Franz Kafka im interkulturellen Kontext [1 ed.] 9783412515539, 9783412515515


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Franz Kafka im interkulturellen Kontext [1 ed.]
 9783412515539, 9783412515515

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FRANZ KAFKA IM INTERKULTURELLEN KONTEXT

STEFFEN HÖHNE, MANFRED WEINBERG (HG.)

:: Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar-Jena), Alice Stašková (Jena) und Václav Petrbok (Prag)

Band 13

Franz Kafka im inter­kulturellen Kontext Herausgegeben von Steffen Höhne und Manfred Weinberg

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Österreich-Ungarn in der Kikeriki-Projektion. Humoristischpolitische Land- und Seekarte. Herausgegeben von F. G. Ilger. Entworfen von Ilger und Zothe. Gezeichnet von Zothe. Wien: Kikeriki-Verlag, nach 1908. 48x63 cm. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat: Wolf Georg Zaddach, Weimar Druckvorlage: Wolf-Georg Zaddach, Laura Schaller, Tillmann Lützner, Weimar

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51553-9

Inhaltsverzeichnis Vorwort........................................................................................................................7 Die zentraleuropäische Stadt um 1900. Pluriethnizität, Plurikulturalität und Mehrsprachigkeit Moritz Csáky.............................................................................................................25 Kafka im Kontext modernen Erzählens Manfred Engel...........................................................................................................59 Das Denken und Schreiben Kafkas zwischen den Kulturen Karl E. Grözinger.....................................................................................................73 Amerikanismus, Jiddisch, Judentum und Interkulturalität: Nathan Birnbaum und Franz Kafka Mark H. Gelber........................................................................................................87 ‚Unbestimmter Wohnsitz‘: Heimat und Erbe bei Max Brod und Franz Kafka Scott Spector...............................................................................................................97 Der Sudetendeutsche Franz Kafka. Aus dem Steinbruch der frühen Kafka-Rezeption Jörg Krappmann.......................................................................................................115 ‚Sprossende Saat‘. Eine Fallstudie zu ‚böhmischen‘ Anthologien Hans Dieter Zimmermann ......................................................................................139 Kafka’s Habsburg zwischen Bürokratie und Mythos Oliver Jahraus..........................................................................................................153 Das ‚babylonische‘ Habsburg. Ideengeschichtliche Traditionen bei Kafka und das Problem des Universalismus Steffen Höhne...........................................................................................................173

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Inhaltsverzeichnis

Spuren interkultureller Begegnungen in Kafkas vergleichender Völkergeschichte: Zeitgenössischer China-Diskurs in der Zeitschrift Die Aktion Clemens Dirmhirn....................................................................................................197 Der Zirkus als interkulturelles und poetologisches Modell bei Kafka. Von akrobatischen Schreibübungen, einer Artistik in der Schwebe und sechs Variationen über die ‚Erziehung‘ Achim Küpper..........................................................................................................211 Zerstreuungsbewegungen. Entortendes Schreiben Bettine Menke..........................................................................................................229 Sinngemäße Verschiebung. Franz Kafkas Roman Der Verschollene und das ‚Projekt der Interkulturalität‘ Dieter Heimböckel....................................................................................................263 Zu Franz Kafkas Erzählung Schakale und Araber Manfred Weinberg....................................................................................................281 Beschreibung eines Kampfes? Zu Spuren des Interkulturellen in Kafkas (sprach )reflexivem Schreiben Irina Wutsdorff.........................................................................................................303 Hybridität von Kafkas ‚Odradek‘ Marek Nekula.........................................................................................................321 Büchner – Kafka – Celan: Gespräche im Gebirge. Von der Begegnung mit dem Fremden zur Ethik der Lektüre Sven Lüder...............................................................................................................343 Der Ausflug ins Gebirge zwischen Philologie und Mythologie. Mit einer Anmerkung zu ‚Odradek‘ Alice Stašková..........................................................................................................361 Personen- und Ortsregister.................................................................................377 Adressen der Autoren..........................................................................................385

Steffen Höhne, Manfred Weinberg

Vorwort 1. Franz Kafka und Prag Es herrscht wahrlich kein Mangel an Aussagen, Aufsätzen, gar ganzen Büchern zum Thema ‚Kafka und Prag‘1 – bis hin zu einer eigenen, als Literaturportal und Online-Reiseführer benannten Seite im Internet eben unter dem Titel Franz Kafka & Prag,2 die auch das allgemeine öffentliche Interesse an diesem Thema belegt. Wissenschaftlich hatte schon die Konferenz in Liblice 1963 einen Franz Kafka aus Prager Sicht versprochen – und dieses Versprechen nicht gehalten (Weinberg 2014). Die kurze Eröffnungsansprache wurde damals von Marie Majerová gehalten, die der Überblick „Über die Autoren des Buches“ als „Schriftstellerin, Nationalkünstlerin“ (N.N. 1965: 295) (also Trägerin des tschechoslowakischen Nationalpreises) verzeichnet. Sie erinnerte sich in ihrer Rede an ihre Zusammenkünfte mit Franz Kafka bei Treffen in der Wohnung von Milena Jesenská und beschrieb ihn als „schlanke[n] blasse[n] Jüngling, von korrektem Aussehen und mit wunderbaren dunklen Augen, die durchdringend blickten und sich zugleich einem entzogen“ (Majerová 1965: 9). Weiter heißt es: Er sprach tschechisch und schrieb deutsch, er war mit uns oft zusammen und war uns dennoch fern. Aber er gehörte zu uns als Prager, einheimisch in den alten Prager Gäßchen, 1  Stellvertretend sei hier nur auf die Sammelbände Kafka und Prag (Krolop/Zimmermann 1994) und Kafka und Prag. Literatur-, kultur-, sozial- und sprachhistorische Kontexte (Becher/ Höhne/Nekula 2012) sowie auf Klaus Wagenbachs Kafkas Prag. Ein Reiselesebuch (Wagenbach 1993) hingewiesen. 2  Online unter: https://www.kafka-prag.de/startseite.html [25.8.2018]. Auf dieser Seite wird der Bezug nur biographisch und topographisch entfaltet – mit eigenen Seiten zu „Die Wohnungen der Eltern Kafkas“, „Kafkas Domizile“, „Geschäft Hermann Kafkas“, „Ausbildung und Arbeit Franz Kafkas“, „Freunde und Freizeit“ sowie „Gedenkstätten“. Immerhin wird unter „Kafka-Themen“ (https://www.kafka-prag.de/franz-kafka/kafkaswerk/kafka-themen.html [25.8.2017] auf zukünftig aufzunehmende Aufsätze „zum Antisemitismus in Kafkas Prag“ und „zur Sprachsituation deutschsprechenden [sic] Autoren in Prag um die Jahrhundertwende“ verwiesen. Auf den Seiten zu den literarischen Texten Kafkas sucht man den Bezug auf Prag allerdings vergeblich.

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Steffen Höhne, Manfred Weinberg ein Spaziergänger unter den Hunderten von Türmen und ein Kenner der tschechischen Literatur. Wir allerdings trieben uns in den noch frischen Spuren Nerudas umher, während er gleichsam in den fünfhundert Jahre alten Fußstapfen des Rabbi Löw herumspazierte. Franz Kafka war ein Prager und er ist ein Prager Dichter. Ohne die Kulissen des alten Prag und ihres tausendjährigen Gesteins gäbe es nicht die Atmosphäre seiner Romane Der Prozeß und Das Schloß. (Majerová 1965: 9)

Bezüglich Kafkas finden sich hier die allzu üblichen Stereotype einer der sicher falschesten Vorstellungen von einem Autor des 20. Jahrhunderts: der blasse Jüngling mit dem leicht autistischen, wenn nicht depressiven Blick.3 Doch auch Prag wird nur mit den verbreiteten Klischees aufgerufen: mythisch, magisch, mit Hunderten von Türmen, tausendjährigem Gestein und alten Gässchen. Und das soll dann eben perfekt zusammenpassen. Johannes Urizdil hat einmal geschrieben: „Kafka war Prag und Prag war Kafka“ (Urzidil 1965b: 102). An anderer Stelle heißt es bei ihm: Obzwar Prag in Kafkas Werk höchstens in gelegentlichen Umschreibungen deutlich wird, ist es doch überall in den Schriften enthalten, wie das Salz jenes buddhistischen Gleichnisses im Wasser. Obzwar das Salz als solches nicht sichtbar wird, schmeckt dennoch das Wasser ganz und gar salzig. (Urzidil 1965a: 11)

Die von Urzidil unterstellte ‚Anwesenheit‘ Prags in Kafkas Werk ist hier wie so oft mehr Behauptung als präzise Diagnose. Eduard Goldstücker hat auf der Liblicer Konferenz von 1963 formuliert: „Ich vermute [...], daß einige, mit dem Leben und Werk Franz Kafkas zusammenhängende Fragen doch am besten von Prag aus beantwortet werden können“ (Goldstücker 1965a: 26), um diese Diagnose in seinem Resümee der Tagung dahingehend zu erweitern, dass „viele Momente dafür sprechen, daß gewisse Dinge nur von Prag aus gesagt werden können, aus der intimen Kenntnis dessen, was Prag zu Kafkas Lebzeiten bedeutete“ (Goldstücker 1965b: 278). Auch das bleibt den genauen Stellenwert des nur aus der Kenntnis Prags oder gar nur von Prag aus über Kafkas Leben und Werk zu Sagenden schuldig. Was Goldstücker zudem übersieht: Das Prag des Jahres 1963 ist nicht mehr das Prag Kafkas. Dazwischen liegt nicht nur eine geraume Zeit, sondern auch das Protektorat Böhmen und Mähren, die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, die Vertreibung der Deutschen sowie die Machtergreifung der Kommunisten, womit das interkulturelle Prag endgültig verloren ging. Dieses lässt sich nicht durch Verweise auf den Wohn- und Arbeits3 

Majerová bietet neben dem weiteren Klischee von Kafka als „einzig dastehende[m] und unnachahmliche[m] Dichter“ noch die Zuschreibung, er sei ein Dichter gewesen, „der mit dem Gehirn fühlte“ (Majerová 1965: 9). Dies ist ein durchaus häufiges Symptom: Abweichungen von den Stereotypen führen gemeinhin zu noch abstruseren Diagnosen.

Vorwort

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ort wiedergewinnen,4 sondern nur durch intensive Forschung. Peter Hilsch hat seine Ausführungen über Böhmen in der österreichisch-ungarischen Monarchie und den Anfängen der Tschechoslowakischen Republik in Hartmut Binders frühem Kafka-Handbuch mit der Aussage begonnen: Erstaunlich wenig ist es, was an direkten Bezügen zum Zeitgeschehen im Werk Kafkas auf den ersten Blick entdeckt werden kann; und doch waren sein Leben und Werk mitbestimmt und mitgeformt von der Geschichte Böhmens, vom Zustand und der historischen Entwicklung der ihn umgebenden Gesellschaft. (Hilsch 1979: 3)

Das erweitert den Horizont zwar von Prag auf Böhmen, benennt aber ebenfalls nicht, wo und in welcher Form nun dieses spezifisch Pragerische und Böhmische in Kafkas Werk zu finden sein soll. Mit engerem Fokus hat Andreas Kilcher in seinem Beitrag Der ‚Prager Kreis‘ und die deutsche Literatur in Prag zu Kafkas Zeit im Kafka-Handbuch von Manfred Engel und Bernd Auerochs formuliert: Für die[ ] Involvierung des literarischen Schreibens in den kulturpolitischen Kontext, wie ihn Prag bildet, kann die Literatur Kafkas als paradigmatisch angesehen werden, da seine Texte einen permanenten subtextuellen Diskurs mit jener spezifischen Prager Matrix führen. (Kilcher 2010: 38)

Auch das lässt die präzise Diagnose einer solchen Involvierung vermissen. Einerseits gibt es also wohl kaum eine verbreitetere Diagnose als die der engen Verbundenheit von Kafkas Leben und Werk mit seiner Heimatstadt Prag; andererseits verbleiben fast alle Ausführungen zu dieser Dimension im Duktus des allzu Allgemeinen oder verschwinden in den Beiträgen zu den diesem Thema gewidmeten Sammelbänden sozusagen in den Details anderweitiger Perspektiven. Allerdings lassen sich im anfangs erwähnten Eröffnungsvortrag der ersten Liblicer Konferenz von Marie Majerová durchaus andere und präzisere Hinweise finden. Denn neben all den Stereotypen zum Autor und zur Stadt stellt sie Kafka auch als jemanden vor, der Tschechisch sprach und ein Kenner der tschechischen Literatur war – verweist also auf immerhin eine Spezifik des Prager Umfelds von Franz Kafka: dessen Interkulturalität. In Max Brod Studie Der Prager Kreis liest man weitergehend: Als wahrer Sohn der Stadt Prag wurzelte Kafka stark im Prager Boden. Seine dichterische Seele war vom Zauber des alten Prag und der Mannigfaltigkeit seiner Einwohner bestrickt. 4  Auch nicht durch einen „Genius loci“ (Hájek 1965: 111), an den Jiří Hájek in seinem Beitrag zur ersten Liblicer Konferenz Kafka und wir den „ganze[n] moralische[n] Rigorismus und Absolutismus“ Kafkas „nachweislich“ anknüpfen sieht, um mit dem „wir“ des Titels den historischen Abstand sozusagen im ‚Geist‘ der Stadt Prag zu überbrücken.

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Steffen Höhne, Manfred Weinberg Als wahrer Sohn Prags hatte er seine Wurzeln in der tschechischen und deutschen Kultur, hatte seine Wurzeln gleichfalls in der uralten jüdischen Kultur. (Brod 1966: 96)

Das kommt zwar ebenfalls nicht ohne die gängigen Klischees aus („Zauber“, ‚[ur]alt‘) aus, doch wird eben auch auf die „Mannigfaltigkeit“ der Einwohner Prags, also die Interkulturalität der Stadt hingewiesen. Zudem wird diese Interkulturalität präzisiert – als Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden. Eine solche Diagnose konnte man allerdings auch schon auf der ersten Liblicer Kafka-Konferenz hören. Alexej Kusák hat dort Goldstückers Behauptung, Kafka lasse sich nur ‚aus Prager Sicht‘ richtig lesen, in seinen Bemerkungen zur marxistischen Interpretation Kafkas deutlich zurückgewiesen: „Eduard Goldstücker wollte damit bestimmt nicht sagen, daß dieses Wort von Prag aus deshalb gesagt werden kann, weil hier besonders geniale Germanisten oder Literaturwissenschaftler leben.“ (Kusák 1965: 170). Kurz darauf heißt es: „Ist Prag vielleicht mit einem besonderen Fluidum gesegnet, das zu erkennen nur den Pragern gegeben ist? Kann man Kafkas Geheimnis nur mit dem Schlüssel des Prager Primators aufschließen?“ (Kusák 1965: 171). Dem so Gescholtenen sprang am Ende der Tagung der Mitveranstalter Paul Reimann zur Seite: Genosse Kusák irrt, wenn er glaubt, daß es uns [Goldstücker und ihm; M.W.] nur in einem engen Sinn um die Feststellung lokaler Dinge, die topographische Untersuchung der Schauplätze von Kafkas Erzählungen usw. geht. Das ist nicht das Wesentliche. Prag ist für Kafkas Verständnis wichtig aus einem anderen Grunde. Wie immer wir es nehmen, Prag ist ein alter Kulturboden, der durch Jahrhunderte wuchs, ein großes Zentrum des europäischen Kulturlebens, ein Zentrum, in dem sich auch wichtige historische Konflikte verknoteten. Man muß Kafkas Wort von dem Mütterchen Prag, das Krallen hat, das nicht losläßt, zur Kenntnis nehmen, man muß auch auf den Gedanken von E.E. Kisch hinweisen, daß in der Geschichte Prags, wie kaum in einer anderen Stadt Mitteleuropas sich die ganze Weltgeschichte widerspiegelt. In Prag flossen durch die Jahrhunderte verschiedenartige Strömungen der europäischen Kultur zusammen; aus ihrem Zusammenstoß entwickelten sich teils Konflikte, teils komplizierte wechselseitige Einflüsse. Prag wurde zu einem Vorposten der slawischen Kulturwelt, die hier einen großen überragenden Einfluß erlangte. Nach Prag drangen aber auch Einflüsse der deutschen Kultur, hier gab es Konflikte, aber auch wechselseitige Beziehungen dieser beiden Kulturwelten. Prag war schließlich ein altes Zentrum des jüdischen Lebens, hier entstand die legendäre Tradition des Rabbi Löw, die man – wenn man von Kafka spricht – nicht ignorieren kann, denn ich bin überzeugt, daß auch die jüdische Tradition, der Talmud und anderes, an der Entstehung seines Werkes mitwirkte. Kafkas Eigenarten kann man völlig nur verstehen, wenn man ihn als eine Erscheinung wertet, die aus diesem und gerade aus diesem Kulturboden hervorgewachsen ist. (Reimann 1965: 222f.)

Dies ist immerhin präziser und der Versuch einer dann doch umfassenderen Diagnose der Bedeutung Prags für Franz Kafka. Und auch hier steht die Interkulturalität der Stadt im Vordergrund.

Vorwort

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2. Franz Kafka im interkulturellen Kontext Die Bedeutung der spezifischen Interkulturalität Prags und der Böhmischen Länder für Leben und Werk Franz Kafkas ist bisher kaum thematisiert worden. Trotz seines Titels leistet dies auch nicht der von Harald Neumeyer und Wilko Steffens herausgegebene Band der Forschungen der Deutschen KafkaGesellschaft: Kafka interkulturell (Neumayer/Steffens 2013). Bezogen auf diesen stellt Dieter Heimböckel in seinem Beitrag in diesem Band zurecht fest: „Er lässt [...] ganz und gar im Unklaren, unter welchen Prämissen Kafka und sein Werk einer interkulturellen Analyse unterzogen werden.“5 Im Call for Papers zur Tagung, auf die dieser Sammelband zurückging, hieß es zu deren Fragestellungen: Welche interkulturellen Bezüge sind im Werk Franz Kafkas erkennbar? (Orientalismus, Postkolonialität, Amerika-Bild, Reisetagebücher, multikulturelle Stadttopographien) Welche Möglichkeiten und Methoden ergeben sich für eine interkulturelle Rezeption der Werke Kafkas? • durch Autoren in Deutschland und anderen Ländern, • durch geographische Unterschiede in der Populär-Rezeption, • durch Transfer der Interpretationsansätze zwischen den Germanistiken in  Deutschland und anderen Ländern. (Call for Papers Kafka interkulturell 2009)

Das sind gewiss lohnende Fragestellungen – und doch erstaunt es, dass man meinte, sozusagen ‚in die Ferne schweifen‘ zu müssen und die naheliegendste Perspektive auf einen ‚interkulturellen‘ Kafka hier mit keinem Wort erwähnt wird: Seine Herkunft aus und sein Leben in einem interkulturellen Prag und Böhmen. 5 

Heimböckel führt weiter aus: „Bezeichnend hierfür ist das Vorwort zu dem Band, in dem suggeriert wird, mit Interkulturalität werde gemeinhin die Vorstellung eines reisenden Schriftstellers assoziiert. Die an die Referenten ergangene Aufforderung, ‚die inter- bzw. transkulturellen Bezüge im Werke Franz Kafkas zu erfassen und (neu) zu diskutieren‘, möge auf den ersten Blick verwundern, ‚verbrachte Kafka doch einen Großsteil seines Lebens in Prag und reiste – v.a. im Vergleich zu seinen Schriftstellerkollegen – vergleichsweise wenig.‘ (Steffens 2013, 6).“ Auch diese ‚Ortsgebundenheit‘ Kafkas ist eine der falschen Stereotype zu seiner Person. Vielmehr gilt: „Kafka war in Dänemark, in Oberitalien, in der Schweiz, schwamm im Gardasee und im Lago Maggiore und fuhr auf Schweizer Berge. Paris besuchte er gleich zweimal, Wien immer wieder; den letzten Winter seines Lebens verbrachte er in Berlin. Das Bild vom auf Prag fixierten Kafka ist also ein weiteres Missverständnis bezüglich dieses Autors; tatsächlich hat er sich durchaus in Europa ‚herumgetrieben‘.“ (Weinberg 2018)

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Das flächendeckende Versäumnis einer Auseinandersetzung mit dieser Dimension hat vor allem damit zu tun, dass Kafkas Texte, trotz der flagranten Beschwörung der Symbiose von Kafka und Prag, weltweit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern interpretiert wurden, die die Besonderheiten der Interkulturalität Prags und der Böhmischen Länder nicht hinreichend gründlich kannten – und sich auch nicht nennenswert für diese interessierten. Gelegentlich wird die Relevanz eines solchen Wissens für den ‚Umgang‘ mit Kafkas Texten auch grundsätzlich in Frage gestellt, etwa mit dem Einwand, dass sich die Interpreten von Goethes Werken gemeinhin ja auch nicht in alle Details des Weimarer Alltags einarbeiteten. Dabei wird aber übersehen, dass ein Grundwissen um die Weimarer respektive ‚deutsche‘ Wirklichkeit des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts – zumindest unter Germanisten – allemal verbreiteter ist als die Kenntnis der Spezifik der Prager Interkulturalität zu Lebzeiten Kafkas und dass die damaligen Lebensbedingungen in Prag eben völlig andere waren als im Deutschen Reich oder der Weimarer Republik. Das eklatanteste Beispiel für eine generelle Unkenntnis der Prager Wirklichkeit ist wohl die Kafka-Studie von Gilles Deleuze und Félix Guattari, in der es schon auf der simpelsten Ebene der Fakten von sachlichen Fehlern und falschen Zuschreibungen nur so wimmelt. So unterstellen die beiden etwa, dass Kafka mit den in seinem Tagebuch verhandelten ‚kleinen Literaturen‘ „die jüdische [Literatur] in Warschau oder in Prag“ (Deleuze/Guattari 2012: 24) gemeint hätte. In Kafkas Tagebucheintrag vom 25. Dezember 1911 steht jedoch Anderes: „Was ich durch Löwy von der gegenwärtigen jüdischen Literatur in Warschau und was ich durch teilweise eigenen Einblick von der gegenwärtigen tschechischen Literatur erkenne, deutet daraufhin“ (KKAT: 312); das Zitat kann hier schon abgebrochen werden. Von der jüdischen Literatur „in Prag“ ist bei Kafka also mit keinem Wort die Rede, sondern nur von der in Warschau – und gemeint ist damit auch nicht das, worauf diese Rede dann von Deleuze und Guattari bezogen wird, nämlich die Literatur von deutsch schreibenden, jüdischen Autoren, sondern, wie man unschwer an den voranstehenden Ausführungen zu Jizchak Löwys Theatergruppe in Kafkas Tagebuch erkennen kann, in Jiddisch verfasste Literatur. Den Vergleich, den Kafka tatsächlich heranzieht, ignorieren Deleuze/Guattari kurzerhand: Die (auf andere Weise marginale) „tschechische Literatur“ stört offenbar die theoretische Forcierung und wird ersetzt durch die ‚jüdische Literatur in Prag‘. Von da an reiht sich in der Studie eine Fehlzuschreibung an die andere. Besonders eklatant ist dabei, dass Deleuze und Guattari nur an die deutschsprachige Prager Gesellschaft assimilierte Juden kennen und offenbar von den sog. ‚Tschechojuden‘ gar nichts wissen, obwohl diese nach 1900 die Mehrheit

Vorwort

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bildeten.6 Solche tiefgreifende Unkenntnis der Prager Verhältnisse findet sich jedoch nicht nur bei Deleuze und Guattari. Allerdings wurde in den letzten Jahren in der Kooperation der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag mit deutschen und tschechischen Kafka-Forscherinnen und -Forschern auch eine andere Perspektive etabliert, die Franz Kafka, überspitzt formuliert, als Autor einer Regionalliteratur versteht, wobei dem dabei vorausgesetzten Verständnis von Region selbstverständlich nicht die übliche Zuschreibung von Provinzialität eignet, sondern vielmehr eben eine Fokussierung auf die tatsächlichen (inter-)kulturellen Zusammenhänge in Prag und den Böhmischen Ländern zu Kafkas Lebzeiten intendiert ist. Diese Perspektive bestimmt auch das Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, in dem es zum vorausgesetzten Verständnis von Region heißt: Region nicht mehr als sozusagen ‚einfältig‘, sondern vielmehr als Vielfalt zu denken, in der sich einzelne Phänomene anziehen, abstoßen, immer aber in einem nachweisbaren Zusammenhang stehen. Weiterhin sind die vermeintlichen Grenzen einer Region und die ihr zugeschriebenen Eigenschaften nicht als einfach gegeben, sondern als je konstruierte zu betrachten – hervorgebracht von kulturellen Artefakten, von denen die Literatur sicher mit an vorderster Stelle zu nennen ist. Bezogen auf den konkreten Gegenstandsbereich dieses Handbuchs, meint das: Böhmen (inklusive Prags), Mähren und Österreich-Schlesien als ‚eine‘ vielfältige Region aufzufassen, die Austauschprozesse in dieser zu beobachten, dabei die tschechischsprachige Literatur in diesem Raum nicht zu ignorieren und nicht zuletzt auch die Kommunikationsprozesse dieser Region mit anderen Regionen wahrzunehmen, fokussiert nur unter anderem auf Prag als Knotenpunkt der europäischen Modernen im Austausch mit Berlin, Paris, Wien, Moskau und anderen Städten. (Weinberg 2017: 4)

Vor diesen Hintergrund hat die Tagung Franz Kafka im interkulturellen Kontext, die vom 1.–3. Dezember 2016 in den Räumen der Deutschen Botschaft Prag und des Prager Goethe-Instituts stattfand, ihre grundsätzliche Perspektive gestellt. Die Tagung wurde ausgerichtet vom Herder Forschungsrat Marburg, dem Institut für germanische Studien der Karls-Universität Prag, der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur sowie dem Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Sie wurde gefördert vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, der Deutschen Botschaft in Prag, dem Prager Goethe-Institut sowie dem Johann Gottfried Herder-Forschungsrat. Wir bedanken uns herzlich bei allen Sponsoren für ihre Unterstützung. 6 

Zu den Sachfehlern in der Studie von Deleuze und Guattari s. Thirouin (2014) und Weinberg (2017: 204f.).

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Der Konferenz ging es um dreierlei: Zunächst um die spezifische Interkulturalität Prags und der Böhmischen Länder zu Lebzeiten Kafkas, weiterhin um die Relevanz dieser spezifischen Interkulturalität für Franz Kafka in biographischer Perspektive und vor allem um die bisher weitgehend übersehenen mannigfachen Spuren solcher Interkulturalität in den Texten Kafkas. Bevor die Beiträge hier kurz vorgestellt werden, seien noch einige grundsätzliche Bemerkungen zur Interkulturalität Prags und der Böhmischen Länder eingeschoben.

3. Prag, Böhmen und Interkulturalität Im Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder heißt es zur spezifischen Interkulturalität Prags, Böhmens und Mährens: Von einer maßgebenden Interkulturalität der Böhmischen Länder kann seit dem 12. Jahrhundert gesprochen werden, in dem Bayern, Franken, Obersachsen, Schlesier und Österreicher unter der Herrscherdynastie der Přemysliden [...] als Handwerker, Bauern und Bergleute angeworben wurden und zunächst die böhmischen und mährischen Grenzgebiete besiedelten. Bezogen auf Prag lässt sich noch weiter zurückgehen, da sich unter der Burg, mit deren Bau um 880 begonnen wurde, eine ‚national‘ heterogene Gemeinschaft von Händlern ansiedelte, in der die Juden schon im 10. Jahrhundert eine starke Stellung hatten. Ab der Mitte des 11. Jahrhunderts wurden darin deutsche Kaufleute führend, deren Anwesenheit das Privileg Herzog Soběslavs II. für die Prager Deutschen um 1176 urkundlich bestätigt. (Zěmlička 2011: 9f.) Die spezifische Interkulturalität der Böhmischen Länder und Prags findet sich späterhin immer wieder auf die Formel eines Zusammenlebens von ‚Tschechen, Deutschen, Juden‘ gebracht (bekenntnishaft: Brod 1918; literarisch: Moníková 1988, 58; wissenschaftlich: Čapková 2005). Auf den ersten Blick hat man es dabei mit einem Kategorienfehler zu tun: Zwei nationalkulturellen Attribuierungen wird eine religiöse zur Seite gestellt. Doch ist schon diese Diagnose in mehrfacher Hinsicht falsch. Erstens waren ‚die‘ Deutschen ja keine Staatsangehörigen des Deutschen Reiches, sondern wie ‚die‘ Tschechen solche der k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn, sodass sie bis 1918 nur bezogen auf ihre Muttersprache und kulturellen Besonderheiten als Deutsche und Tschechen gelten können. Zweitens ist ‚jüdisch‘ zumindest später doch auch eine nationale Kategorie, insofern in den Volkszählungen der Ersten Tschechoslowakischen Republik die Möglichkeit bestand, sich u. a. eine jüdische Nationalität zuzuschreiben. (Heimböckel/Weinberg 2017: 30)

Zur Art des interkulturellen Zusammenlebens in Prag (und Böhmen) gibt es allerdings durchaus unterschiedliche Sichtweisen. Egon Erwin Kisch beschrieb die Situation Anfang des 20. Jahrhunderts dahingehend, dass kein

Vorwort

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Deutscher [...] jemals im tschechischen Bürgerklub [erschien], kein Tscheche im Deutschen Casino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte. (Kisch 1990: 78f.)

Diese Darstellung Kischs korrespondiert mit Pavel Eisners Formel vom Leben der Autoren der ‚Prager deutschen Literatur‘ in einem ‚dreifachen Ghetto‘ (Eisner 1933) (als Juden unter Christen, als Deutsche unter Tschechen und als sozial Höhergestellte unter sozial niedriger Gestellten), die Eduard Goldstücker auf der zweiten Liblicer Konferenz von 1965 – Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur – ausdrücklich als plausibel anerkannt hat.7 Dagegen lässt sich u.a. Vilém Flussers in Bodenlos, seiner, wie es im Untertitel heißt, Philosophische[n] Autobiographie, formulierte Frage in Stellung bringen, ob man denn „als Prager Tscheche, Deutscher oder Jude“ gewesen sei und ob man sich „zwischen diesen Alternativen“ überhaupt hätte entscheiden müssen (Flusser 1992: 15f.), womit eine gemeinsame Prager Identität in den Vordergrund gerückt wird. Dies wiederum entspricht dem Tenor vor allem historischer Studien der letzten Jahre (etwa Kateřina Čapkovás Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918–1938 [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen] [Čapková 2005] oder Ines Koeltzschs Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag [1918-1938] [Koeltzsch 2012]), die die allzu starke Abtrennung der Bevölkerungsgruppen als unzutreffend, zumindest aber als deutlich zu einfach erwiesen haben. Schon 1907 schrieb Max Brod in seiner Besprechung der Ausstellung der Osma, einer Gruppe von deutsch- und tschechischsprachigen bildenden Künstlern, „daß in Prag kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation die Rede ist, sondern nur noch von Pragern“ (Brod 1966: 53), leitete den Wiederabdruck dieser Besprechung in seiner Studie zum Prager Kreis allerdings mit der Bemerkung ein, dass er „die Dinge damals wesentlich optimistischer gesehen ha[be], als sie lagen, und vor allem: als sie sich nachher entwickelt haben“ (Brod 1966: 52). 7 

„Die bisherigen Bemühungen, die spezifischen Charakterzüge der Prager deutschen Literatur um die Jahrhundertwende zu erfassen, haben ihre plausibelsten Ergebnisse in den Arbeiten Pavel Eisners gezeitigt, in seiner Ansicht, die Prager deutsche Literatur in den letzten Jahren der österreichisch-ungarischen Monarchie sei in einem unnatürlichen, insularen, von einem gesunden Volksganzen abgeschlossenen Milieu entstanden und ihre Schöpfer hätten auf diesem deutschsprachigen Inselchen gelebt wie in einem dreifachen Ghetto: einem deutschen, einem deutsch-jüdischen und einem bürgerlichen.“ (Goldstücker 1965b: 32)

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Diese so unterschiedlichen Beschreibungen verdeutlichen, dass man der Interkulturalität Prags und der Böhmischen Länder weder mit einer strikt abgrenzenden Rede von drei Gruppen, noch mit der Diagnose einer unterschiedslosen „Hybridisierung“ (Welsch 2012: 28) beikommt. Erstere ignoriert das offenbar vorhandene und den Alltag prägende Gemeinsame, zweiteres die dann doch vorausgesetzten (und gelebten) Abgrenzungen. Jan Křens Formel von der ‚Konfliktgemeinschaft‘ (Křen 1990) von Deutschen und Tschechen versucht zwar immerhin, das Getrennte und Gemeinsame in einem Begriff zu fassen, bleibt dabei zuletzt aber auch zu unpräzise. Das bedeutet nichts Anderes, als dass bisher keine angemessenen Konzeptualisierungen von Interkulturalität zur Verfügung stehen, die der Spezifik dieses hochkomplexen ‚Gemischs‘ gerecht würden (Heimböckel/Weinberg 2017). Die bisher fast vollständige Ignorierung dieser Interkulturalität in der Kafka-Forschung lässt die Beschäftigung mit ihr zum Desiderat werden. Allerdings ist damit werkanalytisch in keiner Weise insinuiert, Kafkas Schreiben sei eigentlich eines über Prag gewesen. Vielmehr ist ja richtig, dass erstaunlich wenig „an direkten Bezügen zum Zeitgeschehen im Werk Kafkas auf den ersten Blick entdeckt werden kann.“ Dies heißt aber wiederum nicht, dass das, was Kafka in seinen Texten in der ihm üblichen Weise sozusagen ins Bodenlose reflektiert, nicht in engem Zusammenhang mit der spezifischen Prager und böhmischen Interkulturalität steht. Da Kafka keinesfalls über Prag schreibt,8 sind somit vielmehr tiefergreifende Auseinandersetzungen mit 8  In seiner Studie Divided City: Franz Kafka’s Readings of Prague weist Marek Nekula einesteils auf Kafkas Aussage hin, dass sich sein Leben in einem kleinen Kreis in der Prager Innenstadt abgespielt habe. Andererseits zitiert er sein Statement, dass Prag nicht loslasse: „An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen.“ (KKABr 1: 17). Beides ist oft zitiert worden, doch Nekula sieht erstmals einen Zusammenhang, indem er „Vyšehrad with the Czech/Slavonic pantheon Slavín“ auf der rechten und „Hradčany with the Emperors’s Castle“ auf der linken Moldau-Seite gerade jenen ‚kleinen Kreis‘ einschließen sieht, in dem Kafka sich gefangen sah. Die beiden verhielten sich zueinander wie Scylla und Charybdis, denen man ebenso wenig entkommen könne wie „the German-Czech battle over language with its monolingual ideology“ (Nekula 2016: 211). Da er zuvor auch auf den Turmbau zu Babel (im Stadtwappen) und den Text Beim Bau der chinesischen Mauer eingegangen war, kommentiert Nekula nun: „So it is that, in those of Kafka’s literary texts that take up the thread of contemporary public discourse, the small circle [...] is confronted with a space and a world divided by the Great Wall of China, the Bable linguistic confusion, and the Scylla and Charybdis of Czech and German nationalism represented by (inter alia) the opposing icons of Vyšehrad and Prague Castle [...]. In doing so he realigns the axis of Czech-German polarity, generalizing it into myth and thus lending his local ‚Prague‘ stories universal validity.“ (Nekula 2016: 215) Das bietet tatsächlich einen anderen Zugang

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den Grundkonstanten interkultureller Konstellationen zu erwarten, die aber dann immerhin auch wieder für die Prager Verhältnisse aussagekräftig sind. Dies im Detail nachzuweisen, führt auch zu präzisen Diagnosen zum grundlegenden Zusammenhang des Lebens und Werks von Franz Kafka mit Prag sowie zu einer Form der Lektüre Kafkascher Texte, die die immer noch die Kafka-Forschung dominierenden Allegoresen zugunsten ‚offenerer‘ Deutungen überwinden würde.

4. Zu den Beiträgen Die Beiträge widmen sich zunächst dem kulturhistorischen Kontext mit den spezifischen Formen kultureller Schnittstellen, Mehrsprachigkeit und Kreativität, aber auch Krisen und Konflikten, in die auch Kafka sowie sein Werk einzuordnen sind (Moritz Csáky: Die zentraleuropäische Stadt um 1900. Pluriethnizität, Plurikulturalität und Mehrsprachigkeit) bzw. der Frage modernen Erzählens (Manfred Engel: Kafka im Kontext modernen Erzählens). Damit wird nicht nur der engere lebensweltliche Kontext überschritten, sondern gewissermaßen ein Gegenpol zu einer Regionalisierung Kafkas konzipiert. Den jüdischen Kontexten und Einflüssen widmen sich die drei folgenden Beiträge. Karl Grözinger (Das Denken und Schreiben Kafkas zwischen den Kulturen) erkennt hinter den offenbar genuin deutschen Texten eine mächtige jüdische Folie, wobei der Transformationsprozess untersucht wird, der aus jüdischem Traditionsgut ‚deutschsprachige Literatur‘ machte, um auf diese Weise Interkulturalität als Motor für den Schreibprozess deutlich werden zu lassen. Dem Einfluss Nathan Birnbaums auf Kafka widmet sich Mark Gelber (Amerikanismus, Jiddisch, Judentum und Interkulturalität: Nathan Birnbaum und Franz Kafka), der Birnbaums Amerikanismus-Konzept aus den Briefen aus Amerika (1908) und dem Essay Der Amerikanismus und die Juden (1909) auf Kafkas Verschollenen überträgt. Deutlich wird dabei ein amerikanisch-jiddisch-jüdischer ‚Austausch‘ zwischen Birnbaum und Kafka. Ausgehend von den Auseinandersetzungen um Max Brods Nachlass setzt sich Scott Spector (Unbestimmter Wohnsitz: Heimat und Erbe bei Max Brod und Franz Kafka) mit Vorstellungen von Heimat auseinander und damit der Frage nach territorialer Selbstverortung bei Brod und Kafka. zu Kafkas Texten: Sie müssen nicht von Prag sprechen, um doch viel mit Prag zu tun zu haben, etwa seine spezifische, auch sprachliche Interkulturalität zu reflektieren.

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Mit einer provokativen These folgt Jörg Krappmann (Der Sudetendeutsche Franz Kafka. Aus dem Steinbruch der frühen Kafkarezeption) frühen literaturgeschichtlichen Einordnungen. Hierbei greift er auf die Arbeiten von Herbert Cysarz und Josef Mühlberger zurück, mit deren Hilfe ein alternatives Narrativ zur sogenannten ‚Prager deutschen Literatur‘ konzipiert wird. Anthologien vermitteln einen Überblick über Autoren oder literarische Richtungen, sie dokumentieren eine literarische Epoche oder Gattung, setzen aber auch motivisch-thematische Schwerpunkte und besitzen literaturpolitische Ambitionen. Im Kontext sich formierender (national)literarischer Bewegungen kommt ihnen häufig eine integrative Funktion zu, mit deren Hilfe eine Bestandsaufnahme des Eigenen und eine Abgrenzung vom Fremden intendiert ist. Anthologien können aber auch einer Perspektive des Kulturtransfers bzw. der Vermittlung zwischen den Kulturen verpflichtet sein. Unter diesen Aspekten untersucht Hans Dieter Zimmermann (Sprossende Saat. Eine Fallstudie zu ‚böhmischen‘ Anthologien) eine Anthologie deutsch-böhmischer Dichter aus dem Jahr 1911. Den habsburgischen Einflüssen widmet sich Oliver Jahraus (Kafkas Habsburg zwischen Bürokratie und Mythos), der die bestimmenden kulturellen Mechanismen, insbesondere im Spannungsfeld von Vielvölkerstaat und imperialer Selbstdarstellung untersucht, um auf diese Weise interkulturelle Orientierung und hegemonialen Kolonialismus in Kafkas Texten – nicht zuletzt mit Bezug auf eine jüdische Identitätsstiftung – zu untersuchen. Es geht dabei nicht um die Frage, inwiefern man Kafkas Werk noch unter einen HabsburgerMythos, wie ihn Claudio Magris beschrieben hat, subsumieren kann. Vielmehr geht es darum, Mechanismen der Diffusion sozialer Ordnungen, der (De)Legitimation von Herrschaft aufzudecken, Motive und Strukturen einer Kultur (bzw. Verhaltenslehre) der Kälte, von (sozialen oder politischen) Verlusterfahrungen und den entsprechenden Kompensationsstrategien, die das Ende des Habsburgerreiches schon vorwegnehmen, zu rekonstruieren und den spezifischen Formen ihrer literarischen Umsetzung nachzugehen. Hieran knüpft Steffen Höhne (Das ‚babylonische‘ Habsburg. Ideengeschichtliche Traditionen bei Kafka und das Problem des Universalismus) an, der sich mit den vor der Folie des untergehenden Habsburgerreiches entstandenen Texten des China-Komplexes sowie dem Stadtwappen befasst und ausgehend von Kafkas lebensweltlichen, aber auch politischen Erfahrungen in Prag Fragen der Steuerung von (ethnischer) Vielfalt sowie der Konzeptualisierung des Fremden untersucht. Diese Spur verfolgt Clemens Dirmhirn (Spuren interkultureller Begegnungen in Kafkas vergleichender Völkergeschichte. Zeitgenössischer China-Diskurs in der Zeitschrift ‚Die Aktion‘) weiter. Ausgehend von einschlägigen China-Texten zu taoisti-

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schen Utopievorstellungen von Herrschaftslosigkeit, die in der Aktion diskutiert wurden, untersucht Dirmhirn Übertragungen auf Kafkas Werk, in dem Topoi wie der gestörte Informationsfluss zwischen Zentrum und Peripherie, die Schwäche der Vorstellungskraft des Volkes sowie die schwindende Herrschaftslegitimation ausgestaltet werden. Untersucht wird die spezifisch literarische Art und Weise, in der Kafka Momente des Kulturkontakts reflektiert und diese in seine China-Erzählungen integriert. Einen Perspektivwechsel nimmt dann Achim Küpper vor (Der Zirkus als interkulturelles und poetologisches Modell bei Kafka. Von akrobatischen Schreibübungen, einer Artistik in der Schwebe und sechs Variationen über die ‚Erziehung‘). In Kafkas Texten tauchen vielfach Elemente aus der Zirkuswelt auf. Ihre Bewohner bevölkern Kafkas Träume wie seine schriftstellerische Imagination: Variétéartisten, Akrobaten und die fahrenden Völker der Manege werden zu wiederkehrenden Besuchern seiner autobiografischen und literarischen Notizen. Besonders prominent begegnen sie den Lesern beispielsweise in dem Text Auf der Galerie. Der Beitrag liest diese Momente im Kontext einer (inter-) kulturellen Fragestellung der Austauschprozesse, Hybriditäten und Zirkulationen, gerade auch an den Rändern einer ‚kleinen Literatur‘ des jüdischen Pragerdeutschen. Er fragt nach der Funktion der Zirkuswelt als einer kulturellen und poetologischen Figur in Kafkas Schreiben. Mit ihrer konstitutiven Mischung heterogener Darbietungs- und Kunstformen lässt sich die Zirkuswelt als ein Grundmodell artistischer Diversität verstehen. Mit ihrem kulturell gemischten, unbürgerlichen, im Wortsinn ‚bohemen‘ Personal lässt sie sich zugleich als ein Paradigma gesellschaftlicher und soziokultureller Unsesshaftigkeit, Heterogenität und subalterner Differenz betrachten. Mit seiner Wanderbewegung dringt der Zirkus in die grammatische und sprachliche Ordnung von Kafkas prozessualem Schreiben ein. In seiner grundsätzlichen Kreisläufigkeit wird der Zirkus schließlich auch zu einer strukturbildenden geometrischen Figur der Texte. Wo die Zirkulation zur Zirkularität wird, ist im Schreiben und in der Welt als Zirkus allerdings eine paradoxe Figur angelegt: So sehr sich die Geometrie der Schrift auch runden mag, so ist doch die Hoffnung auf einen Abschluss des Prozesses wie auf eine Aufhebung gesellschaftlicher Differenzen letzten Endes ausgeschlossen, weil das Schreiben in seinem Kreislauf nicht zur Ruhe kommt und weil sich die gesellschaftliche Distanz und kulturelle Differenz mit allen Zirkulationen nicht verringern. Bettine Menkes Beitrag Zerstreuungsbewegungen. Entortendes Schreiben gilt Kafkas Text Das Stadtwappen, wobei sowohl die Einheit des Textes als auch sein Titel von Max Brod stammen. In einer dekonstruktiven Lektüre wird herausgearbeitet, dass während die Babylon-Geschichte im Alten Testament von

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der Vervielfältigung der Sprachen als Verwirrung eines vermeintlich einen Eigenen durch die göttliche Strafe handle, Kafka die narrative Relation von Einheit und Vielheit als Paradoxie zeige. Dies wird in der detailgenauen Beobachtung Kafkascher Wortfügungen in dieser Erzählung vertieft und im Ausblick auf Das Gespräch mit dem Beter, in dem die „Pappel in den Feldern“ mit dem „‚Turm von Babel‘“ (KKAD 389) zusammengebracht wird, aber auch in einem Blick auf Finnegans Wake von James Joyce weitergeführt. Den interkulturellen Erfahrungen Karl Rossmanns nähert sich Dieter Heimböckel (Sinngemäße Verschiebung. Franz Kafkas Roman ‚Der Verschollene‘ und das ‚Projekt der Interkulturalität‘), der den Roman als einen Referenztext für das ,Projekt der Interkulturalität‘ liest. Die Fremdheitserfahrung im Roman wird dabei mit der Fremdheitserfahrung des Protagonisten in der Beschreibung eines Kampfes in Beziehung gesetzt. In beiden Texten verschwimmen die Grenzen zwischen Heim und Welt. Kafkas Verschollener wird schließlich als Kontrafaktur auf den Mythos von Wissen, d.h. das angelesene Wissen über Amerika, gelesen. Interkulturelle Lesarten zu einzelnen Erzählungen bieten Manfred Weinberg (Zu Franz Kafkas Erzählung ‚Schakale und Araber‘) und Irina Wutsdorff (Beschreibung eines Kampfes? Zu Spuren des Interkulturellen in Kafkas [sprach-]reflexivem Schreiben). Weinberg befasst sich mit Begründungsmustern von sozialer Zugehörigkeit und Entgegensetzung nebst der Frage nach der Stellung des Einzelnen in der Gruppe, womit die zentrale Frage aufgeworfen wird, zu welcher Gruppe man gehört. Irina Wutsdorff geht von Kafkas Modernereflektion aus und analysiert Bezüge zum Prager Kontext, aus dem im Rahmen der Erzählung Blicke auf die symbolische Codierung des Stadtraums geworfen werden. Die Darstellung des Wankens in Kafkas frühem Text wird schlüssig aus den lebensweltlichen Erfahrungen mit Prag erläutert, ein Ort, der zu Zeiten Kafkas sowohl im Hinblick auf die Konflikte als auch die Potentiale des Interkulturellen betrachtet werden kann. Marek Nekula (Hybridität von Kafkas Odradek) erkennt am Beispiel der Erzählung Die Sorge des Hausvaters Phänomene sprachlicher Hybridität und antisemitische Rhetorik und deren Verbindung zum zeitgenössischen Fremdheitsdiskurs. Dabei stehen sprachliche Konkretisierungen von Odradek im Zentrum. Sven Lüder (Büchner – Kafka – Celan: Gespräche im Gebirge. Von der Begegnung mit dem Fremden zur Ethik der Lektüre) verfolgt in Abgrenzung von einem weiten (Inter-)Kulturbegriff einen interaktionistischen Ansatz, nach dem Identität und Alterität in derselben Bewegung kulturell hergestellt werden, was eine Ent-Substantialisierung der Differenz zwischen dem Eigenen und dem

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Fremden verlangt, nicht aber dessen Auflösung. Anhand von Büchners Lenz, Kafkas Ausflug ins Gebirge und Celans Gespräch im Gebirg folgt Lüder der intertextuellen Referenz von ‚niemand‘. In und zwischen den drei Gebirgstexten lässt sich einerseits eine interkulturelle Konstellation diagnostizieren, anderseits erfolgt eine Konzeptualisierung dieser Konstellation aus den Mitteln der Texte. Alice Stašková schließlich untersucht Variationen des ‚Niemand‘-Stoffes bei Kafka (Der Ausflug ins Gebirge zwischen Philologie und Mythologie. Mit einer Anmerkung zu ‚Odradek‘), wobei das spezifische Ineinander von Deutsch und Tschechisch das Sprachspiel des Textes begründen. Die Verfasserin greift dabei nicht nur auf die Odyssee Homers zurück, sondern auch auf den tschechischen Nemo-Stoff (den Hausgesinde-Niemand). Ausgehend von den Sprachrätseln Franz Brentanos erfolgt zudem eine Analyse der für Kafka spezifischen Sprachmischung im Text. Mit dem Band wird somit ein interdisziplinärer Versuch zur Bestimmung von Phänomenen und Strukturen des Interkulturellen bei Kafka und in Kafkas Werk unternommen, mit dem die Herausgeber eine Diskussion um die Rolle von Interkulturalität, paradigmatisch im Kontext der Prager Moderne, eröffnen möchten.

Literatur Becher, Peter/Höhne, Steffen/Nekula, Marek (Hgg.) (2012): Kafka und Prag. Literatur-, kultur-, sozial- und sprachhistorische Kontexte (= Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, 3). Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Becher, Peter/Höhne, Steffen/Krappmann, Jörg/Weinberg, Manfred (Hgg.) (2017): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart: Metzler. Brod, Max (1918): Ein menschlich-politisches Bekenntnis. Juden, Deutsche, Tschechen. – In: Die neue Rundschau 29/2, 1580-1593. Brod, Max (1966): Der Prager Kreis. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer. Call for Papers Kafka interkulturell (2009): [25.8.2017]. Čapková, Kateřina (2005): Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918–1938 [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen].

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Steffen Höhne, Manfred Weinberg

Welsch, Wolfgang (2012): Was ist eigentlich Transkulturalität? – In: Kimmich, Dorothee/Schahadat, Schamma (Hgg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Bielefeld: transcript, 25-40. Žemlička, Josef (2011): Prager Westhandel im Früh- und Hochmittelalter. – In: Holbach Rudolf/Pauly Michel (Hgg.), Städtische Wirtschaft im Mittelalter. Festschrift für Franz Irsigler zum 70. Geburtstag. Köln, Weimar: Böhlau, 1-14.

Texte von Kafka werden in der Regel nach der kritischen Ausgabe (= Schriften, Tagebücher, Briefe Kritische Ausgabe) im S. Fischer Verlag (Frankfurt/Main) mit ff. Siglen belegt : Franz Kafka (1980): Briefe 1902–1924. Franz Kafka (2004): Amtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner. KKABr 1 Franz Kafka (1999): Briefe 1900–1912. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. KKABr 2 Franz Kafka (1999): Briefe 1913–1914. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. KKABr 3 Franz Kafka (2005): Briefe 1914–1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. KKABr 4 Franz Kafka (2013): Briefe 1918–1920. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. KKAD Franz Kafka (1994): Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler, KKAD App. Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. KKAN I Franz Kafka (1993): Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. KKAN I App. von Malcolm Pasley. KKAN II Franz Kafka (1992): Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. KKAN II App. von Jost Schillemeit. KKAP Franz Kafka (1990): Der Proceß. Hrsg. von Malcolm Pasley. KKAP App. KKAS Franz Kafka (1982): Das Schloß. Hrsg. von Malcolm Pasley. KKAS App. KKAT Franz Kafka (1990): Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, KKAT Kom. Michael Müller und Malcolm Pasley. KKAT App. KKAV Franz Kafka (1983): Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit. KKAV App. Briefe KKAA

Moritz Csáky

Die zentraleuropäische Stadt um 1900. Pluriethnizität, Plurikulturalität und Mehrsprachigkeit1

1. Die Stadt in der Moderne In Europa ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine deutliche Zunahme der Bevölkerung in den Städten feststellbar. Wenn Wien um 1800 ca. 270.000 Einwohner hatte, und seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seinen ca. 400.000 Einwohnern bis zur Jahrhundertwende um 1900 auf mehr als 1,7 Millionen anwuchs und nach London, Paris und Berlin zu den vier größten Städten Europas zählte, verdankte sich dies nicht zuletzt jenen sozio-ökonomischen Transformationen, die infolge der Modernisierung, das heißt der Industrialisierung und Technisierung, die traditionale gesellschaftliche Struktur nachhaltig veränderten. Nicht nur die Eingemeindungen von Vorstädten und Vororten, vor allem die Sogwirkung, die die Städte auf jene Bevölkerungsschichten der umliegenden Region ausübten, die nach Arbeit suchten und in den Städten Beschäftigung zu finden hofften, ließ ihre Größe unverhältnismäßig rasch und überproportional anwachsen. Dazu kam noch der Anreiz, den zum Beispiel die städtischen Bildungsanstalten, Hochschulen und verschiedene Lehranstalten, auf jene ausübten, die sich eine höhere Bildung anzueignen suchten und daher in die Städte zogen, – ganz abgesehen von Handelsleuten oder Unternehmern, die in den Städten günstigere ökonomische und finanzielle Bedingungen vorfanden als am Lande. Was angesichts einer solchen Entwicklung von Bedeutung war, ist vor allem die Tatsache, dass sich durch diese Migrationen auch die Bevölkerungsstruktur der Städte nachhaltig veränderte, das heißt noch differenzierter wurde als zuvor. Eine solche vertikale soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die sich nicht zuletzt ebenfalls der Industrialisierung verdankte, die beispielsweise eine zunehmende Differenzierung der Arbeitsprozesse und der diesen zugeordneten Arbeitnehmer zur Folge hatte, wurde in den Städten Zentraleuropas vor allem durch eine 1  Ich folge und erweitere in diesem Beitrag Überlegungen, die ich bereits mehrfach ausgeführt beziehungsweise angedeutet habe (Csáky 2010, 2015, 2016a, 2016b).

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ethnisch-kulturelle horizontale Differenzierung der städtischen Gesellschaft noch zusätzlich potenziert, insofern nämlich, als nun Menschen unterschiedlicher ethnischer, sozio-kultureller und sprachlicher Zugehörigkeit sich hier ansiedelten und ihrerseits zur „Vielsprachigkeit“, das heißt zur sprachlichkulturellen Heterogenität der Städte beitrugen. Daraus erklären sich auch jene sozialen Konflikte, die für die moderne Stadt kennzeichnend sind. Es ist gerade die prinzipielle semiotische Vielsprachigkeit jeder Stadt, die sie zum Schauplatz vielfacher, unter anderen Umständen nicht möglicher semiotischer Kollisionen macht. Sie lässt verschiedene nationale, soziale und stilistische Codes und Texte aufeinandertreffen und fördert so Hybridisierungen, Umkodierungen und semiotische Übersetzungen. (Lotman 2010: 276)

Es ist also diese „Vielsprachigkeit“ im wörtlichen und übertragenen Sinne die Ursache von sich gegenseitig konkurrierenden „Kollisionen“, das heißt gerade auch von Verunsicherungen und Krisen, die die modernisierungsbedingte Fragmentiertheit des individuellen und kollektiven Bewusstseins noch verstärkte. Das hatte zur Folge, dass nicht nur die Zugewanderten, sondern auch die ursprünglich in der Stadt Ansässigen sich plötzlich in einer veränderten, neuen Umgebung vorfanden oder vorzufinden meinten und zunehmend als Fremde wahrnahmen. Schon Adalbert Stifter, selbst ein städtischer Immigrant, hat dieses Gefühl der Fremdheit in der Stadt an sich erfahren und unter anderem im Nachsommer (1857) beschrieben: Diese ungeheure Wildnis von Mauern und Dächern, dieses unermeßliche Gewimmel von Menschen, die sich alle fremd sind, und an einander vorbeieilen, die Unmöglichkeit, wenn ich einige Gassen weit gegangen war, mich zurecht zu finden, und die Notwendigkeit, wenn ich nach Hause wollte, mich Schritt für Schritt durchfragen zu müssen, wirkte sehr niederdrückend auf mich, der ich bisher immer in einer Familie gelebt hatte, und stets an Orten gewesen war, in denen ich alle Häuser und Menschen kannte. (Stifter 2005: 623)

Wenige Jahre zuvor war Stifter bereits in einem Beitrag für den Sammelband Wien und die Wiener auf dieses Phänomen eingegangen und hat dabei noch auf einen anderen Aspekt als eine Folge solcher Fremdheitserfahrungen aufmerksam gemacht, nämlich auf die vielfachen „Reizungen“, denen die Bewohner einer Stadt ausgesetzt wären: Die Freude des Landmannes dreht sich in einem einförmigen Kreise, und dies um so mehr, je mehr er im Walde und von größeren Städten entfernt lebt. In der Stadt, und insbesondere in der Hauptstadt, drängen sich die Reizungen und die Lockungen, namentlich da ein großer Teil der Bewohner sich davon nährt, andere zu reizen und zu locken. Das Beispiel, die Hoffart tun das Ihrige dazu – und so rennt und stürzt sich das in den Genuß, um von dem Leben, als sei es nur eine Minute, ja gewiß sein Teil wegzubekommen. Diese Sucht pflanzt sich bis zu den untersten Klassen fort […]. (Stifter 1968a: 433)

Die zentraleuropäische Stadt um 1900

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„Gesundheitsverderbend“ nennt Stifter daher das Leben in den Städten (Stifter 2005: 485). Ähnlich argumentierte auch der ursprünglich aus Ungarn stammende Max Nordau, Pariser Korrespondent der Neuen Freien Presse und einer der namhaftesten Kritiker der Moderne, der selbst die Kunst und Literatur seiner Zeit, der Moderne, als eine bloße „Emanation“ eines nervösen Krankheitssymptoms maßregelte und vor allem den „Aufenthalt in der Großstadt“ als eine der Voraussetzungen für die Gefährdung der Gesundheit ansah: Der Bewohner der Großstadt, selbst der reichste, der vom ausbündigsten Luxus umgebene, ist fortwährend ungünstigsten Einflüssen ausgesetzt, die seine Lebenskraft weit über das unvermeidliche Maß hinaus mindern. Er athmet eine mit den Ergebnissen des Stoffwechsels geschwängerte Luft, er ißt welke, verunreinigte, gefälschte Speisen, er befindet sich in einem Zustande beständiger Nervenerregung und man kann ihn ohne Zwang dem Bewohner einer Sumpfgegend gleichstellen. (Nordau 1893: 65)

Unter anderem hat etwas später Georg Simmel die Stifter’sche und Nordau’sche Charakterisierung der Stadt in seinem Beitrag Die Großstädte und das Geistesleben gleichsam aufgegriffen und von einem soziologischen Gesichtspunkt aus neu und analytisch zu vertiefen versucht. Nach Simmel würden sich bei den Menschen unterschiedliche, charakteristische negative und positive Eigenschaften ausbilden, die eine Folge des Aufenthalts in einer modernen Großstadt wären. Welche sind diese Eigenschaften, die, in einem übertragenen Sinne, auch für den Menschen der Moderne ganz allgemein kennzeichnend sind? Es ist zunächst die Nervosität, eine Steigerung des Nervenlebens, denn gerade „die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen“ wären für einen Stadtbewohner prägend (Simmel 1995: 117). Daraus folge eine abgesonderte Blasiertheit, das heißt die Reduktion auf die eigene Individualität, die zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammenhängenden Nervenreize [ist], aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen Intellektualität hervorzugehen schien; […]. Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge […]. Dieser Blasiertheit entspreche eine gewisse Reserviertheit des Großstädters, das heißt, „eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung. (Simmel 1995: 123)

Dieser mehrheitlich negativen Bilanz gegenüber betont Simmel jedoch auch positive Einflüsse, die sich dem Leben in der Stadt verdanken würden. Als erstes nennt er hier die individuelle Freiheit. Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt […]. Es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit,

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Moritz Csáky wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl […]. (Simmel 1995: 126)

Mit dieser individuellen Freiheit, die zugleich eine Vereinsamung bedeute, korrespondiere auch die „persönliche Sonderart“ des Städters, die auch darin begründet wäre, dass die Stadt ein „Sitz der höchsten wirtschaftlichen Arbeitsteilung“ ist (Simmel 1995: 128). Nicht mehr „der ‚allgemeine Mensch‘ in jedem Einzelnen, sondern gerade qualitative Einzigkeit und Unverwechselbarkeit sind jetzt Träger seines Wertes.“ (Simmel 1995: 130f.) Schließlich ermögliche die Großstadt die Herausbildung eines Kosmopolitismus, denn die „Quantität des Lebens“ setze sich sehr unmittelbar in Qualität und Charakter um. […] Für die Großstadt ist dies entscheidend, daß ihr Innenleben sich in Wellenzügen über einen weiten nationalen und internationalen Bezirk erstreckt. […] Das bedeutsamste Wesen der Großstadt liegt in dieser funktionalen Größe jenseits ihrer physischen Grenzen […]. (Simmel 1995: 126f.)

In der Tat trifft die Analyse Simmels, die eine Analyse der Stadt der Moderne ist, durchaus auch auf die Städte der zentraleuropäischen Region zu. Robert Musil, der ähnlich wie Stifter vor allem die Großstadt um 1900 vor Augen hatte, bescheinigte im Eingangskapitel seines Mann ohne Eigenschaften, Wien würde „aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander [bestehen]“, es verharre in einem unübersehbaren, chaotischen Zustand, vergleichbar „im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.“ (Musil 1983: 10) Für Musil ist ein solcher urbaner Zustand jene sozial-kulturelle Rahmung, in der unter anderem sein Protagonist Ulrich sich vorfindet, die auf diesen einwirkt, seine Handlungen zumindest mitbestimmt und zu einer der Ursachen seiner ‚Eigenschaftslosigkeit‘, das heißt seiner ‚Charakterlosigkeit‘ werden sollte. Auch wenn ‚Kakanien‘ immer wieder als eine plurikulturelle, als eine mehrsprachige und folglich als eine problematische Heterotopie, das heißt als ein Spiegelbild der realen k. und k. Monarchie aufscheint, geht Musil auf die plurilinguale und plurikulturelle Verfasstheit der Städte kaum ein, vielleicht mit Ausnahme von Andeutungen in der Beschreibung von Brünn und vor allem von Triest; insbesondere fällt auf, dass er die kulturell und sprachlich hybride Situation der Haupt- und Residenzstadt Wien überhaupt nicht erwähnt.

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2. Die zentraleuropäische Stadt als ein Mikrokosmos des Makrokosmos der Region In der Tat wuchsen die Städte Zentraleuropas im Verlaufe des 19. Jahrhunderts vor allem durch Binnenmigrationen an, durch den Zuzug von Menschen aus der umliegenden Region, konkret: aus dem sprachlich und kulturell heterogenen Vielvölkerstaat. Dies hatte zur Folge, dass sich diese Pluralität und Heterogenität der Region in der Dichte des urbanen Milieus widerfand und hier auch besonders deutlich wahrgenommen und problematisiert wurde. Die Städte wurden mehr oder weniger zu einem Reflex der mehrsprachigen Gesamtregion. Diese konnte daher bereits das berühmte Staats-Lexikon von Rotteck und Welcker aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dem Beitrag über die „östreichische“ Monarchie als ein „Europa im Kleinen“ bezeichnen: Die Stellung und der Umfang der mehreren Hauptnationen der Monarchie hat auf den Gedanken geführt, diese als ein Europa im Kleinen zu betrachten und, neben einem europäischen, ein besonderes östreichisches Gleichgewicht vorauszusetzen. (Rotteck/Welcker 1841: 143)

Um sich von der Monarchie als einem „Europa im Kleinen“ ein Bild zu machen, sei unter anderem auf die reale Sprachenvielfalt des habsburgischen Empire verwiesen. Von den ca. 52,7 Millionen Einwohnern des Gesamtstaates im Jahre 1900 entfielen entsprechend der mit der Volkszählung durchgeführten Sprachenerhebung 23,36 Prozent auf Deutsch (12 Millionen), 19,57 auf Ungarisch (10 Millionen) und 44,79 Prozent auf „Slawisch“ (ca. 24 Millionen), das heißt auf solche, die eine der slawischen Sprachen als ihre Umgangs- beziehungsweise Muttersprache angaben. Dazu kam noch Rumänisch (ca. 6 Prozent), Italienisch (ca. 1,7 Prozent) und Sonstige (ca. 1,6 Prozent) (Urbanitsch 1980: 38, Tab. 1).2 1910 bekannten sich von den ca. 31 Millionen Einwohnern Zisleithaniens, der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie, nur 35,78 Prozent zu Deutsch und 60,46 Prozent zu einer der slawischen Umgangssprachen, die sich auf Tschechen/Mährer/Slowaken (23,24 Prozent), Polen (16,59 Prozent), Ruthenen/Ukrainer (13,21 Prozent), Slowenen (4,65 Prozent) und Kroaten (2,77 Prozent) verteilten.3 Zu Recht konnte daher die Monarchie schon allein aufgrund ihrer dreizehn anerkannten Sprachen auch als ein „Staat der Contraste“ (Umlauft 1876: 4) bezeichnet werden. Es war 2  Über die Volkszählung von 1910 vgl. [20.07.2017]. 3 Vgl. dazu: [24.07.2017].

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diese endogene Heterogenität der Region, das heißt, die hier schon seit Jahrhunderten vorhandene sprachlich-kulturelle Pluralität, die sich migrationsbedingt zunehmend in der Dichte des städtischen Raumes bündelte. Dabei handelte es sich freilich nicht nur um ein Nebeneinander von unterschiedlichen Sprachen, es handelte sich nicht um klare Abgrenzungen, die die unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Gemeinschaften trennten, sondern es waren in der Realität fließende Grenzen, die gleichermaßen auch verbanden, die sich immer wieder als durchlässig erwiesen. Von solchen ambivalenten Grenzsituationen, die trennten und zugleich verbanden, waren vor allem zahlreiche Städte der Region betroffen. „Da jedoch die genannten Völker nicht durchweg scharf abgegrenzte, abgeschlossene Gebiete bewohnen“, meinte der Geograph Friedrich Umlauft, „so ist in solchen Grenzbezirken häufig eine eigenthümlich gemischte Bevölkerung zu finden.“ (Umlauft 1876: 2) Von einem kultursemiotischen Gesichtspunkt aus gesehen haben nach Jurij Lotman solche Grenzsituationen innerhalb eines kulturellen Kontextes, das heißt innerhalb einer kulturellen Semiosphäre, eine ganz wesentliche Funktion. Wenn Umlauft Grenzsituationen als ‚gemischt‘ charakterisiert, thematisiert Lotman diese als Übersetzungsmechanismen, die zu kontinuierlichen Wechselwirkungen, zugleich jedoch auch zu Kollisionen beitragen: Die Brennpunkte der semiotisierenden Prozesse befinden sich aber an den Grenzen der Semiosphäre. Der Begriff der Grenze ist ambivalent: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache ‚unserer eigenen‘ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das ‚Äußere‘ zum ‚Inneren‘ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren. (Lotman 2010: 182; Herv. i. O.)

Aus einer postkolonialen theoretischen Perspektive lässt sich eine solche Grenze im Sinne Homi Bhabhas auch als jener ‚Dritte Raum‘ begreifen, in welchem durch kontinuierliche Translationsprozesse Kultur andauernd, performativ und dynamisch generiert wird, die ständig neue, hybride Konfigurationen hervorruft und somit die Authentizität von Identität im Sinne von deren Einbettung in ein holistisches kulturelles System prinzipiell in Frage stellt: Die Einführung dieses Raumes stellt unsere Auffassung von der historischen Identität von Kultur als einer homogenisierenden, vereinheitlichenden Kraft, die aus der originären Vergangenheit ihre Authentizität bezieht und in der nationalen Tradition des Volkes am Leben gehalten wurde, sehr zu Recht in Frage. […] Erst wenn wir verstehen, daß sämtliche kulturellen Aussagen und Systeme in diesem widersprüchlichen und ambivalenten Äußerungsraum konstruiert werden, begreifen wir allmählich, weshalb hierarchische Ansprüche

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auf die inhärente Ursprünglichkeit oder ‚Reinheit‘ von Kulturen unhaltbar sind, und zwar schon bevor wir auf empirisch-historische Beispiele zurückgegriffen haben, die ihre Hybridität demonstrieren. (Bhabha 2011: 56f.)

3. Das ‚vielsprachige‘ Wien Diese ‚eigenthümlich gemischte Bevölkerung‘ (Friedrich Umlauft) der Stadt symbolisierte und repräsentierte in gewisser Weise einen hybriden ‚Dritten Raum‘ (Homi Bhabha) und eine heterogene, dichte kulturelle Semiosphäre, die nicht nur von unzähligen Grenzen durchzogen war, sie war im Sinne von Jurij Lotman selbst eine beziehungsweise die mehrsprachige Grenze, an der kontinuierlich sowohl Translationen stattfanden als auch Abwehr- und Ausgrenzungsmechanismen zur Geltung kamen. Eine solche innere Konditionierung der Stadt repräsentierte sich in ihrer Vielsprachigkeit und wurde vor allem durch den vermehrten Zuzug von Menschen aus der vielsprachigen Region aufrechterhalten. Es gibt zahlreiche Beschreibungen, in denen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem Wien diese Vielsprachigkeit attestiert wird. Bei einer solchen Vielsprachigkeit handelte es sich neben einer in der Region vorhandenen endogenen auch um eine exogene Pluralität, das heißt nicht nur um regionale, sondern um gesamteuropäische Einflüsse beziehungsweise Zuwanderungen, die die innere strukturelle Differenziertheit der Stadt nachhaltig bestimmten und beeinflussten, die unter anderem an der unterschiedlichen Kleidung der städtischen Bewohner sichtbar wurde. Dem aus Oberfranken stammenden josephinischen Schriftsteller Johann Pezzl war eine solche Heterogenität Wiens besonders aufgefallen, er beschreibt diese mehrfach, freilich nicht ohne sich dabei gängiger nationaler Stereotype zu bedienen, bis hin zu einem in seiner Zeit wohl üblichen Antisemitismus, trotz des 1781/82 für die Juden erlassenen josephinischen Toleranzpatents: Ein schönes Schauspiel für die Augen gewährt hier die Mannigfaltigkeit der Nationalkleidungen aus verschiedenen Ländern. Die Stadt ist nicht in der einförmigen gewöhnlichen deutschen Tracht wie die meisten übrigen europäischen Städte. Ihr begegnet da häufig dem steif gerade einherschreitenden Ungarn mit dem pelzausgeschlagenen Dolman, den knapp anliegenden bis an die Knöchel reichenden Hosen und mächtig langem Zopf; dem rundköpfigen Polen mit seinem mönchischen Haarschnitt und fliegenden Ärmeln: beide Nationen sind von ihren Stiefeln unzertrennlich. Die Armenier, Walachen und Moldauer, mit halb orientalischer Garderobe, sind nicht selten. Die knebelbärtigen Raizen bewohnen

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Moritz Csáky eine ganze Stadt. Die Reichen in ihrer plumpen weiten Kleidung schmauchen truppenweise in den Kaffeehäusern an der Leopoldsbrücke ihre langröhrigen Pfeifen. Und die bärtigen Muselmänner mit dem breiten Mordmesser im Gürtel traben schwerfällig in gelben Pantoffeln durch die kotige Straße. Zum Vogelverscheuchen repräsentieren sich die ganz schwarz eingehüllten polnischen Juden mit verwachsenem Gesicht und klumpenweise zusammengeknüpften Haaren: eine lebendige Satire auf ihre eingebildete Auserwähltheit. Böhmische Bauern endlich mit Kopernizen, ungarische und siebenbürgische Fuhrleute mit mantelformigen Schafspelzen und Kroaten mit schwarzen Kübeln auf den Köpfen machen den Beschluß und verursachen im allgemeinen Gewimmel den unterhaltenden Abstich. (Pezzl 1923: 21f.)

Neben der Visualisierung der Vielfalt durch die unterschiedliche Kleidung ist es vor allem die Mehrsprachigkeit, die Pezzl als eine ethnisch-nationale Differenzierung wahrnimmt und seiner Phänomenologie der Reichshaupt- und Residenzstadt hinzufügt: Was die innere unmerkbarere Verschiedenheit der Bewohner Wiens betrifft, in dieser Rücksicht ist es wahr, daß keine Familie ihre einheimische Abstammung mehr bis in die dritte Generation hinaufführen kann. Ungarn, Böhmen, Mährer, Siebenbürger, Steiermärker, Tiroler, Niederländer, Italiener, Franzosen, Bayern, Schwaben, Sachsen, Schlesier, Rheinländer, Schweizer, Westfäler, Lothringer usw. usw. wandern unaufhörlich in Menge nach Wien, suchen dort ihr Glück, finden es zum Teil und naturalisieren sich. Die originalen Wiener sind verschwunden. Eben diese Mischung so vieler Nationen erzeugt hier jene unendliche Sprachenverwirrung, die Wien vor allen europäischen Plätzen auszeichnet. (Pezzl 1923: 22)

Diese Beobachtungen Pezzls entsprechen durchaus jenen von zahlreichen seiner Zeitgenossen. Die Einwohner Wiens, bemerkte zum Beispiel ein Reiseführer aus dem Jahre 1789, sind vorzüglich Deutsche, Ungarn, Böhmen, Italiäner, Niederländer, Raizen, Griechen, Juden; auch Franzosen, Polen, Türken. – Am häufigsten wird deutsch, italiänisch und französisch; auch böhmisch, ungarisch, slavonisch, und neugriechisch gesprochen. (Reisebuch 1789: 4)

Eine Feststellung, die wenige Jahrzehnte später kein Geringerer als Leopold von Ranke vor allem im Hinblick auf gesamteuropäische (exogene) Einflüsse, die in Wien zu beobachten wären, bestätigen sollte: „Neben seinem deutschen Grundbestandtheil“, meint Ranke, „hat Wien noch ein europäisches Element: die mannigfaltigsten Sitten und Sprachen begegnen sich von den obersten bis in die untersten Stände, und namentlich tritt Italien in lebendiger Repräsentation auf.“ (Ranke 1874: IX) Diese besondere Sprachenvielfalt Wiens konnte man auch an den unterschiedlichsten Weisen, wie Gottesdienst gefeiert wurde, erkennen. „In wieviel Sprachen wird in Wien der Gottesdienst gehalten?“, fragt daher ein Zeitungsbeitrag aus dem Jahre 1846, um wie Pezzl aus der

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Verschiedenheit der Kleidung nun aus der Unterschiedlichkeit von Gottesdiensten auf die Vielsprachigkeit und Differenziertheit der Stadt zu schließen: Außer in deutscher und lateinischer noch in folgenden: Italienisch bei den Minoriten, böhmisch bei Mariastiegen, magyarisch in der Maltheserkapelle und bei den Kapuzinern am Neuen Markte, polnisch bei St. Ruprecht, französisch in der St. Annakapelle, armenisch in der Kirche der Armenier am Platzl; dann abwechselnd rusinisch, illyrisch und wallachisch in der Kirche der unirten Griechen bei St. Barbara. Ferner altslawisch, neugriechisch und russisch in den Kapellen der nichtunirten Griechen, hebräisch in den Synagogen. Die gottesdienstlichen Sprachen in den Gesandtschaftskapellen sind hierbei nicht eingerechnet. (Marinelli-König 2013: 30f.)

„Die Hauptstadt“, meint Robert Musil über das Wien der Jahrhundertwende um 1900, „war um einiges kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind.“ (Musil 1983: 33). Wie setzte sich nun diese Großstadt der Moderne bevölkerungsmäßig im Konkreten zusammen? (Csáky 2010: 129-271) Die Haupt- und Residenzstadt Wien zählte in ihrer jeweiligen Begrenzung im Jahre 1869 607.515 Einwohner (Umlauft 1876: 578), zwanzig Jahre später (1890) ungefähr 1,4 Millionen, 1900 bereits über 1,7 Millionen und im Jahre 1910 über 2 Millionen. Die Verdreifachung der Bevölkerung innerhalb einer Generation verdankte sich freilich weder einem natürlichen Bevölkerungszuwachs noch den Eingemeindungen von Vororten, vielmehr war die Binnenmigration, die Zuwanderung aus der sprachlich heterogenen Monarchie (Region) maßgeblich daran beteiligt, was zur Folge hatte, dass im Jahre 1880 von den Bewohnern nur 38 Prozent, und zwanzig Jahre später (1900) nur 46 Prozent in Wien geboren waren. Diese Situation spiegelte sich bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei der Erhebung der Bevölkerung des ersten Bezirkes wider, in dem 1856 nur 47,4 Prozent „Einheimische“ lebten (Lichtenberger 1977: 167-173). Betrug in Paris im Jahre 1900 der Anteil an Zugewanderten, offensichtlich an nichtfranzösischsprachigen „Fremden“, nur 6,3 Prozent (Perrot 1992: 17), machte dieser also in Wien zur selben Zeit mehr als 50 Prozent aus, von dem ein Großteil ursprünglich nichtdeutschsprachig war. Es genügte freilich nicht, in Wien geboren zu sein, vielmehr wurden auch jene, die in Wien kein offizielles Heimatrecht besaßen, zu den ‚Fremden‘ gezählt. Das Heimatrecht, durch das ein ungestörter Aufenthalt und die Versorgung im Alter in der Stadt garantiert wurde, war freilich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer restriktiver gehandhabt worden, so dass im Jahre 1900 in Wien, wie bereits erwähnt, zwar 46,4 Prozent hier geboren waren, allerdings nur 38 Prozent hier ein Heimatrecht besaßen, also 62 Prozent der Wiener Bevölkerung als Fremde angesehen werden konnten (Hahn 2005: 23; Steidl 2015: 390-398). Unter diesen Frem-

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den befanden sich 411.037 Immigranten (der ersten Generation) aus Böhmen und Mähren, das sind 24,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Folgt man den Berechnungen von Michael John und Albert Lichtblau, stammten von diesen böhmischen Zuwanderern 44,1 Prozent aus rein tschechischsprachigen, 28,6 Prozent aus überwiegend tschechischsprachigen und nur 11,4 Prozent aus deutschsprachigen Gebieten Böhmens und Mährens. Vor allem die arbeitslose Landbevölkerung Böhmens und Mährens war es, die in die Städte drängte, in der Hoffnung, hier Beschäftigung zu finden. Folgt man nun dem Prinzip des Heimatrechts, von dem auch die zweite Generation betroffen sein konnte, waren im Jahre 1900 sogar 518.333 Bewohner Wiens (30,9 Prozent) nicht in Wien heimatberechtigt, sondern in einer der Gemeinden Böhmens oder Mährens. Zehn Jahre später, im Jahre 1910, waren 467.158 (23,0 Prozent) der Wiener Bevölkerung in Böhmen und Mähren geboren, von denen bei der in diesem Jahre durchgeführten Volkszählung erstaunlicher Weise nur 98.461 Tschechisch als ihre Umgangssprache angaben, offensichtlich weil sie fürchten mussten, sozialen und ökonomischen Repressionen ausgesetzt zu werden, falls sie nicht Deutsch als Umgangssprache angeben würden, denn: „Wer was werden hat wollen“, wie ein betagter Tscheche verriet, „hat müssen Deutsch reden.“ (John/Lichtblau 1990: 144) Wien war also um 1900 de facto die größte tschechische Stadt, so wie vergleichsweise Triest die größte slowenische Stadt war. Neben diesem Bevölkerungsanteil Wiens an Böhmen und Mährern besaßen von den Bewohnern Wiens im Jahre 1900 140.280 Personen in den Ländern der Stephanskrone das Heimatrecht (8,4 Prozent), unter denen sich freilich nicht nur Ungarn (Magyaren) befanden, sondern ebenso Deutschsprachige und vor allem zahlreiche Slowaken aus dem damaligen Oberungarn, der heutigen Slowakei. Tatsächlich waren um 1900 „42.896 in Wien anwesende Personen in mehrheitlich slowakischsprachigen Bezirken der Ungarischen Länder heimatberechtigt, 1910 waren es 46.216 Personen.“ (John/Lichtblau 1990: 18, 50) 54.958 Personen kamen aus mehrheitlich ungarischsprachigen Gebieten, 1910 waren es bereits 65.290 (John/Lichtblau 1990: 49f.). Weitere 100.000 Zuwanderer, nicht zuletzt zahlreiche jüdische Immigranten, kamen aus Galizien, der Bukowina und anderen Teilen der Monarchie und im Jahre 1900 250.857 (15 Prozent) aus den zuweilen mehrsprachigen ehemaligen österreichischen Erblanden, die nur zum Teil den heutigen, nun sprachlich weitgehend homogenisierten österreichischen Bundesländern entsprachen. (John/Lichtblau 1990: 14-18) Dies hatte, wie bereits angedeutet, insgesamt zur Folge, dass um 1900 mehr als die Hälfte der städtischen Bevölkerung Wiens sich aus Zugewanderten zusammensetzte (John/Lichtblau 1990: 14).

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Neben den tschechischsprachigen Bevölkerungsgruppen war die jüdische die zweitstärkste Bevölkerungsgemeinschaft, die das heterogene Wien aufzuweisen hatte. Der Anteil der Wiener Bevölkerung mit jüdischem Glaubensbekenntnis betrug 1880 72.588 Personen (10,1 Prozent der Gesamtbevölkerung), die erst nach zehn Jahren eingemeindeten Vororte (11.-19. Bezirk) hinzugezählt, betrug ihr Anteil 5,3 Prozent, 1890 waren es 118.495 Personen (8,7 Prozent), zehn Jahre später, zur Zeit der Jahrhundertwende, 146.926 (8,8 Prozent) (John/Lichtblau 1990: 36; Rozenblit 1983; Tietze 2007; Le Rider 2013: 16-19). Im Vergleich zu Wien betrug im Jahre 1900 in Paris der Anteil der jüdischen Einwohner nur 50.000 Personen (Meyer 1906: 442) und von den 150.726 Einwohnern Zürichs waren gar nur 2.713 Juden (Meyer 1909: 1022), was in beiden Fällen jeweils nur ungefähr 2 Prozent der Gesamtbevölkerung von Paris oder Zürich bedeutete. Der Anteil der in sich heterogenen jüdischen Einwohner Wiens erhöhte sich dann 1910 auf 175.318 (8,6 Prozent), um 1923 mit 201.513 (10,8 Prozent) ihren Höchststand zu erreichen. In der Tat war Wien zur Zeit der Jahrhundertwende nach Warschau und Budapest die drittgrößte jüdische Großstadt Zentraleuropas. In Warschau betrug der jüdische Anteil mit 219.000 Personen 32 Prozent, in Budapest 23,6 Prozent, in Krakau ca. 27 Prozent, und in Czernowitz, der kulturell bedeutenden Hauptstadt der Bukowina, war der Anteil der jüdischen Einwohner im Jahre 1910 32,8 Prozent, im Jahre 1913 bereits 47,4 Prozent der Gesamtbevölkerung: „Czernowitz hatte nach Wien und Lemberg die drittgrößte jüdische Gemeinde im Habsburgerreich.“ (Hausleitner 2006: 50; Pándi 1997: 78-83) Kleinere Städte im Osten der zentraleuropäischen Region wiesen um 1900 sogar einen jüdischen Bevölkerungsanteil von über 50 Prozent auf, wie zum Beispiel Brody (72,1 Prozent), Sanok (52,7 Prozent) oder Kolomea/Kolomyja (50,8 Prozent) (Magocsi 2002: 109; Bihl 1980; Kuzmany 2011: 125-160). Von der offiziellen Statistik nicht erfasst waren freilich die sogenannten assimilierten Juden, die zu einer der christlichen Konfessionen konvertiert waren oder sich als konfessionslos deklarierten. Deren Anteil am kulturellen und intellektuellen Leben in den großen Städten wie Wien, Prag oder Budapest war jedoch bedeutend, was auch auf manche kleinere Provinzstädte, wie zum Beispiel Czernowitz oder Triest, zutraf. Im Vergleich zu Wien nahm hingegen in Prag sowohl das Bekenntnis zur deutschen Sprache als auch der jüdische Bevölkerungsanteil kontinuierlich ab, was sich freilich vor allem der raschen Zunahme der tschechischsprachigen Bevölkerung, nicht zuletzt aufgrund rascher ökonomischer Veränderungen und der Eingemeindungen verdankte. Prag, das ohne die erst nach 1918 eingemeindeten Vororte im Jahre 1900 201.591 und zehn Jahre später (1910)

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223.741 Bewohner aufwies (Lichtenberger 1993: 50; Magocsi 2002: 96)4 – rechnet man die Bewohner der vier Vororte noch vor deren offizieller Eingemeindung hinzu, was immer wieder geschieht, hatte Prag 1900 514.000 und im Jahre 1910 617.000 Einwohner –, nahmen sowohl das Bekenntnis zur deutschen Sprache als auch der jüdische Bevölkerungsanteil sukzessive ab. Im Jahre 1843 waren noch 12 Prozent der Gesamtbevölkerung Prags jüdischen Glaubens, 1880 6,5 Prozent und 1910 nur mehr 4.7 Prozent. Während in der Mitte des 19. Jahrhunderts (1843) noch 40 Prozent der Pragerinnen und Prager Deutschsprachige waren, waren es 1910 nur mehr 6,1 Prozent (Havránek 1993: 71-73). Bratislava (bis 1919 offiziell: Pressburg/Prešporok/ Pozsony), die ehemalige ungarische Krönungsstadt und heutige Hauptstadt der Slowakischen Republik, zählte 1850 42.267 Einwohner, von denen 70 Prozent Deutsche, 13 Prozent Juden, 10 Prozent Slowaken und nur 6 Prozent Ungarn waren. 1880 erhöhte sich der Anteil der Slowaken auf 15,5 Prozent, jener der Ungarn auf 15,7 Prozent (Babejová 2003: 25). Zehn Jahre später (1891) gaben von den 52.411 Einwohnern 31.404 Deutsch als Muttersprache an, 10.433 Ungarisch und 8.709 Slowakisch (Pallas 1897: 186). 1901 bekannten sich von den 65.867 Einwohnern Pressburgs über 33.000 (50,4 Prozent) zu Deutsch, 20.000 (30,5 Prozent) zu Ungarisch und 10.715 (16,3 Prozent) zu Slowakisch (Meyer 1907: 281f.; Babejová 2003: 56).5 Die Verschiebung der Proportionen aufgrund einer gezielten Magyarisierung zu Gunsten des Ungarischen ist dann 1910 bereits deutlich sichtbar: 40,5 Prozent Magyaren, 41,9 Prozent Deutsche und 14,9 Prozent Slowaken (Pándi 1997: 364; Zemko 2010: 269). Als Bratislava nach 1919 die Hauptstadt der Slowakischen Teilrepublik der Tschechoslowakei geworden war und slowakische Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten und tschechische Immigranten die Zahl der Einwohner hochschnellen ließ, bekannten sich 1930 von den 123.844 Bewohnern 51,3 Prozent als Slowaken und Tschechen, 16,2 Prozent als Magyaren und 28,1 Prozent als Deutsche (Krivý 1997: 52; Zemko 2010: 271). Pressburg war also eine Schnittstelle für Zugehörige dieser drei Sprachkulturen, die sich nicht nur in Konkurrenz zueinander befanden, sondern sich auch vermischten (Tancer 2013: v. a. 147-164) Dazu kam auch noch ein beträchtlicher jüdischer kultureller Anteil. 1910 umfasste die bedeutende jüdische Gemeinschaft Pressburgs, die hier, zwar durch zahlreiche Vertreibungen unterbrochen, seit 4  Paul Robert Magocsi kommt wohl aufgrund der Tatsache, dass er die noch nicht eingemeindeten Außenbezirke, auf die Lichtenberger nachdrücklich aufmerksam macht, mitzählt, für 1870 auf 252.000 und 1910 auf 640.000 Einwohner. 5  Die Angaben in Meyers Großem Konversationslexikon stimmen mit den neuesten Erhebungen von Eleonóra Babejová überein.

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dem Hochmittelalter bestand und neben eigenen Schulen auch eine Jeschiwa (Talmudschule) von internationalem Ruf unterhielt, 8207 Personen, das heißt 10,5 Prozent der städtischen Gesamtbevölkerung, die auf zwei Gemeinden, eine orthodoxe und eine kleinere israelitische aufgeteilt waren (Venetianer 1986 [1922]: 456; Ujvári 1929: 718-723). Bis 1930 erhöhte sich der Anteil der Juden auf 12,1 Prozent (Salner 1997: 153). Ohne exakte demographische Statistiken zu bemühen, war noch vor der Vereinigung von Pest, Ofen (Buda) und Altofen (Óbuda) im Jahre 1873 zu der modernen ungarischen Metropole Budapest hier der Anteil der Sprachen und Nationalitäten noch heterogener als vergleichsweise in anderen Städten der Monarchie, freilich um dann in den kommenden Jahrzehnten sehr rasch sprachlich homogen, magyarisch zu werden. Der englische Sprachwissenschaftler Arthur J. Patterson, der 1886 an der Universität in Budapest Professor für englische Sprache und Literatur wurde, hatte das Land bereits in den sechziger Jahren bereist und seine Eindrücke 1869 in einem zweibändigen Werk veröffentlicht. In diesem spricht er, als Engländer gleichsam aus einer Außensicht, auch über die Bevölkerungszusammensetzung und charakterisiert Pest bezeichnender Weise als „one of the most German cities in the country […] fully one half, if not two thirds [of the present population] must be unequivocally German, the remaining third being made up of Hungarians, Servians, and Slovacks.“ Doch diese, vor allem die Deutschen, würden sich als Ungarn („Hungari“) bezeichnen, denn „even when they have German names, and speak Hungarian badly or not at all, claim to be reckoned as Hungarians […].“ (Patterson 1869: 39)

4. ‚Grenzen‘ in der Stadt als kulturelle Schnittstellen Der in Prag geborene Wiener Philosoph und Wissenssoziologe Wilhelm Jerusalem hat in einer kurzen Reminiszenz über seine Jugendjahre, die er als Jude in seiner Heimatstadt zugebracht hatte, Prag als „die Schwelle, de[n] Eingang zu geistiger Arbeit und geistiger Freiheit“ charakterisiert: Viele Künstler und Gelehrte haben in Prag ihre Lehrjahre durchgemacht und sich von da den Ernst und die Begeisterung mitgebracht, die ihnen im größeren Wirkungskreise die Kraft und die Ausdauer gegeben. Prag hat sich diesen Schwellencharakter zu wahren gewußt und darin liegt die Eigenart und der unvergängliche Wert seiner Geistigkeit. […]. Ob daran auch die Juden Prags ihren Anteil haben? Ich glaube wohl. […] Darum passen wir so recht hinein in die Schwellenstadt, die wie wir niemals zu den Fertigen gehört, denen

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Moritz Csáky nichts recht zu machen ist, sondern [die] als werdende immer dankbar bleib[en]. (Jerusalem 1917: 3)

Dieser kulturelle Schwellencharakter Prags war ganz allgemein auch für andere plurikulturelle und mehrsprachige Städte Zentraleuropas symptomatisch. Im Konkreten gab es in diesen zahlreiche kulturelle Schnittstellen, an denen sich Personen unterschiedlicher sprachlich-kultureller Kommunikationsräume begegneten, das heißt an denen sich unterschiedliche Diskurse begegneten und an denen differente kulturelle Zeichen und Codes konkurrierten und sich zu verschränken vermochten. Es waren solche Schnittstellen daher „Orte“, die auf ihrer „Oberfläche wie eine Collage“ aussahen, Orte, die „tatsächlich eine verdichtete Ubiquität“ aufwiesen und folglich einem „Palimpsest“ glichen (Certeau 1988: 354f.). Ein solcher Ort war zum Beispiel das Kaffeehaus als ein „System der Öffnung und Abschließung“ (Foucault 2006: 325), eine Heterotopie, an der zum Beispiel Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler, Musiker, Professoren, Politiker, Unternehmer, Kaufleute oder Gewerbetreibende aus verschiedenen sprachlichen und kulturellen Kontexten gelegentlich oder regelmäßig sich begegneten, sich wechselweise gegenseitig annäherten, sich unterhielten, austauschten oder auch bekämpften. „So bildeten sich um mich Menschenkreise der verschiedensten Art“, erinnerte sich Arthur Schnitzler, „flossen ineinander, zerflossen wieder.“ (Schnitzler 1981: 99) Das Café war ein Ort permanenter kreativer, dynamischer kultureller Prozesse. Das Kaffeehaus repräsentierte auch die bunte Sprachenvielfalt Wiens. Hier lagen Zeitungen und Zeitschriften unterschiedlicher sprachlicher Provenienz auf, unter anderem auch polnische, tschechische, kroatische oder ungarische. „Ungarische Zeitungen finden wir in allen guten Wiener Kaffeehäusern“, notierte 1860 der ungarische Schriftsteller Zsigmond Ormós in seiner Reisebeschreibung. Das Josefstädter Billisauer und das Café der Witwe Zimmerl auf der Wieden zeichnen sich dadurch aus, dass es hier mehr ungarische Zeitungen gibt als in vergleichbaren Kaffeehäusern in Debrecen, Szeged oder Pest. (zit. n. Juhász 1977: 160)

Obwohl hier Ormós auf solche Lokale in Wien hinweist, in denen sich Ungarn trafen und zu Hause fühlen konnten, war es wohl, wie auch bei den ‚slawischen‘ Cafés der Stadt, eine Selbstverständlichkeit, dass in diesen auch anderssprachige Bewohner der Stadt verkehrten und miteinander kommunizierten. Der tschechische Schriftsteller Josef Karásek wusste zu berichten, dass man in den Wiener „slawischen Cafés“ „außer 36 oder 38 böhmischen, mährischen und slowakischen Journalen […]“ auch „noch den polnischen ‚Czas‘, das rusinische ‚Slovo‘, den kroatischen ‚Pozor‘, die slowenischen ‚Novice‘, ja sogar zwei sorbische aus Bautzen und Sachsen“ (Rothmeier 2004: 187)

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vorfindet. Oszkár Jászi zum Beispiel verkehrte nach seiner Emigration 1919 im Café Central regelmäßig mit Karl Renner, Otto Bauer, Josef Redlich, Max Adler, Richard Charmatz, dem Nationlökonomen Karl Grünberg oder dem Soziologen Rudolf Goldscheid (Csáky 2010: 183). Neben dem Café waren typische Schnittstellen als Orte der Begegnung Redaktionen, wie zum Beispiel die Redaktion der Wiener Zeitschrift Die Zeit um Hermann Bahr, in der Schriftsteller und Journalisten unterschiedlicher Sprachen und Kulturen verkehrten, ihre Ansichten austauschten, ihre Beiträge diskutierten und im Sinne eines ‚guten Europäertums‘ – ein Motto, das Bahr Friedrich Nietzsche entlehnt hatte – kooperierten. Ähnliches trifft auch auf manche Künstlervereinigungen zu, wie die Secession, das Theater, vor allem die Oper oder Orchestervereine. Zu solchen Orten zählten auch die zahlreichen ‚Operettenwerkstätten‘, in denen sich Librettisten, Komponisten, Arrangeure, Instrumentatoren und Regisseure von unterschiedlichster Herkunft, Sprache und Nationalität begegneten. Ihr Endprodukt, die Operette, bestand in der Tat aus einer Anreicherung von Melodien, Tänzen und Inhalten vor allem aus dem Vielvölkerstaat. Die k. u. k. Operette als ein typisches Phänomen der urbanen Gesellschaft ist im Hinblick auf deren plurikulturelle musikalische Zusammensetzung insofern aufschlussreich, als deren Produkteure gezwungen waren, im Hinblick auf ihre Rezipienten, die sich aus einer durchmischten städtischen Bevölkerung zusammensetzten, wollten sie Erfolg haben, mit jeweils unterschiedlichen ‚nationellen‘ musikalischen Codes zu argumentieren, die von den Rezipienten unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit auch jeweils als eigene erkannt und dekodiert werden konnten. Indem sie die eigenen musikalischen Elemente bewusst wahrnahmen, identifizierten sie sich unbewusst auch mit den ihnen jeweils fremden musikalischen Elementen. Dadurch avancierten die vielfältigsten musikalischen Zitate, Codes und Symbole (Polka, Mazurka, Krakowiak, Kolo, Slaven-Quadrillen, Csárdás) nicht nur zu Identifikatoren der heterogenen städtischen Bewohner, diese vielfältige musikalische Sprache erhielt für die Städte auch nach außen eine unmissverständliche repräsentative Funktion (Csáky 1998: 100-104). Schließlich möchte ich noch auf einen weiteren Ort hinweisen, an dem sich vor allem Angehörige der ökonomisch und sozial Marginalisierten trafen und mit Angehörigen anderer Bevölkerungsschichten vermischten. Der Wiener Prater beziehungsweise der sogenannte Wiener ‚Wurstelprater‘ wurde zu einer Rast-, Austausch- und Unterhaltungsstätte vor allem der unterprivilegierten, armen städtischen Bewohner. Bereits Adalbert Stifter vertiefte sich in die Schilderung von Menschenmassen unterschiedlichster sozialer und nationaler – zum Beispiel kroatischer – Provenienz, die hier anzutreffen waren,

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und er machte dabei auf die vielen Exotismen aufmerksam, auf das „exotische Schreien und Pfeifen und Girren und Brüllen im Inneren“, die den Reiz dieser Stätte, des Wurstelpraters, ausmachen würde. Unter die Besucher des Praters mischen sich Menschen, die dazu verurteilt waren, ihre „Lebenszeit in dumpfen, engen Werkstätten zuzubringen mit einem dumpfen engen Geiste“ Hier hätte der Arbeiter die Möglichkeit, „daß er auch einmal sein Auge auftue, seine Seele erweitere, und Lust und Freude walten lasse.“ (Stifter 1968b: 325) Auf eine solche sozialpsychologische Funktion des Praters für den marginalisierten und unterprivilegierten Teil der Bevölkerung verwies später auch der Schriftsteller Felix Salten. Er beschrieb ihn 1911 als einen Treffpunkt und Vergnügungsort vor allem von Angehörigen sozialer Randgruppen, die hier ihre Sorgen und die Mühen des Alltags zu vergessen oder zu verdrängen suchten. Der Wurstelprater war eine ‚Passage‘, ein transitorischer Ort, an dem man sich nur kurz, nur vorübergehend aufhielt, ein „Nicht-Ort“ im Marc Augé‘schen Sinne (Augé 2010). Er blieb aber dennoch eine jener Schnittstellen, an der die sprachlich-kulturellen Heterogenitäten, die Differenzen und folglich die Mehrdeutigkeiten der Stadt sichtbar, erfahrbar und erlebbar wurden. Exemplarisch verdeutlichte dies Salten am so genannten „Fünfkreuzertanz“, einer Tanzveranstaltung, an welcher man um den geringen Betrag von fünf Kreuzern teilnehmen konnte. Der Tanz versetzte die Teilnehmer in einen anderen, vom Alltag unberührten, abgehobenen Raum des Trostes, gleichsam in eine Heterotopie, in der man sich wie in einem Spiegel erkennen und zugleich distanziert fremd gegenüber stehen konnte, eine Verfasstheit, die vor allem auf jene zutraf, die aus der Ferne in die Stadt zugewandert waren: Für alle die Einfachen und Niedrigen, die aus den bunten Provinzen des Reiches in Wien zusammen strömen, für alle die Jugend, die aus Dörfern und kleinen Städten in die Großstadt zieht, um da zu arbeiten, ist hier ein Trost. (Salten 2004: 71)

Im Saal wurde ein Walzer, ein Ländler, eine Kreuzpolka oder ein Csárdás aufgespielt, „die bescheidene Tanzmusik der armen Leute.“ (Salten 2004: 72) Es waren dies gerade jene Tänze, die in den Jahrzehnten um 1900 zu musikalischen Repräsentationssymbolen für Wien geworden waren. Salten macht jedoch explizit auch auf die Mehrdeutigkeit von Gedächtnis, auf das differenzierende Moment in der Wahrnehmung zum Beispiel eines im Dreivierteltakt gespielten Tanzes aufmerksam, der von den Städtern als Walzer, von den vom Land Hinzugezogenen jedoch missverständlich als Ländler ‚erinnert“ wurde: „Ein Ländler begann […]“, bemerkt Salten.

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Und jetzt waren die Großstadtkinder und die vom Lande Zugereisten deutlich zu unterscheiden. Für die einen war’s eben nur wieder ein Walzer, die anderen aber fingen an, sich in kleinen Gehschritten kirchweihmäßig zu wiegen, in jener ernsthaften Ruhe, mit der die Bauern den Tanz als eine feierliche Arbeit traktieren, und das Bauerng’wand schien unter mancher Uniform jetzt sichtbar zu werden. (Salten 1910: 57)

Aus einer solch „süßen, wiegenden Melodie“ rauscht, wie Josef Svatopluk Machar treffend festhielt, „die Wehmut unbekannter Ahnungen, seichter Trauer, die Schwärmerei banger Gefühle, das Gestöhne melancholischer Träume.“ (Rothmeier 20014: 291) Hier, im Tanzsaal, gingen in den musikalischen Darbietungen die differenten Kommunikationsräume ineinander über und bildeten einen neuen, umfassenderen, die Differenzen überwindenden und überwölbenden nonverbalen, hybriden musikalischen Kommunikationsraum, der den aus unterschiedlichen Gegenden Zugewanderten jeweils verständlich war, in dem sie sich jedoch, nun in die Großstadt versetzt, auch wieder nur als Fremde wahrnahmen. „Und ob nun die Musik einen Walzer spielt, einen Ländler, eine Kreuzpolka oder einen Czárdás“, hält Salten fest, „allen diesen Menschen hier ist eines gemeinsam: daß sie fremd sind in dieser riesigen Stadt, von deren Arbeitsmühlen sie verschlungen, in ihrem Wesen entfärbt, zerrieben und verbraucht werden.“ (Salten 2004: 76) Die in der Semiosphäre der zentraleuropäischen Städte deutlich wahrnehmbare Heterogenität von Zeichen, Codes und Symbolen beeinflusste also vor allem den Alltag ihrer Bewohner, ihre Lebensumstände, ihre Essgewohnheiten (Csáky/ Lack 2014) und nicht zuletzt ihre Umgangssprache, zum Beispiel die deutsche Umgangssprache, die nach Hugo von Hofmannsthal „sicherlich unter allen deutschen Sprachen die gemengteste [war]; denn es war die Sprache der kulturell reichsten und vermischtesten aller Welten.“ (Hofmannsthal 1979b: 363).

5. Kulturelle Vielfalt, Mehrsprachigkeit und Kreativität Ein Folge der Sprachenvielfalt der städtischen Milieus in Zentraleuropa war unter anderem die vielfach übersehene Tatsache, dass diese Städte sich auch in und durch mehreren Sprachen repräsentierten, dass, wenn zum Beispiel auch immer wieder der deutsche Charakter Wiens beschworen oder besser gesagt postuliert wurde, es in Wien neben der deutschen auch eine autochthone tschechische (Josef Svatopluk Machar), eine ungarische (Lajos Dóczy) oder eine slowenische (Ivan Cankar) Wiener Literatur gab, in einem gewissen Sinne

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vergleichbar der Prager deutschen Literatur in einem überwiegend tschechischen Umfeld. Die Sprachenvielfalt der Städte hatte freilich auch noch eine weitere Konsequenz. Viele städtische Bewohner waren mehr oder weniger zwei- oder mehrsprachig, auch wenn sie verschiedene Sprachen qualitativ sehr unterschiedlich oder zuweilen die eine oder andere Sprache nur passiv beherrschten. Doch diese „Vielsprachigkeit in ihrer gesellschaftlichen sowie individuellen Form erhielt sich lange in den Städten und in einigen Regionen auch in den Dörfern, sie blieb ein prägendes Merkmal vieler Gebiete auch nach 1918.“ (Mannová/Tancer 2016: 133) Sie ist in den Städten, könnte man ergänzen, bis in die Gegenwart präsent, jedoch unter einer anderen, einer globalen Perspektive. Die jeweilige Beherrschung von Sprachen orientierte sich nicht zuletzt auch an deren Repräsentationsfunktion oder im Hinblick auf das symbolische Kapital, das einer Sprache zugeschrieben wurde. Für Studierende an einer Wiener Hochschule war die Beherrschung des Deutschen insofern wichtig, als Deutsch eine repräsentative Funktion für die Vermittlung und Beherrschung von Wissen hatte und Deutsch innerhalb der Gesellschaft einen höheren Wert symbolisierte. Wohingegen ein Wiener tschechischer Arbeiter mit seinesgleichen, mit dem Schuster oder Handwerker, sich nicht auf Deutsch, sondern ohne weiteres auf Tschechisch unterhalten konnte. Für die Verständigung einer böhmischen Köchin mit ihren Dienstgebern in einem Wiener bürgerlichen Haushalt hingegen war ein gemischtes ‚Kuchelböhmisch‘ durchaus ausreichend. Dass eine solche gelebte und jeweils unterschiedlich beherrschte Mehrsprachigkeit von der nationalen Ideologie zugunsten von jeweils nur einer Nationalsprache, das heißt zugunsten der Etablierung eines homogenen Sprachraums, zurückgedrängt wurde, muss hier nicht eigens hervorgehoben werden. Dabei spielte den Sprachnationalisten auch die Sprachenerhebung der Volkszählungen in die Hände, die das Bekenntnis zu nur einer Sprache durch die Nennung einer Umgangs- beziehungsweise Muttersprache zuließ, von der dann unmittelbar auch auf die nationale Zugehörigkeit geschlossen werden konnte. Die real existente Mehrsprachigkeit wurde von den offiziellen Behörden damit ganz einfach ignoriert. Doch gerade diese synchron vorhandenen differenten Sprachkompetenzen waren für die Bewohner der Städte um 1900 charakteristisch. Sie hatten, argumentiert Michaela Wolf, im Alltag den Habitus von Übersetzern angenommen, sie waren ‚habitualisierte Übersetzer‘, da sie es gewohnt waren, sich zwischen mehreren Sprachen zu orientieren (Wolf 2012: 90-98). Es verwundert daher nicht, dass gerade in solchen vielsprachigen städtischen Milieus, wie zum Beispiel in Görz/Gorizia, Schriftsteller wie beispielsweise Ervino Pocar zu professionellen Übersetzern werden konnten (Lunzer 2002: 119-140).

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Die Konvergenz von unterschiedlichen Zeichen und Codes war in Analogie zur realen Vielsprachigkeit der Region auch für die Sprache der Architektur dieses Raumes charakteristisch, sie hat „mit Sicherheit die Bedeutung der Einzelsprachen als Identifikatoren gestärkt, gleichzeitig aber die Rolle von Universal- oder Staatsprachen betont.“ (Achleitner 1999: 95) Gerade eine solche auf der Kohabitation von differenten Stilelementen begründeten „Staatssprache“ der Architektur, die im Sinne des Historismus universelle diachrone Stilelemente in den einzelnen Städten mit spezifischen „Privatsprachen“ (Achleitner 1999: 97f.), das heißt ‚nationellen‘ Anleihen anzureichern wusste, hat trotz verschiedener stilistischer Sonderformen zur Herausbildung jener architektonischen ‚Metasprache‘ beigetragen, die allseits verstanden wurde, an der sich die Bewohner der vielsprachigen Städte zu orientieren vermochten und aufgrund derer es daher auch berechtigt erscheint, in einem übertragenen Sinne von einer ‚Architektur‘ (im Singular) der Donaumonarchie zu sprechen (Moravánszky 1988). An einer solchen von Differenzen, das heißt im Konkreten: von einer sprachlichen Vielfalt bestimmten Lebenswelt hat sich auch der hermeneutische Zugang zu einer solchen komplexen Lebenswelt zu auszurichten. Es ist daher insgesamt angebracht, bei deren historischen Rekonstruktion und kulturwissenschaftlichen Analyse sich einer differenztheoretischen Hermeneutik zu bedienen, die einerseits die hier vorhandenen Differenzen, das heißt die Pluralitäten und Heterogenitäten, stets im Auge behält und die andererseits solche konkreten Lebenswelten auf einer übergeordneten Reflexionsebene unter dem Aspekt von Differenzen einzuordnen, zu analysieren und möglichen Deutungen zuzuführen versucht. „Die Sprache“, meint der Sprachphilosoph Fritz Mauthner, „ist das Gedächtnis der Menschen oder ihre Vernunft, das Gedächtnis kleinerer oder größerer Menschengruppen, das Gedächtnis für alles, was Aufmerksamkeit und Interesse erregt hat.“ (Mauthner 1980: 400)6 Im Konkreten bedeutet das, dass unterschiedliche Sprachen auch unterschiedliche ‚mémoires culturelles‘ beinhalten können. Nimmt man diese Erkenntnis ernst, kann man davon ausgehen, dass bei Individuen, die mehrere Sprachen beherrschen beziehungsweise dementsprechend ein mehrfaches kulturelles Gedächtnis aufweisen, eine solche Multipolarität von kulturellen Erinnerungen auch ihr intellektuell-kulturelles Handeln beeinflusst. Sie ist folglich auch für kulturelle Kreativität, die auf einer unverhofften, unbeabsichtigten, neuen Verschränkung 6  Ursprünglich war das Wörterbuch der Philosophie in München-Leipzig: G. Müller 1910/11 erschienen. Ich zitiere im Folgenden nach der 1980 in Zürich bei Diogenes neu verlegten ersten Ausgabe.

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von differenten kulturellen Zeichen und Codes beruht, von Bedeutung. Wenn man bedenkt, dass ein Großteil der Wiener Intellektuellen, Künstler oder Kulturschaffenden der Jahrzehnte um 1900 Zugewanderte der ersten oder der zweiten Generation waren und aus unterschiedlichen sozialkulturellen und sprachlichen Kontexten stammten, kann man zu Recht annehmen, dass auch deren großes kreatives Potential in einer gewissen Weise sich dieser Tatsache verdankte. Diese Migranten, in der Regel Repräsentanten von zumindest zwei „Sprachen“, waren gleichsam dazu prädestiniert, die von Lotman angedeuteten „Umkodierungen und semiotischen Übersetzungen“ vorzunehmen (Lotman 2010: 276). Sie waren typische Repräsentanten jener „eigenthümlich gemischten Bevölkerung“ (Umlauft), die sich an einer Grenze herausbildet, die immer zwei- oder mehrsprachig ist (Lotman 2010). Sie repräsentierten Grenze schlechthin, indem sie zwei oder mehrere ‚Sprachen‘ beherrschten und so mehrere ‚mémoires culturelles‘ in einer Simultanpräsenz in sich vereinten und diese unterschiedlichen, widersprüchlichen, zuweilen auch unübersetzbaren Inhalte aufeinander abzustimmen und unverhofft, zum Teil unbewusst, zu etwas Neuen zu verschränken wussten. Ein solches kreatives Potential war also gerade für den kulturell mehrfach codierten städtischen Grenzraum kennzeichnend. Der Soziologe Robert Ezra Park hat deshalb vor allem dem städtischen, in erster Linie dem jüdischen Immigranten, eine besondere Kreativität zugeschrieben. Dieser Immigrant wäre ein „marginal man“ zwischen zwei Kulturen, ein Grenzgänger, ein kulturell Hybride, der die Traditionen von zwei Völkern in sich vereint, „which never completely interpenetrated and fused.“ Indem er in zwei Welten lebt befindet er sich auch in einer permanenten Uneindeutigkeit, in einer krisenhaften Situiertheit, die kulturelle Prozesse insgesamt kennzeichnen würde (Park 1996: 165f.). Parks Interesse galt natürlich in erster Linie den Einwanderungsgesellschaften amerikanischer Städte und in diesen vor allem den zahlreichen jüdischen Immigranten. Dennoch dürfte es in unserem Zusammenhang nicht ohne Belang sein, dass Park für seine Theorie über den „marginal man“ während eines Forschungsaufenthalts in der plurikulturellen und mehrsprachigen Österreichisch-Ungarischen Monarchie erste, wesentliche Anregungen erhalten hatte (Makropoulos 2004: 49f.). Der Umgang mit mehreren Sprachen und mehreren ‚mémoires culturelles‘ war die praktische Umsetzung einer Erfahrung, die sich dem vielsprachigen städtischen Umfeld verdankte. Der ständige Umgang mit einer solchen Vielfalt wurde in der Folge dafür ausschlaggebend, dass die bewusste oder unbewusste Reflexion von Vielfalt auch für manche theoretischen Konzepte kennzeichnend wurde. Es entspricht dies, wie Johannes Feichtinger nachweisen

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konnte, einer für Zentraleuropa typischen Wissenschaftstradition, die nicht nur eine pluralistische Lebenswelt thematisiert, sondern die den realen sozial-politischen beziehungsweise kulturellen Heterogenitäten auch insofern Rechnung trägt, als durch einen solchen Reflexionsansatz unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge und Deutungsmöglichkeiten anerkannt und zugleich „relativiert“ werden (Feichtinger 2010). Ich möchte hier in aller Kürze nur einige Beispiele anführen. Fritz Mauthner verweist in seinen Erinnerungen. Prager Jugendjahre mehrmals explizit auf die nicht nur wahrgenommene, sondern gelebte Mehrsprachigkeit seiner Kindheit und Prager Jugendzeit, eine Erfahrung, die ihn ganz entscheidend zur Reflexion über die Sprache angeregt hätte, denn er „lernte damals […] genau genommen drei Sprachen zugleich verstehen“: Deutsch als die Sprache der Beamten, der Bildung, der Dichtung und seines Umgangs; Tschechisch als die Sprache der Bauern und der Dienstmädchen, als die historische Sprache des glorreichen Königreichs Böhmen; ein bißchen Hebräisch als die heilige Sprache des Alten Testaments und als die Grundlage für das Mauscheldeutsch, welches er von Trödeljuden, aber gelegentlich auch von ganz gut gekleideten jüdischen Kaufleuten seines Umgangs oder gar seiner Verwandtschaft sprechen hörte. Der Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren war, mußte gewissermaßen zugleich Deutsch, Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen seiner ‚Vorfahren‘ verehren. Und die Mischung ganz unähnlicher Sprachen im gemeinen Kuchelböhmisch und in dem noch viel gemeineren Mauscheldeutsch mußte schon das Kind auf gewisse Sprachgesetze aufmerksam machen, auf Entlehnung und Kontamination, die in ihrer ganzen Bedeutung von der Sprachwissenschaft noch heute nicht völlig begriffen worden sind. Ich weiß es aus späteren Erzählungen meiner Mutter, daß ich schon als Kind die törichten Fragen einer veralteten Sprachphilosophie zu stellen liebte: warum heißt das und das Ding so? Im Böhmischen so, und im Deutschen so? (Mauthner 1918: 32f.; Herv. i. O.)

Als „Jude im zweisprachigen Böhmen“ aufgewachsen, das heißt im Sinne von Park als ein typischer „marginal man“, wäre er prädestiniert gewesen, sich für die Sprachphilosophie zu öffnen und seine Sprachkritik wäre gerade dadurch geschärft worden, dass, wie er rückblickend eingesteht, „ich nicht nur Deutsch, sondern auch Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen meiner ‚Vorfahren‘ zu betrachten, daß ich also die Leichen dreier Sprachen in meinen eigenen Worten mit mir herumzutragen hatte. Jawohl, ein Sprachphilosoph konnte unter solchen psychologischen Einflüssen heranwachsen.“ (Mauthner 1918: 50f.) In den Beiträgen zu einer Analyse der Empfindungen (1886) versuchte der Physiker und Philosoph Ernst Mach die Kritik am Subjekt und, in einem übertragenen Sinne, an der Konsistenz eines Ich als eines zentralen, essentialistischen Bezugspunkts für Identität aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive zu

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analysieren und zu begründen. Nicht das „Ich“ wäre „das Primäre“, meinte Mach, sondern die Elemente (Empfindungen). [...] Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, dass das Element Grün in einem gewissen Complex von andern Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt. Wenn ich aufhöre Grün zu empfinden, wenn ich sterbe, so kommen die Elemente nicht mehr in der gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist alles gesagt. Nur eine ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit hat aufgehört zu bestehen. [...] Das Ich ist unrettbar. (Mach 1985: 19f.)

Machs Proklamierung der Gleichwertigkeit von Elementen und folglich eines inkonsistenten Ich wurde bald von namhaften Vertretern der der zentraleuropäischen Modernen aufgegriffen und diskutiert. „Die Sensationen allein sind Wahrheit, zuverlässige und unwiderlegliche Wahrheit“, verkündete Hermann Bahr 1891 nach der Lektüre von Mach, sie „geraten jeden Augenblick anders“, und es wäre durchaus berechtigt, „sich lieber gleich hundert Iche zu substituieren, nach Belieben, auf Vorrat, woher und wodurch die Dekadence zu ihrer Ichlosigkeit gedrängt [würde].“ (Bahr 1891: 149) Das „Ich ist unrettbar“, proklamierte Bahr später im Dialog vom Tragischen. „Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen.“ (Bahr 1904: 97) Ähnlich empfand auch Hofmannsthal, denn: „Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück. Zwar unser ‚Selbst‘! Das Wort ist solch eine Metapher. Regungen kehren zurück.“ (Hofmannsthal 1979a: 504) In der Folge wurde dieser Ichverlust zu einem geläufigen Topos und Erklärungsmodell für Identitätskrisen. „Mit dem Verlust der Stabilität der Dinge ging auch die Stabilität des Ichs verloren“ beklagte sich zum Beispiel 1910 Georg (György) Lukács, mit dem Verlust der Fakten gingen auch die Werte verloren. Es blieb nichts außer Stimmungen. In einem einzelnen Menschen und zwischen den Menschen gab es nur Stimmungen von gleichem Rang und gleicher Bedeutung [...]. (Lukács 1989: 66)

Der ungarische Dichter Endre Ady hatte diese Identitätskrise bereits 1898 als die eigentliche Krankheit seiner Zeit diagnostiziert, an der auch er selbst zu leiden hätte: „Ich möchte es jemandem sagen, weinend möchte ich es eingestehen: Ich bin ein bejammernswerter, eine kranker Mensch.“ (Ady 1987: 5)7 Bei Hofmannsthal und später ganz konkret bei Franz Kafka weitete sich 1910 diese Identitätskrise zu einer Krise der schriftstellerischen Existenz aus.

