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German Pages 237 [244] Year 2021
PH I LOSOPH I E & KRITI K. N EUE BE ITRÄGE ZUR POLITISCH E N PH I LOSOPH I E UN D KRITISCH E N TH EORI E
Frieder Vogelmann (Hg.)
„Fragmente eines Willens zum Wissen“ Michel Foucaults Vorlesungen 1970–1984
Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie Reihe herausgegeben von Julia Christ, Le Laboratoire interdisciplinaire d’études sur les réflexivités – Fonds Yan Thomas (LIER-FYT), Paris, Frankreich Daniel Loick, University of Amsterdam, Amsterdam, The Netherlands Titus Stahl, University of Groningen, Groningen, The Netherlands Frieder Vogelmann, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland
Diese Reihe soll Beiträge versammeln, die sich von traditionellen Herangehensweisen in der praktischen und politischen Philosophie dadurch abheben, dass sie sich in dreifachem Sinne als politisch engagierte Philosophie begreifen: (1) Sie sind auf das Politische gerichtet, also auf die als selbstverständlich in Anspruch genommenen begrifflichen Grundlagen unseres politischen Denkens und Handelns. Sie reduzieren politische Philosophie damit weder auf ein Nachdenken über vorgegebene institutionelle Strukturen, noch führen sie sie auf Moralphilosophie zurück. Sie sind politisch engagierte Philosophie. (2) Sie verstehen politische Philosophie als eine Reflexionsinstanz sozialer Praktiken, die selbst Bestandteil dieser Praktiken ist. Philosophie ist demnach weder der Politik extern noch ihrer Zeit enthoben, sondern eine – durchaus historisch informierte und auf Emanzipation ausgerichtete– Selbstverständigung der Gegenwart über ihre Kämpfe. Sie sind politisch engagierte Philosophie. (3) Sie bleiben dabei politisch engagierte Philosophie: Sie verbinden Arbeit an den Begriffen mit der Auseinandersetzung mit den philosophischen Traditionen und der Transformation unserer politischen Fantasie. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15669
Frieder Vogelmann (Hrsg.)
„Fragmente eines Willens zum Wissen“ Michel Foucaults Vorlesungen 1970–1984
Hrsg. Frieder Vogelmann Goethe-Universität Frankfurt Frankfurt am Main, Deutschland
ISSN 2524-3683 ISSN 2524-3691 (electronic) Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie ISBN 978-3-662-61820-2 ISBN 978-3-662-61821-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Verantwortlich im Verlag: Frank Schindler J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Zu Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France, 1970–1984. . . . 1 Frieder Vogelmann Der Wille zum Wissen (1970/71) Wissen. Wahrheit. Macht. Foucaults „Morphologie des Willens zum Wissen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kerstin Andermann Theorien und Institutionen der Strafe (1971/72) „Doch gehen wir zurück zum Anfang“ – Foucaults genealogische Kritik des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Vojta Drápal Die Strafgesellschaft (1972/73) Verschränkte Beschlagnahmen: Postkoloniale Perspektiven auf die Strafgesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Vanessa Eileen Thompson Die Macht der Psychiatrie (1973/74) Vom Aufstand der Hysterikerinnen und den Dispositiven der Unterwerfung: zur Disziplinarmacht der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . 71 Katrin Meyer Die Anormalen (1974/75) Beichte und Bann. Biomacht und die Rassifizierung der Anormalität . . . 87 Daniel Loick In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) „Im Innern einer Macht“ über Körper und Leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Gundula Ludwig Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1977/78) Der Anteil des Gegen-Verhaltens an Revolte und Revolution. Foucaults lange Geschichte der Gouvernementalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Friedrich Balke
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Inhaltsverzeichnis
Die Geburt der Biopolitik (1978/79) Die Grenzen des Regierens. (Neo)liberalismus, Kritik, Ökonomie . . . . . . 139 Andreas Folkers Die Regierung der Lebenden (1979/80) Subjektivierung als Selbstaufgabe. Von der Geburt abendländischer Subjektivität im Kloster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Maria Muhle Subjektivität und Wahrheit (1980/81) Das Subjekt des Sexes. Foucaults Genealogie des Begehrens. . . . . . . . . . . 175 Francesca Raimondi Hermeneutik des Subjekts (1981/82) „La Selbstbildung comme diraient les Allemands“. Techniken der Selbsterfahrung in der Hermeneutik des Subjekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Andreas Gelhard Die Regierung des Selbst und der anderen (1982/83) Szenographie als Philosophiegeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Aaron Sabellek und Ulrich Johannes Schneider Der Mut zur Wahrheit (1983/84) Wahrheit leben. Zum affirmativen Wahrheitsbezug in Michel Foucaults letzter Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Katharina Hoppe
Über die Autor_innen
Kerstin Andermann Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland Friedrich Balke Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland Vojta Drápal Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland Andreas Folkers Institut für Soziologie, Universität Gießen, Gießen, Deutschland Andreas Gelhard Bonner Zentrum für Lehrerbildung, Universität Bonn, Bonn, Deutschland Katharina Hoppe Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Daniel Loick University of Amsterdam, Amsterdam, The Netherlands Gundula Ludwig Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS), Universität Bremen, Bremen, Deutschland Katrin Meyer Philosophisches Seminar, Universität Basel, Basel, Schweiz Maria Muhle Lehrstuhl für Philosophie, Akademie der Bildenden Künste München, München, Deutschland Francesca Raimondi Philosohie, Deutschland
Kunstakademie
Düsseldorf,
Düsseldorf,
Aaron Sabellek Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland Ulrich Johannes Schneider Universitätsbibliothek Leipzig, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
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Über die Autor_innen
Vanessa Eileen Thompson Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Frankfurt (Oder), Deutschland Frieder Vogelmann Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland
Abkürzungen
Michel Foucaults Schriften werden einheitlich mit folgenden Abkürzungen zitiert: AN AW DE I-IV
DE I/1 DE I/48 DE I/59 DE I/69 DE I/71 DE II/84 DE II/105 DE II/108 DE II/119 DE II/139 DE II/157 DE III/189
Die Anormalen. Vorlesung am Collège de France 1974/75. Hrsg. von Valerio Marchetti und Antonella Salomoni. Übersetzt von Michaela Ott. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003 [1999] Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003 [1969] Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Übersetzt von Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Horst Brühmann, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001–2005 [1994] Einführung (in: Binswanger, Ludwig, Traum und Existenz) [1954], in: Dits et Écrits. Band 1, 107–174 Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben. Gespräch mit R. Bellour [1967], in: Dits et Écrits. Band 1, 750–769 Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistemologie [1968], in: Dits et Écrits. Band 1, 887–931 Was ist ein Autor? (Vortrag) [1969], in: Dits et Écrits. Band 1, 1003– 1041 Titel und Arbeiten [1969], in: Dits et Écrits. Band 1, 1069–1075 Nietzsche, die Genealogie, die Historie [1971], in: Dits et Écrits. Band 2, 166–191 Die große Einsperrung [1972], in: Dits et Écrits. Band 2, 367–381 Über die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit Maoisten [1972], in: Dits et Écrits. Band 2, 424–461 Von der Archäologie zur Dynastik [1973], in: Dits et Écrits. Band 2, 504–518 Die Wahrheit und die juristischen Formen [1974], in: Dits et Écrits. Band 2, 669–792 Macht und Körper [1975], in: Dits et Écrits. Band 2, 932–941 Vorwort (in Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus) [1977], in: Dits et Écrits. Band 3, 176–180
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DE III/192 DE III/198 DE III/232 DE III/206 DE III/215 DE III/216 DE III/234 DE III/248 DE III/269 DE IV/291 DE IV/306 DE IV/355 DE IV/356 DE IV/351 DE IV/358 DE IV/362 DV DuW
DVSM FR
Abkürzungen
Gespräch mit Michel Foucault [1977], in: Dits et Écrits. Band 3, 186– 213 Das Leben der infamen Menschen [1977], in: Dits et Écrits. Band 3, 309–332 Die analytische Philosophie der Politik [1978], in: Dits et Écrits. Band 3, 675–695 Das Spiel des Michel Foucault [1977], in: Dits et Écrits. Band 3, 391–429 Folter ist Vernunft [1977], in: Dits et Écrits. Band 3, 505–514 Macht und Wissen [1977], in: Dits et Écrits. Band 3, 515–534 Die Bühne der Philosophie [1978], in: Dits et Écrits. Band 3, 718– 748 Eine Revolte mit bloßen Händen [1979], in: Dits et Écrits. Band 3, 878–882 Nutzlos, sich zu erheben [1979], in: Dits et Écrits. Band 3, 987–992 „Omnes et singulatim“: zu einer Kritik der politischen Vernunft [1981], in: Dits et Écrits. Band 4, 165–198 Subjekt und Macht [1982], in: Dits et Écrits. Band 4, 269–294 Den Regierungen gegenüber: die Rechte des Menschen [1984], in: Dits et Écrits. Band 4, 873–875 Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit [1984], in: Dits et Écrits. Band 4, 875–902 Was ist Aufklärung? (Vorlesungsauszug) [1984], in: Dits et Écrits. Band 4, 837–848 Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität [1984], in: Dits et Écrits. Band 4, 909–924 Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982) [1988], in: Dits et Écrits. Band 4, 959–966 Discours et vérité. Précédé de La parrêsia. Hrsg. von Henri-Paul Fruchaud und Daniele Lorenzini, mit einer Einleitung von Frédéric Gros. Paris: Vrin 2016 Diskurs und Wahrheit: Die Problematisierung der Parrhesia. 6 Vorlesungen, gehalten im Herbst 1983 an der Universität Berkeley/ Kalifornien. Übersetzt von Mira Köller. Hrsg. von Joseph Pearson. Berlin: Merve 1996 Dire vrai sur soi-même. Conférences prononcées à l'Université Victoria de Toronto. Hrsg. von Henri-Paul Fruchard und Daniel Lorenzini. Paris: Vrin 2017 Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz. Hrsg. von Michel Foucault. Übersetzt von Wolf Heinrich Leube. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975 [1973]
Abkürzungen
GBP GK GS GSa GSb HS MW MP
OD ODis OHS PG RL RSA SG STB
SuW
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Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978/79. Hrsg. von Michel Senellart. Übersetzt von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004 Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Fischer, 2008 [1963] The Gay Science. In Critical Inquiry 37.3 (2011), 385–403 Le gai savoir. In Mec Magazine 5 (1988), 32–36 Le gai savoir. In Mec Magazine 6/7 (1988), 30–33 Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France 1981/82. Hrsg. von Frédéric Gros. Übersetzt von Ulrike Bokelmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004 [2001] Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Hrsg. von Frédéric Gros. Übersetzt von Jürgen Schröder. Berlin: Suhrkamp, 2010 [2009] Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973/74. Hrsg. von Jacques Lagrange. Übersetzt von Claudia BredeKonersmann und Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005 [2003] Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003 [1966] Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Fischer, 2007 [1972] L’Origine de l’herméneutique de soi. Conférences prononcées à Dartmouth College, 1980. Hrsg. von Henri-Paul Fruchaud und Daniele Lorenzini, Paris: Vrin 2013 Psychologie und Geisteskrankheit. Übersetzt von Anneliese Botond. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968 [1954] Die Regierung der Lebenden. Vorlesung am Collège de France 1979/80. Hrsg. von Michel Senellart. Übersetzt von Andreas Hemminger. Berlin: Suhrkamp, 2014 [2012] Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83. Hrsg. von Frédéric Gros. Übersetzt von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009 [2008] Die Strafgesellschaften. Vorlesung am Collège de France 1972–1973. Hrsg. von Bernard E. Harcourt. Übersetzt von Andreas Hemminger. Berlin: Suhrkamp, 2015 [2013] Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977/78. Hrsg. von Michel Senellart. Übersetzt von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004 Subjektivität und Wahrheit. Vorlesung am Collège de France 1980/81. Hrsg. von Frédéric Gros. Übersetzt von Andreas Hemminger. Berlin: Suhrkamp, 2016 [2014]
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SW1 SW2 SW3 SW4 TIS ÜS ÜWW VG WG WK
Abkürzungen
Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005 [1976] Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004 [1984] Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004 [1984] Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit 4. Übersetzt von Andreas Hemminger. Berlin: Suhrkamp, 2019 [2018] Theorien und Institutionen der Strafe. Vorlesung am Collège de France 1971–1972. Hrsg. von Bernard E. Harcourt. Übersetzt von Andreas Hemminger. Berlin: Suhrkamp, 2017 [2015] Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004 [1975] Über den Willen zum Wissen. Vorlesung am Collège de France 1970/71 gefolgt von Das Wissen des Ödipus. Hrsg. von Daniel Defert. Übersetzt von Michael Bischoff. Berlin: Suhrkamp, 2012 [2011] In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1975/76. Hrsg. von Mauro Bertiani. Übersetzt von Michaela Ott. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001 [1996] Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989 [1961] Was ist Kritik? Übersetzt von Walter Seitter. Berlin: Merve, 1992 [1990]
Zu Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France, 1970–1984 Einleitung Frieder Vogelmann
1 Einleitung Kein Anfang ist einfach. Foucaults erste Vorlesung am Collège de France beginnt daher zweimal. Der erste, berühmt gewordene Anfang greift die Schwierigkeiten des Beginnens auf: „In den Diskurs, den ich heute zu halten habe, und in die Diskurse, die ich vielleicht durch Jahre hindurch hier werde halten müssen, hätte ich mich gern verstohlen eingeschlichen. Anstatt das Wort zu ergreifen, wäre ich von ihm lieber umgarnt worden, um jedes Anfangens enthoben zu sein.“ (ODis 9).1 Doch die ersten Sätze von Foucaults Antrittsvorlesung am 2. Dezember 1970, veröffentlicht als Die Ordnung des Diskurses (1972), sind nicht identisch mit den ersten Sätzen jener dreizehn Bücher, die den Anlass für diesen Band bilden. Weil die Herausgeber der Vorlesungen sich dazu entschlossen haben, die Antrittsvorlesung nicht nochmals im Rahmen der Vorlesungsbände abzudrucken, fängt Foucault seine Vorlesung aus dem Jahr 1970/71 nun mit einer Selbstinterpretation an: Der Wille zum Wissen – so lautet also der Titel, den ich den Vorlesungen in diesem Jahr gegeben habe. Ehrlich gesagt, glaube ich, unter diese Überschrift hätte ich auch die meisten historischen Analysen stellen können, die ich bisher unternommen habe –
1Foucaults Vorlesungen und Bücher werden im ganzen Band mit einheitlichen Abkürzungen zitiert, die im Abkürzungsverzeichnis alphabetisch aufgelistet sind.
F. Vogelmann (*) Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_1
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F. Vogelmann und ebenso die historischen Analysen, die ich gegenwärtig unternehmen möchte. In all diesen – vergangenen oder noch kommenden – Analysen könnte man „Fragmente einer Morphologie des Wissens“ erblicken. (ÜWW 15)2
Wie jede Selbstdeutung Foucaults ist auch diese mit Vorsicht zu genießen, denn obwohl sie eine wesentliche Gemeinsamkeit seiner Arbeiten benennt, steht sie doch nur gleichberechtigt neben den anderen bekannten Selbstinterpretationen Foucaults, denen zufolge er „immer schon“ die Macht (DE III/216, 518 f.) oder das Subjekt (DE IV/306, 270) untersucht habe. Nichts ist also einfach an diesem doppelten Anfang, den uns die verschobene Publikationsgeschichte von Foucaults Vorlesungen hinterlassen hat. Gleichwohl ist er seltsam passend für einen Autor, der nur zwei Jahre vor diesen Anfängen über die Schwierigkeiten nachdachte, Einheiten in Diskursen aufzuspüren, und der vor der vermeintlichen Einfachheit von Kategorien wie der des Buches oder des Werkes warnte (AW 35–38), die doch nur retrospektive Resultate der Autorfunktion seien (DE I/69, 1014–1021). Von Einheit und Einfachheit keine Spur. Das gilt auch für das Ende. Wiederum finden wir zwei. Lapidar stellt Foucault am 28. März 1984 fest, dass ihm die Zeit ausgeht: „Nun also, hören Sie, ich hatte vor, Ihnen einige Dinge zum allgemeinen Rahmen dieser Analysen zu sagen. Aber jetzt ist es zu spät. Also dann, dankeschön [sic!].“ (MW 435) Ohne es zu wissen, werden dies die letzten Worte in 14 Jahren Vorlesungstätigkeit sein, denn am 26. Juni desselben Jahres stirbt Foucault. Über den immer wieder versprochenen „allgemeinen Rahmen“ seiner Analysen, ob nun 1984 oder in den Jahren zuvor, hat er nur selten direkt gesprochen, stets standen die historischen Analysen im Vordergrund und immer war zu wenig Zeit. Abermals bieten uns die Herausgeber jedoch eine zweite Möglichkeit an, diesmal ein alternatives Ende. Denn im Manuskript zur Vorlesung von 1983/84 finden sich die Bemerkungen, auf die vorzutragen Foucault verzichtet und in denen er die „Beziehung von Subjektivität und Wahrheit“ (MW 435) allgemein zu fassen versucht. Sie enden weniger lapidar: „Aber was ich zum Abschluß hervorheben möchte, ist folgendes: Es gibt keine Einsetzung der Wahrheit ohne eine wesentliche Setzung der Andersheit; die Wahrheit ist nie dasselbe; Wahrheit kann es nur in Form der anderen Welt und des anderen Lebens geben.“ (MW 438) Es kann in diesem Band nicht darum gehen, das sollte mein kurzes Spiel mit den verdoppelten Anfängen und Enden in ihrer Kontingenz zeigen, die Vorlesungen am Collège de France als Einheit in einem starken Sinn aufzufassen, ihnen gar eine geschlossene Struktur zu verleihen, indem man ihnen einen Verlauf vom Willen zum Wissen zur Wahrheit durch Andersheit unterschiebt. Zu zufällig sind diese Sätze, zu sehr den konkreten Situationen verhaftet und zu viel geschieht in diesen 14 Jahren. Ihre Einheit erhalten die Vorlesungen von außerhalb: durch die Person, die sie hält, und durch die Institution, an der sie gehalten werden.
2Eingehender untersucht Kerstin Andermann diese Vorstellung einer „Morphologie“ des (Willens zum) Wissen.
Zu Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France, 1970–1984
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Das Collège de France ist eine eigentümliche Einrichtung, die in drei Gebäuden im Pariser Stadtviertel Sorbonne beheimatet ist. Gegründet wurde es bereits 1530 als Collège Royal, trug in den beiden Kaiserreichen vorübergehend den Namen Collège Imperial und wurde schließlich 1870 in Collège de France umbenannt (vgl. zur Geschichte des Instituts seine Selbstdarstellung in Compagnon et al. 2015). Wie Leser_innen von Foucaults Vorlesungen wissen, sind die Professor_ innen dem üblichen Alltagsbetrieb einer Universität enthoben. Zwar müssen sie 26 Unterrichtsstunden im Jahr ableisten, von denen mindestens die Hälfte als Vorlesung zu halten sind, doch gibt es weder eingeschriebene Studierende noch müssen die Professor_innen prüfen (vgl. das Vorwort der Herausgeber in GBP 7 f.). Alle Veranstaltungen sind öffentlich zugänglich. Gemäß seinem Auftrag, dass „Wissen in seiner Entstehung [savoir en train de se faire]“3 zu lehren, verändern sich die Lehrstühle am Collège de France fortwährend; für jede_n neu gewählte_n Professor_in wird auch ein neuer Lehrstuhl geschaffen.4 In diese Institution wird Michel Foucault mit 43 Jahren am 30. November 1969 aufgenommen. Die der Wahl vorhergehenden hochschulpolitischen Taktierereien sind aufwendig, doch Foucault hat einflussreiche Unterstützer – allen voran Jean Hyppolite, George Dumézil und Jules Vuillemin –, so dass er sich schließlich gegen die beiden anderen Kandidaten Paul Ricœur und Yvon Belaval durchsetzt (dazu ausführlich Eribon 1993, 301–317). Von Anfang an sind Foucaults Vorlesungen, die er jeweils von Januar bis April – „von der Geburt Jesu bis zur Auferstehung“ (HS 482) – hält, völlig überfüllt. Weil das Collège de France keinerlei Beschränkung der Hörer_innen erlaubt, sind kleinere Seminare kaum zu organisieren; Foucault versucht es dennoch bis 1981, dann gibt er es auf und verlängert die Vorlesung, deren einzelne Sitzungen ab 1982 bereits um 9 Uhr morgens beginnen und zwei Stunden lang sind (HS 15, 37 Fußnote 1). Insgesamt hält Foucault von 1970 bis 1984 dreizehn Vorlesungen, da er 1977 ein Sabbatjahr einlegt. Auf die publizierten Fassungen dieser dreizehn Vorlesungen5 beziehen sich die Beiträge in diesem Band – auf so unterschiedliche Weise, wie der Inhalt der Vorlesungen es selbst ist. Denn sowohl thematisch als auch von ihrem Stil sind sie uneinheitlich: von den Agrarreformen der klassischen Antike (ÜWW Vorlesung 8) über die Entstehung der psychiatrischen Diagnose „Monomanie“ (AN Vorlesung 5) bis zur Zeugung als alleinigem Ziel des Geschlechtsverkehrs in den
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(1993, 241) schreibt den Ausdruck dem Historiker Ernest Renan zu; das offizielle Motto des Collège de France lautet ähnlich bescheiden: „Docet omnia“ – es lehrt alles. 4Foucaults Lehrstuhl trug den Titel „Geschichte der Denksysteme“. Noch immer lesenswert ist die Selbstdarstellung seiner vorhergehenden Arbeiten, die diese Denomination begründet und Foucault als Kandidaten den Professor_innen am Collège de France vorstellt (DE I/71). 5Als erster Band der Vorlesungen erschient 1997 „Il faut défendre la société“; es wurde 18 Jahre später mit Erscheinen von Théories et institutions pénales (2015) fertig gestellt. Die Abdruckfassung stützen sich, sofern möglich, auf Tonbandaufnahmen und ergänzend auf Foucaults Manuskripte; darüber geben die Herausgeber jeweils Auskunft.
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F. Vogelmann
hellenistischen und christlichen Reflexionen der Ehe (SuW Vorlesung 10) reicht das Spektrum der untersuchten Phänomene, und Foucault präsentiert sie mal als distanzierter Interpret kleinster textueller Wendungen (MW Vorlesung 3, erste Stunde), mal als souveräner Ausdeuter großer historischer Linien (RSA Vorlesung 10, erste Stunde), und mal als scharfzüngiger politischer Kommentator, der auch vor theatralischen Gesten beim Verlesen unsäglicher psychiatrischer Gutachten nicht zurückschreckt (AN 13–20). Diese Vielfalt in den Vorlesungen als Gesamtkorpus werde ich kurz aus zwei Perspektiven betrachten, nämlich in Hinblick auf Foucaults eigene Forschungspraxis (2) und mit Blick auf die Anknüpfungen über Foucault hinaus, zu denen sie angeregt haben (3), ehe ich die Beiträge dieses Bandes vorstelle (4).
2 Innenperspektive: Foucaults historisch-philosophische Praktik Die Publikation der Vorlesungen erschließt, so betonen ihre Herausgeber in dem kurzen Text, der jeder Vorlesung vorangestellt ist, eine „neue Seite des ‚Werks‘ von Michel Foucault“ (HS 13), sie „verdoppeln“ nicht lediglich die „veröffentlichten Bücher“ (HS 11). Das ist nur eingeschränkt richtig, denn die Vorlesungen Institutionen und Theorien der Strafe (1971/72) sowie Die Strafgesellschaft (1972/73) sind klar erkennbar Vorstudien zu Überwachen und Strafen (1975). Außerdem präsentiert Foucault vielfach Material, das wir aus seinen späteren Büchern kennen: viele der in Die Macht der Psychiatrie (1973/74) und Die Anormalen (1974/75) besprochenen Fälle kehren in Der Wille zum Wissen (1976) wieder. Doch schon an diesen beiden Beispielen können wir ermessen, wie groß die Unterschiede zwischen den Deutungen sind, die Foucault in den Vorlesungen eher ausprobiert als behauptet, und den Thesen der Bücher.6 Insofern gestatten die Vorlesungen in Bezug auf die anderen Texte Foucaults eine faszinierende Einsicht in seine Arbeitsweise: in die „historisch-philosophische Praktik“ (WK 26), mit der Foucault sein Material auswählt, zusammenstellt und präsentiert, um seine historisch-philosophischen Thesen zu entwickeln. Zwei methodologische Grundzüge dieser historisch-philosophischen Praxis scheinen es mir wert, hervorgehoben zu werden, weil sie einige Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Foucaults Vorgehen zu verstehen helfen. Erstens findet sich eine bemerkenswerte Konstanz in Foucaults Bemühungen, methodologische Konzepte anzufertigen, die seine historisch-philosophische Praktik als diagnostische Praktik so anleiten können, dass diese Konzepte selbst keine normativen Unterscheidungen (Wissen versus Irrtümer, legitime versus illegitime Macht, authentisches versus fremdbestimmtes Subjekt), keine der Geschichte entzogenen Begriffe (Wahrheit, Freiheit, Autonomie) und keine
6Vgl.
auch Maria Muhles Bemerkungen zum wechselnden Verhältnis von Foucaults Vorlesungen und Büchern in ihrem Beitrag zu diesem Band.
Zu Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France, 1970–1984
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ahistorischen Phänomene (Wahnsinn, Kriminalität, Sexualität) voraussetzen.7 Diese methodologischen Konzepte liegen auf den drei „Achsen“ des Wissens, der Macht und der Selbstverhältnisse (SW2, 9–20), entlang derer Foucault die Praktiken untersucht, in denen diese Phänomene Wirklichkeit gewinnen. In einer weiteren seiner verführerisch plausiblen Selbstinterpretationen in den Vorlesungen8 stellt Foucault seine Vorgehensweise folgendermaßen dar: Die Ersetzung der Geschichte der Wissensformen durch die historische Analyse der Formen der Veridiktion, die Ersetzung der Geschichte der Herrschaft durch die historische Analyse der Verfahren der Gouvernementalität, die Ersetzung der Theorie des Subjekts oder die Geschichte der Subjektivität durch die historische Analyse der Pragmatik des Selbst und der Formen, die diese angenommen hat, das sind die verschiedenen Zugangswege, auf denen ich versucht habe, die Möglichkeit einer Geschichte dessen näher zu bestimmen, was man „Erfahrungen“ nennen könnte. (RSA 18)
In dem Auszug aus dem Vorlesungsmanuskript, den die Herausgeber abgedruckt haben, werden die Verschiebungen als „nihilistisch“, „nominalistisch“ und „historizistisch“ (RSA 19) bezeichnet. Diese drei methodologischen Imperative prägen die Grundbegriffe, mit denen Foucault auf den Achsen des Wissens, der Macht und der Selbstverhältnisse arbeitet, auf dreifache Weise: Erstens nehmen sie jeweils einen „Wertentzug“ vor und umgehen die üblichen, allzu bekannten normativen Unterscheidungen (WK 30–34). Zweitens verfolgen sie die Genese vermeintlicher Universalien wie Wahrheit, Freiheit oder Autonomie in den historischen Praktiken, verweigern diesen Begriffen also eine trans- oder ahistorische Bedeutung (GBP 14–16). Drittens schließlich betonen sie den historischen Wandel dieser Praktiken und der darin produzierten Phänomene wie Wahnsinn, Kriminalität oder Sexualität, der jeder vermeintlichen Kontinuität vorgeordnet wird. Diese drei umstrittenen methodologischen Imperative leiten die Verfertigung der Begriffe an, mit denen Foucault auf den drei Achsen des Wissens, der Macht und der Selbstverhältnisse hantiert. Auf der Achse des Wissens unterscheidet Foucault dazu zwischen Wissen (savoir) und Erkenntnissen (connaissances): Während Erkenntnisse Aussagen sind, denen Wahrheitswerte zukommen, meint Wissen die Existenzbedingungen von Aussagen, so dass diese überhaupt Kandidaten für Wahrheitswerte sein können.9 Eine Analyse entlang der Achse des Wissens bedeutet daher nicht, Praktiken auf 7Vgl. zum Folgenden ausführlich Vogelmann (2017, 201–203), Vogelmann (2014, Abschn. 2.1). Einen Unterschied in Foucaults Herangehensweise, den meine summarische Darstellung übergeht, beschreibt Vojta Drápal detailliert in seinem Beitrag. 8Solche Methodenreflexionen finden sich, mal länger, meist aber kürzer, in allen Vorlesungen. Einige besonders interessante Varianten sind VG 13–43 und 52–56, STB 174–181, GBP 14–16 und 57–62, RL 27–30 und 110–121, RSA 14–19. 9Die Differenz zwischen Existenzbedingungen und Bedingungen der Möglichkeit ist für Foucault entscheidend vgl. z. B. AW 170. Eine Verwechslung führt leicht zu schwerwiegenden Missverständnissen, darauf weist Gutting (1989, 242) gegen Dreyfus und Rabinow (1987, Kap. 4) hin. – Streng genommen können Aussagen nicht nur wahr oder falsch, sondern auch angemessen oder unangemessen, genau oder ungenau etc. sein (DE I/59, 921). Davon sehe ich hier ab.
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ihre epistemischen Qualitäten und die in den Praktiken getätigten Aussagen auf ihre Wahrheitswerte hin zu untersuchen, sondern die Existenzbedingungen freizulegen, die den Praktiken und ihren Aussagen einen Platz „im Wahren“ (ODis 24) verschaffen. Erst diese Verschiebung von einer Untersuchung der Erkenntnisse und ihrer Wahrheitswerte zu einer des Wissens und damit der Existenzbedingungen wahrheitsfähiger Aussagen verleiht der Analyse Foucault zufolge politische Signifikanz (GBP 62). Denn nur sie zeigt, welche Kämpfe geführt, welche Subjekte geformt und welche Erkenntnisse unterdrückt bzw. erzeugt werden mussten, um die Bedingungen zu schaffen, unter denen die uns heute vertrauten Wahrheiten erscheinen konnten. Auf der Ebene des Wissens wird uns daher „das System des Wahren und des Falschen […] wieder [sein] Gesicht zeigen, das es so lange von uns abgewendet hatte und das nichts anderes ist als das der Gewalt“ (ÜWW 19). Die Differenzierung zwischen Erkenntnissen (connaissances) und Wissen (savoir) erlaubt also, die normative Einteilung in wahre und falsche Aussagen zu umgehen (Nihilismus), um stattdessen ihre umkämpfte Entstehung darzustellen (Historismus) und die vermeintliche Universalie „Wahrheit“ zu pluralisieren (Nominalismus). Eine entsprechende nihilistische, nominalistische und historizistische Prägung der Analysen finden wir auch auf der Achse der Macht, auf der Foucault seine Untersuchungen darauf konzentriert, wie Macht ausgeübt wird, anstatt darauf, aus welchen Gründen diese Machtausübung für legitim erachtet wird (oder nicht). Als diagnostisches Konzept muss Macht Foucault zufolge relational, strategisch und produktiv verstanden werden. Macht ist also kein Ding, das man besitzen kann, und nicht von subjektiven Intentionen her zu analysieren. Genauso wenig sind Machtbeziehungen auf repressive Verhältnisse reduzierbar; sie sind fragile, nur in ihrer Ausübung bestehende Relationen, die Handlungen ebenso gut anstacheln wie verhindern können (SW1, 93–97). Vor allem aber dürfen wir den Begriff der Machtbeziehungen nicht mit einem besonderen Typ von Macht gleichsetzen, ob nun juridischen, disziplinären oder regulativen Machtbeziehungen (vgl. Vogelmann 2014, 59–61). Wie die Analyse des Wissens nicht auf Wahrheit oder Falschheit einzelner Erkenntnisse, sondern auf die Existenzbedingungen von Erkenntnissen zielt, um die Verschränkung von Wissen und Macht freizulegen, so führt Foucault zugunsten seiner nihilistischen, nominalistischen und historistischen Analyse der verschiedenen Formen von Machtausübung an, dass nur sie eine von juridischen Vorurteilen befreite Diagnose ermöglicht. Die diagnostische Funktion der Begriffe auf den Achsen des Wissens und der Macht erklärt, warum Foucault in „Was ist Kritik?“ darauf insistiert, dass Wissen und Macht „nicht Entitäten, Mächte oder so etwas wie Transzendentalien […] bezeichnen“, sondern „nur hinsichtlich ihrer Referenzgebiete einen systematischen Wertentzug vornehmen“ (WK 32). Insofern gilt: „Wissen und Macht – das ist nur ein Analyseraster“ (WK 33). Und obgleich Foucault die entsprechenden Begriffe für die dritte Achse der Selbstbeziehungen noch nicht entwickelt hatte, als er den Vortrag hielt, gilt auch für die Begriffe der Subjektivierung und der Selbstpraktiken, dass sie nur die methodologische Funktion haben, eine unvoreingenommene Diagnose
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zu ermöglichen.10 Foucaults Analyse der Praktiken, in denen das Selbst seine eigene Konstitution beeinflussen kann, ist so angelegt, dass sie uns die Fragen, ob dieses Selbst ein „echtes“, ein authentisches oder ein autonomes Selbst ist, als allein unsere Fragen zeigt: Sie gehören zu der Subjektivität, die in unseren Selbstpraktiken entsteht, nicht zu Subjektivität im Allgemeinen, und wir sollten sie daher Foucault zufolge in unseren Begriffen vom Subjekt nicht voraussetzen. Um Subjektivität stattdessen als praktischen Selbstbezug untersuchen zu können, entwirft Foucault ein vierteiliges Begriffsraster des praktischen Selbstbezugs (SW2, 36–45). Es unterscheidet am praktischen Selbstbezug, was am Selbst verändert wird (Ontologie), was aus ihm werden soll (Teleologie), aus welchen Gründen (Deontologie) und mit welchen Mitteln (Asketik). Anhand dieser vier Aspekte lassen sich verschiedene Formen des praktischen Selbstbezugs miteinander vergleichen und so Subjektkonzeptionen analysieren, ohne diese schon vorab als um Authentizität oder andere substanzielle Werte kreisend zu interpretieren. Die Vorlesungen zeigen, so also meine Behauptung, Foucaults kontinuierliche Bemühungen um die Ausbildung diagnostischer Begriffe, die den drei methodologischen Imperativen des Nihilismus, Nominalismus und Historizismus gerecht werden. Dass er dabei immer wieder terminologische, aber auch sachhaltige Veränderungen vornimmt, ist weder bloßer Eklektizismus noch strategische Ablehnung präziser Begriffsarbeit. Das hartnäckige Zerrbild von Foucault als eines unordentlichen Denkers, das schon in vielen kleinen Texten der Dits et Ecrits in Frage gestellt wird (vgl. z. B. DE IV/362, 965 f.), muss angesichts der vorliegenden Vorlesungen endgültig abdanken. Bemerkenswert ist allerdings, dass Foucault viele Umbildungen seiner diagnostischen Begriffe durch selbstreflexive Genealogien vornimmt, d. h. indem er die Genese der von ihm gebrauchten Begriffe genealogisch hinterfragt. Darin sehe ich den zweiten Grundzug von Foucaults historisch-philosophischer Forschungspraktik, wie sie sich in den Vorlesungen zeigt. Thomas Lemke hat überzeugend dargestellt, dass die Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) eine solche selbstreflexive Genealogie ist, in der Foucault die „Hypothese Nietzsches“, der zufolge Machtbeziehungen nach dem Modell des Kriegs zu entziffern sind, prüft und letztlich verwirft (Lemke 1997, 131–143; vgl. VG 33–36, 62–81). Gegenstand der Genealogie ist die Vorstellung, dass Machtbeziehungen nicht nur nach der „philosophisch-juridischen“ Theorie der Souveränität analysiert werden können, sondern auch, ja sogar besser, nach
10So schreibt Foucault in der Einleitung zu Der Gebrauch der Lüste: „Jetzt schien es nötig, eine dritte Verschiebung vorzunehmen, um das zu analysieren, was als ‚das Subjekt‘ bezeichnet wird; es sollte untersucht werden, welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt.“ (SW2 12) – Weitergehende Überlegungen zu Foucaults komplexen Überlegungen über den Subjektbegriff und den Prozess der Subjektivierung stellen Francesca Raimondi und Andreas Gelhard in ihren Beiträgen an.
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dem „historisch-politischen Diskurs“, der den Krieg als Analyseraster gebraucht. Diese „Hypothese Nietzsches“ aber liegt Foucaults eigener Machtanalyse bis 1976 zugrunde, explizit etwa in Überwachen und Strafen, worin Foucault die Notwendigkeit bekräftigt, dass dem „Studium dieser Mikrophysik […] als Modell die immerwährende Schlacht zugrundegelegt wird und nicht der Vertrag über die Abtretung eines Gebietes oder die Eroberung, die sich eines solchen bemächtigt“ (ÜS 38). So stellt die Vorlesung von 1975/76 auf genealogische Weise Foucaults eigenen Machtbegriff in Frage und führt zu einer neuen Fassung seiner Machtanalytik: Foucault distanziert sich also nicht nur von der juridischen Konzeption der Macht, sondern bricht auch mit der Vorstellung der Macht als Krieg. Dies bedeutet jedoch nicht, dass mit Regierung die Befriedung des politisch-historischen Diskurses einsetzt. Im Gegenteil verweist Regierung auf die Pluralisierung von Kämpfen außerhalb jeder revolutionären Teleologie, die sie auf ein einheitliches Ziel ausrichtet und sie um einen zentralen Widerspruch herum organisiert […]. (Lemke 1997, 145)
In den beiden Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität entwickelt Foucault anhand des weiten Verständnisses von „regieren“, das er im 17. Jahrhundert findet, eine neue Analyse der Macht, die er nun ganz allgemein als „Führung von Führungen“ (DE IV/306, 286), d. h. als Lenkung von Verhalten bestimmt.11 Erst mit dieser nochmalig abstrakteren Fassung des Machtbegriffs sei es möglich, so Lemke (1997, 141 f.), jene Bio-Macht zu erfassen, die im Zuge der genealogischen Untersuchung des politisch-historischen Kriegsdiskurses ins Blickfeld gerät. Denn in In Verteidigung der Gesellschaft zeigt Foucault, wie sich der Kriegsdiskurs in einen medizinisch-biologischen verwandelt, der das Fundament eines neuen Staatsrassismus bildet.12 Die Hinwendung zur Thematik der Bio-Macht und die Neufassung des Machtbegriffs gehen auf Foucaults selbstreflexive Genealogie der eigenen methodologischen Voraussetzungen zurück, die allerdings noch eine dritte Konsequenz hat: Im Zuge der Umstellung seines Machtbegriffs rückt der Prozess der Subjektivierung stärker in Foucaults Aufmerksamkeit; die Ausbildung der oben vorgestellten dritten Achse wird von der selbstreflexiven Genealogie in In Verteidigung der Gesellschaft zwar nicht so direkt gefordert wie die anderen beiden Konsequenzen, aber doch zumindest angestoßen. Eine ähnliche Revision seiner Überlegungen zur Achse des Wissens kündigt Foucault in Die Regierung der Lebenden (1979/80) an. Der Regierungsbegriff, den er in den beiden Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität entwickelt habe, ersetze den Begriff der Macht; jetzt gehe es darum, „die Dinge hinsichtlich des nun abgenutzten und abgedroschenen Themas der Wissens-Macht
11Zur
Frage des Gegen-Verhaltens, das durch diese Regierungsintensivierungen provoziert wird, siehe Friedrich Balkes Beitrag in diesem Band. 12Siehe dazu den Beitrag von Gundula Ludwig in diesem Band.
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[savoir-pouvoir] zu verschieben“ (RL 28, frz. 12).13 Erst allerdings verteidigt Foucault nochmal diesen Begriff der Wissens-Macht, der notwendig gewesen sei, um sich vom Begriff der Ideologie freizumachen. Doch nun wolle er sich auf vergleichbare Art vom Begriff der Wissens-Macht lösen – oder jedenfalls beinahe: Wenn ich dies sage, bin ich letztlich vollkommen heuchlerisch, da es evident ist, dass man sich von dem, was man selbst gedacht hat, nicht so frei macht wie von dem, was andere gedacht haben. […] In dem Unvermögen, mich selbst so zu behandeln, wie ich die anderen behandeln konnte, würde ich daher sagen, dass es im Wesentlichen darum geht, den beiden Begriffen des Wissens und der Macht einen positiven und differenzierten Inhalt zu geben, indem man vom Begriff der Wissens-Macht zum Begriff der Regierung durch die Wahrheit übergeht. (RL 29)
Doch dieses Vorhaben misslingt. Zwar bemüht sich Foucault in den Vorlesungen vom 30. Januar und 6. Februar 1980 darum, die Begriffe „Wahrheitsakt“, „Wahrheitsmanifestation“ und „Wahrheitsregime“ genauer zu konturieren (RL 110–122, 133–144),14 doch anders als den Begriff der Regierung greift er sie im kommenden Jahr nicht wieder auf. In der Folgevorlesung Subjektivität und Wahrheit (1980/81) finden wir stattdessen die vertrauten, oben dargestellten methodologischen Reflexionen, die erneut vor allem die beiden Ebenen von Wissen [savoir] und Erkenntnissen [connaissances] unterscheiden und diese Differenz als grundlegend für die Analyse behaupten (SuW 29 f., vgl. auch 294–319). Allenfalls könnte man bemerken, dass Foucault nach 1980 häufig dort von „Wahrheit“ spricht, wo früher von „Wissen [savoir]“ die Rede war, doch ist dies keine systematisch durchgehaltene terminologische Neuerung. Eher noch kann man seine beiden letzten Vorlesungen, die dem Wahrsprechen (parrhesia) gewidmet sind, als einen neuen Anlauf betrachten, die eigenen methodologischen Begriffe mit den Mitteln der Genealogie umzuformen. Deutet man diese Vorlesungen zudem als eine Genealogie der kritischen Haltung (vgl. Folkers 2016 und seinen Beitrag in diesem Band), so könnte man hierin die selbstreflexive Genealogie der eigenen historisch-philosophischen Praktik erkennen, die Foucault in Was ist Kritik? vorgestellt hatte. Die begrifflichen Konsequenzen konnte er freilich nicht mehr ziehen – das bleibt eine der vielen Herausforderungen, vor die uns die publizierten Vorlesungen stellen.
