geistliche, auf die Erziehungs- und vielleicht auch die Medizinal-Anstaltung verwenden. Menschen bilden bleibt allezeit die wichtigste Staatsangelegenheit.“8 Dies zeigt nicht nur die Priorität, die er der (Aus-)Bildung der Bevölkerung zumaß, sondern auch die Breite, in der er sich dies wünschte. 1782 wurde zunächst eine Provisional-Verordnung9 für das Landschulwesen erlassen, welche 1788 erweitert und im Jahr 1801 schließlich in der Verordnung für die Deutschen- und Trivial-Schulen des Hochstifts Münster in ihrer endgültigen Form verabschiedet wurde. Eine weitere Maßnahme zum Aufbau und zur Festigung des Elementarschulwesens war 1783 die Gründung einer Landschulkommission unter Fürstenbergs Vorsitz. Als vielleicht wichtigste Komponenten fehlten aber noch die in der Provisional-Verordnung vorgesehene Bildungseinrichtung für Lehrer und zudem allgemeingültige und anerkannte Lehrbücher, mit denen diese arbeiten konnten. Die Bürde der Erarbeitung von Lehrbüchern und der Leitung der Normalschule10 konnte Fürstenberg nicht alleine tragen, und so suchte er einen fähigen Mann, dem er diese wichtigen Aufgaben anvertrauen konnte. Er fand ihn 1783 in dem Kaplan Bernard Heinrich Overberg (1754–1826),11 dessen Qualitäten und Fähigkeiten er schon aus dessen Studium kannte und den er nicht, wie man häufig zu wissen glaubte, erst bei einem unangemeldeten Besuch während einer seiner Katechismusstunden in Everswinkel traf und wenig später einstellte. Um den Status quo der Schulen auf dem Land zu ermitteln und aus diesen Erfahrungen das geeignete Konzept für die Verbesserungen zu entwickeln, folgte zu-
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on, und versehen Wir Uns zu eüch Gnädigst, daß ihr, mittels Vollziehung der dahin gehörigen Verrichtungen, fernere erspriesliche diente zu leisten fortfahren werdet.“ Vgl. Siegfried Sudhof (Hg.), Der Kreis von Münster. Briefe und Aufzeichnungen Fürstenbergs, der Fürstin Gallitzin und ihrer Freunde, Münster 1962/64, Teil 1.1, Nr. 95, S. 81. Ebd., Nr. 101, S. 87. Der Staatsreferendar Adam Franz Wenner, der am kurfürstlichen Hof in Bonn die münsterischen Angelegenheiten betreute, führte dies betreffend mit Generalvikar von Fürstenberg einen Briefwechsel, aus dem sich ersehen lässt, dass beide an der Ausarbeitung der Entwürfe für die Provisionalschulverordnung maßgeblich beteiligt waren. Vgl. Hanschmidt, Schulverordnung, S. 160–166. Fürstenberg hat in Wenners Entwurf u. a. Nota und Remarquen eingefügt. Nach Alwin Hanschmidt kann man die Normalschule, auch wenn diese nicht von allen katholischen Territorien übernommen wurde, „als den katholischen Typus in der Frühzeit der institutionellen Lehrerausbildung“ bezeichnen, vgl. Hanschmidt, Schulverordnung, S. 154. Zu Overberg siehe als Publikationen neueren Datums: Alwin Hanschmidt, Bernard Overberg und die Reform des Elementarschulwesens im Fürstbistum Münster, in: Meinolf Peters (Hg.), Schulreform im Fürstbistum Münster im ausgehenden 18. Jahrhundert, Ibbenbüren 1992, S. 1–44, und Karl Josef Lesch, Reformer aus christlicher Verantwortung. Eine theologiegeschichtliche Würdigung Bernard Overbergs, in: Bölsker/Kuropka, Westfälisches, S. 251–276.
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nächst eine Visitation des Niederstifts Münster durch Overberg.12 Dabei zeigten sich als Hauptprobleme die defizitäre und ungeregelte Ausbildung sowie die geringe und unregelmäßige Bezahlung der Lehrer, die das Schulamt wenig attraktiv machten.13 Angriffspunkte waren demnach insbesondere die Hebung des Ansehens des Lehrerstandes durch eine angemessene Besoldung und die Professionalisierung der Lehrer durch einen geregelten Ausbildungsunterricht, verbunden mit einer zentralisierten Abschlussprüfung. Diese Mängel wurden durch die Errichtung der Normalschule, durch regelmäßige Prüfungen der Lehrer und Zahlung von Zulagen aus Landes- und Kirchspielsmitteln behoben. Die oben erwähnten Schulordnungen mit ihren Bestimmungen, beispielsweise der Visitations- und Berichterstattungspflicht der Pfarrer, kamen der Entwicklung entgegen. Weiterhin leisteten die Lehrbücher, welche Overberg verfasste – etwa die Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterricht für die Schullehrer im Hochstift Münster (1793) – und welche jeder Schule auf Landeskosten zugestellt wurde, einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Situation.14
2. Der Briefwechsel mit Amalia von Gallitzin Die Briefe, welche sich Franz von Fürstenberg und Amalia von Gallitzin über die Jahre ihrer Freundschaft hinweg gegenseitig schrieben, geben einen Einblick in das Denken und Fühlen des Generalvikars. Wenn die Sorge um das Elementarschulwesen bei Fürstenberg tief verwurzelt war, dann müssten, so die Annahme, auch im Briefwechsel Spuren dieser Gedanken erkennbar sein. In der Universitäts- und Landesbibliothek Münster befinden sich nahezu alle Briefe, die Franz von Fürstenberg der Fürstin Amalia von Gallitzin geschrieben hat.15 Diese beinhalten philosophische Reflexionen, thematisieren religiöse Vervollkommnung, aber sie handeln auch vom Tagesgeschäft der beiden Briefpartner. Hin12 13 14 15
Vgl. zu dieser Visitation die Beiträge in Hanschmidt, Elementarschulverhältnisse. Dieser Band enthält neben den Beiträgen auch die Edition der Schulvisitationsprotokolle und dazugehöriger Dokumente. Vgl. diese Einschätzung der „Hauptübel“ der Unprofessionalität der Schulmeister und deren unzureichender Alimentierung bei Hubert Steinhaus, Die Reform des niederen Schulwesens im Fürstbistum Münster, in: ebd., S. 175–185, hier S. 176. Sie wurden auch den Schullehrern im Fürstbistum Osnabrück in die Hand gegeben, welche sie aber vergleichsweise wenig benutzten, vgl. Hanschmidt, Schulreform, S. 150 Anm. 59. Eine große Fülle von Briefen, die innerhalb des ‚Kreises von Münster‘, dessen Hauptakteure u. a. Fürstenberg und Amalia von Gallitzin waren, ist in den zwei Teilbänden von Siegfried Sudhof gesammelt (Sudhof, Kreis). Der Nachlass der Fürstin von Gallitzin, welcher darüber hinaus hunderte von Briefen Franz von Fürstenbergs an die Fürstin enthält, befindet sich in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Die Briefe sind in Kapseln zusammengefasst und werden im Folgenden, sofern daraus entnommen, mit Kapselnummer und – sofern möglich – mit Datum und Ausstellungsort angeführt.
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Abb. 1: Brief Franz von Fürstenbergs an Amalia von Gallitzin, 28. Januar 1790 (ULB Münster)
sichtlich der Erziehung spielt vor allem diejenige der Kinder der Fürstin in dem Briefwechsel eine große Rolle, doch sprechen beide auch das allgemeine Elementar- und Landschulwesen an.16 Die meisten Äußerungen Fürstenbergs hierzu sind nur kleine Anmerkungen und kurze Sätze wie „morgen muß ich noch drey schulen untersuchen“,17 aus denen man seine rastlose Tätigkeit erahnen kann. Einige Aus16
17
So schrieb schon Erich Trunz, Franz Freiherr von Fürstenberg. Seine Persönlichkeit und seine geistige Welt, in: Westfalen 39 (1961), S. 2–44, hier S. 12, Anm. 16: „Viel Material über Fürstenberg und die Schulen befindet sich noch in seinen ungedruckten Aufsätzen und Briefen“ und „Die Briefe enthalten verhältnismäßig wenig über die Umwelt. Gelegentlich Notizen über Sitzungen und Schulvisitationen in Münster und Paderborn oder über die politische Situation.“ Ebd. S. 25. Universitäts- und Landesbibliothek Münster (im Folgenden ULB Ms), Nachlass Gallitzin, Kapsel 7: Paderborn 20.06.1784. Als weitere Beispiele, in denen das Elementarschulwesen beiläufig von Fürstenberg erwähnt wurde, sind beispielsweise folgende Briefe anzuführen: ebd., 20.12.1786 („daß die Schul examina von gestern und vorgestern außgenohmen, ich mit mir unzufrieden bin. Schulen fand ich besser als jemahls“); ebd., Münster 19.03.1787 („jetz gehe ich hin und examinire die 1te Schule“ – wohl die erste Klasse des Gymnasiums); ebd., Paderborn 08.04.1788 („muß ich kurz seyn: dann ich habe wieder fünff stunde prüfung und landtag nacheinander“); ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 8, Münster 28.01.1790 („und nun muß ich in die SchulCommission“, siehe Abb. 1); ebd., Münster 17.08.1791 („Zur disputation und Schulmeister examen, hat der liebe Gott unß kühle gegeben“); ebd., Neuhaus 11.05.1792 („und da ich heute Morgen Schulprüfungen und Landtag habe, dictire ich im Bette“). Die Liste ließe sich um viele Beispiele erweitern, die den hier gebotenen Rahmen überschreiten würden. Nicht
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führungen erlauben aber weitere und tiefere Rückschlüsse darauf, was Fürstenberg konkret unternahm und wie sein diesbezüglicher Einsatz aussah. Dreizehnmal gibt er der Fürstin Auskunft über Prüfungen von Schullehrern durch die Schulkommission und seine Anwesenheit dabei. Die persönliche Präsenz Fürstenbergs bei solchen Prüfungen der Schulkommission, in denen mehrere Lehrer, ja ganze Abschlussklassen gleichzeitig examiniert wurden, ist auch durch weitere Quellen belegt.18 29-mal berichtet er aber von Visitationen einzelner Schulen, bei denen er nicht nur anwesend war, sondern auch persönlichen Einfluss auf die Lehrer ausübte, bei vielen selbst in den Unterricht eingriff und sich teils sogar selber als Lehrer betätigte. Am 1. August 1789 heißt es beispielsweise: „Heute morgen hab ich […] catechisirt. Es mögen wohl schlecht unterrichtete darin seyn, aber so weit ich gefragt habe, waren sie gewis nicht schlecht unterrichtet, und ich habe beobachtet, daß wenige außgenommen, alle übrige mit sehr viel interesse zuhöreten.“19 Die persönliche Anwesenheit bei Lehr- und Schulprüfungen war ihm ein großes Bedürfnis. So schrieb er am 20. September 1792 aus Neuhaus bei Paderborn: „Nur das der Overberg mir Nachricht gebe, wenn das examen der Schulen ist. Mit so viel Psychologie und logic, ists Overberg leicht feldherr und Politiker zu seyn, nur daß er noch etwas im Tactischen Calculo zurück ist, daß wird sich bald geben.“20 Sprachlich zeigt sich einerseits Fürstenbergs Affinität zum Militärischen,21 andererseits gibt diese Aussage auch Hinweise auf einen Charakterzug, welcher ihn zum einen in seiner außergewöhnlichen Hingabe für das Fach auszeichnete, es manchem Zeitgenossen möglicherweise aber auch schwer gemacht haben dürfte, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er wollte bei allem, selbst den kleinsten Schritten, stets informiert und anwesend bzw. an der Entscheidungsfindung beteiligt sein. Der oben als im ‚Taktischen‘ noch zurückhaltend beschriebene Overberg tritt in den Briefen mehrmals in Erscheinung. Größtenteils teilt Fürstenberg Gallitzin nur mit, dass er Overberg wegen diesem oder jenem zu sprechen wünsche. Diesen Kontakt konnte sie deswegen besonders einfach herstellen, weil Overberg seit 1789
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20 21
in allen Fällen lässt sich eindeutig ausmachen, ob es sich um das Elementarschulwesen handelt. In manchen Fällen kann auch das Gymnasialwesen gemeint gewesen sein. So wurden am 23. Mai 1784 sechzehn Schullehrer in Anwesenheit Fürstenbergs geprüft und daraufhin der Zahlung einer monetären Zulage für würdig befunden. Vgl. die „Nachricht von der Normalschule“, Bistumsarchiv Münster, Generalvikariat (im Folgenden BAMs, GV), Schulwesen VIII, A 6c (Ich danke Herrn Prof. Dr. Hanschmidt für diesen Hinweis). ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7, Münster 01.08.1789. Ein weiteres Beispiel für Lehrertätigkeit (wenn auch nicht immer im Bereich des Elementarschulwesens) ist: „J’ai examiné la classe de M. Gertz et j’en ai eté superieurement content“ ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 5, o. O. um 1780. ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 8, Neuhaus 20.09.1792. Diese zeigt sich auch in seinen Tagebüchern. Die späteren Versuche ihrer politischen Umsetzung führten laut Andreas Holzem „schwere Friktionen“ herbei, vgl. Holzem, Konfessionsstaat, S. 245. Hierzu auch Hanschmidt, Fürstenberg als Staatsmann (Kapitel Militärpolitik).
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im Hause der Fürstin wohnte.22 Wenn der Generalvikar nicht in Münster war, wollte er stets über den Fortgang des Schulwesens informiert sein. Overberg im Speziellen sollte ihn ständig auf dem Laufenden halten, und so sind Briefe aus der Ferne keine Seltenheit.23 Dies belegt die aktive Zusammenarbeit von Fürstenberg und seinem Normalschullehrer, vielleicht auch eine gewisse Kontrolle, welche Fürstenberg über ihn ausübte. Doch auch zusammen mit Amalia von Gallitzin diskutierte er über diese Themen, wie folgender Auszug zeigt: „Hier ist ein stück meiner Morgenarbeit – Zusagen, noten zum project der volcksschrift welche übersetzt werden soll. Ich bitt dich überliese dieselbe doch auch mit overberg.“24 Fürstenberg war daran gelegen, von der Fürstin eine ehrliche und von anderen Meinungen unbeeinflusste Einschätzung seiner Schriften zu erhalten. Entsprechend ist auch der Zusatz: „aber mache erst selbst deine Noten ehe du die Meinungen liesest“ zu deuten.25 Wie sehr er ihre Fähigkeiten schätzte, zeigt sich daran, dass er sie auch Übersetzungen der Schulordnung ins Französische und vielleicht ins Russische anfertigen ließ.26 Mit weiteren Personen aus den unterschiedlichsten Kreisen war Fürstenberg in stetigem Austausch über das Schulwesen, etwa mit seinem Landesherrn, dem Fürstbischof und Kurfürsten Maximilian Franz, worüber er am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1786 berichtete „Gegen abend hat der Churfürst lange mit mir über Schulen, weibliche erziehung, Seminarien, universitäten unterhalten. Diese Unterhaltung kann vieleicht mehr gutes stiften als eine einzige welche ich noch gehabt habe.“27 Er korrespondierte aber auch mit einer in den Briefen oft nur Faber genannten Person – wohl Prof. Faber aus Paderborn – und mit dem Hauslehrer der Fürstin, Au-
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Vgl. zu dieser Zeit Paul Krüger (Hg.), Das Jahrbuch der Seele. Die Tagebücher Bernard Overbergs, 2. Aufl. Kevelaer 1939, u. a. S. 28. Vgl. etwa ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7, Neuhaus 02.04.1789: „wenn es möglich wäre daß ich hier Overbergs papiere mit dem nächsten Postwagen erhalten könnte“, sowie ebd., o. D., o. O.: „daß ich […] heute morgen mit wenner und overberg arbeiten muß: damit Endlich die Unterweisung der Schulmeister ihren anfang nehme“. ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7, Münster 08.08.1784. Zur Mitwirkung der Fürstin von Gallitzin an den Schulbüchern siehe auch Hubert Steinhaus, Bernhard Overbergs „Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterricht für die Schullehrer“ (1793), in: Westfälische Zeitschrift 137 (1987), S. 89–126, hier S. 93. Vgl. ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7, Münster 08.08.1784. ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 9, Münster 17.07.1794: „Ich darff dich erinnern 1mo an die übersezung der Schulordnung“. Vgl. auch den Beitrag von Irmgard Niehaus in diesem Band. ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7, Münster 26.12.1786. Dem Kurfürsten berichtete er auch über die Fortschritte einzelner Schulen, so beispielsweise am 14.08.1785 (ebd.): „Ew. Kuhrfürstl. Durchlaucht habe ich die schriftlichen Prüfungen der Steinfurter Schule unterthänigst vorlegen sollen: sie kann allen ubrigen Landschulen dieses Hochstifts zur Norme dienen: und da ich der Final Prüfung beygewohnet habe; so war die, durch Ew. Kuhrfürstl. Durchlaucht höchste Gnade sehr vermehrte Beeiferung derselben für mich auffallend.“ Vgl. Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 245, S. 226 f.
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gust Clemens Haase,28 um „auf fait der Schulsachen zu seyn“.29 Ersterem ließ er im Februar 1774 den Entwurf der Schulordnung „für die unteren Claßen“ des Gymnasiums zustellen.30 Weiterhin schrieb er am 12. September 1786 an die Fürstin: „bin gut gestimmt: erwarte den Prof Faber wegen hiesigen schulwesens, und dann werde ich einige schulen sehen um dem Coadjutor vorzuschlagen welche maaßregeln und vorschrifften mir dem jetzigen Zustand angemeßen scheinen.“31 Ein weiterer Korrespondent, mit dem sich Fürstenberg über Erziehung und Bildung austauschte, war der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock: 1775 bemühte er sich, diesen zu einem Besuch nach Münster zu bewegen, um sich mit ihm „über unsere ErziehungsAnstalten unterhalten“ und durch Klopstock „mehr Geist und Aufklärung“ in die Region bringen zu können.32 Vier Jahre zuvor stand Fürstenberg mit dem Langfördener Pfarrer Bernard Sigismund Hoyng in Kontakt, der ihm in einem Schreiben Vorschläge zur „Verbesserung der Landschulen“ unterbreitete.33 Fürstenberg las pädagogische Schriften, um sich selbst mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut zu machen. Seine Bemerkung „bin bis gegen neun uhr im Bette geblieben auß bedürfnis etwas gelesen über die landschulen“ weist ebenso auf seine diesbezügliche Wissbegierde hin wie die Aussage „Ich bin beschäftiget doch widme ich so viel ich kann meine ruhigsten stunden meiner religion und moral arbeit. Das ist für mich selbst so wohl als für die Schulen. Der Landtag macht mir kein besondern reitz als nur durch langeweile.“34 Solch negative Äußerungen über die Arbeit im Landtag finden sich mehrfach; er scheint die Teilnahme daran eher als lästige Pflicht denn als – im Gegensatz zum Schulwesen – Bedürfnis aus eigenem Antrieb empfunden zu haben. So liest sich beispielsweise auch „Jetz geh ich hier die Schulen examinieren; demnächst in das langweilige Capitel [Domkapitel, S. K.] (aber es ist pflicht)“.35 Sein Einsatz für das Elementarschulwesen blieb im Übrigen nicht ohne Wirkung auf das Fürstbistum Paderborn. Dessen Landtag gehörte er seit 1748 als Mitglied des Domkapitels ebenso an wie dem münsterischen und war somit stimmberechtigt. Zudem war sein Bruder Franz Egon von Fürstenberg hier Fürstbischof (1789–1802/25), was den Einfluss erleichtert haben dürfte. Wenn er in Paderborn weilte, informierte Franz von Fürstenberg die Fürstin Gallitzin über seine Aktivitäten. So berichtet 28 29 30 31 32 33 34 35
Zu Haase und den Zusammenkünften des ‚Kreises von Münster‘ siehe Holzem, Konfessionsstaat, S. 460. ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 8, Paderborn 11.03.1793. Vgl. den Brief Fürstenbergs an R. E. Raspe vom 06.02.1774, in: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 9, S. 15. Ebd., Nr. 347, S. 307. Bei dem „Coadjutor“ handelt es sich um Fürstenbergs Bruder Franz Egon (1737–1825), seit 1786 Koadjutor, seit 1789 Fürstbischof des Hochstifts Paderborn. Ebd., Nr. 14, S. 18 f. Vgl. dazu (mit einer Biographie Hoyngs) Hanschmidt, Vorschläge. ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7, Münster 07.03.1784 und Münster 29.12.1786. Ebd., Münster 01.02.1785 (abgedruckt auch bei Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 220, S. 203). So schrieb er auch an C. W. Dohm am 23.10.1780: „Ich thäte ihm [H. v. Landsberg, S. K.] viel lieber meine Paderbornische Präbende abtreten“, vgl. ebd., Nr. 102, S. 88.
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er etwa von eigenen Schulvisitationen im Fürstbistum Paderborn. Als Erfolg und Wertschätzung der Arbeit Fürstenbergs und Overbergs kann man folgende Aussage vom 4. Mai 1787 werten: „Unterdeßen habe ich einiger landtständischend [sic!] deputation beygewohnet in welcher man des Münsterische System der landschulen angenommen hat.“36 Doch die Bemühungen der beiden Reformer strahlten nicht nur in das Fürstbistum Paderborn, sondern auch in andere geistliche Staaten aus: Im kurkölnischen Herzogtum Westfalen beispielsweise wurden nicht nur münsterische Sammlungen von Volksliedern, sondern insbesondere die Anweisungen Overbergs für den pädagogischen Unterricht von den Lehrern verwendet.37 Motive, welche staatliche und kirchliche Obrigkeiten zur Rechtfertigung ihrer volksaufklärerischen, vor allem aber der volkspädagogischen Tätigkeit anführten, waren die „zeitliche und ewige Wohlfahrt“,38 die ‚Beglückung‘ der Untertanen durch „Religion und Moral sowie Erhaltung der Gesundheit und der Erwerb der bürgerlichen Nahrung“39 durch Volksbildung.40 Schulordnungen wurden als ein „Instrument zur Restabilisierung der Sozialdisziplin erkannt und genutzt“.41 Diese Ziele treffen auf Fürstenbergs Engagement ebenso zu. Die Erhaltung der Gesundheit und der Erwerb der bürgerlichen Nahrung waren auch vorrangige Absichten 36
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41
ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7, Paderborn 04.05.1784. Ein Brief an seinen Bruder Clemens Lothar vom 02.01.1774 zeigt, dass ihm daran gelegen war, dass seine Familie sein Engagement im Schulwesen würdigte: „Unsere Schularrangements werden den H Bruder freuen: Ich wollte daß jetz unser vatter noch lebte.“ Vgl. Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 7, S. 13 f. Friedrich Naarmann, Die Reform des Volksschulwesens im Herzogtum Westfalen unter den beiden letzten Kurfürsten von Köln Maximilian Friedrich, Graf von KönigseggRottenfels (1761–1784) und Maximilian Franz, Erzherzog von Österreich (1784–1801), Münster 1903, S. 43. Johann Josef Scotti u. a. (Bearb.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Königlich Preußischen Erbfürstenthume Münster und in den standesherrlichen Gebieten Horstmar, Rheina-Wolbeck, Dülmen und Ahaus-Bocholt-Werth über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege. Vom Jahre 1359 bis zur französischen Militair-Occupation und zur Vereinigung mit Frankreich und dem Großherzogthume Berg in den Jahren 1806 und resp. 1811 ergangen sind, Bd. 2, 1. Abt. Hochstift Münster, Münster 1842, Nr. 566 (vom 02.09.1801), § 1: „Die Aeltern werden ohne Ausnahme gnaedig erinnert und ermahnet, zu betrachten, daß die zeitliche und ewige Wohlfahrt ihrer Kinder groeßtentheils von dem Unterrichte abhange.“ Fürstenberg 1802 an die preußische Regierung, Hanschmidt, Fürstbistum Münster, S. 76. Zu diesen Motiven und zum Widerstand innerhalb der Bevölkerung in Bezug auf die Einführung von Reformen im Elementarschulwesen in kurkölnische Landschulen vgl. Hans-Jürgen Apel, Volksaufklärung und Widerstand. Der Kampf um die Durchsetzung der neuen Lehrart in den kurkölnischen Landschulen vor der französischen Besetzung der linksrheinischen Gebiete (1787–1794), in: Bonner Geschichtsblätter 37 (1985), S. 81–99, hier v. a. S. 82 f. und 96 f. (zum Widerstand, der hauptsächlich von „ländlichen Unterherrschaften“ aber auch von den Lehrern geleistet wurde [v. a. fehlende Einsicht in die Notwendigkeit einer besseren Ausbildung für Kinder]) und S. 85–87 (zu den Motiven der „Volksaufklärung“). Neugebauer, Kultureller Lokalismus, S. 394.
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Fürstenbergs.42 So verwundert es nicht, dass viele Argumente der Fürstenbergschen Schulordnung auch in den meisten Schulordnungen und Schuledikten des 18. Jahrhunderts zu finden sind, unabhängig von der Konfession.43 Fürstenberg und Amalia von Gallitzin haben sich darüber hinaus über weitere Beweggründe des aktiven Handelns des münsterischen Generalvikars in diesem Bereich Gedanken gemacht. Am Tag nach einem solchen Gespräch schrieb Fürstenberg Gallitzin im Juli 1792: „Deine Innigempfundene, und von mir mit Empfundene anmerkung ob Ich bey meiner Schulanstalten Religions Enthousiasmus zum Zweck hätte, ist mir tieff eingegangen: Ich bin so viel Ich mich urtheilen davon überzeuget und auch davon, daß Ich bey weitem dazu nicht alles thue was Ich sollte.“44 Beweggrund seiner Arbeit war für Fürstenberg – und das thematisierte er im Gegensatz zu den vorher genannten aufklärerischen Motiven vor allem in den späteren Briefen an Amalie von Gallitzin – eine „Erziehungspolitik aus christlicher Verantwortung“45 gegenüber dem ihm anvertrauten Volk. Dieser Verantwortung trug er Rechnung, indem er sich die weit verbreitete Bildungsfreude des 18. Jahrhunderts zunutze machte, Teile des Bildungskanons sowie der Bildungsziele der Aufklärung – Modernisierung und Entwicklung eines (bei Fürstenberg religiös begründeten) Staatspatriotismus – übernahm und sie mit einem „staatsbürgerlichen Ethos der christlichen Liebe und der sittlichen Pflicht aus dem Evangelium heraus“46 verband, so dass das Schulsystem ganz konfessionell geprägt blieb. 42 43
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Hanschmidt, Auswirkungen, S. 53. Steinhaus, Reform, S. 177. Neben den Argumenten für die Reformen waren auch die Inhalte der Schulordnungen und Schulpläne der Regionen „nahezu austauschbar“, allgemeine Übereinstimmungen gab es beispielsweise hinsichtlich der Schulpflicht, der Appellation des Lehrers an die Vernunft der Kinder durch Erklärungen und Beispiele, der Lehre ohne soziale Unterschiede, der Förderung der jeweiligen Persönlichkeit des Kindes und der Einforderung eigenständigen Denkens durch die Kinder, vgl. dazu Wolfgang Schmale, Allgemeine Einleitung, in: Schmale/Dodde, Revolution, S. 1–48, hier S. 7. ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 8, Münster 27.08.1792. Hanschmidt, Fürstenberg als Staatsmann, S. 149. So schrieb auch schon Heinrich Brühl, Franz von Fürstenberg als Mensch, in: Westfalen 3 (1911), S. 1–24, hier S. 14 f.: „Daß Fuerstenberg sein ganzes Erziehungswerk auf das Christentum als eine sichere Grundlage stellt, daß ihm die Religion die Seele des gesamten Unterrichts nicht nur in den niederen, sondern auch in den hoeheren Schulen ist, wird jeder erkennen, der auch nur fluechtig seine Schriften ueber Erziehung und die Schulordnungen durchblaettert.“ Vgl. hierzu ebenfalls Meinolf Peters, Franz Freiherr von Fürstenberg, der Reformer des Gymnasiums, in: ders., Schulreform, S. 45–86. Holzem, Konfessionsstaat, S. 256. Holzem wendet sich gegen den Begriff „katholische Aufklärung“ für die Regierungszeit Fürstenbergs, da seiner Meinung nach Fürstenberg „einzelne Versatzstücke aufgeklärter Politik [verwendete, S. K], ohne deren anthropologische Grundannahme prinzipiell zu teilen“. Ebd., S. 259. So schrieb Fürstenberg bereits am 02.08.1775 an Klopstock: „Unser philosophischer Erziehungsplan ist, viele Menschen, und zu Gelehrten diejenigen zu bilden, welche dazu berufen sind. Aufgeklärte Religion, warme thätige erhabene Menschen und Vaterlandsliebe, folglich richtige Begriffe von Recht, Sitten, Freyheit und Ehre, gemeinnützige Wissenschaften und Künste, und dem zufolge den Unterricht so einzurichten, daß weder die Empfin-
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3. Schriftstellerische Tätigkeit Franz von Fürstenberg hat über die Schulordnungen und Schulprüfungen hinaus schriftstellerisch gewirkt. Wie zuvor bereits erläutert, sandte er Gallitzin und Overberg einen Entwurf über die ‚Volksschrift‘ zu, welchen sie beurteilen sollten. Eine Veröffentlichung dieses Werkes ist mir nicht bekannt, in Fürstenbergs Nachlass befinden sich aber mehrere eigenhändige Konzepte und kurze Notizen zum Thema der Volksbildung, und viele scheinen weder damals noch heute veröffentlicht worden zu sein.47 Aber auch vor seiner Entlassung aus dem Ministeramt hat Fürstenberg, die neuen Medien der Zeitungen und Zeitschriften bzw. Intelligenzblätter bewusst nutzend, seine Gedanken hinsichtlich des Elementarschulwesens weitergegeben.48 Die Landschulverordnung selbst wurde beispielsweise sukzessive im Münsterischen gemeinnuetzlichen Wochenblatt verbreitet.49 Seine Vorstellungen machte er auch in dem wenig bekannten Aufsatz Gedanken wie man den Schülern das Gefühl des Wahren von Anfang an, beibringe publik. Dieser erschien im Juni 1780 im Deutschen Museum.50 Fürstenberg berichtet hier aus eigener Erfahrung, denn er führt Beobachtungen „in unseren Schulen“ als Leitmotiv für die Ausarbeitung des Aufsatzes an. Sein didaktisches Konzept sieht unterschiedliche Wege vor, schon den jüngsten Schülern beizubringen, wie sie mit ihren eigenen Worten, welche sie verwenden, die richtigen, ‚wahren‘ Begriffe assoziieren sollten.51
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49
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dungen die deutliche Begriffe verdrängen, noch die Abstractionen die ExperimentalErkänntnisse oder gar das Herz austrocknen.“ Zit. n. Gisela Oehlert, Fürstenbergs Briefe an die Fürstin Gallitzin, in: Westfalen 33 (1955), S. 7–28, hier S. 21. Vgl. August Schröder, Overberg und Fürstenberg in ihrer Bedeutung für die geistige und kulturelle Hebung der ländlichen Bevölkerung, Münster 1937, S. 7, und vgl. Trunz, Fürstenberg, S. 28. Zu den hier als „Medien der Wissensdiffusion“ beschriebenen Zeitungen und Zeitschriften vgl. Silvia Serena Tschopp, Popularisierung gelehrten Wissens im 18. Jahrhundert. Institutionen und Medien, in: van Dülmen/Rauschenbach, Macht, S. 468–489, hier S. 484–489. Vgl. den Abdruck der Landschulordnung von 1801 in den Bänden Muensterisches gemeinnuetzliches Wochenblatt 17 (1801), XLIII. Stück (und deren Fortsetzungen im XLV., XLVI., XLVII., XLVIII., XLIX. und L. Stück). Von einer ähnlichen Demonstration, diesmal der Schule von St. Lamberti in Münster in Gegenwart des Bürgermeisters und des Rats der Stadt, berichtet die im Wochenblatt erschienene „Anzeige von Schulsachen“, Münsterisches gemeinnuetzliches Wochenblatt 4 (1788), XXXIV. Stück, S. 133–135. Franz von Fürstenberg, Gedanken wie man den Schülern das Gefühl des Wahren, von Anfang an, beibringe, in: Deutsches Museum 1 (1780), S. 541–547. Online abrufbar unter: http://www.ub.uni-bielefeld.de/cgibin/neubutton.cgi?pfad=/diglib/aufkl/deu tschesmuseum/131801&seite=00000556.TIF&werk=Zeitschriften+der+Aufklaerung [letzter Zugriff: 10.10.2011]. Die Klarheit der Begriffe war für Fürstenberg ein zentrales Motiv. Der Mathematik räumte er dabei eine große Rolle ein, denn er war der Meinung, dass das mathematische Studium den Schülern das Gefühl für das Wahre schärfen würde, vgl. Peters, Fürstenberg, S. 70.
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Auch die Elementarschullehrer mussten in Prüfungen ihre Eignung nicht nur im Buchstabieren, Lesen, Schreiben und Rechnen unter Beweis stellen, sondern wurden auch über die „Erklärung und Eintheilung der Begriffe. Wege zu Begriffen zu gelangen. Wie Kindern Begriffe beyzubringen a) von Gegenstaenden der aeussern Sinne, b) des innern Sinnes, c) von unsinnlichen Gegenstaenden“ examiniert.52 Um den Kindern die ‚wahren‘ Begriffe beizubringen, sollte der Lehrer zwischen sinnlich-fassbaren Begriffen sowie psychologisch und nicht stofflich fassbaren Begriffen unterscheiden. Diese sollten im ersten Fall durch die Präsentation eines Beispiels, etwa eines Apfels, oder im zweiten Fall durch Appell und Erinnerung an bereits erfahrene Gefühle und Erlebtes aus dem Alltagsleben der Schüler vermittelt werden. Selbständiges Denken und Argumentieren der Schüler waren für Fürstenberg zentral und werden in den Gedanken hervorgehoben. So schreibt er: „aber es ist viel besser wenige wissen, und ein sicheres gefühl der Wahrheit haben, als mehrere Säze wie Papageien hersagen können.“53 Hier wendet er sich gegen das vorher in den Schulen praktizierte Lehrmodell des Deklamierens des Lehrers und Repetierens der Schüler, um Wissen zu erlernen und zu memorieren. Insgesamt verbindet Fürstenberg in dieser Schrift die aufklärerische Forderung nach Wahrheit auf Grundlage ‚richtiger‘ Begriffe nicht nur mit dem Schreib-, Mathematik- und Sachkundeunterricht, sondern auch mit dem Religionsunterricht. Letzterer gründete nach Fürstenberg auf „Vernunft und Offenbahrung“.54 Große Bedeutung sprach er deswegen auch von Anfang an der Mathematik als einer Beweiswissenschaft zu.55 Viele dieser Gedanken tauchten schon in seiner Schulverordnung für das Gymnasium von 1776 und später in den Landschulordnungen und in den Büchern Overbergs in ähnlicher Weise auf. Neben der Abfassung bzw. Veröffentlichung eigener Schriften nutzte er das einen ungeheuren Aufschwung verzeichnende und somit zum Medium der Aufklärung schlechthin werdende Zeitschriftenwesen,56 um die Öffentlichkeit über Neuigkei52 53 54 55
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Vgl. die „Nachricht von der Normalschule“ unter BAMs, GV, Schulwesen VIII, A 6c. Diesen Schulprüfungen wohnte Fürstenberg als Vorsitzender bei und es ist anzunehmen, dass diese in Absprache mit ihm ausgearbeitet worden sind. Fürstenberg, Gedanken, S. 545. Vgl. dazu Peters, Fürstenberg, S. 70. Siehe zu seiner Leidenschaft zur Mathematik Brühl, Fürstenberg, S. 12 f.: „Fürstenberg hielt die Mathematik für den kuerzesten, leichtesten und sichersten Weg, zu einem feinen Gefuehl des Wahren und zum richtigen Denken zu gelangen.“ Brühl bezieht diese Leidenschaft hier allerdings nur auf die Auswirkungen, die sie für die Gymnasialpläne Fürstenbergs hatte, und nicht auf die Anwendung im Elementarschulwesen. Die Literatur zum Zeitschriften- und Zeitungswesen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ist vielfaltig. Hier nur ein Hinweis auf einen Aufsatz, der katholische Zeitschriften mit aufklärerischer Prägung behandelt: Bernhard Schneider, Katholische Aufklärung als Kommunikationsgeschehen. Überlegungen zur Entwicklung und Bedeutung der aufklärerischen Presse im frühen 19. Jahrhundert, in: Albrecht Beutel und Volker Leppin (Hg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“, Leipzig 2004, S. 215–227. Daneben Tschopp, Popularisierung,
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ten hinsichtlich des Landschulwesens zu informieren. Dies belegt beispielsweise ein Brief an den Kurfürsten Maximilian Franz von 1784, in dem er schrieb: „Übermorgen den 25ten dieses Monates, werde ich durch das Inteligenzblatt bekannt machen, daß diejenigen Schulmeister, welche die erforderte Fähigkeit zu besitzen vermeinten, […] bey H Overberg schriftlich oder mündlich zu melden hätten.“57 Die angekündigte Mitteilung erschien im Münsterschen Intelligenzblatt, worauf sich Schullehrer aus dem ganzen Fürstbistum zur Prüfung meldeten. Auch nutzte er dieses Medium, um die Fortschritte seiner Arbeit im Schulwesen zu demonstrieren. Dies zeigt eine Begebenheit, über die im Münsterischen gemeinnützlichen Wochenblatt 1785 berichtet wurde:58 Eine Landschulklasse mit 33 Kindern aus Drensteinfurt trat – freilich mehr inszeniert, denn wie es im Text steht: „unvorbereitet“ – vor dem Kurfürsten Maximilian Franz auf und präsentierte vor aller Augen ihr neu erworbenes Wissen. Dazu gehörten „die Anfangsgründe der Rechenkunst, die praktischeren Begriffe und Leren der Geometrie, und deren Anwendung auf gemeine dem Landmann oft vorkommende Faelle“. Zudem prüfte man Sittenlehre und Religionslehre, fragte etwa nach einem Beweis für die Existenz Gottes. Fürstenbergs oben erwähntes Lehrkonzept der Begriffe schlägt sich auch in diesem Bericht nieder: „Und da man dieselben durch Vorstellung sinlicher Gegenstaende, durch ihnen angemessene Beobachtungen ihrer selbst, und durch die einfachsten geometrischen Warheiten den Gang gezeigt hatte, den der menschliche Verstand zur Erhaltung der Begriffe und Warheiten haelt, so entwickelten sie diese Lere mit einer praktischen Deutlichkeit,
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welche neben den Zeitungen und anderen schriftstellerischen Periodika auch Predigten, Almanache und Kalender als im 18. Jahrhundert nennt. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Westfalen (im Folgenden LAV NRW W), Fürstentum Münster, Kabinettsregistratur, Nr. 2952, fol. 39v. Muensterisches gemeinnuetzliches Wochenblatt 1 (1785), XVI. Stück, Nr. 32: „Eine merkwuerdige Begebenheit“. Möglicherweise war die Drensteinfurter Schule eine Art ‚Musterschule‘, denn in Fürstenbergs Nachlass finden sich auffallend viele Zeugnisse über Prüfungen dieser Schule, so z. B. ein Heftchen mit der Aufschrift: „Preißfragen für das Jahr 1795: Preißfragen, welche den Schulkindern zu drensteinfurt im Jahre 1795 schriftlich zu beantworten vorgelegt sind“, BAMs, Nachlass Fürstenberg 187/8. Auch schreibt er am 20.07.1783 an den Kurfürsten Maximilian Friedrich: „Ich habe am verfloßenen Sonntag, den 20ten lauffenden Monats der Prüfung der schule zu Drensteinfurt beygewohnet: Die erhabene Gedenkungsart womit Ew. Churfürstl. Gnaden die außbildung Ihrer unterthan […] besseren, verbindet mich hochderoselben darüber […] die ersten früchten der weisesten maaßregelen nicht unwichtig seyn werden, so gering der Gegenstand auch vielen scheinen mögte. Der gute fortgang dieser schule übertrifft alle erwartung. Gewiß waren vor zwölf jahren unser jugend in den Gymnasien nicht so gründlich in religion=Sitten=lehr und reelen kenntnisen unterrichtet, als es jetz diese bauren kinder sind. […] H Overberg hat bey prüfung und ausfragung der Kinder große practische kenntniß in seinem fach bewiesen: so dass Ew. […] zuverläsig hoffen können durch zusammenstimmung hochstdero maaßregeln, den großen und zweck der bildung ihres volcks vorzhüglich in religion und sitten, vollständig erhalten werden. Der H. Tautphäus und ich haben mit Ew. Kurf. Gnaden geheimen rath und referendario wenner verabredet, den H Overberg in das Niederstift zu untersuchung dortiger Landschulen abzuschicken.“ LAV NRW W, Fürstentum Münster, Kabinettsregistratur 2954, fol. 145r/v.