7  „Szeretném valakinek elmondani, szeretném sírva bevallani, hogy én nyomorult beteg ember vagyok.“

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Kein Wort fast das ich schreibe paßt zum andern, ich höre wie sich die Konsonanten blechern an einander reiben und die Vokale singen dazu wie Ausstellungsneger. […] Meine Zweifel stehn um jedes Wort im Kreis herum, […] ich sehe das Wort überhaupt nicht, das erfinde ich. (KKAT: 130)

Jean-François Lyotard sprach daher im Rückblick auf die Wiener Moderne resümierend zu Recht von einer allgemeinen „Zersplitterung (éclatement)“ des Bewusstseins, von einem „Pessimismus“, der die Generation der Jahrhundertwende in Wien genährt hätte, nämlich die Künstler Musil, Kraus, Hofmannsthal, Loos, Schönberg, Broch, aber auch die Philosophen Mach und Wittgenstein. Sie haben ohne Zweifel das Bewußtsein wie die theoretische und künstlerische Verantwortung der Delegitimierung so weit wie möglich ausgedehnt. […] Mit ihr hat die postmoderne Welt zu tun. (Lyotard 1986: 121-122)

In Analogie zu Machs Ich-Kritik stand die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Vielfalt und Einheit, der sich insbesondere der später in Prag lehrende Christian von Ehrenfels in seiner Abhandlung Über Gestaltqualitäten (1890) stellen sollte. Wie kann es sein, dass sich beim Hören einer aus zwölf Tönen (Elementen) bestehenden Melodie „in mir beim Hören des dritten, des vierten usw. Tones auch immer schon eine Gestaltvorstellung als Vereinheitlichung des eben jetzt Gehörten“ (Ehrenfels 1988: 129) bildet? Ehrenfels glaubt dieses Phänomen mit der Intentionalität (des Denkens) erklären zu können, eine Deutung, die später Edmund Husserl aufgreifen sollte. Ähnlich argumentierte auch Anton von Webern, um das Zwölfton-System in der neuen Musik verständlich zu machen und erklären zu können. Dabei ging es um die Frage, wie und warum zum Beispiel in Weberns Bagatellen für Streichquartett (op. 9) eine aus zwölf völlig gleichwertigen Tönen bestehende Melodie sich als eine Einheit darstellt. „[E]s bildete sich eine Gesetzmäßigkeit heraus“, resümierte Webern. Bevor nicht alle zwölf Töne drangekommen sind, darf keiner von ihnen wiederkommen. Das Wichtigste ist, daß das Stück – der Gedanke – das Thema – durch die einmalige Abwicklung der zwölf Töne einen Einschnitt bekommen hat. (Webern 1950: 55)

Diese in der Dodekaphonie gleichwertige Anerkennung der uns bekannten zwölf Ganz- und Halbtöne einer Tonleiter kann, in einem übertragenen Sinne, durchaus als die Anerkennung von Vielfalt und als der Reflex auf eine von Pluralitäten und Differenzen bestimmten Lebenswelt verstanden werden. Auch in der Psychoanalyse von Sigmund Freud geht es in einem gewissen Sinne um die Reflexion von Vielfalt. Durch die Verdrängung auch nur eines Elements kommt es zu einer Störung (Neurose), die erst durch das Sich-Bewusstmachen und das Anerkennen des Verdrängten aufgehoben wird. Es kann nur noch

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angedeutet werden, dass auch die Wissenssoziologie des Wiener Philosophen Wilhelm Jerusalem und des dem Budapester Sonntagskreis des jungen Georg Lukács zugehörigen Karl Mannheim auf der Thematisierung einer pluralistischen gesellschaftlichen Umwelt begründet ist und dass schließlich Ludwig Wittgensteins Überlegungen über Sprachspiele ebenfalls auf einer Vielzahl von Verständnismöglichkeiten über eine Aussage, einen Begriff oder eine Zahl beruht, die „eine indirekte Verwandtschaft zu anderem“ enthält. Denn wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen. (Wittgenstein 1988: 278)

6. Krisen und Konflikte Kulturelle Heterogentität und Vielsprachigkeit der Stadt um 1900, in einem wörtlichen und in einem übertragenen Sinne, war zwar der Nährboden für ein kreatives Potential, sie war jedoch zumindest indirekt auch eine Motivation für Theoriebildungen, bei denen die Reflexion über Pluralitäten und Differenzen eine Rolle gespielt hat. Doch in Anlehnung an Jurij Lotmans Stadtsemiotik ist die zentraleuropäische Stadt gerade auch ein „komplexer semiotischer Mechanismus […] ein Schmelztiegel von unterschiedlich aufgebauten, heterogenen Texten und Codes“, in welcher „semiotische Kollisionen entstehen […] nicht nur durch das synchrone Nebeneinander heterogener semiotischer Gebilde, sondern auch aus der Diachronie […].“ (Lotman 2010: 276) Eine solche Komplexität, die das Ergebnis von synchron und diachron vorhandenen Heterogenitäten ist, von vertikalen innergesellschaftlichen und traditionalen horizontalen regionalen Differenziertheiten, insinuiert keineswegs bloß eine Kohabitation von harmonischen Austausch- und Translationsprozessen, vielmehr ist diese Komplexität, die kulturellen Prozessen insgesamt inhärent ist, „eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften“ (Certeau 1988: 218), sie ist also gleichermaßen gekennzeichnet von der Überlappung und gleichzeitig von einer permanenten Konkurrenz unterschiedlicher Kommunikationsräume, von einer performativen Aushandlung von Machtstrukturen und Machtpositionen, das heißt im Konkreten von permanenten inneren Kolonisierungen, von

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mehr oder weniger erzwungenen Assimilationen und von Fremdheits-und Ausgrenzungsstrategien. Das hat zur Folge, dass auch das für die individuelle und kollektive Identität – als einem reflektierten Bewusstsein – relevante Arsenal von Erinnerungen nicht eindeutig, sondern mehrdeutig ist, dass mehrfache und zuweilen widersprüchliche Erinnerungen sich zueinander in Konkurrenz befinden, dass im Sinne von „invented traditions“ (Hobsbawm/ Ranger 1983/1994: 1-14) zuweilen Erinnerungen künstlichen Konstrukten entsprechen und dass Gedächtnisinhalte, an denen sich Erinnerungen ausrichten, ebenfalls einer Mehrdeutigkeit unterliegen und dass folglich auch das Gedächtnis nicht etwas Konsistentes ist, sondern, wie der Psychologe und Gedächtnisforscher Daniel L. Schacter (2001: 173-219) empirisch nachweisen konnte, sich aufgrund situationsbedingter unterschiedlicher Erinnerungsmodi ständig verändert. Andererseits insinuiert die Mehrsprachigkeit von Individuen und sozialen Gruppen, die vor allem in den Städten anzutreffen war, nicht nur eine Vielzahl von Erinnerungen, die diese wechselweise haben können, sondern auch die zeitgleiche Präsenz mehrerer und zuweilen widersprüchlicher Erinnerungen in einer Person oder in einer Gruppe, das heißt die Präsenz von Mehrfachidentitäten. Gerade Städten kam aufgrund der Mehrsprachigkeit zahlreicher ihrer Bewohner eine Schmelztiegelfunktion zu. Freilich beschränkte sich diese, wie in Triest, zum Teil nur auf wenige Intellektuelle und Schriftsteller, sie war in der Tat zuweilen eine literarische Fiktion, so wenn zum Beispiel Scipio Slataper seiner Frau schreibt: „Du weißt, daß ich Slawe, Deutscher und Italiener bin.“ (Ara/Magris 1987: 21) Eine solche Schmelztiegelfunktion zeigte sich aber dennoch auch in einer direkt gelebten, Differenzen überbrückenden Polyglossie, von der zum Beispiel Loris Permuda mit dem Hinweis auf Constantin Economo, einem Vertreter der Wiener Medizinischen Schule in Triest berichtet: Er sprach Griechisch mit seinem Vater, Deutsch mit seiner Mutter, Französisch mit der Schwester Sophie und dem Bruder Demetrio und Triestinisch mit dem Bruder Leo. Vielleicht lassen sich, wenn es überhaupt konkrete und nicht nur mythologische Merkmale einer typisch mitteleuropäischen Triestiner Kultur gibt, gerade in einem solchen sprachlichen Habitus die Wurzeln und das Wesen einer mitteleuropäischen Bildung erkennen. (Ara/Magris 1987: 61)

Mehrdeutigkeiten haben freilich in der Regel auch Verunsicherungen zur Folge. Das nationale Narrativ stellte in Aussicht, solche Verunsicherungen zu beseitigen, indem an die Stelle eines mehrfachcodierten Gedächtnisses ein eindeutiges, präskriptives, ein zum Beispiel in der Schule gelehrtes und erlerntes ‚nationales‘ Gedächtnis implementiert werden sollte. Das heißt, diese nationalen Homogenisierungstendenzen, die jeweils nur eine gesicherte Erinnerung

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gegenüber mehreren Erinnerungsmöglichkeiten favorisierten und damit eine unmissverständliche Deutungshoheit beanspruchten, stellten die Mehrdeutigkeiten von Gedächtnis beziehungsweise die Polyphonie von Erinnerungsweisen in Frage. Doch abgesehen von diesen Versuchen, das multipolare Gedächtnis und mehrfache Erinnerungsweisen ideologisch einzuebnen, bedingte die Kohabitation von unterschiedlichen Sprachgemeinschaften in der Dichte des urbanen Raumes per se eine Konkurrenzsituation, eine gegenseitige Aggressivität, auch wenn sie nur auf kleinen Differenzen beruhte und letztlich, wie Sigmund Freud meinte, das Zusammenleben erst erleichterte. Freud bezeichnete dieses Phänomen als einen „Narzismus der kleinen Differenzen“: Ich habe mich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, daß gerade benachbarte und einander auch sonst nahe stehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten […]. Ich gab ihm den Namen ‚Narzißmus der kleinen Differenzen‘, der nicht viel zur Erklärung beiträgt. Man erkennt nun darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenleben erleichtert wird. (Freud 2001: 78f.; Herv. i. O.)

Die von performativen ‚Grenzen‘ durchzogene Semiosphäre der Stadt, das heißt die Vielfalt von konkurrierenden und sich überlappenden kulturellen Kommunikationsräumen war die Voraussetzung dafür, dass eindeutige Orientierungsmuster obsolet wurden, dass in einer solchen hybriden urbanen und regionalen Situation multipolare oder Mehrfachidentitäten, die eine zuweilen krisenhafte Erfahrung sein konnten, nicht die Ausnahme, sondern die Regel bildeten. Aus nationaler Sicht entsprach dies freilich einer Orientierungslosigkeit, der eine medial vermittelte verbindliche Ausrichtung auf eine eindeutige nationale Identität Abhilfe schaffen sollte, was freilich auch ein Anlass für weitere Konflikte sein konnte. So jedenfalls haben es Zeitgenossen der Jahrzehnte um 1900 erfahren und eingeschätzt, wie zum Beispiel der zweisprachige jüdische Schriftsteller Tadeusz (Thaddäus) Rittner, der in Lemberg geboren und in Wien aufgewachsen war: Ich stehe zwischen Deutsch und Polnisch. Das heißt: ich kenne und empfinde beides. Meiner Abstammung, meinen innersten Neigungen nach bin ich Pole. Und oft fällt es mir leichter, in dieser als in jener Sprache zu denken. Aber zuweilen verhält es sich umgekehrt. Von so manchem, was ich geschrieben habe, sagen die Deutschen, es sei polnisch, und die Polen, es sei deutsch. Man behandelt mich vielfach auf beiden Seiten als Gast. Und ich sehe so vieles, hier und dort, mit dem unbefangenen Blick eines Fremden. (Giel 2007: 283)8

8  Joana Giel zitiert aus Thaddäus Rittners kurzer autobiographischer Skizze Mein Leben, die im Literarischen Echo 19/7 (1.1.1917, S. 400ff.) erschienen war.

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Ähnlich argumentierte der Schriftsteller Ödön von Horváth in Bezug auf die Frage, welcher Sprache, welcher Kultur, welcher Nation er sich eigentlich zugehörig fühlen würde: Sie fragen mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde in Fiume geboren, bin in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien und München aufgewachsen und habe einen ungarischen Paß – aber ‚Heimat‘? Kenn ich nicht. Ich bin eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch … Allerdings: Der Begriff ‚Vaterland‘, nationalistisch gefälscht, ist mir fremd. (zit. in Mádl 2005: 314; Herv. i. O.)

Eine solche multipolare Ausrichtung von Identität ist ein Indiz für Mehrfachidentitäten, die vor allem für solche Individuen und soziale Gruppen kennzeichnend sind, die sich in einem plurikulturellen, vielsprachigen Umfeld vorfinden. In der zentraleuropäischen Stadt der Moderne war eine solche Situation paradigmatisch ausgebildet, mit ihren mehrfachen, unterschiedlichen Erinnerungsmöglichkeiten, die sich nicht nur einem inkonsistenten, fluiden Gedächtnis verdankten, sondern dieses zugleich auch ständig veränderten. Es war dies die Voraussetzung und Ursache von permanenten individuellen und innergesellschaftlichen Krisen und Konflikten, von Angst, wie Kafka seinem Freund Robert Klopstock gegenüber unmissverständlich eingestanden hat: „Ein Jude und überdies deutsch und überdies krank und überdies unter verschärften persönlichen Umständen […].“ (Briefe 1975: 430) Solche Krisen sollten unter anderem durch die Vorstellung und die Implementierung einer homogenen ‚nationalen‘ Gesellschaft beseitigt werden. Es ist daher wenig verwunderlich, dass, wie Eric Hobsbawm feststellt, ein solches nationales Narrativ nicht von ländlichen Bewohnern, sondern gerade von kleinen städtischen Eliten, beispielsweise von Vertretern „städtischer Mittelschichten“, konzipiert und medial verbreitet wurde (Hobsbawm 1989: 197) und, wie Paul Ricœur hervorhebt, dann ideologisch „manipuliert“ und in ein kollektives Gedächtnis eingeschrieben, zu dominanten Inhalten des historischen Bewusstseins erklärt werden konnte (Ricœur 2004: 130-139). Im Namen einer solchen ideologisch vereinnahmenden Voreingenommenheit ging man gerade in den Jahrzehnten um 1900 daran, die in die Städte Zugewanderten nicht nur als ‚Fremde‘ wahrzunehmen, sondern als Fremde zu definieren und auszugrenzen und ihnen nur unter der Voraussetzung, dass sie sich der städtischen Leitkultur anschließen, das heißt, dass sie sich in eine vermeintlich dominante (National)Kultur vor allem sprachlich integrieren würden, eine Daseinsberechtigung in der städtischen Gemeinschaft zuzugestehen. Doch gerade eine solche ideologisch motivierte sprachliche Homogenisierung nahm freilich nicht zur Kenntnis, dass zum Beispiel im Alltag, bei den sich verändernden Essgewohnheiten oder in der von unterschiedlichen ‚nationellen‘ Elementen gespeisten Popularmusik,

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nicht die kulturelle Abschottung, sondern performative kulturelle Translationen und Wechselwirkungen zur Bereicherung des städtischen kulturellen Kontextes beigetragen haben. Ein solcher polyphoner städtischer Kontext blieb selbst noch dann wahrnehmbar, wenn auf der sprachlichen Ebene weitgehende Homogenisierung, konkret: eine volle Integration und Assimilation hergestellt wurde. Doch selbst eine völlige sprachliche Vereinnahmung konnte die unterschiedlichen ‚mémoires culturelles‘ keineswegs zu eliminieren, was Kafka sehr deutlich zum Ausdruck brachte, als er meinte, dass [d]ie jüdische Mutter […] keine „Mutter“ [ist], die Mutterbezeichnung macht sie ein wenig komisch […] wir geben einer jüdischen Frau den Namen deutsche Mutter, vergessen aber den Widerspruch, der desto schwerer sich ins Gefühl einsenkt, „Mutter“ ist für den Juden besonders deutsch, es enthält unbewußt neben dem christlichen Glanz auch christliche Kälte, die mit Mutter benannte jüdische Frau wird daher nicht nur komisch sondern auch fremd. Mama wäre ein besserer Name, wenn man nur hinter ihm nicht „Mutter“ sich vorstellte. Ich glaube, daß nur noch Erinnerungen an das Ghetto die jüdische Familie erhalten, denn auch das Wort Vater meint bei weitem den jüdischen Vater nicht. (KKAT: 102)

Nicht nur die Mechanismen von Inklusion und Exklusion städtischen Migranten gegenüber und die Verhaltensweisen, mit denen so genannten ‚Fremden‘ um 1900 begegnet wurde, sind den Verhaltensweisen späterer Jahrzehnte durchaus vergleichbar, auch die Wiederentdeckung einer entschwundenen Gedächtnisses, dessen sich Kafka 1911 gewahr wurde, macht auf die Aktualität solcher Überlegungen aufmerksam, die sich den Erfahrungen eines mehrsprachigen städtischen Kontextes verdanken. In diesem Sinne hat zum Beispiel Imre Kertész, zwar neunzig Jahre nach Kafka, aus einer veränderten lebensweltlichen Perspektive und insbesondere angesichts der Erfahrung des Holocaust, sich seines jüdischen Gedächtnisses bewusst zu werden versucht: Ami irodalmi hovatartozásomat illeti, le kell szögezni néhány tényt. hogy tévedésben ne éljek. A magyar irodalomhoz nem tartozom, és soha nem is tartozhatom oda. Én valójában ahhoz a Kelet-Európában létrejött zsidó irodalomhoz tartozom, amely a Monarchiában, majd az utódállamokban, főként németül, de sohasem a nemzeti környezet nyelvén íródott, és sohasem volt része a nemzeti irodalomnak. Kafkától Celanig húzható meg ez a vonal, és ha folytatni lehet, velem kell folytatni. Az én szerencsétlenségem, hogy magyarul írok; szerencsém azonban, hogy munkáimat németre fordították – még ha a fordítás csak árnyképe is az eredetinek. (Kertész 2011: 19) [Was meine literarische Zugehörigkeit betrifft, muss ich einige Tatsachen festhalten, um mich nicht in einem Irrtum zu befinden. Ich gehöre der ungarischen Literatur nicht an und werde ihr nie angehören. Ich gehöre in Wirklichkeit zu jener in Osteuropa entstandenen jüdischen Literatur, die in der Monarchie, dann in den Nachfolgestaaten, vor allem auf Deutsch, und niemals in der sie umgebenden nationalen Sprache geschrieben wurde und die daher nie Teil einer Nationalliteratur war. Von Kafka bis Celan kann diese Linie verfolgt werden, und wenn man sie weiter verfolgen sollte, muss man sie mit mir tun. Mein

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Unglück ist nur, dass ich ungarisch schreibe, mein Glück jedoch, dass man meine Werke ins Deutsche übersetzt hat – auch wenn die Übersetzung nur ein Schattenbild des Originals sein kann.]

Die analoge Erkenntnis, zu der beide, Kafka und Kertész, zwar aus durchaus unterschiedlichen zeitlichen Erfahrungsperspektiven, gelangt sind, entspricht zunächst zwar ganz allgemein individuellen Deutungsversuchen über die eigene Existenz in einem konkreten sozialen und politischen Umfeld. Dieses Umfeld war jedoch für die Erklärung einer personalen und einer kollektiven Identität in beiden Fällen vor allem von einem reaktionären Postulat beeinflusst, einem Postulat nach Eindeutigkeiten, das vorhandene Mehrdeutigkeiten auszuschließen und, zum Teil auch mit Gewalt, zu eliminieren versuchte. Für unsere Fragestellung dürfte es daher von besonderer Relevanz sein, dass sich eine solche Einsicht von Kafka und Kertész nicht zuletzt der sozio-kulturellen Realität des sprachlich und ethnisch heterogenen zentraleuropäischen Kontextes verdankte, in welcher, wie ich angedeutet habe, die Erfahrung und die Problematisierung von Differenzen und Mehrdeutigkeiten von vordringlicher Bedeutung gewesen ist, allerdings auch einer Realität, in der man gerade deshalb stets mit Konflikten und persönlichen Krisen umzugehen hatte.

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Kafka im Kontext modernen Erzählens 1. Vorbemerkungen Kontexte denkt man sich üblicherweise als konzentrische Kreise, in deren Mittelpunkt der Text und sein Autor stehen. Der Kreis, von dem die meisten Beiträge dieses Sammelbandes ausgehen, ist eng gefasst: die unmittelbare Lebenswelt Kafkas im Prager und böhmischen Kulturraum seiner Zeit – der Kontext, den mein Titel nennt, ist dagegen einer der weitesten, nämlich der des modernen Erzählens.1 Ein interkultureller Kontext ist das natürlich auch – nämlich der des weltliterarischen Feldes in der Epoche der Moderne2 – allerdings eben ein systematischer, nicht ein produktionsästhetischer, in der Terminologie der Komparatistik: kein genetischer, sondern ein typologischer. Doch halte ich gerade einen solchen weiten und systematischen Kontext für ein geradezu notwendiges Komplement zu enger gefassten Kontaktstudien. Diese erfassen immer nur Teilaspekte eines Werkes, da nur solche transferiert werden können. Beim rezipierenden Autor aber verbinden sich diese Teilaspekte zu einem Gesamtsystem – und nur dieses macht seine Eigenheit aus und gibt den Maßstab vor, nach dem auch in enger gefassten Kontaktstudien Einzelaspekte einzuordnen und zu gewichten wären. Ich werde in meinem Beitrag versuchen, dieses ‚System Kafka‘ als Teilmenge des Systems modernen Erzählens auf einem möglichst hohen Abstraktionsniveau zu beschreiben. Das ist kein einfaches Unterfangen, da eine solche Beschreibung notwendigerweise auf konkreten Textanalysen aufbauen

1  Unmittelbarer Anlass für die Wahl dieses Bezugsrahmens war die gleichzeitige Arbeit an einem Beitrag für den von Ken Seigneurie im Wiley-Blackwell Verlag herausgegebenen Sammelband A Companion to World Literature. 2 Ich werde den in der Komparatistik höchst umstrittenen Begriff der ‚Weltliteratur‘ hier nicht ausführlich erörtern. Mit David Damrosch gehe ich davon aus, dass es keinen globalen Kanon der Weltliteratur geben kann, sondern nur viele verschiedene Kanones (mit einer gewissen Schnittmenge, zu der z.B. sicher Kafka gehören wird), die jeweils vom regional-kulturellen Kontext des Betrachters her perspektiviert sind (Damrosch 2009).

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muss,3 für die es in der methodisch heillos zerstrittenen Kafka-Forschung kaum eine Konsensbasis gibt. Und dieser ohnehin schon minimale Konsens wird umso geringer, je mehr man von narratologisch-deskriptiven zu im engeren Sinne interpretatorischen Aspekten übergeht. So kann ich für die drei Kapitel meines Beitrages bestenfalls auf abnehmende Zustimmung hoffen. Nach einer Beschreibung von Kafkas Erzählmodellen im Kontext der Moderne (1) werde ich die Sozialmodelle untersuchen, die er zur Kritik der modernen Welt verwendet (2); ich schließe mit skizzierten Überlegungen zum Verhältnis von Mythopoetik und Religion bei Kafka (3).

2. Modernes Erzählen Dass Kafka zur literarischen Moderne gehört, hat wohl noch niemand bezweifelt. Doch worin besteht die spezifische Modernität seines Erzählens? Holen wir uns etwas Inspiration bei Amazon. Unter den negativen Kundenrezensionen zum Process (das sind nur etwa 8%) finden sich auch die beiden folgenden: Franz Kafkas ‚Prozess‘ sollte umgehend der Prozess gemacht werden. Das Studium dieses Werkes erzeugt beim Leser ein Gefühl, als würde er unablässig mit einem mittelweichen Stück Schaumstoff gegen den Schädel geschlagen, während gleichzeitig eine ausladende Steuererklärung zu bearbeiten ist. Der Roman wartet weder mit glaubwürdigen Charakteren noch einer annähernd kohärenten Geschichte auf. Beim Lesen stellt sich der Wunsch ein jedem der nach und nach eingeführten, ausnahmslos geistig minderbemittelten Charaktere umgehend mit geballter Faust in die Magengegend zu schlagen, wenn immer diese den Mund öffnen. Gleiches gilt für den Protagonisten und seine abwechselnd paranoide und größenwahnsinnige Gedankenwelt. Weitere Hiebe hat sich Kafka selbst für die unheimlich unesthetische [sic] und künstlich verkomplizierte Sprache in ‚Der Prozess‘ verdient. Wer vorhatte ‚mal wieder einen Klassiker zu lesen‘ sollte schleunigst diesen geistigen Totalausfall, der höchstens als Accessoire und Flirt-Köder in einschlägigen Berliner HipsterKneipen taugt, von seiner Liste streichen. (Sebastian M. 2015) ‚Der Prozess‘ von Franz Kafka, der an allen Gymnasien in BW zur Pflichtlektüre gehört, nimmt einem, meiner Meinung nach, die Lust am Lesen. Ich selbst musste mich zwingen, das Buch zu Ende zu lesen. Das Buch hat für mich keine wirkliche Handlung, die zum weiterlesen [sic] motiviert. Lächerlich finde ich, dass viele Stellen so verwirrend sind, dass

3  Daher bitte ich um Verständnis dafür, dass ich mich im Folgenden häufig auf eigene Publikationen beziehen werde – diese bilden nun einmal die Grundlage für meinen Syntheseversuch.

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sie keiner eindeutig interpretieren kann. Teilweise fragt man sich, ob überhaupt der Autor selbst wusste, was er damit sagen will. Die persönliche Einstellung von Kafka dieses Werk nie zu veröffentlichen, war daher, meiner Meinung nach, die Richtige [sic]. (Mazda 2009)

Was nützen uns diese Zitate – außer gleichermaßen unsere Bekümmernis über den gegenwärtigen Stand der Rechtschreibekompetenz und unser Vertrauen in Berliner Hipster-Kneipen zu steigern? Nun, sie benennen, ex negativo, einigermaßen klar zentrale Eigenheiten modernen Erzählens: Wer von Romanen oder Erzählungen dieser Epoche entweder eine geschlossene und ereignisreiche Handlung oder doch wenigstens die differenzierte Entfaltung und Entwicklung komplexer Charaktere und detailliert geschilderte Wirklichkeitsräume erwartet, muss zwangsläufig enttäuscht werden.4 Moderne Erzähltexte gehen aber über diese Negation von Grundprinzipien realistischen Erzählens aus dem 19. Jahrhundert noch deutlich hinaus; in einer vielzitierten Passage aus dem Mann ohne Eigenschaften spricht Robert Musil von einer ganz generellen Absage an das Gesetz der „erzählerischen Ordnung“, das folgendermaßen bestimmt wird: Jene einfache Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: ‚Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!‘ Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ‚Faden der Erzählung‘, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann ‚als‘, ‚ehe‘ und ‚nachdem‘! […] Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: […] dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste ‚perspektivische Verkürzung des Verstandes‘ […]. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. […] sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ‚Lauf‘ habe, irgendwie im Chaos geborgen [...], obgleich öffentlich schon alles unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden‘ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. (Musil 1978: 2, 650)

Moderne Erzähltexte verzichten also auf das Erzählen als Sinn und Zusammenhang stiftendes Grundprinzip der Textorganisation. Häufig sind sie, wie bei Kafka, eher paradigmatisch als syntagmatisch organisiert und privilegie4  Ich gehe bei meiner Analyse von einem strengen und eng gefassten Moderne-Begriff aus, dessen Konturen in den letzten beiden Jahrzehnten leider zunehmend verwischt wurden. Wer literarische Modernität mit einem Erzählen von der soziologischen Welt der Moderne verwechselt – etwa indem er auch Romane der Neuen Sachlichkeit von Kästner oder Fallada für ‚modern‘ erklärt –, mag zwar einem zunehmend neo-realistischen und sozialkritisch gesinnten Zeitgeist Genüge tun, vermischt dabei aber völlig unterschiedliche Formsprachen, die jeden Epochenbegriff sprengen müssen (Engel 2014c).

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ren innere gegenüber äußeren Wirklichkeiten so sehr, dass deren mimetische Grundstruktur stark verfremdet oder ganz suspendiert wird und dass bildliche Fügungen wichtiger werden als Handlungsstrukturen. Dass Kafkas Texte diesen Grundprinzipien modernen Erzählens folgen, ist sozusagen die moderne Pflicht. Worin aber besteht die Kafka-spezifische Kür? Auch dazu geben die Rezensionen einen Hinweis durch ihre Klagen über die konzentrierte, aber zugleich immer wieder frustrierte mentale Anstrengung, die das Lesen von Kafka-Texten hervorruft. Es ist diese mit spezifischen Mitteln produzierte Rätselhaftigkeit, die Kafkas besonderen Ort in der Moderne ausmacht – und an der sich auch leicht Texte erkennen lassen, die auf Kafka-Rezeption beruhen. Fragen wir also nach den Verfahren, mit denen Kafka die Rätselstruktur seiner Texte erzeugt. Ich nenne nur die drei wichtigsten. (1) Die Zwei-Welten-Struktur phantastischen Erzählens: Nach dem bekannten Grundschema der literarischen Phantastik (Brittnacher/May 2013; Durst 2010) werden bei Kafka zwei Wirklichkeitsebenen miteinander verschränkt: eine, die grosso modo unserem Weltwissen entspricht, und eine, die auf offensichtliche Weise davon abweicht – besonders eindrückliche Beispiele dafür liefern etwa die Romane Der Process und Das Schloss. Schwächere Varianten dieses Modells basieren auf in anderer Weise verfremdeten Realitäten – exotische Räume (z.B. In der Strafkolonie, Schakale und Araber, Beim Bau der chinesischen Mauer) oder auch Tierwelten (z.B. ) –, die oft aus der Perspektive einer als Vertreter unseres Weltwissens fungierenden Forscherinstanz geschildert werden. Abweichungen vom etablierten Modell phantastischen Erzählens liegen vor allem darin, dass Kafka auf das traditionelle Inventar des Wunderbaren weitgehend verzichtet und dass das traditionelle (romantische) Ziel einer Erweiterung unseres einseitig rational-empirischen Wirklichkeitsbegriffes als Funktionsbestimmung nicht mehr ausreicht. (2) Interne Fokalisierung: Perspektivische Begrenzung und Innenweltzentrierung sind wiederum gängige Merkmale modernen Erzählens. Die Besonderheiten bei Kafka bestehen vor allem in drei Eigenheiten: (a) Kafka wendet dieses Verfahren nicht auf psychologisch ausdifferenzierte Individuen an, sondern auf fast zum Typus reduzierte Figuren mit relativ stereotypen Verhaltens- und Denkmustern; (b) als Leser erfahren wir zwar (fast) nur die Wahrnehmungen, Deutungen und Bewertungen des Helden, dadurch wird uns seine Psyche aber nicht vollkommen transparent – es bleiben zum Beispiel massive Motivationslücken (wie etwa die Frage, warum der Landvermesser K. ins Schloss strebt); (c) die Wahrnehmungen, Deutungen und Bewertungen des Helden sind nicht nur erkennbar falsch; es tauchen in ihnen auch

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immer wieder Elemente auf, die der Held selbst nicht wahrhaben will, sofort wieder wegschiebt oder leugnet, psychologisch gesprochen also verdrängt.5 Interne Fokalisierung führt hier so nicht zu empathischer Identifikation des Lesers mit der Perspektivfigur, sondern zur kritischen Distanzierung – weshalb man auch keinesfalls von einem ‚einsinnigen‘ Erzählen sprechen sollte.6 (3) Parabolische Schreibweise: Diese vor allem löst die endlosen Deutungsanstrengungen des Lesers aus. Als Transfersignale, die die Welt der Textoberfläche als ‚uneigentlich‘ markieren, können gelten: phantastische Verfremdungen; Reduktion von Wirklichkeitsdarstellung und Figurencharakteristik; Deutungsanstrengungen der Perspektivfigur, die ständig selbst nach dem Sinn des Geschehenden fragt; vor allem aber das, was Kafka selbst einmal die versteckten „Abstraktionen“ in seinem Texten genannt hat7 – im Process wären das etwa bedeutungsschwere Wörter wie Schuld und Gesetz. Es ist besonders die Kombination von Phantastik und Parabolik, die die Eigenheit von Kafkas Erzählmodell markiert – in längeren Texten als Phantastik mit parabolisch vertieftem Sinnhorizont, in kürzeren als Parabolik mit phantastischen Einzelelementen. Werkchronologisch gesehen8 wird dieses Erzählmodell erstmals in der gleichzeitigen Arbeit an Der Process, In der Strafkolonie und den Schlusskapiteln von Der Verschollene (Theater von Oklahama) voll entfaltet, also im Jahre 1914. Im weiteren Werkverlauf treten zunächst die parabolischen Elemente stärker hervor (besonders in der Landarzt-Phase), um dann im späten Werk (etwa ab der Arbeit an Das Schloss) durch eine stärker narrative Anlage der Texte wieder zurückgedrängt zu werden.

5 Ich gebe nur ein Beispiel aus dem Process: Der eben ‚verhaftete‘ Josef K. betont zwar ständig seine Überlegenheit und ungefährdete Stellung, trinkt heimlich aber gleich zwei Gläschen Schnaps, um sich „Mut zu machen“ – und erklärt sich selbst gegenüber, er tue das „nur aus Vorsicht für den unwahrscheinlichen Fall, daß es nötig sein sollte“ (KAAP 18). 6 Ein von Friedrich Beißner eingeführter Begriff, der in der älteren Kafka-Forschung gängig war und mitunter heute immer noch verwendet wird (Beißner 1952). 7  Über das Urteil schreibt Kafka in einem Brief vom 10.6.1913 an Felice Bauer: „Die Geschichte steckt voll Abstraktionen, ohne daß sie zugestanden werden“ (KKABr 205). 8  Ich gehe im Folgenden von der im Kafka-Handbuch entwickelten Unterscheidung von drei Werkphasen aus (Engel 2010b). Die Grenze zwischen dem frühen und dem mittleren Werk bildet die Niederschrift des Urteils im September 1912; mittleres und spätes Werk werden durch den Ausbruch der Lungenkrankheit und Kafkas Abreise nach Zürau (August/September 1917) getrennt.

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3. Erzählen der modernen Welt Wiederum dürfte ein zumindest weitgehender Konsens darüber bestehen, dass Kafka, direkt oder kontrastiv, von der modernen Welt erzählt – und das auch dort, wo seine Textwelten räumlich wie zeitlich nur vage situiert sind. Wie sehr diese Annahme das gegenwärtige Kafka-Bild bestimmt, lässt sich leicht an medialen Adaptionen seines Werkes in Film und Comic studieren,9 natürlich auch an der Ubiquität des Adjektivs ‚kafkaesk‘. Es liegt auf der Hand, wie sich dieser Zeitbezug mit der biographischen Fundierung seiner Texte vermitteln lässt: Da Kafka sich als Repräsentanten seiner Zeit sah, als den „westjüdischesten“ aller „Westjuden“,10 der daher das „Negative meiner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, [...] zu vertreten das Recht habe“ (KKAN II: 97f.), musste er nur Biographisches zu (in seiner Deutung) Zeittypischem verallgemeinern. Dass dieser Moderne-Bezug bei Kafka nicht realistisch gestaltet wird, ist klar. Den Ausweg, den ein nicht unbeträchtlicher Teil der Forschung wählt, um seine Texte dennoch auf die zeitgenössische Wirklichkeit beziehen zu können, ist das (explizite oder implizite) Postulat eines satirischen Erzählmodells: Die phantastischen Elemente wären dann plausibel als satirische Verfremdungs- und Zuspitzungsstrategien zu erklären. Darüber ließe sich mindestens diskutieren – wenn dabei nicht zumeist Kafkas Texten auch, anachronistisch, die Grundtopoi unserer eigenen Moderne-Kritik unterschoben würden. Anders als wir denkt Kafka das moderne Subjekt aber im Horizont der Säkularisierung – genauer gesprochen: der westjüdischen Säkularisierung –, und anders als wir folgt er nicht dem heute beliebten Narrativ vom grundguten Menschen, der nur durch die bösen gesellschaftlichen Strukturen verdorben wird. Wenn Macht für Kafka einen Ursprung hat, dann liegt dieser eher in einem (in der Moderne freigesetzten) Willen zur Macht als in sozialen

9  Vgl. etwa David Hugh Jones’ The Trial (1983), Steven Soderberghs Kafka (1991) und Robert Crumbs und David Zane Mairowitz’ Comic Introducing Kafka (1993). 10  In einem Brief an Milena von 16.11.1920 schreibt Kafka: „Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, daß mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muß erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde nach rechts – ich weiß nicht, ob sie das tut – müßte ich mich nach links drehn, um die Vergangenheit nachzuholen“ (KKABr4: 369).

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Ordnungen, die nur die materialen Objektivierungen dieses Machtwillens sind. Dies detailliert nachzuweisen würde eine eigene Untersuchung erfordern.11 Zur Vermeidung historischer Kurzschlüsse kann aber auch eine detaillierte Untersuchung der drei unterschiedlichen Sozialmodelle verhelfen, die Kafka in seinem mittleren und späten Werk zur Kritik der modernen Welt entwickelt hat. Das erste findet sich im Urteil, der Verwandlung und dem Verschollenen, also in der allerersten Phase des mittleren Werkes. Ich nenne es das familiale Modell, da es auf dem Figureninventar der Familie beruht (was natürlich offensichtliche Parallelen zum zeitgenössischen Expressionismus aufweist). In voll entfalteter Form umfasst dieses Modell die Positionen von Vater, Mutter, Sohn, Schwester, Geliebter und einem Freund des Sohnes, der einen ganz anderen Lebensentwurf realisiert.12 Obwohl die Familie unter den Bedingungen der Moderne offensichtlich pervertiert wurde, trägt sie dennoch, quasi anamnetisch, noch das humane Potential in sich, das ihr als gegengesellschaftlichem Privatraum im 18. Jahrhundert zugeschrieben worden war: Georg Bendemann etwa, der wie die anderen ‚Söhne‘ mindestens rudimentär noch an diesem idealen Familienkonzept orientiert bleibt, ruft am Schluss des Urteil aus: „Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt“ (KKAD 61). Diese frühe Textgruppe des mittleren Werkes entspricht noch am ehesten dem oben genannten satirischen Erzählmodell, da sie über die pervertierte Familienordnung negative Eigenheiten der Moderne in (relativ schwacher) phantastischer Verfremdung zeigt. Ab dem Process, der Strafkolonie und den erst 1914 geschriebenen Schlusskapiteln des Verschollenen verschwindet das familiale Sozialmodell aus Kafkas Texten13 (was einseitig auf den Vater-Sohn Konflikt fixierte Interpreten hartnäckig übersehen) – und mit ihm, so meine These, auch das satirische Erzählmodell. Das nun dominante zweite Sozialmodell ließe sich vielleicht

11  Vgl. zu einem solchen Nachweisversuch Engel (2010c). 12  Dabei müssen natürlich nicht immer alle Positionen besetzt sein; mitunter sind sie auch nur mit ‚Platzhaltern’ belegt – so etwa in der Verwandlung die Position der Geliebten durch das „aus einer illustrirten Zeitschrift ausgeschnittene“ Bild einer „Dame“ mit „Pelzhut“, „Pelzboa“ und „Pelzmuff“ (KKAD 115f.). 13  Der einzige spätere Text, den es noch prägt, ist die wenig beachtete Erzählung Das Ehepaar (Oktober/November 1922); zur Interpretation vgl. Engel/Auerochs (2010a: 360f.). Die angeblich bei Kafka omipräsente Vaterfigur taucht sonst nur noch in Elf Söhne und Die Sorge des Hausvaters an prominenter Stelle (aber in deutlich anderer Funktion) auf.

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am besten als Konflikt zweier Lebensordnungen beschreiben, von denen nur die eine unserer modernen Lebenswelt zugehört. Offensichtlich sind diese Texte deutlich ‚realitätsferner‘ gestaltet als die des ersten Sozialmodells. Wenn nun moderne Elemente zur fiktionalen Möblierung der – oft als historisch deutlich älter markierten – Gegenwelt verwendet werden (wie etwa die Maschine in der Strafkolonie oder die Bürokratie im Schloss), sollten wir also zumindest gründlich darüber nachdenken, bevor wir ihre Semiotik als ‚satirisch‘ zu entschlüsseln suchen. Zur narrativen Entfaltung der zwei Welten dient primär das oben beschriebene phantastisch-parabolische Erzählmodell; die früher nur vereinzelten phantastischen Elemente verbinden sich also nun zu einer zusammenhängenden Gegenwelt (im Process etwa gehören alle der unseren Rechtvorstellungen eindeutig widersprechenden Gerichtswelt zu). Die Protagonisten sind jetzt nicht mehr Randfiguren oder sogar (mindestens partielle) Antagonisten der modernen Welt (wie der nur beinahe zum ‚Vater‘ avancierte Georg Bendemann, der ausgestoßene Karl Roßmann oder der unfreiwillige Aussteiger Gregor Samsa), sondern deren wohlangepasste Vertreter (wie etwa der karriereorientierte Prokurist Josef K., der Rechtsstaattreue Forschungsreisende der Strafkolonie, die ‚Forscher‘-Figuren im Fragment Der Dorfschullehrer, die sozial gleichgültigen und isolierten Protagonisten in Ein Landarzt und Blumfeld, ein älterer Junggeselle, der vergeblich um Rationalisierung des Unfasslichen bemühte Hausvater). Die Gegenwelt trägt dagegen eher prä-moderne Züge, gehört den „alten großen Zeiten“ an14 oder gründet mindestens (wie etwa im Process) auf deren Traditionen. Das macht sie aber nicht einfach zum eindeutig positiven Gegenpol zur Moderne und der sie vertretenden Protagonisten. Denn diese Gegenwelt ist zwar stark Gemeinschafts-orientiert, aber auch individualitätsund freiheitsfeindlich; ihre rigorosen Ordnungen und Gesetze müssen dem emanzipierten Individuum der Moderne daher als grausam und unerträglich erscheinen. Zentral ist jedenfalls die historische Differenz, die nun Kafkas Textwelten bestimmt. Neben den ‚modernen‘ Protagonisten finden sich so nun Helden, die seltsam zwischen den Zeiten leben (wie etwa der Gruftwächter, der ‚neue Advokat‘ Bucephalus in der gleichnamigen Erzählung, der Affe Rotpeter, der Jäger Gracchus, oder der zum Bürokraten der Meere gewordene Poseidon). Im spätesten Werk – das Schloss von 1922 kann als Übergangstext angesehen werden, der Züge beider Modelle aufweist – dominiert ein drittes Sozi14  Kafka in einem Brief an Max Brod vom 13.1.1921 (Briefe 291).

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almodell, das das konfliktträchtige Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft thematisiert. Das phantastische Erzählen tritt hier zurück hinter dem Schreiben parabolisch verallgemeinerter Lebens- und Rechtfertigungsgeschichten – Kafka spricht von „selbstbiographischen Untersuchungen“ (KKAN 373). Platzhalter der modernen Lebenswelt sind hier die diversen Gemeinschaften. Die Gegenwelt ist meist zu der vom Protagonisten ausgeübten ‚Kunst‘ reduziert oder ganz allgemein zu einem absoluten Ziel (wie etwa die endlich schmeckende Nahrung für den Hungerkünstler, die Musik für den forschenden Hund, der perfekte und sichere Bau für das Tier, oder das Schloss für den Landvermesser K.) nach dem der radikal auf seiner Eigentümlichkeit beharrende Protagonist vergeblich strebt, auch wenn das zu sozialer Isolation oder sogar zum Tode führt. Der einzige Text, in dem es wenigstens ansatzweise zu einem Ausgleich der Pole von Individuum und Gemeinschaft kommt, ist Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse. Das ist zugleich der einzige Text, der nicht auf die Hauptfigur fokalisiert ist; erzählt wird er aus der Perspektive eines Mitglieds der Mäuse-‚Gemeinschaft‘, das sich, in den Grenzen seiner Möglichkeiten, maximal um Verständnis für die divenhafte Außenseiterin Josefine bemüht, deren Pfeifen – vielleicht – Musik und – vielleicht – gemeinschaftskonstituierend ist. Wer Kafkas Texte so als poetische Sozialmodelle begreift – also nicht einfach als satirisch verzerrte Abbilder der Moderne oder als auflösbare Allegorien (für das Schreiben, die différance, das Wirken einer ominösen Macht, das Judentum oder was auch immer) –, nimmt ihre Textwelten nicht nur ernst, sondern verweigert sich auch ihrer Reduktion auf eine handliche Botschaft, die der formalen Modernität ihrer Bildräume Hohn spricht. Die dargestellten Konflikte sind immer aporetisch – wenn Kafka eine handliche Lehre hätte vermitteln wollen, hätte er sie uns wohl auch einfacher mitteilen können.

4. Religion und moderne Mythopoetik Während ich bei formaler Modernität und Modernekritik wenigstens von Konsenspositionen ausgehen konnte, ist dies beim Thema Religion kaum zu erhoffen. Schon eher kann man Zustimmung dafür erwarten, dass das Erzählmodell des Mythos in der Moderne eine ebenso offensichtliche wie

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erstaunliche Renaissance erlebt.15 Der Begriff Mythos leidet freilich an seiner großen Unschärfe. Vielleicht könnte man diesen noch am ehesten als große Erzählung bestimmen: Erzählung verweist darauf, dass dabei ausschließlich narrativ (also nicht diskursiv) verfahren wird, wobei zu den Aktanten der Geschichten traditionell auch transhumane Akteure gehören. Groß meint – analog zu C.G. Jungs ‚großen Träumen‘ – dass diese Erzählungen ein umfassendes Bedeutungspotential zur Fundierung geistiger und sozialer Grundbestände einer Kultur und/oder zur Beantwortung letzter anthropologischer Fragen besitzen. Jedenfalls könnte moderne Mythopoetik als Oberbegriff fungieren, um Kafkas besondere Verbindung von Phantastik und Parabolik zu bezeichnen. Die erstaunliche Konjunktur des Mythos in der Moderne hat vor allem zwei Gründe: Zum einen kommt dieser dem generellen Misstrauen der Epoche gegenüber begrifflich-diskursiver Rede entgegen, da Mythopoetik auf bildlich-narrativer Kommunikation beruht. Zum anderen ermöglicht er es Autoren, das zu realisieren, was man seit Nietzsche als ‚Kunstmetaphysik‘ bezeichnet: eine Stiftung von Sinn und Zusammenhang mit ausschließlich poetischen Mitteln, also ohne Rekurs auf vorgegebene Sinngebungsversuche aus Religion, Metaphysik, Philosophie oder Wissenschaft. Dabei können sowohl vorgegebene Mythen wie auch selbst erfundene verwendet werden. Moderne Mythopoesie setzt so, mit neuen formsprachlichen Mitteln, das romantische Projekt einer ‚neuen Mythologie‘ fort (Engel 1992). Auf terminologisch sicherstem Boden fühlen wir uns bei der Identifikation von Mythopoesie natürlich, wenn wir uns auf die (oft eklektische und verfremdende) Umgestaltung traditioneller Mythologeme beziehen können. Diese gibt es bei Kafka auch, aber eben nur selten: etwa in den Geschichten um Prometheus, Poseidon und Odysseus. Kafkas umfassendstes Experiment mit traditionellem mythologischem Material sind sicher die Zürauer Aphorismen mit ihren Variationen des (auch sonst bei Kafka prominenten) Sündenfall-Mythos. Sehr viel mittelbarer, aber dennoch unübersehbar ist der Bezug auf einen religiösen Horizont etwa im Dom-Kapitel des Process. Weitaus häufiger ist jedoch die bereits beschriebene Konstruktion von Welten, die auf eigentümliche Weise ‚moderne’ Elemente (wie etwa die Bürokratie im Schloss oder das Rechtssystem im Process) mit prä-modernen Relikten hybridisieren, welche noch deutlich Spuren der alten religiösen Aura aufweisen.

15  Man denke nur etwa an Broch, Döblin, T.S. Eliot, Hofmannsthal, Joyce, Th. Mann, Pound, Pynchon oder Rilke.

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Nun will ich natürlich den Mythos-Begriff nicht nutzen, um eine Rückkehr zu naiven religiösen Lektüren Kafkas à la Max Brod zu propagieren. Dagegen spricht allein schon Kafkas Ästhetik der Negativität, die ihn vielleicht am radikalsten von anderen Autoren der Moderne unterscheidet. Bei diesen finden sich fast immer epiphaniehafte Durchbruchserfahrungen zu anderen Zuständen jenseits von Empirie, Denkkonventionen und rationaler Weltdeutung. Solche Durchbrüche gibt es bei Kafka fast nie16 – und damit auch keine positiven Konturierungen eines Anderen oder gar Numinosen. Allenfalls „bricht“ manchmal ein „Glanz“ aus „der Türe des Gesetzes“ (KKAP 294), lockt eine endlich schmeckende „Speise“ (KKAD 349), erklingt eine verlockende fremdartige „Musik“ (KKAN II:: 428). Das sind aber nur schwache Spuren eines Anderen im Hier und Jetzt. Diese weitestgehend durchgehaltene Negativität der Darstellung verhindert es auch, dass wir phantastische und sehr deutlich mythische Gegenwelten (wie sie im Process und Schloss am umfassendendsten entfaltet werden) in toto als Manifestationen des Göttlichen lesen können – etwa, wie Max Brod es wollte, als Manifestationen göttlicher Strafe bzw. göttlicher Gnade (Brod 1973: 41). Seltsam – und interpretationsbedürftig – bleibt aber deren (immer nur punktuelle) metaphorische Auratisierung, die Spuren von altem Glanz und alter Autorität, die in den schäbigen und korrupten, motivlich weitgehend durchmodernisierten Gegenwelten immer wieder aufscheinen. Ich habe an anderer Stelle ausführlicher darzustellen versucht, wovon ich viele Kafka-Forscher sicher nie werde überzeugen können: Nämlich dass das Religiöse in Kafkas Werk – vor dem Hintergrund des für den Autor zentralen Gegensatzes zwischen säkularisiertem West- und ungebrochen gläubigem, aber deutlich prä-modernem Ostjudentum – primär als ein absoluter ethischer Maßstab anwesend ist und den Horizont für die ubiquitäre Rechtfertigungsthematik bildet (Engel 2014b). Ich kann dazu hier nur eine Schlüsselstelle aus den Zürauer Aphorismen zitieren: Niemand schafft hier mehr als seine geistige Lebensmöglichkeit; daß es den Anschein hat, als arbeite er für seine Ernährung, Kleidung u. s. w. ist nebensächlich, es wird ihm eben mit jedem sichtbaren Bissen auch ein unsichtbarer, mit jedem sichtbaren Kleid auch ein unsichtbares Kleid u. s. f. gereicht. Das ist jedes Menschen Rechtfertigung. Es hat den Anschein als unterbaue er seine Existenz mit nachträglichen Rechtfertigungen, das ist aber nur psychologische Spiegelschrift, tatsächlich errichtet er sein Leben auf seinen Rechtfertigungen. Allerdings muß jeder Mensch sein Leben rechtfertigen können (oder seinen Tod, was dasselbe ist), dieser Aufgabe kann er nicht ausweichen. (KAAN II: 99) 16  Ausnahmen wären etwa der (schon im Manuskript gestrichene) Traum aus dem ‚Haus‘Fragment im Process und die kurze Erzählung Ein Traum im Landarzt-Band.

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Weltanschauliche Systeme, die diese ‚geistige‘ Dimension positiv begründen könnten, stehen für Kafka – auch das ist eine genuin moderne (und übrigens auch modern-jüdische)17 Eigenheit – allerdings nicht mehr zur Verfügung. Daher fungieren die mythischen Konstruktionen in seinem Werk nur als deren, höchst mittelbare, poetische Zeichen. So lässt etwa die Gerichtswelt im Process mit ihrem absoluten moralischen Maßstab die soziale wie ethische Schäbigkeit von Josef K.s allein an den Normen der Geschäftswelt orientierter Haltung und deren desaströse Folgen für seine Persönlichkeitsentwicklung erst wirklich deutlich werden. Bewusstseinsgeschichtlich markiert diese Verwendung von Mythopoetik sehr präzise die Grenz- und Übergangsstellung Kafkas zwischen negativer Theologie und Existenzphilosophie. Kafka so historisch zu verorten, wird für alle Vertreter einer aktualisierenden Lektüre des Autors natürlich nur wenig attraktiv sein – es folgt, zugegebenermaßen, einem historistischen Erkenntnisinteresse. Ich möchte allerdings zu bedenken geben, dass der aktuelle Sinn historischer Texte ja auch gerade in ihrer provokativen Differenz gegenüber den heute gängigen und uns ohnehin sattsam vertrauten Denkschablonen liegen könnte.

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Karl E. Grözinger

Das Denken und Schreiben Kafkas zwischen den Kulturen 1. Transformation jüdischer Begrifflichkeit ins Deutsche – Beispiel Synagogenordnungen Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die deutschen Regierungen begannen, sich in die inneren Strukturen der jüdischen Gemeinden einzumischen, setzte eine oft kaum bewusste oder wahrgenommene kulturell-religiöse Transformation im jüdischen Bewusstsein ein. Die Behörden forderten von den jüdischen Gemeinden die Ausarbeitung sogenannter Synagogenordnungen. Das heißt Beschreibungen des jüdischen Gottesdienstes, der für den Gottesdienst nötigen Räumlichkeiten, der dabei agierenden Personen, den Ablauf des Gottesdienstes und so fort – oft wurden solche Synagogenordnungen auch in vorauseilendem Eifer ohne direkte Aufforderung durch die Behörden erstellt. Die Erstellung solcher umfänglichen Beschreibungen für die christlichen Behörden bedeutete eine doppelte kulturelle Transformation: Zum einen eine sprachliche Transformation und zum anderen eine kulturell religiöse Transformation. Das heißt, die bislang hebräische Fachterminologie, welche all die entscheidenden Faktoren des jüdischen Lebens benannte, musste nun in die deutsche Sprache übersetzt werden, die dafür aber noch kein ausgebildetes Vokabular besaß. Die Autoren griffen darum zu einer Terminologie, wie sie analog in den christlichen Gemeinden und in der staatlichen Kirchenverwaltung üblich war. Die Suche nach Begriffen zur Beschreibung dessen, was die Behörden erwarteten, bewirkte nun des Weiteren einen Transfer der jüdischen Konzeptionen in christliche Begriffs-Strukturen, die den christlichen Behörden verständlich waren. Ich will einige Beispiele dafür nennen (Grözinger 2009: 489-495): a) Bis in das beginnende 19. Jahrhundert hatten sich die Juden als ‚Juden‘ (Jehudim) oder mit dem biblischen Ausdruck ‚Volk Israel‘ bezeichnet und darunter stets einen ethnisch-nationalen Verband verstanden, der zugleich durch den Bund mit Gott ein religiöser Verbund war. Die neuen Synagogenordnungen sprechen demgegenüber von ‚israelitischen Religionsgemeinden‘, ‚israelitischen Glaubensgemeinden‘, von

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‚israelitischer Cultusgemeinde‘, ‚israelitischer Gemeinde‘, ‚mosaischer Gemeinde‘ oder gar ‚israelitische Kirchengemeinde‘, und ‚israelitische Kirche‘. Die ehemaligen Volksgenossen werden nach der neuen Terminologie ‚israelitische Glaubensgenossen‘, oder ‚Kirchenglieder‘. Die Juden sind hier nurmehr als religiöse ‚Gemeinschaft‘ definiert, die ein gemeinsamer ‚Glaube‘ – nicht ein Gesetz wie bei Mendelssohn – verbindet, die einen gemeinsamen ‚Cultus‘ pflegen, mithin Kirche im Mendelssohnschen Sinn sind. Diese den jüdischen Gemeinden beigegebenen Prädikate greifen bewusst vor die ethnisch-jüdische Terminologie zurück, nämlich auf das religiöse Israel und auf Moses, den Offenbarungs-Mittler, die auch dem christlichen Leser vertraut sind. Konsequenterweise gibt es nun, wie in Württemberg eine zentrale staatliche ‚Oberkirchenbehörde‘ oder wie in Westfalen und im Rheinland ‚Consistorien‘. b) Die bisherige unbestrittene Hauptfigur der jüdischen Gemeinde war der Rabbi, der aber mit dem jüdischen Gottesdienst nichts zu tun hatte. Seine Hauptaufgabe war die eines Richters und Rechtsentscheiders. Der Gottesdienst wurde von der gesamten männlichen Betergemeinde verantwortet. Nunmehr begegnen wir völlig neuen Amtsbezeichnungen. Die Synagogenordnungen nennen die Rabbiner jetzt ‚israelitische Geistliche‘, Religionsgelehrte, Seelsorger oder gar jüdische Theologen. Die ihnen zugeschriebene Funktion ist hier nicht mehr im Gerichtshof zu finden, sondern sie erscheinen als Prediger und Leiter im Gemeindegottesdienst und als Seelsorger der Gemeinde. c) Die Synagoge, hebräisch Bet ha-Kneset, bedeutet einfach das Versammlungshaus und kann darum vielen Funktionen dienen. Nun aber nennen die Autoren die Synagoge ‚kirchliches Gebäude‘, ‚Gotteshaus‘, gar auch ‚Wohnung Gottes‘ und schließlich auch ‚Tempel‘. d) Entsprechend wird der Almemor, oder die Bima, die einfach ein Vorlesepult zur Toralesung darstellt, jetzt zuweilen ‚Altartisch‘ genannt. e) Der Bar-Mizwa, also der Status des Erwachsenwerdens eines männlichen Juden wurde zur Confirmation. Was bedeutet all das? Um sich den deutschen Behörden verständlich zu machen, haben die Autoren der Synagogenordnungen also eine doppelte Transformation vorgenommen, eine sprachliche und sodann – viel gravierender – eine kulturelle. Bei dieser Transformation der zentralen jüdischen KulturBegriffe wurde das jüdisch-ideologische Bezugsfeld der beschriebenen Gegenstände verlassen und für ein christliches Bezugsfeld eingetauscht. Der jüdischen Kultur wurde ein christliches Mäntelchen umgehängt. Unter diesem

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Mantel blieb aber das meiste beim Alten, bei der rabbinisch-jüdischen Kultur. Die Folge dieser Verkleidung war, dass nun auf beiden Seiten der beteiligten Kulturen eine missverständliche Täuschung entstand. a) Die christlichen Behörden konnten nun glauben, die jüdisch-religiöse Kultur zu verstehen und daraus entsprechende gesetzliche Folgerungen abzuleiten. In Wahrheit deuteten sie aber die Regelungen entsprechend ihrem christlichen Deutehorizont, worauf sie die in den Synagogenordnungen verwendete Terminologie ja hinwies, oder sagen wir besser irreleitete. Den deutschen Beamten war aber wohl kaum bewusst, dass ein traditioneller jüdischer Leser diese Texte völlig anders verstehen musste als ein christlicher. Denn der Christ würde einen christlichen, der Jude aber einen jüdischen Deutehorizont für die verwendete Begrifflichkeit anlegen. b) Der jüdische Leser wird hingegen diese Texte entweder überhaupt nicht verstanden haben, weil sie ihm als christliche Texte erscheinen mussten, die nicht seine kulturelle Realität beschreiben. Oder aber er wird die Synagogenordnungen entgegen der dort verwendeten Terminologie missverstehen und in seinem jüdischen Sinn deuten, der aber nicht der neuen Terminologie entspricht. Jede Seite liest diese Texte nach ihrer eigenen Tradition. Keine Seite versteht den Text nach seinem Wortsinn. Es entstehen lauter Missdeutungen Das bedeutet, durch den sprachlichen und kulturellen Transfer der jüdischen Terminologie ist etwas völlig Neues entstanden, das von beiden Seiten notwendigerweise nicht richtig verstanden werden konnte. Jeder Leser musste sich erst seinen ihm genehmen Deutehorizont suchen oder erschaffen, um mit seiner Hilfe die Texte zu lesen.

2. Transformation jüdischer Begrifflichkeit ins Deutsche – bei Kafka Der Blick auf die Problematik der jüdischen Synagogenordnungen des 19. Jahrhunderts kann uns helfen, in eben der selben Weise die Texte von Franz Kafka besser einzuordnen und zu verstehen. Das was im 19. Jahrhundert mit diesen Synagogenordnungen geschah ist eben dasselbe, das auch Franz Kafka in vielen seiner Texte praktizierte. Er transferierte jüdische Narrative

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in ein bürgerlich-christliches Milieu. Dies hatte die selben Folgen, wie ich sie soeben für die Synagogenordnungen beschrieben habe. Die christlichen Kafka-Leser kannten die neu verkleidete jüdische Kultur Kafkas nicht. Und auch die jüdischen Leser verstanden die Texte nicht mehr, weil sie eine christlichbürgerliche Verkleidung trugen. Kafka selbst ist dieser kulturelle Transfer mit seinen hermeneutischen Folgen sehr wohl bewusst gewesen. Er beschrieb dies einmal in einem Brief an Max Brod: Weg vom Judentum, […] wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. Eine Inspiration, ehrenwert wie irgendeine andere, aber bei näherem Zusehn doch mit einigen traurigen Besonderheiten. Zunächst konnte das, worin sich ihre Verzweiflung entlud, nicht deutsche Literatur sein, die es äußerlich zu sein schien. (Briefe 337)

Kafka sah also sehr wohl, dass deutsch schreibende Juden eben oft jüdische Literatur mit einem deutschen Kostüm produzierten, nicht aber eine wirklich deutsche Literatur im Sinne einer deutschen Kulturtradition. Es ist ja auch dieses Urteil, das Gershom Scholem über Kafkas Schreiben fällte1 und das ich entsprechend in meinem Buch über Kafka und die Kabbala aufnahm – ein Urteil, das ich im Folgenden allerdings differenzieren werde, im Sinne einer neuen Literatur zwischen den Kulturen. Ob Kafka sich selbst in diese zwiespältige Beurteilung deutsch schreibender Juden einschließen wollte, sagt er nicht. Immerhin hat er einmal, wieder Max Brod gegenüber, die Meinung vertreten, dass man als jüdischer Schriftsteller zwischen den Kulturen keiner Seite wirklich gerecht werden kann. Er sagt das als Beurteilung von Max Brods Aufsatz zur Philosophie: Das problematische der ‚Philosophie‘ scheint mir übrigens deutlich jüdische Problematik zu sein, entstanden aus dem Wirrwarr, daß die Eingeborenen einem, entgegen der Wirklichkeit, zu fremd, die Juden einem, entgegen der Wirklichkeit, zu nah sind und man daher weder diese noch jene im richtigen Gleichgewicht behandeln kann. (Briefe 378)

Die deutsch-jüdischen Autoren sitzen demnach zwischen zwei Stühlen, wenn sie auch glauben, auf nur einem Stuhl zu sitzen. Die Deutschen, denen man sich nahe fühlt, sind dennoch fremd, die Juden, mit denen man fremdelt, blei1 „Aber ‚Separatgedanken‘ über Kafka habe ich mir selbstverständlich auch schon gemacht, die aber freilich nicht Kafkas Stellung im Kontinuum des deutschen (in dem er keinerlei Stellung hat, worüber er selbst sich übrigens nicht im mindesten zweifelhaft war; er war wie du wohl weißt Zionist), sondern des jüdischen Schrifttums betreffen.“ (Scholem/Benjamin 1975: 212)

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ben doch das eigene Fleisch und Blut, die eigene Kultur. Kafka sieht die kulturelle Kluft der deutsch-jüdischen Autoren seiner eigenen Gegenwart demnach sehr wohl - und sie prägt tatsächlich auch sein eigenes Schreiben, was ich im Folgenden skizzieren möchte.

3. Die Verkennung der Kulturtransformation in der Kafka-Deutung In meinem Buch über Kafka und die Kabbala habe ich die These vertreten, dass vor allem der Proceß-Roman und noch weitere Texte Kafkas tief in der jüdischen Tradition verwurzelt sind. Ich vertrat da die Auffassung, dass der Proceß gleichsam eine kafkasche jüdische Neujahrspredigt darstellt. Eine solche Predigt befasst sich mit dem Grundthema der jüdischen hohen Herbstfeiertage von Neujahr bis Jom Kippur (und Sukkot). Das Thema dieses Festzyklus ist das himmlische Gericht und des Menschen Rechtfertigung vor diesem Gericht. Dieser meiner jüdischen Deutung des Proceß-Romans wurde von manchen Seiten entgegengehalten, dass der Proceß seinen Höhepunkt doch gerade in einem christlichen Dom und nicht in einer Synagoge erreicht und keinerlei jüdische Terminologie erkennen lässt. Ich hatte, mit anderen Autoren, dagegen argumentiert, dass diese Verlegung in den Dom einen Teil der Verstellungsstrategie Kafkas darstelle – ein Argument, das mich selbst nie ganz befriedigt hat (Grözinger 2014: 19, 57). Nimmt man jedoch die hier schon mehrfach angesprochene Situation des jüdischen Autors zwischen den Kulturen ernst, so wird man statt von Verstellungsstrategie lieber von einer kulturellen Transformation sprechen, die notwendigerweise solche Unklarheiten erzeugt. Ist dem so, so kann man sagen: Kafka hat in diesem Roman, wie einst die Autoren der Synagogenordnungen, ein jüdisches Narrativ einer doppelten Transformation unterworfen. Er hat die jüdischen Feiertagserzählungen und -Motive zum einen in eine andere Sprache transferiert – vom Hebräischen und Jiddischen ins Deutsche –, und, was noch einschneidender war: Er hat die jüdischen Festtraditionen aus ihrem rabbinisch-kabbalistischen Verstehenshorizont herausgenommen und in einen bürgerlich christlichen Horizont verlagert. Die Folgen dieser Verlagerung waren dieselben wie im Falle der Synagogenordnungen, nämlich Nichtverstehen, Missverstehen und Fehldeutungen auf beiden Seiten. Die Juden erkannten ihre Narrative nicht mehr, weil sie in ihrem neuen

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Gewand nicht mehr die eindeutigen terminologischen Markierungen ihrer Festnarrative aufwiesen und die Christen verstanden die Erzählungen nicht, weil sie deren ursprünglichen Verstehenshorizont, die sie tragende jüdische Tradition, überhaupt nicht kannten und sie nicht in ihren christlichen Verstehenshorizont passten. Was da im bürgerlich-christlichen Gewand einherkam, war nur eine Verkleidung, eine irreführende Kostümierung eines eigentlich jüdischen Narrativs. Zum anderen passte dieses neue christliche Kostüm nicht zu dem traditionellen christlichen Verstehenshorizont, das heißt, sie waren im Rahmen des christlichen Denkens unverständlich. Deshalb erschienen den christlichen Lesern diese Texte Kafkas rätselhaft. Sie mussten darum nach anderen Deutehorizonten suchen, welche dieses hybride Narrativ verständlich machen könnten. Die so vielfältige und schillernde Rezeptions- und Deutungsgeschichte der Kafka’schen Texte ist ein sprechendes Zeugnis dieser Suche nach ‚Meinungen‘ zu Kafkas Texten.2 Das Gesagte, dass Kafka religiös-jüdische Kontexte in ein christlichbürgerliches Gewand übertragen hat und so Missverständnisse erzeugte, erlaubt aber auch eine positivere Beurteilung. Durch die Überführung des jüdischen Narrativs in ein neues Gewand ist etwas Neues entstanden, das weder vollkommen seinem Ausgangspunkt noch seinem angestrebten Zielort entspricht. Das interkulturelle Resultat steht zwischen den Kulturen, es hat etwas Neues hervorgebracht, für das man erst Deutehorizonte suchen oder schaffen musste. Genau diese Notwendigkeit ist es, welch den Texten Kafkas eine so kreative Rezeption verschaffte. Es ist die Suche nach Deutemöglichkeiten für dieses neue, nicht eindeutig zu verortende interkulturelle Produkt. Ähnliches ist mit den eingangs vorgestellten Synagogenordnungen geschehen. Sie haben letztlich ein neues Judentum, eine neue Synagoge erzeugt, einen neuen Rabbiner und einen neuen Gottesdienst mit einem neuen Dekor, wie wir sie heute kennen.

2 Siehe Grözinger (2014: 219): biographisch, allgemein anthropologisch (Lebenskrise), tiefenpsychologisch, soziologisch, auch katholisch-christlich (Erbsündenlehre).

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4. Kafkas Transformationsarbeit im Proceß-Roman – Deutungsangebote Ich will nun noch zeigen, wie dieser hier angewandte methodische Ansatz zum Verständnis von Kafkas Texten beitragen kann. Ich sagte es schon. Die Platzierung des zentralen Geschehens des Proceß-Romans in den Dom, in welchem sich Josef K. sogar einmal bekreuzigt (KKAP 284), konnte für meine judaistische Deutung des Proceß-Romans als Problem betrachtet werden. Anerkennt man allerdings den bislang beschriebenen Kultur-Transfer, dann muss man erkennen, dass die Platzierung des Gesprächs im Dom nur konsequent ist. In den entsprechenden jüdischen Predigten zu den hohen Herbstfeiertagen, aus welchen viele der Motive in Kafkas Roman stammen, kommt der Prediger bei der Klimax häufig auf die Synagoge zu sprechen. In der Synagoge ist an diesen Feiertagen der Ruf zur Öffnung der Himmelstore der zentrale Topos. Wird dies nun in den christlichen Deutehorizont übertragen, ist es folgerichtig, dass das synagogale Motiv vom Öffnen der Tore des Heils nun in den Dom verlagert wurde – der hier die Synagoge ersetzen musste. Und so wie sich die Synagoge durch den Dom ersetzen ließ – wir hatten dies ja analog schon bei den Synagogenordnungen gesehen – wurde nun in der Parabel von dem Mann vor den Toren des Gesetzes auch der jüdische Begriff der Tora durch den christlichen Begriff des Gesetzes ersetzt. Der Mann vom Lande steht nun nicht vor den Toren der Tora, sondern vor den Toren des Gesetzes. Das Bild von den Toren des Gesetzes, in welche ein Mensch eintreten kann und soll – ein jeder in sein eigenes – muss für den christlichen Leser tatsächlich rätselhaft erscheinen. Er kennt diese Vorstellung nicht. Ganz anders der traditionell gebildete Jude, der diese Vorstellung aus der jüdischen Mystik und aus der Kabbala kennt. Allerdings ist es auch hier auf jüdischer Seite wegen der Transferierung in die christliche Kultur zu Unverständnis gekommen. Dasselbe gilt für die der Parabel folgende Erörterung. Im christlichen Dom muss eine solche talmudische Debatte über einen Parabeltext letztlich unverständlich bleiben, da hat sie keinen Raum. In der Synagoge hingegen wird eine entsprechende Debatte über die Tora sehr wohl verstanden, denn hier ist sie zu Hause. Diese Erörterung der Parabel hätte in der Synagoge kaum rätselhaft gewirkt. Aber hier im Dom bleibt dies ein Fremdkörper. Für ihn musste der christliche Leser einen neuen – nicht traditionell christlichen – Verstehenshorizont suchen. Wie dieser Text in seinem angestammten jüdischen Verstehenshorizont zu deuten ist, habe ich in meinem Buch ausführlich

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dargestellt. Wie er allerdings in seinem neuen kulturellen Zwischen-Kontext zu verstehen ist, bleibt eine ganz andere Frage. Und wie dies bei den Synagogenordnungen der Fall war, wird wohl jeder Leser von Kafkas Texten seinen eigenen subjektiven Verstehenshorizont für dieses neue Produkt heranziehen, wie man dies ja schon bei Hans Georg Gadamer (1960) lernen konnte. Urteilt man nach der oben angeführten Äußerung Kafkas, so wird ihm wohl bewusst gewesen sein, dass seine Art der Neuformulierung des jüdischen Narrativs auch ihn selbst als Autor zwischen den Kulturen verortet, wie er dies an anderer Stelle einmal nachdrücklich formulierte: Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang. (KKAN II: 98)

In gleicher Weise zeichnete Kafka Josef K. in der Situation des Fremdseins: „Wie, wenn er ein Fremder gewesen wäre, der nur die Kirche besichtigen wollte? Im Grunde war er auch nichts anderes.“ (KKAP 285)

5. Kafkas Transformationsarbeit bei zahlreichen Motiven Was ich bislang zur herbstlichen jüdischen Festthematik im Proceß-Roman sagte, gilt analog für die anderen Themen und Motive, welche Kafka aus der jüdischen Tradition aufnimmt. Da ist die Lehre von der Seelenwanderung, die Kafka an vielen Stellen seiner Erzählungen in transformierter Weise wiedergibt. Auch hier übernimmt er das Narrativ, nimmt aber nicht die zugehörige lurianische Theologie mit, die dem traditionell gebildeten Juden den entsprechenden Verstehenshorizont bereitstellt – darauf werde ich im Folgenden nochmals näher eingehen. Ebenso die Vorstellungen von der Macht des Wortes, die er mehrfach als Urteilsfluch oder schöpferische Macht verwendet, ohne den Leser mit der jüdischen Lehre von der Macht der Heiligen Namen vertraut zu machen (Grözinger 2014: 138, 162). Kafka weiß beim Schreiben sehr wohl, dass er das jüdische Narrativ in einen fremden Kontext überträgt, wofür es in den Texten verschiedene Indizien gibt. So hält Kafka es im Proceß-Roman für nötig, darauf hinzuweisen, dass das hier verhandelte Gericht kein gewöhnliches Gericht ist, und dass

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es daneben noch die gewöhnlichen bekannten Rechtssachen gibt (Grözinger 2014: 219). Damit zeigt er an, dass er hier eine erklärungsbedürftige Tradition verarbeitet. Sodann wird dieser unbekannte ‚Proceß‘ einmal als ‚Strafproceß‘ definiert (KKAP 122), auch dies ein Erklärungsversuch für den bürgerlichen Leser, der ihm das Fremde in seiner Sprache nahebringen soll. Außerdem gibt Kafka Hinweise auf die ursprünglich religiöse Herkunft der Vorstellungen. Da ist zum einen natürlich der Dom mit seinem Kaplan ein wichtiges Indiz, dann die Formulierung, dass jeder sein Kreuz zu tragen habe (KKAP 179), außerdem nimmt er einmal eine klassische rabbinische Formel auf: „denn jeder der ruht kann immer, ohne es zu wissen auf einer Wagschale sein und mit seinen Sünden gewogen werden.“ (KKAP 262) Besonders eklatant, und von Kafka mehrfach angesprochen, ist das Eliminieren eines für die Kabbala zentralen Elements bei dieser Transformation des jüdischen Narrativs. Kafka lässt bei seiner Rezeption kabbalistischer oder ḥ asidischer Traditionen den Glauben an die Theurgie fort. Das heißt den Glauben, dass der Kabbalist oder der ḥasidische Rebbe fähig ist, drohende oder schon eingetretene Verhängnisse abzuwehren. In der Transformation des kabbalistischen Glaubens an die Theurgie wird bei Kafka aus diesem Glauben an die magisch-theurgische Macht die Illusion und Selbstüberschätzung der Helden und der Aberglaube ihrer Anhänger. Kafka belässt bei seiner Übertragung in das europäische Milieu den handelnden Personen den Anspruch, theurgische Macht zu besitzen, stellt diesen Anspruch aber als Erzähler zwischen den Kulturen in Frage – das schönste Beispiel dafür ist Josefine, die Sängerin. Für Kafkas Helden erweisen sich diese theurgischen Versuche als Fehlschlag. Sie laufen in die Irre oder verfangen sich in Zyklen auf niedriger Ebene, die nicht zu dem intendierten höheren Ziel vorzudringen vermögen (Grözinger 2014: 23). Auch bei den Helfern des Angeklagten Josef K., in denen sich deutlich die ḥasidischen Helfergestalten des Zaddik oder Rebben widerspiegeln, die vor allem mit Beziehungen, Fürsprachen vor Gericht und mit Theurgie eingreifen, zeigt sich derselbe Zweifel an der kabbalistischen Lehre. Auch in diesem Zusammenhang der Macht der Kabbalisten findet eine weitere bedeutsame Transformation statt: Aus dem kabbalistischen Glauben an die göttliche Macht der Helfer, wird bei Kafka der illusionäre Glaube des Hilfesuchenden, wie Kafka dies einmal den Erzähler in der Geschichte von Josefine sagen lässt: und wenn [ihr Gesang] das Unglück nicht vertreibt, so gibt er uns wenigstens Kraft, es zu ertragen […]. Freilich, sie rettet uns nicht und gibt uns keine Kräfte […]. Und doch ist es wahr, daß wir gerade in Notlagen noch besser als sonst auf Josefines Stimme horchen. Die Drohungen, die über uns stehen, machen uns stiller, bescheidener, für Josefinens Befehls-

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Mit solchen Überlegungen bietet Kafka selbst einen neuen, psychologischen Deutehorizont an, der weit vom ursprünglich jüdischen Verstehenshorizont entfernt ist, der aber auch nicht dem traditionell christlichen entspricht, sondern der modernen Psychologie. Ich will abschließend an einem besonders klaren Beispiel die Transformationsarbeit Kafkas und die daraus entstandenen Verstehensprobleme nachzeichnen. Es ist die merkwürdige Geschichte Kafkas von jenem KatzenLamm – unter dem Titel Die Kreuzung (KKAN I: 372-74). Als jüdisch-kabbalistisches Pendant zu dieser Erzählung darf man die Erzählung vom zutraulichen Bock des Kabbalisten Jizchak Lurja betrachten, die ich hier anfüge, im Vertrauen, dass der Leser die Erzählung Kafkas vom Katzenlamm selbst in seinem Bücherbord besitzt. Die Geschichte Lurjas lautet: [Der zutrauliche Bock] Eines Abends, als sie [Lurja und seine Schüler] saßen und lernten, kam ein großer Bock herein, öffnete die Tür, ging zum Rabbi [Jizchak Lurja] und flüsterte ihm ins Ohr – vor allen versammelten Genossen. Der Rabbi antwortete ihm und sprach: ‚Geh in Frieden, ich will tun, wie du sagtest!‘ Der Bock ging hinaus, und alle Anwesenden waren sehr verwundert. Da sprach der Rabbi zu Rabbi Ḥajjim Vital: ‚›Steh auf, geh und kauf den Bock um jeden Preis, den man von dir fordert, und bring ihn dann zu mir!‘ Er sprach: ‚Herr, woran soll ich ihn erkennen?‘ ‚Geh, er wird sich dir schon zu erkennen geben!‘ Er machte sich auf und ging vor die Stadt zu einer Herde. Da sprang ihm schon der Bock entgegen und steckte sein Horn in seinen Gürtel. Der Hirte schlug den Bock, um ihn wegzutreiben, aber es gelang ihm nicht. R. Ḥajjim Vital sagte zu dem Hirten: ›Was schlägst du ihn, ich will ihn kaufen!‹ Der Hirte lachte: ‚Sein Herr ist sehr reich und wird ihn nie verkaufen!‘ ‚Ich will zu ihm gehen‘, sagte R. Vital und ging. Er sprach mit dem Herrn und dieser forderte den Preis von fünfzig Böcken. Er gab es ihm und zog den Bock mit sich fort. Der Rabbi sandte nun nach allen Schächtern, dass sie vor ihn kommen sollten, und alle kamen. Er gebot ihnen, dass jeder sein Messer schleife. Dann nahm der Rabbi ein Messer von ihnen, und alle Schächter prüften es. Dann sprach der Rabbi zum Bock: ‚Leg dich auf den Boden und sprich das Bekenntnis!‘ Der Bock gehorchte. Und alle sahen, dass [der Bock] weinte. Als er fertig war, sagte der Rabbi zu ihm: ‚Streck deinen Hals!‘ und wieder gehorchte er. Sie wollten ihn festbinden wie es der Brauch, der Rabbi aber sagte, es sei nicht nötig, weil er ja freiwillig den Hals hinhielt. Dann gebot er R. Sofina, er solle schächten, und er sagte ihm die Meditationen, die er beim Schlachten durchsinnen solle. Er tat, wie ihm geheißen ward, und wollte hernach die Lunge prüfen. Aber wieder meinte der Rabbi, dass man auch dies nicht brauche, denn der Bock habe ihm schon zuvor gesagt, dass er innen makellos koscher sei. Dann befahl er, dass man nichts von dem Tier wegwerfe, außer dem Blut und dem Kot. Von seinem Fell solle man Tora- und Tefillinrollen fertigen und seine Hörner zu Schofarhörnern machen und alles Fleisch solle man vor ihn bringen. Sodann rief er nach einem Toraschreiber, der schrieb die Meditationen auf und schickte sie zusammen mit einem Stück Fleisch an die Gelehrten, die davon wollten, damit

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sie es unter den besagten Meditationen essen sollten. Nachdem alles abgeschlossen war, fragten ihn die Genossen, was das zu bedeuten hätte. Und er erklärte: ‚Der Bock war einst ein Schächter. Eines Tages nötigten ihn die Gojim, hastig zu schlachten und er bemerkte nicht, dass an dem Messer eine winzige Scharte war, so dass er das Fleisch als koscher ausgab, was aber [wegen jener Scharte] als unkoscher gelten musste. Und so brachte er die Juden zum Essen von nicht koscherem Fleisch. Da ist der Bock zu mir gekommen und bat mich, ihm den Tikkun, die Wiederherstellungssühne, zu verschaffen, indem man ihn schlachte und mit dem Messer besonders sorgsam sei, denn wenn das Messer untauglich wäre, müsse er in den Gilgul zurück. Darum habe ich ihm den Tikkun verschafft!‘ Alle Genossen blieben in Furcht und Schrecken. Und in der Nacht kam jener im Traum zum Rabbi und sprach: ‚Dein Geist möge im ewigen Leben ruhen, wie du mir Ruhe schufest!‘ (Grözinger 2014: 152f.)

Zunächst möchte ich auf die Gemeinsamkeiten beider Erzählungen hinweisen, um deren Verwandtschaft und damit Vergleichbarkeit aufzuzeigen. Beide Geschichten erzählen von einem Tier, das kein wirkliches Tier ist. Es ist ein Tier, das sich eher zu den Menschen hingezogen fühlt, sich ihnen präsentiert und die eigene Tiergesellschaft meidet oder verlassen will. Es ist ein Tier, das sich einsam fühlt, da es in der Tiergesellschaft nicht zuhause ist. Beim Menschen hingegen fühlt sich das Tier geborgen und sucht dessen Schutz und Hilfe. Ja das Katzenlamm wird fast menschengleich, es weint, wie der Bock Lurjas, verschmilzt geradezu mit dem Menschen. Beide, das Katzenlamm und der Bock machen dem Menschen eine Mitteilung. Und diese Mitteilung ist die zentrale Gemeinsamkeit. Für das Katzenlamm wie für den Bock erscheint das Schlachtmesser des Fleischers beziehungsweise des Schächters die Erlösung zu bringen. Noch ein letztes ist zu nennen: Das Katzenlamm ist ein Erbstück aus der Familie, gehört also schon vorausgegangenen Generationen von Menschen an, so auch der zutrauliche Bock – er trägt eine Schuld aus vorausgegangenen Generationen mit sich. Beide Tiere tragen ein Generationen übergreifendes Schicksal. So weit die wesentlichen Gemeinsamkeiten der beiden Erzählungen. Diese eigenartigen Motive und Zusammenhänge müssen jeden Leser ratlos zurücklassen – es sei denn, er kennt den dazu gehörigen theologischen Deutehorizont. Die hebräische Erzählung der Kabbalisten bietet diesen Verstehenshorizont ausdrücklich an – jeder Kabbalist würde die hebräische Geschichte allerdings auch ohne die hier angefügte Deutung verstehen. Diese Deutung der merkwürdigen Geschehnisse durch den kabbalistischen Meister bietet dem einfachen Frommen auf alle Fälle den nötigen Verstehenshintergrund der Ereignisse. Und gerade in diesem wichtigen Detail unterscheiden sich die beiden Erzählungen voneinander. Kafka hat diesen wichtigen

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Verstehenshintergrund für seine westlichen Leser ausgelassen und sie so in das Verstehensproblem gestürzt. Was ist aber dieser Verstehenshintergrund? Die Geschichte vom zutraulichen Bock ist eine Geschichte von der Seelenwanderung. Nach dieser kabbalistischen Lehre müssen alle Menschenseelen so lange wiedergeboren werden, bis sie ihre ethisch-moralische Vollendung erlangt haben. Wenn immer ein Mensch sündigt und diese Sünde nicht durch Bußübungen gesühnt werden kann, muss die Seele erneut in die Seelenwanderung, um dort die im vorigen leben begangenen Sünden zu sühnen. Diese Reinkarnation kann bevorzugt in Tieren stattfinden, ebenso in neuerlichen Menschen, aber auch in Pflanzen und Mineralen. Im Fall einer Reinkarnation in einem koscheren Tier ist die rituelle Schlachtung des Tieres die Erlösung der in ihm inkarnierten Seele. Also das Schlachtmesser bringt die Erlösung und erlöst die Seele aus der Seelenwanderung. Das Thema dieser Geschichten von der Seelenwanderung ist die menschliche Sünde. Es ist eine Generationen übergreifende Sünde. Die Seelenwanderungsgeschichten von solchen Mensch-Tieren erzählen demnach, wie eine Menschenseele durch die Schlachtung des Tieres, in welchem sie haust, erlöst wird. Der Ort und das Thema dieser Erzählung in der jüdischen Heimatkultur ist also die menschliche Sünde und die Möglichkeit, sie zu sühnen. – Und gerade dies ist, wie jeder weiß, auch das zentrale Thema in Kafkas gesamtem Werk – insbesondere natürlich im Proceß-Roman. Es ist demnach naheliegend, dass Kafka für seine Darstellung dieses Themas auch zu Geschichten von der Seelenwanderung greift. Aber auch hier transportiert Kafka die Geschichte aus der jüdisch-kabbalistischen Kultur in ein westeuropäisches bürgerliches Milieu. Das kabbalistische Milieu bleibt wie bei den Synagogenordnungen ausgeblendet. Und darum versteht kein westlicher Leser diese Geschichte. Der westliche Leser macht sich deshalb auch in diesem Fall auf die Suche nach einem für ihn selbst plausiblen Deutehorizont. Beliebt ist der biographisch-soziologische Deutehorizont. Karlheinz Fingerhut deutet den geschäftstüchtigen Vater Kafkas als die gierige Katze und die sanfte aus einer Gelehrtenfamilie stammende Mutter als Lamm. Dies sei, so Fingerhut (2007: 19), das widersprüchliche persönliche Erbe Kafkas. Als Alternative bietet er eine symbolische Deutung: Das Lamm als das Christentums und die Katze – als leicht veränderter Löwe – als das Judentum und folgert: Die Katze ist die Schrumpfform des domestizierten jüdischen Löwen, des jüdischen Glaubens im Kopf und Herzen des Westjuden. […] Kafka durchdenkt die unmögliche Kombination des geistigen und gedanklichen Erbes aus Judentum und Christentum in der Seele

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eines assimilierten Westjuden, der zu keiner Gruppe wirklich gehört, weder ganz Lamm noch ganz Katze ist, sondern eine unglückliche Mischung aus beidem. (Fingerhut 2007: 19)

Und so fort. Man spürt hier die Not des Exegeten. Gerhard Neumann in seinen Kafka Lektüren denkt an Kafkas Grausamkeitsphantasien und meint: In den gleichen Kontext von blutigen Grausamkeitsphantasien gehören auch schon die relativ frühen Erzählungen ›Brudermord‹ - und ›Eine Kreuzung‹; beide Erzählungen deuten, wenn auch auf unklare Weise, auf das Verhältnis zur eigenen Familie, auf den ›Ekel‹ vor dem Blutkreislauf, der Kafka mit dieser verbindet. (Neumann 2013: 200; vgl. S. 8: Das menschliche Selbst als Kreuzung)

Jeder Exeget sucht sich für die aus der jüdischen Tradition transformierte und amputierte Geschichte einen Deutehorizont, der ihm plausibel erscheint. Demgegenüber scheint mir die Erkenntnis, dass Kafka in seinem Schreiben kulturelle Transformationsprozesse vollzieht, eine methodische Hilfe dafür, herauszufinden, wo Kafkas Geschichten angesiedelt waren und was sie mit in das neue Gewand hinüberbrachten. Nach dem oben Gesagten wäre das Grundthema der Geschichte vom Katzen-Lamm die Generationen übergreifende menschliche Schuld, die letztlich nur mit dem Tod gesühnt werden kann. All die weiteren und durch die Transformation entstandenen hybriden Motive sollten von dieser Ausgangseinsicht her gedeutet werden, sprich von der menschlichen Schuld und Sühne. Es scheint, dass die Frage der menschlichen Schuld in dieser transformierten Version als etwas absurd Widersprüchliches dargestellt wird, das so vertrauliche Züge wie das liebe Kätzchen haben mag, aber am besten durch das Fleischermesser gelöst werden kann, aus Anhänglichkeit an die eigene Herkunft jedoch bis zum natürlichen Tod ausgehalten werden muss. Mein Resümee ist demnach: Am besten wird man Kafka verstehen, wenn man als hermeneutische Methode die Beobachtung der interkulturellen Transformationsprozesse anwendet, also den Sinn der Tradition in der Geberkultur bei der Deutung des Textes in der Empfängerkultur berücksichtigt und zum Angelpunkt der Deutung werden lässt.

Literatur Fingerhut, Karl Heinz (2007): Kennst du Franz Kafka. Weimar: Bertuch. Gadamer, Hans Georg (1960): Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: J. C. Mohr (Paul Siebeck.)

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Grözinger, Karl E. (2009): Jüdisches Denken, Theologie-Philosophie-Mystik, Bd. 3 Von der Religionskritik der Renaissance zu Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert. Frankfurt/ Main: Campus. Grözinger, Karl E. (52014): Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka. Frankfurt/Main: Campus. Neumann, Gerhard (2013): Kafka-Lektüren. Berlin: de Gruyter. Scholem, Gershom (1975): Walter Benjamin – Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt/ Main: Suhrkamp.

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Amerikanismus, Jiddisch, Judentum und Interkulturalität: Nathan Birnbaum und Franz Kafka Am Anfang seiner Autobiographie Streitbares Leben schrieb Max Brod im Kapitel Judentum als Problem über seine „jüdische Entwicklung“. Er erwähnte zunächst „die armselige ostjüdische Schauspieltruppe“, die er im Cafe Savoy entdeckte, und die für ihn und für seinen Freund Franz Kafka, „einen wahren Begriff vom jüdischen Volkstum“ vermittelte (Brod 1969: 47). Zweitens berichtete Brod über die Bedeutung der Vorträge der hervorragenden jüdischen Denker und Persönlichkeiten, die Prag besuchten, und in diesem Rahmen nannte er an erster Stelle Martin Buber, dessen drei Reden über das Judentum entscheidend für die Entwicklung des Prager Zionismus und auch darüber hinaus wurden. Diese drei Reden und ihre Wirkung auf den Prager Kulturzionimus sind Themen, die schon öfters und detailliert besprochen worden sind. Aber im selben Zusammenhang erinnerte sich Brod auch an den in Prag gehaltenen Vortrag von Nathan Birnbaum. Brod schrieb enthusiastisch über „die glühende Erscheinung des Bekenners Nathan Birnbaum“ (Brod 1969: 48). Brod behauptete an dieser Stelle, dass Birnbaum leider „die rechte Standfestigkeit fehlte.“ (Brod 1969: 48) Er fügte kurz hinzu: „Auf Buber dagegen konnte man bauen.“ (Brod 1969: 48) Brod schrieb diese Zeilen mehr als fünfzig Jahre nachdem Buber und Birnbaum ihre Besuche in Prag abgestattet hatten. Aus diesem Grund muss man die Retrospektive Brods sowie die unterschiedlichen Schicksale Bubers und Birnbaums als jüdische Schicksale in Betracht ziehen, um den Vergleich Buber–Birnbaum und die komplexen, ja problematischen Formulierungen Brods einschätzen zu können. Man muss erklären was Brod damit meinte, als er schrieb, dass man auf Buber bauen konnte. Was meinte Brod genau, als er beteuerte, dass Birnhaum die rechte Standfestigkeit fehlte? Auf diese Fragen geht er in seiner Autobiographie nicht ein. Auch Kafka erwähnte Birnbaums Besuch in Prag, aber gerade zur Zeit seines Besuchs, d.i. in seinen Tagebüchern. Mitte Januar 1912 hielt Birnbaum einen Vortrag als Gast beim Jüdischen Volksliederabend des zionistischen Bar Kochba. Dies war offensichtlich der erste Besuch Kafkas bei einer Veranstaltung dieses Vereins (Bezzel 1975: 57). Kafka kommentierte Birnbaums „ostjüdische Gewohnheit“, besonders seine Redewendungen, die jiddische

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Elemente miteinbeziehen, oder auch seine Frisur (KKAT 360), besonders detailliert aber auch Birnbaums Nase und Angesicht: „Grosse gekrümmte, nicht zu schmale und doch an den Seiten breitflächige Nase, die vor allem infolge der guten Proportionalität zum grossen Bart schön aussieht.“ (KKAT 361) Kafka verzichtete an dieser Stelle darauf, sich konkret über den Inhalt von Birnbaums Vortrag zu äußern. Aber dies ist eher typisch für Kafka, oder zumindest ist es in den Tagebüchern keine Ausnahme. Da Nathan Birnbaum weder in der jüdischen noch in der nicht-jüdischen Geschichtsschreibung bekannt ist, sei kurz seine Biographie vorgestellt. Birnbaum, der 1864 in Wien geboren wurde, war eine der faszinierenden, dynamischen und charismatischen jüdischen Persönlichkeiten der Moderne (Fishman 1987; Wistrich 1988; Kühntopf-Gantz 1990). Als Student an der Universität Wien war er Mitbegründer des ersten jüdisch-nationalen Studentenvereins Kadima sowie vermutlich der erste, der den Terminus Zionismus verwendete, und zwar mehr als zwölf Jahre, bevor Theodor Herzl in die öffentliche Diskussion über den jüdischen Nationalismus und Zionismus vor der Öffentlichkeit eintrat. Birnbaum schuf 1884 die erste jüdisch-nationale Zeitschrift in deutscher Sprache (Selbst-Emanzipation) und war bis zu seinem Tod unermüdlich als Journalist und Herausgeber von Zeitungen und Zeitschriften tätig. Er hielt 1897 beim ersten Zionisten-Kongress ein Referat, das seine kulturzionistische Orientierung begründete und zu dieser Zeit befürwortete er Hebräisch als die Nationalsprache des jüdischen Volkes. Bald aber wurde er aus den führenden Kreisen der Bewegung und aus der zionistischen Weltorganisation ausgeschlossen, während er sich weiter mit dem politischen Zionismus auseinandersetzte, von dem sowie von Herzl er sich bald distanzierte. Birnbaum blieb aber permanenter Fixpunkt und Gesprächspartner in der jüdischnationalen Presse und veröffentlichte mehrere Broschüren und Bücher über seine kulturzionistische Vision der Zukunft der jüdischen Nation (Birnbaum 1894, 1898, 1902; s. a. Doron 1984; Persyn 2003). Besonders einflussreich war seine Broschüre Die Jüdische Moderne (1896), wobei der junge Martin Buber im Nachhinein behauptete, dass es gerade diese Lektüre war, die ihn zum überzeugten Zionisten gemacht habe. Während Birnbaum sich vom Zionismus distanzierte, wurde er zum Diaspora-Nationalisten. Der Schwerpunkt seiner Kritik am Zionismus hatte mit dem zionistischen Begriff der Verneinung der Diaspora zu tun, auch Ablehnung des Exils, welche die zionistischen Bestrebungen – politisch oder geistig-kulturell – untermauerten und die er letzten Endes nicht akzeptieren konnte. Er war allmählich überzeugt, dass die Juden Osteuropas eine lebendige und schöpferische Masse darstellten, die die besten Eigenschaften einer Nation und des jüdischen Volkstums aufwiesen

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oder verkörperten. Birnbaum wurde zum Verfechter der jiddischen Sprache, weshalb er auch nach Czernowitz zog, um dort für die Ziele des Diaspora-Nationalismus und der Anerkennung der jiddischen Sprache zu wirken. Er war Initiator und Veranstalter der ersten Weltkonferenz für die Jiddische Sprache 1908 in Czernowitz (Bass 2000). Diese Konferenz war ein wichtiges Ereignis im modernen Kampf um die Anerkennung der jiddischen Sprache als Nationalsprache. Viele der führenden Dichter und Schriftsteller der modernen jiddischen Literatur nahmen daran teil, u. a. Avrom Reyzen, Yitskhok Leybush Peretz, Sholem Asch, Khayim Zhitlovski, Hersh Dovid Nomberg. Die Konferenz sprach sich für die Rechte des Jiddischen als, neben dem Hebräischen, Nationalsprache des jüdischen Volkes aus. Zwei Bände von Birnbaums Ausgewählten Schriften erschienen 1910 in Czernowitz. Viele von seinen Essays wurden schon vorher in der deutschsprachigen zionistischen Presse veröffentlicht. Diese Tätigkeiten lagen in der Vergangenheit, als Brod und Kafka ihn Anfang 1912 in Prag erlebten. Birnbaum hatte aber schon um 1910 begonnen, sich mit der strenggläubigen Richtung im Judentum – von Adass Jisroel vertreten – zu identifizieren und wurde praktizierender orthodoxer Jude sowie Generalsekretär von Adass Jisroel und Sprecher der jüdischen Orthodoxie. Eine Zeit lang wohnte er in Berlin, aber auch in Hamburg und in Wien bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus, in dessen Folge er nach Holland ins Exil ging, wo er 1937 starb. Als Max Brod im Nachhinein schrieb, dass Birnbaum die rechte Standfestigkeit fehlte, bezog sich dies vielleicht auf eine grundlegende intellektuelle Schwäche oder Instabilität, die für die diversen ‚jüdischen‘ Wandlungen verantwortlich sei, oder darauf, dass seine Distanzierung vom Zionismus nach dem Aufstieg des Nationalsozialismus und den damit verbundenen millionenfachen jüdischen Opfern unentschuldbar sei. Obschon einige biographische Details über Birnbaum skizziert wurden, um Wesentliches über Leben und Karriere zu vermitteln, geht es hier weder um eine biographische, noch um eine quellenkritische Studie, obschon es sehr wahrscheinlich ist, dass einige von Birnbaums Veröffentlichungen als Quellen für Kafkas Schriften dienten. In der Kafka-Forschung wird Birnbaum gelegentlich erwähnt, hauptsächlich im Zusammenhang mit seiner positiven Evaluierung des Ostjudentums, die auch bei Kafka und Brod zu spüren ist. Diese Evaluierung hat bei Birnbaum seine endgültige Ablehnung des Zionismus in Gang gesetzt, was nicht bei Brod und auch nicht bei Kafka der Fall war. Wie Birnbaum betrachtete auch Max Brod das Ostjudentum positiv, was aber nicht bedeutete, dass er sich vom Zionismus distanzierte. Brods Schlussfolgerung war eine entgegengesetzte. Man könnte vermuten, dass die Kafka-Forschung versuchen würde, Birnbaums Aktivitäten und Schriften für

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das Jiddische mit Kafkas Faszination für das Jiddische Theater sowie mit dem Interesse für die jiddische Sprache in Beziehung zu setzen, was soweit ich weiß jedoch noch nicht passiert ist. Aber es gibt andere Gemeinsamkeiten bzw. gemeinsame Felder zwischen beiden. Kafka interessierte sich intensiv für das Hebräische. Birnbaums Aufsatz Hebräisch und Jiddisch, der 1902 in der kulturzionistischen Monatschrift Ost und West erschien, versuchte die kulturellen und nationalen Konsequenzen der „Eigentümlichkeit eines Volkes mit zwei Sprachen“ (Birnbaum 1910/I: 301) zu verstehen. Birnbaums Schriften über Sprache sowie seine Kritiken zum Theater stellen meiner Meinung nach ein noch nicht erschlossenes, aber vielversprechendes Gebiet für die KafkaForschung dar. Was aber in diesem Beitrag gezeigt werden soll, ist, wie Franz Kafkas Verständnis von Amerika (USA), das durch Nathan Birnbaums Schriften teilweise vermittelt wurde, und wie Birnbaums Gedankengut über Amerikanismus und Nationalitäten in Amerika ihren Weg in das Konzept des Verschollenen fanden. Birnbaums Vermittlung eines Konzepts von Amerikanismus, das in Kafkas Roman zum Ausdruck kommt, bildet ein Paradebeispiel von literarischer Interkulturalität. Ich möchte zwei kurze Texte von Birnbaum in diesem Kontext präsentieren. Beide basieren auf seinem Besuch 1908 in den USA. Zunächst seine Briefe aus Amerika, die Anfang 1908 in New York und Chicago entstanden und im zweiten Band seiner Ausgewählten Schriften 1910 veröffentlicht wurden. Der zweite Text ist ein Aufsatz zum Thema Der Amerikanismus und die Juden, der Anfang 1909 in der zionistischen Die Welt veröffentlicht und ein Jahr später in den Ausgewählten Schriften wiederabgedruckt wurde. In den Briefen aus Amerika betont der von außen kommende Beobachter Birnbaum, dass diese neue Welt tatsächlich eine im Verhältnis zu Europa völlig andere Welt ist. Sein Hauptinteresse liegt auf der Entdeckung des jüdischen New York, d.h. auf dem „Ghetto von New York“ (Birnbaum 1910/II: 75), wie er es bezeichnete, womit die Ost-Seite Manhattans gemeint ist, bekannter als Lower East Side. Einerseits findet er die Großstadt, die er suchte: Strass auf, Strass ab, im tosenden Grossstadtverkehr, zwischen den knarrenden Strassenbahnwagen, in ihnen, unter den zitternden und dröhnenden Hochbahnviadukten, an den tausenden Stosswägelchen (pushcarts), mit allerlei billigen Waren, in den einfachen und den eleganten Geschäftsläden, […]. (Birnbaum: 1910/II: 76)

Andererseits entdeckt er Osteuropa in New York: ... nur Juden! Hunderttausende! Überall höre ich jiddisch sprechen. Und von allen Seiten blicken mir neben den englischen hebräischen Buchstaben entgegen. An den Strassenecken die Stände der Zeitungsverschleisser mit den jiddischen Tages- und Wochenzeitungen:

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orthodoxen, zionistischen, territorialistischen, nationalistischen, sozialistischen, anarchistischen. Ich gehe an einer Unzahl Synagogen ... vorbei, an jüdischen Zeitungsofficen, mit ihren gewaltigen Betriebsdimensionen, an den grossen jüdischen Theatern, an den jüdischen Varietes, ... an den unzähligen jüdischen Gaststuben [...] ein unruhiges Gaslicht, das über die Gesichter der Händler und Kundschaften mutwillig dahintanzt – die scharfen Rassenzüge und Geberden hervorhebend. Ein Stück ostjüdischen Gemeinschaftslebens von packender Tatsächlichkeit. (Birnbaum 1910/II: 76)

Die Erschütterung, die in dieser Darstellung des „tosenden jüdischen Massenleben[s]“ (Birnbaum 1910/II: 77) zum Ausdruck kommt, erinnert an die vielen Berichte von den ersten Begegnungen west- und mitteleuropäischer Juden mit dem Ostjudentum in Europa, eine literarische Gattung die hauptsächlich durch Reisen nach Osteuropa oder aufgrund von Kriegserfahrungen entsteht und deren Beschreibungen die Entdeckung des Jüdischen Volkes als Nation in Osteuropa enthusiastisch feiert. Darüber hinaus beschreibt Birnbaum in seinem Brief vom 7. Februar 1908 ein Viertel in Brooklyn, nämlich Brownsville, als das „amerikanische Jerusalem“ (Birnbaum 1910/II: 80), da praktisch die gesamte Bevölkerung ostjüdischen Ursprungs sei. Das intensive jiddische Theaterwesen New Yorks fasziniert Birnbaum, und er beschreibt die Stücke und Aufführungen ausführlich. Einige dieser Stücke sind dieselben, die Kafka kurz danach in seinen Tagebüchern kommentiert, nachdem er sie in Prag sah. Was besonders hervorzuheben ist: dieses Erlebnis der Massen und des Kulturlebens der Ostjuden in New York ermöglicht eine Imaginierung Osteuropas oder sogar Jerusalems, d.h. Jerusalem als Osteuropa, also der jüdischen Zentren der Welt. Der Gegensatz zwischen Ost und West, zwischen Ostjuden und Westjuden ist ihm – so Birnbaum – nirgendwo in der Welt so stark greifbar, so offensichtlich geworden wie in New York. Zusätzlich spiegelt das tobende jüdische Volksleben in New York jüdische Volkskraft wider, oder wie Birnbaum schreibt: „die unerschöpfliche Innenkraft unseres [des jüdischen] Volkes“ (Birnbaum 1910/II: 84). Im letzten Brief aus Amerika formuliert Birnbaum seinen Begriff des Amerikanismus, den er ausführlich in seinem Aufsatz Der Amerikanismus und die Juden erörtert. Amerikanismus ist für Birnbaum eng mit der Metapher des amerikanischen Schmelztiegels verbunden. Dieser Ausdruck – Schmelztiegel – geht auf den Titel des Theaterstücks The Melting Pot des britisch-jüdischen Dichters und Dramatikers Israel Zangwill zurück, das 1908 auf der Bühne in New York und in Washington große Erfolge feierte. Die Metapher des Melting Pot fand Eingang in die amerikanische Umgangsprache als Formulierung für das Konzept der Assimilation der Zuwanderer an den Amerikanismus, eröffnete nach Birnbaum aber auch einen Staatsbegriff mit nationalen

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Ansprüchen, weshalb er dem assimilativen Amerikanismus distanziert gegenüberstand: Auf einem Staatsterrain leben mehrere Völker zusammen. Eines davon ist durch gewisse, nicht immer bessere Eigenschaften oder infolge eines geschichtlichen Vorsprungs zum Staatsvolk par excellence geworden. Es entsteht die Fiktion eines Nationalstaates, es bildet sich eine Art staatsnationale Idee und ein staatsnationaler Fanatismus heraus, der nicht weiss oder nicht wissen darf, was er will. (Birnbaum 1910/II: 94)

Nach Birnbaum gibt es zwar vergleichbare europäische Nationalitäten, diese seien aber anders, da es sich beim Amerikanismus um die Bezeichnung für ein erst werdendes Volk handele, während in Europa die Nationalitäten bereits existierten. Darüber hinaus gilt, dass verschiedene Völker „einen ungleich grossen Assimilations-Koeffizienten“ (Birnbaum: 1910/II: 97) haben, weshalb der Prozess der Assimilation nur mehr oder weniger erfolgreich, mehr oder weniger vollständig sein könne. In der Tat ist der Amerikanismus für Birnbaum keine nationale, sondern eine internationale Zivilisationsform. Er ist „ein ins Groteske verzerrter Europäismus“ (Birnbaum: 1910/II: 98). Im Grunde ist die Idee einer amerikanischen Nation eine Art Arnerkennung dieser internationalen und antinationalen Natur des Amerikanismus. Es ist die instinktive Suche nach einem Weg heraus aus diesem modernen Babylon, in dem die Völkerseelen zerrüttet und die Menschenseelen verwüstet werden, zu neuer Sammlung, zu neuer Schönheit, zu neuem Charakter. Aber es ist ein falscher Weg. (Birnbaum: 1910/II: 99)

Birnbaum kritisiert daher Zangwill und seinen schiefen Blick, und er ruft nach einer „entschiedenen Abkehr von seinem Schmelztiegel Ideal“ (Birnbaum 1910/II: 99f.) auf. Obwohl Birnbaum seine Kritik am Amerikanismus eher prinzipiell formuliert, betont er die möglicherweise negativen Auswirkungen spezifisch auf die Ostjuden. Der Amerikanismus stelle eine wesentliche Gefahr für die stark ausgeprägte ostjüdische Eigenart dar. Aber es bleibe eine offene Frage, inwiefern oder in welchem Umfang der Amerikanismus die Zukunft der Ostjuden in den USA im nationalen Sinn unwiederbringlich kompromittieren wird, d.h. inwiefern der Amerikanismus der kräftigen ostjüdischen Lebensbejahung, die ihr Volksleben und ihre Volksseele determinieren, schaden werde. Es ist wohl möglich, strukturelle und inhaltliche Parallelen zwischen Birnbaums Texten und Kafkas Verschollenen zu ziehen, obwohl dies in der KafkaForschung noch nie unternommen wurde. Am Anfang des ersten seiner Briefe aus Amerika beschreibt Birnbaum ausführlich seine Gedanken und seine Erlebnisse auf dem Schiff vor der Landung im Hafen von New York, wie er „in einem sanft wiegende Schiffe die alten Gedanken und Empfindungen ruhig weiter spinnt und landend, plötzlich in eine neue Welt hineingafft.“

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(Birnbaum 1910/II: 75) Dies erinnert an den Anfang des Heizer-Kapitels. Aber auch Birnbaums Beschreibung der amerikanischen Massen, des technologischen Fortschritts, der Generalversammlungen und Volksredner und der „leidenschaftlich aufgewühlten Strassen“ (Birnbaum 1910/II: 84) der Stadt erinnern an Stellen in Kafkas Roman. Gleiches gilt für Birnbaums Darstellung der immer neuen Wellen der Kandidaten für Amerikanismus, d.h. der Zuwanderer, Emigranten, die das Potential der Assimilation verkörpern, und die an die Konstellation der Figuren in Kafkas Roman erinnern, die ein breites Spektrum von unterschiedlichen europäischen Nationalitäten repräsentieren. Um von der Darstellung Birnbaums über Amerika und Amerikanismus zu Kafkas Konzept von Amerika in seinem Verschollenen überzugehen, sei darauf hingewiesen, dass die Entdeckung des Ostjudentums auf der Grundlage persönlicher Erfahrung von New York im Zentrum von Birnbaums Texten steht. Birnbaum reist nach New York und schreibt nuanciert über den Amerikanismus, hauptsächlich um das Wesen und Schicksal des Ostjudentums zu begreifen, sofern es in New York seinen wahrsten gesellschaftlichen Ausdruck zeigt. Diese von Birnbaum verfassten Texte sind eng mit den jüdischen und zionistischen Deutungen von Kafkas Verschollenem verknüpft, obwohl Birnbaums Schriften über Amerika und Amerikanismus nicht direkt Erwähnung finden. Es gibt eine Reihe von jüdischen und zionistischen Deutungen dieses Romans, und an dieser Stelle nenne ich vielleicht die wichtigsten davon, weil sie in der Kafka-Forschung nicht vernachlässigt werden sollen. Drei davon sind zwischen 2003 und 2008 in der Deutschen Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte erschienen: zunächst Bernhard Greiners Im Umkreis von Ramses: Kafkas ‚Verschollener‘ als jüdischer Bildungsroman (2003); dann Joseph Metz‘ Aufsatz über Zion in the West: Cultural Zionism, Diasporic Doubles and the ‚Direction‘ of Jewish Literary Identity in Kafka‘s ‚Der Verschollene‘ (2004); und der Beitrag von Philipp Theisohn, Natur und Theater: Kafkas Oklahama Fragment im Horizont eines nationaljüdischen Diskurses (2008). Dieser Aufsatz knüpft an den sechsten Teil seiner Studie Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur – eine andere Poetik der Moderne (2005 bei Metzler erschienen) an, der dem Verschollenen gewidmet ist. Theisohn behauptet in dieser Studie: „Kafka ist in Oklahama im Zentrum einer zionistischen Exilpoetik angelangt.“ (Theisohn 2003: 84) Ohne alle Aspekte dieser Diskussion über jüdische und zionistische Auslegungen in Betracht zu ziehen, möchte ich kurz den Sinn oder vielleicht die größere Bedeutung dieser Interpretationen ansprechen. Bernhard Greiner versucht den Begriff der Gerechtigkeit ins Zentrum seiner Analyse des

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Romans zu stellen, und bietet eine typologische Analyse an, die basierend auf dem Konzept der ‚westjüdischen Zeit‘ den Aufenthalt und Weg des Progatonisten im Roman als eine Wiederholung der Erfahrung der biblischen Israeliten versteht, allerdings ohne Ankunft am Sinaiberg. Für Greiner ist der Roman Ausdruck des widersprüchlichen Verhältnisses Kafkas zum Judentum, ohne den Zionismus im Rahmen dieser spezifischen Interpretation integrieren zu müssen. Joseph Metz interpretiert den Verschollenen im Rahmen des Prager Kulturzionismus und dessen Konflikt zwischen westjüdischer Assimilation und ostjüdischer Authentizität. Durch die Symbolik des Romans werden Kafkas problematische Beziehung zum kulturzionistischen Denken sowie seine positive Bewertung der jiddischen Kultur und seine ambivalente Auffassung seiner literarischen Identität als assimilierter Westjude zum Ausdruck gebracht. Für Metz ist Karl Rossmanns Bewegung westwärts paradoxerweise eine Bewegung nach Osten: sowohl die Verkörperung der jiddischen Sprache durch die Doppelgänger Delamarche und Robinson, als auch das Auftreten von Kafkas ‚schwarzem‘ ostjüdischem Freund, dem Schauspieler Löwy, in der Figur des Negro führen Karl zum sogenannten „Teater von Oklahama“ (Metz 2004: 646), das ein symbolisches jiddisches Theater darstellt. Der Westen, der vom Ort Oklahama evoziert wird, figuriert den „primitiven“, „authentischen“ osteuropäischen Osten. Doch bleibt nach Metz am Ende aufgrund ihrer mehrdeutigen Metaphorik diese „Fortbewegung nach Zion“ durch eine radikale Instabilität gekennzeichnet. Philipp Theisohn zeigt, wie das Naturtheater von Oklahama-Kapitel des Romans („Naturtheater“ ist die Bezeichnung von Brod, sie ist nicht im Manuskript auffindbar) im Kontext des nationaljüdischen Diskurses verständlich ist. Aber Theisohn versteht das Naturtheater als eine literarische Formulierung des Krisensyndroms des Zionismus. Theisohn interpretiert Kafkas Hinwendung zum jiddischen Volkstheater als nationale Alternative. Theisohn sieht „die ganze Wahrheit des Romans“, indem er „selbst wiederum nur eine Inszenierung des Ostens im Westen“ (Theisohn 2008: 648; 2005: 245) abgibt. Darüber hinaus verspricht nach Theisohn das Naturtheater in Oklahama universelle Erlösung. Viele Elemente in diesen Interpretationen sind eng mit dem zionistischen und kulturzionistischen Diskurs der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg verbunden, wie er besonders im Prager Zionismus zum Ausdruck kam. Max Brod hat diesen Diskurs in seinen zionistischen Aufsätzen bedient, besonders die Auffasssung, dass der Zionismus eine universelle Erlösung für das ganze Menschengeschlecht hervorbringen würde (Gelber

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1988). Was an dieser Stelle betont werden muss, ist, dass Nathan Birnbaum diesen Diskurs in seinen amerikanischen Schriften vermittelt, während er die Aufrechterhaltung der ostjüdischen Lebensweise als nationales und menschliches Bedürfnis über die Grenzen des Judentums befürwortete. Wesentliche Teile von Kafkas Roman scheinen etwas Ähnliches anzustreben.

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‚Unbestimmter Wohnsitz‘: Heimat und Erbe bei Max Brod und Franz Kafka2 Max Brod nahm Heimat ernst. Man könnte sagen, dass er im Lauf seines Lebens mehrere Heimaten hatte. In diesem Aufsatz soll der Frage nachgegangen werden, was für ihn Heimat gewesen sein könnte. Dabei soll keineswegs seine Loyalität zum Staat Israel angezweifelt werden, wo er zum Zeitpunkt seines späten Todes 1968 zuhause war. Zu seinen vielen und möglicherweise widersprüchlichen Erklärungen von Heimatverbundenheit müssen wir seine Aussage über seine Ankunft auf palästinensischem Boden 1939 zählen: „ich war tatsächlich hier angelangt, der glücklichste Mensch. Denn endlich stand ich da, wo ich immer hätte stehen sollen.“3 Wichtiger als dieser Augenblick der Ankunft war jedoch die eilige Abreise, die ihr voranging: der Moment im Jahr 1939, am Vorabend des deutschen Einmarsches in Prag, als Brod viele seiner eigenen unveröffentlichten Schriften und die seines verstorbenen Freundes Franz Kafka in zwei mittelgroße Lederkoffer packte und sich auf die Flucht begab. Dieser Aufsatz hat die Begriffe der Heimat und des Erbes in den Werken und Vorstellungen von Franz Kafka und dessen Freund Max Brod zum Thema. Das mag sich seltsam, wenn nicht sogar gegensätzlich anhören in einem Band zum interkulturellen Kontext, aber es ist gerade die Spannung zwischen diesen Termini, der ich nachzugehen versuchen möchte. Meine Überlegungen stehen im Kontext des vor kurzem ausgebrochenen unseligen Streits über den richtigen archivarischen Aufbewahrungsort des Max-Brod-Nachlasses, fast ein Dreivierteljahrhundert nach dessen Entkommen. Nach dem Tode der ehemaligen Sekretärin und Erbin von Brod, Ilse Esther (Ester) Hoffe, ein Lager von Handschriften eingeschlossen jenen, von Kafkas eigener Hand, sollten von den Töchtern von Hoffe geerbt werden. Dieselben drückten die

1  Übersetzung mit Andrea Rottmann. 2  Teile des Folgenden sind auf Englisch erschienen in Scott Spector, Modernism without Jews? German-Jewish Subjects and Histories (Bloomington: Indiana University Press, 2017), 121-136. 3  Siehe Claus-Ekkehard Bärsch zu Brods Ankunft in Palästina als Heimkehr in einem Brief an den Soziologen Alfred Weber (Bärsch 1999; Šrámková 2009: 348, Fußnote 24).

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Absicht aus, diese ans Deutsche Literaturarchiv Marbach zu verkaufen.4 In dieser Auseinandersetzung scheint die strittige Frage, wo sich diese Generation deutschsprachiger jüdischer Schriftsteller beheimatet und zugehörig gefühlt hat, wieder aufgetaucht zu sein. In dem Gerichtsprozess, in dem der richtige Aufbewahrungsort dieser Materialien ermittelt werden sollte, stand diese Frage zwar weder formell noch implizit zur Verhandlung. Die erhitzte Debatte, die sich um den Prozess herum entwickelte, war jedoch gesättigt von den Diskursen um nationales Kulturerbe, die wahre Kultur und wirkliche Heimat der Autoren Kafka und Brod, und den richtigen Empfänger ihrer jeweiligen oder gemeinsamen Nachlässe. Haggai Ben-Shammai, der akademische Direktor der israelischen Nationalbibliothek, der die Archivalien schließlich zugesprochen werden sollten, hat es so gesagt: „Als [Max] Brods Leben und Kafkas Erbe, das er beschützte, in Gefahr waren, entschied er sich, nach Israel zu kommen.“5 Ben-Shammais Aussage sollte natürlich die Ansprüche der israelischen Nationalbibliothek auf den literarischen Nachlass Max Brods unterstreichen, inklusive einiger Dokumente aus der Feder seines Freundes Franz Kafka. In seinen weiteren Ausführungen fuhr er fort, „seit seiner Jugend beschrieb sich Brod als Zionist und engagierte sich in der zionistischen Bewegung und im jüdischen Kulturleben in Prag.“6 Auf diese Weise machte er sein Recht auf Brods Vermächtnis nicht nur an dessen Einwanderung in das unter britischem Mandat stehende Palästina und seine spätere israelische Staatsbürgerschaft fest, sondern explizit an seiner Prager Jugend. Franz Kafka und sein Freund Max Brod wurden 1883 bzw. 1884 in Prag, Landeshauptstadt Böhmens in der österreichisch-ungarischen Monarchie geboren. Die Tatsache, dass diese jungen Männer als Teil sowohl der jüdischen als auch der deutschsprachigen Minderheiten in Prag aufwuchsen, bedeutete keinesfalls, dass sie nicht dazugehört hätten oder sich gar als Außenseiter gefühlt hätten. Die Hälfte, vermutlich sogar etwas mehr als die Hälfte der deutschen Minderheit in Prag war jüdisch – etwa zehn Prozent der Prager Bevölkerung um die Jahrhundertwende sprach Deutsch, und diese zehn Prozent waren sowohl relativ wohlhabend als auch in vielerlei Hinsicht kulturell 4  Während ihres Lebens hat Ester Hoffe Teile dieses Erbes verkauft, bes. das vollständige Manuscript des Prozesses, zu jenem Zeitpunkt die teuerste je auktionierte Handschrift (Trucco 1988: 1). 5  Auf Englisch sagte Ben-Shammai: „When [Max] Brod‘s life and Kafka‘s heritage that he was protecting were endangered, he chose to come to the Land of Israel.“ (Aderet 2011b). 6  „[…] from a young age [Brod] described himself as a Zionist and was active in the Zionist movement and in furthering Jewish culture in Prague.“ (zit. n. Aderet 2011b).