3 Außenperspektiven: Anregungen, Grenzen und blinde Flecke Die angerissenen Überlegungen, die aus den Vorlesungen Rückschlüsse auf Foucaults eigene Vorgehensweise ableiten, sind ein Beispiel unter vielen, wie sich diese dreizehn Texte aus der Innenperspektive auf Foucaults Werk fruchtbar machen lassen.
13„Wissens-Macht“
ist offensichtlich gleichbedeutend mit dem vertrauteren Begriff „Macht/ Wissen [pouvoir-savoir]“ etwa aus Überwachen und Strafen (ÜS 39 f., frz. 32). 14Siehe zu diesen Begriffen auch Maria Muhles Beitrag in diesem Band.
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Eine Reihe von Beiträgen in diesem Band greift diese Innenperspektive auf, wenngleich sie andere Bezüge herstellen und sich auf andere Gegenstände konzentrieren. Darüber hinaus lassen sich Foucaults Vorlesungen aber auch weniger immanent als Sprungbrett nutzen, um neue Forschungsperspektiven oder -thematiken zu entwickeln. Den weitreichendsten Absprung haben unbestrittenermaßen die beiden Vorlesungen Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1977/78) und Die Geburt der Biopolitik (1978/79) ermöglicht, die gemeinsam unter dem Titel Geschichte der Gouvernementalität veröffentlicht wurden und die Keimzelle der Governmentality Studies bilden. Deren Beginn liegt zwar vor der Veröffentlichung der Vorlesungen (2004 auf Französisch und Deutsch, 2007/8 auf Englisch) in den Arbeiten einiger von Foucaults Mitarbeitern (Donzelot 1984; Ewald 1993), und sie nahmen bereits Fahrt mit der Veröffentlichung von The Foucault Effect (Burchell et al. 1991) sowie mit Thomas Lemkes Eine Kritik der politischen Vernunft (1997) auf.15 Doch die Veröffentlichung von Foucaults Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität befeuerte das Interesse spürbar.16 Gemeinsam ist diesen diversen, oft stark empirisch ausgerichteten Studien die analytische Perspektive auf das Ineinander von Regierungsrationalitäten und Subjektivierungsweisen. Dass politische Rationalitäten mit Selbstführungsprogrammen einhergehen und wie sich dies in Alltagspraktiken niederschlägt, wird an so unterschiedlichen Forschungsgegenständen wie zum Beispiel Empowermentprogrammen (Cruikshank 1999), präventiven Polizeistrategien (O’Malley 1992; Krasmann 2003), Arbeitsverhältnissen (Rau 2010) oder Sozialstaatsprogrammen (Lessenich 2003) untersucht. Und diese Auswahl ließe sich beliebig verlängern. In direktem Anschluss an Foucaults Vorlesungen konzentrieren sich die Governmentality Studies dabei vor allem auf den Neoliberalismus – bisweilen so sehr, dass andere politische Rationalitäten aus dem Blick zu geraten drohen und jede neue Forschungsarbeit so angelegt scheint, dass sie nur nochmals bestätigt, was schon zuvor bekannt war (so Bröckling et al. 2010, 16). Wer aktuell an die Neoliberalismusanalyse Foucaults anknüpfen möchte, sollte mindestens die Fragen mitbedenken, wie zutreffend Foucaults Beschreibung des deutschen und amerikanischen Neoliberalismus eigentlich ist, welche Mutationen die neoliberale Regierungsrationalität an den verschiedensten Orten in den 40 Jahren seit Foucaults Vorlesungen durchgemacht hat und ob es angesichts solcher Verschiebungen angemessen ist, noch von „Neoliberalismus“ zu sprechen.17
15Ich
stütze mich hier vorwiegend auf die Darstellung in Bröckling et al. (2010) und Lemke (2007). Eine persönliche Rückschau zweier Pioniere der Governmentality Studies bietet das Gespräch zwischen Colin Gordon und Jacques Donzelot (2008). 16Wie schon die folgende kleine Auswahl an Sammelbänden demonstriert: Pieper und Rodríguez (2003), Bröckling et al. (2004), Reichert (2004), Larner und Walters (2004), Krasmann und Volkmer (2007), Purtschert et al. (2008). 17In dieser Hinsicht vorbildlich sind z. B. Brown (2015) und Biebricher (2019). Zweifel daran, dass wir Foucaults Neoliberalismusdiagnose noch übernehmen können, habe ich in Vogelmann (2012) geäußert. Zur Debatte um Foucaults Deutung der Ordoliberalen vgl. die Analysen in Biebricher und Vogelmann (2017).
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Vielleicht sind wir ja, die längste Zeit fast unbemerkt, schon im Übergang zu einer anderen politischen Rationalität begriffen und täten gut daran, Foucaults Praxis der permanenten Umarbeitung des eigenen methodologischen Vokabulars zu übernehmen? Der im Vergleich zu den letzten 25 Jahren leicht gedämpfte Enthusiasmus für die theoretische Perspektive der Governmentality Studies könnte darauf hindeuten, dass sie es versäumt haben, ihre methodologischen Begriffe abstrakt genug anzulegen, um für verschiedene politische Rationalitäten anwendbar zu sein – so dass die gegenwärtige Konjunktur autoritärer Regierungsformen kaum Platz in den Governmentality Studies zu finden scheint. Doch diese Bedenken sollten nicht darüber hinwegtäuschen, wie produktiv die Übernahme und eigenständigen Weiterentwicklungen von Foucaults analytischer Perspektive in den Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität waren und noch sind. Eine vergleichbare Rezeption hat keine der anderen Vorlesungen erfahren – wenig verwunderlich, schließlich bildet sich nicht aller Tage eine neue Forschungsperspektive in den Sozialwissenschaften aus. Dazu bedarf es nicht nur eines so anregenden wie im Detail offenen Anstoßes, wie ihn die Gouvernementalitätsvorlesungen darstellen, sondern auch der entsprechenden Kontextbedingungen, auf die ein solcher Text trifft.18 Doch jenseits solcher unwahrscheinlichen Resonanzen gibt es ein weiteres Paar Vorlesungen, das zumindest auf großes Interesse über den engen Kreis der Foucault-Interpret_innen hinaus gestoßen ist: die beiden letzten Vorlesungen über das freimütige Wahrsprechen, die parrhesia. In Die Regierung des Selbst und der anderen (1982/83) sowie in Der Mut zur Wahrheit (1983/84) untersucht Foucault einen Sprechakt, der sich durch vier Merkmale auszeichnet: Die Sprecherin sagt darin ihrem Gegenüber eine Wahrheit, die sich auf die Gegenwart bezieht, und bekräftigt, dass sie diese Wahrheit vertritt. Damit geht sie ein Risiko ein, weil nicht absehbar ist, wie das Gegenüber reagiert. Insofern braucht es Mut für diesen Sprechakt der parrhesia – der aber grundsätzlich allen offensteht, die diesen Mut aufbringen. Foucault verfolgt in den beiden Vorlesungen, wie diese ursprünglich in der attischen Demokratie beheimatete Praxis des Wahrsprechens nach und nach aus der Politik verdrängt wird und in der Philosophie eine Zufluchtsstätte findet, jedoch nicht ohne sich gravierend zu verändern. Denn als ethische statt als politische Praxis zielt sie – etwa bei Platon – nicht länger auf die Überzeugung des demos, sondern auf die Seelenführung des Tyrannen. Allerdings nimmt die philosophische parrhesia als kynische Lebensweise eine abermals neue Form an; Wahrheit wird hier zum gelebten Skandal, der den Mitmenschen der Kynikerin die Falschheit ihrer eigenen Leben drastisch zeigt. Neben eher werkimmanenten Deutungen der parrhesia in Foucaults späten Vorlesungen (vgl. u. a. Flynn 1994; McGushin 2007; sowie die Beiträge in Gehring und Gelhard 2012) haben seine Analysen des Wahrsprechens insbesondere
18Bröckling et al. (2010, 9) zählen dazu vor allem die Kombination aus theoretischen und politischen Interessen der anglo-amerikanischen Sozialwissenschaftler_innen, deren Unzufriedenheit mit marxistischen Analysen und deren Kritik den Foucault Effect befeuerte.
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das Interesse der Politischen Theorie geweckt. Nicht nur, weil Foucaults teilweise deutlich sympathisierende Beschreibung vor allem der politischen und der kynischen parrhesia einige dazu animiert hat, darin Ansätze einer Foucault’schen Demokratietheorie zu sehen (z. B. Dyrberg 2014; skeptisch Suntrup 2019), auch vorsichtigere Leser_innen finden in den Vorlesungen immerhin Anhaltspunkte eines affirmativen Bezugs von Foucault auf das Wahrsprechen als eine widerständige Praxis (z. B. Luxon 2013; Happe 2015; Hoppe 2019; Posselt und Seitz 2019; Wieder 2019).19 Diese Diskussion steht meinem Eindruck nach noch am Anfang und wird insbesondere dann fruchtbar sein, wenn sie sich von der werkimmanenten Interpretation weg hin zu den systematischen Fragen verlagert: Wie ist die Beziehung von Wahrheit, Kritik und Demokratie? Welche Effekte übt Wahrheit auf Subjekte aus, und wie bringt man Foucaults Perspektive auf Wahrheit ins Gespräch mit epistemologischen Überlegungen, ohne beiden zugleich Unrecht zu tun?20 Natürlich ließen sich weitere Vorlesungen nennen, die Anlass zu Auseinandersetzungen mit Foucaults Forschungsgegenständen gegeben haben, beispielsweise die Aufnahme seiner Genealogie des innereuropäischen Rassismus in In Verteidigung der Gesellschaft (z. B. Stingelin 2003). Wichtiger scheint es mir jedoch, am Ende dieser kurzen Rundschau darauf hinzuweisen, was fehlt: Wie in Foucaults Büchern werden auch in seinen Vorlesungen Geschlechterverhältnisse und koloniale Machtbeziehungen kaum thematisiert. Dieser blinde Fleck erstaunt umso mehr, als vieles von dem historischen wie theoretischen Material, das Foucault bearbeitet, eigentlich von selbst darauf verweist: so die Vergewaltigung von Sophie Adam durch Charles-Joseph Jouy (AN 380–398; dazu Taylor 2018, Kap. 1), die Anwendung von Gary Beckers Humankapitaltheorie auf Eheschließungen, Kinderwünsche und -erziehung (GBP 337–340; zu Fragen der Reproduktion bei Foucault vgl. Deutscher 2017; zur feministischen Lektüre der Gouvernementalitätsvorlesungen Bargetz et al. 2015) oder eben die schon erwähnten Überlegungen zum Rassismus, deren Verknüpfung mit kolonialer und imperialer Herrschaft offensichtlich sein dürften (Stoler 2004, Kap. 3 und 4). Auch diesen verpassten Chancen widmen sich eine Reihe von Beiträgen im vorliegenden Band (vor allem die von Vanessa Thompson, Katrin Meyer, Daniel Loick und Gundula Ludwig) und führen so über die immer noch zu beobachtende Selbstisolation hinaus, die eine Zeit lang insbesondere in den Governmentality Studies zu beobachten war (so kritisch Lemke 2007, 64) und die noch heute vielfach die Versuche, Foucaults Perspektive fruchtbar zu machen, dadurch behindert, dass sie die offensive Konfrontation mit anderen theoretischen Perspektiven scheut, sei es nun Staatstheorie, Epistemologie oder postkoloniale Theorie. Doch das scheint sich gegenwärtig zu ändern – und auch dazu will dieser Band beitragen.
19Siehe
dazu auch die Beiträge von Aaron Sabellek und Ulrich Johannes Schneider sowie von Katharina Hoppe in diesem Band. 20Erste vorsichtige Sondierungen dazu unternimmt Nigro (2015).
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4 Unsere Perspektiven: Zu den Beiträgen Natürlich ist die Trennung der beiden theoretischen Perspektiven in eine, die als Innenperspektive werkimmanent verfährt, und eine, die als Außenperspektive sich den aufgeworfenen theoretischen oder praktischen Fragen bzw. den untersuchten Themen widmet, künstlich. Denn weder die eine noch die andere wird je ganz für sich bleiben können. Je nach Art und Weise der Übernahme eines Themas oder einer Frage aus Foucaults Vorlesungen beziehen Arbeiten, die eher eine Außenperspektive zuzuordnen sind, mindestens implizit Stellung auch zu Rezeptionsfragen. Umgekehrt werden auf solche Rezeptionsfragen konzentrierte Forschungsarbeiten, die eher einer Innenperspektive zugeordnet werden können, nicht umhinkommen, dabei mindestens implizite Behauptungen über systematische Fragen und die verhandelten Themen aufzustellen. Die Trennung ist als heuristische sinnvoll, sie darf aber keinesfalls zu einer strikten Entweder-oder-Entscheidung reifiziert werden – wie alle dreizehn Beiträge demonstrieren, die ich im Folgenden kurz vorstelle. Kerstin Andermann liest Foucaults erste Vorlesung Über den Willen zum Wissen (1970/71) als einen Versuch Foucaults, seine eigene „Morphologie des Willens zum Wissen“ in Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte, vor allem mit Nietzsche und gegen Aristoteles, zu begründen. Dabei komme Spinoza und seiner Umwandlung des von Aristoteles im Subjekt verankerten Erkenntnisstrebens in ein äußerliches Kräfteverhältnis eine überraschend zentrale Rolle zu. Ebenfalls mit Foucaults Methode beschäftigt sich Vojta Drápal, der den Unterschied zwischen zwei verschiedenen historischen Untersuchungsweisen in der Vorlesung Theorien und Institutionen der Strafe (1971/72) herausarbeitet: der Dynastik und der Genealogie. Erst mit letzterer, so Drápal, wird Foucault zum radikalen Kritiker des Rechts, der uns auch heute noch etwas zu sagen hat. Einen zentralen Gegenstand für die Rechtskritik arbeitet Vanessa Eileen Thompson in ihrer postkolonialen Lektüre von Die Strafgesellschaft (1972/73) heraus, in der Foucault die Beschlagnahme von Zeit durch die punitive Macht analysiert. Thompson zeigt, inwiefern Foucaults Analyse dringend auf Ergänzungen angewiesen ist, die den kolonialen und intersektionalen Aspekten jener Machttechnologien Rechnung tragen, deren Genealogie Foucault in dieser Vorlesung schreibt. In dieselbe Richtung argumentiert auch Katrin Meyer, die Foucaults Vorlesung Die Macht der Psychiatrie (1973/74) als wesentlichen Schritt in der Entwicklung von Foucaults Machtanalytik deutet. Meyer weist die Anschlussfähigkeit und -bedürftigkeit von Foucaults Analysen der Psy-Funktion als Scharnier zwischen souveräner und disziplinärer Macht nach, die zwar bereits Andeutungen einer intersektionalen Genealogie enthält, aber eben auch nicht mehr als das. Daniel Loick konzentriert seine Interpretation von Die Anormalen (1974/75) ganz auf die bürgerliche Kleinfamilie, deren Genese Foucault anhand der Figur des masturbierenden Kindes nachverfolgt. Auch er kritisiert, dass Foucault dafür konstitutive Machtbeziehungen des Rassismus und Kolonialismus unterschlage.
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Füllt man diese Leerstelle, so Loick, dann lässt sich Foucaults Diagnose der Normalisierungsmacht als Beitrag zur Analyse der Faschisierung lesen. Gundula Ludwig sieht die Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) als Dokument eines Übergangs in Foucaults Denken, zugleich Abschluss der bis dato erarbeiteten Genealogien von Disziplinar- und Biomacht wie Neufassung seiner Machtanalytik. Sie hebt besonders die Rolle des Körpers in Foucaults Untersuchung des Kriegsdiskurses und des sich daraus entwickelnden Staatsrassismus’ hervor. Das zwinge auch die Kritik dazu, sich mit der Ordnung und Verflochtenheit von Körpern auseinanderzusetzen. Nach einem Sabbatjahr wendet sich Foucault in Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1977/78) auf neue Weise dem Staat zu, genauer gesagt der aus der Pastoralmacht entstehenden Gouvernementalität. Warum aber, so fragt Friedrich Balke, betrachtet Foucault nur das „Gegen-Verhalten“ gegen das mittelalterliche Pastorat? Balke führt vor, wie eine (auch mediale) Analyse des Gegen-Verhaltens der Bevölkerung, beispielsweise im Vorfeld der französischen Revolution, wichtige Blindstellen in Foucaults „langen Geschichte der Genealogie“ füllen kann und auf überraschende Weise seine Diagnose bestätigt, dass es „niemals eine antipastorale Revolution“ (STB 221) gegeben hat. Andreas Folkers konzentriert seine Lektüre von Die Geburt der Biopolitik (1978/79) auf die Doppelrolle des Neoliberalismus als Regierungsweise und Kritik des Regierens. Damit will er vor allem zeigen, dass Foucault nicht nur eine kritische Genealogie des Neoliberalismus schreibt, sondern auch eine Genealogie der Kritik. In ihrem Beitrag zur Vorlesung Die Regierung der Lebenden (1979/80) widerlegt Maria Muhle die beliebte These zur Entwicklung von Foucaults Denken, der zufolge sich dieser im Spätwerk dem Subjekt zu- und von der Machtanalyse abwendet. Muhle zeigt, dass es zwar wirklich eine Verschiebung in der Vorlesung von 1980 gibt, dass diese jedoch gerade nicht zu einer von Macht befreiten Subjektivität führt, sondern ganz im Gegenteil die Geburt des uns vertrauten Subjekts in den machtdurchtränkten Prüfungs- und Geständnispraktiken der frühchristlichen Klöster postuliert. Francesca Raimondi zeigt in ihrer Lektüre von Subjektivität und Wahrheit (1980/81) eine Reihe der neuen Themen, die sich Foucault erschließt, indem er die Techniken der antiken Lebenskünste untersucht. Zwar hält Raimondi seine Genealogie des Begehrens als neue Problematisierungsform der Sexualität, welche die griechische Erfahrung der aphrodisia nach und nach ersetzt, für zu schmal, um Foucaults Fundamentalkritik an dem Begriff zu stützen. Doch ließe sich ihrer Meinung nach die Differenz von Lust und Begehren fruchtbar machen, ebenso wie die Unterscheidung einer Subjektivierung durch Wahrheit und durch Gebrauch, die in Ansätzen in Foucaults Deutung der Veridiktionspraktiken und der Selbsttechnologien enthalten seien. Foucaults Vorlesung Die Hermeneutik des Selbst (1981/82) ist den Selbstpraktiken der griechischen und römischen Antike gewidmet. Andreas Gelhard betont in seinem Beitrag, dass Foucault sich vor allem mit der Frage beschäftigt,
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inwiefern Praktiken des Wahrsprechens und Prüfens dabei eine Rolle spielen und ob sich die mit ihnen vollziehende Selbstbildung als Befreiung von sich selbst verstehen lässt. Dabei entstehe in der Sache eine überraschende Korrespondenz zur Philosophie Hegels, so Gelhard, die allerdings die tiefen Differenzen im Philosophieverständnis nicht überdecken könne. Foucaults Vorstellungen von Philosophie und Philosophiegeschichte wenden sich auch Aaron Sabellek und Ulrich Johannes Schneider zu. In Die Regierung des Selbst und der anderen (1982/83) entdecken sie ein szenographisches Verfahren, mit dem Foucault die Philosophiegeschichte so inszeniere, dass die einzelnen Szenen Schlaglichter auf die verschiedenen Formen der parrhesia werfen. Damit gelinge es Foucault, die philosophische Praxis der parrhesia zugleich zu historisieren und zu verfremden, um sein historisches Material Effekte in der Gegenwart erzielen zu lassen. Katharina Hoppe schließlich untersucht Foucaults Interpretation der Kyniker als „philosophische Held[en]“ (MW 278) in Der Mut zur Wahrheit (1983/84). Zu dieser Einschätzung kommt Foucault, so Hoppe, weil er die Kyniker eine besondere Form der parrhesia buchstäblich verkörpern sieht, die nicht so sehr die Wahrheit gegenüber einem mächtigen Subjekt ausspricht, als sie vielmehr lebt. Damit wird das Heldentum allerdings subversiv umgedeutet, weil es nicht länger eine von allen Zwängen und Notwendigkeiten des Lebens absehende Geste ist, sondern ein „bescheidener Heroismus“ (Hoppe), der eine post-heroische Politik der Wahrheit als Auseinandersetzung mit Machtbeziehungen und nicht als utopische Befreiung von ihnen konzipiert.
5 Dank An einem kollektiven Unternehmen wie diesem Sammelband sind stets mehr Menschen beteiligt, als nach außen sichtbar wird. Natürlich gilt mein Dank zunächst den Autor_innen für ihre Bereitschaft, sich auf die Mühen einzulassen und dem manchmal lästigen Drängen des Herausgebers nach baldiger Abgabe sowie nach Ein- und Umarbeitungen stets freundlich und rasch nachgekommen zu sein. Aber bedanken möchte ich mich auch bei denen, die nicht im Rampenlicht erscheinen: allen voran bei Andrea Blättler, Helena Waldvogel und Martin Saar. Ohne die Unterstützung von Andrea Blättler und Martin Saar hätte es den Workshop, auf dem viele der Beiträge das erste Mal ausgiebig diskutiert wurden, nie gegeben – und damit auch nicht die Bezugnahmen und Überarbeitungen, die eine solche gemeinsame Debatte ermöglicht, an deren Gelingen die Kommentare von Sarah Bianchi, Thomas Biebricher, Javier Burdman und Corina Färber maßgeblich Anteil hatten. Ohne Helena Waldvogel und ihr sorgfältiges Lektorat wiederum wäre der Band um viele Fehler reicher und meine Aufgabe viel weniger angenehm gewesen. Danken möchte ich zuletzt meinen Mitherausgeber_innen der Buchreihe, die das Projekt von Anfang an unterstützt haben.
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F. Vogelmann
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Zu Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France, 1970–1984
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Frieder Vogelmann ist Vertretungsprofessor am Institut für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Wissen. Wahrheit. Macht. Foucaults „Morphologie des Willens zum Wissen“ Der Wille zum Wissen (1970/71) Kerstin Andermann
1 Einleitung Bei der Vorlesung von 1970/71 handelt es sich um die erste reguläre Lehrveranstaltung des neuen Inhabers des Lehrstuhls für die „Geschichte der Denksysteme“ am Collège de France. Foucault eröffnet seine Lehrtätigkeit mit einer philosophischen Selbstvergewisserung und verbindet sein Forschungsprogramm mit der philosophischen Frage schlechthin: der Frage nach Wahrheit und Erkenntnis. Dass es dabei nicht um eine Theorie der Erkenntnisvermögen, also nicht um philosophische Erkenntnistheorie gehen würde, ist mit der Bestimmung des Aufgabenbereichs des neuen Lehrstuhlinhabers bereits gekennzeichnet.1 Um sich von der Geschichte der Erkenntnis als einer Geschichte der Erkenntnisvermögen abzusetzen, eröffnet Foucault in diesen Vorlesungen ein theoretisches Zwischenspiel und nimmt den Faden einer bis zu den griechischen Anfängen reichenden Philosophiegeschichte auf. Dabei dient der werkgeschichtlich unerwartet frühe Bezug auf das griechische Denken vor allem der Abgrenzung von klassischen Wahrheitsund Erkenntniskonzeptionen und wird am Beispiel der Sophisten und des König Ödipus ausgeführt. Die Vorlesungen von 1970/71 können unter dem Gesichtspunkt einer Genealogie der Erkenntnis gesehen werden, durch die die Erkenntnis von
1Vgl.
zur Situation des Neubeginns und zur Vorgeschichte des Lehrstuhls das Vorwort von François Ewald und Alessandro Fontana in ÜWW. Zur Einordnung der Vorlesung insgesamt ist die kenntnisreiche Besprechung von Frieder Vogelmann (2013) sehr hilfreich.
K. Andermann (*) Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_2
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der Wahrheit abgelöst und in die Frage nach einem Willen zum Wissen überführt werden soll. Dieser Wille zum Wissen soll morphologisch behandelt werden, um ihn als eine übergreifende Dimension auszuweisen, die über die einzelne menschliche Existenz und das individuelle Erkenntnisvermögen hinausgeht und sich in einer Dynamik äußerlicher Beziehungen ereignet. „Mit der diesjährigen Vorlesung beginnt eine Reihe von Untersuchungen, die sich Schritt für Schritt um die Schaffung einer ‚Morphologie des Willens zum Wissen‘ bemühen werden“ (ÜWW 282).
2 Auf dem Weg zu einer Willensmorphologie Foucault betont, dass in all seinen bisherigen und seinen geplanten Analysen ebenfalls „Fragmente einer Morphologie des Willens zum Wissen“ (ÜWW 15) enthalten sind und dass dieses Thema seine historischen Forschungen in den kommenden Jahren bestimmen wird. Mit dem Begriff der Morphologie ist der Anspruch verbunden, eine Theorie des Willens zum Wissen auszuarbeiten, die den historischen Analysen als Grundlage dienen kann.2 Als Lehre von der Bildung und Umbildung lebendiger Formen und Gestalten ist die Morphologie vor allem von Goethe her bekannt und hat als Instrument morphologischer Geschichtsschreibung weitreichende Resonanz erfahren. Als populäres Modell und Metapher der Lebensphilosophien ist mit ihr aber zugleich eine sehr ambivalente Wendung verbunden, für die vor allem der Name Oswald Spengler steht. Dessen kulturmorphologische Versuche, historische Entwicklungsformen kultureller Gebilde einer periodischen Verlaufsschematik zu unterwerfen, haben zu problematischen Ansichten determinierter und schicksalhafter Geschichtsformung und zur Nivellierung differenter Gegenstandsbereiche in dominierenden Formkonstanten geführt. Neben solchen essenzialistischen Modellen hat die Morphologie bei Émile Durkheim, und im Anschluss auch bei Marcel Mauss, zu sozialmorphologischen Fragen nach der Veränderung von Kulturformen durch soziale Formbildungen geführt.3 Für Foucault war der Begriff der Morphologie ein Vehikel der Geschichtsschreibung. Im Anschluss an Georges Dumézil und dessen Untersuchungen isomorpher sozialer Muster anhand von Mythen sieht Foucault in der morphologischen Betrachtungsweise die Möglichkeit, einen Isomorphismus von Diskursen beschreibbar und ihren inneren Zusammenhang ausweisbar zu machen. In einem Gespräch mit Raymond Bellour von 1967 erklärt er die Bedeutung der morphologischen Betrachtung für das Problem der Geschichtsschreibung: Die Suche nach formalen Gesetzen der Diskurse mache in verschiedenen Bereichen
2Dementsprechend
trägt der erste Band von Sexualität und Wahrheit von 1976 auch den Titel Der Wille zum Wissen. 3Vgl. dazu den umfangreichen Eintrag im Historischen Wörterbuch der Philosophie sowie auch Maatsch (2014).
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ein „einheitliches theoretisches Modell“ identifizierbar, aus dem man „auf eine Autonomie der Diskurse schließen kann“ (DE I/48, 756). Foucault bezieht sich hier auf Dumézils Beschreibungen der Isomorphiebeziehungen der römischen Religion zu ganz anderen, entfernten Legenden und Riten. Er zeigt damit, dass „die Geschichte der römischen Religion und ihrer Beziehungen zu Institutionen, sozialen Klassen und ökonomischen Verhältnissen“ nur zu schreiben ist, wenn man ihre „innere Morphologie berücksichtigt“ (DE I/48, 757). Die morphologische Betrachtungsweise soll eine Bestimmung vergleichbarer Formgesetze ermöglichen, die sich von den Subjekten loslösen und eine autonome Schicht des diskursiven Zusammenhangs bilden, in dem die Subjekte stehen. Es ist diese morphologisch auszuweisende Autonomie der Diskurse, die Foucault als einen anonymen Willen und mit Blick auf die vorliegende Frage nach Wahrheit und Erkenntnis als einen anonymen Willen zum Wissen ausweist. Sowohl in Die Archäologie des Wissens von 1969 als auch in der den Vorlesungen von 1970/71 unmittelbar vorhergehenden Antrittsvorlesung, die bereits 1972 unter dem Titel Die Ordnung des Diskurses publiziert wurde, geht es um methodologische Überlegungen zur Erschließung dieser Autonomie der Diskurse. In seiner Antrittsvorlesung betont Foucault, dass sich die „kritischen Beschreibungen und die genealogischen Beschreibungen abwechseln, stützen und ergänzen“ (ODis 43) sollen. Während der kritische Teil der Analyse der Diskurse darauf zielt, ihre Regulierung durch Aufteilungen, Ausschließungen und Verknappungen aufzuzeigen, dreht sich der genealogische Teil um etwas viel Allgemeineres. Er soll die Diskurse in ihrer „Affirmationskraft“ erfassen, das heißt in ihrer selbstständigen Kraft, „Gegenstandsbereiche zu konstituieren, hinsichtlich derer wahre und falsche Sätze behauptet oder verneint werden können“ (ODis 44). Es geht also um die diskursive Erzeugung bestimmter Gegenstandsbereiche und um ihre Konstitution durch einen anonymen Willen, das heißt um ihr Zustandekommen in den Kräfteverhältnissen des Wissens, der Wahrheit und der Macht. Die Vorlesungen über den Willen zum Wissen sollten der bisher unter dem Begriff der Archäologie gefassten Art von Analyse einen theoretischen Rahmen geben und die Unterscheidung eines äußeren, autonomen Willens von der Erkenntnis und ihrer Beziehung zur Wahrheit möglich machen. Die untersuchten Diskurse sind bekanntlich nicht einfach und klar zu bestimmende Formen der Herstellung von Wissen, sondern komplexe Ensembles heterogener Elemente, die sich in vielfachen Beziehungen und Zusammenhängen befinden und eben morphologisch, das heißt für Foucault in ihrer Gestaltentwicklung vergleichbar sind. Für diese Formationen heterogener Verbindungen und ihre wirkmächtige Struktur nutzt er später bekanntlich den Begriff des Dispositivs, mit dem eine Verschiebung von der wissensgeschichtlich archäologischen Phase zur machttheoretisch genealogischen Phase einhergeht. Ein Dispositiv verbindet eine „entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, […] das sind die Elemente des
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Dispositivs“ (DE III/206, 392). Entscheidend für das Verständnis des autonomen Willens ist aber, dass Foucault erst das Netz zwischen all diesen Elementen als das Dispositiv selbst auszeichnet (vgl. DE III/206, 392). Der Begriff des Dispositivs dreht sich also um einen Funktionszusammenhang überindividueller Wirkungsmacht, der sich aus heterogenen Elementen ergibt und dem eine „gewisse Autonomie“ (ÜWW 283) eigen ist. Das Dispositiv ist, wenn man so will, ein Wille, und dieser Wille wird von Foucault, wie wir noch sehen werden, im Falle des menschlichen Erkenntnisstrebens als ein Wille zum Wissen ausgewiesen. Wir haben es also mit einem Willensprinzip zu tun, dass seine Wirkung autonom entfalten kann und nicht zurückführbar ist „auf ein (geschichtliches oder transzendentales) Erkenntnissubjekt“, das heißt, wir haben es mit einem „anonymen, polymorphen Willen“ (ÜWW 283) zu tun. In der Vorlesung von 1970/71 wird deutlich, dass Foucault einen Ansatzpunkt gesucht hat, um die autonomen Effekte und Wirkungen der Diskurse aufzuzeigen, deren vielfache Verbindungen er in einer Morphologie des Willens zum Wissen bestimmen wollte. Dieser Ansatzpunkt konnte gerade nicht das Subjekt selbst sein, dessen Konstitution in den Verbindungen des Wissens und der Wissenspraktiken erst ausgewiesen werden sollte. Er durfte auch nicht auf der Grundlage theoretischer Vorannahmen gebildet werden, die etwa von einer anthropologischen Disposition, einer transzendentalen Bewusstseinsintentionalität oder einfach einem subjektiven Wissenstrieb ausgehen. Anthropologische, phänomenologische oder psychologische Voraussetzungen mussten ausgeschlossen werden, um zu einem allgemeinen Begriff des Willens und einem erkenntniskritischen Begriff des Willens zum Wissen zu gelangen. Die Grundlage des Willensstrebens musste vielmehr eine überindividuelle Einheit sein, die das Subjekt überschreitet und ihm zugleich wie eine bestimmte Eigenschaft anhaftet. Eine Einheit, die tief in das System des Wahren und des Falschen eingelassen und zugleich eben von einer gewissen Autonomie ist. Diese Einheit sollte der „anonyme, polymorphe Wille“ (ÜWW 283) sein, der zwar in vielfachen Verbindungen determiniert ist, sich aber zugleich durch eine Autonomie auszeichnet, die es ihm erlaubt, sich immer wieder neu zu orientieren. Es geht also um die Verbindung dieses Willens zur Erkenntnis und zum Wissen. Erkenntnis, so erklärt Foucault zum Ende der ersten Vorlesung, sei das System, „das es ermöglicht, eine vorgängige Einheit, eine wechselseitige Zugehörigkeit und eine gemeinsame Natur des Strebens und des Wissens anzugeben“ (ÜWW 36). Wissen ist das, „was man aus dem Inneren der Erkenntnis herausholen muss, um dort das Objekt eines Willens, das Ziel eines Strebens, das Instrument einer Herrschaft zu finden, den Einsatz, um den es in einem Kampf geht“ (ÜWW 36). Wissen ist also der hoch umstrittene Gegenstand der Erkenntnis, der zum Objekt des Willens, zum Ziel des Strebens und vor allem zum Instrument der Herrschaft werden kann, also das, worum es in den Kämpfen um Macht und Wahrheit geht. Um den Begriff des Willens zu prüfen und eine autonome Dimension des Willens zum Wissens zu begründen, eröffnet Foucault seine erste Vorlesung vom 9. Dezember 1970 mit einer Reihe von begriffskritischen Fragen: „Ist es für eine
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Analyse des Wissens, die sich nicht auf ein grundlegendes Subjekt zu beziehen versucht, überhaupt sinnvoll, den Willen zu ihrem zentralen Begriff zu machen? Führt sie dadurch auf Umwegen nicht erneut so etwas wie ein souveränes Subjekt ein?“ (ÜWW 18). Und führt die Idee eines affirmativen und autonomen Willens hinter den historischen Wissensfeldern nicht zu einer idealen Geschichte und einer transzendenten Geschichtskonstruktion? Wie ist dieser Wille mit den realen Herrschaftsverhältnissen zu verbinden, in denen Wissen entsteht? Vor allem aber: Wie ist das Verhältnis dieses Willens zum Wahren und zum Falschen, und gibt es einen Willen zum Wissen, der die historischen Systeme von Wahrheit und Falschheit bestimmt, einen Willen zur Wahrheit, der sich mit den realen Herrschaftsverhältnissen verknüpft, das Spiel der Wahrheit in die Herrschaftsverhältnisse einwebt und damit letztlich zu einer Gewalt des Wissens führt (vgl. ÜWW 18 f.)? Es ist also nicht einfach zu beantworten, was dieser Wille als Wille zum Wissen sein könnte und welcher analytische und kritische Gewinn mit der Aufnahme des Willensbegriffs einhergeht. Die Philosophie ist für all diese Probleme wenig hilfreich, obwohl sie sich doch vor allem um den Wunsch, den Willen, den Trieb, das Streben und die Liebe zur Wahrheit und zur Erkenntnis dreht. Es gibt zweifellos kaum eine Philosophie, die nicht von so etwas wie einem Willen oder Wunsch nach Erkenntnis, von Wahrheitsliebe oder dergleichen gesprochen hätte. Aber nur wenige – abgesehen vielleicht von Spinoza und Schopenhauer – weisen diesem Willen mehr als eine marginale Stellung zu. Als hätte die Philosophie nicht zuallererst einmal zu sagen, was sie doch selbst in ihrem Namen führt. Als genügte es ihr, diesen Wunsch nach Wissen, der in ihrem Namen zum Ausdruck kommt, ihrem Diskurs gleichsam als Motto voranzustellen, um ihre Existenz zu rechtfertigen und zu beweisen, dass sie […] notwendig und natürlich sei: Alle Menschen streben von Natur nach Wissen […]. Welcher Mensch wäre da nicht Philosoph, und wie sollte die Philosophie nicht notwendiger als alles andere in der Welt sein? (ÜWW 19)
So führt die Philosophie ihren Wissenswillen also im Namen, und doch ist von ihr nichts über einen Willen zum Wissen zu erfahren, zumindest nicht über den anonymen, polymorphen und autonomen Willen, der für Foucault im Hintergrund der Kämpfe um Wissen und Wahrheit wirkt.
3 Wille zur Wahrheit (Aristoteles) Um die Autonomie des Willens zum Wissen im Feld der Erkenntnis mithilfe der morphologischen Formanalyse sichtbar zu machen, geht Foucault in der Philosophiegeschichte weit zurück. Ich beschränke mich im Folgenden darauf, seine Diskussion des Willens zum Wissen bei Aristoteles, Spinoza und Nietzsche darzustellen, denn hier wird besonders deutlich, warum Foucault zu Beginn seiner Vorlesungen betont, dass in all seinen Analysen Elemente einer Morphologie des
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Willens zum Wissen enthalten sind.4 Nietzsche wird im Verlauf der Vorlesungen als derjenige ausgewiesen, der den Willen zum Wissen aus der Umklammerung durch die Erkenntnisproblematik gelöst und in eine äußerliche Dynamik gestellt hat. Statt aber die Umwertung des Willens zum Wissen bei Nietzsche genau aufzuzeigen, skizziert Foucault zuerst die lange Geschichte seiner Verdeckung in der Frage der Erkenntnis und markiert die Metaphysik des Aristoteles als den Einsatzpunkt dieser Verdeckungsgeschichte des philosophischen Willens zum Wissen. An Aristoteles will er zeigen, dass genau das, was eben die ureigenste Sache der Philosophie sein sollte, nämlich die Erklärung des Willens, des Triebs oder des Strebens zum Wissen, bereits in ihren frühen Formen verschleiert wird. Um diese Annahme zu erläutern, hält Foucault sich an die ersten Sätze des ersten Buchs der aristotelischen Metaphysik: Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen anderen vor. Ursache davon ist, daß dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt. (Aristoteles 1989, 980a)
Diese ersten Sätze der Metaphysik sind für Foucault ausschlaggebend. In ihrer axiomatischen Setzung meint er einen „philosophischen Operator“ (ÜWW 21) ausweisen zu können, der die philosophische Frage begründet und damit zur begrenzenden Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis wird. Er identifiziert in dieser Passage drei Thesen: „1. Es gibt ein Streben, das sich auf das Wissen richtet. 2. Dieses Streben ist universell und findet sich bei allen Menschen. 3. Es ist von Natur aus gegeben“ (ÜWW 22). Die Naturalisierung des Strebens nach Wissen werde von der Bestimmung der ersten sinnlichen Erkenntnis bis zur Bestimmung der Kontemplation in der theoretischen Betrachtung durchgehalten. Foucault will deutlich machen, dass Aristoteles die Sinneswahrnehmung nicht nur als eine bestimmte Erkenntnisform ausweist, sondern dass er die wahre E rkenntnis
4In
der umfangreichen Diskussion des Ausschlusses der Sophistik kritisiert Foucault die Bestimmung der Wahrheit als Ursache der Philosophie und will zeigen, dass der philosophische Diskurs sich damit an ein Prinzip der Innerlichkeit bindet, die immer schon mit der Wahrheit verbunden ist und in der Philosophiegeschichte nur wiederholt wird. Die Sophistik erweise sich in ihrer Betonung der materiellen und machtförmigen Grundlagen des philosophischen Diskurses als ein Außen der Philosophie, das auszuschließen sei, um ihre Existenz als Wahrheitsform überhaupt zu ermöglichen. Aristoteles’ Diskussion der Sophistik scheine „eine gewisse Innerlichkeit der Philosophie zu definieren und vorzuschreiben und ein gewisses Außen des philosophischen Diskurses zu eliminieren […] ein Außen, dessen Ausschaltung erst die Existenz der Philosophie ermöglicht; ein Außen an das sich der philosophische Diskurs in undurchsichtiger Weise anlehnt“ (ÜWW 61). Über die aristotelische Diskussion der Sophistik hinaus analysiert Foucault das Wahrheitsgeschehen in juristischen, politischen und ökonomischen Diskursen der griechischen Geschichte. Und er zeigt am Beispiel des sophoklesschen Ödipus, wie sich die Frage der Wahrheit und der Beweis der Wahrheit, als ein „bestimmtes Zwangssystem [etablieren], dem der Wahrheitsdiskurs in den westlichen Gesellschaften seit Griechenland gehorcht“ (ÜWW 247).