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Abb. 2: Beispiel eines Exlibris Fürstenbergs (ULB Münster)
und einem Bewußtseyn, welches alles Erwarten uebertraf.“ Geschlossen wurde die Vorführung mit einem Kirchenlied.
4. Die Bibliothek Fürstenbergs Als deutliches Zeichen für die Beschäftigung mit dem Elementar- und vor allem Landschulwesen und seinen theoretischen Grundlagen sind die Bücher anzusehen, welche Fürstenberg für seine private Lektüre erwarb. Der Rest der ursprünglich ca. 22.000 Bände umfassenden Familienbibliothek Fürstenberg-Stammheim befindet sich heute in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster.59 Sie besteht aus drei Teilen: der Sammlung des jüngeren Bruders Franz von Fürstenbergs, Franz Egon, einer Sammlung, die im Großen und Ganzen auf Christian Friedrich Theodor von Fürstenberg (1689–1735) zurückgeht, und jener Sammlung der Bücher von Franz von Fürstenberg. Definitiv zugeordnet werden können die einzelnen Exemplare durch ihre jeweiligen Exlibris. Fürstenbergs Exlibris trägt seinen schlichten und nicht verzierten Namen in französischer Sprache: „Francois Baron de Fürstenberg“ (Abb. 2). 59
Vgl. dazu die Einführung von Bertram Haller, Aus der Bibliothek Fürstenberg-Stammheim. Katalog der Ausstellung, Münster 1988, S. 1–10, hier S. 5. Heute sind noch rund 5.200 Bände und 86 Handschriften in 105 Bänden vorhanden.
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Zum einen geht, nachgewiesen durch diese Besitzvermerke, ein großer Teil des Philosophiebestandes auf den Erwerb des Generalvikars zurück. Aber auch das besondere Anliegen Fürstenbergs – die Verbesserung des Schulwesens – hinterließ deutliche Spuren in dessen Sammlung. Er hatte sich offenkundig schon für die Schulordnung von 1776 eine große Menge an Wissen über das Schulwesen im Allgemeinen angelesen, aber auch in seiner Sammlung findet sich eine große Anzahl von Büchern zum Landschulwesen, die von einer breiten Palette von Schriftstellern – von Johann Ignaz von Felbigers Saganscher Lehrart bis Johann Christoph Friedrich Rists Anweisung für die Schulmeister in den niederen Schulen aus dem Jahr 1787 – stammen. Fürstenberg sammelte ferner Schulordnungen aus den verschiedensten Gebieten des Reiches60 und besaß unter anderem die als besonders fortschrittlich angesehenen Schulordnungen aus Kurmainz, Speyer und dem Hochstift Würzburg.61 Seine ‚eigene‘ Schulordnung schickte er an Persönlichkeiten in ganz Deutschland, wie den kurmainzischen Statthalter Karl Theodor von Dalberg in Erfurt und den evangelischen Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai in Berlin, der diese in der von ihm herausgegebenen Allgemeinen Deutschen Bibliothek publizieren wollte.62 Dass Fürstenberg darauf bedacht war, von den Autoren möglichst alle Werke zur Erziehung zu erhalten, zeigt ein Brief Eberhard von Rochows an ihn. Dieser führt ihm auf die Frage nach seinen Veröffentlichungen am 7. März 1777 alle seine bis dato erschienenen Werke bezüglich Erziehung und Lehre mit Titel, Erscheinungsort und Jahr auf. Fürstenberg ging es bei den Büchern nicht darum, möglichst alle Erstausgaben oder Prachtexemplare zu besitzen – für ihn zählte nur der Inhalt, worauf die oft äußerst schlichten Einbände der Bücher hinweisen. Natürlich besaß Fürstenberg 60
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Vgl. ebd. Der Bibliotheksband zeigt eine Auswahl der Bücher der Familienbibliothek und somit auch nur eine Auswahl der Bücher, die Fürstenberg besaß. Weitere in der ULB Ms vorhandene Zusammenstellungen enthalten zusätzliche Titel, die zu Fürstenbergs Eigentum zählten, so z. B. Johann Bernhard Basedow, Elementarwerk, Erster Band, Dessau 1774; N. N., Lehrreiche Beschäftigungen für die Jugend […], Münster 1773; Johann Georg Heinrich Feder, Der neue Emil: oder von der Erziehung nach bewährten Grundsätzen, 2. Teil, 3. Aufl. Erlangen 1775; Friedrich Eberhard von Rochow, Versuch eines Schulbuches, für die Kinder der Landleute, oder zum Gebrauch in Dorfschulen, Berlin 1772; Johann Ignaz von Felbiger, Kleine Schulschriften […], Bamberg und Würzburg 1772; Karl Philipp Moritz, Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik […], Berlin 1786; Friedrich Justin Bertuch, Neues Bilderbuch für Kinder […], Leipzig o. J.; Auszug aller bisher ergangenen Königl. Preußl. und Kurfürstl. Brandenburgischen Geseze, Befele und Verordnungen, welche die Schulen; so wol Gymnasia, als auch niedrigere Stadt- und Dorf […] Schulen […], Berlin 1764; verschiedenste Werke Overbergs; Joachim Heinrich Campe, Ueber einige verkannte wenigstens ungenützte Mittel zur Beförderung der Indüstrie, der Bevölkerung und des öffentlichen Wohlstandes, 1. Fragment, Wolfenbüttel 1786; mehrere Werke Kaspar Zumkleys; Johann Ignaz von Felbiger, Die Sagansche Lehrart: Römisch-katholischer Catechismus für die erste Classe der Kinder in den Schulen des Saganischen Stifts, Sagan 1766. Haller, Bibliothek, S. 16. Hierzu zählt auch die 1791 in Paderborn erstellte Normallehrmethode: Normalunterricht für Schulhalter des Hochstifts Paderborn, Paderborn 1791, in der Ziele und Methode für alle Unterrichtsfächer festgelegt wurden, vgl. Haller, Bibliothek, S. 18. Vgl. Ewald Reinhard, Die Münstersche „familia sacra“, Münster 1953, S. 29.
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Abb. 3: Handschriftliche Widmung Overbergs für Fürstenberg (ULB Münster)
auch alle Werke Overbergs. In einem Exemplar der Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterrichte (Auflage aus dem Jahr 1793) befindet sich eine eigenhändige Widmung Overbergs für Fürstenberg (Abb. 3). Darin maß er der Einrichtung der Schulen und der Berufung Overbergs zum Normalschullehrer einen zentralen Einfluss auf die Entstehung des Werkes zu.63
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„Das Gute, welches in der Anweisung für die Schullehrer im Hochstifte Münster zu finden ist, schreibt der Verfasser dem Herrn Franz Fried. Wilhelm Freyherrn von Fürstenberg nächst Gott, mit schuldiger Ehrfurcht, und dankbarem Herzen zu: weil er
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Diese Bibliothek von pädagogischen Büchern war so umfangreich, dass angeblich mehrere Waschkörbe nötig waren, sie zu transportieren. Denn diese, so berichtet Ludowina von Haxthausen, brauchte man, als Franz von Fürstenberg seine persönlichen Bücher Overberg zur Einsichtnahme für die Recherche zu dessen Schulbüchern lieh.64 Zugleich verfügte er, dass alles, was in den beiden münsterischen Buchhandlungen Theissing und Coppenrath in den nächsten Jahren an Schulliteratur herauskommen sollte, direkt an Overberg geschickt werde.
5. Tätigkeit als Generalvikar und Archidiakon Seiner Visitationspflicht als Archidiakon des Archidiakonats Auf dem Drein ab 1772 und danach des Archidiakonats Albersloh mit der Domkantorei ab 179365 kam Fürstenberg zusätzlich zu seinen übrigen Aufgaben im Landtag und als Kurator von Gymnasium und Universität anscheinend in Persona nach, wie Schreiben aus den und an die Gemeinden belegen. So schreibt Pfarrer Kuhnemann aus Vellern am 6. Februar 1797, dass vor fünf Jahren „Seine Hochwürden Excellenz der Herre von Fürstenberg als hiesiger damaliger Archidiaconus bey gelegenheit, da hochderselbe die hiesige SchulJugend personlich prüvete, den wunsch äußerte, daß dem damaligen schon betagten küster ein junger tauglicher Mensche substituirt würde.“ Dieser wurde dann später vom „Herren Archidiaconus und Sr Hochwürden des Herren Commissarius Hölscher approbirt“.66 Die Sorge um die Schulen in seiner Funktion als Archidiakon wird auch durch Aussagen in seinen Briefen an die Fürstin Gallitzin gestützt, wo er beispielsweise schreibt: „Ich muß einige täge in meinem archidiaconat zu bringen um die Schulen zu besuchen.“67 Im Frühjahr des Jahres 1791 kam Fürstenberg der Fall des Schulmeisters von Beelen zu Ohren, welcher vom halben Dorf beschuldigt wurde, sich gegenüber den Schulkindern in unsittlicher Weise verhalten zu haben. Mehrmals schaltete Fürsten-
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durch Hochdessen weise Einrichtung der Schulen seine Bildung und durch Hochdessen Gnade den Beruf zu dieser Arbeit erhalten hat. B. Overberg.“ Vgl. Hubert Schiel, Ludowina von Haxthausen und ihrer Erinnerungen an ihren geistlichen Vater Overberg, in: Richard Stapper (Hg.), Bernard Overberg als pädagogischer Führer seiner Zeit. Festschrift zum Hundertjahrgedächtnis seines Todestages (9. Nov. 1826), Münster 1926, S. 176–200, hier S. 194. Die Schriften Johann Christoph Friedrich Rists (Anweisung für Schullehrer niederer Schulen […], Hamburg und Kiel 1787) und Rochows beeinflussten Overbergs Anweisung maßgeblich, vgl. Haller, Bibliothek, S. 18. Wilhelm Kohl (Bearb.), Das Bistum Münster, Bd. 4: Das Domstift St. Paulus zu Münster, Berlin 1982, S. 323 f. Der entsprechende Briefwechsel ist unter BAMs, GV, Vellern A 14 einzusehen: Da Hanemann bis dato noch keine Investitur bzw. Niederschrift und Bestätigung darüber bekommen habe, erbitte er dieses vom jetzigen Archidiakonalkommissar. Schon am 13. November wurde dieser Bitte nach Aushändigung des vorher von der Schulkommission ausgestellten Attestes stattgegeben. ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7, o. D.
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berg sich in den darauffolgenden Prozess ein und schrieb Bittbriefe an den zuständigen Archidiakon Franz Philipp von Meuseren, den Propst des Klosters Clarholz, dass dieser seine Entscheidung nicht übereilen und den Schulmeister unbedacht seines Amtes entheben und des Dorfes verweisen solle.68 Er ließ sich vom Propst die bisherigen Zeugenaussagen zu diesem Fall zuschicken. Nach deren Lektüre und nachdem er sich andere Meinungen über den Beschuldigten Johann Hermann Estinghausen besorgt hatte, bezweifelte er die Schuld des Beklagten – und dieser unter Overberg die Normalschule mit Bravour bestanden hatte – umso mehr und schrieb am 1. März 1791 nochmals an den Propst: „Ich werde suchen auf den Grund der Sache zu kommen: dem [sic!] der beschuldigte verdinet das Zuchthaus, oder Wiedereinsetzung. Kommt die sache zur förmlichen Untersuchung, so werde ich mich äußerst bemühen, daß völlige Gerechtigkeit geschehe.“69 Doch zu diesem Zeitpunkt hatten die lokalen Instanzen schon gehandelt, den Schullehrer samt Frau und Witwe des vorigen Lehrers aus dem der Schule zugehörigen Haus verwiesen und einen Interimslehrer eingesetzt. Die Sache war für Beelen somit erledigt. Ob sich Fürstenberg auch danach weiter für den Lehrer Estinghausen eingesetzt hat, darüber schweigen die Quellen. Fürstenbergs Erreichbarkeit für alle war zwar teils seiner Verantwortlichkeit als Generalvikar geschuldet, doch fällt zudem auf, dass er den Kontakt zur einfachen Bevölkerung und die weitere Bearbeitung von Fällen, die jene betrafen, oftmals selbst übernahm oder auch aus seiner Initiative heraus begann, und Anfragen und Petitionen nicht grundsätzlich an seinen Generalvikarsverwalter Georg Heinrich Tautphaeus (1717–1793) weiterleitete.70 So erbat er beispielsweise vom Albersloher Pfarrer Kuipers, nachdem dieser sich bei Fürstenberg über das Verhalten des Amtsrentmeisters im Fall der Verbesserung der Schulwege beschwert hatte, weitere Berichte über die Lage vor Ort.71 Wenn der Generalvikar etwas weiterleitete, dann eher direkt an den Kurfürsten, um etwa einen Befehl über das weitere Vorgehen oder eine Entscheidung zu erbeten.
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Mehrere Akten zu diesem Fall finden sich in den Vereinigten Adelsarchiven e. V., Fürstliches Archiv Rheda-Clarholtz C 4, unfol. (Benutzung über das LWL Archivamt für Westfalen). Ebd., 1. März 1791. So finden sich in seinem Nachlass mehrere Einzelgesuche (u. a. Betreff der Besetzung der Stelle des Schulmeisters von Haselünne um 1772, des Neubaus der Mädchenschule zu Visbek 1772, wegen der Vergabe der Schulmeisterstelle zu Ahlen um 1772, ein Hefter über die Schule zu Albersloh 1802, welcher Gesuche enthält), die an ihn adressiert wurden und deren Inhalt die Zuständigkeit Fürstenbergs belegt, vgl. BAMs, Nachlass Fürstenberg 108/4. Vgl. den Schriftwechsel zwischen Fürstenberg und dem Pfarrer ebd. (11.11.1802, 28.12.1803 etc.).
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Fazit Auf einem kleinen unscheinbaren Zettel aus dem Nachlass Franz von Fürstenbergs findet sich folgende Notiz:72 „Ich bitte meinen Erben Meine Erbschaft zu dem Geistlichen wohl durch die Verbreitung des Overbergischen Lehrbuchs oder sonst auff welche art es am schicklichsten findet für das Geheele Münsterland [Einschub: oder die Orientalische Missionen] zu verwenden Münster. den 25. Jenner 1806 Frans F[rei]h[err] v[on] Fürstenberg“ Auch gegen Ende seines Lebens meinte Fürstenberg demnach, dem Wohl des Münsterlandes besonders durch die Verbreitung des Lehrbuches von Bernard Heinrich Overberg für die Landschulen zu dienen. Dies zeigt die Bedeutung, welche er der Bildung mittels der Elementarschulen zumaß. Hier konnten nur einige wenige Einblicke in die Persönlichkeit Franz von Fürstenbergs gegeben werden. Es lässt sich resümieren, dass die Sorge um das Elementarschulwesen für Franz von Fürstenberg nicht nur eine Pflicht war, welche er aus dem Aufgabenprofil des Generalvikars heraus erfüllte, sondern dass er sich selbst dazu verpflichtete, diese Arbeit auf das Genaueste zu erfüllen, da sie ihm ein religiös begründetes inneres Bedürfnis war. Er war in diesem Zusammenhang zum einen als Lehrer durch seine Anwesenheit bei Prüfungen, seine aktiven Eingriffe in Schulstunden und durch selbst verfasste Schriften zum Schulwesen tätig, zum anderen war er selbst Schüler, der seine Kenntnisse durch die Lektüre der zeitgenössischen Landschulliteratur und durch Gespräche und Briefe stets zu vervollkommnen suchte.
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BAMs, Nachlass Fürstenberg A VI Nachtrag 27, loses Blatt.
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„Es würde […] dieselbe nicht mehr das seyn, was sie ist“ Franz von Fürstenbergs Einsatz für die Große Prozession in Münster 1805* Franz von Fürstenberg gilt gemeinhin als typischer Vertreter der katholischen Aufklärung im Fürstbistum Münster.1 Als Minister und Generalvikar setzte er seit 1762 zentrale Reformen auf den verschiedensten Gebieten durch und begründete nicht zuletzt die hiesige Universität mit. Diese Reformen betrafen auch den Bereich der Frömmigkeitspraxis: Mit der Feiertagsreduktion von 1770 wurden viele Heiligenfeiertage abgeschafft, um durch die Vermehrung der Werktage die Produktivität der arbeitenden Bevölkerung zu steigern. Insbesondere kirchliche Feste und die gegebenenfalls damit verbundenen Prozessionen standen im Fokus der katholischen Aufklärung und wurden vielfach beschränkt oder gar verboten. Umso erstaunlicher ist es, dass es ausgerechnet Franz von Fürstenberg war, der sich 1805 – als die preußische Kriegs- und Domänenkammer um eine Verlegung der Feier ersuchte – für den Erhalt der münsterischen Großen Prozession in der bisher üblichen Form aussprach, da ansonsten „dieselbe nicht mehr das seyn [würde, L. K.], was sie ist“.2 Wie genau es hierzu kam, welche Motive Fürstenbergs zu vermuten sind und ob wirklich eine Änderung in der Gestalt der Großen Prozession vorgenommen wurde, soll im Folgenden untersucht werden. Das zu diesem Zweck herangezogene Quellenkorpus3 hat im Rahmen der Forschung zur Großen Prozession bislang keine Berücksichtigung gefunden und eröffnet einen außergewöhnlichen Einblick in die
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Zu Dank verpflichtet bin ich Kristina Thies, für Anmerkungen zum Text und zum Thema Prozessionen in der Aufklärung. Die Literatur zu Franz von Fürstenberg ist zahlreich, genannt sei hier nur eine Auswahl: Friedrich Keinemann, Franz von Fürstenberg (1729–1810), in: Robert Stupperich (Hg.), Westfälische Lebensbilder, Bd. 15, Münster 1990, S. 64–90; Alwin Hanschmidt, Aufgeklärte Reformen im Fürstbistum Münster unter besonderer Berücksichtigung des Bildungswesens, in: Harm Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, S. 319–334; ders., Franz von Fürstenberg als Staatsmann. Die Politik des münsterschen Ministers 1762–1780, Münster 1969; sowie Bd. 39 der Zeitschrift Westfalen (1961), worin sich Beiträge zum 150. Todestag Fürstenbergs finden. Bistumsarchiv Münster, Domarchiv, Altes Archiv (im Folgenden BAMs, DA AA) VI A 44, Konzept 22.07.1805, fol. 9v. Vgl. BAMs, DA AA VI A 44, Schreiben 21.06.1805, Konzept o. D., Schreiben 09.07.1805, Konzept 22.07.1805, Konzept o. D., Schreiben 10.11.1805, Konzept o. D., insgesamt fol. 3r–18v; Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen (im Folgenden LAV NRW W), Domkapitel Münster, Akten, Nr. 5003, S. 198–205.
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Beurteilung dieser für Münster bedeutenden Feier. In der Kommunikation zwischen Domkapitel, Generalvikariat und Kriegs- und Domänenkammer erschließt sich weiterhin beispielhaft die schwierige Stellung des Domkapitels in der Übergangszeit zwischen Fürstbistum, preußischer, französischer und abermals preußischer Herrschaft.
1. Große Prozession und Karfreitagsprozessionen im Vergleich Die Große Prozession ist eine Sakramentsprozession mittelalterlichen Ursprungs, die in Mittelalter und Früher Neuzeit ein wichtiges Ritual mit Integrationsfunktion für die städtische Gesellschaft Münsters war.4 Gestiftet wurde die Feier zunächst als Bußprozession im späten 14. Jahrhundert aus Anlass eines Ausbruchs der Pest in Münster im Jahr 1382 und eines Brandes im darauffolgenden Jahr. Abgehalten an einem Montag Anfang Juli,5 ist ihre Bedeutung in der Frühen Neuzeit mit der von Fronleichnams- oder auch Karfreitagsprozessionen in anderen Städten gleichzusetzen. In der Konfessionalisierung dienten Prozessionen auch im Oberstift Münster „der Selbstverständlichmachung religiös-konfessionell gebundener, transzendenter Sinnorientierungen und Handlungsmuster“.6 Das Tridentinum etablierte Prozessionen als katholische Vorzeigerituale. Mit der Aufklärung gerieten Prozessionen jedoch mehr und mehr in die Kritik, sodass seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts die Reglementierungen und Einschränkungen im Prozessionswesen massiv zunahmen. Der aufgeklärte Katholizismus7 kritisierte 4
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Zur Geschichte der Großen Prozession in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. v. a. Johannes Gerhard, 600 Jahre große Prozession in Münster. 1383–1983, Münster 1983; Bastian Gillner, Die Große Prozession. Kirchliches Fest und städtische Selbstdarstellung, in: Nikolaus Gussone (Hg.), FestGehalten. Feste und ihre Darstellungen in Münster, Münster 2004, S. 123–162; Ludwig Remling, Die „Große Prozession“ in Münster als städtisches und kirchliches Ereignis im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Helmut Lahrkamp (Hg.), Beiträge zur Stadtgeschichte, Münster 1984, S. 197–233; Kristina Thies, Inszenierung von Ordnung. Die Große Prozession in Münster im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Jan Brademann u. a. (Hg.), Liturgisches Handeln als soziale Praxis. Zur symbolischen Kommunikation des Religiösen im konfessionellen Zeitalter, erscheint voraussichtlich Münster 2012. Ursprünglich war der Termin der Großen Prozession am Montag vor Margaretha (13.07.), vermutlich seit Christoph Bernhard von Galen jedoch am Tag nach dem Reliquienfest (Sonntag nach der Oktav von Peter und Paul [29.06.]) und damit am zweiten Montag im Juli. Dieser fällt jedoch häufig mit dem Montag vor Margaretha zusammen. Jan Brademann, Die Sakralisierung der Ordnung. Prozessionen im Kirchspiel Ascheberg in der Konfessionalisierung, in: Werner Freitag und Christian Helbich (Hg.), Bekenntnis, soziale Ordnung und rituelle Praxis. Neue Forschungen zu Reformation und Konfessionalisierung in Westfalen, Münster 2009, S. 279–298, hier S. 297. Die Diskussion um den Begriff der katholischen Aufklärung kann hier nicht aufgegriffen werden und ist in diesem Zusammenhang auch weitgehend irrelevant, da es hier lediglich um die Betrachtung konkreter Reformen geht. Zu dem Thema vgl. Werner
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einen Großteil der bestehenden Frömmigkeitsformen, da er darauf abzielte, das Verhältnis zwischen dem einzelnen Gläubigen und Gott in den Mittelpunkt zu rücken und das Vertrauen in die Verehrung der Bilder, Heiligen und Reliquien zu mindern.8 Verständlicherweise deckte sich die vor allem von der kirchlichen und staatlichen Obrigkeit vertretene ablehnende Haltung gegenüber den Prozessionen nicht mit den Verhältnissen vor Ort. So ist im 18. Jahrhundert in den Städten des Oberstifts Münster weiterhin eine Zunahme der Zahl der Prozessionen zu konstatieren,9 insbesondere szenische Prozessionen entstanden unter Einfluss etwa der Jesuiten.10 Gegen die Prozessionen wandten sich im Fürstbistum Münster ab 1766 Synodaldekrete, die zum Teil auch unter der Ägide Franz von Fürstenbergs entstanden.11 Einzelne Verbote von Prozessionen betrafen vor allem Orte im Oberstift.12 1770 erfolgte im Fürstbistum zudem eine nach kölnischem Vorbild gestaltete Feiertagsreduktion, die sich aus ökonomischen Gründen gegen die Heiligenfeiertage richtete (und damit Prozessionen im Speziellen nicht tangierte).13 Allerdings hatten diese Maßnahmen keinerlei Einfluss auf die Große Prozession, die offensichtlich in der gleichen Form abgehalten wurde wie zuvor auch. Wie ist dies zu erklären? Bastian Gillners These, die Prozession sei als integrierende sakrale und politische Handlung der Stadtgemeinde weiterhin von so eminenter Bedeutung
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Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster, Paderborn 1991, S. 317–357; ders., Das Fürstbistum Münster in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Handlungsfelder katholischer Aufklärung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte N. F. 139/140 (2003/2004), S. 27–44; Hans Maier, Die Katholiken und die Aufklärung. Ein Gang durch die Forschungsgeschichte, in: Klueting, Katholische Aufklärung, S. 40–53; Bernard Plongeron, Was ist Katholische Aufklärung?, in: Elisabeth Kovács (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, Wien 1979, S. 11–61; Bernhard Schneider, „Katholische Aufklärung“. Zum Werden und Wert eines Forschungsbegriffs, in: Revue d’histoire ecclésiastique 43 (1998), S. 354–395. Vgl. Gottfried Korff, Heiligenverehrung in der Gegenwart. Empirische Untersuchungen in der Diözese Rottenburg, Tübingen 1970, S. 22. Vgl. Peter Höher, Prozessionswesen im Oberstift Münster zwischen Konfessionalisierung und Aufklärung, in: Ruth-E. Mohrmann (Hg.), Städtische Volkskultur im 18. Jahrhundert, Köln u. a. 2001, S. 157–174, hier S. 164. Vgl. ders., „Szenische“ Karfreitagsprozessionen in Westfalen, in: Jahrbuch für Volkskunde N. F. 27 (2004), S. 119–134. Vgl. Höher, Prozessionswesen, S. 160. Z. B. Beckum, Coesfeld, Angelmodde, Bocholt, Haltern, Hohenholte und Ochtrup, vgl. ebd., S. 161. Vgl. Freitag, Fürstbistum Münster, S. 34–36; Gerhard, Große Prozession, S. 34 f. Zur Feiertagsreduktion vgl. Martina Glanemann, Die Feiertagsreduzierung im Fürstbistum Münster (1770): Katholische Aufklärung und volksfrommes Beharrungsvermögen, unveröff. Bachelorarbeit Münster 2009; Manfred Jakubowski-Tiessen, Feiertagsreduktionen. Aufklärung und religiöse Praxis in Deutschland und Dänemark, in: Hans Erich Bödeker und Martin Gierl (Hg.), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive, Göttingen 2007, S. 395–415; Jonathan Sperber, Der Kampf um die Feiertage in Rheinland-Westfalen 1770–1870, in: Wolfgang Schieder (Hg), Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, Göttingen 1986, S. 123–136.
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gewesen, dass eine Abschaffung nicht in Frage kam, beschreibt nur einen Teil des Problems.14 Die Große Prozession, so eine weitere Annahme, wurde nicht von den Reformen der katholischen Aufklärung im Fürstbistum Münster erfasst, weil sie diesen keineswegs widersprach. Ihre sakramentale Frömmigkeit und ihre Ausgestaltung waren konform mit den von der katholischen Aufklärung im Fürstbistum vertretenen Normen, so dass eine Einschränkung keineswegs notwendig erschien. Sakramentsprozessionen wie die Große Prozession waren eben nicht von regulierenden Maßnahmen betroffen.15 Eine Beschreibung der Großen Prozession in den 1750er oder 1760er Jahren findet sich bei dem ehemaligen Jesuitenschüler Christoph Bernhard Maria Schücking,16 der sich an die prächtige Kleidung, an Fahnen und Kerzen speziell der Schüler erinnerte: „Die Studenten machten in diesem Aufzug und in ihren gleichgeformten Mänteln bei feierlichen Aufzügen, besonders Prozessionen, einen sehr angenehmen Anblick.“17 Allerdings fügte er hinzu, dass „diese Prozessionen […] auch vormals mit größerem äußerlichen Prang gehalten [wurden, L. K.]“,18 so auch die Große Prozession. Im Gegensatz zu Schücking beschreibt Karl Berghaus19 die Große Prozession zwischen 1806 und 1810 nicht als Teilnehmer, sondern als Außenstehender.20 Er blickt auf die einzelnen Gruppen der Prozession (Kleriker, Pfarrgemeinden, Schüler, Studenten, Beamte) und den Ablauf des Umgangs. Berghaus betont allgemein den „frommgläubigen Sinn“21 der Münsterländer und weist darauf hin, dass sich bei der Großen Prozession „niemand ausschließen durfte, wollte er nicht in der Achtung seiner Mitbürger große Einbuße erleiden“.22 Eine drastische Verurteilung erfahren Prozessionen im Allgemeinen etwa in den Reisebeschreibungen Friedrich Nicolais 14 15 16
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Vgl. Gillner, Große Prozession, S. 145. Vgl. Gerhard, Große Prozession, S. 35. Christoph Bernhard Maria Schücking (1748–1826), Dr. jur., Hofgerichtspräsident in Münster. Stammte aus einer alteingesessenen Coesfelder Kaufmanns-, Juristenund Gelehrtenfamilie, die später zahlreiche Schriftsteller hervorbrachte, u. a. Levin Schücking (Enkel des Genannten). Vgl. Ulf Morgenstern, Art. Schücking, in: Neue Deutsche Biographie (im Folgenden NDB) 23 (2007), S. 629 f.; Walter Gödden, Art. Christoph Bernhard Levin Schücking, in: ebd., S. 630 f.; Clemens Steinbicker, Schücking – ein westfälisches Geschlecht in seiner sozialen Entwicklung, in: Archiv für Sippenforschung 37 (1971), S. 88–99. Zitiert nach Bernhard Duhr, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge im 18. Jahrhundert, Bd. 4, Teil 1, München und Regensburg 1928, S. 85. Ebd. Heinrich Karl Wilhelm Berghaus (1797–1884), verbrachte seine Kindheit ab dem sechsten Lebensjahr in Münster und besuchte das Paulinum. Später u. a. Kartograph, dann Professor an der Berliner Bauakademie. Vgl. [Karl Berghaus], Münster und seine Bewohner 1803–1810. Nach Karl Berghaus’ Wanderungen durchs Leben bearbeitet und durch mehr als 100 Erläuterungen ergänzt, hrsg. v. Peter Werland, Münster 1925 (im Folgenden Berghaus, Münster und seine Bewohner), S. 7–11; Viktor Hantzsch, Art. Heinrich Berghaus, in: Allgemeine Deutsche Biographie (im Folgenden ADB) 46 (1902), S. 374–379. Vgl. Berghaus, Münster und seine Bewohner, S. 148–150. Ebd., S. 150. Ebd.
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von 1781,23 eines wichtigen Vertreters der protestantischen Berliner Aufklärung. Prozessionen waren für ihn der „Triumph des Aberglaubens“24 und „eine Erfindung der Klerisey, um den einfältigen Layen durch eine Menge sinnlichen Flitterstaats die Augen zu verblenden“.25 Als bei der Wiener Fronleichnamsprozession die Gläubigen auf die Knie fielen und den Segen empfingen, bemerkt Nicolai: „Es war jemand neben mir, dem diese Scene sehr erwürdig schien. Ich gestehe offenherzig, mir schien sie ganz das Gegentheil.“26 Und weiter: „Der Kardinal schneidet ein Kreuz in die Luft, viele Tausend fallen demüthig auf die Knie, bilden sich ein, sie wären gesegnet, und bleiben gerade so wie sie vorher waren, außer daß die Stunden, welche sie auf die Procession und den Segen verwandten, verlohrne Zeit sind.“27 Münster lag nicht auf Nicolais Reiseroute – und wenn, so wäre bei Nicolais Antikatholizismus und Antiklerikalismus28 kaum anzunehmen, dass er die Große Prozession positiver beurteilt hätte. Doch Nicolais Reisebeschreibung erfüllt an dieser Stelle ihren Zweck, denn sie zeigt, dass die Aufklärung dem Prozessionswesen grundsätzlich ablehnend gegenüberstand; in ihrer katholischen Ausprägung zumindest in bestimmten Punkten kritisch. Dass nun vergleichbare aufklärerisch beeinflusste Urteile über die Große Prozession fehlen, hängt damit zusammen, dass die Große Prozession in den Augen der katholischen Aufklärer in Münster keineswegs so anstößig oder auch absurd wie andere Umgänge war. Ein Vergleich mit den Karfreitagsprozessionen in Münster und Umgebung soll dies verdeutlichen.29 Typisch für diese Prozessionen war im Gegensatz zur Großen Prozession die Einbeziehung szenischer Darstellungen, sogenannter ‚lebender Bilder‘, sowie häufig eines maskierten Christus-Darstellers, der die Leiden des Herrn ganz real nachvollzog. Der bereits erwähnte Christoph Bernhard Maria Schücking beschreibt die Ausstattung der münsterischen Karfreitagsprozession zwischen etwa 1750 und 1768 folgendermaßen: „Da sah man einen Adam mit seinem Apfelbaum in Feigenblättern 23
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Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811), Dr. phil. h. c., Buchhändler und Schriftsteller in Berlin, wichtiger Vertreter der protestantischen Aufklärung. Bekannt wurde er u. a. durch seine Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, veröffentlicht 1783–1796 in zwölf Bänden. Vgl. Horst Möller, Art. Christoph Friedrich Nicolai, in: NDB 19 (1999), S. 201–203. Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Bd. 5, Stettin 1785, S. 74. Ebd., S. 66. Ebd., S. 72. Ebd., S. 72 f. Vgl. Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäische Kulturkämpfe, Göttingen 2010, S. 49–62. Zu Karfreitagsprozessionen vgl. Andreas Heinz, Das Ende der Karfreitagsprozessionen mit lebenden Bildern im Kurfürstentum Trier, in: ders., Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanum II, Trier 2008, S. 211–224; Höher, Karfreitagsprozessionen; Sabine Reichert, Prozessionen als Merkmal konfessioneller Zugehörigkeit. Die Osnabrücker Gegenreformation im Spiegel der Chronik des Rudolf von Bellinckhausen, in: Osnabrücker Mitteilungen 114 (2009), S. 31–48.
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gekleidet, von den Engeln mit dem Schwerte verfolgt und von einem Satan mit dem Blasebalg angehaucht.“30 Weitere Szenen zeigten Christus am Ölberg, Jonas und den Wal, König David mit seiner Harfe. Alle diese Rollen wurden von Schülern des Paulinums, also des von Jesuiten geleiteten Gymnasiums, verkörpert. Ebenfalls nicht fehlen durfte die Passion Christi, mit dem Höhepunkt eines als Christus verkleideten Darstellers im Purpurgewand, mit einer blutbespritzten Maske und einer Dornenkrone, der ein „nach seinen Kräften und dem Grade seiner Andacht mit Steinen gefülltes hölzernes Kreuz“31 trug. Entsprechend wurde diese Rolle, so Schücking, von einem Domherren oder einem anderen Adligen übernommen, ohne dass man wisse, wer hinter der Maske stecke. Ein etwas weniger andächtiges Bild gaben die „Juden oder Soldaten“32 ab: Sie „hatten ein schauerliches Aussehen und waren ein Schreckbild für Kinder. Des Morgens vor der Prozession trieben sie oft viel Unfug mit ihren Pritschen auf den Straßen, zumal wenn sie, wie das wohl der Fall war, Branntwein gesoffen hatten. Es waren übrigens auch Studenten.“33 In Münster war diese Form der Karfreitagsprozession 1616 von den Jesuiten eingeführt worden,34 die zugleich auch die Große Prozession nach ihren Vorstellungen umgestalteten.35 Insgesamt verbreiteten sich szenische Karfreitagsprozessionen im Oberstift Münster erst im 18. Jahrhundert, zumal sie mit ihrer expressiven Frömmigkeit den Wünschen der ländlichen Gesellschaft entsprachen.36 Im Gegensatz zur Großen Prozession gerieten Karfreitagsprozessionen wie die geschilderte seit den 1760er Jahren im Oberstift Münster zunehmend in die Kritik, vor allem vonseiten des Klerus. Insbesondere die szenischen Darstellungen in den Prozessionen wurden abgelehnt, weil sie als unangemessen und lächerlich empfunden wurden.37 Hinzu kamen mögliche Ausschreitungen, wie sie von Schücking auch für Münster angedeutet werden, nämlich starker Alkoholkonsum und daraus resultierende Gewalttätigkeiten. Mit einem Dekret von 1768 wurden daher im Fürstbistum Münster sämtliche Verkleidungen bei Prozessionen verboten – dies bedeutete das Ende der szenischen Karfreitagsprozessionen.38 Grundsätzlich ist für das münsterische Fürstbistum allerdings eine mangelnde Konsequenz bei der Reglementierung des Prozessions- und Wallfahrtswesens festzustellen.39 So gab es auch im
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Zitiert nach Duhr, Jesuiten, S. 85. Ebd. Ebd., S. 86. Ebd. Vgl. Höher, Karfreitagsprozessionen, S. 120. Vgl. Thies, Inszenierung. Vgl. Ewald Frie, Im Laboratorium vor der Moderne. Kirchen und Religiosität um 1800, in: Gisela Weiß und Gerd Dethlefs (Hg.), Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians. Westfalens Aufbruch in die Moderne, Münster 2002, S. 260–285, hier S. 274; Höher, Karfreitagsprozessionen, S. 120 f. Vgl. hierzu und zum Folgenden Heinz, Ende, S. 218–221; Höher, Karfreitagsprozessionen, S. 125–128; Höher, Prozessionswesen, S. 168 f. Vgl. Höher, Karfreitagsprozessionen, S. 129. Vgl. Höher, Prozessionswesen, S. 160 f.
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19. Jahrhundert noch einige Verstöße gegen das Verkleidungsverbot, wie das Fortbestehen von Kreuztrachten mit maskierten Darstellern zeigt.40 In Ahaus beschreibt der Landrat Mersmann die Kreuztracht des Jahres 1818 folgendermaßen: „Es ist ein äußerst widriger unangenehmer Anblick. Es hängt daran aber mit großer Liebe und Verehrung das Landvolk, selbst ein großer Theil der Städtebewohner. Der vernünftige Theil der Geistlichkeit tadelt dagegen diese Kreuztragung, einmal des falschen Wunsches wegen, der den Kreuzträger selbst in diese Handlung setzt, dann auch wegen der die Andacht störenden Neugierde, den vermummten Kreuzträger zu erkennen, obschon andererseits behauptet wird, daß der Anblick des nachgeahmten Leidens auf manche Menschen nützlich wirke.“41 Wie dieser Nutzen einmal ausgesehen haben könnte, ist abermals in der älteren Schilderung Christoph Bernhard Maria Schückings zu erkennen, der über den kreuztragenden Christus schreibt: „Diese Figur war äußerst anmutig und erweckte die teilnehmendste Rührung, so daß selbst im siebenjährigen Kriege Engländer und andere protestantische Soldaten sich davon sehr erbaut bezeigten.“42 Zweck der Kreuzigungsdarstellung war es somit, den Betrachtern ein besseres Verständnis des Geschehens zu ermöglichen und sie emotional zu berühren. Inwieweit dies gelang, muss dahingestellt bleiben, zumal Schücking einen häufigen topos – die angebliche Wirkung von Prozessionen auf Andersgläubige – aufgriff. Der Vergleich zwischen der Großen Prozession und den Karfreitagsprozessionen zeigt, dass es die ausgefallene Gestaltung letzterer sowie hiermit in Zusammenhang stehende Vorfälle waren, die Anstoß erregten. Während Schücking die szenische Karfreitagsprozession noch als förderlich für die Andacht der Gläubigen betrachtete, galt sie einige Jahrzehnte später nur noch als lächerlich. So erklärt sich auch die fehlende Einflussnahme der Dekrete auf die Große Prozession: Sie war deutlich schlichter gestaltet und in ihrem Zentrum stand die eucharistische Frömmigkeit. Zwischenfälle mit betrunkenen Prozessionsteilnehmern oder Ähnliches scheinen selten gewesen zu sein oder wurden jedenfalls nicht als Problem aufgefasst, denn als Ansatzpunkt zur Regulierung wurden solche Argumente zunächst nicht genutzt. Letztendlich kam es erst 1805 in dem hier zu untersuchenden Disput zu einem Zugriff auf die Große Prozession.