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bestimmend. In mancher Hinsicht waren Menschen wie Brod und Kafka Teil einer privilegierten Minderheit, in anderer Hinsicht wurden sie immer stärker marginalisiert – ein komplexes Phänomen, das sie gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Machtstruktur situierte und das vielschichtige Auswirkungen mit sich brachte (Spector: 2000: 5-25). Aber kehren wir zu dem Schlüsselbild zurück, wie Brod in großer Eile den Zug besteigt, um vor dem deutschen Einmarsch zu flüchten. Denn dieses Bild ist zentral für die Idee der Heimat und des Erbes. Es verbindet die Frage, wohin Brod gehörte, mit dem kulturellen Erbe seiner und Kafkas literarischer Vergangenheit, die in den materiellen Überresten in seinem Koffer enthalten waren. Es ist selbstverständlich, dass es sich bei Teilen des Kofferinhalts genau um die Dinge handelt, um die aktuell gestritten wird (verwahrt in einem Schweizer Banksafe). Nicht umsonst haben diejenigen, die um diese Dinge streiten und die Zuschauer der Auseinandersetzung die Frage des rechten Aufbewahrungsortes von Brods literarischem Nachlass mit der Frage nach der authentischen Heimat verbunden. Für das Engagement schon des recht jungen Brod für einen jüdischen Nationalismus, später explizit für den Zionismus, gibt es Belege. Seine Entscheidung für das Land Israel mag komplizierter gewesen sein – dazu später mehr. Sehr viel ambivalenter war jedoch Franz Kafkas Verhältnis zu Palästina, zur hebräischen Sprache und zum Zionismus. Daher ist es vielleicht nicht überraschend, dass viele der Kommentare, die man zu dem Fall vernehmen konnte, nicht um Brods, sondern vielmehr um Kafkas wahre Heimat kreisten, in der Annahme, dass es sich bei den vermuteten Gegenständen um die Kafkaschen Manuskripte handelt, die sich in Brods Nachlass befinden, was nicht den Tatsachen entspricht. Dieser Streit soll aber nur am Rand meiner Ausführungen erwähnt werden. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, wie Heimat und Erbe sich in Brods und Kafkas Schreiben und Werdegängen eingeschrieben haben. Lassen Sie uns also an den Beginn des 20. Jahrhunderts in Prag zurückkehren, als sich diese beiden angehenden Schriftsteller als Studenten in der literarischen Sektion der Lese- und Redehalle der Deutschen Studenten in Prag trafen. Kafka und Brod waren nur zwei der jungen Autoren aus dieser wirklich sehr kleinen demographischen Gruppe, die es zu Ruhm in der Welt der deutschen Literatur bringen sollten – der expressionistische Dichter und Romanautor Franz Werfel, der ‚rasende Reporter‘ Egon Erwin Kisch, die Zionisten Felix Weltsch und Hugo Bergman, der Dramatiker Paul Kornfeld, andere wie der blinde Schriftsteller Oskar Baum und die Janowitz-Brüder. Sie alle bildeten die Basis dafür, was später nach Max Brods gleichnamigen Me-

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moiren Prager Kreis genannt werden sollte (Brod 1966). In diesem Buch, wie auch an anderer Stelle, beschrieb Brod eine Situation, in der eine wachsende antisemitische deutschnationale Strömung, die das Studentenleben bereits über die Burschenschaften beeinflusste, nun die der Lese- und Redehalle und die kreativen jungen Köpfe dominierte. In diesem und anderen Bildern stellte die Hinwendung zur Kultur „Uns dürstete nach kulturellen Taten, wir wollten die großen Dichter Deutschlands zu Vorlesungen einladen...“ (Brod 1966: 228) eine Rückzugsmöglichkeit vor der nationalistischen Politik dar, die diese jungen deutschsprachigen Juden ausschloss. Ironischerweise bot die deutsche Kultur eine schützende Insel vor dem sich ausbreitenden deutschen Nationalismus (Brod 1966: 228). Zwar teilten Brod und Kafka eine intensive Beschäftigung mit Literatur, jedoch scheint diese eine unterschiedliche Form angenommen zu haben. Max Brod war – mir steht kein besserer Ausdruck zur Verfügung – zentrifugal: sein umfassendes und tiefgehendes Interesse an Literatur trieb ihn dazu, sich aus sich heraus und den Welten der Kultur zuzuwenden, nicht nur der Literatur, sondern auch der Musik und insbesondere des Theaters sowie der bildenden Kunst. Er strebte danach, eine Verbindung zu unterschiedlichen Künstler- und Schriftstellerkreisen aufzubauen. Ein unermüdlicher Fürsprecher von Künstlern, deren Arbeit ihn überzeugte, ist er zurecht bekannt als Entdecker und Förderer nicht nur von Kafka, sondern auch des Dichters und Romanschriftstellers Franz Werfel sowie des mährischen Komponisten Leoš Janáček, der schon fortgeschrittenen Alters war und selbst im eigenen Land noch recht unbekannt, als Brods Kritik seiner Oper (Její pastorkyňa, erst nach Brods eigener Übersetzung ins Deutsche als Jenufa weltweit bekannt geworden) erschien (Brod 1916: 463). Wer das literarische Leben in Prag, und nicht nur dort, zu dieser Zeit erforscht, wird überall auf buchstäblich Hunderte von Briefen von Max Brod stoßen. Während meiner eigenen Forschung habe ich mich gewundert, wie er überhaupt die Zeit hatte, eine durchaus umfangreiche literarische Korrespondenz zu verfassen. Einmal habe ich in dem Archiv in Jerusalem, das nun wohl die Rechte an seinem Nachlass erlangen wird, danach gefragt. Der Archivar erinnerte sich, dass Brod, wenn er selbst zum Arbeiten in das Archiv oder die Bibliothek kam, sobald er ein Buch oder Archivmaterial bestellt hatte, zu einem Schreibtisch eilte, um während des Wartens fieberhaft Brief um Brief zu schreiben. Anders kann es auch gar nicht gewesen sein angesichts des Netzes, das er mit seiner literarischen Korrespondenz gestrickt hat. Für beide, Kafka und Brod, war Literatur bzw. Kultur Lebenselixier. Wie Kafka absolvierte Brod ein Jurastudium und ging einem geregelten Beruf

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nach (Kafka in einer Versicherung, Brod bei der Post), aber sein wirkliches Leben war die Literatur. Wenn Kafka jedoch über sein Verhältnis zur Literatur nachdachte, stellte er es sich nie anhand von literarischen Netzwerken, Bewegungen, Verbindungen oder Kreisen vor. Zwar hat auch er eine gewaltige Korrespondenz produziert, jedoch beeindruckt diese auf ganz andere Weise: seine Briefe an seine Verlobte Felice Bauer, an seine Geliebte Milena Jesenská, an seine Freunde und Familie sind von den Kritikern als literarische Werke untersucht worden, die seiner Fiktion an Komplexität und Reichtum in nichts nachstehen. Mein Kapitel in Prague Territories über die Übersetzungstätigkeiten der Prager Juden enthält eine längere Deutung des Briefwechsels mit Jesenská, die auch vor kurzem als selbständiges Kapitel in Die Moderne ohne Juden? erschienen ist (Spector 2008: 151-167). Ich spiele darauf nur deswegen an, weil die Deutung darin sich auf Korrespondenzen, Übergänge und Überschreitungen bezieht sowie Übertragungen und Übersetzungen, lauter interkulturelle Beziehungen. Die Metaphern, mit denen Kafka sein Schreiben in diesen Briefen und in seinen Tagebüchern beschreibt, waren immer die der Einsamkeit und Isolierung, der Gefangenschaft, Strafe, des Schmerzes und der Folter. In seinen Briefen an Felice beschreibt er die Fantasie als „Lebensweise ... im innersten Raume eines ausgedehnten abgesperrten Kellers zu sein...“ (KKABr2: 40) – eine Vorstellung, die Felice nur missverstehen konnte, schloss sie doch sogar die Möglichkeit eines glücklichen Lebens mit ihr ein. Im gleichen Briefwechsel versuchte Kafka vergebens, ihr zu erklären, dass er aus Literatur „bestehe“ (KKABr2: 261). Die sehr unterschiedlichen Beziehungen, die diese zwei Schriftsteller zum Schreiben selbst hatten, zu Literatur und Kultur – wenn die von beiden auch als interkulturell gesehen werden können – hängt mit ihren letztendlich ganz unterschiedlichen Bezügen zum Konzept der Heimat oder auch des Erbes zusammen. Die Beziehung der beiden Schriftsteller zu Prag ist ein Paradebeispiel. In dieser Gruppe von deutschsprachigen jüdischen Prager Schriftstellern identifizierten alle zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre Prager Heimat als den Ort, zu dem sie gehörten, aber auf unterschiedliche Weise. Egon Erwin Kisch zum Beispiel war der Meinung, dass sein gesamtes Werk als ‚Erinnerungen an Prag‘ zusammengefasst werden könnte.7 Als junger Mann spekulierte Kafka am 20.12.1902 im Gespräch mit seinem Freund Oskar Pollak, dass sie nie fortkommen würden: „Prag lässt nicht los. […] Dieses Mütterchen hat Krallen.“ (KKABr1: 17) Noch 1930 erklärte Brod in Praha a já [Prag und ich], 7  Das Zitat bezieht sich auf Marktplatz der Sensationen: Brief an Frau Knopf, 24.3.39, Nr. 926, NL Egon Erwin Kisch, Literarisches Archiv PNP (Schlenstedt 1985: 17).

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erschienen in der Literární noviny (10.12.1930: 4): „Für meine Person muß ich sagen, dass ich mein Verhältnis zu Prag nicht als etwas zufälliges oder beiläufiges empfinde. Ich bin in Prag zu Hause. Und ich habe keine andere reale Heimat.“ (zit. n. Šrámková 2009: 348, Fn. 23) Natürlich entwickelten sich die Dinge dann ganz anders. Und schon lange vor 1930 hatte Brod auf unterschiedliche Weise andere Heimatländer erkundet. Der junge Max Brod war ein Sucher. Sein kosmopolitischer Impuls, Anschluss an die stärksten kulturellen Strömungen zu finden, zwangen ihn von Anfang an, im Ausland nach Seelenverwandten zu suchen. Zu dieser Zeit waren seine stärksten literarischen Einflüsse französisch. Er liebte die Werke Gustave Flauberts und besonders den symbolistischen Dichter Jules LaForgue. Diese und andere französische Vorbilder standen für eine Art von Ästhetizismus – Kunst um der Kunst willen – die ihn vom entweder neoklassischen oder neuromantischen Modell der Concordia-Generation wegzog. Philosophisch stand er, wie die ästhetizistischen Dichter des späten 19. Jahrhunderts, in der Tradition Schopenhauers. Der junge Brod also – der erste literarische Brod, wenn man so will, denn in diesen Jahren hatte er erste Erfolge als Schriftsteller – war schon transkulturell orientiert. Er entfernte sich von der literarischen Heimat der offiziellen deutschsprachigen Kultur, wie sie in der Concordia verkörpert war, und orientierte sich am Frankreich des späten 19. Jahrhunderts. Die Heimat, die er auf diese Weise umschlang, war keine französische, sondern eine ästhetizistische: es war die Kunst selbst, l‘art pour l‘art, es war Schönheit, die frei sein sollte von nationaler Verbindung, Ideologie oder jedwelchen anderen Faktoren, die dem Kunstwerk selbst extrinsisch waren. Kafka würde man im Allgemeinen nicht in die Kategorien Ästhetizismus, Dekadenz oder l‘art pour l‘art einordnen. Trotzdem könnte man argumentieren, dass seine Haltung zum Schreiben eine Ausweitung und Intensivierung ästhetizistischer Positionen darstellt. Sicherlich scheinen das Leben und die Kunst für Kafka manchmal entgegengesetzte Bereiche gewesen zu sein, wie Max Brod es als der erste in einer erstaunlich langen Linie von Kafka-Forschern behauptete. Andererseits war es nicht die Trennung von Kunst und Leben, die Kafka durchgängig vertrat, sondern vielmehr eine Sichtweise von Kunst, die tief mit dem Leben verbunden sei oder es sogar zu verschlingen verspreche – oder drohe: ‚Schreiben als Form eines Gebetes‘ ist ein vielzitiertes Beispiel dieser Auffassung. Was aber soll dieses Fragment – noch nicht einmal ein vollständiger Satz, der in seinen Notizbüchern auftaucht – , was soll diese Zeile bedeuten? Deutet sie hin auf eine Sakralisierung des Schreibens, oder eine Säkularisierung des Gebets? Wie oben erwähnt, behauptet er

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in einem seiner Briefe an Felice: „Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein“ (KKABr2: 261). So extravagant diese Behauptungen erscheinen mögen, gehören sie doch zu Kafkas und Brods Zeiten. Der spezifisch lokale Kontext einer Gruppe Juden, die gezwungen waren, die Insel der Kultur als Territorium ihrer Existenz ernstzunehmen, überschnitt sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit einer zentraleuropäischen Faszination für das Versprechen, die harte Grenze zwischen Kunst und Leben abzuschaffen. Nach dem Ästhetizismus kam Deutschland. In der fieberhaften Atmosphäre künstlerischer Innovation in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg übte nicht mehr Wien, die Reichshauptstadt, eine starke Sogkraft auf die deutschsprachigen Literaten in Prag aus, sondern Berlin und sogar andere Städte im Deutschen Reich. Ich erinnere mich, wie ich eine Postkarte von Brod an einen anderen Schriftsteller fand, der sich in der deutschen Hauptstadt aufhielt, in der er diese Sezession mit der Notiz „Wie ist Berlin? Ich hasse Wien!“ bestätigte. Wie ich schon vorhin erwähnte, spielte Brod eine wichtige Rolle für den Expressionismus, auch wenn er ihn später als „das Brodsche Gesetz“ – „je talentloser, desto expressionistischer“ kritisierte (Brod 1966: 207). Nicht nur ein Kommentator hat Franz Werfels Lesung des Weltfreunds, die Brod arrangiert hatte, als Gründungsmoment dieser literarischen Bewegung bezeichnet (Sokel 1959). Vor allem waren es aber die Verleger des Kaiserreichs, zunächst Axel Junker, dann Kurt Wolff, denen die vielfältige, wenngleich unkonventionelle Textproduktion von Brod, Werfel, Kafka und ihresgleichen auffiel und die sie als die neue Literaturwelle aus Prag vermarkteten. Deutsche Literatur aus Prag war in, und damit hatte Wien nichts zu tun, sondern das war dem Deutschen Reich zu danken. Aus diesen spärlichen Ausführungen darüber, wie die Literaturszene im Deutschen Reich, insbesondere Berlin, eine ‚Wahlheimat‘ für Brod darstellte, lässt sich allerdings nicht ein Anspruch seitens des Deutschen Literaturarchivs erheben, Aufbewahrungsort für sämtliche deutschsprachige Kultur zu sein. Brod selbst hat nie in Deutschland gelebt, und Kafkas kurzer Aufenthalt in Berlin-Steglitz kann wohl kaum als eine Wahlheimat verstanden werden. Jedenfalls würde die Republik, in der er sich ansiedelte, ihn weniger als ein Jahrzehnt überleben. Andererseits ist es auch falsch anzunehmen, dass die Grundlage jeglicher Ansprüche auf kulturelles Erbe zionistisch sein müsse, oder in der Akzeptanz der These begründet sein müsse, dass alles Schreiben von Juden jüdisch sei und damit israelisches Nationaleigentum. So haben sich viele Kritiker des Gerichtsurteils und des israelischen Prozesses gegen die Hoffe-Schwestern geäußert. Allerdings steht diese Frage, trotz der Worte des

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akademischen Direktors der israelischen Nationalbibliothek nicht zur Verhandlung. In dem Fall in Tel Aviv ging es um Erbrecht, das Urteil fiel im Familiengericht und drehte sich um eine ausgesprochene Zweideutigkeit in Brods letztwilligen Verfügungen und Testamenten (in der Tat existieren mehrere Testamente). Er hinterließ das Material seiner langjährigen Sekretärin und Erbin, Esther Hoffe, und verfügte, dass es einer archivarischen Sammlung wie zum Beispiel dem Vorgänger der israelischen Nationalbibliothek oder einer anderen Sammlung in Israel oder im Ausland übergeben werden solle. Nach seinem Tod 1968 war dies nicht passiert, obwohl einige Gegenstände mit hohem Profit verkauft wurden, insbesondere an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Um ein nationales Recht des Staates Israel oder der Bundesrepublik Deutschland, diese Materialien aufzubewahren, ging es jedenfalls weder in den Testamenten noch in der Gerichtsentscheidung. Nichtsdestoweniger, die Logik scheint durch den gerechten Aufbewahrungsort der Archivalien in Verbindung mit dem nationalen Kulturerbe, eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf den Diskurs ausgeübt zu haben. Ein wichtiges Beispiel ist der Aufsatz von Judith Butler im London Review of Books mit dem provokativen Titel Who Owns Kafka? (Butler 2011) Auf der Basis einiger Kafka-Texte über Heimat oder Heimatlosigkeit, Zugehörigkeit und das Verhältnis zum Jüdischsein, umreißt sie darin, wie man argumentieren könnte, dass Kafka diese Beziehung vom Selbst zur Heimat oder vom Autor zur geerdeten kulturellen Identität in Frage gestellt oder dekonstruiert hat. So könnte man nicht nur argumentieren, sondern diese These wurde bereits aufgestellt (Spector 2000a, b). Kafkas Beziehung zum Zionismus und seine Gedanken über kulturelles Erbe oder lokal verankerte Identität sind für den Fall nicht direkt relevant, wenngleich sie im Kontext des Nachlebens seiner eigenen Schriften und besonders in diesem Fall interessante Ironien darstellen (Spector 2004). Der gefeierte britische Autor Will Self hat nach der Entscheidung ähnlich argumentiert. Er erklärte: „Brod selbst war darauf bedacht, Kafka als zionistischen Heiligen zu kanonisieren, und indem der israelische Staat seinen Nachlass aufbewahrt, wird diese Fälschung fortgesetzt werden...“ (Flood 2012) Die Metapher der ‚Fälschung‘ suggeriert gefälschte Ausweispapiere, einen Akt aggressiver Inauthentizität, der gleichzeitig eine Aneignung ist. Natürlich gehören auch Ben Shammais Bemerkungen, die ich eingangs zitiert habe, in das Register dieser Unterhaltung über den richtigen Aufbewahrungsort für Brods Nachlass, inklusive der Schriften von Kafka. Brods Zionismus war nicht der technische Grund für die Entscheidung der Richterin des Gerichtsfalles, aber Marbach argumentierte, dass Brod ‚eine ungewöhnliche Figur in der Eretz Israel Landschaft seiner Zeit abgab, immer im

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Anzug, sein europäisches Äußeres bewahrend.‘ (Aderet 2011) Daran hat ein Artikel in Ha‘aretz Anstoß genommen: In der Tat war Brod ein komischer Kauz in Tel Aviv, so wie viele seiner Generation, die aus ihren Häusern, ihrer Heimat und ihren Familien entwurzelt worden waren und die sich ein neues Zuhause in diesem seltsamen, heißen Land jenseits des Meers aufbauen mussten. Muss das Deutsche Literaturarchiv daran erinnert werden, welcher Staat dafür verantwortlich war? Und, da wir schon bei Erinnerung sind, wäre dies ein opportuner Moment, um die Umstände der Morde von drei von Kafkas Schwestern in den Todeslagern zu erwähnen? (Aderet 2011)

Nicht ohne Grund scheinen also die Bemerkungen vom Deutschen Literaturarchiv wie auch die der Israelischen Nationalbibliothek, von Judith Butler und Will Self und von so vielen Zeitungsbeiträgen auf Fragen der Heimat und des nationalen Erbes hinauszulaufen. Welche Rolle spielt der Zionismus bei all dem? Anders als es sich mit Franz Kafka verhält, ist Brods Beziehung zum Zionismus nicht umstritten. Zumindest war er bereits in Prag, am Anfang der zweiten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts, ein erklärter jüdischer Nationalist und sprach bald danach von einer Verbundenheit mit dem Zionismus. Was bedeutet das? Die Entscheidung, sich als ‚jüdisch-national‘ anstatt als deutsch-national zu identifizieren war eine politische, die in Prag eine ganz spezifische Resonanz hatte. Jedoch brachte sie nicht notwendigerweise das Verlangen nach einer jüdischen Heimat im historischen Land Israel mit sich. Indem man sich zu dieser Zeit in Prag als Jüdischnationaler identifizierte, spaltete man sich in erster Linie von der deutschliberalen Fraktion ab, der so viele deutschsprachige Prager Juden gemeinsam mit anderen deutschsprachigen Stadtbewohnern angehörten. Dies war die vorherrschende Ideologie der Deutschen in der Stadt, auch noch als der deutsche Liberalismus – kultureller Nationalismus und bürgerliche Ideologie – an anderen Orten in Böhmen, in Wien und im Deutschen Reich in Windeseile von einem ethnischen oder auf Rasse basierenden deutschen Nationalismus überholt wurde, der Juden von der Mitgliedschaft ausschloss. Mit anderen Worten: die ‚Heimat‘ der deutschen Kultur, die Brod und Konsorten so wichtig war, schrumpfte. Was sich aber auch veränderte, war die Art von Heimat, als die sie verstanden werden konnte. Es stimmt sicherlich, dass Schriftsteller und andere aus Brods Generation in den Jahren von 1880 bis 1914 ‚wählen‘ mussten, ob sie sich als deutsch, tschechisch, oder jüdisch definierten, wie es verschiedene Arbeiten in den letzten Jahren betont haben. Aber die Grundlage, auf der sie diese Entscheidung trafen, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen kann, veränderte sich ständig. Man musste sich entscheiden, wie man ein Volkszählungs-Formular

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ausfüllte (dieses fragte nach der Alltagssprache, nicht nach Ethnizität, Nationalität oder Muttersprache, und es stand keine spezifisch jüdische Option zur Verfügung), in welche Schule man seine Kinder schicken wollte. Es gab das tägliche Plebiszit, in welchem sozialen Zirkel man verkehrte, welches Nationaltheater man besuchte (sogar bei Aufführungen von Instrumentalmusik). Aber für Brod, Kafka und ihresgleichen, die fließend tschechisch sprachen, aber in der deutschen literarischen Tradition großgeworden waren, war ein sehr viel verschwommeneres Verständnis von Identifikation und Distanzierung im Spiel wenn es darum ging, abrupt von einem deutschen zu einem jüdischen Selbstverständnis zu wechseln, wie es Brod vergeblich auszudrücken versuchte. Wie ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, hatte die Ideologie des Nationalismus im habsburgischen Böhmen und seiner Hauptstadt Prag nicht nur eine steile Karriere, sondern auch eine einzigartige Form, insbesondere in der Art und Weise, in der sie sich auf Leben und Bewußtsein der assimilierten jüdischen Bevölkerung der Stadt auswirkte. Es überrascht daher nicht, dass die Formen des jüdischen Nationalismus und des Zionismus, die aus dieser Wiege entstanden, sich von denen in Wien, im Deutschen Reich und im Russischen Reich unterscheiden sollten. Als die Bar-Kochba-Vereinigung 1911 Martin Buber in die Stadt holte, hielt er drei Vorträge, die erdbebenartige Auswirkungen auf die Generation junger jüdischer zentraleuropäischer Intellektueller haben sollte. Die Energie und Begeisterung, die von den Vorträgen ausging, scheinen Brod veranlasst zu haben, zur jüdisch-nationalen Sache zu ‚konvertieren‘. Andere aus Brods Kreis, allen voran Hugo Bergmann und Felix Weltsch, waren schon vorher Zionisten geworden. Bubers charismatische Ansprachen jedoch eröffneten ihm und vielen anderen den Horizont einer Heimat, die sich bereits in einem selbst befand, einer inneren Gemeinschaft, die nicht von der Bruchstückhaftigkeit und Entfremdung des modernen europäischen Lebens durchzogen war, sondern dem modernen europäischen Intellektuellen offenstand. Prag befand sich im Epizentrum einer kleinen Gegenbewegung innerhalb des Zionismus, die alternativ als ‚spiritueller‘ oder, häufiger, als ‚kultureller Zionismus‘ bezeichnet wurde. Dieser war vom zionistischen Denker Ahad Ha’am beeinflusst und lief der externen, statischen und diplomatischen Stoßweise von Theodor Herzls ‚politischem Zionismus‘ zuwider und führte in Palästina zu einer anderen Interkulturalität – dem B’rith Shalom, der für einen binationalen jüdisch-arabischen Staat plädierte). Kafka seinerseits besuchte zwar die Buberschen Vorträge, blieb aber unberührt von ihnen. Er fasste sie und den ungebremsten Enthusiasmus seiner Kollegen in einem kurzen Kommentar in seinen Notizbüchern zusammen.

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Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam und sollte mich ganz still, zufrieden damit daß ich atmen kann in einen Winckel stellen. (KKAT II: 225)

Sein Interesse an Palästina kam kurze Zeit später, und einige Zeit danach begann er, Hebräisch zu lernen und entwickelte einen genuinen, wenn auch ambivalenten Enthusiasmus für die palästinensischen Juden (wie sie damals meist genannt wurden, Juden im Yishuv, die im historischen Land Israel lebten). Wie weithin bekannt, entwickelte er dann ein lebhaftes Interesse am Jiddischen Theater und an der jiddischen Sprache und Kultur im Allgemeinen. Jedoch ist auch hier eine Mahnung angebracht. Betrachten wir den Fall seiner brillianten Einführung einer jiddischen Lesung vor einem Publikum in der Jüdischen Gemeindehalle in Prag, so erscheint seine Faszination mit dem Jiddischen nicht als eine romantische Identifizierung mit der echten Heimat, zu der er gehören könnte. Sein Vortrag konstruiert Jiddisch als das Gegenteil eines Fundaments für eine stabile nationale Heimat. (Spector 2000a: 85-92) 1913 publizierte eine Gruppe deutschsprachiger Juden aus Prag ein schmales Bändchen, das paradigmatisch ist für einige der neuen Überlegungen über das Verhältnis von assimilierten zentraleuropäischen Juden zu ihrem Judaismus. Sein Titel war Vom Judentum und es enthielt Dichtung, Kurzgeschichten und Essays. Brods Beitrag hieß Der jüdische Dichter deutscher Zunge, und ist interessant im Hinblick auf die Rekonzeptualisierung der Beziehungen, die ich bereits skizziert habe, insbesondere die mutmaßlich gespiegelten Räume von nationalen Grenzen, Sprache, persönlicher Identität, und literarischer Kultur (Brod 1913). In diesem Text bestreitet Brod die antisemitische Behauptung (die 1913 weiter verbreitet war als je zuvor, und auch von vielen Zionisten geglaubt wurde), dass Juden, denen die Sprachen, die sie benutzten, eigentlich fremd seien, eine weniger authentische Beziehung zu diesen Sprachen hätten als echte Staatsbürger, dass ihnen die tiefe völkische Verwurzelung (und das ‚naive Gefühl‘) der einfachen Leute fehle, und dass ihnen der Zugang zur höchsten Dichtkunst der Sprache fehle, der den heimischen Dichtern eigen sei. So schlicht rassistisch wie uns diese Position heute zurecht vorkommt, so schwierig ist es, sich die Anziehungskraft zu vergegenwärtigen, die dieses Bild von Sprache, Dichter und Nationalgeist in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ausübte. Brods Text ist so bemerkenswert, weil er den antisemitische Gemeinplatz nicht auszuhebeln versucht, indem er sich der mystischen Verbindung von Dichter, Sprache und Nation entledigt, sondern indem er seine Bestandteile so verschiebt, dass das essentielle und authentische Band des deutschjüdischen Schriftstellers zum Judentum einerseits und zur deutschen Dichtsprache andererseits gerettet ist. In diesem Text erklärt Brod, dass nur

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dann, und erst dann, wenn ein solcher Autor sich einer jüdisch-nationalen Identifikation zuwendet – also wenn er oder sie sich seiner oder ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Nation bewusst wird, und sich dieser inneren Heimat verpflichtet fühlt – dass er oder sie erst dann Zugang findet zur Sprache der deutschen Poesie. Heute glaubt niemand mehr an derartige Positionen. Dennoch illustriert dieser Text auf höchst aussagekräftige Weise die komplexe Rolle von Heimat und kulturellem Erbe im Denken dieses spezifischen Intellektuellen, wie auch, so möchte ich behaupten, anderer aus diesem gleichen Milieu (genauer, den deutschsprachigen jüdischen Schriftstellern aus Prag). Nach dem Ersten Weltkrieg und der Auflösung des Habsburgerreiches blieb Brod ein Jüdisch-Nationaler innerhalb eines multinationalen Staates, der sich von seinem Vorgänger stark unterschied. Anders als Österreich-Ungarn erkannte die Tschechoslowakische Republik Juden als nationale Minderheit an, und Brod wirkte sogar als Abgeordneter des Jüdischen Nationalrats und kurz als dessen Vizepräsident. In den 1920er Jahren entwickelten sich Brods Ideen zum jüdischen Nationalismus in die Richtung der Vorstellung einer Liebe für die eigene Nation, die paradoxerweise ein Universalismus werden konnte, oder das, was er einen ‚Übernationalismus‘ nannte, wiederum eine Möglichkeit, andere zu verstehen. Was ich damit sagen möchte ist, dass er gleichzeitig in seiner jüdisch-nationalen Haut ‚zuhause‘ sein konnte und in der Tschechoslowakei, insbesondere Prag, wie es das obige Zitat impliziert. Aber dieses Telos, in der Erinnerung Streitbares Leben (Brod 1969) reproduziert, unterdrückt, wie alle solche Teleologien das tun, andere Geschichten, die zu anderen Heimaten geführt hätten. Und doch kennen wir aus der erhaltenen Korrespondenz des emigrierten deutschen Autors Thomas Mann eine andere Geschichte.8 Aus ihr erfahren wir, dass Mann einiges versuchte, um Brod eine bezahlte Stelle in der New York Public Library oder einer anderen Institution zu verschaffen (später versuchte er es beim Zentrum des amerikanischen liberalen Judentums Hebrew Union College in Cincinnati), mit dem Versprechen, dass Brod die in seinem Besitz befindlichen Kafka-Manuskripte mitbringen und den Sammlungen zu-

8  Der auf Englisch verfasste Brief war nicht in der originalen deutschen Ausgabe der Briefe 1937-47 (1963) enthalten, tauchte jedoch in der englischen Ausgabe Letters of Thomas Mann 1889-1955, ausgewählt und übersetzt aus dem Deutschen von Richard und Clara Winston, Einführung von Richard Winston (New York, Alfred A. Knopf, 1971) auf (S. 296-98) (Neumeyer 1975: 418-23).

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kommen lassen würde (Gelber 1988: 437-40).9 Dass Mann dies versuchte, eröffnet uns nicht eine geheime innere Heimat in Brods Fantasien – weder eine Sehnsucht nach Amerika, noch die Fantasie eines Exils unter vielen großen deutschen Literaten, und sicherlich auch keine Identifikation mit dem Reformjudentum. Genauso wenig beeinträchtigt es die Ernsthaftigkeit von Brods Zionismus. Wer auch nur die geringste Vorstellung der Verzweiflung hat, in der sich ein Jude an diesem Ort und zu dieser Zeit befand, kann dies einzig als das verstehen, was es war – eine Option. Es war der Versuch eines ungewöhnlich findigen Menschen, an etwas heranzukommen, das wenige andere Menschen überhaupt in seiner Bedeutung erkannt hätten. Denn nicht nur war Max Brod der erste, der den künstlerischen Wert der Imagination Franz Kafkas erkannte. Er war auch der erste, der über den erheblichen oder vielmehr unvorstellbaren Warenwert des Kofferinhalts nachdachte. Das klingt leider fast so, als sei Brod mehr Spekulant als Freund von Kafka gewesen, oder als hätte er Reichtum mehr als Literatur geliebt, und nichts könnte weniger wahr sein. Der heilige Ernst, mit der er sich der Kunst hingab und ihr sein Leben widmete ist so unwiderlegbar wie sein Glaube an die Großartigkeit von Werken, die Literaturkritiker erst lange nach ihm erkennen würden. Gleichzeitig aber packte er, als er in großer Eile die paar Dinge zusammentrug, die er mit den eigenen Händen tragen können würde, wie alle Flüchtlinge das ein, was ihm am wertvollsten erschien, oder was den größten Wert hatte. Und aufgrund dieser überhaupt nicht selbstlosen Tat besitzen wir heute Kafkas Romane, seine wichtigsten Erzählungen und Fragmente, definitiv den Großteil dessen, was dieser großartige Schriftsteller produziert hat. An diesem Punkt müssen wir uns erinnern, dass Brod diesen unschätzbaren Speicher der menschlichen geistigen Schaffenskraft nicht nur einmal, sondern zweimal gerettet hat. Denn dies ist nicht nur die Geschichte eines Koffers und eines Testaments, sondern auch die von Kafkas eigenem Testament, in dem er sämtliche unveröffentlichten Schriften in die Obhut von Max Brod gab, mit der Anweisung, die er auf ein Stück Papier schrieb und auf seinem Schreibtisch liegen ließ, damit Brod sie finden würde: mein letzter Wille hinsichtlich alles von mir Geschriebenem: Von allem was ich geschrieben habe gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (…) Wenn ich sage, dass jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, dass ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, ent9  Tatsächlich führten diese Bemühungen dazu, dass das Hebrew Union College in Cincinnati sein Interesse bekundete und sogar die Bereitschaft, Brod zu verpflichten, auch wenn daraus schließlich nichts wurde.

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spricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. (…) Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (...) ausnahmslos (…) zu verbrennen und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich (…). (zit. n. Brod/Kafka 1989: 365, 421f.)

Ich werde Brod sicherlich nicht dafür tadeln, dass er dem letzten Willen des Freundes nicht entsprochen hat (so z. B. Strahilevitz 2005). In einer ironischen, wenn nicht gar kafkaesken Wendung sollte Brod als allererstes diese beiden Testamente aus Kafkas literarischem Nachlass veröffentlichen. Sie sind in Gänze in einem Artikel wiedergegeben, in dem Brod mitteilt, dass er die verbliebenen Kafka-Werke besitzt und sich gleichzeitig dafür rechtfertigt, Kafkas Wunsch nicht entsprochen zu haben. Er erzählt seinen Lesern von der ‚negativen Haltung‘, die Kafka zu seiner eigenen Arbeit gehabt habe, einem Minderwertigkeitskomplex, der in dem Artikel Brods Idolisierung des großen Autors gegenübersteht, eine Ehrfurcht, die er in religiösen Begriffen ausdrückt: „die fanatische Verehrung,“ die er für jedes seiner Worte empfand (Brod/Kafka 1989: 107f.). Der Begriff, den Brod für die Aufgabe wählt, die Kafka ihm in seinen Testamenten gegeben hat, enthält eine interessante Spannung: er nennt sie „die herostratische Tat.“ (Brod/Kafka 1989: 107) Das ist eine interessante Wahl. Herostratos, so erzählen die Chroniken, zerstörte den Artemis-Tempel in Ephesus – eines der sieben Weltwunder der Antike – um durch diese Schande unsterblich zu werden. Die Stadt bestrafte ihn daher mit dem Vergessen: sein Name durfte nie mehr genannt werden. Eine herostratische Tat sollte also einen kriminellen Akt der Zerstörung bezeichnen, dessen Zweck die Erlangung von Ruhm ist. Indem Brod die Tat der Zerstörung eines Weltwunders betont, scheint er hier den Begriff nicht ganz richtig zu nutzen. Brod würde nie als der Zerstörer von Kafkas Nachlass in die Geschichte eingehen, sondern er würde immer als derjenige erinnert werden, der sie zweifach vor dem Feuer rettete. Über diesen großen Beitrag schrieb er: „so weit meine Erinnerung und meine Macht reichen, soll nichts verloren gehen.“ (Brod/ Kafka 1989: 109) Diese Kafka-Texte, quasi Testamente, buchstäblich zu verstehen, würde ihnen Gewalt antun, so wie die wortwörtliche Interpretation jedes seiner Texte Gewaltausübung wäre.10 Darüber hinaus wusste Kafka, der Brod so gut kannte, ganz genau, dass dieser entgegen seinem Wunsch seine Texte lesen 10  Der erwähnte Artikel von L. Strahilevitz beispielsweise spielt launisch einen Rechtsstreit nach dem heutigen US-amerikanischen Recht durch, in dem Kafka ‚K‘ genannt wird, ein Subjekt, das zur Aussage gezwungen wird, obwohl es das Recht zu schweigen gehabt hätte. Die Annahme, dass das ‚K‘ in Kafkas Texten für Kafka steht ist so naiv wie die Vorstellung, das seine an Brod gekritzelte Notiz die Intention des Autors widerspiegele, sein Werk zu zerstören (Spector 2000b).

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würde und dass er sie, statt sie zu verbrennen, veröffentlichen würde (Brod/ Kafka 1989: 108).11 In einer ähnlichen Geste gab er den sogenannten Brief an den Vater in die Hände seiner Mutter – genau wissend, dass er von dort niemals beim eigentlichen Adressaten landen würde. Tatsächlich zeigt sich Kafkas Wunsch sein Vermächtnis nicht zu zerstören, sondern zu erhalten nicht nur in der Wahl seines Testamentvollstreckers, sondern auch im Wortlaut seiner Testamente. Die beiden Dokumente wurden wahrscheinlich im Abstand eines Jahres geschrieben, waren beide an Max Brod adressiert und für ihn in Kafkas Zimmer hinterlegt. Das spätere, das ich oben zitiert habe, erschafft nachweislich einen Kanon aus Kafkas Werken, auch wenn es gleichzeitig die Zerstörung der unveröffentlichten Texte anordnete.12 Die kürzere Version des Testaments definiert vielmehr das Archiv, dessen Verbrennung es sicherzustellen vorgibt: zwischen den zwei Teiles des reflexiven Verbs ‚sich finden‘ gibt Kafka ein ausführliches Verzeichnis der Orte, an denen seine Schriften gefunden werden können, die er alle, egal wie skizzenhaft sie sind, zu seinem literarischen Nachlass zählt: Liebster Max, meine letzte Bitte: alles was sich in meinem Nachlass (also im Bücherkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten. (zit. n. Brod/Kafka 1989: 365. 421f.)

Anders gesagt: Der Auftrag, das kulturelle Erbe zu zerstören gibt gleichzeitig ganz genaue Anweisungen, wie das Archiv definiert und wo es zu finden ist – die Einbeziehung dessen, was wir Ephemera nennen würden (Briefe, Skizzen, ‚alles‘ Geschriebene oder Gezeichnete), die Weisung, die Materialien zu holen, die sich im Besitz anderer befinden. Diese Handlungsanweisungen, die in dem von den zwei Teilen des zusammengesetzten Verbs ‚sich finden‘ begrenztem Raum stehen, stellen den Großteil des Testamenttextes dar („alles was sich in meinem Nachlass … findet“). 11  In einem Fernsehinterview aus dem Jahr 1966 bekräftigte Brod, dass er Kafka dies viele Male gesagt habe. 12  Peter-André Alt hat eine verwandte Beobachtung angestellt: „Die Bitte um Vernichtung der Manuskripte enthüllt folglich die versteckte Sehnsucht nach einem öffentlichen Nachleben, die hier nicht ausdrücklich, sondern in Form einer negativen Dialektik zur Sprache kommt. Kafka möchte gelesen werden, ohne dieses einzugestehen; sein Testament ist daher die verkappte Aufforderung zur Rettung des Nachlasses: ein Text, dessen Kasuistik der Welt seiner Romane entstammt.“ (Alt 2005: 19)

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Diese nur scheinbar gegensätzlichen Gesten – Kafkas Testamente, die Vernichtung befehlen, Brods Testamente, die die Bewahrung und Veröffentlichung des Vermächtnisses anordnen – haben wohl den gleichen Ursprung. Es existiert also eine tiefe Verwandtschaft, aber auch – vielleicht viel deutlicher – ein Graben zwischen diesen zwei Arten, den Akt des Schreibens selbst zu betrachten, seine Beziehung zum Autoren, wo und ob der Autor ‚zu Hause‘ ist – wie sich Schreiben zum Ort verhält, was es überhaupt über einen Ort mitteilen kann, auf welchem Boden der Schreibende stehen muss. Die stärkste Unterscheidung dieser beiden verknüpften Alternativen liegt dabei in ihrer Möglichkeit, etwas zu vermachen, und dem Versprechen des Erbes.

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Jörg Krappmann

Der Sudetendeutsche Franz Kafka. Aus dem Steinbruch der frühen Kafka-Rezeption 1. Kafka als sudetendeutscher Schriftsteller In wissenschaftlichen Arbeiten, in denen überhaupt auf Herkunft und Lebenswelt Franz Kafkas Bezug genommen wird, steht meist die Stadt Prag im Vordergrund. Seltener und meist nur in Biographien oder autororientierten Monographien wird auch der breitere Kontext der Habsburger Monarchie aufgerufen. Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden, da Prag politisch bis 1918 Bestandteil der Monarchie war und auch kulturell von der Habsburger Metropole beeinflusst wurde. Zweierlei ist aber an dieser Vorgensweise auffällig. Zum einen wird sozusagen die mittlere Einheit übersprungen, da Prag ja zunächst einmal die Hauptstadt der Böhmischen Länder war, also der regierungs- und teilweise auch verwaltungstechnische Sitz, durch den die Belange in Böhmen, Mähren und in Österreichisch-Schlesien reguliert wurden. Zum anderen dehnen sich die Kontextualisierungen kaum auf die einschneidenden politischen Veränderungen nach 1918 aus. „Wer aber den historischen Unterschied zwischen der österreichisch-ungarischen Habsburger Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg und der Ersten tschechoslowakischen Republik danach ignoriert, kann nur eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung dieser historischen Kontexte gerade für die Lage der Juden in Prag haben“ (Weinberg 2017b: 205). Weinbergs Formulierung richtet sich an dieser Stelle gegen das Minorisierungskonzept von Deleuze und Guattari, wodurch die Beschränkung auf das Judentum motiviert sein mag. Die veränderte Situation nach 1918 betraf aber auch die tschechische und deutsche Bevölkerung in den Böhmischen Ländern in kaum geringerem Maße. Für den Juden Kafka, der sich zur deutschen Sprache und Kultur bekannte, bedeutete der politische Wandel jedenfalls einen, wenn auch zunächst nur terminologischen ‚Identitätswechsel‘. Nach der Gründung der Republik wurde von Amts wegen eine gemeinsame Bezeichnung für die deutsche Minderheit im Lande gesucht, um die zahlreichen regionalen, mit je eigenen politischen Konnotationen aufgeladenen Binnendifferenzierungen (u.a. Deutschböhme,

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Deutschmährer, Prager Deutscher) zu vermeiden. Die tschechische Regierung propagierte fortan den Begriff Sudetendeutsche, der zwar bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts kursierte, sich aber bis dato innerhalb der deutschen Bevölkerung nicht durchgesetzt hatte und auch weiterhin auf Skepsis stieß. Erst Mitte der 1920er Jahre erkannten „Volkstumsorganisationen abseits der politischen [...] Parteien“ (Lemberg 2006: 98), dass die Verwendung des einheitlichen Begriffes es erleichterte, „Fördermaßnahmen und Veranstaltungen im Sinne des Selbstbestimmungsrechts gegenüber tschecholowakischen Ämtern und Behörden durchzusetzen“ (Krappmann 2017a: 6). Erst die propagandistische Politisierung des Begriffs durch Konrad Henlein und die stets enger werdende Bindung an die nationalsozialistische Bewegung im Deutschen Reich führte zur überregionalen Bekanntheit des Begriffs ‚sudetendeutsch‘ und seiner negativen Konnotierung im kollektiven Gedächtnis von Tschechen und (latent) auch Deutschen bis in die Gegenwart. Franz Kafka war also von der Gründung der Republik bis zu seinem Tod 1924 Sudetendeutscher. Inwieweit er dies beurteilt oder überhaupt wahrgenommen hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, da selbst Zeugnisse zu dem nach jahrhundertelanger Habsburger Herrschaft doch entscheidenderen politischen Wechsel in Briefen und Tagebüchern nur spärlich ausfallen und auf kein besonderes Interesse schließen lassen (Alt 2005: 13). Wer so weit aufgrund der historischen Faktenlage noch bereit war mitzugehen, würde es wohl endgültig als Affront auffassen, wollte man nicht nur die Person Kafkas für das Sudetendeutschtum, sondern seine (zumindest seit 1919 erschienenen) literarischen Texte für die sudetendeutsche und nicht mehr für die Prager deutsche Literatur reklamieren. Genau dieser Schritt wurde in der zeitgenössischen Literaturgeschichtsschriebung aber vollzogen, was im Folgenden anhand von Herbert Cysarz und Josef Mühlberger gezeigt werden soll. Zunächst aber muss noch etwas näher darauf eingegangen werden, in welchem Maße eine derartige Zuschreibung gegenwärtig diskreditiert ist. Bis in die Gegenwart wirkt die Dichotomie zwischen Prager deutscher und „sudetendeutscher“ Literatur, die „ganz im Zeichen der marxistischen Ideologie“ gebildet wurde (Weinberg 2017a: 24). Erst durch eine scharfe Trennung der deutschen Literatur in Prag von der restlichen Literatur in den Böhmischen Ländern war es Eduard Goldstücker zu Beginn der 1960er Jahre überhaupt möglich, eine Beschäftigung mit der Prager deutschen Literatur innerhalb der kommunistisch dominierten tschechoslowakischen Germanistik zu initiieren (Goldstücker 1962). Mit welchen Vorbehalten er zu kämpfen hatte, zeigen die Beiträge der beiden Konferenzen in Liblice. Die erste Tagung 1963 war ausschließlich Kafka gewidmet und damit der

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Frage, „ob sich Marxisten überhaupt mit einem dekadenten, bourgeoisen Autor ohne Klassenbewusstsein beschäftigen sollten“ (Weinberg 2017a: 24). Während die Vertreter der tschechischen Germanistik sowie Roger Garaudy und Ernst Fischer dies vehement bejahten, beharrte die DDR-Germanistik geschlossen auf einem weiteren Ausschluss Kafkas aus der Forschung, was in die berüchtigte Degradierung Kafkas zur „Fledermaus“ (Alfred Kurella) mündete (Rohrwasser 2014: 294f.), deren unfreiwillige Komik in regimekritischen Kreisen zum sprichwörtlichen Erkennungszeichen der intellektuellen Unbedarftheit des Staatsapparates wurde.1 In seinem programmatischen Beitrag zur nachfolgenden, sogenannten Weltfreunde-Konferenz (1965), die sich mit dem literarischen Umfeld Kafkas beschäftige, zog Goldstücker darum abermals eine feste, nun aber auch politisch-moralische Grenze , die die humanistische und damit wertvolle Prager deutsche Literatur von der in Gänze nationalistischen, chauvinistischen und weitgehend auch antisemitischen sudetendeutschen Literatur schied (Goldstücker 1967). Goldstücker war sich des Konstruktionscharakters seines Modells bewusst, erachtete aber seine ideologischen Vorgaben zumindest als zielführend. Die beiden anderen Hauptreferenten der Konferenz von 1965, Kurt Krolop und Ludvík Václavek (Krolop 1967; Václavek 1967), wendeten sich aber bereits damals mittels präziser Nachzeichnungen der kulturellen Verflechtungen in und außerhalb Prags gegen eine ästhetische Höherstellung der Prager deutschen Literatur und gegen eine Abwertung der restlichen deutschen Literatur in Böhmen und Mähren. Diese Sichtweise konnte sich innerhalb der tschechischen Germanistik auch nach der Zerschlagung des Prager Frühlings halten, während vor allem in der westdeutschen und anglophonen Forschung Goldstückers Modellbildung ohne Rücksicht auf ihre Genese übernommen wurde. Dies betrifft Arbeiten zur Prager Literaturszene selbst dann, wenn sie wie die dreibändige Biographie von Reiner Stach hinsichtlich Leben und Umfeld Kafkas keinen Rechercheaufwand scheuen. Einem Bericht über die zwar nationale, aber doch liberale Haltung der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten, der Kafka zu Beginn seines Studiums beigetreten war, schließt Stach einen Kommentar an, der das Modell Goldstückers repetiert: Deutsch-chauvinistisch gesinnte Studenten hingegen waren nicht in der Halle, sondern vorzugsweise in der ‚Germania‘ organisiert, einem Parallelverein, der sich zehn Jahre zuvor von der Halle abgespalten hatte und der auf der Grundlage eines eilends verabschiedeten 1 In Wolf Biermanns Ballade auf den Dichter Françoise Villon verteidigt sich der in Verdacht geratene Sänger gegenüber den Beamten der Staatssicherheit: „Hätt ich in diesen Tagen nicht / Kurellas Schrift gelesen / Von Kafka und der Fledermaus/Ich wär verlorn gewesen“. (, 3) [zuletzt eingesehen 25.6. 2018].

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‚Arierparagraphen‘ Juden ausdrücklich ausschloss. Hier fühlten sich vor allem Studenten aus den deutschsprachigen Gebieten des nördlichen Böhmen und Mähren wohl, dem späteren ‚Sudetenland‘. Vor solchen Leuten war man in der Halle weitgehend sicher. (Stach 2015: 233)

Am erstaunlichsten zunächst: 566 teilweise ausführliche Fussnoten enthält allein der Band zu den frühen Jahren Kafkas, dem das Zitat entnommen ist, aber an dieser Stelle fehlt der Nachweis. Dabei ist in der Forschung umstritten, ob der angesprochene Arierparagraph tatsächlich bereits bei der Abspaltung der Germania von der Halle, vulgo eilends, oder nicht vielmehr erst 1913 aufgenommen wurde,2 also zu einer Zeit, in der bereits auch andere der zahlreichen studentischen Burschenschaften und Corps in Prag nahezu gleichlautende, zumindest aber inhaltlich kongruierende Paragraphen in ihre Satzungen eingefügt hatten3. Auch eine eingehendere Untersuchung etwa über die soziale, politische und regionale Zusammensetzung der Mitglieder der Germania sowie der Lese- und Redehalle unterbleibt4, da es für Stach eine ausgemachte Sache zu sein scheint, dass sich kein Prager Deutscher in der Germania habe ‚wohlfühlen‘ können. Warum dies den Südböhmen und den Studenten aus den schlesischen Landesteilen ebenfalls nicht gelingen wollte, bleibt im Dunkeln. Derartige Binnendifferenzierungne sind aber auch unwichtig, denn es handelt sich nur um die Ausführung des seit Goldstücker eingeführten Verdikts eines diametralen Gegensatzes zwischen weltoffen-metropolitaner Kultur in Prag und der regionalen Kulturszene der unter dem Lemma ‚sudetendeutsch‘ zusammengefassten Regionen der Böhmischen Länder. Die weiteren Passagen sollen nun aber zeigen, dass es auch und gerade in Bezug auf Kafka informativ sein kann, sich auch mit ‚solchen Leuten‘ ohne pauschale Vorurteile zu beschäftigen.

2 Erst in der Satzung von 1913 wird in § 6 schriftlich verfügt, dass alle Mitglieder „Deutscharier“ sein müssen. 3 Das unübersichtliche Feld der studentischen Organisationen in Prag, u.a. durch unterschiedliche Namen der gleichen Organisationen in Wien und Prag verursacht, ist mit speziellem Bezug auf die Germania nachgezeichnet bei Lönnecker (2001); zur allgemeinen Situation s. Siegl (1976). 4 Trotz noch ausstehender Forschungsarbeiten sind einige ungewöhnliche Kombinationen bereits bekannt. So waren die politisch so unterschiedlich engagierten Brüder Egon Erwin und Paul Kisch beide sowohl Mitglieder der Halle als auch der Burschenschaft Saxonia. S. auch die Textsammlung Kisch (2000).

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2. Herbert Cysarz Dass der aus dem tschechisch-polnischen Grenzstädtchen Oderberg (Bohumín) stammende, ab 1928 als Nachfolger auf den Lehrstuhl August Sauers in Prag tätige Germanist Herbert Cysarz schon 1934 Kafka weltliterarische Bedeutung zusprach, ist bereits gelegentlich dokumentiert worden (Stašková 2008: 51). Als Quelle wurde dabei auf das Vorwort zu der Anthologie Wir tragen ein Licht (Cysarz 1934b) Bezug genommen, in der sich neun Studenten und zwei Studentinnen der Prager Deutschen Universität – so würde die konventionelle Formulierung lauten – erstmals einem größeren Publikum vorstellten. Doch Cysarz ging es bei dieser Sammlung um mehr als nur um eine Präsentation junger Lyriker, vielmehr entscheide sich an dieser jüngsten Generation Prager deutscher Literatur – ganz im Sinne des zukunftsweisenden Pathos des Titels – das „Schicksal der sudetendeutschen Dichtung“ (Cysarz 1934c: 5). Das Vorwort zur Anthologie ist lediglich eine Version von in kurzer Abfolge erscheinenden Studien, in denen sich Cysarz mit der sudetendeutschen Literatur als (literatur-)historischer Einheit auseinandersetzte. Dabei kommt es hinsichtlich Textgestalt und Textgehalt zu einigen Überschneidungen, aber eben auch zu Variationen an entscheidenden Stellen. Auch die Kafka betreffende Passage des Vorworts geht zurück auf den umfangreicheren Aufsatz Lebensfragen des sudetendeutschen Schrifttums (Cysarz 1934a), der zunächst eigenständig bereits kurz zuvor in der Zeitschrift Dichtung und Volkstum erschienen war und wenig später in den Band Dichtung im Daseinskampf (Cysarz 1935) integriert wurde, der insgesamt fünf Beiträge von Cysarz enthält.5 Stärker als aus dem Vorwort ersichtlich wird hier Kafka in eine Gesamtkonstruktion der Literatur der Böhmischen Länder und der sudetendeutschen Literatur gestellt, was durch die Konzentration der Forschung auf das Vorwort bisher kaum Beachtung fand. Nun verleiten Begriffe wie „Lebensfragen“ und „Daseinskampf“, wenn sie aus Publikationen der Jahre 1934/35 stammen und sich mit sudetendeutscher Literatur befassen, schnell zu Rückschlüssen auf den ideologischen Standpunkt des Verfassers. Dessen Werdegang seit deswegen kurz skizziert. Cysarz studierte, weil eine schwere Kriegsverletzung ein erfolgreiches Wirken in den zunächst angestrebten Naturwissenschaften unmöglich machte, ab 1917 in Wien Germanistik und Anglistik. Die Türen für einen raschen Aufstieg – Promotion 1919, Habilitation 1924, außerordentliche Professur 5 Von 1934 bis 1944 erschien die von August Sauer gegründete Zeitschrift Euphorion unter dem Namen Dichtung und Volkstum.

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1926 – öffnete ihm sein Lehrer Walther Brecht, der in dem Richtungsstreit der Nachkriegsgermanistik mit seinen eigenen Forschungsarbeiten auf Seiten der gemäßigt positivistischen Philologie zu verorten ist, aber den von der Scherer-Schule angefeindeten geistesgeschichtlichen Innovationen durchaus Verständnis entgegen brachte. Schließlich schlug auch sein Schüler Cysarz bereits in der Dissertation Erfahrung und Idee (Cysarz 1921) eine Verbindung zur Philosophie und zählte damit und mit der systematisch-programmatischen Schrift Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft (Cysarz 1926) zu den „jüngsten und radikalsten Neutöner[n]“ (Maync 1927: 31). Seit seiner Anstellung in Wien beteiligte sich Cysarz an der Wiederentdeckung der Barockliteratur und vor allem für seine Arbeiten gilt die allgemeine Einschätzung, dass die Ergebnisse der Zwischenkriegszeit „die Orientierungen der Barockforschung bis in die Gegenwart“ bestimmten (Kiesant 1993: 87f.). Bis zu seiner Berufung nach Prag hatte Cysarz also nicht über die regionale Literatur der Böhmischen Länder gearbeitet, die jedoch in Prag seit August Sauer, dessen Nachfolge er antreten sollte, einen hohen Stellenwert besaß.6 Erst nach einer mehrjährigen Phase der Einarbeitung begann nach Cysarz eigenen Angaben 1934 „die Kette meiner Schriften zur sudetendeutschen Literatur- und Geistesgeschichte“ (Cysarz 1976: 55).7 Eine Kette, die nach seiner Berufung nach München zum Wintersemester 1938/39 rasch unterbrochen und erst ab den späten 1950er Jahren wieder aufgegriffen wurde. Die vorangestellte Selbsteinschätzung von Cysarz, es handele sich bei den Lebensfragen des sudetendeutschen Schrifttums lediglich um einen „erste[n], tastende[n] Querschnitt“ (Cysarz 1935: 5), entspricht also durchaus den Tatsachen. Trotzdem versagt sich Cysarz auch hier nicht eine weitgesteckte geistesgeschichtliche Perspektive. Für Cysarz ist zunächst die unterschiedliche konfessionelle Bindung für die Differenzen zwischen (reichs-)deutschem und (habsburgisch-)österreichischem Kulturraum entscheidend. In der Literatur äußere sich die protestantisch-deutsche Ausprägung in der Orientierung an linear-fortschrittsbetonten, 6 Trotzdem lässt sich die Prager Universitätsgermanistik nicht so einfach auf die regionale Literaturforschung reduzieren, wie dies bei Stach vorgenommen wird (zu Sauer s. Stach 2015: 229 und zu Arnošt Vilém Kraus, seinem Pendant an der tschechischen Universität, Stach 2015: 232 und 532). 7 Allerdings erschienen bereits 1933 in der Monatsschrift aus Der Ackermann Böhmen eine Rezension zum Gedichtband Erde wir lassen dich nicht des aus Mies (Stříbro) in Westböhmen stammenden Gymnasiallehrers Hans Deißinger sowie ein Geleitwort zur Dissertation von Johannes Tschech über den deutschböhmischen Dramatiker Dietzenschmidt (Tschech 1933).

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also zeitlichen Vorstellungen, während das katholisch geprägte „altösterreichische Schrifttum [...]alle zeitlosen Dinge“ bevorzugt (Cysarz 1935: 7). Die beiden Völker der Böhmischen Länder – Deutsche und Tschechen – stünden in diesem Spannungsfeld zwischen den beiden kulturellen Großräumen. Daraus resultieren in der Literatur zahlreiche Mischformen, die auch zu einseitigen Optierungen führen können, ohne jedoch mit einer der beiden Kulturen vollständig zu verschmelzen. Beispiel für eine eher ‚deutsche‘ Ausprägung ist für Cysarz der Amerikaexilant Charles Sealsfield und sein habsburgkritischer Essay Austria as it is (1828). Die österreichische Achronie erkennt er in den raumbetonten Schriften Adalbert Stifters, und dessen Haltung ist für Cysarz auch der Ausweg aus einer wenig kreativen Phase der sudetendeutschen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Zugleich aber webt hier [bei Stifter, J.K.] auch jene altösterreichische Ruhe, die Grillparzers armen Spielmann umgibt und später Rilkes Malte Laurids Brigge, die Menschen Hofmannsthals, die Landschaften Trakls und die Gestalten Franz Kafkas. Alle Bewegung kommt aus dem Unendlichen und führt dahin zurück. […] Und über Volk und Volk wölbt sich eine segnende Kuppel. (Cysarz 1935: 9; Herv. i. O.)

Unter Altösterreich versteht Cysarz, das zeigen die angeführten Autoren, nicht nur wie es u.a. im Roman Aus dem alten Österreich von Julia Adam (1925) oder in den zahlreichen nostalgischen Wienbüchern von Vinzenz Chiavacci (Aus dem Kleinleben der Großstadt 1886; Wo die alten Häuser stehen 1890; Aus der stillen Zeit 1914) der Fall ist, die Zeit vor der Schleifung der Stadtmauern und der Errichtung der Ringstraße in Wien ab 1857, sondern den gesamten Zeitraum der Existenz der Habsburger Monarchie.8 Auf dieser altösterreichischen bzw. Habsburger Tradition habe sich nun – aus der Sicht des Jahres 1934 – ein vielfältiges deutsch-tschechisches Kulturleben entwickelt, dessen kulturelle Vielfalt in Böhmen und Mähren insgesamt, aber speziell in Prag zu beobachten ist, das Cysarz bereits bei seiner Ankunft 1928 als moderne Großstadt erlebte: Babeltürme in Glas und buntem Stein, Ministerien und andere Zentralen, Gesandtschaften und internationale Repräsentationen mehr, Konzernburgen und Bankfestungen, Mammutwarenhäuser und Lichtspielpaläste, unterirdische Theater- und Konzertsäle, Großgaststätten und Massenbüffets, Orgien der Reklame. Straßauf und -ab Ausschachtungen, Gerüste, sausende Aufzüge, ein Aufbau, der oft genug einem Niederreißen, einem Verwirren aller Sphären glich. Moränen von Schutt und Sand neben Neonfassaden und brüllenden Lautsprechern [...]. Überall jugendlich berstende Vitalität und Aktivität, fröhlicher Schweiß, ungedämpftes Geschrei wie auf der Börse, auf dem Jahrmarkt; Motorengetöse und menschliches Rennen, Eifern und Wetteifern. (Cysarz 1957: 85) 8 In einem Aufsatz zur altösterreichischen Literatur beendet Cysarz seine Darstellung aber bereits mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs (Cysarz 1928).

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Noch in diesem autobiographischen Rückblick ist aus der Entfernung von nahezu drei Jahrzehnten die Begeisterung über das pulsierende Leben deutlich heraus zu lesen, die Cysarz in Kontrast zu seinem bisherigen Wirkungsort Wien empfand. Er präsentiert Prag als aufstrebende europäische Metropole und verbirgt nicht, dass dieser Aufschwung maßgeblich von der tschechischen Bevölkerung ausging und nicht erst mit der Gründung der Tschechischen Republik 1919 einsetzte. Tschechische Moderne und altösterreichische Tradition bestimmen die Lage der Sudetendeutschen (also aller Deutschen) in den Böhmischen Ländern Mitte der 1930er Jahre. Dass Cysarz im weiteren Verlauf der Argumentation ausschließlich von diesem konkreten Zustand ausgeht und keine historischen Anleihen bei landespatriotischen oder bohemistischen Modellen des 19. Jahrhunderts (Höhne 2017) nimmt, erweist ihn – in der Terminologie Karl Mannheims – als Konservativen moderner Prägung und nicht als Traditionalisten. Als Konservativer verdichtet er den historischen Bezug auf das Habsburger Erbe mit den aktuellen politischen Gegebenheiten zur Metapher der ‚gemeinsamen Himmelskuppel‘, die Tschechen und Deutsche verbindet, aber wie die ebenso sperrige wie plastische Wortverbindung „Volk und Volk“ (Cysarz 1935: 9) anzeigt, nicht vereint.9 Die Stadt Prag wird ihm dabei zum Modellfall für die Regionen. Mit der affirmativen Feststellung, „wie vieles nun begegnet einander in der Hauptstadt selbst“ (Cysarz 1935: 25) leitet Cysarz auf eine kleine Bevölkerungsstatistik über. Neben der tschechischen Mehrheit und der deutschen Minderheit werden besonders die „8.000 bis 10.000 deutschen Ausländer“ (Cysarz 1935: 25) herausgehoben. Prag wird damit nicht wie so oft zuvorderst als Kampfplatz der nationalen bzw. nationalistischen Auseinandersetzungen der deutsch-tschechischen Konfliktgemeinschaft (Křen 1996) präsentiert, sondern als interkulturelle Begegnungsstätte, die ihren besonderen Reiz aus den vielfältigen Bezügen zwischen Österreichern, Deutschen und Tschechen sowie zwischen Prager Einheimischen und Zugezogenen zieht, einschließlich der temporär begrenzten Austauschbeziehungen zwischen deutscher 9 Eine Vereinigung entspräche nicht dem nationalistischen Diskurs innerhalb der Böhmischen Länder, der letztlich auf einen Entscheidungskampf um die Vorherrschaft in dieser Region setzt. Diese teilweise martialisch, manchmal auch nur metaphorischen verstandenen Kämpfe sind Gegenstand der deutschen und tschechischen Grenzlandliteratur (Rinas 2017). Einige Passagen der Studie, vor allem aber der im Titel des Sammelbandes angesprochene „Daseinskampf“ machen deutlich, dass Cysarz diesen Diskurs aufgreift und wohl auch seine politischen Konnotationen unterstützt. Literarische Texte, die die Gegensätze zwischen den Völkern über Gebühr dramatisierten, lehnt er jedoch in dieser Studie als „Zerrspiegel“ (Cysarz 1935: 17) ab.

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wie tschechischer Arbeiter- und Studentenschaft. Die jüdische Bevölkerung Prags, deren „gültigster und höchster Fall“ (Cysarz 1935: 25) Franz Kafka ist, wird von Cysarz nicht gesondert herausgerechnet, sondern als integraler Bestandteil des binationalen Kulturlebens geschildert. Kafka, „die ragendste Gestalt des jüdischen Schrifttums seit Spinoza“ (Cysarz 1935: 25), sei wegen seiner Verwandtschaft zu Grillparzer einerseits an das Altösterreichische gebunden, erreiche aber in seinen Texten eine „wirkliche Europa-Perspektive“ (Cysarz 1935: 26) und weltliterarische Bedeutung. Weil „seine erzählenden Sinnbilder“ (Cysarz 1935: 26) nirgends spielen, aber überall gelten, sind Kafkas Texte der „Lieferanten-Literatur der Zweige und Wassermänner“ (Cysarz 1935: 26) überlegen, die überall spielt und nirgends gilt. Durch seine zeitlose Modernität wird Kafka für Cysarz in der Lebensfragen-Studie zum Ideal der zeitgenössischen Literatur der Böhmischen und im Vorwort der Dichteranthologie zum Vorbild für die angehende Generation sudetendeutscher Dichter deklariert, die ihr Überleben im auslandsdeutschen Daseinskampf nur dann sichern kann, wenn ihre eigene literarische Produktion wie bei Kafka die regionale Gebundenheit überschreitet. Schon für Jens Malte Fischer war Cysarz aufgrund seiner Publikationen im Dritten Reich „kein Rassist und Antisemit“ (Fischer 1987: 17). Das zeigen auch die Studien zu den Lebensfragen des Sudetendeutschtums, die ja nur wegen ihrer funktionalen Einbindung die regionale Perspektive in den Vordergrund schieben, aber darüber hinaus „Antworten auch auf gesamtdeutsche und europäische Fragen“ (Cysarz 1935: 17) geben wollen. Dafür zum Zeitpunkt 1934/1935 in der gerade umbenannten Zeitschrift Dichtung und Volkstum Franz Kafka zu nominieren, der in den Studien zudem explizit als Repräsentant einer jüdischen Prager Stadtkultur eingeführt wird, war für einen Ordinarius der Germanistik mit augenscheinlich nationalkonservativer Haltung vielleicht nicht riskant, aber doch ein eindeutiges Statement. 10 Nachgerade da Cysarz zu diesem Zeitpunkt bereits Gegenstand einer Forschungskontroverse war, die sich an seiner Schiller-Monographie entzündet hatte. Sowohl Gerhard Fricke als auch Walther Linden störte die funktionale Einbindung Schillers in den Prozess der deutschen Geistesgeschichte. Während der dem Positivismus nahe stehende Fricke, der am 10. Mai 1933 in Göttingen die Rede zur Bücherverbrennung hielt (Barner 1997: 232), sich lediglich aus philologischer Perspektive um die wissenschaftliche Genauigkeit sorgte (Fricke 1934), griff Linden als Verfasser einer nationalsozialistischen 10 Bei den im Mai 1933 an von der Deutschen Studentenschaft inszenierten Bücherverbrennungen wurde auch Kafkas Beim Bau der Chinesischen Mauer indiziert.

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Literaturtheorie ins Politische aus (Linden 1933). Cysarz habe die allgemeine Menschlichkeit Schillers zu sehr in den Vordergrund gerückt, „auf die wir heute so wenig geben, weil wir erkannt haben, dass das Menschliche nur vom Konkret-Bestimmten und vom Blutmäßig-Bodenverhafteten aus fruchtbar zu erfassen ist“ (Linden 1934: 347f.). Die Schiller-Monographie sei „kein Bekenntnis des neuen deutschen Menschen, sondern vielmehr ein Bekenntnis des Expressionismus, […] d.h. der krampfhaft gesteigerten Ausgangsepoche des liberalen Zeitalters“ (Linden 1934: 348). Durch die Charakterisierung mit dem „Stigmawort ‚liberal‘, das in den zeitgenössischen Diskursen unmittelbar mit der ‚Weimarer Systemzeit‘ assoziiert wird“ (Kaiser 2008: 289), spricht Linden Cysarz „nicht nur die Aktualität seines Schillerbildes ab, sondern auch dessen wissenschaftsethische, und d.h. hier auch dessen politische Dignität“ (Linden 1934: 289). Durch eine Funktionalisierung des zumindest partiell expressionistisch und liberal konnotierten Juden Franz Kafka für die Lebensfragen des sudetendeutschen Schrifttums dürfte Cysarz jedenfalls nicht auf eine Rehabilitation innerhalb dieser Kreise spekuliert haben.11 Die Lösung der nationalen Spannungen in den böhmischen Ländern entscheiden nach Cysarz über die zukünftige Existenz einer (sudeten-)deutschen Kultur. Wie das Zeitalter der Religionskriege nicht durch „irreligiöse Menschen“ (Cysarz 1935: 26), sondern durch ein neues Religionsverständnis überwunden werden konnte, bedarf es nun eines neuen völkischen Verständnisses von Nation, um „das Zusammenleben der Völker auf eine wahrhaftigere, achtungsvollere und friedlichere Ordnung [zu] gründen“ (Cysarz 1935: 27). Der Literatur weist dabei Cysarz die Aufgabe zu, „diese Wege zu bahnen“ (Cysarz 1935: 27). Federführend auf diesem Weg ist einstweilen die deutsche Literatur in Prag, weil hier die Dichte der interkulturellen Kontakte zu einer Sublimierung der aktuellen politischen Querelen ins Zeitlose herausfordert. Kafkas Texte erfüllen diese Anforderung im besonderen Maß, weil sie im Gegensatz etwa zu Rilkes Zwei Prager Geschichten (1899) auch nicht mehr an konkrete Raumkoordinaten gebunden sind. Die konzeptionelle Lösung von Cysarz betont zwar das intrakulturelle Gefälle zwischen der Stadt Prag und den Regionen, richtet aber über ein „Versäumnis“ (Cysarz 1935: 29) in der poetologisch-ästhetischen Umsetzung keine weiteren Schranken in moralischer oder ideologischer Bewertung der sudetendeutschen Literatur auf, wie sie aus dem dichotomischen Modell in Anlehnung an Eduard Goldstücker in

11 Trotzdem erhielt Cysarz 1938 den Ruf nach München, verlor sein Ordinariat aber 1941 bezeichnenderweise, weil er jüdische Autoren propagiert habe (Cysarz 1976: 179-181).

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der Forschung zur Prager deutschen Literatur seit den 1960er Jahren üblich geworden sind.12

3. Josef Mühlberger Bereits einige Jahre vor Cysarz integrierte Josef Mühlberger Kafka in seine literaturgeschichtliche Darstellung Die Dichtung der Sudetendeutschen in den letzten fünfzig Jahren (Mühlberger 1929). Sie gibt einen Überblick über die gesamte deutschsprachige Literaturproduktion der Böhmischen Länder, wobei der Literatur aus Prag ein besonderer Status zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugemessen wird.13 Die im Titel angeführte Begrifflichkeit führte aber dazu, dass die Arbeit „wegen der Nichtzugehörigkeit der Prager deutschsprachigen Autoren zum sudetendeutschen Schrifttum“ (Mehnert 2009: 64) meist ohne nähere Autopsie als wertlos ausgesondert wurde. Auch in die sonst zuverlässige Nachzeichnung der Rezeptionsgeschichte Kafkas durch Jürgen Born wurde die Literaturgeschichte von Mühlberger nicht aufgenommen (Born 1983).14 Dabei ist Mühlberger zumindest in Fachkreisen kein Unbekannter. Neben einem Kolloquium in München (Becher 1989) würdigte ihn auch die Zeitschrift Germanoslavica 2009 mit einem Sonderheft, sein eigenes literarisches Schaffen sowie seine kulturvermittelnde Tätigkeit wurde in zahlreichen Teilaspekten monographisch bearbeitet (Berger 1990; Lange-Greve 2006; Motyčka 2016) und seine Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen 1900–1939 galt lange Zeit als einzig zuverlässige Gesamtdarstellung der Literatur der Böhmischen Länder (Mühlberger 1983). Diese zweite Fassung der Literaturgeschichte steht aber gleichsam schon unter dem Diktat der Sonderstellung der sog. Prager deutschen Literatur und weicht deswegen in vielen 12 Indem er in seiner Betrachtung der Prager Literaturverhältnisse auf keine sozialen, interethnischen oder religiösen Schranken eingeht, lässt sich die Studie von Cysarz auch als Antwort auf und Kritik an Pavel Eisners kurz zuvor erstmals publizierte These vom „dreifachen Ghetto“ lesen (Eisner 1933; zur Einordnung s. Weinberg 2017a: 25-27). 13 Die Literaturgeschichte ist die erweiterte Fassung seiner Dissertation Die deutschböhmischen Dichter der Gegenwart, die er 1926 in Prag bei Adolf Hauffen und Ernst Gierach verteidigt hatte. 14 Lediglich im Anhang finden sich bibliographische Hinweise auf zwei kürzere Artikel Mühlbergers zu Kafka in der von ihm herausgegebene Zeitschrift Witiko aus den Jahren 1928 und 1930.

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Punkten von der Ursprungsversion ab. Der Darstellung der ersten Fassung hingegen liegt eine einheitliche Traditionslinie der sudetendeutschen Literatur zugrunde, die in Adalbert Stifter ihren Anfang nimmt und in Kafka ihr vorläufiges Ende findet. Beide Autoren sind dabei der Maßstab, an dem die Vertreter der literarischen Strömungen der Moderne vom Naturalismus über Heimatkunst und Neuromantik bis zum Expressionismus gemessen werden. Die Vorbildfunktion Kafkas für die sudetendeutsche Literatur ergibt sich bei Mühlberger – ähnlich wie bei Cysarz – durch die Ineinanderführung der drei Ethnien, die die Kultur der Böhmischen Länder bestimmten, in eine zeit- und raumenthobene Schreibweise: Die drei Kulturkreise des sudetendeutschen, insbesondere des Prager Schrifttums, treffen sich hier am innigsten: deutsche Mystik mit ihren neuplatonischen Elementen insbesondere, Kabbala und slawischer Gottesglaube. Die einzelnen Bestandteile […] sind kaum mehr einzeln erkennbar. (Mühlberger 1929: 265)

Anders als seine literaturgeschichtlichen Vorgänger, die Kafka stets u.a. wegen seiner Publikationen im Kurt Wolff Verlag am Rande des Expressionismus verorteten (Born 1979: 163-174) sieht Mühlberger ihn als „Höhepunkt der sudetendeutschen Romantik“ (Mühlberger 1929: 35). Eine Rückbindung an die Ziele und poetologischen Konzepte der Romantik sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder möglich geworden, nachdem der Naturalismus „als großer Retter und Wecker […] in vieler Hinsicht“ die zwischenzeitlich entstandene „romantische Falschmünzerei“ zurückgewiesen und „durch […] scharfe Schau und naturwissenschaftliche Genauigkeit“ wieder eine Klarheit im Ausdruck ermöglicht habe, die „schließlich an die letzten Tore menschlicher Erkenntnis geleitet“ (Mühlberger 1929: 35).15 Bei Kafka verbindet sich diese eschatologische Episteme mit den mystischen Traditionen von Juden (Kabbala), Tschechen (Petr Chelčicky) und Deutschen (Jacob Böhme) in den Böhmischen Ländern. Dabei ist die Anführung von Böhme für die Attribuierung Kafkas als Romantiker entscheidend, diente doch eine intensive Böhmerezeption seit Julius Langbehns Der Rembrandtdeutsche (1890) als Brücke religiöser Poetikkonzepte über die Jahrhunderte

15 Deswegen beginnt Mühlberger seine literaturgeschichtliche Darstellung, obwohl er den vorliegenden literarischen Texten meist kritisch gegenübersteht, mit einer umfassenden Aufarbeitung des Naturalismus in den Böhmischen Ländern (Mühlberger 1929: 34-79). Dadurch kann der lange Zeit gängigen These der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung widersprochen werden, es habe aufgrund der raschen Konsolidierung der Wiener Moderne in Österreich keinen eigenständigen Naturalismus gegeben (Krappmann 2013: 163-270 und 2017b).

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hinweg.16 Der ungewöhnliche Rekurs auf den böhmischen Reformator und frühen Sozialkritiker Chelčicky (ca. 1390–1460) ist durch die erste deutsche Übersetzung seines Hauptwerkes Das Netz des Glaubens durch Carl Vogl zu erklären, deren Publikation von 1924 ein Geleitwort von Tomáš G. Masaryk vorangestellt ist.17 Darin schildert Masaryk ein Zusammentreffen mit Leo Tolstoi, der sich beeindruckt von den urchristlich-pazifistischen Ideen Chelčickys zeigte. Durch die Lehre des Nichtwidersetzens schien dieser einen Ausweg aus der verfahrenen Situation in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts weisen zu können. Und es ist eben „die Ansicht vom Nichtwidersetzen“, die Mühlberger, der sich hier offensichtlich auf das Schloss und den Prozess bezieht, „in Kafkas Weltanschauung besonders scharf ausgeprägt“ zu sein scheint (Mühlberger 1929: 266). Kafkas Werk als Instrument eines interethnischen Ausgleichs auf mystischer Basis zu lesen, ist als eigenständige Interpretationsleistung Mühlbergers zu werten. Sonst folgt er weitgehend dem von Max Brod vorgegebenen religiös-existenzialistischen Deutungsansatz. Bereits durch die Recherchen zu seiner Dissertation hatte Mühlberger Kontakt zu Max Brod aufgenommen, der sich durch die Herausgabe der Zeitschrift Witiko intensivierte und in der Nachkriegszeit zu einer engen Freundschaft auswuchs (Pazi 1989). Wenn Brod es im Prager Kreis nicht als seine Aufgabe ansieht, „der Literaturgeschichte der Sudetendeutschen eine weitere Arbeit dieser Art hinzuzufügen“ (Brod 1966: 64), dann bezieht sich das eben auf die erste Fassung der Literaturgeschichte von Mühlberger, wobei er nicht nur mit der dort vorgenommenen Kafka-Interpretation, sondern ausdrücklich auch mit der engen Verschränkung zwischen den literarischen Zirkeln in 16 Kafka las Langbehns Buch auf Anregung von Oskar Pollak bereits zu Gymnasialzeiten (Neumann 2017: 96), und die deutsche Mystik vom Mittelalter bis zur Romantik war auch häufiges Thema im von Kafka abonnierten Kunstwart. Inzwischen konnte auch eine direktere Bezugnahme Kafkas auf Böhmes Weltbild aufgezeigt werden (Bonheim 2003). Kafkas Beziehung zur Kabbala und/oder ihren gnostischen Spielarten wurde bereits mehrfach nachgewiesen (u.a. Grözinger 1994; Engel/Auerochs 2010: 422-424; Becker 2002). Einer möglichen Verbindung Kafkas zu den sozialkritischen Vorstellungen Chelčickýs und der Böhmischen Brüdergemeinde wurde seitdem nicht näher nachgegangen, obwohl auch Mühlbergers Zeitgenossen Pavel/Paul Eisner (1933) und Franz Carl Weiskopf (1956) darauf hinwiesen und Marek Nekula die Lektüre von Jaroslavs Golls Übersichtsdarstellung (Goll 1916) Chelčický a Jednota bratrská v XV. století [Chelčický und die Brüderunität im XV. Jahrhundert] durch Kafka nachgewiesen hat (Nekula 2003: 211). 17 Die Übersetzung wurde von einer Monographie (Vogl 1926) begleitet, die nicht nur innerhalb der Brüdergemeinde in den Böhmischen Ländern einflussreich war. Bereits ein Jahr zuvor erschien zudem ein Aufsatz (Kühne 1925) in der offiziellen Zeitschrift der Comenius-Gemeinde, der die Rezeption Chelčickýs durch Leo Tolstoi aufzeigte.

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Prag und in den sudetendeutschen Regionen übereinstimmte. Es entspricht aber nur einer zeitgemäßen Sichtweise, keinesfalls den zeitgenössischen Tatsachen, in Mühlberger den „einzige[n] deutschsprachige[n] Dichter aus den böhmischen Randgebieten“ zu sehen, „der in freundschaftlichem Kontakt zu den Prager deutschsprachigen jüdischen Schriftstellern stand“ (Zimmermann 2009: 69). Von Brod selbst stammt eine kleine Liste von deutschmährischen und deutschböhmischen Schriftstellern, deren politisches Engagement mit dem Mühlbergers vergleichbar war. Josef Mühlberger […] gehörte in den Krisenjahren vor dem Einmarsch Hitlers zu jener kleinen Gruppe unter den Sudetendeutschen, die den Einflüsterungen des Antisemitismus und des Faschismus kräftig Widerstand leisteten. Andere aus dieser Gruppe waren Walter Seidl, der große Lyriker Richard Schaukal, Rudolf Kassner, Alfred Kubin, Hans Demetz, Hans Regina von Nack, Dietzenschmidt und wohl noch einige andere, an die ich mich nicht mehr erinnere. […] Sie halfen uns Pragern über die schlimmsten Tage hinwegzukommen. (Brod 1966: 185)

Über die Erinnerungslücken Brods hinaus sind freilich weitere Beziehungen anzunehmen, da er trotz seiner teilweise berechtigten Stilisierung zum Herrn der Kreise in Prag, selbstverständlich nicht der einzige kulturelle Akteur der Zeit war, der Kontakte zwischen der Hauptstadt und den Regionen unterhielt. Ob die Erstveröffentlichung der Erzählung Der Bau in der von Mühlberger herausgegebene Zeitschrift Witiko (1928) auf dessen Betreiben zustande kam oder eher publikationsstrategischen Überlegungen Brods entsprach, lässt sich einstweilen nicht nachweisen.18 Die Erzählung fügt sich aber auf doppelte Weise in die literaturgeschichtliche Verortung und poetische Wertung Kafkas durch Mühlberger. Zum einen sind die „logischen Aporien“, die nicht nur Kafkas Spätwerk auszeichnen, in dieser Erzählung „in extremer Weise verdichtet“ (Liska 2010: 341), so dass sie vor dem Hintergrund der von Mühlberger vorgeschlagenen Lesart auch als Ausdruck einer notwendigerweise unmöglichen Beschreibung eines persönlichen mystischen Erlebnisses (unio mystica) verstanden werden können. Zweitens münden die Grenzverwischungen auf den Ebenen der Zeit und des Raumes in diesem Text letztlich in räumlich unbestimmbare Kontinua, in die „Unendlichkeits- bzw. Unermesslichkeitsparabeln“ (Krolop 2005: 247), die Kurt Krolop als entscheidende Gemeinsamkeit zwischen Stifter und Kafka ausmachte. Auch dieses Bindeglied findet bei Mühlberger ihre – eingedenk der Diskrepanz zwischen den rezenten und den 18 Der umfangreiche Briefwechsel – Pazi spricht von 11 Briefen Mühlbergers im Brod-Nachlaß in Tel-Aviv (Pazi 1989: 55), Zimmermann von 140 Briefen Brods im Nachlass Mühlbergers (Zimmermann 2009: 69) – wurde bisher nicht ediert.

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damaligen textanalytischen Beschreibungsmöglichkeiten – freilich bescheidene Grundlegung. Mühlbergers Literaturgeschichte endet mit Kafka, und es wird deutlich, dass er ihn als Höhepunkt der sudetendeutschen Dichtung ansieht. Dadurch zog er den Unmut der nationalistischen und antisemitischen Gegenkräfte in den Böhmischen Ländern auf sich und wurde bald „Opfer einer regelrechten Hetzkampagne, die von seinem Gegner Pleyer orchestriert wurde“ (Jacques 2007: 204). Der Witiko musste daraufhin seine Tätigkeit einstellen, die letzte Ausgabe erschien 1931, also noch bevor die avisierte Ausweitung der Zeitschrift auf die tschechische Literatur realisiert werden konnte. Der angesprochene Wilhelm Pleyer hingegen gründete 1936 den Bund sudetendeutscher Schriftsteller, zu dessen ersten Vorsitzenden Herbert Cysarz gewählt wurde. Da die Kafka-Rezeptionen von Mühlberger und Cysarz nicht grundsätzlich differieren und jedenfalls beide Kafka für die sudetendeutsche Literatur reklamieren, scheint in der aufgeheizten nationalen Diskussion der 1930er Jahre entscheidender gewesen zu sein, wer etwas sagte, als was gesagt wurde. Während der landespatriotisch-bohemistisch eingestellte Mühlberger, über dessen Homosexualität damals bereits spekuliert wurde, den Zorn der völkisch-nationalistischen Kräfte in persona Pleyer auf sich zog, wurde Cysarz von den gleichen Kräften zum wissenschaftlichen Aushängeschild des sudetendeutschen Literaturbetriebs. Aber dieser Schluss ist nur vermeintlich richtig, denn es ist bezeichnend für die unübersichtliche Gemengelage in den Böhmischen Ländern, dass ausgerechnet der erste Hinweis auf die Kafka-Interpretation von Cysarz im Vorwort zur Anthologie sudetendeutscher Dichter von Heinz Politzer stammt. Zum Anlass der zehnten Wiederkehr von Kafkas Tod verfasste der spätere Doyen der amerikanischen Kafka-Forschung einen Essay, indem er die Würdigung von Kafkas Lebensleistung an dessen regionalkulturelle und religiöse Wurzeln bindet. Die erste Heimat sei das „hinscheidende Alt-Österreich“ (Politzer 1934: 337) gewesen, das Kafka vor allem in seinen Romanen gleichnishaft portraitierte, die zweite Heimat das Judentum. Bereits die Wortwahl, also Alt-Österreich statt Habsburger Monarchie oder anderer Äquivalente, lässt den Anschluss an Cysarz’ Kafka Studien erkennen, der hinsichtlich des Judentums explizit wird: Diese tiefere Heimat nun ist das Reich jüdischer Seele schlechthin. Asien ist es, wie Professor Cysarz in einem Vorwort ‚Vom Schicksal der sudetendeutschen Dichtung‘ erkennt, und mehr als Asien. Die mythischen Träume werden in diesen Dichtungen erweckt; wenn je ein Dichter die Ahnungen der Menschheit bis hinter den Beginn des Schrifttums hat lebendig werden lassen, so ist es Franz Kafka gewesen, dessen Vision bisweilen mit ge-

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radezu vorbildlicher Schreckenskraft uns angreift. Diese zweite Heimat heißt: Sturmland des Sinai, heißt: Hiobs Schlachtfeld, freilich umdämmert rings von der großen wortelosen Einsamkeit des präreligiösen Glaubens, das kindliche Menschengeschlechter angesichts des unfaßbaren Untiers Welt angefallen haben mag. Aber nicht nur Asien ist es und mehr als die Vorzeit, die Franz Kafka in uns aufruft, der Geist des jüdischen Volkes als solcher spricht aus seinem Mund: das scholastische Dunkel der Kabbala, die slawisch-bunte Welt des Chassidismus – die unendlichen Überlieferungen endlich des Ostjudentums. (Politzer 1934: 337f.)

Das längere Zitat war notwendig, um die inhaltlichen Wechselbeziehungen offensichtlich werden zu lassen, die zwischen dem Text von Politzer sowie denen von Cysarz und Mühlberger bestehen: Spätmittelalterliche Mystik, nationale Argumentationslinie und altösterreichische Tradition münden in eine interethnische, slawisch-jüdisch grundierte Vorstellung der böhmischen Heimat, die auch von sudetendeutscher Seite als kulturelle Basis anerkannt wird. Und in der Formulierung von der „wortelosen Einsamkeit des präreligiösen Glaubens“, die durch Kafka in die Gegenwart überführt wird, scheint auch noch die Vorstellung eines zeitlosen Kontinuums auf. Politzers Essay erschien in der zionistischen Prager Wochenschrift Selbstwehr, die zur „Konstruktion eines jüdisch-nationale Diskurses in Böhmen“ (Spector 1992: 38) auf die bereits vorhandenen rhetorischen und politischen Praktiken der tschechischen Nationalbewegung und ihres deutschen Konterparts zurückgriff. Diese Strategie erkannte Scott Spector bereits in den programmatischen Artikeln der Gründungsnummer vom 1. März 1907 und konnte sie bis zum Ersten Weltkrieg nachverfolgen (Spector 1992 und 2000: 160-165). Politzers Beitrag aus dem Jahr 1934 zeigt aber, dass auch nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik die gegenseitige Rezeption noch so virulent war, dass Politzer den Beitrag von Cysarz wahrnehmen und zeitnah auf ihn reagieren konnte. Indem Politzer 1934, also bereits nachdem eine sich deutschnational-völkisch gerierende und antisemitische Bewegung in Deutschland an die Macht gekommen war, gerade die an das Judentum gekoppelten Passagen aus Cysarz Vorwort zum sudetendeutschen Schrifttum in seinen Beitrag übernimmt, zeigt abermals, dass die politisch-religiösen Frontstellungen nicht so klar waren, wie heute oft angenommen. Die Dichotomie jedenfalls zwischen einer integren Prager deutschen Literatur und einer obskuren ‚sudetendeutschen Provinzliteratur‘, auf die sich wie eingangs angeführt auch noch die Kafka-Biographien von Stach berufen, ist blo-

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ße Konstruktion und hat so nie den Verhältnissen in Böhmen und Mähren entsprochen.19

4. Kafka und das andere Narrativ Das ist beileibe kein Einzelfall, sondern paradigmatisch für den allgemeinen Umgang mit der Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Durch beständige Tradierung verfestigte sich die dichotomische Sichtweise spätestens seit dem Revival der Prager deutschen Literatur im Zuge der Samtenen Revolution zu einem Narrativ im Sinne Koschorkes, das seine Kraft aus der festen Konfiguration einiger weniger Elemente und der relativen Offenheit bezieht, wie diese Kernkonfiguration mit konkretem Material ausgefüllt wird (Koschorke 2012: 29-38). Aufgrund dieser Versatilität kann das Narrativ so flexibel gehandhabt werden, dass es gegen konkurrierende Fakten, auch wenn diese in großer Zahl vorgebracht werden, einigermaßen resistent bleibt.20 Noch leichter fällt eine Tradierung der Grunderzählung freilich, wenn tendenziell gegenläufige Narrative gar nicht erst wahrgenommen werden. Das wird lediglich besonders deutlich im letzten Band von Stachs Biographie (Stach 2015), der sich mit den frühen Jahren Kafkas bis 1911 auseinandersetzt und aufgrund des wesentlich dürftigeren Bestandes an Quellen und Augenzeugenberichten weitaus stärker auf den soziopolitischen und kulturellen Kontext referieren muss. Aber es kennzeichnet auch andere übergreifend biographische Arbeiten zu Kafka sowie die beiden Handbücher, ja selbst Monographien, die an einer detaillierten Darstellung des Kontextes der sog. ‚Prager deutschen Literatur‘ interessiert sind, dass diejenigen Publikationen nicht eingesehen wurden, die die Geschichte Prags und der Böhmischen 19 Über das engere Thema dieses Aufsatzes hinaus sei auf Walter Seidl, Hermann Ungar oder Ludwig Winder verwiesen, die erst im Laufe ihres Wirkens von Mähren nach Prag zuzogen, bzw. auf Oskar Jellinek, Alfred Kubin oder Ernst Sommer, die zum weiteren Kreis der Prager deutschen Literatur gezählt werden (u.a. Sudhoff/Schardt 1992), obwohl sie nie über einen längeren Zeitraum von Prag aus agierten. Als Mittelglied zwischen beiden genannten Gruppen wäre etwa Gustav Meyrink anzusprechen. 20 Im Aufzeigen der Reichweite des Erzählens als anthropologischer Konstante innerhalb der Wissenschaftsgeschichte und deren politischen Folgen liegt die eigentliche Leistung von Koschorkes bemerkenswerter Monographie, die leider bisher oft nur im zu engen Referenzrahmen der Narratologie rezipiert wurde.

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Länder anders erzählen (u.a. Čápková 2012; Koeltzsch 2012; Becher/Höhne/ Nekula 2012; Voda/Eschgfäller/Horňáček 2012). Das gilt auch weitgehend für die von Kurt Krolop ebenfalls bereits auf den Kafka-Konferenzen Mitte der 1960er Jahre inszenierte Forschungsrichtung, die vor allem innerhalb der tschechischen Germanistik trotz aller kommunistischer Unbill fortgesetzt und nach 1990 wieder intensiviert wurde. Eine Synthese der traditionell regional orientierten tschechischen Germanistik und interkulturellen und raumtheoretischen Modellen bietet nun das Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder (Becher/Höhne/Krappmann/Weinberg 2017), wodurch der Zugang zu dem anderen Narrativ erleichtert wird. Es ist ebenso befremdlich wie konsequent, dass Franz Kafka, der längst „als ein Autor der Weltliteratur [gilt], und zwar sowohl was den außergewöhnlichen ästhetischen Wert seines Werks, wie was seine Verbreitung und Wirkung angeht“ (Lamping 2017: 116) in diesem Handbuch als Autor einer Regionalliteratur (Krappmann/Weinberg 2014) vorgestellt wird. Er wird damit dezidiert innerhalb der so differenten Kreise verortet, die den politischen und kulturellen Horizont der Böhmischen Länder bestimmten. Eine dichte Beschreibung des regionalen Kontextes ermöglicht einerseits, eine kritische Einordnung der faktologischen Basis, die Kafka zur Generierung seiner Texte zur Verfügung stand, anderseits kann seine weltliterarische Bedeutung auch auf Phänomene der Literatur und Kultur der Böhmischen Länder zurückwirken, die bisher von der Forschung vernachlässigt wurden. Aus dieser Perspektive heraus sollten diese Ausführungen verdeutlichen, dass Kafka kein erratischer Fremdkörper im Prager Kulturleben und sein literarisches Wirken auch für die sudetendeutschen Kreise anschlussfähig war. Dass es sich dabei um keine willkürliche Funktionalisierung handelt, belegt auch Kafkas Verständnis gegenüber der Literatur der Heimatkunstbewegung. Wenn er seinem Freund Max Brod Autoren wie Franz Karl Ginzkey, Traugott Tamm und besonders Rudolf Hans Bartsch zur Lektüre empfiehlt (Krappmann 2018: 203f.), dürfte er sie nicht für Repräsentanten einer minderwertigen Provinzliteratur gehalten haben, sondern für respektable Vertreter der regionalen Rhizomatik der Moderne. Inzwischen liegen, so will es scheinen, genügend Fakten und Argumente vor, um von der vereinfachenden Erzählung der isolierten Prager deutschen Literatur Abstand zu nehmen und auf die Kontererzählung zu setzen. Aufgrund der weltliterarischen Bedeutung ihres Gegenstandes und der daraus resultierenden Reichweite wäre die Kafka-Forschung jedenfalls nicht nur ein, sondern das geeignete Vehikel, um dieses Narrativ durchzusetzen.

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‚Sprossende Saat‘. Eine Fallstudie zu ‚böhmischen‘ Anthologien Für Manfred Voigts Die Anthologie Sprossende Saat wurde 1911 im Auftrage des Deutschen Nordböhmerbundes in Wien herausgegeben. Ediert wurde der Band im Claudius-Verlag in Wandsbek. Eine erste Auflage in Höhe von 2.000 Exemplaren wurde laut Impressum in der Harzer Druckerei und Verlagsanstalt in Thale gedruckt. Pro 2.000 verkauften Stück gingen jeweils 1.000 Kronen an den Bund der Deutschen in Böhmen, man rechnete also mit mehreren Auflagen. Von den beiden Herausgebern erfährt man im Anhang wenig. Johann Pilz ist 1885 in Nixdorf/ Böhmen geboren und lebte in Kladrub an der Elbe. Er veröffentlichte einen Band Von Geigen und Gästen 1910 in München und in verschiedenen Zeitschriften. Hans Hajek ist in Daubitz in Deutschnordböhmen geboren und lebte in Wien. Er hatte bisher in Zeitschriften veröffentlicht. Der Band enthält Gedichte und kurze Prosastücke von achtzig Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Gemeinsam ist die Herkunft: alle sind in Böhmen geboren bis auf wenige Ausnahmen: drei sind in Wien geboren, leben und arbeiten aber in Böhmen, zwei sind in Wien geboren, haben aber böhmische Eltern. Dies wird jeweils im Anhang vermerkt, der alle Autoren in alphabetischer Reihenfolge aufführt, Geburtsjahr und -ort nennt und die aktuelle Wohnadresse, manchmal auch eine Berufsbezeichnung; demnach sind die meisten Lehrer und Journalisten. Es folgt dann eine Bibliographie der Schriften. Das ist alles, was wir in der Anthologie von den Autoren erfahren, mehr erfahren wir von den meisten auch in Handbüchern und Nachschlagewerken nicht. Von den achtzig Autoren sind nur achtzehn in der ‚chronologischen Übersicht und Bibliographie‘ von Jürgen Born und Diether Krywalski (2000) zu finden. Es sind dies folgende Autoren: Friedrich Adler, Oskar Baum, Max Brod, Franz Karl Ginzkey, Auguste Hauschner, Leo Heller, Camill Hoffmann, Richard Kralik, Paul Leppin, Fritz Mauthner, Anton Ohorn, Ossip Schubin, Hermann Ullmann, Hans Watzlik, Oskar Wiener und Otto Zoff. Ebenfalls

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vermerkt, eben als Herausgeber dieser Anthologie, sind Hans Hajek und Johann Pilz, die immerhin einen einmaligen Überblick über das literarische Schaffen deutschsprachiger Autoren in Böhmen vor dem Ersten Weltkrieg liefern, was ihre Anthologie von anderen Textsammlungen unterscheidet. Die meisten der 80 Autoren, fast die Hälfte, lebte in einem böhmischen Dorf oder Städtchen, nämlich 37. Viele haben nicht in Prag studiert, sondern in einem Lehrerseminar in anderen Städten. Erstaunlich viele gingen nach Wien, nur zwei lebten in Berlin: Leo Heller und Auguste Hauschner. Fritz Mauthner, der seine Karriere nicht in Böhmen, sondern in Berlin machte, lebte damals schon am Bodensee. Drei lebten in Dresden, fünf in verschiedenen Städten, darunter einer sogar in New York. Wien war die Hauptstadt der Monarchie und dorthin zog es immerhin 19 Beiträger. Aus Prag stammen dreizehn, hierunter wiederum bekannte Namen: Paul Leppin, Friedrich Adler, Oskar Baum, Max Brod, Oskar Wiener, Otto Zoff. Ossip Schubin, d. i. Aloisia Kirschner, eine Pragerin, lebte in Lissa an der Elbe. Drei Prager Frauen steuerten jeweils ein Gedicht bei: Laura Auerhahn, Mary Werunsky, Marianne Tuma von Waldkamp. Regional erfolgt eine Beschränkung auf die deutschböhmische Dichtung, die deutschmährische findet keine Berücksichtigung. Die Anthologie sollte eine „Heerschau halten“, wie es im Vorwort heißt (Pilz/Hajek 1911: X), also einen Überblick über die Literaten Böhmens geben. Dazu wurde in Zeitungen und Zeitschriften aufgerufen, zur Mitarbeit eingeladen, auch wurden Briefe an Einzelne geschrieben. Hugo Salus sagte nach dem ersten Brief ab, Gründe wurden nicht genannt. Adolf Bondy, Emil Faktor, Rainer Maria Rilke und Hedda Sauer antworteten auch auf den dritten und letzten Brief nicht. Warum sie nicht mitwirkten, bleibt offen. Alle fünf sind Prager deutschsprachige Autoren. Wollten sie nicht in einer deutschböhmischen Anthologie abgedruckt werden? Weitere fehlende Autoren wurden in einer Rezension in der Deutschen Arbeit vermerkt. Der Rezensent Hans Thummerer erwähnt Heinrich „Teweles, Viktor Fleischer, Robert Michel sowie die Dialektdichter des Erzgebirges und Egerlandes.“ (Thummerer 1912: 258). Über 200 Einsendungen kamen, von denen dann 80 ausgewählt wurden, also 80 Autoren. Über 5.000 Texte wurden zugesandt, aus denen wiederum auszuwählen war. 191 Texte wurden abgedruckt, Gedichte und einige wenige kurze Prosastücke. Über die Kriterien der Auswahl sagt das Vorwort nichts. Von vielen Beiträgern ist nur ein Gedicht veröffentlicht, von einigen sind es vier oder fünf in den verschiedenen Abteilungen. Auch hierzu das Vorwort: zunächst wollten die Herausgeber die Beiträger in alphabetischer Reihenfolge anordnen, dann aber bildeten sie elf thematisch nicht immer stimmige Abteilungen: Das Saatland, Ernste Pflüger, Wir schützen das Land und uns, Die

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junge Saat rauscht eigene Lieder, dann als Abteilung mit Liebesgedichten die mehr als doppelt so umfangreiche Sektion In Mai und Liebe. Hinzu kommen eine Sektion Volkslieder Mit Fiedel und Harmonika, Die Zeiten gehen übers Land, eine Sektion Balladen Alter Sang rauscht durch das Korn, eine Sektion Prosa-Texte Die Schnitter erzählen, Die Alten den Jungen und schließlich als kurzer Abschluss Fröhliche Ernte. Die Herausgeber halten an der landwirtschaftlichen Metaphorik des Titels fest, die sie auch im Vorwort gebrauchen: präsentiert werden eine „unerschöpfliche Kornkammer der Poesie“ bzw. „goldene Saatkörner“ etc. (Pilz/Hajek 9011: IX). Der Anstoß zur Sammlung ist die Vielzahl von poetischen Texten, die in Böhmen geschrieben und publiziert werden. Wer vor 30 oder 40 Jahren eine solche Anthologie hätte zusammenstellen wollen, so Johann Pilz in seinem Vorwort, wäre nur auf wenige Poeten gestoßen, nun aber gebe es eine Fülle von Schreibenden in Böhmen. Die Ursache sieht Pilz in dem wachsenden Wohlstand nach dem deutsch-französischen Krieg, der sich auch in Böhmen bemerkbar machte. Was auch der Grund für diese ‚Fülle‘ gewesen sein mag, wichtig ist doch die Feststellung, dass so vielen Menschen Poesie schreiben, nicht nur in Prag, wo es vor allem jüdische Autoren sind, sondern auch in den deutschsprachigen Randgebieten, wo es vor allem Christen sind. Freilich fällt in dieser Anthologie der Unterschied zwischen den Gruppen nicht auf, weder in der Qualität, noch in der Thematik. Die Gedichte von Max Brod sind vor allem Liebesgedichte und Naturgedichte und von mittlerer Qualität. Und das gilt durchweg für die hier versammelten Autoren. In der Natur, mit der Natur, sei es als Jahreslauf, sei es als Bild des inneren Erlebens, sei es als Fremde oder Heimat. Dies ist in verschiedenen Formen ein bestimmender Gegenstand. Nur drei Beispiele. Von Oskar Baum, in Pilsen geboren, in Prag lebend, wurde das Naturgedicht Waldesmorgen aufgenommen: Lang und innig ist die Stunde, / da der Wald vom Dunkel scheidet, / da die Nacht ihr Ende leidet / und der Wind mit breitem Munde / bläst die erste Morgenstunde. // Alle Wipfel rütteln sich! Und die vielen süßen kleinen / Blütenköpfchen weinen. (in Pilz/Hajek 1911: 220)

Von Camill Hoffmann, der aus Kolin stammte und damals in Wien lebte, findet man das Gedicht Kasernenfenster. Die erste Strophe beschreibt die Situation der Soldaten, die sehnsüchtig aus den Kasernenfenstern schauen. Die drei folgenden Strophen lauten: Oft kenn ich ein Lied; aus der Kinderzeit / wacht es im Herzen mir auf wie befreit, / die Knechte sangen es auf den Fluren, / wenn sie die Mahd in die Scheunen fuhren. // Es dehnt sich darin des böhmischen Lands/ schwerkrumiger Acker in trägem Glanz, – / die jungen Soldaten brennt es im Stillen, / sie tragen des Kaisers Rock wider Willen. / Ihr

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Blick schweift über der Dächer Rand, / ihr Heimweh erglüht wie der Abendbrand, / Wie fühl ich im Lärm der Stadt dies Bangen! Ich bin wie sie durch die Wiesen gegangen. (in Pilz/Hajek 1911: 190)

Das Gedicht thematisiert die Sehnsucht nach der böhmischen Heimat, die das lyrische Ich in der Kindheit kennen und lieben lernte. Am Schluss wird der traditionelle Gegensatz zwischen Stadt und Land angedeutet, wobei in der Regel die Stadt negativ geschildert wird, das Land positiv. Als drittes Beispiel sei das Gedicht von Josef Bennesch Drei Worte zitiert, das dem von Hoffmann gegenübergestellt wird: Drei Worte sind es schlicht und traut, / sie stehen auf allen Wegen, / ich fühl sie wenn ich glücklich bin, / wie reinen Himmelssegen. // Ich ruf sie, wenn die Not mich drückt, / wenn alles mich verlassen. / Sie ziehen tröstend in mein Herz,/ sind einsam meine Strassen. // Und wenn sich schwache Stunden nahn / dann sind sie mein Gewissen. / Die hat mir Gott ins Herz gelegt, / mein Dasein zu versüßen. // O Eltern, Heimat, Mutterlaut! / Nichts gilt mir mehr auf Erden. / Hab ich nur euch und bleib euch treu, / dann muss ich glücklich werden. (in Pilz/Hajek 1911: 191)

Der Stil unterscheidet sich ein wenig von dem Hoffmanns, er ist heimeliger. Hier gibt es keine Naturschilderung, sondern eine des Lebensgangs, der über Wege und Straßen führt, durch Glück und Unglück. Orientierung bleibt dem lyrischen Ich in den drei Worten, die ihm Halt sind: die Eltern, die Muttersprache, die heimatliche Landschaft. Von Heimat spricht auch Pilz in seinem Vorwort; es gehe darum, den „Heimatsgenossen“ „unsere Dichter“ (Pilz/ Hajek 1911: X) vorzustellen: Diesen Zwecken möge das vorliegende Buch dienen, ein reines Heimatwerk ohne jede politische Tendenz. Alle Künstler haben sich der Anthologie gegenüber nur als bodenständige deutsche Böhmen gefühlt und ohne Parteiunterschied bereitwillig beigesteuert. (Pilz/ Hajek 1911: X)

Auch die deutschsprachigen Juden werden also den bodenständigen deutschen Böhmen zugerechnet. In diese schöne Eintracht wird eine Abteilung wie ein Keil hineingetrieben. Es ist die Sektion Wir schützen das Land und uns mit dem Lied der Deutschböhmen: „Wir müssen kämpfen und siegen“ (in: Pilz/Hajek 1911: 82) und elf weiteren nationalistischen Gedichten, in denen die Deutschen in Böhmen aufgefordert werden, ihr Land, ihr Recht mit Blut und Schwert zu verteidigen, womit man an die dem Band vorangestellte Widmung „An die Deutschen in Böhmen“ von Felix Dahn anknüpft, einem deutsch-national eingestellten Autor, weder Deutschböhme noch Österreicher, dessen Roman Ein Kampf um Rom im Bismarck-Reich und danach ein Bestseller war. Dort geht es um tapfere Goten, die gegen verschlagene Römer kämpfen, letztendlich verlieren,

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aber von verbündeten Wikingern nach Norden gebracht werden, wo sie die Grundlage des deutschen Reiches legen. Ein Gote, der Latein beherrschte, galt dieser Diktion gemäß als verwerflich. Die letzten Zeilen des Dahnschen Widmungsgedichtes lauten: O rafft Euch auf, ihr wackern Männer, / und Eurer deutschen Pflicht gedenkt, /eh der Kosak den zottgen Renner / hohnlachend an der Moldau tränkt. / Auf rührt den Geist und rührt die Hände, / seid stark und zäh und treu wie Stahl: / denn täuscht Euch nicht! Dies wird das Ende! / Deutsch oder Russisch heißt die Wahl. (in Pilz/Hajek 1911)

Hier spricht einer, der die Situation in Böhmen nicht kennt, nicht aus eigener Erfahrung, eigenem Erleben. Hier wird der Nationalismus von Außen nach Böhmen hineingedrückt. Es ist ja meist nicht so, dass die Ideologie aus einem Konflikt heraus entsteht, es ist oft so, dass die Ideologie erst den Konflikt hervorbringt, zu dem es ohne sie nicht gekommen wäre. In diesem Gedicht ist von den Tschechen überhaupt nicht die Rede, sie sind zu vernachlässigen, es geht nur darum, wer an der Moldau das Sagen hat. Und hier ist Dahn ein Prophet, so scheint es: deutsch oder russisch? Zuerst kamen die Deutschen mit Hitlers Wehrmacht, dann kamen die Russen nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Die Fähigkeit zur Vorhersage belegen auch zwei Autoren der nationalen Lieder in der dritten Abteilung. Diese Autoren stammen alle aus dem deutschsprachigen Randgebieten: Hans R. Kreibich stammt aus Algendorf und lebt in Prag als Redakteur des Bundeskalenders, Anton August Naaff, zweimal vertreten, stammt aus Weitentrebetitsch und lebt in Wien, Josef Münzberger ist ein Lehrer aus Böhmisch Leipa, Viktor Adalbert Skrepek stammt aus Wien, ist aber Redakteur in Asch, Wenzel Lill ist Schulleiter in Joachimstal, Julius Hirsch lebt in Teplitz, Theodor Hutter in Reichenberg, Franz Eichert stammt aus Schneeberg und lebt in Wien, Franz Ulbrich stammt aus Bährenstein und lebt in Oldenburg. Als Beispiel seien hier die letzten drei Strophen der Losung von Julius Hirsch angeführt: Wir wollen sein ein frei Geschlecht / auf deutscher Heimaterde / und eh die Scholle, die wir baun, / des Feindes Beute werde, // der rings uns dräut von Hass gebläht / mit hundert fremden Zungen, / eh soll noch einmal sich erneun / der Kampf der Nibelungen. // Und dann ein Weltenbrand empor / in roten Feuergarben / zu dem erschrocknen Himmel lohn, / ihm kündend, dass wir starben! (in Pilz/Hajek 1911: 87)

Ist dies nicht eine Vorhersage des Weltenbrands, den Hitler und die Seinen entfachten und der mit einem Untergang endete – wie ja auch die Nibelungen am Schluss alle untergingen? Ist dies nicht sogar eine fatale Sehnsucht nach diesem Untergang? Ähnlich Theodor Hutter in seinem Gedicht Wir sind ein Volk, das Ehre achtet, diesmal die zweite von zwei Strophen:

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Und glaubt man unsern Mut zu dämpfen, / zu lähmen unsre deutsche Kraft, / wir werden trotzig dennoch kämpfen / mit alter wilder Leidenschaft, / wir werden streiten ohne Zagen / – nicht blind von Zwietracht mehr getrennt – / bis unser letztes Schwert zerschlagen, / bis unsre letzte Hütte brennt! (in Pilz/Hajek 1911: 88)

Hier kommt etwas zum Ausdruck, was sich einer rein literarischen Interpretation entzieht, eine Art Zerstörungswut, auch Selbstzerstörung, die sich dann auch erfüllte. Die Männer fielen in Russland, die Frauen, Kinder und Greise wurden vertrieben. Die letzte deutschböhmische Hütte wurde nach dem Krieg zerstört. Zerstörung und Selbstzerstörung, als Wunsch, als Wille ausgedrückt, findet sich auch bei Felix Dahn in seinem genannten Roman. Dort leisten fünf Gotenführer folgenden Schwur: Und wir schwören den schweren Schwur, / Zu opfern all unser Eigen, / Haus, Hof und Habe, / Roß, Rüstung und Rind, / Sohn, Sippe und Gesinde, / Weib und Waffen und Leib und Leben / Dem Glanz und Glück des Geschlechts von Gaut, / Den guten Goten. (zit. n. Viel 2009: 51)

Sie schwören also nicht, ihr Hab und Gut zu verteidigen, sondern es zu opfern, bis sie nichts mehr haben als den imaginären Glanz der Goten. Es ist die Frage, inwieweit in diesem Nationalismus nicht nur die Verteidigung der Heimat angelegt war, sondern auch ihre Zerstörung, merkwürdig genug, also nicht nur der Kampf gegen den Feind, sondern auch der Kampf bis zur Vernichtung dessen, das doch eigentlich verteidigt werden sollte. Wird hier eine Art ‚Todessehnsucht‘, mit Sigmund Freud zu sprechen, formuliert? Freud sah sie im Ersten Weltkrieg am Werke. Jedenfalls hat der Nationalismus, nicht nur der deutsche, zur Zerstörung Europas im Ersten Weltkrieg geführt. Es war jedoch nicht nur der Nationalismus – der war die Ideologie, die zur Rechtfertigung diente; es war auch der Machttrieb, die Expansionslust der regierenden Gruppen in den europäischen Staaten. Er kostete Millionen Opfer und ließ alle Nationen beschädigt zurück. Unter den 191 Gedichten und Prosastücken der Anthologie bringen also die Widmung und zwölf Gedichte in der dritten Abteilung die deutsch-nationale Ideologie deutlich zum Ausdruck. Es sind wenige, aber sie fallen ins Gewicht, nicht zuletzt wegen der Folgen, die diese Ideologie letztendlich bewirkte. Ein Gedicht unter den 12 ist antisemitisch, das einzige. Es stammt von Anton August Naaff und heißt Thonar lass den Hammer sausen. Thonar ist der germanische Gott, der mit seinem Hammer dreinschlägt. Thonar lass den Hammer sausen! / Wirf ihn in die Schachrer Schar, / dass mit Dröhnen und mit Brausen / deutscher Sinn sei offenbar! // Wie sie feilschen, wie sie hasten / um des Goldes Götzenbild / unter Plunderwaren-Lasten / liegt im Staub der Ehrenschild. / Leer die Herzen, voll die Kassen, / totgehetzt das Ideal. / Brot und Spiele für die Massen,

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/ Sport und Faustrecht und Skandal! // Frech durchfliegt die Herdenlüge / Länder, Völker im Triumph, / Handels Raub und Aktien-Kriege / ‚Weltkultur‘ sind heute Trumpf! // Thonar, lass den Hammer sausen / wirf ihn in die Schachrer-Schar, / dass mit Dröhnen und mit Brausen / deutscher Sinn sei offenbar. (in Pilz/Hajek 1911: 92)

Von Juden ist nicht direkt die Rede, doch alle Tätigkeiten, alle Eigenschaften, die genannt werden, entsprechen dem antisemitischen Vorurteil: Schacherer, Geldanbeter, Lügner, in Handel und Aktien Betrüger, international in der ‚Weltkultur‘, also das internationale, das kosmopolitische Judentum. Im Gegensatz dazu werden die aufrechten Deutschen, die Germanen mit ihrem alten Gott geschildert, das Christentum ist vergessen. Was mit den Schacherern geschieht, wenn Thonar den Hammer sausen lässt, bleibt offen. Was ist der Hintergrund für den Abdruck dieses und weiterer elf nationalistischer Gedichte? Warum durchbrechen die Herausgeber damit die Einheitlichkeit des Bandes? Warum wird ausgerechnet Felix Dahn um eine Widmung gebeten? Die Vielschichtigkeit der vertretenen Texte lässt sich mit den unterschiedlichen Zielgruppen erklären. Thummerer erwähnt die Gruppe national eingestellter Leser (für diese sei die Sektion politische Lyrik), ferner literarisch erfahrene und unerfahrene Leser. Dadurch sei die Sammlung zwangsläufig inkohärent: „Eine Anthologie, die den politischen und künstlerischen Bedürfnissen aller Volksschichten zugleich entspricht, ist auch nahezu unmöglich.“ (Thummerer 1912: 258) Es kann kein Zweifel sein, dass sich nationalistische Töne und antisemitische eher in der Literatur der Randgebiete zeigten als in Prag. Die Prager Autoren, durchweg Juden, sind keine Antisemiten. Aber es wäre ein Unrecht an den Autoren der Randgebiete, die weder nationalistisch, noch antisemitisch waren, die gesamte Literatur dieser Gebiete als nationalistisch oder antisemitisch zu brandmarken. Jürgen Serke hat in seinem Buch Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft 47 Schriftstellerinnen und Schriftsteller versammelt, die alle unter dem Nationalsozialismus zu leiden hatten, verfolgt wurden, ermordet wurden oder emigrieren mussten, mancher hatte dann unter den Kommunisten noch zu leiden. Serkes Buch, ein bewundernswertes Kompendium, das Werk eines Journalisten, nicht eines Literaturwissenschaftlers, mit Recht in Prag durch den Magnesia Litera Hauptpreis geehrt, hat in Deutschland ein großes Echo gefunden bei Lesern und Kritikern, kaum in der Germanistik. Serke hat die Autoren, die noch lebten, aufgesucht, oder er hat ihre Kinder besucht, er hat Familienfotos gesammelt und veröffentlicht und auf Autoren aufmerksam gemacht, die längst vergessen waren, wenn sie denn überhaupt in die Annalen der Literaturgeschichte eingegangen

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sind. Er hat schließlich sogar im Zsolnay-Verlag in Wien eine Reihe mit wichtigen Werken dieser Dichter herausgebracht. Serkes Sammlung belegt: diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die wegen ihrer Herkunft, wegen ihrer Haltung verfolgt wurden, stammten aus allen Gebieten Böhmens und Mährens, aus Prag und aus Brünn. Die Grenze verläuft nicht zwischen Prag und der Provinz, die Grenze verläuft zwischen Antisemiten und Nicht-Antisemiten, zwischen Nationalisten und Nicht-Nationalisten, schließlich zwischen Faschisten und Antifaschisten. Ein zweites Panorama der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens bietet Joseph Mühlberger mit seiner Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen. Mühlberger ist zurückhaltend in seinem Urteil, hatte er doch unter seinen Landsleuten genug zu leiden, auch noch nach dem Kriege. Es gibt durchaus Heimatschriftsteller, die nicht nationalistisch und nicht antisemitisch waren, ich nenne wenigstens Gustav Leutelt, den Dichter des Isergebirges. Und es gibt jüdische Heimatschriftsteller. Mühlberger erwähnt Viktor Fleischer, einen Arzt, dessen wichtigstes Werk Wendelin und sein Dorf ist. Dieser Wendelin studiert Medizin in der Stadt und hat Heimweh. Nach dem Examen kehrt er deshalb in sein Dorf zurück, das er verwandelt vorfindet, verwandelt durch die beginnende Industrialisierung. Bleiben kann er aber nicht. Er hat eine jüdische Frau und wird deshalb von den Dorfbewohnern gemieden. Er muss sein Dorf wieder verlassen. Viktor Fleischer gelang es, nach England zu emigrieren, sein Bruder Max Fleischer, der laut Mühlberger anrührende Heimatgedichte schrieb, wurde in Theresienstadt ermordet. Und es gibt Arbeiterdichter, die nur bei Mühlberger erwähnt werden, sonst aber vergessen sind: Franz Grundmann, Paul Link, Heinrich Steinitz, Ernst Paul, Robert Köhler, Florian Gröer, Wenzel und Heinrich Holek. Zu berücksichtigen wären ferner die Kommunisten: neben Egon Erwin Kisch Louis Fürnberg und F. C. Weiskopf. Autoren, die von den Nationalsozialisten während des Protektorats Preise erhielten sind: Bruno Brehm, Herbert Cysarz, Friedrich JakschBodenreuth, Erwin Guido Kolbenheyer, Karl Franz Leppa, Wilhelm Pleyer, Hans Watzlick (Becher 2010: 67). Auch hier bin ich gegen ein pauschales Urteil: jeder dieser Autoren muss genau untersucht werden, damit ihm Gerechtigkeit widerfährt. Ich will noch einen Blick auf andere Anthologien deutschsprachiger Literatur Böhmens werfen: Deutsche Dichter aus Prag, herausgegeben und eingeleitet von Oskar Wiener (1919) und Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei, herausgegeben und eingeleitet von Otto Pick (1922). Wiener bringt Poeten aus Prag, also solche, die dort leben und arbeiten. Das sind immerhin 37, von denen ich sechs nicht im Register des Handbuchs

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der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder gefunden habe. Es sind dies: Johannes Astl, Carl Bayer, Gustl Hackel, Gustav Kauder, Friedrich Werner von Oesteren, Paul Paquita. Alle anderen sind die Autoren, die auch heute noch relativ bekannt sind, mit denen sich jedenfalls die Literaturwissenschaft beschäftigt, nur Franz Kafka fehlt. Es ist die deutschsprachige Literatur Prags. Diese dominiert auch den Band von Otto Pick. Er hat Texte von 26 Autoren abgedruckt, darunter von acht, die nicht zu den Pragern gehören. Mag auch das Prager Übergewicht stark sein, so ist hier doch eine deutschsprachige Literatur versammelt, die nicht durch die geografische Grenze – hier Prag, dort die Randgebiete – getrennt wird, sondern eine Einheit bildet. Ich komme zu den zwei Anthologien, die Paul Eisner 1930 und 1932 im Staatsverlag herausgab zum Gebrauch an Schulen und in der breiten Öffentlichkeit; die Reihe wurde von Hugo Siebenschein redigiert. Der Band von 1930 heißt Landsleute. Deutsche Prosa aus der Tschechoslowakei von Adalbert Stifter bis Franz Werfel, umfasst also auch das 19. Jahrhundert mit Stifter, Marie von Ebner-Eschenbach und Jakob Julius David, dann folgen acht zeitgenössische Autoren, von denen fünf aus Prag sind: Rilke, Baum, Kafka, Brod, Werfel, und drei aus den Randgebieten: Gustav Leutelt, Robert Michel, Erwin Guido Kolbenheyer. Also auch hier wieder ein Übergewicht der Prager, wenn auch der Titel Landsleute alle erfasst und gleichberechtigt nebeneinanderstellt. Landsleute kann auch an die Tschechen gerichtet sein, die anhand dieses Buches deutsch lernen: auch die Deutschsprachigen sollen sie als ihre Landsleute begreifen. Der Band Prag in der deutschen Dichtung, der in derselben Reihe 1932 erschien, hat Prag als Thema, aber nicht nur Prager Autoren. Er beginnt mit Clemens Brentano, bringt auch Franz Grillparzer und Karl Egon Ebert, bis dann mit Hugo Salus die zeitgenössischen Schriftsteller kommen, wiederum durchweg Prager. Die meisten sind mit einem oder zwei Gedichten vertreten, Franz Werfel mit vier, Hugo Salus mit neun und Rilke mit 28, alle aus seinem Band Larenopfer, in dem er seine Vaterstadt besingt. Zum Schluss ein Blick auf die Anthologie Wir tragen ein Licht, die 1934 herauskam, also zwei Jahre nach der von Eisner, ein Jahr nach dem Machtantritt der NSDAP in Berlin. Im Titel und im Vorwort wird die „sudetendeutsche Dichtung“ ausdrücklich von der Prager unterschieden. Der Untertitel lautet: Rufe und Lieder sudetendeutscher Studenten. Von den 11 Autoren, auch zwei Frauen, finde ich vier im Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder: Franz Höller, Josef Moder, Helmut Spießmeyr und Josef Schneider. Das Vorwort schrieb Herbert Cysarz: Vom Schicksal der sudetendeutschen Dichtung.