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als Erkenntnis des Wahren auch an die ursprüngliche, sinnliche Natur des Menschen bindet. Er stellt dar, dass Aristoteles die Erkenntnis der Wahrheit von der Lust der Sinneswahrnehmung abhängig macht und einen Zugang zur Wahrheit nur im Durchgang durch die lustvolle Kontemplation der sinnlichen Natur als möglich ansieht. Dabei spiele der Gesichtssinn eine besondere Rolle, denn erst durch den Gesichtssinn werde für Aristoteles eine Verbindung individuellen Strebens und wahrer Erkenntnis erreicht. Foucault zeigt, wie es Aristoteles durch eine Überlagerung verschiedener Begriffe gelingt, das Streben nach Erkenntnis in der Natur zu verankern, es mit der Wahrnehmung und dem Körper zu verknüpfen und ihm eine bestimmte Form von Vergnügen zum Korrelat zu machen. Andererseits verleiht er ihm [dem Erkenntnisstreben] zugleich eine Stellung und Verankerung in der Gattungsnatur des Menschen, im Element der Weisheit und einer Erkenntnis, die keinen anderen Zweck hat als sich selbst und in der die Lust Glückseligkeit ist. (ÜWW 30)
In diesem Ansatz sieht Foucault jede frei strebende Dimension der sinnlichen Wahrnehmung ausgeschaltet, weil sie immer schon in den Dienst einer Erkenntnis der Wahrheit gestellt ist. Er kritisiert diese Konstruktion des Zusammenhangs von sinnlicher Wahrnehmungslust und Wahrheit, weil der Wille zur Wahrheit hier in einer Vorrangigkeit der sinnlichen Erkenntnis des Subjekts angelegt wird. Mit der Konstruktion eines natürlichen Erkenntnisstrebens und der Verlagerung dieses Strebens in die sinnliche Wahrnehmung und die jeweilige Identität des Subjekts werde jedes dieser Wahrnehmung äußerliche Wissen ausgeschlossen.5 Auf diese Weise werde die Erkenntnis gewissermaßen selbstbezüglich und in die sinnliche Wirklichkeit einer bestimmten Identität eingeschlossen. Das dynamische Streben nach Erkenntnis und die Bewegung der Erkenntnis würden hier, so Foucault, in einer inneren Voraussetzung angelegt und bekämen einen Ort, ein Gesetz und ein Bewegungsprinzip zugewiesen (vgl. ÜWW 34). Foucault versteht diese ganze Anlage der Einschließung des Wissens in die Bedingungen eines Erkenntnissubjekts, die er auf ganz andere Weise auch in Platons Ansiedlung der Erkenntnis in den Ideen ausmacht, als einen Weg, „das Streben nach Erkenntnis in die Erkenntnis selbst hineinzuverlagern“ (ÜWW 34), statt es über sich selbst und die natürlichen Vermögen hinauszutreiben. Aristoteles und Platon werden gleichermaßen als die Ersten ausgewiesen, die die Erkenntnis „vor der Äußerlichkeit und der Gewalt des Strebens zu schützen“ (ÜWW 35) suchten, indem sie das Wissen und das Streben nach Wissen ineinander aufgehen ließen. Polemisch hält Foucault hier fest: „Ohne Gewalt, ohne Aneignung, ohne Kampf [und auch] ohne Handel gelangt schließlich der nach Wissen Strebende
5In der griechischen Tragödie (Aischylos, Sophokles) sei aber gerade dieses Wissen das entscheidende, denn die Helden würden hier nicht aus einer vorausgesetzten Natur der Wahrnehmung nach Wissen streben, sondern weil sie einem Wink des Himmels und der Götter folgen (vgl. ÜWW 31).
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zum Wissen: Ein einziges Subjekt geht vom Streben nach Wissen zur Erkenntnis über, und das aus gutem Grunde, denn wenn die Erkenntnis nicht dem Streben vorausginge, gäbe es das Streben gar nicht“ (ÜWW 35). Der Wille zum Wissen soll also aus dieser Einschließung in die natürlichen Vermögen herausgenommen und dem Streben ausgesetzt werden. Für Aristoteles wie für Platon ist dieses Streben ein Begehren, das durch den Begriff der orexis dargestellt wird, den wir als das lateinische appetitus kennen. Während Platon die Philosophie als das Streben nach Erkenntnis des Seienden ausweist, ist es gerade Aristoteles, der dieses Streben als ein der Vernunft und dem Willen unterworfenes Vermögen der Seele auffasst, das in Begierde, Mut, Eifer usw. zu unterscheiden ist. Die orexis ist aber auch ein Streben, das den Menschen in ganz unterschiedliche Richtungen ziehen kann und in historischen Kontexten des Krieges und der Kriegsführung eine wesentliche Rolle spielt. Foucault kritisiert nun nicht nur, dass dieses Streben des Menschen bei Aristoteles als ein natürliches sinnliches Vermögen verstanden, sondern auch, dass es als vernunftgelenkt angesehen und selbst als Trieb oder Begierde unter das Vernunftgesetz des Subjekts gestellt wird.6 Die Rolle der Wahrheit bestehe dabei darin, eine „Vorgängigkeit der Erkenntnis gegenüber dem Streben“ auszuzeichnen und die Konstitution der „Identität des Subjekts im Streben und in der Erkenntnis“ (ÜWW 44) zu sichern. Gegen diese Verengung des Erkenntnisstrebens in den sinnlichen Vermögen und der natürlichen Identität des Subjekts setzt Foucault die Potenzialität und die Dynamik eines autonomen Willens zum Wissen, der sich aus den Diskursen ergibt, in die er eingelassen ist, und der nicht an eine Wahrheit gebunden ist. Der Wille zum Wissen hat mit Kampf und Gewalt, Widerstand und Aneignung, Handel und Wettbewerb zu tun und lässt sich nur im Widerstreit dieser Kräfte realisieren. Wille und Wissen gehen nicht ineinander auf und sind für Foucault schon gar nicht in der vorausgesetzten Natur eines einzelnen Subjekts und seiner Vermögen zu verorten. Um den Willen zum Wissen angemessen zu verstehen, muss er aus der Einheit des Erkenntnissubjekts herausgelöst und einem freien und ungebundenen Streben ausgesetzt werden.
4 Wille zur Erkenntnis (Spinoza) Nachdem Foucault die Fundierung der wahren Erkenntnis in der sinnlichen Natur des Menschen bei Aristoteles dargestellt hat, geht es ihm im Weiteren darum, sie einer Veräußerlichung in den umgebenden Verhältnissen zu unterziehen. Nietzsche wird als derjenige angeführt, der das Streben nach Erkenntnis von der vorausgesetzten Natur und ihrer Wahrheit befreit und die Erkenntnis von äußeren Wirkungen her bestimmt. Foucault macht Nietzsches Verhältnis zu
6Vgl. zur orexis in Platons Phaidon und Aristoteles’ De anima den Eintrag in Horn und Rapp (2008).
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Kant und Spinoza zum Ausgangspunkt, um die philosophiegeschichtlichen Bedingungen einer Bestimmung des Willens zum Wissen zu erklären. „Wenn Streben und Wille sich in der westlichen Philosophie vor Nietzsche niemals aus der Unterordnung unter die Erkenntnis befreien konnten, wenn das Erkenntnisstreben stets an die Erkenntnis als ihre Voraussetzung gebunden blieb, so wegen dieses fundamentalen Verhältnisses zur Wahrheit“ (ÜWW 44). Erwartungsgemäß wird auch Kant innerhalb der Reihe derjenigen vorgestellt, die den Willen zum Wissen in die Vermögen des Subjekts eingeschlossen hätten. Seine Zurichtung des Willens in den transzendentalen Kategorien der Erkenntnis habe der Bindung des Strebens an die Erkenntnisvermögen und der Bindung der Erkenntnis an die Wahrheit enormen Auftrieb gegeben. „Kant ist die Gefahr, die winzige und alltägliche Bedrohung, das Netz der Fallen. Spinoza ist der große Andere, der einzige Gegner“ (ÜWW 48).7 Während Kant also aus der Bestimmung des Willens zum Wissen ausgeschlossen wird, ringt Foucault im Falle Spinozas um eine Einschätzung. Wie schon Nietzsche kann er sich in seiner Bezugnahme auf den Amsterdamer Philosophen der Ambivalenz einer Verachtung des rationalistischen Erkenntnisglaubens und einer Verehrung des immanenten Denkens in Macht- und Kräfteverhältnissen nicht entledigen.8 Einerseits wird Spinoza als derjenige herausgestellt, der den Zusammenhang von Erkenntnis und Wahrheit erst begründet habe, andererseits als derjenige, der die Grenzen dieser Verbindung habe ausloten und den ganzen Zusammenhang an seinem „höchsten Punkt“ (ÜWW 44) zum Einsturz bringen können. Foucault schreibt: Aber der Gegner ist Spinoza, denn er ist es, der von der Berichtigung des Verstandes bis hin zum letzten Satz der Ethik die Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Erkenntnis in Gestalt der wahren Idee benennt, begründet und wiedereinführt. Spinoza ist für Nietzsche der Philosoph schlechthin, weil er es war, der in denkbar strengster Weise Wahrheit und Erkenntnis miteinander verknüpfte. Wer Kants Falle entgehen will, muss Spinoza töten. Man kann der Kritik und dem ‚großen Chinesen von Königsberg‘ nur entgehen, wenn man sich vorher von dieser Zusammengehörigkeit der Wahrheit und der Erkenntnis befreit, die zu Recht mit dem Namen Spinoza verbunden ist […]. (ÜWW 49)
Spinoza habe, so lässt sich Foucault hier verstehen, den Zusammenhang von Erkenntnis und Wahrheit begründet und zugleich zum Einsturz gebracht. Spinoza ist die Voraussetzung für Kant, und wenn man Kant entkommen will, muss man sich von Spinoza befreien. Foucaults unentschiedene Einschätzungen Spinozas machen den Eindruck, als wolle dieser nicht so recht in das Bild seiner Erkenntniskritik passen. Möglicherweise hätte Foucault das geometrischrationalistische Kapitel der Philosophiegeschichte auch gar nicht aufgeschlagen,
7Vgl.
dazu auch die provokanten Bemerkungen über die kantischen Erkenntnisformen als „primitive Felsen, an denen die Erkenntnis haftet“, in den Rio-Vorlesungen (DE II/139, 675). 8Vgl. zur Bedeutung Spinozas für Foucaults Machtbegriff auch Andermann (2019, 111–135).
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wenn nicht sein großer Vorgänger Nietzsche seinerseits so emphatisch auf seinen großen Vorgänger Spinoza verwiesen hätte.9 In den Vorlesungen von 1970/71 wird deutlich, wie sehr das Denken Foucaults im Zeichen einer von Deleuze so genannten „spinozistische[n] Inspiration“ (Deleuze 1991, 69) Nietzsches steht. Von diesem denkerischen Zusammenhang ausgehend lässt sich zeigen, wie aus Nietzsches ontologischer Konzeption des Willens zur Macht Foucaults epistemologische Konzeption des Willens zum Wissen werden konnte. Foucaults explizite Bezugnahme auf Spinoza erschöpft sich in der frühen Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes. Eine systematische Auseinandersetzung mit der durchformten Ausarbeitung der Erkenntnistheorie in der Ethica findet sich nicht, und doch sind zahlreiche Elemente dieses Denkens zu identifizieren. Allem voran zeigt Foucault, dass es Spinoza nicht in erster Linie um das Streben nach Erkenntnis, sondern um das Streben nach Glück durch die Erkenntnis des Seinszusammenhangs gegangen sei. In der Suche nach Glück und der „Prüfung der Bedingungen, unter denen man solches Glück zu finden vermöchte […], enthüllt sich die wahre Idee, das der wahren Idee innewohnende Glück. Von dort aus entfaltet sich der Entschluss, nach Erkenntnis zu suchen“ (ÜWW 45). Anders als bei Aristoteles sieht Foucault bei Spinoza eine „Gleichsetzung von Glück und wahrer Idee, von der aus sich der Wille zur Erkenntnis und die Erkenntnis entfalten“ (ÜWW 45). Die aristotelische Naturalisierung des Erkenntnisstrebens zeige möglicherweise eine Form der kontemplativen Erkenntnis des Wahren in der Sinneswahrnehmung, aber keine Konzeption des Glücks der fortschreitenden Erkenntnis. Während Aristoteles also eine Naturalisierung der Wahrheit in den sinnlichen Vermögen betreibe, wird Spinoza als derjenige ausgewiesen, dem es gelinge, das Streben und das Glück in den Vorgang der Erkenntnis selbst einzubauen. Implizit geht es hier jedoch um viel mehr, denn die Frage nach einem strebenden Willen in den Verbindungen eines äußeren Erkenntniszusammenhangs geht auf die immanenten ontologischen Voraussetzungen zurück, die Spinoza in seinem Hauptwerk von 1677 entfaltet hat. Spinoza beginnt dort mit einer metaphysischen Explikation der elementaren Dimensionen der Wirklichkeit sowie mit der Bestimmung einer Essenz, die Ursache und Voraussetzung ihrer selbst ist und ihre eigene Existenz einschließt. Im Horizont einer so begründeten Immanenz 9Nietzsches Aufnahme Spinozas speist sich bis zum Jahr 1880 im Wesentlichen aus Versatzstücken, die er der philosophiegeschichtlichen Darstellung Kuno Fischers von 1854 entnimmt. Im Sommer 1881 dann, in einer Phase, die allgemein als Übergang zu seinem Spätwerk angesehen wird, verleiht er seiner Begeisterung für Spinoza plötzlich euphorisch Ausdruck. Auf einer Postkarte an Franz Overbeck in Basel vom 30. Juli 1881 (Nietzsche 1981a, 111) schreibt er: „Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen!“ Glaubt man dieser plötzlichen Überraschung, so bestand zu Spinoza eine geistige Verwandtschaft, die Nietzsche über lange Zeit seines Schaffens nicht bewusst war: „Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ‚Instinkthandlung‘. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen […]. [M]eine Einsamkeit, die mir wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. – Wunderlich!“.
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kann er die Natur als Ganzes nach ihren eigenen Bedingungen und als eine immanente Kausalität (causa immanens) verstehen, durch die sich Individuen in Abhängigkeit von kausalen Einwirkungen entfalten und in mannigfaltigen Verbindungen konstituieren. Im ontologischen Modell von Substanz, Attributen und Modi bilden die Modi den Übergang von der Substanz des Ganzen zu den einzelnen Dingen und werden als Affektionen der Substanz vorgestellt: „Unter Modus verstehe ich die Affektionen (affectiones) einer Substanz, anders formuliert das, was in einem anderen ist, durch das es auch begriffen wird“ (Spinoza 2007, 5 [E1d5]).10 Mit seiner Bestimmung des Modus verleiht Spinoza dem Vorgang der Affektion sein ontologisches und erkenntnistheoretisches Profil, denn erst durch äußere Affektionen individuieren sich Modi als einzelne Dinge in der Substanz des Ganzen. Im Rahmen der Erkenntnistheorie sind die Affektionen wichtig, weil sie die Macht des Körpers und des Geistes fördern oder hemmen. Affektionen sind keine das Subjekt bedrohenden Wirkungen, sondern vielmehr gerade die grundlegenden Bedingungen seiner Konstitution und Erhaltung. So steht der rationale Umgang mit den Affektionen auch im Zusammenhang mit der Frage des Strebens nach Selbsterhaltung im Sinne des conatus perseverandi: „Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren“ (Spinoza 2007, 238 [E3p6]). Der menschliche Körper wird auf zahlreiche Weisen affiziert, und er affiziert seinerseits andere Körper auf viele Weisen. Dieses mannigfache Affektionsgeschehen ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern vielmehr eine Notwendigkeit der Selbsterhaltung des Individuums. So ist der gesamte Naturzusammenhang sich affizierender Entitäten als ein verbundener Wirkungszusammenhang zu verstehen, der erklärbar und durch die Erkenntnis zu erschließen ist. Es geht dabei um die adäquate Erkenntnis, die dem Subjekt das Verständnis der Einzeldinge und der ganzen Natur erlaubt. Erst durch die Erkenntnis wird das Subjekt fähig, sich zum Ganzen ins Verhältnis zu setzen und sich selbst zu erhalten. Die unterschiedlichen Formen des Denkens hängen für Spinoza mit den äußeren Wirkungen, also mit den Affektionen, zusammen, aus denen sich die Ideen des Denkens bilden. In dieser Bestimmung der Erkenntnis als Selbsterhaltung des Subjekts in den umgebenden Wirkungszusammenhängen zeigt sich bereits die Veräußerlichung der menschlichen Existenz, die für Nietzsche und auch für Foucault so wichtig war und die dieser in der Naturalisierung eines inneren Wissensdrangs bei Aristoteles nicht finden konnte. Aus Spinozas Überzeugung, dass die einzelnen Dinge durch die Erkenntnis ihrer kausalen Relationen verstanden werden können, folgt jedoch nicht, dass diese Erkennbarkeit selbstverständlich gegeben ist. Sie ist nur eine Möglichkeit, und es ist klar,
10Die
Zitate Spinozas entstammen den aktuell gebräuchlichen Übersetzungen von Wolfgang Bartuschat und der von ihm besorgten Ausgabe der Ethica. Die Nutzung unterschiedlicher Ausgaben wird erleichtert durch die am geometrischen Aufbau der Ethica orientierte Zitierweise. E1d5 bedeutet demnach Ethik, Erster Teil, defintio 5; E3p6 bedeutet Ethik, Dritter Teil, propositio 6. Bei Zitaten aus dem Briefwechsel wird die Nummer des Briefes (Ep) der Seitenzahl vorangestellt.
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dass der Mensch zumeist in einem Zustand der Unkenntnis darüber bleibt, welche Wirkungen seine Existenz bestimmen. Da das menschliche Individuum ein endlicher Modus der Substanz ist, kann es zuallererst nur inadäquate Ideen haben, die bruchstückhaft und verworren sind. Daher kommt es gerade darauf an, die Gesetze der immanenten Kausalität zu verstehen und die äußeren Affektionen in ihren Machtwirkungen zu erkennen. Spinoza stellt diese Ineinanderführung der Körper, der Ideen und der äußeren Affektionen im zweiten Teil der Ethica ausführlich dar, und man könnte fast meinen, dass es hier keine transzendentalen oder apriorischen Kategorien gäbe, die die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens bildeten und den Willen zum Wissen in ein vorausgesetztes Verhältnis zur Wahrheit brächten. Die Bestimmung der existenziellen Bedingungen der Erkenntnis ist vielmehr in einem Perspektivismus der Erkenntnisarten angelegt, das heißt in einer dreistufigen Hierarchisierung der Erkenntnis von der imaginatio über die ratio bis zur scientia intuitiva. Die Erkenntnis der ersten Gattung, also der Vorstellung oder der imaginatio, ergibt sich aus einer unbestimmten Erfahrung und löst eine unbestimmte Form der Erkenntnis aus (vgl. Spinoza 2007, 183–185 [E2p41 und E2p42]).11 Die Erkenntnis der zweiten Gattung, die Vernunft oder die ratio, entsteht daraus, dass wir Gemeinbegriffe bilden und adäquate Ideen von den kausalen Zusammenhängen des immanenten Ganzen entwickeln können. Die dritte Gattung der Erkenntnis ist die intuitive Erkenntnis, die scientia intuitiva, die von der Erkenntnis der Einzeldinge zur Erkenntnis der ganzen Natur übergeht und sich aus dem umfassenden Gesamtzusammenhang immanenter Kausalität herleiten kann. In der Erkenntnistheorie selbst wird die scientia intuitiva lediglich angedeutet, da sie sich erst aus dem weiteren Argumentationsverlauf der Ethik ergibt und mit der Vollkommenheit zu tun hat, die durch eine umfassende Erkenntnis der Ewigkeit Gottes und der Natur erreicht werden kann. Die dritte Erkenntnisart wird verbunden mit dem Affekt der Freude, und aus ihr ergibt sich „die höchste Zufriedenheit des Geistes, die es geben kann“ (Spinoza 2007, 569 [E5p27]). Spinoza führt also ein Erkenntnisstreben vor, das sich aus der Konstitution des Subjekts in den äußeren Kräfteverhältnissen ergibt, und weist es als einen Willen aus, die eigene Macht in diesen Kräfteverhältnissen zu erhalten und durch die Erkenntnis zum Glück zu gelangen.
11Spinoza
verdeutlicht diese Form der imaginatio in einem Brief und berichtet hier von einem Traum, in dem ihm ein unbekannter Brasilianer erscheint, den er nie zuvor gesehen habe, um zu zeigen, dass die „Wirkungen unseres Vorstellungsvermögens […] aus der Beschaffenheit des Körpers oder des Geistes“ (Spinoza 1977, Ep 17:72) entstehen. Es kommt daher vor, dass Vorstellungsbilder etwas vorwegnehmen und höchst aktuell und lebendig erscheinen lassen. In seiner Einleitung zu Binswangers Traum und Existenz beschäftigt Foucault sich mit der Imagination und sucht zu ihrer Bestimmung zwischen Traum und Existenz zu gelangen, da sich im Imaginären die Bedeutung des Traums als einer Grundform der Existenz zeige. Anhand der Beispiele Spinozas expliziert Foucault, dass die imaginatio eine spezielle, an die Verfassung des Körpers gebundene Form der Erkenntnis ist. Er bezieht sich dabei auch auf Spinozas Ausführungen zu den unterschiedlichen Stilen und Dispositionen der jüdischen Propheten im Tractatus theologico-politicus, die, mit der Macht der imaginatio begabt, eine Verbindung zwischen Vorstellungskraft und Wahrheit der Offenbarung herstellen. Die imaginatio werde hier als die Verbindung zu einer Wahrheit dargestellt, die den Menschen überschreitet, während sie von ihm ausgeht und sich ihm darbietet (vgl. DE I/1, 128 f.).
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5 Wille zur Macht (Nietzsche) Das aristotelische Erkenntnismodell wurde von Foucault angeführt, um die Konstruktion eines ursprünglichen und natürlichen Willens zum Wissen und den unterstellten Zusammenhang von Wille und Wahrheit deutlich zu machen. Mit der wiederkehrenden Bezugnahme auf Spinoza zeigt Foucault, dass die Erkenntnis nicht nur als ein Vermögen und eine natürliche Sinnesanlage zu verstehen, sondern vielmehr aus der existenziellen Äußerlichkeit des Subjekts in den umgebenden Wirkungszusammenhängen herzuleiten ist. Nietzsche wird immer wieder aufgerufen, um den agonalen Charakter des Willens zum Wissen zu bestimmen und diesen als einen steten Kampf begreifbar zu machen. „In erster Annäherung müssen Nietzsches Texte als Versuch gelesen werden, das Streben nach Erkenntnis von der Form und dem Gesetz der Erkenntnis zu befreien“ (ÜWW 45). Foucault identifiziert bei Nietzsche verschiedene Prinzipien der Erkenntniskritik, die von der Exteriorität, also der Annahme, das hinter dem Wissen immer etwas anderes als Wissen stehe, über die Fiktionalität der Wahrheit bis hin zu der Annahme führen, dass Wahrheit sich in einer kontingenten Streuung von Ereignissen konstituiere (vgl. ÜWW 254). Für Nietzsche ist nun vor allem Spinozas Konzeption von Macht wichtig, denn der Begriff der Macht zeigt die machtförmige Verfasstheit alles Seienden an und ist im Sinne einer Kraft oder eines Vermögens zu verstehen. Orientiert am Prinzip der potentia ist Macht auch bei Nietzsche als ein immanentes Konstitutionsgeschehen erkennbar, das sich in dynamischen Wirkungen zwischen Individuen verkettet, verschiebt, verdichtet, aufhebt usw. An Spinozas Konzeption einer differenziellen Bewegung immanenter Affektionen schließt Nietzsche seine Rede von Kräften und Willenskräften an, die in der Konzeption des Willens zur Macht ihren Höhepunkt erreicht. Deleuze bringt diese Bestimmung einer Kraft des Willens folgendermaßen auf den Punkt: „Der Begriff der Kraft ist folglich bei Nietzsche der einer Kraft, die sich auf eine andere Kraft bezieht: Unter diesem Aspekt heißt die Kraft ‚Wille‘. Der Wille […] bildet das differentielle Element der Kraft“ (Deleuze 1991, 11). Nietzsches Figur des Willens zur Macht lässt sich als eine differenzielle Abwendung von jeder substanzontologischen Fundierung verstehen, denn er löst den essenziellen Status der Dinge auf, um zu einer immanenten Konzeption von Kräften als einem differenziellen Spiel affirmativer Bezugnahmen zu kommen. Deleuze hat den affirmativen Charakter dieser Konzeption differenzieller Kräfte besonders hervorgehoben und bezeichnet diese Bestimmung eines affirmativen Differenzgeschehens als „nietzscheschen Empirimus“ (Deleuze 1991, 14). In diesem Empirismus wird dem Prinzip der Differenz eine konstitutive Funktion zuerkannt, durch die es möglich wird, Kategorien von wahr und falsch, gut und böse, stark und schwach in ein reversibles Verhältnis zu bringen. Und auf diese Weise wird eben auch der absolute Status wahrer Erkenntnis einer fortlaufenden Differenz und reversiblen Umkehrung unterzogen. Mit seiner späten Konzeption eines Willens zur Macht hat Nietzsche eine Theorie vorgelegt, die auf die fortlaufende Überwindung der Erkenntnis durch sich selbst zielt und die Erkenntnis
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einem grundlegenden Werden in agonalen Verhältnissen aussetzt. „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht“ (Nietzsche 1999, 312). Leben ist für Nietzsche eine Konstellation von Kräften, die sich gegenseitig überwältigen, und er wollte zu einem Begriff des Lebens kommen, in dem alle wirkende Kraft als Wille zur Macht zu bestimmen ist und sich in differenziellen Verkettungen konstituiert, deren einzelne Elemente sich jeweils erst aus etwas anderem ergeben. Der Wille zur Macht ist die Fähigkeit des Individuums, sich in den Kräfteverhältnissen der Wirklichkeit so zu bewegen, dass der individuelle Zusammenhang von Körper und Geist in seiner freien Wirkungsmacht erhalten und gesteigert wird. Wie für Spinoza geht es auch für Nietzsche um die Erkenntnis der Affektionen in ihren kausalen Zusammenhängen. Mit dem Ausschluss jeder Transzendenz wird die Unerklärbarkeit der Welt aufgehoben und die Möglichkeit gesichert, die kausalen Verhältnisse denkend durchdringen und sich selbst darin erkennen zu können. Die Frage des Willens zum Wissen dreht sich von hier aus gesehen also darum, den autonomen Willen zu erkennen, den Foucault aus der morphologischen Analyse der Diskurse herleiten wollte. Durch diese Erkenntnis kann sich das Subjekt selbst in möglichst hohem Maße zur Ursache seiner Affektionen machen. Die Erkenntnis ist dabei, wie Nietzsche sagt, selbst als mächtigster Affekt anzusehen (vgl. Nietzsche 1981, 111), und mit ihr, das hat Foucault bei Spinoza gesehen, ist das höchste Glück verbunden. In der Vorlesung über Nietzsche, die Foucault nach Abschluss des Wintersemesters im April 1971 an der McGill University gehalten hat, tritt die Konzeption des Willens zum Wissen im Ausgang des Willens zur Macht deutlich hervor. Mit Blick auf Spinoza wird die Erkenntnis hier in ihrer Unabgeschlossenheit gezeigt und in ihrem Verhältnis zur Wahrheit, zum Spiel, zum Körper und zum Kampf als ein „Netz von Relationen“ (ÜWW 268) bestimmt. „In Nietzsches Augen hindert uns am Erkennen gerade das, was die Grundlage, die Wurzel, die Dynamik der Erkenntnis bildet, ihre Kraft und keineswegs ihre Form […]. Aber was die Erkenntnis zugleich verhindert und konstituiert, ist etwas ganz anderes als Erkenntnis“ (ÜWW 263). Nietzsches Kühnheit bestand für Foucault in der Behauptung, dass nichts auf der Welt, nicht der Mensch, nicht die Dinge, noch die Welt selbst, für die Erkenntnis gemacht sei und dass die Erkenntnis nicht für die Wahrheit gemacht sei. Das Thema der erfindenden Erkenntnis und der Wahrheit als Erfindung diskutiert Foucault auch in den Rio-Vorlesungen von 1973. Und zwar anhand der bekannten NietzscheParabel des Gestirns, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfunden und dabei die niederen dunklen Machtbeziehungen am Anfang der Dinge mit dem erhabenen Ursprung ihrer Erkenntnis verwechselt hätten (DE II/139, 677). Foucaults Morphologie des Willens zum Wissen dreht sich also um die Bestimmung einer anonymen Kraft, die die verschiedenen Diskurspraktiken der Wahrheitssuche durchzieht. Diese Kraft findet sich aber nicht in der Wahrheit selbst, sondern in den dynamischen und agonalen Außenbereichen der Wahrheit. Erst hier kommt ihr heteronomer und singulärer Charakter zum Vorschein, und erst hier wird sie als Wille zum Wissen und nicht als Wille zur Wahrheit erkennbar.
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Literatur Andermann, Kerstin. 2019. Individuationskräfte. Metaphysik der Macht in Foucaults politischer Theorie. In Foucault und das Politische. Transdisziplinäre Impulse für die politische Theorie der Gegenwart. Hrsg. von O. Marchart und R. Martinsen, 111–135. Wiesbaden: Springer VS. Aristoteles. 1989. Metaphysik. Buch I (A). Hamburg: Meiner. Deleuze, Gilles. 1991 [1962]. Nietzsche und die Philosophie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Horn, Christoph, und Christof Rapp. 2008. Wörterbuch der antiken Philosophie. München: C. H. Beck. Maatsch, Jonas. 2014. Morphologie und Moderne. Goethes „anschauliches Denken“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800. Berlin/Boston: de Gruyter. Nietzsche, Friedrich. 1981a. Briefe 1880–1884. In Nietzsche – Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, Band III.1 [Nr. 135]. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari. Berlin/New York: de Gruyter. Nietzsche, Friedrich. 1999. Nachlass 1885–1887. In Nietzsche – Kritische Studienausgabe, Band 12. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari. Berlin/New York: de Gruyter. Spinoza, Baruch de. 2007. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hamburg: Meiner. Spinoza, Baruch de. 1977. Briefwechsel. Hamburg: Meiner. Vogelmann, Frieder. 2013. Buchnotiz zu Michel Foucault: Über den Willen zum Wissen. In Philosophische Rundschau 60 (1), 73–77.
Kerstin Andermann ist Privatdozentin an der Leuphana Universität Lüneburg.
„Doch gehen wir zurück zum Anfang“ – Foucaults genealogische Kritik des Rechts Theorien und Institutionen der Strafe (1971/72) Vojta Drápal
1 Einleitung Foucaults zweite Vorlesungsreihe am Collège de France kreist um Anfänge. Nicht nur ist es seine erste historische Studie, die sich dezidiert Praktiken des Strafens zuwendet und damit einen Themenkomplex eröffnet, der mit dem Erscheinen von Überwachen und Strafen zu einem Abschluss kommen wird. Sie ist auch eine Vorlesung der Anfänge in zwei weiteren Hinsichten. Erstens beginnt mit ihr, was Foucault 1975/76 retrospektiv als Übernahme der „Hypothese Nietzsches“ (VG 33) bezeichnen wird. Die fulminante Rhetorik des Kampfes, des Krieges, der im Frieden rumort, dient dabei selbst der Erfassung von Anfängen. Mit ihr wird ein altes Unterfangen in eine neue Form gebracht: nachgezeichnet werden die historischen „Entstehungsherde“ (DE II/84, 176) gegenwärtiger Evidenzen. Die Vorlesung Institutionen und Theorien der Strafe kündigt zweitens an, die „Geburt des Staates nachzuzeichnen“ (TIS 17). Den Gegenstand dieser Vorlesungsreihe bildet zunächst ein Volksaufstand, der sich 1639 in Rouen ereignet hat. Den Nu-Pieds und ihrer Niederschlagung widmet Foucault die ersten sieben Vorlesungen. Während die geschichtswissenschaftliche Debatte über die Volksaufstände des 17. Jahrhunderts vor allem um ihre Bedeutung für die Herausbildung des absolutistischen Staates kreiste, führte Foucault, Claude-Olivier Doron zufolge, in ihre Analyse etwas Neues ein: die Nu-Pieds gerieten als „Ereignis“ (Doron 2017, 383) in den Blick. Es ist Foucaults These, dass sich 1639 ein „neues Repressionssystem“ herauszubilden beginnt, das sich von der feudalen Art und Weise Aufstände zu unterdrücken unterscheidet und
V. Drápal (*) Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_3
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das nach und nach die Form der uns heute geläufigen Institutionen der Polizei, des Gerichtswesens und des Gefängnisses annehmen wird. Darüber hinaus fragt Foucault nach den Möglichkeitsbedingungen dieses Ereignisses, wozu er die Leser_innen im letzten Drittel von Theorien und Institutionen der Strafe in das germanische Kriegsrecht des Mittelalters zurückführt. Anhand der Entstehung der „Lehensjustiz“ zeichnet Foucault nach, wie mit dieser etwas auftaucht, das der mittelalterlichen Form der „geregelten Streitschlichtung“ gänzlich fremd war: die Praxis eines etablierten Gerichtswesens. Wie lesen wir eine derartige Vorlesungsreihe, die vor beinahe fünfzig Jahren gehalten wurde und über weite Strecken nur in Stichpunkten vorliegt? Es ließe sich nach ‚der Macht‘ fragen, die Foucault hier – vor der Entdeckung von Disziplin und Biopolitik – mit dem Begriff der Repression und mit Fokus auf die Apparate des Staates zu erfassen versucht. Auch ließe sich nach Foucaults Verhältnis zu Marx fragen, für das diese Vorlesungsreihe ebenfalls neuen Diskussionsstoff bietet (vgl. Ewald und Harcourt 2017, 335–348). Ich werde jedoch einen Schritt zurückgehen und nach dem Vorgehen fragen, das dieser Vorlesungsreihe zugrunde liegt. Hierzu gehe ich dreigeteilt vor: Im ersten Schritt rekonstruiere ich die spezifische Debatte des Jahres 1971, die den expliziten Ausgangspunkt dieser Vorlesung bildet. Im zweiten Schritt stelle ich das analytische Vorgehen dar, mit dem Foucault auf diesen Ausgangspunkt antwortet und das er als „Dynastik“ (TIS 74) bezeichnet. Damit nimmt die Vorlesung ein spezifisches Verhältnis zu ihrer eigenen Gegenwart ein, das sich im Verlauf der Vorlesung verändert, indem sich die Form der Analyse selbst wandelt. Diese nimmt zunehmend eine Gestalt an, die sich – ausgehend von Foucaults Nietzscheaufsatz desselben Jahres – als Genealogie rekonstruieren lässt. Abschließend werde ich im Anschluss an die Arbeiten von David Owen, Martin Saar und Colin Koopman skizzieren, inwiefern es sich insbesondere bei der Rekonstruktion des germanischen Kriegsrechts um eine genealogische Kritik handelt und was sie heute noch zur Kritik des Rechts beizutragen hat.
2 Die Gegenwart als Ausgangspunkt Foucaults unmittelbare Eingebundenheit in die politischen Kämpfe der Zeit nach dem „Mai 68“ gehört mittlerweile zu einem gut recherchierten Feld der Zeitgeschichte (Macey 1995; Eribon 1999; Bourg 2017). Auch die Wechselwirkungen zwischen Foucaults damaliger historisch-philosophischen und seiner politischen Praxis wurden bereits in einigen Aufsätzen rekonstruiert (Hoffman 2012; Karlsen und Villadsen 2015). Theorien und Institutionen der Strafe versetzt uns nun in die dankbare Position, das Verhältnis zwischen ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ auf andere Weise zu beleuchten: als direkte Bezugnahme. Den Bezug zur unmittelbaren Gegenwart macht Foucault direkt zu Beginn explizit: „Der Grund für diese Vorlesung? – Nun, es genügt die Augen aufzumachen“ (TIS 21). Insofern sich diese Aussage auf die regen Polizeikontrollen
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im Quartier Latin und im Gebäude des Collège de France selbst beziehen,1 ist der unmittelbare Kontext, das, ‚was alle sehen‘, die „Repression“ (TIS 17). Im Verlauf der Vorlesung zeichnet sich jedoch noch ein zweiter, impliziter Bezug zur Gegenwart ab, da sie die Entstehung einer 1971 vorliegenden ‚Gewissheit‘ beschreibt: die scheinbar selbstverständliche Unterscheidung zwischen einem politischen Verbrechen und dem herkömmlichen Verbrechen nach Strafrecht. Im September 1970 begibt sich eine Gruppe inhaftierter politischer Aktivist_innen in den Hungerstreik. Nach einer Reihe gescheiterter Versuche, ihren Forderungen öffentliche Wirksamkeit zu verleihen, erregen ihre Aktionen zunehmend Aufmerksamkeit. Ihre Kritik gilt dem rechtlichen Status des „politischen Gefangenen“, der in Frankreich während des Algerienkrieges sowohl für Mitglieder der Front de Libération Nationale (FLN) als auch der Organisation de l’armée secrète (OAS) Rechtswirksamkeit erlangte und im Gefolge des „Mai 68“ erneut diskutiert wird. Im Februar 1971 beginnt eine von Mitterand beauftragte und von Justizminister Pléven einberufene Kommission mit der Neuausarbeitung dieses Status. Die Vorschläge dieser Kommission finden wenig Anklang in der Studentenbewegung. Es kommt zu neuen Demonstrationen, nicht selten mit gewaltsamen Ausschreitungen. Im Juli 1971 wird der Hungerstreik wieder aufgenommen, nun auch außerhalb des Gefängnisses (vgl. Bourg 2017, 54–80). Einer der Orte dieses solidarischen Hungerstreiks ist die C hapelle St. Bernard. Es ist derselbe Ort, an dem zuvor, am 8. Februar 1971, die Groupe d’Information sur le Prisoners (GIP) gegründet wurde (vgl. Eribon 1999, 321). Foucaults zweite Vorlesungsreihe am Collège de France beginnt im November desselben Jahres.
3 Zur Erfassung eines Entstehungsherdes Dass es sich bei der im Folgenden skizzierten Analyse der Nu-Pieds um eine Antwort auf diesen Kontext handelt, liegt inhaltlich auf der Hand. Foucault verlagert die Szenerie in das Jahr 1639, dessen Charakterisierung den Zuhörer_innen dieser Vorlesung bekannt vorgekommen sein mag: „von Juli bis November ein permanenter Aufruhr“ (TIS 26). Doch worum handelt es sich bei diesem ersten Sprung zurück? Welchem Kalkül folgt dieser Gang ins Archiv? Von welcher Art ist der Bezug zu ihrer Gegenwart? Und warum ausgerechnet 1639? Foucault beschreibt sein Vorgehen nicht mit dem prominenten Begriff der Genealogie, sondern mit dem unbekannteren Begriff der „Dynastik“ (TIS 74). Das überrascht, erschien doch im selben Jahr der so bekannte wie umstrittene Aufsatz über „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, der zudem auf einer Vorlesung aufbaut, die Foucault bereits 1969 in Vincennes gehalten hatte (vgl. Eribon 1999, 293). Was also ist das Vorgehen Foucaults, wenn nicht Genealogie?
1Hierauf
verweisen die Herausgeber (vgl. Ewald und Harcourt 2017, 316).