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Vgl. LAV NRW W, Reg. Münster, Nr. 17423, mit Belegen für Ahaus und Schöppingen 1818, Emsdetten 1820, Nordwalde 1821, Neuenkirchen 1822 und 1823. In Wiedenbrück kam es ebenfalls nicht zu einer entsprechenden Regulierung der Kreuztracht. Vgl. Höher, Karfreitagsprozessionen, S. 129–133. LAV NRW W, Reg. Münster, Nr. 17423, Auszug aus dem Zeitungsbericht des Kreiscommissarius Mersmann vom 30.03.1818. Zitiert nach Duhr, Jesuiten, S. 86.
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2. Das Domkapitel und die Große Prozession Das Jahr 1805 fiel für Münster in eine Zeit tiefgreifenden politischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Wandels.43 Trotz der aufgeklärten Reformen Fürstenbergs und anderer Politiker hatten die geistlichen Staaten den Anstrich des Rückständigen behalten und der Säkularisation letztlich wenig entgegenzusetzen. Der Bischofsstuhl von Münster war unbesetzt. 1801 wurde zwar Anton Viktor von Österreich, ein Bruder Kaiser Franz’ II., zum Bischof von Münster gewählt, er trat sein Amt jedoch nicht mehr an.44 Als die preußischen Truppen im August 1802 in Münster einmarschierten, leisteten Domkapitel und Rat den neuen Herren keinen Widerstand. Im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurde das Fürstbistum offiziell aufgelöst. Große Teile des Territoriums fielen an das Königreich Preußen, darunter auch die Stadt Münster. Das ausschließlich adlig besetzte Domkapitel büßte seine landesherrschaftlichen Befugnisse ein und behielt lediglich kirchliche Kompetenzen, darunter das Recht der Bischofswahl.45 Insgesamt wurde die preußische Herrschaft in Münster nicht unbedingt positiv aufgenommen, zumal die konfessionelle Kluft als unüberwindbar galt.46 Die Verwaltung der neuen preußischen Gebiete im Westen übernahm Karl Freiherr vom und zum Stein,47 zunächst als Leiter einer sogenannten Spezialorganisationskommission und später der Kriegs- und Domänenkammer. Ab 1804 hatte Ludwig von Vincke,48 der spätere Oberpräsident der Provinz Westfa43
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Vgl. hierzu und zum Folgenden Monika Lahrkamp, Jahre des Umbruchs – Säkularisation und französische Herrschaft (1802–1815), in: Franz-Josef Jakobi (Hg.), Geschichte der Stadt Münster, Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert (bis 1945), Münster 1993, S. 1–45; dies., Münster in napoleonischer Zeit 1800–1815. Administration, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen von Säkularisation und französischer Herrschaft, Münster 1976, S. 9–60, 342–346 und 363–366. Zu den genauen Umständen der Wahl vgl. Reimund Haas, Domkapitel und Bischofsstuhlbesetzungen in Münster 1813–1846, Münster 1991, S. 6–17. Zum münsterischen Domkapitel in der Säkularisation vgl. Friedrich Helmert, Vom alten zum neuen Kapitel, in: Alois Schröer (Hg.), Das Domkapitel zu Münster 1823– 1973. Aus Anlaß seines 150jährigen Bestehens seit der Neuordnung durch die Bulle „De salute animarum“, Münster 1976, S. 1–51; Friedrich Keinemann, Das Domkapitel zu Münster im 18. Jahrhundert. Verfassung, persönliche Zusammensetzung, Parteiverhältnisse, Münster 1967, S. 203–221; Haas, Domkapitel, S. 1–35. Vgl. hierzu und zum Folgenden Lahrkamp, Jahre; dies., Münster, S. 34–37. Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757–1831), preußischer Reformer, u. a. 1802–1804 Leiter der Kriegs- und Domänenkammer in Münster, 1804–1807 preußischer Finanzminister, maßgeblich beteiligt an den Preußischen Reformen 1807, Begründer der Monumenta Germaniae Historica, der zentralen Quellenedition zur mittelalterlichen deutschen Geschichte, vgl. Heinz Duchhardt, Freiherr vom Stein. Preußens Reformer und seine Zeit, München 2010; Alfred Stern, Heinrich Friedrich Karl Stein, in: ADB 35 (1893), S. 614–641. Friedrich Ludwig Wilhelm Philipp Freiherr von Vincke (1774–1844), preußischer Reformer, u. a. 1816–1844 Oberpräsident der Provinz Westfalen. Vgl. Alfred Stern, Art. Friedrich Ludwig Vincke, in: ADB 39 (1895), S. 736–743; Dietrich Wegmann, Die leitenden staatlichen Verwaltungsbeamten der Provinz Westfalen 1815–1918, Münster 1969, S. 16–20 und 52–82. Weiterführend zu einzelnen Aspekten: Hans-Joachim Behr
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len, dieses Amt inne. Die Kriegs- und Domänenkammer fungierte als umfassendes Verwaltungsorgan, dem Militär, Finanzen, Gewerbe und geistliche Angelegenheiten unterstellt waren.49 Insbesondere bei den geistlichen Angelegenheiten handelte es sich um ein Gebiet, das einer genaueren Abstimmung und Abgrenzung mit den kirchlichen Behörden bedurfte und deswegen häufig Anlass zu Meinungsverschiedenheiten gab. Am 21. Juni 1805 und damit etwas mehr als zwei Wochen vor der Großen Prozession erreichte das münsterische Domkapitel ein Schreiben der preußischen Kriegs- und Domänenkammer.50 Dieses Schreiben würdigt zunächst die seit 20 Jahren vorgenommenen Maßnahmen zur Begrenzung bestimmter gottesdienstlicher Feierlichkeiten.51 Mit diesem Vorgehen, so das Schreiben, habe man versucht, solche Feste einzuschränken, die „mit dem Zeitgeiste und den dermaligen gesellschaftlichen Bedürfnißen nicht harmonieren“.52 Bei der Großen Prozession allerdings sei eine Einschränkung bislang nicht erfolgt, was jedoch sehr zu wünschen sei, da diese „auf einen Werktag und mit einer Solemnität begangen wird, die nicht allein diesen Montag, sondern auch bey den Handwerks-Gesellen den größesten Theil des darauf folgenden Dienstags zum Feyertage umschafft“.53 Die Bedeutung der Großen Prozession für die Stadt Münster schätzt die Kriegs- und Domänenkammer eher gering ein, denn eine Verlegung der Prozession sei umso mehr zu wünschen, da die Prozession lediglich auf „einem der Stadt vor mehreren Hundert Jahren zugestoßenen Brandschaden beruhet“.54 Empfohlen wird daher eine Verlegung der Prozession auf einen Sonn- oder Feiertag, wie dies bei anderen Prozessionen in Münster längst erfolgt sei.55 Praktisch hätte dies nicht nur eine „[Auf-, L. K.]Hebung der polizeilichen Inconvenienzen“56 zur Folge, sondern würde den Handwerkern einen weiteren Werktag und somit zusätzliche Einkunftsmöglichkeiten verschaffen. Die preußische Kriegs- und Domänenkammer argumentierte 1805 tatsächlich ganz ähnlich wie das münsterische Edikt zur Aufhebung der Feiertage von 1770. Primärer Zweck der Feiertagsreduktion bzw. in diesem Fall der Verlegung war die Förderung der Volkswirtschaft durch eine simple Verlängerung der Arbeitszeit.57 War die Feiertagsreduktion im Fürstbistum Münster noch von der auch selbst wahrgenommenen ökonomischen Rückständigkeit der geistlichen Territorien motiviert,58 so scheint die Kriegs- und
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und Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, Münster 1994. Vgl. Lahrkamp, Jahre, S. 12. Vgl. hierzu und zum Folgenden BAMs, DA AA VI A 44, Schreiben 21.06.1805, fol. 3r–4v. Sollte sich diese Bemerkung bereits auf die Feiertagsreduktion von 1770 beziehen, läge ein Fehler vor, denn diese erfolgte bereits 35 Jahre zuvor. BAMs, DA AA VI A 44, Schreiben 21.06.1805, fol. 3r. Ebd. Ebd. Gemeint sind hier wohl Prozessionen der einzelnen Pfarren. BAMs, DA AA VI A 44, Schreiben 21.06.1805, fol. 3v. Vgl. Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit, S. 334–336. Vgl. ebd., S. 319–321; Frie, Laboratorium, S. 274.
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Domänenkammer eher ein Argument zur Abschaffung des ungeliebten Feiertags gesucht zu haben. Auch die Vermeidung von zu ausschweifenden weltlichen Feiern nach der Prozession wird zumindest angedeutet. Insofern erscheint es in diesem Fall auch kaum gerechtfertigt, von einem wirklich aufklärerisch inspirierten Zugriff auf die Prozession zu sprechen. Das Domkapitel beriet in seiner nächsten Sitzung als Partikularkapitel59 am 28. Juni 1805 ausführlich über das Schreiben.60 Das erste Votum gab wie üblich der Vorsteher des Domkapitels, der Domdechant61 Ferdinand August von Spiegel,62 ab. Er war der Meinung, man solle dem Wunsch der Kriegs- und Domänenkammer entsprechen und schlug auch gleich einen neuen Termin für die Prozession vor. Spiegel sah es als nutzbringend an, dass man bei einer Verlegung auf einen Sonntag weniger auf den Straßenverkehr achten müsse, als dies am Montag der Fall sei.63 Für Spiegel war jedoch nicht nur dieser praktische Vorteil für seine Zustimmung ausschlaggebend: Da die Kriegs- und Domänenkammer das ius circa sacra64 inne habe, sei sie grundsätzlich zur Einschränkung der Prozession innerhalb der Stadt berechtigt, und man solle daher besser einen Kompromiss eingehen als etwa ein Verbot der Pro59 60 61
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Zu diesen Sitzungen kamen nur wenige Domherren, in ihnen wurden weniger wichtige Fragen beraten. Die Domherren trafen sich mehrmals wöchentlich in wechselnder Zusammensetzung zu einem Partikularkapitel. Vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 9. Vgl. hierzu und zum Folgenden LAV NRW W, Domkapitel Münster, Akten, Nr. 5003, S. 198–205. Die Domdechanei war lediglich die zweithöchste Dignität im Domkapitel hinter der Dompropstei. Faktisch übernahm aber bereits im 14. Jahrhundert der Domdechant die Leitung des Kapitels, der Propst hatte v. a. repräsentative Aufgaben. Im hier behandelten Zeitraum war Engelbert von Wrede Dompropst. Vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 12–16. Ferdinand August von Spiegel zu Desenberg und Canstein (1764–1835), ab 1782 Domherr in Münster, ab 1790 in Osnabrück, ab 1796 in Hildesheim. Diese Ämter waren nur der Auftakt zu einer glanzvollen Karriere in der katholischen Kirche, die schließlich 1824 mit dem Amt des Erzbischofs von Köln gekrönt wurde. Vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 340 f. Spiegels Leben wurde nicht nur von den großen politischen Brüchen der Zeit, sondern auch von tiefgreifenden Wandlungen seiner persönlichen Ansichten z. B. zum Verhältnis von Kirche und Staat geprägt. Siehe ausführlich Walter Lipgens, Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat 1789–1835. Die Wende vom Staatskirchentum zur Kirchenfreiheit, 2 Bde., Münster 1965. Zu Zeiten des Fürstbistums waren die Stadttore am Tag der Prozession geschlossen gewesen, was den Verkehr einschränkte und somit auch einen ungestörten Zug der Prozession garantierte. Spiegel verweist ausdrücklich darauf, dass dieses heute nicht mehr möglich sei. Zur weltlichen Kirchenhoheit, wie sie im Allgemeinen Landrecht von 1794 auch für die katholische Kirche festgelegt wurde, vgl. Wolfgang Rüfner, Die Verwaltungstätigkeit in Restauration und Konstitution, in: Kurt G. A. Jeserich u. a. (Hg), Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 470–503, hier S. 494 f. Zur Umsetzung des ius circa sacra in der preußischen Provinz Westfalen vgl. Jochen-Christoph Kaiser, Konfession und Provinz. Problemfelder der preußischen Kirchenpolitik in Westfalen, in: Karl Teppe und Michael Epkenhans (Hg.), Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus, Paderborn 1991, S. 268–287, hier S. 271 f.
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zession zu riskieren. Spiegels Haltung gegenüber dem Vorschlag der Kriegs- und Domänenkammer überrascht nicht, galt er doch generell als Befürworter und Unterstützer der preußischen Herrschaft in Münster.65 Zwar schlossen sich die Domherren Böselager66 und Schmising67 der Meinung Spiegels an, die Mehrheit des versammelten Domkapitels (insgesamt acht von elf Domherren) vertrat jedoch einen anderen Standpunkt. Der Vizedominus68 Heinrich Johann Droste zu Hülshoff69 und Franz von Fürstenberg sprachen sich im Anschluss an Spiegel nämlich für die Beibehaltung der Großen Prozession in der derzeitigen Form aus und wurden darin von den restlichen Domherren unterstützt. Droste zu Hülshoff wies darauf hin, man sei nun in einer anderen Lage als beim Einmarsch der Preußen und könne es deswegen darauf ankommen lassen, der Kriegs- und Domänenkammer zu widersprechen. An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass das Domkapitel stets versuchte, seine Handlungsmöglichkeiten gegenüber der noch neuen und im Aufbau befindlichen preußischen Verwaltung auszuloten. Zwar hatte der Staat die Kirchenhoheit inne, also das von Spiegel angeführte ius circa sacra, allerdings war dessen Abgrenzung umstritten und ein häufiger Anlass zu Konflikten.70 Deswegen lässt sich auch nicht abschließend klären, ob die Kriegs- und Domänenkammer tatsächlich zu einem Verbot der Prozession berechtigt gewesen wäre. In der Beratung des Domkapitels verwies nur einer der Domherren auf die zentrale Argumentation der Kriegs- und Domänenkammer, das wirtschaftliche Wohl der münsterischen Handwerker: Domherr Rump71 merkte an, bisher „wäre Niemand darüber [= aufgrund der Großen Prozession, L. K.] verarmt, und werde Niemand desfalls verarmen“.72 Auch Franz von Fürstenberg war nicht bereit, die Gestalt der Großen Prozession ohne weiteres abzuändern, da er „die Sache [für, L. K.] zu wichtig“73 hielt. Er plädierte daher dafür, das Generalvikariat – und damit sich selbst als Generalvikar – zur Beratung hinzuzuziehen und ein anderes Mal über die Große Prozession zu beraten.74 Im münsterischen Domkapitel gab es also zwei Gruppen, die sich um Fürstenberg auf der einen und Spiegel auf der anderen Seite formierten – eine durchaus typi65 66 67 68 69 70 71 72 73 74
Vgl. Lahrkamp, Jahre, S. 8. Vermutlich Ferdinand Gottfried Goswin von Böselager zu Eggermühlen (1746–1810), vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 332 f. Caspar Maximilian von Korff gnt. Schmising zu Tatenhausen (1751–1814), galt eigentlich als Anhänger der Fürstenberg’schen Partei, war aber insgesamt wenig beliebt im Domkapitel. Vgl. ebd., S. 336 f. Vgl. ebd., S. 18 f. 1768–1836, vgl. Haas, Domkapitel, S. 23; Keinemann, Domkapitel, S. 18 f. und 345 f. Vgl. Lahrkamp, Jahre, S. 18; dies., Münster, S. 363 f. Franz Karl von Rump zum Crange (ca. 1771–1822), vgl. Haas, Domkapitel, S. 23; Keinemann, Domkapitel, S. 350. LAV NRW W, Domkapitel Münster, Akten, Nr. 5003, S. 204. Ebd., S. 201. Vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 51. In Münster war es seit dem frühen 18. Jahrhundert die Regel, dass die Generalvikare – wie auch Fürstenberg – als die direkten Vertreter des Bischofs in der Diözesanverwaltung gleichzeitig Domherren waren.
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sche Situation in diesem Gremium.75 Nachdem Fürstenberg bereits 1780 als Minister des Fürstbistums entlassen worden war, blieben ihm als Betätigungsfeld das Generalvikariat und sein Amt als Kurator der auf seine Initiative hin gegründeten Universität. Am 29. Juni 1805 und damit zeitlich kurz nach der Debatte um die Große Prozession hatte Vincke Fürstenberg von seinem Amt als Kurator abberufen, formal wegen seines hohen Alters und seiner Arbeitsbelastung als Generalvikar.76 Tatsächlich hatte sich Fürstenberg gegen die preußische Stellenbesetzungspolitik gewehrt, die zum Ziel hatte, die katholische Prägung der Universität aufzuweichen. Im Urteil des Freiherrn vom Stein war Fürstenberg zu dieser Zeit nur noch „der Schatten eines großen Namens“.77 Auch wenn Fürstenberg sich in dieser Zeit zunehmend als Privatmann verstand, ist es sicherlich eine zulässige Annahme, dass er den ihm verbliebenen Handlungsspielraum in Zukunft noch konsequenter genutzt haben dürfte, um seinen Standpunkt gegenüber den Preußen durchzusetzen. Der über 70jährige Fürstenberg galt – ganz im Gegensatz zum Domdechanten Spiegel – als Vorredner der im Klerus zu verortenden Opposition gegen die preußische Herrschaft.78 Freiherr vom Stein schätzte Spiegel als kompetenten Politiker, mit dem ihn bereits seit Jahren freundschaftliche Beziehungen verbanden.79 Stein war es auch gewesen, der die anfängliche Skepsis Spiegels gegenüber der preußischen Herrschaft zerstreut hatte.80 Spiegel wollte durch die Zusammenarbeit die Stellung des Domkapitels wahren und an der Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse mitwirken. Auf diese Weise überformte der Gegensatz preußenfreundlich – preußenfeindlich die schon vorher bestehenden Konflikte zwischen Spiegel und Fürstenberg. Denn aufgrund seiner familiären Verbindungen stand Ferdinand August von Spiegel fast zwangsläufig im Lager der Fürstenberg-Gegner.81 Bereits zwischen 1786 und 1790 griff er in die Auseinandersetzung um die Besetzung der Dompropstei ein und war 75 76
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Vgl. Lahrkamp, Münster, S. 43. Vgl. hierzu und zum Folgenden Keinemann, Fürstenberg, S. 86 f.; Herbert Sowade, Die katholische Kirche, in: Jakobi, Münster, Bd. 2, S. 387–432, hier S. 387 f. Zum Urteil Vinckes über Fürstenberg vgl. Alwin Hanschmidt, Ein Bericht des westfälischen Oberpräsidenten Ludwig von Vincke über die münsterische „Familia sacra“ (1838), in: Westfälische Zeitschrift 159 (2009), S. 171–176, sowie Wilhelm Kohl, Vincke und Clemens August Droste zu Vischering – Katholische Kirche und preußischer Staat, in: Behr/Kloosterhuis, Vincke, S. 389–406, hier S. 393 f. Zitiert nach Lahrkamp, Jahre, S. 8, vgl. auch dies., Münster. S. 42 f. Gleichwohl respektierte Stein aber Fürstenbergs Lebensleistung. Vgl. Alfred Hartlieb von Wallthor, Fürstenberg und Stein, in: Westfalen 39 (1961), S. 76–84. Vgl. Lahrkamp, Jahre, S. 8. Franz Wilhelm von Spiegel, der Halbbruder Ferdinand Augusts, war ein Studienfreund Steins, außerdem gab es schon vor Steins Ankunft in Münster Kontakte. Vgl. Lipgens, Spiegel, Bd. 1, S. 83–86. Vgl. hierzu und zum Folgenden Lahrkamp, Münster, S. 42; Lipgens, Spiegel, Bd. 1, S. 81–100. Sein Onkel Goswin Anton (1712–1793) war im münsterischen Domkapitel seit jeher ein Gegner Fürstenbergs und wohl auch an dessen Niederlage bei der Koadjutorwahl von 1780 beteiligt, vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 170 f., 186 f. und 283 f. Franz Wilhelm (1752–1815) war Domherr in Münster und Hildesheim, Landdrost im Herzog-
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dort die „Seele des Widerstandes“82 gegen Fürstenberg; später galt er sogar als Anführer der Fürstenberg-Opposition im Domkapitel.83 Darüber hinaus vertrat Spiegel zu dieser Zeit noch eine Form der rationalen Aufklärung, die im Gegensatz zu Fürstenbergs katholischer Aufklärung stand.84 Folgerichtig hatte Fürstenberg 1799 vergeblich versucht, die Wahl Spiegels zum Domdechanten zu verhindern.85 Durch diese Niederlage wurde die Partei Fürstenbergs im Domkapitel weiter geschwächt, was sich bis zum hier untersuchten Vorfall von 1805 kaum geändert haben dürfte. Es bleibt festzuhalten, dass sich Spiegel und Fürstenberg bereits seit Jahrzehnten im Domkapitel gegenüberstanden. In der Diskussion um die Große Prozession war es also fast zu erwarten, dass Spiegel dem preußischen Vorschlag zustimmen und Fürstenberg ihn ablehnen würde. Unterstützt wurde Fürstenberg in seiner ablehnenden Haltung von den drei Brüdern Droste zu Vischering,86 die dem Umfeld des ‚Kreises von Münster‘ um Fürstenberg und Amalia von Gallitzin angehörten und eher eine preußenskeptische, streng kirchliche Richtung vertraten.87 Eine der letzten Handlungen Fürstenbergs im Amt als Generalvikar war es folgerichtig, Clemens August Droste zu Vischering als seinen Nachfolger zu empfehlen, der sich 1807 in der Wahl gegen Spiegel durchsetzen konnte.88
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tum Westfalen und später u. a. Hofkammerpräsident am kurfürstlichen Hof in Köln, vgl. ebd., S. 338. Ebd., S. 190. Vgl. ebd., S. 195. Später wandte er sich zunehmend hiervon ab und der Religion zu, so dass er als Erzbischof in Köln die religiöse Erneuerung des Bistums einleiten konnte. Vgl. Lipgens, Spiegel, Bd. 1. Vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 195 f. u. 201 f. Caspar Maximilian Droste zu Vischering (1770–1846), seit 1795 Weihbischof in Münster, seit 1825 Bischof. Vgl. Haas, Domkapitel, S. 6 f. und 397–553; Keinemann, Domkapitel, S. 348 f.; Dietrich Graf von Merveldt, Der erste Bischof von Münster nach der Neuordnung, Caspar Maximilian Droste zu Vischering (1825–1846) und der Bekennerbischof Johann Bernhard Brinkmann (1870–1889), in: Schröer, Domkapitel, S. 205– 249; Schröer, Domkapitel, S. 353 f. – Zu Franz Otto Droste zu Vischering (1771–1826), Domherr in Hildesheim und Münster, vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 347 f. – Clemens August Droste zu Vischering (1773–1845) war Domherr in Münster, 1810–1820 Generalvikar, seit 1827 Weihbischof in Münster und ab 1835 Nachfolger Ferdinand August von Spiegels auf dem Stuhl des Kölner Erzbischofs. V. a. aufgrund seiner ablehnenden Haltung gegenüber einem von seinem Vorgänger ausgehandelten Kompromiss in der sogenannten Mischehenfrage wurde Clemens August 1837 in Minden unter Hausarrest gestellt. In seine Amtszeit fiel außerdem die Auseinandersetzung mit dem Hermesianismus. Das ‚Kölner Ereignis‘ wurde zu einem der ersten Konflikte des im Entstehen begriffenen Ultramontanismus. Nach seiner Entlassung 1839 lebte er zurückgezogen in der Nähe von Münster. Vgl. Wilhelm Damberg, Moderne und Milieu 1802–1998, Münster 1998, S. 71–80; Eduard Hegel, Clemens August Freiherr Droste zu Vischering (1773–1845), in: Robert Stupperich (Hrsg.), Westfälische Lebensbilder, Bd. 10, Münster 1970, S. 76–103; Keinemann, Domkapitel, S. 350; Schröer, Domkapitel, S. 360 f. Vgl. Hegel, Droste zu Vischering, S. 81 f.; Lahrkamp, Münster, S. 43. Vgl. Haas, Domkapitel, S. 20; Hanschmidt, Bericht; Keinemann, Fürstenberg, S. 87; Lahrkamp, Münster, S. 365 f.
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Dem Vorschlag Fürstenbergs folgend und ohne weiteren Widerspruch des Domdechanten Spiegel wählte das Domkapitel 1805 eine Verzögerungsstrategie für die Antwort an die Kriegs- und Domänenkammer:89 Eine grundsätzliche Bereitschaft zur Verlegung der Großen Prozession wurde signalisiert, allerdings könne diese keinesfalls ohne die Zustimmung und Beteiligung des Generalvikariats – vor allem bezüglich der praktischen Neuregelungen etwa des Pfarrgottesdienstes – vorgenommen werden. Da jedoch eine Abstimmung mit dem Generalvikariat terminlich nicht vor der Prozession erfolgen könne, wolle man jene in diesem Jahr wie gewohnt abhalten. Eine zu schnelle Abänderung, so das Domkapitel, könne „einen gar zu widrigen Eindruck auf das hiesige Publicum machen“,90 zumal der König ja auch in den anderen preußischen Provinzen die Beibehaltung der katholischen Prozessionen erlaube. Die Kriegs- und Domänenkammer erlaubte sich, diese Behauptung unter Verweis auf die Verminderung von Feiertagen in Schlesien 1772 zu korrigieren,91 stimmte dem Vorschlag des Domkapitels jedoch zu.92 Die Große Prozession konnte 1805 also in der gewohnten Form stattfinden. In Reaktion auf das Reskript der Kriegs- und Domänenkammer beschloss das Domkapitel am 24. Juli 1805, das Generalvikariat hinzuzuziehen und beim MartiniGeneralkapitel93 nochmals über die Verlegung zu beraten.94 Entsprechend gingen die Unterlagen zur Großen Prozession nun an Fürstenberg als Generalvikar.95 Fürstenberg nutzte bereits die Kapitelsversammlung im Juli 1805 dazu, seine persönliche Meinung über die Große Prozession kundzutun, die auch in schriftlicher Form erhalten ist. Zusammen mit seiner Stellungnahme als Generalvikar an das Domkapitel vom 10. November 1805 existieren damit zwei Dokumente, die Fürstenbergs Haltung detailliert beschreiben und die deswegen einer näheren Betrachtung unterzogen werden sollen.96
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Vgl. hierzu und zum Folgenden BAMs, DA AA VI A 44, Konzept o. D., fol. 6r–7v. Ebd., fol. 7r. Konkret bezog sich die Kriegs- und Domänenkammer auf ein Breve Papst Clemens IX. vom 24.06.1772 an den Breslauer Weihbischof Strachwitz, abgedruckt in Max Lehmann (Hg.), Preußen und die katholische Kirche seit 1640. Nach den Acten des geheimen Staatsarchives. Bd. 4: Von 1758 bis 1775, Neudruck der Ausgabe 1883 Osnabrück 1965, Nr. 440, S. 443–445. Von staatlicher Seite wurden in Schlesien 1754 und 1773 Feiertage aufgehoben, vgl. Peter Baumgart, Schlesien als eigenständige Provinz im altpreußischen Staat (1740–1806), in: Norbert Conrads (Hg.), Schlesien, Berlin 1994, S. 346–464, hier S. 437. Vgl. BAMs, DA AA VI A 44, Schreiben 09.07.1805, fol. 8r. Das Generalkapitel fand halbjährlich unter Beteiligung aller Domherren statt und war für Themen von allgemeiner Bedeutung, Satzungsfragen etc. gedacht. Termin waren Jacobi (25. Juli) und Martini (11. November). Vgl. Keinemann, Domkapitel, S. 9. Die Tatsache, dass die Angelegenheit der Großen Prozession wichtig genug erschien, um hier beraten zu werden, verweist auf die Bedeutung der Feier. Vgl. LAV NRW W, Domkapitel Münster, Akten, Nr. 5003, S. 252 f. Vgl. BAMs, DA AA VI A 44, Konzept o. D., fol. 11r–v. Vgl. ebd., Konzept 22.07.1805 (mit Notiz 22.08.1851), fol. 9r–10r, und Schreiben 10.11.1805, fol. 12r–16v.
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Der Verlauf der Debatte um die Große Prozession ist schnell erzählt: Basierend auf Fürstenbergs Argumentation formulierte das Domkapitel beim Generalkapitel am 2. Dezember 1805 ein Schreiben an die Kriegs- und Domänenkammer, in dem die Verlegung der Großen Prozession abgelehnt wurde.97 Als Argumente wurden genannt, dass in den altpreußischen Territorien Prozessionen ungestört in der gewohnten Weise gehandhabt würden und auch die Buß- und Bettage der Protestanten auf einen Werktag fielen. Zudem würden an Fastnacht drei arbeitsfreie Tage gewährt, sodass ein halber freier Tag aufgrund einer religiösen Feier durchaus angemessen sei. Die opponierende Haltung des Domkapitels in der Frage der Großen Prozession war kein Einzelfall, sondern hatte System: Neben dem Widerstand gegen die preußische Herrschaft war hierfür die geplante Umgestaltung des Kapitels und ein damit einhergehender drohender Verlust von Standesprivilegien und Einkünften ausschlaggebend.98 Schließlich wurde das Domkapitel im September 1806 von Berlin aus aufgelöst, ein Schritt, der aufgrund des Einmarschs der französischen Truppen in Münster im folgenden Monat nicht mehr umgesetzt wurde. Ein weiterer Schriftwechsel zur geplanten Verlegung der Prozession liegt nicht vor99 – sei es, weil die preußische Verwaltung eingelenkt hatte oder weil sie keine Zeit mehr fand, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Unter napoleonischer Herrschaft ab Herbst 1806 und ab 1815 unter erneuter preußischer Herrschaft blieb es beim Termin der Großen Prozession. Erst seit 1993 wird sie sonntags gefeiert.100
3. Franz von Fürstenbergs Beurteilung der Großen Prozession Innerhalb dieser Debatte um die Große Prozession 1805 sind die beiden Entwürfe aus der Feder Franz von Fürstenbergs von besonderem Interesse.101 Die Argumentation Fürstenbergs kann wichtige Hinweise auf die zeitgenössische Beurteilung der Großen Prozession liefern, zumal – wie bereits erwähnt – über die Große Prozession im 18. Jahrhundert kaum etwas bekannt ist. Insgesamt lassen sich vier zentrale Punkte ausmachen, die nach Ansicht Fürstenbergs gegen die Verlegung der Großen Prozession vom Montag auf einen Sonntag sprechen. Neben der Tradition der Pro97 98
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Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., Konzept o. D., fol. 18r–v; LAV NRW W, Domkapitel Münster, Akten, Nr. 5003, S. 456. Vgl. hierzu und zum Folgenden Frie, Laboratorium, S. 270 f.; Haas, Domkapitel, S. 18–21; Keinemann, Domkapitel, S. 219 f.; Lahrkamp, Jahre, S. 19; Lahrkamp, Münster, S. 369–374. Der entsprechende Vermerk im Protokoll findet sich in LAV NRW W, Domkapitel Münster, Akten, Nr. 5004 (Domkapitelsprotokoll 1806), S. 537. Das Adelsmonopol im Domkapitel wurde 1812 mit der Umgestaltung unter französischer Herrschaft aufgehoben. Es findet sich auch kein Hinweis im Domkapitelsprotokoll für das folgende Jahr 1806 (LAV NRW W, Domkapitel Münster, Akten, Nr. 5004), wo ein Reskript der Regierung vermutlich verzeichnet worden wäre. Vgl. Gillner, Große Prozession, S. 155. Vgl. hierzu und zum Folgenden BAMs, DA AA VI A 44, Konzept 22.07.1805 (mit Notiz 22.08.1851), fol. 9r–10r, und Schreiben 10.11.1805, fol. 12r–16v.
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zession (1.) sind hierbei die Meinung der Bevölkerung (2.), das Vorgehen in anderen Regionen (3.) und mögliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung (4.) zu nennen. Zunächst zum ersten Punkt: Im Gegensatz zur Kriegs- und Domänenkammer, die den Stiftungsanlass der Großen Prozession lediglich als einen jahrhundertealten „Brandschaden“102 bezeichnete, maß Fürstenberg den Ereignissen der Jahre 1382 und 1383 eine ungleich größere Bedeutung bei. Zutreffend verwies er auf die Pestepidemie und die Brandkatastrophe im folgenden Jahr als Auslöser der Prozession, „zwey so furchtbare Ereignisse, daß dieselbe[n] ganz im Geist der heiligen Schrift und der katholischen Kirche als eine Geissel Gottes zur Strafe und zur Warnung von unserem Gottesfürchtigen Volcke angesehen wurde[n]“.103 Gerade weil diese Ereignisse so zentral für die Münsteraner waren, habe man die Prozession auf einen Wochentag gelegt, um der „Buß-, Bet- und Dankfeyer“104 ein höheres Gewicht zu verleihen. Diese große Bedeutung habe sich die Prozession auch rund vier Jahrhunderte nach ihrer Einführung bewahrt: „Dieser Gedanke war sehr wichtig, und die Erfahrung hat bis auf diese Zeit denselben bestätiget; wenn man Rücksicht nimmt auf das ganze imposante Äußere, auf die Zahl der Begleitenden, und auf den erbaulichen Anstand dieser ganzen Volcksmengen.“105 Es wird deutlich, dass Fürstenberg die Große Prozession keineswegs als überkommenes Fest betrachtete, dessen Verlegung bloß übersehen wurde, sondern vielmehr als zentrale kirchliche Feier der Stadt mit einer sehr langen Tradition,106 die eben nicht geändert werden sollte, weil sie dann „nicht mehr das seyn [würde, L. K.], was sie ist“.107 Mit dem Verweis auf die Geschichte und Tradition der Großen Prozession spricht Fürstenberg einen Punkt an, der im Umgang mit dieser Feier stets von zentraler Bedeutung war. So gut wie jedes Schriftstück erwähnt den Ursprung der Prozession und trägt zur Erinnerung an die Ereignisse des 14. Jahrhunderts bei. Gleichzeitig wurde die lange Existenz und Beständigkeit der Feier zum Argument, etwa wenn es um die (Nicht-)Aufnahme
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BAMs, DA AA VI A 44, Schreiben 09.07.1805, fol. 3r. BAMs, DA AA VI A 44, Konzept 22.07.1805, fol. 9r–10r, hier fol. 9r. Ebd., fol. 9v. Ebd. Tradition wird verstanden als Praxisform oder kulturelle Institution, die bestimmte Werte und Normen durch Wiederholung veranschaulicht und verinnerlicht. Zentral für den Vorgang des Tradierens ist das Herstellen von Kontinuität zur Vergangenheit. Aleida Assmann versteht Tradition in dieser Form als Gegenstück zur Kommunikation: Während Kommunikation die Weitergabe von Nachrichten durch den Raum umschreibt, bezieht sich Tradition auf die Übermittlung von Nachrichten durch die Zeit. Mit Max Weber könnte man Traditionen als basierend auf der Heiligkeit altüberkommener, von jeher bestehender Ordnungen begreifen (wobei Weber Formen z. B. der traditionalen Herrschaft eher negativ als vorreflexiv einstuft). Der Traditionsbegriff in dieser Form ist keinesfalls mit dem theologischen Traditionsbegriff gleichzusetzen, sondern besitzt vielmehr Anknüpfungspunkte zu ethnologischen Ansätzen. Vgl. Aleida Assmann, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln u. a. 1999; Eric Hobsbawm, Introduction: Inventing Traditions, in: ders. und Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, 17. Aufl. Cambridge 2009, S. 1–14. BAMs, DA AA VI A 44, Konzept 22.07.1805, fol. 9r–10r, hier fol. 9v.
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neuer Gruppen in die Ordnung der Prozession ging.108 Fürstenbergs Argumentation zeigt anschaulich, dass am Beginn des 19. Jahrhunderts die Erinnerung an den Ursprung der Feier zum Standardrepertoire im Umgang mit der Großen Prozession gehörte. Gleichzeitig fügt sich diese Beurteilung in Fürstenbergs eigenes Verständnis von Religion ein. Erich Trunz folgend kann man hier einen „Sinn für Tradition und Sinn für das Sakramentale“ erkennen.109 Die von Fürstenberg angeführten „Volcksmengen“ verweisen bereits auf die zweite Begründung: die Einwohner Münsters. Diese hätten, so Fürstenberg, „ganz wichtige Gefüle“110 für die Große Prozession, eine Verlegung würde daher „nicht anders als schmerzhaft seyn“.111 Kombiniert wird dies mit dem dritten Argument, der Verfahrensweise in anderen Regionen und bei anderen Feiertagen: „Wenn man betrachtet, daß in der Fastnachts und in der Pfingstzeit fast ganze Wochen in Schwärmerey ungehindert zugebracht werden, so wird sich das Catholische Publicum wundern, daß man ihm nicht zulaßen will nur einen halben Tag einer von uralten Zeiten her immer hin so ehrwürdigen und lieben religiosen Feyer zu widmen.“112 An anderer Stelle schreibt das Domkapitel, eine Verlegung würde einen „gar zu widrigen Eindruck“113 machen, da die Bevölkerung wisse, dass den Katholiken in anderen preußischen Provinzen durchaus die Beibehaltung der Prozessionen in der gewohnten Form erlaubt sei.114 Zudem fänden auch die Buß- und Bettage der Protestanten an Werktagen statt, „und so würde die Versetzung dieser Prozeßion wenn dieselbe vom Thumbkapitel oder Vicariat verfüget würde, für das Volck ein wahres Ärgerniß seyn“.115 Im zweiten Schreiben erweitert Fürstenberg die Argumentation außerdem um die Probleme, welche die praktische Umsetzung der Verlegung nach sich zöge. Die Prozession sei nur schwer mit dem Pfarrgottesdienst am Sonntag in Einklang zu bringen, weil die Prozession zeitgleich mit dem katechetischen Unterricht, dem Besuch der Messe, der Beichte und der Eucharistiefeier stattfinden würde. Die genannten Überlegungen – insbesondere zur Tradition der Prozession – ließen für Fürstenberg nur eine Schlussfolgerung zu: „Diese Consideration überwiegt gewiß die Absicht der Königl. Kriegs- und Domainenkammer: ‚Die Benutzung eines halben Tags zur Arbeit‘.“116 So deutlich Fürstenberg in seiner Argumentation die große Bedeutung der Prozession für die Bewohner Münsters unterstreicht – im 108
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Diese Argumentation funktioniert epochenübergreifend, ein Beispiel aus dem frühen 20. Jahrhundert findet sich bei Lena Krull, Demonstrativer Katholizismus und gleichberechtigtes Geschlechterverhältnis – Studentische Korporationen in der Großen Prozession in Münster im 19. und 20. Jahrhundert, in: Brademann u. a., Liturgisches Handeln. Vgl. Erich Trunz, Franz Freiherr von Fürstenberg. Seine Persönlichkeit und seine geistige Welt, in: Westfalen 39 (1961), S. 2–45, hier S. 34. BAMs, DA AA VI A 44, Konzept 22.07.1805, fol. 9r–10r, hier fol. 9v. Ebd. BAMs, DA AA VI A 44, Schreiben 10.11.1805, fol. 12r–16v, hier fol. 14v–15r. BAMs, DA AA VI A 44, Konzept o. D., fol. 6r–7v, hier fol. 7r. Vgl. ebd. BAMs, DA AA VI A 44, Konzept 22.07.1805, fol. 9r–10r, hier fol. 10r. Ebd., fol. 9r.