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Dem heutigen Leser erschließt es sich nicht sofort. Es ist in diesem altertümelnden Deutsch geschrieben, das etliche Germanistik-Professoren der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg pflegten: große Worte, starke Emotionen, mangelnde Präzision. Man vergleiche dieses Vorwort mit einem Essay von Max Brod, der heute noch aktuell erscheint. Doch eine Lektüre dieses Vorworts von Cysarz lohnt. Eines ist hier sicher: es geht um das deutsche Volk, das eine wesenhafte Einheit zu sein scheint mit unerschütterlichen Tugenden. Allerdings ist er nicht unkritisch, so hält er der sudetendeutschen Literatur Provinzialismus vor. Sie müsse aber universalistisch sein, weil sie doch für das Menschenrecht eintrete. Die Prager jüdische Literatur sieht er durchaus mir Respekt, er lobt Kafka, aber es ist deutlich, dass für ihn diese Literatur eine andere ist als die sudetendeutsche. Auch die Tschechen lehnt er nicht ab, er plädiert dafür, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Die Kritik von Cysarz an der sudetendeutschen Literatur ist die schärfste, die sich denken lässt, und sie bestätigt alle, die einen Unterschied sehen zwischen dieser Heimatliteratur und der Prager deutschsprachigen Literatur. Seitdem es eine deutsche Heimatdichtung gibt, blüht eine Kunst auch der sudetendeutschen Landschaften. Indessen landschaftlich ist immer bloß die Ursprungsschicht, nicht auch der Gestaltungskreis der echten Kunst. Und jede große Landschaftsdichtung formt ihre wachstümlichen Bestände aus dem Gesamtgeist ihrer Nation, macht ihr organisches Jetzt und Hier, ohne den Organismus im geringsten zu verkümmern, zum magischen Immer und Überall. Den ganzen Menschen als Landschaftswesen betrachten, das ist eine verflachende und kunstfremde Betrachtungsweise, die den Kleinen auf Kosten der Großen schmeichelt. (Cysarz 1934: 9)

Das trifft nicht nur viele Texte in der Anthologie Sprossende Saat: es ist immer ein Handikap der Heimatliteratur, dass sie aus der Heimat kommt und in der Heimat bleibt, also Gefahr läuft, provinziell zu sein. Cysarz weiter: Hingegen alle Landschaftsmale in den ganzen Menschen weben, das allein ist Gewinn und Erneuerung. Gerade im Sudetenland hat eine Landschaftsdichtung um der Landschaft willen allerlei Verheerungen und Lähmungen gezeigt: Krähwinkelei mit weltgültigen Ausnahmen. Schon vor 1914 hat solche Verdorfung gedroht. Jetzt drohen vollends innere Provinzialisierung und äußere Balkanisierung. (Cysarz 1934: 10)

Ich halte fest: Krähwinkelei und Verdorfung bestimmen weitgehend diese Heimatliteratur. Was Cysarz unter ‚Balkanisierung‘ versteht, ergibt sich aus dem folgenden Gegensatz, in dem Cysarz ‚Europäisierung‘ gegen ‚Balkanisierung‘ stellt; ‚Balkanisierung‘ wäre also eine Art Provinzialismus, eine Gefahr, die auch der tschechischen Literatur droht, meint er. Noch einmal Cysarz: Die beiden Möglichkeiten auch des tschechischen Ost-West-Schicksals sind, unseres Bedünkens, hie Balkanisierung, hie Europäisierung. Der Westen kann diese Lande nicht an

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Europa ketten, wenn nicht auch Mitteleuropa Brücken schlägt und stützt. Unser sudetendeutsches Schrifttum dient deshalb sowohl sich selbst als auch den anderen, indem es den Provinzialismus begräbt. Sein Los ist das Schicksal der gesamten Gesellschafts- und Völker-Ordnung von morgen. (Cysarz 1934: 10)

Das ist eine Kategorie, nach der das „sudetendeutsche Schrifttum“ beurteilt werden kann und muss: wo hat es den Provinzialismus überwunden und in welchen Texten? Die jüdische Welt Prags grenzt Cysarz von dieser sudetendeutschen Literatur deutlich ab: Die älteste Edelschicht ist alt-österreichisches Vermächtnis, aus Wiener und Pariser Neuromantik gespeist, das sterbende Vaterland Rainer Maria Rilkes. An dieses stößt gelegentlich auch die jüdische Welt, sofern sie eben als solche sich absetzt. Wie dies am gültigsten der Fall Franz Kafkas ist. Der dünkt uns eine der ragendsten, wenn nicht die ragendste Gestalt des jüdischen Schrifttums seit Spinoza. (Cysarz 1934: 13)

Er sieht also die abgesonderte jüdische Welt, sieht aber auch die überragende Position Kafkas, den er neben Spinoza stellt, eine höhere Position ist kaum denkbar. Und dies 1934, als Kafka noch nicht weltberühmt war. Dass er die Prager deutschsprachige Literatur als eine durchweg jüdische sieht, ohne sie damit abzuwerten, aber eben als eine andere als die sudetendeutsche, ergibt sich noch aus dieser Bemerkung: Ist nicht das Prager Judentum eben darum die Wiege so mannigfacher Begabungen, weil es von alters her gefügte Gemeinschaft, gleichsam ein Staat im Staat ist? So war es im Haag Spinozas, so ist es im Prag Franz Kafkas. (Cysarz 1934: 13)

Die Zweiteilung, die oft Eduard Goldstücker vorgeworfen wird, hat dieser somit nicht erfunden. Sie gab es schon bei Herbert Cysarz 1934 und sie reichte bis in die zwanziger Jahre zurück: also hier die weltläufige Prager deutschsprachige Literatur, dort die Heimatliteratur der Randgebiete, wobei die Bewertung schwankt, mal ist die eine die gute, mal die andere, je nach Blickwinkel. Goldstücker hat sie übernommen, nicht zuletzt aus taktischen Gründen. Den Unwillen gegenüber dem deutschsprachigen Erbe in Böhmen, den die Kommunisten kultivierten, lenkte er auf die Randgebiete, so konnte er sich mit der Prager Literatur befassen und 1963 eine Konferenz über den im Sowjetsystem verfemten Franz Kafka abhalten, ja die Frage erörtern, ob die Entfremdung, die er darstellte, nicht nur im Kapitalismus, sondern auch im Sozialismus vorkäme. Zudem nahm Goldstücker danach die gesamte Prager deutschsprachige Literatur in den Blick und schuf eine Arbeitsstelle unter Kurt Krolop. So wie wir Max Brod den Prager Kreis verdanken, mit dem er die Prager deutschsprachige Literatur aus der Provinz in die Welt gehoben hat, so

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hat Eduard Goldstücker der Erforschung dieser Literatur den Weg bereitet. Wir stehen alle in seinen Fußstapfen. Die genannte Zweiteilung der deutschsprachigen Literatur Böhmens findet sich ebenfalls bei Rudolf Fuchs in seiner Broschüre České a německé basnictvi v Československo [Tschechische und deutsche Dichter in der Tschechoslowakei] von 1937. Štěpán Zbytovský (2016: 190) hat darüber berichtet. Die Schrift ist nur tschechisch erschienen, was Brod als „Kennzeichen des Antisemitismus“ sieht, „der heute weite Gebiete des deutschen Schrifttums beherrscht“. (Zbytovský 2016: 190) Hier teilt Fuchs die deutschsprachige Literatur in die der Kosmopoliten in Prag und in die der Blut und-Boden-Dichter der Sudetendeutschen; beide lehnt er ab. Das ist eine flache kommunistische Einteilung, beiden fehlt eben die richtige Klassen-Perspektive. Die Nationalisten werfen den Juden „Internationalismus“ vor, die Kommunisten nennen das „Kosmopolitismus“. Brod wehrt sich gegen die Etiketten von Fuchs. Wenn er jedoch zwischen Watzlik und „dem tschechischen Nationalisten Jirásek keinen so grundlegenden Unterschied“ feststellen kann, ist das kein Kompliment für Watzlik (Zbytovský 2016: 190). Beide – Jirásek und Watzlik – waren Nationalisten. Watzlik war seit 1936 Amtsleiter der Sudetendeutschen Partei Henleins und gab von 1933 bis 1938 die völkische Zeitschrift Der Ackermann aus Böhmen in Karlsbad heraus. Wehrte sich Max Brod gegen die Urteile von Rudolf Fuchs, so war die Zweiteilung der deutschsprachigen Literatur längst fortgeschritten, was vor allem das Werk von Sudetendeutschen war, ein Begriff, der den der Deutschböhmen ablöste. 1925 schon publizierte der aus Böhmisch-Leipa stammende Germanist Rudolf Wolkan eine Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und den Sudetenländern, ein deutsch-nationales Werk, in dem die Juden nicht mehr vorkamen, also auch nicht die Prager (zit. n. Hohmeyer 2005: 36) Ebenso fehlten sie in dem Buch Die sudetendeutsche Dichtung der Gegenwart des Wiener Germanisten Adalbert Schmidt, die 1938 im Sudetendeutschen Verlag erschien; darin kein Wort über das Zusammenleben von Deutschen, Tschechen und Juden (zit. n. Hohmeyer 2005: 38). Schmidt spricht sogar davon, dass er endlich ein wahres Bild dieser sudetendeutschen Literatur liefere, die bisher durch die Einbeziehung „volksfremder Elemente“ verfälscht worden sei. Schmidt: „Prag […] stand im Zeichen einer geschlossenen jüdischen Intelligenz.“ (zit. n. Hohmeyer 2005: 39) Und die sei „artfremd“. (zit. n. Hohmeyer 2005: 38) (Adalbert Schmidt war nach dem Krieg Professor an der Universität Salzburg.) „Artfremd“: ein Adjektiv, das die böhmischen Juden, die in der Anthologie Sprossende Saat noch zu den „bodenständigen deutschen Böhmen“ (Pilz/Ha-

‚Sprossende Saat‘. Eine Fallstudie zu ‚böhmischen‘ Anthologien

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jek 9011: X) zählten, ausschließt: nach 1940 wurden die Juden, die nicht emigrieren konnten, in die Konzentrationslager deportiert, mehr als 70.000 Juden aus Böhmen und Mähren wurden ermordet, aus keinem anderen Grund als dem, dass sie Juden waren, ein brutales Faktum, das wir bei unseren literarhistorischen Gedankenspielen nicht vergessen können. Adalbert Schmidt bezeichnet in seiner Literaturgeschichte Joseph Mühlberger als eine „umstrittene Gestalt“ (zit. n. Hohmeyer 2005: 41). Dessen Erzählung Die Knaben und der Fluss sei eigentlich eine slawische Dichtung: „Das gefühlsmäßig Weiche, allzu Weiche ist nicht deutsch, sondern slawisch.“ (zit. n. Hohmeyer 2005: 41) Damit wird auch Mühlberger aus der sudetendeutschen Literatur ausgeschieden, was er schmerzhaft zu spüren bekam. Auch in der vierten Auflage von Josef Nadlers Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften von 1937 kommt die Prager deutschsprachige Literatur nicht mehr vor, jedenfalls die der Juden nicht, einzig Rilke wird noch erwähnt (Hohmeyer 2005: 42).1

Literatur Becher, Peter (2010): Prag in Schwarz und Braun. – In: Džambo, Jozo, Praha-Prag 1900-1945. Literaturstadt zweier Sprachen, vieler Mittler. Passau: Stutz, 59-72. Becher, Peter/Höhne, Steffen/Krappmann, Jörg/Weinberg, Manfred (Hgg.) (2017): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart: Metzler. Born, Jürgen/ Krywalski, Diether (Hgg.) (32000): Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern 1900–1939. München: K. G. Saur. Fuchs, Rudolf (1937): České a německé basnictvi v Československo [Tschechische und deutsche Dichter in der Tschechoslowakei]. Praha: Borovy. Görgl, Alfred/Herneck, Fritz/Moder, Josef/Spießmayr, Helmut et al. (1934): Wir tragen ein Licht. Rufe und Lieder sudetendeutscher Studenten. München: Langen Müller.

1  Diese Tilgung der Juden aus der böhmischen Geschichte findet sich noch in jüngster Vergangenheit. 1998 erschien in Köln in zweiter Auflage eine Geschichtsdarstellung Die böhmischen Länder von Hans Schenk in der Reihe Historische Landeskunde. Deutsche Geschichte im Osten, von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen herausgegeben. In dieser Geschichte kommen die Juden nicht vor, es gab sie anscheinend nicht in Böhmen und Mähren. Wenn es sie nicht gab, gab es auch keine Judenvernichtung. Auch von der Judenvernichtung ist in diesem Geschichtsbuch nicht ein Wörtchen zu finden. Viele schöne Städte und Dörfer Böhmens und Mährens stehen im Register. Theresienstadt wird man vergebens suchen.

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Kafka’s Habsburg zwischen Bürokratie und Mythos 1. Bürokratie und Judentum Wer Kafka unter der Perspektive der Interkulturalität liest, wird, so müsste man annehmen, um den Kontext der k.u.k.-Monarchie gar nicht herumkommen, in der Kafka 35 von seinen insgesamt nur 41 Jahren gelebt hat. Doch weder Werk noch Forschung scheinen diese Annahme zu unterstützen. Kafka hat sich nie direkt und in größerem Umfang mit der politischen Verfasstheit jenes Staatsgebildes auseinandergesetzt, dessen Bürger er war. Insofern bezeichnet ‚Kafka und Habsburg‘ auch nicht unbedingt einen Schwerpunkt der Kafka-Forschung. Wo Habsburg als Kontext für Kafka betrachtet wurde, richtete sich der Blick eher auf weiter gespannte, zumeist kulturhistorische Kontextualisierungen. Überblickt man die sehr heterogene Forschungslandschaft zum Thema ‚Kafka und Habsburg‘, so lassen sich doch einige Schwerpunkte nennen. Zum ersten findet sich hier der Begriff Habsburg als Konkretisierung eines weiteren ästhetischen Rahmens, den man als Fin de Siècle auch als Epochenbegriff handhabt (Anderson 1994; Hawes 2008). Zum zweiten finden sich eine Reihe von Untersuchungen zum Prager Kontext (Krolop/Zimmermann 1994; Höhne/Becher/Nekula 2012; Nekula 2016; Spector 2002), die insbesondere – auch positivistisch ausgerichtet – auf lokale kulturelle Interferenzen achten, wobei der Habsburger Kontext bisweilen eher in den Hintergrund tritt. So heißt es bei Marek Nekula (2016: 208): „It is irrelevant whether in the ‚city‘ (‚Stadt‘) Kafka was recalling the old Habsburg ‚state‘ (‚Staat‘) or whether he meant the new Czechoslovakia.“ Das ist insofern richtig, als beispielsweise die Arbeiterunfallversicherung vom neuen Staat Tschechoslowakei nach 1918 übernommen wurd und Kafka seine Arbeit ohne große Umbrüche (abgesehen von seiner Krankheit) fortsetzen konnte. Dazu trug auch bei, dass der Zuständigkeitsbereich von Kafkas Behörde, der Arbeiterunfallversicherung, bereits in k.u.k.-Zeiten föderal und regional (und nicht nach Branchen) strukturiert war, so dass die Behörde nahezu unverändert in die Aufsicht und Oberhoheit des neuen Staates Tschechoslowakei übergehen konnte (Wagner

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2010: 403). Andererseits gab es doch erhebliche Umstrukturierungen innerhalb der Behörde, eine neue tschechische Führung hatte sich durchgesetzt, die Amtssprache hatte sich geändert: sie ist jetzt tschechisch, und die Prinzipien der Personalführung wurden straffer, wovon Kafka glücklicherweise kaum betroffen war. Lediglich seine Urlaubsgesuche wurde zunächst etwas rigider gehandhabt (Stach 2008: 292-293). Doch der Blick auf diese scheinbaren Kontinuitäten verstellt eher den Blick auf die Bedeutung, die Habsburg (und sein bürokratischer Komplex) für Kafka und sein Werk haben kann. Im Folgenden soll es also um die Bedeutung von dem, wofür der Name Habsburg steht, für Kafka gehen. Dabei kann der Begriff nicht nur eine interkulturelle Konstellation in diesem Vielvölkerstaat bezeichnen, vielmehr soll deutlich werden, inwiefern das, wofür Habsburg steht, selbst wiederum als Transmission oder Trajektorie politischer, kultureller, ethnischer und religiöser Rahmenbedingungen in der Literatur begriffen werden kann. Insofern stellt sich unter dieser Perspektive zunächst einmal die Frage, wie und in welcher Form Kafka das Habsburgerreich wahrgenommen hat und überhaupt hat wahrnehmen nehmen können. Das Habsburgerreich selbst kann in seinen letzten 100 Jahren nach den napoleonischen Kriegen als grandioser und grandios gescheiterter Versuch einer politischen Ordnungs- und Organisationsform für die Kompensation interkultureller Verwerfungslinien betrachtet werden. Die politische Organisation des die Einzelstaaten umfassenden Reiches waren dabei ebenso von Bedeutung wie die dadurch geregelte Multiethnizität dieser politischen Form. Spätestens zu Kafkas Lebzeiten waren diese beiden genannten Aspekte in ein antagonistisches Verhältnis getreten. Daraus lassen sich zumindest zwei Aspekte ableiten, die mit dem Selbstverständnis Kafkas jenseits seiner schriftstellerischen Selbstdefinition aufs Engste zusammenhängen: Da Kafka Jude war und eben auch Verwaltungsund Versicherungsjurist, hat er das Habsburgerreich als multiethnisches und multireligiöses Staatsgebilde wahrgenommen, das vor allem durch seine bürokratischen Strukturen zusammengehalten wurde. Kafka hat, auch vermittelt durch seinen sozial und politisch engagierten Freund Max Brod, zumindest unterschwellig mitbekommen, wie eng diese beiden Aspekte, die bürokratische Ordnungsform des Staates – oder gar die „Bürokratie als eine Herrschaftsform“ (Arendt 1986: 519), die „Herrschaft des Büros“ (Arendt 1991: 22), wie Hannah Arendt (1986: 518) diagnostiziert – und die Lebensform der jüdischen Bevölkerung zusammenhängen. Dahinter verbirgt sich die Idee Max Webers, derzufolge staatliche Modernisierung sich als Bürokratisierung verwirklicht – interessanterweise hat Weber diese Idee ausgearbeitet im zeit-

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lichen Kontext genau jener Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg, 1918, die auch hier im Fokus steht (Weber 1988; 1980; zu Kafka: Derlien 1994). Habsburg war der Ort der Assimilation und Emanzipation der Juden [Emancipation der Jüden] (Neumann 2014: 38-42) – und Bernd Neumann spricht aus der Perspektive auf Max Brod vom „Rechtsstaat ‚Kakanien‘“ (Neumann 2014: 37), aber das zerfallende und innerlich ausgehöhlte Habsburg war auch der Ort eines verschärften Antisemitismus. Als das Habsburgerreich zusammenzubrechen drohte, wurde die Fragilität der durch Assimilation erreichten Emanzipation durchaus spürbar. Kafkas Existenz berührte einer Reihe jener sozialen Verwerfungslinien, die sich in diesem Rahmen gebildet haben. Er gehörte nicht nur dem Judentum, sondern auch dem deutsch sprechenden Bürgertum in einem tschechischen Umfeld an und arbeitete in der staatlichen Unfallversicherung mit an der Sozialpolitik des Reiches. In der Tat sind zahlreiche Aspekte, die sich aus den ethnischen oder religiösen Verwerfungslinien ergeben, für seinen Fall auch gut dokumentiert und aufgearbeitet. Zu Kafkas Judentum und seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum im Rahmen jener Multiethnizität und Multireligiösität, die das Habsburgerreich mit sich brachte, gibt es eine Reihe von Forschungsarbeiten. Für die Literaturwissenschaft jenseits positivistischer Interessen werden solche Arbeiten zu den entsprechenden Motiven dort interessant, wo sie als kulturhistorisch spezifizierter Topos begriffen werden, wie dies beispielsweise Steffen Höhne mit dem Herr-Knecht-Verhältnis vorgeführt hat (Höhne 2014: 274). Hier kann der Habsburger Kontext die Sujets von Kafka selbst neu beleuchten und die Texte anders zum Sprechen bringen. Die multiethnische Dimension, wie sie für Habsburg kennzeichnend ist, wird in einer engeren, produktiveren Verbindung als Kontext fruchtbar gemacht (Duttlinger 2013: 14); und eng damit verwandt ist der multilinguale Kontext Habsburg, so in dem mehrfach publizierten Aufsatz Kafka’s Europe von Julian Preece (2002: 1). Wie solche Kontexte fruchtbar gemacht werden können, sieht man, unabhängig davon, wie man sie einschätzt, an den Überlegungen zum Konzept einer ‚kleinen Literatur‘ bei Deleuze und Guattari (1976). Von zentraler Bedeutung ist sicherlich Kafkas Judentum und Kafkas Auseinandersetzung mit dem Judentum, auch aus methodologischer Sicht, weil hier ein existenzieller und biographischer Kontext deutlich machen kann, wie sehr Kafkas Texte von seinem Judentum und seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum geprägt sind (Grözinger/Mosès/Zimmermann 1987; Grözinger 2014; Voigts 2008). Andererseits hat sich Kafka seit 1917, seit dem Ausbruch seiner Tuberkulose, wieder verstärkt mit existenziellen Themen auseinandergesetzt, über die er auch zu einer neuen Beschäftigung mit dem Judentum

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geführt wurde. Dass allerdings gerade zu dieser Zeit das Habsburgerreich schon gefährlich instabil wurde, spiegelt sich in diesen Auseinandersetzungen, Reflexionen, Aphorismen (z.B. die Zürauer Aphorismen; Engel 2010a: 284) und Meditationen (Stach 2008: 245-268) Kafkas so gut wie gar nicht wieder, sieht man einmal von – dann doch teils aufschlussreichen, teils kryptischen – Bemerkungen in den Oktavheften wie der folgenden ab: „Militarismus – Bureau“ (KKAN I: 421). Einmal, 1917, erwähnt er sogar – ohne Kontext – die „Verwaltungskunst Österreichs“ (KKAN I: 423). Dennoch ist es verwunderlich, dass auch die Forschung diese andere Perspektive auf den gesamten ordnungspolitischen und bürokratischen Kontext des Habsburgerreiches bislang kaum in den Blick genommen hat. Wie sehr auch immer Kafka seine Profession und seine Berufstätigkeit als Jurist gehasst haben mag (Binder 1979: 388), sie hat ihn doch auch jenseits expliziter Reflexion und Meditation geprägt. Zudem, was nicht vergessen werden darf, hat er durchaus Karriere gemacht, ist vom Praktikanten zum Vice-Sekretär, Obersekretär und 1920 bis zum Abteilungsleiter aufgestiegen (Binder 1979: 353f., 445ff., 528ff.); seine Laufbahn hat schließlich auch den Wechsel in der Führung der Behörde und der staatlichen Oberaufsicht unbeschadet überstanden, vor allem auch wegen des großen Entgegenkommens der Vorgesetzten während seiner Krankheitsphasen. Zudem sticht zunächst ins Auge, wie viele seiner literarischen Arbeiten den juristischen Kontext explizit aufgreifen. Seinen Brief an den Vater nennt Kafka selbst einen „Advokatenbrief“ (Kafka 1983: 85). Insofern sind die Arbeiten, die sich mit der Jurisprudenz, der Justiz und dem Strafrecht bei Kafka beschäftigen, Legion (Abraham 1985, 1990; Cushman 2004; Dornemann 1984; Weeks 1980: 88ff.; 1983; Streit 2014). Dabei geht es jedoch nicht nur um allgemeine oder gar transzendent erhöhte Rechtsmetaphern, die z.B. Gerichtsinstanzen immer ambivalent zwischen menschlicher und göttlicher Gerichtsbarkeit ansetzen. Es geht tatsächlich auch um Verfahrensfragen, um Personalhierarchien, Amtsstrukturen, kurz: um Bürokratie. Doch dieser Bereich staatlicher Bürokratie ist bislang nur in Ansätzen bearbeitet worden (Weeks 1980, 1983; Dornemann 1984; Dierlein 1994; Stüssel 2004: 87-179; Wolf 2016). Auch hier gilt es darauf zu achten, dass es nicht im Sinne einer auf Positivismus reduzierten Diskursanalyse um eine Juxtaposition von Kafka und seiner Welt geht, sondern vielmehr um die entscheidende (rhetorische) Frage, ob hiermit ein Kontext vorliegt, der in besonderer Weise ein neues Verständnis von Kafkas Texten ermöglicht. Dass man zu Kafkas Œuvre heute auch seine Amtlichen Schriften (KKAA; Töteberg 1994) rechnen kann, verstärkt die Bedeutsamkeit dieses durch Habsburg spezifisch gegebenen Kontextes.

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2. Der Habsburger-Mythos Es war Claudio Magris, der das Konzept des Habsburger-Mythos als literarhistorisches Suchprinzip entworfen, als ein Kennzeichnen österreichischer Literatur generell verstanden und damit die kulturgeschichtliche Kontextualisierung unterstrichen hat. Dabei hat er dieses bürokratische Element, „eine Art bürokratische Ordnung“ (Magris 2000: 27), die nicht nur die Herrschaftsstrukturen, sondern auch die soziale Kultur Habsburgs in besonderer Weise prägte, zugleich als ein Element des Habsburger-Mythos gekennzeichnet. Erst Burkhardt Wolf hat in seinem luziden Aufsatz Kafka in Habsburg ausgeführt, dass es gerade die Bürokratie war, die eine „kulturelle Vielfalt“ „kulturpolitisch“ garantieren konnte (Wolf 2016: 194). Vor diesem Hintergrund gilt es, historisch zu spezifizieren. Auch wenn Magris den Habsburger-Mythos als Struktur in einer longue durée betrachtet, so wird doch der Mythos gerade in jener Zeit virulent, in der das Habsburgerreich untergeht bzw. erst danach, nachdem es untergegangen ist. Nicht zuletzt mit Bezug auf Kafka erscheint bei Magris die Diskrepanz zwischen einer aufrecht erhaltenen Bürokratie trotz Anzeichen einer Agonie als Disposition des Mythos: Die ganze Kultur dieser Jahre ist wie ein Seismograph der erschöpften europäischen Agonie, deren Erschütterungen und Schwankungen sie alle verzeichnet. Als menschliche und folglich auch sprachliche Krise untergräbt sie das Vertrauen zu den Dingen und Worten, ja zur ganzen Wirklichkeit. Jedes menschliches Geschehen wird zum beängstigenden, nicht entzifferbaren Rätsel, wie das Sinnengewebe, das den Prokuristen K. im Prozeß umgibt. Die k.u.k. Bürokratie gibt der düster-strengen Atmosphäre der Kafkaschen Welt mehr als einen Anhaltspunkt: im Prozeß, vor allem aber im Schloß erreichen Formalismus und Verwaltungsautomatismus in einer halluzinatorischen, grotesken Entstellung der Phantasie den Grad eines unmenschlichen und wahnsinnigen Mechanismus, vor dem es keine Rettung gibt. Kafkas ganzes Werk ist ein Bild dieser hoffnungslosen Lage, in der der Mensch zum Käfer werden kann, die Dinge nicht mehr an ihrem Platz stehen und die Zunge sie nicht mehr nennt. (Magris 2000: 219)

Damit wird der terminus ad quem, der Zusammenbruch des Habsburgerreiches, zugleich zum terminus a quo des Mythos. Genau um diese Umbruchstelle herum – im weiteren zeitlichen Rahmen – schreibt und lebt Kafka. Diese Umbruchstelle – im engeren zeitlichen Rahmen – wird manifest im Zusammenbruch des Habsburgerreiches auch in Prag. Am 28. Oktober beginnt das Staatsgebilde Österreich-Ungarn sich aufzulösen, am 30. Oktober stürzt die Monarchie, am 2. und 3. Oktober tritt Waffenstillstand an verschiedenen Fronten ein, am 7. Oktober steht Kafka zum ersten Mal nach seiner Erkrankung

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wieder auf, am 11. November dankt der österreichische Kaiser ab, einen Tag später wird die Republik Österreich ausgerufen, am 14. November tagt zum ersten Mal die tschechoslowakische Nationalversammlung. Interessanterweise findet sich für Kafka keine vergleichbar markante Äußerung zum Ende des Habsburgerreiches wie zum Beginn des Ersten Weltkriegs: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt – nachmittags Schwimmschule“, schreibt Kafka bekanntermaßen in seinem Tagebuch am 2. August 1914 (KKAT 543). Das Ende des Krieges und des Habsburgerreiches verbringt Kafka, der am 14. Oktober erkrankte, im Bett mit einer schweren (spanischen) Grippe. Kafka warnt Max Brod, vorbeizuschauen. Reiner Stach schreibt dazu, dass „Grippe und Politik in vielfache Wechselbeziehungen“ traten und die Grippe selbst „als welthistorisches Ereignis“ zu werten sei (Stach 2008: 279). Am 19. November geht Kafka wieder in die Anstalt zum Dienst (Bezzel 1975: 141f.; Hermes/ John/Koch 1999). Dennoch gehen die turbulenten und tumultuarischen Veränderungen nicht unbemerkt an Kafka vorüber. Max Brod geht kurzzeitig in die Politik, eine tschechoslowakische Republik entsteht, ein sozialistischer Rat bildet sich, ebenso ein jüdischer Nationalrat, ein Generalstreik bricht aus. Stanley Corngold und Benno Wagner sehen am Ende des Habsburgerreichs eine Verbindung von ethnischen Problemen und dem gescheiterten Versuch, sie durch social engineering zu lösen. Ob man so weit gehen kann oder sollte, darin einen 11. September für Kafka zu sehen, der es erlaubt, die Brücke zu 9/11, dem 11. September 2001, zu schlagen, bleibe dahin gestellt; Corngold und Wagner schreiben: „In this light, we glimpse the bridge that connects the final years of the Habsburg monarchy – Kafka’s September 11 – with ‚our‘ September 11.“ (Corngold/Wagner 2011: 201) Schließlich kommt es auch nicht darauf an, wie Kafka das konkrete Ende des Habsburgerreiches in seinen konkreten Ereignissen erlebt und literarisch reflektiert hat, sondern vielmehr darauf, dass die Krisensymptomatik, die sich im Zusammenbruch des Reiches verdichtete, aber schon längst spürbar war, als eine Grundlage des Werkes und des Schreibens Kafkas begriffen werden kann. Kakanien und seine Bibliothek war schon vor seinem Untergang verloren (Weeks 1983; Wagner 2014). Gerade zu diesem Zweck erfindet Musil das Wort Kakanien als diagnostischen Begriff und schickt sogar einen General in die Bibliothek (Rathei 1982). Oder anders gewendet: Als die Bürokratie – Kerstin Stüssel spricht von einer „Habsburger Sozialversicherungsbürokratie“ (Stüssel 2004: 2) – die kulturelle, ethnische und mithin auch religiöse Vielfalt nicht mehr garantieren konnte, weil sie und mit ihr die auf ihr beruhende Herrschaft ebenso wie das multiethnische Gesellschaftsmodell und

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die imperiale Staatsvorstellung brüchig geworden waren, war sie für Kafkas Literatur von Interesse für einen Schreibprozess, der sich als Mythisierung dieser Bürokratie erfassen lässt. Und deswegen ist der Begriff des Mythos, den Magris verwendet, auch wenn er ihn nicht theoretisch ausarbeitet, durchaus hilfreich. Magris hat seine Dissertation 1963 verfasst, nur ein Jahr später hat Roland Barthes in seinen Mythologies einen Mythosbegriff vorgelegt, der seine semiotische Analysierbarkeit zumindest mitliefert. Auch Burkhart Wolf nennt im Untertitel seines Aufsatzes zu Kafka in Habsburg die „Mythen und Effekte der Bürokratie“ (Wolf 2016) und stützt sich auf die Mythopoetik, die er aus Magris’ Mythosbegriff herleitet. Tatsächlich ist ein solches – eben anti-mimetisches – Konzept von Mythos hilfreich, weil es als Scharnierstelle zwischen der Erfahrungswirklichkeit, die Habsburg bildete, und ihrer Literarisierung – sozusagen im Akt der Mythopoetik – fungieren kann (Bohrer 2016). Mythopoetik würde demnach ein Schreibprinzip benennen, das Habsburg in Literatur verwandelt. Oder andersherum gesagt: Habsburg würde so als ein Phänomen begriffen werden können, aus dem heraus Prozesse der Textkonstitution und der Sujetgestaltung abgelesen werden können. Es geht also dabei nicht mehr um einen historischen, politischen, ästhetischen Kontext (allein), sondern auch um ein Movens des Schreibens.

3. Manès Sperber und Franz Kafka Der Vergleich zweier Texte soll im Folgenden als Verfahren gewählt werden, um anschaulich zu machen, welche Bedeutung der Habsburger Komplex, Habsburg als ordnungspolitische Größe und bürokratische Struktur, gerade in ihrer Mythisierung, für Kafka haben kann. Verglichen werden soll beispielhaft ein Text von Kafka und ein Text von Manès Sperber. Da der Text von Sperber sich genau auf die Umbruchssituation von 1918, mithin auf Habsburg in statu abeundi bezieht, bietet es sich besonders an, aus diesem Text eine heuristische Perspektive für Kafka zu entwickeln, die deutlich werden lässt, wie Habsburg in diesem Prozess zum Mythos und der Mythos zum Movens des Schreibens wird. Der Habsburger-Mythos: das ist die Bürokratie im Übergangsmoment zwischen Funktion und Dysfunktionalisierung, im Augenblick ihrer Selbstauflösung und Selbstaufhebung. Der Text von Sperber trägt den programmatischen Titel Leben in dieser Zeit und findet sich in dem Essayband Sieben Fragen

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zur Gewalt aus dem Jahr 1972 (Sperber 1978: 9-26). Sperber erzählt folgende Geschichte: In jenen Tagen des Zusammenbruchs kommt ein Zug im Wiener Nordbahnhof an, dem ein Offizier, ein Hauptmann, und sein Diener, ein sogenannter Putzfleck, entsteigen. Der Diener, schwerbepackt und schwitzend, eilt ihm hinterher und sagt immer wieder „Melde gehorsamst, ich komm schon“ (Sperber 1978: 9). Ein Soldat tritt dem Offizier in den Weg, weitere kommen hinzu, man schlägt ihm die Mütze vom Kopf, der Offizier zieht den Säbel, da wirft sein Putzfleck alles Gepäck von sich, tritt vor den Offizier und gibt ihm eine schallende Ohrfeige. Unter dem Gelächter der Umstehenden rennt der Offizier über die Gleise weg. Sperber wird als Dreizehnjähriger Augenzeuge dieser Szene, die sich ihm so intensiv einprägt, dass er sie Jahre, Jahrzehnte später nutzen wird, um sich grundlegend über das Verhältnis von Gewalt und Legitimität klar zu werden, zwei Themen, die auch Kafka brennend interessieren, auch wenn Sperber die Frage nach dem evolutionären und revolutionärem Charakter historischer Prozesse in den Vordergrund rückt. Kafkas Text, den man nicht nur aus heuristischen Gründen dagegen halten kann, bekannt unter dem Titel, den Max Brod ihm gegeben hat, Gibs auf (KKAN II: 530), ist ungefähr vier Jahre nach jenem von Sperber erzählten Ereignis entstanden, zwischen Mitte November und Mitte Dezember 1922. Er steht im selben Heft wie die Erstniederschrift von Das Ehepaar.1 Reiner Stach macht darauf aufmerksam, dass Kafkas Auseinandersetzung mit der eigenen Situation nach der Diagnose seiner lebensbedrohlichen Krankheit 1917 auch zu einer veränderten Sicht seiner selbst zu führen beginnt. Wenn er aber schreibt, dass Kafka „wohl erst in Zürau, spätestens aber zu Beginn des Jahres 1918 [...] sich nicht mehr als Schriftsteller [definierte]“ (Stach 2008: 250), dann muss dies differenziert betrachtet werden. Tatsächlich nimmt Kafka Abstand vom Erzählen. Und selbst das Schreiben hat nicht mehr die Bedeutung wie früher. Für das Jahr 1918 gibt es keine Tagebucheinträge (Neumann 2008: 541; 2014: 350). Die neu einsetzende aphoristische Schreibweise in der Zeit um 1917/1918 zeigt jedoch, dass er sich nach wie vor über das Schreiben definierte, auch 1 Somit steht der Text auch – wie man es bei Manfred Engel nachlesen kann – im engen räumlichen Kontext zu einem Briefentwurf Kafkas an Franz Werfel, in dem Kafka deutliche Kritik an dessen Stück Schweiger üben wollte, weil es ihn selbst extrem persönlich getroffen hatte. Er warf Werfel vor, die Leiden des Judentums und seine eigenen Leiden zu diskreditieren und zu entwürdigen. Im letzten Satz rekurriert Kafka auf einen RaschiKommentar (gemeint ist der Talmud-Kommentar von Rabbi Schlomo ben Jichzak) und überschreibt sofort danach seinen Text mit „Ein Kommentar“. S. Engel (2010b: 361363).

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wenn diesmal ein Publikum und eine Publikation nicht mehr im Vordergrund standen oder überhaupt keine Rolle mehr spielten. Bemerkenswert ist aber doch, dass diese Umbruchssituation, die für Kafka und sein Schreiben um den Jahreswechsel 1917/18 einsetzte, gerade in jene Zeit fällt, in der das Habsburgerreich zu schwanken beginnt, fast so, als ob die Implosion der Bürokratie mit der eingeschränkten Schreibarbeit zusammenhinge. Es gibt zwar einen ersten Waffenstillstand mit Russland, doch dieser führt in der Folge zu einer dynamischen Veränderung und weiteren Destabilisierung auch der politischen Situation, was Kafka sensibel wahrgenommen hat und was als nicht gänzlich unabhängig von seiner persönlichen Situation angesehen werden darf. Kafkas Text [Gibs auf] stammt aus einer Zeit nach der Niederschrift und dem Ende der Arbeit am Schloss-Roman, als Kafka sich ohnehin wieder dem Erzählen zugewandt hatte; und gerade die narratologische Inszenierung beider Texte macht den Vergleich mit Sperbers Text aussagekräftig. Denn beide Texte, der von Kafka und von Sperber, können als erzählerische Reflexe auf den Untergang einer großen politischen Ordnungsidee gelesen werden. Beide schildern sie eine Situation extremer und vor allem völlig unerwarteter Desorientierung. Der blitzschnelle Wechsel im Charakter der Situation, begleitet von „so einfachen Gesten“, wie Sperber (1978: 10) schreibt, ist dabei das eigentlich desorientierende Moment, weniger die desorientierenden Reaktionen. Wenn man nun die Gemeinsamkeiten beider Texte herausarbeitet, so muss man auch die Unterschiede im Blick behalten. Sie sind nicht weniger aufschlussreich, nicht nur heuristisch. Aber immerhin: Der Bahnhof spielt in beiden Texten eine Rolle, und über diesen Topos können sich beide Texte wechselseitig erhellen. So kann man zunächst den Offizier und Kafkas IchErzähler miteinander vergleichen. Für beide ist der Bahnhof ein Ort der Transition und des Übergangs, der an einem Tag historisch und revolutionär und mithin auch zugleich existenziell bedeutsam wird. Die eine Figur rennt vom Bahnhof weg, weil ihr diese Veränderungen nicht geheuer sind, die andere will zum Bahnhof hin, weil sie dort sich wieder ‚verorten‘ kann. Im ersten Fall spielt die historische Zeit eine Rolle, ein Reich ist zusammengebrochen, im anderen Fall spielt die persönliche Zeit eine Rolle, es ist schon sehr viel später, als es der Ich-Erzähler meint. Der eine wird fremd, der andere ist fremd. Ein weiterer Vergleichspunkt zielt auf die Frage nach der Inszenierung von und dem Umgang mit Autorität. Dadurch werden die beiden Figuren, Offizier und Schutzmann, gegeneinander gehalten. Man kann annehmen,

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dass in beiden Fällen Autorität zerfällt, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Gleichermaßen ließe sich auch die Differenz besonders fokussieren: Im einen Fall zerfällt eine Autorität, im anderen bleibt sie stabil, ja wächst sogar über sich hinaus, wird autologisch, weil sie gar keinen Schutz mehr gewährt und sich wegdreht. In dieser Richtung könnte man auch sagen, dass auch der Schutzmann dysfunktionalisiert wird ebenso wie der Offizier. Wozu noch Offiziere und Schutzmänner? Wenn man nur Figuren und Eigenschaften auf höherer Abstraktionsebene voneinander trennt, so könnte man zusätzlich eine Reihe von Querverbindungen herstellen, nicht nur zwischen Offizier und Ich-Erzähler oder zwischen Offizier und Schutzmann, sondern auch zwischen Putzfleck und Ich-Erzähler oder zwischen Soldat und Ich-Erzähler, denn auch dieses letzte Figurenpaar zeichnet sich durch eine Gemeinsamkeit aus, sind sie es doch, die aus einer angestammten Ordnung, ja regelrecht aus ihrer Zeit fallen. Ja, man könnte soweit gehen, und sagen, dass zwischen allen Elementen einer Figurengruppe eines Textes eine Relation zu allen Elementen der Figurengruppe des anderen Textes hergestellt werden könnte, und bei all diesen Relationen würden gerade in der Differenzierung immer wieder neue übergreifende Aspekte des Ordnungszerfalls sichtbar werden. In allen Fällen, so könnte man resümieren, wird der Chronotopos (Bachtin 2008) und der Heterotopos (Foucault 2005) des Bahnhofs ins Werk gesetzt, weil er der Ort ist, an dem oder auf den bezogen Zeitregime und die sie begründenden Autoritäten problematisch und fraglich werden. Daraus ließe sich, Gerhard Neumann folgend, eine literarische „Relativitätstheorie“ herauslesen, die, immerhin schon vor dem Krieg formuliert, ein „‚allermodernstes‘ Wahrnehmungsmodell“ (Neumann 2014: 32) anbietet: Wo die Zeit problematisch wird, wird es auch der Raum.2 Der Soldat sagt zu dem Putzfleck: „Kamerad, was rennst Du so? Hast ja viel Zeit. Wir alle haben viel Zeit“ (Sperber 1978: 9), während der Ich-Erzähler bei Kafka feststellt: „Ich mußte mich beeilen.“ (KKAN II: 530) Weil er, wie man hinzufügen könnte, eben keine Zeit mehr hatte. Sodann lässt sich der narrative Plot rekonstruieren. Sperbers Text schildert eine Szene einer Revolution. Aus einem Putzfleck wird ein Meuterer, aus einem Diener wird ein Täter, aus einem, der der Herrschaft unterliegt, wird einer, der Gewalt austeilt. Immerhin wird dadurch eine alte Ordnung durch eine neue abgelöst. Sperber verwendet hierzu auch Elemente einer Körpersprache, 2 Die Relativitätstheorie war Kafka vielleicht aus Caféhaus-Diskussionen bekannt; s. Gerhard Neumann (2014: 32; 2012: 7; 2013: 41).

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die man so auch bei Kafka wiederfinden kann. Der Putzfleck ist unter der Last des Gepäcks und der Herrschaft des Offiziers gebückt und kleiner als er, als er sein Gepäck abwirft, ist er größer als der Offizier. Im Schloß-Roman findet sich eine ähnliche Größenanomalie; dort heißt es beispielsweise, dass Frieda „stehend nur bis zur Schulter der sitzenden Wirtin reichte“ (KKAS 76). Kafkas kleiner Text jedoch erzählt uns die Negativvariante einer Revolution, eine Implosion. Dabei konzentriert sich die Erzählung nur auf die eine, die erste Hälfte der Geschichte, es ist die Geschichte einer ersten Ratlosigkeit in einem konsequenten Prozess der Desorientierung. Welche Folgen dieser Prozess zeitigt, wird nicht mehr erzählt. Ist die Ausgangssituation noch einigermaßen einsichtig und nachvollziehbar – wer kennte die Situation nicht? –, erlebt der Ich-Erzähler immer weitere Stadien seiner Hilflosigkeit. Die Versuche, sich an die offiziellen und institutionalisierten Instanzen zu wenden, Turmuhr und Schutzmann, schlagen fehl, ja schlagen ins Gegenteil um. Wo Hilfe geleistet werden sollte, wird alles nur noch schlimmer: ein Prozess fortgesetzter, unumkehrbarer Verunsicherung. Doch beide erzählten Prozesse, der bei Kafka und jener bei Sperber, sind sowohl dort, wo sie kongruent sind, und ebenso dort, wo sie voneinander abweichen, aufeinander beziehbar. Und schließlich gilt dies noch für die Enden beider Geschichten im Lachen, das auf eigentümliche Weise die beiden Protagonisten in Szene setzt. In Sperbers Geschichte beginnen die Soldaten über den flüchtenden Offizier zu lachen. Der letzte Satz lautet: „Ihn [das ist der „dreizehnjährige Zeuge dieser Szene“; O.J.] begleitete das laute Gelächter der Meuterer.“ (Sperber 1978: 10) Und bei Kafka findet sich das berühmte Als-ob-Lachen: Der Schutzmann wendet sich ab, „so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“ (KKAN II: 530) Aus der Perspektive von Sperber kann deutlich werden, welche Fragen auch an Kafkas Text zu stellen sind. Sperber fragt nämlich grundsätzlich nach den Wahrheitsbedingungen des Satzes: ‚Historia facit saltus‘, anstelle von: „Natura non facit saltus“ (Sperber 1978: 15). Er fragt konkret nach den Entstehungsbedingungen dieser Umsturzsituationen. Er fragt nach den Entstehungsbedingungen solcher „blitzschnelle[n] Metamorphen der realen Machtverhältnisse“ (Sperber 1978: 10), nach den Bedingungen der Möglichkeit „der Zerstörung der scheinbar festgefügten, unabänderlichen Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten“ (Sperber 1978: 10). Oder nochmals anders gewendet, er fragt: „Wie war solche Umwälzung zu erklären, wie, daß sie so mühelos gelang?“ Für Sperber wurde „das Problem der Macht faßbar“ (Sperber 1978: 11), das er ins Grundsätzliche hebt, um daraus das Potenzial einer Gegenwartsdiagnostik – „Leben in dieser Zeit“, so der

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Untertitel der Essaysammlung – abzuleiten: „Was sollte fortab seine [also des Individuums; O.J.] soziale Definition sein? Was die Quellen seiner Freiheit, seiner gesellschaftlichen Macht oder Ohnmacht?“ (Sperber 1978: 12) Von großem heuristischen Interesse ist dabei, dass alle diese Fragen von Sperber in ein Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht, von Legitimität und Gewalt, von Autorität und Versagen gestellt werden, das nicht durch eine einfache oder singuläre Opposition, sondern durch ein prekäres Verhältnis solcher Terme zueinander geprägt ist. Die Fragen, die Sperber in einer Interpretation dieser Szene Dekaden, nachdem sie geschehen ist, aufwirft, wurden bereits in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, aber ganz konkret schon von Kafka – jenem, wie Gerhard Neumann feststellt, Experten der Macht (Neumann 2012) – gestellt. Aber wie? Mit welchem Setting? Stellt man das Lachen in einen historischen Kontext, in dem es kompensatorisch oder als Verlegenheitsgeste eine Umbruchssituation markiert, in dem all die Fragen nach Macht und Ohnmacht neu gestellt und alle Verhältnisse neu bestimmt werden, dann wird es mit anderen Gesten vergleichbar. Zu fragen wäre also: Wie nimmt Macht bei Kafka Gestalt an und inwiefern ist sie auf den Habsburger-Mythos, mithin auf die noch funktionierende und schon zusammenbrechende Bürokratie zu beziehen? Man muss die geschichtsphilosophisch grundierten Fragen des politischen Aktivisten und Essayisten Sperber, der die historischen Koordinaten liefert, in die verwaltungstechnische, also bürokratische Perspektive des Beamten Dr. jur. Franz Kafka rückübersetzen. Sodann würden die Rätsel von Kafkas Texten als spezifische Strukturen der bürokratischen Macht durchschaubar werden. Der Schutzmann ist staatliche Repräsentation par excellence, gilt doch seit Thomas Hobbes der Schutz als definierende und konstitutive Funktion des Staates – und seine Organisationsform ist die Bürokratie. Wenn man in diese Richtung fragt, so könnte man etliche solcher textueller Gesten in Kafkas Œuvre aufzählen, so zum Beispiel den Umstand, dass Karl Roßmann wegen eines lächerlichen oder doch zumindest leicht nachzuvollziehenden Vergehens das Vertrauen und das Wohlwollen seines Onkels verspielt, aber dennoch vom Naturtheater von Oklahama aufgenommen wird. Geradezu augenfällig wird dann der bürokratische Charakter dieser eigentümlichen Veranstaltung. So wie der Schutzmann für die k.k.-Ordnung steht, steht das Naturtheater für Staat im Allgemeinen und den Judenstaat im Besonderen (Wagner 2004). Immerhin macht auch Mark H. Gelber darauf aufmerksam, dass diese Falschschreibung von Oklahama als assonanter Verweis auf Palästina gelesen werden kann (Gelber 2008: 300; Greiner 2010:

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110). In beiden Fällen wird ein Konzept literarisch repräsentiert und in der Repräsention bis zur Kenntlichkeit entstellt. Das erkenntnistheoretische Moment liefert in beiden Fällen die Grundlage dieser Relation, nämlich das bürokratische Moment. Gleichermaßen könnte man sich fragen, warum im ProceßRoman das Gericht auf dem Dachboden tagt und warum die eigentlichen Schriften des Gerichts in sadomasochistischer Pornographie bestehen oder warum der Schloß-Beamte Sortini Amalia ein unmoralisches Angebot machen kann, aber auch, warum kaiserliche Botschaften nicht mehr ankommen und das Streitross Alexander des Großen neuerdings als Anwalt arbeitet. Das ist die Habsburgische Bürokratie im Moment ihrer Selbstaufhebung.

4. Implodierende Bürokratie als Verhaltenslehre der Kälte Aufschlussreich hierfür mag das Modell einer Verhaltenslehre der Kälte sein, das Helmut Lethen für die Literatur der Zwischenkriegszeit entwickelt hat (Lethen 1994). Man mag diese Konstellation Kafkas ebenso wie Sperbers vielleicht sogar als Disposition einer Verhaltenslehre der Kälte kennzeichnen: Sie entsteht genau dann, wenn das Verhältnis zwischen Legitimität und Gewalt nicht mehr klar geregelt ist, wenn der Weg- und Ausfall legitimer Ordnungsstrukturen neue Verhaltensmuster zugleich ermöglicht und erzwingt oder aber auch verunmöglicht und unterdrückt, kurz gesagt: wenn die Bürokratie versagt. Lethen selbst greift, nach einem Einleitungskapitel, das diese Verhaltenslehre auf den Begriff bringt, schon im ersten Kapitel seiner Studie zugleich auf diese Szenerie von Sperber zurück, die er unter verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Facetten beleuchtet. Er fokussiert den persona-Wechsel, den er in der Metapher des Gewand-Wechsel kulturhistorisch perspektiviert, er blickt auf den Ausnahmezustand (durchaus im Sinne von Carl Schmitt; 2015: 14), auf Ansätze einer historischen Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts, die auf Außensteuerung des Individuums setzt, auf das Konzept der Plötzlichkeit, wie es Karl Heinz Bohrer (1981) entwickelt hat, auf die Scham und die Entwicklung einer Schamkultur unter Ausblendung und Hintanstellung einer Schuldkultur. Alle diese Facetten ordnet er der Rekonstruktion von Verhaltenslehren der Kälte zu, die er geradezu als Signatur der Zeit zwischen den Weltkriegen sieht, ausgelöst durch das Ereignis des Ersten Weltkriegs und vor allem durch sein Ende, das endgültig die Ordnungsmuster der Vorkriegszeit aufhebt und aus den Angeln hebt. Er geht davon aus, dass die veränder-

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ten psychischen ebenso wie die sozialen Bedingungen neue Verhaltenslehren erzwingen, ja mehr noch, dass Formen der Desintegration, die vor allem der Weltkrieg und sein Ende mitgebracht haben, überhaupt erst zu einem solchen Modell von Verhaltenslehre führen. Verhaltenslehren schaffen „Verhaltenssicherheit“ (Lethen 1994: 8) in Zeiten der Desorientierung – ein Problem, das übrigens in besonderer Weise für Juden von großer Bedeutung in einer Umbruchszeit ist, wie sie hier in den Blick genommen wird (Heuser 2011: 348). Dabei greift Lethen auf eine Schrift von Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus aus dem Jahre 1924, zurück (Plessner 2002). Verhaltenslehren greifen dann, wenn sozial oder psychisch fundierte und motivierte Modelle der Gemeinschaft oder aber der Empathie, durch äußere Umstände bewirkt, nicht mehr greifen. Dabei geht es, „um die Erlernung von Techniken, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen‘“ (Lethen 1994: 8f.). Anders als Lethen kann man allerdings davon ausgehen, dass man diese Verhaltenslehre der Kälte nicht allein für die Zeit zwischen den Kriegen ansetzen kann, sondern dass man ihren Beginn und vielleicht auch ihren Höhepunkt früher ansetzen sollte, mit einer entsprechend veränderten historischen Diagnostik. Anders gewendet: Verhaltenslehren der Kälte sind bürokratische Formen einer reduzierten Interaktion, die gerade und vielleicht paradoxerweise dann sichtbar werden, wenn Bürokratien in sich zu zerfallen drohen, wenn Autoritäten untergraben werden und Ordnungsstrukturen sich auflösen, wie es die Texte von Kafka und Sperber geradezu verdichtet schildern. Vor diesem Hintergrund verstärkt sich der Eindruck, dass Kafka die Fragen, die Sperber stellt, aber vielleicht auch die Fragen von Plessner, schon vorwegnimmt, dass sich Kafkas Texte durch die Projektion eines solchen Verhaltensmodells erschließen lassen, wobei diese Texte auch wiederum dazu beitragen können, ein solches Modell zu variieren und zu modifizieren. Ein Verhaltensmodell der Kälte würde sich auf die Begegnung von Figuren beziehen und sich gleichermaßen von dort herschreiben. Die Begegnung zwischen dem Schutzmann und dem Ich-Erzähler in Kafkas Gibs auf! mag dafür paradigmatisch stehen und poetologisch erscheinen. Der Schutzmann – man darf ja nicht vergessen: als respektierter polizeilicher Garant der Ordnung im k.k.-Reich – wird zu einem Exempel einer Verhaltenslehre der Kälte, die dem Ich-Erzähler regelrecht beigebracht wird. Die Zeiten, in denen die Anwesenheit eines Schutzmanns als ‚glücklich‘ bezeichnet werden konnte, sind endgültig vorbei. Die Funktion des Schutzmanns besteht in einer Gegenfrage und in einem Appell der Resignation. Der Schutzmann ist nunmehr

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weder Garant einer Ordnung noch Verkörperung einer Gewalt, sondern er ist ein Kältegenerator und ein bürokratisches Symptom. Er ist weder hilfsbereit noch abweisend, er ist kalt. Kälte bedeutet in diesem Fall, unter der Perspektive einer Verhaltenslehre, dass Figuren auf eine Weise agieren und damit eine Situation schaffen, die selbst nicht mehr in einem Rahmen psychisch oder sozial aufgefangen werden könnte.

5. Erzählen von der Bürokratie – Bürokratisches Erzählen: Mythos und Bürokratie Eine abschließende Frage müsste das Sujet auf seine Erzählung selbst zurückwenden. Wie kann von einer Bürokratie erzählt werden? In dem erwähnten Aufsatz Kafka in Habsburg entwirft Burkhardt Wolf ein Modell bürokratischen Erzählens. Er fragt: „Wie wäre von der Bürokratie abseits ihrer Mythen zu erzählen?“ (Wolf 2016: 208) Gerade an dieser Stelle lohnt es sich, trotz der exzellenten Vorarbeit, die mythische Dimension eben nicht abseits zu lassen. Denn würde man die Erzählung von einer Bürokratie selbst als ausschließlich bürokratisch einschätzen, würde man die Dimension von Kafkas bürokratischem Erzählen um seine mythische Dimension verkürzen. Gerade im Habsburger Kontext ist aber das Bürokratische nicht vom Mythischen zu trennen, will man die Kafka-Lektüre nicht auf eine Sozialgeschichte reduzieren. Denn gleichermaßen müsste man fragen, warum all diese Gesten nichts an der Macht ihrer Institutionen ändern. Der Onkel verstößt Karl, K. wird hingerichtet, die Familie Amalias erleidet den sozialen Tod usw. Bei Wolf heißt es: „Als Josef K. erkennt, dass ‚das Gesetz‘ leer und der Gerichtsapparat bloße Kulisse ist, wird der bürokratische Charakter der allumfassenden Macht nur umso deutlicher.“ (Wolf 2016: 209) Doch das Gesetz ist nicht völlig leer und das Gericht nicht nur Kulisse, beide sind in den Status ihrer Mythisierung eingetreten. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Kafka Macht in der Form von Bürokratie vorführt, die die Macht noch hat, über das Begehren der Anerkennung eines jeden einzelnen auch und gerade negativ zu entscheiden, die aber innerlich schon ausgehöhlt ist. Der Bürokratie bei Kafka nachzuspüren, heißt also nicht nur eine thematische Dimension seiner Texte herauszuarbeiten, sondern heißt eben gerade auch, das Movens seines Schreibens zu erkennen. Es ist der Moment der Mythisierung, die die Bürokratie für Kafka nicht nur literaturfähig, sondern zum Movens seines Schreibens macht.

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Interkulturalität heißt bei Kafka – mit Blick auf den kulturellen Kontext Habsburgs – eben nicht allein das Nebeneinander verschiedener Kulturen, sondern heißt eben auch das Ineinander von Bürokratie und Mythos. Beide sind Mechanismen der Interkulturalität auf höherer Ebene, weil sie in der Lage sind, Kulturen zu verschränken, sei es politisch, ordnungspolitisch oder ästhetisch. Und eben deswegen gehen sie bei Kafka ineinander über. So kann man chiastisch formulieren: Der Habsburger-Mythos bei Kafka besteht aus der Bürokratie, so wie die Habsburgische Bürokratie bei ihm mythisch wird. Seine Texte führen eine Bürokratie vor, die in ihren Effekten noch funktional bis zur Tödlichkeit für diejenigen ist, die sich ihr nicht unterwerfen, aber in ihren Strukturen bereits ausgehöhlt und dysfunktional geworden ist. Und er verwirklicht dieses mythopoetische Programm in einem Schreibprozess, der einerseits selbst als bürokratischer Prozess inszeniert wird und dessen Bestreben es doch nur ist, der Bürokratie zu entkommen und sie zu unterlaufen (KKABr 2: 217). Das Spannungsverhältnis wird ab 1918 offenbar und transparent, bestimmt das Schreiben Kafkas aber von Anfang an, zumal mit seiner seismografisch ausgezeichneten Beobachtungsposition in diesem multilingualen und multiethnischen Kontext Prags.

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Das ‚babylonische‘ Habsburg. Ideengeschichtliche Traditionen bei Kafka und das Problem des Universalismus 1. Kafkas Lebenswelten Kafkas lokale wie regionale und nationale Lebenswelt, verstanden als die fraglos gegebene und wahrgenommene Wirklichkeit, war geprägt von multilingualen, -konfessionellen und -kulturellen Entwicklungen, die spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl in politisch-publizistischen wie kulturell-literarischen Diskursen zunehmend ins Zentrum rückten und die einem Autor, der wie fast kein zweiter sich als Experte für die Ausgestaltung von Machtstrukturen erweisen sollte, geradezu zwangsläufig beeinflussen mussten. Ungeachtet einer häufig unmöglichen Unterscheidung zwischen Realem und Scheinbaren bzw. einer aus „Deutungsprovokation und Unausdeutbarkeit“ erzeugten Spannung (Göttsche 2010: 27), die zu einer epistemischen Verunsicherung bei der Rezeption von Kafkas Texten führt, steht auch ein Autor wie Kafka, der das raum-zeitliche Inventar auf ein Minimum, die Figuren in der Regel schematisch skizziert (Göttsche 2010: 32) und der sich anders als Hermann Broch, Robert Musil, Joseph Roth und Stephan Zweig, aber auch Franz Werfel und Ludwig Winder explizit gegen eine austriazistische Verortung verwahrte (Krolop 2005: 166; Höhne 2014: 267-71), gleichwohl in vom zeitgenössischen Denken geprägten Erfahrungs- wie Wahrnehmungskontexten.1 Einer dieser prägenden Kontexte ist mit den Erfahrungen ethnischsprachlicher Differenz bzw. Distinktion verbunden und den damit verknüpften Ansprüchen universaler Geltung auf der einen, partikularen Interessen auf der anderen Seite. Es ließe sich die Behauptung aufstellen, dass die zentrale politische Aufgabe der Habsburgermonarchie in den Jahrzehnten nach 1860, der Phase der Konstitutionalisierung, darin bestand, einen Ausgleich 1 Zu der poetischen Verarbeitung der Anschauungen Franz Brentanos s. Heidsieck (1989: 392f.), allgemein zu den ideengeschichtlichen Kontexten Heidsieck (1994), zum ideengeschichtlichen Kontext in Prag Höhne (2012).

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zwischen einer universal verbindlichen Staatsidee und partikularen nationalen Interessen herzustellen, somit eine Monopolisierung einer Nation zu vermeiden und stattdessen auf einen Ausgleich hinzuwirken. Das zentrale Problem Habsburgs lautete zunehmend: Wie in einer Zeit wachsender, durch Herder, Fichte und die nationale Romantik vermittelter Einflüsse der sprachnationalen Ideologie soziale und kulturelle Kohärenz aufrechterhalten, wie die Logik der nationalen Desintegration neutralisiert werden könne.2 Empirische Evidenz und historische Gegebenheit wären in Einklang zu bringen, wie es der Begründer der habsburgischen Demographie, Karl Frh. von Czoernig, formulierte (Göderle 2016: 200): Der österreichische Kaiserstaat erhält sein charakteristisches Gepräge durch die große Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, welche sich innerhalb seines weiten Gebietes vorfinden. […] Alle Hauptstämme der Bevölkerung Europa’s begegnen sich in dem Umfange des Reiches, bilden hier compacte Massen, durchdringen dort in verschiedenster nationaler Färbung einander, und gestalten sich zu ethnographischen Gruppen und Inseln, welche in buntester Mischung die nirgend anderswo wieder zu findende Eigenthümlichkeit des Völkerbestandes von Oesterreich ausdrücken. Aber nicht allein die Völkermischung ist es, welche diese Eigenthümlichkeit begründet; es geschieht dieses hauptsächlich durch die großartigen Verhältnisse, in denen die Hauptvölkerstämme auftreten, so daß sie einander durch Zahl und innere Kraft der einzelnen Völker, sowie durch die Abstufungen der Civilisation das Gleichgewicht halten, und in ihrer Vereinigung, nicht in ihrer Unterordnung, die Grundfesten bilden, auf denen das Staatsgebäude ruht. (Czoernig 1857: V)

Der Frage nach einer literarischen Reflexion der aus diesen Voraussetzungen sich ergebenden interkulturellen Bedingungen und Determinanten sei dabei an dem Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer und der Erzählung Das Stadtwappen nachgegangen, wobei es hier weniger um die offenkundig vorhandenen sprachnationalen Bezüge (Nekula 2007) oder um Interferenzen „zwischen Klassen- und Rassenverhältnissen“ (Wagner 2007: 117) gehen soll, als vielmehr zum einen um die Frage der Steuerung kultureller, sozialer und sprachlicher Vielfalt; der Auseinandersetzung mit dem Fremden zum anderen.

2  Zu den Perspektiven einer Politik des Ausgleichs s. Stourzh (2011); zum Mährischen Ausgleich s. Fasora/Hanuš/Malíř (2006). Allgemein zum Prozess der politischen Desintegration s. Křen (1996), ferner die Sammelbände Höhne/Ohme (2005) und Höhne/Udolph (2010).

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2. Die Steuerung von Vielfalt in den ‚Böhmische Landsmannschaften‘ 2.1 Das Stadtwappen Ohne näher auf die in den Erzählungen des China-Komplexes enthaltene „böhmische Tradition der Krypto-Staatskritik“ (Wagner 2010: 255; Haselbeck 2017: 53)3 angesichts von Herrschaftsverfall und Reformstau einzugehen, sei zunächst ausgehend von den lebensweltlichen Erfahrungen in der Habsburgermonarchie im Allgemeinen, in Prag im Besonderen der Frage nachgegangen, inwieweit Kafka an universalistische Traditionen sowie an Konzepte des interkulturellen Austauschs anknüpft und damit die für die Habsburgermonarchie fundamentale Antinomie zwischen kulturalistisch-monokulturellen und supranationalen universalen Positionen thematisiert. Ausgehend von Kafkas „Protokollierungen aktueller sozialer und kultureller Problemstellungen“ (Wagner 2010: 256), die häufig Aporien partikularer Interessen aufrufen, die von universalistischen, gesellschaftliche Kohäsion verbürgenden Ideen ‚überwölbt‘ werden, sei zunächst ein Blick auf eine Erzählung geworfen, die – ausgehend von dem biblischen Mythos des Turmbaus von Babel – schon leitmotivisch die Problematik der sprachlich-politischen Desintegration in Vielvölkerstädten bzw. -staaten aufruft. Jede Landmannschaft wollte das schönste Quartier haben, dadurch ergaben sich Streitigkeiten, die sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten. Diese Kämpfe hörten nicht mehr auf; den Führern waren sie ein neues Argument dafür, daß der Turm auch mangels der nötigen Konzentration sehr langsam oder lieber erst nach allgemeinem Friedensschluß gebaut werden sollte. Doch verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief. So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders, nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht. (KKAN II: 319)

Kafkas Interpretation des biblischen Mythos vom babylonischen Turmbau4 in der Erzählung Das Stadtwappen (1920), die sich als Reflexion der durch 3  Zur Auseinandersetzung mit Texten des sogenannten China-Komplexes s. zuletzt Krings (2017: 87-90, 177-182), ferner Engel (2012) sowie den Sammelband von Jobst und Neumeyer (2017). 4  Auf die Gleichsetzung von Babel und Prag schon bei Cosmas, der seine Chronica Boëmorum mit dem babylonischen Turmbau beginnt, weist Demetz (1994: 133) hin. Eine Umdeutung Babels, eine „kafkaeske Verkehrung“ zum Segensort erkennen bereits Arnošt Kraus, Babel wird zum Ziel, nicht zum „Fluch der Vergangenheit“ (Demetz 1994: 134), und Ernst Weiss im Rousseau-Essay, wo der babylonische Moment geschichtsphilosophischen Trost spendet

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Historismus und Relativismus hervorgerufenen Krise der etablierten Religion in der Moderne (Alt 2005; Engel/Robertson 2014: 9), aber auch als Reflexion vom Scheitern jeglicher Kommunikation (Neumann 2013: 420; Nekula 2007) und damit einer Erosion jeglicher universaler Übereinkunft lesen lässt, kann ohne Mühe auf die politische Situation der späten Habsburgermonarchie bzw. der Böhmischen Länder übertragen werden, in denen die unterschiedlichen Landsmannschaften bzw. Völkerschaften in einem mal mehr, mal weniger konfliktreichen Verhältnis zueinander standen und in denen Partikularinteressen dafür sorgten, dass der Gang der „Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand“ (Musil 1975: 41). Kafka greift dabei sowohl auf das Desintegrationsnarrativ, das u. a. in den einschlägigen Reportagen Egon Erwin Kischs, vor allem aber in der Grenzlandliteratur (Rinas 2017) ausgestaltet wurde, als auch auf das in der böhmischen Geistesgeschichte vertretene Integrationsnarrativ der Kulturvermittler zurück (Höhne 2014, 2017a, b). Aufgerufen sind mit dem Bild der Landsmannschaften5 Hypostasierungen von Sprach- und Kulturnationen, die einem emanzipativen Subjektivismus verpflichtet sind und in denen eine Transformation des Ich zum nationalen Wir durchgesetzt wird (Feichtinger 2010: 39-41).6 Ungeachtet aller ästhetischen Verknappung und strukturellen Verdichtung, Kennzeichen einer „Minimalisierung des Erzählens“ und dessen „Funktionalisierung“ (Göttsche 2010: 18), deuten Kafkas Texte sowohl auf sprachlich-kulturelle Austauschprozesse als auch auf die ‚Erfindung‘ nationaler Traditionen: jede Landsmannschaft ist bestrebt, ihren Teil der Stadt zu ‚verschönern‘.7 In dieser Entwicklung zu einer an Bedeutung zunehmenden, mit kultureller Symbolik aufgeladenen Identitätspolitik beschleunigten sich die staatlich-gesellschaftlichen desintegrativen Tendenzen. Eine universale Idee des (Demetz 1994: 135). Zum Motiv in Kafkas Werk s. zuletzt Nekula (2007: 94) und Weinberg (2012: 313) sowie den Beitrag von Menke in diesem Band. 5  Zu Semantik von Landsmannschaft s. Demetz (1994: 137). 6  Die aporetische Dimension des neuen, positivistischen Historismus, der entgegen einer vernunftbasierten Naturrechtslehre die partikularen Traditionen (böhmisches Staatsrecht) und die Wahrnehmung von Dezentrierung, Vereinzelung, Diskontinuität und die Erosion verbindlicher Werte verstärkt, zeigt sich in den kompensatorischen, vor allem nationalidentifikativen Surrogat-Konzepten. Die objektive Staatsidee als integratives Moment wird verstärkt von der nationalpartikularen Ideologie herausgefordert (Feichtinger 2010: 185). 7  Dass die ‚Verschönerung‘ häufig mit einer symbolischen Besetzung einherging, kann gerade die Bautätigkeit in Prag seit dem späten 19. Jahrhundert unterstreichen, wo mit den ‚tschechischen‘ Repräsentationsbauten Národní divadlo [Nationaltheater], Nationalmuseum und Obecní dum [Repräsentationshaus] eine symbolische Markierung des städtischen Territoriums erfolgt. S. hierzu Marek (2004) und Nekula (2017).

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‚Staatsbaus‘ wird scheinbar delegitimiert,8 da „schon die zweite oder dritte Generation die Sinnlosigkeit des Himmelsturmbaues erkannte, […].“ (KKAN II: 323) Im Gegenteil wird eine in Sagen und Liedern tradierte Untergangssehnsucht konstatiert, nach der „die Stadt von einer Riesenfaust in fünf aufeinander folgenden Schlägen zerschmettert wird.“ (KKAN II: 323) Der Text stellt sich damit in eine topische Tradition des Kampfes innerhalb einer „polemischen Stadt“ (Brod 1979a: 9) mit ihren „unaufhörlichen kämpferischen Antithesen“ (Urzidil 1965: 10), woran Kafka mit einer längst kanonisierten Äußerung aus einem frühen Brief vom 20. Dezember 1902 an Oskar Pollak maßgeblich beteiligt war: Prag lässt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder –. An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen. (KKABr 1: 17)9

Nur am Rande sei auf die vielfältigen Erfahrungen mit auf sprachnationalen Distinktionsmustern basierenden Konflikten verwiesen, die gerade für Kafkas Generation zur alltäglichen Erfahrung sowohl der habsburgischen als auch der tschechoslowakischen Phase gehörten. Kafka, ein ‚Hilsner redivivus‘, berichtet Mitte November 1920 Milena Jesenská angesichts von antideutschen und anti-jüdischen Ausschreitungen in Prag: Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß. ‚Prašivé plemeno‘ [Räudige Rasse] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird (Zionismus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)? Das Heldentum, das darin besteht doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind. Gerade habe ich aus dem Fenster geschaut: berittene Polizei, zum Bajonettangriff bereite Gendarmerie, schreiende auseinanderlaufende Menge und hier oben im Fenster die widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben. (KKABr 4: 370f.)

Trotz aller ‚landsmannschaftlichen‘ Interessendivergenzen und jenseits antizipierter Untergangsvisionen vermerkt Kafkas Stadtwappen-Text allerdings eine weiterbestehende Verbundenheit, die auf vielfältige soziale Kontaktsituationen und kulturell-sprachliche Transfers deutet, durch die man „schon viel zu sehr miteinander verbunden“ (KKAN II: 323) war, als dass man die Stadt verlassen könnte. Man kam eben „in den Zwischenzeiten und Staatspausen“, so vermerkt es Robert Musil, „ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen wäre.“ (Musil 1975: 41) Ungeachtet aller Verzögerungen des 8  Zu den desintegrativen Prozessen in Prag und den Böhmischen Ländern um 1900 s. Křen (1996). 9  Zum Topos Prag Stašková (2017), zum Prag-Bezug der Erzählung s. Weinberg (2012).

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‚Baus‘ erscheint hinter dem von Kafka geschilderten agonalen Prinzip der ‚Kampfsucht‘, in ein teleologisch skizziertes Fortschrittsparadigma eingebettet (die sich steigernde Kunstfertigkeit), eine integrative, übergenerationale, Relevanz und Akzeptanz gleichermaßen besitzende Idee – die des gemeinsamen Turmbaus: Neben diesem Gedanken ist alles andere nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner Größe gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird auch der starke Wunsch da sein, den Turm zu Ende zu bauen. In dieser Hinsicht also muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat Fortschritte gemacht und wird weitere Fortschritte machen […]. (KKAN II: 318)

Über die Anknüpfung an den biblischen Mythos10 und der darin enthaltenen multilingualen ‚Sprachverwirrung‘ lässt sich in Kafkas Text ein Bezug zu den lebensweltlichen Erfahrungen der mehrere Kulturen und Sprachen umschließenden zentraleuropäischen Stadt ziehen, die von permanenten Austauschprozessen, Ethnogenesen und Akkulturationen, von ständiger Präsenz von Differenzen sowie von endogenen (autochthonen) und exogenen (transregionalen) Heterogenitäten und Pluralitäten charakterisiert ist (Csáky 2010). Das Motiv des Babylonischen Turmes sowie der damit verbundenen Phänomene der ‚Vermischung‘ (Weinberg 2012: 317f.) assoziieren eine sprachliche Heterogenität, die einen Rückbezug auf die sprachpolitische Situation in den Böhmischen Ländern bzw. der Habsburgermonarchie insgesamt geradezu zwingend erscheinen lässt und die zudem biographisch reflektiert wird (Nekula 2007).11 Gleich dem Rilkeschen Studenten (Zwei Geschwister) sowie dem Konzept der ‚Distanzliebe‘ von Max Brod betont Kafka, der sich den Zumutungen einer monokulturellen Logik entzog, in einem Brief um den 12.5.1920 an Milena, er habe „niemals unter deutschem Volk gelebt, Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich, aber das tschechische ist mir viel herzlicher, […].“ (KKABr4: 134) Allerdings findet man auch ironische Umdeutungen des Babylon-Komplexes, wenn in einer Replik auf Max Brod im Tagebuch vermerkt wird: „Max: Verwirrung der Sprachen als Lösung nationaler Schwierigkeiten. Der Chauvinist kennt sich nicht mehr aus.“ (KKAT 950)

10  Ein struktureller Vergleich findet sich bei Zimmermann (1985: 61-66) und bei Mosès (1994: 142f.). 11  Dagegen s. allerdings Engel, der von einer „unsinnigen Identifizierung der ‚Stadt‘ mit Prag“ ausgeht (Engel 2010: 507f.) und der das Stadtwappen als „eine eigentlich einfache Parabel über die Dialektik des Fortschritts“ liest, nach der sich Gemeinschaft nicht rein materialistisch begründen lasse (Engel 2010: 508).

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Mit der Metaphorik der Durchdringung und Trennung, der Befruchtung und Isolation stellt sich Kafka in die Tradition gängiger, zentraleuropäischer StadtNarrative mit ihren auf Fremdheit und Vertrautheit rekurrierenden kulturellen Topographien. Unter diesem Aspekt ist es tatsächlich zweitrangig, ob ein unmittelbarer Bezug auf Prag erfolgt, da in den Texten die für den Habsburgischen Raum charakteristischen Prozesse der Assimilation, der Akkulturation und der Integration und somit immer auch transnationale Grenzräume thematisiert werden. Man mag bei Kafka ein für das österreichische Denken von Bolzano bis Wittgenstein charakteristisches Streben nach sprachlicher und logischer Klarheit im Sinne einer objektiven Natur der Wahrheit, durch die der Status des Subjekts unerheblich wird (Stachel 1999: 256), erkennen, oder eine Neubestimmung des Verhältnisses von Konkretem bzw. Partikularem und Universalem. Geschildert werden im Stadtwappen die Interdependenzen von Trennung und Verschränkung und damit eine für das Denken in den Böhmischen Ländern charakteristische, auf Leibniz rückführbare Idee einer harmonischen Grundtendenz (Stachel 1999: 267), mit der zugleich die Lösung des Theodizee-Problems impliziert sein dürfte, dass es sich „bei der existierenden Welt um die beste aller möglichen handele“ (Stachel 1999: 269). Ebenfalls lassen sich Rückgriffe auf die Monadenlehre erkennen, nach der „jeder kleinste einzelne Teil in sich die Ganzheit der nationalen Ordnung des Universums, der Prästabilisierten Harmonie, spiegelt.“ (Stachel 1999: 269) Dieser über Christian Wolff vermittelte Leibniz’sche Topos der Einheit in der Vielfalt, eine harmonisierende wie pluralisierende Grundtendenz, die vor allem in Adalbert Stifters Werk Eingang fand, prägte Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen, die auch für Kafkas Werk konstitutiv sind. Mit Johann Friedrich Herbart erfolgte gemäß dem restaurativen Paradigma eine konservative Umdeutung der Leibniz’schen Philosophie: wenn die bestehende Welt die beste aller möglichen sei, dann kann sie durch willkürliche Eingriffe nicht verbessert, nur verschlechtert werden, was die letztliche Unvollkommenheit von Turm- wie Mauerbauten, ja von Bauten insgesamt, wie die Gestalt im Bau erkennen muss, nur unterstreichen. Vor dem Hintergrund dieser durchaus dezisionistischen Legitimationsideologie (Stachel 1999: 274) ließen sich aktivistisch in die Welt eingreifende Helden wie Josef K. im Proceß und K. im Schloss und ihr Scheitern deuten wie deren Stiftersche Gegenfiguren, der alte Risach im Nachsommer oder der Held im

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Witiko, für die die Perfektibilität der Welt und ihre Unveränderlichkeit außer Frage standen.12

2.2 Beim Bau der chinesischen Mauer Einen „aktualhistorischen Bezugsrahmen“ (Wagner 2010: 255) lässt auch das im März 1917 entstandene Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer erkennen, in dem explizit über die Erwähnung des „Turmbaus von Babel“ (KKAN I: 343) die Bautätigkeit im Stadtwappen anitzipiert wird: Die Mauer sollte ein Schutz für die Jahrhunderte werden, sorgfältigster Bau, Benützung der Bauweisheit aller bekannten Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der Bauende waren deshalb unumgängliche Voraussetzungen für die Arbeit. (KKAN I: 339)13

In beiden Texten, so die These, geht es um die Relevanz einer integrativen, universale Geltung beanspruchenden Idee, Voraussetzung für die Steuerung pluraler multilingualer, -kultureller und -konfessioneller Beziehungen. Sowohl Turm- wie Mauerbau mit ihrer höchst ausdifferenzierten Funktionalisierung bzw. Organisation als Schicksal, so Walter Benjamin, verkörpern ein Ziel, auf das die gesamte Gesellschaft und das ihr zugrundeliegende Bildungssystem 12  Die Vermittlung der Herbartianischen, mit Bolzanos Konzepten grundierten Philosophie verlief über den Bolzano-Schüler Robert Zimmermann (1824-1989), der das österreichische Denken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägte. Die bei Bolzano und Herbart manifeste Spannung zwischen Objektivismus und Subjektivismus veranlasste Zimmermann, erster Vertreter der objektivistischen ‚Staatssystemphilosophie‘, auf nationalpartikulare, subjektivistisch-relativistische Herausforderungen mit Universalismus, Formalismus und Werteabsolutismus zu reagieren (Feichtinger 2010: 61f.): ‚Die Krankheit unserer Zeit ist die Subjektivität‘ (Feichtinger 2010: 117). Zur Umsetzung dieser Positionen im Rahmen der habsburgischen Universitätsreform und damit der Bildungspolitik s. zuletzt Aichner/Mazohl (2017). 13  Die in dem Fragment (KKAN I: 337-361; KKAD 263-267) enthaltene ‚Binnenerzählung‘ Ein altes Blatt (KKAN I: 358-361) erschien 1917 in der Zweimonatsschrift Marsyas, Eine kaiserliche Botschaft (KKAN I: 351f.) veröffentlichte Kafka am 14.9.1919 in der Selbstwehr und kurz darauf im Landarzt-Band. Zu Deutungsaspekten s. Wagner (2010); zu intertextuellen Aspekten s. Nicolai (1991); zum Chinesen-Komplex und dem Problem der prämodernen Gemeinschaftsbildung s. Engel (2010: 506); zu China als Chiffre der zionistischen Diskussion im Rahmen der Schaffung eines Nationalstaats und dem Verlust der traditionellen Frömmigkeit s. Alt (2005: 580). Krings (2017: 183) bezweifelt die offenkundigen Parallelen mit der Donaumonarchie, in der Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer liege ein Verweis auf den „assimilatorisch bedingten Niedergang des Judentums in der Moderne“ vor (Krings 2017: 197).

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verpflichtet wird. Dahinter eröffnet sich eine Poetologie des Aufbruchs, die „das Subjekt in seinen Versuchen [zeigt], sich der Welt in ihrer räumlichen wie ihrer sozialen Dimension zu vergewissern“ (Neumann 2013: 420). Vor diesem Hintergrund erhält die Architektur, die das ungeordnete Leben strukturiert, durch die Gesellschaft erst erfahren und organisiert wird und durch die „das Subjekt in seiner Eigentümlichkeit konstruiert werden soll“ (Neumann 2013: 484), ihre besondere Relevanz.14 Fünfzig Jahre vor Beginn des Baues hatte man im ganzen China, das ummauert werden sollte, die Baukunst, insbesondere das Mauerhandwerk zur wichtigsten Wissenschaft erklärt und alles andere nur anerkannt, soweit es damit in Beziehung stand. Ich erinnere mich noch sehr wohl wie wir als kleine Kinder, kaum unserer Beine sicher, im Gärtchen unseres Lehrers standen, aus Kieselsteinen eine Art Mauer bauen mußten, wie der Lehrer den Rock schürzte, gegen die Mauer rannte, natürlich alles zusammenwarf und uns wegen der Schwäche unseres Baues solche Vorwürfe machte, daß wir heulend uns nach allen Seiten zu unsern Eltern verliefen. (KKAN I: 339f.)

Erneut ist es nicht der Bau selbst, sondern die Idee seiner Verwirklichung im Sinne eines „gemeinschaftsstiftenden Bildungsprojektes“ (Alt 2005: 580) die Gewähr für gesellschaftliche Kohäsion und Integration auf der Grundlage auch ethnisch begründeter Einheitlichkeit bietet: jeder Landsmann war ein Bruder, für den man eine Schutzmauer baute und der mit allem was er hatte und war sein Leben lang dafür dankte, Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes, Blut nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers, sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China. (KKAN I: 342)

Es ist die Idee, die den Bau konstituiert und legitimiert. Mit dem Bild einer verbindenden Gemeinschaft wird konträr zum romantischen, schwärmerischen Diskurs nationaler Partikularität soziale Kohäsion und eine Immunisierung gegen die wirkungsmächtige Ideologie nationaler Identifikation erzeugt. Kafka knüpft mit dieser Idee an die Utopie multiethnischer Stadtgesellschaften an, die insbesondere bei Freunden wie Max Brod und Johannes Urzidil mit ihren retrospektiven Versuchen, die „Unlösbarkeit

14  Die architektonische Struktur, die den Raum des Erzählens bildet, erscheint im Werk mal vertikal (Das Stadtwappen), mal horizontal (Der Bau), wobei beide Funktionen ad absurdum geführt werden. Kafka gehe es um die bauliche Gestaltung von Gemeinschaft (Ein altes Blatt, Beim Bau der chinesischen Mauer), um „Herstellung von Individualität durch Zuordnung von Räumen“ (Neumann 2013: 500; Urteil, Der Bau), letztlich um eine Baukunst als „Dispositiv im narrativen Raum“ (Neumann 2013: 501).

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der Konflikte durch ihre Überwindung zu verklären“, in einen Mythos umschlagen (Magris 1979/80: 13).15 Die Existenz konstatierter Ungleichartigkeiten dürfe nicht als Nachteil, sondern als Chance gesehen werden, bestehen doch ungeachtet der sozialen und kulturellen Vielfalt Perspektiven einer die monokulturellen Positionen überwindenden, transkulturellen Verschmelzung zu einem ‚Volksstamm‘, so der Leitgedanke bei Bernard Bolzano: Also wer weiß […], was aus uns werden könnte, wenn wir statt Haß und Zwietracht unter uns zu nähren, freundschaftlich uns die Hände böten? wenn wir das Gute, das jedem Theile eigenthümlich ist, allgemein machten? die Fehler nach und nach verdrängten? wenn wir, soviel als möglich, suchten, die beiden Volksstämme so mit einander zu verschmelzen, daß endlich nur ein einziger aus ihnen würde? (Bolzano 1816: 423f.; Herv. i. O.)16

Die damit eingeleitete Tradition einer Bemühung um interkulturellen Austausch findet eine Fortsetzung bis in den Prager Kreis (Höhne 2017a), genannt sei nur der emphatische, die Menschheitsverbrüderung akzentuierende Schluss-Vers von Franz Werfels An den Leser aus der Sammlung Der Weltfreund (1908-10): „Daß wir uns, Bruder, in die Arme fallen“ (Werfel 1992: 18) oder Werfels Glosse zu einer Wedekind-Feier aus dem Jahr 1914, ein Manifest zur kulturellen Verständigung über die nationalen Grenzen hinweg (Krolop 2005a). Allerdings scheint der Erzähler in Kafkas Text dem spätjosephinischen bzw. bohemistischen Fortschrittsoptimismus nicht ganz zu trauen, was die verstreuten Hinweise auf ein mögliches Scheitern implizieren. Immerhin wird von ‚Sinnlosigkeit‘ gesprochen, von einem möglichen Scheitern aufgrund „der Schwäche des Fundaments“ (KKAN I: 343), gar von „Hoffnungslosigkeit solcher fleißigen aber selbst in einem langen Menschenleben nicht zum Ziele führenden Arbeit“ (KKAN I: 341). Vergegenwärtigt man sich ferner Phänomene argumentativer Autosuggestion durch scheinbar Erfolg versprechende, pragmatische Lösungsvorschläge wie dem „System des Teilbaus“ (KKAN I: 341) 15  Nach Brod (1979b: 53) sei „kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation die Rede […], sondern nur noch von Pragern, […]. Eine Verschmelzung ist eingetreten, das Blut hat sich vermischt.“ 16  Bolzano erörtert ferner Möglichkeiten konsensualen Handelns. Hierzu gehören Aufklärung über die Verschiedenheit der Sprachen, ihrer Ursachen und ihrer Bedeutung. In einem weiteren Schritt müsse wechselseitiger Spracherwerb erfolgen, um mentale Unterschiede zu überwinden: „je mehrere Deutsche wir vermögen, die böhmische, und je mehrere Böhmen, die deutsche Sprache zu erlernen: um desto leichter wird sich und zwar zum Theil schon von selbst das zweite Hinderniß beheben, welches dem Gemeinsinn in unserem Vaterlande entgegen steht. Dieses ist nämlich die Ungleichheit in der Gemüthsart, in den Begriffen und Gesinnungen, die zwischen den böhmischen und den deutschen Einwohnern unseres Landes statthat“ (Bolzano Bd. 21/2, 1816.43, 430; Herv. i. O.).

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oder dem vorgezogenen Bau der Mauern als eigentliches Fundament für den Turm (KKAN I: 343f.), dann scheinen nicht nur daran Zweifel angebracht, dass Turm- wie Mauerbau jemals beendet werden können, sondern auch Zweifel an der Idee selbst. Und damit ist man bei der in beiden Texten zumindest implizit aufgeworfenen Frage nach den Möglichkeiten einer Steuerung von Pluralität auf der Grundlage einer konsensuellen universalistischen Perspektive, bei der die Staatsraison zum höchsten ethischen Prinzip avanciert (Stachel 1999: 259), das bei Kafka gleichwohl kaum noch in der Lage ist, die mit dem aufkommenden Sprachnationalismus einsetzende Aufspaltung von Kulturen in distinkte Kommunikationsräume zu unterbinden. Und wozu waren in dem Werk Pläne, allerdings nebelhafte Pläne des Turmes gezeichnet und Vorschläge bis ins Einzelne gemacht, wie man die Volkskraft zu dem künftigen neuen Werk straff zusammenfassen solle? […] Das menschliche Wesen, leichtfertig in seinem Grunde, von der Natur des auffliegenden Staubes, verträgt keine Fesselung, fesselt es sich selbst, wird es bald wahnsinnig an den Fesseln zu rütteln anfangen und Mauer Kette und sich selbst in alle Himmelsrichtungen zerreißen. (KKAN I: 344)

Die Botschaft des kaum noch Legitimität beanspruchenden Herrschers, des Kaisers – hier dürfte der Bezug zum Ende 1916 verstorbenen Franz Joseph I. deutlich genug sein –, gelangt nicht mehr zum Volk. Dabei erscheint angesichts übermächtiger, desintegrativer Tendenzen zwischen den diversen ‚Landsmannschaften‘ durchaus eine ‚oberste‘, auch transzendental legitimierte und rituell beglaubigte Führerschaft unabdingbar: Wir – ich rede hier wohl im Namen vieler – haben eigentlich erst im Nachbuchstabieren der Anordnungen der obersten Führerschaft uns selbst kennengelernt und gefunden, daß ohne die Führerschaft weder unsere Schulweisheit noch unser Menschenverstand auch nur für das kleine Amt, das wir innerhalb des großen Ganzen hatten, ausgereicht hätte. In der Stube der Führerschaft – wo sie war und wer dort saß, weiß und wußte niemand den ich fragte – in dieser Stube kreisten wohl alle menschlichen Gedanken und Wünsche und in Gegenkreisen alle menschlichen Ziele und Erfüllungen, durch das Fenster aber fiel der Abglanz der göttlichen Welten auf die Pläne der zeichnenden Hände der Führerschaft. (KKAN I: 344f.)

Wird auch die Botschaft, daran lässt Kafka keinen Zweifel, nie ankommen, so erscheint doch die dynastische Idee selbst unangefochten; besitzt das Kaisertum im „Volk“ eine seiner „letzten Stützen“, da „unser aller Denken nur dem Kaiser“ galt (KKAN I: 349). Dabei geht es nicht um den realen Herrscher, sondern um den Kontinuität verbürgenden, auf Ausgleich orientierten, den Einzelnen wie das Kollektiv überdauernden, somit als legitim erachteten Herrschaftswillen:

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Um den Kaiser drängt sich die glänzende und doch dunkle Menge des Hofstaats, das Gegengewicht des Kaisertums, immer bemüht mit vergifteten Pfeilen den Kaiser von seiner Wagschale abzuschießen. Das Kaisertum ist unsterblich, aber der einzelne Kaiser fällt und stürzt ab, selbst ganze Dynastien sinken endlich nieder und veratmen durch ein einziges Röcheln. (KKAN I: 350)

3. Der Einbruch des Fremden Das Fragment Beim Bau der chinesischen Mauer weist neben dem universale Übereinkunft garantierenden Kohäsions-Topos eines kulturell-sprachlichen Ausgleichs im Innern auch auf die zunächst nur fiktive Bedrohung von außen, auf den Schutz der Bewohner gegen die Nomadenvölker des Nordens, zu deren Abwehr die Mauer errichtet werden müsse. Allerdings einer Bedrohung, die, obwohl sich der Erzähler als jemand vorstellt, der sich mit „vergleichender Völkergeschichte“ befasst (KKAN I: 348), auf rein stereotypen Annahmen und nicht auf genauen Kenntnissen der Nordvölker basiert: Ich stamme aus dem südöstlichen China. Kein Nordvolk kann uns dort bedrohn. Wir lesen von ihnen in den Büchern der Alten, die Grausamkeiten, die sie ihrer Natur gemäß begehn, machen uns aufseufzen in unserer friedlichen Laube, auf den wahrheitsgetreuen Bildern der Künstler sehen wir diese Gesichter der Verdammnis , die aufgerissenen Mäuler , die mit hoch zugespitzten Zähnen bedecken Kiefer, die verkniffenen Augen, die schon nach dem Raum zu schielen scheinen. Sind die Kinder böse. Halten wir ihnen diese Bilder hin und schon fliegen sie weinend an unsern Hals. Aber mehr wissen wir von diesen Nordländern nicht, gesehen haben wir sie nicht, und bleiben wir in unserem Dorfe, werden wir sie niemals sehn […]. (KKAN I: 347)

Wird der notwendige Schutz der Grenzen bzw. die Gefahr aus dem Norden hier noch relativiert, so wird er in der das Konvolut beschließenden Erzählung (erschienen Mitte September 1917 im Marsyas ) in aller Dramatik wie Drastik akzentuiert. Längst haben die Nomaden, ‚herumtreibende und herumgetriebene‘ Gestalten (Bauman 1992), das Reich erobert, sind auf eine unbegreifliche Weise […] bis in die Hauptstadt gedrungen, die doch sehr weit von der Grenze entfernt ist. Jedenfalls sind sie also da, es scheint, daß jeden Morgen mehr werden. (KKAN I: 358; KKAD 264)

Geschildert wird in der Folge die Erfahrung mit den als bedrohlich wahrgenommenen Nomaden mit ihren völlig fremdartigen Bräuchen, mit denen

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jegliche Kommunikation, verbal wie nonverbal, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist und bei denen die Grenzen zwischen Tier und Mensch, wie in den stereotypen Annahmen zuvor antizipiert, verschwimmen: Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen. Unsere Lebensweise, unsere Einrichtungen sind ihnen ebenso unbegreiflich wie gleichgiltig. Infolgedessen zeigen sie sich auch gegen jede Zeichensprache ablehnend. Du magst dir die Kiefer verrenken und die Hände aus den Gelenken winden, sie haben Dich doch nicht verstanden und werden Dich nie verstehen. Oft machen sie Grimassen; dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist. (KKAN I: 359; KKAD 264f.)17

Im Umgang mit den Nomaden versagen sämtliche Verfahren zur Auslegung von Welt. Das Wissen der Bewohner erweist sich als genauso nutzlos wie die Erfahrungen, die offenbar keine Gültigkeit mehr beanspruchen können. Durch den Einbruch der Nomaden sind Grundannahmen sozialen Lebens in Frage gestellt: die „Annahmen der Konstanz der Weltstruktur, der Konstanz der Gültigkeit unserer Erfahrungen von der Welt und der Konstanz unserer Vermöglichkeit, auf die Welt und in ihr zu wirken.“ (Schütz 1971: 153) Versteht man Werte als Grundprinzipien der sozialen Handlungsorientierung, dann führt die Konfrontation mit den Fremden, den Nomaden, zu einer die Alltagsroutinen in Frage stellende Verunsicherung, in der die gewohnten Wahrnehmungs- und Erwartungsmuster ihre Orientierungsleistung verlieren, in der Normalitätsannahmen außer Kraft gesetzt werden, was in der vom Erzähler beobachteten Transzendierung von Mensch und Tier deutlich wird: Auch ihre Pferde fressen Fleisch; oft liegt ein Reiter neben seinem Pferd und beide nähren sich vom gleichen Fleischstück, jeder an einem Ende. […] Letzthin dachte der Fleischer, er könne sich wenigstens die Mühe des Schlachtens sparen, und brachte am Morgen einen lebendigen Ochsen. Das darf er nicht mehr wiederholen. Ich lag wohl eine Stunde ganz

17  Zu diesem anthropologischen Wahrnehmungsprozess s. Neumann (2010: 61). Zur Deutung der Nomaden unter einem anti-bürgerlichen Freiheitsparadigma s. Krings (2017: 9294), unter dem Aspekt der Religionsthematik im Sinne einer „Bedeutung von Eroberung, Fremdherrschaft und Verschleppung“ als „notwendige Schritte im Heilsplan“ s. Krings (2017: 101). Die Beziehung zu den Sprachnationalismen der Zeit, die sich in Kafkas Texten wiederspiegeln, hat Nekula (2012) herausgearbeitet. Nicht weiter eingegangen werden kann an dieser Stelle auf das Motiv des Nomadischen im Hinblick auf die Konstituierung des Gegensatzes Europa-Asien (Horn 2008), ein für die österreichische Literatur populäres Motiv. s. z.B. Karl Emil Franzos’ Reiseberichte Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrussland und Rumänien (1876) oder Ferdinand Kürnbergers Feuilletons Siegelringe (1874).

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hinten in meiner Werkstatt platt auf dem Boden und alle meine Kleider, Decken und Polster hatte ich über mir aufgehäuft, nur um das Gebrüll des Ochsen nicht zu hören, den von allen Seiten die Nomaden ansprangen, um mit den Zähnen Stücke aus seinem warmen Fleisch zu reißen. Schon lange war es still ehe ich mich auszugehen getraute; wie Trinker um ein Weinfaß lagen sie müde um die Reste des Ochsen. (KKAN I: 360; KKAD 265f.)18

Eingebettet in den Zerfall der dynastischen Ordnung, eine Regression von Kultur in Natur, erscheint die neue als anarchisch-revolutionär, ohne Schutz des Eigentums, gegen die sich die Bewohner mit Beschwichtigungsversuchen und Selbstbetrug nur höchst unzureichend zur Wehr setzen. ‚Wie wird es werden?‘ fragen wir uns alle. ‚Wie lange werden wir diese Last und Qual ertragen? Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu vertreiben. Das Tor bleibt verschlossen; die Wache, früher immer festlich ein- und ausmarschierend, hält sich hinter vergitterten Fenstern. Uns Handwerkern und Geschäftsleuten ist die Rettung des Vaterlandes anvertraut; wir sind aber einer solchen Aufgabe nicht gewachsen; haben uns doch auch nie gerühmt, dessen fähig zu sein. Ein Mißverständnis ist es; und wir gehen daran zugrunde.‘ (KKAN I: 361; KKAD 266f.)

Eine vormals kohärente, hierarchisch gegliederte Gesellschaft mit klaren, durch einen Mauerbau symbolisch und machtpolitisch markierten Grenzen wird durch grenzüberschreitende, exogene Durchdringung einem neuen Ausdifferenzierungsprozess mit neuen Demarkationslinien und Grenzmarkierungen unterzogen, mit dem zugleich ein Wechsel von einem universalen Staatsnarrativ zu partikularen und unkontrollierbaren vormodernen Stammesgewalten erfolgt. Es ist letztlich die Erosion der staatlichen Ordnung und damit der Verfall der konfliktregulierenden Verfahren eines staatlichen Gewaltmonopols, welches der Hof als politisches Zentrum nicht mehr durchsetzen kann. Der Kaiser steht lediglich „an einem Fenster und blickte mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß.“ (KKAN I: 360; KKAD 266) Die Nomaden fungieren weniger als Idealtypen, sondern als Komplexität reduzierende Sinnformen, die die Welt in immobile und mobile, in verwurzelte und wurzellose Gruppen teilt und dabei Anklänge an jüdische Selbst- und Fremdstereotype besitzen. Sie lassen sich daher als „Prototyp einer mobilmachenden Moderne“ verstehen (Gross 2010: 317), weshalb der Text auch eine Verschiebung von der vormodernen zu einer modernen Konnotation des Nomaden aufruft, sind doch die, denen die ‚Rettung des Vaterlandes anvertraut‘ ist, die also bleiben, verloren. 18  Zum Thema Weltkriegserfahrung, Fleischmangel und Hunger s. a. die von Ernst Sommer 1920 veröffentlichte Erzählung Der Aufruhr, erneut veröffentlich in der Anthologie Prager deutsche Erzählungen, hrsg. von Dieter Sudhoff und Michael M. Schardt, Stuttgart (Reclam) 1992, 262-305.

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Entsprechend handelt es sich bei den Kafkaschen Nomaden weniger um Wanderer, die nicht weiter wandern im Sinne Georg Simmels, nach dessen Kategorisierung der Fremde „ein Grenzgänger und Vermittler zwischen den Kulturen“ ist (Poole 2015: 26)19 und mit dem Kommunikation möglich sein müsste; als vielmehr mit Alfred Schütz um „entwurzelte, heimatlose Gestalten“ (Poole 2015: 26) mit einer völlig andersartigen kulturellen Herkunft, anderen Traditionen und anderer Sprache, die gerade nicht die unbefragten Hintergrundüberzeugungen der autochthonen Bewohner teilen, was eben zu der im Text geschilderten Krise gewohnter Denk- und Verhaltensmuster führt. Mit Schütz teilt Kafka die Überzeugung einer Inkommensurabilität unterschiedlicher Kulturen, zwischen denen keine Verständigung möglich ist. Dies ist der Moment, in dem sich der ‚fremde‘ Nomade, der sich nicht anpasst und erst recht nicht assimiliert, in einen Feind verwandelt. Kafka knüpft damit an Vorstellungen von Feindschaft als anthropologische und naturgesetzliche Gegebenheit an, wie sie schon bei Bolzano skizziert wurden. Allerdings wandte sich Bolzano ganz in der Tradition einer auf die Perfektibilität des Menschen orientierten josephinisch-katholischen Spätaufklärung gegen jegliche Verabsolutierung des Feindes: „Freundschaft und Feindschaft nähmlich sind keineswegs zwei Verhältnisse von einer solchen Art, daß sich kein Mittel zwischen beyden denken ließe.“ (Bolzano 1817: 189) Gegen dieses komplementäre Modell polyvalenter Ordnungsstrukturen mit offener, dynamischer Struktur, in der das Fremde als Ergebnis einer Unterscheidungspraxis in wechselseitiger Interaktion verstanden wird, stellt Kafka ein Bild der fremden Nomaden als kategoriales Gegenbild, das wechselseitige Unvereinbarkeit und konfliktäre Antinomie unterstellt, die zu Ausgrenzung und Gefährdung führt. Kommunikation auf verbaler, paraverbaler und nonverbaler Ebene muss misslingen, da die wie Dohlen sich verständigenden Nomaden „sich gegen jede Zeichensprache ablehnend“ zeigen (KKAN I: 359; KKAD 265). Über das Modell anthropologisch fundierter Feindschaft knüpft Kafkas Text an den für multilinguale Gesellschaften charakteristischen sprachlichsozialen Distinktionsmechanismen an, die auch von den Repräsentanten der universalistischen Tradition durchaus erkannt wurden. Bolzano nannte als Ursache von nationaler Distinktion die Verschiedenheit der Sprachen, die Unterschiede im Bildungsgrad und in der historischen Entwicklung. 19  Nach Simmel strebt der Fremde, der bleibt, die Integration an. Der Nomade, der nicht mehr weiterzieht, sondern der im Zentrum, in der Metropole bleibt, besitzt allerdings einen prekären Status, da er die „Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“ (Simmel 1958: 509).

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Mangelnde Sprachkompetenz, also Monolingualität, führe dazu, „daß sie den wechselseitigen Umgang, wenn nicht ganz unmöglich macht, doch sehr erschwert und hindert“ (Bolzano 1816: 411; Herv. i. O.). Wo allerdings bei Bolzano und seinen Nachfolgern Verständigung per wechselseitigem Spracherwerb prinzipiell erwartet wurde,20 da vermerkt Kafkas Erzähler lediglich lakonisch: „Sprechen kann man mit den Nomaden nicht“ (KKAN I: 359; KKAD 264). Bedenkt man, das kultureller Ausgleich immer interaktiv herzustellen ist, dann ist mit der wechselseitigen Sprach- bzw. Kommunikationslosigkeit eine prinzipielle Nicht-Verständigung postuliert, ein Aushandeln von Bedeutung im Sprachspiel (Wittgenstein) ist a priori zum Scheitern verurteilt. Eine unmittelbare Rezeption von Bolzanos Texten seitens Kafka lässt sich nicht nachweisen, allerdings ist eine über den Freundeskreis vermittelte Kenntnis vormärzlicher bohemistischer Positionen durchaus zu vermuten (Höhne 2017a), zumal diese Positionen eines böhmischen Kollektivbewusstseins von führenden Vertretern des Prager Kreises aufgegriffen wurden (Krolop 2005). Kafkas Klassenkamerad Hugo Bergmann vertrat als Gegenposition zu Martin Bubers exklusivem Zionismus das Konzept einer interkulturellen Verständigung mit der nicht-jüdischen Umwelt.21 Im Kontext der Ausgleichsdebatten nach 1900 findet man in der Publizistik Überlegungen zu einem interethnischen Provinzialausgleich für das Kronland Böhmen. Als Beispiele seien nur Hermann Kadischs Deutsche, Tschechen, Juden in der Selbstwehr vom 21.8.1908, Leo Herrmanns Leitartikel Die Juden und der böhmische Ausgleich in der Selbstwehr vom 12.9.1911 oder Max Brods Ein menschlich-politisches Bekenntnis. Juden, Deutsche, Tschechen in der Neuen Rundschau 1918 genannt (Höhne 2012). Die „grundsätzliche Anerkennung der ethnisch-kulturellen Verschiedenheit der Juden von ihrer Umwelt“ sei Voraussetzung einer interkulturellen Synthese, die Brod mit dem Konzept der ‚Distanzliebe‘ erfasst: Denn, so Brod, „die Freude am eigenen Volkstum ist der Freude an fremdem Volkstum verwandter als die versuchte Erschleichung fremden Volkstums.“ (Brod 1913: 262) Bergmann verfasste zudem die Dissertation Das philosophische Werk Bernard 20  „es lerne der Eine die Sprache des anderen, nur um sich desto gleicher zu stellen; es theile der Eine seine Begriffe und Kenntnisse dem Anderen brüderlich und ohne Vorenthaltung mit!“ (Bolzano 1810: 213) 21  Zu Bergmanns „Auffassung von der jüdischen Zugehörigkeit als Synthese mit den umgebenen Kulturen“ und von „Zionismus als Nachahmung nationaler Verhaltensmuster“ s. Shumsky (2013: 139), der in Bergmanns Position ein Gegenmodell zum Konzept der Assimilation, verstanden als Übernahme des separatistischen Nationalismus bzw. als „Auseinanderfallen[ ] der jüdisch-europäischen ‚Synthese‘ in partikulare national-ethnische Bruchstücke“ erkennt (Shumsky 2013: 140).

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Bolzanos, und er war mit einem Beitrag im Bolzano-Heft der Deutschen Arbeit (November 1908) beteiligt.22 In der komplexen und differenzierten Auseinandersetzung mit Buber in Prag lässt sich eine Entwicklung vom Kulturnationalismus zu einem multikulturellen bzw. ‚wahren‘ Zionismus und damit eine Alternative zum ethnozentrischen Nationalismus nachverfolgen. Dieser „Nationalismus anderer Art“, der eine „Überschreitung national-ethnischer Grenzen“ impliziere (Shumsky 2013: 187), besaß eine dezidiert politische Dimension, die wiederum bei Kafka mit den Erfahrungen der Habsburgermonarchie und deren Auflösung in Verbindung zu bringen ist. Es muss einer weiterführenden Studie vorbehalten bleiben, inwieweit Kafka auch in diesen Traditionskomplex zu stellen wäre, den er zumindest in einer Erzählung wie explizit widerrief.

4. Ausblick Bedenkt man, dass Kafka seit 1917 verstärkt mit Metaphern des Soldatischen operiert und damit „Phantasmen einer kollektiven Welt […] geschlossener sozialer Ordnungssysteme“ schildert, die brüchig geworden sind (Alt 2005: 580), dann scheint selbst ein Text wie (1917) sich auf die Problematik von Universalismus und Partikularismus zu beziehen. Die Metaphorik des Ausgleichsdiskurses, in dem an Motive der verbindenden Bruderhand, aber auch des Brückenbaus angeknüpft wird, intendiert eine argumentative ‚Überbrückung‘ ethnischer, kultureller und sprachlicher Divergenzen (Maidl 2000; Höhne 2017c; Zbytovský 2017). Kafkas Brücke allerdings liegt im Verborgenen, „sie war in den Karten noch nicht eingezeichnet.“ (KKAN I: 304) Der erste Wanderer erweist sich als jemand, der nur die Zerstörung der Brücke im Sinn hat: Dann aber […] sprang er mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib. Ich erschauerte in wildem Schmerz, gänzlich unwissend. Wer war es? Ein Kind? Ein Turner? Ein Waghalsiger? Ein Selbstmörder? Ein Versucher? Ein Vernichter? Und ich dreht mich um, ihn zu sehn. Brücke dreht sich um! Ich war noch nicht umgedreht, da stürzte ich schon, ich

22  Hugo Bergmann: Das philosophische Werk Bernard Bolzanos. – In: Deutsche Arbeit Jg. 8/2 (November) 1908, 81-89; zwei weitere Texte stammen von Stefan Schindler: Bernard Bolzano, 73-80, sowie von Kafkas Schulkamerad Emil Utitz: Bernard Bolzanos Ästhetik, 89-94.

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stürzte und schon war ich zerrissen und aufgespießt von den zugespitzten Kieseln, die mich so friedlich immer angestarrt hatten aus dem rasenden Wasser. (KKAN I: 305)

Wie schon im Urteil weist das Motiv der Brücke „als verdeckte Polemik“ auf „die sprachnationalen Selbstentwürfe der Tschechen und Deutschen“ (Nekula 2005: 175) und damit auf die nationale Konfrontation, welche interkulturelle Ausgleichsbemühungen ausweglos erscheinen lässt. Betrachtet man, ausgehend von den zentralen Themen Kafkas wie Religion und Freiheit (Krings 2017), die immer auf individuelle wie kollektive Erfahrungen weisen, dann lassen sich aus den hier untersuchten Texten eben auch Entfremdungs- und Desintegrationserfahrungen herauslesen, aus denen sich – zumindest nach Theodor Herzl – nur ein Ausweg eröffnet: Was hatten sie denn getan, die kleinen Juden von Prag, die braven Kaufleute des Mittelstandes, die Friedlichsten aller friedlichen Bürger? Wodurch hatten sie Plünderung, Brand und Mißhandlung verdient? In Prag warf man ihnen vor, daß sie keine Tschechen, in Saaz und Eger, daß sie keine Deutschen seien. Arme Juden, woran sollten sie sich denn halten? Es gab welche, die sich tschechisch zu sein bemühten; da bekamen sie es von den Deutschen. Es gab welche, die deutsch sein wollten, da fielen die Tschechen über sie her – und Deutsche auch. […] Wenn man die gänzlich schiefe Haltung der böhmischen Juden betrachtet, versteht man, warum sie für ihre Dienste mit Schlägen belohnt werden. […] Freilich hatten sie versucht, als blinde Passagiere in dem Nationalitätenhader durchzukommen. Das geht nicht. […] Eine offene, vernünftige Stellung zu dem deutsch-tschechischen Streit wäre das einzig Richtige gewesen. Die Juden mußten sich einfach auf ihre jüdische Nationalität berufen, und man hätte sie auf beiden Seiten anders behandelt. (Herzl 1917: 7)

Zieht man einen Bogen der hier entgegen der Chronologie der Entstehung untersuchten Texte vom Stadtwappen und dem ersten Teil des Fragments Beim Bau der chinesischen Mauer (1917) zum zweiten Teil () sowie zu , so läuft dieser entlang einer an Glaubwürdigkeit verlierenden universalistischen Idee durch Versäumnisse im Innern wie durch Bedrohung von außen, eine Entwicklung, die im Zusammenbruch von Ordnung mündet.

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Clemens Dirmhirn

Spuren interkultureller Begegnungen in Kafkas vergleichender Völkergeschichte: Zeitgenössischer China-Diskurs in der Zeitschrift Die Aktion1 1. Vorbemerkungen In einem bislang wenig beachteten alternativen Schluss2 der Erzählung Ein altes Blatt schreibt Kafka: Diese (vielleicht allzusehr europäisierende) Übersetzung einiger alter chinesischer Manuskriptblätter stellt uns ein Freund der Aktion zur Verfügung. Es ist ein Bruchstück. Hoffnung, daß die Fortsetzung gefunden werden könnte besteht nicht. Hier folgen noch einige Seiten, die aber allzu beschädigt sind, als daß ihnen etwas bestimmtes entnommen werden könnte. (KKAN I: 361)

Dieser Versuch, die Erzählung trotz ihres fragmentarischen Charakters an ein Ende zu führen und zusammenzuhalten, rahmt die Erzählung durch eine Herausgeberfiktion, die in große räumliche wie zeitliche Distanz zur eigentlichen Handlung gesetzt ist. Während letztere weder örtlich noch zeitlich eingeordnet werden kann,3 lässt sich die Ebene der Rahmung unmittelbar in Kafkas Gegenwart verorten. So scheint der extradiegetische Erzähler, der für ein Kollektiv spricht, das die Übersetzung vermutlich von einem Leser der Aktion erhalten hat, diese Zeitschrift gut zu kennen und auch beim angesprochenen 1  Teile dieses Beitrags beruhen auf Ergebnissen, die ich 2017 unter dem Titel „Zeitgenössischer China-Diskurs der Zeitschrift Die Aktion und seine Relevanz für Kafkas China-Texte“ – In: Jobst, Kristina/Neumeyer, Harald (Hgg.), Kafkas China. Würzburg: Königshausen & Neumann, 17-33, publiziert habe. 2  In zu Kafkas Lebzeiten publizierten Versionen ist er nicht enthalten, allerdings wurde er in der Handschrift auch nicht gestrichen. 3  In der ebenfalls zum sogenannten Chinakomplex gehörigen Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer weisen die zahlreichen darin enthaltenen Versatzstücke chinesischer Kultur in unterschiedliche, einander ausschließende Dynastien. So fällt die Zeit, in der die Haare in China als Zopf (KKAN I: 356) getragen werden mussten oder auch Peking die Hauptstadt des Reiches war (KKAN I: 343) nicht mit jener Zeit zusammen, in der der Mauerbau begonnen wurde. Die Pfeife des Vaters des Erzählers erscheint ebenfalls als Anachronismus (KKAN I: 356f.).

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Gegenüber als bekannt vorauszusetzen. Möglicherweise ist der Erzähler daher selbst Mitglied ihrer Redaktion. „Freunde der Aktion!“ (Pfemfert 1911: Sp. 1191) ist jedenfalls exakt jene Formel, mit der sich der Herausgeber Franz Pfemfert an seine Leserschaft wandte, zu der auch Kafka gehörte.4 Diese für Kafka ungewöhnlich konkrete Rahmung mit deutlichem Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit weist die chinesische Binnenerzählung explizit als „allzusehr europäisierende Übersetzung“ aus und ruft damit die zahlreichen neuen Übersetzungsprojekte alter chinesischer, vorwiegend daoistischer Texte auch in Kafkas Umfeld auf.5 Damit rückt China v.a. als Gegenstand der zeitgenössisch-europäischen Rezeption verstärkt in den Blick. Deutlich wird aber auch, dass die China-Erzählungen selbst in ihrer zu Lebzeiten publizierten Form – also ohne Rahmung – aufgrund der oben genannten Anachronismen kaum als authentische Zeugnisse eines teilnehmenden Beobachters, ja nicht einmal als die eines unreliable narrators aufgefasst werden können. Ein altes Blatt und stärker noch Beim Bau der chinesischen Mauer präsentieren sich – mit und ohne alternativem Schluss – als vom zeitgenössischen Chinadiskurs überformt. Die sozio-politischen Umwälzungen in China Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wie der Boxerkrieg, das Ende des Kaisertums und der damit notwendig gewordene Aufbau einer neuen Republik führten zu einer Konjunktur Chinas in der europäischen Berichterstattung, in Reiseberichten (Dittmar 1912), in Essays wie Die chinesische Mauer (Kraus 1910), aber auch in der expressionistischen Literatur6 und stießen die erwähnten Übersetzungsprojekte an. Zwei Tendenzen sind in all diesen Zeugnissen europäischer Auseinandersetzung mit China erkennbar. Während der kolonialistisch geprägte Blick sich fast ausschließlich auf das zeitgenössische China richtet, beziehen sich Kulturkritiker wie Dickinson, Anarchisten wie Kropotkin und Zionisten wie 4  Hier im Heft 38 des Jahres 1911 kommt diese Formel unmittelbar neben einer kurzen Glosse zur Revolution in China zu stehen. 5  Neben Martin Bubers Übersetzung der Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse (Buber 1910) und seiner Auswahl und Übersetzung der Chinesischen Geister- und Liebesgeschichten (Buber 1916) wurden Richard Wilhelms Übersetzungen des Tao Te King. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben (Laotse 1911) sowie Das wahre Buch vom quellenden Urgrund (Liä Dsi 1911) stark rezipiert und teilweise in der Aktion besprochen (N.N. 1912a) oder in Auszügen abgedruckt (Liä Dsi 1913). Zu Bubers Übersetzungen aus dem Chinesischen und seine Verbindung mit Richard Wilhelm s. Eber (1994). 6  Etwa Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun (Döblin 1916) oder auch Klingsors letzter Sommer von Hesse (Hesse 1920).