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Auch wenn der Begriff der Dynastik die genealogische Metaphorik der Erforschung von Abstammungsverhältnissen auf die Abfolge von Herrschaftsverhältnissen zu verdichten scheint, so meint er doch etwas Spezifischeres. Das Bild, das das Analyseraster der Dynastik anleitet, ist das einer „Bühne“ (TIS 73 f.), auf der sich Kräfte zeigen, auf der sie ein Stück aufführen. Die Herausgeber weisen diesbezüglich auf zwei Dinge hin (vgl. TIS 83–86, Fußnote 16): Erstens bilde sie die direkte Umsetzung des im Vorjahr definierten Vorhabens, im Anschluss an Nietzsche „die Analyse von Zeichensystemen mit einer Analyse der Formen von Gewalt und Herrschaft zu verbinden“ (ÜWW 272). Zweitens operiere Foucault bei der Erfassung dieses „Theaters der Macht“ in einer Logik der Repräsentation, die er in seiner künftigen Machtanalytik fallen lassen wird, da in ihr ein untypischer Rückschluss von Erscheinungen (Zeichen) auf einer Oberfläche (der Bühne) auf dahinterliegende Einheiten (die eigentlichen Kräfteverhältnisse) angelegt sei. Die Dynastik ist demnach Teil von Foucaults tentativer Erprobung verschiedener analytischer Kategorien und Blickwinkel. Ich möchte im Folgenden einen Aspekt der Dynastik betonen, der sich weniger in ihrer theoretisch-methodologischen Reflexion als in ihrer konkreten Anwendung zeigt. Die Dynastik erweist sich so besehen als ein Raster, das primär dazu dient, die Dynamiken und Kräftekonstellationen einer konkreten Konfrontation herauszustellen: des Aufstands der Nu-Pieds im Jahre 1639 und seiner Niederwerfung durch Kanzler Séguier. Diese räumliche und zeitliche Konzentration auf einen einzelnen Konflikt (die auch die Analyse der Interessen ihrer Akteure einschließt) ist für Foucault durchaus untypisch. Ich werde argumentieren, dass gerade dieses ‚Hineinziehen‘ der Leser_Innen und Zuhörer_Innen in die Details dieser spezifischen Konfrontation einen analogischen Effekt zeitigt, der die Vergleichbarkeit der eigenen Situation (der Repressionserfahrungen der außerparlamentarischen französischen Linken nach 1968) mit der geschilderten historischen Situation ermöglicht. Die Nu-Pieds sind die Vorläufer in der Konfrontation mit einem Repressionsapparat, der auch jener der Gegenwart von 1970/71 ist. Die historische Macht erscheint mit der gegenwärtigen Macht also identisch, und die Widerständigen von heute können sich in jenen von damals wiedererkennen. Sobald sich Foucault von der Analyse der Nu-Pieds zu entfernen beginnt, wird aber auch das dynastische Analyseraster (Bühne, Zeichen, Kräfte) verlassen. Bereits der Nachweis, dass es sich bei dieser Konfrontation zugleich um einen „Entstehungsherd“ (DE II/84, 176) von etwas Neuem handelt, erfordert, dass die synchron verfahrende Dynastik durch einen anderen Blick ergänzt wird. Die These von der historischen Singularität des Repressionsapparates macht eine immense Ausdehnung des Analysezeitraums erforderlich sowie der Kategorien, mit denen die in ihm stattfindenden Transformationen rekonstruiert werden. Erst im Rahmen dieser diachronen Analyse werden Effekte erzielt, die sich als genealogische bezeichnen lassen. Mit dem von der Dynastik ermöglichten Spiel der Wiedererkennung wird damit umso eindrücklicher gebrochen. Die Dynastik, so meine These, dient der dramaturgischen Vorbereitung einer Genealogie.
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3.1 Zum analogischen Effekt der Dynastik Bei einer Analyse, die sich dadurch auszeichnet, das „Singuläre des Ereignisses“ (Doron 2017, 384) eines bestimmten Aufstandes herauszustellen, von einer Analogie zu sprechen, scheint widersprüchlich. Geht es nicht gerade um die Herausstellung der Eigenständigkeit, der Besonderheit und des Differentiellen? Und tatsächlich betont Foucault vor allem, wodurch die Nu-Pieds aus jenen „Volksaufständen“ der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts herausstechen. Wie andere Volksaufstände bildeten auch die Nu-Pieds eine Allianz aus bäuerlichen Lehensnehmern und städtischen Handwerkern, die sich gegen das Anwachsen des feudalen Steuer- und Rentenwesens richtete (vgl. TIS 26 f.). Für besonders erachtet Foucault hingegen die „Art und Weise, in der die königliche Macht angegriffen wurde“ (TIS 47). Detailreich stellt er die Eigenheit ihrer symbolischen Strategie heraus: die Ambiguität ihres Namens, dem selbst Zeitzeugen keine eindeutige Bedeutung beilegen konnten; ein eigenes Wappen und „als Flagge einen Anker aus Sand auf einem grünen Feld“ (TIS 49); eine kreative Organisationsstruktur, deren anonyme Führungsposition abwechselnd von unterschiedlichen Personen eingenommen wurde, die sich allesamt Jean Nu-Pieds nannten. „Alles geschieht so, als seien die sichtbarsten, traditionellsten und rituellsten Zeichen der Macht um einen leeren Platz, einen Namen ohne Gesicht, der für die Bewegung selbst steht, angeordnet worden“ (TIS 50). Es ist diese Übernahme der Insignien der Macht, die letztlich daran augenscheinlich wird, in der Foucault etwas Neues erkennt. Sie wird nicht zuletzt darin ersichtlich, dass die Nu-Pieds ihre Flugzettel allesamt im Namen des Königs formulierten. Ihre Differenz zu den Volksaufständen des 17. Jahrhunderts ist also dadurch bestimmt, dass sie sich nicht gegen eine einzelne Steuererhebung erhoben oder eine einzelne Entscheidung des Königs rückgängig zu machen versuchten, sondern dass sie den königlichen Fiskalapparat im Namen des Königs selbst angriffen. Sie etablierten in actu die Macht, die sie einforderten: „sie unterwarfen sich dem König nicht, sie bemächtigten sich seiner“ (TIS 50). Der analogische Effekt zur Gegenwart der Vorlesung entsteht in einer selbstreflexiven Frage, die diese Beschreibung der Singularität der Nu-Pieds in Gang setzt: ‚Sind auch wir das?‘ Gerade die Andersartigkeit und Einzigartigkeit herauszustellen, setzt ein Spiel möglicher Wiedererkennungen in Gang, indem es den Blick auf spezifische Analogien richtet, die die Praktiken und Taktiken des Aufstandes betreffen: ‚Ist auch dies die Weise, in der wir versuchen uns der Macht zu erwehren und etablieren auch wir damit zugleich eine andere Macht?‘ Ein Beispiel für diese Art der Analogie mag in folgender – wohlgemerkt drastischen – Beschreibung gesehen werden, mit der Foucault die Übernahme der Insignien der Macht auch in den Praxen des souveränen Strafens wiedergibt, hier des Räderns: Oder sie brachten einen gewissen Goaslin, einen Schwager von Nicolle (Pächter der gabelles), in ihre Gewalt: Sie banden ihn an ein Pferd, schleiften ihn zwei Tage lang durch das Land und ließen ihn zusehen, wie seine eigenen Häuser niedergebrannt wurden. (TIS 52)
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Es ist offenkundig, dass die französische Studentenbewegung 1971 nicht Gefahr lief, die Strafe des Räderns wiedereinzuführen. Wohl aber war die Frage der Volksjustiz aktuell (vgl. Bourg 2017, 69–78). Wenn Foucault für die NuPieds feststellt, dass „die Nichtanerkennung der Justiz in Ausübung der Justiz [erfolgt]“ (TIS 52), so ist dies keine bloße Feststellung einer historischen Widerstandspraxis. Dass und inwiefern es sich bei dieser Ausübung der Justiz um ein Problem handelt, stellt Foucault unter mehrfachem Rückbezug auf Theorien und Institutionen der Strafe in seinem Gespräch mit den Maos heraus (vgl. DE II/108). Während der analogische Effekt der Dynastik also bereits eine kritische Selbstreflexion ermöglicht, wird diese im weiteren Verlauf noch gesteigert. Ermöglicht wird diese Steigerung allerdings durch analytische Umstellungen, die den Rahmen der Dynastik verlassen. Im Folgenden werde ich diese analytischen Umstellungen kennzeichnen und anschließend argumentieren, inwiefern sie den analogischen Effekt durch einen genealogischen ersetzen.
3.2 Das Kippen der Zeitlichkeit Nachdem Foucault in den ersten zwei Vorlesungen die Spezifika der Nu-Pieds herausstellt, wendet er sich in den fünf folgenden Vorlesungen der auf sie antwortenden „Repression“ zu. Ewald und Harcourt weisen hierbei auf eine Verschiebung der Zeitlichkeit hin: Auf das „singuläre und zufällige Ereignis“ der Nu-Pieds und ihrer Niederschlagung folgt nun der „langsamere, ältere, sehr lange andauernde Prozess“ (Ewald und Harcourt 2017, 332 f.). Die Perspektive der Vorlesung ‚kippt‘ sozusagen von der Zeitlichkeit des événement in die Zeitlichkeit der longue durée. Foucaults Analyse dieses langen Prozesses entfaltet drei Thesen. Erstens: Die Repression der Nu-Pieds durch Kanzler Séguier deutet Foucault als das erste Erscheinen eines „sichtbaren Körper[s] des Staates“, der sich „vom Körper des Königs [löst]“ (TIS 107). Diese „radikale Neuheit“ ergibt sich aus einem Unterschied der „Form und Funktionsweise“ (TIS 146). Zweitens: Obwohl der neue Repressionsapparat (Foucault verwendet die Begriffe Apparat und System synonym) eine Form annimmt, die „mit dem feudalistischen System unvereinbar“ (TIS 45) ist, besteht seine anfängliche „Funktion“ in der Sicherstellung der Feudalökonomie. Aus dieser herrschaftssichernden Funktion entsteht jener staatliche Apparat, der vom Bürgertum gerade für die Abschaffung der Ständeordnung „übernommen“ (TIS 73) werden konnte. Drittens: Dieser Repressionsapparat ist von Anbeginn gekennzeichnet durch ein „politisch-militärisches Kalkül“ (TIS 70), das seine Fortführung Foucault zufolge noch im modernen Strafsystem findet. Die Niederwerfung der Nu-Pieds ist also von weitausgreifenden historischen Prozessen durchzogen: dem Zerfall des Feudalsystems, dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsform, dem Entstehen staatlicher Apparate. Um diese Dynamiken der longue durée zu erfassen, bedarf es analytischer Kategorien, die
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von einer Dynastik der Zeichen gar nicht formuliert werden können.2 Dass sich hierdurch zugleich ein anderer Effekt – eine andere Pointe – entfaltet, möchte ich im Folgenden anhand der dritten These – des „politisch-militärischen Kalküls“ – detaillierter rekonstruieren. Dieser Effekt ist nicht länger analogisch (Vergleichbarkeit zweier historischer Situationen), sondern genealogisch: er stellt auf drastische Weise die Verflochtenheit der Gegenwart mit der Vergangenheit dar.
3.3 Von der Dynastik zur Genealogie: Die Repression der Nu-Pieds als Anfang einer Teilung Als zentrale Ermöglichungsbedingung des Aufstandes der Nu-Pieds identifiziert Séguier eine „Allianz“. Die Kräfte der Bauern und des niederen städtischen Handwerks einerseits und der Lehnsherren und der städtischen Magistratur andererseits, die in der feudalen Ökonomie Gegensätze bildeten, fanden sich in ihrer Gegnerschaft zur königlichen Steuer geeint. Es ist die Spaltung dieser Allianz, in der Foucault das „politisch-militärische Kalkül“ (TIS 70) des neuen Repressionsapparates erblickt. Das zweigeteilte Vorgehen ‚der Macht‘ in Armee und bewaffnete Justiz erlaubt ihr, drohend vor den Toren Rouens Halt zu machen: sie lässt die lokalen Mächte „zwischen Furcht und Hoffnung im Ungewissen“ (TIS 72). Hier wird sichtbar, wie der analytische Rahmen der Dynastik seinem Gegenstand selbst entnommen wird: „Die Macht, die abseits der Bühne ihre Truppen in Reserve hat, zwingt die einen wie die anderen, ihre Rollen zu modifizieren“ (TIS 77).3 Die Dynastik verweist aber zugleich auf das, was diese Bühne nicht zeigt: Auf ihr „sind die (bäuerlichen oder städtischen) Volkskräfte nicht vertreten“ (TIS 77). Das Kennzeichen dieser Zeremonie bildet für Foucault der „Ausschluss des Hauptbestandteils der Kräfte“ (TIS 77). Diesem Ausschluss entspricht eine „Teilung zwischen den Guten und Bösen“ (TIS 96), die sich zugleich über jene lokalen Mächte erhebt, die den Aufstand gewähren ließen. Für diese Spaltung der Allianz kann sich Séguier auf bereits bestehende Theorien des Absolutismus stützen. Es ist ein Akt, der „alle (institutionellen, religiösen oder traditionellen) Beschränkungen der königlichen Macht hinwegfegt und die Untertanen der alleinigen königlichen Billigkeit überlässt, der alleinigen Teilung“ (TIS 96).
2Während sich die These über die „Funktion“ des Repressionsapparates auf Modelle der Transformation politikökonomischer Herrschaftsformen und damit auf den historischen Materialismus stützt, erfolgt der Nachweis ‚radikaler Neuheit‘ über eine diachrone strukturale Analyse von Denk- und Praxisformen. Operierte die feudale Repression in einem „System des Ausgleichs, der Verpflichtung, der Versprechen“ (TIS 128), greift das neue Repressionssystem auf eine „verbeamtet[e] Justiz“ (TIS 149) und die Praxis der „Einsperrung“ (TIS 134) zurück. 3Auf die Nähe, die diese Taktik einer erzwungenen Selbstregulation mit dem aufweist, was Foucault in seiner Vorlesung 1976/77 als Sicherheitsdispositiv beschreiben wird, sei hier nur hingewiesen (vgl. STB 69).
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Auch mit dieser Betrachtung erzeugt die dynastische Analyse einen analogischen Effekt zur Gegenwart von 1971. Die Repressionserfahrung der eigenen Zeit (das loi anti-casseurs, die Zerschlagung der Gauche Prolétarienne, Schikane und Willkür in den Gefängnissen) wird mit der Repression der NuPieds parallelisiert. Die Dynastik rückt sogar das Repressive dieses Apparates in den Vordergrund: Mögen Gerichte, Polizei und Justizvollzug 1971 einen gewissen Anspruch der Neutralität und Überparteilichkeit glaubhaft gemacht haben können, so findet ihr Vorläufer seinen Anfang in der unzweideutigen Repression einer Macht durch eine andere, die jenseits aller Rechtfertigung vor allem eines ist: stärker. Während die Dynastik somit, meiner These nach, die Problematisierungsweise der außerparlamentarischen Linken intensiviert, ermöglicht die zeitliche Streckung der analytischen Perspektive eine Selbstreflexion dieser Problematisierungsweise. Foucaults These ist, dass sich in der Niederschlagung der Nu-Pieds zugleich die „Trennlinien abzeichnen, die den Staatsapparat in Zukunft durchziehen werden“ (TIS 72). Die anfänglich grob gezogenen Linien dieses Repressionsapparates (arm und reich, Stadt und Land), verfeinern sich im Verlauf seiner Praxis und bringen etwas Neues hervor. Das „politischmilitärische Kalkül“ der Teilung lässt im Effekt die „Delinquenz“ entstehen, nämlich überall dort, wo das „Repressionssystem“ beständig „gewisse Modalitäten der Prävention, der Vorbeugung, der Vorkehrung, der Intervention“ (TIS 145) einsetzt, die es „erlauben, etwas als Sanktion der Delinquenz geltend zu machen, was im Grunde eine Prävention gegen den Volksaufstand ist“ (TIS 145).4 Es ist die brisanteste These dieser Vorlesung: Das staatliche Strafwesen ist politisch und zwar in diesem konkreten Sinne des „Abziehens“ (TIS 136) von Kräften des rohen/reinen Volkskampfes. Diese historische Pointe bezieht sich unmittelbar auf die politischen Kämpfe in Foucaults Gegenwart. Zwar ermutigt sie diese Kämpfe, ist doch ihr zufolge jede Straftat und jeder Widerstand von Inhaftierten grundsätzlich politisch. Aber sie hat auch einen irritierenden, bremsenden Effekt, denn sie besagt zugleich, dass die von der radikalen Linken bemühte „Teilung zwischen einer politischen Straftat und einer Straftat nach gemeinem Recht“ (TIS 193) nicht radikal genug ist. Mag diese Teilung zuvor noch „klar“ gewesen sein, so kann Foucault auf Grundlage seiner historischen Untersuchung befinden: Tatsächlich ist sie das sehr wenig: die Teilung individuelles Verbrechen/politisches Verbrechen ist eine Folge der Verstaatlichung der Strafe; […]. Zu sagen: das ist „gemeines Recht“, das ist „politisches“, impliziert, dass man die Sichtweise des Staatsapparats übernimmt, der die Strafe verhängt. (TIS 178)
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Überwachen und Strafen findet sich der Aspekt einer entpolitisierenden Teilung durch das Strafsystem wieder, verliert jedoch seinen direkten Bezug zur Gefahr des Volksaufstands: „Die dicht gedrängte Masse, die vielfältigen Austausch mit sich bringt und die Individualitäten verschmilzt, dieser Kollektiv-Effekt wird durch eine Sammlung von getrennten Individuen ersetzt“ (ÜS 258). Der Aufstand als zu vereitelnde „Gefahr“ taucht erneut auf in Foucaults These der Physiokratie als eines Sicherheitsdispositives, das die „unmittelbare Solidarität“ des „kollektiven Hungers“ zu unterbinden versucht (STB 68). Der souveräne Akt der Teilung weicht einer regulativen Technik des Regierens.
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Foucaults Verwendung des Begriffs der ‚Teilung‘ an dieser Stelle ist entscheidend. Die so unscheinbare Berufung auf den rechtlichen Status des politischen Gefangenen tritt den Hörer_innen in der irritierenden Gestalt seines Anfangs entgegen: „als Grimasse dessen, was er einmal werden sollte“ (DE II/84, 169). Das ist das genealogische Moment dieser Pointe. Ihre Radikalität entfaltet diese These nicht nur auf Grund ihres anarchischen Gehalts, den sie im Verhältnis zu Gericht, Polizei und Justizvollzug ebenfalls bereithält, wenn jedes Verbrechen politisch ist. Diese These durchbricht den analogischen Effekt der Dynastik, in der die Zuteilung von Macht und Widerstand gestern wie heute identisch war, durch eine Irritation dieses Selbstverständnisses. Das genealogische Problem, mit dem diese Vorlesungsreihe ihr Publikum konfrontiert, ist das einer unerwarteten Verflochtenheit.
4 „Zurück zum Anfang“ – Genealogie und die Kritik des Rechts Nachdem Foucault das Aufkommen dieses neuen Repressionsapparates nachgezeichnet hat, sieht er sich in der siebten Vorlesung vor einer Wegscheidung. Von hieraus könne er zwar nachzeichnen, wie dieser Repressionsapparat „letztlich nach und nach dazu geführt hat, dass sich das politische System der kapitalistischen Produktion herausgebildet und vervollkommnet hat“ (TIS 150). Aber Foucault entscheidet sich gegen die Fortschreibung der Geschichte einer politischen Ökonomie der Repression und wählt einen anderen Weg: „Doch gehen wir zurück zum Anfang“ (TIS 150). Foucault wählt das 11. Jahrhundert und wendet sich dem germanischen Recht des Mittelalters zu. Die Herausgeber deuten diesen Gang zum „Anfang [arrière]“ (TIS 150, frz. 107) als Hinwendung zu einem „Ursprung [origine]“ (Ewald und Harcourt 2017, 345, frz. 270). In der vorgerichtlichen Form der Streitabwicklung vermute Foucault demnach „das Prinzip der ursprünglichen Konfrontation, […] die sich im Laufe der Geschichte in den Kämpfen wiederholt und die so etwas wie deren letzte Wahrheit wäre“ (Ewald und Harcourt 2017, 345). Diese Deutung ist aus zweierlei Gründen fraglich. Einerseits überrascht die Semantik des Ursprungs, ist es doch gerade dieser Unterschied, den die Genealogie machen will: keine Suche nach dem Ursprung, sondern ein Aufzeigen von Herkunft und Entstehung (vgl. DE II/84, 167–178). Den „Ursprung“ zudem im kriegerischen Verhältnis zu sehen ist sodann mit politik- und rechtstheoretischen Implikationen verbunden, die Ewald und Harcourt selbst explizieren: „Der Krieg ist dem Recht nicht entgegengesetzt. Das Recht ist eine Weise, Krieg zu machen“ (Ewald und Harcourt 2017, 345). Sätze wie diese entsprechen zwar durchaus Foucaults eigener Darstellung der Genealogie (vgl. DE II/84, 177). Und doch kreuzen diese Aussagen das Terrain der Rechtskritik, dessen Verhältnis zu den Prinzipien der Genealogie als einer eigenen, spezifischen Kritikform vorerst zu klären wäre. Im Folgenden möchte ich daher eine andere Deutung dieses Gangs zurück zum Anfang vorschlagen. Hierbei nehme ich Bezug auf die Arbeiten zur Genealogie
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als Kritik (Owen 1995; Saar 2007; Koopman 2013), sowie auf einen Beitrag aus der neueren kritischen Rechtstheorie. Damit verfolge ich drei Ziele: erstens soll die spezifisch genealogische Bedeutung des Anfangs herausgestellt werden, ohne dabei zweitens hinter dem aktuellen Stand kritischer Rechtstheorie (vgl. FischerLescano et al. 2018) zurückzustehen, um drittens Theorien und Institutionen der Strafe als möglichen Beitrag in diese Theoriedebatte einzuflechten. Zu diesem doppelten Zweck einer Kontrastierung und Aktualisierung bietet sich Christoph Menkes Recht und Gewalt in besonderer Weise an, da die dort vorgelegte Kritik des Rechts ebenfalls die Emergenz der Gerichtspraxis zum Ausgangspunkt nimmt. Dazu rekonstruiere ich im Folgenden Menkes Essay kurz, bevor ich das Spezifische der Foucault’schen Genealogie des Gerichts in drei Punkten skizziere.
4.1 Das Gericht und die Kritik des Rechts Menke geht von „zwei Feststellungen“ aus, die beide „wahr“ sind und sich zugleich widersprechen (Menke 2011, 9). Demnach ist das Recht sowohl das Gegenteil der Gewalt, da es mit dem „Bann des Antwortenmüssens auf Gewalt mit neuer Gewalt“ (Menke 2011, 9) bricht. Und das Recht ist Gewalt, da es durch die „Anwendung oder Androhung von Gewalt“ (Menke 2011, 10) operiert, also zwingend verletzend ist. Die Aufgabe einer Kritik des Rechts besteht darin, diesen Widerspruch als ein „Paradox“ (Menke 2011, 12) zu denken, das es nicht aufzulösen, sondern zu „entfalten“ gilt (Menke 2011, 93). Mit dieser „Selbstreflexion“ (Menke 2011, 67) des Rechts werde seine „Depotenzierung“ (Menke 2011, 102) möglich. Die Kritik trägt somit zur Kultivierung eines neuen Verhältnisses des Rechts zu sich selbst bei: ein „Recht das Widerwillen gegen sich selbst hat“ (Menke 2011, 105). Das Gericht spielt in Menkes Argumentation eine zentrale Rolle für die Bestimmung des „Wesens“ (Menke 2011, 36) des Rechts. Das Spezifische des Gerichts rekonstruiert er hierbei ausgehend von den Texten der griechischen Tragödie. In ihnen zeige sich, dass das Gericht die „Gewalt der Rache“ unterbreche (Menke 2011, 17): es etabliert Verhältnisse der bürgerlichen Gleichheit, sowohl zwischen den streitenden Parteien als auch zwischen den Parteien und dem Richter (vgl. Menke 2011, 23–25). Es leitet also ein „Verfahren unparteilichegalitärer Untersuchung“ (Menke 2011, 94) ein und steht somit am Anfang dessen, was Menke als „autonomes Recht“ (Menke 2011, 43) bezeichnet. Das Gericht ist demnach eine Emanzipationsschwelle. Wenig überraschend spielt die Frage der Normativität und Rechtfertigung des Gerichts in Foucaults Genealogie keine Rolle. Es zeigt sich, dass weder das „Wesen“ des Gerichts noch das des Rechts bestimmt wird. Ob das Recht also auf Frieden (Ermöglichung von Gleichheit) oder Krieg (Aufrechterhaltung einer Ungleichheit) ausgelegt ist, ist keine Frage, dessen Beantwortung von dieser Genealogie erhofft werden kann. Dass und inwiefern es sich dennoch um eine Kritik des Gerichts (und damit des Rechts, das auf ihm gründet) handelt, soll nun im Anschluss an die Arbeiten zur Genealogie als Kritik begründet werden.
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4.2 Die Genealogie des Gerichts als Kritik des Rechts? In Foucaults Kritik des Gerichts lassen sich drei genealogische Effekte ausmachen: die „Loslösung“ aus einer „Aspektbefangenheit“ (Owen 2003, 132), die die Vorstellung eines konstituierenden Akts der Rechtsetzung zersetzt, indem sie die Frage der Rechtfertigung des Rechts durchweg in die Frage nach seinen historischen Möglichkeitsbedingungen gleiten lässt (Abschn. 4.2.1); eine transformationsinduzierende Erzählung (Saar 2007), die uns einen bestimmten Habitus des Gerichts abzugewöhnen vermag (Abschn. 4.2.2); sowie die „Intensivierung und Klärung eines Problems“ (Koopman 2013, 61, Übers. V.D.), die die Kopplung der Rechtsprechung an Akte des Wahrsprechens betrifft (Abschn. 4.2.3).5
4.2.1 Jenseits von Rechtfertigung Die genealogische Kritik hat ein anderes Verhältnis zur kritischen Praxis des Urteilens als die „legislative“ Kritik, die Habermas’ Verbannung Foucaults aus dem Philosophischen Diskurs der Moderne zugrunde liegt (vgl. Owen 1995, 490). Eine kompakte Formel, die das Kritische der Genealogie herausstellt, ist ihr Effekt der „Loslösung“ aus einer kulturellen „Aspektbefangenheit“ (Owen 2003, 132). Was also ist der Aspekt, von dem uns Theorien und Institutionen der Strafe befreit? Foucaults Rekonstruktion des germanischen Rechts führt in eine Zeit, in der das Recht seiner heutzutage selbstverständlichen Mittel der Durchsetzung entbehrte (Gericht, Polizei, Gefängnis). Aber was genau passiert bei diesem Versuch „das Ausmaß der Neuheit dieser drei Institutionen zu ermessen“ (TIS 150)? Im Rahmen der dynastischen Analyse identifiziert Foucault die Funktion der Rechtsapparate in einer politischen Spaltung: die Abspaltung widerständiger Volkskräfte, das Abkappen ihrer politischen Verbindungen zum Adel und Bürgertum sowie ihre Umwandlung in ein entpolitisiertes Delinquentenmilieu. Zwar erlaubt diese Problematisierung des Rechts, die Aufmerksamkeit von den Rechtszwecken auf die politischen Effekte ihrer Mittel zu verschieben. Dennoch haftet dieser Problematisierung die Tendenz an, in eine Frage der Rechtfertigung abzugleiten: Ist die Abtrennung derjenigen, die zum Gewalteinsatz bereit sind, von jenen, die ihre Interessen mit zivilen Mitteln durchzusetzen versuchen, nicht durchaus eine wohl begründete? Mit dem Gang zurück zum Anfang wird es möglich, die Kritik des Rechts von der Frage seiner Rechtfertigung zu lösen. Der kritische Blick richtet sich nun auf die Möglichkeitsbedingungen der Teilung selbst: Was hat dazu geführt, dass Kanzler Séguier 1640 die Repression der NuPieds ausgerechnet mit dem Mittel der Teilung durchführen konnte? Wie war die Spaltung möglich? Woher die ‚bewaffnete Justiz‘? Woher die unmittelbare Bereitschaft der lokalen Mächte, sich dieser zu unterwerfen? Das erste Merkmal
5Ich setze im Folgenden die Kompatibilität der drei herangezogenen Konzeptionen der Genealogie als Kritik voraus, die ich als Varianten mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen betrachte.
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dieser genealogischen Kritik des Rechts ist also die Loslösung vom Aspekt der Rechtfertigung, und sie wird durch den Fokus auf die historischen Möglichkeitsbedingungen vollzogen. Diese Möglichkeitsbedingungen nehmen zwei Formen an, die ihrerseits zwei loslösende Effekte auf unser – von der Frage der Rechtfertigung geprägtes – Denken haben. Einerseits stellt Foucault Bezüge her zur Transformation politikökonomischer Herrschaftsverhältnisse. Es sind die zwei großen Brüche, die auch für den historischen Materialismus grundlegend sind: die Entstehung des Feudalismus und ihre Umwälzung durch die kapitalistische Produktionsweise (vgl. TIS 132–150). Der rechtskritische Impuls dieser Kontextualisierung des Wandels von Rechtsordnungen ist eindeutig: Entplausibilisiert wird die Annahme, dass das Konstituierende des Rechts der juridische Diskurs – die vernunftbasierte Begründung – sei. Diese Ersetzung einer idealistischen durch eine materialistische Annahme ist ein Element dieser Genealogie, aber noch nicht ihr spezifisches.6 Die zweite Möglichkeitsbedingung des Repressionsapparates ist die Praxis des Gerichts selbst. Während das Gericht für Menke die Gleichheit der dem Gerichtsverfahrenen unterworfenen ermöglicht, ist Foucaults Kritik des Gerichts radikaler. Foucault hält sowohl an der Kontingenz dieser Praxis (dass ein Recht ohne Gericht möglich ist) fest als auch an ihrem problematischen Effekt (die entpolitisierende Abspaltung widerständiger Volkskräfte). Gerade dieses Verharren auf den Momenten des Anfangs (des feudalen Gerichtswesens und des staatlichen Repressionsapparats) macht den genealogischen Effekt der Loslösung möglich: „rendering the entrenched cultural judgements which constitute our form of life up for judgement“ (Owen 1995, 191). Das Gericht – eine eingewöhnte Praxis des Urteilens – wird damit selbst zum Urteil freigesetzt.
4.2.2 Abgewöhnung eines Habitus Im Anschluss an David Owen hat Martin Saar einen weiteren Aspekt genealogischer Kritik herausgestellt, der ihr narratives Moment betrifft. Genealogien sind Erzählungen, die aufgrund der gewaltvollen Dynamiken, die sie schildern, eine transformierende Lektüreerfahrung bewirken können (vgl. Saar 2007, 310– 333). In der Erzielung dieses Effektes verfährt die Genealogie nicht primär im Modus des Arguments, sondern des Schocks. Theorien und Institutionen der Strafe führt uns an diesen Punkt der Abstoßung, indem Foucault die Entstehung des „Gerichtswesens“ als eine Geschichte „der Gewalttätigkeiten, Aneignungen, Beraubungen“ (TIS 204) erzählt. Die Etablierung der feudalen Gerichts- und Strafpraxis ist die Geschichte einer materiellen Machtsteigerung: „Im Grunde genommen ist es eine Zirkulation von Gütern, die notwendig den Falllinien der Konzentration der Macht folgt, da [sie] per Zwang und kraft Amtsgewalt erfolgt, zu Gunsten derer, die sie besitzen“ (TIS 204).
6Hierbei
lasse ich mich von Deleuze’ These leiten, dass Foucault, Althusser, Lévi-Strauss und Lacan die traditionelle Binarität von Idee (Imaginäres) und Materie (Reales) durch das dritte Element des Symbolischen ergänzen (Deleuze 1984, 271–273).
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Die feudale Gerichtspraxis wird gekennzeichnet durch Momente des Raubs, der organisierten Enteignung und der Bereicherung jener, die bereits unter den Reichsten waren. Martin Saar weist darauf hin, dass die Genealogie sich derartiger ‚Kausalitäten‘ als narrativer Mittel bedient. Die Genealogie muss, um eine Kritik zu sein, die um ihre eigenen Grenzen weiß, zwischen „Genesis und Geltung“ (Saar 2016, 248) unterscheiden. Der Zweck des Schocks dieser Erzählung hat also in etwas Anderem zu liegen als darin, die gerichtliche Praxis aufgrund ihrer ‚niederen Herkunft‘ zu denunzieren. Fragen wir zunächst danach, welches „Selbstverständnis“ (Saar 2007, 318) mit dieser Geschichte des Gerichtswesens irritiert und welche eingewöhnte Praxis zur Transformation gedrängt wird, so zeigt sich: Als genealogische Kritik des Rechts zersetzt Theorien und Institutionen der Strafe das Bild eines zivilisierten, sauberen, wohlgeordneten Gerichts. Gebrochen wird dadurch mit einem Bild, zu dem wir vielleicht geneigt sind, aufzuschauen, und auf dessen überparteiliche Abwicklung von Streitsachen wir vielleicht zu vertrauen gewohnt sind. Dadurch werden zwei Habitus zur Transformation gedrängt: der des souveränen, rechtsprechenden Subjekts und der des sich unterwerfenden, zum Gericht aufschauenden Subjekts. Theorien und Institutionen der Strafe erweist sich somit als Bestandteil einer transformatorischen Praxis, die die Möglichkeit einer „radikale[n] Eliminierung des Justizapparates“ (DEII/108, 440) in den Blick nimmt.7 Aber was wäre eine andere, bessere Form der geregelten Abwicklung des Streits als die des Gerichts? Ein letztes zentrales Moment der Genealogie soll nun darin gezeigt werden, dass sie uns diese Alternative nicht anbietet.
4.2.3 Vertiefung eines Problems Auf die Frage eines Verfechters der Volkstribunale, wie, wenn nicht in der Form des Gerichts, dem Volk „Normen“ gegeben werden können, entgegnet Foucault in seinem Gespräch mit den Maos: „Ich werde dir zweifellos mit einem Witz antworten: das wird man erfinden müssen“ (DE II/108, 452). Dass die Genealogie Probleme sichtbar macht, deren Problemhaftigkeit wir noch kaum zu sehen gewohnt sind, ist ein Aspekt den Colin Koopman herausstellt. Die Spezifik dieser Kritik liegt darin „to clarify and intensify problematizations“ (Koopman 2013, 61). Von Foucaults Rekonstruktion des germanischen Rechts ist also keineswegs die Lösung des Problems zu erwarten, sondern seine Vertiefung. Welche Punkte stellt Foucault heraus? Er rekonstruiert das germanische Recht, das weder Gerichte, Verwaltung, noch Strafjustiz kennt, sondern lediglich „die geregelte Abwicklung des Streits“ (TIS 160). Um in Kraft treten zu können, setzt dieses Regelwerk Bedingungen voraus: Der Justizakt muss von einer der beiden Konfliktparteien einberufen werden, er bedarf sowohl der Zustimmung der beschuldigten Partei wie der Bereitschaft eines Dritten, die Urteilsfindung
7An diesem Punkt ließe sich Theorien und Institutionen der Strafe weiter einflechten in die gegenwärtigen Lesarten einer „Entsetzung“ des Rechts (vgl. Loick 2018).
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zu begleiten, auch wenn er damit das „Risiko“ eingeht, „in einen Privatkrieg hineingezogen zu werden“ (TIS 164). Die Entstehung der Feudaljustiz bedeutet demgegenüber den „Aufbau eines ständigen und zunehmend spezifizierten Gerichtsapparats“ (TIS 164). Das Gericht wird eine vom einzelnen Konfliktfall unabhängige, permanente „dritte Instanz“. Neben dieser institutionellen Verstetigung macht die Kontrastierung mit dem germanischen Kriegsrecht noch etwas Anderes sichtbar. In der Zeit vor dem Gericht bestand die Aufgabe des Dritten lediglich darin, den Sieg der einen und die Niederlage der anderen Partei zu „beglaubigen“ (TIS 177). Sichtbar gemacht wird damit, worum es nicht ging: „Es ging nicht darum, dass der Richter selbst und mit seinen eigenen Mitteln ermittelt, wo die Wahrheit war“ (TIS 177). Neu ist daher „die Vorstellung, dass sich der Justizakt über das Sagen der Wahrheit vollzieht“ (TIS 161). Warum aber handelt es sich hierbei um ein Problem? Foucaults Argument ist Folgendes: Das Wahrsprechen ist zugleich eine ‚Verschleierung‘. Die Wahrheit des Gerichtsurteils verbirgt seine Existenz als Machtapparat. Das moderne Strafrecht bringt dies auf besondere Weise zum Ausdruck. Foucault skizziert, wie der Justizapparat einhergeht mit einer Transformation des Rechts, dem Aufkommen „königlicher Fälle“, in denen die alleinige Gerichtsbarkeit eines obersten Zentrums beansprucht zu werden beginnt. Anfänglich sind dies etwa „Angriffe auf Händler, Transporte, auf den Landstraßen“, „Verstöße gegen königliche Verordnungen“ sowie das „portatio armorum“8 (TIS 244). Zusätzlich zum tatsächlichen Schaden am Beschädigten tritt bei jenen besonderen Fällen nun ein Zweit-Kläger und ein imaginärer Zweit-Geschädigter hinzu. Diese Verdoppelung konstituiert das moderne Strafrecht: Bestimmte, besonders gravierende Vergehen werden gerade dadurch vom Privatrecht abgegrenzt, weil sie zugleich Verstöße gegen eine „Ordnung“ (TIS 246) sind. Indem sich diese Ordnung auf die „Allgemeinheit des Willens“ und die „Allgemeinheit der Natur“ (TIS 252) stützt, gerät das Problem tendenziell aus dem Blick. Das Problem ist also nicht die Wahrheit – dass es sie nicht gäbe, dass sie immer kontingent sei usw. -, sondern dass sie in ein politisches Regime eingebunden ist, das sich durch den Umstand seiner Kopplung an die Wahrheit potenziell unserer Kritikmittel entzieht. *** Ich schlage also vor, den genealogischen Gang „zurück zum Anfang“ (TIS 150) nicht als Hinwendung zu einer „ursprünglichen Konfrontation“ (Ewald und Harcourt 2017, 346) zu sehen, sondern als Herstellung einer Abgrenzungsfolie. Das Andere – hier: das germanische Kriegsrecht – dient dabei ebenso wenig als abstoßende Rückschrittlichkeit wie als Hoffnungsträger eines alternativen Fortschritts. Die Zeit vor dem Anfang ist ein positives Anderes, weil sie etwas Negatives – das Problem – sichtbar macht. Anstatt in der Rekonstruktion der kriegerischen Anfänge der Gerichtspraxis die Affirmation eines kriegerischen Politikbegriffes zu sehen, deutet die Problematisierung des entpolitisierenden
8Dieses
verbietet „Waffen zu tragen, wenn man in einer Gruppe ist (mindestens sechs Personen), ausgenommen natürlich im Krieg oder wenn man Soldat ist“ (TIS 244).
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Ausschlusses aufständischer „Volkskräfte“ auf das Gegenteil hin: insofern sie die bürgerliche Gesellschaft als kriegsführend gegen ihr Anderes betrachtet, zielt die Genealogie auf die Sichtbarmachung dieses Kriegsverhältnisses als eines zu bearbeitenden Problems. Im Unterschied zu Menkes Kritik des Rechts ist Foucaults Genealogie des Gerichts damit zugleich radikaler und lokaler: sie ist radikaler in dem Sinne, dass sie hinter das moderne Recht (und die es ermöglichende Praxis des Gerichts) zurückgeht und an dessen Kontingenz festhält. Dieses genealogische Vorgehen lässt sich als Ausdruck einer von Foucault geäußerten Hoffnung lesen: „Es muss möglich sein, neu anzufangen“ (DE III/215, 514). Die Genealogie des Gerichts ist aber zugleich lokaler angelegt als Menkes Kritik des Rechts, da sie an einem konkreten, sich an einer spezifischen Praxis entzündenden Kampf andockt. Die Genealogie reagiert darauf, indem sie das Problem vertieft, das diesem Kampf zugrunde liegt.
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Vojta Drápal ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Kriminologie, insbesondere Sicherheit und Resilienz, an der Universität Hamburg.
Verschränkte Beschlagnahmen: Postkoloniale Perspektiven auf die Strafgesellschaft Die Strafgesellschaft (1972/73) Vanessa Eileen Thompson
1 Einleitung Am 13. Mai 2019 veröffentlichte die Berliner Kampagne „Ban! Racial Profiling. Gefährliche Orte abschaffen!“ ein Rechtsgutachten zur polizeilichen Ausweisung von sogenannten „gefährlichen Orten“.1 Die Kampagne gab das Gutachten in Auftrag mit dem Ziel, die polizeiliche Befugnis der anlass- und verdachtsunabhängigen Kontrollen an „gefährlichen Orten“ (§ 21 ASOG) hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Die Ausweisung „gefährlicher Orte“ durch die Polizei und die Sonderbefugnis, an diesen anlass- und verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen, trage wesentlich „zur Verdrängung von Berliner*innen und Besucher*innen of Color“ bei und verstärke rassistische Kontrollen (https:// kop-berlin.de/beitrag/berliner-initiative-ban-racial-profiling-rechtsgutachten-zugefahrlichen-orten-in-berlin). Neben vielen anderen Orten in Berlin und in anderen Städten Deutschlands gehört der Görlitzer Park zu solchen Orten. In einem Interview mit der Kampagne „Ban! Racial Profiling. Gefährliche Orte abschaffen!“ erklärt eine Schwarze Person zu ihren Erfahrungen mit Racial Profiling:
1Für weitere Informationen zu der Kampagne siehe Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (2016), Autor*innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling (2018), die Homepage der Kampagne https://kop-berlin.de/beitrag/die-berliner-kampagne-ban-racial-profiling-gefahrliche-orteabschaffen und das Rechtsgutachten https://kop-berlin.de/files/175.