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endgültigen Schreiben des Domkapitels an die Kriegs- und Domänenkammer findet man diesen Punkt nicht wieder.117 Lediglich die pragmatischen Gründe – drei freie Tage an Fastnacht, Verfahren in anderen Provinzen, protestantische Buß- und Bettage – wurden zur Argumentation genutzt. Offenbar war das Domkapitel der Meinung, die Kriegs- und Domänenkammer werde kaum Interesse an der Traditionsargumentation zeigen. Der emotionale Ton des Schreibens vom 22. Juli 1805 steht im Gegensatz zu Fürstenbergs sonstigem Schriftgut. Besonders deutlich wird dies in einem Brief, den Fürstenberg 1804 über den Erzherzog und gewählten Bischof von Münster Anton Viktor von Österreich an Kaiser Franz II. zu richten gedachte und in dem er den Zustand der Religion im Bistum Münster beschrieb: „Der Geist dieses Bisthums ist, durch Gottes Gnade, noch sehr religiös und tugendhaft, die sorgfältige Bildung der Geistlichkeit im Gymnasio, der Universitaet und dem Seminario; die Vergebung der Pfarreyen durch Concord; die Kirchenzucht und insonderheit die vortreffliche von Weiland Sr. Churfürstlichen Durchlaucht Eur. Kayserlichen Majestät Herrn Oheim zur Vollkommenheit gebrachte Einrichtung der Landschulen, und die den Schullehrern gratis ausgetheilte und bey dem gemeinen Mann in Gang gebrachte zweckmäßige Lehr- und andere Bücher haben wahres Licht verbreitet und, durch die Gnade Gottes, große und feste Anhenglichkeit an Religion und Tugend bewirkt.“118 Prozessionen und andere Formen der Frömmigkeit spielen hier keine Rolle für die „Anhänglichkeit“ an die Religion, die vielmehr durch eine kompetente Seelsorge und Bildung im Sinne einer „wahren“, also katholisch fundierten Aufklärung bewirkt wird.119 Möglicherweise nähert sich der Stil von Fürstenbergs Rhetorik in den Schreiben zur Großen Prozession eher religiösen Betrachtungen, wie er sie in Briefen und Tagebüchern niederschrieb120 und die als Resultat seiner im Alter zunehmenden Religiosität121 zu sehen sind. Es war für Fürstenberg eine Lebensphase, in der ihm Arbeit keineswegs mehr leicht fiel, sondern ihn nach seiner Meinung zu sehr von der religiösen Betrachtung ablenkte.122
Fazit Die Debatte um die Große Prozession 1805 ereignete sich in einer Zeit des persönlichen Machtverlusts Fürstenbergs wie des allgemeinen politischen Übergangs. Es wurde gezeigt, dass die Initiative der Kriegs- und Domänenkammer den ersten Versuch darstellte, die Große Prozession zu regulieren. Von den Reformen der ka117 118 119 120 121 122
Vgl. BAMs, DA AA VI A 44, Konzept o. D., fol. 18r–v. BAMs, Gräflich Droste zu Vischering’sches Archiv Darfeld Nachlass Fürstenberg, Nr. 148, Konzept 09.11.1804 (Hervorhebung im Original). Zur Unterscheidung zwischen ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Aufklärung im zeitgenössischen katholischen Diskurs vgl. Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit, S. 318. Vgl. Trunz, Fürstenberg. Vgl. Keinemann, Fürstenberg, S. 84 f. Vgl. Trunz, Fürstenberg, S. 33.
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tholischen Aufklärung war die Feier nicht berührt worden, weil ihre vergleichsweise schlichte Form als Sakramentsprozession nicht auf Widerspruch stieß. Ablauf und Form der Debatte von 1805 waren gekennzeichnet von den Machtkonstellationen im Domkapitel mit den Parteien Fürstenberg und Spiegel, ebenso aber von einem vorsichtigen Ausloten des Spielraums, den sich das Domkapitel gegenüber der Kriegs- und Domänenkammer erlauben konnte. Fürstenbergs Einsatz für die Große Prozession ist einerseits vor diesem Hintergrund zu betrachten, andererseits zeigt sich hier auch seine ausgeprägte Religiosität. Der katholische Aufklärer Fürstenberg beschrieb die Große Prozession dabei als Feier von zentraler Bedeutung für die Einwohner Münsters, die ihren Bußcharakter über die Jahrhunderte hinweg bewahrt habe. Es war diese auch an anderer Stelle skizzierte Tradition der Prozession, die Fürstenberg veranlasste, sich für sie einzusetzen. Abschließend sei auf ein treffendes Diktum von Erich Trunz verwiesen, der Fürstenbergs Leben folgendermaßen zusammenfasst: „In seiner Jugend war er der aufklärerische Domherr […], später der christliche Politiker, der Schöpfer der Schulen. Im Alter wird er immer mehr ein homo religiosus, und was er jetzt leisten will, ist nur noch eine innere Leistung, wie das Gebet sie ist.“123 Die Debatte um die Große Prozession 1805 spiegelt in einem Beispiel das Endstadium dieser Entwicklung Fürstenbergs zu einem homo religiosus.
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„Gott gebe uns Licht und Liebe“ Die religiöse Dimension in der Freundschaft zwischen Franz von Fürstenberg und Amalia von Gallitzin „Gott gebe uns Licht und Liebe“ – so lautet der von Franz von Fürstenberg seit 1785 sehr regelmäßig verwendete Abschluss der Briefe an Amalia von Gallitzin. Diese Briefe sind Ausdruck einer Freundschaft, die von Hans Erich Bödeker als „Brennpunkt des Kreises von Münster“ bezeichnet worden ist.1 Anhand der Korrespondenz, die aus dieser Beziehung hervorgegangen ist, insbesondere der standardisierten brieflichen Schlusswendungen, soll diese Freundschaft hier einerseits mit ihrer religiösen Ausrichtung in den Blick genommen werden, anderseits soll ihre Bedeutung für den ‚Kreis von Münster‘ als – wie ich es formuliert habe – eines ‚Religiösen Salons‘ mithilfe neuester Aussagen der Salon-Forschung überprüft werden. Dazu werde ich zunächst einige Etappen dieser Beziehung vor Augen führen. Nach der darauffolgenden Untersuchung zweier ausgewählter Briefabschluss-Formeln, die jeweils von Fürstenberg bzw. von Gallitzin vorwiegend verwendet wurden, münden meine Ausführungen in die Frage, welchen Beitrag die Beschreibung dieser Freundschaft zur Einordnung des ‚Kreises von Münster‘ als eines Salons der Fürstin Gallitzin liefern kann. In diesem letzten Schritt ist zumindest ein Ausblick auf die Einbindung des ‚Kreises von Münster‘ in den sogenannten Spinozastreit enthalten, die philosophisch-theologische Debatte zur Gottesfrage, die in den 1780er Jahren durch Friedrich Heinrich Jacobi angestoßen wurde und in die alle führenden zeitgenössischen Philosophen eingebunden waren. Unter den Stellungnahmen aus dem ‚Kreis von Münster‘ sind nach meiner Einschätzung die Beiträge Fürstenbergs und Gallitzins als die herausragenden Exponenten anzusehen.
1. Die Freundschaft zwischen Fürstenberg und Gallitzin Den Anlass des ersten Kontaktes zwischen Fürstenberg und Gallitzin bildete die münsterische Schulordnung von 1776, welche die Fürstin zu Beginn des Jahres 1779 in die französische Sprache übertrug. Fürstenberg hatte den Text im deutschen Original verschiedenen Gelehrten zur Stellungnahme zugesandt, so auch dem niederländischen Philosophen Frans Hemsterhuis (1721–1790). Vermutlich war die Übersetzung zunächst aus kommunikationstechnischen Gründen notwendig, da1
Hans Erich Bödeker, Der Kreis von Münster – Freundschaftsbund, Salon, Akademie?, in: Peter Albrecht u. a. (Hg.), Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750– 1820, Tübingen 2003, S. 139–160, hier S. 147.
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mit Hemsterhuis, der die deutsche Sprache nicht beherrschte, den Text überhaupt verstehen konnte.2 Hemsterhuis hat Fürstenberg dann die französische Fassung zugeschickt, ohne den Namen der Übersetzerin preiszugeben. Die Entstehung der Übersetzung beschrieb er in einem Brief folgendermaßen: Er habe die Schulordnung einer angesehenen Person vorgelegt, die über die Tiefe, die Wahrheit und die uneingeschränkte Nützlichkeit der Schrift so überrascht war, dass sie sich sofort daran begeben habe, sie zu übersetzen, „mit der Absicht, sie irgendwo drucken zu lassen, damit auch diejenigen daraus Nutzen ziehen können, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind“.3 Zudem kündigte Hemsterhuis den Plan der Übersetzerin an, zu der Schulordnung ein Vorwort zu verfassen. Der Text solle so um die Behandlung der Phase von der Geburt des Kindes bis zu dem Alter der Schulreife, bei dem die Schulordnung ursprünglich ansetzt, ergänzt werden. Hemsterhuis wies nachdrücklich auf die pädagogische Kompetenz, die Einsichten und die Erfahrungen der ungenannten Person hin.4 Der münsterische Minister zeigte sich beeindruckt. In seinem Antwortbrief schilderte er Hemsterhuis, dass er mit Sprickmann, der den Text aus den Aufzeichnungen Fürstenbergs redigiert hatte, die Übersetzung studiert habe. Dabei sei ihnen aufgegangen, dass der deutsche Text Unklarheiten aufweise. In den meisten Fällen, in denen die Übersetzung vom Original abweiche, habe sich das Original als rätselhaft und manchmal zweideutig erwiesen.5 Das Fazit: Die Übersetzung erscheine ihnen leserfreundlicher als das Original, darum solle dieses überarbeitet werden, während sie die Übersetzung unverändert gelassen hätten.6 Später wurde bekannt, dass die Fürstin die Übertragung angefertigt hatte, auch wenn der Plan, die erweiterte französische Fassung zu veröffentlichen, wohl nicht zur Durchführung gekommen ist.7 Den Anlass der Übersetzung bildete somit eine freundschaftliche Gefälligkeit gegenüber ihrem niederländischen Freund. Die Folgen für ihren weiteren Lebensweg waren gleichwohl weitreichend: Aus ihrem begeisterten Interesse an Fürstenbergs 2
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Vgl. Gallitzin an Hemsterhuis, Brief vom 10.11.1783 (Universitäts- und Landesbibliothek Münster [im Folgenden ULB Ms], Nachlass Gallitzin, Bd. 2, S. 655), wo sie davon absieht, dem Niederländer ein Dialogmanuskript zuzusenden, weil es in deutscher Sprache verfasst ist: „je vous les enverrois s’ils n’etoient [pas] allmands et je dois me servir de cette langue“. Hemsterhuis an Fürstenberg, Brief etwa Anfang 1779 (Abschrift): ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 19, Nr. 107. Übersetzung durch die Autorin. Ebd. Fürstenberg an Hemsterhuis, Brief vom 21.03.1779: Siegfried Sudhof (Hg.), Der Kreis von Münster. Briefe und Aufzeichnungen Fürstenbergs, der Fürstin Gallitzin und ihrer Freunde, Münster 1962/64, Teil 1.1, Nr. 36, S. 38: „Nous ne pouvions pas nous cacher que dans la plupart des endroits où la traduction s‘éloigne de l‘original, l’original étoit énigmatique et quelquefois ambigu.“ Ebd.: „Par cette raison nous n’avons rien changé. […] En général, je prévois que la traduction sera beaucoup plus lue que le règlement même, et par conséquent elle fera plus de bien si ce règlement peut en faire.“ Ebd.: „Nous avons commenté le texte allemand pour rendre ces petites rectifications plus faciles.“
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Projekten zog sie die Konsequenz, dass sie nach einem ersten Besuch im Jahr 1779 endgültig mit ihren beiden Kindern nach Münster übersiedelte. An welchem Punkt standen die beiden, Fürstenberg und Gallitzin, als sie sich kennenlernten? Er war zwölfjährig mit dem Empfang der Tonsur in den Klerikerstand aufgenommen worden.8 Die im Alter von 28 Jahren empfangene Subdiakonatsweihe verpflichtete ihn zum Zölibat und zum Stundengebet.9 Diese Weihestufe hat er nicht überschritten, was seine politischen und kirchlichen Ämter auch nicht erforderten. Nur wenn er im Zuge der Koadjutorwahl Bischof geworden wäre, hätte er höhere Weihen empfangen müssen. Sein Klerikerstand erfüllte damit die Mindestanforderung an die von ihm gewählte Laufbahn. So trug er beispielsweise weltliche Kleidung, wenngleich er seinen geistlichen Stand sehr ernst nahm.10 Sie, Amalia von Gallitzin, 1748 als Tochter des Generals Samuel von Schmettau im protestantischen Berlin in die Welt des preußischen Königshofes geboren, jedoch in der Konfession ihrer Mutter katholisch erzogen, war seit 1768 mit dem russischen Fürsten Dimitri A. Golizyn (Gallitzin) verheiratet, mit dem sie, als er zum Botschafter in den Niederlanden berufen wurde, nach Den Haag zog, wo sie ihre beiden Kinder aufzogen. Amalia hatte sich schnell von ihrem Ehemann entfremdet und angefangen, die Bildungsdefizite ihrer Jugend im Studium mit dem niederländischen Philosophen Hemsterhuis aufzuholen. Sie lasen unter anderem Platon im griechischen Urtext. Die geschilderte Bekanntschaft mit Fürstenberg über dessen Schulordnung hatte die Umsiedlung der Fürstin mit ihren Kindern nach Münster zur Folge, nachdem die Pläne, in die für die Erziehung vielgepriesene Schweiz zu ziehen, aufgrund des überraschenden Todes von Pierre Gedeon Dentan, dem Hofmeister der Kinder, gescheitert waren. Er, Fürstenberg, war also ein dem Zölibat verpflichteter Subdiakon, mit dem geistlichen Amt des Generalvikars und bis 1780 mit dem weltlichen Amt des Ministers. Sie, Gallitzin, war eine von ihrem Ehemann fortan getrennt lebende Mutter zweier heranwachsender Kinder. Zwischen ihnen lag ein Altersunterschied von neunzehn Jahren. Als sie sich kennenlernten war sie 31, er 50 Jahre alt, was sie nicht daran hinderte, dass sie sich heftig ineinander verliebten. Diese Verliebtheit kommt in den schwärmerischen Briefen der ersten Zeit zum Ausdruck: Ausführlich schildern sie sich gegenseitig, was der eine beim anderen auslöst, zuerst in französischer, doch bald schon deutscher Sprache. Wie Verliebte es eben tun, geben sie sich immer neue Namen:11 Sie nennt ihn „Mon Ingenu“ und „Minnefol“, später nur noch „liebster Franz“. Fürstenberg sucht nach verschiedenen Anreden: „wie soll ich dich nennen? 8 9 10 11
Vgl. Joseph Esch (Hg.), Franz von Fürstenberg. Sein Leben und seine Schriften, Freiburg i. Br. 1891, S. 57–316, hier S. 80. Vgl. ebd. sowie Erich Trunz, Kurzbiographie Franz v. Fürstenberg, in: ders. und Waltraud Loos (Hg.), Goethe und der Kreis von Münster. Zeitgenössische Briefe und Aufzeichnungen, Münster 1971, hier die 2. erw. Aufl. 1974, S. 197–199, hier S. 197. Vgl. ebd. Vgl. die Kapitel „Neue Namen“ und „Warum neue Namen, warum viele Namen?“, in: Ernst Leisi, Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung, 4. Aufl. Heidelberg und Wiesbaden 1993, S. 17–33.
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[…] Du liebes, liebes unding“.12 Er unterschreibt seine Briefe so, wie sie ihn nennt, mit „Minnefol“ und redet sie als „Urania“13 und „Divine Sulmalla“14 an: „L’ingénu baise les piés à la Divine Sulmalla. Il se porte parfaitement bien, la tête libre, le cœur plein de Sulmalla; Dieu! Comme il aime sa Sulmalla. La nuit il se réveilla plusieurs fois, mais toujours ‚Sulmalla‘.“15 Erst nach längerer Zeit findet er zu einem ruhigeren und regelmäßigen „liebste Adelheide“. Eine weitere durchgehende Namensvariante stellt „Adeodata“ dar: „Guten morgen, liebste Adeodata“16 und „Gute Nacht liebste Adeodata. J.C sey in uns“,17 schreibt Fürstenberg ihr beispielsweise in seinen Grüßen zu den verschiedenen Tageszeiten. Auch als sie in der deutschsprachigen Korrespondenz längst eingespielt sind, finden sich bisweilen französische Zeilen: „Ne m’attendez pas cher adeodata avant Sept heures.“18 Gegenseitig bezeichnen sie sich als „Engel des Himmels“.19 Bei allen wechselseitigen Namensgebungen fehlen die in der Paar-Sprache üblichen Verniedlichungen. Darüber hinaus zeichnet sich vor allem in der Ausdrucksweise Fürstenbergs eine Tendenz ab, seine Briefpartnerin in eine himmlische Sphäre zu erheben. Schon 1780 brachte Gallitzin ihm gegenüber zum Ausdruck, dass er als Freund einen besonderen Rang bei ihr einnehme wie keiner sonst: „zwischen Gott, und dem ganzen ubrigen welt umfang ist dein Platz allein in Adelaidens Herz.“20 Ihrer Beziehung schrieb Gallitzin einen religiösen Charakter zu: „mon ingenu […] notre union
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Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 29.12.1779: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 69, S. 62. Zu „Urania“ als einer der ältesten Titulierungen der Göttin Aphrodite, die mit den Ursprüngen des Aphrodite-Kultes im Vorderen Orient in Verbindung gebracht wird, vgl. Martina Seifert, Aphrodite – eine Liebesgöttin auf einer langen Reise, in: dies. (Hg.), Aphrodite: Herrin des Krieges, Göttin der Liebe, Mainz 2009, S. 14–26, hier bes. S. 19. Sulmalla = Tochter des schottischen Königs von Inishuana bei James Macpherson (1736–1796), der sein Werk dem gälisch-mythologischen Dichter Ossian zuschrieb. Ossians vorgebliche alte Gesänge aus dem Keltischen, die seit 1768/69 in deutscher Übersetzung vorlagen, lösten eine Welle der Begeisterung unter den Sturm und DrangDichtern aus. Goethe verarbeitete und zitierte sie in seinem Werther; Friedrich Leopold zu Stolberg übersetzte das Werk. Vgl. Wolf Gerhard Schmidt, „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur, 4 Bde., Berlin 2003/04. Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 25.12.1779: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 68, S. 62. Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 05.12.1789: ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7 Nr. 147. Fürstenberg an Gallitzin, Brief aus dem Jahr 1790 [?]:ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 8 Nr. 2. Vgl. exemplarisch in späteren Jahren: Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 08.03.1796: ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 12 Nr. 1. Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 09.04.1789, ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 7 Nr. 144. Vgl. Fürstenberg an Gallitzin, Brief aus dem Herbst 1780: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 105, S. 91; Gallitzin an Fürstenberg, Brief um 1779/1780: ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 16 Nr. 36. Gallitzin an Fürstenberg, Brief vom 13.05.1780: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 82, S. 70 (Hervorhebung im Original).
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sa base et son but – [est] la plus belle comm[e] la plus pure des religions“.21 Und in einem undatierten Brief, der möglicherweise aus derselben Zeit stammt, schrieb sie unbefangen: „gutten morgen mein lieber Franz. Ich habe dich recht lieb Wenn ich dich hier hätte, wollte ich dich so an mein Herz drücken daß du es mit leib u Seele Fühlen solltest wie ich dich liebe.“22 Im Herbst 1780 betrachtete Fürstenberg ihre Freundschaft in einer weit ausholenden Reflexion: Sie sei für ihn die Partnerin, von der er seit seiner Jugendzeit geträumt habe, mit der er seine Ideale teilen könne; nach vielen Enttäuschungen sei sie diejenige, die ihm den Traum erfülle: „Es hatte mich schon in meinen jugend jahren geahndet, daß es eine freundschafft geben müßte, wo man wechselseythig in des anderen Hertzen diejenige Gluckseeligkeit genöße, welche ein großer Grad eigener vollkommenheit dem Menschen gewähren kann; daß ein solcher Genuß liebe zur Hochsten begeisterung erhöhen, die liebende[n] dem Zustand der unsterblichen Seeligen näheren, sie reißend zu höherer vollkommenheit hinauffschwingen und so vollkommenheit, Gluckseeligkeit und liebe in einer progression anwachsen müsten. Ich hatte mir eine solche liebe gewünschet, hatte sie gesucht: Aber ich war auff lauter Seelen gefallen, welche entweder von tand und gemachten leydenschafften eingenomen, oder für mich zu kalt, oder doch nicht eins gestimmet waren. […] So kam ich zu dir, Engel des Himmels, bald darauff regten sich die Sinne bey mir, nicht als absicht, sondern sie empöreten von selbst sich in unseren süßen vertraülichen stunden. Ich gestande es mir anfangs nicht, ich hielte bey einer solchen liebe für ein kleines, die natur unter dem fuße zu halten, zuletzt aber konnte ich mir es nicht verhelen.“23 Nachdem sie diese Zeit der Verliebtheit gemeistert hatten, entwickelte sich die Beziehung zu einer dauerhaften und tiefen, wenn auch nicht spannungs- und schwankungsfreien Freundschaft, und sie wurden füreinander zum jeweils wichtigsten Menschen. In ihrer gemeinsamen Zeit gab es für beide einen tiefen persönlichen Einschnitt, in dem deutlich wurde, was sie sich gegenseitig bedeuteten. Bei Fürstenberg kann dies an den Vorgängen um die Koadjutorwahl deutlich werden, aus der er als Verlierer hervorging – er trat im Vorfeld, als sich abzeichnete, dass er nicht gewinnen würde, von der Wahl zurück –, worauf sein erzwungener Rücktritt als Minister folgte.24 Dieser Vorgang bedeutete die empfindlichste Niederlage seiner beruflichen Laufbahn und stand schon am Anfang ihrer Freundschaft. Das tiefere sich Einlassen auf die Seelengefährtin mag durch diesen empfundenen Misserfolg überhaupt erst möglich geworden sein. Die Fürstin ihrerseits wurde 1784 todkrank und machte ihr
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Gallitzin an Fürstenberg, Brief um 1779/1780: ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 16 Nr. 36. Gallitzin an Fürstenberg, undatierter Brief: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 573, S. 471. Fürstenberg an Gallitzin, Brief aus dem Herbst 1780: ebd., Nr. 105, S. 90 f. Vgl. Alwin Hanschmidt, Das Fürstbistum Münster im Zeitalter der Aufklärung. Die Ära Fürstenberg, in: Westfalen 83 (2005), S. 62–79.
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Testament, in dem sie mit Einverständnis ihres Ehemannes Fürstenberg als Erben und Vormund für ihre Kinder einsetzte.25 Fürstenberg, der seine Freundin überlebte, schrieb nach ihrem Tod an Goethe: „Die Fürstin v. Galitzin ist todt: wenn Gott mich von der Welt abruffet, so hoffe Ich mit Ihr in Ihm vereiniget zu werden.“26 Es sieht so aus, als ob auch für ihn nach dem Verlust der Fürstin der Vorhang gefallen sei, wobei ihm zugleich die jenseitige Vereinigung in Gott als hoffnungsvolle Perspektive erschien.
2. Die Korrespondenz als Spiegel religiöser Bildungsprozesse Während die politische und kirchliche Reformarbeit Fürstenbergs gut und kontinuierlich erforscht worden ist, darf gegenüber dem Staatsmann und Pflichtmenschen die Erkundung des persönlichen Fürstenberg, wie er seine Neigungen und Interessen, seine freundschaftlichen Beziehungen und seine Frömmigkeit sah und lebte, noch mehr Raum gewinnen. Ein wichtiger Ausdruck hierfür sind seine Briefe, unter denen die an Amalia von Gallitzin die größte Gruppe darstellen. Erich Trunz, der im Jahr 2001 verstorbene Goethe-Forscher und Herausgeber des Quellen-Bandes Goethe und der Kreis von Münster (1971), weist den persönlichen Zeugnissen Fürstenbergs innerhalb des zeitgenössischen Kontextes einen hohen Stellenwert zu: Fürstenbergs „Tagebücher und die Briefe an Amalia v. Gallitzin […] gehören zu den bedeutendsten Lebenszeugnissen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Deutschland. In einer Epoche, in der andere den Freundschaftsbrief, den Stimmungsbrief oder die gegenständliche Lebensschilderung und literarische Erörterung im Brief entwickelten, schrieb er religiöse Meditationsbriefe, die zu ihrer Zeit in Deutschland wohl einzigartig waren.“27 Letztlich verschmolzen Meditations- und Freundschaftsbrief bei Fürstenberg, denn die geistlich verstandene Vervollkommnung war immer unmittelbar mit dem reflektierenden Austausch und der Bewährung innerhalb der Beziehung verflochten. Im Gallitzin-Nachlass der Universitäts- und Landesbibliothek Münster sind 1.900 Briefe Fürstenbergs an Gallitzin erhalten,28 die tagtäglich verfasst wurden, manchmal sogar häufiger als einmal pro Tag, also auch und gerade dann, wenn beide sich in Münster aufhielten. Neben aktuellen Tagesthemen, wie zum Beispiel der Tod Friedrichs des Großen,29 waren regelmäßig wiederkehrende Anlässe 25 26
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Gallitzin, Testament vom 13.03.1784: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 185, S. 164 f. Vgl. Mathilde Köhler, Amalie von Gallitzin. Ein Leben zwischen Skandal und Legende, Paderborn u. a. 1993, S. 93–101. Fürstenberg an Goethe, Brief vom 09.03.1807: Trunz/Loos, Goethe, Nr. 261, S. 120. Vgl. Alwin Hanschmidt, „Menschen bilden“ war sein oberstes Ziel. Das Bistum Münster erinnert sich an den Generalvikar und „Bildungspolitiker“ Franz von Fürstenberg, der vor 200 Jahren starb, in: Auf Roter Erde. Heimatblätter für Münster und das Münsterland. Beilage zu den Westfälischen Nachrichten vom 11.09.2010. Trunz, Franz v. Fürstenberg, S. 198. Vgl. ebd., S. 199. Vgl. Gallitzin an Fürstenberg, Brief vom 26.08.1786: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 344, S. 304 f.
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die Nachfrage nach dem gesundheitlichen Befinden des Briefpartners und entsprechende eigene Berichte, ferner ein Anknüpfen an die letzte Begegnung – besonders wenn noch klärungsbedürftige ‚Reste‘ übriggeblieben waren.30 Dazu als Beispiel ein Brief aus dem Jahr 1783, in dem Fürstenberg an Gallitzin schrieb: „Guten morgen, meine liebste Adelheide. Gestern war ich bey dir sehr verlegen; Es gienge mir durch den Kopf, du liebtest mich gar nicht mehr: und doch schiene mir eben dieser trübe gedancken so unwahrscheinlich, daß ich ihn beständig zu verbannen suchte, bißweilen wollte ich darüber nachsinnen, aber nachsinnen, zu einem bestimmten urtheil gelangen, konnte ich nicht; Es kame mir nichts als nur diese verworrene schmertzhaffte Empfindung: fragen konnte ich dich auch nicht, dann da es so verworren in mir lage, so kame mir nichts welches ich hatte mit worten außdrücken können: […] Nichts ist so kranckend als lieben, und seine liebe nicht können fühlen machen. Ich ware Niedergeschlagen, muthlos dann anwallungen von unwillen, dann unwillen gegen mich, Und bestreben, mich in Harmonie zu setzen, so viel ich konnte: um wahr zu Empfinden, ohne durch meine eigene vorstellungen und bewegungen getauschet zu werden. […] Niemahlen habe ich dich so empfunden als jetz (nur daß ich nicht so Empfinde daß du mich liebst), Niemahlen so sehr gewünscht daß wir uns alles das seyn, was wir uns seyn können: Niemahl so deutlich Empfunden wie viel wir mit einander mehr, als jeder eintzelner seyn können. Wan wir einer an des anderen verbeßerung und arbeit theil nehmen, wir werden beßer und würcksamer werden. […] Unsere Hoffnung, unser Endzweck ware allezeit hand in hand den steilen pfad der vervollkomnung uns hinauff zu helffen. Es scheinet mir, wir haben einige schritte gemacht – jetz verlaß mich nicht – Unsere liebe wird Ewig seyn, Ich dencke sie mir unter dem spruch ‚Psyche immortalis esto‘.“31 Dieser Brief enthält das ganze Programm der Selbstbildung und der gegenseitigen Bildung innerhalb dieser Freundschaft. Er schließt mit dem Spruch, der in dem Briefsiegel der Fürstin enthalten ist: „Sume psyche immortalis esto.“ – „Nimm es an, Seele, du sollst unsterblich sein.“ Außerdem enthalten die Briefe Rückblicke auf die Beschäftigungen des Tages unter dem Blickwinkel, ob bei diesen die Maßstäbe der Selbsterziehung eingehalten worden sind, wie etwa das Bewusstsein der Gegenwart und des Willens Gottes wach zu halten oder sich eine innere Ruhe und Ausgegli30
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Zu diesen regelmäßigen Briefthemen des 18. Jahrhunderts vgl. Rainer Brockmeyer, Geschichte des deutschen Briefes von Gottsched bis zum Sturm und Drang, Münster 1961, S. 283. Daneben Elke Clauss, Liebeskunst. Der Liebesbrief im 18. Jahrhundert, Stuttgart und Weimar 1993, S. 110: „Was uns Heutige befremdet, uns zumindest als unerotisch und nicht erörterbar gilt, hatte im Liebesbrief, in einer gewissen Zeitspanne des 18. Jahrhunderts, die Funktion einer imaginären körperlichen Präsenz.“ Fürstenberg an Gallitzin, Brief Ende 1783: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 178, S. 156 f. Eine später zu datierende Briefstelle mag belegen, wie das Ringen um Liebe und Verständnis eigentlich alle Phasen dieser Freundschaft durchzog: „Höre, Liebste adeodata, Ich bitte dich nimm meine worte nicht im widrigen, unangenehmen Sinn: denn, Gibstu mir den völligen genuß deiner Liebe: Ich nuze deine liebe, sie nuzet mir sehr, aber dadurch, daß du mich oft mißverstehest, entstehet bey mir eine verlegenheit, Und dadurch Genieße Ich deine liebe weniger“, Fürstenberg an Gallitzin, Brief aus dem Jahr 1790 [?]: ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 8 Nr. 41 (Hervorhebung im Original).
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chenheit der Seelenkräfte zu bewahren.32 Beispielsweise schrieb Fürstenberg an Gallitzin: „In dir braußet ein[e] Orgel wie im Gottlichen Achilleus, es wäre schade wan eine stimme weniger oder schwächer wäre: Aber sie müßen gestimmt seyn – und da sie so starck sind, genau gestimmt.“33 Im Folgenden möchte ich die beiden in der Korrespondenz am häufigsten vorkommenden Briefabschlussformeln näher untersuchen, auch wenn sich die religiöse Dimension dieser Freundschaft hierin natürlich keineswegs erschöpft.34 Eher kann man vielleicht sagen, dass sie sich in ihnen auf besondere Weise kristallisiert und bündelt.
Die Briefabschlussformel „Gott gebe uns Licht und Liebe“ – „G. g. u. L. u. L.“ Seit 1785 verwendete Fürstenberg über Jahre hin am Schluss seiner Briefe an Gallitzin nicht immer, aber doch sehr häufig die Formel „Gott gebe uns Licht und Liebe“, zunehmend abgekürzt als „G. g. u. L. u. L.“ und in manchen Fällen leicht variiert.35 Licht und Liebe, diese beiden Worte stellen Ur-Theologoumena der Bibel dar, auch wenn sie in der Kombination als „Licht und Liebe“ tatsächlich in der ganzen Bibel nicht auftauchen, nicht einmal innerhalb eines Verses. Das Licht steht am Anfang der Schöpfung: „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht […] erster Tag.“ (Gen 1,3–5). Im Johannesevangelium ist es die Selbstbezeichnung Jesu „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12), der die hymnische Beschreibung der Ankunft des Logos und des Lichts im Johannes-Prolog vorausgeht (Joh 1,4ff).36 Die Bergpredigt erklärt die Hörer der Botschaft zum „Licht der Welt“ (Mt 5,14ff). Das Verlangen nach Licht ist zugleich der Ausdruck des Aufklärungszeitalters nach Erforschung, Entdeckung und Erkenntnis. Die Aufforderung Kants „Sapere aude!“ könnte man sich in der Metaphorik der Zeit auch als Aufforderung vorstellen, den Lichtschalter zu betätigen. „Mehr Licht“ waren möglicherweise die letzten Worte Goethes. Die zentralen Bibelstellen zu Licht und Liebe dürfen wir bei den beiden bibelkundigen Freunden getrost im Hintergrund sehen: Die Fürstin soll die Bibel zwanzig-
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Vgl. Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 09.04.1784: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 188, S. 166. Fürstenberg an Gallitzin, undatierter Brief: ebd., Nr. 526, S. 441. Zur Untersuchung von Briefabschlussformeln innerhalb von Liebeskorrespondenzen vgl. Renate Stauf u. a., Liebesbriefkultur als Phänomen, in: dies. u. a. (Hg.), Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin und New York 2008, S. 1–19, bes. S. 11. Vgl. beispielsweise Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 22.04.1785: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 234, S. 215: „Gott! Jesus Christus! Licht und Liebe!“ Die ersten Verse des Johannesprologs zitierte Fürstenberg in seiner vermutlich 1787 verfassten Schrift zum Spinozastreit: Über die Entwikelung und Vervollkommnung meines Begrifs von Gott, abgedruckt in: Irmgard Niehaus, „Versuchet es, ob meine Lehre göttlich sey!“ (Joh 7,17). Aufklärung und Religiosität bei Amalia von Gallitzin und im Kreis von Münster, Münster 1999, Materialband, Nr. 22, S. 115.
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mal gelesen haben.37 Zum Schlüsselbegriff der Liebe sei nur an Jesu Doppelgebot von der Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,28–34) und an das Hohelied der Liebe bei Paulus erinnert. „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. […] Und wenn ich […] alle Erkenntnis besäße; […] hätte aber die Liebe nicht […]“ (1Kor 13,1f). Diese Fortsetzung kommt vielleicht einer Verbindung von Liebe und Licht besonders nahe: nach Weisheit und Erkenntnis strebt der Aufklärer, so könnte man im Geiste der Briefformel Fürstenbergs übertragen: „Wenn ich Aufklärung und Licht ohne Liebe besäße, wäre ich nichts“. Die Liebe muss zur Erkenntnis, Erforschung und Wissenschaft hinzukommen und damit auch zur Erkenntnis Gottes, wie Fürstenberg sich im Zusammenhang des Spinozastreits zur Frage der Beweisbarkeit Gottes äußerte: „Lieber neige Ich mich voll des Bewustseyns meiner Nicht[ig]keit in den Staub, vor dem Wesen aller Wesen, deßen Daseyn ich erkenne, deßen Nähe ich ahnde – deßen Liebe ich täglich fühle und flehe zu ihm, daß Er durch Kraft und Thätigkeit mich immer näher zu ihm hinziehe. – – – – So stund Er den[n] vollendet mein Begrif von der Gottheit, – fest wie ihn die Vernunft nicht schärfer geben kann – aber wie entfernt von der gewöhnlichen Dogmatischen Meynung dieses Gottes?“38 Mit der Formulierung „Gott gebe uns Licht und Liebe“ am Schluss seiner Briefe nahm Fürstenberg zugleich eine bittende, empfängliche Haltung ein. So kann sie auch verstanden werden als Unterbrechung der strengen reflektierenden Vervollkommnung, wie er sie bei der Fürstin vorfand, wie er sie aber auch fortwährend bei sich selbst anlegte und über welche die beiden sich regelmäßig ausgetauscht haben. „Gott gebe uns Licht und Liebe“ ist eine Bitte um Führung und Orientierung,39 wie denn diese Worte sich auch in Verbindung mit „Gott leite uns“ oder als „Gott gebe uns einfalt, licht und liebe“40 vorzufinden sind. Es ist eine Bitte um Licht und Liebe für den einzelnen und für ihrer beider Beziehung: „Gott gebe uns jedem sich selbst und den anderen zu ertragen und zu beßern. Gott segne dich und unsere lieben. Ich küße dir die hande“.41 37 38 39
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Vgl. Köhler, Amalie von Gallitzin, S. 100. Fürstenberg, Entwikelung, in: Niehaus, Aufklärung und Religiosität, Materialband, Nr. 22, S. 101 f. (Hervorhebung im Original). Das Erkenntnis und Führung vermittelnde Verständnis von Liebe findet sich in Gallitzins Beitrag zum Spinozastreit, wenn sie vom „amour universel“ spricht, einer umfassenden Liebe, die sie seit ihrer Kindheit als Leitbild in ihrem Herzen trug, die sie immer wieder ermutigte und leitete und neue Wunder entdecken ließ, vgl. Gallitzin an Hemsterhuis, Autobiographischer Antwortbrief auf die Lettre sur l’Athéisme, frühestens 1787, in: ebd., Nr. 24, S. 46. Fürstenberg an Gallitzin, undatierter Brief: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 542, S. 451: „Gestern abend habe ich mit den Proff der Philos. Sprick., Z., und Becker zu nacht gegeßen: mit Kants grundsätzen beschafftiget: Sprickm. Vertheitigte sie, Ich war eins darüber daß ich mich freue daß er einen großen theil des Metaphys. Systems stürtzt: Ich Zweiffle nicht, in einigen jahren springt alles dieses wie Seiffenblasen, und wir kommen zum gesunden menschen verstand und Selbstgefühl, als einzigen grund aller Philosophen zurück! Wie viel muß man sich plagen um zu sehen, das alles dieses wißen, nur Sophisterey, und wortkram ist. Gott gebe uns einfalt, licht und liebe.“ Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 22.04.1785: ebd., Nr. 234, S. 215.