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Buber vorwiegend und mehr oder weniger explizit7 auf das historische China der Daoisten.8 Und während das zeitgenössische China als dem Westen gegenüber verschlossen und rückständig, wenngleich doch bedrohlich,9 beschrieben wird, und das Verhältnis zu ihm konfliktreich erscheint, so dient das daoistische China als Gegenbild zum kulturellen Niedergang des Westens, als Sehnsuchtsort, Vorläufer und Stichwortgeber. Es liefert Argumente gegen den europäischen Kapitalismus und Imperialismus und soll den Weg für herrschaftsloses Zusammenleben in unüberschaubar großen Gemeinschaften weisen. Entsprechend unterschiedlich fallen die Erwartungen aus, die an den Ertrag einer Beschäftigung mit China geknüpft werden. Anhand verschiedener Chinabeiträge der Aktion von der Gründung der Zeitschrift 1911 bis zur Entstehung der frühen Chinatexte Kafkas 1917 lässt sich zeigen, wie der dort entfaltete China-Diskurs in Kafkas Erzählungen Beim Bau der Chinesischen Mauer und Ein altes Blatt aufgegriffen und umgeschrieben wird und auf welche Weise die Erzählungen auf diesen zurückwirken – wie sie sich in ihm positionieren. Kafkas Texte scheinen unzählige andere China-Texte aufzurufen, zu kombinieren und in Dialog zu bringen und auf diese Weise zwar nicht die Immanenz der eigenen europäischen Perspektive zu durchbrechen,10 aber doch die Heterogenität und Vielschichtigkeit dieser Perspektive aufzuzeigen und damit homogenisierenden Tendenzen entgegenzuwirken.

7  Das bei Dickinson beschriebene China der Kindheit seines Erzählers weist deutlich Züge des daoistischen Chinas auf, und auch Buber hebt am zeitgenössischen China v.a. dessen geistiges Erbe als besonders kostbar und bedroht hervor (Buber 1993: 62f.). 8  In seinem Artikel zum Lemma ‚Anarchism‘ in der Encyclopaedia Britannica stellt Petr Kropotkin Laozi, den mutmaßlichen Verfasser des Daodejing (auch Tao Te King geschrieben), an den Beginn der Ahnenreihe geistiger Vorläufer des Anarchismus (Kropotkin 1910: 914; Müller 2001: 93). Eine Ausnahme zu den beiden behaupteten Tendenzen bildet allerdings der anonyme Beitrag Die chinesische Revolution, wo auf affirmative Weise zeitgenössische revolutionäre Vorgänge in China festgestellt und kommentiert werden (N.N. 1912b). 9  Man denke an die damals allgegenwärtige Rede von der ‚gelben Gefahr‘. 10  Dies versucht etwa Dickinson (1901; 1903; 1912) mit seiner allerdings nur fingierten chinesischen Perspektive oder auch Pfemfert, der in seiner Zeitschrift dem chinesischen Autor Ku Hung-Ming eine Plattform bietet (Hung-Ming 1911). Am Ende seines Aufsatzes China und die Europäer wird auf ein bei Diederichs erschienenes Buch desselben Autors hingewiesen, das aber, wenigstens dem Titel nach, ganz in das stereotype Bild des sich abschließenden Chinas passt: Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen.

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2. Der kolonialistische Blick auf China Paradigmatisch für das erste der beiden Chinabilder stehen in der Aktion zwei Aufsätze von Otto Corbach, einem deutschen Journalisten und Publizisten, der 1900–1902 in Tsingtau lebte und immer wieder seine Nähe zum westlichen Imperialismus erkennen ließ. Zwar kritisiert er in seinem Beitrag ‚Kulturpolitik‘ in China, dass westliche Regierungen große Summen dafür ausgegeben hätten, die Chinesen „zur westländischen Lebensart zu bekehren“ (Corbach 1911a: Sp. 38), während man das Geld besser darauf verwendet hätte, sich mit den Chinesen auseinanderzusetzen. Diese Forderung entspringt allerdings keinem genuinen Interesse am anderen, sondern bleibt vielmehr Mittel zum Zweck, um in der Kompetition zwischen chinesischer und europäischer Kultur die eigene Dominanz aufrechterhalten zu können. Seine Sprache zeugt keineswegs von einem gegenseitigen Profitieren durch Kennenlernen des anderen, als vielmehr von einem Klima des Konflikts, der Rivalität, der Bedrohung und der Eroberung, wenn er behauptet, dass „es für einen Europäer geradezu eine Lebensaufgabe bedeutet, in den Geist der chinesischen Sprache und des chinesischen Volkes einzudringen“ (Corbach 1911a: Sp. 38), wohingegen es für Chinesen ein Leichtes wäre, europäische Sprachen zu erlernen und sich so „Zugang zu den Quellen westländischer Bildung zu verschaffen“ (Corbach 1911a: Sp. 38). Während Corbach hier den Kulturkontakt zwischen China und dem Westen mit Blick auf Spracherwerb und Rezeption von Texten als Eindringen gegen den Willen des jeweils anderen schildert und so vorerst nur implizit die Metapher einer Vergewaltigung einführt, verwendet er dieses Bild in einem sieben Monate später in der Aktion erschienen Beitrag explizit im Hinblick auf die territoriale Souveränität Chinas, wenn er schreibt: „Das chinesische Reich ist zu riesig an Ausdehnung, das chinesische Volk zu ungeheuer an Zahl, um mit militärischen Mitteln vergewaltigt werden zu können.“ (Corbach 1911b: Sp. 1095) Damit betont Corbach stark das Konflikthafte dieser Begegnung und unterstreicht in dreifacher Hinsicht die Abgeschlossenheit Chinas: Erstens indem er sich der Körpermetaphorik bedient und so China zu einem homogenen, abgeschlossenen Körper substanzialisiert, zweitens indem er die chinesische Sprache als schwer zu erlernen darstellt und drittens indem er die Größe des Territoriums als Hindernis für eine militärische Penetration anführt.

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3. Versuch eines daoistischen Blicks auf Europa Während Corbach eine Überlegenheit der aus seiner Sicht innovativen europäischen Kultur unterstellt, die allerdings permanent durch die nachahmenden Chinesen bedroht scheint,11 und eine Beschäftigung mit China nur für den Erhalt der eigenen Vormachtstellung propagiert, beschreibt der britische Politikwissenschaftler und Philosoph Goldsworthy Lowes Dickinson als Proponent der politisch entgegengesetzten Tendenz das Verhältnis zwischen China und Europa zwar ähnlich antagonistisch, kehrt aber sowohl Perspektive, als auch Wertung radikal um. Mit seinem in der Aktion abgedruckten Text Aus Briefen eines Chinesen12 nimmt er affirmativ eine vorgeblich chinesische Perspektive ein. Bei ihm zeigt sich am deutlichsten der Wunsch, die Immanenz der europäischen Kultur zu durchbrechen, um mit einem chinesischen Blick von außen umfassende Kritik an den europäischen Verhältnissen üben zu können. Dies wird besonders im Titel der 1903 anonym publizierten überarbeiteten Ausgabe deutlich: Letters from a Chinese official, being an Eastern view of Western civilization. Diese Kritik nimmt jedoch ganz analog zur kolonialistisch-europäischen Perspektive stets die Überlegenheit der eigenen Kultur für sich in Anspruch: Allerdings sind wir überzeugt, dass unsere Religion vernunftsgemässer ist als eure, unsere Moralität höher, unsere Einrichtungen vollkommener; aber wir anerkennen, dass, was für uns entsprechend ist, anderen schlecht angepasst sein mag. (Dickinson 1912: Sp. 1287)

Sowohl durch die fingierte chinesische Erzählperspektive Dickinsons als auch durch die überhebliche Haltung seines Erzählers, die am Ende doch partiell wieder zurückgenommen wird, indem der Erzähler die Beschränktheit seiner Perspektive anerkennt, gibt es strukturelle Ähnlichkeiten zu Beim Bau der Chinesischen Mauer und Ein altes Blatt. Auch dort nehmen beide Erzähler eine chinesische Perspektive von fraglicher Authentizität ein und werten die eigene Kultur stark auf, während etwa die der Nomaden permanent abgewertet wird. So betont der Erzähler in Beim Bau der chinesischen Mauer in einer gestrichenen 11  „Die Chinesen werden sich schon von selbst unsere geistigen Waffen zu eigen zu machen wissen, und sie sind die letzten, die nicht das Beste, was für sie geeignet ist, dort suchen würden, wo es zu finden ist.“ (Corbach 1911: Sp. 38) 12  Dabei handelt es sich um Übersetzungen einer Passage aus Brief II der von Dickinson ursprünglich anonym publizierten Letters from John Chinaman (Dickinson 1901: 10-16), ab 1903 auch unter dem Titel Letters from a Chinese official, being an Eastern view of Western civilization. (Dickinson 1903: 11-18) erschienen. 1917 wurde der Text erneut durch Pfemfert abgedruckt (Dickinson 1917: 77-84).

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Stelle gerade in jenem Moment, als er sich als vergleichender Völkergeschichtler zu erkennen gibt, und also – wie Dickinson dies versucht – die Immanenz der eigenen Perspektive für durchbrochen erklärt, die Überlegenheit seiner Kultur: Ich habe mich, schon teilweise während des Mauerbaues und nachher bis heute fast ausschließlich mit vergleichender Völkergeschichte beschäftigt – es gibt bestimmte Fragen denen man nur mit diesem Mittel gewissermaßen an den Nerv herankommt – und ich habe dabei gefunden, dass wir Chinesen, denen ich übrigens gerade auf Grund meiner Wissenschaft den Vorzug vor allen Völkern der Erde gebe, soweit sie mir bekannt sind gewisse volkliche und staatliche Einrichtungen in einzigartiger Klarheit, andere wieder in einzigartiger Unklarheit besitzen. (KKAN I: 348; KKAN I App.: 294)

Wie Dickinsons Chinese die erst zur Schau gestellte Überlegenheit durch die Beschränkung der Gültigkeit seines Urteils auf den Bereich der eigenen Kultur wieder etwas relativiert, so wird auch in Kafkas Text die eigene Überlegenheit – zumindest an dieser Stelle – getilgt und der Gegenstand auf das Feld des Eigenen eingeschränkt. Trotz der bei Dickinson behaupteten Selbstgenügsamkeit der eigenen Kultur – man hält diese für die beste und ist dennoch frei von jeglichem missionarischen oder kolonialen Impuls – und ihrer strengen Abgrenzung von der invasiven westlichen, bleiben bei ihm beide Kulturen durch ihre antagonistische Stellung Punkt für Punkt aufeinander bezogen: Während Dickinson Europas Kapitalismus als Grund für dessen Imperialismus, die Zerstörung der Natur, für seine Kriegstreiberei, eine ausufernde Gesetzgebung und für die Objektivierung des Menschen ausmacht und den Kontinent mitsamt seiner Handelspartner durchaus prophetisch „in absehbare Nähe eines allgemeinen Vernichtungskrieges gebracht“ (Dickinson 1912: 1290) sieht, zeichnet er ein idyllisches Bild seiner Jugend in China, das auf daoistischen Tugenden wie Selbstgenügsamkeit, Friedfertigkeit, Leben im Einklang mit der Natur und Abwesenheit festgeschriebener Gesetze basiert und betont die gegenseitige Wertschätzung und Verbundenheit der Generationen durch eine noch nicht von der Natur entfremdete Arbeit: in diesem lieblichen Tal leben tausende von Menschen ohne irgend welche Gesetze, ausser jenen der Gewohnheit, ohne jede Herrschaft, ausser jener ihres eigenen Herzens. Arbeitsam sind sie von einem Arbeitsfleiss, wie ihr ihn im Westen kaum kennt, aber es ist die Arbeit freier Menschen [. . .] Und wenn es in jeder Generation einige gibt, die in die Welt hinaus müssen, so tun sie dies mit der [. . .] Hoffnung, zu ihrem Geburtsort zurückzukehren [. . .]. (Dickinson 1912: Sp. 1292)

Mit diesem scheinbar völlig unambivalenten Idyll stellt sich Dickinson in die Tradition bekannter daoistischer Utopien von Herrschaftslosigkeit – dem Chi-

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nesischen wujun.13 So teilt er mit Texten wie dem in der Aktion abgedruckten Utopia (Liä Dsi 1913), wo der Herr der gelben Erde einschläft und sich in einem utopischen Reich ohne Hierarchien wähnt, den unsicheren Status der utopischen Verhältnisse als Erinnerung bzw. als Traum, wodurch diese stets von der unmittelbaren Realität des Erzählers getrennt bleiben. Und mit Tao Yüan Mings Parabel vom Pfirsichblütenquell14 über eine Gruppe von Menschen, die zu unruhiger Zeit an einen unzugänglichen Ort geflüchtet war und seither über Generation hinweg vom restlichen Reich unbehelligt in idyllischen Verhältnissen lebt, verbindet ihn, dass die herrschaftslosen Verhältnisse nur durch eine gewisse räumliche Abgeschlossenheit bzw. Abgeschiedenheit aufrechterhalten werden können – eine Abgeschiedenheit, die sich aus der Größe des Reiches erklärt und sich bei Dickinson darin ausdrückt, dass es „in jeder Generation [. . .] bloß einige“ sind, „die in die Welt hinaus müssen.“ (Dickinson 1912: Sp. 1292) Damit zeigt sich folgende Aporie: Dickinson schützt seinen Sehnsuchtsort durch eine doppelte Abschließung und erhält ihn so entweder zum Preis seiner unmöglichen Realisierung, oder nur als exklusives Privileg für eine kleine Minderheit. Bei aller Differenz in der Bewertung bestätigt er zudem etwa Corbachs Darstellung eines hermetisch abgeschlossenen Chinas.

4. Kafkas Positionierung im zeitgenössischen Chinadiskurs Mit Blick auf diese beiden Tendenzen des zeitgenössischen Chinadiskurses lässt sich die Position der Kafka’schen Texte folgendermaßen bestimmen: Während Kafkas Chinaerzählungen – im Gegensatz zur ersten Tendenz des Chinadiskurses und in Übereinstimmung mit der zweiten – versuchen, das Potential daoistischer Utopien von Herrschaftslosigkeit zu ergründen, führen sie umgekehrt vor, wie jene Texte, die sich gänzlich affirmativ auf daoistische 13  Dieser Ausdruck der Wei-Jin Daoisten bedeutet wörtlich ‚ohne Prinz/ohne Herrscher‘ (Rapp 2012: 5). 14  In der erläuternden Endnote zu Kapitel 80 des Daodejing, das eine große Wirkung auf nachfolgende daoistische Utopievorstellungen hatte, wird in Richard Wilhelms Übersetzung Die Quelle im Pfirsichblütenwald wiedergegeben (Laotse 1911: 113). Der Titel des Textes, der bis heute im Chinesischen ein geläufiger idiomatischer Ausdruck (Chengyu) für Utopie ist, war also zum Zeitpunkt der Entstehung von Kafkas Chinaerzählungen nachweislich auf Deutsch verfügbar.

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Utopien beziehen, die Ambivalenzen und Aporien solcher Utopien verkennen. Diese Texte ignorieren etwa, dass jene Utopien nur innerhalb abgeschlossener homogener Kulturräume funktionieren oder ein naives Vertrauen auf einen friedliebenden Naturzustand voraussetzen und die Möglichkeit jeglichen Konflikts ausblenden. Konstellationen aus europäisierenden Übersetzungen daoistischer Utopien bilden also durchaus zunächst den Ausgangspunkt für Kafkas Erzählungen. So ruft Beim Bau der Chinesischen Mauer exakt das Setting des Pfirsichblütenquell auf: Es gibt zwar einen Herrscher, dieser ist allerdings so weit entfernt, dass sein Einflussbereich außerhalb der beschriebenen Gemeinschaft bleibt. In Ein altes Blatt ist der Herrscher wohl anwesend, doch zeichnet sich dieser, wie in Utopia – dem daoistischen Konzept wuwei folgend –, durch Untätigkeit aus. Während diese daoistischen Utopien die Abgeschlossenheit, auf der sie wesentlich basieren, nur marginal thematisieren, ist sie in Kafkas Erzählungen noch ins Extrem getrieben und wird in ihrer Übertreibung ad absurdum geführt, wodurch unbeachtete Ambivalenzen sichtbar werden. So steigert Kafka die Größe Chinas als zentrale Figur der Abgrenzung, die bereits bei Corbach äußeres Eindringen ins Kaiserreich verhindert und im Pfirsichblütenquell den despotischen Herrscher im Inneren des Reiches auf Distanz hält, ins Unendliche und lässt sie damit gleichsam implodieren. Auf unerklärliche Weise stehen plötzlich die Nomaden im Zentrum des Reichs. „Es ist als wäre viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres Vaterlandes“ (KKAN I: 358) lautet der Beginn der Erzählung Ein altes Blatt und liest sich wie eine bitter-lakonische Antwort auf das Gebot im Tao Te King Kapitel 80, das nur unter der Prämisse friedlichen Zusammenlebens Gültigkeit besitzt: „Ob auch Wehr und Waffen da wären / sei niemand, der sie entfalte.“ (Laotse 1911: 85) Im blinden Vertrauen auf die Führerschaft, auf eine natürliche Ordnung oder schlicht auf die Größe Chinas hatte sich offenbar niemand um die drohenden Gefahren gekümmert. Damit äußert sich ein gewisses Misstrauen gegen all zu optimistische Vorstellungen harmonischer Koexistenz, wie sie in daoistischen Texten zu wuwei – Handeln durch nicht-Handeln im Vertrauen auf eine natürliche Ordnung – aber auch in den Schriften Kropotkins zu finden sind, der sich, wie erwähnt, mit seinem Artikel zum Lemma ,Anarchism‘ in der Encyclopaedia Britannica explizit in deren Tradition stellt. Ein Missverständnis sei es – so der chinesische Erzähler in Ein altes Blatt –, dass ihm und seinesgleichen die Verteidigung des Landes aufgebürdet wurde. Doch die übersteigerte Größe verunklart auch den stets beschworenen Antagonismus zwischen Eigenem und Fremdem, Chinesen und Nomaden. So muss

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offen bleiben, ob es nicht auch ein Missverständnis ist, dass es Nomaden sind, die plötzlich eingedrungen seien. In einer gestrichenen Passage sprechen schon die Leute der Nachbarprovinz einen völlig anderen Dialekt (KKAN I App.: 298) und wie in Das nächste Dorf erscheint „schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens“ (KKAD 221) für einen Ritt ins Nachbardorf bei weitem nicht hinreichend.15 Niemand kann also zuverlässig Nachbar von Nomade unterscheiden. Auch beeinträchtigt die übersteigerte Größe Chinas in gravierender Weise den Informationsfluss im Reich: „so merkwürdig es klingt“, sagt der Erzähler in Beim Bau der Chinesischen Mauer, „es war kaum möglich etwas zu erfahren [...]. Man hörte zwar viel, konnte aber dem vielen nichts entnehmen.“ (KKAN I: 349f.). Entsprechend unklar sind die herrschenden Verhältnisse: Längst verstorbene Kaiser werden in unseren Dörfern auf den Tron gesetzt und der nur noch im Liede lebt, hat vor Kurzem eine Bekanntmachung erlassen, die der Priester vor dem Altare verliest. Schlachten unserer ältesten Geschichte werden jetzt erst geschlagen und mit glühendem Gesicht fällt der Nachbar mit der Nachricht Dir ins Haus. [. . .] So verfährt also das Volk mit den vergangenen, die Gegenwärtigen aber mischt es unter die Toten. (KKAN I: 352f.)

Damit kopiert und überbietet Kafka jene Situation, die bereits im Pfirsichblütenquell beschrieben wird. Die erwähnte Gruppe, deren Vorfahren sich vor einem despotischen Kaiser an einen versteckten Ort gerettet hatten, oder in den Worten Kafkas: jene „vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten“ (KKAN I: 351) werden eines Tages von einem Fischer entdeckt, der erstaunt feststellt, dass sie weder den aktuellen Regenten, noch die seit ihrem Weggang herrschenden Dynastien kennen (Laotse 1911: 113). Bei aller motivischen Nähe zeigen sich allerdings doch einige wichtige Unterschiede. Während der Wir-Erzähler im Pfirsichblütenquell von außen auf die isolierte Gemeinschaft blickt und deren Verhalten mit jenem seiner eigenen, an der Macht befindlichen Gemeinschaft vergleicht: „Männer und Frauen 15  Bereits Walter Benjamin (1981: 23f.) und Johannes Urzidil (1966: 20f.) haben diese Erzählung mit Kapitel 80 des Daodejing in Verbindung gebracht. In diesem Kapitel des Daodejing sind es vor allem die Werte der Selbstgenügsamkeit und des Nichteinmischens in Angelegenheiten anderer, die auch die Bewohner des utopischen Reichs aus dem Traum des Herrschers in Utopia auszeichnen, und die es wünschenswert erscheinen lassen, dass Nachbarländer, liegen sie auch in Hör- und Sehweite, nicht bereist werden: „Nachbarländer mögen in Sehweite liegen, / daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann: / Und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben, / ohne hin und her gereist zu sein.“ (Laotse 1911: 85)

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– wie unsere Leute heraußen [...]“ (Laotse 1911: 113), ist Kafkas Erzähler gleichsam ein teilnehmender Beobachter und gibt so auch Einblick in die Vorstellungswelt der utopischen Gemeinschaft. Und wenn sich im Pfirsichblütenquell Boten, die nach der Beschreibung des Fischers ausgesandt werden, um die Gemeinschaft wieder unter die Autorität des aktuellen Herrschers zu bringen, verlaufen, wodurch sich auch der Blick des Erzählers vom Geschehen abwendet, verfolgt Kafkas Erzähler aus einer Innensicht das tatsächliche Zusammentreffen von Idylle und Autorität und öffnet damit den geschützten, abgeschlossenen Raum. Doch überraschenderweise erweist sich die Unkenntnis der Dorfbewohner hinsichtlich der herrschenden politischen Verhältnisse in Kafkas Umschrift zunächst als vorteilhaft. Da dieses Informationsdefizit direkt proportional mit der Distanz zum Machtzentrum zunimmt, erscheint es in Kafkas unendlich großem China konsequenter Weise ebenfalls übersteigert und garantiert so die Autonomie der Dorfbevölkerung gegenüber dem aktuellen Kaiser. Die Legitimierung der Autorität des bei Kafka tatsächlich eintreffenden Beamten durch die Referenz auf den gegenwärtigen Kaiser läuft bei der Dorfbevölkerung aufgrund ihres Unwissens ins Leere. Sie zählen ihn zu den Toten und nehmen den Beamten folglich nicht ernst. Allerdings tritt hier auch die Ambivalenz dieses Unwissens zutage, denn die Auslöschung des gegenwärtigen Kaisers garantiert noch nicht jene vergangener Dynastien: je mehr Zeit schon vergangen ist, desto schrecklicher leuchten alle Farben und mit lautem Wehgeschrei erfährt einmal das Dorf, wie eine Kaiserin vor Jahrtausenden in langen Zügen mit vollen Backen ihres Mannes Blut trank. (KKAN I: 353)

Die Drastik, mit der dieses längst vergangene Ereignis seine Wirkung entfaltet, von der verstrichenen Zeit eher verstärkt als verblasst, lässt in Kafkas Schilderung weitere Zweifel an den ausschließlich idyllischen Verhältnissen aufkommen. Zwar scheint der gegenwärtige Kaiser keinerlei Einfluss zu haben, doch schon „hinter der davoneilenden Sänfte des kaiserlichen Beamten steigt irgendein willkürlich aus schon zerfallener Urne Gehobener aufstampfend als Herr des Dorfes auf.“ (KKAN I: 354) Die Unwissenheit scheint die Dorfgemeinschaft in dieser Szene einer völlig arbiträren und unsinnigen Macht auszuliefern. Die Befreiung von äußerer Herrschaft löst noch nicht das Problem des verinnerlichten Autoritätskonflikts, wie ihn etwa Otto Gross in einer Reihe von Artikeln in der Aktion konzeptualisiert hatte,16 oder jenes nicht minder autoritärer Verhältnisse im Gewohnheitsrecht. 16   Zur Überwindung der kulturellen Krise (Gross 1913a); Die Psychoanalyse oder wir Kliniker (Gross 1913b); Die Einwirkung der Allgemeinheit auf das Individuum. (Gross 1913c); Anmerkungen zu

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So erschließt sich erst im Nachhinein die Ambivalenz der folgenden Aussage des chinesischen Erzählers, die ihrerseits jene oben zitierte Schilderung des Dickinson’schen Idylls paraphrasiert, wodurch dieses gleichfalls von der Ambivalenz erfasst wird: Die Folge solcher Meinungen ist nun ein gewissermaßen freies, unbeherrschtes Leben. Keineswegs sittenlos, ich habe solche Sittenreinheit wie in meiner Heimat kaum jemals angetroffen auf meinen Reisen. Aber doch ein Leben, das unter keinem gegenwärtigen Gesetze steht und nur der Weisung und Warnung gehorcht, die aus alten Zeiten zu uns herüberreicht. (KKAN I: 354f.)

Mit dem Wissen um den weiteren Verlauf der Erzählung wird nun der Terror bewusst, den „die aus alten Zeiten zu uns herüberreich[enden]“ „Weisungen und Warnungen“ anrichten können und die „Gesetze [...] der Gewohnheit“ wie die „Herrschaft [...] [des] eigenen Herzens“ (Dickinson 1912: Sp. 1292) bei Dickinson nehmen sich nun ebenfalls weniger harmlos aus, als sie vor der Lektüre von Beim Bau der chinesischen Mauer erschienen sein mögen. Bezogen auf die daoistischen Texte selbst liest sich diese Skepsis vor dem Althergebrachten wie eine Warnung vor der Autorität, die diesen Texten aufgrund ihres Alters zugesprochen wird. Kropotkin macht sie sich zu nutze, wenn er Liezi zum geistigen Vorläufer des Anarchismus macht, und Buber stellt sie in den Dienst seines zionistischen Projekts von Gemeinschaftsbildung, wenn er seine Vorstellungen eines geeinten Volkes mit daoistischen Einheitsvorstellungen engführt. Über Bubers Chinesische Geister- und Liebesgeschichten, die Kafka im Januar 1913 nur aus einer ausführlichen Rezension bekannt waren, äußert er sich in einem Brief an Felice Bauer zunächst noch positiv. Nachdem diese in ihrer Antwort aber offenbar die Rolle Bubers an diesen Übersetzungen besonders hervorgehoben hatte, zeigt er sich skeptisch: „Auch schreibst Du ‚seine‘ Art, es sind doch wohl Übersetzungen? Oder sollten es so eingreifende Bearbeitungen sein, welche mir seine Legendenbücher unerträglich machen.“ (KKABr2: 51) Während Buber und Kropotkin die Autorität der alten Texte für ihre eigenen Projekte instrumentalisieren, destruieren Kafkas Erzählungen diese Autorität, indem sie solche Texte als „allzusehr europäisierende Übersetzung[en]“ ausstellen, ohne darüber ihr kritisches Potential zu verwerfen.

einer neuen Ethik (Gross 1913d); Notiz über Beziehungen (Gross 1913e); Zur Orientierung der Geistigen (Gross 1923).

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Literatur Benjamin, Walter (1981): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Buber, Martin (1910): Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse. Leipzig: Insel. Buber, Martin (1916): Chinesische Geister- und Liebesgeschichten. Frankfurt/Main: Rütten & Loening. Buber, Martin (21993): Der Geist des Orients und das Judentum. – In: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Gerlingen: Lambert und Schneider. Corbach, Otto (1911a): ‚Kulturpolitik‘ in China. – In: Die Aktion 2, Sp. 37-38. Corbach, Otto (1911b): China. – In: Die Aktion 35, Sp. 1092-1095. [Dickinson, Goldsworthy Lowes] (1901): Letters from John Chinaman. London: R. Brimley Johnson. Dickinson, Goldsworthy Lowes (1903): Letters from a Chinese official, being an Eastern view of Western civilization. New York: McClure, Phillips & Co. Dickinson, Goldsworthy Lowes (1912): Aus Briefen eines Chinesen. – In: Die Aktion 41, Sp. 1287-1293. Dickinson, Goldsworthy Lowes (1917): Aus Briefen eines Chinesen. – In: Das Aktionsbuch. Hrsg. von Franz Pfemfert, Berlin-Wilmersdorf: Die Aktion, 77-84. Dittmar, Julius (1912): Im neuen China. Ein Reisebericht. Cöln: Hermann & Friedrich Schaffstein. Döblin, Alfred (1916): Die drei Sprünge des Wang-lun. Ein chinesischer Roman. Berlin: S. Fischer. Eber, Irene (1994): Martin Buber and Taoism. – In: Monumenta Serica 42, 445-464. Gross, Otto (1913a): Zur Überwindung der kulturellen Krise. – In: Die Aktion 14, Sp. 384-387. Gross, Otto (1913b): Die Psychoanalyse oder wir Kliniker. – In: Die Aktion 26, Sp. 632-634. Gross, Otto (1913c): Die Einwirkung der Allgemeinheit auf das Individuum. – In: Die Aktion 47, Sp. 1091-1095. Gross, Otto (1913d): Anmerkungen zu einer neuen Ethik. – In: Die Aktion 49, Sp. 1141-1143. Gross, Otto (1913e): Notiz über Beziehungen. – In: Die Aktion 51, Sp. 1180-1181. Gross, Otto (1923): Zur Orientierung der Geistigen. – In: Die Aktion 13, Sp. 345-346. Hesse, Hermann (1920): Klingsors letzter Sommer. Erzählungen. Berlin: S. Fischer. Hung-Ming, Ku (1911): China und die Europäer. – In: Die Aktion 39, Sp. 1219-1223. Kraus, Karl (1910): Die chinesische Mauer. München: Albert Langen.

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Kropotkin, Petr (111910): Anarchism. – In: Encyclopaedia Britannica. Bd. 1. New York, 914-919. Laotse (1911): Tao Te King. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm. Jena: Diederichs. Liä Dsi (1911): Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm. Jena: Diederichs. Liä Dsi (1913): Utopia. – In: Die Aktion 50, Sp. 1163-1164. Müller, Gotelind (2001): China, Kropotkin und der Anarchismus. Eine Kulturbewegung im China des frühen 20. Jahrhunderts unter dem Einfluß des Westens und japanischer Vorbilder. Wiesbaden: Harrassowitz. N. N. (1912a): Chinesische Geister- und Liebesgeschichten. – In: Die Aktion 18, Sp. 566. N. N. (1912b): Die chinesische Revolution. – In: Die Aktion 42, Sp. 1319-1321. Pfemfert, Franz (1911): Freunde der Aktion! – In: Die Aktion 38, Sp. 1191. Rapp, John A. (2012): Daoism and Anarchism. Critiques of State Autonomy in Ancient and Modern China. London: Continuum. Urzidil, Johannes (1966): Da geht Kafka. München: dtv.

Achim Küpper

Der Zirkus als interkulturelles und poetologisches Modell bei Kafka. Von akrobatischen Schreibübungen, einer Artistik in der Schwebe und sechs Variationen über die ‚Erziehung‘ 1. Der Zirkus als poetologisches und als interkulturelles Modell Seit seiner historischen Blütezeit um 1900 stiftet der Zirkus eine Vielzahl kunstund kulturreflexiver Bezüge. Als performative, weitestgehend notations- und bedeutungsfreie Körperkunst avanciert er einerseits zu einem Referenztypus modernistischer Poetiken, die das Moment innovativer Riskanz betonen und high auf low art, Ästhetik auf Artistik zurückführen. In seiner Betrachtung über Schöne Sprache von 1921 vergleicht Hugo von Hofmannsthal den Schriftsteller mit einem Akrobaten. „Wie ein Seiltänzer“, meint Hofmannsthal, „geht er vor unseren Augen auf einem dünnen Seil, das von Kirchturm zu Kirchturm gespannt ist“: „So wie dieser wandelt, genauso läuft die Feder des guten Schriftstellers.“ (Hofmannsthal 1979: 149) In seinem Beitrag Akrobat – schöön von 1932 sieht Siegfried Kracauer „die Bestimmung“ jeder „echte[n] Clownerie“ darin, „die herkömmlichen Weltverhältnisse umzukehren“; „die gewohnte Ordnung wird bagatellisiert und die scheinbare Bagatelle in die Mitte gerückt.“ (Kracauer 1990: 128) In ihrer erstmals 1944 erschienenen Dialektik der Aufklärung bemerken Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im Abschnitt zur Kulturindustrie: „Die Spur des Besseren bewahrt Kulturindustrie in den Zügen, die sie dem Zirkus annähern, in der eigensinnig-sinnverlassenen Könnerschaft von Reitern, Akrobaten und Clowns.“ (Horkheimer/Adorno 2013: 151)1 Andererseits kann der Zirkus aber auch in mehrfacher Hinsicht als ein interkulturelles Modell verstanden werden. Er versammelt Künstler unterschiedlichster soziokultureller und ethnisch-nationaler Herkünfte, beliefert das Publikum mit Sensationen und Kuriositäten einer Welt des Staunens 1 Vgl. ausführlicher zum Zusammenhang von zirzensischer Artistik und literarischer Ästhetik Wegmann (2010).

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und des Unbekannten und bildet zugleich einen ganzen Zoo auf Rädern, der die Begegnung mit fremden Tieren ermöglicht und sich als liminale oder mit Derrida (2006) als limitrophe, grenzwüchsige Zwischenzone bezeichnen lässt, in der sich verschiedene Blickordnungen überkreuzen und überblenden. Neben der Vorführung des auch menschlich Fremd- und Andersartigen sowie der konstitutiven Mischung von Kunstgenres und formaten stellt der Zirkus selbst wiederum eine mobile Zeltstadt dar, die unentwegt von Ort zu Ort zieht (Daniel 2016). Über den Zirkus als wandernde Geburtsstätte amerikanischer Populärkultur ab dem Ende des 19. Jahrhunderts schreibt Noel Daniel: „Long before the Beat poets made ‚on the road‘ a generation’s rallying cry, circus performers personified the romance of the open road and the grit of individualism.“ (Daniel 2016: 13)

2. Zum Zirkus bei Franz Kafka Mit Blick auf das Werk Franz Kafkas wurde der Komplex des Zirkus bereits verschiedentlich untersucht (u.a. Bauer-Wabnegg 1986; Kirschnick 2012), soweit ersichtlich allerdings bislang noch nicht in interkultureller Perspektive. Mit dem Projekt der Interkulturalität (Heimböckel/Weinberg 2014) verbindet den Zirkus insbesondere das Moment dynamischer Zirkulation, das im Folgenden als ein genuin interkulturelles Teilmoment verstanden wird und das in Opposition zu einer Ordnung des Statischen tritt. Ob und inwieweit sich Kafkas Schaffen im interkulturellen Kontext beschreiben lässt, wird zu einem wesentlichen Teil davon abhängen, ob man Interkulturalität auf die Funktion einer bloßen Vermittlung zwischen Kulturen beschränkt oder ob man sie weiter definiert und auch die blinden Flecken in die interkulturelle Prozessualität miteinbezieht, die zwischen den verschiedenen Positionen aufgerieben werden, sich selbst aber der Vermittlung entziehen, also gerade die neuralgischen Punkte des Nichtverstehens, des Nichtvermittelten sowie des Nichtabgeschlossenen.

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2.1 Artistische Schreibakrobatik in der Schwebe Bei Kafka scheint das Modell des Zirkus an vielen Stellen auf. Die fahrenden Völker der Manege bewohnen seine Träume wie seine schriftstellerische Imagination, seine quasiautobiografischen und literarischen Notizen. Seit seinen frühesten Tagebucheinträgen beschreibt und zeichnet Kafka Artisten, Tänzer, Gaukler, Akrobaten und Equilibristen im Variété (KKAT, bes. 10ff.; Neumann 2009: 172-180). Dabei verwandelt sich das artistische Modell zirzensischer Akrobatik unter der Hand allerdings zugleich zu einer selbst- und schreibreflexiven, poetologischen Figur. In einem frühen Tagebucheintrag vor dem 18./19. Mai 1910 bemerkt Kafka über seine „Unfähigkeit zu schreiben“: Diese glaube ich zu verstehn, ohne ihren Grund zu kennen. Alle Dinge nämlich die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt. Das können wohl einzelne z.B. japanische Gaukler, die auf einer Leiter klettern, die nicht auf dem Boden aufliegt, sondern auf den emporgehaltenen Sohlen eines halb Liegenden und die nicht an der Wand lehnt sondern nur in die Luft hinaufgeht. Ich kann es nicht, abgesehen davon daß meiner Leiter nicht einmal jene Sohlen zu Verfügung stehn. (KKAT 14)

Die Beschreibung geht schließlich in eine Skizze solcher Gaukler mit Zuschauenden über, die Kafka anstelle eines Texts dort in sein Tagebuch zeichnet, wo die Schrift ins Stocken gerät:

Abb. 1. Kafka: Gaukler mit Zuschauenden (KKAT 15).

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Bei Kafka wird die Zirkusakrobatik so zum Referenzmodell eines buchstäblich unverwurzelten, grund- und bodenlosen Schreibens in der Schwebe, das die körperliche Dimension artistischer Schreibakrobatiken betont und dabei keinen sicheren Halt, keine feste Verankerung findet, sondern in einem leeren Zwischenraum jenseits semantischer und anderer Zugehörigkeiten balanciert.

2.2 Erstes Leid Kafkas späte, 1922 entstandene Erzählung Erstes Leid2 handelt von einem „Trapezkünstler“ (KKAD 317), der sein ganzes asketisches Leben auf einem Zirkustrapez fristet, bis er schließlich auf die Idee kommt, ein zweites zu benutzen. Wie beim Tänzer aus Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater (Erstdr. 1810) scheint erst dieses reflexive Bewusstsein beim Trapezkünstler ein Erstes Leid zu verursachen, das nicht nur alle natürliche Grazie gefährdet, sondern womöglich sogar „existenzbedrohend“ ist (KKAD 321). Stören konnten die Ruhe des Artisten sonst allein die mit dem Zirkusleben verbundenen „Reisen“: Die „unvermeidlichen Reisen von Ort zu Ort“ (KKAD 318), heißt es im Text, „die Reisen waren, von allem anderen abgesehen, für die Nerven des Trapezkünstlers jedenfalls zerstörend.“ (KKAD 319) Der Akrobat, der „Tag und Nacht auf dem Trapeze“ bleibt (KKAD 317), wird zum Typus einer paradoxerweise auf Statik fokussierten Zirkusexistenz und gerade zu einem Gegenbild dynamischer Zirkulation, die durch den Begriff des Verkehrs im Text allein ex negativo bezeichnet wird: „Freilich“, heißt es, „sein menschlicher Verkehr war eingeschränkt“ (KKAD 318).

2.3 Kafka und der Verkehr Die Kategorie des Verkehrs bildet eine Komplementärstruktur der Zirkusdynamik. An den mechanisierten Schaltstellen der ökonomischen Zirkulation wie des städtischen Verkehrs bewegt sich nicht nur der emotional gepanzerte Typus der kalten persona, wie ihn Helmut Lethen für die Zwischenkriegszeit der 1920er Jahre beschreibt (Lethen 1994). Der Verkehr, der nach Horkheimer und Adorno (2013: 233) seinerseits gesellschaftliche „Isolierung“ bewirkt, stellt eine ebenso zentrale Kategorie im Werk Franz Kafkas dar. Ihr Spektrum 2 Der Text ist vermutlich zwischen Februar und April 1922 verfasst worden und erstmals Anfang 1923 im Druck erschienen (KKAD App. 408f.).

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reicht von der zwischenmenschlichen (nicht nur sexuellen) Interaktion über den Briefverkehr, den Schriftverkehr (Kittler/Neumann 1990) oder auch den Verkehr mit Gespenstern (Murnane 2008) bis hin zur urbanen verkehrstechnischen Zirkulation. Auch dieser Kategorie ist zunächst ein gewaltsames statisches Gegenmodell miteingeschrieben, nämlich das des Unfalls, der den Verkehr zum Stocken oder Erliegen bringt und vielfach akzidentelle Störfälle der Kommunikation wie der literarischen Vermittlung bewirkt, so etwa in Kafkas früher, am 11. September 1911 im Pariser Reisetagebuch festgehaltenen Autounfallgeschichte (KKAT 1012-1017).3 Dort verdichten sich Stockungen, Interruptionen und Blockaden verkehrstechnischer, sozialstratifikatorischer, kommunikationeller wie skripturaler Art. Andernorts rauscht der Verkehr am Ich vorbei und über das Ich hinweg, so am Schluss der 1912 entstandenen Erzählung Das Urteil. Hier geht ja gerade in dem „Augenblick“, in dem Georg in den Tod stürzt, „über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ (KKAD 61) Interkulturell gewendet, kann die Kafkasche Funktion des Verkehrs am ehesten mit Bernhard Waldenfels’ Begriff vom „Grenzverkehr“ verbunden werden, „der auf der Schwelle von Eigenem und Fremdem und auch auf der Schwelle von Natur und Kultur verweilt, der Grenzen verschiebt, sie aber nicht aufhebt“ (Waldenfels 1997: 140). Waldenfels betont dabei gerade auch die Fremdheit des Eigenen und denkt die Relation zwischen beidem als „ein Netzwerk, ein ‚Ineinander‘, in dem Eigenes und Fremdes sich verflechten, in dem es Knotenpunkte und Querverbindungen gibt, aber keine Zentren.“ (Waldenfels 1997: 140)

2.4 Ein Hungerkünstler Asketisch wie der Trapezkünstler aus Erstes Leid lebt auch der Protagonist der ebenfalls 1922 entstandenen Erzählung Ein Hungerkünstler,4 die zunächst vom schwindenden „Interesse an Hungerkünstlern“ insgesamt (KKAD 333), dann vom Elend eines einzelnen, wenn auch nicht näher bestimmten handelt, der dem so genannten „Schauhungern“ (KKAD 343) verpflichtet ist. Schon durch den Titel als Künstler ausgewiesen, steigt er vom „Amphitheater“ 3 Daiber (2015: 36) zufolge „bildet das Erzählfragment eine der ersten literarisierten Darstellungen eines Autounfalls“. 4 Der Text entstand wahrscheinlich um den 23. Mai 1922 und ist im selben Jahr erschienen (KKAD App. 437).

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(KKAD 338), das sonderbar in die Tiefe des antiken Ursprungs zurückweist, schließlich in die Welt des modernen „Zirkus“ ab (KKAD 343). Deutlicher als anderswo erscheint dieser hier als ein Zirkulationsmodell, das Dynamiken aller Art freisetzt und befördert: „Ein großer Zirkus mit seiner Unzahl von einander immer wieder ausgleichenden und ergänzenden Menschen und Tieren und Apparaten kann jeden und zu jeder Zeit gebrauchen, auch einen Hungerkünstler.“ (KKAD 343) Schon vor dessen Abstieg scheint das dynamische Modell der Reise auf, erzählte er einigen seiner Wächter „Geschichten aus seinem Wanderleben“ (KKAD 336) und „jagte der Impresario“ zuletzt noch einmal „mit ihm durch halb Europa“ (KKAD 342), wenn auch „vergeblich“ (KKAD 343). Mit dem Modell dynamischer Zirkulation kontrastiert allerdings auch hier das statische Gefangenenleben des Künstlers selbst, der Tag und Nacht in einem „kleinen Gitterkäfig“ (KKAD 334) eingesperrt bleibt und nur hin und wieder, wie es im Text lautet, „zum Schrecken aller wie ein Tier an dem Gitter zu rütteln begann.“ (KKAD 341) Dadurch ermöglicht der Zirkus nicht bloß Kontakte und Zirkulationen zwischen „Menschen und Tieren und Apparaten“ (KKAD 343). Im Verweis auf die statische Gefangenschaft wird die Künstlerexistenz an sich in einem „Prozess der Tierwerdung“ (Jahraus/Jagow 2008: 539) zur animalischen Existenz überblendet und schließlich von dieser abgelöst, wird der vom Publikum unbeachtete Hungerkünstler nach seinem Tod doch durch „einen jungen Panther“ ersetzt, der „die Zuschauer“ massenweise anzieht (KKAD 349).

2.5 Auf der Galerie Die Spannung zwischen Statik und Dynamik ist auch für eine andere Zirkuserzählung Kafkas konstitutiv, nämlich für das wohl um die Jahreswende 1916/17 entstandene Prosastück Auf der Galerie,5 das lediglich aus zwei längeren Sätzen besteht, deren erster eine periodisch aufgebaute Wenn-DannMöglichkeit einführt, die der zweite wieder negiert.6 Dynamisch ist zunächst 5 Der Text wurde vermutlich in einem nicht überlieferten Oktavheft niedergeschrieben und ist erstmals 1919 im Landarzt-Band erschienen (KKAD App. 322). 6 Shahar (2003: 529) sieht in der Struktur dieses Texts an sich „einen gauklerischen Bau“: „Zwischen den beiden Teilen der Erzählung wird ein seltenes Gleichgewicht bewahrt: eine vollkommene Symmetrie zwischen zwei gegensätzlichen Sprachzuständen. Der erste Teil der Erzählung, der sogenannte irreale, ist auf einem Wort – „wenn“ – aufgebaut, das den Konjunktiv des ganzen Satzes ermöglicht. […] In solchem sprachlichen Strom findet man

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das im Text geschilderte, sich wild drehende Zirkustreiben „in der Manege“ (KKAD 262). Statisch ist dagegen die titelgebende Position, die der junge „Galeriebesucher“ (KKAD 262, 263) einnimmt, der dieses Treiben von seinem Platz auf der Galerie aus beobachtet. Auffällig sind die vielen Kreismotive. Hierzu gehört die Vorstellung aus dem ersten Satz, dass die Kunstreiterin „monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde“ sowie dass „dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte“ (KKAD 262), das im permanent „vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände“ (KKAD 262) eine ebenso zirkuläre Dynamik beschreibt wie die Kreisbewegung der „Ventilatoren“. Indem der zweite Satz als Negation symmetrisch auf den ersten Satz gespiegelt bleibt, ist auch der Text selbst auf sprachperformativer Ebene von einer zirkulären Dynamik geprägt. Bekanntlich lässt Kafkas Auf der Galerie neben intertextuellen Reminiszenzen unter anderem an Frank Wedekinds Zirkusgedanken von 1878 auch intermediale Parallelen zu zeitgenössischen Zirkusgemälden wie Henri de Toulouse-Lautrecs Au cirque Fernando. L’écuyère (1887-88) oder Georges Seurats Le Cirque (1890-91) erkennen (Wolf 2014):

Abb. 2. Toulouse-Lautrec: Au cirque Fernando. L’écuyère (1887–88).

also einen gauklerischen Bau: Prosa, die auf einem Wort errichtet wird und eine Welt ohne festen Punkt hält.“

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Abb. 3. Seurat: Le Cirque (1891).

Dem ließe sich eventuell ein medienhistorischer Verweis auf die Fotosequenzen von Eadweard Muybridge in Kooperation mit Leland Stanford aus den 1870ern hinzufügen, welche die Bewegung eines Pferds anhand einzelner Phasenbilder analysierten, die im Zoopraxiscope später wieder aneinandergereiht und in kreisende Zirkulation gebracht wurden (Schnelle-Schneyder 2003: 333f.). Neben optischen Bilderreminiszenzen zirkulieren in Kafkas Text jedoch auch klangliche Phänomene, die im Echoraum der Sprache iterativ widerhallen. Analog zum ausgeprägt akustischen Charakter der beschriebenen Kulisse entwickelt auch das sprachliche Gefüge selbst einen weniger semantischen als phonologischen Assoziations- und Resonanzraum, in dem die Klangkörper einzelner Buchstaben zirkulativ wiederkehren, darunter insbesondere

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Abb. 4. Muybridge: The Horse in Motion (1878).

der typisch Kafkasche Initiallaut K:7 „Kunstreiterin“, „im Kreise“, „Küsse“, „knallend“ (KKAD 262), „ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann“, „die Kleine“, „küßt“, „keine“, „Köpfchen“ (KKAD 263). Überhaupt stellt die Alliteration ein ausgeprägtes klangsprachliches Verfahren dieses Texts dar, das sich zum Ende hin verstärkt verdichtet: „schweigen; schließlich“, „beide Backen“, „küßt und keine“, „sie selbst“, „mit ausgebreiteten Armen“, „ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.“ (KKAD 263) Auch hier wird der Text zu einer limitrophen Übergangszone zwischen Mensch und Tier. Erscheint die „Kunstreiterin“ im ersten Satz unter dem „peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef“ ebenso gepeinigt wie das „Pferd“ (KKAD 262), verschiebt sich die Überblendung der Arten im zweiten Satz von der Künstlerin auf den „Direktor“, der „in Tierhaltung ihr entgegenatmet“ (KKAD 262). Die im ersten Satz evozierten „Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind“ (KKAD 262), begründen eine zusätzliche Transition zwischen Menschen und Maschinen und verorten die Zirkuswelt genau in dem Kontext, in dem sie ihre historische Konjunktur erlebte, nämlich in der 7 Hiermit sei der stilistischen Analyse von Spahr (1960) und der satzsyntaktischen von Margetts (1970) im Ansatz eine weitere sprachliche, nämlich phonologische Untersuchung von Kafkas Text an die Seite gestellt.

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urbanen Industrialisierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wie der „Chef“ und die technischen Apparaturen der „Ventilatoren“ erinnern auch die „Dampfhämmer“ an die industrialisierte Arbeitswelt,8 die sich mit der Zirkuswelt verschränkt.

2.6 Franz Kafka und Charlie Chaplin Kaum ein Künstler veranschaulicht diese Verschränkung nach Kafka deutlicher als Charlie Chaplin. In zirzensisch-pantomimischer Performanz umspielt Modern Times von 1936 die maschinellen Deformationen des neuen Arbeitnehmers:

Abb. 5. Chaplin: Modern Times (1936).

Chaplins früher Film The Circus von 1928 lässt sich nicht nur analog zu Kafkas Auf der Galerie mit einem Gemälde wie Seurats Cirque (1891) verbinden:

8 Vgl. dazu u. a. Boa (1991: 495): „This circus belongs in an industrial age of steam-hammers and electric fans […] and it attracts a big audience liable to be found in cities rather a country fairground.“

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Abb. 6. Chaplin: The Circus (1928).

Abb. 7. Chaplin: The Circus (1928).

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Ähnlich wie bei Kafka wird der Zirkus auch bei Chaplin zum artistischen Modell einer bedeutungsverweigernden Körperkunst, die in der semantischen Schwebe zwischen den Schaltstellen des Verkehrs wie der gesellschaftlichen Zirkulationen balanciert. Chaplin, der nach Kracauer „aus allen üblichen Beziehungen zu den Dingen und Menschen heraustritt“ (Kracauer 1990: 128), entzieht sich der statischen Festlegung dabei zugleich in der Lebensrolle des vagabundierenden ‚Tramp‘.

2.7 Im Zwischenraum der Medien – Interkulturalität als Zone des Entzugs In der intermedialen Konfrontation mit der französischen Malerei sowie dem US-amerikanischen Film gewinnt die interkulturelle Zirkulation eine weitere Dimension, deren mediale Differenzen und Blockaden allerdings ebenso zu beschreiben wären wie die Störfälle des technischen und zwischenmenschlichen Verkehrs als einer interkulturellen Teilfunktion. Blinde Stellen im Zwischenraum der Medien ergeben sich schon aus der rezeptionstechnischen Dynamik der Kinematografie und der Statik des schriftlich fixierten Worts. Nicht selten wird diese gerade durch Kafkas Verweigerung des abschließenden Drucks zugleich aber wieder aufgebrochen. Die interkulturelle Zone bezeichnet bei Kafka weniger einen Ort der Vermittlung als einen Raum des Entzugs, der nicht nur wie der Hungerkünstler die Nahrung, sondern auch die gesellschaftliche Zuordnung und semantische Festlegung verweigert und mit schreibakrobatischen Übungen in einem schwebenden Vakuum zwischen den Positionen balanciert.

3. Postskript: Sechs Variationen über die „Erziehung“ Im Begriff der ‚schreibakrobatischen Übungen‘ deutet sich zugleich eine Perspektive an, auf die in einer abschließenden Nachüberlegung als einem betontermaßen provisorischen Postskript wenigstens noch andeutungsweise einzugehen ist: auf den Zusammenhang zwischen der ‚schreibakrobatischen‘ Praxis als körperbasierter Unternehmung und den ‚Übungen‘ als Manifestationen wiederholter, d.h. im Wortsinn repetierter (auto-)didaktischer Lernversuche. Dabei erscheint im Folgenden gerade das schreibakrobatisch umspielte

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Moment der Erziehung als Einbruch reflexiver Künstlichkeit in die Unbefangenheit oder Unbewusstheit natürlicher Grazie, die ihrerseits allerdings allein als ambivalent vorausgesetzt wird und zwischen dem Namen des Selbst und dem Namen des Vaters eingespannt bleibt (siehe dazu weiter unten). Nur wenige Zeilen nach dem oben zitierten Tagebucheintrag Kafkas über seine „Unfähigkeit zu schreiben“ (KKAT 14) samt der Skizze von Gauklern mit Zuschauenden (KKAT 15) setzt der Autor in seinen frühesten Tagebüchern, d.h. gleichfalls im ersten Heft, zu einer Serie von insgesamt sechs Variationen über das Thema Erziehung an, die nicht nur chronologisch, sondern auch gedanklich und motivisch an den Komplex zirzensischer Körperakrobatik, artistischen Balancierens und gymnastischer Übung anschließen. Die Serie, die bislang offenbar noch nicht eingehender behandelt wurde, entwickelt mit ihren Prinzipien der Repetition und der Variation auf einer (auto-) performativen Ebene dabei zugleich selbst wiederum eine Vorstellung von Übung, die auf dem Konzept ständiger Neuansätze im Sinne (auto-)didaktischer Versuche aufbaut und die so das serielle Schreiben an sich zu einer repetitiven und variativen Schreibübung werden lässt. Auf diese Weise führt die Serie den konstanten thematischen Kern ihrer variativen Umspielungen (die Erziehung) gleichzeitig auch reflexiv in der konkreten performativen Praxis vor: nämlich als eine in der Schreibtätigkeit selbst umgesetzte Versuchsreihe über das grundlegende erzieherische Konzept der Repetition im konstitutiven Doppelsinn von Wiederholung und von Übung, das aber gerade von den Momenten der Variation durchsetzt und durchbrochen wird. Die Serie gleicht in bestimmter Hinsicht einer Reihe von musikalischen Etüden (gewissermaßen als Studien zu einem schreibtechnischen Problem) oder auch von Variationen über ein bestimmtes Grundthema (die Erziehung). Die erste Etüde oder Variation dieses Themas in Kafkas Tagebüchern findet sich in einem Eintrag, der auf „Sonntag, den 19. Juni 10“ (KKAT 17) folgt und der den dortigen Kommentar zu einem sich kreisläufig wiederholenden Leben – „geschlafen aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben“ (KKAT 17) – zugleich in unbestimmter Weise thematisch wiederaufnimmt. In diesem Tagebucheintrag notiert Kafka: [1] Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. Ich bin ja nicht irgendwo abseits, vielleicht in einer Ruine in den Bergen erzogen worden, dagegen könnte ich ja kein Wort des Vorwurfes herausbringen. Auf die Gefahr hin, daß die ganze Reihe meiner vergangenen Lehrer dies nicht begreifen kann, gerne und am liebsten wäre ich jener kleine Ruinenbewohner gewesen, abgebrannt von der Sonne, die da zwischen den Trümmern von allen Seiten auf den lauen Epheu mir geschienen hätte, wenn ich auch im Anfang schwach gewesen wäre unter dem Druck

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meiner guten Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir emporgewachsen wären. (KKAT 17)

Analog zu der hierin erwähnten „Reihe“ der „vergangenen Lehrer“ bildet dieser Eintrag den Anfang einer Reihe von aufeinander folgenden Schreibansätzen über die Erziehung, die immer wieder von vorn beginnen, um das Grundthema, das sie allesamt umkreisen, teils zu repetieren, teils zu variieren. Das lässt sich exemplarisch am ersten Satz des Eintrags demonstrieren, der im nächsten Ansatz in vollkommen identischer Form wiederholt wird, um in den nächsten Ansätzen dann schließlich immer weiter variiert zu werden: [2] Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. (KKAT 18) [3] Oft überlege ich es und immer muß ich dann sagen, daß mir meine Erziehung in manchem sehr geschadet hat. (KKAT 18) [4] Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren Lauf ohne mich einzumischen und immer, wie ich es auch wende, komme ich zu dem Schluß, daß mir in manchem meine Erziehung schrecklich geschadet hat. (KKAT 20) [5] Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren Lauf, ohne mich einzumischen, aber immer komme ich zu dem Schluß, daß mich meine Erziehung mehr verdorben hat als ich es verstehen kann. (KKAT 23) [6] Ich überlege es oft und lasse den Gedanken ihren Lauf ohne mich einzumischen, aber immer komme ich zu dem gleichen Schluß, daß die Erziehung mich mehr verdorben hat, als alle Leute, die ich kenne und mehr als ich begreife. (KKAT 27)

Variierend ist nicht nur der räumliche Abstand zwischen den einzelnen Schreibansätzen, der deshalb immer größer wird, weil die Ansätze selbst bis auf den letzten immer umfangreicher und immer stärker narrativ ausgebaut werden, sodass diese Variationen über die Erziehung tendenziell zu kleinen, wenn auch weniger handlungsreichen als vielmehr reflexiven oder kontemplativen Geschichten in den Tagebüchern anwachsen und der Übergang von der Tagebuchnotiz zur assoziativen Erzählung an ihnen exemplarisch verfolgt werden kann. Variierend ist darüber hinaus auch das Repertoire der Bilder und Motive, die hier einerseits ständig wiederholt werden, andererseits aber bestimmten Veränderungen und Verwandlungen unterzogen sind. So ist etwa „jener kleine Ruinenbewohner“ aus der ersten Variation bzw. dem ersten Ansatz (KKAT 17) im zweiten Ansatz gänzlich verschwunden, jedoch nur, um im dritten Ansatz schließlich in leicht veränderter Gestalt wiederzukehren:

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Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen, auskühlend unter dem Mond, abgebrannt von der Sonne, die zwischen den Trümmern hindurch auf mein Epheulager von allen Seiten mir geschienen hätte, wenn ich auch am Anfang ein wenig schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften die mit der Macht des Unkrauts in mir hätten wachsen müssen. (KKAT 19f.)

Bemerkenswert ist daran nicht allein die bereits im ersten Ansatz angelegte und nun im dritten weiter ausgeführte Verkehrung traditioneller, auf vegetativen Metaphern und Vorstellungsdimensionen beruhender Konzeptionen von Erziehung als quasibotanischer Kultivierung im Zusammenhang von Wachstum, Heranwachen, Aufwachsen usw., hier neben der Verschiebung auf das „Epheulager“ insbesondere in ihrer Umdeutung zu den gerade nicht anerzogenen „guten Eigenschaften die mit der Macht des Unkrauts in mir hätten wachsen müssen.“ Bemerkenswert ist außerdem die zentrale, erst im dritten Ansatz auftauchende Evokation von „Dohlen“: „Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen“. Die Dohle (tschechisch kavka) steht nicht nur in diesem Textstück als ambivalent aufgeladener krypto-ikonografischer Platzhalter für den Autor selbst sowie seine Abstammung ein: Ähnlich wie in der Erzählung Ein altes Blatt (vgl. Küpper 2017) verbalisiert das „Geschrei der Dohlen“ auch im vorliegenden Tagebucheintrag Kafkas eine Sprache, die zwischen personaler und familialer Ich-Persona (dem Selbst und dem Namen des Vaters) eingespannt bleibt und die zugleich als nicht- bzw. vorsemantische, animalische Artikulation einen Zustand abseits jeder institutionellen Erziehung oder Kultivierung im Sinne vegetativer Pflanzung oder Ähnlichem bezeichnet. Nur wenig später im Strom der Tagebuchnotizen kommt ein weiteres Element hinzu, das nun nachdrücklich den Bogen zurückschlägt zum zugrundeliegenden Komplex zirzensischer Körperakrobatik und artistischer (Schreib-) Gymnastik. Im fünften Ansatz über die Erziehung schreibt der Tagebuchautor von seiner „innern Unvollkommenheit“ (KKAT 23): Diese Unvollkommenheit ist nicht angeboren und darum desto schmerzlicher zu tragen. Denn wie jeder habe ich auch von Geburt aus meinen Schwerpunkt in mir, den auch die närrischeste Erziehung nicht verrücken konnte. Diesen guten Schwerpunkt habe ich noch aber gewissermaßen nicht mehr den zugehörigen Körper. (KKAT 23f.)

Das Bild vom inneren „Schwerpunkt“ aus Kafkas Tagebuch greift in intertextueller Manier noch einmal Elemente aus einem Text auf, der oben bereits in den referenziellen Fokus rückte und der im Zusammenhang der behandelten Thematik in der Tat von zentraler, auch literarhistorischer Bedeutung ist: Die Rede ist von Heinrich von Kleists erstmals Ende 1810 erschienenem Aufsatz Über das Marionettentheater. Dieser handelt bekanntlich davon, „welche Unord-

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nungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.“ (Kleist 2001: 343) Dabei kommt die Idee von einem inneren „Schwerpunkt“ bzw. vom „Schwerpunkt der Bewegung“ insbesondere dort zum Tragen, wo sich die natürliche Grazie einerseits beim Tänzer (durch dessen Bewusstsein) in die Ziererei verliert, andererseits bei der mechanischen Gliederpuppe (gerade durch deren fehlendes Bewusstsein) in ihrem exakten, innersten Zentrum befindet: Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechthin, vermittelst des Drahtes oder Fadens, keinen andern Punkt in seiner Gewalt hat, als diesen: so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen, tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem größesten Teil unsrer Tänzer sucht. (Kleist 2001: 341f.)

Unter vielfachen intertextuellen Verkehrungen und Verdrehungen, gleichsam schreibakrobatischen Verrenkungen, werden die Gedankenfiguren aus Kleists Texts bei Kafka teilweise zitativ aufgenommen und teilweise umgewendet, also ihrerseits intertextuell teils repetiert, teils variiert. So ist es in Kafkas Tagebuchnotizen nicht wie bei Kleist „die Seele (vis motrix)“, die den inneren „Schwerpunkt der Bewegung“ verlässt, vielmehr konnte den „guten Schwerpunkt“, wie es bei Kafka heißt, „auch die närrischeste Erziehung nicht verrücken“, dafür hat das Tagebuch-Ich „aber gewissermaßen nicht mehr den zugehörigen Körper.“ (KKAT 24) Dieser fremde, fremdgewordene oder entfremdete Körper ist aber zugleich der Ort des Schreibens als körperakrobatischer Übung, artistischer Balance und gymnastischer Praxis. In der sechsten und letzten Variation über die „Erziehung“ wird der Körper des schreibenden Ichs als Produkt gymnastischer Erziehungsversuche benannt: Außen schaue ich wie jeder andere aus; habe Beine Rumpf und Kopf, Hosen, Rock und Hut; man hat mich ordentlich turnen lassen und wenn ich dennoch ziemlich klein und schwach geblieben bin so war das eben nicht zu vermeiden. Im übrigen gefalle ich vielen, selbst jungen Mädchen, und denen ich nicht gefalle die finden mich doch erträglich. (KKAT 27f.)

Damit endet die Serie über die Erziehung aus Kafkas frühen Tagebüchern: mit einem Blick auf den Körper des Schreibenden als Ergebnis erzieherischer Turnübungen sowie gesellschaftlicher Konformität, aber auch als Ort erotischer Schriftlichkeit, als Attraktion und Vorführung, die vielleicht nicht allen gefallen mag, aber doch „vielen“. In der Darbietung, so scheint es, wird der fremde Körper zumindest in der Betrachtung durch das Außen und wenigstens vorübergehend wiederum „erträglich“.

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Achim Küpper

Neumann, Gerhard (2009): Überschreibung und Überzeichnung. Franz Kafkas Poetologie auf der Grenze zwischen Schrift und Bild. – In: Bach, Teja Friedrich/ Pichler, Wolfram (Hgg.), Öffnungen: Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung. München: Fink, 161-186. Schnelle-Schneyder, Marlene (2003): Die Stillen Bilder als Schule des Sehens. Die Entwicklung der Photographie im Kontext von Kunst und visueller Wahrnehmung. – In: Hauskeller, Michael (Hg.), Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Kusterdingen: Die Graue Edition, 329-348. Shahar, Galili (2003): Der Erzähler auf der Galerie. Franz Kafka und die dramaturgische Figur. – In: Weimarer Beiträge 49, 517-533. Spahr, Blake Lee (1960): Kafka’s ‚Auf der Galerie‘. A Stylistic Analysis – In: The German Quarterly 33, 211-215. Waldenfels, Bernhard (1997): Grenzverkehr. – In: Ders., Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 140f. Wegmann, Thomas (2010): Artistik. Zu einem Topos literarischer Ästhetik im Kontext zirzensischer Künste. – In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 20, 563-582. Wolf, Norbert Christian (2014): Anklänge und Ansichten, ‚High‘ gegen ‚Low‘. Intertextuelle und intermediale Bezüge in Kafkas Kurzprosastück ‚Auf der Galerie‘. – In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 58, 246-280.

Abbildungen Abb. 1. Kafka, Franz: Gaukler mit Zuschauenden [Zeichnung]. © Schocken Books Inc., New York. – Aus: Kafka, Franz (1990): Tagebücher. Hrsg. von HansGerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley (= Schriften, Tagebücher, Briefe Kritische Ausgabe). Frankfurt/Main: Fischer [KKAT], 15. Abb. 2. Toulouse-Lautrec, Henri de: Au cirque Fernando. L’écuyère (1887–88). Öl auf Leinwand. 100 x 161 cm. © The Art Institute of Chicago. – Von: (letzter Zugriff: 17.08.2019). Abb. 3. Seurat, Georges: Le cirque (1890–91). Öl auf Leinwand. 186 x 152 cm. © Musée d’Orsay, Paris. – Von: (letzter Zugriff: 17.08.2019). Abb. 4. Muybridge, Eadweard: The Horse in Motion (1878) [Fotosequenz]. Gemeinfrei. – Von: (letzter Zugriff: 17.08.2019). Abb. 5. Chaplin, Charlie (Regie, Produktion, Drehbuch, Musik, Hauptdarsteller): Modern Times (USA 1936) [Standbild]. © Roy Export SAS. Abb. 6. Chaplin, Charlie (Regie, Produktion, Drehbuch, Hauptdarsteller): The Circus (USA 1928) [Standbild]. © Roy Export SAS. Abb. 7. Chaplin, Charlie (Regie, Produktion, Drehbuch, Hauptdarsteller): The Circus (USA 1928) [Standbild]. © Roy Export SAS.

Bettine Menke

Zerstreuungsbewegungen. Entortendes Schreiben Auf die Fragestellung der Tagung erwidere ich, indem ich auf Franz Kafkas Gegenschrift zum ‚babylonischen Turmbau‘, seine Aufzeichnungen im September 1920, denen Max Brod den Titel Das Stadtwappen gab, zurückkomme (Menke 2006). Unter diesem Titel wurde der vermeintlich ganze Text erst erzeugt, denn er setzt über Kafkas Schreibabbruch1 hinweggehend die zusammensetzende, (anderes) überspringende ‚Ergänzung‘ durch ein Notat voraus, das einige Blätter entfernt in Kafkas Aufschrieben zu finden ist und derart ‚ergänzend‘ den Text mit dem Satz „Deshalb hat auch die Stadt die Faust im Wappen“ abzuschließen hat (KKAN II: 323).2 Der Titel besiegelt gleichsam die eingreifende Zusammensetzung zur vermeintlichen ‚Vollendung‘ der Einheit des Textes. Es sind (bekanntlich) das Stadtwappen und die Faust in ihm, die Kafkas „beim babylonischen Turmbau“ mit Prag assoziieren.3 Dabei handelt sich der Bezug auf Prag mit dem ‚Stadtwappen‘ historische Irritationen ein; von einer „historische[n] Abirrung“ sprach Peter Demetz (1994: 138f.) mit Bezug auf die Annahme dieses Wappens, das der Habsburger Kaiser der 1  Dieser – oder die Unterbrechung – lag nach dem Wort „Kampfsucht“ (KKAN II: 319). „Zum Textstück: Anfangs […] Kampfsucht (318, 5-319, 24) fehlt die Handschriftengrundlage: es muß auf einem Blatt gestanden haben, das vermutlich zwischen Bl. 25 und 26 lag […] und nicht erhalten ist“ (KKAN II App. 93f.). Der Kommentar spricht von „Zeit der ‚Krise‘ um den 15. September“, um die „der Hauptteil der ‚Turmbau‘-Geschichte entstanden sein“ müsse, in der „ein Abbrechen der Schreibtätigkeit nicht unwahrscheinlich ist – ein Abbrechen, auf das dann ein entschiedener Neuanfang folgte mit der ganz andersartigen Eintragung vom 15. September“ (KKAN I, App. 90f.); zum möglichen Eintrag der „Umstände“, die den Turmbau behindern, zum Stocken des Schreibens Mitte September s. KKAN II App. 91 sowie Kleinwort (2004b: 230). Textgrundlage für den in der Handschrift ‚verlorenen Hauptteil‘ ist der „vermutlich im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Prosa-Nachlaßbandes ‚Beim Bau der Chinesischen Mauer‘ entstanden[e]“ Erstdruck in der Zeitschrift Die literarische Welt (7. Jahrgang, Nr. 13; 27. März 1931), der als solcher für sich steht (KKAN II App. 96), „noch nicht“ ‚ergänzt‘ um „die an anderem Ort […] niedergeschriebene Fortsetzung“. 2 Die vermeintlich „abschließende Fortsetzung (323, 10-18)“ finde „sich auf Bl. 26v“ (des Konvoluts 1920, 51 lose Blätter, die Brod umsortiert hat, KKAN II App. 91); die Notate Kafkasf finden sich unter KKAN II: 318-323; KKAN II App. 91, 93f. 3  So Brod nach Thieberger (1979: 362).

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Bettine Menke

Altstadt Prag als Belohnung für Dienste im Dreißigjährigen Krieg 1649 gab.4 Von Babel her scheint sich eine Ordnung der Geschichte zu schreiben, der zufolge Einheit und Transparenz der Sprache durch den schuldigen und verschuldenden Fall in die Vielheit der Sprachen als einer Sprachen-Verwirrung, durch göttlich auferlegte Zerstreuung verloren seien, die durch das Babel des ‚jüdischen Exils‘ eingetönt war, dann auch durch das apokalyptische Babylon überformt wurde. Prag konnte städtetypologisch als Babylon wie auch als Jerusalem gedacht werden; es konnte als verworfenes apokalyptisches Babylon identifiziert, wie auch, Kafka zeitgenössisch, als ein ‚gutes‘ oder ‚glückliches Babel‘ projektiert werden (Kilcher 2007: 72f.; Demetz 1994: 134f.; Weinberg 2012: 304f.). Meine Titelformulierung geht mit ‚Zerstreuungen‘ wörtlich aufs Bibel-Babel zurück, dessen Mythos und Topoi Kafkas Aufzeichnungen und Notate präzise um-, gegen- und zerschreiben. Wenn Babel in Gen. 11 für die Vervielfachung der Sprachen als Verwirrung des vermeintlich Einen, des vermeintlich reinen Eigenen der Sprache, der geschlossenen einen Gemeinschaft einzustehen hat, die durch den untersagenden Eingriff des HERRn über Babel kommt, und (die) beim Namen „Babel“ genannt wird, setzt dagegen Kafkas Aufzeichnung ein mit: „Anfangs war beim babylonischen Turmbau alles in leidlicher Ordnung; ja, die Ordnung war vielleicht zu groß, man dachte zu sehr an Wegweiser, Dolmetscher, Arbeiterunterkünfte und Verbindungswege.“ (KKAN II: 318) Vielfache verschiedene und verschiedensprachige Reden, unbestimmte Bewegungen, Migrationen und Dispersionen gehen hier also voraus; sie werden ‚anfangs‘ organisiert mit der Einrichtung von Verbindungswegen, Übertragungen aller (wörtlicher und übertragener) Art, von in diesen vielfachen ‚Wegen‘ orientierenden Zeichen und entsprechendem Personal. Einheit, die unter dem Symbol des Turms aufgerufen wird, ist demnach eine erst zu konstruierende, wäre eine den vorgängigen Bewegungen und den unbestimmten Verschiedenheiten scheidend aufzuerlegende. ‚Beim babylonischen Turmbau‘ werden ‚Einheiten‘ durch Ab-Scheidungen im Innern als vermeintliche Identitäten, im Übergang von „Arbeiterstadt“ zu „Landsmannschaften“ und ihren 4  Das Wappen (zunächst) der Prager Altstadt zeigte „erst nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, Türme, Tor, und im Tore die [allerdings] gepanzerte Hand, die ein blankes Schwert gegen Eindringlinge zückt“. Es kam 1649 als ein „Geschenk des habsburgischen Kaisers Ferdinands III. an seine loyalen Bürger“, die „die Prager Altstadt im letzten Augenblick des Dreißigjährigen Krieges gegen die [protestantischen] Schweden verteidigten […], welche die Sache der böhmischen Aufständischen […] fortführten und viele tschechische Flüchtlinge zu den Ihren zählten“ (Demetz 1994: 139).

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„Quartieren“ erzeugt worden sein (KKAN II: 319),5 die sich auftrennend einander entgegensetzen. Offenkundig verkehrt und unterläuft Kafkas „beim babylonischen Turmbau“ diejenige hierarchische Relation von Einheit und Vielheit, die durch den oder am ‚Babel‘-Topos organisiert scheint, der diese Relation als eine Ordnung des Vorher–Nachher ausgibt und der temporalen Abfolge den narrativen Sinn von Verschuldung gegenüber dem seinen Fluch auferlegenden Gott unterlegte. ‚Beim babylonischen Turmbau‘, der wohl noch nicht einmal angefangen haben wird bzw. ‚was ‚wir Weg nennen‘ als Zögern nimmt‘ (so einer der im Stocken und Aufschub niedergeschriebenen Sätze Kafkas, die Brod meinte ‚vollendend‘ überspringen zu dürfen) (KKAN II: 320), handelt es sich „schon [um] ein Babel, ehe es zu einem Babel wird“ (Demetz 1994: 137). Indem Kafkas Text geltend macht: „Vor Babel ist schon nach Babel“ (Vogl 1994: 377) wird das ‚Babel‘-Konstrukt lesbar, und die von diesem unterlegte narrative Relation von (Symbol der) Einheit und Dispersion nicht nur verkehrt, sondern damit ausgesetzt. Die Beunruhigung der temporalen Ordnung der Geschichte gehört auch dem Bibel-Babel bereits an. Vom Turmbau wird erzählt im Anschluss an die genealogischen Entfaltungen der „Zeugungen der Söhne Noachs, Schem, Cham und Jafet“ in Gen. 10, als Vervielfältigungen und Zerteilungen der Stämme und Sprachen, deren Ausbreitung und Zerstreuungen: So „trennten sich ab die Inseln der Stämme, in ihren Erdländern, / jedermann seiner Zunge nach: / nach ihren Sippen, in ihren Stämmen“, „zerstreuten“ und „zerspalten“ sich (Buber/Rosenzweig 1998).6 Daran schließt Gen. 11 an mit: 5 Kafkas auffälliges Wort „Landsmannschaften“ bezeichne, so Demetz, seit dem späten 18. Jahrhundert „Gruppen gleicher regionaler Herkunft, […] dann, in einem schon verengten Sinne, regionale Vereinigungen von Universitätsstudenten, oft im Gegensatz zu anderen Studentenkorps.“ (Demetz 1994: 136f.). Dem Wort kann mit den jüdischen Auswanderern nach New York als Babel der Zugewanderten gefolgt werden, die sich in der „Emigration aus dem ‚Schtetl‘ mit anderen, aus der gleichen Gegend, in der Landsmannschaft organisiert[en], um […] durch eine gemeinsame Kasse dafür zu sorgen, daß die Mitglieder einer Landsmannschaft auch auf dem Friedhof beieinander liegen“ (Demetz 1994: 136f.). ‚Beim babylonischen Turmbau‘ scheinen eher nationale Einheiten errichtet zu werden. 6  Gen. 10: „12 Danach zerstreuten sich die Sippen des Kanaaniters […] 19 und die Markgrenze des Kanaaniters war: von Sidon aus, dann wo du nach Grar kommst, bis gegen Gasa, dann wo du nach Sodom und Gomorra, Adma und Zbojim kommst, bis gegen Lascha. / 20 Dies sind die Söhne Chams nach ihren Sippen, nach ihren Zungen, in ihren Erdländern, in ihren Stämmen. […] / 25 Dem Eber wurden zwei Söhne geboren,/ der Name des einen war Paleg, Spalt, denn in seinen Tagen wurde das Erdvolk zerspalten, […] / 31 Dies sind die Söhne Schems nach ihren Sippen, nach ihren Zungen, in ihren Erdländern, nach ihren Stämmen. 32 Dies sind die Sippen der Söhne Noachs nach ihren Zeugungen, in ihren Stämmen. / Von diesen aus trennten sich nach der Flut die Stämme auf Erden.“

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Bettine Menke

„Über die Erde allhin war eine Mundart und einerlei Rede.“7 – und zwar um die Geschichte der Zerstreuung, der vielen Sprachen noch einmal und anders zu erzählen. Insofern ist die biblische Babel-Erzählung, Gemeinplatz einer Katastrophe, die als eine narrative Ordnung organisiert und als die Hybris der und Fluch über die Menschen – wie ein zweiter Sündenfall – nacherzählt wird, schon eine Stelle der Irritation der narrativen Ordnung,8 gerade wenn die Abfolge des Textes als kontinuierliche Erzählung und deren Kontinuität als chronologische der histoire aufgefasst werden.9 Oder wir lesen hier, mit Umberto Eco, dagegen die Verdrängung der Vielzahl der Sprachen ‚vor Babel‘ durch die Erzählung des auf den Turmbau ergehenden Fluchs, durch den der herabgekommene JHWH, statt der supponierten, der untersagten Vollendung und eben daher ‚wieder‘ zu suchenden ‚wahren Einheit‘ der Sprache, die Vielzahl als Wirrwarr auferlegte.10 Vor Babel war aber ‚in Babel‘ keine primäre, mit-sich-selbst-identische Einheit, da sie doch der Konstruktion und der errichteten Zeichen bedarf. Und ihr und ihrer Proklamation ist mit deren proleptischen Bezug die Zerstreuung bereits eingelassen, die drohe und die doch eben durch ihre vermeintliche Abwehr heraufgeführt werden wird.

7 

8 9 

10

(Buber/Rosenzweig 1998). Zur Luther-Ausgabe, die wohl Prä- und Subtext von Kafkas Text war, s. Rohde (2002: 160, 171f., Kap. II über Kafkas Bibel-Ausgabe, 21ff.). „Es hatte aber alle Welt einerley Zungen und Sprache.“ (Luther 1545/1985, Mose XI, 1) Die Übersetzung André Chouraquis lautet (in deutscher Übersetzung): „[V]on ihnen geht die Teilung aus der Völker der Erde, nach der Sintflut. / Und so ist die ganze Erde: eine einzige Lippe, nur eine Art Wörter.“ (zit. n. Derrida 1997a: 123). Die Babel-Erzählung scheint nur Einlassung; der Text ist durch die Logik der Genealogie bestimmt, die auflistend fortgesetzt wird (Gen. 11, 10ff.; Derrida 1997a: 123f.). Die Irritation der temporalen als narrativer Ordnung der Bibel-Erzählung (wenn die Abfolge des Textes als kontinuierliche Erzählung und deren Kontinuität als chronologische aufgefasst wird) ist durchaus bemerkt und es ist versucht worden, Gen. 10 u. 11 in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen (Borst 1995: 120f.); indem etwa „die Völkertrennung als [...] Segen, die Sprachenteilung als Strafe oder Fluch Gottes auseinander“ gerissen wurde (Borst 1995: 119f.); oder indem der Text als Wiederholung von der Zerstreuung in viele, fremde Stämme und Zungen, nicht als temporale Abfolge aufgefasst wurde. Traditionell ist die Abbildung der einen Erzählung in der anderen u. a. mit dem ‚Topos‘ des Königs Nimrod, ein Nachkomme Chams (Gen. 10. 8-12), als Turmbauherr (Borst 1995: 117ff., 142; Bin-Gorion 1935: IV. 3, IV. 4, IV. 5.). Mit Gen. 11 wurde, so Eco, „in dramatischer und ikonologischer Hinsicht prägend“, die „Vielzahl von Sprachen vor Babel“ „verdrängt“, um „die Vielzahl der Sprachen“ als „Folge eines göttlichen Fluches“ zu konzipieren (Eco 1995: 23). Zur Funktion im ‚Alten Testament‘ s. Alfred Hirsch (1995: 24); zu den Sprachen- und Völkertafeln nach Babel s. Borst (1995: 120-133, 142ff., 399ff.). Eine „Neubewertung Babels“ erfolgte auch im Sinne der Aufwertung der Nationalsprachen (Eco 1995: 342-347).

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11.1 Über die Erde allhin war eine Mundart und einerlei Rede. […] 4 Nun sprachen sie: Heran! bauen wir uns eine Stadt und einen Turm, sein Haupt bis an den Himmel, und machen wir uns einen Namen, sonst werden wir zerstreut übers Antlitz aller Erde! (Buber/ Rosenzweig 1998)

Dem Projekt einer Einheit ‚im Innern‘ des Codes, des Territoriums, der Gemeinschaft, die ‚gegeben‘ werden muss (Vogl 1994: 374; Derrida 1997a: 123), die nicht vorgängig gegeben ist, ist mit der Prolepse (Rohde 2002: 167f., 171) „sonst werden wir zerstreut übers Antlitz aller Erde“ die Zerstreutheit schon eingeschrieben. Derart enthält der „Gedanke“, der, so die Meinung ‚beim babylonischen Turmbau‘ in Kafkas Aufzeichnung, das Entscheidende am Turmbau schon und noch wäre (KKAN II: 318), im biblischen Text bereits die Drohung, „zerstreut“ zu werden „übers Antlitz aller Erde“, im Vorgriff, den deren Abwehr machen muss.11 Eine vollkommene und insofern ‚primäre‘ (mit sich selbst identische) Einheit dagegen wüsste nichts von der Angst vor der Zerstreuung. Es gibt keine ‚primäre Einheit‘, von der man wissen oder die dargestellt werden könnte. Würde die Einheit als eine quasi-paradiesische Sprache als vollständig transparente vorausgesetzt, die Babel-Erzählung derart als Wiederholung des Sündenfalls aufgefasst (Steiner 1992: 58-61; 2004: 64),12 so handelte es sich um gar keine Sprache; im paradiesischen Zustand der Fülle, der doch schon verloren ist, aber mit der ‚einen‘ Sprache vom Turmbau zu Babel vorausgesetzt scheint, wäre jede Sprache so unnötig wie unmöglich (Kittler 1985: 11). Einheit, die schon gegeben schien, wenn doch „alle Welt einerlei Zunge und Sprache“ bereits oder noch hatte, muss erst noch konstruiert oder mit ihrem Symbol errichtet werden: Den einen Namen (schem), Gattungsnamen der Namen (Sauter 2013: 256ff.) muss man (sich) erst machen, der Einheit ein Symbol geben. Schem als sema (in der griechischen Übersetzung) fungierte als Zeichen für „den zentralen Ort und weithin sichtbare Marke, 11 Luthers Übersetzung stärkt den syntaktischen Zusammenhang: „das wir vns einen namen machen/ Denn wir werden vielleicht zerstrewet in alle Lender“ (Luther 1545/1985, Mose XI, 4); bzw. in der Luther-Ausgabe 1904, 1912, die Rohde (2002: 21) als Kafkas Vorlage wahrscheinlich gemacht hat: „Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.“ (Gen. 11. 4) 12 Die Wiedergewinnung der „verlorenen Paradiesessprache“, das „Versprechen der letztendlichen Einheit“ oder „Gottes wirkliche Rede“, wäre „Entlassung“ aus der Geschichte (Steiner 2004: 66). Gen. 11 wird u. a. derart ausgelegt: „Die eine Sprache aber, dies war die heilige Sprache, die Sprache des Herrn, des einzigen in der Welt, die Sprache, in der Adam die Gebote erteilt wurden.“ (Bin-Gorion 1935: 176) Kafkas Bezugnahme auf Bin-Gorions Sagen der Juden: „verschiedenste Varianten der kanonisierten Texte“, ist fraglich (Rohde 2002: 173f.); den ersten Band Von der Urzeit (1913) besaß Kafka (Born 1990: 84).

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die das […] Volk vor Zerstreuung bewahrt und zur Versammlung ruft“ (Vogl 1994: 375).13 Derart würde eine Gründung in den Parametern von Territorialität, Herrschaft, Zeichenordnung und Repräsentation zugleich in Aussicht genommen. Als ‚Einheit‘ aber, die doch erst errichtet werden und die ihr Symbol, in dem sie Einheit würde, erst erhalten muss, wäre sie nicht totalisierend in sich geschlossen, weil sie ihre Konstruktion nicht einschließen könnte (wie sie müsste). Dabei muss die totalisierende Singularität des ausstehenden einen und einstimmigen (Eigen-)Namens sich schon anfänglich an die Vielheit der Gattungsnamen, der Wörter ausgesetzt haben (Vogl 1994: 374ff.).14 Der paradoxale Charakter der Einheit, die ‚gemacht‘ werden muss, ist verschiedentlich auf die Fehlkonzeption der voreilig Gott vorgreifenden oder aber die bereits gegebene Einheit verkennenden und daher gewaltsamen Menschen15 oder auf die Verfehltheit der Stadtgründung zurückgeführt16 oder als verfehlte Zeichengebung, als usurpatorische, idolatrische, verkörpernde Darstellung erläutert worden.17 Die Be-Gründung von Einheit kann aber nicht anders denn paradoxal oder gar aporetisch in sich blockiert sein, da sie mit ihrem Anfang einen Einschnitt, einen Bruch setzt, den sie in ihrer Konstruktion einholen können müsste, da sie den Unterschied zwischen Innen und Außen, Dazugehörigem und Äußerlichem setzen und befestigen können müsste, aber diese negativ konstitutive Relation der Scheidung nicht spurlos totalisierend integriert werden kann. Mit eigener Ironie wird die Untersagung des JHWH, seine vorgreifende Abwehr gegen die Vollendung des Vorhabens der Menschen 13 Sem, sema ist Denkmal, Name, Ruhm und Zeichen (Borst 1995: 117; Derrida 1997a: 123f., 121; Schestag 1997: 64, 70f., 88f.). 14  Bereits (vor ‚Babel‘) ist die ‚Verwirrung‘ vorweggenommen: im Gattungsnamen der Namen schem, in dem die usurpatorischen Züge in Bezug auf den Gottesnamen zu lesen sind, die im ‚Turm, dessen Haupt an den Himmel reiche‘, anklingen (Sauter 2013: 262), die mit der ‚Namens‘-Gabe „Babel“ umgekehrt nur noch unvollendend-vollendet werden muss (Sauter 2013: 262; Vogl 1994: 375; Schestag 1997: 90-94). 15 „Möglich, daß ihr Irrtum darin bestand, in Überstürzung (und das heißt mit Gewalt) eine Einheit zu erreichen, die sie bereits besaßen. Möglich auch, daß sie wider Willen von einer Dispersion eingeholt wurden, welche ursprünglicher als alle Einheit ist.“ (Mosès 1994: 141f.) 16 Das göttliche Gebot ergeht Gen. 9. 7: „Ihr nun [das Volk Schems], seid fruchtbar […], wimmelt (zerstreut Euch) auf der Erde“ (Sauter 2013: 262); dagegen kann die BabelTurmbau-Geschichte nach Gen. 10 als die der Nachkommen Chams, Nimrod als Stadtgründer und großer König zu Babel aufgefasst werden (Borst 1995: 117ff., 142). 17  „In dem Turm wollten sie ein Bild aufstellen, das die Kraft des göttlichen Namens hätte“ (Bin-Gorion 1935: 177). Als Idolatrie wird die Überhebung Nimrods gekennzeichnet (Milton, Paradise Lost, xii, 115, 119); Hirsch (1995: 22-25) unterstreicht den Bezug auf die heidnischen Tempelbauten.

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erfüllen, was diese bereits vorgreifend als drohend angenommen hatten und abwehren wollten, und derart das Vorhaben selbst an die Untersagung und die Nicht-Vollendung an die untersagte Einheit gebunden haben. Das wird durch die wörtliche Wiederholung belegt, dass er „sie zerstrewet von dannen in alle Lender“ (Luther 1545/1985: Mose XI, 9).18 Die Ironie wird durch die des Namens bestätigt, den sie weniger sich gemacht haben werden, als dass er als Siegel der Untersagung der Vollendung auferlegt sein wird: „Babel“, der Name, der (allenfalls als Wort) von der (Sprach-)Verwirrung zu Babel spreche, und diese an die untersagte Einheit koppelt. Die Un-/Möglichkeit der ‚Vollendung‘, der Abschließbarkeit einer Konstruktion, jeder ‚Werk‘-Ganzheit, die die göttliche Untersagung in/mit Babel besiegelt,19 verhandelt Kafkas Ausführung bereits ‚anfänglich‘, in der Verzögerung, die „anfangs“ bereits (an)statt eines sich selbst begründenden ‚großen‘ Anfangs von etwas statthat. „Anfangs“ spielt der ‚Bericht‘ vom „Turmbau“ zwar auf die Formel des originären Anfangs: den der voraussetzungslosen Schöpfung Gen. 1. 1 oder Joh. 1. 1 an.20 Wenn der Text Kafkas beginnt, hätte aber der ‚Turmbau‘: „beim … babylonischen … Bau“, bereits begonnen – und wird doch zugleich nie beginnen, nicht einmal die „Fundamente“ werden – vielleicht – gelegt worden sein (KKAN II: 318). „Anfangs […] beim babylonischen Turmbau“ ‚ist‘ nicht ‚Im Anfang …‘, sei es des Turmbaus oder überhaupt eines ‚originären Werks‘. Die Paradoxie der Gründung von Einheit: die eines Anfangs, der als Akt ein Bruch sein muß, der im kontinuierenden Vorgang (s)einer Ausführung sich müsste vollenden können, um mit der Vollendung im Telos, auf das der Anfang sich gerichtet habe, sich als ein souveräner auszuweisen, – die Paradoxie macht Kafka in der temporalen Erstreckung des Machens, der Bindung 18  S. hierzu. Mose XI, 7f.: „Wolauff / laßt vns ernider faren / vnd jre Sprache da selbs verwirren / das keiner des anderen sprache verneme. Also zerstrewet sie der HERR von dannen in alle Lender/ das sie musten auffhören die Stad zu bawen / Da her heißt jr name Babel“ Luther (1545/1985). Nach Buber/Rosenzweig (1998) Gen. 11: „7 Heran! fahren wir nieder und vermengen wir dort ihre Mundart, / daß sie nicht mehr vernehmen ein Mann den Mund des Genossen./ 8 ER zerstreute sie von dort übers Antlitz aller Erde, / daß sie es lassen mußten, die Stadt zu bauen.“ 19 Der Turm(bau) zu Babel stellt „auch ein Unvollendetes“ vor und „die Unmöglichkeit der Vollendung, der Totalisierung“, „die Unmöglichkeit, etwas zu Ende zu bringen, etwas zu vollbringen, was sich dem Bereich des Aufbaus zuordnen ließe“ (Derrida 1997a: 119; Sauter 2013: 257f.). 20  Vgl. Gen. 1. 1: „Im Anfang schuf Gott […]“ (Buber/Rosenzweig); Joh. 1. 1: „Im Anfang war […]“ (Luther 1858/1981: 361); die mögliche Allusion ist schon oftmals bemerkt worden (Demetz 1994: 140; Mosès 1994: 141).

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ans Machen als Prozess in der Zeit kenntlich. Die Verfertigung ist auch in Gen. 11. 3 erstaunlich detailliert dargestellt, und bereits die biblische Ausführung erweist sich in ihrer Detaillierung von Lehmziegeln und Erdpech, und beiden als Substituten oder Übersetzungen (Derrida 1997a: 122), als Ablenkung gegenüber dem Vollenden, weniger des Turmbaus als dem der Erzählung von seiner Nicht-Vollendung. Die Prozessualität ‚beim babylonischen Turmbau‘ ist (im) Aufschub, endlos, noch der des Anfangs ‚selbst‘; „beim babylonischen Turmbau“ entfalten sich in der temporalen Erstreckung der (vermeintlichen) Ausführung alle Komplikationen, die der Relation von Anfang und Vollendung angehören: als Aufhalt, ja Sperrung im Errichten, Ausführen oder wenigstens deren Vorbereitungen, als Verzögerungen. Die Begründung einer Einheit des Territoriums und der Zeichenordnung wird der Logik der Konstruktion ausgesetzt und gemäß dieser zerlegt – so auch mit dem „System des Teilbaues“ Beim Bau der chinesischen Mauer (KKAN I: 337-342), den eine der erwogenen Meinungen, die vor allem die Verwirrung der Hirne belege, auf einen zukünftigen Babelturm-Bau bezieht (KKAN I: 343f.),21 im Prozess abgelenkt, gestaut und sich selbst stauend verzögert sein. Beim Bau, in der auf- und aushaltenden Verlaufsform,22 wäre jede (vermeintliche) Ausführung (selbst) Aufschub,23 Auf-ent-halt: „Was wir Weg nennen ist Zögern“ (KKAN II: 322), wäre alles mögliche andere (stattdessen). Das „Wesentliche des ganzen Unternehmens“ sei der „Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen“, wird gesagt (KKAN II: 318). So mag mit dem „Gedanke[n] den Turm zu bauen“ zwar „bereits alles geschehen und alles entschieden“ sein (Vogl 1994: 377), das schließt aber ein, dass gar 21 Für den Beizug dieser ‚apokryphen‘ Babel-Legende s. Vogl (1994: 378-381; 1990: 208-212) und Rohde (2002: 182ff.); für weitere Babylon-Bezüge s. Kleinwort (2004a) und Neumann (2013). 22  Deren Signifikanz wird durch die Parallele Beim Bau der chinesischen Mauer unterstrichen (KKAN I: 337; App.: 287); auch dort wird es sich – gegen den ersten konstativen Satz, der von der Fertigstellung wissen will (337) – um einen Verlauf handeln, dessen Einsatz ebenso unbekannt ist (348) wie dessen Vollendung unabsehbar (338 u. ö.). 23  In den Sagen der Juden findet sich das Entsprechende für den Turmbau: Mit der zunehmenden Höhe des Baus verlängern sich die Auf- und Abstiege auf den Bau unabsehbar und verliert sich der Bau mit dem Fortgang seiner Errichtung zunehmend an die Temporalität seiner Ausführung (VI. 5: 181). Kafka notierte: „Wenn es möglich gewesen wäre, den Turm von Babel zu erbauen, ohne ihn zu erklettern, es wäre erlaubt worden.“ (Eintrag vom 9. November 1917, KKAN II: 45; Betrachtung 18, KKAN II: 117); das verweist auf die traditionelle Deutung des Turms als ‚Leiter‘ für einen frevlerischen Sturm des Himmels, die auch in der doppelten Lesbarkeit des „Himmelsturmbaues“ eingespielt ist (KKAN II: 323).

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nicht entschieden werden kann, ob das, was geschieht, überhaupt das ‚Erbauen dieses Turmes‘ und damit die ‚Realisierung‘ dieses ‚Gedankens‘ (in Details, in Teilen, in Übersetzungen und in Materialien) ist.24 Ihn zu bauen oder ihn nicht zu bauen, oder etwas ganz anderes zu bauen, oder anzufangen ihn zu bauen, oder zu verhindern, dass angefangen wird, ihn zu bauen – all’ dies ist voneinander nicht zu unterscheiden. Und ebenso ist ununterscheidbar – und daher unentscheidbar –, ob nicht doch, wie umgekehrt der Berichterstatter insinuiert, egal, was geschehe, dieses oder alles (was es auch sei) stets und unvermeidlich Teil des ausstehenden Turmbaus sei. Um er ‚selbst‘ – der „Gedanke“ (‚den Turm zu bauen‘), der schon alles sei – zu bleiben, wird er jene Ausführung, die doch vermeintlich die seine wäre, ja deren Anfang (die „Fundamente zu legen“)25 aufschiebend – alles mögliche andere wird stattdessen gemacht – verzögern. Alle die „Gedanken“, die dem zeitlichen Vollzug, den möglichen Ausführungen und über jede vorausgreifend deren möglichen zukünftigen korrigierenden Abrissen gelten, „lähmten“ die „Kräfte“, die zur Geltung gebracht werden müssten. Gerhard Neumann (1968: 727) hat die hier ausgegebene präzise Paradoxie formuliert: ‚Die sicherste Gewähr für die Vollendung des Turms sei seine Nicht-Errichtung‘, und damit die Sperrung zwischen Gedanke und Turm, die an keinem der Pole festgehalten werden kann. So streng wie lustvoll treibt die Ausführung ‚beim babylonischen Turmbau‘ zwei einander widerstreitende Sinnlosigkeiten (der Konstruktion) heraus: zum einen die Realisierung schon immer, die jede mögliche Ausführung so unnötig macht, wie sie diese aufschöbe, und zum anderen die endlose Blockierung, die aufschiebend der einzig mögliche Modus seiner Ausführung wäre. Beide sind ‚beim babylonischen Turmbau‘ streng aneinander gekoppelt; zu entscheiden ist zwischen ihnen nicht. Das Nicht-Anfangen (eines Anfangs von etwas, das sein vollendendes Ende fände) kann sich in der unbestimmten zeitlichen Erstreckung nur wiederholen, als ein „endloses Wiederholen

24 Insofern erwidert Kafkas Version: mit dem „Gedanke[n] den Turm zu bauen“ sei „bereits alles geschehen und alles entschieden“, präzise dem Konzept originärer Schöpfung, die in ihrer Vollendung – rückwirkend – den „Gedanken“ im Anfang als den begründenden bestätigte, als dessen vollendende Ausführung den ‚grundlegenden‘ „Gedanken“ in sich einschlösse und derart sich in sich (ab)schlösse. 25 Es heißt, „man könne gar nicht langsam genug bauen; man mußte diese Meinung gar nicht sehr übertreiben und konnte überhaupt davor zurückschrecken, die Fundamente zu legen.“ (KKAN II: 318) Zur Frage nach den Fundamenten für den Babel-Bau s. GruftwächterFragment (KKAN I App. 256), Beim Bau der chinesischen Mauer (KKAN I: 343f.) und auch das „Graben“ des „Schacht[s] von Babel“ (KKAN II: 484).

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des Anfangs“,26 der keiner geworden sein wird, sondern „anfangs“ fortwährend wiederholend ein Aufschieben des Anfangs vollzieht. Das Konzept des sich selbst begründenden ‚Werks‘, das den ‚Anfang‘ nachträglich zu dem von etwas gemacht:, vollendet und den Vollzug, das Bauen im Hervorgebrachten integriert hätte, wird ‚beim babylonischen Turmbau‘ suspendiert, indem die Ausführung selbst ausführlich ihren Auf-halt (noch vor ‚dem Anfang‘) erfährt, sich als „Zögern“ vollzieht: in aufschiebenden unabgeschlossenen Verläufen, die Resultate, Einsetzungen, Vollendungen vorgreifend aufhalten, die unregiert in alle möglichen Richtungen gehen, zögern, stocken, einander lähmen oder anderswohin treiben. Kafkas Schreiben hat die Aporien im Konzept des in sich geschlossenen Werks immer wieder, sich schreibend unterbrechend, im ‚endlosen Wiederholen‘, zuweilen auch sehr komisch erkundet. So muss der tierische „Bau“ (KKAN II: 576-632), um sich als Einheit abschließen zu können, um ihre Konstruktion und die gesetzten konstitutiven Scheidungen totalisierend integrieren zu können,27 um die metaphorische Totalisierung im zirkulären Konstitutionszusammenhang von Autor und Werk zu gewinnen, dies in aporetischen Doppelungen/Spaltungen, in Einträgen des (oder der) Anderen, auf dessen/deren Ausschluss der Bau angelegt war, zu leisten versuchen (KKAN II: 596ff.) und wird (unabschließbar) ans unlokalisierbare, unidentifizierbare und daher nicht ausschließbare Äußere preisgegeben sein. In Beim Bau der chinesischen Mauer, wo die vermeintlich nach außen ‚schützend‘ abscheidende Mauer vielmehr unvollendet,28 in entlegenen Teilstücken von ‚Nomaden‘ umschwärmt, beim Bau politische „Einheit“ im Innern herzustellen hätte (KKAN I: 341f.), wird die vermeintlich gründende Relation von ‚China‘ und ‚Nomaden‘ dekonstruiert, ‚Einheit‘ desymbolisiert, an vorausliegende Dispersionen gebunden und ausgesetzt.29 26  „Damit ist bereits alles geschehen und entschieden, sind dieser Bau und seine Idee schon Ordnung und Verwirrung, Einheit und Zerstreuung zugleich“ (Vogl 1994: 377f.). 27  „Although no construction can reach and integrate its own relation to whatever is outside it, neither can it avoid contact with it […].“ „Every construction, every system – that is, every text – has within itself the ignorance of its own exterior as the rupture of its own coherence which it cannot account for“ (Frey 1985: 132). 28  Der vermeintliche Abschluss, im Einsatz des Textes konstatiert (KKAN I: 337), ist bereits im dritten Satz dementiert (337ff., 346f.; Kittler 1985: 72ff., 52f., 33ff. u. ö.). 29  Der Bau „vollzieht sich als Symbol einer Gemeinschaft, die er gerade nicht symbolisieren kann. [...] Das Werk besteht in der Vollendung des Baus wie deren Vereitelung; der Mauerbau ist Symbol der Einheit wie der Dispersion; und er ist ‚Tatsächliches‘ ebenso wie Repräsentatives und daher Symbol und kein Symbol, Darstellung und keine Darstellung, er ist die Konstruktion einer Grenze, die sich selbst zurücknimmt und als gleichsam gestrichelte

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Entspräche der territorialen Einheit die sprachliche, die ‚im Innern des Codes‘ vom Eigennamen zentrierend gehaltene, so ist doch der Name Babel zugleich als Wort30 in anderen Wörtern multipliziert, anfangs auf andere Wörter und in sprachliche Relationen verwiesen, ins Spiel der Differenzen und Spuren verzogen. Nur derart kann ein ‚Name‘ bedeuten, wie der Name Babel zeigt, der den Bruch, der die Nicht-Vollendung des Projekts (sich) einen Namen zu machen, benennt. Gen 11: 7 Heran! fahren wir nieder und vermengen wir dort ihre Mundart, daß sie nicht mehr vernehmen ein Mann den Mund des Genossen. 8 ER zerstreute sie von dort übers Antlitz aller Erde, daß sie es lassen mußten, die Stadt zu bauen. 9 Darum ruft man ihren Namen Babel, Gemenge, denn vermengt hat ER dort die Mundart aller Erde, und zerstreut von dort hat ER sie übers Antlitz aller Erde. (Buber/Rosenzweig 1998)

Der Name Babel, unter dessen Ruf Wirrnis oder Gemenge auferlegt ist: „denn da macht YHWH die Lippe der ganzen Erde wirr“,31 wird zugleich Linie jene Unterschiede zugleich setzt und verwischt.“ (Vogl 1994: 379f.) Die ‚Gründung‘ (des vermeintlich Vorausgesetzten) ist an einen Nicht-Grund, „Staub“, Zerren an den Ketten, „Schwäche“, verwiesen, an einen Raum, in dem das Bestimm-, Datier-, Adressierbare sich verläuft (KKAN I: 344, 346f., 350f., 352-356; Vogl 1994: 379f.; Vogl 1990: 211ff., 214, 215ff., 224; Kittler 1985: 60f. 64-70, 75ff.). 30 Schem, das ist der Gattungsname der Namen (den „wir“ uns machen wollen, Gen. 11. 4, s. Sauter 2013: 256f.) heißt auch der ‚Name‘ Babel (Gen. 11. 9; Derrida 1997a: 123f.; Wills 2002: 62f.; Vogl 1994: 375f.; Sauter 2013: 261f., Schestag 1997: 89f. u. ö.). Dieser Gattungsname ist Eigenname Schems und der Scheminiten, deren Geschichte hier beginnt (Sauter 2013: 262f.; die Geschlechtertafel Schems folgt Gen. 11. 10ff.). Die Verwirrung zwischen (Eigen-)Namen und Gattungsnamen oder Wörtern (und der Ungewissheit über deren Referenten) ist unauflöslich, wie sich an „Babel“ (Name und Wort), zwischen Babel und schem/Sem zeigt (Schestag 1997: 90f.). „[S]eit Babel – jenem Bruch, der alle Sprachen zeichnet – [...], ist Sem […] das eine Wort für alle Sprachen, aller Sprachen Eigenname.“ Mit der „Entgegensetzung – alle Sprachen, keine Sprache – [die dieses Wort] verwirrt, in einanderwendet, rückt ein grundlegendes sprachliches Problem, die Frage der Gründung oder Grundlegung, und ‚Setzung‘ – von Sprache –, in den Blick.“ (Schestag 1997: 64; Derrida 1997a: 125-129). Denn der gründende Einschnitt und dessen Besiegelung: in der Namensgebung sind aufeinander angewiesen und widerstreiten einander, da der Name zugleich Wort ist, das nicht Einheit symbolisiert, sondern sich ‚ursprünglich‘ mit anderen Wörtern verkettet, sich in sich spaltend in andere Wörter verschiebt – desymbolisiert. Mit dem/Im „Einschnitt“ der vermeintlichen Gründung „zerstreuen sich die Sprachen“ (Derrida 1997a: 124). 31 Übersetzung zit. n. Derrida (1997a: 124), s. die ‚wörtliche‘ Übersetzung Chouraquis: „worauf er seinen Namen ausruft“, Babel, den Eigennamen der Verwirrung (124, 126ff.); so „trägt die Stadt den Namen […] des Vaters der Stadt, die Verwirrung heißt“ (121), insofern

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als ein Wort ausgegeben, das etwas bedeutet. Babel, das als Eigenname nicht übersetzt wird, keiner Sprache angehört (Derrida 1997a: 126f.), wird als Wort übersetzt und übersetzend (neben „Babel“) gedoppelt, als Wirrwarr, Gemenge, confusion. Die Verdoppelungen, die Übersetzungen, die Luthers, die Buber/Rosenzweigs, die lateinischen oder französischen, jeweils vornehmen,32 realisieren die Spaltung „Babels“ in sich ‚selbst‘: Er ist nicht einer und nicht (nur) ein Name, ist Name und Wort mit Bedeutung, durch das der Name (‚Darum ruft man‘) motiviert wird, ein Wort, das in anderen Sprachen als dem Hebräischen übersetzt werden muss (wie alle Wörter – nach Babel – um ihres jeweiligen semantischen Äquivalentes willen, dem die Schuld und Treue der Übersetzung gelte). Muss in jeder anderen Sprache als dem Hebräischen des Textes, der den Namen Babel als ein Wort mit Bedeutung zu verstehen gibt, das Wort um seiner Bedeutung willen übersetzt werden, so wird übersetzend doppelnd in Name und Wort auseinanderhalten,33 was im hebräischen Text in Babel zusammenfällt bzw. was Babel in sich dissoziiert (Derrida 1997a: 125ff.). Unter dem Namen Babel kann der hebräische Text die Wirrnis, die Vielheit der Sprachen und Reden als Fluch, Untersagung und Schuld berufen, weil der babylonische Name Babel, dessen Ätiologie die Turmbau-Erzählung zu geben vorgibt, wörtlich eine mehrsprachige Operation vollzogen hat: über das Assyrisch-Babylonische, aus dem die Signifikantenkette Babel stammt, und das Hebräische, das diesen Namen quasi-etymologisch beim Wort nimmt (Böhl 1916: 112).34 Babel, das im Assyrisch-Babylonischen, zerlegend, von „Babêl ‚Gottespforte‘“ hergeleitet wird (Böhl 1916: 111),35 wird paronomastisch, es sich um die göttlich auferlegte Wirrnis handelt (aber dieser Name ist nicht der unaussprechliche heilige Name Gottes, das Tetragramm; s. Sauter 2013: 261ff.). 32  In Luthers Übersetzung in der letzten Ausgabe von 1545 (Mose XI, 9) heißt es im Text: „Da her heißt jr name Babel/ das der HERR daselbs verwirret hatte aller Lender sprache/ vnd sie zerstrewet von dannen in alle Lender“; als Marginalie ist daneben gesetzt: „BABEL Auff Deudsch/ Eine vermischung oder verwirrung“. 33  „Babel“, „Eigenname der Verwirrung“, „Merkzeichen und sein Siegel“ der göttlichen Untersagung, „bezeichnet den Mangel“ (Derrida 1997a: 123f.). Gott „zwingt das Übersetzen auf und verbietet es“, „als würde er ihnen den Zwang des Scheiterns auferlegen“ (124). Die Übersetzung bleibt schuldig und verschuldet; das ist das Gesetz, das der HERR über die Sprache(n) erließ (Derrida 1997a: 124, 129-133; Sauter 2013: 259). 34  Pseudoetymologisch motiviert etwa Gen. 10. 25 den Namen „Paleg, Spalt, denn in seinen Tagen wurde das Erdvolk zerspalten“; oder im antonomastischen Wortspiel zwischen dem Namen Japhet, einem der Söhne Noahs, und „dem daneben stehenden, klanglich ähnlichen Verb ‚er wird ausbreiten‘“ (Borst 1995: 120, 122). 35 S. a. Borst (1995: 116f., 79ff.); Hirsch (1995: 21-24); Jerusalemer Bibel-Kommentar zu Gen. 11. 9 nach Rohde (2002: 162). Auch Bāb–ilim ‚Gottespforte‘ sei bereits „eine Volksetymologie“ des vorsemitischen Namen Babilla (von Soden 1957: 808).

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in einer babylonisch-hebräischen Pseudoetymologie gegengelesen (Schestag 1997: 90f.), so dass er polemisch den ‚wahren Namen‘ des Ereignisses: Babel – Wirrwarr abgibt. Es scheint sich, so der Alttestamentler Franz Böhl, um ein „Wortspiel“, eine „falsche Volksetymologie“ des hebräischen Textes zu handeln (Böhl 1916: 111f.), „ein Witz, der [...] die Metropole des Vorderen Orients kritisch und spöttisch unter die Lupe nimmt“ (so Wolfgang Scherer, nach Arno Borst und Böhl), – und zwar indem die fremde „babylonische Signifikantenkette“ auf fremde ‚babylonische Art‘ – „sind doch die Babylonier für Wortspielereien bekannt“36 – ins Hebräische übertragen wird. „Babel“ ist motiviert als pun über der „babylonischen Signifikantenkette“, indem mit ‚fremden Händen‘ und ‚fremden Zungen‘, so Scherer, das babylonisch-assyrische Wort mit dem ähnlich klingenden hebräischen Wort (balăl) ‚verwechselt‘, als Konfusion oder Gemenge gegengelesen wird (Sauter 2013: 264, 256; von Soden 1957: 808). Das ist verwirrend, konfus, denn mit Konfusion ist eine andere, ja eine der zentrifugalen Bewegung des Zerstreuens entgegengesetzte zentripedale des Vermischens oder ‚Einrührens‘ ins Spiel gebracht,37 und damit neben der Zerstreuung ‚in die Fremde‘ (als vermeintlichem Verlust des einen Eigenen)38 ein anderes Konzept vom babelischen Unheil als Verunreinigung (des eigenen Einen) durch Vermischungen mit anderem.39 Der pun in Babel ist ein unauflösbar mehrsprachiger, der die Entscheidung zwischen verschiedenen Sprachen und die für eine Sprache nicht zulässt, und daher nicht übersetzbar ist.40 Er zeugt antonomastisch: ent-na36  „Gemeint sind hier Operationen in der Organisation von Zeichen, die auf der Ebene des Signifikanten den Auswurf der Signifikate steuern und regeln – oder gänzlich subvertieren.“ (Scherer 1983: 17) Das hebräische gehe wohl auf ein altes babylonisches Wortspiel zurück, das nachgebildet werde (Böhl 1916: 112f.). 37 „Die assyrisch-babylonische Wurzel mit der Bedeutung ‚wegtreiben, zerstreuen‘ deutete der Jahwist durch das ähnlich lautende hebräische Verb ‚bll‘, das aber ‚gerade umgekehrt‘ ‚einrühren, durch Rühren vermengen‘ bedeutet, um es dann, explizit in Gen. 11. 7 u. 9 als ‚vermischen, verwirren‘ zu deuten“ (Böhl 1916: 111f.); s. Jerusalemer Bibel-Kommentar zu Gen. 11. 9 nach Rohde (2002: 162); Scherer (1983: 21). 38  Dies konnte auch als Auf-Trennung in verschiedene territoriale Sprachen aufgefasst werden (Borst 1995: 118, 1956-1961); d. i. Grundlage für die „Neubewertung Babels“ im Sinne der Nationalsprachen (Eco 1995: 342-347). 39  Die Metaphern „scattered and polluted speech“ gebraucht für die Sprache im „Exil“ Steiner (1992: 59f.; 2004: 64). 40 Paronomasie und Übersetzung kommen nicht überein. Denn Übersetzen ersetzt die Wortkörper um des vermeintlich zurückzuerstattenden Sinns willen; dagegen spielt der pun, der Worte als Signifikantenkette als andere Wörter nimmt, ‚verwechselnd‘ zu anderer Bedeutung aus: „Babel – bll“. Das Wortspiel „Traduttore – Traditore“, das Sigmund Freud (1970: 35) als „vortreffliches“ anführt, widerstreitet als solches dem Ideal der Treue, das

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mend, von einer anderen Verwirrung oder Dispersion der Sprache, die nicht auf die Vielzahl jeweils homogener territorialer Sprachen zu reduzieren ist, die vielmehr jeder vermeintlich eigenen anfangs eingeschrieben ist, die im Reden sich vollzieht. Statt eine Differenz einzutragen, die zwischen vermeintlich eigener und fremder Sprache territorial scheidet und diese gegeneinander setzt,41 spielt Babel als pun Differenzen in den Worten aus, die diese in andere verstellen, führt auf andere Wörter in den Worten, die sich in, von und gegen sich ‚selbst‘ verschieben; und er hält sich dabei nicht innerhalb der Grenzen eines jeweiligen Codes einer (vermeintlich) einen Sprache. Auch im (‚einen‘) Wort „Himmelsturmbau“ in Kafkas „beim babylonischen Turmbau“ wurden zwei Wörter Himmels-Turmbau und Himmelsturm-Bau gelesen (Demetz 1994: 127; Zimmermann 1985: 62). Auch das Wiedererkennen des Sturms des Himmels im Turmbau, der an den Himmel reichen sollte, ist ein Signifikanten-Effekt, den schriftliche Markierungen kenntlich machen. Babel ist je schon aus sich – , gegen sich ‚selbst‘ verschoben: nicht Topos für die Vielzahl der territorialen, gegeneinander geschiedenen, in sich homogenen Sprachen, der diese der Untersagung, dem Verlust und dem Gebot zu übersetzen, und damit dem des Anhalts am verlorenen einen Signifikat unterstellt.42 Effekte latenter Signifikantenverkettungen wie die des puns oder Wortspiels in ‚Babel‘ weisen die Sprache aus als nur vermeintlich eine ‚eigene‘, vielmehr eine allen Intentionen, dem (vermeintlich) gemeinten Sinn (von allem Anfang) andere, die Übersetzung darauf verpflichtet, „den Sinn, den Gehalt des Originals in einer anderen Sprache […] wiederherzustellen“, und derart voraussetzt, dass der Sinn „vor der Übersetzung existiere“, und „die Schuld gegenüber der Originalsprache vollständig zurückzuerstatten [sei]– ohne Rest“ (Kofman 1990: 48). 41 Aber im Sinne der gegeneinander, quasi-territorial geschiedenen, in sich jeweils homogenen Sprachen wird der Einschnitt durch den Turmbau, bzw. dessen Unvollendung, zu Babel oftmals aufgefasst (Eco 1995: 342-347; Lüdi 2007: 18-25; Nekula 2007: 93f., 96f., 101). 42  Wenn Babel das Gesetz zu übersetzen gibt, das die Einheit des Signifikats, das Gesetz, den vermeintlich verlorenen einen Sinn, demgegenüber Babel und jede Übersetzung sich verschuldet, in der anderen Sprache zu restituieren (Kofman 1990: 48), (voraus)setzt, dann entzieht (sich) jedoch die Mehrsprachigkeit des pun „Babel“ auch der Übersetzung aus einer vermeintlich homogenen Sprache in eine weitere (von dieser abgegrenzte); bzw. eine solche Übersetzung müsste die heterogene, mehrsprachige Produktivität durch eine Scheidung in vermeintlich geschlossene homogene Sprachen einziehen (s. Derrida 1997a: 125). Mit Babel ist eine „Konfusion der Sprachen ‚nach Babel‘“ zu denken, die nicht durch (traditionell beschränktes) Übersetzen von einer Sprache in eine ‚von dieser unterschiedene‘ zu regieren ist; diese „liegt vielmehr in der Suidifferenz der einen Sprache zu sich selbst: Verwirrend ist die Kontra-Fusion, die mit dem Geben des Namens ‚Babel‘ gegeben ist.“ (Sauter 2013: 259).

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vom Anderen kommende (Derrida 1997b: 32ff.; Trabant 2007: 60ff., 52f.). In ihnen manifestiert sich die ‚Mehrsprachigkeit‘ oder Viel-Lippigkeit der vermeintlich ‚eigenen‘ Sprache, in den Wörtern, ‚unter den Wörtern‘, Disseminationen, Verschiebungen und Verkettungen – ohne primäre oder endgültige Feststellung. Durch eine solche Mehrsprachigkeit (nicht die abzählbarer Sprachen) (Derrida 1997b: 37, 25) kennzeichnete Kafkas Rede (am 18. Februar 1912) den „Jargon“. Dieser ‚ist‘ keine ‚eine‘ Sprache, nicht eine territoriale Sprache (KKAN I: 188-193; App.: 67; KKAT 374-379),43 sondern besteht aus „lauter Fremdwörtern“, die in ihm nicht festgesetzt werden: „Völkerwanderungen durchlaufen“ ihn (KKAN I: 189);44 „er kommt nicht zur Ruhe“, denn er werde „immerfort gesprochen“: immerfort gesprochen, ohne codierten Stand, zu dem eine Grammatik geschrieben werden könnte,45 und immer fort-gesprochen, auf der Flucht, ‚fremde Wörter‘ im Vorbeigehen mitziehend und forttreibend. Die Wörter, die entwendet nicht zu eigenen Wörtern, nicht territorial werden müssen (gerade wenn sie einmal ins Ghetto gelangt, dort lange bleiben), behalten vielmehr die „Eile und Lebhaftigkeit“ des Griffs, mit dem „sie genommen wurden“, sind „innerhalb des Jargon von Neugier und Leichtsinn erfasst“, im (und als das) „Treiben der Sprache“ (KKAN I: 189). Nicht indem jiddische Reden ‚erklärt‘ dem Verstehen zugänglich würden (KKAN I: 43  Kafka nimmt mit dem Jiddischen keine sprachliche Territorialität der Juden und nicht die Sprache einer Religionsgemeinschaft in Anspruch, sondern bezieht es durch ein kleines exiliertes Volkstheater als nomadische Deterritorialisierungsbewegung, die das Deutsche verarbeitet (Deleuze/Guattari 1967: 36f.). Aufgrund des Nationalsprachen-Modells wurde das Jiddische zum „Inbegriff der alteuropäischen Ghettokultur mit den Makeln transnationaler Exterritorialität, nomadischer Ortlosigkeit und kultureller Hybridität“, was Kafka umwertet (auch gegen die „zionistische Renaissance“ des Hebräischen) (Kilcher 2007: 69); die Nationalsprachen sind zur Vorgabe auch der statistischen Erhebungen geworden (Kilcher 2007: 61f.). 44  Schestag (2004: 52) weist auf das vom Deutschen Wörterbuch angeführte Fremdwort fürs Fremdwort hin: „vox peregrina“ (DW 4: 131). Mauthner (1920: 12-15) wertet nicht nur das Jiddische als Mischsprache ab, sondern spricht in terms von „Gesundheit der deutschen Sprache“ die „Gefahr“ für „unsere Muttersprache“ an, die durch Fremdwörter drohte, „zu einer häßlichen und ekelhaften Mischsprache“ zu werden; daher habe Gustav Freytag diese nachträglich aus seinen Romanen ‚gefegt‘, Jacob Grimm dagegen „zugeben müssen, daß solche fremde Ausdrücke uns allen täglich in den Mund kommen; und er hat sich auf die Kraft unserer Sprache verlassen, sich die Fremdkörper anzugleichen“ (13-18); zur Tradition der ‚Muttersprachigkeit‘ der Literatur und der Abwehr der Verunreinigung s. Stockhammer (2007: 141-144). 45 Vgl. bezüglich der linguistischen Forschung zum Jiddischen Christina Pareigis (2007: 41).