V. E. Thompson (*) Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Frankfurt (Oder), Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_4
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V. E. Thompson Ich lebe seit einigen Jahren hier in der Nähe, in Kreuzberg, und ich mag diesen Park. Ich komme gerne zum Entspannen, aber wegen der Polizeikontrollen kann ich leider nicht kommen. Denn das ist mir einmal passiert und das dauert ungefähr zwei Stunden. Ich wurde kontrolliert, aber ich habe gar nichts. Und die Polizei hat nur die Schwarzen Leute kontrolliert. „Warum?“ habe ich gefragt – aber es kam keine Antwort. Warum werden nur Schwarze Leute kontrolliert, nur Schwarze Leute kriminalisiert? Warum? Das ist für mich unrichtig! (Autor*innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling 2018, 181)
Die zunehmende Thematisierung von Racial Profiling als intersektionales Phänomen der Kriminalisierung, Ausgrenzung und Dehumanisierung lässt sich auch in anderen Ländern Europas beobachten (vgl. u. a. Fassin 2013; Traoré und Lagasnerie 2019; Thompson 2018, Wa Baile et al. 2019). So setzen sich in Frankreich seit einigen Jahren viele anti-rassistische und dekoloniale Initiativen und Organisationen für ein Ende rassistischer Polizeikontrollen und den damit zusammenhängenden und vielseitigen Folgen ein. Front de Mères, ein von Müttern* gegründetes Syndikat, das sich gegen den intersektionalen Rassismus einsetzt, den ihre Kinder in den rassifizierten und deprivilegierten Vorstädten französischer Großstädte erleben, skandalisiert besonders die Kriminalisierung von Jugendlichen of Color und Schwarzen Jugendlichen, migrantisierten Jugendlichen sowie Roma-Jugendlichen durch polizeiliches Handeln. Wurden die gelebten Erfahrungen rassistischen Polizierens und Kriminalisierens bis vor ein paar Jahren vorwiegend innerhalb außeruniversitärer (und oft marginalisierter) Wissensproduktion thematisiert, analysiert und kritisiert, hat der Zusammenhang zwischen institutionellem Rassismus und Polizieren in den letzten Jahren etwas mehr Aufmerksamkeit in den Sozial- und Humanwissenschaften erfahren. Dies hängt zum einen mit den vielfältigen Kämpfen gegen institutionellen intersektionalen Rassismus in Polizei und Justiz zusammen, getragen von rassismuskritischen Gruppen und Initiativen, Nichtregierungsorganisationen und Jurist*innen. Zum anderen ergibt es sich daraus, dass die Sozial- und Humanwissenschaften erneut und zunehmend die Konjunkturen demokratischkapitalistischer Gesellschaften vor dem Hintergrund des Zusammenhangs zwischen den strukturellen Veränderungen sozialer Verhältnisse und der Expansion punitiver und karzeraler Regime untersuchen. Die gegenwärtige Expansion von Strafregimen, Konjunkturen der Massenkriminalisierung und polizeilicher Durchdingung des gesellschaftlichen Lebens, die auch als „punitive Wende“ (Garland 2002; Fassin 2016) oder „karzerale Kondition“ (Davis 2003; Gilmore 2007) bezeichnet wird, zeigen zweifellos, dass Foucaults Analyse des Strafwesens hochaktuell ist. Auch wenn Foucault selbst am Ende von Überwachen und Strafen (1981) den Rückgang des Gefängnisses als dominanter Straftaktik prognostizierte, liefert seine Analyse der Disziplinargesellschaft, die er in den 13 Vorlesungen aus Die Strafgesellschaft entfaltet, hilfreiche Hinweise, um die vielseitigen und verschränkten Formen der Bestrafung als Regierungstechnik in neoliberalen demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften zu kritisieren.
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Ich diskutiere im Folgenden, nach einer kurzen Skizze der für eine Kritik gegenwärtiger punitiver Regime wesentlichen Modelle aus Die Strafgesellschaft (der Inbeschlagnahme2, dem Bürgerkrieg und den Illegalismen) Foucaults Thesen aus einer intersektionalen und postkolonial inspirierten Perspektive. Dabei lote ich aus, inwiefern seine Analyse aus Die Strafgesellschaft einen wichtigen Beitrag für die Kritik an gegenwärtigen strafenden und karzeralen Regimen liefert, den es zugleich postkolonial zu wenden gilt. Dafür gehe ich zunächst exemplarisch auf das ambivalente Verhältnis zwischen Foucaults Werken und Rezeptionen sowie Ansätzen in den postkolonialen, rassismuskritischen und Schwarzen politischen Theorien ein. Diese postkolonialen Relektüren können Foucaults Analyse nicht einfach additiv hinzugefügt werden. Stattdessen halten sie dazu an, auch die differenziellen Funktionsweisen der Strafgesellschaft in den Blick zu nehmen. Dabei entspringen die postkolonialen Relektüren zwar unterschiedlichen theoretischen Traditionen, weisen aber in methodologischer Hinsicht eine Gemeinsamkeit auf, da sie den „methodologischen Eurozentrismus“ (Bhambra 2017; Thompson 2018) westlicher Theoriebildungen durch die Auseinandersetzung mit marginalisierten und subalternen Wissensbeständen, Verflechtungen und Perspektiven vor dem Hintergrund der Wirkweisen des Kolonialismus, Rassismus und der postkolonialen Dialektik der Moderne herausfordern. Auf diese Weise reinterpretiere ich in einem zweiten Schritt die zentralen Kategorien aus Die Strafgesellschaft, ehe ich die aktuellen Implikationen dieser Reinterpretation mit einem Fokus auf Foucaults Konzept der Inbeschlagnahme reflektiere.
2 Das Gefängnis als Gesellschaftsform In den Vorlesungen Die Strafgesellschaft, die Foucault in den Jahren 1972 und 1973 am Collège de France hielt, analysiert er die Gefängnis-Form und das mit ihr verknüpfte Wahrheitsregime als Gesellschaftsform. Dabei weitet er den Fokus über die Institution Gefängnis und seine Architektur temporal und räumlich aus. Das Gefängnis ist nach Foucault „weit mehr eine Gesellschaftsform als eine Architekturform“ (SG 308 f.) und er verknüpft politische Ökonomie mit einer Genealogie der Moral, um diese Gesellschaftsform zu analysieren. Dabei geht es Foucault nicht nur um die Herausarbeitung der produktiven Formen und Wirkungen der Macht, sondern um eine neue Theorie der (Disziplinar-) Macht. Einer Macht, die durch Wissenserhebung und -erzeugung, Moralisierung sowie Disziplinierung von Körpern produktiv operiert und sich durch die moralisierende Inbeschlagnahme der Zeit, ihrer Umwandlung in Arbeitskraft und ihrer Verwertung in Re- und Produktionszyklen streut. Hervorgebracht wird diese Disziplinarmacht, die die gesamte Gesellschaft durchzieht und sich in ihr entfaltet,
2Foucault beschränkt den Begriff „séquestration“ hier nicht auf den juristischen Bereich, sondern verwendet diesen mit Bezug auf gesellschaftliche Bereiche weiter (verstanden als „Beschlagnahmung“).
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durch den Bürgerkrieg, den Foucault als „Matrix aller Machtkämpfe, aller Machtstrategien und folglich auch die Matrix aller Kämpfe um und gegen die Macht“ (SG 29) definiert. Die Vorlesungen markieren damit nicht nur einen wesentlichen Grundstein für seinen Klassiker Überwachen und Strafen, sie stellen einen eigenständigen Beitrag dar, der die Strafgesellschaft als eine allgemeine Gesellschaftsform in der Entstehung kapitalistischer Machtverhältnisse kontextualisiert. Dabei ist das Gefängnis für Foucault nicht einfach eine Funktion der kapitalistischen Produktionsweise, sondern als spezifisches Machtverhältnis mit idiosynkratischen Praktiken konstitutiv für die Kapitalakkumulation, da dieser Prozess des Einschlusses mit der Erzeugung der produktiven und gefügigen Körper selbst eng verwoben ist (SG 353). So steht im Zentrum der kapitalistischen Machtbeziehungen für Foucault auch nicht die Arbeit, sondern die Erzeugung disziplinierter und arbeitender Körper durch den Zugriff der Macht auf die (Lebens-) Zeit, die Inbeschlagnahme der Zeit zur Bindung an die gesellschaftlichen Reproduktionsapparate (SG 374), zur „Bewältigung der Akkumulation der Menschen“ (ÜS 283). Durch die Beschlagnahme, zentrales Konzept in Die Strafgesellschaft, und deren unterschiedliche Institutionen (wie die Schule, das Krankenhaus oder die Fabrik) die auf Normalisierung abzielen, wird das Soziale hergestellt. Die Institutionen der Beschlagnahme sind dabei nicht als (repressiver) Staatsapparat zu verstehen, sondern als „ein Apparat, der in das Staatsgeflecht eingebunden ist. Ein innerstaatliches System“ (SG 369) das nicht uniform, sondern fließend (SG 368) und über Streuung operiert. Eingelassen sind die Institutionen der Beschlagnahme in den flächendeckenden Bürgerkrieg, der den Hintergrund bildet, vor dem sich politische Macht abspielt (und die nicht außerhalb von ihm zu verorten ist, wie Foucault gegen Hobbes erklärt). Dabei richtet sich der Bürgerkrieg gegen den „inneren Gesellschaftsfeind“, jedoch nicht im Sinne einer einfachen Unterdrückung „von oben“. Vielmehr kann er als ein allgemeines Kriegsverhältnis verstanden werden, in dem Gruppen bestimmte Fragmente und Strategien der Macht mobilisieren (SG 50), die aber niemals in ihrem Besitz sind. Im Bürgerkrieg ringen verschiedene Gruppen sozusagen um die Aneignung von Fragmenten der Macht. Die Disziplinar- und Machttechnologien, die im Alltäglichen des Bürgerkriegs zur Geltung kommen, richten sich dabei auf die Kontrolle der Illegalismen, auf die Bedrohung der Gesellschaft und ihrer Ordnungen, statt auf die Kriminalität bestimmter Gruppen. Übersetzt in die Grammatik des Bürgerkrieges, ist auch die kriminalisierte Person nicht länger eine, die einfach ein Vergehen begangen hat, sondern eine, die Krieg gegen die Gesellschaft führt, ein „innerer“ Feind der Gesellschaft (SG 54). Die Universalisierung des Gefängnisses als „Gesellschaftsform“, die Foucault in Die Strafgesellschaft genealogisch herausarbeitet, und die sich im 19. Jahrhundert in Beziehung zu der kapitalistischen Produktionsweise vollzieht, lässt sich ihm zufolge nicht aus den Strafrechtsreformen des 18. Jahrhunderts ableiten. In diesen standen nicht Moralisierung, sondern Kontrolle und der Schutz der Gesellschaft im Zentrum (vgl. Harcourt 2015, 397). Erst durch die „Verbindung von Moral und Strafwesen“ (SG 154), die Übertragung der Diskurse der Quäker
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und englischen Dissidenten um die Besserung und die Buße auf das Strafsystem, die sich durch Verstaatlichung institutionalisiert, findet das Gefängnis auf allen gesellschaftlichen Ebenen Einzug. Damit haben sich das Strafrechtssystem und die christliche Moral verbunden, „so dass man ein Strafrechtssystem hat, das erstmals ein Besserungssystem ist. Kurz, man hat es mit etwas zu tun, was ich Strafgesellschaft nenne, das heißt mit einer Gesellschaft, in der der Justizapparat des Staates zusätzlich Korrektur- und Besserungsfunktionen wahrnimmt. Dies ist der Endpunkt“ (SG 196). Nach Foucault geht es beim Gefängnis weniger um Sanktion als um die Kontrolle und Einhegung der „Illegalismen des Volkes“ für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch die Beschlagnahme der Zeit. Mit seinem Fokus auf Illegalismen ermöglicht er zu zeigen, dass um die Grenzen des Rechts, und damit um das, was als illegal oder legal gilt, stets gerungen wird. Illegalismen verweisen auf die Uneindeutigkeit von Illegalität. Dabei sind es die Aushandlungen von Machtverhältnissen, die die Illegalismen verschiedener Gruppen, die sich auch gegenseitig stützen und befördern, in „illegales“ Verhalten klassifizieren können (vgl. Harcourt 2015, 383).
3 What’s race got to do with it? Viele von Foucaults Arbeiten nehmen in der postkolonialen Theoriebildung einen zentralen Stellenwert ein. Zugleich stellen viele der Bezugnahmen auf Foucault eine postkoloniale Revision/Reinterpretation seiner Thesen dar, von denen ich in diesem Abschnitt einige skizzieren möchte. Doch auch Foucaults Theorien sind von einer postkolonialen Ambivalenz oder einem „postkolonialem Symptom“ gekennzeichnet, welches auf einem „Akt gründlichen Vergessens“ basiert, wie Homi K. Bhabha dies nennt (Bhabha 1996, 357). So beschäftigt Foucault sich in seinen Arbeiten nur marginal mit Rassifzierungsprozessen und dem Phänomen des Rassismus. Lediglich in Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I und den Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft erläutert er die Entstehung des modernen Rassismus als eine „Zäsur zwischen dem, was leben soll, und dem, was sterben muss“ (VG 295), eine Organisations- und Regulationsform des Lebens, die zentraler Bestandteil von Biomacht ist. Gleichzeitig bewegen sich die meisten von Foucaults Vorlesungen implizit um das Problem des Rassismus, Mechanismen der Marginalisierung und Ausgrenzung (vgl. u. a. Lemke 2004), jedoch ohne dabei auf die historischen Implikationen und Kontinuitäten von Versklavung und Kolonialismus einzugehen (vgl. u. a. Dean 1986), die konstitutiv sind für die Kolonialität der Moderne (Quijano 2000), deren grundlegender Imperativ Rassismus ist (Robinson 2000). Die Dethematisierung und Entnennung Foucaults von Versklavung und Kolonialismus in seinen Überlegungen zu Rassismus, Formen der Bestrafung und Disziplinierung wurden im Rahmen postkolonialer Kritik breit diskutiert und rezipiert (Dean 1986; Spivak 1987; Stoler 1995; Young 1995). Die Diskussionen reichen dabei von einer Kritik am Eurozentrismus Foucaults (James
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2016; Loomba 2005; Stoler 2002) und der damit zusammenhängenden Aussparung von Kolonialismus und Versklavung als konstitutiv für die Errichtung von Kerkersystemen und Systemen der Einschließung (Browne 2015; James 2016; Stoler 2016) bis hin zu der Thematisierung und Offenlegung der postkolonialen Perspektive, die subversiv in seinen Texten wirkt. Gleichzeitig werden im Sinne einer „affirmativen Sabotage“ (Spivak 2013) Foucaults Arbeiten für die Analyse und Kritik kolonialer Phänomene, Diskurse, Machtverhältnisse sowie Disziplinierungs- und Regulierungstechniken angewandt und reinterpretiert. In Bezug auf die Ausarbeitung der Disziplinarmacht und der panoptischen Gesellschaft haben besonders Timothy Mitchell (1991), Ann Stoler (2016) und Simone Browne (2015) aufgezeigt, wie die Kolonien und der transatlantische Versklavungshandel als Laboratorien für die Herausbildung der modernen europäischen Disziplinargesellschaft und ihrer Machtformen und -technologien figurierten, und legen die Verbindungen zwischen Kerkersystemen, Plantagen und Kolonien frei. So führt Mitchell in Colonising Egypt (1991) aus, wie sich der Panoptismus als koloniale Gesellschaftsform herausgebildet hat. Mitchell analysiert darin weniger den britischen Kolonialismus in Ägypten im 19. Jahrhundert, als vielmehr die Herausbildung der Kolonialmacht als Überwachungsund Regierungsform, die in die soziale Welt neue Konzeptionen von Raum und Zeit einschreibt, neue Formen der Subjektivierung und Erfahrungen der Wirklichkeit manifestiert (Mitchell 1991, ix). Die architektonische Restrukturierung der kolonisierten Stadt, militärische und ländliche Reformen und Restrukturierungen, die Etablierung medizinischer Verfahren und die Einführung der Schulpflicht richteten sich auf die Erzeugung von kolonisierten politischen Subjekten und Gruppen für den Erhalt der politischen und kolonialen Ordnung. Mit seiner Analyse kolonialer Disziplinarprozeduren untersucht Mitchell jedoch nicht einfach nur die politische Ordnung im kolonialen Ägypten des 19. Jahrhunderts unter Anwendung der Begriffe Foucaults, vielmehr fordert er damit auch den methodologischen Eurozentrismus (Bhambra 2017; Thompson 2018) heraus, der Foucaults Theorie der panoptischen Gesellschaft anhaftet. Foucault’s analyses are focused on France and northern Europe, yet forms of power based on the re-ordering of space and surveillance and control of its occupants were by nature colonising in method. Moreover, examples of the Panopticon and similar disciplinary institutions were developed and introduced in many cases not in France or England but on the colonial frontiers of Europe, in places like Russia, India, North and South America, and Egypt. Jeremy Bentham corresponded with local rulers in all these places, including the governor in Cairo, Muhammad Ali Pasha, advocating the introduction of the panoptic principle and other new techniques. For many Europeans – military officers, SaintSimonist engineers, educationalists, physicians, and others – a place like the nineteenthcentury Cairo provided the opportunity to establish a modern state based on the new methods of disciplinary power. (Mitchell 1991, x)
Die postkoloniale Revision von Foucaults Theorie der Disziplinarmacht ermöglicht damit auch eine Reinterpretation der Machtbeziehungen und wie diese in bestimmten Räumen und zu bestimmten Zeiten bestimmte Körper gefügig machen.
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Auf die transnationalen Verbindungen von Systemen der Einschließung im Rahmen einer kolonialen Matrix hat Ann Stoler (1995) hingewiesen, die auch Foucaults Arbeiten zu Sexualität bereits rassismuskritisch und postkolonial angereichert hat. In Duress. Imperial Durabilities in Our Times (2016) diskutiert Stoler die kolonialen Geschichten der Gegenwart und zeigt im Rahmen ihrer Genealogie der colonies agricoles, den landwirtschaftlichen Lagern für verarmte, verwaiste Kinder und Jugendliche, landwirtschaftliche und urbane Arme und andere auf, dass die europäischen Lager- und Kerkersysteme des 19. Jahrhunderts epistemisch, disziplinartechnisch und politisch konstitutiv mit dem kolonialen Projekt verknüpft waren. Die colonies agricoles sollten die weitere Herausbildung von „Feinden der Gesellschaft“ verunmöglichen und dienten der Disziplinierung und moralischen Umerziehung. Aber vor allem sollten sie die imperiale Regierung in den Kolonien sichern durch die Anwerbung von Armen in den kolonialen Zentren für die Arbeit in den Kolonien und die produktive Erzeugung loyaler Siedler (Stoler 2016, 160). Die colonies agricoles verweisen damit auf den konstitutiven Zusammenhang zwischen Lagern und Camps in den europäischen Metropolen und den Kolonien. Nach Stoler stellten sie vor allem Formen imperialer (Disziplinierungs-)Praxis dar, die in den Kolonien vor allem durch Bestrafung und Kontrolle operierten (vgl. Pagano 2019). Ausgehend von einer Schwarz-feministischen Perspektive analysiert auch Simone Browne in Dark Matters. On the Surveillance of Blackness (2015) die Überwachung von Blackness in einer Reinterpretation von Foucaults Überlegungen zu Straf- und Disziplinarregimen. Dabei zeigt sie, dass die Abjektion Schwarzen Lebens (wie in den Plantagenökonomien und europäischen Kolonien) durch verschränkte Formen der Akkumulation rassifzierter und vergeschlechtlichter Menschen, die diese zugleich als Nicht-Menschen konstituiert, konstitutiv für die Herausbildung der europäischen Moderne und Episteme ist. Browne demonstriert, wie kontemporäre Überwachungstechnologien- und Praktiken mit der Geschichte der Versklavung und der Überwachung von Schwarzen Menschen verknüpft sind. Durch eine Konfrontation der Analyse des Panoptismus mit anti-schwarzen Regimen der Kontrolle und Überwachung belegt sie, dass Panoptismus als soziale Praxis des Regierens (Browne 2015, 24) über „Rasse“ operiert, da die Erfindung und Anwendung dieser Machttechnologie an rassifizierende Regime gekoppelt ist. Dies erläutert sie mit Bezug auf die Kontroll- und Disziplinierungstechniken auf dem britischen Versklavungsschiff Brookes, den Diskursen über die „Laternengesetze“, um Schwarze versklavte Menschen im New York des 18. Jahrhunderts durch Regierungsweisen des Sehens zu überwachen, die Geschichte der biometrischen Überwachung durch die rassistische Praxis des branding, und die Entstehung von Volkszählungen in Plantagengesellschaften in den USA. Dabei konzeptualisiert Browne Schwarzsein als wesentlichen Vektor, durch den Überwachung und Disziplinierung operiert: Dark Matters names the surveillance of blackness as often unperceivable within the study of surveillance, all the while blackness being that nonnameable matter that matters the racialized disciplinary society. (Browne 2015, 9)
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In Auseinandersetzung mit Foucaults Konzeptualisierung der Disziplinarmacht, durch die Browne eine Schwarze Linie zieht (Browne 2015, 42), stellt sie heraus, wie Souveränität und Disziplinarmacht in der Disziplinierung und Regulierung Schwarzer Körper zusammenwirken. Ausgehend von den Plänen und dem räumlichen Arrangement der Macht auf dem Versklavungsschiff Brookes, das 1781 unter der Leitung von Joseph Brooks Jr., einem Händler versklavter Menschen, gebaut wurde (und von 1781–1804 in Betrieb war), und in dem bis zu 609 versklavte Menschen, getrennt nach Geschlecht und als „Fracht“ entmenschlicht aneinander gekettet neben- oder auch übereinander gestapelt wurden (Browne 2015, 46), zeigt Browne, dass die Kontrolle und Überwachung der Schwarzen Körper auf dem Schiff auf der Gewalt gegen ihre Körper basiert. Den vielseitigen Konditionen eines „frühzeitigen Todes“ (Gilmore 2007, 28) ausgeliefert, „gerade an der Schwelle zum Überleben“ (Browne 2015, 50, Übersetzung V.E.T.), wurden die Schwarzen versklavten Körper so angeordnet, dass sie absolut kontrollierbar und fixiert waren. Browne geht es bei diesem Wiederlesen der Pläne von Versklavungsschiffen nicht alleine um das Zusammenwirken von Disziplinarmacht und Techniken, die traditionelleren Praktiken der Gewalt unter rassifzierenden Vorzeichen anheimfallen. Sie zeigt darüber hinaus, dass die Herausbildung der Disziplinarmacht nicht losgelöst von der anti-schwarzen Kondition der Versklavung betrachtet werden kann. Das Versklavungsschiff war „a mobile, seagoing prison at a time when the modern prison had not yet been established on land“ (Rediker zit. nach Browne 2015, 42). Jeremy Bentham, Gründer der Idee und der Architektur des Panoptikums war im Jahre 1786 selbst auf der Brookes nach Krytschau gereist, 16 versklavte Frauen wurden auf dieser Reise ebenfalls im „Ladebereich“ deportiert. Als konstitutive Unterseite prägt die rassifzierende Macht, die frühzeitige Tode produziert, die Herausbildung der Disziplinarmacht. Allerdings ersetzt sie diese nicht, vielmehr bleibt sie ihr ständiger Begleiter. Browne zeigt, dass diese Machtformen nicht getrennt werden können und dass „Rasse“ als intersektionales Prinzip die Formen von Kontrolle und die Disziplinarmacht in der Strafgesellschaft wesentlich konstituiert. Zwar stellt die Einteilung der Körper, das bürokratische Management (Rosenthal 2018) und die Kontrolle der Zeit auf den Plantagen, die Beschlagnahme der ganzen Zeit der versklavten Subjekte, die sich nicht auf ein Internierungshaus reduzieren lässt, sondern die Kondition Schwarzen Lebens in der Diaspora darstellte (vgl. u. a. Hartman 1997; Spillers 2003) aus Schwarzer intersektionaler Perspektive auch eine „umgekehrte Theaterarchitektur“ (SG 281) dar. Jedoch ist diese nicht von Zwang und direkter physischer Gewalt zu entkoppeln. Browne zeigt durch ihre Analyse von Plänen zur Regulation von versklavter Arbeit auf den Plantagen, wie den 29 Regeln des Plantagenbesitzers Charles William Tait, die er für seine ca. 2400 Hektar große Plantage Sylvania in Texas erstellt hat (Browne 2015, 51), dass zwar auch die Plantagenökonomien Mitte des 19. Jahrhunderts durch Disziplinarmacht geprägt waren, die „by way of set of rules, instructions, routines, inspection, hierarchical observation, the timetable, and the examination“ (Browne 2015, 51) operierte. Sie stellt jedoch heraus, dass diese Machtform stets
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an Formen souveräner Macht, die die Bedingung für die Beschlagnahme der Körper und ihrer Zeit darstellte, geknüpft war. „[P]lantation surveillance was an excercise of both sovereign power and racialized disciplinary power, working simultaneously, discretionarily, and in prescribed fashion, as both were put to use in plantation societies to render slave life expendable.“ (Browne 2015, 52) Dass die Kontrolle Schwarzer Menschen im Versklavungskontext der USA auch nach der formalen Abschaffung der Versklavung über souveräne Macht operiert, zeigt sich historisch an der Kontinuität öffentlicher Spektakel um die Hinrichtungen Schwarzer Menschen im Rahmen der staatlich sanktionierten Lynchjustiz, einer Praktik des frühzeitigen Todes, die durch die Mehrheitsgesellschaft legitimiert wurde und ein öffentliches, regelmäßiges rassifziertes Spektakel darstellte. Browne führt hier exemplarisch (in Anlehnung an die Analysen von Katherine McKittrick 2006), und in Konversation mit Foucaults Schilderung der Exekution des gescheiterten Königsmörders Robert-Françoise Damien im Jahre 1757 in Paris, die Hinrichtung der Schwarzen versklavten Frau Marie-Joseph Angélique im Jahre 1734 in Montréal an. Angélique wurde beschuldigt, das Anwesen ihrer Mistresse Thérèse de Couagne in Brand gesetzt zu haben, und damit auch einen großen Teil Montréals, und zum Tode verurteilt. Condemned to death, she was carted through the streets of Montréal, made to make the amende honorable with a burning torch held in her hand at the door of the town’s perish, and hanged. Angélique’s body hung in the street for all to observe for hours after her execution, was later burned and her ashes thrown to the winds, as the ceremony prescribed for the capital punishment of an arsonist according to French law. The ceremony of Angélique’s execution, according to Katherine McKittrick, achieved at least two things: ‘spectacular punishment of someone and something that is said not to exist’, that something being blackness in and of Canada as absented presence; and “the destroying of bodily evidence”. (Browne 2015, 37)
Browne bringt diese zwei Hinrichtungen nicht nur als metaphorischen Behelf in Konversation. Vielmehr zeigt sie, dass während sich für Foucault die Strafregime gewandelt haben und die Disziplinierung, Dressur und Fügung der Körper durch Überwachung, (Selbst-)Disziplin, Routine aber auch Pflege und Heilung wirkt, dies nicht für die historischen Formationen anti-schwarzer rassifzierender Macht gilt. Diese Machtbeziehung ist nach wie vor von Souveränitätsmacht durchdrungen. Der Figur Angéliques und dem damit einhergehenden alternativen Archiv folgend, arbeitet Browne eine Genealogie rassistischen Terrors an Schwarzen Körpern im nordamerikanischen Kontext von der Versklavung bis zur Lynchjustiz und gegenwärtigen Verbindungen und Artikulationen anti-schwarzer Gewalt und rassifizierender Macht heraus. While Foucault argued that the decline of the spectacle of public torture as punishment might have marked “a slackening of the hold on the body,” this chapter contends that when that body is black, the grip hardly loosened during slavery and continued postEmancipation with, for example, the mob violence of lynching and other acts of racial terrorism. (Browne 2015, 38)
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Brownes Schwarz-feministische Lektüre von Foucaults Disziplinarmacht stellt eindrücklich heraus, dass die Erzeugung und Herstellung von gefügsamen Körpern entlang vergeschlechtlichter und rassifzierender Koordinaten verläuft und demnach nicht eurozentrisch universalisiert werden kann. Der Wandel der Machtbeziehungen, den Foucault herausarbeitet, bezieht sich demzufolge nur auf bestimmte Körper. Browne geht es hier nicht darum, Foucaults Analyse zurückzuweisen, vielmehr geht sie der Frage nach, was eine Bezugnahme auf marginalisierte Archive und Erfahrungen über Machtbeziehungen und die Strafgesellschaft aussagen kann.3 Im Folgenden werde ich Foucaults Konzepte des Bürgerkriegs, der Illegalismen und der Inbeschlagnahme auf diese Weise postkolonial umdeuten.
4 Der Bürgerkrieg und die Feinde der Gesellschaft Im Zentrum von Die Strafgesellschaft steht der Begriff und das Konzept des Bürgerkriegs, den Foucault nicht außerhalb politischer Macht verortet, sondern mitten in ihr. Der Bürgerkrieg stellt damit keine Zäsur der Gesellschaft dar, im Sinne eines Krieges aller gegen alle, wie Hobbes diesen für den Naturzustand erklärt hat, sondern der Bürgerkrieg konstituiert die Gesellschaft und ist ihr Dauerzustand (vgl. SG 367). Der Bürgerkrieg ist keine Art Antithese zur Macht, das, was vor ihr existieren würde, oder das, was nach ihr wieder auftauchen würde. Er unterhält mit der Macht keine Ausschlussbeziehung. Der Bürgerkrieg spielt sich auf der Bühne der Macht ab. Den Bürgerkrieg gibt es nur im Rahmen bestehender politischer Macht; er findet statt, um die Macht zu behalten oder zu erobern, um sie zu entziehen oder zu übertragen. (SG 50)
3Eine
Frage, die sich auch auf Foucaults Aktivismus und Engagement in der Groupe d’information sur les prisons (GIP, Gruppe zur Information der Gefängnisse) übertragen lässt, die er 1971 mitbegründete. Hat die Arbeit in der Gruppe und besonders der Besuch des Gefängnisses Attica im US-Bundesstaat New York Foucaults Hinwendung zu den produktiven Formen des Strafsystems zwar mit hervorgebracht, lässt sich doch fragen, warum er der Bedeutung von „Rasse“ als wesentlichem Imperativ der kapitalistischen Gesellschaft und ihrem Strafsystem so wenig Beachtung geschenkt hat. Foucault, den der Besuch in Attica heftig erschüttert hat (vgl. Harcourt 2015, 363), wusste von den Revolten in dem Hochsicherheitsgefängnis, die nach dem Fluchtversuch und der Erschießung von George Jackson, einem Aktivist der Black Panther Party und Schwarzem Theoretiker, im San Quentin State Prison ausgebrochen worden waren. Foucault und die GIP hatten sogar Flugblätter nach Jacksons Tod verfasst und ihre Solidarität mit den Gefängnisaufständen erklärt (siehe auch Harcourt 2015, 364). Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit Foucaults Beschäftigung mit Theoretiker*innen der Black Power Bewegung und ihrer Gefängniskritik siehe Heiner (2007). Auch Joy James verweist darauf, dass Foucault, obwohl mit den Analysen und Kämpfen Schwarzer Theoretiker*innen aus den USA vertraut, diese in seinen Arbeiten zur Strafgesellschaft nicht nur aktiv entnannt, sondern auch die Wirkweisen anti-schwarzer und (post-)kolonialer Gewalt im Kontext von Europa ausgeblendet hat (James 2016, 268). Ich danke Jeanette Ehrmann, die mich auf diesen Text von James hingewiesen hat.
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Machtausübung versteht Foucault als eine bestimmte Art, Bürgerkrieg zu führen (SG 53), und richtet seinen Fokus auf die Taktiken und Instrumente der Macht im Rahmen gesellschaftlicher Kämpfe, die auch von der Durchsetzung und dem Erhalt kapitalistischer Produktionsverhältnisse geprägt sind. Dieses Ringen um Macht ähnelt in Foucaults Analyse zwar den Klassenkämpfen, doch begreift Foucault Macht nicht als Besitz, sondern untersucht wie daraus ab dem 18. Jahrhundert eine neue Gesellschaftsform der Strafmacht hervorgeht und neue Institutionen entstehen, die die kriminalisierte Person als einen „Feind der Gesellschaft“ kategorisieren, beurteilen und definieren. „Die Bestrafung erfolgt mithin ausgehend von einer Definition des Kriminellen als demjenigen, der gegen die Gesellschaft Krieg führt“ (SG 55). In seiner Untersuchung über die Einführung der Figur des Gesellschaftsfeindes sind „Rasse“ und die koloniale Kondition auf signifikante Weise präsent und unsichtbar zugleich. Ausgehend von der Landstreicherei als „allgemeiner Matrix des Verbrechens“ (SG 72), verstanden als eine Lebensform und Gesellschaftsgruppe und ihrer Rolle in den Prozessen der Produktion, geht Foucault der Darstellung und Einordnung der Landstreicherei oder Vagabondage nach. Hier bezieht er sich hauptsächlich auf die Texte des französischen Juristen und Ökonom Guillaume-François Le Trosne. Für Le Trosne sind es vor allem die Mobilität, das „Umherwandern“ (wegen der ökonomischen Folgen), die Arbeitsverweigerung, und die „Beziehung wilder Macht“ (die Aneignung im Rahmen illegalisierter und kriminalisierter Ökonomien), die die Landstreicherei ausmachen (vgl. SG 73 f.). Dabei zeigen sich in Le Trosnes Texten explizite und implizite koloniale Imprägnationen, die im Zusammenspiel mit biologistischen Formen eines kolonialen externen und internen Rassismus operieren.4 Le Trosne schreibt in seinen Ausführungen zu Landstreichern, dass man sie nicht „bessern“ könne, sondern zur Arbeit zwingen müsse, denn: [E]r ist ein wildes Tier, das man nicht zähmen kann […]; es gelingt einem nur, es zu bändigen, indem man es in Ketten legt […] Man muss sie als einen durch ihre Verurteilung erworbenen Staatsbesitz betrachten, so wie die Sklaven einem Herrn gehören, gehören sie dem Staat. (Zit. in SG 78)
Der direkte Bezug zur rassistischen Animalisierung, inhärent mit der kolonialen Logik verknüpft, der bei Le Trosne deutlich wird, wird durch Foucault zwar ausgeblendet, sucht jedoch gespenstisch seine Analyse heim (Robinson 2000). Zum einen, weil Foucaults Untersuchung auf die rassifizierende Produktion „interner Anderer“ durch die Herausbildung der Landstreicherei als „inneren Gesellschaftsfeind“ verweist. Damit stellt er auch eine Transformation zu biologistischen Operationsweisen des modernen Rassismus heraus, die er später in seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft herausarbeiten wird. Dabei ist es gerade
4Zur kontingenten Differenzierung von internen und externen Rassismen siehe u. a. Robinson (2000), Hall (1992), Balibar und Wallerstein (1991).
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Foucaults These des den traditionellen „Rassenkampf“ ablösenden Staatsrassismus’, verstanden als eine rassifizierende Trennung und Hierarchisierung des Sozialen (Lemke 2004), die für die Untersuchung der Konjunkturen von internen Rassifizierungsprozessen analytisch gewinnbringend sein kann. Zum anderen, weil die rassifizierende Produktion „interner Anderer“ im direkten Verhältnis „entfernter Verbindungen“ zu kolonialen Konfigurationen steht, die in Foucaults genealogischer Untersuchung zwar keine Beachtung finden, für die Kritik an globalen Wirkweisen und Konjunkturen des Rassismus jedoch sehr wichtig sind. Sie verweisen zudem darauf, dass Foucault Rassismus über das Soziale konzeptualisiert, und damit den kolonialen Imperativ der „Rasse“ als konstitutiv für Rassismus verkennt. [I]t seems clear that [Foucault] was interested in what might be called Europe’s internal racialism, or the discourse of intra-European racial difference, as well as the process of Europe’s internal colonization that in many ways preceded and then developed in tandem with external colonization. (Feldman 2018, 293)
Der Diskurs über die Landstreicherei, verstanden als Weigerung, in die Produktionsprozesse intergiert oder inkludiert zu werden, ist unmittelbar mit der Rassifzierung der Figur des Vagabunden verknüpft. Die Einhegung der Nomadität des Vagabunden, der als Chiffre galt für Arme, Wohnungs- und Obdachlose, und der meist zur Mobilität gezwungen wurde (Rolshoven und Maierhofer 2012), artikulierte sich nicht nur entlang klassistischer Differenzierungen, sondern war wesentlich geprägt von der Reproduktion biopolitischer und nekropolitischer rassifizierender Repräsentations- und Ordnungssysteme, die in der rassistischen Figur des „Zigeuners“ (ein rassistischer Begriff, den ich hier deshalb in Anführungszeichen setze und im Folgenden nicht ausschreiben werde) zusammenwirkten (Pagano 2019). Auch wenn der Vagabund nicht zwangsläufig mit dem „Z[...]“ korreliert, ebenso wenig wie der arme Proletarier mit dem Vagabunden und/oder dem „Z[...]“, gibt es eine Schnittmenge, die sich im Umgang mit dem aus der Norm fallenden zeigt – denn alle drei Figuren, die in der Figur des „Z[...]“ zusammenfallen können, sind solche, die „Unordnung“ schaffen, als nicht produktiv und nicht kontrollierbar gelten. (Pagano 2019, 92)
Zugleich ist der Diskurs über die Landstreicherei in die Neuordnung ökonomischer Verhältnisse und der Konstitution liberaler Nationalstaaten in Europa eingebettet, die nicht von den globalen Formationen des europäischen Kolonialismus und Rassismus losgelöst werden können. Der Zusammenhang zwischen der ökonomischen und politischen Neuordnung in Europa und der kolonialen Expansion wird vor allem an den Techniken und Mechanismen der Bestrafung, Kontrolle, Kriminalisierung und Kategorisierung deutlich und verweist auf das „Wandern“ kolonialer Logiken und Rationalitäten. Zudem legt er frei, dass die „inneren Feinde“ wie Foucault sie durch ihre Stellung in Bezug auf die Produktionsverhältnisse gedacht hat, in Relation zu den „äußeren
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Feinden“ erzeugt werden. In der postkolonialen Rassismusforschung wird in diesem Rahmen von der Produktion von „internal others“ im Rahmen interner Kolonisierungsprozesse gesprochen (Hall 1992; Robinson 2000). Cedric Robinson hat in seiner Analyse von racial capitalism (2000) wohl am eindrücklichsten gezeigt, dass kapitalistische Machtverhältnisse konstitutiv auf Versklavung und Kolonialismus aufbauen und dass Rassismus nicht einfach auf einen Legitimationsdiskurs kapitalistischer Versklavungs- Ausbeutungs- und Enteignungsprozesse reduziert werden kann, sondern dass Klassenverhältnisse selbst rassifiziert und rassifizierend sind. Robinson zufolge sind diese Prozesse auch in Europa zu verorten und er verweist auf die unterschiedlichen Rassifizierungen etwa von Roma, irischen Menschen und Menschen osteuropäischer Herkunft vor dem Hintergrund der Entstehung moderner Klassenverhältnisse und der Rolle von internen und externen Kolonisierungsprozessen (vgl. auch Goldberg 2006). Ein Blick auf die komplexen Verbindungen dieser Rassifizierungsprozesse ermöglicht es, Foucaults Analyse der Landstreicherei als Matrix des Verbrechens rassismuskritisch zu wenden und die Frage nach „inneren Feinden“ der Gesellschaft in Relation zu den als „äußeren Feinden“ konstruierten Gruppen zu stellen.5
5 Die Beschlagnahmen der Anderen Die vollständige Kontrolle über die Zeit, die auch „über Freizeitbeschäftigungen, die Spektakel, den Konsum gewährleistet“ (SG 290) wird, zielt nach Foucault auf die Verunmöglichung unterschiedlicher Formen der Arbeitsverweigerung wie Faulheit, ausgelassenes Feiern und Spielen. Dabei war die neue Akkumulation von Reichtum, die nach Foucault untrennbar mit der Akkumulation von Menschen durch die Erzeugung von disziplinierten Körpern verknüpft ist (die Unterwerfung der Lebenszeit unter die Produktionszeit, SG 291), jedoch weitaus umfassender mit der Produktion frühzeitiger Tode (Gilmore 2007, 28) und Praktiken der Gewalt verschränkt, als Foucault es in Die Strafgesellschaft darstellt. Wurden die Volksillegalismen, die im 18. Jahrhundert noch in einer komplexen Beziehung zu den bürgerlichen Illegalismen standen und für diese sogar förderlich waren (SG 197), im 19. Jahrhundert in den kolonialen Zentren durch Moralisierung entlang von Belohnungen und Bestrafungen eingehegt (SG 267), erfolgte die Disziplinierung versklavter Körper als „high crimes against the flesh“ (Spillers 2003, 206, Hervorhebung im Original) entlang nekropolitischer Rahmungen. Diese waren stets vergeschlechtlicht und zudem nicht durch die „Pönalisierung des Lebens“ (SG 267) gekennzeichnet, also durch die zeitliche Beschlagnahme sozialen Lebens, sondern durch die zeitliche Produktion „sozialer Tode“ (Patterson 1985). Dieses Zusammenspiel der Akkumulation der Arbeit versklavter Menschen und der
5Diese Komplementarität ist weniger binär zu verstehen, daher ist sie m. E. auch mit dem „operativen“ Begriff des Bürgerkriegs vereinbar.