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Die Briefabschlussformel „Ich küsse dir die Hände“ bzw. „Ich küsse dir die Hände und die Füße“ Dagegen wurde von beiden, häufiger jedoch von der Fürstin, die Briefabschlussformel „Ich küsse dir die Hände“ oder in erweiterter Form „Ich küsse dir die Hände und die Füße“ gebraucht.42 Fürstenberg verwendete in manchen Fällen die Erweiterung „und die lieben Kinder“.43 Während der Handkuss in der gesellschaftlichen Konvention selbstverständlich verbreitet war, besonders als Ehrbezeigung von Männern gegenüber Frauen und von Kindern gegenüber ihren Eltern,44 erscheint die bei dem Freundespaar vorliegende wechselseitige Variante des Fußkusses eher ungewöhnlich. Die exklusive Geste des Fußkusses ist ein Ausdruck der demütigen Unterwerfung unter einen mächtigen Herrscher. Im kirchlichen Zeremoniell war der Fußkuss dem Papst als dem Stellvertreter Christi auf Erden vorbehalten.45 Religionsgeschichtlich betrachtet werden die Füße bei den Göttern verehrt, weil über sie der Kontakt mit der Erde zustande kommt. Durch den Fußkontakt mit der Erde verbreiten die Götter Huld, Fülle und Segen.46 Im zweiten Schöpfungsbericht geht Gott im Garten Eden spazieren (Gen 3,8) und zur Wohnung Gottes auf Erden gehört der „Schemel seiner Füße“ (Ps 132,7ff u. a.). Die in allen vier Evangelien im Vorfeld der Passion vollzogene Salbung Jesu durch eine Frau (Mt 26,6–13; Mk 14,3– 9; Lk 7,36–50; Joh 12,1–8) ist im Lukasevangelium und im Johannesevangelium als
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Beispiele für Gallitzins Gebrauch des Fußkusses in Schlussformeln: „ich küße den Staub deiner Füße, bis ich eines mehreren werth bin“, Gallitzin an Fürstenberg, Brief vom 15.04.1781: ebd., Nr. 121, S. 109; „Ich küsse dir hände und füsse“, Gallitzin an Fürstenberg, undatierter Brief: ebd., Nr. 592, S. 485. Beispiele für Fürstenbergs Gebrauch des Fußkusses in Schlussformeln: „L’ingenu baise les piés à la Divine Sulmalla“, Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 25.12.1779: ebd., Nr. 68, S. 62; „Sulmalla, ich kuße den staub deiner Füße“, Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 30.01.1780: ebd., Nr. 73, S. 64; Fürstenberg an Gallitzin, Brief aus dem Herbst 1780: ebd., Nr. 105, S. 92; Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 10./11.11.1780: ebd., Nr. 107, S. 94; „Liebste Adelheide, ich küße dir die Füße“, Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 20.06.1784: ebd., Nr. 195 S. 174; Fürstenberg an Gallitzin, undatierter Brief: ebd., Nr. 520, S. 436. Vgl. Carmen Furger, Briefsteller: Das Medium „Brief“ im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Köln 2010, u. a. das Kapitel 5.2 „Emotionale Ausdrucksformen in den Briefvorlagen“, S. 182–201; vgl. Silvia Hölbl, Harrach. Familienangelegenheiten. Eine mikrohistorische Untersuchung zu Familienbeziehungen (19./20. Jahrhundert), phil. Diss. Wien 2010, S. 34 f., mit Beispielen zu Handküssen innerhalb von Schlussformeln. Vgl. Art. Fuß-Kuß, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 9, Halle und Leipzig 1735, Sp. 2372. Vgl. Elaine Magalis, Art. Feet, in: Lindsay Jones (Hg.), Encyclopedia of Religion, Bd. 5, 2. Aufl. Detroit u. a. 2005, S. 3013: „Footprints of divine or holy figures may symbolize the way to the truth, or the salvation offered by them. […] Such physical evidence of the earthly presence of divinity is a way of picturing what is wholly transcendent. This is probably the intended symbolism in depictions of Christ’s ascension, found especially in eleventh-century English art, where only the feet and part of the legs show at the top of the picture.“
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Fußsalbung gestaltet.47 Bei Lukas wird diese Liebesbezeigung der „Sünderin“ außerdem vom Küssen und vom Benetzen der Füße mit Tränen begleitet und bewirkt für die Frau die umfassende Vergebung der Sünden. Von der griechischen Liebesgöttin Aphrodite heißt es, dass dort, wo sie ihren Fuß hinsetzte, Blumen und Kräuter erblühten.48 Für Fürstenberg und Gallitzin mag eine erotische Dimension in dieser Floskel enthalten gewesen sein. Manche briefliche Äußerungen weisen auf eine tatsächliche Durchbrechung der äußeren Formen und Regeln hin: „Ich küße den staub deiner füßen. In meinen traümen, traüme ich mich öffterer zu deinen füßen als an deiner hand.“49 Im Sommer 1780 schrieb Fürstenberg der Freundin: „Da sie mich Gestern abend zu ihren Füßen geduldet haben […]“.50 Von Gallitzin gibt es ihrerseits eine Formulierung, dass sie selbst wie Maria, die Schwester des Lazarus, zu Füßen Jesu, zu Füßen Fürstenbergs gesessen und damit den „besseren Teil erwählt“ habe.51 Zugleich finden sich Andeutungen in der Korrespondenz, dass anscheinend 47
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Die Deutungen der Salbung Jesu variieren zwischen der Einsetzung Jesu in das Messias-Amt, der Vorwegnahme seiner Totensalbung sowie der Auseinandersetzung um die rechte Weise barmherziger Nächstenliebe und der liebevollen Verehrung Jesu. Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 1, Teilbd. 4 Mt 26–28, Düsseldorf u. a. 2002, S. 57 f. Die Perikopen der Salbung Jesu durch eine Frau haben in der Feministischen Exegese eine besondere Aufmerksamkeit erfahren, vgl. beispielsweise Elaine Mary Wainwright, Towards a Feminist Critical Reading of the Gospel according to Matthew, Berlin und New York 1991, S. 136: „The story of a woman at the beginning of the passion narrative is a story of female power, a power which recognizes suffering and reaches out courageously to bring the touch of mercy and compassion to the one suffering.“ Beispielsweise schildert Hesiod in der Theogonie, wie die im Meer geborene Aphrodite das Land betritt. Viele Religionen und Kulte schließen die Verehrung der Fußabdrücke von Göttern und Propheten ein. Zur Verwandtschaft Aphrodites mit der akkadisch/ sumerischen Göttin Inanna/Ištar, deren übergroße Fußspuren in den Tempel von Ain Dama in Nordsyrien eingearbeitet wurden, vgl. Jacqueline Kersten, Die altorientalische Inanna/Ištar als Vorbild der Aphrodite, in: Seifert, Aphrodite, S. 27–45. Gerade auch im ägyptischen Isis-Kult, der im Römischen Reich u. a. mit dem Aphrodite-Kult verschmolz, symbolisierten Fußspuren die Präsenz der Gottheit innerhalb des Tempels, vgl. Ulrike Egelhaaf-Gaiser, Kulträume im römischen Alltag: Das Isisbuch des Apuleius und der Ort von Religion im kaiserzeitlichen Rom, Stuttgart 2000, S. 172 f. Erinnert sei auch an die Abdrücke von der Himmelfahrt Mohammeds im Felsendom zu Jerusalem, ferner an die im Hinduismus verehrten Spuren Shivas auf dem Mount Peak in Sri Lanka und die Bedeutung der Füße des Buddha, vgl. François Bizot, La Figuration des Pieds du Bouddha au Cambodge, in: Asiatische Studien/Etudes Asiatiques 25 (1971), S. 407–439. Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 01.11.1780: Sudhof, Kreis, Teil 1.1, Nr. 106, S. 92. Fürstenberg an Gallitzin, Brief aus dem Sommer 1780: ebd., Nr. 90, S. 77. Vgl. die Aufforderung „dencke, ich läge zu deinen Füßen“, Fürstenberg an Gallitzin, Brief vom 14.04.1781: ebd., Nr. 120, S. 107. Vgl. Gallitzin an Fürstenberg, Brief vom 28.04.1781: ebd., Nr. 126, S. 113: „ich küße dir den Saumen des Roks – näher will ich dir nicht kommen um Dich nicht zu Stören.“ Vgl. Gallitzin an Fürstenberg, Brief vom 05.12.1781: ebd., Nr. 137, S. 121: „ich liege zu deinen Füßen in der Fülle meiner Empfindung“.
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eine Klärung darüber stattfand, dass diese erotische Sichtweise nicht zu viel Gewicht bekommen dürfe. So schrieb Fürstenberg an Gallitzin: „Wahr ist daß ich mir eingebildet habe, du legtest diesen bezeigungen von liebe, diesen aüßerungen, – als zeichen betrachtet mehr wichtigkeit bey, als sie haben, dieser irrthum hat mir unangenehme Stunden verursachtet.“52 Ich möchte diese Form hier jedoch vor allem als Ausdruck der tiefen wechselseitigen Verehrung deuten, die sich auf das Bewusstsein stützt, den Briefpartner als einen Ausdruck und ein Geschenk göttlicher Liebe zu verstehen. Diese Sicht hebt sich insofern von dem in den Briefen allgegenwärtigen Bildungsstreben ab, weil der Grund der Verehrung nicht erst erlangt werden muss. Für beide, Fürstenberg wie Gallitzin, hatte diese Freundschaft einen exklusiven Charakter. Über die ‚Hoffnung‘ und den ‚Endzweck‘ hinaus, sich gegenseitig „allezeit hand in hand den steilen pfad der vervollkomnung hinauff zu helffen“ – wie Fürstenberg es formulierte –, lebte Gallitzin in dem Bewusstsein, durch ihre Verbindung mit Fürstenberg an dessen Wirkungskreis teilzuhaben. Gallitzin betrachtete Fürstenberg als Träger eines großen Reformauftrags: „du wirst, du must der Urvatter einer besern Welt seyn“.53 Ihre eigene Rolle sah sie darin, auf Fürstenberg Einfluss zu nehmen, der als Staatsmann für die Gesamtheit der Einwohner des Fürstbistums verantwortlich war: „Es ist gewiß, daß er aus mir ein in meinen eigenen Augen wichtiges Wesen gemacht hat, indem er mir das Gefühl giebt, in Beziehung auf sein Loos etwas zu sein. Es ist ein sehr süßes und schönes Amt, das Loos eines Wesens zu versüßen, welches unablässig und nicht fruchtlos an dem Wohle von tausend und tausend Seelen arbeitet.“54 In einer Tagebuchnotiz vom 30. Januar 1791 erwähnte Gallitzin den Ausgang einer Landtagssitzung: „Abends ermüdete Fürstenberg mich noch mehr; dazu kam, daß die Nachricht, daß die Partei, die gegen die Schulseminarien war, gesiegt hätte, mich einige Augenblicke aus meiner stillen Richtung herauszog in etwas heftige Ausdrücke gegen jene Partei, welches mich beim schnell folgenden Bewußtsein, theils weil ich fürchtete, Gott, theils weil ich fürchtete, dem Vater mißfallen zu haben, traurig machte.“55 Auch an dieser Äußerung zeigt sich, dass Gallitzin über Fürstenberg die politischen Entwicklungen mit starker Anteilnahme verfolgte und auf ihn einzuwirken suchte. Fürstenberg seinerseits brachte immer wieder Gallitzins direkten Wirkungskreis ihres Hauswesens und ihrer Kinder und Zöglinge zur Sprache und suchte die Anbindung an diese familiäre Welt. Diese Perspektive, die Freundschaft zwischen Fürstenberg und Gallitzin als Verbindung ihrer beider Lebenswelten und Wirkungsfelder zu sehen, führt uns in die Soziabilität des Salons, genauer gesagt zu Ansätzen der neuesten Salon-Forschung. 52 53 54 55
Fürstenberg an Gallitzin, undatierter Brief: ebd., Nr. 523, S. 438. Gallitzin an Fürstenberg, Brief um 1780: ULB Ms, Nachlass Gallitzin, Kapsel 16, Nr. 51. Gallitzin an Hemsterhuis, Brief aus dem Jahr 1780[?], in: Christoph Bernhard Schlüter (Hg.), Briefwechsel und Tagebücher der Fürstin Amalie von Galitzin, Bd. 2: Briefe der Fürstin an den Philosophen Franz Hemsterhuis, Münster 1876, S. 104. Gallitzin, Tagebuchnotiz vom 30.1.1791, in: ebd., Bd. 3 (= Neue Folge): Tagebücher der Fürstin aus den Jahren 1783 bis 1800 enthaltend, Münster 1876, S. 411 f.
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3. Die Freundschaft als „Brennpunkt des Kreises von Münster“: Zur Kategorie des ‚Religiösen Salons‘ Als das konstituierende Merkmal des ‚Kreises von Münster‘ als eines ‚Religiösen Salons‘, wie ich den Kreis 1999 beschrieben habe, ist die Eigenschaft Gallitzins als ‚Salonnière‘ zu Grunde zu legen, das heißt, dass sie dieser Personengruppe die gesellschaftlich prägende und versammelnde Mitte gab.56 Vom äußeren Geschehen her kann festgehalten werden, dass der ‚Kreis von Münster‘ sich im Haus der Fürstin in der Grünen Gasse in Münster einfand, sie war die Gastgeberin.57 Diese Rolle kam ihr als die in Münster ranghöchste ständig residierende Adlige zu, die von ihrem Ehemann getrennt lebte. Sie trat als Einzelperson auf und nahm die Ungeteiltheit der Aufmerksamkeit ganz in Anspruch. Ihre Kinder verliehen ihr zugleich Ortsstabilität, sie bildeten einen Anhang, der sich durch verschiedene beauftragte Personen – Personal, Lehrer und Freunde – vervielfältigte. Auch wenn der Lebensstil bewusst unluxuriös gehalten wurde, so erschien das ganze Arrangement doch wie „der Hofstaat der ungekrönten Königin Amalia“.58 Viele ‚Salonnièren‘, denen es gelang, zum gesellschaftlichen Kristallisationspunkt zu avancieren, waren verwitwet, geschieden oder unverheiratet; nur so war das notwendige gesellschaftliche Vakuum garantiert. Der quasi höfische Charakter des Salons entstand aus dem Mangel an einer höfischen Welt,59 in Münster bedingt durch die Streuung der verschiedenen Adelsfamilien und die Abwesenheit des Fürstbischofs.60 Bei der Fürstin von Gallit56 57
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Vgl. Niehaus, Aufklärung und Religiosität, bes. das Kapitel „Der Kreis von Münster: Ein Religiöser Salon“. Gallitzins Aufenthalte in ihrem Haus in der Stadt wechselten sich zudem regelmäßig mit Zeiten in ihrem Landhaus in Angelmodde bei Münster ab, wo sie in ähnlicher Weise Gäste um sich versammelte, aber sich auch einsam zurückzog. Vgl. Jörg-Ulrich Fechner, Stolberg und der Kreis von Münster – ein Versuch, in: Frank Baudach u. a. (Hg.), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Beiträge zum Eutiner Symposium im September 1997, Eutin 2002, 175–198, hier S. 194. Zur Bedeutung des Wechsels zwischen städtischer und ländlicher Geselligkeit vgl. Petra Wilhelmy-Dollinger, „Salon“ und „Tusculum“. Urbane und ländliche Geselligkeit in Brandenburg-Preußen um 1800, in: Susanne Schmid (Hg.), Einsamkeit und Geselligkeit um 1800, Heidelberg 2008, S. 67–94, hier S. 72–82. Köhler, Amalie von Gallitzin, S. 140. Vgl. Rita Unfer Lukoschik, Einführung, in: dies. (Hg.), Der Salon als kommunikationsund transfergenerierender Kulturraum/Il salotto come spazio culturale generatore di processi comunicativi e di interscambio, München 2008, S. 17–65. Die Freundschaft zwischen Gallitzin und Fürstenberg als „Brennpunkt des ‚Kreises von Münster‘“ (Bödeker, Kreis von Münster, S. 147) aufzufassen, unterstützt damit die Sicht des Kreises als Salon, bei der es keinesfalls um eine Schmälerung von Fürstenbergs politischem Wirken gehen kann. Möglicherweise erschwert das heutige Fehlen des Hauses in der Grünen Gasse in Münster, das im Zweiten Weltkrieg zerstört worden ist, die Vorstellung vom Salon der Fürstin z. B. gegenüber den Berliner Salons, vgl. Petra WilhelmyDollinger, Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen (zu den noch nachweisbaren Wohnungen und Grabstätten), Berlin und New York 2000. Vgl. Rudolfine von Oer, Residenzstadt ohne Hof (1719–1802), in: Franz-Josef Jakobi (Hg.), Geschichte der Stadt Münster, Bd. 1, Münster 1993, 356–409, hier S. 367: „Seit
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zin war es möglich, am Werdegang des Nachwuchses teilzunehmen, dagegen konnte der geistliche Kurfürst das Ambiente einer ‚Fürstenfamilie‘ nicht schaffen. Fürstenberg rief 1782 den „Adelichen Club“ ins Leben. Es könnte sein, dass er dieser Sozietät ein Gepräge gab, das seinen geselligen Bedürfnissen entsprach. Zugleich entsteht bei Fürstenberg der Eindruck, dass er in seinen Ambitionen, Menschen zu bilden, politischer ausgerichtet war, wie sich an der Reform der Bildungsinstitutionen ablesen lässt. Dagegen zeigt sich bei der Fürstin die starke Neigung, erzieherisch auf die Menschen ihrer unmittelbaren Umgebung zu wirken. Zuerst ist an ihre Kinder zu denken, darüber hinaus an den Hausstand und den Freundeskreis. Die Auseinandersetzungen beispielsweise mit dem Geistlichen Haas, dem Hofmeister der Kinder, beanspruchen zahllose Seiten in ihrem Tagebuch. Neben der Selbsterziehung und der Freundschaft lässt sich der Salon als die Soziabilität der Menschenbildung nach dem Gallitzinschen Programm ansehen. Wenn die Münsteraner von den Zeitgenossen – beispielsweise im Umkreis des Besuchs in Weimar 1785 – der Reihe nach aufgezählt werden, so steht ausnahmslos die Fürstin an erster Stelle: „Die Fürstinn Gallizin ist hier mit Fürstenberg und Hemsterhuis“.61 Es tauchen aber auch gruppierende Bezeichnungen auf, die Gallitzin an der Spitze nennen: „Die Fürstinn mit den Ihrigen“,62 die „Fürstin Gallitzin und ihre Gesellschaft“,63 „die Fürstin Gallitzin mit ihrem Gefolge“,64 die „Fürstin G. und ihre Reisegefährten“.65 Von Goethe wurde Gallitzin als der Anziehungspunkt der Gruppe angesehen: „Hast du Nachricht von der Fürstinn? Es ist eine kostbare Seele und es giebt mich nicht Wunder daß sie die Menschen so anzieht.“66 Auch die ausführliche Schilderung Herders, die nicht nur die Einzelpersonen, sondern auch ihr Miteinander beschreibt, betont nachdrücklich die starke Rolle der Fürstin in dem
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dem Tod des Fürstbischofs Friedrich Christian von Plettenberg im Jahr 1706 hat kein Landesherr und Bischof das Hochstift Münster als einziges oder auch nur wichtigstes regiert. Franz Arnold residierte bevorzugt im […] Hochstift Paderborn, Clemens August von Bayern (1719–1761) hielt sich zumeist in den kurfürstlich kölnischen Residenzen Brühl und Bonn auf. […] Auch seine beiden Nachfolger, die Kölner Kurfürsten Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels (1762–1784) und Maximilian Franz von Österreich (1784–1801) regierten ihr Nebenland Münster immer von Bonn oder Brühl aus.“ Vgl. das Kapitel „Ferne und Nähe des Landesfürsten zur Stadt als Charakteristikum geistlicher Territorien“ bei Marcus Weidner, Landadel in Münster 1600–1760. Stadtverfassung, Standesbehauptung und Fürstenhof, Teil 1, Münster 2000, S. 206–211. Goethe an Charlotte von Stein, Brief vom 20.09.1785: Trunz/Loos, Goethe, Nr. 69, S. 33. Goethe an Jacobi, Brief vom 26.09.1785: ebd., Nr. 75, S. 34. Prinz August von Gotha an Herder, Brief vom September 1785: ebd., Nr. 76, S. 35. Herder an Hamann, Brief vom Anfang Oktober 1785: ebd., Nr. 78, S. 35. Schon 1781 spricht Luise Mejer in einem Brief vom „Gefolge der Fürstin Gallitzin“, zu dem Sprickmann gehöre. Vgl. Mejer an Boie, Brief vom 21.09.1781, in: Ilse Schreiber (Hg.), Ich war wohl klug dass ich dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777–1785, 2. Aufl. München 1963, S. 110. Wieland an Jacobi, Brief vom 11.10.1785: Trunz/Loos, Goethe, Nr. 80, S. 38. Goethe an Jacobi, Brief vom 01.12.1785: ebd., Nr. 89, S. 41.
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Kreis. Gallitzin erscheint als diejenige, welche die Menschen um sich sammelt, sie leitet und die damit eine Entsprechung zu einem Fürstenhof ins Leben ruft: „[E]ine Frau, die die kleine und große Welt in ihren Seen und Bächen gekostet hat und jetzt in einer simpeln Tracht, die durch sich selbst dem Hofe und allen Puppengesellschaften unzugänglich geworden ist, sich in der Erziehung der Kinder und dem Cirkel ihrer Freunde selbst eine Quelle des Genußes bereitet u. f. Der gewesene Minister Fürstenberg, Hemsterhuis und Sprickmann waren mit ihr, die sie alle zu führen scheinet: ein quatro, das nie müßig, nie mit einander verlegen und sich selbst so gnug ist, daß der Fremde bei ihnen immer nur advena und hospes scheinet. Sie können leicht denken, liebster H., daß eine solche reisende Gesellschaft, zu der ich noch 2. Kinder der Fürstin und ihren Sekretär zu setzen habe, mehr Schauspiel dadurch wird, was die Glieder einander unter sich sind, als daß sie sich in so kurzer Zeit entzweien und fremden Personen mittheilen könnten: daher ich über Vieles und das Meiste, das die Fürstin Gallizin angeht, jetzt so klug bin als ich war und froh bin, daß wir uns einander gesehen, bewillkommt und verabschiedet haben. Sie muß eine Frau von außerordentlicher Wirkungskraft in ihrem Kreise seyn; ob mir wohl die Grundsätze ihrer Erziehung, so viel ich davon zu sehen bekommen habe, nicht völlig einleuchten: eben also auch die innere Selbständigkeit ihres Daseyns hielt sie wahrscheinlich zurück, sich uns zu offenbaren.“67 Gegen die Salon-These hat Hans Erich Bödeker eingewandt, dass dem Freundespaar Fürstenberg und Gallitzin eine nicht abstufbare gleichrangige Bedeutung für den Kreis zukomme, die eine Hervorhebung Gallitzins als ‚Salonnière‘ nicht zulasse. In der Tat haben auch die Ausführungen zur religiösen Dimension der Freundschaft zwischen Fürstenberg und Gallitzin gezeigt, dass innerhalb dieses Freundespaares eine völlige Ebenbürtigkeit vorlag. Ansätze der neuesten Salon-Forschung erlauben es jedoch, auch unter dieser Voraussetzung von einem Salon zu sprechen. Rita Unfer Lukoschik entwickelt den Ansatz einer gesellschaftlichen Interferenz zwischen weiblichem und männlichem Wirkungskreis, in dem der Salon als genuin weibliches Terrain und die politische Welt der Männer in einem fruchtbaren Austausch stehen: „Der Salon geht aus der Schnittmenge zweier Kulturkonstrukte hervor, die angrenzend sind: einer in der Öffentlichkeit handelnden Männerwelt und einer weiblichen Welt, die traditionell der Sphäre des Privaten zugeordnet ist. […] Im Medium des feminozentrischen Salons [treten] in ihrer Gesetzmäßigkeit klar definierte Lebenswelten […] in eine dialektische Beziehung, in einen konstruktiven Dialog miteinander, womit ein umfassender interkultureller Prozess in Gang gesetzt wird.“68 Die in der politischen Öffentlichkeit wirkenden Männer sehnten sich nach der privatfamiliären und von den Reglements ihrer beruflichen Welt freien Geselligkeit, während die Frauen über den Austausch und die Freundschaft mit Männern gerade den Anschluss an die gesellschaftliche Öffentlichkeit suchten. Der von einer Frau ge-
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Herder an Hamann, Brief Anfang Oktober 1785: ebd., Nr. 78, S. 35 f. (Hervorhebung im Original). Vgl. Unfer Lukoschik, Einführung, S. 54.
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führte Salon bot für beide, Männer wie Frauen, die Erfüllung dieser spezifischen Bedürfnisse. Was die nähere Spezifizierung des Gallitzinschen Salons als eines ‚Religiösen Salons‘ betrifft, so hat schon unser Blick auf das zutiefst religiöse Bildungs- und Vollkommenheitsstreben gezeigt, wie es in der Korrespondenz zwischen Fürstenberg und Gallitzin zu Tage tritt, dass diese Kategorie für die führenden Mitglieder des ‚Kreises von Münster‘ die maßgebliche Dimension in allen Lebensvollzügen darstellte. In dieser Hinsicht behielt die Salon-Konversation auch in Münster die ihr eigene universale Dimension. Anderseits ist jedoch auch eine fortschreitende Tendenz zu einer Schwerpunktbildung festzustellen, wie sie in Entsprechung zur Hauptform des ‚Literarischen Salons‘, der an der Produktion von dichterischer Literatur beteiligt war, gesehen werden kann. Dies möchte ich im letzten Schritt mit einem Ausblick auf die Einbindung des Kreises in den Spinozastreit verdeutlichen, eine theologische Debatte, die von dem Düsseldorfer Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi provoziert wurde und in die alle führenden Philosophen in den 1780er Jahren verwickelt waren. In dieser Debatte ging es – kurz gesagt – um die Frage der Beweisbarkeit Gottes. Fürstenberg und Gallitzin wurden zunächst von Jacobi darum gebeten, von Hemsterhuis eine Stellungnahme einzuholen, die später als dessen Lettre sur l’Athéisme Gestalt gewonnen hat. Schließlich wandte sich Jacobi an die Münsteraner selbst mit der Bitte, sich an der Diskussion zu beteiligen: „Ich wünschte, meine Liebe, daß Sie und mehrere mit mir darüber nachdächten, wie der Begriff des Atheismus philosophisch und genau bestimmt werden könne. Ich weiß daß Sie höhere Pflichten haben, als einem speculativen Philosophen beyzustehen; diese Sache ist aber doch auch wichtig, und scheint fast dringend zu seyn in dem gegenwärtigen Zeitpunkt. Es ist auch zu Leipzig eine sehr gut geschriebene lateinische Dißertation erschienen, […] worin die Mendelssohnsche Darstellung des Spinoza gründlich widerlegt, aber mir auch vorgeworfen wird, den Spinoza zum Atheisten gemacht zu haben. […] Lesen Sie, wenn Sie Gesundheit und Muße haben die Gespräche von Herder, und das XVte Buch seiner Ideen, und sagen Sie mir die Empfindungen und Gedanken, die Ihnen über dem Lesen gekommen sind, und das Resultat von allem wenn Sie durch sind. Ich brauche Licht und Stärkung; […] Wenn Sie Hemsterhuis bewegen könnten ebenfals über die philosophische Bestimmung des Begriffs von Atheismus nachzudenken, und Ihnen etwas genau bestimmtes darüber zu schreiben, geschähe mir ein ungemeiner Gefallen. Daß ich auch Fürstenbergen gern anspräche, brauche ich Ihnen nicht zu sagen.“69 Als Beiträge der Münsteraner – Fürstenberg und Gallitzin sind diejenigen, die sich ausdrücklich auf den Spinozastreit bezogen – liegen beeindruckende religiösautobiographische Texte vor, in denen das Argument der Erfahrung als Weg zur Gotteserkenntnis eine zentrale Rolle spielte. Gallitzin und Fürstenberg entwickelten in ihren essayistischen Arbeiten gegensätzliche, oder besser gesagt: komplementäre Modelle, womit die Anwendung des Ansatzes von Rita Unfer Lukoschik für den 69
Jacobi an Gallitzin, Brief vom 05.06.1787: Trunz/Loos, Goethe, Nr. 52, S. 52.
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‚Kreis von Münster‘ nochmals gestützt werden kann. Während Fürstenberg ein autobiographisches Konzept der Kontinuität, der ruhigen Entwicklung und des SichGleichbleibens entfaltete, war Gallitzins Autobiographie von Umbrüchen, Wendepunkten und Innovationen geprägt. Auch in dieser Hinsicht konnten sie sich in ihrer Freundschaft und in ihrer vernetzten Autorschaft auf eine besondere Weise ergänzen. Im Blick auf den wechselseitigen Einfluss der Geschlechter gibt es die Redensart, dass hinter einem starken Mann immer eine starke Frau steht. Für die Soziabilität des ‚Religiösen Salons‘ der Fürstin Gallitzin, dessen Herz ihre Freundschaft zu Fürstenberg bildete, kann vielleicht in umgekehrter Weise formuliert werden: Hinter jeder starken Frau steht ein starker Mann, in diesem Fall Franz von Fürstenberg, der in dieser Hingabe, die Fürstin in ihrem Wirken zu unterstützen, seine eigene Persönlichkeit nur umso mehr erweiterte und vervollständigte.
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Friedrich Leopold zu Stolberg (1750–1819) und der katholische Adel Westfalens* Im Dezember 1830 schrieb Wilhelm von Humboldt an Charlotte Diede: „Ein selbständiger Mann war Stolberg wohl auch nicht, und auf keine Weise ein großer und tiefer Kopf. Auch in seinen Gedichten zeigt sich keine Tiefe und Idealität der Ansichten. Sie wirken auf uns wie Jugenderinnerungen und haben ein reges Leben und eine schöne Kräftigkeit der Gefühle und etwas sehr wackres und biedres in der Gesinnung.“1 Stolbergs Ruhm als Dichter hatte in der Tat schon bald nach seinem Tode Patina angesetzt.2 Stolbergs „Inspirationspoetik“, die für sich in Anspruch nahm, Dichtung sei eine höhere Form gottgegebener Erkenntnis, die keiner Korrektur bedürfe, war nur in wenigen Fällen eine lange Lebensdauer beschieden. Länger hielten sich seine Verdienste als Übersetzer der Ilias, des Ossian sowie der Werke des Aischylos und Platons.3 Auch Stolbergs öffentliches Wirken als Eutiner Gesandter in Kopenhagen, als dänischer Gesandter in Berlin und als erster Minister des Fürstbischofs von Lübeck hafteten die Halbwertzeiten des politischen Lebens an. Es gab jedoch ein Ereignis in seinem Leben, welches die Erinnerung an ihn bis weit in das 20. Jahrhundert hinein virulent hielt: Seine und seiner Familie Konversion zum katholischen Glauben zu Pfingsten 1800 im Hause der Amalia von Gallitzin in der Grünen Gasse in Münster. Im Juli 1841 schrieb Annette von Droste-Hülshoff an ihren Onkel August von Haxthausen, der eine Ausgabe der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen bearbeitet wissen wollte, ziemlich unvermittelt, der Name Stolberg sei in Westfalen immer noch „ein Talisman“, während er andernorts anfange, „in Vergessenheit zu
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Der vorliegende Aufsatz ist die erweiterte Form meines Beitrages Friedrich Leopold zu Stolberg in Westfalen, in: Frank Baudach u. a. (Hg.), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Standesherr wider den Zeitgeist. Ausstellung der Eutiner Landesbibliothek und des Gleimhauses Halberstadt, Eutin 2010 (im Folgenden Ausstellung Eutin), S. 133–152. Albert Leitzmann (Hg.), Wilhelm von Humboldts Briefe an eine Freundin. Zum ersten Male nach den Originalen herausgegeben, Bd. 2, Leipzig 1910, S. 158, Brief vom 04.12.1830. Hierzu insbesondere Jürgen Behrens, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Porträt eines Standesherren, in: Christian Degn (Hg.), Staatsdienst und Menschlichkeit. Studien zur Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein und Dänemark, Neumünster 1980, S. 151–165; Dirk Hempel, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Staatsmann und politischer Schriftsteller, Weimar u. a. 1997. Ausstellung Eutin, S. 65 f.
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kommen“.4 Die ungewöhnliche Bezeichnung Stolbergs als Talisman, als ein magisches Zaubermittel, lässt darauf schließen, dass er hier eine Verehrung genoss, die vielen anderen eine spezifische Identität sicherte. Augenscheinlich beschränkte sich die Bemerkung der Droste auf Stolbergs „dritte Lebensphase“,5 die Jahre nach der Konversion. Es ist bis heute das wohl nach wie vor am meisten diskutierte Ereignis im Leben Stolbergs.6 Die Konversion, der „Fall Stollberg“,7 bestimmte in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß die Kontroverse zwischen Glauben und Wissen. Es war vor allem die katholische Region Westfalens – und hier insbesondere der katholische Adel –, die durch diesen Schritt eine eigene Dynamik erhielt. Wie kaum eine andere Adelsgruppe war der katholische Stiftsadel durch das Ende des Konfessionsstaates 1802/1803, durch die Erosion der Ständegesellschaft, durch Mediatisierung und Säkularisation betroffen worden. Die Möglichkeit, dass in diesem System auch ein Angehöriger des eigenen niederen Adels zum Landesherrn aufsteigen konnte, war durch die Mediatisierung zunichte gemacht worden. Die Säkularisation verschloss den Weg, über die domkapitularischen Pfründen Vermögen für die Familien anhäufen zu können, und unterband die Usance, nachgeborene Söhne und Töchter in Stiften und Klöstern versorgt zu wissen. Dass sich nun der erste Minister des einzigen protestantischen Fürstbistums in Deutschland entschloss, sich dem alten Glauben anzuschließen, hatte für den katholischen Adel Westfalens eine Signalwirkung. Stolbergs Konversion geschah nicht aus politischem Kalkül, sondern war das Ergebnis einer langen Glaubenskrise.
1. Die Annäherung an den katholischen Glauben Die Berührung Stolbergs mit der katholischen Glaubenswelt Westfalens vermittelte Matthias Claudius, der im Februar 1791 Amalia von Gallitzin in Wandsbek zu Besuch hatte. Stolberg nutzte seine beginnende Italienreise, um am 7. Juli in Münster 4 5 6
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Annette von Droste-Hülshoff, Historisch kritische Ausgabe, Briefe 1839–1842, bearb. von Walter Gödden und Ilse-Marie Barth, Tübingen 1993, Brief vom 20.07.1841. Theodor Menge, Der Graf Friedrich Leopold Stolberg und seine Zeitgenossen, Bd. 2, Gotha 1862, S. 95 ff. Detlev W. Schumann, Aufnahme und Wirkung von Friedrich Leopold Stolbergs Übertritt zur Katholischen Kirche, in: Euphorion 50 (1956), S. 271–306; Ludwig Stockinger, Friedrich Leopold Stolbergs Konversion als „Zeitzeugnis“, in: Frank Baudach u. a. (Hg.), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Beiträge zum Eutiner Symposium im September 1997, Eutin 2002 (im Folgenden Baudach u. a., Beiträge), S. 127–153; Jenny Lagaude, Die Konversion des Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Motive und Reaktionen, Leipzig und Berlin 2006; Andreas Holzem, „Ein Weltling oder ein Christ“. Friedrich Leopold von Stolberg im „Kreis von Münster“, in: Petra Schulz und Erpho Bell (Hg.), Amalia Fürstin von Gallitzin (1748–1806). „Meine Seele ist auf der Spitze meiner Feder“. Ausstellung zum 250. Geburtstag in der Universitätsund Landesbibliothek Münster, Münster 1998, S. 102–113; siehe hierzu auch: Brigitte Schubert-Riese, Das literarische Leben in Eutin im 18. Jahrhundert, Neumünster 1975, S. 228 ff. Stockinger, Konversion, S. 199.
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bei der Fürstin und Franz von Fürstenberg vorzusprechen. Die Reisegesellschaft – neben dem Ehepaar Stolberg der älteste Sohn Ernst, der Erzieher Georg Heinrich Nicolovius sowie später hinzustoßend George Arnold Jacobi, Sohn des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi – blieb drei Tage in der Stadt und lernte dabei auch Bernard Overberg, Pädagoge und Beichtvater der Gallitzin, kennen.8 Von Beginn an war Stolberg von der Begegnung mit der Gallitzin fasziniert. Noch aus Münster schrieb er seinem Bruder Christian und dessen Frau Luise, die Gallitzin gleiche einer Tochter Fenelons und er bewundere die „Sevigné’schen Reize ihres Umgangs“.9 Die Berührung mit der Geisteswelt des münsterischen katholischen Adels wurde noch intensiviert durch die Bekanntschaft mit den Brüdern Adolf Heidenreich und Caspar Maximilian Droste zu Vischering, die man auf der Italienreise traf. Beide gehörten zu den einflussreichsten Familien des Stiftsadels in Münster. Adolf Heidenreich (1769–1826) war Erbdroste des Fürstbistums und Caspar Maximilian (1770–1846) war der Familientradition gemäß zum Geistlichen bestimmt worden. Er wurde 1793 zum Priester geweiht und stieg zwei Jahre später zum Titularbischof von Jericho und Weihbischof von Münster auf. Mit Stolberg und seiner zweiten Ehefrau Sophia von Redern (1765–1842) entstand noch während des Italienaufenthaltes ein reger Briefverkehr, der bis zum Lebensende anhielt. Ab etwa 1795 gehörten auch die beiden jüngeren Droste-Brüder Franz Otto (1771–1826) und Clemens August (1773–1845), der spätere Erzbischof von Köln, zum engeren Bekanntenkreis der Stolbergs.10 An den mit der Gallitzin und den Droste-Brüdern gewechselten Briefen lässt sich die Annäherung Stolbergs an die katholische Glaubenswelt verfolgen. Der Übertritt des Ehepaares war kein spontaner Schritt, sondern das Ergebnis eines langjährigen und intensiven Ringens.11 Beide hatten mehrfach betont, dass dem Schritt eine siebenjährige intensive Suche vorausging.12 Möchte man das Datum konkretisieren, kommt 8
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Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien, 2 Bde., Mainz 1877, hier Bd. 1, S. 2 f. Stolbergs Italienreise stand bereits im Zeichen der „interpretatio christiana“, der These von der Überlegenheit der christlichen Kultur der Antike gegenüber. Der christlichen Kunst konnte er beim Betrachten mehr abgewinnen als der als statisch empfundenen antiken Klassik. „Diese Frau verbindet in so eminentem Grade das Hohe und das Gute mit dem Lieblichen, daß sie einem gleich unentbehrlich wird. Sanfte Sehnsucht nach ihr wird mich im Leben nicht verlassen“: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Briefe, hg. von Jürgen Behrens, Neumünster 1966, Nr. 288, S. 273 (Brief vom 08.07.1791). Im Darfelder Familienarchiv haben sich knapp 270 Briefe des Ehepaares Stolberg an die Brüder Droste zu Vischering erhalten. Spuren dieser Freundschaft finden sich auch in den Stammbüchern des Adolf Heidenreich, Franz Otto und Clemens August. Vgl. Helmut Richtering (Bearb.), Die Nachlässe der Gebrüder Droste zu Vischering. Westfälische Quellen und Archivverzeichnisse, Bd. 12, Münster 1986. Dirk Hempel, Der Dichter als Staatsdiener. Stolberg im Zwiespalt von öffentlicher und privater Existenz, in: Baudach u. a., Beiträge, S. 127–153. Friedrich Leopold zu Stolberg an Christian Detlev Friedrich von Reventlow am 08.09.1800: „Ich habe sieben Jahre geforscht, liebe Freunde!“: Stolberg, Briefe, Nr. 392, S. 367; „Wir haben sieben Jahre gekämpft, gesucht – so manches mal glaubte ich im Hafen des Glaubens zu seyn, und wenige Stunden darauf hatten Stürme alter, längst beantworteter Zweifel oder nur neu scheinender Einwürfe mich wieder ins Meer der
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man auf den August 1793, als Amalia von Gallitzin die Familie Stolberg für mehrere Wochen in Eutin besuchte. Stolberg war der Ausstrahlungskraft der Gallitzin seit dieser Zeit nahezu erlegen. „Jeden Tag ihres Aufenthaltes in Eutin sehe ich als ein Geschenk Gottes an“, schrieb er an Caspar Maximilian Droste zu Vischering.13 Am 28. August des Jahres, am Geburtstag der Gallitzin, wurde symbolträchtig Stolbergs jüngstes Kind Johannes Franziskus Leo getauft. Paten waren Amalia von Gallitzin und Franz von Fürstenberg.14 „Wie wohl uns der Besuch der Fürstin thut können Worte nicht sagen. Aber wer mit ihr leben und sterben könnte! Engel der Finsterniß müßten durch sie zu Gott kommen, deucht mich. Wie lieb sie mir ist, wie jeder Blick auf sie sie meinem Herzen näher bringt können Worte nicht sagen.“15 Am Tage der Abreise der Gallitzin hieß es: „Es wird mir das Herz bluten bey der Trennung von ihr, aber ich werde mich doch, so lange ich lebe von ganzem Herzen und von ganzer Seele freuen ihres Geisterhebenden und Herzerquickenden Umgangs einen ganzen Monat genossen zu haben.“16 Die Beziehungen vertieften sich, als Stolbergs Familie im Herbst 1794 den Gegenbesuch in Münster unternahm. „Das Herz hüpft mir im leibe bey der Vorstellung unserer Ankunft!“, schrieb Stolberg an Caspar Maximilian Droste zu Vischering.17 Keine Korrespondenz, gestand Stolberg einmal, sei ihm so viel wert wie die mit Amalia von Gallitzin.18 Es entstand so auch eine Sehnsucht nach körperlicher Nähe. „Dein Leo ist ein Sinnensklav, und kann Deine sichtbare Gegenwart eigentlich nicht entbehren“, gestand er ihr. Dass er nicht zu ihr „wallfahre, so oft ich wollte, ist das schwerste Opfer was ich meiner Amtspflicht bringen kann“, äußerte er sich ferner Caspar Maximilian Droste zu Vischering gegenüber.19 Wohl nicht zu Unrecht ist solchen Gefühlen eine religiös sublimierte Erotik unterstellt worden.20 Bereits nach den ersten intensiveren Zusammentreffen zwischen den Euti-
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Unruhe geschleudert.“: Sophia zu Stolberg an Anton von Hardenberg am 23.06.1809, in: Heinz Jansen (Hg.), Briefe aus dem Stolberg- und Novalis-Kreis, Münster 1932 (ND 1969), S. 153–155. Auch in seinem Rechtfertigungsbrief an Johann Kaspar Lavater vom 26.10.1800 sprach Stolberg von einer „siebenjährigen Untersuchung“: Abschrift in Archiv Graf Droste zu Vischering in Darfeld (im Folgenden Archiv Darfeld), AV g 29. Archiv Darfeld, AV c 149, Brief vom 14.09.1793. Ebd., Brief vom 28.08.1793. Ebd., Brief an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering vom 01.08.1793. Ebd., Brief vom 28.08.1793 an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering. In einem weiteren Brief an Caspar Maximilian vom 11.08.1793 (der Brief wurde durch Stolberg irrtümlich auf den 11.07. datiert) schilderte Stolberg noch einmal „das Glück ihres himmlischen Umgangs […] mit dem blossen Gedanken ihrer Abreise fährt mir ein Schwerd durch das Herz“: Archiv Darfeld, AV e 22. Ebd., Brief vom 08.10.1794. Brief vom 27.01.1794 an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering: Archiv Darfeld, AV c 149. Briefe vom 17.08.1794 (Stolberg, Briefe, Nr. 316, S. 317) und vom 22.11.1795. Archiv Darfeld, AV e 23. Jörg-Ulrich Fechner, Stolberg und der Kreis von Münster – ein Versuch, in: Baudach u. a., Beiträge, S. 175–198, hier S. 185. Ein Weihnachtsbrief an Caspar Maximilian Droste zu Vischering, in welchem Stolberg seine volle Bewunderung für naive Krip-
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nern und den Münsteranern war die Seelenverwandtschaft so groß, dass man sich als eine Familie empfand.21 Münster und der Kreis um die Gallitzin gerieten so immer stärker in das Blickfeld Stolbergs.22 Bezeichnete Stolberg die Gallitzin nach der ersten Begegnung noch in Anlehnung an die götterbegeisterte Gestalt um Sokrates als Diotima, so wurde sie nun zu der augustinischen Adeodata, zum Gottesgeschenk. Eine gemeinsame Basis, die einen Austausch zwischen den Kreisen um Matthias und Rebecca Claudius in Wandsbek, dem um Julia und Friedrich von Reventlow in Emkendorf auf protestantisch-pietistischer Seite und dem katholischen münsterischen Kreis unproblematisch erscheinen ließ, war die gefühlsbetonte Religiosität.23 Stolberg selbst war in einem pietistischen Elternhaus groß geworden. Sein Vater, Christian Günther (1714–1765), stand der hallischen Richtung unter August Hermann Francke nahe, seine Mutter, Christiane, geb. zu Castell-Remlingen (1722–1773), mehr der herrnhutischen Ausrichtung unter Nikolaus Ludwig von Zinzendorf.24 Religion war in stark emotionaler Form vermittelt worden. Stolberg selbst bezeichnete sich einmal als „Erzmystiker“.25 Beide Seiten begeisterten sich gleichermaßen für die Schriften Fénelons, der Madame Guyon, des Thomas von Kempen oder auch des Franz von Sales. Zwischen dem Fideismus und Quietismus katholischer Prägung und dem Pietismus der protestantischen Seite bestanden strukturelle Kongruenzen. Übereinstimmungen zwischen dem ‚Kreis von Münster‘ und Stolberg gab es auch in politischer Hinsicht. In seiner Zeit als Kammerpräsident in Eutin und damit als verantwortlicher Minister im Fürstbistum Lübeck zwischen 1793 und 1800 engagierte er sich besonders hinsichtlich der Schulreform und der Aufhebung der Erbuntertänigkeit, der ‚Leibeigenschaft‘ der Hintersassen.26 Hier gab es Schnittmengen zur katholischen Aufklärungspolitik unter Franz von Fürstenberg und Bernard Overberg in Münster. In der Frage der Schulreform kon-
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pendarstellungen ausdrückte, endete mit dem Wunsch: „Aber wie gesagt, im Geiste werden wir beysammen seyn, und ich wird es vielleicht gewahr werden ob die liebe Adeodata brennenden Zunder in die Streu ihres Leo wirft.“: Archiv Darfeld, AV e 22. „Wir machen eine Familie zusammen“: Brief Stolbergs an Caspar Maximilian Droste zu Vischering vom 30.06.1794, ebd. Schon zuvor hieß es „Unser Bund ist ewig ihr Lieben!“: Brief Friedrich Leopold zu Stolberg an die Brüder Droste vom 02.01.1794: Archiv Darfeld, AV c 149. „Gott weiß wie gern ich schon lange nach Münster geflogen wäre, wenn mir nicht Gott Bley der Hindernisse an den Flügeln gehangen hätte.“: Brief Friedrich Leopold zu Stolberg an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering vom 01.06.1794: ebd. Von dem engen Kontakt der Kreise zeugen auch die Stammbücher der Brüder Adolf Heidenreich, Franz Otto und Clemens August Droste zu Vischering: Archiv Darfeld, AV c 2, c 3, 4 f und g 10. Frank Baudach, Friedrich Leopold Stolberg aus heutiger Sicht, in: Westfälische Zeitschrift 151/152 (2002), S. 375–390, hier S. 377 f. Brief vom 19.02.(o. J.) an Friedrich Heinrich Jacobi; Stolberg, Briefe, Nr. 318, S. 312. Hempel, Dichter, S. 132 f.; ders., Aristokrat und Reformer. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg als Kammerpräsident in Eutin, in: Frank Baudach und Günter Häntschel (Hg.), Johann Heinrich Voß (1751–1826). Beiträge zum Eutiner Symposium im Oktober 1994, Eutin 1997, S. 347–364.