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188) oder übersetzt ins Deutsche, die Differenz der Bewegungen von Vertreibungen und ‚Nahmen‘ löschend, in die ‚westeuropäische Ordnung des Verstehens‘ eingefügt würden‚46 ‚komme man daher dem Jargon nahe‘, sondern indem „Kräfte“ ‚in uns‘ ‚anknüpfen‘ an die Kräfte, die ‚ihn durchlaufen‘.47 Demgegenüber scheint einer der ersten Babel-Bezüge in Kafkas Schreiben (Begonnenes Gespräch mit dem Beter) negativ – als verlorene – eine wahre Sprache sogenannter „wahrhaftige[r] Name[n] der Dinge“ zu berufen.48 Demnach beraubte die Vielheit der Sprachen die Sprache (überhaupt) der Transparenz, löste die Worte aus ihrer vermeintlich sicheren Bezogenheit auf die Dinge (Derrida 1997a: 121; Borst 1995: 394ff.), da sie promiskuitiv und usurpatorisch auf andere Wörter bezogen sind, die sie substituieren mögen. 46  „[W]enn Jargon ins Deutsche zurückgeführt wird“, wird „kein Jargon mehr zurückgeführt“, „durch Übersetzung ins Deutsche wird er vernichtet. ‚Toit‘ z. B. ist eben nicht ‚tot‘ und ‚Blüt‘ ist keinesfalls ‚Blut‘“ (KKAN I: 192). Während das Jiddische ausmacht, „dass ihm die Bewegung, durch die es aus dem Deutschen hervorgegangen ist, eingeschrieben bleibt“ (Bay 2013: 60): „oi“ ist die Spur des Vertriebenseins und der Fluchtbewegungen im Inneren des Wortes, wäre die Differenz, die Unruhe und Entfremdung, die umgekehrt der ‚Jargon‘ am Deutschen markiert, in „tot“ und „Blut“ gelöscht (Vogl 1994: 382f.; Schestag 2004: 43). Mit Karl Kraus’ „Literatur“-Operette, die die „schreckliche innere Lage“, das „Verhältnis der jungen Juden zu ihrem Judentum“ kenntlich mache, hebt Kafka das (ältere) „oi“ hervor, s. o. im Brief an Brod im Juni 1921, in dem er mit dem „Mauscheln“ aufs Schreiben reflektiert (Briefe 1980: 336). 47  „Ganz nahe kommen Sie schon an den Jargon, wenn Sie bedenken, daß in Ihnen außer Kenntnissen auch noch Kräfte tätig sind und Anknüpfungen von Kräften“ (KKAN I: 193; Deleuze/Guattari 1976: 37f.). Mit Kafka kann die „historische Entwicklung“ des Jiddischen „wie in der Tiefe der Geschichte, in der Fläche der Gegenwart verfolgt werden“ (KKAN I: 192f.; Vogl 1994: 381f.). Das Jiddische ist „Kartographie der Zerstreuung“, so Bernhard Siegert: „Es schreibt die Zerstreuung ein in ein Sprechen und zerstreut umgekehrt den Körper des Sprechers in eine Geographie der Intensitäten.“ „Es zerfällt in eine Legion jüdischer Dialekte, die keine Hochsprache kennen und jeweils auf eine andere Linie auf der Karte verweisen, Analyse unterschiedlicher Machtaspekte sind und deren unterschiedliche Genealoge der Bedeutungen von den Körpern der Sprecher unterschiedlich dechiffriert werden.“ „Jiddisch sprechen heißt durchquert werden von einer Karte von Fluchtlinien eines kollektiven Sprechens.“ (Siegert 1990: 227, s.a. 222ff., 231). 48 „Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist. Deren Wesen ist so, daß ihr den wahrhaftigen Namen der Dinge vergessen habt und über sie jetzt in einer Eile zufällige Namen schüttet. Nur schnell, nur schnell! Aber kaum seid ihr von ihnen weggelaufen, habt ihr wieder ihre Namen vergessen. Die Pappel in den Feldern, die ihr den ‚Thurm von Babel‘ genannt habt, denn ihr wußtet nicht oder wolltet nicht wissen, daß es eine Pappel war, schaukelt wieder namenlos und ihr müßt sie nennen ‚Noah, wie er betrunken war‘.“ (Kafka 1999: 128-131; Reuß 2001: 3, 15f.; KKAN I: 89f.; s. die Verschiebung „vergessen“/„nicht begnügen“ in Kafka 1999: 83-86).

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Jedes ‚Ding‘, die ‚Pappel in den Feldern‘ ist nicht nur anders, vorübergehend ‚Thurm von Babel‘ benennbar, sondern „Seekrankheit auf festem Land“ ist die ‚Erfahrung‘, dass die ‚Pappel‘, kaum benannt, schon „wieder namenlos“ ‚schaukelt‘, so dass nur weitere Wörter ‚in einer Eile‘ als ‚zufällige Namen‘ übergeschüttet werden können, allenfalls das Schaukeln (‚selbst‘) dessen, wessen Namen nicht festzuhalten und was in sich nicht stabil ist, sich in einem Bei-Namen niederschlägt; „und ihr müßt sie nennen ‚Noah, wie er betrunken war‘“, wo der Ausfall des väterlichen Haltepunktes,49 des Eigenen und des Eigennamens aufgerufen ist. Der Bezug auf andere Wörter ist der vermeintlichen sprachlichen Entität eingeschrieben als ungerichtetes Schaukeln hin und her, zwischen hier und dort, als potentielle Verschiebung in andere Wörter, ein Forttreiben ohne Verankerung.50 Wenn die „Pappel in den Feldern“ substituierend „Thurm von Babel“ fehlbenannt wurde, so ist damit vorübergehend, in aller Eile, nicht (nur) das Verderben der Sprache bezeichnet und vollzogen, sondern die Pappel, die gegen die nomadisierenden Wörter den verlorenen Halt der Sprache zu berufen scheint, wäre selbst rückwirkend von Babel her, das ist: durchs haltlose Spiel der Signifikanten, die Ver- und Entstellung P/Bab/beln herbeigeführt (Scherer 1983: 49), wie durchs homophone pappeln oder bappeln,51 um rastlos schon wieder fortgesprochen zu sein im intransitiven Sprechen oder Plappern (das sei immer nur „viel unnütz ding“).52 Umgekehrt lässt das Spiel von Differenzen und Spuren, in Ver- und 49  Gerade der Vater steht nicht fest, während in einer der Sagen der Juden dem Schaukeln der Welt ein stammväterlicher Halt gegeben wird: „Als der Herr die Welt erschaffen hatte, konnte sie nicht feststehen und wankte hin und her. Da fragte Gott: Was ist dir, daß du so schaukelst? Und die Welt sprach: Herr, ich kann nicht stillstehen, denn ich habe keine Stütze. Da sprach der Herr: Ich will dir einen Gerechten geben, Abraham mit Namen, der wird dir ein Halt sein. Alsbald konnte die Erde feststehen.“ (Bin-Gorion 1935: V. 1, 255). Der „betrunkene“ Noah wird von seinem jüngsten Sohn Cham trunken ‚in seiner Blöße‘ gesehen, der derart das väterliche Gesetz verletzt (Gen. 9. 18-27; Bin-Gorion 1935: 162); Cham wird Stammvater Nimrods, den die Deutungsgeschichte von Gen. 10-11 zum König des himmelstürmenden Babels machte (Borst 1995: 120ff.). 50  Vgl. das Schaukeln der Erwiderungen: „‚Ich bin froh, daß ich das, was Ihr sagtet, nicht verstanden habe.‘ ‚Dadurch daß ihr froh seid darüber, zeigt ihr, daß ihr es verstanden habt.‘ ‚Freilich habe ich es gezeigt, gnädiger Herr, aber auch ihr habt merkwürdig gesprochen‘“ (Kafka 1999: 131, 135ff.; 85-90). 51  „pappeln, verb., intransitiv und transitiv was bappeln […]: gleich wie eine mutter …, die pappelt und spricht mit irem Kindlin. LUTHER tischr. 185, 194; […]“ (DW 13: 1445); s. Babbeln, Babbern, Bappeln, Bappen, Bappern, Blappern (DW 1: 1057, 1120). 52  Als Beleg zu pappeln: „(‚sie‘) schwätzt und pappelt viel unnütz ding. FISCHART ‚flöhaz‘ (1610) 8“, d. i. weibliches Sprechen wie in anderen Belegen; „sie finden zu plappern, pappeln und tadern […], plappern und papplen.“ (DW 13: 1445).

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Entstellungen zwar Sinn-Effekte hervortreten, die aber stets wieder an dieses Spiel zurückgestellt sind, an ein Sprechen, das (sich) stets wieder Intention und Verstehen, den väterlichen Arretierungen und dem Eigenen entzieht.53 Als Plappern, unverständlich Sprechen wird das ‚Kauderwelsch‘ erläutert, wie die ‚verwirrte‘ als gemischt-unverständliche Sprache nach Babel zuweilen heißen muss,54 und das Kafkas Schreiben in der Sprache, in der er schreibt und in der zu schreiben so unmöglich ist wie in einer anderen Sprache zu schreiben, wie nicht zu schreiben (Kafka 1980: 338), ‚erfinde‘ (Deleuze/Guattari 1976: 27). „Kauderwelsch“ wird erklärt als ein nicht-heimisches Sprechen von aus der Ferne, wohl Italien, her- und umherziehenden Werg-Händlern,55 als unverständliches, u. a. lautmalerisch auf tierische Laute zurückgeführtes,56 mit dem Rotwelsch der Gaunersprache assoziiert, als ‚Geheim‘sprache fahrender und Zwischen-Händler, Hausierer und Geldwechsler, die die Ungewissheiten über Bedeutungen oder Werte im Wechseln der Wörter oder Münzen, zwi53  Die „Operatoren“ der Bab/belogik „durchqueren“ „jene Territorien, die der Imperativ des Signifikanten absteckt und mobilisieren die Code-Reserven zur permanenten Decodierung ohne Arretierung der semiotischen Ereignisse“, „um den akkumulierten Code zu decodieren und zu nomadisieren“ (Scherer 1983: 23). 54 Die Babel-Verwirrung sei der Menschen „Verbannung in Kauderwelsch“, die durch die Wiedergewinnung der „verlorenen Paradiesessprache“ in „letztendlicher Einheit“ beendet würde (Steiner 2004: 64, 66). 55  Die Etymologie des vor dem 16. Jahrhundert entstandenen Wortes ist eine mehrfache: Älteste Belege für „kaudern“ weisen auf Tagelöhner, Landsetzer (DW 11: 308) – in der Entgegensetzung zu sesshaften Eigentümern. Das Wort kaudern wird u. a. auf frühneuhochdeutsch „kūder Werg“ (auch diesbezüglich abwertend) zurückgeführt (Sp. 308ff.); es bedeute auch „Zwischenhandel treiben, mäkeln“ (Sp. 307f.), sowie Wucher im Kleinen (Sp. 307); „welsch“ ist eine alte deutsche Bezeichnung für die romanischen Sprachen, ursprünglich sei das „Welsch“ italienischer Händler, Hausierer und Geldwechsler (Sp. 310), allgemeiner die Geheimsprache (Rotwelsch) fahrender Hausierer gemeint (Sp. 310). „Kauderwelsch“ war die abwertende Bezeichnung für die italienischen Flachs- und Werghändler und schon im 17. Jahrhundert für deren Sprechen (Sp. 308f.). 56 Das Deutsche Wörterbuch verzeichnet „kaudern“: lautmalerisch „wie ein Truthahn kollern“ und „plappern, unverständlich sprechen“ (DW 11: 307f.), und zwar als unverständliches Reden: durch schlechte Aussprache, falsche Formen, Vermengung mit fremden (Sp. 309), „plappern“, „unnütz zeug und unverständlich reden oder plappern“ (Sp. 308), wie ein „plappernder radebrechender Italiener“ (Sp. 309). Die nicht-eigene Sprache wird oftmals als Nicht-Sprache, als a-kulturell gekennzeichnet: die des Riesen Nimrod in Dantes inferno canto xxxi, 67-81; „a jingling noise of words unknown“ in John Miltons Paradise Lost, xii, 55. In Ein altes Blatt hört der ansässige Sesshafte die Laute der Nomaden unsprachig ‚wie Dohlen-Schreie‘ („Es ist als wäre […]“, KKAN I: 358; KKAN I: 359; KKAD: 264f.; Bay 2006: 50); zur Vogelstimme als „‚andere‘ Sprache“ ohne Inhalt und in Bezug aufs Sprechen „mit einer fremden Zunge“ s. Tawada (1998: 20, 12, 22).

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schen Währungen und Sprachen als mögliche Übervorteilung oder Betrug zu figurieren haben (Sp. 307-310). „Kaudern“ meint, dem Deutschen Wörterbuch zufolge, abfällig, verwirrtes ‚Werg‘ oder ‚Abwerchs‘, Abfälle, Reste (Sp. 306f.), figürlicher das „confuse“, ‚verwirrte krause Dinge‘, Gedanken, „die verworren sind oder verwirren“ (Sp. 308). Das nahm Kafka mit dem nichtsesshaften Odradek auf, der/das dem quasi-polizeilichen Auskunftsbegehren mit „unbestimmter Wohnsitz“ entgegnet (KKAD 282ff.), das „Haus des Hausvaters“ heimsucht, ‚ist‘, was nicht ist, „was ‚unweigerlich‘ immer wieder auftaucht im Haus des Hausvaters, ohne daß seine Herkunft, sein Ziel oder sein Sinn zu bestimmen wäre“ (Bay 2006: 44). Das aus leblosen Bestandteilen zusammen gebastelte unfertige Un-Wesen trägt das verknotet ‚verfitzte‘ Kauder-Garn der Umherziehenden bei und fort: „abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinanderverfitzte“ Fäden, Schnüre „von verschiedenster Art und Farbe“, die ihm und seinen Bewegungen „nachschleifen“ (KKAD 282f.). Sie machen ihn in seiner Unabgeschlossenheit, Unfassbarkeit, „außerordentlichen Beweglichkeit“ aus, mit der sich Odradek „auch all den Versuchen [des Hausvaters entzieht], ihn in sein Verständnis der Welt einzuordnen“: „Unzugehörig“, „unbegreiflich“, „nicht zu fassen“ (Bay 2006: 44; 50ff.)57 sucht mit Odradek die „hausväterliche[] und vaterländische[] Ordnung“ des Verstehens deren „Deterritorialisierung und Desartikulation“ heim (Bay 2006: 52),58 – wie (oder als) das verwirrte/nde nichtsesshafte Kauderwelsch der Nicht-Sesshaften, „lallendes Kauderwelsch“ musste auch der ‚Jargon‘ sich heißen lassen.59 Hatte das Wort ‚mauscheln‘, das jiddische Wort für Jiddisch-Sprechen, das Jiddische als „Mauscheldeutsch“, als verdorbene und verderbende Mischsprache abzuwerten,60 so entwendet Kafka es aus diesem Diskurs. Muss „mauscheln“ im Deutschen Wörterbuch das unverständlich verdächtige Sprechen, „wie ein jüdischer Händler Geschäfte mach[e]“, „in verächtlicher weise“ bedeuten: den kleinen Handel und ein Sprechen, das 57  Vgl. auch die Perspektive des tierischen „Hausbesitzer[s]“ gegenüber den Nicht-Sesshaften, „ohne Haus, auf Landstraßen, in Wäldern, bestenfalls verkrochen in einem Blätterhaufen oder in einem Rudel der Genossen“ (KKAN II: 580). 58 Mit Bezug auf den ‚Jargon‘ s. Bay 2006: 52f., 44-55; bezüglich des durch Odradek kenntlich gemachten „Diskurs[es] der Bedrohung durch Migranten“ s. Gerhard (2006: 71) und die Beiträge von Marek Nekula und Scott Spector zur Tagung und in diesem Band. 59 Vogl (1994: 383) belegt dies nach Meyer Pinès’ Histoire de la Littérature Judéo-Allemande (die Kafka 1911 las); „Jargon“ ist der ‚Name‘, der als „Synonym zu ‚Verwirrung‘“ fungiert (Vogl 1994: 382; KKAN I: 188). 60 Mauthner nennt neben den „Hauptsprachen Deutsch, Tschechisch und Hebräisch“ der Juden Prags als „Kontamination[en]“ „Kuchelböhmisch“ und das „noch viel gemeinere Mauscheldeutsch“ (zit. n. Kilcher 2007: 73f., 69; Zimmermann 2008).

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Wörter oder Zeichen ohne Gewissheit über ein einheitliches Signifikat übersetzt und überträgt, das unter den Verdacht des Betrugs gestellt wird,61 so weist Kafka „Mauscheln“ – „in dieser deutsch-jüdischen Welt“, in der doch „kaum jemand anders als mauscheln kann“ – als Sprach-Geste (übrigens die des „Witzes“) in Analogie zu seiner „Rede über den Jargon“ aus:62 die eines sprechenden ‚Stehlens im Vorübergehen‘ „durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff“ (Kafka 1980: 336), der das Entwendete nicht zum eigenen Besitz machte, vielmehr gegen sich selbst und in der Rede forttreibt. Das in Wörterbucheinträgen als Fortträgersprache für Kauderwelsch wie Mauscheln angeführte Rotwelsch ist die „Gaunersprache“, die, Kafka zufolge, anders als alle anderen, „gern“ dem Jargon „entnimmt“ (KKAN I: 189). Mit dem Wort ‚Gauner‘ „kehrt“, so Schestag, „ein Wort aus der Gaunersprache wieder“, „ein immer wieder und wieder und wiederum anders genommenes, laufen gelassenes, aufgegriffenes, ‚von Neugier und Leichtsinn‘ erfasstes Wort“,63 das – ‚auf dem Wege des Jargon‘ – in andere Wörter unter Wörtern, illokale, ‚heimatlose‘ Wörter zieht und entlang vielzähliger ‚Flucht‘linien fortzieht, lexikalisch dagegen als ein „jüdischer Falschspieler“ festgesetzt sein sollte.64 61  „Mauscheln“ sei, so das Deutsche Wörterbuch, abgeleitet von Mausche, jiddisch für Mose, dann fremdzuschreibend: „spottname für einen juden“, benenne für das ‚für Nicht-Juden‘ ‚unverständliche Jiddisch‘, „in verächtlicher weise den juden, namentlich den schacherjuden“ (DW 12: 1819f.); es meine „wie ein Mauschel“ sprechen oder handeln, demnach „täuschen, sich mit heimlichen und unerlaubten geschäftchen abgeben“, auch „wechseln“ (Sp. 1820). 62 So Kafka zu Karl Kraus’ Literatur oder Man wird doch da sehn. Eine magische Operette, Wien 1921: „Ich glaube, ich sondere ziemlich gut, das, was in dem Buch nur Witz ist, allerdings prachtvoller, dann was erbarmungswürdige Kläglichkeit ist, und schließlich was Wahrheit ist, zumindest so viel Wahrheit, als es meine schreibende Hand ist, auch so deutlich und beängstigend körperlich.“ „Der Witz ist hauptsächlich das Mauscheln, so mauscheln wie Kraus kann niemand, trotzdem doch in dieser deutsch-jüdischen Welt kaum jemand anderes als mauscheln kann, das Mauscheln im weitesten Sinn genommen, in dem allein es genommen werden muß, nämlich als die laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht erworben, sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff gestohlen hat und der fremder Besitz bleibt, auch wenn nicht der einzigste Sprachfehler nachgewiesen werden könnte, denn hier kann ja alles nachgewiesen werden durch den leisesten Anruf des Gewissens in einer reuigen Stunde.“ „Ich sage damit nichts gegen das Mauscheln, das Mauscheln ist sogar sehr schön, es ist eine organische Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache“ (Brief an Max Brod [Matliary, Juni 1921], Briefe: 336). 63 – „das weiterhin anders, und andern als den bisher verzeichneten Nahmen und Festnahmen, offen bleibt“ (Schestag 2004: 49f.). 64  „Als ‚Jauner‘ taucht, so der Beiträger des Deutschen Wörterbuches 1878, das Wort ‚Gauner‘ im 18. Jahrhundert in der deutschen Sprache auf; unter ihm, im 15. und 16. Jahrhundert, das

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Der „Jargon“ ‚ist‘, so Thomas Schestag, nicht nur „[u]nausgebildet, unentstanden und unfeststellbar unterwegs“, nicht einfach „keine Sprache“, „sondern unter allen entstandenen Sprachen, deshalb betrifft er alle Sprachen“.65 Er ist dem Nationalsprachen-Diskurs nicht bloß entgegengesetzt, sondern in ihm begegnen die (vermeintlichen) Nationalsprachen in ihren Entnahmen, ‚doubles‘ sich selbst unidentifizierbar fremd,66 sind deren vermeintliche Einheit, der Nationaldiskurs, die „hausväterliche und vaterländische Ordnung“ des Verstehens, die Herrschaft über die Sprache, wie Lexika und Etymologien sie zu behaupten suchen,67 durch jene latenten Relationen dezentriert oder dispersiert, die auch die Bedeutungen ermöglichen, und ‚weiterhin anders‘ unvorhersehbar woandershin (auch in andere Sprachen) fort-ziehen können.68 Schreiben ‚auf dem Weg‘ des ‚Mauschelns‘: ein Nehmen im Vorübergehen, „durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff“ (Briefe: 336), der das Entwendete nicht zum eigenen Besitz assimiliert, so dass das Entwendete vielmehr ‚nicht zur Ruhe kommt‘, (es) in der Rede fort-treibt, ist die ‚Erfindung‘

Wort ‚Joner‘, das im rotwelschen Wörterbuch, dem liber vagatorum als Anhang beigebunden, mit ‚spiler‘ erklärt wird. Der liber vagatorum verzeichnet das entsprechende Verb für ‚spilen‘, nämlich falsch spielen: ‚jonen‘.“ Entziffert wird „auf der Spur des Rotwelsch, in dem Verb ‚jonen‘‚ das hebr. janah, eigentlich unterdrücken, aber auch übervortheilen in kauf und verkauf […]; das falsche spiel wurde aber besonders von jüdischen gaunern ausgebildet‘. Wenn derart der Eintrag „im Ursprung des Worts, einen jüdischen Falschspieler identifiziert und feststellt, so vollzieht er einen „Schluss, der wie eine gezinkte Karte im Spiel gezogen wird“ (Schestag 2004: 50, mit DW 4: 1585). Ein anderer Weg führe von „Gauner“ auf „rotw. *jowonnen‚ (falsch) spielen wie ein Grieche‘, da den Griechen besondere Geschicklichkeit im Falschspielen nachgesagt wird […]. Das Wort kommt auf, als nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken (1453) viele Griechen heimatlos umherziehen“ (nach Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 1993, Schestag 2004: 50). 65 „Eigentlich ist der Jargon immer schon nicht mehr, was er immer noch nicht ist: Sprache unter Sprachen. Unausgebildet, unentstanden und unfeststellbar unterwegs, kommt im Jargon nicht einfach keine Sprache zur Sprache und zu Wort, sondern unter allen entstandenen Sprachen, deshalb betrifft er alle Sprachen, die entstehende, zur Sprache unentstandene Sprache. [… I]m Jargon kommt die unfeststellbare Unentstandenheit aller entstandenen Sprache zur Sprache.“ (Schestag 2004: 47, 47ff.) 66  „Das Deutsche wird sich selbst im Jiddischen fremd.“ (Vogl 1994: 382f.) 67  So führen „die Etymologien des Jiddischen nicht in die Tiefe einer eigenen Geschichte, sondern in die Weite einer fremden Topographie“ (Vogl 1994: 381). 68 „In welche, in wie viele Sprachen unter Sprachen, in welche Fremde hier, geht das Wort, dem Innerhalb der deutschen Sprache assimiliert, das – umgekehrt –, im Augenblick der Assimilation, den Schein ihrer Gegebenheit, einer unter andern Sprachen in ihren Grenzen, a-similiert, par-a-similiert, auseinander?“ (Schestag 2004: 51)

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von Kafkas Schreiben:69 – Ein Schreiben, das in der (vermeintlich) eigenen Sprache (deren) Kauderwelsch ‚entdeckt‘,70 die un-abgeschlossen „immerfort“ unterwegs (nicht) ‚ist‘, im Passieren in (unvorhersehbaren) Bewegungen begriffen, die von dem Wunsch nach einer territorialen Identität gelöst ist, das insofern die genaue Gegenschreibung zum Babel-Topos gibt: in ursprungsund heimatlosen Dispersionen, Zerstreuungen der Elemente der Sprache wie der Sprechenden, die bewegt: entwendet, ‚nicht zur Ruhe kommt‘, die in allen Wörtern von ‚nomadischen‘ in viele Richtungen getriebenen/treibenden Bewegungen durchlaufen,71 von ‚Kraftlinien‘ durchzogen ist, die (potentiell) jedes Wort woandershin, in andere Wörter verzieht. Mag der babylonische Turmbau, der in Kafkas Schreiben: „beim Bau“ kein Turm-Bau sein wird, der gar nicht angefangen worden sein wird, als dessen unaufhörliches Ver-Zögern (möglicherweise) irgendwas anderes tut und der, indem er die temporale Ordnung anfangs bereits verkehrt hat, eine aller Einheitskonstruktion vorgängige (nicht als göttliche Untersagung von Einheit und Totalität erzählte), nicht einholbare sprachliche Heterogenität exponiert, auch und gerade auf Prag beziehbar sein. Und kann dies auch in ‚regionalgeschichtlicher‘ Perspektive, die die Organisatoren der Tagung nicht vernach69  Kafka nehme „den Weg, den das Jiddische weist, um ihn auf ganz andere Art zu beschreiten und zu einer einzigartigen und einsamen Schreibweise zu kommen“, so Deleuze/ Guattari 1976: 37. Im Anschluss an die Überlegung zum Mauscheln bestimmte Kafka im Brief an Brod sein Schreiben als eines „zwischen drei Unmöglichkeiten“, als „eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß. (Aber es war ja nicht einmal das deutsche Kind, es war nichts, man sagte bloß es tanze jemand) [bricht ab]“ (Kafka 1980: 338; Deleuze/Guattari 1976: 27ff.). Siegert macht im Mauscheln die Strategie der „entwendeten Metapher“ (nach Neumann, „Umwendung und Ablenkung“) aus (Siegert 1990: 233; Kilcher 2007: 83; Bay 2013: 61, 63). 70 So konzipiert auch Derrida (1997b: 37) sein Schreiben in der ‚einen Sprache’, die untersagt ist, das ‚im Innern‘ des Französischen sich auf dieses pfropft, so dass es „mit sich nicht eins“ ist und für weitere Pfropfungen und Entnahmen „offen“. 71  Zu den Möglichkeiten einer „glücklichen nicht babylonischen Verwirrung“ (Vogl 1994: 381), s. die „fast glückliche[] Zerstreutheit“ (Die Verwandlung, KKAD 159), die der Sesshaftigkeit, Hausvätern, der Ordnung der Identitätsverpflichtungen und des Verstehens (fast) entkommt bzw. aus dieser entbindet; in Der Verschollene (Hamann 2006: 141f.); in Der Bau (KKAN II: 617), mit den, dem vermeintlichen Bauherrn entgegengesetzten Nomadisierenden, „Landstreichern“ (KKAN II: 580, 590, 613); die Deterritorialisierungen durch Odradek (KKAD 282ff.) s. Bay (2006: 52ff.) sowie zu den ‚Stockungen‘ in Kafkas Nomadismus Bay (2010: 269-273).

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lässigt sehen wollen, bezüglich der Konzepte Prags, der kleinen Sprachen und gerade jetzt wieder gegen nationalstaatliches Einheits- und Homogenitätsbegehren (allerdings vielerorts) einen entscheidenden Vorhalt, ja Widerstand abgeben, so sollen die zum einen möglichen Aufweise von Regionalbezügen und historisch bestimmbaren Orten gar nicht zurückgewiesen sein,72 die sich allerdings im Falle von „beim babylonischen Turmbau“ einer Operation der Vollendung verdanken, die die schreibende Faktur, das schreibende Zögern im was anderes Schreiben, Stocken, Fortschreiben als Verschiebung, als Verstreuung, als ‚Gelöstheit‘ vergessen machte (KKAN II: 318-323).73 Solche Orte oder Topoi sind aber zum andern (wie die Texte) im Schreiben Kafkas, das sich kaum je zum Text vollendet: abgeschlossen haben wird, anfangs schon in deterritorialisierenden Bewegungen entortet, von sich selbst (je schon und je wieder) forttreibend. Schreibend werden die Grenzen von Territorialität, Gemeinschaft und gar nationalsprachlicher Literatur, die sprachlicher und/ als politischer Einheit – auch des Schreibens – dekonstruiert, werden sie an diesen vorgängige, diese erst ermöglichende Dispersionen verwiesen. Daher ist dieses Schreiben in der Perspektive der ‚Interkulturalität‘ nicht zureichend aufzufassen, insofern dieser Begriff gegebene, in sich einheitliche, nur voneinander geschiedene Kulturen, kulturelle Identitäten voraussetzte.74 Das entortende „Treiben“ der Sprache, das Kafkas Schreiben ermöglicht, würde in regionalgeschichtlicher Hinsicht sistiert, rückgestellt in eine Ordnung der 72 Insofern greift die von Manfred Weinberg (2012: 320) angezeigte Alternative zu kurz. Benno Wagner hebt dagegen darauf ab, „[w]ie diese literarisch-aktualhistorische Redeweise funktioniert und auf welche Weise sie den Fallen des National-Diskurses entgeht“ (Wagner 2006: 162, 156ff., 170), auf die „dezidiert sprachpolitische Intervention Kafkas“ (Wagner 2007: 116ff., 121, 125f.). 73  Unter den von Brods Textherstellung übersprungenen Notaten finden sich „die glücklich gelösten Glieder“ (KKAN II: 322f.), was wörtlich Bezüge zum ‚Glück‘ des abgelenkt horchenden Mäusevolks unterhält (651, 663f.), wie dem des Sich-Verlieren des Tiers an den Bau (KKAN II: 617 u. ö.); zum ‚Glück‘ der Desymbolisierung s. Vogl (1990: 224f.); zur Gleichzeitigkeit von Versammlung und Lösung Vogl (1990: 201). 74  Auch wenn der Begriff der Interkulturalität von dieser Voraussetzung gelöst werden soll (s. das Exposé zur Tagung sowie den Beitrag von Dieter Heimböckel: Franz Kafka in interkultureller Perspektive), bleibt das Konzept bezüglich der impliziten Voraussetzungen fragwürdig (Rieger/Schahadat/Weinberg 1999: 11f.; mit Verweisen aufs ‚Un-eins-Sein‘ von Kultur mit sich selbst, die „nie einfach sie selber ist“ (16ff.), mit Düttmann (1997) bzw. auf den anderen inzwischen berühmten Ansatz der Hybridität nach Bachtin, Bhaba (12f.); für die Begriffe Transkulturalität bzw. Hybridität statt Interkulturalität s. Bay (2010: 252f., 272ff.). Kafkas „[Rede über den Jargon]“ stellen Stockhammer, Arndt, Naguschewski (Hgg.) unter Exophonie ein (2007: 31-34), wobei sie diesen Begriff u. a. mit denen der „Andersschriftlichkeit“ und „Anderssprachigkeit“ in Frage stellen (14-22).

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Orte, festgesetzt, reterritorialisiert im Dienste der Bestimmtheit eines Ortes, und derart unterboten. Die Mehrsprachigkeit in Kafkas Schreiben ist nicht die (bloß) einer so oder so (beschreibbaren) historisch in Prag vorgefundenen Sprachsituation (Zimmermann 2008; Kilcher 2007; Nekula 2000; 2003; 2013), sondern eine schreibende ‚Erfindung‘ (Deleuze/Guattari 1976: 37f.; 27f.),75 schon da und im Schreiben hervorgetrieben: in der ‚eigenen‘ Sprache die ‚fremde‘, kleine und nomadisierende, flüchtende,76 (potentiell) in jedem Wort (sich) anderswohin (in andere Wörter in/unter den Wörtern) fort entziehend und fortreibend. Kafkas Schreiben ‚folgt‘ der Strategie des „Jargon“ mit einer auf keine Territorialität von Wörtern und Sprechenden rückführbaren Mehrsprachigkeit der Sprache, die in allen Wörtern mit sich uneins ist, ohne Selbst-Präsenz, fort-redend.77 Es ist ein Schreiben, das und dessen Anderssprachigkeit weder beliebiges noch auch ‚freies‘ Spiel ist; es vollzieht sich unter Macht-Auflagen,78 diese ver-zeichnend oder ‚aus der Not‘ ein Experiment machend.79 So erfindet Kafkas Schreiben sich „zwischen drei [präzisen] Unmöglichkeiten“,80 wie Derrida sein Schreiben als eine enteignende Ver75  Kafkas Schreiben vollzieht/erfindet, wie man „die eigene Sprache wie eine kleine Sprache zu benutzen vermag“ (Deleuze/Guattari 1976: 38). 76  Gegen eine regionalgeschichtliche Auffassung der Texte Kafkas ist es auch nicht mit einer wohlfeilen ‚ästhetischen Differenz‘ getan. Was passiert im Schreiben, ist eine politische Intervention, insofern dieses nationalsprachliche und -literarische Identitätsgebote unterläuft. „Kafkas alle gesicherten Positionen irritierende Mehrsprachigkeit korrespondiert [...] mit seiner Poetik des gleitenden Paradoxes“ (Kilcher 2007: 83; Siegert 1990: 233); s. die latente Mehr- und Anderssprachigkeit, die der Beitrag von Alice Staškova (im vorliegenden Band) in Kafkas Ausflug ins Gebirge aufweist. 77  Das ist die Umwertung der mit der Vorgabe der Nationalsprachlichkeit dem Jiddischen als „Inbegriff der alteuropäischen Ghettokultur“ vorgehaltenen „Makeln transnationaler Exterritorialität, nomadischer Ortlosigkeit und kultureller Hybridität“ (Kilcher 2007: 69; Zimmermann 2008: 170ff.). 78 Bay (2007: 272f.) vermerkt die „‚Machtvergessenheit‘ aktueller Inter- und Transkulturalitätskonzepte“; zum Verhältnis von Gewalt der Vertreibungen und ‚Sprachwahl‘ (Stockhammer/Arndt/Naguschewski 2007: 11ff.) Wurden zum einen die jiddisch Sprechenden in nicht selbstbestimmten, aufgezwungenen Bewegungen durch die Länder getrieben, können zum anderen doch ‚Geschick‘ und Strategie in Bezug auf diese Fluchtbewegungen, die das Jiddische ‚kartographiert‘, nicht voneinander geschieden werden (Siegert 1990). 79  So fragt Yōko Tawada (1998: 11): „ob ein Experiment oder ein Spiel, das [...] aus Not [„eine fremde Sprache zu sprechen“] entstanden ist, nicht viel interessanter ist. Man muß den überflüssigen Unsinn genau an der Stelle treiben, an der Existenzielles auf dem Spiel steht.“ 80 So Kafka im zitierten Brief an Brod, Juni 1921: „der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben“; „also

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handlung einer dreifachen „Untersagung“ von Sprache(n) vorgestellt hat.81 Und dennoch nimmt das Schreiben derart „die Aussicht einer glücklichen nicht babylonischen Verwirrung“, die Vogl (1994: 381)82 den geschichtsphilosophischen Fixierungen an/durch den (vermeintlichen) Verlust entgegenhält, als die jeder möglichen Einheit vorausgehenden Dispersionen. Kafkas Schreiben, das als anders- und mehrsprachiges die vorausgesetzte Territorialität von Gemeinschaft und gar nationalsprachlicher Literatur, von sprachlicher und/ als politischer Einheit dekonstruiert, eröffnet, sich im Schreiben entortend, Bezüge aufs anderssprachige Schreiben Vieler und der jeweiligen singulären ‚Erfindungen‘ von Verfahren; diese Bezüge erhellen umgekehrt Kafkas unentscheidbar un-/mögliches Schreiben.83 war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, [...]“ (Kafka 1980: 337f.; Deleuze/Guattari 1976: 29). 81  Derrida (1997b: 23, 25-32) ‚begründet’ sein Schreiben in einer dreifachen ‚Untersagung‘ der Sprache, „dreifach abgeschnitten“ (Wills 1997: 46, 52f.; Trabant 2007: 64, 50f., 53f.): vom Französischen, Arabischen, Ladino. 82 Zu Beim Bau der chinesischen Mauer s. Vogl (1994: 379ff., 374); zum Jargon als „Raum dieser nicht-babylonischen Verwirrung“ s. Vogl (1994: 381, 384); Kittler (1985: 76); Blanchot (1993: 59). 83  Das ist spätestens ‚heute‘ eine unabweisbare Perspektive: „Wie viele Menschen leben heutzutage in einer Sprache, die nicht ihre eigne ist?“ (Deleuze/Guattari 1976: 28). Kafka und Derrida mit ihren Diagnosen der Unmöglichkeiten und Untersagungen der Sprache sind und gerade Celan, „der in der Sprache des Anderen und des Holocaust (in deutsch) schrieb, Babel in den Körper jedes Gedichtes einschrieb“ (Derrida 1997b: 40), wäre in dieser Perspektive zu analysieren, mit der keineswegs die „Ausnahme“ einer anders bestimmten Regel bezeichnet ist (Stockhammer/Arndt/Naguschewski 2007: 7ff.). Die Herausforderung formulieren Deleuze/Guattari (weiter): „Wie wird man in der eigenen Sprache Nomade, Fremder, Zigeuner?“ „Auch wer das Unglück hat, in einem Land mit großer Literatur geboren zu sein, muß in einer Sprache schreiben wie ein tschechischer Jude im Deutschen“; „erst einmal [ist] der Ort der eigenen Unterentwicklung zu finden, das eigene Kauderwelsch, die eigene Dritte Welt, die eigene Wüste.“ (Deleuze/Guattari 1976: 29, 27) Bay wendet ein: Die „Bedingungen der literarischen Produktion einer gesellschaftlichen Minorität“, das ‚ausweichliche‘ ‚Problem der Minderheiten‘, würde/n zu „Merkmalen einer Schreibweise, derer sich prinzipiell jeder bedienen kann“, gar „zu einem poetologischen Imperativ“ (Bay 2013: 65ff.); dagegen gehe es um Schreibweisen mit „Affinitäten zu einer bestimmten soziokulturellen Lage der Autorinnen und Autoren“, „die aber nicht aus ihr abzuleiten sind“ (Bay 2013: 68; Bay 2010: 273f.). Zur Spannung zwischen spezifischer Sprach-Situation und der Bestimmung aller Sprecher und allen Sprechens durch die „konstitutive Alloglossie“ der ‚Muttersprache‘, die Derrida ineinander überführt, s. Trabant (2007: 62, 60-65); Derrida (1997b: 33, 38-41); Wills (1997: 56). „Anderssprachige Literatur im engeren Sinne erschiene […] nicht mehr als exzeptionell, jedoch umgekehrt als ‚exemplarisch‘ für Literatur sui generis. Die Verwerfungen, welche Vertreibung und Kolonialisierung in einer bestimmten jüngeren und jüngsten Literatur hinterlassen haben, wären dann

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Für viele andere, die hier lesend konfiguriert werden könnten,84 ziehe ich hier nur kurz James Joyce bei, und nur insoweit, als Finnegans Wake nicht nur den Babel-Fall in der buchstäblichen Umkehrung im Palindrom „Lebab“ (Joyce 1939ff: 258), als quasi-allegorisch aufzufassenden Um-Sturz Babels,85 des Turms, des Gesetzes und des Namens vollzieht, sondern vor allem „witzig“, „unmythisch“ operiert (Haverkamp 2000: 147);86 Babel/babbel wird in einer Signifikanten-Landschaft in seinen Disseminationen auflesbar (Derrida 1984: 153). Sind Worte nur innerhalb einer sprachlichen Struktur, eines Codes bestimmt, versteh- und übersetzbar, sabotiert aber Finnegans Wake jede solche bestimmende Zurechnung. Macht ein pun in einem Wort andere hör-und mitlesbar87 und gibt dieser derart dem Wort die Chance auch von Mehrsprachigkeit, so ist in Finnegans Wake potentiell jedes Wort ein unauflösbar mehr- und anderssprachiges. Die ‚zwei Worte‘ Joyces aus der Babel-Passage, die Derrida adressiert: „he war“ (Joyce 1939ff: 258), sind bereits „two words in one“: „war“/„war“ „written simultaneously in both English and German“ (Derrida 1984: 151-157). He – who? („the he, who the hu, how the hue, where the huer?“) (Joyce 1939ff: 257),88 ist unentscheidbar zwischen Pronomen oder Name (Gottes)89 – (lord/) „O Loud“ (oder „laud“) (Joyce 1939ff: 258f.). Die nur noch Fälle, an denen sich Gattungsgesetze der Literatur besonders prägnant darstellen ließen.“ (Stockhammer/Arndt/Naguschewski 2007: 21) Einerseits ist die „Unselbstverständlichkeit“, die ‚Anderssprachigkeit‘ ‚der Rede‘ je spezifisch: singulär. Andererseits ‚gibt es‘ Sprache nicht ohne ‚Anderssprachigkeit‘ (Derrida 1997b: 40f., 33, 38 u. ö.).. 84  Gegenwärtig wäre Yōko Tawada zu berücksichtigen, u. a. weil sie auf die Übersetzungen reflektiert, deren ‚Sprache die konventionelle Ästhetik sprengt‘, die „die Existenz einer ganz anderen Sprache spüren lässt“ (Tawada 1998: 35), einen literarischen Text (u. a. Kafkas) als Übersetzung liest, „der später seinen Original finden kann“ (38f.); s. Bay (2010); Stockhammer/Arndt/Naguschewski (2007: 17f.) und den Beitrag von Heimböckel im vorliegenden Band. 85  Das Palindrom Lebab/Babel, „that overturns the tower of Babel“, „recalls the two Irish words ‚leaba‘, the bed and ‚leabhar‘, the book“, ver-irischt keineswegs nur das Englische, sondern manifestiert „the whole Babelian adventure of the book, or rather its Babelian underside“ (Derrida 1984: 153). Das durch die Verkehrung der Leserichtung nahegelegte hebräische Wort: „Lebhabh“, Herzen, weist (als Resonanz auch von „timids hearts of the words“, FW: 258) Hamacher (2010: 28f.) auf. 86  Deleuze und Guattari dagegen kennzeichneten Joyces Schreibweise als eine, die sich mit allen Mythen auflade, der Kafkas wie Samuel Becketts Schreiben sich gerade versagte (Deleuze/Guattari 1976: 28). 87  Der pun ist das „Zu-Gehör-Bringen der ‚Nuancen‘ latenter Ambiguitäten [...], einer ‚auricularen‘ „Latenzschicht“ (Haverkamp 2007: 136f.; Joyce 1939ff: 396 u. ö.). 88  Oder: „Who is he? Whose is he? Why is he? How much is he?“ (Joyce 1939ff: 261). 89  ‚He‘ ist auch der fünfte Buchstabe des hebräischen Alphabets, gedoppelter Bestandteil des Tetragramms, des heiligen Namens Gottes; abkürzend steht dieser Buchstabe für ha-shem,

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Frage, „how to hear them“ (Derrida 1984: 152), die entschieden sein müsste, um sie als bestimmte Worte einer bestimmten Sprache aufzufassen, um zu verstehen und um in eine Sprache übersetzen zu können (Derrida 1984: 155; Heath 1984: 60), stellt sich unaufhörlich überall.90 Die den Wörtern überall ermöglichte potentielle Polyglossie, die die schriftliche Form in sich dissoziiert „war/war“,91 setzt die sprechende ‚Zunge‘ aufs Spiel, „placing the tongue at risk“ (Derrida 1984: 156). Puns spielen – gegen alle etymologischen Verwurzelungsversuche, diese wie alle Genealogien parodieren – die unsinnigen: laut- und buchstäblichen Bezüge zwischen Wörtern / in den Wörtern aus, die Etymologien grundlos begründen und etymologisch bemeistert werden sollen, die, durch keinen Code, durch die Grenzen keiner Sprache beschränkt, unkontrollierbar sind; sie entziehen – entlang dieser Linien – alle vermuteten ‚Ursprünge‘ wie Genealogien überall anderswo hin.92 Worte zeigen sich jederzeit bereit, sich als andere Wörter zu hören und zu lesen zu geben. Die Sinn-Effekte der Wörter, die als andere gehört/gelesen werden, lauern unbestimmbar überall. Die potentielle entstellende Wiederholung als andere Wörter ist ihnen als Spur, von sich selbst differierend, eingelassen, spaltet sie ‚im Innern‘, zerlegt und streut sie (als Signifikantenketten), verschiebt sie anderswohin und macht sie (in ihren Elementen) als andere/in anderen Wörtern

Gattungsname des Namens, eine Ersatzlesung, um die Aussprache des heiligen Namens, des Tetragramms zu vermeiden (Sauter 2013: 262); statt dessen wird auch „El“, der hebräische Gattungsname für Gott gebraucht (261), der in „God es El“ (Joyce 1939ff: 246), ebenso wie das spanische männliche Personalpronomen zu lesen wäre, zugleich aber das französische weibliche „elle“ mithören lässt (Sauter 2013: 260f.), das in „belle“ aufgeschrieben ist, eine Gleichzeitigkeit, die das Palindrom „manowoman“ stützt (Joyce 1939ff: 396; Sauter 2013: 268). 90 Derart zeigt sich „jede Sprache und die Sprache überhaupt“ als „ein Kon(tra)dukt, das mindestens zwei, virtuell aber unendlich viele semantische Besetzungen eröffnet, die in nichts als flüchtigen Lauten und ihren kaum weniger flüchtigen grafischen Sinnspuren zusammenhängen. Jede Sprache ist mehrsprachig und jede bewegt sich im Zuge ihrer hypersemischen Kontraduktion, weil keine eine Sprache und keine eine Sprache ist.“ (Hamacher 2010: 24). 91  Zu klanglicher Vergegenwärtigung und buchstäblicher Markierung s. Haverkamp (2000: 143f.). 92  „The attempt to discover an origin common to all languages entails the reduction of the diversity of languages […] in the babel of tongues. The writing of Finnegans Wake goes against this notion of origin. Running through languages, Joyce’s writing poses no point of rest, no point of homogenization […]. Joyce’s etymology is indicative in this respect […], turning all discovery of ‚origin‘ into the development in the text“ (Heath 1984: 61).

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anderswo mit-hör-/lesbar.93 Das ist die ‚Bab/belisierung‘ der vermeintlich ‚eigenen‘ Sprache in Finnegans Wake.94 Überall anderswo können Echos gehört werden; die des „he“ (möglicherweise) im „Ha he hi ho hu“ (Joyce 1939ff: 259),95 das lesend als Gelächter zu hören wäre (Derrida 1984: 157ff.). Es besagt nicht etwas, auch nicht die Sinn-Leere des Spiels, sondern erschüttert, lockert, disseminiert (sich, sich mitteilend).96 Wo aller mögliche Sinn – ohne substanzielle Gründung und Grenze – gefunden werden kann, ist das ebenso gut wie keiner. Es wird sich, auch wo dieser Sinn-Effekte auswirft, um den Unsinn der Signifikanten gehandelt haben. Derart ist das auf Babel datierte Modell einer bloßen Vielzahl von abzählbaren territorialen, homogenen, in sich geschlossenen Sprachen unterlaufen, 93  Die Spur der Sprachexilanten, der „unhappitents“ als Nomaden (Joyce 1939ff: 258, vgl. Sauter 2013: 268, 270) wäre hier aufzunehmen, im „nomatter“ (FW: 258, 468) zu verfolgen: „diese nichtstoffliche Schrift [...] ist – wie ihr Gott – ein ‚nomade‘, ein Nomade, keine durch Lokalisierung und grammatisch-pragmatischen Kontext streng definierte nominale Einheit, sondern ein Wanderwort, eine Sprache im Gang ihres Anderswerdens“ ohne fixierte selbstidentische Präsenz, das „kein Gewicht hat, nicht zählt und nichts sagt“, mit der „Möglichkeit“, „sich nomadisch auf Erden zu bewegen und von einer Sprache zu einer anderen, von einer Ent-Sprachlichung zu einer weiteren überzusetzen“ (Hamacher 2010: 32; das macht „jede Sprache und die Sprache überhaupt“ aus [24]). 94  Das ist Babel, so Sauter (2013: 271): Nicht nur insofern „eine Sprache zugleich die andere“ ist „und sich also von sich selbst“ unterscheidet (270; Joyce 1939ff: 15). Vielmehr schreibt sich in Finnegans Wake „die babelische Kontrafusion der Sprachen emphatisch ein[...]: was ein Wort sagt, kann in diesem multilingualen und experimentellen Buch stets gleichzeitig das Gegenteil seiner selbst sein und bedeuten.“ (Sauter 2013: 259, vgl. 269) „Was sich in [...] der Sprachlichkeit der Sprache bekundet, ist der permanent sich reproduzierende Gegen-Sinn einer Sprache, die sich als solche zu behaupten und zu benennen versucht, [...] aber von sich abrücken, hinter sich zurückfallen und kollabieren muss. Indem sie sich als die Eine manifestiert, bricht sie auseinander und bricht ab. Die Agentin dieser SuiKontravention der Sprache [...] ist die Übertragung.“ (Hamacher 2010: 29f.). Die Übersetzung „spricht in der eigenen Sprache eine Fremdsprache, und spricht die eigene Sprache als fremde.“ (Hamacher 2010: 23) Umgekehrt ist Sprechen „Übersetzen, aber ist es nicht, ohne seine Verhinderung, Beirrung und Zerstreuung zu sein. Noch die Übersetzung einer Sprache in diese selbst [...] geht mit ihrer Verfehlung einher und weist Sprache wie Übersetzung als strukturelle Selbstverfehlung, Selbstfälschung, Selbstfällung aus. Jede Sprache radebricht eine andere.“ (Hamacher 2010: 31). 95  Das darauf folgende „Mummum“ (Joyce 1939ff: 259), als „[t]he mummification at the end of this chapter [gelesen,] silences the laughter ‚he‘ as but one in a series“ (Slote 2003: 203). 96 Damit ziehe ich Walter Benjamin bei: Sprachoperationen als Er-schütter-ungen der Sprache (Benjamin 1972ff: 381; 548f.), sowie die Kennzeichnung (1934) des „Gelächter[s]“ von „Chaplins Publikum“, das „die Masse auf[lockert]“, während „der Boden des dritten Reichs [...] festgestampft“ werde (Benjamin 1972ff: 103), wie auch das den ganzen Körper erschütternde Gelächter aus Freuds Witztheorie (1970: 148).

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das, wie deren komplementäre Bindung an die verlorene Einheit des einen Signifikats, Voraussetzung der (traditionell, beschränkt aufgefassten) Übersetzung wäre.97 Der Bab/belismus der Sprache disseminiert die Fixierungen semantischer Entitäten einer jeweiligen Sprache (als vermeintlicher Grundlage von jeweiligen Bedeutungen) – und zwar keineswegs beliebig, sondern ‚im Ernst‘ des Witzes der Sprache. Statt die gesetzten Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem zu befestigen, deren Setzung beide allererst konstituiert (Stockhammer/Arndt/Naguschewski 2007: 22, 25; Bay/Hamann 2006: 13; Bay 2006: 44 u. a.), werden die allen solchen Setzungen und Scheidungen vorausliegenden Bezüge, Übertragungen und Dispersionen zur Geltung gebracht, treten die Ränder und Furchen in jedem Wort auf, das sich, in seinen Elementen unabsehbar Anklänge und Widerrufe erzeugend, mit anderen (unter/in den) Wörtern verkettet. Im anderssprachigen Spiel der Signifikanten wird ‚jede Sprache und Sprache überhaupt‘ (Hamacher 2010) sprechend anders ‚konzipiert‘, eine Bewegung der Dissemination, die Bedeutungen generieren mag, Dispersionen der Wörter, die sich in ihren Teilen verketten mögen, absehbar, die sich aller Festsetzung im Ernst widersetzt, die die vermeintliche Territorialität von Sprachen und Sprecher-Subjekten als Phantasma der begrenzend scheidenden Reduktion der Anderssprachigkeit der Sprachen aussetzt, sie an die grundlosen sprachlichen Verkettungen verweisend (die sie erst ermöglicht). Kafkas Schreiben auf dem Weg des Mauschelns schreibt die vermeintlich ‚eigene Sprache‘ als (zugleich) andere, als Sprache, die eine andere „radebricht“ (Hamacher 2010: 31), entnehmend/-wendend entstellt.

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97 Anders etwa Benjamins Konzept des Übersetzens als ‚gewaltiges‘ Bewegen der ‚eigenen Sprache‘ (Benjamin 1972ff: 19f.; mit Bezug auf den „Anhang“ zu Rudolf Pannwitz, Die Krisis der Europäischen Kultur); s. Jacobs (1975: 762); de Man (1997: 84f.); Hamacher (2010: 16-21); Tawada (2007: 89).

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Dieter Heimböckel

Sinngemäße Verschiebung. Franz Kafkas Roman Der Verschollene und das ‚Projekt der Interkulturalität‘ 1. Einführung Es gibt kanonische oder dem weiteren Bereich des Kanons angehörende Texte, die liest man wie zum ersten Mal. Vielleicht liegt es daran, dass ein Detail, eine Kleinigkeit nur, die unberücksichtigt blieb oder der man nur eine geringe Aufmerksamkeit schenkte, seine gewohnten Koordinaten verschiebt. Mit einem Male erhalten Dinge eine Bedeutung oder erscheinen in einem Licht, deren Ausleuchtung man zuvor keiner weiteren Würdigung für notwendig erachtete. Was muss man sich um die Währung in Franz Kafkas AmerikaRoman bekümmern, wenn der Text ohnehin und in eindeutiger Zuschreibung das moderne Amerika verhandelt und Dollar und Cent zu den jedem Leser geläufigen Zahlungsmitteln gehören, mit denen das Tableau der USA auch in seiner Finanzsymbolik abgebildet wird. Das ändert sich freilich in dem Moment, in dem man nicht mehr den Emendationen Max Brods folgt, der bei seinem Freund einen Währungslapsus, wenn man so will, am Werk sah, sondern die Handschrift ernst nimmt und stattdessen den Protagonisten Karl Roßmann mit Pfund und Schilling seine Rechnungen begleichen sieht. Man achtet dann in dem Roman, der nun nicht mehr den Titel Amerika, sondern Der Verschollene trägt, auf weitere Details, etwa auf eine Brücke, die New York mit Boston verbindet, oder auf San Francisco, das nach der Kartographie Kafkas nicht im Westen liegt, sondern unversehens in den Osten der Vereinigten Staaten verlegt wird. Amerika erscheint mit einem Mal wie um seine eigene Achse gedreht, gewissermaßen als ein verschobener Kontinent – Jacques Derrida spricht vom L‘autre cap (1991), vom anderen Kap Europas –, sodass auch Karls Staunen, das ihn bei der Ankunft in New York beim Anblick der Freiheitsstatue übermannt, nicht mehr nur Ausdruck der Verwunderung über die Größe dieses Denkmals ist, sondern auch darüber, dass am Ende seiner langen, transatlantischen Fahrt die Rückkehr zu seinem Ursprung steht. Dieses Staunen und die damit einhergehenden Verschiebungen sind der Angelpunkt einer Lektüre, mit der im Folgenden Kafkas Der Verschollene als

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ein Referenztext für das ‚Projekt der Interkulturalität‘ (Heimböckel/Weinberg 2014) in den Blick gerückt werden soll.

2. Der Verschollene und seine Interkulturalität. Forschungspotentiale und Forschungsdilemmata Die Einschlägigkeit gerade des Verschollenen für Fragen der Interkulturalität steht eigentlich außer Zweifel. Vielleicht ist es sogar der Text aus Kafkas Werk, der in dieser Hinsicht das breiteste Spektrum liefert. Begünstigt wird dieser Umstand inhaltlich durch den Ausgriff auf einen anderen Kontinent und damit durch die Verlagerung des Sujets in einen Raum signifikanter und durch die Literatur- und Kulturgeschichte extensiv beglaubigter Alterität. Das hat die Kafka-Forschung schon früh dazu veranlasst, dem Amerika-Bild, seiner Bedeutung, Funktion und seinem Realitätsgehalt nachzugehen. Kafka selbst leistete einer solchen Auslegung durch seine Bemerkung Vorschub, er habe in dem ersten Kapitel, das im Verlag von Kurt Wolff 1913 separat unter dem Titel Der Heizer erschien, das „allermodernste New York“ (KKABr II: 196) beschreiben wollen. Dass er, mangels eigener Amerika-Erfahrungen, seine Informationen aus unzähligen Quellen bezog, zu denen neben Filmvorführungen, Vorträgen, Zeitungsartikeln, Lebenszeugnissen und Schilderungen von Familienangehörigen allen voran Arthur Holitschers Reisebeschreibung Amerika heute und morgen (1912) gehörte, hat eher noch den Eindruck der Authentizität verstärkt. Es sei Kafkas Absicht gewesen, „mit seinem Roman einen repräsentativen Querschnitt durch die amerikanische Gesellschaft zu geben.“ (Wirkner 1976: 60) Mit der Amerika-Geschichte eng verwoben ist das für die Interkulturalitätsforschung zentrale Forschungsfeld der Auswanderung und Migration und damit, ebenso eng verwoben, Fragen der Assimilation, Akkulturation, Diaspora und Heimatlosigkeit. Schon Hellmut Heuer hatte im Anschluss an Max Brod und dessen Diktum, wonach „Fremdheit und Isoliertheit inmitten unter den Menschen […] das Grundthema“ (Brod 1953: 357) des Romans seien, für den Text „die Kafkasche Ursituation des Menschen in unvertrauter Umgebung“ ausgemacht und die Umsetzung mit „den Mitteln des Emigrationsromans“ (Heuer 1959: 105) als eine klassische Darstellungsform hervorgehoben. In diesem Zusammenhang wurde nachfolgend immer wieder auf Kafkas spezifische Lebenssituation als mehrsprachiger und

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deutschschreibender Jude in Prag um 1900 aufmerksam gemacht, auf sein Zwischen-Dasein im Spannungsfeld einer kulturellen, gesellschaftlichen und sprachlichen Gemengelage, die ihresgleichen sucht, auf das multinationale und, abgesehen von Delamarche und Robinson, mehrheitlich dem habsburgischen Raum entstammende Figurenensemble des Verschollenen sowie auf die für den Roman unter anderem von Detlef Kremer (1994; Heimböckel 2016) stark gemachte Ost-West-Linie, die schon bei Christoph Buch durch die Feststellung charakterisiert wurde, dass es sich bei New York um ein „in überseeische Ferne transponiertes Prag“ (Buch 1972: 232) handeln würde. Dabei ist die in dem Text angelegte Odyssee, der Umstand, dass Karls Reise nicht nur immer wieder nach Europa zurückweist, sondern in ihrem Fortschreiten auch rückläufig angelegt ist, eine Bewegung, die in der jüngeren Kafka-Forschung unterschiedlich in den Blick gerückt worden ist: als Auseinandersetzung mit dem Judentum, insofern Der Verschollene einerseits als jüdischer Bildungsroman zu verstehen sei, in dem sein Autor die jüdische Bildungsgeschichte erarbeitet habe (Greiner 2003); andererseits wurde er in den Horizont des nationaljüdischen und kulturzionistischen Diskurses gestellt und als literarische Auseinandersetzung Kafkas mit seiner jüdischen Identität interpretiert (Metz 2004, Theisohn 2008, Peck 2016). Von dem Herkunftsort Karls gehen schließlich auch solche Lektüren aus, die den Verschollenen im Horizont der Situation Prags zu Kafkas Lebzeiten lesen und damit das Interesse auf die komplexe deutsch-tschechisch-jüdische Konstellation in der ‚Tripolis Praga‘ richten (Blahak 2012). Weiteres ließe sich noch ergänzen; der kursorische Überblick dürfte jedoch vermittelt haben, dass der Roman einerseits schon längst kein Schattendasein in der Kafka-Forschung mehr fristet und dass er andererseits einen für die Interkulturalitätsforschung in vielerlei Hinsicht anschlussfähigen Fragehorizont aufweist, ohne dass man – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – explizit darauf Bezug und ihn zum Anlass einer theoriegeleiteten Analyse genommen hätte.1 Welche Gründe dafür aus1 Wenn hier von Ausnahmen die Rede ist, so muss vor allem darauf hingewiesen werden, dass wesentliche Impulse für die interkulturell orientierte Kafka-Forschung (wenn überhaupt eine solche Bezeichnung in diesem Zusammenhang sinnvoll ist) nicht etwa aus Europa oder Amerika, sondern aus Afrika hervorgegangen sind. Als eine Pionierarbeit darf dabei Simos Habilitationsvortrag Interkulturalität als Schreibweise und als Thema Franz Kafkas aus dem Jahre 1991 gelten (Simo 2017), indem, auch wenn Kafkas Der Verschollene hier nur am Rande eine Rolle spielt, von ihm Anregungen für eine interkulturelle Kafka-Lektüre ausgegangen sind, die Patrice Djoufack (2005) später aufgegriffen und mit Blick auf den Amerika-Roman vertieft hat. Eher einen Rückschritt in dieser Entwicklung stellt der 2013 veröffentlichte zweite Band zu den Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft mit seinem Schwerpunktthema Kafka interkulturell dar (Neumeyer/Steffens 2013), denn er lässt doch

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schlaggebend sind, dafür bedürfte es einer eigenen Abhandlung, zumindest einer tiefergehenden Analyse, die hier nicht geleistet werden kann. Verwiesen sei allerdings zum einen darauf, dass Interkulturalität in der Germanistik im Allgemeinen, aber vor allem in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft und in der Mediävistik wissenschaftlich wie auch institutionell nach wie vor einen schweren Stand hat. Interkulturalität ist institutionell, wenn überhaupt, als Schwerpunktbildung markiert, kaum jedoch einmal im Rahmen der Denomination eines Lehrstuhls oder einer Professur verankert (Uerlings 2011: 29). Zum anderen steht sie in der Forschung in dem Ruf, nicht philologisch bzw. unwissenschaftlich zu sein. Das hat (speziell in der Tradition der deutschsprachigen Germanistik) mit ihrer Genese und Entstehung aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache und ihrer reflexartigen Verbuchung im Feld der sog. Landeskunde zu tun. Damit sollen hier Bedeutung und Verdienste dieser Arbeitsfelder gerade in der Vermittlung von Deutschkenntnissen und von Wissen über das Land gar nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr auf die vorurteilsbehafte Abwehr aufmerksam gemacht werden, mit der Interkulturalität auf ihren vermeintlich nichtphilologischen bzw. nichtwissenschaftlichen Charakter heruntergebrochen wird. Über die fachlichen, institutionellen und psychosozialen Gründe der mit dieser Situation einhergehenden Exklusion der Interkulturalität aus dem disziplinären Kernbereich möchte ich mich an dieser Stelle nicht auslassen. Es ist aber ganz offensichtlich, dass man außerhalb der Interkulturalitätsforschung diese nicht nur für philologisch inkompetent hält, man glaubt auch, sie sei dem Gegenstand der Analyse nicht angemessen. Auffällig ist – auch in diesem Fall bestätigt die Ausnahme freilich die Regel – die Abwesenheit interkultureller Fragestellungen bei Autoren des ganz und gar im Unklaren, unter welchen Prämissen Kafka und sein Werk einer interkulturellen Analyse unterzogen werden. Bezeichnend hierfür ist das Vorwort zu dem Band, in dem suggeriert wird, mit Interkulturalität werde gemeinhin die Vorstellung eines reisenden Schriftstellers assoziiert. Die an die Referenten ergangene Aufforderung, „die inter- bzw. transkulturellen Bezüge im Werke Franz Kafkas zu erfassen und (neu) zu diskutieren“, möge auf den ersten Blick verwundern, „verbrachte Kafka doch einen Großsteil seines Lebens in Prag und reiste – v.a. im Vergleich zu seinen Schriftstellerkollegen – vergleichsweise wenig.“ (Steffens 2013: 6). Als wegweisender stellen sich demgegenüber postkolonial fundierte Forschungsansätze dar, mag mit und in ihnen auch nur implizit der Konnex zur Interkulturalitätsforschung hergestellt worden sein. Vgl. Goebel (2002), Zilcosky (2003) sowie Bay/Hamann (2006), wobei die Herausgeber in ihrem Vorwort zu Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka ausdrücklich darauf aufmerksam machen, dass die Beiträge ihres Sammelbandes ein Thema aufgreifen, „das als kulturelles Phänomen und theoretische Herausforderung im Kontext der postkolonialen Situation und des cultural turn der Literaturwissenschaften verstärkt in den Blick gerückt ist.“ (Bay/Hamann 2005: 8)

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literarischen Höhenkamms, so als wären sie gegen Themen dieses Zuschnitts immun oder man könnte ihnen bzw. ihren Texten dadurch eine Seite abgewinnen, die eher zu ihrem Nachteil ausschlagen würde. In Arbeiten zum Verschollenen werden jedenfalls Begriffe aus dem Wortfeld der Interkulturalität oder Verweise auf sie, mit Ausnahme der angeführten Arbeiten, geflissentlich vermieden. Dabei soll mein Plädoyer für die Ausweitung der angesprochenen Schwerpunktbildungen auf den Bezugsrahmen der Interkulturalität nicht einer simplen Umcodierung ihrer Prämissen Vorschub leisten, sondern es folgt der Vorstellung, dass sie zur theoretischen und inhaltlichen Vertiefung der Interkulturalitätsforschung und damit auch zur Sensibilisierung für solche Phänomene beitragen kann, die selbst in der Kafka-Forschung bislang nur marginal oder gar nicht berücksichtigt wurden.

3. Kafka mit Kafka gelesen. Sinngemäße Verschiebung2 In Franz Kafkas Roman Der Verschollene geht Karl Roßmann auf Reisen. Es ist aber alles andere als eine freiwillige Reise, die der junge, von einem Dienstmädchen verführte und von seinen Eltern daraufhin verstoßene Mann nach Amerika unternimmt. Es ist, dessen ist sich auch Karl bewusst, vor allem eine Reise ohne Rückfahrtschein, sodass er sich umso gewissenhafter auf das Kommende vorbereitet. Er liest viel über das Land am anderen Ende des Atlantiks, vermutlich mehr, als er lesen müsste. Aber das teilt er mit seinem literarischen Ziehvater, der, vor und zeitgleich mit der Abfassung des Romans, wie ein Schreibtischethnologe ausführliche landeskundliche Studien betreibt. Vielleicht haben Karl Roßmann und Franz Kafka Arthur Holitschers gerade eben erschienene Reisebeschreibung Amerika heute und morgen sogar gemeinsam gelesen. Vieles scheint dafür zu sprechen, denn als Karl gleich zu Beginn des Romans in den Hafen von New York einfährt, erblickt er „die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht.“ (KKAV 7) Doch statt der Fackel hält sie ein Schwert in ihrer Hand – warum auch nicht, könnte man meinen. In Kafkas Werken und 2 Dieses Kap. geht im Wesentlichen auf Anregungen zurück, die ich von Irina Wutsdorff und ihrem Vortrag Beschreibung eines Kampfes? Zu Spuren des Interkulturellen in Kafkas (sprach-) reflexivem Schreiben während der Tagung Franz Kafka im interkulturellen Kontext erhalten habe. Ihr danke ich auch, dass sie mir ihre Ausführungen in der Vortragsversion zur Verfügung gestellt hat. Vgl. ihren Beitrag im vorliegenden Band.

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autobiografischen Aufzeichnungen wimmelt es vor Schwertern: Schwertern in Stadtwappen, Schwertern in Engelshänden, Schwertern als Türöffner oder Eggen, Schwertern im Rücken – da passt ein Schwert auch zum ausgestreckten Arm von Miss Liberty. Aus der Distanz lässt sich ohnehin nicht genau unterscheiden, ob es sich um eine Fackel oder womöglich um ein Schwert handelt. Man kennt ja solche, zum Teil etwas martialisch wirkenden Frauenstatuen zur Genüge. Oder ist diese imposante, mit einer Krone bekränzte Dame nicht eine Art Engel, wenn es ihr auch an einer gewissen engeltypischen Leichtigkeit mangeln mag? Karl jedenfalls verwirft schließlich, wie es einer in diesem Kontext gestrichenen Stelle zu entnehmen ist, das „über sie Gelernte“ (KKAV App: 123) – ihm wird dies während seiner amerikanischen Odyssee noch unzählige Male widerfahren –, oder nimmt es zumindest, indem er dem Beispiel seiner Leser folgt, als eine Art sinngemäße Verschiebung oder als was auch immer hin. Die Bezugnahme auf diese Episode will nicht den Eindruck erwecken, als wenn Karl Amerika nicht gekannt hätte. Aber er kannte Amerika wie jeder andere auch, der sich zum ersten Mal in eine, zumal weite Ferne begibt und von Anfang an – wenn man voraussetzen darf, dass der Betroffene vor dem Neuen nicht ganz und gar die Augen verschließt – das zuvor Angeeignete unter einen Vorbehalt gestellt sieht. Sein „So hoch“ (KKAV 7) beim Anblick der Freiheitsstatue ist Ausdruck dieses Vorbehalts; und dieser Vorbehalt äußert sich meistenteils als Staunen. Karl ist noch jung, er hat das Leben noch vor sich und wird so das eine oder andere Mal von dem, was da auf ihn zukommt, überrascht – vielleicht häufiger sogar, als ihm lieb ist. Denn insofern sich im Staunen „eine grundlegende Verunsicherung und semantische Leere“ (Schnyder 2013: 95f.) vor dem Unvertrauten zeigt, wirft es ihn aus der Bahn seines gewohnten bzw. angeeigneten Wissens. Das Staunen unterbricht – und bricht aufgrund der Plötzlichkeit seiner Wucht in ihn geradezu ein. Karl geht so, bei aller Breite und Tiefe des Kontinents, den er mit seiner Einfahrt in den Hafen von New York betritt, beständig wie auf einer Grenze, die ihm das Staunen als liminales Phänomen eingibt. Was dies- und jenseits dieser Grenze liegt, wartet darauf, erkundet zu werden. Ob die Erkundung gelingt, muss bezweifelt werden. Denn für den Fall, dass sie gelänge, gäbe es nichts mehr zu künden. Von der Unmöglichkeit dieses Gelingens geben Kafkas Texte von Anfang an Kunde. Sie ist Bestandteil seiner Produktivität. So ist es wieder ein junger Mann, „dreiundzwanzig Jahre alt, aber ich habe noch keinen Namen“ (KKAN I: 103), der sich auf einer Irrfahrt befindet. Dieses Mal ist es nicht die Ferne, die den Protagonisten umfängt, sondern es ist seine Heimatstadt. Allem Anschein nach ist es Prag, zumindest sind die

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topographischen Koordinaten in diesem Werk Kafkas, das als sein frühestes gilt, ausnahmsweise einmal eindeutig. Der junge Mann, zunächst ein, dann ein mehrfach gespiegeltes Ich, fühlt sich in Prag aber nicht weniger fremd als Karl in Amerika. Vielleicht verhält es sich aber auch genau umgekehrt und Prag fremdelt mit diesem Ich, weil es sich mit ihm nicht zurechtzufinden weiß. Mal ist er traurig, mal ist er glücklich, mal schämt er sich, ein anderes Mal hebt er die Welt aus den Angeln, er ist schüchtern und anzüglich, dick und schmal, macht sich klein und groß, ist redselig und kontemplativ, kurz: „Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist.“ (KKAN I: 89) Böhmen liegt also doch am Meer – oder gar im Meer? Wie auch immer: Die terrane Existenz ist offensichtlich entsichert, davon wusste schon Charlotte in Goethes Wahlverwandtschaften ein Lied zu singen, als sie befürchtete, dass auch auf festem Land wohl Schiffbruch möglich sei (Goethe 1980: 193), womit die traditionelle „Kontraposition von festem Land und unstetem Meer“ im Sinne Blumenbergs (2012: 13) prekär geworden ist. Umso mehr weist sich das Ganze bei Kafka als Beschreibung eines Kampfes aus, des Kampfes eines Ich mit sich, weil es als Ich zugleich ein anderer und dabei so verschoben angelegt ist, dass unter seinem Blick sogar ein Säulenheiliger wie Karl IV. von seinem Sockel stürzt. Schräg ist alles an diesem Ich, sein Denken, sein Fühlen, selbst sein Körper kommt in eine derartige Schräglage, dass er wie ein Stuhl unter einer für ihn nicht verträglichen Last förmlich aus dem Leim zu gehen beginnt: Am gestrigen Abend war ich in einer Gesellschaft. Gerade verbeugte ich mich im Gaslicht vor einem Fräulein mit den Worten: ‚Ich freue mich thatsächlich, daß wir uns schon dem Winter nähern‘ – gerade verbeugte ich mich mit diesen Worten als ich mit Unwillen bemerkte, daß sich mir der rechte Oberschenkel aus dem Gelenk gekugelt hatte. Auch die Kniescheibe hatte sich ein wenig gelockert. Daher setzte ich mich und sagte, da ich immer einen Überblick über meine Sätze zu bewahren suche: ‚Denn der Winter ist viel müheloser; man kann sich leichter benehmen, man braucht sich mit seinen Worten nicht so anstrengen. Nicht wahr, liebes Fräulein? Ich habe hoffentlich Recht in dieser Sache.‘ Dabei machte mir mein rechtes Bein viel Ärger. Denn anfangs schien es ganz auseinandergefallen zu sein und erst allmählich brachte ich es durch Quetschen und sinngemäßes Verschieben halbwegs in Ordnung. (KKAN I: 95)

Es ist die Figur des Beters, die hier spricht, eines der sukzessiven Ichs neben dem Dicken, Betrunkenen und dem Bekannten. Sie gleiten ineinander über, spiegeln und überlappen sich, ohne jemals zur Deckung zu kommen, verhalten sich zu sich und zueinander wie de-platziert, so also, als wären sie in der Schwebe gehalten. Es sind ‚dis-placed persons‘, verschobene Figuren eines Erzählens in Verschiebungen, das von allem, der Sprache, den Figuren, ihrer Leiblichkeit und von den Verschiebungen selbst, Besitz ergreift. Daher muss

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man sich den Körper des Beters so vorstellen, als würde er sich lediglich durch „Quetschen und sinngemäßes Verschieben“ und dadurch auch nur halbwegs wieder in Ordnung bringen lassen. Womöglich steht die „im Kontext einer physischen Malaise ungewöhnliche Formulierung ‚sinngemäßes Verschieben‘ […] in einem hermeneutischen Bezugsrahmen“ (Neymeyr 2004: 157), womit dieser aber letztendlich auch nur als verschoben zu denken wäre. Denn eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes wäre ausgeschlossen oder allenfalls „notdürftig“ oder „einigermaßen“ möglich, wie es im Deutschen Wörterbuch (Grimm/Grimm 1984/10: 220) sinngemäß für „halbwegs“ heißt. Man stelle sich daher vor, dass beide – Hermeneutik und Dekonstruktion – in Kafkas Wort von der sinngemäßen Verschiebung darauf ertappt worden wären, eine ménage à deux eingegangen zu sein und damit Recht im Unrecht gehabt zu haben, weil aufgeschoben eben nicht aufgehoben bedeutet und der Aufschub nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass er sich mit der Sinngemäßheit arrangiert. Erst die in der Sinngemäßheit liegende Transitorik, d.h. halbwegs oder auf halbem Wege zu sein, ist Bedingung des Aufschubs bzw. ihrer Verschiebung. Man könnte auch sagen, dass bei Kafka jede Setzung ihre Dementierung nach sich zieht. Aber das ist vermutlich noch zu statisch gedacht. „Wir sind nämlich so wie Baumstämme im Schnee. Sie liegen doch scheinbar nur glatt auf und man sollte sie mit kleinem Anstoß wegschieben können. Aber nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist bloß scheinbar.“ (KKAN I: 110) Nur scheinbar verbunden bzw. bodenlos zu sein: Karl Roßmann und die Ich-Figuren der Beschreibung eines Kampfes wissen darum. Wissen ist eher zu viel gesagt, auch wenn sich „in Schwebe“ (KKAN I: 109) zu erhalten, dem Gespräch zwischen dem Dicken und dem Beter zufolge, offensichtlich zu ihren hervorstechenden Eigenschaften zählt. Zumindest dürften sie davon affiziert sein und die Schrift, aus der sie hervorgehen, ist es wohl auch. Sie geht jedenfalls unausgesetzt den Weg der sinngemäßen Verschiebung und verhält sich in ihrer Ortsentbundenheit zur Exterritorialität ihres Erfinders gewissermaßen komplementär. Er möge über ihn, schreibt Kafka an Max Brod Anfang Mai 1921, „wie über einen Toten“ sprechen, damit seine „Exterritorialität“ fassbar werde – seine ebenso spezifische wie exemplarische Existenz im „Außerhalb“ (Briefe 322), das aber eigentlich ein Zwischen im Zwischenraum der ‚Tripolis Praga‘ war: zwischen „den Sprachen, zwischen den Kulturen, als deutscher Jude zwischen den Weltanschauungen lebend“ (Heintz 1983: 17). Von dieser Warte aus, aus der Kafkas Existenz als eine Existenz im Zeichen des Zwischen zu lesen wäre, ließe er sich wie Elias Canetti in einem umfassenden Sinne – biografisch wie ästhetisch – als „écrivain interculturel“ (Weissmann

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2016: 29) begreifen, und zwar nach Maßgabe einer Interkulturalität, die selbst im Zeichen des Zwischen steht bzw. als ‚Kultur im Zwischen‘ begriffen werden kann. In einer ‚Kultur im Zwischen‘ ist das Leben tendenziell uneindeutig, seine Sprache fallweise unvertraut. So ist auch Kafkas Werk in einer Sprache verfasst, die nach wie vor als unvertraut gelten darf. Zu dieser Unvertrautheit hat unter anderem Yoko Tawada eine Spur gelegt: So beruft sie sich im Rahmen ihrer Vorstellung vom „Immer-schon-Übersetztsein‘ der Sprache mit Walter Benjamin auf Rudolf Pannwitz’ Übersetzungstheorie, der den „grundsätzliche[n] irrtum des übertragenden“ darin begründet sah, „dass er den zufälligen stand der eigenen sprache festhält anstatt sie durch die fremde sprache gewaltig bewegen zu lassen.“ (Tawada 2007: 89) Das Sich-gewaltig-Bewegenlassen lässt sich – wenn auch so von Pannwitz vermutlich nicht intendiert – durchaus wörtlich nehmen: als eine Art der Verschiebung des Bekannten, wie sie von James Clifford für die Ethnologie als „practices of displacement“ (Clifford 1997: 3) stark gemacht und von Homi Bhabha im Rahmen seiner Verortung der Kultur weiterverfolgt wurde. „In dieser De-plazierung“, so Bhabha, „verschwimmen die Grenzen zwischen Heim und Welt“ (Bhabha 2007: 14). Die Sprache des Anderen unterliegt jedoch einer Aneignung, die als Übersetzung den Prozess des Machens und damit die Sprache analog zur Kultur als etwas Gemachtem in den Fokus rückt. Nicht von ungefähr ist für Yoko Tawada Übersetzung von der Muttersprache in die Fremdsprache (et vice versa) und als ein Vorgang in ein und derselben Sprache von Belang. Das heißt aber auch, dass in dieser Sprache durch Übersetzung die Existenz einer anderen Sprache spürbar gemacht werden kann. Darum gibt es nach Yoko Tawada auch Texte, „die wie Übersetzungen wirken, obwohl sie keine sind. Kleist schrieb manchmal solche Texte, auch Kafka“ (Tawada 2001: 36).

4. Verschollen → verschoben oder Amerika liegt in Böhmen Übersetzung ist ein Vorgang, der, insofern er den Text in Verschiebung hält, das Unterwegssein der Sprache markiert. Kafkas Der Verschollene und Beschreibung eines Kampfes sind nicht nur Texte, die über das Unterwegssein handeln, auch ihre Sprache ist unterwegs. Sie folgen einem ‚traveling narrative‘ (Anderson 1989), bei der die Grenzen zwischen Heim und Welt in der Tat verschwimmen bzw. in der Schwebe gehalten werden. Darum beschlich schon

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Kurt Tucholsky das Gefühl, es bei Kafkas Der Verschollene mit einem Werk zu tun zu haben, das ein Amerika-Roman ist und doch keiner ist – und deswegen beides zugleich sein kann (Tucholsky 1975: 44). Das u.a. macht seine Unvertrautheit aus – thematisch wie sprachlich. Der Deplatzierung Karls entspricht dabei ein bis in die Deplatzierung der Orthographie („Teater in Oklahama“, KKAV 295) hineinreichender Verschiebungsvorgang, der bereits in Kafkas Frühwerk ausgebildet ist. Denn auch seine „‚Beschreibung eines Kampfes‘ erzählt in Verschiebungen“ (Sepp 2003: 111). Im Lichte dieser Vorstellung von Verschiebung als einer sinngemäßen Verschiebung soll abschließend der Fokus noch einmal auf Kafkas Roman mit der Frage gerichtet werden, warum er sich als Referenztext für das ‚Projekt der Interkulturalität‘ besonders eignet. Dabei ist mit dem Projekt-Gedanken ein Verständnis von Interkulturalität verknüpft, das sich aus bestimmten – begrifflichen, definitorischen etc. – Vorgaben zu lösen sucht und das Prozesshafte in den Vordergrund rückt. Das hier zur Diskussion stehende Verständnis von Interkulturalität ist nicht dasjenige einer „Disziplin“ (Yousefi/ Braun 2011: 27) oder eines Paradigmas (Schmitz 1991). Denn anders als das Paradigma, „das gleichzeitig Bollwerk gegen veraltetes wie neues Nichtwissen“ ist (Gugerli/Sarasin 2009: 8), liefert die perspektivische Offenheit des Projekts erst die Möglichkeit, sie, d. h. Interkulturalität, im Kontext von Grenzen einerseits und Nichtwissen und Staunen andererseits zu reflektieren. Interkulturalität geht insofern einher mit dem kulturanthropologischen Ausbruch aus dem, was Alfred Schütz einmal als „Denken-wie-üblich“ bezeichnet hat (Schütz 1972: 58). Im Denken-wie-üblich ist das Fremde das aufgefasste Andere. Es ist wie das Eigene eine Setzung, dessen das Denken-wie-üblich bedarf, damit es sein Üblichsein bewahrt. Interkulturalität hinterfragt daher Repräsentationen des Eigenen und Fremden, indem sie sie einer Dekonstruktion unterzieht und so das mit dem Eigenen und Fremden vermittelte Wissen in Frage stellt. Diese Infragestellung ist aber nicht voraussetzungslos,3 sondern sie wird durch einen hermeneutischen Akt initiiert, dessen Sinngemäßheit, im Sinne der auf Kafka zurückweisenden Denkfigur, wiederum in ein Verfahren der Verschiebung und damit in eine Sprache übertragen wird, 3 In diesem Sinne erfährt das ‚Projekt der Interkulturalität‘ hier eine konzeptionelle Weiterung, weil sie die in der dekonstruktivistischen Aktivität bislang ausgeblendete Voraussetzung ihres Anfangs an die in der hermeneutischen Aktivität liegende Sinngemäßheit bindet. Die ursprüngliche Vorstellung, „Interkulturalität hinterfragt daher Repräsentationen des Eigenen und Fremden nicht – sie hätte ansonsten einen Begriff davon –, sondern setzt deren Dekonstruktion voraus“ (Heimböckel/Weinberg 2014: 124), wird also in diesem Zusammenhang entsprechend modifiziert.

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die dem Denken-wie-üblich unvertraut ist. Interkulturalität, prozessual als sinngemäße Verschiebung gedacht, ist Übersetzung in eine unvertraute Sprache – und das heißt in eine Sprache, die davon absieht weiterzuwissen. Man kann Kafkas Der Verschollene vor diesem Hintergrund als eine Art Kontrafaktur auf das Wissen bzw. auf den Mythos vom Wissen lesen. Karl kannte Amerika aus Büchern und darüber hinaus so, wie man sich bereits in der Antike eine Vorstellung von den im Westen, jenseits der Säulen des Herkules liegenden elysäischen Auen und Inseln der Seligen machte – eine Schlüsselstelle hierfür ist die Prophezeiung einer ‚Neuen Welt‘ in Senecas Medea4 –; Amerika, mit dessen Entdeckung die alte europäische Vision von dem Paradies auf Erden Wirklichkeit geworden zu sein schien, war schon vor Christoph Kolumbus ein erfundenes Land gewesen. Auf die Frage Christopher Newmans, ob sie etwas über den Genueser Weltensegler wisse, antwortet eine französische Kopistin in der Erstfassung von Henry James’ Roman The American mit ebenso spitzfindiger wie abgründiger Ironie: „Bien sûr! He invented America; a very great man.“ (James 1949: 6) Das erfundene Amerika bildet so die Folie der Inkongruenzen, die zwischen Karls Perspektive und der Neuen Welt an die Oberfläche treten. Das Wahrgenommene selbst verschiebt sich ins Phantastische und wird solchermaßen, wie im Falle der schwerttragenden Freiheitsstatue, ein zweites Mal erfunden. Im Schwert, das sie trägt, kündigt sich das Unvertraute an. Karls erstauntes „So hoch“ (KKAV 7) ist noch Zeichen der sprachlich kaum zu meisternden Überwältigung, die sich seiner beim Anblick des Wahrzeichens bemächtigt. Und je weiter er in das Land hineinzieht, desto breiter wird es, könnte man mit Goethe meinen. Aber Karl müsste eine konkrete Vorstellung von dieser Breite gewinnen, er müsste sie ausfüllen mit Wissen und Erträgen seiner Wahrnehmungsernte. Doch lässt sich eine Figur wie die Karl Roßmanns überhaupt nach der herkömmlichen Elle von Wissen und Nichtwissen messen? Haben wir es tatsächlich mit jemandem zu tun, der im eigentlichen Sinne lernt bzw. dazulernt, sodass am Ende auch der Leser eine gewisse Ahnung von den Gesetzen erhält, die jenes „eigentümliche bühnenhafte Amerika beherrschen“ (Stach 2015: 196)? Oder müsste man bei Karl nicht einen anderen Maßstab anlegen? Müsste man ihn nicht, wie es Kurt Tucholsky (1974: 44) getan hat, in einem Atemzug mit Dostojewskis Fürst Myschkin und 4 Diesen Hinweis danke ich Oliver Lubrich. Die entsprechende Stelle bei Seneca lautet: „Es wird kommen die Zeit, / wenn die Jahre vergehn, wo des Oceans Strom / den Erdenring sprengt und ein riesiges Land / sich weithin erstreckt, wo Thetys enthüllt, / was an Räumen sich barg – das Ende der Welt / ist Thule nicht mehr.“ (Seneca 1993: 57). Vgl. hierzu weiterführend Romm (1994).

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Hašeks Schwejk nennen, mit jenen großen Naiven der Weltliteratur, zu deren hervorstechender Eigenschaft gehört, nicht für die Ordnung geschaffen, ja geradezu Feinde der Ordnung zu sein5 – Feinde freilich nicht in einem intendiert antagonistischen Sinne, sondern als Fremde, die sich in keine Ordnung einfügen lassen und daher von ihr abgestoßen, zumindest aber von ihr nicht ernst genommen und fallweise den Idioten zugerechnet werden, d.h. denjenigen, die sich durch ihr abweichendes Verhalten, ihre „Eigentümlichkeit und Eigenart“ (Brötz 2008: 23) jenseits von Norm und Normalität bewegen? Freilich haben wir es mit einem jungen Mann zu tun, knapp sechzehn- oder schon siebzehnjährig (KKAV 7), wer weiß das schon, und da kann es schon einmal passieren, dass Normen verletzt und Grenzen überschritten werden. Aber auf das Alter kommt es eigentlich nur insoweit an, als damit bestimmte Abhängigkeiten – familiäre, soziale und geschlechtliche – plausibilisiert werden können. Im Grunde ist Karl wie Myschkin und Schwejk alterslos, ein Kind in Erwachsenenschuhen oder sagen wir ausgestattet mit Eigenschaften, die man vorzugsweise Kindern zuspricht, für die es aber keine Altersbeschränkung gäbe, wenn die Welt sie zulassen würde. Doch die Welt lässt solche Eigenschaften mit und jenseits der Adoleszenz nun einmal nicht zu oder sorgt dafür, dass sie den Betroffenen ausgetrieben werden – oder treibt diese, wenn auch das nicht hilft, selbst aus. Doch Karl ist wehrhaft in seiner Naivität, ihn ficht so schnell nichts an, so wenig mitunter, dass es den Leser schmerzt, wenn er zusehen muss, wie Karl, das mehrfach gebrannte Kind, dennoch das Feuer zum wiederholten Male nicht scheut, und dass er neben dem Schmerz zugleich auch Freude dabei empfindet, wie dieser die ganze Stufenleiter der Deklassierung hinabsteigende Mensch sich bis zum Schluss sein Staunen bewahrt.6 „Der Held ist in Amerika der exemplarische Fremde, der sich das weite Land mit ungläubigem Staunen erschließt, letzthin aber dabei scheitert, eine neue Heimat zu finden“, schreibt Peter-André Alt (2008: 356) in seiner Kafka-Biographie wie zur Bestätigung, aber doch in eine ganz andere Richtung weisend. Denn abgesehen davon, dass das Scheitern angesichts eines fragmentarisch gebliebenen Romans nicht das letzte Wort sein sollte, liegt doch gerade im Staunen des Protagonisten die Unmöglichkeit, das Land zu erschließen, begründet.7 Das Staunen lässt sich mit Hans Christoph Buch geradezu als „immer neue Fremdheit gegenüber der Wirklichkeit“ 5 Vom „Feind der Ordnung“ spricht Hermann Hesse (1982: 313) mit Blick auf Fürst Myschkin in Dostojewskis Der Idiot. 6 Zum Staunen als Strukturmotiv des Romans s. Wolfradt (1996: 88) und De Bruyker (2008: 150f.). 7 Manfred Engel (1986: 547) spricht von der ungewöhnlichen „Impressionabilität“ Karls.

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begreifen (Buch 1972: 261) Zu einer Erschließung kommt es auch deshalb nicht, weil das vorgängige Wissen der Erfahrung, die Karl macht, nicht standhält, und weil die Unentwegtheit seines Versuches, mit seinen Mitteln einen festen Grund unter den Füßen zu bekommen, ebenso beharrlich eine Deplatzierung nach sich zieht. Die Konsequenz, mit der Karl unbeirrt seines Weges zieht, irritiert und beunruhigt dabei in dem Maße, in dem seine mit der angestrebten Akkulturation einhergehenden Bemühungen, das Unvertraute vertraut zu machen, ihn immer wieder mit neuen Szenarien des Unvertrauten konfrontiert, durch die er sich selbst unvertraut wird bzw. das Unvertraute, das ihm innewohnt, an die Oberfläche drängt. Warum auch sonst sollte sich Karl, der aus Prag stammt, als Deutscher ausgeben und sich unwidersprochen als Deutscher identifizieren lassen? „Ich heiße Karl Roßmann und bin ein Deutscher. Bitte sagen Sie mir, da wir doch ein gemeinsames Zimmer haben, auch Ihren Namen und Ihre Nationalität“ (KKAV 132f.), versucht er sich zu versichern, als er auf seinem Weg nach Ramses Unterschlupf in einem Wirtshauszimmer findet, das bereits Robinson und Delamarche bezogen haben. Und als Karl sich im Hotel Occidental der Oberköchin vorstellt, entwickelt sich folgendes Gespräch: ‚Entschuldigen Sie bitte‘, sagte er, ‚daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Roßmann.‘ ‚Sie sind Deutscher, nicht wahr?‘ ‚Ja‘, sagte Karl, ‚ich bin noch nicht lange in Amerika.‘ ‚Von wo sind Sie denn?‘ ‚Aus Prag in Böhmen‘, sagte Karl. ‚Sehn Sie einmal an‘, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, ‚dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt.‘ (KKAV 172f.)

Karl wird als Deutscher identifiziert, was angesichts des nachgeschobenen Herkunftsorts „Prag in Böhmen“ unangemessen erscheint, so Heimböckel/ Weinberg in ihrem Beitrag zum ‚Projekt der Interkulturalität‘. Zudem werde mit Böhmen ein ganz anderes, weil regionales Erklärungsmuster der Heimat aufgerufen. Neben der Sprache figuriere also ein (falsches) nationales sowie ein regionales Verständnis von Heimat – und eine im Vergleich zu Amerika ganz andere kulturelle Ordnung, die eine des Austauschs und der Wanderung über Europa prägende kulturelle Grenzen hinweg sei: Die Wiener Köchin Mitzelbach habe ja einige Zeit in Prag gearbeitet (Heimböckel/Weinberg 2014: 129f.). Was für den hier in Rede stehenden Zusammenhang auch heißt, dass es sich bei der Frage der Herkunft womöglich nicht um ein nationales Imaginationsprinzip handelt, an das „Karl seine Identitätsbehauptungen bis zu den Ausstiegskapiteln (Asyl und Clayton) knüpft“ (Fischer 2013: 384), sondern um die Fortschreibung der Deplatzierung im Feld der Identität, das ganz

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unmittelbar mit Prag und seiner Interkulturalität assoziiert ist.8 Im Sinne von Friedrich Christian Delius (2005) würde damit Karl zu den Figuren gehören, die ihr Böhmen in die Welt und – möchte man hinzufügen – wieder zurück nach Böhmen und damit in den Herkunftsraum tragen, in dem nicht zuletzt auch Kafkas Exterritorialität begründet liegt. Wenn Böhmen am Meer liegt, warum nicht also auch Amerika in Böhmen? Die in diesem Bild ausgetragene Ambivalenz der Heimat koppelt diese jedenfalls unmittelbar an das Staunen Karls und seine Unvertrautheit, womit das Wissen über sie in ein Nichtwissen überführt wird und auch deswegen ein solches bleibt, weil das Wissen, nach Maßgabe der sinngemäßen Verschiebung, „kein Haben des Gewußten ist, keine Einvernahme, Assimilation oder sonstige Identifizierung“ (Guzzoni 2012: 13). Kafkas Der Verschollene führt dieses Nichthaben des Gewussten in einem interkulturell mehrfach kodierten Kontext vor – als Staunen und Übersetzung in eine unvertraute Sprache, die davon absieht weiterzuwissen. Und das vor allem macht den Roman zu einem Referenztext für das ,Projekt der Interkulturalität‘.

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Zu Franz Kafkas Erzählung Schakale und Araber

1. Vorbemerkung Wie so viele Interpretationen der Texte Franz Kafkas geben sich auch die zu seiner kurzen Erzählung Schakale und Araber vorliegenden fast durchgängig als Allegoresen: Gefragt wird jeweils, was die Konstellation zweier Gruppen – eben von Arabern und Schakalen – und eines Erzählers ‚eigentlich‘ bedeute, genauer: welche außertextlichen Instanzen mit den im Text genannten ‚tatsächlich‘ gemeint seien. Dabei gibt es in diesem Fall sogar ein ausdrückliches Dementi von Franz Kafka. Nachdem Martin Buber aus den ihm von Kafka übersandten zwölf Erzählungen den Bericht für eine Akademie und Schakale und Araber als zwei in seiner Monatsschrift Der Jude zu publizierende Texte ausgewählt hatte, schlug er ihm vor, sie mit der gemeinsamen Gattungsbezeichnung ‚Gleichnisse‘ zu überschreiben (Blank 2010: 231). Kafka dementierte: Gleichnisse bitte ich die Stücke nicht zu nennen, es sind nicht eigentlich Gleichnisse; wenn sie einen Gesamttitel haben sollen, dann am besten vielleicht ‚Zwei Tiergeschichten‘. (KKABr 3: 299)

Gewiss, die Aussage, es seien „nicht eigentlich“ Gleichnisse, stellt ihren Status als solche nicht völlig in Abrede, macht aber darauf aufmerksam, dass eine unumwundene Lektüre als Gleichnisse an Entscheidendem vorbeigehen könnte. Die meisten Interpreten beharren dennoch auf der Nominierung eines ‚eigentlich‘ Gemeinten – und viele von ihnen favorisieren dabei die Lesart, dass die Schakale für die Juden in Palästina stünden. Der Text Schakale und Araber verhandele also – noch einmal: ‚eigentlich‘ – die sogenannte ‚Araberfrage‘. Dazu scheint der Publikationsort zu passen. Die Frage danach, wie im von Juden besiedelten Palästina mit den Arabern umzugehen sei, nahm tatsächlich breiten Raum in Bubers Zeitschrift Der Jude ein. Auch hier gibt es allerdings einen Einwand. Auf die Zusage der Publikation hin antwortete Kafka Buber: „So komme ich also doch in den ‚Juden‘ und habe es immer für unmöglich gehalten.“ (KKABr 3: 299) Wenn Kafka seine Erzählung Schakale und Araber als Beitrag zu einer dort geführten Diskussion konzipiert hätte, hätte er es wohl kaum für unmöglich gehalten, dass diese dort erscheint.

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Juliane Blank postuliert in ihrer Interpretation ‚Kleiner Erzählungen‘ im Kafka-Handbuch von Manfred Engel und Bernd Auerochs, dass Schakale und Araber „ungewöhnlich viele und ungewöhnlich deutliche jüdische Motive enthält.“ Zu nennen seien „hier besonders die Vererbung über die weibliche Linie (KKAD 270),1 die Diaspora-Situation (271), die Forderung nach Reinheit in Bezug auf den Verzehr von Tieren (273) und die messianische Erlösungshoffnung (270 u.ö.)“ (Blank 2010: 233), womit sie rasch bei der Zuschreibung landet, Schakale und Araber sei „einer der wenigen Texte Kafkas, vielleicht sogar der einzige, der eine jüdische Deutung nicht nur zulässt, sondern sogar provoziert.“ (Blank 2010: 233) Sie fügt hinzu: Jedoch drückt sich in ihm nicht das von Brod gewünschte Bekenntnis zum Judentum und zur zionistischen Bewegung aus. Vielmehr setzt sich Kafka in ironisch-kritischer Weise mit dem Thema des jüdischen Messianismus auseinander, der in Form einer Hoffnung auf ‚Erlösung‘ aus der Diaspora auch im Kern der zionistischen Bewegung zu finden ist. (Blank 2010: 233)

So erfüllt auch Blanks Interpretation die oben gestellte Diagnose einer Allegorese: ‚eigentlich‘ gehe es in Schakale und Araber um den jüdischen Messianismus, der wiederum zu einer, wenn auch nicht bekenntnishaften, Auseinandersetzung mit dem Zionismus führe. Man kann an Blanks Zuschreibungen übrigens gut sehen, wie eine starke Interpretationshypothese eine genaue Lektüre des Textes verhindert. Denn in Schakale und Araber ist mitnichten von einer dem orthodoxen Judentum vergleichbaren „Vererbung über die weibliche Linie“ die Rede. Vielmehr äußert der im Text das Wort ergreifende älteste Schakal: „wir warten unendlich lange auf dich; meine Mutter hat gewartet und ihre Mutter und weiter alle ihre Mütter bis hinauf zur Mutter aller Schakale“ (KKAD 271), was vielmehr die allerdings matrilineare Konstanz des Kultur(!)musters einer messianischen Erwartung zuletzt in einem mythischen Anfang wurzeln lässt, worauf zurückzukommen sein wird. In der Interpretation von Schakale und Araber als Text über die Araberfrage sind im Übrigen selbst der ägyptische Germanist Atef Brotros (2009) und der israelische Historiker Dimitry Shumsky (2009) übereingekommen. Kateřina Čapková resümiert: Beide kamen zu dem Resultat, dass Kafka in dieser Erzählung das Verhältnis der ersten jüdischen Einwanderer gegenüber den palästinensischen Arabern kritisch schildere. Die 1 An dieser Stelle wird im Zitat die vom Kafka-Handbuch von Engel und Auerochs vorgesehene Sigle „DzL“ (Drucke zu Lebzeiten) verwendet. Sie ist hier durch die in diesem Band verwendete Sigle ersetzt.

Zu Franz Kafkas Erzählung Schakale und Araber

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Hunde (die Westjuden) müssen in Europa ihren Herren gehorchen, in Palästina wollen die Schakale keine Herren mehr dulden und selbst herrschen. Und obwohl die Schakale (die jüdischen Neusiedler) völlig von den Arabern abhängig sind, träumen sie von der Herrschaft in der Region, die als die ihrige längst prophezeit wurde, als Argument führen sie den angeblich höheren Grad ihrer Zivilisation an. (Čapková 2012: 88f.)

Čapková verweist auch auf andere ‚Enträtselungen‘ dieser Erzählung: Die Erzählung Schakale und Araber wurde auf unterschiedliche Weise interpretiert – als Gleichnis für das Verhältnis von Autoren zu ihren Lesern (Sokel 1967), als ein Gleichnis für Terrorismus (Balke 2002; Botros 2009: 179) oder sie wurde sogar nicht interpretierbar genannt (Gross 2002: 260). Ab Ende der 1960er Jahre überwog die Interpretation, dass es sich um ein Gleichnis für die Situation des Westjuden als europäischer Minderheit handele (Rubinstein 1967; Tismar 1975; Gelber 2008: 209; Bruce 2007: 154-157). Scott Spector (2000: 191f.) war dann der erste, der diesen Text als Gleichnis auf das Verhältnis von Deutschen und Tschechen bezog, wobei die Tschechen durch die Schakale symbolisiert seien, die alle Deutschen umbringen wollen, um die Hegemonie zu gewinnen. (Čapková 2012: 88)

All diese Interpretationen eint das Verständnis des Textes als Allegorie oder Gleichnis, womit sie auf das von Adorno benannte „Deute mich“2 Kafkascher Texte durch eine übermäßige Vereindeutigung reagieren. Wer dagegen als Remedium ein genaueres Wissen um den Entstehungskontext in Anschlag bringen will, das vor solchem ‚Überschießen‘ bewahren soll, muss zur Kenntnis nehmen, dass auch ein solches Kontextwissen offensichtlich vor Vereindeutigungen nicht schützt. In Scott Spectors Buch Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle liest man: Early interpreters read the conflict as corresponding to that of the European Jews (jackals) and the powerful Gentiles they lived among (Arabs). This sort of reading is anything but unusual; in fact, my point is that it is a normative practice in Kafka interpretation that defaces the multivalent power of the parables. (Spector 2000: 191)

Im Anschluss ist von „the endless search for an appropriate decoding key“ (Spector 2000: 191) die Rede. Spector weist danach darauf hin, dass all das, was im Text auf Juden bezogen werden könne, auch „German images of the Slav, or specifically […] Prague German images of the Czech“ (Spector 2000: 191) bestimmt habe, um zu folgern: In fact, if we were to match the three nations of Prague with the three groups in the story, we might just as easily identify the underling but frightening jackals as the Czech masses,

2 Die gesamte Aussage Adornos lautet: „Jeder Satz [der Texte Kafkas] spricht: Deute mich, und keiner will es dulden.“ (Adorno 1977: 255)

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the potent and proud Arabs as the Germans, and the mysterious mediary figure of the narrator as Kafka himself – as the German-speaking Prague Jew. (Spector 2000: 191f.)

Immerhin folgert Spector daraus: „To try to determine which of the myriad possible analogical assignments is the most plausible one is a misdirected exercise.“ (Spector 2000: 192). Diese Vervielfältigung resp. Verunendlichung möglicher Interpretationshinsichten hat ihm Dimitry Shumsky allerdings nicht durchgehen lassen. Zwar weist er darauf hin, dass Spector „sämtliche Versuche der Interpreten vor ihm zurück[weise], die Figuren in Schakale und Araber mit jeweils einer bestimmten Größe zu identifizieren“ (Shumsky 2013: 262); so aber nehme er sich nur die Freiheit, eine Deutung zu präsentieren, die weitgehend mit seinem Verständnis des geistig-kulturellen Schaffens der deutsch schreibenden Prager jüdischen Intellektuellen um die Jahrhundertwende übereinstimmt [...]. Und diese Lesart3 stützt in der Tat Spectors extrem germanozentrische Auffassung vom Leben der damaligen Prager Juden sowie seine Neigung, die Beziehungen zwischen Tschechen und Juden als einen unüberbrückbaren Gegensatz vor dem Hintergrund abgrundtiefer Feindschaft zu sehen. (Shumsky 2013: 262f.)

Shumsky folgert: Es versteht sich, dass diese Deutung Spectors unannehmbar ist, denn sie ignoriert Kafkas Alltagsmilieu in einer zweisprachigen Umgebung. Es ist schlechterdings unvorstellbar, dass ein Mann, der während seiner gesamten Schulzeit auf dem Prager deutschen Gymnasium freiwillig Tschechisch lernte, unerschrocken dem antislawischen Gerede seiner Schulkameraden widersprach und schließlich einem Beruf nachging, in dem er täglich mit tschechischen Arbeitern zu tun hatte – dass dieser Mann die Tschechen so darstellen sollte wie die Schakale in seiner Erzählung. (Shumsky 2013: 263)

Shumsky hatte zuvor in einem Aufsatz (Shumsky 2009) neben der von ihm favorisierten ‚Verhandlung‘ der ‚Araberfrage‘ den Bezug auf das Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden in den Böhmischen Ländern resp. Prag nicht ausgeschlossen, diesbezüglich aber eine andere ‚Auflösung‘ angeboten, nämlich dass mit den Schakalen nicht die Tschechen, sondern durchaus selbstkritisch die Deutschen gemeint seien. Die in der Region herrschenden Araber stünden bei solcher Zuordnung für die Tschechen.4 3 So macht Shumsky allerdings aus der von Spector als bloß eine Möglichkeit benannten Zurechnung kurzerhand die eigentlich von diesem intendierte. 4 Wörtlich: „Insofar as one can see the jackals – European traveler – Arabs triangle as an encoding of Kafka’s Bar Kochbaite friends’ view of local Prague reality (and in contrast to Spector’s interpretation), it would appear that the jackals, longing for the voice of European reason in the face of the Arabs’ ‚filth,‘ rather than representing the Czechs, in fact denote the ‚German‘ Jews of Prague, ‚the foremost guardians of Germanness‘ against

Zu Franz Kafkas Erzählung Schakale und Araber

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Offenbar verhindert also auch die Kenntnis der kulturellen Kontexte, in denen Kafka seine Texte schrieb, das inkriminierte ‚Überschießen‘ nicht, sondern kann vielmehr seinerseits zu seinem Anlass werden.

2. Lektüre Dem will ich eine Lektüre entgegenstellen, die sich erst einmal jeglicher Nominierung eines eigentlich Gemeinten enthält, und nur dem Text folgt – dies aber kleinteiliger, als es jede vorentschiedene Lektüre tun kann. Diese Lektüre muss schon beim Titel beginnen: Schakale und Araber. In ihm werden zwei Gruppen genannt: eine zoologische Art (Natur) und eine menschliche Ethnie (Kultur), die durch ein bloßes „und“ verbunden werden, wobei gerade damit ihr Verhältnis in einer notorischen Ungewissheit gelassen wird. Die Erzählung beginnt: Wir lagerten in der Oase. Die Gefährten schliefen. Ein Araber, hoch und weiß, kam an mir vorüber; er hatte die Kamele versorgt und ging zum Schlafplatz. Ich warf mich rücklings ins Gras; ich wollte schlafen; ich konnte nicht; das Klagegeheul eines Schakals in der Ferne; ich saß wieder aufrecht. Und was so weit gewesen war, war plötzlich nah. (KKAD 270)

Den beiden Gruppen des Titels stellt das erste Wort des Textes ein „Wir“ gegenüber/zur Seite. Man schließt auf eine festgefügte Gruppe; wer dieses „Wir“ ist, wird aber nicht gesagt. Gleich danach werden „Gefährten“ erwähnt, so dass sich die Gruppe in ein bis dahin nur implizit aufgerufenes Ich und die ihm Zugehörigen teilt. Als erster Einzelner erscheint dann „[e]in Araber“, der als „hoch und weiß“ beschrieben wird. Auch das gründet wohl auf einer Trennung von Natur (Körpergröße) und Kultur (weiße Kleidung), lässt die Differenz aber unterbelichtet. Es heißt, dass der Araber „an mir vorüber“ kam. Hiermit wird das ‚Ich‘ in einer räumlichen Anordnung zweier Personen verortet – und es entsteht eine Konstellation zwischen einem ethnisch Bestimmten und einem noch gänzlich unklassifizierten Ich. Die mit dem ‚Vorübergehen‘ Czechness, […]; the European traveler, who would not tarry for long in the region, does not represent Prague’s German Jews, but rather the imperial Austro-German establishment on which these Jews pinned their hopes, and the erosion of whose hegemony in Bohemia ‚Kafka’s‘ Zionists had well discerned; and the proud and upright Arabs, for their part, who scorned the jackals for continuing to adhere to their baseless belief in Arab inferiority, rather than representing the Germans, in fact represent the Czechs […].“ (Shumsky 2009: 90)

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benannte Bewegung korrespondiert der im ersten Satz implizit aufgerufenen: Wer in einer Oase ‚lagert‘, ist dorthin auf einer Reise durch die Wüste gekommen und wird sie später wohl im Sinne einer geradlinigen Weiterreise verlassen, zu der am Ende der Erzählung auch aufgefordert wird. Zunächst hatte Kafka, wie sich an der Handschrift des Oktavhefts 2 überprüfen lässt, übrigens geschrieben, dass der Araber am erzählenden Ich vorüber „gieng“, doch dann zu „kam an mir vorüber“ verändert.5 ‚Ging an mir vorüber‘ oder ‚kam auf mich zu‘ wären geradlinige Bewegungen; „kam an mir vorüber“ aber ist als Bewegung ‚unstimmig‘ und lässt das Verhältnis der beiden Personen wiederum fragwürdig sein. Dem folgt im Übrigen mit dem sich rücklings ins Gras Werfen und gleich wieder aufrecht Sitzen des Erzählers eine Bewegung, die an einem Ort vollführt wird, mit der durch die zunächst so weit entfernten, plötzlich jedoch nahen Schakalen eine weitere Bewegung verschränkt wird, die sogar den Raum aufzuheben schient, wiederum aber zwei Wesen – nun den Erzähler und einen Schakal – in eine (noch fragwürdigere) Relation bringt. Der Araber, um auf ihn zurückzukommen, „hatte die Kamele“ versorgt, womit im Text jenseits des Titels vor den Schakalen noch eine andere Tierart aufgerufen ist, die anders als die Schakale in diesem aber tierhaft stumm bleibt und von denen der Kadaver eines Exemplars am Ende von den Schakalen zerrissen wird, womit sich das menschliche Gegeneinander der sprechenden Schakale und Araber im ‚tierischen‘ Gegeneinander der Schakale und Kamele spiegelt. Die Tatsache, dass die Schakale am Ende in eine angesichts des Kamelkadavers sich bahnbrechende tierhafte Determinierung zurückfallen (die der Text allerdings auch gleich wieder als ein „halb in Rausch und Ohnmacht“-Sein [KKAD 275] relativiert), konterkariert ihr menschliches Mit- und Gegeneinander mit den Arabern. Um wessen Kamele handelt es sich aber am Anfang überhaupt? Um die der Araber? Von diesen wissen wir aber ja noch gar nicht, ob es sie als Gruppe überhaupt gibt; schließlich könnte „Araber“ im Titel auch ein Singular sein und war im Text bisher auch nur von „ein[em] Araber“ die Rede. Weiterhin: Ist der Schlafplatz, zu dem dieser Araber geht, derselbe Platz, auf dem die Gefährten schlafen? Ist der Araber somit einer der Gefährten – oder gibt es etwa zwei Schlafplätze und somit zwei Gruppen?

5 Das Faksimile der ersten Seite der Erzählung Schakale und Araber findet sich im Internet als Beispiel der Editionspraxis der Franz Kafka-Ausgabe (Kafka 2000) unter: www.stroemfeld. de/de/editionen_0_5_4/ (Stand: 19.05.2018). Am Anfang der Erzählung hat Kafka den zunächst genannten Namen der Oase („Gemalja“) gestrichen, ein ursprüngliches „Beduine“ durch „Araber“ ersetzt und eben die oben benannte Veränderung vorgenommen.

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Der erste Satz des zweiten Absatzes ist vor allem von seiner Syntax her bemerkenswert, insofern er vier Teilsätze durch Semikola zugleich trennt und verbindet. Der Punkt ist im Satzsystem ein trennendes Zeichen, das Komma ein verbindendes – das Semikolon steht dazwischen oder hat an beidem Anteil. Selbst auf der syntaktischen Ebene wird hier also die Frage nach Zusammengehörigkeit und ‚Gruppenbildung‘ gestellt. Der zweite Absatz wird so fortgeführt: „Ein Gewimmel von Schakalen um mich her; in mattem Gold erglänzende, verlöschende Augen; schlanke Leiber, wie unter einer Peitsche gesetzmäßig und flink bewegt.“ (KKAD 270) In einem „Gewimmel“ ist die Position eines Einzelnen nicht mehr zu ermitteln; es ist sozusagen ‚reine‘ Masse. Gehört der Erzähler aber schon zu dieser Masse, wenn das Gewimmel bloß ‚um ihn her‘ ist? Weiter werden die „Augen“ der Schakale (Natur) mit „Gold“ zusammengebracht (auch dies Natur, meist aber ‚kulturell‘ bearbeitet) und sowohl „erglänzend[]“ als auch „verlöschend[]“ genannt, was die Schakale zumindest als in sich widersprüchlich kennzeichnet. Die hier genannte Peitsche weist vorweg auf die „riesige Peitsche“ (KKAD 274), mit der der am Ende auftauchende „Araberführer“ (KKAD 274) die Schakale auseinanderbringt. So ist schon am Anfang ein die Schakale ‚beherrschender‘ Araber zumindest implizit erwähnt, der auch in Abwesenheit das Verhalten der Schakale „gesetzmäßig“ bestimmt. Der dritte Absatz lautet: Einer kam von rückwärts, drängte sich, unter meinem Arm durch, eng an mich, als brauche er meine Wärme, trat dann vor mich und sprach, fast Aug in Aug mit mir: ‚Ich bin der älteste Schakal, weit und breit. Ich bin glücklich, dich noch hier begrüßen zu können. Ich hatte schon die Hoffnung fast aufgegeben, denn wir warten unendlich lange auf dich; meine Mutter hat gewartet und ihre Mutter und weiter alle ihre Mütter bis hinauf zur Mutter aller Schakale. Glaube es!‘ (KKAD 270)

Auch bei dem ‚Durchdrängen‘ unter dem Arm des Erzählers und dem schließlichen ‚Vor-ihn-Treten‘ hat man es mit einer durchaus unstimmigen Bewegung zu tun, insofern das Durchdrängen eine geradlinige Bewegung am Ich vorbei, das eng an ihn Drängen aber eine wiederum zielgerichtete Bewegung ist, so dass das im „kam an mir vorbei“ ineinander Geschobene hier in zwei – jedoch als zusammenhängend beschriebene – Bewegungen aufgeteilt wird. Zuletzt führt die ‚wärmende‘ Annäherung aber zu einem ‚Gegenüber-Treten‘, also einer Konfrontation, die dann Grundlage einer face-to-face-Kommunikation wird. Dem Erstaunen darüber, dass ein Schakal zu sprechen anfängt, gibt die Erzählung keinerlei Raum. Dass der Schakal „fast Aug in Aug“ mit dem Erzähler spricht, stellt die Frage nach ihrer Relation, die wiederum uneindeutig ist. Zwar reden sie „Aug in Aug“ miteinander, was eine unhierarchisierte Gleich-

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rangigkeit andeutet, doch eben nur „fast“, womit diese zu einer Überlegenheit des Erzählers umgedeutet ist, ohne dass die Formulierung sich für eine dieser beiden Diagnosen entscheiden würde. Auf die matrilineare Rückführung einer messianischen Hoffnung bis zu einem mythischen Anfang („Mutter aller Schakale“) wurde schon hingewiesen. Allerdings gilt es eben auch zu beachten, dass „der älteste Schakal“ das Wort ergreifen, man es also aktuell offenbar mit einer patriarchalen Gesellschaftsordnung zu tun hat. Auch dies lässt die aufgerufene Matrilinearität als durchaus anders als die spezifisch jüdische erscheinen. Hinzu kommt der Sprung ins Mythische (der so in der jüdischen Genealogie kein Pendant findet), so dass es hier weit mehr um die Möglichkeiten und das Zusammenspiel unterschiedlicher ‚Stabilisierungen‘ einer Gruppe geht: durch eine (der Natur geschuldete) Genealogie, durch das Aufrufen eines mythischen, kulturell tradierten Urgrunds und durch eine aktuelle Gemeinschaftsordnung. Die matrilineare Rückführung der messianischen Erwartung bis hin zu einer mythischen Urszene führt am Ende zum Appell des ältesten Schakals: „Glaube es!“ Dies ist die vorangestellte Bedingung der Möglichkeit des Einbezugs des Erzählers ins Weltbild der Schakale: Er muss ihnen glauben, was er jedoch ablehnt, wie der Beginn des vierten Ansatzes zeigt: ‚Das wundert mich‘, sagte ich und vergaß, den Holzstoß anzuzünden, der bereit lag, um mit seinem Rauch die Schakale abzuhalten, ‚das wundert mich sehr zu hören. Nur zufällig komme ich aus dem hohen Norden und bin auf einer kurzen Reise begriffen. Was wollt Ihr denn, Schakale?‘ (KKAD 270f.)