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Akkumulation dieser Menschen als Versklavte zeigt sich besonders in den Analysen des Zugriffs auf und der Beherrschung von Schwarzen Körpern und ihrer Zeit durch ihre Umwandlung in Eigentum oder „bewegliche Dinge“ auf den Plantagen. Michel-Rolph Trouillot (2002) zufolge sind die modernen Regierungsund Machtformen mit zeit-räumlichen Relationen der Kolonialität und ihren unterschiedlichen Subjektivierungsformen verwoben: If modernization has to do with the creation of place as a relation within a definite space, modernity has to do with the projection of that place – the local – against a spatial background that is theoretically unlimited. To put it differently, modernity has to do not only with the relationship between place and space but also with the relation between place and time. For in order to prefigure the theoretically unlimited space – as opposed to the space within which management occurs – one needs to relate place to time, or, better said, to address a unique temporality, that is, the position of the subject located in that place. (Trouillot 2002, 223 f.)
Durch die Artikulationen plantokratischer Rationalität, nach der die Plantage als Gesellschafts- Rechts- und (Re-)Produktionsform mit einer moralischen Ökonomie verwoben und durch „Rasse“ als Imperativ intersektional strukturiert ist (Ehrmann, im Erscheinen), ist die Beschlagnahme der Zeit nicht nur differentiell, sie bildet intersektionale Subjektivitäten sowie Temporalitäten heraus: „Versklavte Subjektivität bildet sich in der Plantokratie als eine genuin moderne Form des Selbst heraus, die sich permanent im Verhältnis zu materieller Produktion unter Bedingungen der Zeitknappheit, der Hierarchie arbeitsteiliger Produktionsprozesse und der Reproduktion von Arbeitskraft an „arbeitsfreien“ Tagen konstituieren und am Leben erhalten muss. (Ehrmann, im Erscheinen)
Die Kontrolle der Zeit, die sich nach Foucault durch unterschiedliche Modalitäten artikuliert (SG 290), und den Rhythmus des Lebens kontrollieren soll, zielt im Rahmen kolonialer Konfigurationen auf die Verwaltung, Organisation und Regulation sozialer und auch frühzeitiger Tode. Caitlin Rosenthal (2018) zeigt in ihrer Studie über die Genealogie moderner Managementpraktiken (die sich auch auf den Plantagenökonomien entwickelt haben und nicht erst in den Fabriken des industrialisierten Nordens), dass die Produktivitätsanalyse und die Planung des Arbeitskräftepotentials von versklavten Menschen sich nach den frühzeitigen Toden aufgrund der menschenunwürdigen Bedingungen richteten und die Reproduktion versklavter Arbeit durch Kinder bis ins Detail vorausgeplant wurde. Meines Erachtens sind diese postkolonial gewendeten Perspektiven auf Foucaults Analyse der Beschlagnahme als Zugriff und Einbindung der Lebenszeit, die grundlegend für kapitalistische Machtverhältnisse ist, nicht nur für eine Analyse der historischen Formationen der Bestrafungsregime der „Anderen“ produktiv, sondern erweist sich auch als hilfreich für die Analyse gegenwärtiger intersektionaler Implikationen von Bestrafung.
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6 „Halt, stehen bleiben!“ Über das Entleeren von Zeit Hatte Foucault noch angenommen, dass das Gefängnis als Gesellschaftsform an Bedeutung verlieren würde, erweist sich der postkoloniale Moment stark geprägt von einem Ausbau punitiver und karzeraler Logiken und Regime. Der zunehmende Ausbau von Gefängnissen und Lagern, die Verschärfung von Polizeigesetzen, die Militarisierung von Polizeien sowie das Polizieren der Grenzen und Meere zeigen, dass das Gefängnis nach wie vor Konjunktur hat. Doch wo Foucaults Einschätzung der Zeit entgegensteht, ist es gerade seine Analyse des Zugriffs auf die Zeit, die Beschlagnahme, die auch für postkoloniale und intersektionale Theorien der Versicherheitlichung der Gesellschaft wichtig ist. Zugleich lassen sich vor dem Hintergrund der Konjunkturen eines neoliberalen racial capitalism wichtige und tendenzielle Verschiebungen beobachten. Das gilt beispielsweise für die Verwahrung der Zeit, wie sie tausende illegalisierte Migrant*innen und geflüchtete Menschen in Camps und Lagern erleben müssen. Der Zugriff auf die Zeit rassifizierter und vergeschlechtlichter Körper, der sich intersektional entlang von Aufenthaltsstatus und Mobilität artikuliert, erfolgt nicht durch das Ausfüllen, sondern das „Absitzen“ und die „Verwahrung“ von Zeit in einem Klima der Angst, der Vernachlässigung (abandonment) und der Gewalt des Sterben-Lassens (Mbembe 2003). Auch das Warten im Rahmen von Asylverfahren, das Ausharren in den Lagern und Ankerzentren, an den Außengrenzen, den Camps und in improvisierten prekären Siedlungen wie dem „Callaiser Jungle“ weisen auf die zeitliche Übersetzung der Unbrauchbarkeit rassifizierter „überschüssiger“ Gruppen hin. Die gegenwärtige Regulation und Verwaltung der Zeit mehrfachmarginalisierter und kriminalisierter Körper, rassifizierter Jugendlicher in den Vorstädten oder auch wohnungsloser geflüchteter Personen, also als überschüssig und entbehrlich konstruierter Gruppen, zielt nicht auf die Ausfüllung von Tätigkeiten und diversen Aktivitäten zur Umwandlung der Lebenszeit in Arbeitskraft ab. Vielmehr artikuliert sich die Beschlagnahme der Zeit entlang der Produktion von mehrfachmarginalisierten und kriminalisierten Körpern als wertlos und überschüssig. Mit Spillers (2003) gesprochen, ist flesh zu waste geworden, überflüssig für globale Akkumulation oder die unternehmerische Matrix (Davis 2004, 11). Waste ist an den Rändern oder außerhalb der Möglichkeiten der regularisierten Ausbeutung der Arbeitskraft verortet, wenn auch unterschiedlich entlang intersektionaler Stratifizierungen. Rassismuskritische und intersektionale Analysen vergangener Jahre haben die Verflechtungen zwischen der Kriminalisierung, Illegalisierung und Disziplinierung von mehrfachmarginalisierten rassifzierten Subjekten als überflüssige und entbehrliche Gruppen (die austauschbar sind), der sozialen Regulation von Armut in der neoliberalen Stadt und der Expansion punitiver Institutionen und ihren vergeschlechtlichten Dimensionen hervorgehoben (Alves 2018; Maynard 2017; Browne 2015; Camp und Heatherton 2016; Bernstein 2010; Wacquant 2009; Smith and Stanley 2015; Sudbury 2004). Dabei wurde der Kontrolle der Zeit
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b isher weniger Beachtung geschenkt, und ich denke, dass Foucaults Fokus auf die Erfassung und Inbeschlagnahme der Zeit wichtig sein kann, um gegenwärtige intersektionale Modalitäten der Kriminalisierung und Bestrafung zu verstehen. Die Inbeschlagnahme der Zeit, die hier nicht auf die Umwandlung von Lebenszeit in Arbeitskraft, sondern auf die Organisation, Regulation und Disziplinierung von überflüssig gemachten und zu bestrafenden Körpern zielt, zeigt sich exemplarisch auch an der Praxis des Racial Profilings. Racial Profiling umfasst Identitätskontrollen und Durchsuchungen ohne konkrete Indizien auf Grundlage von Hautfarbe und phänotypischer Merkmale, Zuschreibungen wie (unterstellter) nationaler Herkunft, oder auch Sprache. Dabei ist wichtig zu betonen, dass Racial Profiling als intersektionale institutionalisierte und soziale Praxis der Kriminalisierung und Dehumanisierung funktioniert (Bruce-Jones 2015, 2016; Thompson 2018; Wa Baile et al. 2019). So sind gerade mehrfachmarginalisierte Personen, Frauen und LGBT*IQ/geflüchtete/mittellose und disabled Schwarze sowie People of Color besonders vulnerabel für rassistische Polizeikontrollen und die weiteren Folgen. Gelebte Erfahrungen von Racial Profiling beinhalten unter anderem für kriminell gehalten zu werden, öffentlich gedemütigt und bloßgestellt zu werden, mit rassistischer Sprache adressiert zu werden und/oder körperliche Gewalt zu erfahren – bis hin zu Tötung und Mord (Bruce-Jones 2016; Thompson 2018). Der polizeiliche Zugriff auf intersektional marginalisierte Körper impliziert nicht nur unterschiedliche Modalitäten von Gewalt, die von sprachlicher zu physischer, staatlicher und langsamer Gewalt reichen, und sich auch als ein Eigentumsverhältnis artikulieren (Bhandar 2018), sondern drückt sich auch räumlich (Lipsitz 2016; Gilmore 2007; Belina 2016) und temporal (Lipsitz 2016; Thompson 2018) aus. „Policing takes time“ schreibt George Lipsitz in seinem Artikel über urbanes und rassifzierendes Polizieren in L.A. Interactions with officers tax the time of poor people, disrupting social networks and interrupting daily routines … Aggressive policing takes time and wastes time. Officers incessantly interrupt and disrupt poor people’s lives with perpetual rounds of stops, questions, frisks, arrests, and incarcerations. (Lipsitz 2016, 126)
Lipsitz entwickelt für die zeitliche Dimension der polizeilichen Kontrolle den Begriff „taxing time“ und verweist damit auf die Inbeschlagnahme der Zeit durch punitive Regime, die nicht auf die Verwertbarkeit von Arbeitskraft, sondern auf die Einhegung von dem abzielen, was außerhalb des Brauchbaren und Produktiven aber auch der Anerkennung und dem Assimilierbaren verortet wird. Die kontinuierliche Kontrolle beschlagnahmt und stoppt Körper. Doing time (Zeit absitzen, auch über den Mauern des Gefängnisses hinaus) oder auch on the run sein (auf der Flucht sein) sind vor dem Hintergrund der zunehmenden polizeilichen Durchdringung zivilen Lebens und der Expansion von karzeralen Logiken längst zu allgegenwärtigen Realitäten für mehrfachmarginalisierte Bevölkerungsgruppen geworden. Der ständige Versuch, dem Nexus von Kriminalisierung und Kontrolle, ob durch polizeiliche Zugriffe oder auch soziales Polizieren, zu entkommen, prägt den Alltag vieler rassifzierter und intersektional marginalisierter Gruppen.
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In ihrem gemeinsamen Buch Le Combat Adama nehmen die Aktivistin Assa Traoré und der politische Philosoph und Aktivist Geoffroy de Lagasnerie die Verschränkung der punitiven und disziplinierenden Logiken mit der Reproduktion der Kriminalisierung von Schwarzem und rassifiziertem Leben für den französischen Kontext in den Blick (Traoré und Lagasnerie 2019). Ausgehend von dem Tod von Assa Traorés Bruder Adama Traoré, der am 19. Juli 2016 bei einer Festnahme durch die Polizei unter dem Gewicht von drei Polizisten zu Boden gedrückt und stranguliert wurde, und auf der Polizeiwache starb, sowie mit Bezug auf die Alltäglichkeit von rassistischem Polizieren, legen sie die Banalität der Inbeschlagnahme durch punitive Regime frei. Sie zeigen zudem, dass die Inbeschlagnahme der Zeit von rassifizierten Körpern sich wesentlich durch ein Festsetzen ihrer Flüchtigkeit6 auszeichnet7. Inbeschlagnahme funktioniert hier nicht durch das Ausfüllen, sondern das Entleeren von Zeit, durch das Anhalten, die langsame Kontrolle. Die Akkumulation von Menschen und ihre Umwandlung in Arbeitskraft erfolgt hier nicht durch das Ausfüllen von Zeit, sondern durch die Kontrolle der in Überschuss/waste umgewandelten Körper, die auf Kriminalisierung als Entleeren von Zeit zielt.
7 Fugitive Time Man kann die Erfassung der Zeit, die konstitutiv für die Strafgesellschaft und ihre Machtwirkungen ist, nicht verstehen, ohne die unterschiedlichen Formen der Inbeschlagnahme entlang ihrer intersektionalen Konjunkturen zu untersuchen. Ausgehend von einer postkolonialen und Schwarz-feministischen Relektüre von Foucaults Arbeiten zur Disziplinargesellschaft und den zentralen Konzepten aus Die Strafgesellschaft habe ich in diesem Beitrag die differentiellen Artikulationen der Inbeschlagnahme skizziert und verschiedene Formen aufgezeigt: die Einhegung von waste, das Absitzen und die Verwahrung von Zeit sowie auf der Flucht
6Fugitivity
oder Flüchtigkeit ist ein Konzept, dass sich auf das Entziehen aus den dominanten Wirkweisen der Macht bezieht. Entstanden in Reflexionen auf Schwarze Sozialität in den Plantagenökonomien, in den Kolonien sowie der postkolonialen Situation in rassistischen liberalen Demokratien (Davis 2005; Du Bois 1998), bezieht sich fugitivity auf das liminale Leben an den Grenzen hegemonialer Verhältnisse und entzieht sich den Wirkweisen postkolonialer Macht. Die Praxis der maroon-communities, die sich aus der Versklavung befreit hatten und in den Wäldern Gemeinschaften geschaffen haben, aber auch Lesen zu lehren auf Versklavungsplantagen, auf denen es versklavten Menschen strikt verboten war lesen zu lernen, sind Praktiken der Flüchtigkeit. Das Erzählen und Weitergeben von Erfahrungen und Wissen, das in den hegemonialen Narrativen unsichtbar bleibt, und eben doch existiert. Fred Moten definiert fugitivity als „a desire for and a spirit of escape and transgression of the proper and the proposed. It’s a desire for the outside, for a playing or being outside, an outlaw edge proper to the now always already improper voice or instrument.“ (Moten 2018, 336) Fugitivity überschreitet damit auch was im Rahmen der gegebenen Anerkennungsökonomien intelligibel ist. 7Ich danke Geoffroy de Lagasnerie für den Austausch über die unterschiedlichen Dimensionen des Aufhaltens von Flüchtigkeit in Assa Traorés und seinen Überlegungen.
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sein. Diese Formen verweisen dabei nicht nur auf die andere Seite der Strafgesellschaft, die weniger über sanfte Fügung der Körper funktioniert, sondern auf intersektionale Kontrolle und Unterwerfung setzt. Sie erlauben zudem eine Auseinandersetzung mit jenen Perspektiven, die von den entleerten Temporalitäten aus imaginiert werden, und über diese hinausweisen.
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Stoler, Ann Laura. 1995. Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things. Durham: Duke University Press. Stoler, Ann Laura. 2002. Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule. Berkeley: University of California Press. Stoler, Ann Laura. 2016. Duress: Imperial Durabilities in Our Times. Durham: Duke University Press. Sudbury, Julia. Hrsg. 2004. Global Lockdown. New York: Routledge. Traoré, Assa und Geoffroy de Lagasnerie. 2019. Le Combat Adama. Les Essais. Paris: Stock. Trouillot, Michel-Rolph. 2002.The Otherwise Modern. Caribbean Lessons from the Savage Slot. In Critically Modern. Alternatives, Alterities, Anthropologies. Hrsg. von Bruce Knauft, 220– 237. Bloomington: Indiana University Press. Thompson, Vanessa E. 2018. „Hey, Sie da!“ Postkolonial-feministische Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling. In Kritik der Polizei. Hrsg. von Daniel Loick, 197–219. Frankfurt a. M./New York: Campus. Wa Baile, Mohamed, Serena O. Dankwa, Tarek Naguib, Patricia Purtschert und Sarah Schilliger. Hrsg. 2019. Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand. Bielefeld: transcript. Wacquant, Loïc. 2009. Punishing the Poor. The Neoliberal Government of Social Insecurity. Durham: Duke University Press. Young, Robert. 1995. Foucault on Race and Colonialism. New Formations 25, 57–65.
Vanessa Eileen Thompson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Vom Aufstand der Hysterikerinnen und den Dispositiven der Unterwerfung: zur Disziplinarmacht der Psychiatrie Die Macht der Psychiatrie (1973/74) Katrin Meyer 1 Einleitung 1972 deklariert Michel Foucault in einem Interview mit dem Journalisten Niklaus Meienberg, dass er den aktivistischen Kampf gegen Gefängnisse und die Unterstützung von Strafgefangenen „dem universitären Geschwätz und dem Büchergekritzel vorziehe“, und meint: „Heute eine Fortsetzung meiner Histoire de la folie zu schreiben, die bis in die gegenwärtige Epoche reichen würde, ist für mich nutzlos.“ (DE II/105, 374) Dennoch hält Foucault anderthalb Jahre später im Winter 1973/74 unter dem Titel Le pouvoir psychiatrique (veröffentlicht 2003 auf Französisch, 2005 auf Deutsch), gerade zu dieser Thematik seinen vierten Vorlesungszyklus am Collège de France. Die Vorlesung setzt da an, wo Wahnsinn und Gesellschaft (1969, frz. 1961) aufhört: bei der mythischen Szene der Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten durch den Psychiater Philippe Pinel Ende des 18. Jahrhunderts. Sie untersucht in der Folge, mit Akribie und Detailversessenheit, die Geschichte psychiatrischer Praktiken des 19. Jahrhunderts, angefangen bei der ‚protopsychiatrischen‘ Phase, die bis zu den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dauert, über die darauf folgende ‚klassische‘ Phase, die in Frankreich mit dem ‚Gesetz über die Irren‘ von 1838 einsetzt und das ganze Jahrhundert hindurch sich behauptet, bis zu ihren Krisen und Infragestellungen, die Foucault mit dem Aufkommen der Neurologie am Hôpital de la Salpêtrière unter Jean-Martin Charcot sowie dem Beginn der Psychoanalyse gegen Ende des Jahrhunderts angezeigt sieht. Vordergründig geht es in der Vorlesung also um die Geschichte der psychiatrischen Humanwissenschaft, tatsächlich aber stehen im Zentrum der
K. Meyer (*) Philosophisches Seminar, Universität Basel, Basel, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_5
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nalysen die mikrophysischen Körperpraktiken, Taktiken und Strategien, mit A denen sich die Psychiatrie im 19. Jahrhundert als gesellschaftliche Disziplinarund Normalisierungsmacht etabliert. Mit dem Fokus auf die Disziplin knüpft Foucault an die ein Jahr zuvor gehaltene Vorlesung Die Strafgesellschaft an, in der er erstmals auf die Entstehung dieser neuen Machtform hinweist, die am Schnittfeld von Wissensproduktion und Unterwerfungstechnik angesiedelt ist. Er entwickelt das Konzept in der Vorlesung von 1973/74 weiter und zeigt auf, wie sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse im 19. Jahrhundert ausgehend von psychiatrischen Disziplinierungstechniken rekonstruieren lassen. Foucaults Vorlesung zur Macht der Psychiatrie ist demnach sowohl werkbiographisch als auch machttheoretisch relevant. Sie macht einerseits die Genese der Konzeption des Disziplinardispositivs nachvollziehbar, legt aber auch nahe, der psychiatrischen Macht eine Leitfunktion für die Etablierung der modernen Disziplinargesellschaft zuzuschreiben. Die Vorlesung bietet somit ein Verständnis der Genealogie der psychiatrischen Disziplinarmacht und bietet zugleich einen Einblick in die Entwicklung der genealogischen Methode Foucaults. Nach einer kurzen werkbiographischen Kontextualisierung (2) erläutere ich drei Themenfelder, die den zentralen Gehalt der Vorlesung bilden. Es handelt sich um den Entwurf neuer machtanalytischer Konzepte (3), die Entstehungsgeschichte der Disziplinargesellschaft (4) sowie das psychiatrische Anstaltsdispositiv (5). Dabei zeigt sich, dass Die Macht der Psychiatrie wichtige Anregungen für intersektionale Genealogien bietet, wobei freilich Foucaults Dethematisierung von ‚Geschlecht‘ und ‚Rasse‘ kritisch zu überwinden ist (6).
2 Die Vorlesung im werkbiographischen Kontext Das Thema der Psychologie und Psychiatrie bestimmt die frühen Schriften Michel Foucaults, der nicht nur Philosophie, sondern auch Psychologie und Psychopathologie studiert hatte und nach dem Studium als experimenteller Psychologe tätig war (PG, DE I/1). In seiner Dissertation Wahnsinn und Gesellschaft rekonstruiert er die Geschichte des Wahns als Geschichte von Wissensformen, mit denen Wahnsinnige erkannt, aus der Gesellschaft ausgeschlossen und medizinischen Zwängen unterworfen wurden. Diese Wissensformen entstehen nach Foucault im Kontext dessen, was er in einem späteren Interview als „die große Unterdrückung, die große Einengung der Bevölkerung“ (DE II/119, 510 f.) beschreibt. Auch in Die Geburt der Klinik, einer „Archäologie des ärztlichen Blicks“ (GK), analysiert er die Institutionen medizinischen Wissens. Als sich Foucault 1973 erneut mit der Thematik des Wahnsinns beschäftigt, erfolgt dies nun unter einer veränderten Perspektive, die gemäß seiner programmatischen Antrittsvorlesung am Collège de France als „genealogischer“ (ODis 39) Ansatz bezeichnet werden kann, in dem es um den Zusammenhang von Wissen und Macht geht. Dabei betont Foucault in einem Interview vom September
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1972, dass er die Frage nach den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, in denen ein Wahrheitsdiskurs entsteht, bereits in seinen ersten Büchern zur Geschichte des Wahnsinns und der Medizin behandelt habe, wenn auch „auf eine etwas konfuse und ungeordnete Weise“ (DE II/119, 510). „Jetzt“ aber, so Foucault, wolle er „in einem etwas größeren Maßstab“ (DE II/119, 511) verstehen, wie diese Wissenschaften im 19. Jahrhundert im Kontext der kapitalistischen Machtverhältnisse entstanden seien. Zu diesem ‚größeren Maßstab‘ gehören auch Foucaults Vorlesungen zu den Strafsystemen, die er ab 1971 am Collège de France hält (SG, TIS), sowie seine Auseinandersetzung mit der forensischen Psychiatrie und den gerichtsmedizinischen Akten zu Pierre Rivière (FR). Sie eröffnen ein fünfjähriges Forschungsprojekt, das Foucault retrospektiv dem Themenfeld der „Disziplin“ zuordnen wird und das er erst mit der Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft von 1976 als abgeschlossen betrachtet (VG 37). Dabei, so Foucault ex post, ging es ihm um die Suche nach jenem Machttyp, der in der Lage ist, „Wahrheitsdiskurse zu produzieren, denen in einer Gesellschaft wie der unsrigen derart mächtige Wirkungen verliehen werden“ (VG 38). Foucaults Auseinandersetzung mit den Praktiken der Psychiatrie sollte zu dieser Frage Wesentliches beitragen, und sie erfolgt in den 1970er Jahren in einem intellektuellen und politischen Umfeld Frankreichs, in dem Bewegungen der AntiPsychiatrie und der Kampf gegen Gefängnisse besonders aktuell sind. Foucault, der sich selber in der Gruppe G.I.P. gegen Gefängnisse engagiert, bleibt allerdings in kritischer Distanz zur Anti-Psychiatrie-Bewegung, da diese – ganz im Geist von Wahnsinn und Geschichte – die psychiatrische Anstalt als Institution in den Blick nimmt, während es Foucault um die sich darin manifestierende Machttechnik geht (zu den Unterschieden ausführlich Lagrange 2005, 518–524). In diesem Sinn positioniert Foucault sein Thema der psychiatrischen Macht in der ersten Vorlesung vom 7. November 1973 programmatisch in Abgrenzung zu Wahnsinn und Gesellschaft – und damit implizit zur Anti-Psychiatrie-Bewegung – und benennt die entscheidenden Parameter, die zugleich als Charakterisierung seiner sich entwickelnden Machtanalytik zu verstehen sind (MP 28–34). Nicht (Wahrheits-)Repräsentationen und regelgeleitete Institutionen, sondern das unausgewogene Verhältnis von Kräften und deren mikrophysische Wirkungen auf das Individuum stehen im Zentrum von Foucaults Interesse. Damit wird Einschließung nicht mehr gleichgesetzt mit Ausschließung, wie noch in Theorien und Institutionen der Strafe (TIS 188), sondern sie wird als normalisierende und individualisierende Disziplinartechnik fassbar. Diese spezifische Machttechnik wird Foucault auch in seiner Vorlesung Die Anormalen von 1974/75 und in seinen beiden genealogischen Hauptwerken Überwachen und Strafen und Sexualität und Wahrheit 1 beschäftigen, bis er das Konzept der Disziplin in den Vorlesungen ab 1976 (VG, STB) um die Machtformen der biopolitischen Regierung, Sicherheit und Gouvernementalität erweitern wird.
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3 Neue machtanalytische Konzepte Foucaults Vorlesung von 1973/74 ist grundlegend für die Entwicklung seiner machtanalytischen Begrifflichkeit, wie sie in Überwachen und Strafen und Sexualität und Wahrheit 1 in publizierter Form vorliegt. Er führt hier erstmals respektive in vertiefter Form zentrale Termini wie das Dispositiv der Macht, den Gegensatz zwischen souveräner Macht und Disziplinarmacht, die Mikrophysik der Macht sowie die Subjekt-Funktion und das Individuum ein, die ich nachfolgend kurz erläutere. Dabei wird einsichtig, wie die Herausbildung der machtanalytischen Konzepte stark durch Foucaults Interesse an der historischen Veränderung und Beweglichkeit von Machtkonstellationen vorangetrieben wird.
3.1 Dispositiv der Macht Foucault gebraucht den Begriff „Dispositive der Macht“ erstmals in der ersten Vorlesung vom 7. November 1973, um die Formation von diskursiven Äußerungen und Repräsentationen in ihrer Genese zu erfassen. Er definiert dort das „Dispositiv der Macht“ (dispositif de pouvoir) (MP 29, frz. 14) als „Erzeugerinstanz der diskursiven Praxis“, als jenen „Punkt“ (MP 29), von dem aus sich Diskurse formieren oder die zur „Veranlassung“ (MP 30) von bestimmten Wahrheitsdiskursen werden. Wichtig an dieser Stelle ist, dass Foucault die Dispositive der Macht einerseits im Sinne einer (mono-)kausalen Wirkursache versteht, wenn er danach fragt, wie sie Diskurse veranlassen oder erzeugen können, und dass er sie andererseits mit einem relationalen Verständnis von Macht als instabilem und umkämpftem (asymmetrischem) Kräfteverhältnis verbindet, das für die „Unausgewogenheiten von Macht“ (MP 32) verantwortlich ist.1 Das Dispositiv der Macht wird damit zur Grundfigur, um geschichtliche Veränderungen als Geflecht aus Kraftpotentialen, Energien und Stützpunkten zu rekonstruieren. So greift Foucault in der vierten Vorlesung vom 28. November 1973 das in der ersten Vorlesung eingeführte Konzept der Dispositive wieder auf, um die in den vorherigen Vorlesungen entwickelte Analyse des Disziplinarsystems als „eine Art Apparat, eine Art Maschinerie“ (MP 99) durch eine explizit diachronische Perspektive zu ergänzen. Damit wird deutlich, dass das Dispositiv nicht nur die Ersetzung, sondern auch die machttheoretische Weiterführung des Begriffs des „Apparates“ aus Die Strafgesellschaft darstellt (vgl. etwa SG 122 und insbesondere 174–179). Mit dem Konzept des Dispositivs lenkt Foucault den Blick auf die historisch umkämpften Entstehungsbedingungen von (Wahrheits-)Diskursen und grenzt diese Perspektive explizit von der Archäologie der Diskurse ab (MP 29). Das Dispositiv der Macht und das damit verbundene Machtverständnis erscheinen somit
1Diese
spannungsvolle Kombination eines kausalen und eines relationalen Verständnisses von Macht mag einige der Konfusionen erklären, die Foucaults Machtverständnis und dessen Rezeptionen prägen.
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als ein wichtiges Element in Foucaults Entwicklung der genealogischen Methode, auch wenn er selber den Begriff in diesem Zusammenhang nicht verwendet.2 Es ermöglicht eine genealogische Perspektive, in der Machtverhältnisse nicht nur als Entstehungsbedingungen von Wahrheitsdiskursen untersucht werden, wie in Die Ordnung des Diskurses (ODis 39), sondern selber – in Form von Disziplinardispositiven – zum Gegenstand einer Analyse werden, die deren Historizität herausstellt und Genealogie damit, wie in Überwachen und Strafen expliziert, auf die umkämpfte Geschichte eines Macht/Wissen-Komplexes (ÜS 33) fokussiert.
3.2 Souveräne Macht und Disziplinarmacht In der dritten Vorlesung vom 21. November 1973 entwickelt Foucault den wichtigen Gegensatz zwischen souveräner Macht und Disziplinarmacht, der auch in Überwachen und Strafen und Sexualität und Wahrheit 1 konzeptionell leitend bleibt. Bereits in Die Strafgesellschaft führt Foucault den Begriff der Disziplinarmacht ein. In Die Macht der Psychiatrie rückt er diesen Machttypus nun ins Zentrum und definiert seine zentralen Merkmale: die Disziplinarmacht ist „eine totale Vereinnahmung“ (MP 77) des Körpers, sie erzeugt eine „absolute und konstante Sichtbarkeit, die den Körper der Individuen umgibt“ (MP 85), und sie wirkt „anormalisierend“ und „normalisierend“ (MP 88 f.) zugleich. Im Unterschied dazu beruht die souveräne Macht auf der sichtbaren Verkörperung des Herrschers, auf der Figur der Legitimität und auf der Nicht-Äquivalenz unterschiedlicher Feudalbeziehungen (MP 71–76). Diese Darstellung des Gegensatzes von disziplinärer und souveräner Macht unterscheidet sich von jener in Sexualität und Wahrheit 1 (SW1 113–124) insofern, als die souveräne Macht in der Vorlesung von 1973/74 nicht kategorial mit Gesetz und Staat gleichgesetzt, sondern stärker historisch als feudale, vorindustrielle Regierungsform konturiert wird (MP 49). Entsprechend ist das Disziplinarsystem nicht als Gegensatz zum Staat und zum Gesetz konzipiert, sondern fügt sich in diese ein.
3.3 Mikrophysik der Macht Die „Mikrophysik der Macht“ (MP 34), die in Überwachen und Strafen ein wichtiges Konzept darstellt, führt Foucault in Die Macht der Psychiatrie als Gegenmodell zu einer Analyseperspektive ein, die Herrschaft mit Gewalt, Souveränität und Institutionen allgemein gleichsetzt. Mit seinem neuen Begriff
2Die einzige Stelle, an der sich Foucault in der Vorlesung explizit auf den Begriff der Genealogie bezieht, ist sein Hinweis auf eine „Genealogie des Wissens“ (MP 345), die untersucht, wie sich das wissenschaftliche Wahrheitsmodell der Wahrheit als „Ereignis“ „bemächtigt“ habe (MP 345). Zum Wandel von Foucaults Verständnis von Genealogie vgl. auch Saar (2007).
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betont Foucault die Mikroebene, auf der sich disziplinäre Machtwirkungen – im Gegensatz zur „Makrophysik der Souveränität“ (MP 49) – entfalten, sowie die Ebene der Physik und damit den Körper als direkte Einsatzstelle der politischen Macht. Dabei ist auch Gewalt mit im Spiel, verstanden als die „physische Ausübung einer gänzlich unausgewogenen Kraft“ (MP 31), aber diese will Foucault nicht als entfesselte, irreguläre und affekthafte Macht, sondern als Teil eines kalkulierten und rationalen Spiels von Kräften verstanden wissen.
3.4 Die Subjekt-Funktion und das Individuum In der dritten Vorlesung vom 21. November 1973 beschreibt Foucault, wie die Disziplinarmacht als „Individualisierungsverfahren“ funktioniert und in Abkehr von der souveränen Macht einen neuen Typus des Untertanen (sujet) erschafft. Er führt dazu die Kategorie der „Subjekt-Funktion“ (MP 74) ein, die das Verhältnis zwischen Souverän und Untertan charakterisiert. In einer feudalen Souveränitätsbeziehung sind nach Foucault die „Subjekt-Funktionen“ im Sinne von sozialen Positionen nicht mit dem Körper der Untertanen verbunden, sondern können frei zirkulieren und sich je nach Kontext und Position unterschiedlich auswirken. Als Sohn, als Bürger oder als Zunftmeister kann man zugleich Souverän und Untertan sein. Dagegen ist es das Merkmal der Disziplinarmacht, dass sie „unterworfene Körper [corps assujettis] fabriziert und die Subjekt-Funktion exakt am Körper festmacht“ (MP 90). Diese Form der Unterwerfung ist dauerhaft und umfassend und kann nicht mehr abgestreift oder variiert werden, sondern konstituiert im Gegenteil „das Individuum als Zielscheibe, als Partner, als Visavis in der Machtbeziehung“ (MP 91). Foucault beschreibt damit, was er in Überwachen und Strafen die ‚Verfertigung‘ der Individuen „sowohl als Objekte wie als Instrumente“ (ÜS 220) der Macht und in Sexualität und Wahrheit 1 die „Subjektivierung der Menschen, das heißt ihre Konstituierung als Untertanen/Subjekt“ (SW1 78) nennen wird. Weil das Individuum nach Foucault immer schon als „psychologisch normales Subjekt“ (MP 92) geformt ist, ist es unmöglich, gegen Formen von Subjektivierung, Normalisierung und Psychologisierung „die originären Rechte des Individuums“ (MP 92) geltend zu machen. Praktiken der Entsubjektivierung, Entnormalisierung und Entpsychologisierung würden vielmehr notwendig die „Zerstörung des Individuums als solches“ (MP 92) bedeuten.
3.5 Über-Macht (sur-pouvoir) In Die Macht der Psychiatrie verwendet Foucault schließlich ein machttheoretisches Konzept, das er in seinen publizierten Werken nicht mehr benutzen wird: jenes der „Über-Macht“ (sur-pouvoir) (MP 311, 391; frz. 214).
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Der Begriff der Über-Macht taucht bereits in Die Strafgesellschaft (SG 285 f., 300) auf. Dort beschreibt Foucault die Über-Macht als Effekt, der aus der Verbindung unterschiedlicher Herrschaftstechniken resultiert, insofern Akteure eine quasi-feudale Verfügungsmacht innerhalb eines (staatlich gestützten) Disziplinarsystems ausüben. Foucault bezeichnet dies auch als „kleine Staaten, die innerhalb des Staates in Betrieb genommen werden“ (SG 288). Auch in Die Macht der Psychiatrie referiert Foucault auf die Über-Macht, um damit die Form einer souveränen körperlichen „Allmacht“ (MP 311) in einem disziplinarischen System zu bezeichnen. Prototypen dafür sind der Psychiater oder der Lehrmeister, die beide in einer direkten Konfrontation mit Patient_innen oder Schüler_innen die Oberhand behalten und die ihre Über-Macht aus ihrem eigenen sichtbaren Körper ableiten und diesen auch einsetzen. In der elften Vorlesung vom 30. Januar 1973 weist Foucault eine solche Über-Macht allerdings im Kontext der Psychiatrie sowohl der Position des Arztes wie der Kranken zu. Der Arzt bildet mit seinem Körper mit dem Disziplinarsystem eine Einheit („das Krankenhaus ist der Körper des Arztes“ (MP 391) und die Kranke wiederum inthronisiert den Arzt durch die Art und Weise, wie sie ihn seine Rolle spielen lässt. Das Konzept der Über-Macht als souveräne Verkörperung der Disziplin und insofern als eine Form des Macht-Überschusses, der durch den Kurzschluss zweier Machtformen entsteht, entwickelt Foucault in späteren Werken zumindest in dieser Terminologie nicht weiter. Dem entspricht, dass sein Interesse an den „Agenten“ (MP 43) der Macht in späteren Analysen zugunsten der strukturellen Dimensionen des Machtdispositivs zurückgeht.
4 Zur Entstehung der modernen Disziplinargesellschaft Eine zentrale Frage Foucaults, der er sich vor allem in der ersten Hälfte seiner Vorlesungsreihe widmet, lautet, wie sich Disziplinartechniken zu einer gesellschaftlichen Leitmacht entwickeln und damit zur Formation einer „Disziplinargesellschaft“ (MP 103) führen können.3 Um diese Entwicklung zu verstehen, untersucht er verschiedene Verkopplungsmechanismen, dank denen sich unterschiedliche Disziplinardispositive „isotopisch“ entwickeln und „ineinanderfügen können“ (s’articuler entre eux) (MP 86, frz. 54) und damit die Entstehung der Disziplinargesellschaft vorantreiben. Drei solche Erklärungsansätze möchte ich hier besonders hervorheben.
3Der Begriff der Disziplinargesellschaft findet sich bereits im Manuskript zu Die Strafgesellschaft (SG 163) und in Foucaults Vorlesungen vom 21.–25. Mai 1973 in Rio de Janeiro, die unter dem Titel „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ 1974 veröffentlicht werden (DE II/139, 734).
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4.1 Von der Disziplinierung des wahnsinnigen Königs zur allgemeinen „Kolonisierung“ der Bevölkerung Wie mit einem Paukenschlag entwickelt Foucault sein Thema der ‚Geburt der Disziplinarmacht‘ in der zweiten Vorlesung vom 14. November 1973, indem er eine bei Pinel tradierte königliche Entthronungsszene wiedergibt. Diese beschreibt das Schicksal des britischen Königs Georg III., der 1788 für wahnsinnig erklärt und von der Außenwelt abgeschirmt wird. Der König wird in eine vollständig mit Matratzen ausgelegte Kammer gesperrt und von zwei Pagen bewacht, die ihn durch ihr bestimmtes Auftreten und notfalls mit Gewalt zur Ruhe bringen sollen. Damit tritt, so Foucault, die Macht der Psychiatrie auf die Bühne der Geschichte und löst die souveräne Gewalt des Königs ab. Der wahnsinnige König in seiner Gummizelle ist nicht etwa physisch enthauptet, sondern einer Instanz ausgeliefert, die seinen Körper einer Gehorsamsprozedur unterwirft und die Foucault als Disziplinarmacht bezeichnet (MP 62). Mit dieser Szene der Internierung des Königs liefert Foucault ein Gegennarrativ zum Gründungsmythos der Psychiatrie, wie sie mit Pinels Befreiung der Irren von den Ketten angesetzt wird, und er beschreibt zugleich einen Akt direkter Usurpation. So schildert die Entthronungsszene, wie die königliche Macht durch die psychiatrische Macht zerstört wird, und wie die Psychiatrie ihre eigenen „Souveränitätsszenen“ (MP 57) entwickelt – dies übrigens im Unterschied zur Darstellung in Überwachen und Strafen, wo die Ablösung der souveränen Macht des Königs durch die Disziplin zwar rekonstruiert wird, aber ohne dass Foucault beide Machtformen direkt miteinander konfrontiert. Entsprechend zeigt sich der entthronte Souverän in Die Macht der Psychiatrie nun als Untertan: Georg III., der sich seiner Einsperrung widersetzt und Fäkalien gegen den Arzt wirft, repräsentiert für Foucault durch das Werfen von Unrat und Dreck die „jahrhundertealte Geste des Aufstandes gegen die Mächtigen“ (MP 46). Allerdings hat diese Szene der Usurpation einen primär emblematischen Charakter, denn die Durchsetzung der Disziplinarmacht zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Prinzip erfolgt nach Foucault nicht „mit einem Schlag“ (MP 99), sondern lässt sich auf eine Entwicklung zurückführen. Die Disziplinardispositive „stammen von weit her“ und haben bereits unter feudalen Verhältnissen im Sinne von „Inseln“ (MP 99) funktioniert. Diese Inseln der Disziplin entstehen in religiösen Gemeinschaften des Mittelalters und entwickeln sich über verschiedene Stützpunkte wie die „Parasitage der schulischen Jugend“ (MP 103), die „Kolonisierung der kolonisierten Völker“ (MP 106) und die „innere Kolonisierung“ der vagabundierenden Menschen zur „Kolonisierung einer gesamten Bevölkerung“ (MP 106). Sie formieren sich im 18. Jahrhundert zu Disziplinardispositiven, die ohne religiöse Abstützung in der Armee und in den Werkstätten funktionieren und direkt oder indirekt der Akkumulation des Kapitals dienen (MP 110 f.). Dabei dient das Panopticon von Bentham für Foucault, wie bereits in Die Strafgesellschaft und später in Überwachen und Strafen, als zentrale „Formalisierung“ (MP 113) der Disziplinarmacht. Das Panopticon installiert die Macht des über-
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wachenden Blicks: er kann alles sehen, notieren, überwachen und permanent strafen und zugleich ein Wissen über den Menschen aufbauen und humanwissenschaftliche Experimente entwickeln. Das „Prinzip der Omnivisibilität“ (MP 80) wird so zum Schlüssel, um alle Machtformen zu verstärken. Wie sich diese Kraft im Individuum konkret auswirkt, deutet Foucault aber in Die Macht der Psychiatrie nur an, da er den Effekt der Kontrolle als eindimensionale Reaktion schildert: Im Wissen um seine Sichtbarkeit unterdrückt der Patient den Wahn (MP 154). Der komplexere Mechanismus der Rückwendung, der den Kontrollierten zum „Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (ÜS 260) macht, wie es Foucault in Überwachen und Strafen formuliert, wird in Die Macht der Psychiatrie noch nicht explizit ausgeführt.