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taktierte Stolberg Franz von Fürstenberg.27 Stolberg hat den um eine Generation älteren Fürstenberg (1729–1810) stets als väterlich weisen Ratgeber angesehen. Bereits kurz nach seinem Erscheinen wurde Stolberg Bernard Overbergs Schulbuch nach Eutin übermittelt.28 Stolbergs Reformpolitik in Lübeck stieß zwangsläufig auf Widerstände und scheint nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein.29 Doch wegen der pietistisch-fideistischen Grundhaltung beider Kreise fühlte sich Stolberg nach 1793 immer stärker zum Katholizismus hingezogen. Neben der Gallitzin war es vor allem der irenische Charakter des Caspar Maximilian Droste zu Vischering, der ihn überzeugte. „Wollte Gott, daß alle Geistlichen Ihrer und unserer Kirche“, schrieb er dessen Bruder Adolf Heidenreich, „diesem Caspar gleich wären. Es ist ein Jammer zu sehen welche Weingärtner der Herr in seinem Weinberge größtentheils hat!“30 Die Brüder Droste Vischering machten keinen Hehl daraus, dass sie mit vielen Protestanten zwar einen freundschaftlichen Umgang pflegen konnten, den Protestantismus aber von Grund auf verabscheuten.31 Es war nicht von der Hand zu weisen, dass Caspar Maximilian und Adolf Heidenreich Droste zu Vischering einiges daran setzten, Stolberg zur Konversion zu bewegen. Stolberg wehrte sich nicht mehr, als Caspar Maximilian ihn als Priester in seine Fürbitten mit einschloss, um ihn auf den rechten Weg zu führen.32 In der Korrespondenz mit den Droste-Brüdern spielte 27 28
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Brief Stolbergs an Franz von Fürstenberg vom 08.08.1793: Ewald Reinhard, Die Münstersche „familia sacra“, Münster 1953, Brief Nr. 8, S. 184. Brief Friedrich Leopold zu Stolberg an Caspar Maximilian Droste zu Vischering vom 11.07. [=08.] 1793: Archiv Darfeld, AV e 22. Es handelte sich um Overbergs „Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterricht für die Schullehrer im Hochstift Münster“, erschienen Münster 1793. Hempel, Dichter. Stolberg bemerkte einmal, bei Führung eines anvertrauten Amtes kämen „immer Widersprüche von Seiten anderer Menschen, welche entweder gar nicht, oder auf eine andere Art“ ihre Ziele erreichen wollten. Eine solche Haltung verdarb ihm die Freude an seiner Arbeit. Vgl. Archiv von Twickel Westheim, A 467, Brief an einen Unbekannten o. D. Johann Gottfried Herder bedauerte immerhin nach Stolbergs Konversion, dass dieser sich seinen Ämtern entzogen habe, in denen er wegen seiner „unparteiischen Gerechtigkeit, Billigkeit und Menschenliebe allgemein beliebt war“. Vgl. Brief Herders an Luise zu Stolberg [Oktober] 1800, in: Erich Trunz und Waltraud Loos (Hg.), Goethe und der Kreis von Münster. Zeitgenössische Briefe und Aufzeichnungen, Münster 1971, Nr. 239, S. 108. Brief vom 03.07.1797: Archiv Darfeld, AV c 142. Brief Stolbergs an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering vom 20.03.1794: Archiv Darfeld, AV c 149. Er wisse, schrieb Stolberg, wie „erzkatholisch“ die Drostes über die Protestanten dächten. Doch noch waren ihm solche Angriffe zuwider. „Ich entbrenne manchmal vor Zorn“, konterte er, „wenn Erzprotestanten sich mit Bitterkeit gegen den Katholizismus erklären, und möchte dann gleich hinfliehen zu den Füssen meiner himmelvollen Adeodata, und jenen Zeloten sagen: Sehet und erröthet.“ „Wiewohl ich nicht katholisch bin, lege ich doch sehr grossen Werth auf die Fürbitte, welche Sie in dem Augenblick der großen Opferung zu dem, der sich selber opferte empor seufzen. Ueberhaupt kann ich Ihnen nicht sagen, wie theuer und ehrwürdig mir manches ja sehr vieles, in Ihrer Religion ist. Was soll ich Ihnen sagen lieber Caspar, daß mein Kopf in manchen Dingen protestirt und also protestantisch ist, weil ich einige Ihrer Meinungen nicht glaube und nicht finden kann, wie ich mich, ohne Rückhalt, einer Kirche unterwerfen könnte, deren Unfehlbarkeit ich nicht weiß, nicht glauben
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Stolberg bereits mit dem Vorwurf, ein Ketzer zu sein. Ab etwa 1794/95 war den Briefen deutlich zu entnehmen, dass Stolberg sich Gedanken machte, ob er noch der richtigen Konfession angehörte. Das tolerierende Gleichgewicht zwischen protestantischem Pietismus und katholischen Fideismus geriet in eine kritische Phase. Caspar Maximilian Droste zu Vischering gegenüber bekannte Stolberg: „Derjenige, auf den wir alle, als auf den grossen nicht untergehenden Polarstern während unserer Wallfahrt auf den Wogen dieses Lebens und in der Nacht die uns umfängt, unsere Augen gerichtet haben sollen, der wolle uns alle in den Hafen führen nach dem uns verlangt! Ist die Seefahrt des einen richtiger und sein Compas vollkommner als des anderen, so wird doch der hingeheftete Blick auf jenen Stern uns alle vereinigen! Mehrere und bessere Piloten habt Ihr, das kann ich nicht leugnen lieber Kaspar, und bey Eurer Art zu seefahren habt Ihr Vorzüge die ich nicht verkenne! Halte ich mich doch nie so wenig in Gefahr als wenn ich in euren Charten mich orientire, und Euren Schiffen nachzusteuern strebe. Fahrt fort, Ihr Gelobten für mich zu beten!“33 Dafür, dass Caspar Maximilan Droste zu Vischering am Fronleichnamsfeste seiner als eines „armen Ketzer“ gedenke, dankte nun Stolberg.34 Dass sich Stolberg nun auch immer stärker der katholischen Kult- und Zeremonienwelt annäherte, zeigen die Glückwünsche zur Priesterweihe des Clemens August Droste zu Vischering. Der Anteilnahme des Kirchenvolkes an solchen Zeremonien kontrastierte Stolberg die Kälte der protestantischen Ritenwelt. „Ich werde mich schämen müssen Ihnen zu erzählen, wie kalt und todt es auch in dem Stücke bey uns aussieht.“ Er könne seinen eigenen Landesherrn nun guten Gewissens nicht mehr als Bischof titulieren, hieß es im gleichen Atemzug.35 Zweifellos hat die klare Trennlinie, welche die Droste-Brüder zwischen den Konfessionen zogen, dazu beigetragen, die Glaubenszweifel Stolbergs zu nähren.
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kann. Wäre mein Kopf erst katholisch, o mit dem Herzen blieb Euch keine Arbeit übrig, und ich glaube vor dem Angesicht des Herzenkündigers frey bezeugen zu können, daß mein Herz und mein Wille, wofern ich irre, keinen Antheil an meinem Irrthum haben. Wahrlich nicht. Das sey Euch Beruhigung über mich armen Ketzer, wofern ich ein Ketzer bin.“ Brief Friedrich Leopold zu Stolberg an Caspar Maximilian Droste zu Vischering vom 02.02.1794: Archiv Darfeld, AV e 22, Hervorhebungen im Original. Ebd. „Irre ich bester Caspar, in meinem Glauben, so irrt nur der Kopf und nicht das Herz. Ich bitte täglich zu Gott, daß er mir seinen Geist senden wolle, daß er mich in seine Wahrheit leite. Ich bitte den heiligen Vater, daß er mich in Seiner Wahrheit heiligen wolle! Ich nahe mich zuweilen im Geiste dem Tisch des Herrn und und bitte ihn mich nach seiner Gnade und Barmherzigkeit des geistlichen Genusses seines Abendmahles theilhaftig zu machen.“ Brief Stolbergs an Caspar Maximilian Droste zu Vischering vom 17.06.1795: ebd. Die Briefstelle deutet auch an, dass Stolberg sich der katholischen Transsubstantiationslehre annäherte. Das Fronleichnamsfest galt bei den Katholiken der Verehrung der Hostie, von der man im Unterschied zu den Lutheranern annahm, dass Christus in ihr ständig präsent sei. Voss verspottete dies in seiner Ode Warnung an Stolberg aus dem Jahr 1800 mit dem berüchtigten „Altarschmaus des gebackenen Gottes“. Brief vom 30.12.1795 an Caspar Maximilian Droste zu Vischering: Archiv Darfeld, AV e 23, und Brief vom 30.08.1795 zur Bischofsweihe des Caspar Maximilian: ebd.
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In den Zusammenhang einer vermehrten Werbung fällt vermutlich auch ein spektakuläres Geschenk, welches Caspar Maximilian Droste zu Vischering Stolberg zukommen ließ. Er vermachte ihm ein bei Angelika Kauffmann in Rom in Auftrag gegebenes großformatiges Gemälde mit dem Titel „Lasset die Kindlein zu mir kommen“. Stolberg bedankte sich überschwänglich und ließ es im großen Saal seines Eutiner Hauses aufhängen.36 Das Ehepaar Stolberg nahm nun auch regen Anteil an der Etablierung einer katholischen Diasporagemeinde in Eutin. Als Adolf Heidenreich Droste zu Vischering und seine Ehefrau Antonette im November 1793 in Eutin weilten, mussten sie noch die Messe in Lübeck besuchen.37 1795 hatten die Eutiner Katholiken die Freiheit ihrer Religionsausübung erlangt.38 Die kleine katholische Gemeinde in Eutin bat Stolberg 1796, in der Stadt eine bleibende Mission etablieren zu dürfen. Man richtete schließlich in dem Haus des Kaufmanns Jürgen Terheyden eine Kapelle ein.39 Das Ehepaar Stolberg unterstützte über die Brüder Droste die kleine Gemeinde und half mit liturgischen Büchern und Gerätschaften aus.40 Sie besuchten auch bereits die dortige katholische Messe.41 Die Glaubenszweifel Stolbergs spitzen sich in den Jahren 1798/99 deutlich zu. Es gab einen Punkt, der ihn in schwere Konflikte brachte: die Lehre von der alleinigen Apostolizität der katholischen Kirche. Die katholische Kirche nahm für sich in Anspruch, die einzig legitime Erbin der durch Christus eingesetzten Kirche zu sein. Nur ihre Bischöfe seien die wahren Nachfolger der Apostel. Allen anderen Kirchen wurde eine Existenzberechtigung abgesprochen. Der Lehrsatz Extra ecclesiam nulla salus war eine scheinbar unüberwindliche Trennlinie. Dieser Punkt bildete die kritische Masse der letzten Jahre vor der Konversion. Eine lebensbedrohliche Erkrankung Stolbergs auf seiner zweiten Petersburger Mission im April 1797 verursachte auch eine kritische Bilanzierung seines bisherigen Lebens.42 Einige Zeit danach schrieb er an Adolf Hei36
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Brief vom 02.01.1799 an Caspar Maximilian Droste zu Vischering: ebd. Zur Geschichte dieses Gemäldes jetzt ausführlich: Bettina Baumgärtel, Lasset die Kindlein zu mir kommen. Angelika Kauffmann und Philipp Otto Runge, in: Wallraf-Richartz Jahrbuch 70 (2009), S. 195–222, hier S. 209 ff. Caspar Maximilian schenkte auch Stolbergs Tochter Henriette Louise (1788–1868) eine Zeichnung Angelika Kauffmanns. Vgl. Brief Stolbergs an Caspar Maximilian Droste zu Vischering vom 12.08.1812 aus Neudorf: Archiv Darfeld, AV e 23. Brief Stolbergs an Caspar Maximilian Droste zu Vischering vom 16.(10?)11.1793: Archiv Darfeld, AV e 22. Brief Sophia zu Stolberg an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering vom 22.03.1795: Archiv Darfeld, AV c 153. Everhard Illigens, Geschichte der Lübeckischen Kirche von 1530 bis 1896, Paderborn 1896, S. 115. Das Haus Terheydens befand sich am Eutiner Markt Nr. 5. Brief Sophia zu Stolberg an Caspar Maximilian Droste zu Vischering vom 06.11.1797: Archiv Darfeld, AV e 24. Die befreundete Anne Paule Dominique Marquise de Montagu schrieb an Sophia zu Stolberg zu Weihnachten 1799: „je pensais avec quelle ferveur vous et Léon assisteriés a la messe comme vous sentierés et profiteriés de cette consolation“. Archiv Graf Kerssenbrock-Praschma auf Haus Brincke, Korrespondenzen Montagu, Nr. 3. Am 25.04.1797 berichtete Stolberg an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering hierüber: „Als ich begann wieder lebendig zu werden, da war mir Gott sehr gnädig. Ich
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denreich Droste zu Vischering: „Ja wir wollen eine Phalanx miteinander machen. Eine Fahne wehet uns vor, denn wir haben einen Anführer, den Unüberwindlichen, durch den auch wir überwinden […].“43 Als Stolberg mit seiner Familie im September 1798 für einige Tage in Herrnhut weilte, sah er in dem dort praktizierten emotionalisierten Glauben bereits die Gefahr der „leichte[n] Illusion“, die auch „Anlaß zur Heuchelei“ geben könnte.44 Der in Herrnhut praktizierte Pietismus war nun augenscheinlich mit Stolbergs Verlangen, sich an dogmatische Richtschnüre halten zu können, nicht mehr vereinbar. Kurze Zeit später äußerte er sich bereits emphatisch über den katholischen Glauben an die Gemeinschaft der Heiligen.45 Die intensiven Diskussionen in den letzten Monaten vor der Konversion galten dann auch, wie Sophia zu Stolberg in ihren Aufzeichnungen festhielt, dem kritischen letzten Punkt, „von der Unfehlbarkeit der katholischen Kirche“ überzeugt zu werden.46
2. Die Konversion Stolbergs Konversion unterschied sich in ihrer Grundsätzlichkeit von den anderen nachfolgenden Glaubenswechseln der Romantik. Sie provozierte den kulturnationalen Konsens seiner norddeutschen protestantischen Freunde, wonach es die katholische Kirche war, die durch ihre ultramontane Ausrichtung eine eigenständige Entwicklung deutscher Sprache und Kultur gehemmt habe.47 Sie war auch eine deutliche Absage an die protestantische Lehre von der Gewissensfreiheit. Klar brachte dies Johann Kaspar Lavater in seinem oft zitierten Brief zur Konversion zum Ausdruck. „Ich werde nie katholisch, das ist Aufopferung aller meiner Denkensfreyheit und Gewissensfreyheit, das ist, Entsager aller unveräusserlichen Menschenrechte werden.“48 Lavater sprach den Kernpunkt an, den Anspruch der katholischen Kirche, unfehlbar zu sein, und damit ihre Indolenz und Intoleranz anderen Glaubensrichtungen gegenüber. Stolberg antwortete, seine Kirche lehre ihn nun zu glauben,
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that Blicke in mein voriges Leben, bis in die Kindheit hinein und was sah ich deutlicher denn je? Links aufgethürmte schwere Gewölke meiner Gräuel, rechts die Sonne seiner Gnade welche die Gewölke zu Wasser gerinnen machte.“: Archiv Darfeld, AV c 150. Brief vom 19.11.1797: Archiv Darfeld, AV c 149. Brief an Amalia von Gallitzin vom 10.09.1798: Stolberg, Briefe, Nr. 372, S. 352. Brief vom 12.12.1798 an Caspar Maximilian Droste zu Vischering: „In der Idee der Gemeinschaft der Heiligen ist etwa unaussprechlich seeliges.“: Archiv Darfeld, AV e 23. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Größtentheils aus dem bisher noch ungedruckten Familiennachlaß dargestellt von Johannes Janssen, 2 Bde. Freiburg 1877, hier Bd. 1, S. 498. Stockinger, Konversion, S. 203. Abschrift des Briefes mit dem irrigen Datum 08.04.1800: Archiv Darfeld, AV g 29. Eine Abschrift mit dem Datum 01.10.1800 findet sich im Archiv Graf Canitz zu Cappenberg, Nachlass Freiherr vom Stein S 0677. Eine weitere Abschrift in der Abtei Königsmünster in Meschede. Diese Abschrift wurde durch Clemens Brunnert, Lavater an Stolberg, Meschede 1987, erneut publiziert. Dort auch die Diskussion über die Datierungsfrage.
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dass auch die Protestanten Mitglieder der katholischen Kirche sein können, ohne es zu wissen. Lediglich die bewusste Abkehr wider besseres Wissen mache sie zu Ketzern.49 In diesem Sinne vereinnahmte Stolberg nun auch seine verstorbene Frau Agnes von Witzleben (1761–1788) als Mitglied der katholischen Kirche.50 Stolbergs religiöse Wende nahm durchaus die Form eines strengen Proselytentums an. „Die Wahrheit suchen wir nicht mehr, wir haben sie, den Glauben, und den wahren Glauben haben wir, eine unerschütterliche Festigkeit der Wahrheit unserer Religion, unseres Glaubens unserer Religion, unserer Lehre haben wir“, schrieb er an Friedrich Perthes.51 Für den münsterischen Katholizismus, insbesondere für die dortige adlige Führungsschicht, waren derartige Bekenntnisse eines berühmten Zeitgenossen Kronzeugnisse für die Richtigkeit der eigenen Einstellung. Dem herrschenden ‚Indifferentismus‘ und dem ‚Zeitgeist‘, Begriffe, worunter man alles subsumierte, was an umstürzlerischen oder auch nur reformerischen Gedanken dem alten Herkommen entgegenstand, konnte man so eine unerschütterliche Festigkeit im Glauben entgegenhalten. Es war das eindeutige Bekenntnis Stolbergs auch zur katholischen Dogmatik, das ihn in Westfalen zu einem ‚Talisman‘ werden ließ. Einmal überzeugt von der alleinigen Wahrheit des Katholizismus, war er auch bereit, für diesen zu missionieren. An seine Schwägerin Luise schrieb er mit Bezug auf den Glaubenswechsel seiner Kinder: „Wer darf sich daran genügen lassen, den Samen des Himmels obenhin auszustreuen und ihm nicht jede Pflege zu gewähren, deren er fähig ist? Und wie dürfen wir hoffen, daß diese Lehre tief in den Kindern wurzeln würde, wenn sie unter lauter theils so geehrten und geliebten Menschen lebten, welche anderen Glaubens sind?“52 Stolberg war sehr daran gelegen, dass er und seine ganze Familie von nun an als praktizierende Katholiken angesehen wurden. Dass es ihm nicht gelang, auch seine älteste Tochter Marie Agnes, die damals in Wernigerode weilte, zur Konversion zu veranlassen, setzte ihm sehr zu.53 Marie Agnes, schrieb er an Caspar Maximilian Droste zu Vischering, „würde mich zu einem sehr glücklichen Vater machen, wenn der eine Wurm mir nicht immer am Herzen nagte“. Er forderte den Weihbischof auf, täglich der Tochter „vor dem Gnadenstule zu gedenken“.54 Als der Sohn Andreas im Sommer 1809 während seines Studiums 49 50 51 52 53
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Antwortbrief an Lavater vom 26.10.1800: Abschrift Archiv Darfeld, AV g 29. „Sie ist früher katholisch geworden als ich, um 12 Jahre früher Mitglied der grossen allgemeinen Kirche deren Kinder theils hieniden streiten, theils in läuternden Flammen büssender Liebe.“ Ebd. Brief vom 26.05.1818 in: Reinhard, „familia sacra“, S. 207. Brief vom 21.08.1800. Abschrift um 1860 im Archiv von Twickel Westheim, A 467. Eine sonderbare Verwicklung habe ihn gezwungen, seine Tochter Marie Agnes in Wernigerode zurücklassen zu müssen, als er sich mit seinen Kindern aus erster Ehe getroffen habe; er sei fest entschlossen, seine Kinder katholisch zu erziehen, weil er die katholische Kirche „als die wahre“ erkannt habe. „Nicht eine Wahrheit der Religion darf ich für den Preis der Welt einem meiner Kinder verschweigen.“ Abschrift eines Briefes vom 11.09.1800 an ein befreundetes Ehepaar: Archiv von Twickel Westheim, A 466. Brief vom 22.05.1802 aus Wernigerode, wo Stolberg aus Anlass der Hochzeit der Marie Agnes weilte: Archiv Darfeld, AV d 3.
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in Dillenburg sich ernsthaft in eine Protestantin, die Tochter des Berghauptmannes Johann Philipp Becher, verliebte, geriet das Ehepaar Stolberg in nicht geringe Aufregung ob der drohenden Mischehe. Man setzte alles daran, die beiden wieder getrennt zu sehen.55 Stolbergs Glaubenswechsel war so grundsätzlich, dass er nun seine ehemaligen Glaubensgenossen als Irrende ansah.56 Neben dem Einfluss des katholischen Adels auf die Konversion gab es noch andere starke Motive. Für Stolberg war seit seiner Kindheit die Bibel die Quelle der Offenbarungsreligion. Als die neologische Richtung in der protestantischen Theologie die Schrift nicht mehr als göttliche Offenbarung las, sondern die autonome Vernunftentscheidung dagegen hielt, die Gottheit Christi bezweifelte und die Satisfaktionslehre nahezu als Variante eines heidnischen Menschenopfers hinstellte, glaubte Stolberg, wie er an Lavater geschrieben hat, „den vollendeten Einsturz der protestantischen Kirche“ mitzuerleben.57 Stolberg hat das Bestreben, die Texte der Bibel dem aufklärerischen Menschenbild anzupassen, zutiefst verworfen. Darüber hinaus ist auch Stolbergs Rezeption der Französischen Revolution in der engeren Phase seiner Glaubenszweifel als eine der Ursachen der katholischen Wende anzusehen. Es ist oft daran erinnert worden, dass Stolberg als Befürworter der Gewaltenteilungslehre Montesquieus, als Bewunderer der parlamentarischen Mitbestimmungsrechte in der Schweiz und in England sowie als Bewunderer der Amerikanischen Revolution mit der politischen Aufklärung sympathisierte. Alles, was dem herrschenden Absolutismus seiner Zeit entgegenstand, fand seine Zustimmung, falls nicht die althergebrachten Rechte seines eigenen Reichsadelsstandes infrage gestellt wurden. Auch der Beginn der Französischen Revolution fand begeisterte Billigung, weil es sich anfänglich um ein Aufbegehren der Stände gegen den Absolutismus handelte. Für eine erste Irritation sorgte die Absicht der Revolutionäre, den Erbadel abzuschaffen, wofür nicht zuletzt namhafte französische Adelspolitiker selbst eintraten. An seinen Bruder Christian schrieb Stolberg hierzu: „Ob man einen solchen tiefgewurzelten Baum ausreißen kann, da es viel rathsamer scheinen möchte, nach Art der Monarchen ihm nach und nach alle Nahrung zu nehmen? Endlich ob eine Monarchie den Adel entbehren kann? Ich glaube, daß ich alle diese 55 56
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Briefe Sophia und Friedrich Leopold Stolberg an Anton von Hardenberg Ende Juni und 22.08.1809 (Jansen, Novalis-Kreis, S. 134 f. und 138). In einem Brief an Sophia von Merveldt vom 05.02.1814 heißt es: „Von Zeit der Apostel an ward neue Lehre als Irrlehre verworfen, weil sie neu, weil sie nicht übereinstimmend war mit dem Glauben der Ganzen, schon zu der Apostel Zeiten in 3 Welttheilen sich verbreitenden Kirche. Schon das bürgt für die Wahrheit der Lehre, daß es sich ja gar nicht als möglich denken läßt, daß ein Irrthum sich zugleich in allen Kirchen dreyer Welttheile eingeschlichen hätte. Es ist auch leicht einzusehen, daß die Kirche unfehlbar seyn müsse, wenn sie bestehen soll. Die katholische Kirche allein besteht unwandelbar, nur sie, weil ausgerüstet mit Gottes Kraft, siegt über Raum und über Zeit, diese beyden Tyrannen der flüchtenden Menschengeschlechter.“ Die „wohlmeinenden frommen Protestanten“ seien daher im Irrtum, falls sie annähmen, alle christlichen Konfessionen liefen auf das Gleiche hinaus. Vgl. Archiv von Twickel Westheim, A 467. Hervorhebung im Original. Baudach, Stolberg, S. 382; Stockinger, Konversion, S. 205.
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Fragen eher mit Nein als mit Ja beantworten würde.“58 Die Verselbständigung des Dritten Standes als Nationalversammlung und die Ausschaltung der Prärogativrechte des Adels desillusionierten ihn dann.59 Stolbergs Haltung zur Revolution blieb bis zum Sommer 1792 noch ambivalent. Das Manifest des Herzogs von Braunschweig, der mit der Zerstörung der Stadt Paris gedroht hatte, falls der königlichen Familie etwas angetan werde, verwarf er noch als kontraproduktiv.60 Doch der Pariser Augustaufstand, die Absetzung des Königs und die Septembermorde 1792 brachten den endgültigen Sinneswandel. Stolberg bedachte die Revolutionäre fortan nur noch mit Schmähworten. Sie waren die „Ohnhosigen“, die „getauften Heiden“, das „anarchische Gesindel“, oder die „gepuderten Kannibalen“.61 Auch die Titulatur als „Erzfeind“ findet sich bereits in seinen Briefen.62 Gleichwohl glaubte Stolberg, die Revolution habe mit der Hinrichtung des Königs ihren Zenit überschritten und werde nun zusammenbrechen. Jetzt wisse es die ganze Welt, schrieb er an die Brüder Droste, mit wem man es zu tun habe: „Es ist mit Ihnen aus.“ Allen, die in Deutschland bisher noch mit der Revolution sympathisiert hätten, seien nun die Augen geöffnet worden.63 Doch als das Gegenteil eintrat und die Revolution immer weiter in das Reich vordrang, empfand das Ehepaar Stolberg die Revolution mehr und mehr als eine Prüfung Gottes. „Gott weiß allein welche Grenze er ihnen gesetzt hat“, schrieb das Ehepaar Stolberg im März 1795 aus Eutin an die Drostes.64 Stolbergs Ode Die Westhunnen hatte nicht nur die Absicht, den Begriff der Franken der deutschen Revolutionsanhänger zu konterkarieren; der Autor assoziierte auch die Erinnerung an einen das Christentum existenziell bedrohenden Heidensturm und beschwor in Anlehnung an die Geheime Offenbarung des Johannes die Vorgänge in Frankreich als apokalyptisch.65 Für ihn waren nun die Revolutionäre „die Rotten
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Stolberg, Briefe, Nr. 279, S. 263. Hierzu: Wolfgang Martens, Stolberg und die Französische Revolution, in: Gonthier-Louis Fink (Hg.), Les Romantiques allemands et la Révolution francaise, Strasbourg 1989, S. 41–51. Am 30.01.1791 schrieb er an Gerhard Anton von Halem: „Ich war so enthusiasmirt für Frankreichs Revolution, des man es nur sein kann. Aber ich gestehe Ihnen liebster Freund, daß ich weder zufrieden mit der Nationalversammlung bin, welche gesetzgebende und ausübende Macht zugleich behauptet – also Despot ist – noch auch dem Nationalgeiste Frankreichs viel zutrauen kann. […] Ich sehe den großen Strom heranrauschen, welcher alle Despotien stürzen wird.“ Stolberg, Briefe, Nr. 282, S. 267. Brief vom 20.08.1792 an Caspar Maximilian Droste zu Vischering: Archiv Darfeld, AV e 22. Zitate in den Briefen vom 21.09.1792, 15.10.1792 und 22.09.1793: Archiv Darfeld, AV c 149 und c 153. Brief vom 04.01.1792 [=1793]: Archiv Darfeld, AV c 149. Brief vom 02.02.1793: ebd. Brief vom 22.03.1795: Archiv Darfeld, AV c 153. Stolberg übersandte die Ode im Juni 1794 seinen münsterischen Freunden und schrieb dazu: „Der fürchterliche Gedanke an die Westhunnen sucht mich heim bei Tag und Nacht. Die schändliche und beinahe tückische Ruhe mit welcher fast ganz Europa der Pestverbreitung zusieht, kränkt mich am meisten und nimmt mir alle Hofnung daß wir Deutschen dem nahen Verderben entrinnen.“: Archiv Darfeld, AV c 149.
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des Teufels“.66 In den entscheidenden Jahren seiner Glaubenskrise nach 1793 sah Stolberg nun mit der Revolution auch einen endzeitlichen Kampf des Christentums gegen den Antichristen heraufziehen. In seinem Antwortbrief an Lavater hieß es auch, er gehöre nun einer Kirche an, die auf einem solchen Fundament gegründet sei, dass der Antichrist ihr nichts mehr anhaben könne.67 Auf diesem sicher geglaubten Fundament ließ sich der Untergang der alten Welt als Prüfung Gottes erleben, aus dem Neues erwuchs. Den Untergang des Reiches 1806, schrieb Stolberg in einem Brief an Augusta von Bernstorff, habe er seit 15 Jahren vorausgesehen. Es habe so kommen müssen, damit die Schrift erfüllt werde und die Aussage der Bibel „daß die Gottvergessenen Zeiten und Völker durch heisse Glut der Läuterung gehen müssen, und daß der grosse Schmelzer wohl weis, was er thut […]. Das ganze Gebäude der äußeren Ruhe ist eingestürzt! Wohl uns, wenn wir auf den Trümmern sitzend mit dem Geist uns erheben, so können wir ein schönes Hallelujah singen.“68 Für Stolberg war nun die Revolution die letzte und nahezu zwangsläufige Konsequenz des in sich verdorbenen aufklärerischen 18. Jahrhunderts. Die Despotie des Absolutismus war abgelöst worden durch die drohende Despotie der Mehrheitsentscheidungen; das Christentum wurde durch den Antichristen bekämpft.69 Stolbergs religiöse Wende wurde wohl auch beeinflusst durch die von eigenen Schwächen nicht freie Person des Papstes Pius VI. (1775–1799), der die Erklärung der Menschenrechte durch die Französische Nationalversammlung 1789 nicht anerkannte, weil sie keinen Gottesbezug mehr hatte, und der ebenfalls die Konstitution von 1791 als schismatisch verwarf, weil die Geistlichen sie beeidigen mussten.70 Die letzten Monate, die das Ehepaar Stolberg nach der Konversion in Eutin verbringen musste, wurden quälend. Der alte Freundeskreis ließ sie die Distanz, die der Schritt ausgelöst hatte, deutlich spüren. Der fühlbare Unmut ließ die Übersiedlung nach Münster schließlich zu einer ersehnten „Emigration“ werden.71 Der Umzug nach Münster war auch ein politischer Schritt. Am Abend vor dem Umzug schrieb Friedrich Leopold zu Stolberg noch an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering: „Gott sey gelobt daß und warum wir nach Münster ziehen! Schon lange zählen wir 66 67 68 69
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Brief vom 05.06.1796 an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering: Archiv Darfeld, AV c 150. Brief vom 26.10.1800: Archiv Darfeld, AV g 29. Brief vom 18.11.1806: Archiv von Twickel Westheim, A 467. Von der „letzten Olympiade dieses hochweisen Jahrhunderts“ erwarte er nichts Gutes mehr, schrieb er am 30.12.1795 an Caspar Maximilian Droste zu Vischering. Man könne nur „der wallenden Kreuzesfahne mutig folgen, so werden die Ströme des Unsinns und des Frevels uns nichts anhaben können“: Archiv Darfeld, AV e 23. Der Papst, schrieb Sophia zu Stolberg am 24.02.1793 an Clemens August Droste zu Vischering, betrachte die Franzosen „als Feinde Gottes und der Menschen.“ Ihr Mann wünsche, dass der Papst im Kampf mit den Franzosen als Blutzeuge den Heldentod stürbe: Archiv Darfeld, AV c 153. Sophia zu Stolberg an Caspar Maximilian Droste zu Vischering am 07.07.1800: Man werde Eutin Ende September verlassen und die „große Emigration“ antreten, schrieb sie; sie sei sonderbar zerrissen zwischen der Sehnsucht nach Münster und dem Verlassen eines Landes, an welchem so viele Erinnerungen hingen: Archiv Darfeld, AV e 26.
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die Tage, bald werden wir die Stunden zählen und dann mitten unter euch seyn, im Schoos der Kirche in welcher der gute Hirte selbst uns hineingeführt hat.“72 Die Stadt wurde ganz bewusst gewählt, weil man das Hochstift Münster als eines der letzten intakten Bollwerke gegen den ‚Zeitgeist‘ ansah.73 In Münster selbst betrachtete man die Übersiedlung des berühmten Zeitgenossen durchaus als „Acquisition“ zur Stützung der eigenen Politik. Man wünschte daher, der Familie eine Etage des fürstbischöflichen Schlosses als Wohnung anzubieten.74 Als Stolberg mit seiner Familie nebst vier Reit- und zwei Wagenpferden im Herbst des Jahres 1800 nach Münster zog, war seine primäre Sorge jedoch, ein Haus in der Nähe der Fürstin Gallitzin zu finden, um sie ständig besuchen zu können.75 In Münster selbst lebte die Familie zurückgezogen. Dem Drängen der Brüder Droste zu Vischering, die notwendigen Visiten zu machen, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden, widerstand man.76 Trotz dieses Rückzuges auf das Private wurde Stolberg zu einer stadtbekannten Persönlichkeit bis in die untersten Volksschichten.77 In Anlehnung an die Verdächtigungen von Johann Heinrich Voß78 ist oft behauptet worden, Stolberg sei bei seiner Konversion ein Opfer seiner zweiten Frau, Sophia von Redern, geworden. Hiergegen hatte sich bereits Wilhelm von Humboldt ausgesprochen.79 Auch die These, dass der Einfluss der französischen Emigrantin im nahe gelegenen holsteinischen Wittmoldt, Anne Paule Dominique Marquise de Montagu, die Schwägerin Marie Joseph Paul La Fayettes, hierbei mitentscheidend 72 73
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Brief vom 27. September 1800: Archiv Darfeld, AV c 150. Hervorhebungen im Original. „Ich kenne Deutschland ziemlich genau“, schrieb Friedrich Leopold zu Stolberg am 10.08.1801 an die russische Zarin, „und kann wohl mit Wahrheit sagen, daß kein Land im Deutschen Reich so rein an Sitten, daß in keinem die Religion so lauter gelehret wird und so treu befolget werde, als im Hochstifte Münster“: Stolberg, Briefe, Nr. 401, S. 376 f. Münster war ihm die „Hauptstadt der einzigen Provinz in Deutschland, wo die gebildeten Stände niemals dem Unglauben gehuldigt haben“, zitiert nach: N. N., Grab des Friedrich Leopold von Stolberg zu Stockkämpen, Warendorf o. J. [um 1820]. Petition an den Kurfürsten Maximilian Franz 1800: Archiv Darfeld, Nachlass Franz von Fürstenberg N 24, Dep. Bistumsarchiv Münster. Brief Friedrich Leopold zu Stolberg an Caspar Maximilian Droste zu Vischering vom 17.08.1800, Archiv Darfeld, AV e 24. „Man weiß weshalb wir hergekommen […] unser Wunsch ist nur mit unseren Freunden zu leben. Meine väterlichen Pflichten so wohl als meine Denkart sondern mich von der großen Gesellschaft ab“ Friedrich Leopold zu Stolberg an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering im November 1800: Archiv Darfeld, AV c 150. Im Mai 1801 mietete Stolberg von der befreundeten Familie Droste zu Vischering das vor den Toren der Stadt gelegene Landgut Lütkenbeck. Im Herbst 1812 zog Stolberg mit seinen Angehörigen auf die beiden Güter Tatenhausen und Brincke bei Halle/Westf., die dem Schwiegersohn Maximilian Franz Xaver von Korff-Schmising gehörten. Im Sommer 1816 schließlich pachtete die Familie das hannoverische Domanialgut Sondermühlen bei Melle im Osnabrückischen, nahe an der Grenze zur preußischen Provinz Westfalen. Siehe hierzu die Bemerkung Friedrich von Schlegels. Stolberg, Familiennachlaß, Bd. 2, S. 190. S. u. Anm. 97. Brief an Charlotte Diede vom 04.12.1830, in: Leitzmann, Briefe, Bd. 2, S. 157.