Gleich zweimal betont der Erzähler, dass er sich wundere. ‚Sich Wundern‘ ist wie etwa Zweifeln eine Infragestellung des Glaubens resp. der Glaubensinhalte, wenn es als Wort auch auf ein ‚Wunder‘ verweist, das ja allermeist zum Glauben dazugehört, insofern es in ihm gerade für jenes steht, das man nicht mehr wissen, sondern an das man eben nur glauben kann. Der Erzähler beharrt darauf, nur „zufällig“ – als Verweis auf Kontingenz das sozusagen ‚Andere‘ von Wissen wie Glauben – aus dem „hohen Norden“ in die südliche Wüste gekommen zu sein. Immerhin benennt er, wenngleich wiederum unscharf, den Grund für seinen Aufenthalt in der Wüste: eine „kurze[] Reise“, womit das bisher nur aus der Angabe „Wir lagerten in der Oase“ Abgeleitete hier explizit wird. Mit dem ‚bereitliegenden‘ Holzstoß ist erneut auf Natur (Holz) verwiesen, das aber zu einem Zweck (also im Horizont von Kultur) aufgeschichtet wurde. Der Holzstoß wurde dabei wohl nicht vom Erzähler oder seinen Gefährten errichtet, so dass sich der Erzähler hier offensichtlich ohne Verständnisprobleme in die Kultur der Araber einfügt – er weiß, wozu ihnen der Holzstoß dienen sollte. Der fünfte Anschnitt

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aber endet mit der Frage des Erzählers: „Was wollt ihr denn, Schakale?“, die den Schakalen einen Willen zuschreibt und vom „älteste[n] Schakal“ eine Erklärung fordert. Der kurze sechste Abschnitt lautet: „Und wie ermutigt durch diesen vielleicht allzu freundlichen Zuspruch zogen sie ihren Kreis enger um mich; alle atmeten kurz und fauchend.“ (KKAD 271) Der „Zuspruch“ könnte „allzu freundlich“ gewesen sein – eine unvorsichtige Einladung, ihm näher, ggf. auch zu nahe zu kommen, was sofort geschieht: Die Schakale ziehen den Kreis um den Erzähler enger, womit sich die oben schon formulierte Frage, ob und wie der Erzähler im „Gewimmel“ noch als Einzelner zu unterscheiden ist oder schon in die Gruppe der Schakale integriert ist, verschärft. Die Zuschreibung, dass die Schakale „atmeten“ macht sie wieder menschengleich, während das ‚Fauchen‘ ihre Zugehörigkeit zur Tierheit betont – einmal mehr bleiben die (aus der Perspektive des Erzählers formulierten) Zuschreibungen bezüglich der Schakale also widersprüchlich. Die Frage nach dem ‚Wollen‘ beantwortet der älteste Schakal im siebten Abschnitt mit einem ‚Wissen‘: ‚Wir wissen‘, begann der Älteste, ‚daß du vom Norden kommst, darauf eben baut sich unsere Hoffnung. Dort ist der Verstand, der hier unter den Arabern nicht zu finden ist. Aus diesem kalten Hochmut, weißt du, ist kein Funken Verstand zu schlagen. Sie töten Tiere, um sie zu fressen, und Aas mißachten sie.‘ (KKAD 271)

Die Schakale haben also nicht nur ein (matrilineares, ins Mythische zurückreichendes) Erklärungsmuster der Geschichte, sondern auch eine sozusagen kulturelle Raumordnung: Im Norden finde sich Verstand, der den Arabern in ihrem „kalten Hochmut“ fehle. Aus der Abweichung der Araber von den eigenen Verhaltensweisen der Schakale (die Araber missachten Aas), wird vom Schakal auf deren kulturelle Minderwertigkeit geschlossen. Die Konstellation von Kälte und Funken spiegelt die Araber allerdings am Verlöschen und gleichzeitigen Erglänzen der Augen der Schakale. Wenn die Araber also aus Sicht der Schakale das ganz Andere zu ihnen sind, dann sind sie es in einer spiegelverkehrten und damit eben doch den Schakalen ähnlichen Weise. Der Text fährt fort: „‚Rede nicht so laut‘, sagte ich, ‚es schlafen Araber in der Nähe.‘“ (KKAD 271) Die Mahnung des Erzählers stellt den Versuch dar, einen interkulturellen Konflikt nicht zu körperlich ausgefochten Kämpfen eskalieren zu lassen. Im Verweis auf die schlafenden Araber aber wird die Frage vom Anfang wieder virulent, ob sich in der Oase ein oder zwei Schlafplätze befinden, also erneut die Frage nach der Zusammengehörigkeit von Gruppen aufgeworfen. Dies setzt sich im neunten Abschnitt fort:

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‚Du bist wirklich ein Fremder‘, sagte der Schakal, ‚sonst wüßtest du, daß noch niemals in der Weltgeschichte ein Schakal einen Araber gefürchtet hat. Fürchten sollten wir sie? Ist es nicht Unglück genug, daß wir unter solches Volk verstoßen sind?‘ (KKAD 271)

Das Verhältnis von Schakalen und Arabern wird hier einesteils zunächst als Verhältnis ‚eines‘ Schakals zu ‚einem‘ Araber expliziert (was an die Einzahl von Araber wie Schakal am Anfang des Textes anschließt), andernteils ist vom „wir“ der Schakale die Rede, was auf das erste Wort des Textes Bezug nimmt. Gleich aber wird das Verhältnis komplizierter, indem von dem Unglück die Rede ist, dass das (ja aus einer Gruppen-Innensicht behauptete) „wir“ unter ein „Volk“ verstoßen sei, was eine Diagnose ‚von außen her‘ meint. Dass die Araber als „Volk“ bezeichnet werden, legt die Frage nahe, welche Art der Vergemeinschaftung denn für die Schakale in Abschlag zu bringen ist. Jedenfalls sind sie „unter solches Volk verstoßen“, was eine Handlung (welcher Instanz?) als Grund ihres Lebens ‚unter‘ den Arabern nominiert, mit dem ‚unter‘ die genaue Art und Weise des Zusammenlebens der Schakale mit den Arabern aber auch wiederum offen lässt. Man liest weiter: „‚Mag sein, mag sein‘, sagte ich, ‚ich maße mir kein Urteil an in Dingen, die mir so fern liegen; es scheint ein sehr alter Streit; liegt also wohl im Blut; wird also vielleicht erst mit dem Blute enden.‘“ (KKAD 271) Mit dem doppelten „mag sein“ verweigert der Erzähler die Übernahme des Glaubens resp. der kulturellen Ordnung der Schakale. Er bleibt ein Fremder, der „sich kein Urteil in Dingen“ anmaßt, die ihm „so fern liegen“, wobei ein ‚so weit Gewesenes‘ ja schon einmal „plötzlich nah“ wurde. Die Rückführung ‚aufs Blut‘ in der Frage nach der Relation von Gruppen zueinander war zeitgenössisch durchaus üblich. Sogar in Max Brods „menschlich-politischer Betrachtung“ Juden, Deutsche, Tschechen ist im Zusammenhang der Frage nach einer einfacheren Assimiliation der Juden der Böhmischen Länder ans Tschechentum von der Möglichkeit einer „rassenhafte[n] Verwandtschaft“ der Deutschen und Tschechen und einem „rassenmäßig [...] fest umschriebene[n], seit Jahrtausenden unvermischte[n] Judentum“ (Brod 1920: 29) die Rede. Der 11. Abschnitt von Schakale und Araber lautet: ‚Du bist sehr klug‘, sagte der alte Schakal; und alle atmeten noch schneller; mit gehetzten Lungen, trotzdem sie doch stillestanden; ein bitterer, zeitweilig nur mit zusammengeklemmten Zähnen erträglicher Geruch entströmte den offenen Mäulern, ‚du bist sehr klug; das, was du sagst, entspricht unserer alten Lehre. Wir nehmen ihnen also ihr Blut und der Streit ist zu Ende.‘ (KKAD 271f.)

In der Diagnose des „sie“ werden die Schakale wiederum als zusammenhängende Gruppe angesprochen – nun aber aus einer gruppenexternen Per-spektive. Die „gehetzten Lungen, trotzdem sie doch stillestanden“, verweisen noch

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einmal auf ihre Widersprüchlichkeit und von daher Unverständlichkeit. Ihr Status wird weiter verunklart, wenn einerseits von „Geruch“ (in tierhaftem Kontext wäre ‚Gestank‘ deutlich naheliegender), dann aber von ihren „Mäulern“ die Rede ist. Wie die „zusammengeklemmten Zähne[ ]“ den Geruch erträglicher machen sollen, bleibt völlig offen; allerdings wird mit den Zähnen eben auf den Mund des Erzählers verwiesen, der als menschliches Pendant den Mäulern der Schakale entgegengestellt wird, so aber auch wieder eine Korrespondenz stiftet. Die Aussage des Erzählers, der „sehr alte[ ] Streit“ werde „vielleicht erst mit dem Blute enden“, die ja nur von ‚einem‘ Ende spricht, damit aber keinen klar umrissenen Schlusspunkt meint, wird vom alten Schakal im Sinne ‚ihrer‘ „alten Lehre“ vereindeutigt: „Wir nehmen ihnen also ihr Blut und der Streit ist zu Ende.“ Einen solchen blutigen Streit hatte der Erzähler ja eben noch durch die Mahnung, nicht so laut zu reden, unterbinden wollen. Darauf kommt der Erzähler nun zurück: „‚Oh!‘ sagte ich wilder, als ich wollte, ‚sie werden sich wehren; sie werden mit ihren Flinten euch rudelweise niederschießen.‘“ (KKAD 272) In der nun ‚wilderen‘ Rede des Erzählers wird diese an eine gemeinhin den Tieren zugeschriebene Eigenart angeglichen. Die Rede über die von den Arabern in der Austragung des Streites möglicherweise ‚in Anschlag‘ zu bringenden „Flinten“ und dem durch sie ermöglichten „[N]iederschießen“ verweist darauf, dass den Arabern ‚Werkzeuge‘ eignen, die es, wie noch genau benannt werden wird, in der Kultur der Schakale nicht gibt. Der Schakal fährt fort: ‚Du mißverstehst uns‘, sagte er, ‚nach Menschenart, die sich also auch im hohen Norden nicht verliert. Wir werden sie doch nicht töten. Soviel Wasser hätte der Nil nicht, um uns rein zu waschen. Wir laufen doch schon vor dem bloßen Anblick ihres lebenden Leibes weg, in reinere Luft, in die Wüste, die deshalb unsere Heimat ist.‘ (KKAD 272)

So wird der Erzähler wieder zum Menschen, wobei der Schakal mit dem Verweis auf die ‚Reinheit‘ auch für seine Gruppe etwas in Anspruch nimmt, was gemeinhein nur für die Menschenwelt als Ziel vorausgesetzt wird. Gleich anschließend aber werden die Araber auf ihren „lebenden Leib“ (also wieder auf bloße Natur) reduziert, während umgekehrt, der Schakal seiner Gruppe eine „Heimat“ zuschreibt, die wiederum üblicherweise nur Menschen zuerkannt wird. Dieses ‚Untereinanderbringen‘ von Menschlichem und Tierhaftem setzt sich anschließend fort, insofern den Schakalen kurz nacheinander sowohl „Vorderbeine“, als auch „Pfoten“ zugeschrieben werden: Und alle Schakale ringsum, zu denen inzwischen noch viele von fernher gekommen waren, senkten die Köpfe zwischen die Vorderbeine und putzten sie mit den Pfoten; es war, als wollten sie einen Widerwillen verbergen, der so schrecklich war, daß ich am liebsten mit einem hohen Sprung aus ihrem Kreis entflohen wäre. (KKAD 272)

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Ebenso fortgesetzt wird hier die Frage nach dem Verhältnis von Ferne und Nähe, die Rede vom ‚Willen‘ (hier schrecklichem „Widerwillen“) der Schakale sowie die Frage nach der Zugehörigkeit des Erzählers zum „Gewimmel“ und immer ‚engeren‘ Kreis, den die Schakale um ihn ziehen. Immerhin glaubt er, sich mit einem „hohen Sprung“ aus der Gemeinschaft mit ihnen retten und so wieder individualisieren zu können. Man liest weiter: ‚Was beabsichtigt Ihr also zu tun‘, fragte ich und wollte aufstehn; aber ich konnte nicht; zwei junge Tiere hatten sich mir hinten in Rock und Hemd festgebissen; ich mußte sitzen bleiben. ‚Sie halten deine Schleppe‘, sagte der alte Schakal erklärend und ernsthaft, ‚eine Ehrbezeugung.‘ ‚Sie sollen mich loslassen!‘ rief ich, bald zum Alten, bald zu den Jungen gewendet. ‚Sie werden es natürlich‘, sagte der Alte, ‚wenn du es verlangst. Es dauert aber ein Weilchen, denn sie haben nach der Sitte tief sich eingebissen und müssen erst langsam die Gebisse voneinander lösen. Inzwischen höre unsere Bitte.‘ ‚Euer Verhalten hat mich dafür nicht sehr empfänglich gemacht‘, sagte ich. ‚Laß uns unser Ungeschick nicht entgelten‘, sagte er und nahm jetzt zum erstenmal den Klageton seiner natürlichen Stimme zu Hilfe, ‚wir sind arme Tiere, wir haben nur das Gebiß; für alles, was wir tun wollen, das Gute und das Schlechte, bleibt uns einzig das Gebiß.‘ ‚Was willst du also?‘ fragte ich, nur wenig besänftigt. (KKAD 272f.)

Ein vom Erzähler als tierischer Beißreflex identifiziertes Verhalten wird vom alten Schakal in ein Kulturmuster überführt, womit die Doppelheit von Natur und Kultur in eine chiastische Konstellation gerückt wird. Doch wird es gleich noch abgründiger. Die „Ehrbezeugung“ (Kultur) der jungen Schakale werde von diesen „natürlich“ beendet, wenn er es verlange. Die sich „nach der Sitte“ tief „eingebissen“ hätten, müssten aber erst ihre „Gebisse“ (Natur) voneinander lösen. Gleich danach nimmt der Schakal „den Klageton seiner natürlichen Stimme zu Hilfe“, wobei über die Relation solchen ‚Jaulens‘ zum angeführten Satz nichts Näheres gesagt wird, so dass man auch folgern kann, dass er den angeführten Satz nun mit seiner natürlichen Stimme äußert, womit hier Natur und Kultur wieder in eins fielen. Für ihr ‚Wollen‘ steht den Schakalen immer nur ihr Gebiss zur Verfügung, was einesteils diese ‚natürliche‘ Ausstattung mit ethischen Kategorien („das Gute und das Schlechte“) in Verbindung bringt, andernteils aber auch die Differenz der Schakale, die nur ihr Gebiss haben, zu den Arabern, die über Flinten verfügen, noch einmal betont. Nicht zuletzt wird in der Gegenüberstellung des Wollens eines „wir“ durch den Schakal und der Nachfrage nach dem Willen eines „du“ durch den Erzähler noch einmal die (unauflösliche) Frage nach dem Verhältnis von Gruppe und Einzelnem aufgeworfen. Der wiederum lange 16. Abschnitt lautet: ‚Herr‘, rief er, und alle Schakale heulten auf; in fernster Ferne schien es mir eine Melodie zu sein. ‚Herr, du sollst den Streit beenden, der die Welt entzweit. So wie du bist, haben unsere Alten den beschrieben, der es tun wird. Frieden müssen wir haben von den Arabern; atem-

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bare Luft; gereinigt von ihnen den Ausblick rund am Horizont; kein Klagegeschrei eines Hammels, den der Araber absticht; ruhig soll alles Getier krepieren; ungestört soll es von uns leergetrunken und bis auf die Knochen gereinigt werden. Reinheit, nichts als Reinheit wollen wir,‘ – und nun weinten, schluchzten alle – ‚wie erträgst nur du es in dieser Welt, du edles Herz und süßes Eingeweide? Schmutz ist ihr Weiß; Schmutz ist ihr Schwarz; ein Grauen ist ihr Bart; speien muß man beim Anblick ihrer Augenwinkel; und heben sie den Arm, tut sich in der Achselhöhle die Hölle auf. Darum, o Herr, darum o teuerer Herr, mit Hilfe deiner alles vermögenden Hände, mit Hilfe deiner alles vermögenden Hände schneide ihnen mit dieser Schere die Hälse durch!‘ Und einem Ruck seines Kopfes folgend kam ein Schakal herbei, der an einem Eckzahn eine kleine, mit altem Rost bedeckte Nähschere trug. (KKAD 273f.)

Mit der Anrede als „Herr“ (später dann gesteigert zu „o Herr“ und „o teuerer Herr“) wird wieder eine Hierarchie zwischen dem Erzähler und den Schakalen betont. Zudem wird erneut auf die Ferne – diesmal gesteigert als „fernste Ferne“ – verwiesen, doch durch eben diese Ferne das Heulen der Schakale zu einer einheitlichen Melodie gefügt. Was aber ist das Heulen der Schakale dann in der Nähe? Der Schakal will den Erzähler in die Pflicht eines geteilten Glaubens nehmen, denn so, wie er aussehe, hätten „unsere Alten“ den beschrieben, der den Streit, „der die Welt entzweit“, beenden werde. Mit der Forderung nach „Frieden“ wird dabei wieder eine menschliche Forderung erhoben. Gereinigt müsse der „Ausblick rund am Horizont“ werden, womit klar wird, dass die Araber die Schakale aus deren Sicht so ‚umgeben‘, wie zwischenzeitlich die Schakale als Kreis den Erzähler. Die Araber werden eines falschen (kulturellen) Verhaltens geziehen, indem sie Hammel ‚abstechen‘, statt das „Getier“ auf natürlichem Wege „krepieren“ zu lassen, damit die Schakale es ‚leertrinken‘ können, um so für „Reinheit“ zu sorgen – dem Einzigen, was sie zu wollen vorgeben. Unklar bleibt im nächsten Satz einmal mehr das „du“, das in der Formel vom „edle[n] Herz und süße[n] Eingeweide“ angesprochen wird. Zum Erzähler will es nicht recht passen, eher – jedenfalls die „Eingeweide“ – zum „Getier“, zu dem dann aber wiederum das „edle Herz“ nicht stimmen will. So ist es naheliegender, den Satz auf die Schakale zu beziehen, deren Ambivalenz die Erzählung immer weiter forciert. Schmutz sei das „Weiß“ der Araber (das dem „weiß“ der anfänglich genannten Kleidung des Arabers entspricht), aber auch ihr Schwarz – alles ist auf der Seite der Araber also ununterscheidbarer Schmutz, während die Schakale die Reinheit und „nichts als Reinheit“ für sich reklamieren, wodurch ja die Araber erst mit dem Schmutz assoziiert werden. In ihrer Achselhöhle tue sich „die Hölle auf“, wenn sie den Arm höben – ein mindestens so un„erträglicher“ Geruch resp. Gestank, wie er in der Wahrnehmung des Erzählers den Mäulern der Schakale „entströmt“. Dass dem Erzähler vom alten Schakal gleich zweimal hintereinander „alles vermögende

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Hände“ zugesprochen werden, passt zu seiner Stilisierung als Messias, situiert ihn an dieser Stelle aber auch zwischen den Schakalen, die für alles nur ihr Gebiss haben, und den Arabern mit ihren (mittels der Hände zu bedienenden) Flinten. Um endlich Schluss zu machen mit all dem, bringt ein Schakal „eine kleine, mit altem Rost bedeckte Nähschere“. Diese Szene hat sich wohl schon oftmals vollzogen, denn der nun auftretende „Araberführer unserer Karawane“ hält die Zeit für gekommen, den ihm offenbar bekannten Ablauf an dieser Stelle zu unterbrechen: „‚Also endlich die Schere und damit Schluß!‘ rief der Araberführer unserer Karawane, der sich gegen den Wind an uns herangeschlichen hatte und nun seine riesige Peitsche schwang.“ (KKAD 274) Dem Araber wird an dieser Stelle wiederum ein eher tierisches Verhalten attestiert – nämlich „sich gegen den Wind“ anzuschleichen. Zudem wird die Peitsche vom Anfang wieder aufgenommen, unter der sich die Schakale „gesetzmäßig und flink“ bewegt hatten. Was am Anfang aber bloß vergleichende Erklärung ihres Verhaltens war („wie unter einer Peitsche“) wird jetzt zum realen Ereignis. Der Erzähler fährt fort: „Alles verlief sich eiligst, aber in einiger Entfernung blieben sie doch, eng zusammengekauert, die vielen Tiere so eng und starr, daß es aussah wie eine schmale Hürde, von Irrlichtern umflogen.“ (KKAD 274) Nun kauern sich die „Tiere“, die die Schakale wohl aus der Sicht der Araber sind, deren Beurteilung der Erzähler hier also übernimmt, in „einiger Entfernung“ – weder fern also, noch nah – zusammen und bilden eine „schmale [also eher überwindbare] Hürde“ (für den Blick zum Horizont?), eine Hürde aber, deren Materialität (und damit Realität) schon wieder insofern in Frage gestellt ist, als sie „von Irrlichtern umflogen“ wird. Der 19. Abschnitt lautet: ‚So hast du, Herr, auch dieses Schauspiel gesehen und gehört‘, sagte der Araber und lachte so fröhlich, als es die Zurückhaltung seines Stammes erlaubte. ‚Du weißt also, was die Tiere wollen?‘ fragte ich. ‚Natürlich, Herr‘, sagte er, ‚das ist doch allbekannt; solange es Araber gibt, wandert diese Schere durch die Wüste und wird mit uns wandern bis ans Ende der Tage. Jedem Europäer wird sie angeboten zu dem großen Werk; jeder Europäer ist gerade derjenige, welcher ihnen berufen scheint. Eine unsinnige Hoffnung haben diese Tiere; Narren, wahre Narren sind sie. Wir lieben sie deshalb; es sind unsere Hunde; schöner als die Eurigen. Sieh nur, ein Kamel ist in der Nacht verendet, ich habe es herschaffen lassen.‘ (KKAD 274)

Nun spricht auch der Araber den Erzähler (zweimal) als „Herr“ an. Seine ‚Gruppe‘ aber wird hier als „Stamm“ bezeichnet. Die früh seitens des Erzählers an die Schakale gerichtete Frage: „Was wollt ihr denn[?]“, die noch einmal als „Was willst du also[?]“ wiederholt wurde, findet nun ihre präzise Antwort

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– allerdings seitens des Araberführers, der das Ganze als „allbekannt“ qualifiziert. Den den Text durchziehenden ‚Bewegungsformen‘ wird dabei noch eine ‚Wanderung‘ angefügt, die zwar verortet („durch die Wüste“), aber zugleich – jedenfalls im Sinne einer eindeutigen Datierung – entzeitlicht („bis ans Ende der Tage“, also immer) wird. Nun erst wird im Übrigen auch der Erzähler (was aber wichtig ist: in der Rede des Arabers) ethnisch vereindeutigt – als Europäer, der er zu sein hat, weil im ‚Skript‘ des Verhaltens der Schakale ein Europäer als ‚Berufener‘ vorgesehen ist. Die ‚wilden‘, (bezogen auf die Araber) mordgierigen Schakale, deren Beschreibung als „Narren“ sie noch einmal auf andere Weise vermenschlicht, werden dann den Haustieren der Europäer verglichen (eine andere dezidiert interkulturelle Perspektivierung), womit sich die Frage verbinden lässt, ob sich unter dem vermeintlich harmonischen Verhältnis von Europäern zu ihren an ihre Kultur ‚herangerückten‘ Hunden nicht in Wahrheit auch zurückgehaltene Brutalität und Mordgier verbirgt. Der Araber jedenfalls nennt die ‚eigenen‘ Schakale „schöner“ als die Hunde der Europäer, was wohl – nach herkömmlichen Schönheitsvorstellungen paradox – gerade aus ihren Mordabsichten abgeleitet wird. Der Araberführer lässt nun das ‚verendete‘ Kamel herbeibringen, das also auf eine Weise starb, die es zum Verzehr für die Schakale tauglich sein lässt: Vier Träger kamen und warfen den schweren Kadaver vor uns hin. Kaum lag er da, erhoben die Schakale ihre Stimmen. Wie von Stricken unwiderstehlich jeder einzelne gezogen, kamen sie, stockend, mit dem Leib den Boden streifend, heran. Sie hatten die Araber vergessen, den Haß vergessen, die alles auslöschende Gegenwart des stark ausdunstenden Leichnams bezauberte sie. Schon hing einer am Hals und fand mit dem ersten Biß die Schlagader. Wie eine kleine rasende Pumpe, die ebenso unbedingt wie aussichtslos einen übermächtigen Brand löschen will, zerrte und zuckte jede Muskel seines Körpers an ihrem Platz. Und schon lagen in gleicher Arbeit alle auf dem Leichnam hoch zu Berg. (KKAD 275)

Hier ist ein weiteres (bloß situatives) „uns“ resp. ‚wir‘ zu finden: Der Kadaver des Kamels ‚adressiert‘ sozusagen das ganze Personal der Erzählung. Doch weiter geschildert wird nur die Reaktion der Schakale, die nur noch tierischreflexhaft reagieren ‚wie von Stricken unwiderstehlich gezogen‘ – und dies eben nicht als ‚Wir‘, sondern „jeder einzelne“. Sie erinnern sich dabei nicht mehr an ihr Weltbild, wobei Erinnern im qualifizierteren Sinne ja auch eine eher menschliche Angelegenheit ist, so dass sie im Vergessen, das ‚eigentlich‘ aber auch etwas Menschliches ist, der Araber und des Hasses tatsächlich zu bloßen Tieren werden. Wieder hat man es im Übrigen mit einem nicht näher bezeichneten ‚Gestank‘ zu tun, nun hervorgerufen durch das ‚starke Ausdunsten‘ des Kamel-Kadavers, der aber offenbar für die Schakale ein eher

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himmlischer Geruch ist und somit ganz anders als der höllische der Araber. Befremdlich ist noch einmal die Rede von der „kleine[n], rasende[n] Pumpe“, von der man erst einmal nicht so genau weiß, auf wen sie sich bezieht. Zuletzt kann aber nur jeder einzelne Schakal damit gemeint sein, der, wie alle Schakale, jetzt einfach nur noch funktionierender Körper ist – in solchem ‚Funktionieren‘ aber einer Maschine („Pumpe“) verglichen wird. Allerdings wird das Zerfleischen des Kamels durch die Schakale gleich auch wieder als „Arbeit“ bezeichnet, sie also erneut vermenschlicht. Der vorletzte Abschnitt der Erzählung lautet: Da strich der Führer kräftig mit der scharfen Peitsche kreuz und quer über sie. Sie hoben die Köpfe; halb in Rausch und Ohnmacht; sahen die Araber vor sich stehen; bekamen jetzt die Peitsche mit den Schnauzen zu fühlen; zogen sich im Sprung zurück und liefen eine Strecke rückwärts. Aber das Blut des Kamels lag schon in Lachen da, rauchte empor, der Körper war an mehreren Stellen weit aufgerissen. Sie konnten nicht widerstehen; wieder waren sie da; wieder hob der Führer die Peitsche; ich faßte seinen Arm. (KKAD 275)

Auch wenn die Schakale, wie schon benannt, sich nur „halb in Rausch und Ohnmacht“ befinden, haben sie doch keine Kontrolle mehr über sich, sind nun ganz Natur und Tiere. Zudem vollführen sie die letzte prägnante Bewegung im Text: Diesmal ein weg und hin, ein Zurückspringen und Zurücklaufen und dann wieder „da“, beim Kamel sein. Diese Horde Schakale will der Araber, der nun nur noch „Führer“ genannt wird, seine Macht spüren lassen, indem er die Peitsche hebt. Wieder aber verhindert der Erzähler eine gewaltsame (interkulturelle) Konfrontation – und der Araber gibt nach: „‚Du hast Recht, Herr‘, sagte er, ‚wir lassen sie bei ihrem Beruf; auch ist es Zeit aufzubrechen. Gesehen hast du sie. Wunderbare Tiere, nicht wahr? Und wie sie uns hassen!‘“ (KKAD 275) Den ganz und gar vertierten Schakalen spricht der Araber nun wiederum einen menschlichen „Beruf“ zu. Außerdem mahnt er zum Aufbruch. Die vielen – oft unstimmigen – Bewegungsformen in der Erzählung werden so zuletzt wieder auf eine geradlinige Bewegung zurückgeführt: hinaus aus der Oase. Am Ende stehen die beiden Diagnosen: „Wunderbare Tiere“ und: „wie sie uns hassen!“, die aber offensichtlich nicht in Widerspruch zueinander gesetzt sind. Die Schakale sind aus Sicht der Araber eben und gerade deshalb ‚wunderbar‘, weil sie, die Araber, von ihnen gehasst werden. Dies entspricht im Übrigen einer Diagnose, die man auch bezüglich des interkulturellen Zusammenlebens der verschiedenen „Landsmannschaft[en]“ (KKAN II: 219) im Babel der Erzählung Das Stadtwappen stellen kann: diesen wird zunächst eine stets sich steigernde „Kampfsucht“ (KKAN I: 219) attestiert, später heißt es: „doch man war schon viel zu sehr miteinander verbun-

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den, um die Stadt zu verlassen“ (KKAN II: 321). Man hat es also auch hier mit einem unauflöslichen, zuletzt sogar, wie sich in der stetigen ‚Verschönerung‘ (KKAN II: 219) der Stadt zeigt, gedeihlichen Miteinander auf der Grundlage eines hasserfüllten, kämpferischen Gegeneinanders zu tun (Weinberg 2012). Die Erzählung Schakale und Araber reflektiert somit durchgängig die Begründungsmuster von Zusammengehörigkeiten und Entgegensetzungen von Gruppen samt der Frage nach der Stellung eines Einzelnen in und zwischen ihnen und ruft dabei alle nur möglichen Grundlagen solcher Einheit(en) und Vielheit(en) auf (Natur, Kultur, Genealogie, Mythos, Geschichte, Blut, tierisch-reflexhafte Verhaltensmuster etc.pp.), um sie immerfort gegeneinander zu führen, zu identifizieren, zu verschieben, als Zuschreibungen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu verdeutlichen und wieder zurückzunehmen.

3. Fazit Wie aber passt eine solche Lektüre zu der im Vorwort dieses Sammelbandes angemahnten größeren Kontextsensivität in der Lektüre Kafkascher Texte? Egon Erwin Kisch hat in einem Text unter dem Titel Deutsche und Tschechen von der Jahrhundertwende geschrieben: Mit der halben Million Tschechen der Stadt pflog der Deutsche keinen außergeschäftlichen Verkehr. Niemals zündete er sich mit einem Streichholz des Tschechischen Schulengründungsvereins eine Zigarre an, ebenso wenig ein Tscheche mit einem Streichholz aus einem Schächtelchen des Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein Tscheche im Deutschen Casino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte. Korso der Tschechen war die Ferdinandstraße, Korso der Deutschen ‚der Graben‘. (Kisch 1990: 78f.)

Dies stellt das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen als eines strikt voneinander abgegrenzter Gruppen dar. Demgegenüber heißt es rückblickend in Vilém Flussers Bodenlos. Eine Philosophische Autobiographie von 1992: Selbstredend, man war Prager, das stand nicht in Frage. Es war der Boden, auf dem sich alle anderen Fragen stellten. Aber war man als Prager Tscheche, Deutscher oder Jude? War man überhaupt berechtigt, die jüdische Dimension mit den beiden anderen auf dieselbe

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Linie zu stellen? Musste man sich zwischen diesen Alternativen entscheiden, oder waren sie irgendwie gegeben? (Flusser 1992: 15f.)6

Flusser stellt also eine gemeinsame Prager Identität in den Vordergrund, zu der die Kategorien Tscheche, Deutsche oder Jude offensichtlich nur Subkategorien bilden, und er stellt seine Frage dabei vom Einzelnen her, nicht wie Kisch bezüglich der nationalkulturellen Gruppen. Entsprechendes gilt für Johannes Urzidils zwar oft zitierte, aber selten theoretisch ernst genommene Beschreibung seines Lebens als Junge in Prag: „‚Ich bin hinternational‘, pflegte er zu sagen. Hinter den Nationen – nicht über- oder unterhalb – ließ sich leben und durch die Gassen und Durchhäuser streichen“ (Urzidil 1960: 11, Herv. i. O.). Urzidil bringt durch die Absage ans vertikale ‚Über- oder Unterhalb‘ nicht nur die kulturelle Vielfalt Prags in ein horizontales Nebeneinander, sondern etabliert durch das Anfügen nur eines Buchstabens an das gebräuchliche ‚international‘ eine Doppelheit von vordergründiger nationalkultureller Trennung und hintergründiger, so aber grundlegender Gemeinsamkeit. Auf diese Weise werden die berühmten „Durchhäuser“ zum eigentlichen Insignium Prags und der Prager Stadtraum zu einem (fast) flächendeckenden ‚Zwischenraum‘, den alle Prager ‚als Prager‘ teilten. Schon 1907 schrieb Max Brod in seiner Besprechung der Ausstellung der Osma, einer Gruppe von deutsch- und tschechischsprachigen bildenden Künstlern, „daß in Prag kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation die Rede ist, sondern nur noch von Pragern“ (Brod 1966: 53); er leitete den Wiederabdruck dieser Besprechung in seinem Studie zum Prager Kreis allerdings mit der Bemerkung ein, dass er „die Dinge damals wesentlich optimistischer gesehen ha[be], als sie lagen, und vor allem: als sie sich nachher entwickelt haben“ (Brod 1966: 52). Alle diese Beschreibungen legen nahe, dass die Fragen, die Franz Kafkas Text Schakale und Araber nach meiner Lektüre aufwirft und einmal mehr ins Abgründigste vergrundsätzlicht, für einen Prager von umfassender Relevanz waren: Zu welcher Gruppe gehöre ich? Welche Kriterien gibt es für die Zurechnung zu einer Gruppe? Sind Gruppen natürlich-genealogisch oder durch Kultur oder durch den Rückbezug auf einen Mythos konstituiert? Was ist das überhaupt: das Mit-, Gegen-, In- und Durcheinander mehrerer Gruppen? Und wie ist die Stellung eines Einzelnen in einer Gruppe oder zwischen all diesen Gruppen? Und so fort. 6 Allerdings stellt sich die Frage, wie sehr Flussers später Rückblick auf Prag durch seine zwischenzeitlichen Erfahrungen mit der Interkulturalität Brasiliens, in das er 1940 ausgewandert war, geprägt ist.

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In Ines Koeltzschs Studie Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918–1938) liest man, dass „trotz der starken Tendenz nationaler Homogenisierung in der städtischen Gesellschaft [Prags] nach dem Ersten Weltkrieg bei bi- und multilingualen Akteuren eine hohe Flexibilität im alltäglichen Umgang mit der gesprochenen und geschriebenen Sprache vorhanden war“ (Koeltzsch 2012: 27). Diese sprachliche Flexibilität ist aber auch als ‚allgemein‘ kulturelle zu verstehen, die die gestellten Fragen nahelegt. All das macht Schakale und Araber nicht zu einem Gleichnis oder auch nur zu einem Text ‚über‘ Prag und seine spezifische Interkulturalität. Es zeigt ihn aber als einen Text, der etwas ins Grundsätzlichste und, wie bei Kafka üblich, sozusagen ins Bodenlose hinein reflektiert, was ganz offensichtlich für Prager – seien sie Deutsche, Tschechen oder Juden oder eben gleich mehreres davon – von enormer Relevanz war. Mit einer Auflösung, wer mit den Arabern, Schakalen und dem Europäer ‚eigentlich‘ gemeint sei, kommt man bezüglich dieser Erzählung keinen Schritt weiter, sondern verliert eher ihre grundstürzende Reflexionskraft aus dem Blick. Kafkas Formulierung, dass der Bericht für eine Akademie und Schakale und Araber „nicht eigentlich Gleichnisse“ seien, erweist sich von daher als sehr präzise. Im Falle des zweiten Textes handelt es sich insofern um ein Gleichnis, als er nicht ‚eigentlich‘ etwas über Schakale und Araber und ihr Verhältnis zueinander aussagen will; es handelt sich zugleich nicht um ein Gleichnis, als mit der ‚Auflösung‘ einer Zuordnung von Gruppen in der realen Welt zu den im Text genannten Gruppen/Personen nichts gewonnen ist. Vielmehr wird aus der vermeintlich gelungenen Enträtselung meist auf eine konsistente ‚Aussage‘ des Textes (etwa zur Araberfrage) geschlossen, und es bleibt übersehen, dass die ‚Leistung‘ der Erzählung vielmehr in der Reflexion der Relation von Einzelnen und Gruppen besteht, für die es zuletzt reichlich gleichgültig ist, auf welche Instanzen bezogen sich diese Reflexion vollzieht. In der klaren Identifizierung geht somit das verloren, was die Erzählung vor allem auszeichnet: dass sie die Frage nach Gruppen und Einzelnen nicht als ein für alle Mal beantwortbare Frage und feste Konstellation (auch der jeweiligen Gruppen selbst) zeigt, sondern ihre andauernde situative7 Verschiebung, die die Begründungen in immer neue Konstellationen bringt, vorführt. 7 Das Konstanzer Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration hat als eine seiner Grundannahmen formuliert, dass Identität nicht mehr „als ein quasi natürlicher Dauerzustand des Selbstbewusstseins sozialer Akteure“ verstanden werde, sondern als „Effekt einer Dramatisierung von Differenz.“ Identitätsfragen stellen sich danach nur in kritischen

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Noch einmal also: Das Plädoyer einer kontextsensitiveren Lektüre zielt nicht auf die These, im Grunde habe Franz Kafka immer nur über Prag geschrieben. Der Vorteil einer Annäherung an seine Texte von der Komplexität und Widersprüchlichkeit ihres interkulturellen Entstehungskontextes aber ist – jedenfalls wenn man nicht wieder gleich das Gesagte mit einem Gemeinten enträtselt –, dass diese gerade nicht den Blick auf das im Text Reflektierte vorschnell verstellt, sondern gerade dazu anhält, ihm bis ins kleinste Detail zu folgen. Anders gesagt: Es geht nicht darum, die Allegorese unter ein neues Vorzeichen zu stellen und statt von Juden und Arabern, nun von Tschechen, Deutschen und Juden zu sprechen (dadurch ändert sich zuletzt so gut wie nichts); sondern es geht darum, der Allegorese Kafkascher Texte, die immer vorschnell sein muss, endlich abzuschwören und erst einmal wieder den Blick für diese frei zu bekommen. Dann aber lassen sehr viele von ihnen einen nahen Zusammenhang mit der spezifischen Komplexität der Interkulturalität Prags und der Böhmischen Länder zu Kafkas Lebzeiten erkennen.

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Manfred Weinberg

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Irina Wutsdorff

Beschreibung eines Kampfes? Zu Spuren des Interkulturellen in Kafkas (sprach-)reflexivem Schreiben Kafkas Werk wird häufig – nicht nur wegen seiner Herkunft – mit Prag assoziiert. Es ließe sich insofern fragen, ob zwischen dem zweifellos hochmodernen, hoch reflektierten und höchst anspruchsvollen Schreiben Kafkas und dem Ort bzw. den lokalen Bedingungen, unter denen es entstanden ist, ein Zusammenhang besteht. In einem über Kafka hinausgehenden Rahmen wären in umgekehrter Richtung Parallelen, aber auch Unterschiede sowie Wechselwirkungen zwischen der im Prager Kontext entstandenen deutsch- wie tschechischsprachigen Literatur zu eruieren. Eine solche Frage nach Prager Moderne(n)1 stellt den Versuch dar, gleichermaßen den lokalen wie den zeitund kulturgeschichtlichen Entstehungskontext in die vergleichende Betrachtung mit einzubeziehen, ohne sich deshalb allein auf solche Werke beschränken zu müssen, die sich explizit mit Prag beschäftigen. So ist der größere Rahmen der eben nicht nur Prager, sondern mindestens mitteleuropäischen Moderne hinzuziehen und dabei dennoch der Blick offen zu halten für möglicherweise spezifische Positionen und Positionierungen Prager Autoren und Autorinnen zu den ambivalenten Phänomenen der Moderne. Damit sind dann sowohl die technischen und zivilisatorischen Modernisierungsprozesse der Zeit gemeint als auch die vielfach krisenhaft wahrgenommenen Themenbereiche Identität, 1 Unter diesem Titel steht ein in Tübingen angesiedeltes Forschungsprojekt (). Die Grundfrage (die das in Klammern gesetzte ,n‘ anzeigen soll) lautet: Können wir – und zwar womöglich gar sprachenübergreifend – von einer spezifischen Version der Moderne in Prag sprechen oder – abgeschwächter – finden wir die vielfältigsten Positionen der Moderne in Prag lediglich in einer jeweils mehr oder minder spezifischen Form vor, wobei die Trennlinien keineswegs entlang der jeweiligen sprachnationalen Zugehörigkeit verlaufen müssen? Zu hinterfragen ist die doch lange recht verbreitete Annahme, man könne eine – häufig mit dem Stichwort Expressionismus in Verbindung gebrachte – Modernekritik auf Seiten der deutschsprachigen Literatur einer – dann gern mit der Avantgarde assoziierten – Moderneaffirmation auf Seiten der tschechischen entgegensetzen. Genauer zum methodologischen Rahmen einer solchen komparatistischen Betrachtung der deutsch- und tschechischsprachigen Literatur der Prager Moderne(n) s. Wutsdorff (2018a).

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Sprache und Erkenntnis. Prager literarische Texte der Zeit äußern sich – so die Annahme – auf explizite oder implizite Weise in ihrer Bezugnahme auf diese Themenfelder zur ,Moderne‘, positionieren sich nicht nur zu ihr, sondern reflektieren damit auch die eigene kulturelle (Prager) Verortung. Während sich im publizistischen Diskurs durchaus eindeutige Positionierungen finden mögen – seien es Bekenntnisse als kosmopolitisch orientierter, als Wien-, Berlinoder Paris-affiner, weiter als deutscher, tschechischer oder jüdischer Prager, lassen sich derart einsinnige Positionsbestimmungen literarischen Texten kaum ablesen. Um wieviel mehr gilt dies für Kafka, von dem sich wohl nicht sagen lässt, welche Art von Prager, oder auch nur, welche Art er mehr und welche er weniger war, geschweige denn, dass seine hoch komplexen Texte sich auf eine einzige von den vielfältigen potentiellen Sinnpositionen, die sie aufscheinen lassen, festschreiben ließe. Dennoch ließe sich auch in Bezug auf Kafka fragen, ob die bei ihm in besonderem Maße akzentuierten Ambivalenzen und Verwerfungen der Moderne, die gesteigerte Sensibilität für den prekären Status von Identität, die Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit von Sprache in einem Zusammenhang stehen mit der tagtäglich und häufig als spannungsreich erlebten multiethnischen Situation in Prag.2 Nun findet Prag als Stadt wie auch ihre tschechisch(sprachig)e Prägung in Kafkas Werk allerdings kaum explizite Erwähnung. Zwar lässt sich Der Prozess in Prag lokalisieren, Orte wie die Karlsbrücke, der Veitsdom oder der Stadtteil Smíchov werden aber nicht bei ihren Namen genannt; „der Dom“ etwa, in dem die zentrale Türhüterparabel dargelegt wird, ist nur mit textexternem Wissen als der Veitsdom auszumachen.3 Verweise auf die Stadt wie auch auf 2 Dass bezüglich der Beantwortbarkeit dieser Frage durchaus Skepsis geboten ist, hat Scott Spector treffend formuliert: „Einige [Forscher] sind so weit gegangen, die Innovationen der Moderne in ihren vielfältigen kulturellen Ausprägungen mit dem mitteleuropäischen Milieu von Freud, Wittgenstein und Kafka zu verbinden, indem sie argumentieren, dass das erhöhte Bewusstsein für Sprache und ihr besonderer Status im Habsburger Reich seinen Bürgern privilegierten Zugang zu solch einer Denaturalisation von Auffassungen über Sprache gewährte. Im Böhmen und im Prag der Jahrhundertwende waren sowohl die Macht der Sprache als auch ihre Kontingenz in einer expliziteren und direkteren Weise ersichtlich als anderswo, obwohl die relative Wichtigkeit dieses Faktums unmöglich ermittelt werden kann.“ (Spector 2008: 184) 3 Deutlichere Bezüge kann man in Das Stadtwappen erkennen, dem eine Beschreibung des Prager Wappens zugrunde liegt; s. dazu Weinberg (2012). Odradek, der den Anlass der Sorge des Hausvaters bildet, verweist zumindest mit seinem – sprachlich allerdings nicht identifizierbaren – Namen auf die tschechischsprachige Umgebung; s. Nekula (2006a: 141), der aufgrund der an den Davidstern erinnernden Sternförmigkeit der Zwirnspule den Ver-

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das, was man in heutiger Terminologie deren Interkulturalität nennt, wären demnach in Kafkas Werk nur implizit zu suchen. Wenn denn – so lassen sich meine Eingangsüberlegungen fortführen – die interkulturelle Situation Prags, die die Möglichkeitshorizonte wie auch die Verluste der Moderne mit einer ganz eigenen Prägnanz hervortreten ließ, einen Niederschlag in Kafkas Texten findet, dann einen indirekten, und zwar in jenem Gestus sprach- und erkenntniskritischer Reflexivität, der sein Werk durchzieht und aus dem heraus es hervorgetrieben wird. In diesem Sinne – als eine die kritische Reflexion der Sprache ins Produktive wendende Bewegung – hat Günter Heintz (1983) Kafkas Art der Sprachreflexion als dichterische Einbildungskraft (so der Untertitel seiner Studie) behandelt. Er plädierte einerseits dafür, „vorrangig im sprachlichen Verfahren selbst das eigentlich Bedeutsame seines [Kafkas] Dichtens zu sehen“ (Heintz 1983: 83), sich auf Kafkas performativ umgesetztes Sprachdenken zu konzentrieren, in dem „sich die Arbeit der Sprache [versichtbart]“ (Heintz 1983: 84). Über diese streng poetologisch orientierte Analyse hinaus ist Heintz‘ Studie aber auch für eine kulturwissenschaftlich geweitete Literaturwissenschaft von Interesse, insofern sie bereits eine „Revision der Daten“ enthält, „die daran mitgewirkt haben können, Kafkas sprachkritisches Bewußtsein zu formieren“ (Heintz 1983: 81). So geht Heintz eben auf die mehrsprachige Prager Situation ein, auf jene von Kafka selbst als exterritorial bezeichnete Lebenssituation (Heintz 1983: 15-20). „Bemerkenswert“ erscheint sie ihm, insofern sie „die grundlegende Voraussetzung für die Einsicht in den autonomen Status der Sprache“ (Heintz 1983: 17) bildete.4 Auch auf die hier aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis zwischen der bei Kafka anzutreffenden kritischen Sprachreflexion und der „besondere[n] Prager und böhmische[n] Ausgangssituation“ (Heintz 1983: 23) gibt Heintz bereits eine präzise Antwort:

weis auf den jüdischen Kontext stark macht; außerdem Kilcher (2010), der die Bezüge zu Leitdiskursen der Zeit herausarbeitet; zum sprachkritischen Aspekt der Prosaminiatur s. Wutsdorff (2018a). 4 „Kafkas Exterritorialität, um diesen von ihm selbst verwendeten (B322, Anfang Mai 1921) Terminus zu gebrauchen, ist exemplarisch. Zwischen den Sprachen, zwischen den Kulturen, als deutscher Jude zwischen den Weltanschauungen lebend, war er dazu berufen, die Wirkungen des Sprachrealismus [...] zu durchbrechen, denen der muttersprachlich Befangene ausgesetzt bleibt, und die prinzipielle Frag-Würdigkeit von Sprache zu erkennen. Es war der positive Aspekt der Ausstoßung und des durch sie verursachten Bruchs der Spontaneität, daß er den archimedischen Punkt außerhalb eines Sprachsystems erlangen und Sprache kritisch reflektieren konnte. Zugleich mit dieser Chance wurde ihm bewußt, sie sei mit dem Ausgestoßensein erkauft.“ (Heintz 1983: 17)

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Pragensia hatten ihren spezifischen Stellenwert [...]; sie hatten aber zugleich die Funktion eines Katalysators, insofern sie eine Einstellung förderten, die für die Jahre um 1900 überhaupt kennzeichnend war. Kafkas Nachdenken über die Sprache ist Teil der europäischen Sprachkritik seiner Zeit. (Heintz 1983: 23)

Wie sich Kafkas Sprachdenken, bevor man mit dem Verweis auf die Sprachkritik auf der Ebene eines allgemeinen europäischen Phänomens der Zeit ankommt, doch auch konkreter auf den Prager Kontext der Zeit beziehen lässt, hat zuletzt (mit einem gleichermaßen von der Kultursemiotik wie vom New Historicism inspirierten Zugang) Marek Nekula (2016) noch einmal gezeigt: Möglich ist dies nämlich dann, wenn man sich die symbolische Aufladung bestimmter Orte im Prager Stadtbild innerhalb der konkurrierenden nationalkulturellen Diskurse vergegenwärtigt, für die Kafka ganz offenbar eine recht weit gehende Sensibilität gezeigt hat. Das so oft, um nicht zu sagen, zu oft zitierte Wort von Prag als Mütterchen, das Krallen hat, zeugt, wenn man die Fortsetzung hinzunimmt, genau von dieser Sensibilität: Prag läßt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder –. An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen. Vielleicht überlegst Du es Dir bis zum Karneval. (KKABr 1: 17)5

Marek Nekula (2016: 208-211) nun ruft in Erinnerung, in welchem Maße der Vyšehrad von der tschechischen Nationalbewegung in den damals noch nicht lange zurückliegenden Jahren zur nationalen Kultstätte, zum nationalen Ehrenhain und -symbol aufgebaut worden war, wohingegen der Hradschin, also die Burg, zumindest für die Tschechen eher mit der verhassten und mit dem Deutschen assoziierten Habsburger-Herrschaft verbunden war. Kultursemiotisch betrachtet liegen beide Erhebungen einander also nicht nur geographisch, sondern auch axiologisch gegenüber, bilden ein antagonistisches Paar, zwischen das der hier Sprechende eingespannt bleibt, von dem es kein Loskommen gibt, es sei denn in einer karnevalistischen Umkehrungs- und Befreiungsgeste. Insofern ließe sich doch ein Bezug zwischen der Schreibweise und dem Entstehungsort von Kafkas Texten herstellen: Auf der einen Seite findet sich eine nicht nur bei Kafka anzutreffende Sensibilität für die Abgründe wie die Potentiale der Sprache, die sich in einer erhöhten Aufmerksamkeit für und Aufmerksamkeitslenkung auf die Sprache, in einem besonders markanten Ausstellen ‚sprachlichen Verfahrens‘ äußert (worauf Heintz fokussiert hatte). Andererseits zeigt sich eine quasi kultursemiotische und insofern auch auf Zeichen (wenn auch nicht nur sprachlicher Art) gerichtete Sensibilität, 5 Brief an Oskar Pollak [Prag, Stempel: 20. XII. 1902].

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die Kafka offenbar den Prozessen möglichst eindeutiger Bedeutungszuschreibung in den nationalkulturellen Debatten entgegenbrachte. Die Vorstellung von Eindeutigkeit wie auch das Vertrauen in einen tragfähigen Nexus von Sprache und Identität brachte er mit und in seinem Schreiben ins Wanken. Somit komme ich nun endlich zu jener im Titel meines Beitrags genannten Beschreibung eines Kampfes (KKAN I: 54-120), auch, aber eben – wie ich mit diesem längeren Vorlauf erläutern wollte – nicht nur, weil dieser frühe, zu Lebzeiten nicht bzw. nur in Auszügen publizierte Text Kafkas einziger ist, in dem Prager Lokalitäten direkt bezeichnet sind. Zwei strukturelle Besonderheiten des Textes fallen zunächst ins Auge: der mehrfach verschachtelte Aufbau und die Prägung durch Paarkonstellationen. Paarig angeordnete Figuren stehen einander als Antagonisten und/oder Doppelgänger gegenüber, gehen im Sinne von Phantasiegebilden auseinander hervor, lösen sich voneinander ab,6 spiegeln sich ineinander, teils auch vermittelt über Querbezüge zu den anderen Paaren. Es sind dies auf der äußersten Ebene, der die mit „I“ und „III“ überschriebenen Teile entsprechen, der Ich-Erzähler und ein nie mit Namen genannter Bekannter; dem Eingangsteil zufolge handelt es sich eigentlich um einen zufälligen Bekannten, der das Ich auf einer Abendgesellschaft angesprochen und zum gemeinsamen Weggehen von dort bewogen hat. Der Spaziergang Richtung Laurenziberg wird auch zu Beginn des „II“., mehrfach untergliederten Teils noch fortgesetzt, nun aber bereits grotesk oder einer Traumwelt entsprechend verzerrt: In „1. Ritt“ reitet das Ich auf den Schultern des Bekannten auf einer offenbar imaginierten Landstraße entlang, denn es kann deren Qualität beeinflussen: „Die Landstraße, auf der ich ritt, war steinig und stieg bedeutend, aber gerade das gefiel mir und ich ließ sie noch steiniger und steiler werden.“ (KKAN I: 73) Nachdem der Bekannte gefallen ist und ihm „nicht mehr nützlich sein konnte“ (KKAN I: 74), lässt der Ich-Erzähler ihn „auf den Steinen“ und setzt seinen „2. Spaziergang“ „unbekümmert“ fort (KKAN I: 74). In einer wiederum mindestens 6 Schillemeit betont, dass die Geschichte vom Spaziergang, der am Ende von I. die Karlsbrücke erreicht, nicht etwa abgebrochen wird, sondern „vielmehr weiter[geht], aber gleichsam hinter der Szene oder, unbildlich gesprochen, jenseits des Horizonts der Erzählung, weil jenseits des Horizonts der Hauptfigur, die sich nämlich, im Augenblick des Übergangs vom ersten zum zweiten Kapitel, sozusagen in zwei Teile spaltet: einen äußeren, der weiter mit dem ,Bekannten‘ auf den Laurenziberg geht, und einen inneren, der sich in seine Innenwelt zurückzieht und hier seinen eigenen Vergnügungen, seinen Gedanken und Phantasien, nachgeht und sich auf diese Weise ,belustigt‘, nachdem er schon einige Zeit vorher angefangen hat, Überdruß an seinem neuen ,Bekannten‘ zu empfinden.“ (Schillemeit 1984: 110)

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teilweise seiner eigenen Einbildungs- oder Schaffenskraft entstammenden Flusslandschaft begegnet er einem „Dicken“, der für den dritten Teil titelgebend ist, der wiederum in vier weitere, mit Kleinbuchstaben gegliederte Abschnitte unterteilt ist. (Dass diese weitere Unterteilung im dritten Teil erfolgt, entspricht der Dreigliedrigkeit der höchsten Gliederungsebene; dass es vier Teile sind, entspricht der Viergliedrigkeit des zweiten und längsten Teils.) Als Gegenpart und/oder Alter Ego des Dicken tritt in dessen Rede schließlich ein Beter in Erscheinung, dem selbst auch wieder Redeanteile zugeordnet sind. Zu dem Paar Ich-Bekannter des Rahmenteils kommen also die Paare IchDicker sowie Dicker-Beter, letzterer quasi im ,innersten‘ Teil der zunehmend verschachtelten Erzählung. Verbunden sind diese Figuren zum einen durch die von allen, wenn auch auf unterschiedliche Weise reflektierte und auch ausagierte Thematik der Beziehungsfähig- bzw. -unfähigkeit. Die deutlichste Ausgestaltung findet diese in der Ausgangs- und Endkonstellation zwischen Ich und Bekanntem: Anlass ihrer Kommunikation ist die Verliebtheit des Bekannten, auf die der IchErzähler am Ende mit der vermutlich unwahren Behauptung, er sei verlobt, respondiert. Gespiegelt und/oder wiederholt wird die Ausgangssituation des (unbekannten) Bekannten, der sich auf einer Abendgesellschaft verliebt, im Innersten der verschachtelten Erzählung, wo der Beter von einer Konversation auf einer Abendgesellschaft berichtet, und zwar mit einem „lieben Fräulein“ (so spricht er sie zu ihrem Missfallen beständig an), von dem er sich offenbar gerade wegen ihrer eher abweisenden Haltung verstanden fühlt. Die Konstellation eines beim anderen lediglich vermuteten, eigentlich aber unerwarteten und letztlich paradoxen Verständnisses im Unverständnis oder auch der Annahme, der andere halte einen selbst für vertrauenswürdig, ist für die übrigen Paarbeziehungen ebenso typisch.7 Sie schwanken zwischen „emphatischer Verschmelzung mit dem Gegenüber“ und „radikaler Abgrenzung von ihm“ (Neymeyr 2010: 93)8. Als Beispiel mag diese Replik dienen: 7 So lautet eine mehrfach spiegelnde Überlegung des Ich-Erzählers über seinen neuen Bekannten zu Beginn: „Zuerst freute es mich, denn es schien zu zeigen, daß er etwas in mir vermuthete, was zwar nicht in mir war, aber mich bei ihm in Beachtung brachte dadurch, daß er es vermuthete. Ein solches Verhältnis macht mich glücklich. Ich war zufrieden, nicht nachhause gegangen zu sein und mein Bekannter wurde für mich sehr wertvoll als einer, der mir vor den Menschen Wert gibt, ohne daß ich ihn erst erwerben muß!“ (KKAN I: 61) 8  „Darin liegt die Aporie der Krisensituation begründet, die Kafka in seiner Beschreibung eines Kampfes als Antagonismus entfaltet. Ambivalenzen sind nicht nur an den zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsempfindungen oszillierenden Selbstbildern der Figuren zu erkennen, sondern auch an ihrer variablen Einstellung zum jeweiligen Alter Ego und an der Auflösung einer stabilen Grenze zwischen Ich und Welt.“ (Neymeyr 2010: 93)

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‚Sie imponieren mir gar nicht‘, sagte sie, ‚alles was Sie sagen ist langweilig und unverständlich, aber deshalb noch nicht wahr. Ich glaube nämlich, mein Herr – warum nennen sie mich immer liebes Fräulein – ich glaube, sie geben sich nur deshalb nicht mit der Wahrheit ab, weil sie zu anstrengend ist.‘ Gott, da kam ich in gute Lust! ‚Ja, Fräulein, Fräulein‘, so rief ich fast, ‚wie recht haben Sie! Liebes Fräulein, verstehn sie das, es ist eine aufgerissene Freude, wenn man so begriffen wird, ohne es darauf abgezielt zu haben.‘ (KKAN I: 96-97)

Exemplarisch ist die Stelle nicht nur wegen der paradoxen Thematisierung der Möglichkeit von Verständnis und Verständigung, sondern auch wegen eines weiteren strukturellen Moments, das die verschiedenen Figurenpaare bzw. die Figuren untereinander verbindet: Sowohl der Ich-Erzähler, der anfangs auf Glatteis ausrutscht, als auch der Bekannte, der bei dem Ritt fällt, sind am Knie9 verletzt – auch das also eine körperliche Markierung ihrer Doppelgängerei. Diese Beeinträchtigung findet sich bei dem hier mit dem Fräulein konversierenden Beter noch grotesk überspitzt wieder10 und wird vor allem als Verfahren sprachlicher und semantischer Gestaltung bloßgelegt: 9 Das Lexem ,Knie‘ (im Folgenden jeweils kursiv hervorgehoben, I.W.) tritt in dem Text mit relativ hoher Frequenz auf: Als der Ich-Erzähler gemeinsam mit dem neuen Bekannten die Abendgesellschaft verlassen hat und mit ihm durch die Stadt geht, versucht er sich ihm auf groteske Weise in Gestalt und Gang anzupassen, denn „es wurde mir schmerzlich, daß ihm vielleicht meine lange Gestalt unangenehm sein könnte, neben der er vielleicht zu klein erschien. Und dieser Umstand quälte mich [...] doch so sehr, daß ich meinen Rücken so gebeugt machte, daß meine Hände im Gehen meine ‚Knie‘ berührten.“ (KKAN I: 64) Nachdem der Ich-Erzähler auf dem Glatteis ausgerutscht ist, „verspürte [er] einen Schmerz im ‚Knie‘.“ (KKAN I: 67) Der Bekannte, der dies zunächst gar nicht bemerkt hatte, sorgt sich schließlich um ihn und fragt: „,[...] – der Kopf schmerzt Sie? Nein? Ach das ‚Knie‘, so.‘ Er sprach in einem singenden Ton, als ob er eine Geschichte erzähle und eine sehr angenehme Geschichte überdies von einem sehr entfernten Schmerz in einem ‚Knie‘.“ (KKAN I: 68) Der „Schmerz im ‚Knie‘“ (KKAN I: 71) vergeht dem Ich-Erzähler allerdings nicht so schnell, auch nicht, als er „wieder auf dem Pflaster“ (KKAN I: 70-71) steht. Als dann schließlich der Bekannte fällt, untersucht der Ich-Erzähler ihn und „fand [...], daß er am ‚Knie‘ schwer verwundet war“ (KKAN I: 74). Als der Ich-Erzähler den Dicken vom Ufer aus auf einer Sänfte im Wasser beobachtet, reicht dieses ihm „bis an die ‚Knie‘“ (KKAN I: 82). Als der Dicke „flußabwärts getragen [wurde], wie ein Götterbild aus hellem Holz, das überflüssig geworden war und das man daher in den Fluß geworfen hatte“, „[gab] es bedeutenden Aufruhr [...], den man noch am Anschlagen des Wassers an meinen ‚Knien‘ und an den Ufersteinen merken konnte.“ (KKAN I: 83) Der Beter, der zunächst vor allem durch seine exaltierten Bewegungen beim Beten auffällt, die offenbar auf die Erregung von Aufmerksamkeit zielen, weshalb der Dicke ihn zur Rede stellt, „duckt[] [...] sich auf seine ‚Knie‘ nieder“ (KKAN I: 91). 10 Markus Rassiller (2008: 188) macht darauf aufmerksam, dass die „Desintegration des Körpers“ des Beters schließlich so weit geht, dass er dem Mädchen als „aus Seidenpapier herausgeschnitten“ erscheint: „,Sie sind Ihrer ganzen Länge nach aus Seidenpapier heraus-

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[...] – gerade verbeugte ich mich mit diesen Worten [vor dem Fräulein] als ich mit Unwillen bemerkte, daß sich mir der rechte Oberschenkel aus dem Gelenk gekugelt hatte. Auch die Kniescheibe hatte sich ein wenig gelockert. (KKAN I: 95) [...] Dabei machte mir mein rechtes Bein viel Ärger. Denn anfangs schien es ganz auseinandergefallen zu sein und erst allmählich brachte ich es durch Quetschen und sinngemäßes Verschieben halbwegs in Ordnung. (KKAN I: 96)

Der Kampf mit der herausgesprungenen Kniescheibe also gleichermaßen als realisierte Figur wie als Figuration der Textur, die Sophie von Glinski als „Entfaltung von imaginativen Prozessen in der Sprachbewegung“ (2004: 55) identifiziert. Ich bin der ineinander verschachtelten und miteinander ver- und überschränkten Textstruktur bis zu diesem Punkt extremer Verdichtung der auf den ersten Blick so disparaten Textstränge auch deshalb gefolgt, weil sich in diesem innersten Kern der Erzählung ein Bild vom Altstädter Ring befindet. Der Beter, der, wie ich zumindest andeuten wollte, eben nicht ,nur‘ der Beter ist, sondern Wiedergänger wie Widerpart auch aller anderen Figuren samt der mit ihnen aufgerufenen Problembereiche, spricht dem Dicken gegenüber von der „Schwierigkeit“, die das „Unternehmen“, „einen großen Platz zu durchqueren“ für ihn darstellt, und von seinen diesbezüglichen Gedanken: ich denke oft bei mir: ‚Wenn man so große Plätze nur aus Übermuth baut, warum baut man nicht auch ein Steingeländer, das durch den Platz führen könnte. Heute bläst ein Südwestwind. Die Luft auf dem Platz ist aufgeregt. Die Spitze des Rathhausthurmes beschreibt kleine Kreise. Warum macht man nicht Ruhe in dem Gedränge? Was ist das doch für ein Lärm! Alle Fensterscheiben lärmen und die Laternenpfähle biegen sich wie Bambus. Der Mantel der heiligen Maria auf der Säule rundet sich und die stürmische Luft reißt an ihm. Sieht es denn niemand? Die Herren und Damen, die auf den Steinen gehen sollten, schweben. Wenn der Wind Athem holt, bleiben sie stehn, sagen einige Worte zu einander und verneigen sich grüßend, stößt aber der Wind wieder, können sie ihm nicht widerstehn und alle heben gleichzeitig ihre Füße. Zwar müssen sie fest ihre Hüte halten, aber ihre Augen schauen lustig, als wäre milde Witterung. Nur ich fürchte mich.‘ (KKAN I: 93-94)

Was hier noch als Gedanken eingeführt wird, die angesichts eines großen Platzes auftreten, der allerdings durch die Nennung des Rathauses und der Mariensäule doch sehr deutlich der Altstädter Ring ist, wird vom Beter in seiner dann folgenden „Geschichte“ („c“) in einer konkreten Situation wieder aufgegriffen, nämlich nach dem ihm nahegelegten Verlassen jener Abendgesellschaft, auf der er sich mit dem „lieben Fräulein“ unterhalten hatte: geschnitten, aus gelbem Seidenpapier, so silhuettenartig? und wenn Sie gehn, so muß man Sie knittern hören.‘“ (KKAN I: 97)

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Aber als ich aus dem Hausthor mit kleinem Schritte trat, wurde ich von dem Himmel mit Mond und Sternen und großer Wölbung und von dem Ringplatz mit Rathhaus, Mariensäule und Kirche überfallen. Ich [...] fieng zu überlegen an: ‚Was ist es doch, daß Ihr thut, als wenn Ihr wirklich wäret. Wollt Ihr mich glauben machen, daß ich unwirklich bin, komisch auf dem grünen Pflaster stehend. Aber doch ist es schon lange her, daß Du wirklich warst, Du Himmel und Du Ringplatz bist niemals wirklich gewesen.‘ [...] ‚Gott sei Dank, Mond, Du bist nicht mehr Mond, aber vielleicht ist es nachlässig von mir daß ich Dich Mondbenannten noch immer Mond nenne. Warum bist Du nicht mehr so übermüthig, wenn ich Dich nenne ,vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe‘. Und warum ziehst Du Dich fast zurück, wenn ich Dich ,Mariensäule‘ nenne und ich erkenne Deine drohende Haltung nicht mehr Mariensäule, wenn ich Dich nenne ,Mond, der gelbes Licht wirft‘.‘ (KKAN I: 101-102)

Hier nun finden sich mehrere zentrale Problemfelder in krisenhaftem Empfinden und Reflektieren aufs Engste miteinander verknüpft: Gleichermaßen infrage gestellt wird die Erlangung von Identität, die Sprache in ihrer Benennungsfunktion wie die Möglichkeit von Wahrnehmung oder gar Erkenntnis der Realität. Und es mag nicht unerheblich sein, dass es gerade die Mariensäule ist, von der diese Überlegungen ihren Ausgangspunkt nehmen und deren Benennung – der Kniescheibe gleich – probeweise verschoben wird. Denn in „drohender Haltung“ erscheint die 16 Meter hohe Sandsteinskulptur auf Sockel und Postament mit umgebender Balustrade damals nicht nur als in alle drei Dimensionen ausgreifende Dominante des Platzes, sie ist auch symbolisch für die national bewegten Tschechen Stein des Anstoßes. Errichtet worden war sie im Jahre 1650 auf Erlass Ferdinands III. zum Dank für die Rettung Prags vor den Schweden, die noch kurz vor dem westfälischen Frieden 1648 bis auf die Kleinseite vorgedrungen waren. Obwohl die Säule vom Kaiser eher als Zeichen der Verbundenheit mit Böhmen und nicht als Siegesmal gedacht war und auch durch den Versuch gekennzeichnet war, an vorhussitische Traditionen der Marienverehrung in Verbindung mit dem heiligen Wenzel als Landespatron anzuschließen,11 wurde sie insbesondere im 19. Jahrhundert zum verhassten Symbol der Gegenreformation. Dies natürlich auch, weil sie sich in unmittelbarer Nähe der Stätte befand, an der nach Niederlage der böhmischen 11 Am Sockel der Säule wurde „eine Kopie des sogenannten Altbunzlauer Palladiums angebracht. Dieses Marienbild, das Böhmen schützen sollte, galt als ehemaliges Eigentum des heiligen Wenzel. Somit wurde die barocke Marienfrömmigkeit aufs Engste mit der Verehrung des mittelalterlichen Patrons verknüpft.“ (Tricoire 2016: 68, s. auch die dortigen weiteren Ausführungen zu Kontext und ursprünglich durchaus landespatriotischer Intention der Errichtung.)

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Stände in der Schlacht am Weißen Berg 1620 27 Adlige hingerichtet worden waren – Ereignisse, die das kollektive Bewusstsein traumatisch prägten. Die Szene vom Altstädter Ring korrespondiert mit einer anderen gegen Ende des „I“. Rahmenteils, wo der Ich-Erzähler, geschwächt durch seinen Sturz und womöglich auch angetrunken von der Abendgesellschaft, mit dem Bekannten am Kreuzherrenplatz beim Aufgang zur Karlsbrücke angelangt ist und die dort postierte Statue Karls IV. als schwankend wahrnimmt, woran – wiederum – dem Mond ein nicht unerheblicher Anteil zugeschrieben wird. Das Prinzip der Verschiebung wird hier auf die schwankende Bewegung angewandt, die zunächst von dem taumelnden Bewusstsein des Wahrnehmenden auszugehen scheint, dann dem personifizierten Mond als diffuser Lichtquelle und schließlich dem wahrgenommenen Ding, der Statue selbst, zugeschrieben wird: Ich schwankte und mußte das Standbild Karl des Vierten fest ansehn um meines Standpunktes sicher zu sein. Aber das Mondlicht war ungeschickt und brachte auch Karl den Vierten in Bewegung. Ich staunte darüber und meine Füße wurden viel kräftiger aus Angst, Karl der Vierte möchte umstürzen, wenn ich nicht in beruhigender Haltung wäre. Später schien mir meine Anstrengung nutzlos, denn Karl der Vierte fiel doch herunter, gerade als es mir einfiel, daß ich geliebt würde von einem Mädchen in einem schönen weißen Kleid. (KKAN I: 69)

„Gegeneinander verschoben und in einer neuen, selbst verrückten Logik miteinander in Beziehung gesetzt“ werden hier „die Positionen von Wirklichkeit und Ich“ (Glinski 2004: 36). Nicht unerheblich mag es erneut sein, dass es sich wiederum um eine im Nationalitätenkampf mit widerstreitenden Bedeutungen aufgeladene Statue handelt, die hier ins Schwanken gerät und die damit möglicherweise auch den allzu eindeutigen Zuschreibungen entzogen wird, die sie von den verschiedenen Seiten erhielt.12 Errichtet werden sollte sie eigentlich bereits 1848 anlässlich des 500. Gründungsjubiläums der Karlsuniversität, was aber aufgrund von Kämpfen nicht möglich war, die zu der Zeit an der Stelle im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen 12 Eine ähnliche Lesart schlägt Marek Nekula für Kafkas Erzählung Das Urteil mit Blick auf das dortige Motiv der Brücke vor. Die nicht näher bezeichnete Brücke identifiziert er als Čechův most, an deren Einmündung am 1.7.1912, also im Entstehungsjahr der Erzählung, ein Denkmal für František Palacký errichtet worden war. „Kafkova povídka [...] by se tak dala číst nejen jako polemika s otcem [...], ale také – právě s ohledem na motiv mostu – jako skrytá polemika s národními sebeprojekcemi Němců a zvláště Čechů.“ (Nekula 2006b: 332) [„Kafkas Erzählung [...] ließe sich insofern nicht nur als Polemik mit dem Vater lesen [...], sondern auch – gerade im Hinblick auf das Motiv der Brücke – als eine verborgene Polemik mit nationalen Selbstprojektionen der Deutschen und vor allem der Tschechen.“]

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stattfanden. Vor allem wurde auch diese Statue trotz der landespatriotischen Intention, die hinter ihrer Errichtung stand, von der tschechischen Seite vor allem als ein von ,deutschen‘ Professoren initiiertes und finanziertes Denkmal angesehen.13 Kafka war offenbar sensibel auch dafür, wie prekär das vor allem von der ,deutschen‘ Seite ausgehende Angebot des Landespatriotismus war, das in diesem Fall im 19. Jahrhundert mit dem symbolischen Anschluss an die große Zeit Karls IV. versuchte, die historisch dazwischen liegenden und inzwischen national aufgeladenen Gräben von Reformation und Gegenreformation zu schließen. Die Mariensäule, von der der Beter in Kafkas Text sich bereits überfallen sieht, wurde fünf Tage nach Gründung der Tschechoslowakischen Republik, am 3. November 1918, in einer mehr oder minder spontanen Aktion tatsächlich zu Fall gebracht.14 Zu der Zeit stand bereits seit drei Jahren 13 Siehe dazu Nekula (2016: 213, Fn. 39) sowie Nekula (2004). Wie Nekula (2006b: 330) darlegt, war es für die tschechische Seite gerade nicht anschlussfähig, dass Karl IV. mit dem Denkmal als Kaiser des Reiches und eben nicht als Herrscher der böhmischen Länder dargestellt war. 14 Richard Weiner weist in seiner Feuilletonserie anlässlich der Republikgründung, die unter dem Titel Třásničky dějinných dnů (Fransen historischer Tage) in den Lidové noviny erschien, mit feiner Ironie auf die Diskrepanz zwischen der Intention bei Errichtung der Säule und der im Laufe des 19. Jahrhunderts gefestigten Wahrnehmung der Säule unter nationalen Vorzeichen hin (Weiner 2002: 50). Zu Weiners Umgangsweise in seinen Feuilletons mit dem symbolisch in nationaler Weise aufgeladenen Prager Raum s. Janka (2018), speziell zu dem Feuilleton zum Sturz der Marien-Säule Janka (2018: 183f.); zu Weiners mit Frankreich assoziiertem Republikanismus, der sich anlässlich dieser Causa in der Bemerkung manifestiert „Svobodná Francie nebojí se pomníků absolutismu.“ (Weiner 2002: 50) [„Das freie Frankreich fürchtet die Denkmäler des Absolutismus nicht.“] (Übers. Kathrin Janka 2018: 184), s. Wutsdorff (2018b). Weder für Kafka noch für Weiner sind Denkmäler wie die Mariensäule, die kulturhistorisch mehrfach kodiert sind, selbstverständlich oder gar eindeutig. Kafka lässt die Mariensäule in seiner Erzählung in ein gefährliches Wanken geraten; Weiner äußert angesichts der gestürzten Mariensäule Bedauern über die damit zu Bruch gegangenen historischen Bedeutungsmöglichkeiten, deren Trägerin sie einst war: „Rád bych nyní věděl, kdo vynašel heslo, že mariánský sloup na Staroměstském náměstí je památníkem bitvy bělohorské. Teď, kdy se rozbil na sedm kusů, kdežto Madona, korunující jeho vrchol, je na střepů nespočetně, dovídáme se, že oslavoval nikoliv bělohorskou bitvu, nýbrž uhájení Prahy před Švédy. – Děkuji za poučení. Ale přichází pozdě. [...] Dnes snad není už životu nebezpečno říci, že je sloupu věčná škoda. Bylo to krásné umělecké dílo. – Kéž by to bylo lze říci o památníku Husovu! – [...] Nenahlížím však, proč by mariánský sloup nebyl mohl zůstati tam, kde byl. [...]“ (Weiner 2002: 50) [„Nun wüsste ich gern, wer die Losung ausgegeben hat, dass die Mariensäule auf dem Altstädter Ring ein Denkmal für die Schlacht am Weißen Berg sei. Jetzt, wo sie in sieben Stücke zerschlagen wurde, wogegen die Madonna, die einst ihre Spitze krönte, in unzähligen Scherben liegt, erfahren wir, dass sie keinesfalls die Schlacht am Weißen Berge, sondern die Verteidigung Prags gegen die Schweden fei-

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das auch heute noch den Platz dominierende Hus-Denkmal, an dessen Statue der Bildhauer Ladislav Šaloun 1903 die Arbeit begonnen hatte. Kafkas Beschreibung eines Kampfes, dessen Entstehung in der Fassung A auf die Jahre 1904-07 datiert wird, ist sicher alles andere bzw. vor allem wesentlich mehr als die Abbildung dieser Nationalitätenkämpfe. Fern jeglicher fest gefügter Ordnungen und Grenzziehungen zeigt der Text eine Welt, die – dem Bein des Beters gleich – „ganz auseinandergefallen zu sein [scheint]“ und zu der dieser Beter bemerkt: „Wenn das einen Zusammenhang hat, so verstehe ich ihn nicht. Aber ich weiß nicht einmal, ob das einen Zusammenhang hat.“ (KKAN I: 97) Und zugleich führt dieser Text „i[n seine]m sprachlichen Verfahren“ (Heintz 1983: 83) selbst eine nurmehr in paradoxen Bewegungen von Wiederspiegelung und Widerspruch zu habende Möglichkeit vor, „es [das Bein] durch Quetschen und sinngemäßes Verschieben halbwegs in Ordnung“ (KKAN I: 96) zu bringen – eine immer nur vorläufige Halbwegs-Ordnung also, die beständig weitere Verschiebungen provoziert und insofern auch in beständiger Bewegung gehalten bleibt. Vielleicht können wir ,es‘ auch lesen als ein Angebot, nicht nur mit sprachlichen, sondern auch mit kulturellen Zeichen auf die hier im Medium der Sprache demonstrierte Weise zu verfahren und in einem Verschiebe-Spiel mit den allzu festgefügten Bedeutungen einen kreativen Freiheitsraum zu eröffnen. Dass Verschiebungen – sei es der Kniescheibe, sei es von Bedeutungen – in diesem frühen Text Kafkas ein prinzipieller Stellenwert zukommt, ist in der Sekundärliteratur sowohl aus phänomenologischen, als auch aus dekonstruktivistischen Ansatzpunkten heraus bereits gesehen worden. So hat Hans Rainer Sepp (2003) seine „phänomenologische Deutung“15 von Beschreibung erte. – Danke für die Belehrung. Aber sie kommt zu spät. [...] Heute ist es vielleicht nicht mehr lebensgefährlich zu sagen, dass es um die Säule ewig schade ist. Es war ein schönes Kunstwerk. – Könnte man doch dasselbe von dem Hus-Denkmal sagen! – [...] Ich sehe jedoch nicht, warum die Mariensäule nicht hätte dort bleiben können, wo sie war. [...]“] (Übers. Kathrin Janka 2018: 184) 15 So der Untertitel des von ihm selbst herausgegebenen Bandes. Am Schluss seines Beitrags bemerkt er programmatisch: „Diese Deutung sollte exemplarisch gezeigt haben, daß Kafkas Werk nicht nur durch eine Phänomenologie zu erschließen ist, die die Dimensionalität der Existenz zu ihrem Thema hat. Es liefert auch selbst sachliche Grundlagen für eine solche Phänomenologie.“ (Sepp 2003: 112) Eine Nähe zwischen Phänomenologie und Kafkas Werken postuliert auch Jürgen Trinks („Phänomenologie kann [...] den Sinn für Differenziertheit, ja Dramatik der sprachlichen Prozesse schärfen, die sich nicht auf öde Signifikant-Signifikat-Beziehungen reduzieren lassen.“) und plädiert für eine „Deutungshemmung“: „Demgemäß müßte die Beschäftigung mit Kafkas Werken weniger eine klare Bedeutung herausarbeiten, sondern die Schwierigkeiten der Deutung, was übrigens selbst

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eines Kampfes unter den Titel Verschiebungen gestellt. Demnach begegnet der Text mehreren Paradoxien mit einer Strategie der Verschiebung: dem nicht mehr aussagbaren Unverankertsein (Sepp 2003: 100), der Ortlosigkeit und sich selbst fremd gewordenen Leiblichkeit, aufgrund derer die Ich-Erzähler des Textes „nicht mehr identisch mit sich selbst“ sind (Sepp 2003: 102) – mithin jenen Verunsicherungen der Tragfähigkeit von Identität wie Sprache, die der Text in und an seiner sprachlichen Gestalt so deutlich vorführt. Sepp arbeitet eine permanent gehaltene Bewegung des Metaphorischen als Grundstruktur des Textes heraus: ein beständiges Übertragen, angefangen von den Verschiebungen zwischen den Ich-Erzählern, woraus trotz der „Ineinanderschachtelung der Erzählungen [...] keine Hierarchie“ (Sepp 2003: 111) erwächst, bis hin zum Schreiben, das „selbst zu einer permanenten Verschiebung der an sich schon verschobenen Existenz“ (Sepp 2003: 112) wird. All dies laufe darauf zu, „sich in einem Zustand des Schwebens, des permanenten Verschiebens, ,meta-phorisch‘, zu halten. ,Beschreibung eines Kampfes‘ führt die Metapher als eine existentielle Verschiebung vor, die den durch sie eröffneten Raum sprachlicher Verschiebungen besetzt.“ (Sepp 2003: 110) Die immer weiter verschobenen Beobachter-Positionen in dem Text hat Markus Rassiller fokussiert und in diesem Grundgestus eine Nähe zur Derrida’schen Denkfigur der ‚différance‘ als beständigem Aufschub erkannt. Die Textur [ist] kompositorisch darauf ausgelegt [...], einen unabschließbaren Aufschub in Gang zu setzen, der eine stabile Beobachterposition nicht mehr zulässt. Die Beobachtung und ein mit ihr zu konstituierender Sinn wird uneinholbar dynamisiert. (Rassiller 2008: 198)

Was den bei beiden fokussierten Gestus des Schwebens betrifft, ließe sich eine Verbindung ziehen zu einer anderen, häufig als zentral für die Beschreibung eines Kampfes gelesenen Stelle, bei der die Selbstverständlichkeit des (vom Beter einst) aufgeschnappten Satzes „Ich jause im Grünen“ (KKAN I: 91), schließlich (für den Dicken) nicht mehr irritierend, sondern „bewunderungswürdig“ (KKAN I: 110) ist, nachdem der Beter bemerkt hat: Wir [...] erhalten uns in Schwebe, wir fallen nicht, wir flattern, wenn wir auch häßlicher sind als Fledermäuse. Und schon kann uns kaum jemand an einem schönen Tage hindern zu

Thema vieler Erzählungen Kafkas ist.“ (Trinks 1998: 175) Auch für Trinks (1998: 188) hat „die Metapher vom Schweben“ zentralen Stellenwert: „Es käme bei der Lektüre darauf an, gegen den Widerstand der urteilenden Sprache ins Schweben zu geraten. [...] Es ist eine Kunst als die Fähigkeit, den schnellen Übergang vom Signifikanten zum Signifikat nicht zu vollziehen und statt dessen eine Hemmung zwischen beiden auszunutzen und sich im Zwischenraum so lange wie möglich schwebend zu halten.“

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sagen: ‚Ach Gott heute ist ein schöner Tag.‘ Denn schon sind wir auf unserer Erde eingerichtet und leben auf Grund unseres Einverständnisses. (KKAN I: 109)

Das Artistische dieses geradezu ironischen Einverständnisses betont Sophie von Glinski: Es geht hier [...] um einen Trick: indem man bewußt ‚so tut als ob‘, kann man sich ‚einrichten‘ in der kollektiven Illusion, die darin besteht, an eine wirklich existierende Welt zu glauben; wenn man verbirgt, daß man die banalen, ,natürlichen‘ Gemeinplätze nur ironisch zitiert, kann man sich dieser Konvention bedienen. Dieser Zustand ‚in der Schwebe‘ ist eine instabile, momentane, vielleicht auch artistische Veranstaltung [...]. (Glinski 2004: 73)

Nimmt man die oben anhand der ins Schwanken geratenen Denkmäler aufgerollten nationalen Konnotierungen hinzu, dann wären es nicht nur allgemeine konventionelle Gemeinplätze, die „in Schwebe“ zu bringen wären, sondern ganz konkret auch die mit dem Prager Stadtraum verbundenen symbolischen Codierungen innerhalb der nationalkulturellen Diskurse. Was hier ins Wanken gerät, um dann versuchsweise in der Schwebe gehalten zu werden, ist die Selbstverständlichkeit von (individueller wie kollektiver nationaler) Identität, Sprache und Erkenntnis sowie der Nexus zwischen ihnen. Letztlich lässt sich darüber, welche Rolle der ‚genius loci‘ des mehrsprachigen, multiethnischen und plurikulturellen Prag für diese für die Moderne auch andernorts symptomatische Erfahrung spielte, nur spekulieren; genauso wie darüber, welchen Grad an Selbstverständlichkeit sie in einer solchen, immer schon von Vielfalt geprägten kulturellen Situation überhaupt erlangen konnten. Interkulturalität haben Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg in einem programmatischen Aufsatz (2014) als Projekt gefasst, das gleichermaßen eine in die Vergangenheit wie eine in die Zukunft weisende Seite hat: Denkt man Interkulturalität nicht als Paradigma, sondern als ein Projekt, dann ist sie von einer unabschließbaren, immer offenen Prozessualität geprägt. Ein solcher Zukunftshorizont eröffnet sich gerade mit Blick auf jene Spuren, die sie im kulturellen Gedächtnis hinterlassen hat: „Eine einmal gelebte Interkulturalität – denkt man sie als Prozess oder eben als Projekt – kann nicht wirklich beendet werden [...].“ (Heimböckel/Weinberg 2014: 140) Auch Kafkas Texte ließen sich in einer so verstandenen interkulturellen Perspektive als äußerst komplexe Speicher einer Erschütterung oder In-Frage-Stellung monolithischer Vorstellungen von Sprache, Identität und Erkenntnis lesen.16 16 In kulturhistorischer Hinsicht bedeutet die Entscheidung, Interkulturalität nicht als Paradigma, sondern als (allermeist mindestens potentiell gegebenes und niemals abschließbares) Projekt zu denken, sich von der Vorstellung einer Abfolge einander ablösender Paradigmen zu verabschieden. So wird Interkulturalität bzw. in neueren Debatten meist Transkulturali-

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Um damit zu meiner Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Kafkas Modernereflexion und seinem Prager Kontext zurückzukommen, möchte ich insofern das hoffentlich nicht allzu plakative Fazit ziehen: Wenn im Kern von Kafkas erstem Text der Altstädter Ring – und nicht nur er – ins Wanken gerät, dann hat das Beben, in das uns seine Texte bis heute zu versetzen vermögen, vielleicht doch auch etwas mit Prag zu tun, und zwar mit einem Prag, dem die

tät gern als Überwindung jenes Zeitalters gedacht, das unter dem Paradigma des Nationalismus stand und Volk, Territorium und Sprache gleichzusetzen trachtete. Das mehrsprachige, mehrkulturelle Habsburger Imperium erscheint bei einer solchen Sichtweise allzu leicht in einem nostalgisch gefärbten Licht, ist es doch die im 19. Jahrhundert zunehmend anachronistisch werdende Verkörperung eines vor-nationalen Paradigmas – wobei dann die es prägenden sozialen und konfessionellen Konfliktlinien aus dem Blick zu geraten drohen. Yasemin Yildiz (2012) etwa, die sich Kafka gewissermaßen als Vorläufer der von ihr für mehrsprachige Gegenwartsliteratur herausgearbeiteten „postmonolingual condition“ zuwendet, umgeht zwar explizit die Gefahr eines idealisierenden Blicks auf Habsburg, wenn sie eingangs schreibt: „Yet the multilingualism of the empire does not offer a positive model to be emulated in the present. In fact it cautions us against facile celebration of what appears to be a state of multilingualism without closer scrutiny of its configuration of – and its underlying premises regarding – language, culture, and ethnicity.“ (Yildiz 2012: 30) In einer sehr subtilen Lektüre verfolgt sie Kafkas Begegnung und Umgang mit dem Jiddischen. Kafka arbeite dabei das ihn umgebende monolinguale Paradigma, das kulturelle Identität mit der einen Muttersprache zu verbinden trachtet, paradoxerweise in der eigenen Muttersprache durch, indem er die Spannungen dieses Paradigmas („the tensions inherent in the monolingual paradigm and the mother tongue“, Yildiz 2012: 34) bloßlegt: „Kafka undertakes such a working-through from within the paradigm.“ (Yildiz 2012: 35) Yildiz zeigt, wie sich Kafka insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit dem (dem Deutschen vielfach ähnlichen) Jiddischen die eigene Muttersprache zunehmend ver- und entfremde, so dass sie Züge des Unheimlichen annimmt: „This discourse [on the German language in the speech on ,Jargon‘] presents German through the lense of ,Jargon‘ – that is from an unfamiliar, defamiliarizing angle.“ (Yildiz 2012: 54) „The uncanny thus paradoxically creates the space within German in which to articulate a GermanJewish existence in early twentieth-century Prague. The monolingual paradigm can only be inhabited as an uncanny space.” (Yildiz 2012: 57) Im Anschluss an das von Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg formulierte Verständnis von Interkulturalität (wozu dann auch Interlingualität als Post-Monolingualität im Yildiz’schen Sinne gehören würde) nicht als Paradigma, sondern als Projekt, wäre aber zu fragen, ob es ‚das‘ monolinguale Paradigma je unhinterfragt und selbstverständlich gegeben hat. Kafkas Texte, beginnend schon mit Beschreibung eines Kampfes, so die hier vorgeschlagene Lesart, zeugen offenbar von mehr als einer paradoxen In-Frage-Stellung eines solchen Paradigmas, nämlich von einer ganz grundsätzlichen Nichtselbstverständlichkeit von Sprache, Sinn(zuschreibungen) und Identität(szuschreibungen).

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Konflikte wie auch die Potentiale des Interkulturellen eingeschrieben waren und das uns hier als ein gelassen schwebendes präsentiert wird.

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Hybridität von Kafkas ‚Odradek‘ 1. Einführung Ich befasse mich in meinem Beitrag mit der Erzählung Die Sorge des Hausvaters, die nach Hartmut Binder Ende April 1917 und nach Juliane Blank vor August 1917 in dem von Kafkas Schwester Ottla angemieteten Haus in der Alchimistengasse entstanden und zu Kafkas Lebzeiten im Erzählungsband Ein Landarzt mit der Widmung „Meinem Vater“ im Mai 1920 erschienen ist.1 Im Hinblick auf mein Thema scheint es mir sinnvoll, zunächst die wichtigsten Interpretationen Odradeks zusammenzufassen. Sie machen nämlich einerseits die Beschaffenheit von Kafkas Texten deutlich, zeitgenössische Diskurse so allgemein zu verhandeln, dass man seine Texte im Rückblick als mehrdeutig oder polyphon verstehen kann (Wagner 2012), andererseits machen sie auch die Intensität des ‚Staunens‘ deutlich,2 das Odradek durch seine radikale Fremdheit in den Lesern und Interpreten auslöst und die ich in meiner Interpretation aufgreifen möchte. Die Frage, woher das Wort Odradek stamme und was sein Sinn sei, die Odradek als fremd markiert und als fremd erkennbar macht, wird allerdings bereits im Text gestellt, und zwar gleich am Anfang der Erzählung, bevor das mehrfach hybride und dadurch kaum fassbare Wesen als eine der Realität entrückte Gestalt in diese einbricht (Blank 2010: 223).3 Diese Frage, die die Narration einer „Geschichte“ zugunsten eines „Berichts“ über deren Protagonisten verdrängt, stellen sich im Text in ihren „Studien“ viele (KKAD 282), zu Ende der Erzählung wird aber deutlich, dass es vor allem der Hausvater ist, der sich als Erzähler dieser Geschichte Gedanken über Odradek macht. In einer direkten Rede kommt der Hausvater allerdings erst zu Ende 1 Zur Datierung der Entstehung der Erzählung und der Veröffentlichung des Bandes, in dem 1919 als Erscheinungsjahr vermerkt ist, vgl. Binder (1986: 230) und Blank (2010: 218). 2 Zum Staunen und der Interkulturalität vgl. u.a. Heimböckel/Weinberg (2014). 3 Kilcher (2008: 109) zeichnet die Hybridität der stummen und zugleich knapp antwortenden Puppe, indem er neben dem „etymologisch nicht verortbaren hybriden Namen“ auch auf die „undefinierbare Gestalt, zugleich textil, papieren und hölzern, halb Ding, halb Lebewesen, das sogar eine Art Lachen oder Rascheln von sich gibt“, verweist.

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der Erzählung zum Wort. In seinen Worten, durch die die Sorge um Odradek zur Sorge vor Odradek wird, kanalisiert sich auch das besorgte Staunen der Anderen, die über Odradek Studien anstellen bzw. denen dies vom Hausvater zugeschrieben wird. Über dem Hausvater als Erzähler steht dann das interne, innertextuelle Subjekt, das in der Erzählung die Namen und Rollen der Figuren verteilt und im Titel als Paratext der Geschichte zu Wort kommt.4 Was die radikale Fremdheit Odradeks betrifft, versuche ich zunächst deutlich zu machen, wie sie im Text konstruiert wird, bevor ich schlaglichtartig die textuellen Fäden zeige,5 die zum zeitgenössischen Fremdheitsdiskurs führen. Von diesem sticht bei der Lektüre besonders der antisemitische Diskurs ins Auge, wenn auch eine vergleichbare Rhetorik auch in der zionistischen Reflexion der jüdischen Diaspora erkennbar ist (Kilcher 2006: 109). Dabei schließe ich die Die Sorge des Hausvaters an andere Texte Kafkas an, in denen vergleichbare Figuren vorkommen, die man – zumindest aus der Erfahrungswelt des Lesers heraus – als ambivalente, hybride Übergangswesen bezeichnen kann. Es handelt sich um Texte, in denen – wie in der Erzählung Ein Bericht für eine Akademie (1917) oder Schakale und Araber (1917) – Tiere eine artikulierte Sprache haben, die man außerhalb der fiktionalen Welt für eine Eigenschaft des Menschen und für ein Sinnbild der Kultur halten dürfte, oder in denen Menschen keine bzw. lediglich eine unartikulierte Tiersprache haben, wie dies für die Erzählung Ein altes Blatt (1917) zutrifft. Durch die zentrale Stellung der Sprache und deren Absenz bei den Menschen und deren Vorhandensein bei Tieren, die bei diesen Figuren ihre radikale Fremdheit markieren, unterscheiden sie sich von anderen Erzählungen, in denen es um Die Verwandlung (entstanden 1912, erschienen 1915) des Menschen in ein Tier oder um Eine Kreuzung (entstanden 1917) von Katze und Lamm geht, auch wenn eine klare Trennung der Menschen- und Tierwelt auch darin nicht ganz möglich ist. Bei einer derart radikalen Fremdheit, die mit dem Vorhandensein der Tiersprache beim Menschen bzw. der menschlichen Sprache bei Tieren die Rän4 Die Deutung von Kafkas Spiel mit der „Autorschaft als Vaterschaft“ (Pasley 1965: 21; Blank 2010: 223), die im Erzählungsband Ein Landarzt (1920) vorliegt, basiert auf der personifizierenden Vorstellung eines impliziten Autors, der den Text und seine Rezeption intentional steuert, wie man ihr noch bei Wayne C. Booth (1961) begegnen kann, während neuere literaturwissenschaftliche Theorien – wie Seymour Chatman (1993) oder Shlomith Rimmon-Kenan (2002) – auf der Unpersönlichkeit des impliziten Autors oder seiner Depersonifizierung beruhen, durch die sich das Subjekt als personifizierte Projektion von den dem Text inhärenten Normen auflöst. 5 Zu dieser Vorstellung der Textarbeit im Kontext des New Historicism s.. Baßler (2008: 134).

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der der Kultur berührt, stellt sich die Frage nach der Deutung der Hybridität im kulturellen Sinne, die an Homi Bhabha (2008, 2011) angeschlossen wird. Bhabha zufolge kann der hybride dritte Raum kreativ (positiv) oder destruktiv (negativ) gesehen werden, einer Verflechtung strebe stets eine Entflechtung entgegen, eine Entgrenzung rufe eine Abgrenzung hervor.6 Angesichts der sprachlichen Hybridität, die Odradek auszumachen scheint, der weder dem Deutschen noch dem Slawischen anzugehören scheint, wird bei seiner Interpretation auch das linguistische Konzept der Hybridität einbezogen, auch wenn das Wesen Odradek auf dem Übergang zwischen er und es nicht nur sprachlich hybride zu sein scheint. Gewöhnlich versteht man in der Linguistik unter hybrider Wortbildung eine formal erkennbare Verschränkung von zwei (oder mehreren) Sprachen, wie in ‚ultra-rot‘ oder ‚appetit-lich‘, wobei die (separierbaren) Morpheme semantisch verschmelzen (Munske 2009; Dargiewicz 2013). Die Phantasiewörter der Bilingualen oder für die Bilingualen, wie ‚Zwiebule‘ (aus ‚cibule‘ [Zwiebel] und ‚Zwiebel‘), sind allerdings nicht nur semantisch, sondern auch morphematisch verschmolzen, so dass nicht nur die Naht zwischen den Morphemen nicht mehr zu erkennen und aufzulösen,7 sondern auch die Basissprache nicht mehr zu bestimmen ist bzw. bestimmt werden soll. Der Neologismus mag dann im jeweiligen Äußerungskontext in der einen oder der anderen Sprache – zumindest semikommunikativ – verständlich sein, gehört aber weder der einen noch der anderen Sprache an. Bei Kafka kommt allerdings neben der Unlösbarkeit der etymologischen Frage nach der „Abstammung“ des Phantasiewortes Odradek, das weder der einen noch der anderen Sprache zuzuordnen ist und u.a. auch dadurch zum Namen wird, auch die genealogische Frage nach der Abstammung seines Trägers hinzu. Es ist also mehr als pure Sprache im Spiel, vielmehr kommt dadurch die soziale und kulturelle Symbolik und Hybridität hinzu.

6 Zum Wandel des Konzepts der Hybridität vgl. u.a. den einführenden Teil des Aufsatzes von Fludernik/Nandis (2001). 7 Zum „translanguaging“ s. Busch (2017: 58), zu Wortschöpfungen dieser Art im Kontext der Initiative ‚Čojč‘ (‚čechisch‘ und ‚deutsch‘) s. Förster (2013).

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2. Interpretationen von Odradek Eine erste Übersicht der Interpretationen Odradeks wurde von Heinz Hillmann vorgelegt, der sich gegen symbolische und allegorische Lesarten aussprach, weil sie aus dem Text nur einige Aspekte assoziativ herausgreifen und seinen Wortlaut und seine Komposition dabei beiseitelassen. Über eine „streng immanente Interpretation“ des Textes gelangte er allerdings selbst zu dessen einseitiger biographischer Lesart (Hillmann 1967: 198, 207f.). In seiner Schau der damaligen Interpretationen konnte er auf diese zwar nur punktuell eingehen, nichtsdestotrotz kann man mit ihm etwa an die Interpretation von Odradek als „entfremdetes Zeug“ verweisen (Bense 1952: 65). Dieser Interpretation zufolge sei in Odradek „Ware“ erkennbar (Emrich 1958: 95; Kilcher 2010), so dass er in die von Maschinen geprägte Welt „entfremdeter Beziehungen“ gut hineinpasse (Anders 1951: 12).8 Damit könne man in Odradek auch die Marxsche Kritik der Ware und des warenbezogenen Kapitalismus mitlesen, in dem sich die Ware von ihrem Produzenten löst und ihn – den Hausvater – überlebt, oder anders formuliert, in dem ihm die Arbeit entfremdet und so – für ihn sowie allgemein – ihres Sinns beraubt werde (Kilcher 2010). Als Objekt, Ding und ‚es‘, fokussieren Odradek auch Hartmut Binder oder Thomas Borgstedt, die in Odradek ein weitgehend sinnloses Holzspielzeug wiederzuerkennen meinen (Binder 1986; Borgstedt 2009). In Odradek wird allerdings auch ein Subjekt, ein er, ein Bote der jenseitigen Welt, „ein Miniaturmonster für die Welt als Labyrinth“ gesehen (Pongs 1960: 62), der sich wohl in den verknoteten, bunten Fäden offenbare und das Labyrinthhafte der diesseitigen Welt repräsentiere (Hillmann 1967: 204f.; Politzer 1965: 154). Auch dadurch wird Odradek zur allegorischen Verkörperung der Frage nach dem Sinn des Lebens und durch seine Sinn- oder Funktionslosigkeit in der realen Welt auch zur allegorischen Verkörperung der Sinnlosigkeit der Suche danach. Die Antworten nach dem Sinn Odradeks, in dem „Spuren der allerverschiedensten Tätigkeiten“ zusammenlaufen (Emrich 1966: 310f.), erscheinen ja alle als „unzutreffend“ oder „sinnlos“. Indem Odradek dem Hausvater, den er trotz seiner Sinnlosigkeit überleben wird, dessen eigene Sinnlosigkeit erfahrbar macht und Zweifel an dem Sinn des Lebens vermittelt (Rammelmeier 1987), steht Odradek für die Sinnlosigkeit des Lebens an sich (Politzer 1950). Für Wilhelm Emrich verkörpert Odradek das

8 Zu Odradek als Karikatur der Maschine s. Politzer (1965).

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Paradoxon, dass das Sinnvolle (Hausvater) vom Sinnlosen (Odradek) überlebt wird, wodurch das Sinnvolle als sinnlos erscheint (Emrich 1966: 300). Die etymologische Frage danach, woher das Wort Odradek stammt, die auch im genealogischen Sinne gestellt wird, wird dann über den Text hinaus auch mit der biographischen Situation Kafkas verbunden und Odradek als eine ‚Chiffre‘ für Franz Kafka verstanden. Dabei geht es in den biographisch inspirierten Interpretationen weniger um die allgemeine Verunsicherung der persönlichen Identitäten im jüdischen Milieu, das im langen 19. Jahrhundert im urbanen Raum Prags in den Kontext rivalisierender ethnonationaler Gruppen eingebettet war, sondern vielmehr darum, dass in Odradek Kafkas Existenz „aus der Vaterperspektive“ beleuchtet werde (Trost 1964, 1983; Politzer 1965: 154; Pasley 1965: 28; 1966: 307f.; Hillmann 1967: 207). Hartmut Binder, der an Pasley und Hillmann anknüpft, steigert sich dann zur Formulierung, dass Kafka während des Schreibprozesses in der Alchimistengasse in die Rolle eines „Hausvaters“ geschlüpft war und sich in Odradek „aus der Optik des Vaters zu beurteilen“ wusste (Binder 1986: 231). Aus dieser biographischen Perspektive setzt Pasley Odradek als Lösung eines Rätselspiels ein und verbindet Odradek mit dem Text Der Jäger Gracchus (1917), auf dessen Hauptfigur und ineinander verfitzte heterogene Motive der Gracchus-Bruchstücke er als sein Erzeuger in der Rolle des Hausvaters in den Eigenschaften von Odradek kritisch zurückblicke. Pasley glaubt dabei einen solchen biographisch-intertextuellen Zusammenhang auch im Lamento des Vaters in der Erzählung Elf Söhne (entstanden 1916, publiziert 1920) zu erkennen,9 in der dieser vom siebten Sohn Nachkommen erwartet und vom elften Sohn Unheil befürchtet. Lässt man sich nämlich auf Max Brod ein, der Kafkas Aussage widergebe, dass Elf Söhne „ganz einfach elf Geschichten [sind], an denen ich gerade arbeite“ (Brod 1966: 146, zit. n. Alt 2005: 719; Corngold 2008: 153; Blank 2010: 223), kann man die Erzählung Elf Söhne in Bezug auf elf Vater-Sohn-Geschichten im Band Ein Landarzt (1919, ausgeliefert 1920) als „Rätselspiel“ verstehen (Alt 2005: 511), in dem Kafka die Vorstellung von Autorschaft als Vaterschaft verhandelt (Pasley 1965: 21; Blank 2010: 223). Im Konkreten dürfte dann Odradek der elfte Sohn aus der Geschichte Elf Söhne sein. Die Verbindung des Textes mit Kafkas Werk und Biographie regt selbstverständlich auch die psychoanalytische Lesart von Odradek an, in dem die Wiederkehr des psychisch Verdrängten gesehen wird (Marson/Leopold 1964; 9 Diesem Lamento kann man im Übrigen bei Kafka auch in der Erzählung Das Urteil (1912) oder im Brief an den Vater (1919) begegnen.

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Lange-Kirchheim 1994; Kremer 1998), sowie die Fragen nach einer religiösen Dimension des Textes. So sieht Weinberg in Odradek eine paradoxe Kombination des jüdischen Davidsterns und des christlichen Kreuzes: Aus der leeren Mitte der ‚flachen sternartigen Zwirnspule‘ – aus dem durch den Verlust des ewigen Lebens leeren Zentrum des jüdischen Davidsterns erwächst die Gestalt des Kreuzes, wie sie von dem kleinen Querstäbchen, zusammen mit den anderen Stäbchen, das sich ihm im rechten Winkel anfügt, gebildet wird. (Weinberg 1963: 118-122)

Im Hinblick darauf kann man Weinberg und sich selbst die Frage stellen, inwieweit eine solche weitreichende und sinngebende Interpretation vom Text gedeckt ist (Hillmann 1967: 204). Ein Textbezug ist bei dieser Interpretation immerhin noch gegeben, während sich die Verbindung von Odradek mit der Bäckerfirma Odkolek und ihrem Brotprodukt, die Johannes Urzidil im Epilog seiner biographischen Schilderung wagt (Urzidil 1970/71: 972), und die Verbindung von Odradek mit einem Motorradtyp, die Klaus Wagenbach (1983: 47) vornimmt, auf eine skurrile und eine provokative Art und Weise vom Text vollständig loslöst. Wie in den Nachweisen deutlich geworden sein dürfte, bauen die neueren Interpretationen auf den älteren auf, man entwickelt allerdings auch neue Perspektiven. So konnte man in der dadaistisch sinnlosen und in sich abgeschlossenen Figur des Odradek neben dem nach seiner eigenen Logik existierenden bürokratischen System auch ein autonomes Kunstobjekt erkennen, während Odradeks Geschlechtslosigkeit, für die „es“ steht, sowie seine Künstlichkeit und seine Position „dazwischen“ Borgstedt an Mignon in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) erinnert (Borgstedt 2009). Auch wenn Kafkas Kenntnis von und Anerkennung für Goethe außer Frage steht, dringt Kilcher in seiner Interpretation doch stärker in Kafkas Erfahrungs- und Lesewelten vor: Er erblickt in dem ziellosen Herumirren Odradeks „durch die Häuser einer kleinbürgerlichen Welt“ eine „jüdische Desorientiertheit“ und in Odradek „eine Zerrgestalt der jüdischen Diaspora“, das Bild des Diasporajudentums aus der polemischen Perspektive des Zionismus, wie es Kafka in zahlreichen Zeitschriften der Zeit vorgefunden hat. Die Bildersprache des Textes folgt demnach dem sorgenvollen Blick eines zionistischen Hausvaters auf die rätselhafte Gestalt der jüdischen ‚Diasporamumie‘ (Heine): wie diese in kultureller Hinsicht Sprachen und Namen eklektisch verbindet und statt einer originär jüdischen Sprache Mischkulturen und -sprachen (wie Jiddisch) hervorbringt; wie diese dann in ökonomischer Hinsicht als notorisch ‚unproduktiv‘ gilt und anstatt Landwirtschaft Geldwirtschaft betreibt; und wie diese in politischer Hinsicht nomadisch – Odradek sagt: ‚unbestimmter Wohnsitz‘ [...] – durch das moderne Europa der Nationalstaaten irrt. (Kilcher 2008: 109)

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Damit sei die Übersicht von Odradek-Deutungen vorerst geschlossen, auf weitere komme ich noch im Zusammenhang mit der für mich zentralen Frage nach der Etymologie des Wortes Odradek zurück. Die interpretatorische Vielfalt bei der Suche nach dem Sinn von Odradek dürfte aber bereits jetzt deutlich geworden sein. Da bereits in Kafkas Text über den Widerstreit von „Deutungen“ in fachlichen „Studien“ die Rede ist, kommt Peter-André Alt zum Schluss, dass Kafka in der Erzählung „[m]it spielerischer Klarheit [...] die künftige Wirkung seiner Texte“ umreiße (Alt 2005: 512). Mein Beitrag, auf dessen Arbeiten der vorliegende Aufsatz aufbaut, nutzt die in Kafkas Text festgestellte Unmöglichkeit, Odradek sprachlich bzw. ethnonational zu verorten, lediglich als Illustration für die Sinnlosigkeit der in der Kafka-Forschung praktizierten Vereinnahmung Franz Kafkas im Rahmen der jeweiligen nationalen Literaturgeschichtsschreibung (Nekula 2003: 15-18).

3. Hybridität von Odradek Der Inhalt des kurzen Textes wurden bereits in der Einleitung umrissen, Heinz Hillmann bringt dessen Struktur folgendermaßen auf den Punkt: Odradek erscheint in diesem streng durchkomponierten Textstück zunächst als Wort, sodann als unbewegliches Ding (es), als bewegliche Gestalt (er), schließlich als Gesprächspartner und endlich sogar als möglicherweise zeitenthobenes Wesen. Diese Reihenfolge bedeutet aber keine Entwicklung Odradeks, sondern ist eine Entwicklung der Beschreibung Odradeks. Sie erfasst ihn in keinem Abschnitt richtig und ganz und wird deshalb stets zum nächsten Abschnitt weitergetrieben. Jede Kategorisierung Odradeks ist nur vorläufig: beschreibt man ihn als Ding, muß man sogleich auch sagen, daß er Mensch ist […]. (Hillmann 1967: 200; Binder 1986: 231)

Auch Peter-André Alt geht auf die „Dramaturgie“ der fünf Abschnitte des Textes ein, „die vom Allgemeinen zum Besonderen, d. h. vom ‚Man‘ des wissenschaftlichen Meinungsstreits zum ‚Ich‘ einer persönlichen Sorge führt“, denn „[n]achdem die vier vorangehenden Absätze Odradek aus etymologischer, äußerlicher, ökonomisch-funktionaler und individueller Sicht beschrieben haben, bringt der letzte Abschnitt den jetzt in der Ich-Form sprechenden Erzähler ins Spiel.“ (Alt 2005: 511f.) Ich versuche meinerseits ebenfalls den ganzen Text im Auge zu behalten, fokussiere aber bei den Versionen und Widersprüchen Odradeks auf die mehrfache Hybridität des ambivalenten, „beweglichen“ Wesens, das auch interpretativ „nicht zu fangen ist“ (KKAD 283).

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Wörtlich genommen, beginnt der Bericht über Odradek nicht mit den Fragen nach der Herkunft des Wortes Odradek, sondern mit den Antworten darauf, die aber als unsicher gelten und zur Beantwortung der Frage wenig beitragen: Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann. (KKAD 282)

Die im Zitat angesprochene sprachliche Hybridität des Wortes Odradek, durch die sich dieses einer eindeutigen sprachlichen Einordnung entzieht, ist durch die Rede über die „Abstammung“ auch eine genealogische bzw. eine nationale. Schließlich ist Odradek nicht bloß ein Wort, sondern auch ein Wesen, das so „heißt“.10 Da die „Abstammung“ Odradeks in „Studien“ verhandelt wird, bevor er sich durch sein Verhalten und Handeln offenbaren kann, wird die jeweilige Einordnung durch äußere ethnonationale Kategorisierungen vorgenommen. Dabei ist man mit dem Paradoxon konfrontiert, dass Odradek sprachlich offenbar so gewachsen und untrennbar verwachsen ist, dass es sowohl der einen als auch der anderen Sprache entstammen könnte und damit weder der einen noch der anderen zugeordnet werden kann und wohl auch nicht zugeordnet werden soll. Wie andere geht auch Pavel Trost diesem Paradoxon auf den Leim, indem er versucht, die deklarierte Weder-Noch-Relation von Slawisch und Deutsch in eine Entweder-Oder-Relation von Deutsch und Tschechisch umzudeuten und aus der „Prager Sicht“ in eine Richtung zu vereindeutigen.11 Während er für eine deutsche Deutung des Wortes wenig übrig hat, sieht er in ‚Odrad-ek‘ ein tschechisches Wort, das man mit dem Verb ‚odrad-it‘ (abraten) verbinden und ins Deutsche mit „entmutigen“, „entfremden“ übersetzen könnte (Nekula 2003: 15f.). Von diesem tschechischen Wort sei nach Trost ein „Diminutivsuffix“ ‚-ek‘ abzutrennen,12 bis das Wortfragment ODRAD als Chiffre des Namens KAFKA übrigbleibt (Trost 1964: 33).13 Neben dieser linguistischetymologischen Vereindeutigung Odradeks zugunsten des Tschechischen, bei 10 Die Taufe, zu der es hier kommt, verstehe ich im Sinne der Theorie der Personennamen, wie sie Kripke (1980) vertritt. 11 Zu Goldstückers Interpretation von Franz Kafka aus „Prager Sicht“ s. Nekula (2014). 12 Zum Diminutivsuffix s. Emrich (1958: 92 ff.), Trost (1964: 33), Politzer (1965: 153), zur semantischen Konkretisierung dieser Idee s. Nekula (2003: 15f.). 13 Zur Ableitung ‚Odradek‘ als ‚Ergebnis der Entmutigung / Entfremdung‘ siehe weiter unten.

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der es zuvor zur Umdeutung des Slawischen ins Tschechische gekommen ist, wird „das Wort Odradek“ (KKAD 282) im biographisch-genealogischen Sinne zum Nachnamen Kafka (Trost 1983) gemacht und ODRAD-‚ek‘ aus dieser Perspektive als ‚kleiner Kafka‘ geerdet, der in der Volksschule bei der Frage nach der Umgangssprache zwischen „deutsch“ und „böhmisch“ aufgespannt wurde.14 Damit wird Odradek auch personalisiert, obwohl dies durch „es“ oder „Gebilde“ im zweiten und dritten Absatz der Erzählung, bevor Odradek im vierten Absatz zu einem „er“ wird, eigentlich hinterfragt wird. In diesem Sinne hätte man Odradeks Geschichte vielmehr als Geschichte seiner sprachlich markierten Depersonalisierung und Entmenschlichung lesen können. Durch diese vereindeutigende Interpretation von Odradek, die Etymologie und Genealogie verbindet und die Antwort außerhalb des Textes sucht, lässt sich Trost scheinbar für ein Deutungsparadigma einspannen, in dem die sprachlichen und kulturellen Verflechtungen der Kafka-Zeit unter ethnonationalem Vorzeichen entflochten werden. Damit schließt er an seinen Kollegen Eduard Goldstücker an und greift durch seine Interpretation Odradeks indirekt in die Diskussion über die ‚tschechische‘ und ‚deutsche‘ Herkunft des Familiennamens KAFKA ein, die neben dem Familien- auch das weitere Milieu mit einschließt und Kafka zwischen die deutsche und tschechische Sprache und Identität aufspannt (Nekula 2014, 2016a: 13-36). Für die tschechoslowakische Germanistik deutet Eduard Goldstücker den Familiennamen KAFKA als phonetische Transkription der tschechischen Bezeichnung KAVKA, die Dohle bedeutet. Kafka gilt ihm dadurch als Sohn „unseres Volkes“, dessen Werk aus der proletarischen Erfahrung seines „tschechischen“ (tschechischsprachigen) Vaters geschöpft und der sich in den Fragmenten Der Heizer oder Das Schloss dem Proletariat zugewandt hätte.15 Der Briefkopf der Geschäftsbriefe Hermann Kafkas mit dem Motiv einer Dohle schien diese Deutung zu stützen. Auch bei Franz Kafka finden sich Erzählungen wie Der Jäger Gracchus oder Ein altes Blatt, in denen im Titel bzw. in einer zentralen Charakteristik die Dohle auftaucht, auch wenn die Semantik der Dohle komplexer ist, als der familiäre Kurzschluss verrät, und weit über die tschechische Sprache hinausgeht. Jedenfalls findet aus der ‚Prager Sicht‘ eine ethnonationale Vereinnahmung Kafkas statt (Nekula 2003, 2014, 2016a). 14 Zur ‚Erdung‘ von Kafka-Interpretationen s. vor allem Eduard Goldstücker (1964), der in Nekula (2014: 68-74) im Detail diskutiert wird. Zu Angaben in den Schulkatalogen s. Nekula (2003: 134), ferner Fleischmann (2007). 15 Zu Nachweisen s. Goldstücker (1963: 9; 1964: 14f.; 1965: 37, 43), zur Interpretation Nekula (2014; 2016: 13-36).

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Hartmut Binder betont dagegen die deutsche Literatursprache Franz Kafkas, über die er Kafka kulturell verortet und verwurzelt. Kafkas Nachnamen versteht Binder dann als ‚Kov-ke‘, d.h. als niederdeutsche diminutive Form des Namens Ja’aqov mit der Bedeutung der „kleine Jakob“, wie sie mittel- und osteuropäische Juden verwendeten (Binder 1982: 31). Das sprachliche und kulturelle Milieu der Familie charakterisiert Binder als „deutsch“, indem er Kafkas Mutter auf Grund ihrer deutsch geschriebenen Briefe als deutsche Jüdin bezeichnet (Binder 1982: 13; vgl. auch Nekula 2003, 2016a). Ganz anders deutet den Familiennamen ‚Kafka‘ Paul Eisner. In seinem Essay „Franz Kafka a Praha“ (Franz Kafka und Prag) sieht er darin eine (tschechische) diminutive Ableitung vom hebräischen Basiswort ‚kava‘ bzw. ‚kawa‘ mit der Bedeutung „zusammenfließen“ (Eisner 1948: 72), wodurch er die jüdische Identität der Familie verstärkt. (Ich fand zwar das Verb ‫[ הבכ‬kawA], allerdings mit der Bedeutung „ausgehen“). Es gibt sicherlich auch andere Konkretisierungen des Wortes Odradek. So erkennt Brod im Hintergrund des Wortes eine ganze Skala von slawischen Wörtern, die er zur Bedeutung „Abtrünniger“ zusammenfügt (Brod 1922: 60; Binder 1986: 232). Auch Backenköhler sieht in Odradek eine Vielzahl von Wörtern wie „řád“ (Ordnung) oder „řádek“ (Zeile), das man mit „řad“ (Reihe) verbinden kann. Durch ‚Odradek‘ werde in diesem Sinne ein Wesen bezeichnet, das sich außerhalb der Ordnung befindet und diese bedroht, indem es sich in die Sprache nicht einfangen lässt und daher wie ein Poltergeist wüten („řádit“) kann (Backenköhler 1970: 269ff.; Binder 1986: 232; Kremer 1998). Milner (2004) glaubt in Odradek die Hälfte eines in zwei Hälften geteilten Anagrammes des griechischen ‚dodekaedron‘, eines platonischen Körpers mit zwölf symmetrischen pentagonalen Flächen, zu erkennen, worauf auch Žižeks (2006) Interpretation des Odradeks basiert, der im Vater und Erzähler eine Komplettierung des fragmentalen Wortes und Körpers Odradeks zu erkennen glaubt. Sprachwissenschaftlich gesehen sind die letztgenannten Deutungen Odradeks äußerst problematisch. Inhaltlich verwundern bei einem Teil davon die Unbekümmertheit, mit der man das ambivalente Weder-Noch zum eindeutigen Entweder-Oder umschreibt, bei dem anderen Teil der Umstand, dass man bei der Suche nach einer Alternative zu Deutsch und Slawisch die für Kafka naheliegendste Sprache ignoriert. Diese hatte aber offensichtlich Pavel Trost im Blick, als er behauptete, dass das übriggebliebene Fragment ODRAD eine Chiffre des Namens KAFKA sei. Damit gab er einen wichtigen, wenn auch bisher übersehenen Interpretationshinweis, den ich hier auszuführen versuche. Fokussiert man auf die Form dieser „Chiffre“, scheint der Weg

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zur deren Entschlüsselung darin zu bestehen, dass man das Wortfragment ODRAD auf hebräische Art und Weise von hinten, d.h. als DARDO, liest. Darin nimmt D dieselben Positionen ein wie K in dem Nachnamen KAFKA. Dies scheint deswegen von Bedeutung zu sein, weil D an das initiale hebräische ‚kaph‘ erinnert, verdoppelt also ‚kaph-kaph‘, ‚kaf-ka‘. In diesem Sinne wäre Odradek bzw. ODRAD bzw. DARDO in der Tat eine Chiffre für KAFKA.16 Dieses ‚kaf-kaf‘ kann man dann zwar ähnlich wie Odradek entweder tschechisch als KAVKA [kafka] oder deutsch als KAFKE lesen und demnächst als „Dohle“, oder als „der kleine Jakob“ deuten, „mit keiner [der Deutungen kann man aber] einen [hebräischen] Sinn des Wortes [Kafka bzw. Odradek] finden.“ Will man nun dem Sinn des Wortes näherkommen, muss man sich dem zuwenden, worauf das Wort ‚Odradek‘ referiert und was es in der fiktionalen Welt bezeichnet. Genau dies tut der Erzähler der Geschichte, der sich im zweiten Absatz dem Wesen Odradeks zuwendet und dieses als „eine flache sternartige Zwirnspule“ beschreibt. „Aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines“, so dass „das Ganze wie auf den Beinen aufrecht stehen“ kann, heißt es im Text. Der Schluss, dass sich in dem so beschriebenen Wesen eine religiös-hybride Kombination des Davidsterns und des Kreuzes erkennen lässt, wurde bereits thematisiert. Unzweifelhaft und eindeutig ist diese Lesart von Odradek und dessen Abstammung aber nicht. Die Möglichkeit, dass es sich bei Odradek um ein Spielzeug handelt, scheint genauso wahrscheinlich: Sie geht mit seiner Entmenschlichung durch die Bezeichnung ‚Gebilde‘ im dritten Absatz sowie mit dem anaphorischen wie symbolischen ‚es‘ einher. Zugleich bekommt aber das Wesen durch ein „Stäbchen“ und eine „der Ausstrahlungen des Sternes“ als ob „Beine“ und richtet sich wie ein „Wesen“ auf. Ins Auge fallen auch „nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe“, aus denen Odradek gebastelt ist, sowie die anthropomorphe Unzulänglichkeit von Odradeks Körper. Ihm wird ein überdimensionaler Kopf zugeschrieben, an den „zwei Beine“ anschließen, während der Rumpf dazwischen fehlt. Damit schlägt die Darstellung der sprachlichen Hybridität des Wortes Odradek in die

16 Jindřich Toman machte mich auf eine weitere Lesart von ‚Odradek‘ aufmerksam, indem er ‚Odradek‘ ebenfalls von hinten las und in Form von ‚cedardo‘ mit dem italienischen ‚codardo‘ (feige, Feigling) in Verbindung brachte.