4.2 Die Transformation der Familie als „Scharnier“ zwischen souveräner und disziplinarischer Macht Im Prozess der Herausbildung der zeitgenössischen Disziplinargesellschaft ist eine Institution besonders wichtig, auf die Foucault in der fünften und sechsten Vorlesung näher eingeht: die patriarchale Familie. Foucault bezeichnet die Familie in Disziplinargesellschaften als eine „Zelle“ (MP 121) der Souveränitätsmacht, insofern sich in ihr der Typus des Souveräns in der Verkörperung des Vaters und in quasi-feudalen Abhängigkeitsbeziehungen manifestiert. Die Familie kann entsprechend als Ausdruck einer ‚Mikro-Souveränität‘ (Hook 2007, 39) bezeichnet werden. Allerdings ist sie für Foucault kein historisches Relikt, sondern gehört funktional zur Disziplinargesellschaft und übernimmt in dieser eine spezifische Aufgabe. Sie dient als „Scharnier“ (MP 123), das die Individuen an die Disziplin bindet und dieser damit ihre volle Wirkungsmacht gibt. Diese Scharnierfunktion situiert die Familie in einer machttheoretisch ambivalenten Position (Beljan 2008). Sie wird in ihrer souveränen Verfügungsmacht durch die aufkommende Psychiatrie in einem gewissen Sinn „enteignet“ (MP 145), denn der Psychiater kann nach dem Gesetz von 1838 Menschen direkt unter Umgehung der Familie in eine Anstalt einweisen lassen.4 Andererseits ist die Disziplin nicht ohne Familie denkbar und auf diese angewiesen. Die Familie liefert den Disziplinarinstitutionen ihre Kinder und nimmt diese nach erfolgreicher Therapie wieder auf und unterwirft sie ihrer eigenen souveränen Verfügung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wandern allerdings gemäß Foucault beide Machtformen jeweils in die andere ein. Die Disziplinaranstalt etabliert sich nach dem Modell der hierarchischen Familie, und die Familie beginnt, wie eine kleine Schule zu funktionieren und wird zu einem „Mikrosanatorium, das die Normalität
4Foucault unterscheidet hier offensichtlich nicht zwischen der Souveränität des pater familias nach außen, d. h. gegenüber dem staatlichen Souverän, und nach innen, gegenüber Ehefrau und Kindern.
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oder Anomalie des Körpers, der Seele kontrolliert“ (MP 171). Diese Entwicklung lässt sich auch als historische „Verfugung des Familienmodells mit dem Disziplinarsystem“ (MP 181) beschreiben. Foucaults Darstellung der sich transformierenden Familie als historisch wirkmächtiger Stützpunkt der Disziplin nimmt damit vorweg, was er in Sexualität und Wahrheit 1 als Verhältnis von Allianz- und Sexualitätsdispositiv beschreiben wird, in dem die Familie „eines der wertvollsten taktischen Elemente“ (SW1 134) des Sexualitätsdispositivs darstellt. Eine zentrale Einsatzstelle für diesen Ausgriff der Psychiatrie auf die Familie erfolgt über die Psychiatrisierung des Kindes, wie Foucault in der neunten Vorlesung vom 16. Januar 1974 ausführt, wobei hier die mehrfache Bedeutung von „Idiotie“ eine Schlüsselfunktion übernimmt. Es ist gemäß Foucault das Konzept der „Idiotie“, das die Entwicklung des Konzepts der „Anormalen“ vorantreibt (MP 303) und damit der Psychiatrie ein neues Wirkungsfeld eröffnet.
4.3 Die Psy-Funktion als ‚Super-Disziplin‘ Die historisch und gesellschaftlich wirkmächtige Verfugung von Familie und Disziplin wird gemäß Foucault durch die Entwicklung der sogenannten „PsyFunktion“ (MP 129) abgesichert. Die Psy-Funktion, die sich im 19. Jahrhundert, ausgehend von psychiatrischen Praktiken, entwickelt und ausbreitet, gewährleistet die Übersetzung der „Familiensouveränität“ in die „Organisation eines Disziplinardispositivs“ (MP 129) und entwickelt sich zu einer der zentralen normalisierenden Instanzen. Ihre „Agenten“ (MP 129) agieren bis heute nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch der Psychologie und Psychopädagogik, der Arbeitspsychologie und Kriminologie ebenso wie der sozialen Fürsorge und Sozialarbeit, die immer da einspringen, wo die Familie „versagt“ (MP 129). Die „Psy-Funktion“ erscheint in Die Macht der Psychiatrie als eine Art ‚Super-Disziplin‘ (Hook 2007, 43). Foucault bezeichnet sie als den „Diskurs und die Einsetzung all der Individualisierungs-, Normalisierungs-, Unterwerfungsschemata der Individuen im Inneren der Disziplinarsysteme“ (MP 130), die als eine „Kontrollinstanz all der Institutionen und all der Disziplinardispositive“ (MP 130) fungiert. Die Psy-Funktion ist somit für die moderne Disziplinargesellschaft entscheidend, insofern sie den Zusammenhang unterschiedlicher Disziplinardispositive sichert und kontrolliert. Das Konzept der Psy-Funktion spielt in Foucaults späteren Texten keine Rolle mehr. Es kann aber als eine Vorform dessen gelten, was er im fünften Kapitel von Sexualität und Wahrheit 1 und in den Vorlesungen ab 1976 als „Bio-Macht“ (SW1 167) bezeichnet, in der es darum geht, die Vitalität von Individuen und Bevölkerungsgruppen zu steigern, ökonomisch produktiv zu machen und effizient zu verwalten. Dies mag auch erklären, warum die Psychiatrie in Foucaults späteren Werken nicht mehr zentral behandelt wird. In dem Maß, in dem sie – als Teil der Psy-Funktion – in das Konzept der Biomacht überführt wird, geht ihre Bedeutung für das Verständnis der gegenwärtigen Disziplinargesellschaft in einem größeren Zusammenhang auf. Andererseits bleibt in der psychiatrischen
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Macht – stärker als in den späteren Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität – das Element der Widerständigkeit präsent und aktuell, das sich dem glatten Narrativ einer zunehmend lückenloseren Bemächtigung jedes einzelnen und der ganzen Bevölkerung entzieht. Dieser Aspekt des Widerständigen wird insbesondere am psychiatrischen Anstaltsdispositiv deutlich.
5 Das psychiatrische Anstaltsdispositiv Nach Foucault zeigt die psychiatrische Anstaltsdisziplin das, was die Disziplin allgemein ist, „im nackten Zustand“ (MP 113). Sie ist – gemäß Foucaults Definition des Dispositivs – sowohl der Punkt, von dem aus sich Wahrheitsdiskurse formieren, als auch ein Geflecht unterschiedlicher Kräfteverhältnisse. So muss sich die Psychiatrie im 19. Jahrhundert als therapeutische Wissenschaft bewähren und verstrickt sich dabei in Kämpfe, die Foucault als eine „Geschichte der Flurbereinigung der Psychiatrie“ (MP 432) beschreibt. Als zentrale Herausforderung erweist sich dabei das Problem der Simulation. Foucault beschreibt die Geschichte der Psychiatrie als ein ständiges Ringen mit der Intransigenz der Kranken und Anormalen. Deren Widerständigkeit erscheint – im Gegensatz zur oftmals kritisierten Darstellung der passiven disziplinierten Körper in Überwachen und Strafen – als ein genuin rebellisches Element, das die Macht der Psychiatrie konstitutiv antreibt.
5.1 Der Psychiater als „Operator der Realität“ Foucault zufolge basiert die therapeutische Autorität des Arztes darauf, im Namen der psychiatrischen Wissenschaft dem Wahn der Kranken die „Realität“ zu sichern (MP 193). Der Psychiater agiert also nicht auf dem Feld der Epistemologie im engeren Sinn, es geht nicht um richtige oder falsche Diagnosen, sondern das Heilverfahren äußert sich durch den Einsatz einer massiven körperlichen „Allmacht“ (MP 216) des Arztes, der den Patient_innen ein konkretes Verhalten aufzwingen kann. Die psychiatrische Macht ist Verhaltenslenkung. Ihr therapeutischer Effekt verdankt sich dem Zwang der Kranken, „Befehlen zu gehorchen, sich in einer Rangfolge aufzustellen, sich der Regelmäßigkeit einer bestimmten Anzahl von Gesten und Gewohnheiten zu unterwerfen, sich einer Arbeit anzupassen“ (MP 221). In diesem Setting formiert sich in der psychiatrischen Macht ein ganz spezifischer Typus von Wahrheitsverhältnis heraus. Es erscheint so, als ob die Psychiatrie als Realitätserzeugung auf „die Wahrheit überhaupt verzichten kann“ (MP 358). Zwar ist „die Anstalt der Formationsort mehrerer Diskursserien“ (MP 239), aber diese Diskurse – z. B. zur Klassifizierung der Kranken oder der pathologischen Anatomie – haben keinen Einfluss auf die psychiatrische Praxis. Es gibt in diesem Sinn, so Foucault, „keine wirklichen Theorien der Heilung“, sondern lediglich einen „Korpus von Manövern“ (MP 239), aus denen sich
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konkrete Techniken der Strafe ableiten (MP 264). Ausgehend davon ist es eine wirkmächtige Strategie der Kranken, die Psychiatrie auf das Feld der Wahrheit zu locken. Aber auch die medizinische Neurologie wird ihre Infragestellung der Psychiatrie durch Rekurs auf eine feststellbare Wahrheit führen, wie Foucault in der letzten Vorlesung vom 6. Februar 1974 ausführt. Wenn die Macht des Psychiaters darin besteht, „Realitäten als [die] Realität geltend zu machen“ (MP 255), dann erweist sich die Prüfung als die privilegierte Form, in der sich das psychiatrische Macht/Wissen manifestiert. Foucault untersucht verschiedene Formen, wie die psychiatrische Prüfung funktioniert, und betont dabei die Bedeutung der Befragung von Kranken, die auf das Geständnis abzielt (MP 397 f.). Die Bedeutung des Geständnisses als Machttechnik liegt darin, dass es das Individuum dazu verpflichtet, über sich die Wahrheit zu sagen. Sie führt zu einem „Chiasma zwischen der Verantwortlichkeit und der Subjektivität“ (MP 396). Damit wird das durch das Geständnis geformte und gebundene Individuum zu einer frühen Form dessen, was Foucault in „Subjekt und Macht“ die doppelte Bedeutung des Subjekts nennt: „der Herrschaft eines anderen unterworfen zu sein“ und „durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden“ zu sein (DE IV/306, 275; Ruoff 2018, 291). Machttheoretisch interessant an Foucaults Thesen zur psychiatrischen Macht ist ihre Konvergenz mit seinem Verständnis von Macht als nicht nur repressive, sondern auch produktive Kraft, das sich in dieser Zeit herausbildet. Wenn Foucault beschreibt, dass die „Tautologie der Anstalt“ darin besteht, „der Realität Macht zu verleihen und die Macht auf die Realität zu gründen“ (MP 252), so entspricht das seinem Modell einer ontologisch produktiven Macht, wie es in Überwachen und Strafen und Sexualität und Wahrheit 1 explizit werden wird. Insofern kann behauptet werden, dass die Figur des Psychiaters als „Operator der Realität“ (MP 209) Foucaults produktives Verständnis von Macht begründet, wenn nicht vielleicht sogar ausgelöst hat.
5.2 Der „Wille im Aufstand“: die Hysterikerinnen Psychiatrische Unterwerfungspraktiken entstehen in einem Feld von Kräften, die maßgeblich durch Widerstände angetrieben werden. So bezeichnet Foucault den Wahnsinn auch als „Wille im Aufstand“ (MP 250). Der Widerstand bewegt sich einesteils auf dem Feld direkter Konfrontation – der ‚Idiot‘, so Foucault, sagt auf „anarchische und hartnäckige Weise“ zu allem ‚nein‘, der Verrückte sagt zu allem, auch zum Falschen, ein „dünkelhaftes ‚Ja‘“ (MP 311) –, und er ist andererseits das, was aus der Perspektive der Disziplinarmacht nicht kontrolliert und überwacht werden kann –„das Irreduzible, das Unklassifizierbare, das Nichtassimilierbare“ (MP 87). Allerdings steht dieses nicht außerhalb der disziplinarischen Macht, insofern die Disziplinierung bestimmte Individuen als ‚anormal‘ abseits stellt und zugleich in einem unendlichen Prozess versucht, dieses Widerständige einzuholen und der Normalisierung zu unterwerfen (MP 89).
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Dieses nicht abschließbare Vexierspiel zwischen Macht und Widerstand zeigt sich deutlich an der Etablierung der Hysterie als Krankheit (MP 442– 468) und dem, was Foucault den „großen Simulantenaufstand“ (MP 201) der Hysterikerinnen nennt. Hysteriker_innen sind gemäß Foucault die „Widerstandsfront“ (MP 365) gegen die psychiatrische Macht (kritisch zu dieser ‚Überhöhung‘ Philo 2007). Sie liefern den Psychiatern die Symptome, die sie suchen, beweisen damit aber auch, dass sie das Spiel kontrollieren und den Arzt in eine Falle locken können. Damit unterscheidet sich deren Darstellung sowohl von jener in Wahnsinn und Gesellschaft, in dem die Hysterie primär als Wissensfeld und Projektionsfläche thematisch wird, als auch von jener in Sexualität und Wahrheit 1, in der Hysterikerinnen – was aus feministischer Sicht oft kritisiert wurde – nur als passive pathologisierte Frauen in den Blick kommen. In Die Macht der Psychiatrie deutet Foucault die „sexuellen Bacchanalien“ an Charcots Salpêtrière dagegen als „Siegesschrei der Hysterikerin“ (MP 467), in dem diese die Ärzte zum Schweigen bringen kann. Dabei erscheint an der Salpêtrière ein neuer, ein „sexueller Körper“ (MP 468), der der Hysterikerin zu verdanken ist. Allerdings wird damit wiederum die Kontrolle der Sexualität durch Medizin, Psychiatrie und Psychoanalyse ermöglicht (MP 468), die Foucault dann in Sexualität und Wahrheit 1 als Herrschaftstechnik beschreiben wird. Das Spiel der Macht ist also noch nicht zu Ende und die Schlacht für die Hysterikerin nicht letztgültig gewonnen.
6 Intersektionale Genealogie Die Macht der Psychiatrie findet in der kritischen Psychiatrie und Psychologie – mit wenigen Ausnahmen (Hook 2007; Brückner et al. 2017) und mit Ausnahme der Psychiatrie- und Wissenschaftsgeschichte (Elden 2006; Tanner 2007) – grundsätzlich weniger Beachtung als Wahnsinn und Gesellschaft, das bis heute das wichtigste psychiatriekritische Referenzwerk Foucaults bleibt (zur Rezeption vgl. Beljan 2008). Das gleiche gilt auch für die Disability Studies (Tremain 2005). Gerade für Letztere könnte die Vorlesung aber zahlreiche Ausgangspunkte öffnen, um aktuelle psychiatrisch-pädagogische Konzepte genealogisch zu verorten und kritisch nach ihrer Normalisierungsmacht zu befragen. Die Vorlesung bietet darüber hinaus grundsätzliche Anknüpfungspunkte für eine intersektionale Analyse gegenwärtiger Machtverhältnisse. Sie lenkt den Blick darauf, wie sich Psychiatrie, Medizin, Pädagogik und weitere Disziplinen der PsyFunktion mit ökonomisch-kapitalistischen Rationalitäten verfugen (Leoni 2013) und wie sich nicht nur staatliche Institutionen wie Schule und Spital, sondern auch normative Kriterien sozialer Funktionen miteinander verbinden. So wird gemäß Foucault die Einweisung geistig ‚zurückgebliebener‘ Kinder in einer Anstalt zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht im Hinblick auf ihre Einschulung geprüft, sondern um die Arbeitsfähigkeit der Eltern zu garantieren (MP 307), und Krippen und Kindergärten entstehen, um „die Eltern zur Arbeit freizustellen“ (MP 308). Zugleich verbindet die psychiatrische Macht im Laufe des 19. Jahrhunderts die
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Begriffe des Instinkts und der Entartung, die das Feld der Familie als „System von Austauschbeziehungen zwischen Blutsverwandten und Nachkommen“ (MP 321) eröffnet. Damit formieren sich Stützpunkte für neue Dispositive, wie sie Foucault in späteren Texten ausarbeiten wird: Dispositive der Sexualität, der sozialen Fürsorge und der Selbsttechnologien. In diesem Sinn sind Foucaults Analysen zur historischen Artikulation verschiedener Formen von Machtdispositiven eine wichtige Basis für eine intersektionale Genealogie der Gegenwart. Foucaults Vorlesungen machen deutlich, dass Intersektionen – oder in Foucaults Terminologie: Verfugungen – selber eine Geschichte haben und sich die Disziplinen und Dispositive der Macht im Lauf der Geschichte transformieren, wie am Beispiel der Psy-Funktion deutlich wurde. So formuliert Foucault mit der Psy-Funktion eine Variable, die sich typologisch nicht eindeutig der Macht der Disziplin oder der später so genannten Biopolitik, das heißt der individuellen oder bevölkerungsbezogenen Lebensmacht zuordnen lässt, sondern beide durchkreuzt. Es ist demnach gerade die historische Wandelbarkeit der Psy-Funktion, die ihre intersektionale Wirkmächtigkeit garantiert. Allerdings bietet Foucaults Vorlesung unterschiedliche Konzepte, um diese intersektionalen Machteffekte zu fassen. Sein Begriff der „Isotopie“ (MP 86 f.) betont die Gleichrangigkeit und historische Gleichzeitigkeit in der Entstehung und Wirkung unterschiedlicher Machtstrukturen. Dagegen beschreibt die sich ‚artikulierende‘ „Verfugung“ (MP 181), die Foucault auch „Kopplung“ (MP 292) oder „wechselseitige Stütze“ (MP 171) nennt, wie sich isotope Strukturen miteinander verbinden. Hier zeigt sich, dass weitere Klärungsarbeit zu leisten ist, um zu verstehen, wie sich in Foucaults Analysen Gleichursprünglichkeit und Verkopplung von Macht zueinander verhalten und für das Konzept der Intersektionalität produktiv gemacht werden können (Meyer 2017). Ein solches Vorhaben der intersektionalen Genealogie gegenwärtiger PsyFunktionen zeigt aber zugleich, wo die Grenzen der Vorlesung liegen und die Untersuchungen über Foucault hinaus im Sinne aktueller intersektionaler Differenzierungen weiter zu treiben sind. So fehlt in Die Macht der Psychiatrie der Hinweis auf Geschlecht und ‚Rasse‘ als Motor und Effekt psychiatrischer und normalisierender Praktiken allgemein, und die Tatsache, dass psychiatrische Internierungspraktiken stark geschlechtlich differenziert waren und die Anstaltsordnung mit einer Geschlechterordnung korrelierte (Tanner 2007, 289 f.), bleibt unberücksichtigt.5 Foucaults Ausblendung von Geschlecht als Analysekategorie zeigt sich auch an seinem Fokus auf Familie, der für das Verständnis der Ausbreitung psychiatrischer Macht entscheidend ist, aber aus intersektionaler Sicht nicht nur im Hinblick auf die Verbindung von Staat und Disziplin, sondern auch für die wechselseitige Konstitution von heterosexueller Geschlechterordnung, Nation, ‚Rasse‘ und Kapitalakkumulation funktional ist (McWhorter 2004).
5Zu
Foucaults geschlechterblinden Analysen vgl. kritisch McNay (1992); Taylor (2013).
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Diesem Desiderat entspricht auch, dass die Bedeutung des Kolonialismus bei Foucault eher metaphorisch verstanden wird und historisch vage bleibt. Zwar bezeichnet er den Anstaltskomplex von Clermont-en-Oise als ein ökonomisches System, in dem im 19. Jahrhundert die „Reservearmee des Landgutproletariats“ (MP 186) interniert und zur produktiven Arbeit gezwungen wurde, und nennt es ein Modell „an der Grenze zur Sklaverei und zur Kolonisierung“ (MP 186). Doch er verfolgt diesen Strang nicht weiter, der Ökonomie, Sklaverei und Kolonisierung mit der Entwicklung von Anstalts- und Lagerdisziplinen verbindet. Andererseits macht Foucaults Hinweis auf die Psy-Funktion deutlich, dass Normalisierungsdispositive über einzelne Institutionen hinausgreifen, und dies ist gerade für die Erklärung vergeschlechtlichter und rassifizierter Disziplinierungspraktiken zentral, da diese nicht an eine spezifische Institution gebunden sind, sondern die Gesellschaft als ganze durchdringen. In diesem Sinn wäre im Anschluss an Foucault zu fragen, wie die PsyFunktionen heute unter Bedingungen der Gleichzeitigkeit von neoliberaler Ökonomie, postkolonialer Wissensproduktion und nationalstaatlichen Sicherheitspolitiken wirken, welche Machtdispositive sie verfugen und wie sie zu Instrumenten und Effekten von Widerstand werden können. Dass der geschlossene Anstaltsraum heute paradoxerweise auch als Schutzraum dienen kann, etwa wenn es darum geht, Asylsuchende vor Ausweisung oder Strafgefangene vor Einzelhaft zu schützen, ist in Foucaults Genealogie der Psychiatrie nicht ausgeführt, aber angelegt. Zur Macht der Psychiatrie gehört bis heute auch, dass sie den ihr Unterworfenen als Waffe dienen kann, um sich dem direkten Zugriff der staatlichen Gewalt zu entziehen.
Literatur Beljan, Magdalena. 2008. Vorlesungen zur Psychiatrie/Disziplinierung. In Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider, 138–149. Stuttgart: Metzler. Brückner, Burkhart, Lukas Iwer und Samuel Thoma. 2017. Die Existenz, Abwesenheit und Macht des Wahnsinns. Eine kritische Übersicht zu Michel Foucaults Arbeiten zur Geschichte und Philosophie der Psychiatrie. NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 25.1: 69–98. Elden, Stuart. 2006. Discipline, Health and Madness. Foucault’s Le pouvoir psychiatrique. History of the Human Sciences 19.1: 39–66. Foucault, Michel. 2003. Le pouvoir psychiatrique. Cours au Collège de France (1973–1974). Hrsg. von Jacques Lagrange. Paris: Gallimard/Seuil. Hook, Derek. 2007. Foucault, Psychology and the Analytics of Power. Basingstoke: Palgrave Macmillan. Lagrange, Jacques. 2005. Situierung der Vorlesung. In Michel Foucault: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973–1974. Hrsg. von Jacques Lagrange, 505–532. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Leoni, Federico. 2013. From Madness to Mental Illness. Psychiatry and Biopolitics in Michel Foucault. In The Oxford Handbook of Philosophy and Psychiatry. Hrsg. von K. W. M. Fulford, M. Davies, R. Gipps, G. Graham, J. Sadler, G. Stanghellini und Tim Thornton, 85–98. Oxford: Oxford University Press.
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Meyer, Katrin. 2017. Theorien der Intersektionalität zur Einführung. Hamburg: Junius. McNay, Lois. 1992. Foucault and Feminism. Power, Gender and the Self. Cambridge: Polity Press. McWhorter, Ladelle. 2004. Sex, Race, and Biopower: A Foucauldian Genealogy. Hypatia 19.3: 38–62. Philo, Chris. 2007. Review Essay: Michel Foucault, Psychiatric Power. Foucault Studies 4: 149– 163. Ruoff, Michael. 2018. Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge. 4. aktualisierte und erw. Aufl. Paderborn: Fink. Saar, Martin. 2007. Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt a. M./New York: Campus. Tanner, Jakob. 2007. Ordnungsstörungen: Konjunkturen und Zäsuren in der Geschichte der Psychiatrie. Schlusswort. In Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870–1970. Hrsg. von M. Meier, B. Bernet, R. Dubach, U. Germann. 271–306. Zürich: Chronos. Taylor, Chloë. 2013. Infamous Men, Dangerous Individuals, and Violence against Women. Feminist Re-Readings of Foucault. In A Companion to Foucault. Hrsg. von Christopher Falzon, Ted O’Leary und Jana Sawicki, 419–435. Malden: Wiley-Blackwell. Tremain, Shelley. 2005. Foucault and the Government of Disability. Ann Arbor: University of Michigan Press.
Katrin Meyer ist Titularprofessorin für Philosophie an der Universität Basel.
Beichte und Bann. Biomacht und die Rassifizierung der Anormalität Die Anormalen (1974/75) Daniel Loick
1 Einleitung „[E]s führt, wie man so schön sagt, zu nichts“ (VG 10) – mit diesen frustrierten Worten resümiert Foucault in der ersten Sitzung seiner Vorlesungen im Winter 1976 seine bisherigen Forschungen zu den Themenkomplexen Gefängnis, Psychiatrie und Sexualität, zu denen auch die Vorlesungen über Die Anormalen gehören, die er ein Semester zuvor gehalten hatte. Diese Resignation führte zu einer theoretischen Neuorientierung, die Foucaults Aufmerksamkeit von der Analyse der Einschließungsmilieus und der Disziplinargesellschaft auf Konzepte wie der Biopolitik und der Gouvernementalität gelenkt hat. Doch Foucault geht hier zu hart mit sich ins Gericht. In Wirklichkeit enthalten etwa Die Anormalen wichtige Einsichten, die in Foucaults schriftlichen Texten unausgearbeitet bleiben. Darunter ist insbesondere seine Analyse der Formierung der bürgerlichen Kleinfamilie hervorzuheben, als deren wesentlicher Katalysator Foucault auf originelle Weise den Diskurs über die kindliche Masturbation herausarbeitet. Erst die von den Eltern bereitwillig exekutierte Medizinisierung der Masturbation, so Foucault, etabliert den Familienverbund als permanentes Überwachungsmilieu und erschließt so die Sexualität einem staatlich-ökonomischen Zugriff. Zugleich bringt dieser Diskurs ethisch-medizinische Vorstellungen in Umlauf, die als Kontrastfolie für die Konstruktion von Figuren der Anormalität fungieren, die unter die Zuständigkeit nicht mehr des juridischen, sondern des psychiatrischen Dispositivs fallen. Die Anormalen nimmt somit nicht nur eine wesentliche Scharnierfunktion innerhalb von Foucaults Werkentwicklung ein, sondern liefert auch einen
D. Loick (*) Universität Amsterdam, Amsterdam, Niederlande E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_6
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wichtigen Beitrag zum Verständnis der Genealogie moderner Intimpraktiken und der von ihnen produzierten Ausschlüsse und Verwerfungen. Im Folgenden diskutiere ich einige Grundlinien dieser Argumentation anhand von zwei filmisch dramatisierten Geständnisszenen. Dabei rekonstruiere ich zunächst, wie sich Foucault das Verhältnis von spezifischen Machttechniken, der Formation der Familie und der Konstruktion von Anormalität vorstellt (2). Danach will ich zeigen, dass Foucault einen konstitutiven Faktor im Prozess der Anormalisierung in der bürgerlichen Gesellschaft und damit auch ihrer Sexualnormen vernachlässigt, nämlich die Bedeutung des Rassismus (3). Da jede Theorie eine Theorie der Gegenwart sein sollte, endet der Beitrag mit einer kurzen Bemerkung zur Faschisierung und zur Möglichkeit eines nicht-faschistischen Lebens (4).
2 Die Geburt der bürgerlichen Kleinfamilie In seinem Film Das weiße Band (2009) beschreibt Michael Haneke das Leben in der fiktiven norddeutschen Gemeinde Eichwald kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen sind hier vollkommen von den sittenstrengen Moralvorstellungen des Protestantismus geprägt. Im Mittelpunkt steht die Familie des Pastors, der seine Kinder mit Härte und körperlicher Züchtigung zu einem tadellosen und tugendhaften Verhalten erziehen will. In einer der vielen beklemmenden Szenen erzwingt der Pastor von seinem Sohn Martin ein Geständnis: Vater: „Weil deine Mutter und ich uns wirklich große Sorgen machen: Überlege einmal wirklich – Schläfst du schlecht? Bist du übermüdet?“ Martin: „Nein.“ Vater: „Hast du Sorgen in der Schule, die ich nicht kenne?“ Martin: „Nein, Herr Vater.“ Vater: „Offenbar verstehst du unsere Sorge nicht. Ich will dir erklären woher sie kommt. Wie du weißt betreue ich als Seelsorger auch die Gemeinde von Birkenbrunn. Vor ein paar Jahren kam dort eine Mutter zu mir, die an ihrem Sohn, der in etwa in deinem Alter war, die gleichen Merkmale beobachtet hatte, wie sie auch an dir seit einiger Zeit zu bemerken sind. Der Knabe zeigte plötzlich eine auffallende Müdigkeit, bekam dunkle Ringe um die Augen und wirkte freudlos und deprimiert. Er mied es, seinen Eltern in die Augen zu sehen und wurde bald auch bei kleineren und größeren Lügen ertappt. Das dauerte etwa ein halbes Jahr. Danach ging alles sehr schnell. Er verlor allen Appetit. Er schlief nicht mehr. Seine Hände begannen zu Zittern. Sein Gedächtnis wurde schwach. Er bekam eine Menge kleiner Geschwüre, erst im Gesicht, dann am ganzen Körper. Und schließlich starb er. Der Leichnam, den ich einsegnete, glich dem eines alten Mannes. Verstehst du jetzt warum ich mir Sorgen mache? – Also, woher denkst du kommen die Veränderungen, die diesem Knaben schließlich ein so erbärmliches Ende bereiteten?“ Martin: „Ich weiß nicht.“ Vater: „Ich denke doch, dass du es weißt. – Willst du es mir nicht sagen? Nein? Gut, dann will ich dir sagen was die Ursache war. Der Knabe hatte bei irgendjemandem gesehen, dass der sich an den feinsten Nerven seines Körpers schadete, wo auch Gottes Gebot heilige Schranken errichtet hat. Der Knabe ahmte diese Handlung nach – und konnte nicht mehr damit aufhören. Er zerrüttete schließlich alle Nerven seines Körpers
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derart, dass er daran zugrunde ging. Ich will dir nur helfen. Ich liebe dich vom ganzen Herzen. Sei aufrichtig, Martin. Warum bist du so rot und unruhig geworden bei der Geschichte des armen Knaben?“ Martin: „Rot? Ich weiß nicht … und tut mir irgendwie leid um ihn …“ Vater: „Ist das alles? Ich denke, dass es noch eine Ursache gibt. Dein Gesicht verrät es. Sei aufrichtig, Martin. Warum weinst du? Soll ich dir dein Geständnis ersparen? Nicht wahr: Du hast das getan, was dieser arme Knabe tat?“ Martin: „Ja.“
Der Dialog zwischen dem Pastor und seinem Sohn weist viele der Merkmale auf, die Foucault in seinen Vorlesungen über Die Anormalen als Kennzeichen der Entstehung dessen beschreibt, was er provisorisch die „Normalisierungsmacht“ nennt und später zu einer Theorie der Biopolitik ausarbeiten wird. Im 18. und 19. Jahrhundert hat sich in Europa – und zwar, wie Foucault bemerkt, zuerst in den „Kernlanden des Protestantismus“ (AN 303) – ein neuer Diskurs über die Sexualität entwickelt, in dem mit einem lauten „Fanfarenstoß“ (AN 302) plötzlich das ältere diskrete Schweigen durch ein „unendliche[s] Geplapper von der Selbstbefriedigung“ (AN 303) abgelöst wird, das sich in abgewandelter Form bis heute fortsetze.1 In dieser Zeit beginnt insbesondere das Problem der kindlichen Masturbation den ethisch-medizinischen Diskurs zu beschäftigen; das „universelle Geheimnis“ der Onanie wird nicht nur zur „absoluten Krankheit“ (der Masturbierer vereinigt in sich alle möglichen Symptome, von der Übermüdung über Appetitlosigkeit bis zu Geschwüren), es zirkuliert auch die in den medizinischen Fachbüchern als Ätiologie der verschiedensten Krankheiten. Foucault betont dabei, dass die Selbstbefriedigung nicht in erster Linie als moralisches, sondern als medizinisches Problem verstanden wurde; wie der Vater in Das weiße Band, so operierte auch der europäische Masturbationsdiskurs nicht über Kategorien der moralischen Verwerfung, sondern über Strategien der Somatisierung (das Schreckensbild ist nicht der lasterhafte, sondern der kranke Erwachsene (AN 310) – oder, wie in dem Film der kranke Gleichaltrige). Der Einfluss des Christentums auf den Masturbationsdiskurs ist also nicht so sehr anhand der Dominanz irgendwelcher religiösen oder moralischen Sittenvorstellungen bemerkbar. Wohl aber tradieren sich in ihm spezifisch christliche Machttechniken, von denen die wichtigste das Geständnis ist, das seinen Vorläufer und sein Vorbild in der christlichen Beichte findet. Foucault formuliert in Die Anormalen bereits seine Kritik an der Repressionshypothese, die er dann in
1Foucault legt den Schwerpunkt seiner Analyse auf eine bürgerliche, männliche, weiße und heterosexuelle Perspektive. Während er den Fokus auf das Bürgertum methodologisch begründet und einem Vergleich mit proletarischen Familien wenigstens eine Vorlesung widmet (12. März 1975) sowie die Bedeutung des Rassismus ausblickhaft erwähnt (siehe unten), bleibt die weitgehende Vernachlässigung der weiblichen Masturbation (von einigen Seitenbemerkungen abgesehen) sowie die völlige Abwesenheit des Themas der Homosexualität ungenannt. Für eine ausgewogene Diskussion dieser Schwerpunktsetzung vgl. Taylor (2017, insbes. Kap. 5 und 6), für ein detaillierte Analyse und Kritik des Androzentrismus in Foucaults Konzept der Biopolitik vgl. Deutscher (2017).
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Sexualität und Wahrheit weiter ausformulieren wird (SW1 Kap. II); demnach wird der Sex in der europäischen modernen Gesellschaft keineswegs unterdrückt, sondern permanent erfragt und zum Bereich der Überwachung, Intervention und Kontrolle gemacht. Das Schweigen ist im Rahmen dieser Technik nur ein Moment des Geständnisprozesses; die Normalisierungsmacht realisiert sich gerade nicht durch eine Zensur des sexuellen Bereichs, sondern durch eine Überwindung des (Ver-)Schweigens des befragten Subjekts. Die christliche Beichte hat dabei zum einen spezifische Prozeduren dieses Zur-Sprache-Bringens erfunden, wie etwa die Verknüpfung von Bericht und Strafe (auf die Beichte folgt eine Buße), bestimmte diskursive Strategien des Gestehenden (Delikte aufzählen, begründen, erklären) oder die Schlüsselstellung des Priesters (der die alleinige Macht der Strafzumessung innehat). Zum anderen hat sie quantitativ die Macht der Seelenführung und Gewissenslenkung gefestigt und ausgeweitet (so musste man seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr nur nach einer begangenen Verfehlung zur Beichte gehen, sondern regelmäßig, und zwar am besten bei „seinem“ Priester). Foucault bemerkt, dass auch die für die Geburt der Biopolitik in der Moderne zentrale Somatisierung bereits in den christlichen Beichtpraktiken vorgeprägt wurde; das Erröten des Büßenden – ebenfalls in der Szene aus Das weiße Band thematisiert – also der somatische Ausdruck der Scham, ist bereits Teil der Entsühnung und damit der Heilung. Der Priester ist so die gemeinsame Vorgängerfigur des Arztes wie des Richters, er vereinigt in sich Techniken, die sich in modernen Gesellschaften in medizinische und juridische Institutionen ausdifferenziert haben. Bemerkenswerterweise ist das primäre Terrain des modernen ethischmedizinischen Interesses an der Sexualität aber nicht vorwiegend der Beichtstuhl, der Gerichtssaal oder die Arztpraxis, sondern das Milieu der Familie. Um die Masturbation zu unterbinden, muss das Alltagsleben der Kinder permanent auf sexuelle Aktivitäten kontrolliert werden, und das geht nur durch erwachsene Mittelspersonen innerhalb ihres intimsten Umfelds. Es ist der Vater, der innerhalb dieses Überwachungslabors als Richter und Arzt zugleich fungiert.2 Foucault geht so weit zu sagen, dass diese „dringliche Verpflichtung des Blicks, der Anwesenheit, der Tuchfühlung, des Kontakts“ (AN 327) die Intimformation der bürgerlichen Kleinfamilie, wie wir sie kennen, überhaupt erst erzeugt hat: Erst die Intensivierung der elterlichen Sorge um den kindlichen Körper und die daraus resultierende Notwendigkeit einer permanenten räumlichen Nähe und des physischen Kontakts hat die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern (zu Lasten der mannigfaltigen anderen Bezüge in der Hausgemeinschaft) stabilisiert und somit die bis heute charakteristische „Ökonomie der interfamiliären Verhältnisse“ (AN 427) konstituiert. Foucault belustigt sich immer wieder über den selbstunterminierenden Charakter der elterlichen Obsession mit der Sexualität ihrer Kinder;
2Der
Mutter spricht Foucault keine eigenständige Funktion und insofern auch keine eigene Handlungsfähigkeit zu. Sie kommt nur als Teil „der Eltern“ vor. Dies ist insofern besonders überraschend, als in den Erziehungsratgebern der Zeit die Aufgaben der Mutter durchaus spezifiziert werden, vgl. Deutscher (2017, insbes. 83).
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wie der Priester in der Beichte beständig aufpassen muss, nicht nach Verfehlungen zu fragen, von deren Möglichkeit der Beichtende möglicherweise noch gar nichts weiß, so funktioniert auch die Unterbindung der kindlichen Sexualität durch eine ständige Sexualisierung des Verhältnisses von Eltern und Kind: dieses kleine Theater der Familienkomödie und -tragödie mit seinen Betten, seinen Leintüchern, mit der Nacht und den Lampen und dem Heranschleichen auf Samtpfoten, mit den Gerüchen und den Flecken auf Laken – diese ganze Dramaturgie, welche die Neugier des Erwachsenen dem Körper des Kindes so unbegrenzt näher kommen lässt. (AN 326)
Um den jungen Onanisten am Masturbieren zu hindern, zitiert Foucault den Arzt Deslandes, sollen die Erwachsenen am besten mit ihm in einem Bett schlafen – der Masturbationsdiskurs dekonstruiert letztlich sogar die grundlegende und konstitutive Regel der Familienform, das Inzestverbot. Der Diskurs um die kindliche Selbstbefriedigung, der im 18. und 19. Jahrhundert in Europa geradezu explodiert ist, ist also nicht nur zwecklos (die Moralmediziner wissen es selbst: „alle Kinder masturbieren“ [AN 342]), sondern auch gefährlich, weil er genau die Sexualisierung anfacht, die er eigentlich unterbinden wollte. Angesichts dessen drängt sich die Frage nach dem Grund des spezifisch modernen Interesses an der kindlichen Sexualität auf: Warum sollten die Eltern ihre Kinder nicht einfach nach Belieben onanieren lassen? Foucault verwirft freudomarxistische Erklärungen wie die des belgischen Sexualhistorikers Jos van Ussel, der das Masturbationsverbot in den Kontext der kapitalistischen Industrialisierung und der damit verbundenen Notwendigkeit einer Fabrikation produktiver Körper stellt (AN 426). Zwar geht auch Foucault davon aus, dass sich die christliche „Moralphysiologie des Fleisches“ mit einer „nützlichen Körperdisziplin“ verbindet, er führt jedoch drei Gründe gegen eine zu reduktivökonomistische Deutung dieses Prozesses an: Während van Ussel von einer „Sexualunterdrückung“ (van Ussel 1970) spricht, geht Foucault erstens gerade von einer Erzeugung von Sexualität als Feld permanenter projektiver Zuschreibungen und Machtinterventionen aus, zweitens richten sich diese vorrangig nicht auf proletarische, sondern an bürgerliche Familien, und drittens sind sie zunächst auf die Kinder beschränkt, ohne mit einer generellen Sexualdisziplinierung einherzugehen. Foucaults Alternativdeutung stellt nicht den produktiven Körper des Individuums, sondern die Formierung spezifischer Familienrelationen in den Mittelpunkt. Die kindliche Sexualität wird von der Familie demnach nicht restringiert, sondern vielmehr wird die Familie durch ihre Erfindung konstituiert; „[u]m das lauwarme und verdächtige Bett des Halbwüchsigen herum festigt sich der Zusammenhalt der Kleinfamilie“ (AN 328). Damit ist aber die Frage nach der Erklärung dieses Prozesses nur verschoben – von der Frage nach dem Grund für die Regulierung der Masturbation zur Frage nach dem Grund für die bürgerliche Kleinfamilie. Die Herausbildung dieses festen, in sich geschlossenen Familienkörpers stellt Foucault nicht nur in einen kapitalistischen, sondern auch in einen staatlichen Zusammenhang. Es gab, sagt Foucault hier noch recht unbestimmt, ein „politisches und w irtschaftliches
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Interesse am Überleben des Kindes“ (AN 338), er wird allerdings erst in den nächsten Semestern im Rahmen seiner Analyse der Biopolitik dieses Interesse genauer spezifizieren. Die Kleinfamilie, argumentiert Foucault, garantiert zudem eine bessere Zugänglichkeit für eine „normgerechte Abrichtung und Entwicklung“ (AN 339) dieses Menschenmaterials als die ältere, noch unbestimmte und diffuse Großfamilie. Diesen Zugang erhält der Staat, indem er den Diskurs über die Sexualität im normativen Register der Medizin orchestriert; auf diese Weise wird die familiale Aktivität nicht nur auf das Ziel der Steigerung des Lebens verpflichtet, sondern auch eine Abhängigkeit der elterlichen Erziehung von externen Ärzten und Beratern sichergestellt. Die Sexualität, sagt Foucault, funktioniert hier als ein „Wechselgeld“ (AN 341) (oder eher als ein Pfand?) für die Abtretung der Kinder an den Staat; der Staat kann von den Familien nur deshalb verlangen, ihm ihre Kinder zu überlassen, indem er zugleich eine bleibende Zuständigkeit der Familien für deren Sex verspricht – eine Zuständigkeit, die zugleich wertlos ist, da sich die Sexualität der Kinder ohnehin nicht regulieren lässt.3 Mit seiner Analyse des Masturbationsdiskurses liefert Foucault in Die Anormalen eine Detailaufnahme der Entstehung der Biopolitik (die er hier jedoch noch nicht so nennt), die er im darauffolgenden Semester in der Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft, im ersten Band von Sexualität und Wahrheit (1976) und dann in den Vorlesungen über die Geburt der Biopolitik (1978/79) zu einer generellen Theorie verallgemeinert. Als „Bio-Politik der Bevölkerung“ (SW1 166) bezeichnet Foucault hier die Tatsache, dass das biologische Leben in das Zentrum des staatlichen Kalküls rückt; seit dem 17. und 18. Jahrhundert versuchen die europäischen Regierungen zunehmend, durch eine Reihe von Maßnahmen, die von der umfassenden Disziplinierung der individuellen Körper in den Einschließungsmilieus und ihre Unterwerfung unter Sexualkontrollen und Hygienevorschriften bis hin zu den variablen Steuer-, Drogen- und Gesundheitspolitiken reichen, das Wachstum der Bevölkerung zu vermehren. Der Grund für diese „Verstaatlichung des Biologischen“ (VG 276) ist ebenso politisch wie ökonomisch: Bürgerlich-kapitalistische Nationalstaaten brauchen eine vitale Bevölkerung nicht nur für ihre Fabriken, sondern auch für die Stärkung der Staaten in ihrem Konkurrenzkampf; nur die Komplementierung der souveränen Todesmacht durch eine biopolitische Lebensmacht reproduziert das Menschenmaterial, das für das Führen opferreicher Kriege notwendig ist (SW1 163). Dies erklärt auch die besondere Bedeutung der Sexualität als Gegenstand des politischen Interesses. Um das Bevölkerungswachstum sicherzustellen,
3„Ich
glaube, dass in dieser Art doppelter Forderung: ‚Kümmert euch um eure Kinder‘ und dann ‚Verzichtet hinterher auf sie‘, der sexuelle Körper des Kindes gewissermaßen als Wechselgeld fungiert. Man sagt den Eltern: ‚Im Körper der Kinder ist etwas, das in jedem Fall unantastbar euch gehört und von dem ihr nie abzulassen braucht, denn es wird nie von euch ablassen, nämlich ihre Sexualität.“ (AN 341). Foucault spricht hier immer wieder von einem „Tauschgeschäft“, einem „Köder“, einer „Falle“ oder der Sexualität als „fiktive(m) und wertlose(m) Stück Geld“ (AN 342), das die Eltern im Gegenzug für die Erziehung und Abtretung der Kinder an den Staat erhalten hätten.