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gewesen sei, lässt sich nicht halten. Sie stand mit Sophia von Redern in einem regen religiös kontemplativen Briefkontakt, dem ein wie auch immer geartetes Drängen auf Konversion nicht zu entnehmen ist.80
3. Stolbergs religiöse Schriften Seinen hohen Bekanntheitsgrad über das katholische Deutschland hinaus verdankte Stolberg nicht zuletzt seiner religiösen Schriftstellerei nach 1800. Stolberg wurde zum eigentlichen publizistischen Sprachrohr des ‚Kreises von Münster‘, der selbst kaum an die Öffentlichkeit trat.81 Sein Hauptwerk und auch sein erfolgreichstes wurde die Geschichte der Religion Jesu Christi.82 Angeregt wurde die Arbeit im Salon in der Grünen Gasse der Amalia von Gallitzin.83 Ein entscheidender Anstoß kam hierbei von dem münsterischen Domkapitular Clemens August Droste zu Vischering.84 Das Werk hatte eine heilsgeschichtliche Tendenz und verfolgte den primären Zweck, die Objektivität einer abgesicherten Offenbarung darzulegen. Es implizierte die Lehre von der alleinigen apostolischen Sukzession der katholischen Kirche und der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes.85 Beabsichtigt war eine historisch untermauerte Erinnerung an die antike, von den Heiden bedrohte Kirche, die dennoch siegreich blieb. Stolberg nahm bei der Abfassung der Schrift durchaus eine Art göttlicher Inspiration für sich in Anspruch.86 Im katholischen Adel wurden die Manuskripte zur Religionsgeschichte gleichsam als Reliquien angesehen.87 Das Buch 80 81 82 83 84 85
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Die etwa 370 Briefe der Marquise aus den Jahren 1796 bis ca. 1824 befinden sich im Archiv Graf Kerssenbrock-Praschma auf Haus Brincke. Markus Hensel-Hohenhausen, Clemens August Freiherr Droste zu Vischering, Erzbischof von Köln 1773–1845, 2 Bde., Engelsbach 1991, hier Bd. 1, S. 117 ff. Friedrich Leopold zu Stolberg, Geschichte der Religion Jesu Christi, 15 Bde., Hamburg und Wien 1807–1818. Fortgesetzt wurde das Werk durch Friedrich von Kerz (Bd. 16– 45), Mainz 1818–1846, und Johann Nepomuk Brischar (Bd. 46–53), Mainz 1848–1864. Manfred Weitlauff, Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs „Geschichte der Religion Jesu Christi (1806–1818)“, in: Baudach u. a., Beiträge, S. 247–280. Brief Friedrich Leopold zu Stolberg an Clemens August Droste zu Vischering am 04.10.1804: Stolberg, Briefe, Nr. 419, S. 389 f. Stolberg ließ daher Teile der Religionsgeschichte unter diesem Aspekt separat noch einmal drucken: Friedrich Leopold zu Stolberg, Ueber den Vorrang des Apostel Petrus vor den anderen Aposteln und seiner Nachfolger vor den anderen Bischöfen, Hamburg 1815 und Regensburg 1843. Ferner ders., Ueber die Unfehlbarkeit der Kirche, Regensburg 1818. Nicht von ungefähr reiht Stockinger, Konversion, das Werk in die Vorgeschichte des 1. Vatikanum ein. „Sehen sie bester Freund, was in meinem Buche gut ist, das kommt von Gott, den ich immer dabey anrufe, aber es mag sich aus der alten hölzernen Röhre, die ich bin, viel grüner Schlamm ansetzen, den wolle Gott unschädlich machen.“ Brief Friedrich Leopold zu Stolberg an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering vom 25.07.1815: Archiv Darfeld, AV c 151. Die in den Archiven der Familie von Ketteler zu Thüle und zu Stolberg in Westheim verwahrten Teilmanuskripte wurden jeweils mit kirchlichen Authentizitätsattesten versehen.
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wurde das erfolgreichste Werk Stolbergs. Bis zum Jahr 1826 setze der befreundete protestantische Verleger Friedrich Perthes allein 8.000 Exemplare ab.88 Es war vor allem dieses Werk, welches die Reihe der bekannten romantischen Konversionen auslöste.89 Stolberg behauptete nie, bei seinen historischen Werken die Methoden der kritischen Wissenschaft zu befolgen. Er orientierte sich an der heilsgeschichtlichen Exempelliteratur. Sein Leben Alfred des Großen verfasste er während der Befreiungskriege. Es sollte das Beispiel gezeigt werden, wie ein großer Herrscher das Christentum gegen die heidnischen Wikinger behauptete. Die Antwort auf den Kampf gegen das revolutionäre Frankreich der „Westhunnen“ war deutlich.90 Seine Exempelliteratur sollte zur Nachahmung anregen. Eine unmittelbare Wirkung erzielte so Stolbergs Beschäftigung mit dem Leben des Hl. Vinzenz von Paul. Der rege Austausch, den er hierüber mit Clemens August Droste zu Vischering pflegte, veranlasste letzteren, nach dem Muster der Vinzentinerinnen eine Krankenpflegekongregation zu gründen, die später sogenannten Clemensschwestern.91
4. Stolberg und die altständische Adelswelt Die Rezeptionsgeschichte Stolbergs im 19. Jahrhundert wurde maßgeblich durch die katholische Sicht auf den Konvertiten und den entschiedenen Gegner der Aufklärung geprägt. Man reihte ihn in die Galerie der „Führer des Volkes“ eines katholischen Deutschland ein.92 Der Name wurde durch die Konversion nicht nur eine bekannte Größe in Deutschland, sondern auch in Frankreich. Als Stolbergs Sohn Alfred, der sich den spanischen Karlisten anschloss, um die Weltrevolution zu bekämpfen, 1834 todkrank in den kleinen Pyrenäen-Ort Sare gebracht wurde, wusste der dortige Pfarrer sofort, um wen es sich handelte, „le fils d’un grand homme“ eines „illustre père“.93
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Reinhard, „familia sacra“, S. 145. Ausstellung Eutin, S. 88. Friedrich Leopold zu Stolberg, Leben Alfred des Großen, Königes von England, Münster 1815. Siehe hierzu den Brief Stolbergs an den preußischen Kronprinzen, mit dem er ihm das Werk widmete, vom 22.12.1815: Archiv Darfeld, AV g 29 (Abschrift). Wilhelm Liese, Westfalens alte und neue Spitäler, in: Westfälische Zeitschrift 77 (1919), H. 2, S. 128–189, hier S. 134 f.; Hänsel-Hohenhausen, Droste zu Vischering, Bd. 1, S. 538. Sophia zu Stolberg unterstützte die Kongregation durch eine heute noch bestehende Stiftung. Siehe auch Clemens August Frhr. Droste zu Vischering, Ueber die barmherzigen Schwestern, insbesondere über die Einrichtung derselben und deren Leistungen in Münster, Münster 1833 (ND Egelsbach 1988). Hierzu die im Übrigen ausgewogene Schrift des Hermann Cardauns, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. Zum Gedächtnis seines Todes (5. Dezember 1819), MönchenGladbach 1919. Brief des Pfarrers Landeretche an Louis Robiano, in: Melchior Diepenbrock, Zum Andenken an Alfred Stolberg des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg sel. Sohn, Regensburg 1835, S. 40 ff.
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Stolberg wurde so in seiner letzten Lebensphase zum Mittelpunkt einer altständischen Reaktionsbewegung, die sich gegen die Reformtendenzen im modernen Staat und seiner Bürokratie wandte.94 Stolbergs Rezeptionsgeschichte machte ihn für den aufklärerischen Protestantismus zum Reaktionär, für das katholische Deutschland hingegen zum ‚Heiligen‘.95 Der katholische Adel Westfalens nutzte die Autorität Stolbergs für eine eigenständige Legitimierung. Durch die massive Kritik der Aufklärung an der katholischen Dogmatik befand sich der Adel in der Defensive, aus der er sich befreien musste. In der neueren Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert wurde gezeigt, dass sich der Adel keinesfalls mit dem Verlust der Macht abgab. Man entwickelte Konzepte, um alte Prärogativrechte wahren zu können. Es kam zu einem Kampf des Adels um das „Obenbleiben“.96 Es stellt sich die Frage, wie weit Stolberg einer alten Adelsmentalität noch verhaftet war und was dies im Kampf um das Obenbleiben für den katholischen Adel bedeutete. Stolbergs Nähe zu manchen Politikfeldern der Aufklärung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein Aristokrat blieb. Es bedeutete ihm offenbar viel, noch in altständischer Manier zum Ritter geschlagen worden zu sein oder in den erlauchten Kreis der schleswig-holsteinischen Ritterschaft ballotiert zu werden. Johann Heinrich Voß, der dem so gänzlich anderen Milieu der bäuerlichen Hintersassenschicht entstammte, hat in seinem literarischen Wutausbruch Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier97 dem ehemaligen Freund durchgängig seine nie abgelegte aristokratische Grundhaltung vorgeworfen. Bereits in den Zeiten des Göttinger Hains, in dem ein Stände negierender schwärmerischer Freundschaftskult nahezu Programm war, blieb die Distinktion bestehen. Während man sich im Allgemeinen duzte, unterließ man dies den gräflichen Mitgliedern gegenüber. Goethes sicheres Gespür nahm solche Ungereimtheiten früh war.98 In Stolbergs Oden 94 95 96
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Dirk Hempel, Die „Vereinigung der Wohldenkenden“. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg als Mittelpunkt interkonfessioneller konservativer Kommunikationsstrukturen um 1815, in: Westfälische Zeitschrift 151/152 (2001/2002), S. 107–131. Ausstellung Eutin, S. 91. Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 87–95. Zusammenfassend Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999. Jürgen Behrens (Hg.), Streitschriften über Stolbergs Konversion, Bern und Frankfurt 1973, enthält als Neudruck folgende Einzelschriften: Johann Heinrich Voß, Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?, Frankfurt a. M. 1819; Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Kurze Abfertigung der langen Schmähschrift des Herrn Hofrat Voß wider ihn, Hamburg 1820; und Johann Heinrich Voß, Bestätigung der Stolbergschen Umtriebe, nebst einem Anh. über persönliche Verhältnisse, Stuttgart 1820. „Zwei gräfliche Brüder, die sich bei’m Studenten-Kaffee schon durch besseres Geschirr und Backwerk hervortun, deren Ahnenreihe sich auf mancherlei Weise hin und her bewegt, wie kann mit solchen ein tüchtiger, derber, isolirter Autochthon in wahre dauernde Verbindung treten? […] denn was will ein bisschen Meinen und Dichten gegen angeborene Eigenheiten, Lebenswege und Zustände!“ Johann Wolfgang von Goethe, Werke (Weimarer Ausgabe), Weimar 1887–1919, Abt. 1, Bd. 35: Tag- und Jahreshefte, Jahr 1820.
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finden sich so manche Metaphern, die auf einen alten Adelsstolz schließen lassen. Sein oft angeführtes Schlüsselzitat über den Stolz, einer 900jährigen Adelsfamilie anzugehören,99 beschwor den Topos, den alte europäische Adelsfamilien für sich in Anspruch nahmen, das Land schon beherrscht zu haben, lange bevor die Dynasten kamen.100 Stolbergs Bindung an die altständische Adelswelt lässt sich auch mentalitätsgeschichtlich belegen. Er hegte eine tiefe Abneigung gegen die städtische Lebensform, dem eigentlichen Element des bürgerlichen Lebens. Den Städtebau beschrieb er einmal als eine direkte Folge der Verfluchung Kains.101 Stadtleben assoziierte er mit Kloakengeruch und ungesunden Ausdünstungen.102 Städte waren ihm stets ein „fataler Aufenthalt“,103 und er könne sich „als Menschblöder und Naturverwöhnter nun einmal nicht an die Idee des Stadtlebens gewöhnen“, schrieb er seiner Schwester Katharina.104 Eine ebenso starke Abneigung gegen städtische Lebensformen besaß auch seine Frau Sophia.105 Auch in seinem Verhältnis zum Gelderwerb und bürgerlichen Erwerbsleben war Stolbergs Verhaftung in einer alten Adelsmentalität spürbar. Anders als im Bürgertum, wo sparsames Wirtschaften eine Standestugend wurde, nutzte der Adel Geldressourcen für den „Statuskonsum“ und den „Prestigeverbrauch“.106 Auch hier pflegte man eine hochgemute Überlegenheit jeglicher Art von „Mesquinerie“ (= Knauserei) gegenüber. Katharina zu Stolberg erinnerte sich, in ihrem Elternhaus Begriffe wie „Geld, Auskommen, Oekonomie, Depense“ oder „Sparsamkeit“ nie gehört zu haben.107 Stolberg selbst bezeichnete es als eine „gute Vorsicht“, welche ihm „das Talent der Sparsamkeit versagte“, und ihm ein Gemüt gab, „welches niedern Sorgen selten den Zugang erlaubt[e]“.108 Als Friedrich Maximilian von Klinger einmal bei ihm Geld
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Brief Friedrich Leopold Stolberg an den Bruder Christian vom 21.10.1777. Stolberg: Briefe, Nr. 86, S. 96. Den Fürsten könne man nicht helfen, bemerkte Stolberg einmal Friedrich Münter gegenüber, „weil ihr ganzer Stamm immer unerlaubt ist“. Ebd., Nr. 172, S. 158. Brief an Emilia von Schimmelmann vom 30.09.1779, in: Stolberg, Familiennachlaß, Bd. 1, S. 208. Brief an Katharina zu Stolberg vom 14.10.1777, in: ebd., S. 85. Brief vom 27.04.1779 an Lotte: Archiv von Twickel Westheim, A 466. Johann. H. Hennes (Hg.), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg und Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg. Aus ihren Briefen und anderen archivalischen Quellen, Mainz 1870, S. 254 (Brief vom 05.09.1784). „Ich habe von Kindheit an eine Furcht und wahren Ekel an allen Städten gehabt, und mich auf dem Lande gefühlt wie ein Säugling an der Mutter Brust.“ Brief an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering vom 12.08.1792: Archiv Darfeld, AV c 153. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1989 (zuerst Neuwied und Berlin 1969), S. 103 f. Pierre Bourdieu beschrieb diese Eigenart als Umwandlung eines ökonomischen Kapitals in ein kulturelles und soziales. Vgl. Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198. Hennes, Stolberg, S. 4. Brief an Holmer vom 06.05.1781, in: ebd., S. 131.
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borgen wollte, schenkte er es ihm.109 Seine Schriftstellerhonorare überließ er lieber notleidenden Kollegen.110 Dies war nicht nur altadlige Munifizenz, sondern Adelsstolz dem gewerblich Monetären gegenüber. Als 1777 das Gerücht aufkam, Stolberg, zu dieser Zeit noch mittellos, sollte eine reiche Erbin aus der Familie Schimmelmann heiraten, wies er dies entrüstet mit dem Bemerken zurück, für 300.000 Ecus werde er seinen ererbten Adelsstolz nicht hingeben.111 Stolberg als „Erzaristokraten“ hinzustellen, wie ihn Voß und auch mit anderer Nuancierung Elisa von der Recke sahen, hatte seine Berechtigung.112 Stolbergs frühe Agitation in tyrannos war kein Plädoyer für einen Umsturz in einem revolutionären Sinne, sondern galt dem Bestreben, die alte Libertät des Adels gegen den Absolutismus zu behaupten. Sie richtete sich gegen die Modernisierung des Staates, wie sie sich im Gefolge des Absolutismus einstellte, und war damit selbst Bestandteil eines frühen Konservativismus.113 Stolberg war zutiefst überzeugt von einer unabänderlichen ständischen Hierarchie. „Der Pöbel ist immer unmündig“, bemerkte er, und man könne die Pyramide nicht auf den Kopf stellen.114 In seiner kleinen Schrift Gedanken über den Zeitgeist begründete Stolberg die Existenzberechtigung des Adels auch mit der Bibel. Eine gesellschaftliche Harmonie werde nie durch die Zusammenfügung „gleichartiger Theile“ erreicht, so wie die Demokratie es lehre, sondern nur durch ein ausbalanciertes Verhältnis der unterschiedlichsten Teile, wie die Ständelehre es beinhalte. So wie es im Himmel eine Hierarchie der Engel gebe, so sei auch die ständisch monarchische Ordnung auf Erden ein fester Bestandteil des göttlichen Schöpfungswillens.115 Die Existenzberechtigung des Adels wurde somit auch kreationistisch begründet. Der münsterische Domkapitular Franz Droste zu Vischering hob diesen Aspekt an Stolbergs ‚Haupt-
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Behrens, Porträt, S. 161. Cardauns, Stolberg, S. 39. „Les vœux de mon cœur n’ont jamais portés du coté des richesses, je renonce au marriage, à moins je n’y trouve une source d’bonheur préferable à celui d’etre riche […] trois cens mille ecus ne valent pas que je leur sacrifié une fierté que mes pères m’ont laissé en héritage.“ Brief an Friedrich Levin von Holmer vom 02.12.1777, in: Stolberg, Briefe, Nr. 89, S. 98. Elisa von der Recke, Tagebücher und Selbstzeugnisse, hg. von Christine Träger, München 1984, S. 249 ff. Die Trauerfeier, die man am 10.02.1820 zu Ehren Stolbergs in der Kölner St. Columba-Kirche abhielt, trug ganz das Gepräge eines altständischen Adelsbegräbnisses. Man errichtete ein „castrum doloris“, verziert mit Stolbergs „Büchlein von der Liebe“, mit Lorbeerkränzen und Sinnsprüchen auf dem Katafalk. Man betrauerte ihn als einen der ersten Weisen Deutschlands, der „auf seiner Burg Sondermühlen im Königreich Hannover“ verstorben war. Vgl. Trauerrede zum Andenken des erlauchten Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg gesprochen bei der von Freunden und Verehrern des verewigten veranstalteten Todtenfeier in der St. Columba-Kirche in Köln am 10. Febr. 1820 von M. W. Kerp, Pfarrkaplan, Köln 1820. Hempel, Dichter, S. 130. Brief an Gerhard Anton von Halem vom 11.01.1792, Stolberg, Briefe, Nr. 294, S. 280; Hempel, Dichter, S. 143. Friedrich Leopold zu Stolberg, Ueber den Zeitgeist, in: ders., Drey kleine Schriften, Münster 1818.
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werk‘, der Religionsgeschichte, besonders hervor.116 Dass der Zeitgeist den Adel als obsolet betrachtete, blieb Stolberg keinesfalls verborgen. Es ging ihm auch nicht um ein intransingentes Festhalten am Bestehenden. Er war überzeugt, wolle der Adel überleben, müsse er mehr leisten als andere Stände. „Ich bin versichert“, schrieb er an Caspar Maximilian Droste zu Vischering 1795, „daß der Adel, so stark auch die Vorurtheile der Zeit, und die Machinationen der Illuminaten gegen ihn wüten, sich sehr erhalten könnte, wenn er sich der Mässigung, des Edelmuts, der Freimüthigkeit, der Bescheidenheit und männlicher Tugend befleissigte“.117 Der Brief war in der Absicht geschrieben worden, in der virulenten Diskussion auf den Landtagen während der Revolutionsphase über die Schatzsteuerfreiheit des Adels diesen zu motivieren, durch höhere Finanzbeiträge Opferbereitschaft zu zeigen. Dieses reformerische Konzept einer Optimierung des Adels wurde auch deutlich, als 1815/1816 eine Gruppe westfälischer Adliger Stolberg zum Beitritt in die auf dem Wiener Kongress gegründete Adelsvereinigung „Die Kette“ bewegen wollte. Die Gründung war unter dem maßgeblichen Einfluss Joseph von Laßbergs, des späteren Schwagers der Annette von Droste-Hülshoff, des Friedrich von und zu Brenken und des Werner von Haxthausen, eines Schülers Stolbergs, erfolgt. Zu den Sympathisanten gehörten auch die fünf Brüder Droste zu Vischering. „Die Kette“ war eine Vereinigung, welcher ein „ci-devant“-Geist deutlich anzumerken war. Man erstrebte recht unverhohlen die Wiederbelebung der mittelalterlichen Ritterwelt.118 Doch in den Briefen, die Stolberg an den Werber, einen Grafen von Westphalen – vermutlich war es Clemens August von Westphalen –, schrieb, wurde ein alternatives Adelskonzept skizziert.119 Die „Idee des Adels“, schrieb Stolberg, „liegt tief in der menschlichen Natur und 116 117 118
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Brief an Friedrich Perthes vom 13.06.1824, in: Reinhard, „familia sacra“, S. 191 ff. Er rühmte bei Stolberg die „richtige Schätzung der Geburtsvorzüge“, die sich von einem veräußerlichten „Geburtsstolz“ abhebe. Brieffragment o. D.: Archiv Darfeld, AV e 23. Die Protokolle des Vereins befinden sich in einer Abschrift im Nachlass des Friedrich Carl von und zu Brenken-Erpernburg. Sie gehen auf eine offensichtlich verlorene Urschrift im Nachlass des Joseph von Laßberg in Donaueschingen zurück. Vgl. Horst Conrad, Die Kette. Eine Standesvereinigung des Adels auf dem Wiener Kongress, Münster 1979. Von den drei Briefen sind zwei in ebd., S. 49–54, gedruckt. Der Vorname des Grafen von Westphalen ist nicht genannt. Stolberg war mit Josef Clemens von Westphalen (1785–1863) näher bekannt, aber auch mit dessen Vater Clemens August (1753–1818), der wie Stolberg durch den Besitz des Gutes Rixdorf der holsteinischen Ritterschaft angehörte. Clemens August von Westphalen verfügte über nachhaltige Beziehungen zu Kaiser und Reich und war lange Jahre kaiserlicher Gesandter an Höfen im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis. 1792 wurde er durch die Aufnahme in die Burgmannschaft der staufischen Reichsburg Friedberg (Wetterau) in den Reichsgrafenstand erhoben. Politisch arbeitete er stets am Zustandekommen antirevolutionärer Bündnisse. 1797 sicherte er einen Teil der Reichskleinodien vor dem Zugriff der Franzosen und ließ sie nach Wien bringen. Auf dem Wiener Kongress trat er für die Wiederherstellung des Reichs und des Kaisertums ein. Er war ein entschiedener Gegner der Mediatisierung und Säkularisation. Vgl. Ludger Graf von Westphalen, Aus dem Leben des Grafen Clemens August v. Westphalen zu Fürstenberg. Münster 1979, S. 13 ff.
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kann nicht untergehen“. Doch es hieß auch, „um mit dem Jahrhunderte Schritt zu halten, muß der Adelige an Kenntnissen es dem Bürgerlichen gleich thun, wofern er mit ihm in den Tatenkreis soll eingelassen werden“. Programmatisch forderte Stolberg dann: „Der Adel muß entsagen jedem kaufmännischen und niedrigen Gewerbe. Drei Bestimmungen wurden ihm gegeben. Veredelter Landbau, […] Staatsverwaltung, Verteidigung des Vaterlandes.“ Es waren dies drei Bestimmungen, die zu den Kernforderungen der Adelsreformbewegungen des 19. Jahrhunderts zählten und das „Obenbleiben“ ermöglichen sollten.120 Eine besondere Bedeutung erhielt Stolbergs Konzept vom Fortbestehen eines gottgewollten Ständestaates für den westfälischen Adel. Sein Schüler Werner von Haxthausen verfasste 1833 mit seiner Schrift Über die Grundlagen unserer Verfassung eine Apologie des Ständestaates als einer Schöpfung Gottes. Ganz im Sinne Stolbergs verkörperte hier der landbesitzende Adel das Element eines konservativen, die Revolution abwehrenden Beharrens. Die städtisch-bürgerliche Welt hingegen wurde als der Nährboden der revolutionären Zersetzung angesehen.121 Die Invektiven, die das Werk gegenüber dem bürokratischen Absolutismus des preußischen Staates enthielt, ließen es zum Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen werden. Der Verein der katholischen Edelleute Deutschlands, der 1857 in Münster gegründet wurde, ließ dennoch eine Neuauflage verbreiten, weil das Werk den Intentionen des Vereins entsprach.122 Wie in kaum einer anderen Adelsvereinigung wurden hier die drei Kernforderungen Stolbergs zum Programm. Clemens Heidenreich Droste zu Vischering, der Hauptinitiator der Vereinsgründung und Sohn des Maximilian Heidenreich Droste zu Vischering, stellte sie 1863 in einem Pro memoria über die Vereinsziele in den Mittelpunkt. Hier wurde ebenfalls das kreationistisch belegte Existenzrecht des Adels in den Vordergrund gestellt.123 Clemens Heidenreich Droste zu Vischering gab in seinen Erinnerungen auch an, dass die Lektüre der in seinem Archiv verwahrten Briefe Stolbergs und dessen Schriften ihn stets motiviert hätten.124 Im Verein entwickelte man ein Konzept von Land und Herrschaft, an dessen Spitze der Adel stehen sollte. Man verteidigte zäh den Primat der Landwirtschaft gegenüber dem Handel und der Industrie bis in das 20. Jahrhundert hinein. Die Stadt verkörperte auch hier eine Lebenswelt, die mit der des Adels nicht vereinbar war. Der Verein sah die Rezeption des Römischen Rechtes und dessen Überlagerung des germanischen Rechtes als eine der Ursachen für den Machtverlust des Adels auf 120 121 122 123 124
Werner Conze und Christian Meier, Art. Adel, Aristokratie, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 1–48. Werner Freiherr von Haxthausen, Ueber die Grundlagen unserer Verfassung, o. O. 1833. Neuauflage durch Haxthausens Schwiegersohn Hermann von und zu Brenken, Paderborn 1881. Dort auch eine Lebensskizze Werner von Haxthausens und seiner Beziehungen zu Stolberg (S. VI f.). Zur Geschichte des Vereins: Horst Conrad, Stand und Konfession. Der Verein der katholischen Edelleute, in: Westfälische Zeitschrift 158 (2008), S. 125–183, und 159 (2009), S. 91–154. Archiv Darfeld, AV m 100.
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dem Lande an. Man war auch hier, ebenso wie zuvor Stolberg, Anhänger der alten Reichspublizistik, die einer organischen Weiterentwicklung des alten Reichsrechtes das Wort redete, wie dies Johann Stephan Pütter gelehrt hatte.125 Dem herrschenden preußischen Staatskirchenwesen gegenüber kämpfte man, ebenfalls durch Stolberg angeregt, für ein autonomes, nur dem Papst verantwortliches Betätigungsfeld der katholischen Kirche. Es müsse den Fürsten gegenüber gesagt werden, hatte Stolberg betont, „welche unveräusserlichen Rechte unsere Kirche habe und daß uns Katholiken in diesem Recht zu kränken, himmelschreiender Gewissenszwang sey“.126 Die Brüder Droste zu Vischering hatten erheblichen Anteil an dem vormärzlichen Kampf um die „Freiheit der Kirche“. Franz Droste zu Vischering bestritt 1817 unter deutlicher Betonung der päpstlichen Lehrautorität die Ansicht, dass die katholische Kirche eine „vom Staat rezipirte Gesellschaft sei“.127 Die Konfliktfelder waren hierbei das Eherecht, das Bildungswesen und die Armenfürsorge. Im ‚Kölner Kirchenstreit‘ wurde Clemens August Droste zu Vischering zu einem ersten Heros in dem Kampf um die Freiheit der Kirche gegenüber den Ansprüchen der preußischen Bürokratie.128 Hierbei geriet auch die sogenannte ‚familia sacra‘ und Stolbergs überlebende Ehefrau Sophia in das Blickfeld polizeilicher Beobachtungen.129 Auch wenn er sich nicht mehr direkt auf Stolberg berief, so wurde ebenso die Schrift Freiheit, Autorität und Kirche des Wilhelm Emmanuel von Ketteler, eines Verwandten Stolbergs, aus dem Jahr 1861 eine Apologie des Ständestaates.130 Ketteler sah gleichfalls in der parlamentarischen Demokratie eine Diktatur der Massen und somit nur eine Variation der absoluten Monarchie. Er verteidigte den Unfehlbarkeitsanspruch der Kirche und sah in den katholischen Bischöfen die einzig legitimen Nachfolger der Apostel. Er brandmarkte ebenfalls die Reformation als Zerstörerin der Einheit der Kirche. Kettelers Schrift wurde zu einem Grundlagenwerk des Vereins der katholischen Edelleute. Die Rezeptionsgeschichte Stolbergs war hier noch in einem weiteren Punkt zu spüren: Stolberg war ein Anhänger der Verschwörungstheorie. Hiernach hatte ein hocheffizienter kleiner Kreis von Illuminaten die Weltrevolution beschlossen und als erstes die Französische Revolution inszeniert. Im September 1794 las das Ehepaar Stolberg in Eutin die zentrale Schrift dieser Theorie, Barruels Geschichte des Klerus während der Revolution, und war 125 126 127 128 129 130
Zu Stolbergs Rezeption der Reichspublizistik siehe Hempel, Staatsmann, S. 45 ff. Brief an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering vom 24.07.1815: Archiv Darfeld, AV c 151. Franz Droste zu Vischering, Ueber Kirche und Staat, Münster 1817, bes. S. 83 und 87. In die gleiche Richtung zielten zahlreiche Schriften seines Bruders Clemens August, vgl. Hänsel-Hohenhausen, Droste zu Vischering, Bd. 2, S. 1214 f. Friedrich Keinemann, Das Kölner Ereignis. Sein Widerhall in der Rheinprovinz und in Westfalen, 2 Bde., Münster 1974. Alwin Hanschmidt, Ein Bericht des westfälischen Oberpräsidenten Ludwig von Vincke über die münsterische „Familia sacra“ (1838), in: Westfälische Zeitschrift 159 (2009), S. 171–176. Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler, Freiheit, Autorität und Kirche. Erörterungen über die großen Probleme der Gegenwart, Mainz 1861.
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überzeugt von deren Richtigkeit.131 Stolbergs Ode Kassandra zielte darauf ab, vor den Intrigen der Illuminaten zu warnen. Auch Wilhelm Emmanuel von Ketteler zweifelte nicht daran, dass die Freimaurer nach wie vor die treibende Kraft der Weltrevolution und die eigentlichen Feinde der Kirche waren. Im Verein der katholischen Edelleute, der sich in einem permanenten Abwehrkampf gegen die Revolution sah, spielte die Verschwörungstheorie bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine entscheidende Rolle.132 Indirekt wirkten sich Stolbergs Ansichten auf das politische Wirken des Vereins auch in der Duellfrage aus. Eine explizite Gegnerschaft zum Duell ist bei Stolberg, der seinen Bruder Magnus selbst im Duell verloren hatte, wohl nicht zu belegen. Er ermahnte jedoch seinen ältesten Sohn Ernst, der im Begriff war, in den Militärdienst zu treten, sich auf keinen Fechtkampf mit jemandem einzulassen, der nicht sein Freund sei.133 Für den Verein der Edelleute war die Ablehnung des Duells ein zentrales Thema, aus welchem er seinen Widerstand gegen den protestantisch-preußischen Militärkomment bezog. Gestützt auf die Kirchengesetze und die päpstlichen Duellverbote bekämpfte man den in der Studentenschaft und im Militär heimlich geduldeten und bewunderten Duellkult. Als Botho zu Stolberg, ein Enkel Friedrich Leopolds und einziger Sohn aus der Ehe seines Sohnes Andreas mit Philippine von Brabeck, im November 1840 in einem Duell fiel, wies der Vater den Pastor an, öffentlich von der Kanzel gegen das Duell zu predigen.134 Unter Stolbergs Sohn Joseph Theodor entstand im Oktober 1851 eine erste organisierte Initiative des Adels, einen Anti-Duellverein zu gründen.135 Unter Stolbergs Verwandten, den drei Brüdern Xaver, Clemens und Adolf von Korff-Schmising-Kerssenbrock, sollte die Weigerung, sich aus religiösen Gründen nicht zu duellieren, zu einer Affäre um die Grundlagen der preußischen Verfassung von 1850 führen.136 131
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Brief Sophia zu Stolberg an Adolf Heidenreich Droste zu Vischering vom 03.09.1794: Archiv Darfeld, AV c 153. Gemeint war: Augustin Barruel, Histoire du clergé pendant la Révolution francaise, 3 Bde., London 1793. Auch die Marquise de Montagu rezipierte in dieser Zeit Barruel („je lis avec un grand interet l’abbé Baruel“, Brief vom 10.10.1799 an Sophia zu Stolberg: Archiv Graf Kerssenbrock-Praschma auf Haus Brincke, Nr. 3). Archiv des Vereins der Edelleute, Protokolle (als Depositum im LWL Archivamt für Westfalen, Münster). Hermann von Lüninck, einer der Protagonisten des Vereins, hob noch 1951 in einer Gedenkveranstaltung zu Ehren Stolbergs die Aktualität von dessen Kampf gegen die Freimaurer hervor. Hermann Freiherr von Lüninck, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg im geistigen Umbruch seiner Zeit, in: ders., Friedrich Leopold Graf zu Stolberg 1750–1819. Drei Gedenkreden, Gamburg und Emmendingen 1951, S. 5–15, hier S. 14. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg an seinen Sohn Ernst. Als Handschrift für Freunde mitgetheilt von einem Freunde, 2. Aufl. Lütkenbeck 1818, S. 10: „Fechte, wofern du es vermeiden kannst mit Keinem, der nicht dein Freund ist.“ (30.07.1803). Archiv von Twickel Westheim, A 624, Erinnerungen des Hermann zu Stolberg, S. 27. Zum Duell siehe auch den Brief der Annette von Droste-Hülshoff vom 05.01.1841 an ihre Mutter: Droste-Hülshoff, Briefe. Archiv von Twickel Westheim, Nachlass Joseph Theodor zu Stolberg Nr. 70. Conrad, Stand (2008), S. 142 ff.
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Stolbergs katholische Wende machte ihn und seine Familie auch zum Vorbild einer religiös asketischen Lebensführung. Stolberg, der früher ein begeisterter Theaterbesucher und Romanleser war, teilte nach 1800 die tiefe Aversion vieler katholischer Adliger gegen die Komödie und vor allem gegen eine die Moral untergrabende Romanlektüre. „Hüte dich vor dem leidigen Romanschwall, welcher die Zeit offenbar raubt, und die Unschuld leise stiehlt, schal ist, und gute Bücher schal scheinen macht“, warnte er seinen 20jährigen Sohn Ernst beim Eintritt in das Berufsleben.137 Mit dieser durch einen religiösen Ahedonismus motivierten Haltung nahm Stolberg geradezu eine Präzeptorenstellung in Anspruch. Als er hörte, dass man die zehnjährige Annette von Droste-Hülshoff im Stift Hohenholte bei Münster Theater spielen ließ, ermahnte Stolberg deren Mutter Therese geradezu pastoral in einem langen Brief: „Ich habe gehört, daß Fräulein Nette in gesellschaftlichen Kreisen Komödie spiele. Für Männer und Frauen ist, meiner innigsten Ueberzeugung nach, diese Uebung wenigstens gefährlich; für Jünglinge noch mehr; für junge Mädchen noch weit mehr, und eben für Fräulein Nette mehr noch als für andere. Ich habe lange und mehr als mir lieb war in der großen Welt gelebt, wo eben diese Uebung eingeführt worden. Ich habe keinen und noch weniger eine gesehen, welche nicht merklichen Schaden dadurch gelitten hätte. Ich setze gern voraus, daß Fräulein Nette in keinem Stück eine Rolle hat, in welchem von leidenschaftlicher Liebe die Rede wäre […]. Ich setze voraus, daß die Stücke, in welchen sie spielt – wiewohl mir fast keine solche bekannt sind – nichts von der weltlichen Moral enthalten, die der Moral des Evangeliums geradezu entgegengesetzt ist.“138 Stolbergs katholische Wende hatte aus dem ehemals gefeierten Dichter nun auch einen literarischen Puritaner werden lassen.
Fazit Die Konversion Stolbergs zum Katholizismus polarisierte. Heinrich Heine sah in dem Streit zwischen Voß und Stolberg einen ersten großen öffentlichen Disput zwischen revolutionärer Rezeption und obskuranter Reaktion, zwischen „deutsche[r] Demokratie“ und „deutsche[r] Aristokratie“.139 Die öffentliche Erregung, die der Streit auslöste, war auch ein Indiz für den beginnenden Neokonfessionalismus. In Anlehnung an Olaf Blaschke wird dies als ein zweites konfessionelles Zeitalter diskutiert.140 Das Ende des Konfessionsstaates 1803 untergrub auch die konfessionelle 137 138 139 140
Vgl. die oben in Anm. 133 zitierte Schrift. Zu seinen nunmehrigen Ansichten über das Theater siehe auch: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Ueber die Schaubühne. Von einem großen Verstorbenen, Würzburg 1839. Stolberg, Familiennachlaß, Bd. 2, S. 146–149, hier S. 147. Heinrich Heine, Die romantische Schule, in: Heinrich Heine, Sämmtliche Werke. Rechtmäßige Orig.-Ausg., 21 Bde., Hamburg 1861–1866, hier Bd. 6, S. 62–66. Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert: Ein zweites konfessionelles Zeitalter zwischen 1800 und 1970?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38–75; ders. (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002.
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Irenik zwischen Katholizismus und Protestantismus. Beide Konfessionen bekämpften sich in den 1830er Jahren in einem Ausmaß, der manche an einen neuen Glaubenskrieg erinnerte.141 Auch die Gruppe um den Stolberg-Kreis in Münster hatte ihren Anteil daran. Anne Paule Dominique de Montagu, französische Emigrantin in Wittmoldt und Schwägerin La Fayettes, bezeichnete die Gruppe 1806 einmal als „Arche Noes“, als Insel zur Rettung des wahren Glaubens in der Sintflut des Unglaubens.142 Die Schriftstellerin und Freundin Schillers, Charlotte Schütz, konvertierte im Mai 1805 unter dem Einfluss des münsterischen Kreises. Als sie dies ihrem Freund und angehenden Verlobten Heinrich Philipp Ferdinand von Sybel auf einem Spaziergang nach Lütkenbeck anvertraute, brach dieser die Beziehung ab. Sybel, ein überzeugter Protestant, führte die Konversion auf ihre überreizte poetische Phantasie zurück, sah seine Freundin als Opfer einer Intrige des Kreises und sinnierte: „Wie viele Opfer mögen dieser ‚heiligen Familie‘ nicht gefallen seyn.“143 Diese Erinnerung veranlasste Sybel zu Invektiven gegen die katholische Bekehrungssucht. Seinem Sohn, der mit einer Katholikin verlobt war, schärfte er ein, die Kinder nicht katholisch taufen und erziehen zu lassen. Er verwarf damit einen in seiner Heimatstadt Soest geltenden Grundsatz, bei Mischehen nach dem Allgemeinen Preußischen Landrecht zu verfahren, das heißt die Töchter im Glauben der Mutter und die Söhne in dem des Vaters zu erziehen. Durch die Konversion Stolbergs geriet Münster auch in Verdacht, „ein bewährtes Netz für Proselythen“ zu sein.144
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Ebd., S. 24. Brief vom 07.11.1806: Archiv Graf Kerssenbrock-Praschma auf Haus Brincke, Nr. 6. An anderer Stelle sah sie den ‚Kreis von Münster‘ beschützt vom Vließ Gideons, dem Zeichen Gottes, welches zum Auslöser des Kampfes der Israeliten gegen die heidnische Plage der Baal anhängenden Midianiter wurde (ebd., Briefe vom 22.09.1803 und 07.11.1806). Zum Vließvergleich im Alten Testament siehe Richter 6, 37–40. Heinrich Philipp Ferdinand von Sybel, Buch der Erinnerung geweiht, in: Ulrike Paul, Aufstieg ins Großbürgertum. Lebensweg und Lebenserinnerungen des Geheimen Regierungsrats Heinrich Philipp Ferdinand von Sybel (1781–1870), Diss. masch. München 1990, Bd. 2, S. 40. Wilhelm von Kügelgen, Bürgerleben. Die Briefe an den Bruder Gerhard 1840–1867, hg. von Walther Killy, München 1990, S. 76 f. (Brief vom 02.02.1840). Kügelgen musste sich gegen den Vorwurf wehren, sein Aufenthalt in Münster bereite eine Konversion vor.
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Spuren von Franz von Fürstenberg in Münster Während der Tagung zum Gedenken an den 200. Todestag Franz von Fürstenbergs führte uns ein Spaziergang zu ausgewählten Orten in Münster, an denen die Erinnerung an den Minister und Generalvikar noch greifbar ist. Die Stationen dieses Weges werden hier nachgezeichnet.