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Dieses Schweben zwischen Eigenschaften eines Menschen und eines Dings trifft auch für die Charakteristika in den anderen Absätzen zu. Im dritten Absatz scheint „dieses Gebilde“ einerseits keine „zweckmäßige Form“ zu haben und als Ding dadurch „sinnlos“ zu sein, andererseits macht Odradek den Eindruck, als ob es „abgeschlossen“, nach einem Plan gebaut wäre, während er, indem er „beweglich“ und „nicht zu fangen“ sei, den Eindruck einer humanen Zielgerichtetheit und Intentionalität vermittelt. Auch im vierten Absatz weist Odradek sowohl die Eigenschaften eines Menschen auf, wie Sprechen, Wohnen, Lachen, als auch die Eigenschaften eines Dings, das aus Holz besteht oder das raschelt, anstatt zu lachen. Als der Hausvater im fünften Absatz seine Befürchtung zum Ausdruck bringt, dass ihn Odradek überleben könnte, scheint Odradek beides zu sein: ein Wesen, das spricht und lebt und so den Hausvater überleben kann, und ein Gebilde aus Holz, das auf diese Weise länger als Sterbliche bestehen kann. Eigentlich hätte man auch sagen können, dass Odradek dadurch weder das Eine noch das Andere ist. Macht man einen Schritt zurück und lässt man sich mit Trost auf die tschechische Lesart Odradeks ein, findet man diese spezifische physische Hybridität auch in der Semantik der Bezeichnung ‚Odradek‘ wieder. Man muss dabei aber Trost zurechtrücken. Rechtgeben kann man ihm darin, dass das Formant -‚ek‘ bei der tschechischen Deutung des Wortes ‚Odrad-ek‘ als Suffix verstanden werden kann. Es ist allerdings kein Diminutivsuffix, wie Trost und andere meinen, weil es sich nicht an ein Substantiv, sondern an ein Verb als Basiswort bindet. Dadurch handelt es sich um ein Formant -‚ek‘, durch das Bezeichnungen für Ergebnisse des menschlichen Handelns gebildet werden, wie ‚vyrob-it‘ (erzeugen) > ‚výrob-ek‘ (Erzeugnis), ‚oškrab-at‘ (abschaben) > ‚oškrab-ek‘ (Abschabsel) usw. Dabei handelt es sich um Transitiva, deren Akkusativobjekt in der Regel ein Gegenstand ist oder als solcher konzeptualisiert wird,17 so dass auch die Ergebnisse des jeweiligen Handelns als Gegenstände konzeptualisiert werden. Der Neologismus ‚Odradek‘ weicht davon aber ab, weil das Akkusativobjekt des Verbs ‚odrad-it‘ (j-n entmutigen, j-n j-m entfremden) eigentlich lediglich ein lebendes humanes Wesen mit Verstand sein kann, d.h. durch die Anwendung des vorliegenden Wortbildungstyps auf dieses Verb das humane Wesen als Gegenstand konzeptualisieret wird, während ein Gegenstand kaum ‚abgeraten‘ werden kann. In diesem Sinne passt die gebrochene, hybride Semantik des Wortes ‚Odradek‘ perfekt zu der mehrfach hybriden Phantasiefigur der Erzählung Die Sorge des Hausvaters, deren Titel man als Synonym von Odradek verstehen 17 Dies trifft auf für Verben mit einer abstrakteren Bedeutung zu, deren Akkusativobjekt gegenständlich konzeptualisiert wird, wie ‚odpust-it‘ (j-m etw. verzeihen) > ‚odpust-ek‘ (Ablass).

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kann. So gesehen könnte man dann geneigt sein, Trosts Personalisierung von ODRAD-EK und die biographische Verquickung des von hinten gelesenen Namenfragments ODRAD mit dem Namen KAFKA auch auf den ‚Hausvater‘ zu übertragen und ihn als ‚Vater‘ zu identifizieren, der in Kafkas Brief an den Vater in der Rolle des großen ‚Entmutigers‘ auftritt. Auch wenn diese biographische Interpretation nicht unmöglich ist, scheint sie mir doch zu kurz zu greifen.

4. Antisemitische Rhetorik in Kafkas Text/en Schließlich ist die biographische Interpretation ja nur eine der zahlreichen Interpretationen, die sich um das seltsame Wesen Odradeks in der Erzählung Die Sorge des Hausvaters bemühen. Falls nun all den Interpretationen etwas gemeinsam sein dürfte, dann ist dies die wiederkehrende Sinnentfremdung von Sinnentwürfen, die der mehrfachen Hybridität Odradeks unterstellt werden und an dieser beim Versuch um ihre Vereindeutigung auch scheitern, oder anders gesagt, es ist die radikale Fremdheit, durch die sich Odradek einer kulturellen Ordnung entzieht oder – besser gesagt – durch die Odradek vom Berichterstatter zunächst sprachlich und dann auch physisch einer kulturellen Ordnung entzogen wird. Dadurch ist Odradek ähnlichen, sprachlich und/oder physisch hybriden, ambivalenten Wesen in Kafkas Texten verwandt, die zwischen Mensch und Tier schweben und beides sein können, doch weder das eine noch das andere sind, wie der Affe Rotpeter in Ein Bericht für eine Akademie (1917) oder die Nomaden in Ein altes Blatt (1916/17). In der Erzählung Ein altes Blatt werden die Nomaden, die sich – dem Berichterstatter nach – wie Dohlen verständigen, durch die Unkenntnis ‚unserer‘ und Absenz einer eigenen (menschlichen) Sprache enthumanisiert. In diesem Sinne werden die dohlenden Nomaden in der Schauergeschichte des Berichterstatters als tierartige Wesen dargestellt: Sie liegen mit ihren Pferden und reißen wie sie „Stücke aus dem lebendigen Ochsen“ heraus, um sich „beide vom gleichen Fleischstück“ (KKAD 265) zu nähren. Indem diese besorgniserregenden ‚Kafkas‘ weder eine menschliche ‚Lebensweise‘ oder ‚Art‘ noch eine eigene (menschliche) Sprache gehabt haben sollen (selbst ihre Grimassen sind ja unmenschlich), werden sie als kulturell unterlegen dargestellt, ja außerhalb der menschlichen Kultur verortet. In Bezug auf die Sprache haben dabei die Nomaden mit Odradek einiges

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gemeinsam, nur verläuft die physische Enthumanisierung von Odradek nicht entlang der Scheidelinie zwischen Mensch und Tier wie bei den Nomaden, sondern entlang der Scheidelinie zwischen Mensch („er“ / „Wesen“) und Ding („es“ / „Gebilde“) und ist damit noch radikaler. Auch mit der Erzählung Ein altes Blatt, die im Spannungsfeld nationaler bzw. jüdischer (zionistischer) und antijüdischer (antisemitischer) Diskurse gelesen werden kann (Nekula 2012, 2016a), bietet sich an, auch die radikale Fremdheit Odradeks vor dem Hintergrund des radikalsten aller radikalen Fremdheitsdiskurse zu lesen. Wie oben erwähnt, kann man die Erzählung Die Sorge des Hausvaters nach Kilcher im zionistischen Diskurs verorten (Kilcher 2008: 109), dessen polemische Figuren teilweise mit denen des antisemitischen Diskurses zusammenfallen. In diesem Sinne sticht in dem Bericht des Hausvaters die physische Unzulänglichkeit („Winzigkeit“, Körper mit Kopf und „Beinen“, aber ohne Rumpf) sowie die scheinbare Nutzlosigkeit Odradeks ins Auge, denen man u.a. im Bild der Juden in Nerudas Kleinseitner Geschichten begegnen kann (Nekula 2011), die Kafkas Schullektüre gewesen sein dürften (Nekula 2016a: 151-195). Die Figuren eines Financiers, der einen Hausbesitzer das Fürchten lehrt, indem er die Kontrolle über sein Haus übernimmt, und eines Hausierers, die bei Neruda das Jüdischsein zu verkörpern haben, kommen bei Kafka in dieser plakativen Form zwar nicht vor. Doch könnte das Wesen, das „abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe“ bedecken, einen Hausierer durchaus evozieren. In diese Richtung weist auch die Tatsache, dass sich der „beweglich[e]“ und „nicht zu fangen[de] Odradek in Zwischenorten wie dem ‚Treppenhaus‘, ‚Gängen‘ und ‚Fluren‘ aufhält und zwischendurch „in andere Häuser“ wechselt,18 so dass die Frage nach dem Wohnort im Bericht des Hausvaters mit „unbestimmter Wohnsitz“ beantwortet wird. Durch solche Bildfragmente wird auch die nomadische Heimatlosigkeit ins Spiel gebracht, die den Juden bei Neruda sowie anderen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts stereotypisch zugeschrieben wird. Schließlich fallen in diesem Zusammenhang auch sprachliche Besonderheiten auf: Odradek, dessen Namen einige deutsch und andere slawisch deuten, ist – dem Hausvater nach – weder der einen noch der anderen zuzuordnen, ohne dass ihm für diese sprachliche Heimatlosigkeit eine alternative sprachliche Heimat zugestanden wird. In der Sprache des Hausvaters kann er sich nicht in ganzen Sätzen ausdrücken, selbst seine Stimme wirkt gebrochen 18 Vgl. Parallelen in dem flinken maderähnlichen Tier im Fragment In unserer Synagoge (1922), das bei Frauen Furcht auslöst.

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(Rascheln statt Lachen). Solche geminderte Sprach- und Stimmkraft kennt man auch aus Nerudas oder Demls Texten als ein Teil des Bildes der Juden, während die oben genannten Texte Franz Kafkas der antisemitisch zugespitzte Topos der Absenz der eigenen (menschlichen) Sprache auszeichnet und der sprachlichen und kulturellen (menschlichen) Heimatlosigkeit (Nekula 2011, 2012, 2016a-b). Auch wenn also Kafka in der Erzählung Die Sorge des Hausvaters nicht explizit auf den antisemitischen Diskurs eingeht, werden im Bericht des Hausvaters über eine „flache sternartige Zwirnspule“ doch Figuren des antisemitischen Diskurses abgerufen (Holz 2001: 160f.; Nekula 2011, 2016b). Das trifft an erster Stelle für die paradoxe Identität bzw. für die Absenz einer Identität zu, die Odradek im Bericht des Hausvaters zunächst sprachlich und dann auch physisch verweigert wird. Auch die Umkehrung der Rollen des Täters und des Opfers ließe sich in diesem Sinne deuten: Bevor der Hausvater zum Ich-Erzähler wird, scheint Odradek angesichts seiner „Winzigkeit“ harmlos zu sein und wird daher von „großen“ Vater „wie ein Kind“ behandelt. Der Hausvater – der wohl kein Vater, sondern vielmehr ein ‚Hausherr‘ ist – sagt sogar über Odradek, dass er „ja offenbar niemandem“ schadet. Am Ende ist aber der Hausvater vor Odradek doch besorgt und „die Vorstellung, daß er [= Odradek] [...] [ihn] auch noch überleben sollte, ist [...] [ihm] eine fast schmerzliche“. Die Angst, die der winzige Odradek im großen Hausvater bzw. im Hausherrn auslöst, beruht nach Saße (2003) auf einer geradezu existentiellen Angst vor dem unbegreiflichen, nicht rationalisierbaren Fremden, das dem ‚Hausherrn‘ (der Majorität) im Hause seiner Kultur am Ende überlegen sein und ihn folglich überleben und verdrängen könnte. Eben durch eine solche irrationale Angst zeichnet sich auch der antisemitische Diskurs aus (Frankl 2007, 2011), der den Juden durch den Hinweis auf ihre ‚nomadische‘ Mehrsprachigkeit, die sie die eigene Sprache kostet, die Sprache der ‚heimischen‘ Majorität verweigert und sie dadurch zur Minorität verfremdet und mit einer solchen Verweigerung der menschlichen Sprache und Kultur auch physisch enthumanisiert. In diesem Sinne wäre die radikale Fremdheit des mehrfach hybriden Odradeks, den der Berichterstatter zunächst sprachlich und kulturell außerhalb des Deutschen und Slawischen stellt, um es anschließend auch physisch außerhalb der (menschlichen) Kultur zu stellen, in kritischer Anbindung an den antisemitischen Diskurs lesbar.

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5. Fazit Nimmt man nun die Erzählung Die Sorge des Hausvaters als einen textuellen Raum, in dem zeitgenössische Diskurse mit literarischen Mitteln kritisch verhandelt werden, dann könnte man behaupten, dass die Hybridität Odradeks vom ‚Hausherren‘ negativ (bedrohlich, destruktiv) gesehen und als Akulturalität dargestellt wird. Durch die Abrufung einer solchen radikalen Fremdheit rückt der Bericht des ‚Hausherren‘ ja in die Nähe des antisemitischen Diskurses. Ließe man sich auf eine solche Lesart der Erzählung ein, dann könnte man die Verhandlung der sprachlichen und kulturellen Hybridität, die nach Homi Bhabha in einem Zwischenraum der Kulturen entsteht, auch als einen spezifischen Beitrag zum zeitgenössischen Diskurs verstehen. Während Goldstücker und Binder in Bezug darauf rückblickend die Entweder-OderPosition einnehmen, das sprachlich Hybride entflechten und das Entflochtene auf die jeweilige ethnonationale Kultur zurückverweisen, und während Kafkas Zeitgenossen, wie Max Brod, Otokar Fischer oder Pavel Eisner, in ihrem Handeln von dem Glauben ausgingen, dass mehrsprachige Juden in einem kreativen Grenz- und Zwischenraum des Sowohl-Als-Auch als ‚Brückenbauer‘ zwischen nationalen Sprachkulturen (Nekula/Koschmal 2006), den Deutschen und Slawen (Tschechen) vermitteln können, scheint Kafkas Blick – wie wir sehen konnten – etwas skeptischer. Nicht nur in dem einem analysierten literarischen Text, sondern auch in den anderen herangezogenen Texten, die durch den biographischen Autor verbunden sind, bemüht nämlich sein Autor die Figur des unauflösbaren hybriden Weder-Noch, das in der Majorität die Sorge auslöst und aus der Sicht des radikal verfremdenden Erzählers – des Schusters in Ein altes Blatt oder des Hausvaters in Die Sorge des Hausvaters – zur ungeheuren Last wird. Diese Last verspürend, spricht Kafka im Brief an Max Brod vom Juni 1921 von „der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, [und] der Unmöglichkeit, anders zu schreiben“, wobei man fast „eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen“ könnte, „die Unmöglichkeit zu schreiben“ (Brod/Kafka 1989: 360), in der das Kreative ins Destruktive umschlägt. Darin bewertet Kafka die Kreativität eines mehrsprachigen, deutschschreibenden, westjüdischen Autors, der scheinbar jenseits der ‚eigenen‘ Sprache schreibt und durch eine sprachliche und kulturelle Hybridität charakterisiert wird, äußerst zurückhaltend. Denn angesichts der Sorge der Hausherren überwiegt auch metanarrativ die Sorge.

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Hybridität von Kafkas ‚Odradek‘

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Weinberg, Kurt (1963): Kafkas Dichtungen. Die Travestien des Mythos. Bern, München: Francke. Werner, Renate (2002): Die Sorge des Hausvaters. Ein sprachkritischer Scherz Franz Kafkas. – In: Hemles, Günter (Hg.), Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Tübingen: Narr, 185-212. Žižek, Slavoj [2003] (2005): Die politische Suspension des Ethischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Žižek, Slavoj (2006): The Parallax View. Cambridge/Mass.: MIT Press.

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Büchner – Kafka – Celan: Gespräche im Gebirge. Von der Begegnung mit dem Fremden zur Ethik der Lektüre 1. Vorbemerkungen Der folgende Beitrag geht von einer theoretischen Annahme zum Phänomen der Interkulturalität und einer interpretativen Beobachtung zu einem Text von Franz Kafka aus. Die theoretische Annahme lautet, dass nicht schon Prag selbst oder Böhmen den Raum einer beobachtbaren und in ihren Folgen analysierbaren Interkulturalität darstellt, wenn man lediglich einen ihrer Bewohner fokussiert – namentlich Franz Kafka, dessen Geburtsort und kaum einmal verlassenen Lebensmittelpunkt die Stadt darstellte. Die komplexe Gemengelage verschiedener Nationalkulturen, Religionszugehörigkeiten und Klassenunterschiede, welche die Stadt bot, konnte vom Individuum, das mit dieser Lebenswelt aufgewachsen ist, nicht anders denn als ‚eine‘, nämlich als die eigene, ‚normale‘ Kultur erfahren werden (Cornejo/Weinberg 2016). Mit einem auf eine solche Normalität oder Alltäglichkeit bezogenen Verständnis von Kultur möchte ich mich von einem weiten (Inter-)Kultur-Begriff abgrenzen, der davon ausgeht, dass Erfahrungen „per se interkulturell“ (Leggewie/ Zifonun 2010: 13) strukturiert sind. Gegen diesen Begriff ist einzuwenden, dass die sich nach wie vor ergebende Begegnung mit dem Fremden begrifflich nicht mehr von anderen Begegnungen differenziert werden kann. Zu leugnen, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen Begegnungen mit Menschen aus dem eigenen Kulturkreis und Fremden gibt, mag zwar einem hehren egalitären Ideal folgen, erscheint mir jedoch nicht nur angesichts der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘1 das Wesentliche am Phänomen der Interkulturalität zu verfehlen. Zwar folge auch ich dem interaktionistischen Ansatz, demzufolge Identität und Alterität in derselben Bewegung kulturell hergestellt 1 Gegen die Krisen-Metaphorik im Allgemeinen wurden schon häufiger Einwände gemacht; seine besondere Fragwürdigkeit erhält das Wort meiner Ansicht nach durch die Genitivkonstruktion, welche die Frage verdeckt, von wessen Krise hier eigentlich die Rede ist. Wollte man sagen, dass Flüchtlinge eine Krise erleben, wäre das Wort doch kaum mehr als ein Pleonasmus …

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werden (Leggewie/Zifonun 2010: 12); daraus leitet sich für mich jedoch nur die Notwendigkeit ab, die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu entsubstanzialisieren und zu dynamisieren, nicht aber sie aufzulösen oder auf sie zu verzichten. Für das Denken von Interkulturalität ist es demnach entscheidend, die Spannung auszuhalten, mit der die eigene (noch so komplexe) Kultur Bilder des Fremden produziert, die jede Begegnung mit Repräsentanten einer anderen Kultur präfiguriert, ohne dass sie diese vollständig determiniert (Heimböckel/Weinberg 2014: 130). Historiographische Revisionen und Präzisierungen der klischierten Vorstellung vom ‚dreifachen Ghetto‘ oder der ‚Tripolis‘ Prag sind deshalb zwar generell für die Untersuchung diskursiver Einflüsse in Kafkas Schreiben relevant, lassen in diesem Sinne aber noch kein interkulturelles Phänomen sichtbar werden, insofern sie einen Raum beschreiben, in dem sich für Kafka keine Begegnung mit dem Fremden ergeben kann. Die zentrale Frage des Projekts der Interkulturalität, dem sich dieser Beitrag zugeschrieben sieht, möchte ich so formulieren: Was sind die Modalitäten der Begegnung mit dem Fremden? Um darauf Antworten zu finden, ist, dem skizzierten Gedankengang folgend, zunächst ein Ortswechsel vonnöten. Man muss aber nicht gleich nach Amerika übersetzen oder den Weg zu abgelegenen Schlössern auf sich nehmen,2 auch ein Ausflug ins Gebirge kann schon reichen – „warum denn nicht“ (KKAD 20). Tatsächlich lässt sich in Kafkas kurzem Text die subtile Ausgestaltung einer Begegnung mit dem Fremden erkennen, deren Analyse dabei helfen kann, das Phänomen einer interkulturellen Erfahrung im angedeuteten Sinne zu konturieren.

2. Büchner – Kafka: Niemand als ein Fremder? Kafkas Der Ausflug ins Gebirge wurde schon auf viele Weisen gelesen und innerhalb unterschiedlichster Kontexte gedeutet. Grob lassen sich drei unterschiedliche Arten der Rezeption ausmachen: Lange galt der dem Konvolut der Beschreibung eines Kampfes entnommene und zuerst im Rahmen der Betrachtung 2 Mit Blick auf den Aspekt der imaginären Fremdwahrnehmung hat Schenk (2012) bereits eine überzeugende Analyse vorgelegt, in der er die in den Romanen Der Verschollene und Das Schloss figurierten Begegnungen der Protagonisten mit Figuren aus anderen Kulturkreisen untersucht und mit Kafkas Aufzeichnungen zum eigenen Milieu verschränkt hat.

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veröffentlichte Text (Kurz 1994) einfach als fadenscheinige Selbstbeschreibung des einsamen Schriftstellers. Von dem dort beschriebenen Ausflug wurde gesagt, er drücke eine „verzweifelte Einsamkeit“ (Jagow 2008: 405) oder auch eine „universelle Beziehungslosigkeit“ (Neymeyr 2010: 117) aus. Eine andere Art der Interpretation wurde dagegen von Hans-Thies Lehmanns einschlägiger Behauptung eingeleitet, der Text sei lediglich als „eine kaum verhüllte Allegorie der Buchstaben“ (Lehmann 1984: 216; Herv. i.O.) zu verstehen, die er aus der Identifikation der ‚klanglosen Sprache‘ der Erzählung mit Schrift folgerte.3 Nachdem diese Behauptung in der Forschung größeren Anklang gefunden hatte, verschob sich die Aufmerksamkeit auf den Text, die nun vor allem der Frage galt, welche Effekte Kafkas Verfahren hat, Selbstverständlichkeit zwar zu inszenieren (Kurz 1994: 59; Neymeyr 2010: 114), dabei aber, wie Lehmann gesagt hatte, einen „Entzug der Referenz“4 zu bewirken (Göttsche 2010: 30; Nitschke 2014: 156). Ein dritter Strang an Deutungen schließlich ergibt sich mit den Beiträgen, die eine intertextuelle Referenzialität des Textes herausarbeiteten. Steter Orientierungspunkt war dabei das bemerkenswerte Idiom „niemand“, das der Text variiert. Tatsächlich hat das Spiel zwischen Namen und Indefinitpronomen, das sich mit dem Wort „N/niemand“ eröffnen lässt, eine lange und keineswegs geradlinige Tradition (Fricke 1998). Zu überlegen, ob und inwiefern Kafka sich in diese Tradition eingeschrieben hat, scheint mir dabei auch in einer vom Interkulturalitätsprojekt gerahmten Auseinandersetzung mit dem Ausflug ins Gebirge als sehr vielversprechend.5 3 Tatsächlich lässt sich das kurze Syntagma, das die wörtliche Rede des Textes unterbricht, auch ganz anders verstehen. Endres weist darauf hin, dass der Ruf eben nicht ‚lautlos‘, sondern ‚ohne Klang‘ ist, also nicht-ästhetisch statt nicht-hörbar (Endres 2013: 88). Driscoll (2013: 77) dagegen macht darauf aufmerksam, dass das Zitat von etwas Klanglosem nicht wiederum klanglos sein müsse, mithin eine Prosopopöie vorliegt. 4 „Kafkas Schreiben gehorcht einem Gesetz, das man als Entzug der Referenz begreifen muß. Der Text macht sich einen Spaß daraus (der zugleich Verzweiflung ist), einen von den Buchstaben evozierten Gegenstand nicht etwa darzustellen, sondern im Fortschreiten der Sätze zu demontieren. Auf diese Weise konzentriert Kafkas Text alle Energie und Aufmerksamkeit auf die Sprachbewegung, die diesen Abbau und diesen Entzug der Referenz bewerkstelligt. Denn es ist ja mit dem Gegenstand nicht etwa die Rede von ihm geschwunden. Der Text behält alle äußerlichen Merkmale einer ‚sachlichen‘, gegenstandsbezogenen Erörterung bei, während die ‚Sache‘ selbst, der referentielle Bezug, entgleitet.“ (Lehmann 1984: 214). 5 Auch Fricke geht kurz auf Kafka und den Ausflug ins Gebirge ein, hebt hier im Wesentlichen aber nur die, zuvor schon an der bekannteren Niemand-Passage des Jäger Gracchus-Konvoluts explizierte, rhetorische Bewegung einer semantischen Verschiebung ohne Endpunkt hervor, die vom Indefinitpronomen über den Namen schließlich zum Personalpronomen

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Schon wenn man einen intertextuellen Bezug auf Homers Odyssee hervorhebt – wie er häufiger ausgeführt wurde –,6 stellt sich eine Verbindung zwischen Kafkas Text und einer Szene her, wo es um die Begegnung von einander Fremden geht, genauer: einer Szene ausbleibender Gastfreundschaft.7 Angesichts dieses Hintergrundes sollte man es nicht nur als paronomastisches Namensspiel und Finte des cleveren Odysseus gegen den einfältigen Polyphem verstehen, wenn er sich diesem gegenüber als „Niemand“ ausgibt. Verbirgt sich hinter dem „Niemand“ nicht noch mehr als nur ein „lebensrettende[s] Wortspiel“ (Zielińska 2013: 62), nämlich der buchstäbliche Ausdruck der Fremdheit, also die Unbestimmbarkeit als Person? Diese Frage wird mich im Folgenden leiten. Überblickt man ihre jüngere Rezeptionsgeschichte, zeigt sich, dass Kafkas Erzählung schon die verschiedensten Prätexte vorgegeben wurden. Neben Homers Odyssee wurden auch Ovids Metamorphosen (Driscoll 2013) und Nietzsches Also sprach Zarathustra (Wagner 2014: 96) in Stellung gebracht, um die vermeintliche Absurdität des Textes aufzulösen. Ich möchte diese Reihe hier um einen weiteren plausibel erscheinenden Prätext ergänzen. Dass Kafka auch Büchner gut kannte (Schmitz-Emans 2008: 281), macht es vielleicht nicht zu abwegig, von Kafkas Prosastück ausgehend an einen anderen sehr bekannten Text zu denken, der auch schon einen Ausflug, einen ‚Gang ins Gebirge‘ beschrieb.8

‚wir‘ führt. Auffällig ist indes, dass Fricke es zum einen bei diesem formalen Analyseergebnis anstelle einer Interpretation belässt, und dass er zum anderen die ganze Erzählung – allerdings in einer Variante, die verschiedene Fassungen amalgamiert – mit Ausnahme der letzten beiden kurzen Sätze zitiert. (Fricke 1998: 234-240) 6 Als erstes erwähnt wiederum Lehmann den „locus classicus für das Witzspiel mit dem ‚Namen‘ Niemand“, findet diesen Verweis aber „nicht notwendig“ (Lehmann 1984: 116). Detailliert und ziemlich elaboriert geht zuerst Strowick auf diese Referenz ein (2004). Kritisch nimmt darauf Krings Bezug (2013: 166, Anm. 27); affirmativ dagegen Zielińska, die Strowicks Lesart um die These ergänzt, Kafka habe sich nicht nur mit Homer, sondern auch mit Theokrits Idylle Der Kyklop auseinandergesetzt und „amalgamiere“ mithin in Der Ausflug ins Gebirge „zwei in der Antike kategorial getrennte Szenen aus dem Leben des Kyklopen“ (Zielińska 2013: 67). 7 Ausführlich zur Polyphem-Passage der Odyssee und dem Niemand-Spiel bei Homer äußert sich Fricke (1998: 47-61). 8 Wie gut Kafka Büchners Texte allerdings kannte – und ab wann –, darüber lässt sich nur spekulieren. Kafkas Tagebucheintrag, den Schmitz-Emans ihrer Einschätzung zugrunde legt, ist auf den 12. August 1912 datiert und macht die Bekanntschaft mit Büchner nicht unbedingt evident: „Unaufhörlich Lenz gelesen und mir aus ihm – so steht es mit mir – Besinnung geholt.“ (KKAT 432).

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Die interessante inhaltliche Parallele, auf die ich aufmerksam machen will, ergibt sich dabei weniger angesichts von Lenz’ zum Wahn gesteigerter Einsamkeit, die gewiss auch eines der Grundmotive von Büchners Erzählung bildet (Büchner 1992: 226, 247), sondern, im Gegenteil, hinsichtlich der kurzweiligen Rekonvaleszenz, die den Dichter im Hause Oberlins ereilt, wo „alles wohltätig und beruhigend auf ihn [wirkte]“ (Büchner 1992: 229). Lenz’ Genesung währt, wie man weiß, nicht allzu lange. Tatsächlich lässt sich sogar sehr genau angeben, wann sie ihre erste Zäsur empfängt. Vor der berühmten, als „Kunstgespräch“ bekannten Passage des Textes heißt es bei Büchner: Um diese Zeit kam Kaufmann mit seiner Braut in’s Steintal. Lenzen war Anfangs das Zusammentreffen unangenehm, er hatte sich so ein Plätzchen zurechtgemacht, das bißchen Ruhe war ihm so kostbar und jetzt kam ihm Jemand entgegen, der ihn an so vieles erinnerte, mit dem er sprechen, reden mußte, der seine Verhältnisse kannte. Oberlin wußte von Allem nichts; er hatte ihn aufgenommen, gepflegt; er sah es als eine Schickung Gottes, der den Unglücklichen ihm zugesandt hätte, er liebte ihn herzlich. Auch war es Alles notwendig, daß er da war, er gehörte zu ihnen, als wäre er schon längst da, und Niemand frug, woher er gekommen und wohin er gehen werde. (Büchner 1992: 233)

‚Jemand‘ erinnerte ihn, Lenz, an so vieles; mit Jemand, nämlich Kaufmann, der seine Verhältnisse kannte, musste er sprechen; ‚Niemand‘ dagegen „frug, woher er gekommen und wohin er gehen werde.“ – Sicherlich ist Oberlins Gastfreundschaft außerordentlich: „‚Sein Sie mir willkommen, obschon Sie mir unbekannt.‘“ (Büchner 1992: 227) waren seine ersten, an Lenz gerichteten Worte. Trotzdem steht sehr zu bezweifeln, dass es sich hier, im Sinne Derridas (2001: 24f.), um ein Beispiel für „unbedingte Gastfreundschaft“ handelt, und dass Lenz wirklich nicht gefragt wurde, woher er kam. Zumindest fängt er, nachdem man ihn nach seinem Namen gefragt hatte, „an zu erzählen, von seiner Heimat“ (Büchner 1992: 227).9 Dass das in der Erzählung stets großgeschriebene „Niemand“ auch schon bei Büchner keineswegs nur im geläufigen Sinn als Indefinitpronomen Verwendung findet und dass mithin der Zweifel, ob ihn wirklich niemand nach seiner Herkunft fragte, berechtigt ist, macht sodann eine andere Textstelle evident:

9 Die erzählerische Raffinesse dieser Passage liegt darin, dass der für Lenz noch unvertraute Ort, Oberlins Haus, aufgrund der insgesamt für die Erzählung so charakteristischen und die Trennung von Protagonist und Erzähler beständig unterlaufenden Verwendung der erlebten Rede mit Lenz’ Zuhause zur Deckung kommt: „Er fing an zu erzählen, von seiner Heimat; er zeichnete allerhand Trachten, man drängte sich teilnehmend um ihn, er war gleich zu Haus […].“ (Büchner 1992: 227)

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Er [Lenz] bat Oberlin, ihm den Arm zu ziehen, er hätte ihn verrenkt, er hätte sich zum Fenster heruntergestürzt, weil es aber Niemand gesehen, wollte er es auch Niemand sagen. (Büchner 1992: 245)

Indem er gerade dies Oberlin sagt, muss dieser klarerweise zur Identifikationsfigur des „Niemand“ werden. Meine Lesart lässt sich mit weiteren Textstellen belegen, die zweierlei zeigen, zum einen: Dass Niemand da ist, bedeutet in der Erzählung nicht, „allein“ zu sein; allein zu sein ist ein Zustand, der von Lenz stets als entsetzlich erlebt wird (Büchner 1992: 247); zum anderen: Während „Niemand“ stets positiv assoziiert ist, erfährt das Wort „Jemand“ bei all seinen Auftritten negative Konnotationen (Büchner 1992: 248, 250). In Büchners Erzählung also taucht das Wort „Niemand“ immer nur in solcher Weise auf, dass es weniger die Abwesenheit von Personen als vielmehr deren Unbekanntheit artikuliert. Dieses Verständnis wird durch die topographische Strukturierung der Erzählung natürlich unterstützt: Lenz’ Gang durchs Gebirge hat ihn in eine Fremde gebracht, die ihm bemerkenswerterweise nur solange als Erholungsort dient, bis sie vom ‚bekannten‘ Eindringling Kaufmann gestört wird.10 Diese Störung führt zur Entfaltung des mit Blick auf Kafka besonders signifikanten Vatermotives in der Erzählung: Nach dem Essen nahm ihn Kaufmann bei Seite. Er hatte Briefe von Lenzens Vater erhalten, sein Sohn sollte zurück, ihn unterstützen. Kaufmann sagte ihm, wie er sein Leben hier verschleudre, unnütz verliere, er solle sich ein Ziel stecken und dergleichen mehr. Lenz fuhr ihn an: Hier weg, weg! Nach Haus? Toll werden dort? (Büchner 1992: 236)

Nach diesen Zeichen seiner Entrüstung setzt Lenz erklärend hinzu, dass er zu Hause nicht leben könne: Du weißt, ich kann es nirgends aushalten, als da herum, in der Gegend, wenn ich nicht manchmal auf einen Berg könnte und die Gegend sehen könnte; und dann wieder herunter in’s Haus, durch den Garten gehen, und zum Fenster hineinsehen. Ich würde toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe! Nur ein bißchen Ruhe, jetzt wo es mir ein wenig wohl wird! (Büchner 1992: 236)

10 Man mag einwenden, dass Waldbach zwar nicht Lenz’ Heimat sei, deswegen aber doch auch nicht als Fremde gelten kann. Fasst man Kultur in einem allgemeinen Sinne auf als die „Gewohnheiten des Denkens, Handelns, Fühlens und Kommunizierens, die in einer Gesellschaft gegeben sind“ (Dieter Flader, mdl. Mitt.), sollte allerdings einsichtig werden, dass die Erfahrung von Fremdheit die verschiedensten Graduationen kennt und dass es auf die ‚feinen Unterschiede‘ beim grundlegenden Phänomen nicht ankommt. Auch in Waldbach findet sich dafür ein passendes Beispiel: Lenz artikuliert seine Fremdheit hier durch die Vortäuschung eines Rituals, als er den Leuten, die sein Sprung in den Brunnstein verstörte, erklärt, er sei gewohnt, kalt zu baden (Büchner 1992: 228). Die Behauptung einer fremden Sitte beruhigt in diesem Fall also sein Schamgefühl.

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Eskapismus? Vielleicht. Ich denke jedoch, man sollte dieser mit dem Bekenntnis zur ewigen Wanderschaft – „ich bin der ewige Jude.“ (Büchner 1992: 243) – verbundenen Abwertung des eigenen Zuhauses einen besseren Stellenwert geben. Büchner formuliert sie auch in einem Brief an seinen Freund August Stöber vom 9.12.1833: „Manchmal fühle ich ein wahres Heimweh nach Euren Bergen“ (Poschmann 1992: 817). Mir scheint, dass Kafka sowohl das Idiom „Niemand“ als auch das Gebirge im Sinne Büchners, d. h. als exemplarischen liminalen Raum, aus der Erzählung Lenz aufgegriffen hat, um damit nicht etwa eine absurde Welterfahrung, eine entfremdete Kultur des Tourismus (Bohm 2003: 105) oder das Erlebnis von Einsamkeit zu artikulieren, sondern um eine bestimmte Begegnung mit dem Fremden zu reflektieren. Das Niemand-Motiv wäre dabei nicht so wichtig, wenn es nicht auch schon bei Büchner mit poetologischer Signifikanz aufträte: Ähnlich wie im Woyzeck bearbeitet Büchner in Lenz ein historisches tendenziöses Urteil in der Weise, dass es den Lesenden überantwortet bleibt, eine Schuldfrage (bzw. genauer: die Bedingungen der Entstehung einer psychischen Krankheit) einzuschätzen. Das Charakterbild, das vor allem Goethe, aber auch Tieck von Lenz vermittelt hatten, war „ein zwiespältiges, anstoßendes und zugleich abstoßendes“ (Poschmann 1992: 800), das Büchner und vor ihm sein Freund Stöber hinterfragen wollten. Wenn Büchner den vermeintlich offenbaren Grund für Lenz’ Wahnsinn zerstreut, indem er die Vorgeschichte seiner Figur tilgt, macht er „die streng auf beobachtete Einzelheiten gestützte Darstellung des schizophrenen Prozesses um so deutungsoffener.“ (Poschmann 1992: 814) Nicht nur Lenz also begegnet in seinem Treffen mit Niemand dem Fremden, sondern auch die Lesenden der Erzählung, insofern das Vorwissen, das zur Entstehungszeit des Textes über den Dichter kursierte, von Büchner als ungesichertes aus- und zurückgewiesen wird. Was bedeutet es nun, dass Kafkas Text, so die These, eine intertextuelle Referenzialität zu dem Büchners eröffnet? Zunächst nur, dass Kafka zitiert. Die schon mehrfach von der Forschung herausgestellten, an ein Echo erinnernden Wiederholungsstrukturen seines Textes (Zielińska 2013: 64; Strowick 2004: 573) passen dabei zu dessen Zitathaftigkeit. (Welches Echo wäre schließlich kein Zitat?) Die Szenerie des Gebirges, in der es ja wirklich hallt, hat als Echokammer also auch im übertragenen Sinne einen Bezug zur Form der Erzählung. Kafkas Text insgesamt ließe sich in diesem Sinn als eine Art Resonanzraum von dem Büchners verstehen. Was vormals ‚ohne Klang‘ verhallte, wird hier verstärkt, nämlich der absolut positive Charakter von Lenz’ interkultureller

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Erfahrung: seine Rekonvaleszenz bewirkende Begegnung mit Niemand. Mithin transportiert sich in Kafkas Text der Gedanke, dass es Unrecht ist, dass Kaufmann Lenz nicht bei dem Fremden lassen wollte, den seine Herkunft und vor allem seine Ziele nichts angingen, und stattdessen das Gesetz des Vaters in Form seiner Briefe zu ihm durchstellte.11 Beschwört also Kafkas Text gegen die angestammten Pflichten nicht geradezu die zunehmende Unbeschwertheit dieses Ausflugs mit einer Gesellschaft von lauter Niemand? Noch in einem weiteren Sinn ist hier ein Echo hörbar. Es erklingt in der für die Ausgabe der Betrachtung gestrichenen Parabase der frühen Fassung deutlich: „[…] ich würde ganz gerne, (‚was sagen Sie dazu?‘) einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter niemand machen.“ (Kafka 1996: 58f.; Herv. S. L.) Zwar ist das „warum denn nicht“ (KKAD 20) der letzten Fassung im Vergleich dazu ambivalenter und kann ebenso dem Leser des Textes wie auch dem „Erzähler selbst [gelten], der sich rechtfertigend auf seine Motivation hin befragt“ (Endres 2014: 94); auch hier aber bleibt ein dialogisches Moment bewahrt. Ähnlich wie bei Büchner, könnte man meinen, sind die Lesenden adressiert, selbst zu urteilen. Die parallelisierten Fragen „warum denn nicht“ und „wohin denn sonst?“ (KKAD 20) fordern, liest man sie nicht als Selbstverständlichkeit inszenierende rhetorische Fragen, Rechtfertigung von den Lesenden und provozieren die Revision möglicherweise langgefasster Meinungen.

3. Büchner – Kafka – Celan: Begegnungen von Fremden Aber man darf nicht zu weit gehen. Man würde sonst dem Niemand-Spiel in seiner klassischsten Form auf den Leim gehen, dessen sprachlogische Struktur sich, Fricke zufolge, schließlich so verstehen lässt, dass ungerechtfertigterweise von sämtlichen ausgeschlossenen Personen auf genau eine geschlossen wird (Fricke 1998: 60, 23-46). Wer aus Polyphems Unglück etwas gelernt hat, dem darf es, könnte man folgern, auf die einzelne intertextuelle Referenz, die jeweils nach dem Muster verfährt, den ‚Niemand‘ aus Kafkas Text mit dem eines Prätextes zu identifizieren, darum nicht ankommen. Dass es verschie11 Es sei daran erinnert, dass in der Betrachtung ein Text namens Der Kaufmann mit nur kurzem Abstand auf den Ausflug ins Gebirge folgt, in dem sich eine gleichnamig-namenslose Figur mit paranoidem Eifer auf Geschäftliches konzentriert.

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dene Möglichkeiten gibt, Kafkas Ausflug mit intertextueller Referenzialität auszustatten, gibt stattdessen zu bedenken, dass man auch in der Begegnung mit diesem Text, die gewiss auch eine Art von Begegnung mit Kafka ist, die Fragen stellen sollte, die sich gerade in der konkretisierenden Lektüre ergaben: Sind die eigenen Vorurteile, das Wissen über Kafka und Büchner bzw. Lenz wirklich gerechtfertigt? Und ist es legitim, den Text aus seiner Fremde zu lösen, um ihn ins Bekannte zurückzuholen? Schreibt man dann nicht einen ‚Niemand‘ zu einem ‚Jemand‘ um? Es scheint so, als führten diese die Begegnung mit dem Fremden betreffenden Fragen, die der Text bereithält, paradoxerweise zu der Notwendigkeit, ihren Ursprung durchzustreichen, nämlich die den ‚Niemand‘ identifizierende intertextuelle Referenzialität. Kafkas Niemand kann also nicht der Niemand aus Büchners Lenz sein – genauso wenig wie er darin aufgeht, ein Wiedergänger Odysseus’ oder Zarathustras zu sein. Solche Identifizierungen würden die auch kulturellen Grenzen, die zwischen den Texten verlaufen, anstelle sie in der Sache der Deutung zu überwinden, tatsächlich nur überdecken. Wie man aber weiß – und es ist dieser Punkt mit dem jede auf eine bestimmte Intertextualität gestützte Lesart ihre größten Schwierigkeiten hat –, geht es bei Kafka auch gar nicht um einen einzelnen Niemand, sondern um ‚niemand und Niemand‘, einmal klein-, einmal großgeschrieben, es geht um einen Plural – oder besser: Aus dem einzelnen ‚n/Niemand‘ werden viele in seinem Text: „lauter niemand“, eine „Gesellschaft von lauter Niemand“ (KKAD 20). Von „niemand und Niemand“ (Celan 1983a: 171) ist auch noch in einem anderen Gebirgstext die Rede. Paul Celan ließ im August 1959 in seiner einzigen Erzählung Gespräch im Gebirg12 bekanntlich einen Menschen auftreten, der, „wie Lenz, durchs Gebirg [ging]“ (Celan 1983a: 169). Tatsächlich weist dieser Text aber nicht nur die offenliegende Verbindung zu Büchners Erzählung auf, sondern unterhält auch eine „enge Beziehung“ zu Kafkas Ausflug – aufgrund des Titels, einigen Details in der Ausführung und der biographischen Tatsache, dass Celan Kafkas Text 1946 ins Rumänische übertragen hatte (Fricke 1998: 369).13 12 Auch das Gespräch im Gebirg wurde mit vielen Deutungen versehen. Celans Biograph Felstiner meint, es könne sich auf die Flucht Celans aus Rumänien 1947 beziehen (Felstiner 1997: 81). Deutungen jüngeren Datums erkennen in der im Text beschriebenen Begegnung dagegen meist die Imagination eines verpassten Treffens zwischen Celan und Adorno (Sieber 2007). 13 Das Niemand-Spiel Celans versteht Fricke unter Rückbeziehung auf seine Wurzeln bei Kafka (sowie bei Mandel’štam und Picasso). Neben dem Gespräch im Gebirg deutet er die

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Zwei Punkte an Celans Erzählung möchte ich hier hervorheben. Erstens: Celan imaginiert hier die zwei Jahre später in der Büchnerpreis-Rede Der Meridian von ihm poetologisch konzeptualisierte Möglichkeit einer Begegnung unter den Bedingungen von Fremdheit. In Celans Meridian, der übrigens, neben der für die Gattung der Darmstädter Preisreden quasi obligatorischen Auseinandersetzung mit Büchner, ebenfalls auf Kafka Bezug nimmt, heißt es zum Topos der Fremdheit: Vielleicht – ich frage nur –, vielleicht geht die Dichtung, wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu jenem Unheimlichen und Fremden, und setzt sich – doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? – wieder frei? […] Finden wir jetzt vielleicht den Ort, wo das Fremde war, den Ort, wo die Person sich freizusetzen vermochte, als ein – befremdetes – Ich? (Celan 1983b: 193, 195)

Zweitens: Diese Begegnung unter der Bedingung von Fremdheit wird von Celan mithilfe der subtilen intertextuellen Konstellation ausgeführt, in die er die beiden Texte von Büchner und Kafka setzt. Dabei sei am Rande vermerkt, dass wohl auch noch Martin Buber in dieser Konstellation auftaucht, dessen Gespräch in den Bergen das Wunder des Nicht-Singens bei Kafka erhellen könnte.14 Celans Gespräch im Gebirg lässt all diese Stimmen anklingen und nimmt deren gemeinsamer Situierung im Gebirge ihre Zufälligkeit. betreffenden Stellen in einigen Gedichten. Seiner Interpretation zufolge gehe es Celan in diesen Texten darum, „die Verläßlichkeit von Sprache über das Risiko der Negation eines Ansprechpartners hinweg zu zerbrechen, in diesem Zerbrechen aber eine Perspektive aufscheinen zu lassen, so absurd diese auch aussehen mag“. Entsprechend deutet er das Niemand-Spiel bei ihm als poetologische, auf ein Du bezogene Geste. Celans Dichtung ziele also auf niemanden, könnte trotzdem aber jemand ansprechen (Fricke 1998: 401, 358, 365, 368). Felstiner macht in Bezug auf den Ausflug ebenfalls Beziehungen zu Celan deutlich: „Neben semantischen Brücken zu Celans Gespräch, das Gott einen ‚Niemand‘ nennt und eine Sprache ‚aus lauter Es‘ beklagt, erinnert Kafkas Ton […] ein klein wenig an die Stimme des geschwätzigen Juden Klein.“ (Felstiner 1997: 189, zur Übersetzung Celans: 75). Auch im Celan-Handbuch wird angedeutet, dass es sich beim Ausflug um einen Referenztext von Gespräch im Gebirge handele, gleichwohl es eine „diskrete Vielfalt intertextueller Verweise“ gebe (May 2012: 145, 148). – Ich danke Thomas Schneider für seine Hinweise im Anschluss an meinen Vortrag, der zurecht daran erinnert hat, dass das Wort ‚niemand‘ bei Celan auch noch ganz andere Konnotationen hat, wie sie etwa in Psalm deutlicher hervortreten. Um mich nicht zu weit von Kafka zu entfernen, will ich die Thematik der Shoah, die mit diesem Wort in Celans Lyrik ebenfalls anklingt, hier jedoch außen vor lassen. 14 Bei Buber, den Kafka zur wahrscheinlichen Entstehungszeit des Ausflugs bereits von seiner berühmten Prager Rede kannte, heißt es zum Ende dieses im Juli 1912 vollendeten Gesprächs: „Die Richtung aber ist die Notwendigkeit der Seele. Und ihr möchte ich hier, zwischen den Felsen stehend, da mein Leib meiner Seele selig ist, weil ihre Richtung sich in seiner Richtung spiegelt, ein Preislied singen – wenn ich es zustande brächte. Aber sie

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Was also sagt Celan in seiner Erzählung über Fremdheit? Der „Jud“, von dem Celan hier spricht, ist alleine wie Lenz, und doch nicht einsam, sondern begleitet von seinem Namen, „hörst du mich, du hörst mich, ich bins, ich, ich und der, den du hörst, zu hören vermeinst, ich und der andere“. Er „ging im Schatten, dem eignen und dem fremden.“ Schon bevor dieser Jud also auf einen zweiten trifft, „sein Vetter und Geschwisterkind“ (Celan 1983a: 169), wird von Celan eine Begegnung im Gehör und in den Blicken der Anderen figuriert. Der Jud, der nichts Eignes hat – so greift Celan das Klischee des Pfandleihers auf –, ist immer von Fremdem umgeben. Diese Eigenschaft wird potenziert durch den Raum des Gebirges, in dem die beiden Juden zu Beginn ihres Gesprächs ebenfalls eine Fremdheit entdecken: „‚Bist gekommen von weit, bist gekommen hierher…‘ ‚Bin ich. Bin ich gekommen wie du.‘“ (Celan 1983a: 170) Schließlich übertragen sie die Einsicht in die eigene „Befremdetheit“ noch auf die Sprache, die ihnen die Möglichkeit zu verwehren scheint, eine Subjektivität zu artikulieren: „‚eine Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du, lauter Er, lauter Es, verstehst du, lauter Sie, und nichts als das.‘“ (Celan 1983a: 171) Celans Text exponiert also eine dreifache Fremdheit: Fremdheit gegenüber Dingen, Fremdheit im Gebirge und Fremdheit in der Sprache. Die beiden Juden, in der Folge ihrer Rede schnell ununterscheidbar geworden, zeigen sich als Unerreichbare, in ihrer Eigenheit nicht Berührbare, von jeder Identifizierung Befremdete. Dennoch zeigen sie sich, zeigen sich als Nicht-Wiedererkennbare, zeigen sich – und eben hier wird ein Dialog mit Kafkas Gebirgstext neben dem Büchners eröffnet – als ‚niemand‘. Sie führen ein Gespräch „und wer spricht, Geschwisterkind, der redet zu niemand, der spricht, weil niemand ihn hört, niemand und Niemand […]“ (Celan 1983a: 171). Nachdem Celan im Meridian sagte, er hätte „vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung im Engadin […] eine kleine Geschichte zu Papier [gebracht], in der [er] einen Menschen ‚wie Lenz’ durchs Gebirg gehen ließ“ (Celan 1983b: 201), schien für die Rezeption geklärt, dass es sich bei dem „Geschwisterkind“ um Adorno handelte, den Celan auf Vermittlung läßt sich ja nur in Taten, nicht in Worten sagen, und sie erkundet sich nur durch ihr Werk […].“ (Buber 2001: 190) Zu Bubers Reden im Prager Kreis vergleiche Wehr (2010: 8894). Im Übrigen charakterisiert Buber auch den Menschen, der sein „dialogisches Prinzip“ verinnerlicht hat, als einen, der selbst alleine im Gebirge nicht ohne Anderen sei: „Der dialogisch Lebende bekommt da, im gewohnten Ablauf der Stunden, etwas gesagt und fühlt sich um Erwiderung angegangen; aber auch in der großen Ausgespartheit einer begleiterlosen Gebirgswanderung etwa verläßt ihn das metamorphosenreiche Gegenüber nicht.“ (Buber 2001: 168)

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Szondis im Sommer 1959 sehen sollte. Ist es aber wirklich ohne Zweifel, dass Celan in Adorno, der den Namen seines jüdischen Vaters bekanntlich schon in der amerikanischen Emigration abgelegt hatte, ein „Geschwisterkind“ sah? Ließe sich nicht noch an einen anderen Juden denken, der als „Geschwisterkind“ hier apostrophiert ist und der, wie es im Celan-Handbuch heißt, einen „identische[n] Erlebnishorizont hatte“ und neben der Spracherfahrung auch die „Namensbewusstheit“ mit Celan teilte (Elm 2012: 321f.), der darüber hinaus, wie Celan wusste, fast denselben Nachnamen wie er trug?15 „Über einen gemeinsamen jüdischen Namen mit deutschem Ursprung entwirft Celan“, wie Liska bereits ausführlich gezeigt hat, immer wieder in seinem Werk zwischen sich und Kafka einen Meridian, jene durch Celans Büchnerpreis-Rede berühmt gewordene ebenso topographische wie utopische Verbindung, die eine ganz aus Sprache und Schicksal bestehende Begegnung heraufruft. (Liska 2006: 211)16

4. Utopien unbedingter Toleranz Celans so häufig „bekräftigtes Interesse an ‚Gespräch‘, ‚Begegnung‘ und Dialog“ (Elm 2012: 320), ja seine „Poetik des Dialogs“ (Fassbind 1995) findet an dieser Stelle einen vorzüglichen Ausdruck: Neben dem Gespräch der beiden Juden auf diegetischer Ebene und der intertextuellen Begegnung der Gebirgs15 „Kafkas letzter Tagebucheintrag (12. Juni 1923), über die Angst des Schreibens, endet mit den Worten: ‚Auch du hast Waffen.‘ Celans Gedicht Vom Anblick der Amseln, das mit dem hebräischen Namen Kafkas spielt, sagt: ‚Vom Anblick der Amseln […] versprach ich mir Waffen.‘ Am 25. Dezember 1911 schrieb Kafka in sein Tagebuch: ‚Ich heiße hebräisch Anschel.‘ Celan spielt hier auch mit seinem eigenen Taufnamen Antschel.“ (Felstiner 1997: 291 [Anm. 31, 408]; KKAT 318) 16 Gestützt auf die Anstreichungen Celans in seinen Kafka-Ausgaben macht Liska die von Celan entworfenen Begegnungen mit Kafka in seinen Gedichten Vom Anblick der Amseln; Ars Poetica 62; Von der Orchis her; In Prag; Frankfurt, September; Sprüchlein-deutsch sichtbar. Eine inzwischen weitgehend veraltete Vorarbeit zu Liskas Aufsatz hatte zuvor Sparr vorgelegt, der aus „Mangel an faktischem Wissen“ nur in einem einzigen Gedicht Celans exogene Spuren seiner Aufnahme Kafkas nachweisen konnte (nämlich in Frankfurt, September) und die „Konstellation“ Celan–Kafka mit darüber hinaus nur recht allgemeinen und z.T. spekulativen Beobachtungen versah, wie denjenigen, dass Celan zwei „semantische Konstruktionsprinzipien“, semantische Vakanz und Inversion, von Kafka gelernt habe (Sparr 1988: 140, 139, 150ff.).

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texte eröffnet sich hier ein Dialog mit poetologischer Dimension. In der lesbar gemachten Ansprache Kafkas – „und wer spricht, Geschwisterkind, der redet zu niemand, der spricht, weil niemand ihn hört, niemand und Niemand […]“ (Celan 1983a: 171) – werden „lauter n/Niemand“ als Adressaten von Sprache überhaupt figuriert, Unbekannte und Fremde, die in einer Bewegung nicht aufgehender, niemals abzuschließender sprachlicher Identifizierung noch einen Raum finden können, in dem sie, nicht auf Bekanntes reduziert, eine gewisse Befreiung erfahren. Es bleibt noch auf den Status des Gesagten in diesen Gesprächen im Gebirge hinzuweisen. Celans „Gespräch“ wird vom Text schließlich zurückgenommen: „– ich hier, ich; ich, der ich dir all das sagen kann, sagen hätt können; der ich dirs nicht sag und nicht gesagt hab […].“ (Celan 1983a, 173). Diese Zurücknahme lässt sich in Analogie zu Kafkas Konjunktiv sehen: „Ich ‚würde‘ ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen.“ (KKAD 20; Herv. S. L.) Beide wiederum – denen im Übrigen Büchners Erzählung noch als Fragment erscheinen musste – greifen den Wahnsinn von Lenz auf, der seine tatsächliche Begegnung mit Niemand infrage stellen muss. Was sich in diesen Gesten der Unsicherheit (Gesprächsrücknahme, Konjunktiv, Wahnsinn) meiner Ansicht nach zeigt, ist das jeweilige utopische Moment in der Vorstellung einer unbedingten Toleranz – Toleranz verstanden als Anerkennung des Anderen als Anderen. Kafkas Text enthält so gesehen, mit Blick auf den Büchners und sichtbar gemacht durch den Celans, etwas von dem Blanchot’schen Traum einer Gemeinschaft, deren Mitglieder sich Fremde bleiben (Blanchot 2007). „[O]hne Klang“ (KKAD 1994) etwas zu rufen, bedeutet auch, mit einer Stimme zu sprechen, die vom Anderen letztlich nicht bestimmt werden kann. Sich einzugestehen, dass jede Bestimmung des Fremden, die das Vokabular der eigenen Kultur einem anbietet, notwendig zu kurz griffe, heißt das nicht, jene eingangs angedeutete Spannung auszuhalten, in der jede dieser Begegnungen zwar durch die eigenen Bilder des Fremden präfiguriert, nicht aber determiniert wird? Sich einer grundlegenden Fremdheit gewahr zu werden, befreit einen von dem Zwang einer abschließenden Identifizierung. So kann man gewiss nicht so tun, als wäre Kafka ein Fremder; aber man kann versuchen, das vorhandene Vorwissen, die vorhandenen Vorurteile die Begegnung mit ihm und seinem Werk nicht vollständig bestimmen zu lassen.

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5. Ausblick auf eine Ethik der Lektüre Ich möchte abschließend noch versuchen, eine Perspektive aufzuzeigen, wie sich die Schlüsse dieser vom Interkulturalitätsprojekt ausgehenden Lektüre verallgemeinern ließen. Damit soll zumindest angedeutet werden, wie das, was soeben als Möglichkeit in Bezug auf einen konkreten Autor formuliert wurde, generalisiert werden könnte. Wer über Interkulturalität nachdenkt, hat es mit der Vermischung und Erschütterung von Eigenem und Fremden zu tun; aber auch, dialektisch, mit deren wechselseitiger Konstitution. Die Begegnung mit dem Fremden wird einerseits, soll sie sich als offene verstehen, an der Sicherheit der eigenen Anschauungen rütteln; andererseits verleiht sie der eigenen Kultur durch die Ermöglichung von Differenzen zu anderen Kulturen Stabilität. Charakterisiert man die interkulturelle Begegnung durch die genannte Spannung, so stellt sich dabei eine bemerkenswerte Homologie zum Prozess des verstehenden Lesens her. Lässt sich einerseits ein Text immer nur vor dem Hintergrund des bisher Gelesenen und Gewussten verstehen, so wäre es andererseits nicht nur überflüssig, ihn überhaupt noch zu lesen, wenn sich diesem Gelesenen und Gewussten nicht auch noch etwas Neues hinzufügte, das gleichzeitig den eigenen kulturellen Horizont markiert und destabilisiert, gleichzeitig eine genauere Bestimmung des Fremden ermöglicht und dessen letztliche Unbestimmbarkeit begründet. Auch die Lektüre also lässt sich als eine Art der Begegnung verstehen, die ein genuin ethisches Moment in der Frage aufweist, wie mit der zutage tretenden Spannung zwischen Eigenem und Fremden umgegangen wird. Die Spezifik dieses ethischen Momentes lässt sich mit einem Zitat Ricœurs veranschaulichen, der, orientiert an Bermans L’épreuve de l’étranger, in seinen Reden zur Theorie der Übersetzung eine Vorstellung von „sprachlicher Gastfreundschaft“ entwirft: Indem er die Irreduzibilität des Paares von Eigenem und Fremdem eingesteht und auf sich nimmt, findet der Übersetzer seine Entschädigung in der Erkenntnis des uneinholbaren Dialogizitätsstatus des Übersetzungsaktes als dem vernünftigen Horizont für das Verlangen nach Übersetzung. Dem Agonistischen zum Trotz, das die Aufgabe des Übersetzers dramatisiert, kann dieser sein Glück in dem finden, was ich gern die sprachliche Gastfreundschaft nennen würde. (Ricœur 2016: 17; Herv. i.O.)

Wenn gilt, dass jeder Lektüre eine Dialektik von Eigenem und Fremdem eingeschrieben ist, so kommt es auf „sprachliche Gastfreundschaft“ nicht erst im Akt des Übersetzens an, sondern dann muss Lesen generell als eine Praxis

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der Übersetzung verstanden werden, in der man mit der eigenen Stimme für einen Fremden spricht, im Bewusstsein, dass sich mehr als „Äquivalenz ohne Adäquatheit“ nicht ergeben kann (Ricœur 2016: 16). Anhand der Lektüre von Der Ausflug ins Gebirge zeigte sich, wie das Bekannte (die bisherige Forschung, Büchners Lenz, Celans Bezugnahmen) den Blick auf das Fremde (den nach wie vor Fragen aufwerfen könnenden Text Kafkas) präfiguriert. Dabei kam es jedoch zu einem Moment, der das bisher Gewusste infrage gestellt hat. Dieser Moment brachte die Notwendigkeit mit sich, die Fremdheit des Fremden zu perpetuieren, den ‚n/Niemand‘ niemand sein zu lassen. Dieser Notwendigkeit zu konzedieren, hieß dabei nicht, vor der Lektüre zu kapitulieren, sondern war, im Gegenteil, ihre Konsequenz. Im Band Die Rückkehr des Autors hat Klaus Weimar in seiner Konzeption von Lesen, die auf eine „doppelte Autorschaft“ zielt, auf prägnante Weise einen Ansatzpunkt markiert, von dem aus sich das Konzept der Begegnung für die Praxis der Lektüre weiterdenken ließe: Da wir beim Lesen Sprache angesichts der Schrift und in Orientierung an ihr erzeugen, in der eine fremde Produktion gegenwärtig als vergangen und ein fremder Produzent anwesend als abwesend ist, und da wir damit den Zweck der Schrift erfüllen, erzeugen wir unsere je eigene Sprache auftrags- und zweckgemäß als die Sprache des Fremden. Genötigt durch die Schrift, führen wir den Spracherzeugungsakt einer hypothetisch fremden Person aus, an ihrer Statt und in ihrem Namen. Lesend versprachlichen wir die Schrift in fremdem Namen und als Vertreter des Fremden. (Weimar 1999: 127)

Können Lesende tatsächlich als Vertreter des Fremden verstanden werden, so hat eine „Ethik der Lektüre“17 die Verantwortung zu bedenken, die den Lesenden in den Akten dieser Vertretung zukommt. 17 Systematische Überlegungen, was eine Ethik der Lektüre leisten kann, stehen noch aus. Der erste, der diesen Begriff gebrauchte, war m.W. Werner Hamacher, der in seiner ‚Modellanalyse‘ von Kleists Das Erdbeben in Chili am Ende darauf zu sprechen kommt: „Die Ethik der Lektüre – wo der feste Grund der Erkenntnis fehlt, verwandeln sich alle hermeneutischen Fragen in solche der Ethik – fordert […]: die scheinbar naturwüchsigen Erkenntnisversicherungen der Theo-teleo-logik und mit ihnen den festen Stand, den das Verstehen wie die Darstellung zu gewinnen sucht, aufzugeben; die Ablösungsarbeit, die der Text selber betreibt, in seiner Auslegung fortzusetzen; und dem Fall dessen, was durch keine Regel mehr gehalten ist und dennoch bleibt, sich zuzuwenden. Diese Aufgabe spricht nur im Modus des Irrealis, nicht in einem ‚er mußte‘, sondern einem ‚als müßt er‘ sich aus: in einer Form, die die Einbuße der Erkenntnisgewißheit noch im Bereich moralischen Gefühls anzeigt. An dieser Aufgabe, so unsicher, unergiebig oder schmerzhaft sie sei, hat, in der Interpretation und über jede Interpretation hinaus, die Lektüre zu arbeiten.“ (Hamacher 1985: 173) J. Hillis Miller (1987) veröffentlichte sodann zwei Jahre später seine Ethics of Reading. Verbeeck/Philipsen (1992) gaben den Sammelband Die Aufgabe des Lesers heraus, der im Untertitel „On the ETHICS of Reading“ heißt, auf Miller allerdings kei-

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nen, auf Hamacher nur marginalen Bezug nimmt. Schließlich wurde der Begriff von JeanPierre Lefebvre (2004) in seinem Vorwort zur philosophischen Bibliothek Celans sowie von Rainer Just mit Bezug auf Jelinek erwähnt. In meinem Dissertationsprojekt mit dem Titel Literatur und Verantwortung versuche ich, auf systematische Weise und in Auseinandersetzung mit den Werken von Elfriede Jelinek, Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq Grundzüge einer Ethik der Lektüre zu entwerfen.

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Der Ausflug ins Gebirge zwischen Philologie und Mythologie. Mit einer Anmerkung zu ‚Odradek‘ Der Text Der Ausflug ins Gebirge, 1912 im Zyklus Betrachtung veröffentlicht und in einer früheren Fassung im Konvolut Beschreibung eines Kampfes1 enthalten, ist vielfach analysiert und interpretiert worden. Im Folgenden gehe ich von einzelnen bisherigen Lektüren aus und füge diesen eine weitere hinzu, die sich an zwei zum Teil ebenfalls bereits untersuchten Aspekten orientiert: an der von Kafka variierten Geschichte des Niemand-Stoffes sowie an der Sprache. In beiden Hinsichten soll gezeigt werden, wie das spezifische Ineinander des Deutschen und des Tschechischen das Sprachspiel dieses Textes mitbegründet. Dabei sei an diesem Sprachspiel gerade das Spielerische betont, das an der kontrastiven Komposition des Betrachtung-Zyklus mitwirkt (und im Übrigen in der Forschung, wie mir scheint, etwas zu kurz kommt). Auch beteiligt sich dieser spielerische Charakter an der für diesen Text zu identifizierenden Thematik der Verantwortung2 und liefert einen weiteren Beleg für „Kafkas alle gesicherten Positionen irritierende Mehrsprachigkeit“ (Kilcher 2007: 83). Im Folgenden sei, anschließend an eine Wiedergabe des Textes, zunächst die für meine Argumentation relevante Motiv- und Stoffgeschichte skizziert, daraufhin dann das produktive Ineinander der beiden Sprachen in Kafkas Text dargelegt. Die These lautet: Kafka variiert in Der Ausflug ins Gebirge nicht nur (unter anderem) die Kyklop-Episode aus Homers Odyssee3, sondern auch Motive aus der Geschichte des als ‚Hausgesinde-Niemand‘ bekannten Stoffes, dies womöglich sogar in dessen überlieferter alttschechischer Variante, in der jener Nemo (Niemand) nicht nur als ‚Nikdo‘ (tschechisch ‚Niemand‘), son1 In der Fassung B (KKAN I: 141f.) Entstanden ist der Text vermutlich wenige Tage vor dem 14. März 1910 (KKAD App.: 58 und KKAN I App.: 50-56, insb. 54). Eine noch frühere Entstehung kann allerdings nicht ganz ausgeschlossen werden (KKAD App.: 49, Fußnote I). 2 Mit Blick auf die Thematik schließe ich mich im Folgenden der Lektüre von Martin Endres (2013) an. Zur Thematik der Verantwortung mit Blick auf weitere Resonanzräume des Kafkaschen Textes vgl. den Beitrag von Sven Lüder in diesem Band. 3 Konsequent untersucht die Spuren der Odysseusschen List und die reécriture dieser Überlieferung in Kafkas Text Strowick (2004). Zum Bezug auf Nietzsches Zarathustra s. Wagner (2014).

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dern auch als ‚Nevím‘ (‚Ich weiß nicht‘) übersetzt wurde. Die durch das Motiv des Hausgesinde-Niemand in den Text eingeschriebene Thematik der gestörten Haushaltung vollzieht sich an der Sprache, indem der Wortlaut des Textes dem Deutschen folgt, die Grammatik und Sprachlogik jedoch dem Tschechischen entlehnt wurden. Am Spiel mit verschiedenen Überlieferungen des Stoffes sowie mit grammatikalischen Negationsregeln der beiden Sprachen wird in Der Ausflug ins Gebirge das Wesen der Literatur manifest: als Realität durch Fiktion. Der Ausflug ins Gebirge ‚Ich weiß nicht, rief ich ohne Klang, ‚ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur daß mir niemand hilft –, sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst? Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese vielen quer gestreckten und eingehängten Arme, diese vielen Füße, durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, daß alle in Frack sind. Wir gehen so lala, der Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen.‘ (KKAD 20)

1. Die ungehorsamen Diener Die Geste, die in der Rede von Nemo – Οὖτις – Niemand seit Homers Odyssee überliefert und in Kafkas Text aktuell wird, ist eine dreifache.4 Es ist zunächst die Ablenkung des sich selbst als ‚Niemand‘ bezeichnenden Odysseus von seiner eigenen Person. Ferner impliziert sie das Zurückweisen jeglicher Verantwortung für das Getane. Und schließlich ist sie ein Appell, ruft doch die Rede von ‚Niemand‘ zur Suche nach dem Verantwortlichen auf. Man kann den Satz „Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen“ als eine Variation des Ausrufs jenes Kyklopen Polyphem lesen, der von Odysseus geblendet wird. Polyphem meinte damit ja Odysseus selbst, da dieser sich ihm gegenüber als ‚Niemand‘ ausgegeben

4 Auch die Sprachgesten gehören in Kafkas Texten zu jenem „Kodex von Gesten“, den Walter Benjamin so eindrücklich hervorgehoben hat (1991: 418).

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hatte.5 Daraufhin wird der doppelt – im übertragenen Sinne zunächst, dann im buchstäblichen Sinne – geblendete Kyklop von seinen Freunden verlassen. Folgt man dieser Lesart, erscheint das Ich in Kafkas Text in der Rolle des unglücklichen Kyklopen; mit Elisabeth Strowick formuliert: „Das Erzähl-Ich ist traumatisiert.“ (Strowick 2004: 575) Allerdings kommt die genannte dreifache Sprachgeste in der homophon zweideutigen Rede von niemand und Niemand – Ablenkung, Abweisung der Schuld und Appell zur Suche nach dem Verantwortlichen – auch in der komisch scherzhaften Ausprägung des Nemo-Stoffes, dem erwähnten sogenannten Hausgesinde-Niemand, zur Geltung.6 Seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts verbreitet sich insbesondere in Flugblättern, im Kontext der Schwänke sowie der häuslichen moralistischen Erbauungsliteratur, die Variante über das ungehorsame Gesinde. Auf die Frage des zurückgekehrten Hausherrn, wer denn in seiner Abwesenheit den Haushalt durcheinandergebracht, die Milch ausgetrunken und das Geräte kaputt gemacht habe, antworten der Knecht und die Magd: „Ich weiß nicht, ja, niemand“. Daraufhin befiehlt der Hausherr, den Niemand zu fangen, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen; das Gesinde begibt sich kopfüber auf die Suche nach diesem Niemand, der es ja selbst ist. Das Ziel dieser Satiren ist es dabei vornehmlich, den Hausherrn an seine Pflichten zu mahnen, die hier darin bestehen, die Aufsicht über das Hausgesinde nicht zu vernachlässigen und ohne Unterlass für die Haushaltung zu sorgen. Der Nürnberger Barbier Jörg Schan, der mit seinem Flugblatt im Jahre 1510 diese Tradition mitbegründet,7 macht den von den Dienern angezeigten 5 Vgl.: „Niemand ist mein Name; denn Niemand nennen mich alle, /meine Mutter, mein Vater und alle meine Gesellen. Also sprach ich [Odysseus], und drauf versetzte der grausame Wütrich [der Kyklop Polyphem]: / Niemand will ich zuletzt nach seinen Gesellen verzehren; […]“ (Homer 1956: 9. Gesang, V. 366-370). Nachdem Polyphem geblendet wird, antwortet er auf die Fragen der besorgten Kyklopen vor der Höhle: „Niemand würgt mich, ihr Freund‘, arglistig! Und keiner gewaltsam! / Drauf antworteten sie und schrien die geflügelten Worte: / Wenn dir denn keiner Gewalt antut in der einsamen Höhle: / Gegen Schmerzen, die Zeus dir schickt, ist kein anderes Mittel: Flehe zu deinem Vater, dem Meerbeherrscher Poseidon!/ Also schrien sie und gingen. Mir lachte die Seele vor Freude, / Daß sie mein falscher Name getäuscht und mein trefflicher Einfall.“ (Homer 1956: 9. Gesang, V. 608-614) 6 Für einen Überblick über Varianten und Traditionen des Nemo-Stoffes s. Fricke (1998, zum Hausgesinde-Niemand: 79-103). Von Kafka untersucht Fricke eingehend das Gracchus-Fragment (KKAN I: 311), das er im Bezug auf den 139. Psalm liest; den Text Der Ausflug ins Gebirge sichtet er nur am Rande (Fricke 1998: 234-240). 7 S. Bolte (1896) sowie auch (mitsamt der bis 1909 einschlägigen Literatur) die Darstellung in Zíbrt (1909: 50ff.).

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Niemand selbst zum Subjekt der Rede: „Niemans hais ich was ieder man tuot das zücht man mich“, heißt es auf dem Holzschnitt über dem Text auf dem Flugblatt (Abb. 1). Die Satire auf das ungehorsame Gesinde nutzt den doppelten Wert von ‚Niemand‘ als Pronomen – und das heißt Vertretung des Nomens und mithin der Person – und als Nomen zugleich, um im Literarischen ein Subjekt zu kreieren, das von der eigenen Nicht-Existenz weiß. Auf diese Weise verfährt auch der Text Kafkas: Er stellt das Realwerden der Fiktion dar und reflektiert somit das Prinzip der Literatur. Im Übergang vom Konjunktiv zum Indikativ sowie durch die Integration des Ichs in ein Wir in der zweiten Hälfte bzw. zum Ende des Textes stellt er dann in einer mise en abyme das Prinzip der Fiktion heraus, das im Rufen des Ichs ‚ohne Klang‘ angekündigt wurde (denn wie sonst rufen literarische Figuren, betrachtet man sie vom Seitenrand des Buches aus?), und führt schließlich dieses Prinzip in ein Bild verwandelt vor. Für die Lektüre von Kafkas Der Ausflug ins Gebirge ist dabei auch die alttschechische Variante dieses Stoffes von Bedeutung. Der Name des Unholds und Sündenbocks zugleich aus dem deutschen Flugblatt wird in der tschechischen Version, wie bereits angemerkt, nicht als ‚Nikdo‘ (‚Niemand‘), sondern als ‚Nevím‘ (‚Ich weiß nicht‘) übersetzt; es wird somit auch auf diejenigen deutschen Varianten rekurriert, in denen Nemo als ‚Weissnicht‘, ‚Weissnit‘ oder in ähnlicher anderer Weise apostrophiert wird. Nach der Ermahnung an die Hausherren stellt sich der tschechische ‚Niemand‘ vor: Ted já Nevím tuto stoji(m) / a na kuchařky vám povi(m). / Nebo cožkolivěk dělají, / na mne Nevím všecko cpají. /Ze všeho mne vždycky viní, / což samy škody učiní. (Zíbrt 1909: 204)

Ins Deutsche rückübersetzt: Jetzt Ich weiß nicht steh ich da, / und die Köchinnen zeige ich an. / Denn was auch immer sie anstellen, auf mich Weißnicht sie es schieben. /Für alles geben sie mir Schuld, / was sie selbst an Schaden stiften.8

Die Großschreibung von „Nevím“ (tschechische Substantive werden in der Regel kleingeschrieben) markiert das nun substantivierte Verb als Eigennamen.

8 Im deutschen Original (Schan 1510) lautet der Anfang: „Menger redt von mir / Unnd gesach mich doch nie / Er besech mieh recht yetz stand ich hie / Ich bin der/den man Niemants nennet / Das hußgesind mich wol erkennet / Wann mit mir beschierment sy sich / Was sy tund / das zeicht man mich“ (s. Abb. 1).

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Ediert wurde das Flugblatt durch den kulturhistorisch orientierten Philologen Čeněk Zíbrt im Jahre 19099; in einer vergleichenden Studie hierzu verfolgt Zíbrt dann auch verschiedene Wandlungen der Motive des HausgesindeNiemand-Stoffes bis hin zur Motivik des zerbrochenen Krugs in slawischen Volksliedern (Zíbrt 1909). Diskutiert wurden die Flugblätter und die Namensgebung von Nemo bereits früher; beteiligt an der Forschung waren auch Philologen aus dem Umkreis von August Sauer: Franz Spina etwa, der Zíbrts Edition rezensierte (Spina 1911: 463-465), arbeitete ebenfalls an einer Edition aus dem Stoffkreis des Grobianismus, zu dem der Hausgesinde-Nemo-Stoff gehört.10 Kafka besuchte während seines Studiums an der Prager Deutschen Universität im Sommersemester 1902 eine Veranstaltung zur deutschen Literatur des Mittelalters bei Ferdinand Detter sowie August Sauers Vorlesung zur Geschichte der deutschen Literatur, sein Kolleg zu Gerstenberg sowie seine ‚Deutschen Stilübungen‘, überdies auch eine Vorlesung zur niederländischen Malerei. (Wagenbach 2006: 100).11 Letzteres lässt daran denken, dass die Darstellungen des Nemo von Hans Holbein, Hieronymus Bosch und Peter Breughel d.Ä. die Figur populär gemacht haben und dabei zum Teil auch die von Jörg Schan gestiftete Ikonographie des flüchtigen Niemand als Verwandlung ungehorsamer Diener weiterentwickelten.12 Die Eigenschaften aus den Selbstdarstellungen des Niemand /Nevím werden in den Holzschnitten, hier in deutscher und in tschechischer Fassung (s. Abb. 1 und 2), an Attributen der Allegorie sichtbar: Niemand / Nevím wird als ein Kerl mit einem Hängeschloss am Mund abgebildet – er ruft ja, wie eben jedwedes imaginierte Personal, das in Literatur eingeschrieben ist, ‚ohne Klang‘ – inmitten zerbro9 Und zwar Ende des Jahres bzw. antedatiert; Zíbrts Vorrede wird auf den 1. Dezember 1909 datiert (Zíbrt 1909: unpag. Vorrede). Literarhistorisch behandelt wurde die tschechische Bearbeitung des Schanschen Flugblatts bereits durch Johann Bolte im Archiv für slavische Philologie (XVIII, 1896), auch wurden die Namensgebungen von Nemo diskutiert, unter anderen von Zíbrt selbst (etwa die verwandten Sprachspiele im Kontext religiöser Dispute; Quidam, fictor quidamista, quidamon usw.; s. hierzu die bibliographischen Hinweise bei Zíbrt (1909: 59ff.). Zíbrt verweist auf die Flugblätter sowie auf verwandte motivische Aspekte auch – über die fachlichen Auseinandersetzungen hinaus – in mehreren Artikeln für Národní Listy; s. seine Angaben hierzu in Zíbrt (1909: 56, Anmerkungen). 10 Es handelt sich um Spinas Habilitationsschrift Die alttschechische Schelmenzunft Frantova Práva, veröffentlicht 1909. 11 Zu Kafkas negativem Fazit mit Blick auf die Germanistik nach dieser Erfahrung s. Stach (2014: 229). 12 Vgl. die Beschreibung einer Tischplatte von Holbein in Woltman (1874: 111) und die Abbildung in Diederich (1908: Nr. 570). S. ferner Meyer-Heisig (1960: 68 und 73f.) zu Holbein bzw. zu Breughels ‚Elck‘-Zeichnung von 1558.

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chener Gerätschaften stehend, eine Kappe mit Flügeln auf dem Kopf und zur Flucht bereit.

2. Sprachenmix Die als Ausflug getarnte Ausflucht des ungehorsamen Gesindes wird in Kafkas Text an der Sprache inszeniert. Der Ausflug ins Gebirge wird, wie in der Forschung gezeigt wurde, von drei Figuren strukturiert. Zu nennen ist zunächst die für die Texte des Zyklus Betrachtung insgesamt charakteristische Doppeldeutigkeit des Wenn-Dann-Syntagmas, das gleichermaßen konditional wie temporal gedeutet werden kann. Ferner wird der Text getragen von der durch diese Syntax ermöglichten chiastischen Organisation der Wiederholungen, wobei die Ecktermini – lauter/Lauter und niemand/Niemand – homophon, aber nicht immer homograph wiederholt werden. Und schließlich wird der Text durch die Figur des Kreises geprägt, die das geblendete Auge des Polyphem als ein leeres Zentrum jenes Chiasmus an der Sprache wiederholt (Strowick 2004: 577f.). Drei weitere Aspekte jedoch sind meines Wissens in den bisherigen Lektüren dieses Textes Kafkas nicht genügend bedacht oder zumindest expliziert worden. Es sind dies erstens die Struktur des Rätsels, die der Text assoziiert, zweitens die Bedeutung der ersten Wiederholung im Text („Ich weiß nicht“ als „Ich weiß ja nicht“). Und drittens gilt es zu bedenken, dass das Sprachspiel, das mit der Ersetzung des kleingeschriebenen Indefinitpronomens „niemand“ durch das großgeschriebene Nomen „Niemand“ getrieben wird und so aus keinem eine Person macht, überhaupt erst durch die Regel der einfachen Negation im Deutschen ermöglicht wird. Der Charakter eines Sprachrätsels, der vom Text Der Ausflug ins Gebirge evoziert wird, verweist auf kulturhistorische Kontexte von Kafkas Schaffen. Beachtet man vordergründig die sprachliche Gewitztheit des Textes, insbesondere die Homophonie, erinnert Der Ausflug ins Gebirge an bestimmte Sprachrätsel des Philosophen Franz Brentano.13 Dessen Sammlung Aenigmatias 13 Den Hinweis auf Brentanos Aenigmatias verdanke ich Claus Zittel, der überdies in einer Studie die Bedeutung von Brentano für die Philosophie und Poetik der deutschen Literatur der Zeit in Prag betont hat (Zittel 2016) und hervorhob, dass Brentano für seine philosophischen Arbeiten die Bezeichnung „Betrachtungen“ prägte.

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war in Prager Familien, wie Max Brod erinnerte (Brod 1960: 264), beliebt; womöglich war sie dies gerade deswegen, weil die Rätsel oft nur schwer oder gar nicht gelöst werden konnten; einen Schlüssel gab es dazu nicht (und es gibt ihn meines Wissens bis heute nicht).14 In diesen überwiegend sprachlogischen Rätseln ging es z. B. darum, nach Homophonen als Pointen zu suchen. In den sogenannten ‚Füllräthseln‘, denen sich Brentano in seiner Vorrede besonders ausführlich widmet (es sind die einzigen, für die es wiederum, in beiden Ausgaben der Sammlung, auch den Schlüssel gibt), geht es darum, Schlussworte der Texte zu finden, die „wesentlich verschieden“, „aber dem Laute nach einander gleich“ seien (Brentano 1879: V). Es geht also nicht darum, aus der Beschreibung oder Darstellung einer Sache die Referenz zu identifizieren und dann die passende Bezeichnung zu erraten, sondern es soll Übereinstimmungen im Lautlichen nachgehorcht werden, um homophone Wiederholungen zu bilden. Die Homophone sollen dann unterschiedlichen Wortarten angehören, wobei organische Paronomasien zu meiden sind.15 Das die Abteilung der Füllrätsel einleitende Sprachspiel in Brentanos Sammlung, das auch dem vorliegenden Stoff und Kafkas Text nahe steht, lautet wie folgt: A. Was hat unser Nachbar? Sonst pflegt er so sanft und freundlich zu sein, und heute hört man fort und fort ihn nur Verwünschungen ausstoßen. B. Sie wissen es also nicht? – Der Diener, dem er so viel Gutes gethan, hat ihn bestohlen und ist entlaufen. Ich kann es ihm wahrlich nicht verdenken, wenn er über des Undankbaren dal – dal. (Brentano 1879: 179; Brentano 1909: 175)

Die Buchstabenfolgen ‚dal – dal‘ stehen für zwei etymologisch nicht verwandte Homonyme verschiedener Wortarten, die es zu finden gilt. Die Lösung in diesem Text ist ‚Flucht flucht‘. Die beiden anderen genannten sprachlichen Momente in Kafkas Text – die Problematik der Negation und das Syntagma „Ich weiß nicht“ – ergeben Sinn, wenn man sie als Übersetzung bzw. Rückübersetzung aus dem Tschechischen wahrnimmt. „Ich weiss nicht“ ist der ins Deutsche rückübersetzte Name des tschechischen Niemand (Nikdo) als Nevím, von dem in der Folge 14 „[…] die Charaden, Logogriphen, Palindrome und andere Arten von witzigen Denkübungen waren zum Teil sehr schwierig. Eine ganze Reihe von Rätseln blieb ungelöst, manche hatten zwei strittige Lösungen. Alle beide klangen etwas unbehaglich, gezwungen. Vielleicht war eine dritte richtig? – Das geheimnisvoll Anziehende an dem Buch: daß es keinen ‚Schlüssel‘ dazu gab, keine Sammlung von Lösungen. […] einige der schwersten [Rätsel] waren berüchtigt, sie hielten allen Anstürmen stand.“ (Brod 1960: 264) 15 Es geht also darum, zu vermeiden, dass die Wörter stammverwandt sind (Groddeck 2008: 140f.) Während also etwa „mit einem neuen Kleide kleide“ falsch wäre, ist „Lamm lahm“ oder gar „drei treu“ richtig (Brentano 1879: V).

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des Textes die Rede ist. Während das Syntagma die Substantivierung und mithin die Prosopopöie als Personifikation möglich macht, rückt das eingeschobene „ja“ in der Wiederholung deren Bedeutung als Beteuerung des Nichtwissens wieder zurecht. Das Ich erweist sich somit nicht nur etwa als eine Figuration des hintergangenen Kyklops, sondern es übernimmt auch die Rolle des unverantwortlichen Dieners, der den Haushalt seines Herrn selbst in Unordnung gebracht hat, die Verantwortung von sich weist und zugleich die Möglichkeit einleitet, einen anderen zur Rechenschaft zu ziehen, ohne eine Person zu nennen. Bedenkt man schließlich, dass das Tschechische, anders als das Deutsche, grammatikalisch eine doppelte Negation braucht, um das Ausbleiben einer Person auszudrücken, dann kommt zu der bisher festgestellten chiastischen Dynamik des Textes noch eine zusätzliche sprachliche Dimension hinzu. Meinte man, es sollte keine Person auftauchen, müsste man im Tschechischen sinngemäß sagen ‚Niemand kommt nicht‘; man kann hier bei der Suche nach Entsprechungen an jene Variante des Deutschen denken, die anekdotisch in der Antwort von Ulrike von Levetzow auf die Frage, wie es damals mit Goethe gewesen sei, kolportiert wird: ‚Keine Liebe war es nicht.‘ Wenn also im Deutschen niemand kommt, dann kommt eben keiner, wenn im Tschechischen niemand kommt, dann kommt eben Niemand. Dass Kafka die Negationsregel im Tschechischen vertraut war, bezeugen seine tschechischen Texte.16 Dass er auch Gefallen daran fand, mit dem Tschechischen schreibend zu spielen, zeigt etwa jener Brief an Josef David aus der 4. Januarwoche 1921, in dem er scherzhaft verspricht, einige Fehler in einen von David ins Tschechische übersetzten Brief einzubauen: Mily Pepo, krásně, krásně jsi to udělal, teď já tam jen ještě udělám několik malých chyb ne aby tam byly chyby vůbec, neboť, odpusť, chyby najde můj ředitel taky ve Tvém dopise a našel by je v každém, ale aby tam byl přiměřený počet jich. (Nekula 2003: 359f.) [Lieber Pepa, schön, schön hast Du das gemacht, jetzt mache ich nur noch ein paar kleine Fehler, nicht damit es da überhaupt Fehler gibt, denn verzeih, Fehler findet mein Direktor auch in Deinem Brief und würde sie in jedem finden, sondern damit darin eine angemessene Anzahl davon sei.] (Übersetzung Nekula 2003: 359f.) 16 Vgl. die bei Nekula (2003) angeführten Belege aus Kafkas tschechischen Texten (286 im Kontext der Satzmuster und passim oder etwa in der Postkarte an Josef David vom 3.10.1923, Nekula 2003: 366). Zu Kafkas „asymmetrische[m], deutsch-tschechische[m] Bilingualismus“ mit Blick auf seine Schullaufbahn s. Stöhr (2012: 223 und passim) sowie zur entsprechend „multilingualen Kultur“ auch Kafkas Nekula (2003: 309). Für Belege tschechischer Phraseologismen in Kafkas Deutsch s. den Ausblick der insgesamt linguistisch angelegten Studie von Blahak (2015: 562ff.).

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Auch hatte Kafka offenbar Sinn für, mit einem Wort von Marek Nekula gesagt, Codeswitching auch als „Mittel ‚zum Lachen‘“ zwischen beiden Sprachen (Nekula 2003: 293f.). Inwieweit es nun (auch) in Kafkas Der Ausflug ins Gebirge um die Freiheit als Freiheit zum Tode geht, wie dies kürzlich dargelegt wurde,17 können die vorliegenden Bemerkungen, die sich auf Kafkas Spiel mit der Sprache konzentrieren, weder anzweifeln noch bestätigen. In diesem Spiel mit Wiederholungen, da des Zwangs der Repräsentation und der Referenz entledigt, klafft womöglich jene libertas indifferentiae auf, die Gilles Deleuze der Kunst der Moderne attestiert.18 Dass aber im Ausflug ins Gebirge der Versuch angestellt wird, die Verantwortung vom Subjekt der Sprache an die Sprache selbst zu zedieren, zeigt das Spiel mit der Negation in geradezu unmissverständlicher Weise; und zwar umso klarer, als hier die Verneinung in zwei, grammatikalisch gesehen, entgegengesetzt verneinenden Sprachen durchgespielt wird. Zieht man also bei der Lektüre von Der Ausflug ins Gebirge die tschechische Sprache in Betracht, ob nun im Falle der Umsetzung der tschechischen Variante des Nemo-Stoffes oder mit Blick auf die Regeln der grammatischen Negation, gewinnt das chiastische Spiel mit den Substitutionen in diesem Text Kafkas zusätzlich an Dynamik. Das Abwesende im Text ist das Tschechische, das in zweifacher Weise durch eine Übersetzung getilgt wird: durch das „Ich weiß nicht“ zu Beginn als rückübersetzter Name sowie durch die Ankunft des Niemand mit Hilfe der einfachen deutschen Negation. Das nun getilgte Tschechische wird dabei zum Ermöglichungsgrund des Textes als Selbstdarstellung des Prinzips der Fiktion, denn der Wortlaut dieses Textes ist zwar deutsch, die Grammatik aber ist tschechisch. Der Satz „Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand“ ist ein durch die Syntaxgrammatik be-

17 S. die Interpretation von Krings (2013). Krings argumentiert allerdings in seiner konsequenten und reflektierten hermeneutischen Lektüre auch mit der Gesamtheit des Werkes, um das Ganze des vorliegenden Kafka-Textes in den Blick zu nehmen. Eine durchgehende Auseinandersetzung mit dem Tschechischen würde ich Kafkas Schreiben nicht attestieren (die Frage im Kontext des Symposiums lautete, inwieweit eben das Tschechische auch in weiteren Texten von Kafka eine Rolle spielt). Vielmehr geht es bei den vorliegenden Überlegungen darum, das in der Forschung festgestellte und inzwischen mehrfach betonte Faktum von Kafkas Mehrsprachigkeit auch in der Analyse der diesbezüglich einschlägigen Texte nachzuvollziehen. 18 S. Deleuze (1968: 375): „Chaque art a ses techniques de répétitions imbriquées, dont le pouvoir critique et révolutionnaire peut atteindre au plus haut point, pour nous conduire des mornes répétitions de l’habitude aux répétitions profondes de la mémoire, puis aux répétitions ultimes de la mort où se joue notre liberté.“

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dingter Chiasmus; mithin aber bei Weitem nicht tautologisch.19 Die doppelte Verneinung, auf die Kafka gerne – und zwar zunehmend – zurückgreift, um die schwindelerregenden Wirkungen der Litotes-Figur zum Einsatz zu bringen, findet in Der Ausflug ins Gebirge keine Verwendung.20 Vielmehr geschieht in diesem Text jener bei Kafka oft beobachtete „Entzug der Referenz“21 durch den Sprung von einer Sprache in die andere. Idiomatisch begegnen sich beide Sprachen hier lediglich in der Semantik des „Niemand“ als Substantiv, insoweit darin die Bedeutung mitschwingt, es handele sich um eine Person ohne Bedeutung (in dieser Bedeutung wird der Germanismus „nýmand“ im Tschechischen benutzt). Die Störung in der Haushaltung wird später bei Kafka ebenfalls genau dort thematisch, wo die Ordnungen der Sprachen ineinander und durcheinander geraten: am Wesen namens Odradek im Text Die Sorge des Hausvaters aus dem Zyklus Der Landarzt.22 Oft wurde die Ironie der (Rezeptions-)Geschichte dieses Textes betont. Diese besteht darin, dass sich die Forschung oft auf die Etymologie des Wortes ‚Odradek‘ kapriziert, wo gleich der erste Absatz des Textes diese als eine Sackgasse darstellt und philologische Herleitungen explizit verweigert. Das tut allerdings nichts zur Sache; der Erzähler vom Anfang dieses Textes, der sich als selbstsicherer Sprachforscher darstellt, kann durchaus ein unzuverlässiger Erzähler sein, zumal er sich als Hausvater ohnehin im Laufe des Textes des Versagens bezichtigt. Dass das Wort Odradek der slawischen Wortbildung folgt, ist evident.23 Als ein tschechisches Wort betrachtet, ist ein Odradek aber immer schon auch ein ‚Odpadek‘: ein Abfallprodukt, und somit, frei nach Walter Benjamin formuliert, dasjenige, das von der Geschichte übrig bleibt und somit das Schreiben von Geschichte ermöglicht.24 19 Als tautologisch bezeichnet die Äußerung Endres (2013: 89). 20 Auch konzentriert sich Mathias Mayer in seiner konsequenten Untersuchung des Zusammenhangs von Litotes und dem Prinzip der Ausnahme verstärkt auf das spätere Werk Kafkas (Mayer 2016). 21 In der Nachfolge der Studie von Lehmann (1984: 214). 22 Für die konsequente Lektüre dieses Textes mit Blick auf das Thema der Ökonomie im umfassenden Sinne s. Fluhrer (2016, Kapitel Kafkas Kurzwaren: 169ff.; zu Die Sorge des Hausvaters 179ff.; auch unter Berücksichtigung weiterer einschlägiger Interpretationen). 23 S. die klare Darstellung hierzu von Nekula (2003: 15-19), der durch die Assoziation des beschriebenen Wesens mit dem Davidstern eine Identitäts-Thematik im Text identifiziert. 24 S. „Créer de l‘histoire avec les détritus même de l‘histoire“ (Benjamin 1991b: 676). Zur Provenienz, Kontext und einer Interpretation dieses Zitats (von Rémy de Gourmont im Bezug auf die Brüder Goncourts als Historiographen) s. Kranz (2011: 16ff.). Übrigens: gerade weil Odradek etymologisch von ‚Odpadek‘ nicht ableitbar ist, sondern durch einen spielerischen Lapsus – Vertauschung eines Buchstabens – zustande kommt, kann eine ge-

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Dass die Sorge des Hausvaters womöglich darin besteht, das Abfallprodukt nicht entsorgen zu können – oder zu wollen – , deutet darauf hin, dass dieses Abfallprodukt dasjenige ist, dass als literarisches Produkt Kontinuität ermöglicht: Es geht in keinem Zweck auf. Es ist ausgedacht – und lacht. Die zu späte Besorgnis des Hausherrn nimmt ihren Anfang bereits in der Suche nach dem Ichweissnicht in Kafkas erster Veröffentlichung, die mit der Abweisung jeglicher Verantwortung begann. Es ist eine Abweisung durch denjenigen, der für die Störung des oikos selbst verantwortlich ist, als Subjekt der Sprache, als ein Literatur-Schreibender.25 Die Logik von Der Ausflug ins Gebirge ist insofern die Logik der Sprache der Dienstboten, die sich aus der Dienstbarkeit in die Sprache flüchten, die sich vor der Verantwortung aus einer Sprache in die andere zu stehlen suchen, sich ‚in die Büsche schlagen‘ und (statt oder als Freiheit?) den ‚Ausweg‘ suchen,26 so sehr der Hausherr ob der Flucht auch flucht.

Literatur Benjamin, Walter (1991a): Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. – In: Ders., Gesammelte Schriften II.2. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 409-438. Benjamin, Walter (1991b): Gesammelte Schriften V.2. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Blahak, Boris (2015): Franz Kafkas Literatursprache. Deutsch im Kontext des Prager Multilingualismus. (= Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, 7). Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Bolte, Johannes (1896): Georg Schans Gedichte vom Niemand. – In: Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. IX. Weimar, 73-88. [Brentano, Franz] (1879): Neue Räthsel von Aeinigmatias. Wien: Carls Gerold´s Sohn.

nealogisch abgesicherte Nominaldefinition, wie im ersten Absatz des Textes beteuert wird, nicht gelingen. 25 Ich schließe mich hier der Interpretation des Textes durch Martin Endres an, der dargelegt hat, dass „Kafka die grundsätzliche Unablösbarkeit der Sprache vom sprechenden Subjekt pointiert“ (Endres 2013: 99), wobei ich den Text nicht als eine scheiternde, sondern als eine im und am stehenden Text vollzogene Befreiung lese. 26 Vgl. die musischen Lesarten dieser Redewendungen des musischen Affen Rotpeter durch Gerhard Neumann (1975).

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Abb. 1: Schan, Georg: Niemants hais ich was jederman tuot das zücht man mich, Memmingen, [ca. 1510] [BSB-Einblatt-ID: BSBEinblB122058046] ().

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Abb. 2: Holzschnitt des Flugblattes Nevím (Zíbrt 1909: 202).

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Personenregister Adam, Julia 121 Adler, Friedrich 139-140 Adler, Max 39 Adorno, Theodor W. 211, 214, 283, 353-354 Ady, Endre 46 Alt, Peter André 111, 274, 327 Arendt, Hannah 154 Arndt, Susan 251, 254 Asch, Sholem 89 Astl, Johannes 147 Auerhahn, Laura 140 Auerochs, Bernd 9, 282 Augé, Marc 40 Babejová, Eleonóra 36 Bachtin, Michail M. 251 Backenköhler, Gerd 330 Bahr, Hermann 39, 46 Bärsch, Claus Ekkehard 97 Barthes, Roland 159 Bartsch, Rudolf Hans 132 Baßler, Moritz 322 Bauer, Felice 63, 101, 207 Bauer, Otto 39, 195, 262 Baum, Oskar 99, 139, 140, 141, 147 Bay, Hansjörg 247, 250-254, 266 Bayer, Carl 147 Beißner, Friedrich 63 Benjamin, Walter 70, 180, 205, 256, 271, 362, 370 Bennesch, Josef 142 Ben-Shammai, Haggai 98 Bergman, Hugo 99 Bhabha, Homi 271, 323, 336 Binder, Hartmut 321, 324325, 330, 336 Birnbaum, Nathan 17, 8793, 95

Blahak, Boris 368 Blank, Juliane 282, 321 Böhl, Franz M. Th. 241 Böhme, Jacob 126 Bohrer, Karl Heinz 165 Bolte, Johannes 365 Bolzano, Bernard 179-180, 182, 187-189 Bondy, Adolf 140 Booth, Wayne C. 322 Borgstedt, Thomas 324, 326 Born, Jürgen 125, 139 Bosch, Hieronymus 365 Brecht, Walther 120 Brehm, Bruno 146 Brentano, Clemens 147 Brentano, Franz 366-367 Breughel, Peter d.Ä. 365 Broch, Hermann 47, 68, 173 Brod, Elsa Brod, Max 9, 15, 17, 19, 66, 69, 76, 87, 89, 94, 97111, 127-128, 132, 139141, 147-150, 154-155, 158, 160, 178, 181, 182, 188, 229, 231, 250, 252, 264, 270, 282, 298, 325, 330, 336, 367 Brotros, Atef 282 Buber, Martin 87-88, 106, 189, 199, 207, 235, 240, 281, 352-353 Buch, Christoph 265 Buch, Hans Christoph 274 Buchbinder, Bernhard Büchner, Georg 346-347, 349-352 Butler, Judith 104-105 Canetti, Elias 270 Cankar, Ivan 41 Čapková, Kateřina 282-283

Celan, Paul 52, 253, 351-354 Chaplin, Charlie 220-222 Charmatz, Richard 39 Chatman, Seymour 322 Chelčický, Petr 127 Chiavacci, Vinzenz 121 Clifford, James 271 Corbach, Otto 200, 201, 204 Corngold, Stanley 158 Csáky, Moritz 17 Cysarz, Herbert 18, 116, 119-120-126, 129-130, 146-149 Czech, Ludwig 283 Czoernig, Karl Frh. von 174 Dahn, Felix 142-145 Daiber, Jürgen 215 Damrosch, David 59 David, Jakob Julius 147 David, Josef 368 De Bruyker, Melissa 274 Deleuze, Gilles 12-13, 115, 155, 250, 253-254, 369 Delius, Friedrich Christian 276 Demetz, Hans 128 Demetz, Peter 175-176 Derrida, Jacques 212, 250, 252-254, 263 Detter, Ferdinand 365 Dickinson, Goldsworthy Lowes 198-199, 201203, 207 Dietzenschmidt 120, 128 Dirmhirn, Clemens 18-19 Djoufack, Patrice 265 Döblin, Alfred 68 Dóczy, Lajos 41 Düttmann, Alexander Garcia 251

378 Eber, Irene 198 Ebert, Karl Egon 147 Ebner-Eschenbach, Marie von 147 Eco, Umberto 232 Ehrenfels, Christian von 47 Eichert, Franz 143 Eisner, Pavel/Paul 127, 147, 330, 336 Eliot, T.S. 68 Ellis, Bret Easton 358 Emrich, Wilhelm 324 Endres, Martin 345, 361, 370-371 Engel, Manfred 9, 65, 160, 175, 178, 180, 274, 282 Faktor, Emil 140 Fasora, Lukáš 174 Feichtinger, Johannes 44 Felstiner, John 351-352 Fingerhut, Karl Heinz 84 Fischer, Ernst 117 Fischer, Jens Malte 123 Fischer, Otokar 336 Fleischer, Max 146 Fleischer, Viktor 140, 146 Fludernik, Monika 323 Fluhrer, Sandra 370 Flusser, Vilém 298 Förster, Florian 323 Franzos, Karl Emil 185 Freud, Sigmund 47, 50, 144, 241, 304 Fricke, Gerhard 123 Fricke, Hannes 345-346, 350-351 Fuchs, Rudolf 150 Fürnberg, Louis 146 Gadamer, Hans Georg 80 Garaudy, Roger 117 Gelber, Mark H. 17, 164 Gerhard, Ute 247 Giel, Joanna 50 Gierach, Ernst 125

Register Ginzkey, Franz Karl 132, 139 Glinski, Sophie von 310, 316 Goebel, Rolf J. 266 Goethe, Johann Wolfgang von 273, 326, 349, 368 Goldscheid, Rudolf 39 Goldstücker, Eduard 8, 10, 15, 116-118, 124, 149150, 329, 336 Greiner, Bernhard 93-94 Grillparzer, Franz 123, 147 Grimm, Jakob 243 Gröer, Florian 146 Gross, Otto 206 Grözinger, Karl Erich 17, 78 Grünberg, Karl 39 Grundmann, Franz 146 Guattari, Félix 12-13, 115, 155, 250, 253-254 Ha’am, Achad 106 Hackel, Gustl 147 Hajek, Hans 139-140 Hájek, Jiří 9 Hajiro, Yukio Hálek, Vítězslav Halliwell, Michael Hamacher, Werner 254, 257, 357-358 Hamann, Christof 266 Hanuš, Frank 174 Hauffen, Adolf 125 Hauschner, Auguste (geb. Sobotka) 139-140 Haverkamp, Anselm 255 Heidsieck, Arnold 173 Heimböckel, Dieter 11, 20, 251, 254, 275, 300, 316317, 321 Heintz, Günther 305 Heller Leo 139-140 Henlein, Konrad 116 Herbart, Johann Friedrich 179-180

Herder, Johann Gottfried 174 Herzl, Theodor 88, 190 Hesse, Hermann 198, 274 Heuer, Hellmut 264 Hillmann, Heinz 324-325, 327 Hilsch, Peter 9 Hirsch, Alfred 232, 234 Hirsch, Julius 143 Hitler, Adolf 143 Hobbes, Thomas 164 Hobsbawm, Eric 51 Hoffe, Ilse Ester 97-98, 103-104 Hoffmann, Camill 139, 141-142 Hofmannsthal, Hugo von 41, 46-47, 68, 211 Höhne, Steffen 18, 155, 173-174 Holbein, Hans 365 Holek, Heinrich 146 Höller, Franz 147 Homer 346 Horkheimer, Max 211, 214 Horváth, Ödön von 51 Houellebecq, Michel 358 Hung-Ming, Ku 199 Husserl, Edmund 47 Hutter, Theodor 143 Jahraus, Oliver 18 James, Henry 273 Janáček, Leoš 100 Janka, Kathrin 313 Janowitz, Franz 99 Janowitz, Hans 99 Jászi, Oszkár 39 Jelinek, Elfriede 358 Jellinek, Oskar 131 Jerusalem, Wilhelm 37, 48 Jesenská, Milena 7, 101, 177 Jirásek, Alois 150 Jobst Kristina 175 John, Michael 34

379

Register Jones, David Hugh 64 Joyce, James 20, 68, 254 Just, Rainer 358 Kafka, Franz 7-14, 16-21, 46, 51-53, 59-70, 75-78, 80-85, 87-93, 97-106, 108-111, 115-119, 123132, 147-149, 153-164, 166-168, 173, 175-181, 183, 187-189, 197-198, 204-207, 213, 220, 222223, 226, 230, 233, 235236, 243-244, 247-248, 250, 252-253, 264-267, 269-272, 276, 281-286, 299-300, 303-308, 313, 317, 323, 325-330, 334336, 343-346, 348-349, 351-352, 354-355, 361, 363, 365, 368-371 Karásek, Josef 38 Kassner, Rudolf 128 Kauder, Gustav 147 Kertész, Imre 52-53 Kilcher, Andreas B. 9, 305, 321, 326, 334 Kirschner, Aloisia 140 Kisch, Egon Erwin 10, 14, 99, 101, 118, 146, 297298 Kisch, Paul 118 Kleinwort, Malte 229, 236 Kleist, Heinrich von 226, 271 Klopstock, Robert 51 Köhler, Robert 146 Kolbenheyer, Erwin Guido 146-147 Kornfeld, Paul 99 Kracauer, Siegfried 211, 222 Kralik, Richard 139 Krappmann, Jörg 18 Krása, Hans Kraus, Arnošt Vilém 120, 175

Kraus, Karl 47, 244, 248 Kreibich, Hans R. 143 Kremer, Detlef 265 Krings, Marcel 175, 180, 185, 246, 369 Kripke, Saul A. 328 Krolop, Kurt 117, 128, 132, 149 Kroó, György Kropotkin, Petr 198-199, 207 Krywalski, Dieter 139 Kubín, Alfred 128, 131 Küpper, Achim 19 Kusák, Alexej 10 Lefebvre, Jean-Pierre 358 Lehmann, Hans Thies 345346 Leppa, Karl Franz 146 Leppin, Paul 139-140 Lethen, Helmut 165-166, 214 Leutelt, Gustav 146-147 Lichtblau, Albert 34 Lichtenberger, Elisabeth 36 Lill, Wenzel 143 Linden, Walther 123-124 Link, Paul 146 Liska, Vivian 354 Lönnecker, Harald 118 Lotman, Jurij M. 30-31, 44 Löw, Jehuda ben Bezal’el Löw 8, 10 Löwy, Jizchak 12, 94 Lüder, Sven 20-21, 361 Lukaćs, György (Georg) 46, 48 Lurja, Jizchak 82 Lyotard, Jean-François 47 Mach, Ernst 45-47 Machar, Josef Svatopluk 41 Magocsi, Paul Robert 36 Magris, Claudio 18, 157, 159 Mairowitz, David Zane 64

Majerová, Marie 7-9 Malíř, Jiří 174 Mann, Thomas 68, 108-109 Mannheim, Karl 48 Margetts, John 214 Masaryk, Tomáš Garrigue 127 Mauthner, Fritz 43, 45, 139140, 243, 247 Mayer, Mathias 370 Mazohl, Brigitte 180 Mendelssohn, Felix 74 Menke, Bettine 176 Metz, Joseph 93-94 Meyer-Heisig, Erich 365 Meyrink, Gustav 131 Michel, Robert 140, 147 Miller, J. Hillis 357 Milner, Jean-Claude 330 Moder, Josef 147 Moníková, Libuše 14 Mosès, Stéphane 178 Mühlberger, Josef 18, 116, 125-130, 146, 151 Musil, Robert 28, 33, 47, 61, 158, 173, 177 Muybridge, Eadweard 218219 Naaff, Anton August 143144 Nack, Hans Regina von 128 Nandis, Miriam 323 Nekula, Marek 16, 20, 127, 153, 176, 185, 247, 304, 306, 312-313, 328-329, 368-370 Neruda, Jan 334 Neumann, Bernd 155 Neumann, Gerhard 85, 162, 164, 185, 236-237, 371 Neumeyer, Harald 11, 175 Nicolai, Ralf R. 180 Nietzsche, Friedrich 39, 68 Nomberg, Hersh Dovid 89 Nordau, Max 27

380 Ohorn, Anton 139 Ormós, Zsigmond 38 Palacký, František 312 Pannwitz, Rudolf 271 Paquita, Paul 147 Pareigis, Christina 243 Park, Robert Ezra 44-45 Pasley, Malcolm 325 Patterson, Arthur J. 37 Paul, Ernst 146 Pazi, Margarita 128 Peretz, Yitskhok Leybush 89 Pezzl, Johann 31-32 Pfemfert, Franz 198-199, 201 Picasso, Pablo 351 Pick, Otto 146-147 Pilz, Johann 139 Plessner, Helmuth 166 Pleyer, Wilhelm 129, 146 Pocar, Ervino 42 Politzer, Heinz 129-130 Pollak, Oskar 101, 127, 177 Preece, Julian 155 Ranke, Leopold von 32 Rassiller, Markus 309, 315 Redlich, Josef 39 Renner, Karl 39 Reyzen, Avrom 89 Ricœur, Paul 51 Rilke, Rainer Maria 68, 140, 147, 151 Rimmon-Kenan, Shlomith 322 Rittner Tadeusz 50 Rohde, Bertram 232-233, 236, 240-241 Roßmann, Karl 66, 164, 263, 267, 270, 275-276 Roth, Joseph 173 Rotteck, Carl von 29 Salten, Felix 40-41 Salus, Hugo 140, 147

Register Saße Günther 335 Sauer, August 119-120, 365 Sauer, Hedda 140 Sauter, Caroline 256 Schacter Daniel L. 49 Schan, Georg 363, 365, 374 Schardt, Michael 186 Schaukal, Richard 128 Schenk, Klaus 344 Scherer, Wolfgang 241 Schestag, Thomas 243, 248-249 Schillemeit, Jost 307 Schmidt, Adalbert 150-151 Schmitz-Emans, Monika 346 Schneider, Josef 147 Schneider, Thomas 352 Schnitzler, Arthur 38 Scholem, Gershom 70, 76 Schönberg, Arnold 47 Schubin, Ossip 139-140 Schütz, Alfred 187, 272 Sealsfield, Charles 121 Seidl, Walter 128, 131 Seigneurie, Ken 59 Self, Will 104-105 Seneca, L. Annaeus 273 Sepp, Hans Rainer 314-315 Serke, Jürgen 145 Seurat, Georges 217 Shahar, Galili 216 Shumsky, Dimitry 188 Siebenschein, Hugo 147 Siegert, Bernhard 244, 250 Siegl, Adolf 118 Simmel, Georg 27, 187 Skrepek, Viktor Adalbert 143 Sommer, Ernst 131, 186 Spahr, Blake Lee 219 Sparr, Thomas 354 Spector, Scott 17, 97, 130 247, 283-284, 304 Sperber, Manès 159-166 Spießmeyr, Helmut 147 Spina, Franz 365

Spinoza, Baruch 149 Stach, Reiner 117-118, 120, 130, 158, 160, 365 Stanford, Leland 218 Stašková, Alice 21, 177, 252 Steffens, Wilko 11 Steinitz, Heinrich 146 Stifter, Adalbert 26-28, 39, 126, 128, 147 Stockhammer, Robert 243, 251 Stöhr, Ingrid 368 Stourzh, Gerald 174 Strahilevitz, Lior 110 Strowick, Elisabeth 346, 361, 363 Stüssel, Kerstin 158 Tamm, Traugott 132 Tawada, Yoko 246, 252, 254, 271 Thirouin, Marie Odile 13 Thummerer, Hans 140, 145 Trabant, Jürgen 253 Trinks, Jürgen 314-315 Trost, Pavel 328-330, 332 Tschech, Johannes 120 Tucholsky, Kurt 272-273 Udolph Ludger 174 Ulbrich, Franz 143 Ullmann, Hermann 139 Umlauft, Friedrich 30 Ungar, Hermann 131 Urzidil, Johannes 8, 181, 205, 298, 326 Utitz, Emil 189 Václavek, Ludvík E. 117 Verbeeck, Ludo 357 Vogl, Carl 127 Vogl, Joseph 247, 251, 253 Wagenbach, Klaus 326 Wagner, Benno 158, 180, 251, 361

381

Register Waldenfels, Berhard 215 Waldkamp, Marianne Tuma von 140 Watzlik, Hans 139, 150 Weber, Alfred 97 Weber, Max 154 Webern, Anton 47 Wegmann, Thomas 251 Wehr, Gerhard 353 Weidner, Daniel 70 Weimar, Klaus 357 Weinberg, Manfred 13, 20, 176-177, 251, 275, 304, 316-317, 321, 326 Weiner, Richard 313 Weiskopf, Franz Carl 127, 146 Welcker, Carl 29 Weltsch, Felix 99, 106 Werfel, Franz 99-100, 103, 147, 160, 173 Werunsky, Mary 140 Wiener, Oskar 139-140, 146 Wilhelm, Richard 198 Wills, David 253 Winder, Ludwig 131, 173 Wittgenstein, Ludwig 47, 179, 304 Wolf, Burkhardt 157, 159, 167 Wolf Michaela 42 Wolff, Christian 179 Wolff, Kurt 103, 126, 264 Wolfradt, Jörg 274 Wolkan, Rudolf 150 Wutsdorff, Irina 20, 267, 303, 305, 313 Yildiz, Yasemin 317 Zangwill, Israel 91-92 Zhitlovski, Khayim 89 Zíbrt, Čeněk 363, 365 Zielińska, Olga 346 Zilcosky, John 266 Zittel, Claus 366

Zoff, Otto 139-140 Zweig, Stephan 173

Ortsregister Babel 16, 20, 121, 175, 180, 230-237, 239-242, 244ff., 250, 253-256, 296 Belgrad 51 Berlin 11, 13, 25, 60-61, 89, 103, 140, 147, 304 Bratislava (Pressburg) 36, 51 Brody 35 Brno (Brünn) 28, 146 Budapest 35, 37, 48, 51 Cheb (Eger) 190 Chicago 90 Czernowitz 35, 89 Debrecen 38 Dresden 140 Gorizia (Görz) 42 Hamburg 89 Jena 13 Jerusalem 91, 100, 230, 240f. Karlovy Vary (Karlsbad) 150 Kolín 141 Kolomyja (Kolomea) 35 Krakau 35 Lwiw (Lemberg) 35, 50 Liberec (Reichenberg) 143 Liblice 7, 116 London 25, 104 Marbach 98, 104 Moskau 13 München 51, 120, 124, 125, 139

New York 90-93, 108, 140, 231, 263-265, 267-268 Paris 11, 13, 25, 33, 35, 304 Prag 7-18, 20, 35-37, 47, 87, 89, 91, 97-103, 105-108, 115-116, 118-122, 124125, 128, 131, 140-141, 143, 145-147, 149-150, 157, 173, 175-179, 189190, 229-230, 250, 252, 265-266, 268-269, 275276, 284, 298-300, 303304, 306, 311, 316-317, 330, 343-344, 354, 366 Salzburg 150 Sanok 35 St. Barbara 33 Szeged 38 Tel Aviv 104-105, 128 Terezín (Theresienstadt) 146, 151 Triest 28, 34f., 49 Tübingen 303 Warschau 12, 35 Washington D.C. 91 Weimar 12f. Wien 11, 13, 25, 28, 31-35, 38, 40-41, 47, 50-51, 88-89, 103, 105-106, 118-122, 139-141, 143, 146, 275, 304 Zürich 35, 43

Adressen Reihenherausgeber Prof. Dr. Steffen Höhne Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut f. Musikwissenschaft Weimar-Jena Platz der Demokratie 2/3 D-99423 Weimar [email protected] Dr. Václav Petrbok Ústav pro českou literaturu AV ČR Na Florenci 3 CZ-110 00 Praha 1 [email protected] Prof. Dr. Alice Stašková Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Germanistische Literaturwissenschaft Fürstengraben 18 D-07743 Jena [email protected]

Adressen Autoren Prof. Dr. Moritz Csáky Österreichische Akademie der Wissenschaften Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte Postgasse 7-9 A-1010 Wien [email protected]

Clemens Dirmhirn Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Habelschwerdter Allee 45 D-14195 Berlin [email protected] Prof. Dr. Manfred Engel Universität des Saarlandes Institut für Germanistik D-66123 Saarbrücken [email protected] Prof. Dr. Mark H. Gelber Zentrum für österreichische und deutsche Studien Ben-Gurion Universität IS-Beer Sheva [email protected] Prof. Dr. Karl E. Grözinger Universität Potsdam [email protected] Prof. Dr. Dieter Heimböckel Université du Luxembourg Maison des Sciences Humaines Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität 11, Porte des Sciences L-4366 Esch-sur-Alzette [email protected] Prof. Dr. Oliver Jahraus Department für Germanistik, Komparatistik und Nordistik Ludwig-Maximilians-Universität München Schellingstraße 3 D-80799 München oliver.jahraus@germanistik. uni-muenchen.de

Prof. Dr. Achim Küpper Université du Luxembourg 11, Porte des Sciences L-4366 Esch-sur-Alzette [email protected] PD Dr. Jörg Krappmann Katedra germanistiky Filozofická fakulta Univerzita Palackého Křížkovského 10 CZ-771 80 Olomouc [email protected] Sven Lüder Friedrich-Schiller-Universität Jena Institut für Germanistische Literaturwissenschaft Fürstengraben 18 D-07743 Jena [email protected] Prof. Dr. Bettine Menke Universität Erfurt Philosophische Fakultät Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Postfach 900 221 D-99105 Erfurt [email protected] Prof. Dr. Marek Nekula Universität Regensburg Bohemicum/Institut für Slavistik D-93040 Regensburg Marek.Nekula@ sprachlit.uni-regensburg.de Prof. Dr. Scott Spector University of Michigan Ann Arbor [email protected]

Prof. Dr. Manfred Weinberg Univerzita Karlova Ústav germánských studií FF Nám. Jana Palacha 2 CZ-116 38 Praha 1 [email protected] PD Dr. Irina Wutsdorff Slavisches Seminar Universität Tübingen Wilhelmstr. 50 72074 Tübingen [email protected] Prof. Dr. Hans-Dieter Zimmermann [email protected]