1. Fürstenbergdenkmal Fast 50 Jahre nach Fürstenbergs Tod trat 1858 – im Jahr der ersten Aufwertung der zu einer theologisch-philosophischen Ausbildungsstätte zurückgestuften ehemaligen Universität1 – unter der Federführung des Oberbürgermeisters Offenberg ein Komitee zusammen, das die Errichtung eines Denkmals für Fürstenberg auf dem Domplatz plante.2 Doch bis zur Realisierung des Vorhabens sollten noch über 17 Jahre vergehen: Erst am 2. Dezember 1875 fand die feierliche Enthüllung des Denkmals auf dem Domplatz gegenüber dem Regierungsgebäude statt (Abb. 1).3 Es war das erste Bronzedenkmal und gleichzeitig das erste Standbild einer namentlich bekannten Persönlichkeit in Münster.4 Zunächst hatten sich die Komiteemitglieder für einen Entwurf der aus Münster stammenden jungen Bildhauerin Elisabet Ney entschieden, die bereits mit der Schaffung von vier Figuren – darunter auch von Fürstenberg (Abb. 2) – für den Ständesaal im neu errichteten Ständehaus betraut worden war.5 Große Probleme bei der Finanzierung des Denkmals, die allein durch Spenden 1
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1858 wurde „das philologische Sudium an der philosophischen Fakultät […] als Vollstudium anerkannt“. Vgl. Wilhelm Ribhegge, Geschichte der Universität Münster, Münster 1985, S. 108, und Gunda Wiegard, Münster. Ein Denkmal für Franz von Fürstenberg, Schülerarbeit zum Wettbewerb „Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten“, Münster 1993, S. 52–55. Vgl. ebd., S. 56–65. Vgl. ebd., S. 171 und 187. Vgl. auch den Bericht des Chronisten Heinrich Geisberg über die Enthüllung des Denkmals für Franz von Fürstenberg in Münster, ediert in: Barbara Rommé (Hg.), Herrin ihrer Kunst. Elisabet Ney. Bildhauerin in Europa und Amerika, Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Münster, Köln 2008, beiliegende CD-ROM unter dem 02.12.1875 (Stadtarchiv Münster, Handschriften Nr. 17, S. 67). Vgl. Wiegard, Denkmal, S. 163 f. Vgl. ebd, S. 82–116. Ein Vorvertrag war 1862 geschlossen worden. Vgl. ebd., S. 106. Vgl. auch Katharina Tieman, „… ein freundlich Zeichen an den Ort den ich Verbannung nenne“: Elisabet Neys zweite Zeit in Münster, in: Rommé, Herrin ihrer Kunst, S. 84–93, hier S. 84 und 88 f. In der beiliegenden CD-ROM sind die maßgeblichen Quellen zur Meinungsbildung und Vertragsentwicklung ediert, vgl. insbesondere: Modifizierter Entwurf eines Vorvertrages mit Elisabet Ney zur Ausführung eines Denk-
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erfolgen musste, führten nach Neys Auswanderung in die USA im Dezember 1870 jedoch zu einem erneuten Wettbewerb, den 1871 der in Münster ansässige Bildhauer Heinrich Fleige gewann.6 Sein Entwurf zeigt eine große Ähnlichkeit zu dem Modell von Ney, so dass dieser auf Neys Konzept zurückgehen könnte.7 Am 22. Juni 1872 wurde der Vertrag mit Fleige unterzeichnet, aber erst Ende 1874 wurde der Erzguss in der Kunstgießerei Lenz in Nürnberg fertiggestellt.8 Fast ein Jahr, in dem unter anderem um die Inschrift des Sockels gerungen wurde, dauerte es noch bis zur Aufstellung der Statue, die bei der Enthüllung am 2. Dezember 1875 der Stadt Münster geschenkt wurde.9 Das Denkmal wurde 1943 bei einem Bombenangriff beschädigt und später abgebaut.10 Erst 1955, als ein Nachfahre, Oswald Freiherr von Fürstenberg, Kurator der Universität wurde, machte dieser sich auf die Suche nach dem verschollenen Denkmal, das man auf dem städtischen Bauhof an der Scharnhorststraße fand (Abb. 3).11 Die Bevölkerung wurde über die Presse zur Mithilfe bei der Suche für einen neuen Aufstellungsplatz aufgefordert.12 Allgemeine Anerkennung fanden die Vorschläge, das Denkmal in der Nähe des Fürstenberghauses aufzustellen, wo es vor der Wand des Geologischen Instituts am 11. Juni 1958 enthüllt wurde.13 Im Frühjahr 1980 rückte das Denkmal, das um 90 Grad gedreht wurde, an seinen heutigen, wenige Meter entfernten Standpunkt (Abb. 4).14
2. Fürstenbergs Wohnhaus: Domplatz 22 Fürstenberg zog 1764 in das Haus Nr. 22 am Domplatz (Abb. 5),15 zwei Jahre nachdem Bischof Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels ihn zum Minister für das Fürstbistum Münster ernannt hatte. Das seit der Nachtäuferzeit in den schriftlichen Quellen als Domkurie bezeugte Haus war wohl bereits älter bzw. hatte möglicherweise einen Vorgänger, denn bei seinem Abbruch im Jahre 1875 wurden in vermauerten Fenstern und Türen Teile eines gotischen Erkers aus der Mitte des
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mals für Franz von Fürstenberg, gez. Elisabet Ney, von Tabouillot, Geisberg, Schultz vom 20.11.1862 (Stadtarchiv Münster, Stadtregistratur Fach 155 Nr. 15 Bd. 2). Vgl. Wiegard, Denkmal, S. 125. Ein Werkverzeichnis findet sich auf S. 145–150. Alwin Hanschmidt, Der Steinbildhauer Heinrich Fleige, in: Auf Roter Erde. Heimatblätter für Münster und das Münsterland. Beilage zu den Westfälischen Nachrichten 47 (1991), S. 9–11. Vgl. ebd., S. 179–185, Hans Galen (Hg.), Die Bildhauerin Elisabet Ney 1833–1907. Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Münster 1997, Münster 1997, S. 13, und Tiemann, Elisabet Ney, S. 86 f. mit Abb. 2. Vgl. Wiegard, Denkmal, S. 152 und 159 f. Die Stadt sorgte für eine würdige Umrandung der Statue. Vgl. ebd., S. 161–171. Vgl. ebd., S. 194. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 195. Vgl. ebd., S. 199 f. Vgl. ebd., S. 201. Siehe Abb. 3. Vgl. Max Geisberg, Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen, Bd. 41: Die Stadt Münster, 2. Teil, Münster 1933, S. 124–130.
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14. Jahrhunderts entdeckt. Der Grundriss deutet sogar auf einen romanischen Bau hin. Die Kurie wurde nach dem von 1799 bis 1803 dort wohnenden Domherrn Karl Alexander Freiherr von Hompesch auch Hompesch’sche Kurie genannt (Abb. 6). Fürstenberg bewohnte das Haus bis 1782, als er in das nahe Haus Nr. 11 am Domplatz zog. Zu nicht bekannten Zwecken wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Grundrisszeichnungen gefertigt, bevor das Grundstück nach seinem Abbruch 1875 in den Neubau der Akademie einbezogen wurde.
3. Fürstenbergs Wohnhaus: Domplatz 11 Der Umzug Fürstenbergs in das Haus Domplatz Nr. 11 bedeutete die Übersiedlung in ein repräsentativeres Domizil. Die an dieser Stelle seit der Nachtäuferzeit schriftlich bezeugte, aber wohl tatsächlich viel ältere Domkurie war Ende des 17. Jahrhunderts abgerissen und 1682 bis 1684 durch einen Neubau ersetzt worden (Abb. 7).16 Diesen errichtete Peter Pictorius im Auftrag des späteren Fürstbischofs Friedrich Christian von Plettenberg, der hier wohnte und nach dem die Kurie auch Plettenbergsche Kurie hieß. Wie in Nr. 22 wohnte Fürstenberg in Nr. 11 nicht weniger als 28 Jahre von 1782 bis zu seinem Tod 1810. Das Haus musste 1862 dem neuen Ständehaus weichen, bevor auch dieses abgerissen und durch das seit 1904/05 errichtete und 1908 eröffnete heutige LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte ersetzt wurde.
4. Domherrenfriedhof In der Fürstenbergschen Familienchronik schildert Hüser den Tod Fürstenbergs anschaulich: „So harrte er, und er verhehlte es nicht, mit Sehnsucht dem Augenblick seiner Auflösung entgegen. Sein Wunsch ging am Sonntag, dem 16. September 1810 morgens um 6¾ Uhr in Erfüllung. Er starb an Altersschwäche im 82. Jahre seines Lebens ohne eine besondere Krankheit bei völliger Geisteskraft und nach der sorgfältigsten Vorbereitung zum Hinübergange in jene andere Welt. Sein Ende war gottergeben, sanft und ruhig. Seine Leiche, nicht entstellt, gab von einem nunmehr heimgegangenen frommen und weisen Geiste Zeugnis. Die Beerdigung geschah am 18. September abends, und die feierlichen Exequien wurden am Morgen des 19. gehalten.“17 Da Fürstenberg am Domplatz wohnte, zählte er zur Pfarrei St. Jakobi, deren Kirche bis 1812 auf dem Domplatz stand. So findet sich in dem entspre16 17
Vgl. ebd., S. 71–81. Zitiert nach Friedrich Keinemann, Franz Friedrich Wilhelm von Fürstenberg (1729– 1810), in: Norbert Andernach u. a. (Bearb.), Fürstenbergsche Geschichte, Bd. 4: Die Geschichte des Geschlechtes von Fürstenberg im 18. Jahrhundert, Münster 1979, S. 101–224, hier S. 215. Die als Manuskript im Archiv Fürstenberg-Herdringen liegende Familienchronik stammt von Anton Quirin Hüser. Vgl. Helmut Richtering, Christian Franz Dietrich von Fürstenberg, in: ebd., S. 27–53, hier S. 27 mit Anm. 1.
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chenden Kirchenbuch sein Todeseintrag (Abb. 8).18 Er wurde auf dem 1808 eröffneten Überwasserfriedhof an der Wilhelmstraße unmittelbar vor dem großen Kreuz beerdigt,19 da dieser nach dem Verbot, innerhalb der Promenade zu beerdigen, als Begräbnisstätte auch für die höhere Geistlichkeit diente.20 Auf der aufrecht stehenden Grabplatte (Abb. 9) befand sich folgende Inschrift: „Hier liegt zu den Füßen des Gekreuzigten seiner und unser aller einzigen Hoffnung der Vater des Vaterlandes und der Armen Freund, Franz Friedrich Wilhelm Freyherr von Fürstenberg zu Herderingen, Minister, weiland Max Friderich Kurfürsten von Cöln, Fürst-Bischofes zu Münster, Vicarius Generalis im Bissthum Münster, Domkapitular und DomCantor, auch Curator der Universität daselbst, Archidiaconus zu Alberslohe, Domkapitular zu Paderborn: geboren Ao. 1729 den 7. August, gestorben Ao. 1810 den 16. September.“21 Fast 120 Jahre später, am 21. Oktober 1929, wurden Fürstenbergs Gebeine zum Domherrenfriedhof in das Kreuzgangsquadrum des Domes überführt und sein Grabstein im Kreuzgang aufgestellt.22 In einem Zeitungsbericht des Lokalhistorikers Eugen Müller anlässlich der Feierlichkeiten zu Fürstenbergs 200. Geburtstag, die in Münster am 30. Oktober 1929 stattfanden, wurde auch die Frage nach dem Begräbnisort Fürstenbergs aufgegriffen:23 Müller schildert die Umstände, die zur Beerdigung auf dem Überwasserfriedhof führten, erwähnt, dass ab 1910 wieder auf dem Domherrenfriedhof beerdigt werden durfte, aber berichtet nichts über die gerade vollzogene Umbettung, die – da auch sonst nicht erwähnt – vermutlich ohne Beteiligung der Öffentlichkeit anlässlich des Jubiläums vollzogen wurde. Nach der Zerstörung des Grabsteins im Zweiten Weltkrieg erhielt sein Grab den heute noch dort vorhandenen schlichten Stein in der Mitte des Domherrenfriedhofs neben der Totenleuchte (Abb. 10). 18
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„1810 decima 6ta Septembris obiit 82 do aetatis anno Franciscus Friedericus L[iber] B[aro] de Fürstenberg ex Herdringen Canonicus Capitularis et Cantor Mon[asterien]sis Canonicus Cath[edra]lis Paderbornensis vicarius ge[neral]is Dioecesis Mon[asterien]sis et Minister quondam Principis Mon[asterien]sis. Sepultus 18 Sept[em]bris.“ Bistumsarchiv Münster (im Folgenden BAMs), Depositum Pfarrarchiv Münster St. Jacobi, Kirchenbuch 3, S. 72. Der Eintrag ist nachträglich am Rand erfolgt. Vgl. Keinemann, Fürstenberg, S. 215. Von dem ehemaligen Friedhof haben sich wenige Grabstätten erhalten. Bereits am 28. Februar 1780 hatte Fürstenberg Beerdigungen innerhalb der Stadt verboten. Zunächst wurden drei Friedhöfe in den inneren Wallgräben angelegt. 1808 wurden unter der französischen Herrschaft aus gesundheitspolizeilichen Gründen – und da die von Fürstenberg gewählten Begräbnisstätten zu klein waren – drei neue Friedhöfe eröffnet. Darunter befand sich der Überwasserfriedhof für die Bewohner des Kirchspiels Überwasser und des Domhofs sowie für die Domherren und Domvikare, die bisher auf dem Domherrenfriedhof beerdigt wurden. Vgl. Eugen Müller, Die Begräbnisstätten der Stadt Münster (Westf.), Münster 1928, S. 36–38. Keinemann, Fürstenberg, S. 215. Die Grabplatte hatte die Maße 225 x 95 cm. Vgl. ebd. Das genaue Überführungsdatum findet sich auf dem heutigen Grabstein. Eugen Müller, Der Fürstbischöflich Münsterische Minister Franz von Fürstenberg. Seine Wohnungen, seine Grabstätte und seine Denkmäler, in: Münsterischer Anzeiger vom 30. Oktober 1929. Dort befindet sich auf der gleichen Seite auch ein Artikel „Zur Fürstenberg-Gedenkfeier am 30. Oktober 1929“ ohne Angabe des Autors.
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5. Overberg-Denkmal Das Denkmal gegenüber dem Westportal der Überwasserkirche erinnert an den katholischen Pädagogen Bernard Heinrich Overberg (Abb. 11).24 Er studierte Philosophie und Theologie an der neuen, von Fürstenberg gegründeten Universität Münster, an der er promoviert wurde, bevor er als Kaplan nach Everswinkel ging. Zu seinen Aufgaben gehörte unter anderem der Religionsunterricht an der dortigen Schule, wo er „durch seine außergewöhnliche katechetische Begabung“ auffiel.25 1783 holte Fürstenberg Overberg nach Münster, wo er als neuer Leiter der sogenannten Normalschule für die damals neue, von Fürstenberg initiierte Aus- und Weiterbildung der Elementarschullehrer zuständig war, die einen wesentlichen Teil der Bildungsreform des Ministers ausmachte. 1795 verlegte Overberg die Normalschule in das Priesterseminar, das im Gebäude des 1774 aufgehobenen Überwasserklosters untergebracht war. 1809 wurde er dessen Regens. Overberg wurde 1826 zunächst auf dem Überwasserkirchhof begraben, 1904 jedoch in den Chor der Überwasserkirche überführt. Overberg war über lange Zeit der wichtigste Mitarbeiter Fürstenbergs auf dem Gebiet des Elementarschulwesens, einem Kern seiner Bildungsreform. Das von Anton Rüller geschaffene Standbild Overbergs stand seit 1897 an der Westseite des Priesterseminars,26 bevor es, bedingt durch den Neubau der Diözesanbibliothek 2003, wenige Meter weiter an seinen heutigen Platz am Überwasserkirchplatz verlegt wurde.
6. Die von Fürstenberg initiierte Gründung der Universität Die 1780 auf Betreiben Fürstenbergs gegründete Universität war baulich und institutionell eng mit dem ehrwürdigen Gymnasium Paulinum verbunden. Die 1588 24
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Zu Overberg (geb. 1754 in Voltlage bei Neuenkirchen, gest. 1826 in Münster) vgl. Gundolf Kraemer, Bernard Overberg. Religionspädagogik zwischen Aufklärung und Romantik, Frankfurt a. M. 2001. Karl Josef Lesch, Reformer aus christlicher Verantwortung. Eine theologiegeschichtliche Würdigung Bernard Overbergs, in: Franz Bölsker/Joachim Kuropka (Hg.), Westfälisches aus acht Jahrhunderten. Zwischen Siegen und Friesoythe – Meppen und Reval. Festschrift für Alwin Hanschmidt zum 70. Geburtstag, Münster 2007, S. 251–276. Bernd Schönemann, Die Bildungsinstitutionen in der frühen Neuzeit, in: Franz-Josef Jakobi (Hg.), Geschichte der Stadt Münster, Bd. 1, Münster 1993, S. 683–733, hier S. 714. Geisberg, Bau- und Kunstdenkmäler, Bd. 41, Teil 6, Münster 1941, S. 52. Anton Rüller (geb. 1864 in Ascheberg, gest. 1936 in Münster) war ein dem Historismus verpflichteter Bildhauer, der u. a. die Büsten der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff (1896) und des Musikdirektors Julius Otto Grimm (1903) an der Kreuzschanze in Münster sowie den neugotischen Figurenzyklus für das Westportal der Überwasserkirche (1903) schuf; vgl. zu den Werken Rüllers Peter Werland, Die Wiederherstellung des Altares zu Davensberg, in: Davensberger Jahrbuch 28 (1999), S. 96–103, hier S. 97 mit Anm. 4; Liselotte Folkerts, Goethe in Westfalen. Keine Liebe auf den ersten Blick, Berlin 2010, S. 87 f.; vgl. zu Anton Rüller Helmut Ebert, Lexikon der Bildenden und Gestaltenden Künstlerinnen und Künstler in Westfalen-Lippe, Münster 2001, S. 535.
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von den Jesuiten übernommene alte Domschule war 1593 vom Horsteberg an die Johannisstraße verlegt worden. Sie war bereits Anfang des 16. Jahrhunderts als humanistische Anstalt nach dem Vorbild Deventers zu hoher Blüte gelangt, die durch die Täuferzeit einen Einschnitt erlitt. Einen neuen Aufschwung erlebte sie unter dem Rektorat Hermann Kerssenbrocks (1549–1575), bevor sie ihre Schülerzahlen nach der Übernahme durch die Jesuiten am neuen Standort von 300 auf 1.120 nahezu vervierfachte.27 1593 wurde das neue Schulhaus an der Johannisstraße bezogen, 1597 die Petrikirche als Gymnasialkirche fertiggestellt. Beide Gebäude wurden 1648 durch den sogenannten Spanischen Flügel miteinander verbunden, der einen kleineren Vorgängerbau ersetzte (Abb. 12 und 13).28 Auf der anderen Seite der Johannisstraße wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts das Jesuitenkolleg als Wohnung für rund 30 Jesuiten auf dem Gelände des Marienfelder Hofes errichtet, aus der sich die sogenannte Alte Akademie entwickelte. Im Zuge der Universitätsgründung wurde das Schulhaus aus dem Jahre 1593 unter der Leitung der Architekten Ferdinand Lipper und Johann Engelbert Boner zwischen 1785 und 1791 umgebaut; die Südfassade wurde mit einem aufwendigen Mittelrisalit versehen, eine architektonische Hervorhebung, die einer ‚normalen‘ Schule nicht zuteil geworden wäre. Die fünf bestehenden Gymnasialklassen blieben erhalten, ebenso die bereits existierenden philosophischen und theologischen Kurse der Jesuiten, die zu eigenen Fakultäten der neuen Universität wurden. Die medizinische Fakultät zog in den Spanischen Flügel. Eine räumliche Unterscheidung zwischen Gymnasium und Universität war zu Fürstenbergs Zeiten nicht möglich; beide nutzten zum Beispiel gemeinsam die Aula, die am Gymnasium angestellten Lehrer für Mathematik und Physik vertraten diese Disziplinen auch an der Universität. Diese Entwicklung war der unzureichenden finanziellen Ausstattung der neuen Universität aus dem Vermögen des aufgelösten Überwasserklosters geschuldet.29 Auch nach der Schließung der Universität 1818 blieb die bauliche und institutionelle Verbindung zwischen dem Paulinum und der Theologisch-Philosophischen Akademie erhalten, bis die Schule und der Spanische Flügel 1897 abgebrochen wurden. Allein die Petrikirche, noch heute Universitätskirche und gleichzeitig Kirche des Gymnasium Paulinum, erinnert an diese ehemals enge Verbindung.
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Schönemann, Bildungsinstitutionen, S. 698 f. Vgl. Jörg Niemer, Vom Domplatz zum Schloss. Die Baugeschichte der Universität Münster von der Gründung bis zum Abschluss des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, Münster 2010, S. 21–26. Vgl. Wilhelm Kohl, Die Bemühungen um den Ausbau der Theologisch-Philosophischen Akademie zu Münster im 19. Jahrhundert, in: Heinz Dollinger (Hg.), Die Universität Münster 1780–1980, Münster 1980, S. 37–68, hier S. 37. Zur Geschichte der ‚Alten Universität‘ vgl. Alwin Hanschmidt, Die erste münstersche Universität 1773/80–1818. Vorgeschichte, Gründung und Grundzüge ihrer Struktur und Entwicklung, in: ebd., S. 3–28.
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7. Ehemaliges Wohnhaus der Fürstin von Gallitzin in der Grünen Gasse Fürstin Amalia von Gallitzin, die Frau des russischen Botschafters in Den Haag, hatte sich 1775/76 in das Landhaus „Niethuis“ bei Scheveningen zurückgezogen, wo sie sich unter der Anleitung des Philosophen Frans Hemsterhuis ihrer eigenen aufklärerisch-empfindsamen Persönlichkeitsbildung und der Erziehung ihrer beiden Kinder widmete.30 Angeregt durch die 1776 von Fürstenberg erlassene Schulverordnung, entschloss sie sich 1779 zu einem Besuch in Münster, um Fürstenberg kennenzulernen. Begeistert von dem Zusammentreffen zog die Fürstin bereits im Sommer desselben Jahres mit ihren Kindern nach Münster. Am 2. Januar 1780 erwarb sie vom Obristwachtmeister von Tönnemann ein Haus in der heutigen Grünen Gasse, dessen Obergeschoss sie bereits als Untermieterin bewohnte. Für „sechs tausend Reichsthaler in Golde“ erhielt sie sein „auf der grünen Stegge belegenes Wohnhaus samt Garten, Stallung, Gadems und Zubehör“ (Abb. 14).31 In der großzügig angelegten Bibliothek traf sich der berühmte ‚Kreis von Münster‘, die ‚familia sacra‘, zur philosophischen Reflexion und religiösen Verinnerlichung.32 Seit 1789 lebte Bernard Overberg als Seelsorger der Fürstin im Haus. Im Jahr 1800 erfolgte der Übertritt des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg und seiner Frau zum katholischen Glauben in der Hauskapelle.33 Nach dem Tod der Fürstin erbte ihre Tochter das Gebäude, die es 1821 verkaufte.34 Durch verschiedene Eigentümer und Nutzungen – unter anderem diente das Haus von 1851 bis 1862 als städtische Wohnung der Jesuiten35 – kam es zu größeren baulichen Veränderungen, die – so Geisberg – „von dem ursprünglichen herrschaftlichen Charakter der Besitzung kaum noch eine Vorstellung“ boten.36 30
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Vgl. Marcel Franz Fresco, Amalias Jahre in den Niederlanden – Ihre Freundschaft mit dem Philosophen Frans Hemsterhuis, in: Petra Schulz und Erpho Bell (Hg.), Amalia Fürstin von Gallitzin (1748–1806). „Meine Seele ist auf der Spitze meiner Feder“. Ausstellung zum 250. Geburtstag in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Münster 1998, S. 28–42, sowie ders., Die Fürstin und der Philosoph – Amalia, Hemsterhuis und ihre Zusammenarbeit. Die erste Wirkungsperiode der Gallitzin, in: Markus von Hänsel-Hohenhausen u. a. (Hg.), Amalie Fürstin von Gallitzin. Bedeutung und Wirkung. Anmerkungen zum 200. Todestag, Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 193–222. In dem Werk befindet sich auch eine kommentierte Bibliographie zu von Gallitzin (S. 165–190), so dass auf weitere Literaturhinweise verzichtet werden kann. BAMs, Depositum Nachlass Franz von Fürstenberg (Depositum Haus Darfeld), Nachtrag 5a. Vgl. Bodo Plachta, Der Münsteraner Musenhof – Amalia von Gallitzin, der „Kreis von Münster“ und Goethe, in: Schulz/Bell, Amalia Fürstin von Gallitzin, S. 70–76, sowie ebd., Katalogteil „Ich wünschte diese seltene Person zu kennen“. Goethe, Amalia von Gallitzin und der Kreis von Münster, S. 195–214. Vgl. Andreas Holzem, „Ein Weltling oder ein Christ“. Friedrich Leopold von Stolberg im „Kreis von Münster“, in: ebd., S. 102–113, hier S. 110. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Horst Conrad in diesem Band. Vgl. Geisberg, Bau- und Kunstdenkmäler, Bd. 41,Teil 4, Münster 1935, S. 448. Die Jesuiten hatten zudem 1851 die Friedrichsburg an der Weseler Straße angekauft. 1862 errichteten sie ein großes Kloster an der benachbarten Schützenstraße. Vgl. ebd. Ebd.
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Die Häuserzeile (Abb. 15) wurde 1943 vollständig zerstört.37 Auf dem Grundstück steht heute das Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium.38 Eine Gedenktafel an der Grünen Gasse erinnert an den im Dezember 1792 auf dem Rückweg von der Champagne in Frankreich erfolgten Besuch Goethes,39 den dieser in seinem autobiographischen Werk Campagne in Frankreich schildert.40 Goethe geht dabei auch kurz auf das Grab „in der Ecke des entlaubten Gartens“ der Fürstin Gallitzin ein.41 Es gehörte dem „Magus des Nordens“, dem 1730 in Königsberg geborenen Philosophen und Schriftsteller Johann Georg Hamann.42 Goethe schreibt weiter: „Seine großen unvergleichlichen Eigenschaften gaben zu herrlichen Betrachtungen Anlaß; seine letzten Tage jedoch blieben unbesprochen; der Mann, der diesem endlich erwählten Kreise so bedeutend und erfreulich gewesen, ward im Tode den Freunden einigermaßen unbequem; man mochte sich über sein Begräbnis entscheiden, wie man wollte, so war es außer der Regel.“43 Wie kam es zu diesem außergewöhnlichen Begräbnis in einem Privatgarten? Hamann hatte, obwohl seit langem krank, dem Wunsch der Fürstin nach einem Besuch entsprochen und war am 16. Juli 1787 in Münster eingetroffen, wo er im Buchholtzschen Stadthaus am Alten Fischmarkt Quartier nahm.44 Sein fast einjähriger Aufenthalt – unterbrochen durch verschiedene Reisen – war geprägt durch einen regen Austausch mit dem ‚Kreis von Münster‘. 37 38
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Vgl. Schulz/Bell, Amalia Fürstin von Gallitzin, Katalogteil „Wohnen in Münster“, S. 150 f. Dort auch ein Stadtplan von 1802 mit Einzeichnung des Hauses sowie eine weitere Fotografie des Gebäudes. Die damalige Katholische Höhere Töchterschule hatte nach der Ausweisung des Jesuitenordens das ehemalige Jesuitenkloster an der Schützenstraße 1875/76 bezogen. 1908 erfolgte ein Neubau an der parallel verlaufenden Grünen Gasse. Vgl. Bernd Weber, Zwischen Gemütsbildung und Mündigkeit. 1690 bis 1990. 300 Jahre Annette-von-DrosteHülshoff-Gymnasium Münster, 3. Aufl. Münster 2007, S. 57 und 60 mit Abb. 7. Ein Foto der Bronzetafel befindet sich in Schulz/Bell, Amalia Fürstin von Gallitzin, Katalogteil, S. 214. Die Fürstin hatte bereits 1785 Goethe in Weimar besucht. Vgl. Plachta, Musenhof, S. 72. Unter der alten Gedenkplatte ist auch eine Erinnerung an die am 10.10.1943 erfolgte Zerstörung des Hauses – das bildlich dargestellt ist – angebracht. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Campagne in Frankreich, in: Goethes Werke Bd. 10. Autobiographische Schriften II, 8. Aufl. München 1982, S. 188–363, hier S. 335–346. Zum weitläufigen Garten selbst vgl. Adda Baumstark-Schöningh, „Binnen Münster in Sankt Ägidiy Kerspell“. Chronik einer kleinen Gasse, in: Die Grüne Gasse. Die Festschrift der Annette von Droste-Hülshoff-Schule zur Einweihung des Schulneubaus, Münster 1956, S. 13–18, hier Lageplan S. 16 mit Einzeichnung des Besitzes der Fürstin und des Grabes von Hamann. Goethe, Campagne, S. 336. Vgl. als Überblick: Friedrich Wilhelm Bautz, Art. Hamann, Johann Georg, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (im Folgenden BBKL) 2 (1990), Sp. 496–500. Goethe, Campagne, S. 336. Vgl. auch Siegfried Sudhof, Goethe und der „Kreis von Münster“, in: Goethe-Jahrbuch 98 (1981), S. 72–85, hier S. 76. Vgl. Karlfried Gründer, Hamann in Münster, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 33 (1955), S. 74–91, hier S. 82; Elfriede Büchsel, Hamann in Münster, in: Schulz/Bell, Amalia Fürstin von Gallitzin, S. 92–101, und Liselotte Folkerts, Ein Vorgeschmack des Himmels. Johann Georg Hamann in Münster und im Münsterland, Berlin 2011.
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Als Hamann am 21. Juni 1788 um 7 Uhr morgens starb, beschloss die Fürstin, den Toten in ihrem Garten, nahe der Laube, noch am gleichen Tag zu bestatten. In ihrem Tagebuch schrieb sie dazu: „Ich erhielt es [die Genehmigung zur Bestattung im eigenen Garten; B. S. F./M. B.-V.] mit Mühe, man drohte mir mit üblen Nachreden, Mißvergnügen der Geistlichkeit usw. Nach vielem Hin- und Herlaufen erhielt ich’s durch Heckmann gegen das Versprechen, es in die öffentlichen Papiere einfließen zu lassen, daß es nicht aus Intoleranz, sondern auf meine ausdrückliche Bitte geschehen sei.“45 Gallitzin musste dennoch dementieren, dass die Geistlichkeit die Beerdigung eines Lutheraners auf einem katholischen Friedhof – evangelische Begräbnisstätten gab es in Münster nicht – verboten habe.46 Fürstenberg und Overberg holten den Leichnam persönlich vom Buchholtzschen Stadthaus mit der Kutsche ab und ließen ihn bestatten. Die Gestaltung des Grabmals erfolgte durch ihren einige Tage später eintreffenden ehemaligen Hauslehrer, den erwähnten Philosophen Hemsterhuis. Neben dem Zitat aus dem 1. Korintherbrief47 fügte man auf Anregung des Philosophen Jacobi48 die Charakteristik „viro christiano“ hinzu. Durch eine Zeichnung von Nicolovius, einem mit Hamann befreundeten Aufklärer,49 ist die Anlage des Grabes gut überliefert (Abb. 16).50 1847, also fast 60 Jahre später, setzte sich ein Landsmann Hamanns beim Oberpräsidenten der Provinz Westfalen von Flottwell für eine Erneuerung des ziemlich verfallenen Grabes ein. Der Oberpräsident bemühte sich bei Friedrich Wilhelm IV. um die notwendigen Mittel, die der preußische König mit
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Zitat nach Schulz/Bell, Amalia Fürstin von Gallitzin, Katalogteil, S. 218 f., Nr. 77. Dort ist fälschlich der 22. Juni als Todestag angegeben. Friedrich Leopold zu Stolberg schrieb in seiner Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien (1794) dazu: „Katholische Geistliche wünschten die Leiche dieses von Ihnen verehrten Mannes in geweihtem Boden zu bestatten, und gaben dem Wunsch der Fürstin Gallitzin nur aus Achtung vor diese nach, erklärten aber öffentlich, wie bereit sie gewesen wären, den weisen und frommen Manne die letzte Ehre zu erzeigen.“ Zitiert nach Jörg-Ulrich Fechner, Stolberg und der Kreis von Münster – ein Versuch, in: Frank Baudach u. a. (Hg.), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Beiträge zum Eutiner Symposium im September 1997, Eutin 2002, S. 175–198, hier S. 183. Vgl. Gründer, Hamann, S. 85. Vgl. 1 Kor 1,23 und 1,27: „Judaeis quidem scandalum. Graecis autem stultitiam, sed stulta mundi elegit Deus, ut sapientes confundat, et infirma mundi elegit Deus ut confundat fortia.“ Hier wiedergegeben nach Karl Carvacchi, Biographische Erinnerungen an den Magus in Norden, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde N. F. 6 (1855), S. 281–354, hier S. 343. Die Schreibweise des Bibeltextes variiert in der Sekundärliteratur. Der Philosoph hatte z. B. den Kontakt zwischen dem ‚Kreis von Münster‘ und Goethe hergestellt. Hamann besuchte ihn während seines Aufenthaltes in Münster in Pempelfort. Zu seiner Person vgl. Michael Tilly, Art. Jacobi, Friedrich Heinrich, in: BBKL 2 (1990), Sp. 1400–1402. Barbara Wolf-Dahm, Art. Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig, in: BBKL 6 (1993), Sp. 705–708. Josef Nadler, Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften 2: Geist (1740–1813), 4. Aufl. Berlin 1938, S. 194.
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Kabinettsorder 1848 zubilligte.51 Nähere Untersuchungen ergaben jedoch, dass eine Renovierung nicht möglich sei, sondern ein neues Grabmonument erstellt werden müsse. Dieses wurde dem alten genau nachgebaut, aber durch die Zeitumstände erst 1851 fertiggestellt.52 Da die ursprüngliche Beerdigungsstelle im ehemaligen Garten der Fürstin durch die neue Bebauung und den zunehmenden Verkehr „ihre ganze Heimlichkeit und Würde eingebüßt“53 hatte, erboten sich mehrere Pfarrgeistliche, Hamann auf ihre Friedhöfe umbetten zu lassen. Oberbürgermeister von Olfers vermittelte schließlich die Umbettung auf den Überwasserfriedhof dicht bei den Gräbern von Fürstenberg und Overberg.54 Während die beiden letzteren später neue Gräber auf dem Domherrenfriedhof bzw. in der Überwasserkirche erhielten, ist das Grab Hamanns, das zugleich mit einer Gittereinfassung versehen wurde, dort verblieben.55 Am Rande des Schulhofes des Gymnasiums an der Schützenstraße erinnert heute lediglich ein inzwischen stark verwitterter Gedenkstein an die erste Grablege. Der Tod Hamanns, die Umstände seines Begräbnisses und seine Umbettung auf den Überwasserfriedhof gaben auch die Grundlage für einen 1953 erschienenen Roman.56 Neben dem Vorschlag für eine literarische Exkursion auf Hamanns Spuren in Münster und Angelmodde57 werden jüngst auch Führungen auf den Spuren Hamanns in Münster angeboten.58
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Vgl. Carvacchi, Biographische Erinnerungen, S. 347, sowie Renate Knoll (Hg.), Johann Georg Hamann 1730–1788. Quellen und Forschungen. Katalog zu den Ausstellungen von Universitätsbibliotheken anläßlich des 200. Todestages von Hamann und des Fünften Internationalen Hamann-Colloquiums in Münster in Verbindung mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1988, S. 87 f. Vgl. Carvacchi, Biographische Erinnerungen, S. 348. Die alte Inschriftentafel des ersten Denkmals mit der lateinischen Inschrift ist in die Altarwand der Margarethenkapelle im Landesmuseum der Provinz Westfalen eingemauert worden und gilt seit der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg als verloren. Ebd., S. 349. Ebd., S. 349 f. Ebd., S. 348 und 354. Eine Zeichnung der neuen Grabstelle ist neben dem Titelblatt der Zeitschrift abgebildet; siehe Abb. 17. Das Gitter ist inzwischen entfernt. 2010 stellte die Vereinigung Niederdeutsches Münster, welche die Grabstätte renovierte, dort einen Gedenkstein mit den Lebensstationen Hamanns auf. Hans Franck, Reise in die Ewigkeit. Ein Roman um Johann Georg Hamann, Darmstadt und Genf 1953. Zu dem Schriftsteller und Dramatiker Franck (1879–1964) vgl. Walther Kummerow, Art. Franck, Hans, in: Wilhelm Kühlmann (Hg.), Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, Bd. 3, 2. Aufl. Berlin und New York 2008, S. 520 f. Derk Schleiferboom, Ein Wochenende auf den Spuren Johann Georg Hamanns und der Fürstin Gallitzin. Reisevorschlag zum Nachmachen. Mit genauen Wegbeschreibungen und Erläuterungen zu Schauplätzen und Bezugspunkten zum Aufenthalt des Königsberger Philosophen Johann Georg Hamann im Kreis der Fürstin Gallitzin in Münster und Umgebung, Nordhorn 1991. Vgl. N. N., Hamann war ein Genießer. Statt-Reisen führte Gruppe auf die Spur des Denkers, in: Westfälische Nachrichten, Münsterischer Anzeiger Nr. 85 vom 11. April 2011.
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Beate Sophie Fleck und Mechthild Black-Veldtrup Abb. 1 (vorige Seite): Das 1875 eingeweihte Fürstenbergdenkmal auf dem Domplatz gegenüber dem Regierungsgebäude, Aufnahme um 1935 (LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen – Bildarchiv)
Abb. 2 (diese Seite): Von Elisabet Ney gefertigter Entwurf einer Fürstenbergfigur für das Ständehaus (Stadtmuseum Münster)
Abb. 3 (folgende Seite): Beschädigtes Fürstenbergdenkmal auf dem städtischen Bauhof nach 1945. Der fehlende linke Arm musste vor der Wiederaufstellung nach alten Abbildungen neu angefertigt werden. (Aschendorff)
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Abb. 5 (diese Seite): Das Ständehaus am Domplatz (Domplatz 11), im Hintergrund das Gebäude Domplatz 22, aufgenommen 1862 vom Fotografen Friedrich Hundt. (Aus: Max Geisberg, Stadt Münster, Band 2, Abb. 392, S. 125).
Abb 4 (vorige Seite): Das Standbild an seinem heutigen Platz vor dem Fürstenberghaus. Von Zeit zu Zeit muss sich das Denkmal besondere Ausschmückungen – wie hier eine farbige Weste im April 2006 – gefallen lassen. (B. Beyer)
Abb. 6a und 6b (folgende Seiten): Grundriss des Hauses Domplatz 22, für den Abdruck teilweise neu angeordnet. (LAV NRW W, Karte A 2363, 2364).
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Abb. 8: Eintrag von Fürstenbergs Todestag in das Kirchenbuch der Pfarrei St. Jacobi (BAMs, Depositum Pfarrarchiv Münster St. Jacobi, Kirchenbuch 3, S. 72). Abb. 7 (vorige Seite) Ansicht des Hauses Domplatz 11, Grund- und Aufrisse (LAV NRW W, Oberpräsidium 2572,1, fol. 151).
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Abb. 10: Heutige Grabplatte Fürstenbergs auf dem Domherrenfriedhof (S. Jahn)
Abb. 9 (vorige Seite): Fürstenbergs Grabstein auf dem Überwasserfriedhof (Stadtarchiv Münster, Slg WVA VI Nr. 9, lfd. Nr. 10563)
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Abb. 11a: Denkmal zur Erinnerung an Bernard Heinrich Overberg, geschaffen 1897 von Anton Rüller, aufgenommen am alten Standort an der Westseite des Priesterseminars neben der Überwasserkirche. (LWL-Bildarchiv, Archivnr.: 10_2948)
Abb. 11b (folgende Seite): Das Denkmal an seinem heutigen Standort südlich der Überwasserkirche. (B. Beyer)
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Abb. 12: Die Bauten des Jesuitenkollegs, Übersichtsplan (Aus: Geisberg, Stadt Münster, Band 4, Abb. 1317 S. 495)
Abb. 13 (folgende Seite): Das Innere des Schulhofes von Osten, Foto von C. Bathe aus dem Jahr 1897 (Aus: Geisberg, Stadt Münster, Band 4, Abb. 1331 S. 517)
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