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muss es dem Staat gelingen, das Intimverhalten der Bürger*innen für gouvernementale Interventionen zu erschließen. Analysiert Foucault die Biopolitik in den späteren Vorlesungen von ihrer politisch-staatlichen Rationalität her, beschreibt er in Die Anormalen den familialen Transmissionsriemen, mit dem sich die Macht Zugang zu den Betten der Bevölkerung verschafft. Der Schlüssel liegt in der Konstituierung einer Verwandtschaftsform, welche von vornherein mit den staatlichen Reproduktionsimperativen kollaboriert, nämlich der bürgerlichen Kleinfamilie. Die Autoerotik des Kindes – also eine nicht-relationale und nichtproduktive Form der Sexualität –, ist für die Biomacht nicht von intrinsischem Interesse, sondern stellt nur den Umweg dar, durch den vor allem die Eltern in die „Falle“ (AN 342) der staatlichen Kontrolle geraten sind. Dies scheint eine recht konstruierte, fast verschwörungstheoretisch anmutende Erklärung, die den Staat als intentionalen Akteur stilisiert, der auf listige Weise die medizinischenmoralischen Diskurse zu steuern weiß. Diese Schwachstelle in der Deutung der Geburt der Biopolitik, so werde ich weiter unten argumentieren, erklärt sich vor allem aus Foucaults Vernachlässigung des Kolonialismus für die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und des daraus resultierenden Rassismus als Faktor im modernen Sexualdiskurs.4 Vor diesem Hintergrund – der Durchsetzung des biopolitischen Diktats moderner Nationalstaaten durch die Formierung einer spezifischen Familienstruktur, die sich durch deren Sexualisierung und Medizinisierung vollzieht – erklärt Foucault die Phänomene, die den Titel seiner Vorlesungen abgeben, also die Figuren der Anormalität. Anormale sind Subjekte, bei denen die biopolitische Anrufung gescheitert ist oder die sich ihr widersetzen. Foucault rekonstruiert drei Vorformen der Anormalität: das „Monster“, das so grundlegend gegen die Regeln des Gesellschaftsvertrags verstößt, dass juridische Verfahrensweisen nicht mehr zur Anwendung kommen können, das besserungsresistente Individuum, das nicht mehr erzogen, sondern nur noch (in den Gefängnissen oder Irrenanstalten) interniert werden kann, sowie das masturbierende Kind, das sich von seiner Selbstbefriedigung einfach nicht abbringen lassen will. Die Anormalen sind Nachfolge- und Mischfiguren dieser drei historischen Formen und bilden insbesondere seit Mitte des 19. Jahrhunderts (Foucault ist überraschend genau: „1845–1850“ [AN 215]) den bevorzugten Gegenstand des neu entstehenden Dispositivs der Psychiatrie. Das psychiatrische Wissen funktioniert im Wesentlichen über die Medizinisierung und damit die Biologisierung der Abweichung, die sich vor allem über die Theorie des Triebs vollzieht und auf diese Weise eng mit dem Feld der
4In seiner Studie über den europäischen Masturbationsdiskurs weist Thomas Laqueur darauf hin, dass Foucault das plötzliche Interesse an der kindlichen Masturbation nur beschreibe, aber nicht erkläre. Seine eigene Deutung geht davon aus, dass die Obsession mit den Gefahren der Masturbation aus einer paradoxen Sorge um den Verfall der öffentlichen Tugend durch eine zu starke Konzentration auf privates Vergnügen im Kapitalismus resultiert, vgl. Laqueur (2004, Kap. V). Auch Laqueur vernachlässigt hier die Signifikanz des kolonialen Imaginären für die Konstruktion der Masturbation als exzessiv. – Für Analysen des europäischen Masturbationsdiskurses und seine selbst-unterminierenden Effekte vgl. ferner Bennett und Vernon (1995).
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Sexualität verknüpft ist (die Psychiatrie, so Foucault, musste dafür nur noch die „Trennwand zwischen Masturbation und den übrigen sexuellen Regelwidrigkeiten“ [AN 362] aufheben). Durch diese Operation gewinnt der psychiatrische Diskurs mehr und mehr Einfluss auf die gesellschaftlichen Prozesse und dringt in Form der Gerichtspsychiatrie auch in die juridischen Verfahren ein. Mit dieser Universalisierung des psychiatrischen Diskurses bilden fortan die Anormalen die Kehrseite, den Aus- oder Überschuss biopolitischer Sozialintegration – eine Gruppe von Subjekten, die die Gesellschaft nicht mehr zu heilen oder zu bessern versucht, sondern gegen die sie sich nur noch zu verteidigen trachtet (AN 417).
3 Anormalität und Rassismus In ihrer für Netflix produzierten Miniserie When They See Us (2019) hat die Regisseurin Ava DuVernay die wahre Geschichte der Central Park Five verfilmt, einer Gruppe von schwarzen Jugendlichen, die 1989 zu Unrecht verurteilt wurden, eine weiße Joggerin im New Yorker Central Park vergewaltigt zu haben. Die erste Folge zeigt, wie die fünf Jugendlichen, die zur Tatzeit zwischen 14 und 16 Jahre alt waren, in Abwesenheit ihrer Eltern von der Polizei mit Hilfe von falschen Versprechungen, psychologischem Druck, Lügen und physischer Gewalt zu falschen Geständnissen gezwungen wurden. Besonders perfide ist der Umgang mit Antron McCray, dessen Vater Bobby in der festen Annahme in der Polizeiwache auftaucht, seinen Sohn bald mit nach Hause nehmen zu können. Dieser wird von den Polizisten, die damit drohen, ihn bei seinem Arbeitgeber zu verleumden, dazu gebracht, seinen Sohn zu einem Geständnis zu überreden. Bobby: „Listen to me Tron. I need you to do what the police want you to do. You gotta say what they want you to say.“ Antron: „The want me to lie.“ Bobby: „I don’t think it like that. Just say what they want you to say.“ Antron: „Dad, I didn’t rape no lady.“ Bobby: „Tron … I’m trying to tell you what you need to do to get your ass out of here …But you’re not listening, you gotta listen to me.“ Antron: „But …“ Bobby: „Don’t fucking backtalk to me! You’re not listening to me! Tron, these police will mess us up. They’re not playing. They’re not. Look. When the police want what they want, they will do anything. Do you hear me? Anything! They will lie on us. They will lock us up. They will kill us. I’m not gonna let them kill my son. Coz you don’t know nothing about that yet. But you will do what they say. You go along. You understand me? Do you understand me?“ Antron: „Yes, Sir.“
Der anschließende Prozess wurde von einer breiten rassistischen Medienkampagne begleitet, die die Angeklagten immer wieder als „Rudel“ oder als „Gang“ etikettierte. Dem New Yorker Immobilienmogul Donald Trump – der, so versichert eine Freundin der Mutter eines der angeklagten Jungs, seine „15 minutes of fame“ bald hinter sich haben werde – war es 85.000 US-Dollar
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wert, in vier New Yorker Tageszeitungen ganzseitige Anzeigen zu schalten, in denen er die Wiedereinführung der Todesstrafe forderte. In diesem Klima wurden die fünf Jugendlichen trotz der zahlreichen Ungereimtheiten und Widersprüche, die während des Prozesses ans Tageslicht kamen, zu Haftstrafen zwischen fünf und 15 Jahren verurteilt. Erst nachdem 2002 ein bereits inhaftierter Serienmörder zugab, das Verbrechen begangen zu haben, wurden die Central Park Five rehabilitiert und aus der Haft entlassen. Die Central Park Five können als paradigmatische Verkörperungen von Anormalität gelten. Sie vereinen in sich Merkmale aller drei Vorgängerfiguren, die Foucault nennt: Sie werden erstens als Monster dargestellt, deren Taten absolut unerklärlich sind. Dazu passt es, dass die Medien immer wieder mit dehumanisierenden Tropen wie der Benennung als „wolf pack“ operierten; Foucault erinnert daran, dass das Monster ein Mischwesen aus Mensch und Tier darstellt (AN 86). Zweitens arbeiten die Zuschreibungen der fünf Jugendlichen mit dem Motiv der Nichtkorrigierbarkeit. Sie symbolisieren die Vergeblichkeit aller pädagogischen, juridischen und ökonomischen Anstrengungen, daher sollen sie in die Gesellschaft nicht länger integriert, sondern aus ihr eliminiert werden. Drittens werden sie wie das masturbierende Kind sexualisiert. When They See Us zeigt gut, wie die Polizei den gedemütigten Jungen immer wieder Vokabeln von sexuellen Aktivitäten in den Mund legt, die diese noch gar nicht kennen, geschweige denn praktizieren, und die Presse vermag das Verbrechen nicht anders zu erklären als durch die vorsozialen Triebe der Angeklagten. Es gibt jedoch eine entscheidende Besonderheit, die für das Verständnis der Anormalisierung der Central Park Five entscheidend ist: All diese Zuschreibungen funktionieren nur durch ihre Rassifizierung. Mit anderen Worten, der psychiatrisch-juridische Diskurs, der sich um den Fall der Vergewaltigung der Joggerin im Central Park entspannte, wäre vollkommen anders verlaufen, wenn das Opfer schwarz oder die Angeklagten weiß gewesen wären. Allerdings wären – sind – weiße Jugendliche gar nicht in die Position von Angeklagten gekommen. Dies unterstreicht die konstruktive Macht von Normalisierungs- bzw. Anormalisierungsprozessen: die Central Park Five wurden nicht nur als Anormale klassifiziert, sondern als solche erst konstruiert. Anders als etwa der von Foucault als Beispiel für die Anormalen erwähnte Sittentäter Charles Jouy haben die fünf Jugendlichen nicht selbst etwas getan, was sie zu dieser Konstruktion disponierte. Ganz am Ende seiner Vorlesungen kommt Foucault auf den Zusammenhang von psychiatrischem Wissen und Rassismus zu sprechen. Der psychiatrische Rassismus sei vom traditionellen „ethnischen Rassismus“ zu unterscheiden, weil er sich nicht gegen bestimmte „Rassen“, sondern im Allgemeinen „gegen den Anormalen“ richte. Beide Rassismen, der psychiatrische und der ethnische (der im Übrigen, wie Foucault hinzufügt, in Europa „im Wesentlichen der Antisemitismus“ gewesen sei), haben sich jedoch erst im Nationalsozialismus zu einer kohärenten Gesamtideologie vereinigt (AN 418). Diese dramatische Unterschätzung der Bedeutung insbesondere des anti-schwarzen Rassismus für die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft korrigiert Foucault zumindest teilweise in seinen ein Semester später gehaltenen Vorlesungen In Verteidigung
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der Gesellschaft (1975/76). Hier stellt er die Entstehung des modernen Rassismus explizit in den Kontext der Herausbildung von staatlicher Biomacht. Der Rassismus definiert demnach, welches Leben schützenswert ist und welches dem Sterben überlassen werden kann (VG 295). Die Tötungsdimension, die die moderne Souveränität weiterhin kennzeichnet, ist dabei aus dem generell produktiven, Leben-machenden Kalkül des Staates abgeleitet und bleibt an ihn rückgebunden; der Ausschluss und die Tötung der rassifizierten Subjekte rechtfertigt sich aus dem Leben und der Gesundheit des Gesellschaftsorganismus insgesamt – sterben lassen, um Leben zu machen. Foucault zieht hier eine Kontinuitätslinie von dem Rassismus, der die genozidale Kolonisierung der Welt durch die europäischen Staaten legitimierte, und der modernen Rassifizierung des militärischen Gegners, der Kriminalität, des Wahnsinns und anderer Formen der Anormalität, die schließlich in die immer noch unter biopolitischen Vorzeichen operierende absolute Todesmacht des Nationalsozialismus mündete (VG 299 f.).5 Dieser Vorblick auf Foucaults spätere Ausführungen kann einige Fingerzeige auch für eine vollständigere Analyse der modernen Familienformen und damit für eine grundlegendere Kritik der rassistischen Operationslogik des modernen biopolitischen Regimes liefern. Betrachtet man die Herausbildung der Normalisierungsmacht mit einer Perspektive auf die Rassifizierung der Anormalität, so muss Foucaults Darstellung allerdings situiert und damit korrigiert werden. Bereits ein Vergleich der beiden Geständnisszenen – der aus Das weiße Band und der aus When They See Us – bringt die rassistische Differenzierung biopolitischer Regierung zum Ausdruck. Erstens unterscheidet sich die Rolle des Vaters. Die beiden Szenen spielen sich auf verschiedenen Bühnen ab; Martin gesteht im Elternhaus, Antron auf der Polizeiwache. In der protestantischen Kleinfamilie ist der Vater Richter und Arzt zugleich, das heißt er repräsentiert innerhalb der Intimbeziehungen den juridisch-medizinischen Nexus. Diese Rolle hat der Vater in den rassifizierten, für den Ausschluss vorbereiteten Familienstrukturen nicht. Auch nachdem Antron der Aufforderung seines Vaters folgt, „tell them what they wanna hear“, also ein nicht begangenes Verbrechen zu gestehen, glaubt keiner von beiden an die Schuld des Jungen, sie übernehmen nicht die Deutungen der Gewalt, mit der sie konfrontiert sind, sondern kapitulieren lediglich vor ihr. Während der weiße Vater die Biomacht repräsentiert, wird der schwarze Vater von ihr instrumentalisiert. Dementsprechend ist zweitens auch der Modus der Machtausübung ein anderer. Die Geständnisprozedur der bürgerlichen Kleinfamilie ist pastoral, sie folgt dem Vorbild der christlichen Beichte und ist daher auf die Mitwirkung des Gestehenden angewiesen. Der Priester durchbricht durch seine Fragetechnik das Schweigen des Pönitenten, der sein Vergehen aber schließlich selbst zugibt und
5Zum
Zusammenhang von Biopolitik und Rassismus bei Foucault vgl. exemplarisch Lemke (2008), Magiros (1995), Muhle (2013); insbesondere zum Nexus Biopolitik, Reproduktion und Rassismus Deutscher (2017). Siehe auch in diesem Band den Beitrag von Gundula Ludwig in diesem Band.
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damit die Machtausübung des Priesters affirmiert. Ganz anders begegnet die Macht den anormalisierten Subjekten. Sie greift auf die Zwangsmittel aus dem Arsenal der Souveränitätsgesellschaften zurück und funktioniert rein negativ, als physische Überwältigung eines Widerstands. Die rassifizierten Subjekte unterliegen keiner sanften pastoralen Seelenführung, sondern werden als Angehörige eines pränormativen Naturzustandes mit schierer Gewalt unterworfen. Schließlich ist damit drittens auch das Ziel der biopolitischen Intervention verschieden. Während der bürgerliche Masturbationsdiskurs die Abtretung der weißen Kinder an den Staat vorbereiten soll, indem er eine stabile Familienzelle fabriziert, die an die Vorgaben des hegemonialen ethisch-medizinischen Diskurses angeschlossen ist, geht es bei der Sexualisierung des schwarzen Kindes um ein Othering, das auf seine Verbannung aus dem Feld des „normalen“ Gesellschaftskörpers zielt. In ihrem Buch Race and the Education of Desire (1995) hat Ann Stoler die Bedeutung des Kolonialismus für die europäische Geschichte der Sexualität rekonstruiert. Sie weist nach, dass die europäischen Kolonialgesellschaften nicht nur völlig unterschiedliche Sexualnormen für die europäischen und die kolonisierten Subjekte vorsahen, sondern auch, dass die Formierung der europäischen Sexualsubjekte von der Kolonisierung abhängig ist. Foucaults Genealogie der Sexualität bleibe eurozentrisch und übersehe damit ein wichtiges Konstitutionsmoment bürgerlicher Sexualnormen: In short-circuiting empire, Foucault’s history of European sexuality misses key sites in the production of that discourse, discounts the practices that racialized bodies, and thus elides a field of knowledge that provided the contrasts for what a “healthy, vigorous, bourgeois body” was all about. (Stoler 1995, 7)
Der bürgerliche Körper formiert sich in Abgrenzung zum rassifizierten Körper des kolonisierten Subjekts, der am Rande oder außerhalb der Gesellschaft angesiedelt wird. Foucaults Analyse des Diskurses über die kindliche Sexualität etwa muss darum korrigiert werden. Die pädagogischen Ratgeber und medizinischen Fachbücher im 18. und 19. Jahrhundert, argumentiert Stoler, handeln nicht allein von der Masturbation als Ätiologie verschiedener Krankheiten, sondern allgemeiner von der Kultivierung der Tugenden der Triebkontrolle, der Selbstbeherrschung und des Anstands, derer es für das Leben als weißer Bürger bedurfte. Diese Ideale funktionierten stets in Abgrenzung zu Vorstellungen des Wilden und Unzivilisierten, die von kolonialen Bildern und rassistischen Zuschreibungen zehren (Stoler 1995, 145–149). Kolonisierte Subjekte – wie auch die proletarischen Klassen – werden in diesem Diskurs anormalisiert, indem sie als roh und primitiv gekennzeichnet und damit diskursiv zur Beherrschung durch das weiße Bürgertum vorbereitet werden, das sich und seine Begierden im Griff hat. Die beiden Geständnisszenen sind also nicht Ausdruck verschiedener Machttypen, sondern unterschiedliche Funktionsweisen ein und desselben Machttypus, die sich intern anhand rassistischer Kriterien differenziert. Die moderne Biopolitik
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richtet sich positiv-produktiv auf bestimmte Bevölkerungen und negativ-destruktiv auf andere. Die bevölkerungspolitischen Auswirkungen dieser Ausdifferenzierung lassen sich sowohl im nationalen, als auch im internationalen Rahmen ausbuchstabieren; biopolitische Regime betreiben sowohl Maßnahmen zur Steigerung weißen Lebens (von Abtreibungsverboten über Gesundheitskampagnen bis zu familienbegünstigende Steuerpolitiken) als auch zur Unterwerfung, Exklusion und Vernichtung schwarzen Lebens (von Zwangssterilisierungen über ökonomische Verschuldung bis zur Masseninhaftierung). Eine Analyse der Rassifizierung von Anormalität zeigt das Bedingungsverhältnis der beiden Funktionsweisen: die positive Funktion konstituiert sich über die negative, oder wie es die Soziologin Ruha Benjamin ausdrückt, „vampirically, white vitality feeds on black demise“ (Benjamin 2018, 41). Insofern sind die Ansätze, welche die beiden bekanntesten konkurrierenden Anschlüsse an Foucaults Konzept der Biopolitik in den Mittelpunkt stellen, nämlich die lebenssteigernde Biopolitik bei Hardt und Negri und die lebensvernichtende Thanatopolitik bei Agamben, zwei Seiten derselben Medaille, die vielleicht am besten Achille Mbembe mit dem Begriff der Nekropolitik bezeichnet hat (Mbembe 2014). Daran anschließend haben schwarze feministische und insbesondere afro-pessimistische Theoretiker*innen herausgearbeitet, welche Form die Anormalisierung des schwarzen (teils in Übereinstimmung, teils im Unterschied zu der des weißen) Körpers annehmen kann, das heißt wie die schwarze Bevölkerung kontinuierlich als „abject, threatening, servile, dangerous, dependent, irrational, and infectious“ (Hartman 1997, 116) produziert wird. Während für Foucault die Psychiatrie sowohl diskursiv als auch institutionell die Zuständigkeit für die Verteidigung der Gesellschaft gegen die gefährlichen Anormalen beansprucht, werden rassifizierte Subjekte durch eine ganze Batterie von politischen, juridischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Mechanismen entbehrlich gemacht und getötet oder dem Sterben überlassen.
4 Nicht-faschistisch leben An einigen Stellen von Die Anormalen erwähnt Foucault den Faschismus als extreme Variante der Normalisierungsmacht. Zum einen hat der Faschismus, insbesondere in Form des deutschen Nationalsozialismus, die Verbindung von ethnischem Rassismus und dem Neorassismus, der sich gegen die Anormalen richtet, ins mörderische Extrem getrieben (AN 418). Zum anderen wird die Normalisierung häufig von einem faschistischen Personal betrieben, und zwar, wie Foucault feststellt, von Figuren, die häufig selbst Symptome von Anormalität aufweisen: Während der Westen den Traum eines vollkommen rationalen Gerichtswesen träumte, hat er von Nero bis Mussolini und Hitler zugleich beständig groteske Erscheinungsformen der Souveränität produziert und ratifiziert (AN 28 f.). Diese Verweise lassen es als gerechtfertigt erscheinen, Foucaults Untersuchung der Normalisierungsmacht auch als ein Beitrag zur Analyse der Faschisierung zu lesen. Sie zeigt auf, welcher Diskursstrategien, Modi der Machtausübung und Körperpraktiken es bedurfte, um bürgerliche Subjekte für den
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Faschismus vorzubereiten, um sie mit ihm kollaborieren und ihn begehren zu lassen. Als eine Theorie der faschistischen Latenz in der bürgerlichen Normalität lässt sich auch Michael Hanekes Das weiße Band interpretieren. Die Episoden der Grausamkeit, von denen der Film berichtet – ein über die Straße gespanntes Drahtseil lässt das Pferd des Arztes stürzen, ein Teil des Gutshofes geht nachts in Flammen auf, einem geistig behinderten Jungen werden brutal die Augen ausgestochen – bleiben unerklärt, lassen sich aber als Vorboten des heraufziehenden gesellschaftlichen Unheils verstehen. Das juridisch-ärztliche Dispositiv, unter das der Pastor seine Kinder durch die Errichtung einer familialen Sexualitätskontrolle unterwirft, fabriziert eine Affektstruktur, die die bürgerlichen Individuen für den Faschismus zurichtet. Die Relevanz dieser Diagnosen für die Gegenwart besteht zunächst darin zu zeigen, dass es sich bei den überall zu beobachtenden Faschisierungstendenzen nicht um Prozesse der „Verwilderung“ und „Entnormativierung“ (Honneth 2013, 36) handelt, sondern im Gegenteil zur bürgerlichen Normativität in einem Verhältnis der Kontinuität stehen. Eine antifaschistische Strategie darf sich dann nicht darauf beschränken, etwa durch Appell an „Anstand“ oder „Humanität“, die bürgerliche Normativität zu restaurieren. Vielmehr muss es darum gehen, auf der Ebene der Körper selbst anzusetzen, das heißt affektive Praktiken zu erfinden, die unanfällig für die Verlockungen des Faschismus sind. In diesem Sinne hat Foucault in seinem Vorwort zu Deleuze’ und Guattaris Anti-Ödipus Elemente einer „Anleitung zum nicht-faschistischen Leben“ aufgezählt: Denken und Fühlen in Kategorien der Multiplizität, Differenz und Mobilität; Politik jenseits der totalisierenden Kategorien von Gruppe und Individuum; sich nicht in die Macht verlieben (DE III/189). Während bei Haneke Rassismus und Antisemitismus als Faktoren der präfaschistischen Sozialisation vollkommen abwesend sind, erwähnt Foucault durchaus die Relevanz des Rassismus für das Funktionieren der modernen Biomacht. Auch er vernachlässigt aber die Bedeutung der Kategorie race für den europäischen Sexualdiskurs und damit für die Prozesse der (A-)Normalisierung in der bürgerlichen Gesellschaft. Indem er dem psychiatrischen Diskurs pauschal einen Rassismus gegen „den Anormalen“ attestiert, den er zudem vom „hergebrachten“ ethnischen Rassismus trennt, kann er nicht erklären, spezifisch welche Bevölkerungsgruppen zur Ausstoßung disponiert sind. In der globalisierten Migrationsgesellschaft scheinen bio- bzw. nekropolitische Regime mehr und mehr auf die Produktion eines rassifizierten Anormalen angewiesen zu sein, welches dem Sterben überlassen oder zur Tötung freigegeben ist; wobei sich diese Regime immer unbefangener aus dem diskursiven und technologischen Register des Kolonialismus und der Sklaverei bedienen. Wenn man der konstitutiven Bedeutung des Rassismus für die Entstehung moderner Biomacht Rechnung trägt, so folgen daraus weitreichende Konsequenzen für den Kampf gegen den Faschismus. Das „nicht-faschistische Leben“, von dem Foucault spricht, darf sich nicht nur gegen die disziplinarische Zurichtung der Körper richten, wie im Anti-Ödipus-Vorwort suggeriert wird. Vielmehr muss es sich immer zugleich der Anormalisierung verwehren, das heißt
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der Spaltung in zu schützendes und gefährliches, zivilisiertes und primitives, lebenswertes und lebensunwertes Leben entgegentreten. Ein nicht-faschistisches Leben, heißt das, sorgt sich um das Leben der Anderen. Diese Form der Sorge um das Leben unterscheidet sich von Vornherein von der staatlichen Biomacht, weil sie aus einer subalternen Perspektive formuliert ist, aus der Perspektive des prekarisierten oder verbannten Lebens, eines Lebens also, das dem Kalkül der Biomacht zufolge eigentlich gar nicht existieren sollte.6 Wenn es also eine Art subalterner Biopolitik gibt, so ist sie zugleich anti-disziplinarisch und sorgsam; mehr noch: sie ist anti-disziplinarisch, indem sie sorgsam ist. Sie durchkreuzt wo immer möglich die rassistische Spaltungslogik der etablierten Biomacht, weil sie diese mit einer Welt konfrontiert, in der entweder jeder und jede oder niemand anormal ist.
Literatur Benjamin, Ruha. 2018. Black AfterLives Matter. Cultivating Kinfulness as Reproductive Justice. In Making Kin Not Population. Hrsg. von Adele Clarke und Donna Haraway, 41–66. Cambridge: Prickly Paradigm Press. Bennett, Paula und Vernon Rosario (Hrsg.) 1995. Solitary Pleasures: The Historical, Literary, and Artistic Discourses of Autoeroticism. London: Routledge. Deutscher, Penelope. 2017. Foucault’s Futures. A Critique of Reproductive Reason. New York: Columbia University Press. Gumbs, Alexis Pauline, China Martens, Mai’a Williams (Hrsg.) 2016. Revolutionary Mothering. Love on the Front Lines. Oakland: PM Press. Hartman, Saidiya. 1997. Scenes of Subjection. Terror, Slavery, and Self-Making in 19th Century America. Oxford: Oxford University Press. Hill Collins, Patricia. 2000. Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment. London: Routledge. Honneth, Axel. 2013. Verwilderungen des sozialen Konflikts. Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart. Hrsg. von Axel Honneth, Ophelia Lindemann und Stephan Voswinkel, 17–39. Frankfurt a. M./New York: Campus. Laqueur, Thomas. 2004. Solitary Sex. A Cultural History of Masturbation. Cambridge: MIT Press. Lemke, Thomas. 2008. Gouvernementalität und Biopolitik. Wiesbaden: VS. Magiros, Angelika. 1995. Foucaults Beitrag zur Rassismustheorie. Hamburg: Argument. Mbembe, Achille. 2014. Nekropolitik. In Biopolitik. Ein Reader. Hrsg. von Andreas Folkers und Thomas Lemke, 228–276. Berlin: Suhrkamp. Muhle, Maria. 2013. Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem. München: Fink.
6Leitend
für eine solche Politik, die zugleich anti-disziplinarisch und sorgsam ist, könnten vielleicht am ehesten Figuren sein, die in beiden Geständnisszenen auf eine merkwürdige Weise abwesend sind: Figuren der Mutter oder der Schwester oder der Tochter. Für eine Analyse der Rolle insbesondere von schwarzen Frauen und ihre Bedeutung für subalterne (care-)Netzwerke vgl. Hill Collins (2000), zuletzt prägnant das Konzept des revolutionary mothering in Gumbs et al. (2016).
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Stoler, Ann Laura. 1995. Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things. Durham: Duke University Press. Taylor, Chloe. 2017. The Routledge Guidebook to Foucault’s The History of Sexuality. London: Routledge. Van Ussel, Jos. 1970. Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft. Reinbek: Rowohlt.
Daniel Loick ist Associate Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam.
„Im Innern einer Macht“ über Körper und Leben In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) Gundula Ludwig
1 Einleitung Michel Foucaults Denken zeichnet sich durch kontinuierliche Verschiebungen aus, in denen Foucault sich „wie ein Krebs […] seitwärts“ (GBP 116) bewegt und in denen er in den Antworten die Prämissen der Fragestellung verschiebt. Diese Suchbewegungen sind in der Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft von 1975/76 besonders deutlich zu erkennen. Foucault bewegt sich hier – durchaus seitlich – zwischen einem Abschluss seiner vorangegangenen Forschungsstränge und einem Übergang zu jenen machttheoretischen Verschiebungen, die er in der Folge vollziehen wird. Bereits am Ende der Vorlesungsreihe Die Anormalen (AN 429) hatte er angekündigt, dass die Vorlesungen im darauffolgenden Jahr einen Abschluss jener Arbeiten bilden werden, die er seit 1970 verfolgt hatte. In der Tat bilden die Vorlesungen von 1975/76 einen Schlusspunkt der genealogischen Analyse, die er 1970/71 mit der Vorlesung Der Wille zum Wissen begonnen hatte. Zugleich verweisen sie auch auf eine machttheoretische Neuausrichtung, die sich in der letzten Vorlesung am 17. März 1976 abzeichnet, als Foucault bei der Bio-Macht anlangt, mit der nicht mehr das Moment der Abschöpfung, sondern der Produktion des Lebens im Zentrum steht. Diese Neuerung deutet sich In Verteidigung der Gesellschaft jedoch nur an, da Foucault noch nicht in der Lage ist, sie zur Gänze auszuformulieren. Dies wird erst gelingen, nachdem er nach einem Freisemester mit den Vorlesungen zu Sicherheit, Territorium, Bevölkerung 1977/78 ans Lehrpult am Collège de France zurückkehrt (Defert 2000; Lemke 1997, 128; Stoler 1995, 57). Erst dann wird Foucault die theoretische „Sackgasse“
G. Ludwig (*) Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS), Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_7
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(Deleuze 1993; s. a. Ewald 1989) verlassen können, in der er sich Mitte der 1970er Jahre auch selbst sah. Die genealogischen Suchbewegungen, die er in den Vorlesungen von 1975/76 vorstellt, sind allerdings ein bedeutender Schritt, die Foucault zu diesem Ausweg hinführen. Aus dieser Perspektive sind die Vorlesungen von 1975/76 beides: Abschluss und Passage.
2 Die Umkehrung der ‚Richtung der Analyse‘: Foucaults machtanalytischer Wendepunkt Foucault eröffnet den Vorlesungszyklus 1975/76 mit einem Innehalten und Nachdenken über seine vorangegangenen Forschungen. So führt er gleich zu Beginn die Absicht an, „einen Schlußstrich“ (VG 15) unter die Serie von Forschungen über die Geschichte des Strafvollzugs, der Psychiatrie, der Sophistik, der Sexualität und der Anomalie ziehen zu wollen, die ihn in den vergangenen Jahren beschäftigt hatten: All dies tritt auf der Stelle und kommt nicht vorwärts; alles wiederholt sich und bleibt unverbunden nebeneinander stehen. Im Grunde wird immer dasselbe gesagt und besagt vielleicht gar nichts; es verknäult sich zu einem kaum zu entziffernden Wirrwarr, der sich schwerlich organisieren läßt; kurz: es führt, wie man so schön sagt, zu nichts. (VG 16)
Zu Beginn der Vorlesungen im Jahr 1976 scheint Foucault an einem Punkt angelangt zu sein, an dem er die Archäologie des Gegen-Wissens aus machttheoretischer Perspektive nicht mehr als ausreichend erachtet (VG 26). Vielmehr sucht er nach einer Analytik der Macht. In dieser will er sich freilich vom Anspruch der „globalen Theorien“ (VG 20) abgrenzen, die er der liberalen Theorie ebenso wie der Psychoanalyse und der marxistischen Theorie zuschreibt, und will folglich weder eine juridische Perspektive zum Ausgangspunkt nehmen noch den je lokalen Charakter der Machtbeziehungen unter ein Meta-Ziel der Macht subsumieren. Um in diesem Nachdenken über Macht weiter zu gelangen, eröffnet Foucault die Vorlesungsreihe mit der Einführung eines strategischen Modells von Macht. Dieses soll ihm ermöglichen, Macht weder als Recht, über das man wie ein Gut verfügen kann, noch als homogenes Gebilde, das von einer übergeordneten Instanz wie dem Staat oder der Ökonomie abgeleitet werden kann, zu betrachten. Macht als eigenständiges Phänomen ohne zugrundeliegende, andersartige Realität, respektive Macht „in sich selbst“ (VG 31), kann, so Foucault, nur als „Entfaltung von Kräfteverhältnissen“ (VG 31 f.) gefasst werden. „Macht ist immer nur eine Relation, die ausschließlich als Funktion der Begriffe studiert werden kann und muß, welche diese Relation ausmachen“ (VG 200). Diese machtanalytische Wende führt Foucault dazu, die berühmte Aussage von Carl von Clausewitz, dass der Krieg die bloße Fortsetzung der Politik sei, umzukehren und Macht als „mit anderen Mitteln fortgesetzter Krieg“ zu untersuchen (VG 32). Damit gelangt er zur „Hypothese Nietzsches“ (VG 33): Nicht mittels Fragen der Legitimität und Illegitimität, sondern durch das Prisma von „Kampf,
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Konflikt oder Krieg“ (VG 32) müsse man sich der Macht nähern. Damit hat Foucault sein Vorhaben für die Vorlesungsreihe benannt: „Ich möchte untersuchen, in welchem Maße das binäre Schema von Krieg, Kampf und Zusammenstoß der Kräfte tatsächlich als Grundlage der Zivilgesellschaft, zugleich als Prinzip und Motor der Ausübung politischer Macht aufgewiesen werden kann“ (VG 35). Angetrieben wird Foucault in seinem Vorhaben, Macht aus dem juridischen Denken zu lösen, freilich nicht von der Suche nach einer Ontologie der Macht, sondern einer Genealogie von Macht. Auch geht es in den Vorlesungen von 1975/76 nicht darum, das juridische Modell mit dem Kriegs-Modell zu ersetzen, sondern Macht genealogisch zu analysieren. „Wie, ab wann und warum fing man an sich vorzustellen, daß es der Krieg ist, der unterhalb und innerhalb der Machtbeziehungen funktioniert?“ (VG 63), wird daher zu Foucaults zentraler Frage. Er untersucht nicht – wie etwa Hobbes – den Krieg selbst, sondern den Diskurs um den Krieg, dessen Auftauchen sowie seine Wandlungen. Foucaults machtanalytischer Wendepunkt hat, wie auch Thomas Lemke hervorhebt, weniger theoretisch-spekulative als historisch-konkrete Gründe. Es ist die Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die eine solche Form der Analyse zugleich ermöglicht und erfordert. Wie die juridische Form der Analyse an die feudalen Gesellschaftsformationen gekoppelt war, so ist das strategische Modell an bürgerliche Gesellschaften gebunden. Der Wechsel des Erklärungsmodells vollzieht daher auf der Ebene der Theorie die historischen Veränderungen in der Ordnung der Machtmechanismen nach. (Lemke 1997, 105)
Daniel Defert situiert die Vorlesungsreihe 1975/76 ähnlich als eine Beschäftigung mit „einer der Modalitäten des Macht-Wissens als Form“ (Defert 2000, 264) und schlägt daher den Begriff des Dispositivs vor, um hervorzuheben, dass die Vorlesungen nicht eine Analyse des Krieges zum Gegenstand haben, sondern „der ‚Kriegsform‘“ (Defert 2000, 264, Hervorhebung GL). Obgleich Foucault den Begriff des Dispositivs erst in Der Wille zum Wissen (1976) einführt, scheint mir diese von Defert vorgenommene Akzentuierung angemessen, um den Gegenstand der Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft zu beschreiben – als „Dispositiv des Krieges in der Analyse sozialer Diskurse“ (Defert 2000, 264).
3 Die Genealogie des Kriegsdispositivs An der „Schwelle zur Neuzeit“ (VG 64), als in Europa die Kleinkriege rückläufig wurden und sich die Gewalt immer mehr im Staat zentralisierte, siedelt Foucault die Herausbildung eines neuartigen Diskurses an. Im 17. Jahrhundert nahm ein „politisch-historischer Diskurs“ (VG 65) Form an, der sich als Abgrenzungsbewegung gegenüber dem „philosophisch-juridischen Diskurs“ (VG 65) verstand und der den Krieg und die Schlacht zu einem Analyseraster für Geschichte wie Machtbeziehungen erhob. Foucault zeichnet das Heraufkommen dieses Diskurses an zwei Schlüsselmomenten nach: im vor- und revolutionären England um 1630, als die Puritaner und Leveller sich gegen die Vorherrschaft der absolutistischen
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Monarchie und Aristokratie wandten, und in Frankreich um 1680, als sich die französische Aristokratie gegen Ludwig XIV in Stellung brachte. In diesen beiden so unterschiedlichen Konstellationen wird der Gesellschaftskörper nicht mehr als „pyramidenförmig oder hierarchisch“ (VG 106) oder als „zusammenhängende[r] einheitliche[r] Organismus“ (VG 106) imaginiert, sondern als „aus zwei nicht nur vollkommen verschiedenen, sondern einander entgegengesetzten Teilen“ (VG 106) bestehend. Diese Binarität der Gesellschaft wurde als Aufteilung in zwei feindliche ‚Rassen‘ gefasst (VG 79). So setzten die Puritaner und die Leveller in der Volksbewegung in England um 1630 die Selbstbezeichnung als historisch ‚erste Rasse‘ gegen die Vorherrschaft der absolutistischen Monarchie und Aristokratie ein, ebenso wie die französische Aristokratie um 1680 gegen Ludwig XIV ins Feld führte, dass die Monarchie lediglich mit Gewalt gegen die ‚erste Rasse‘ durchgesetzt wurde. Der Begriff der ‚Rasse‘, wie er im 17. Jahrhundert Verwendung fand, war frei von jedweder biologischen Bedeutung und entfaltete sich lediglich „in einem politischen […] Horizont“ (Defert 2000, 267). ‚Rasse‘ in einem prä-biologischen Sinne bezeichnete zwei Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen oder Religionen (VG 79). ‚Rasse‘ existierte in diesem Kontext nur im Plural. Als Einsatz im „Krieg der Rassen“ (VG 79) galt, die Gesellschaft gegen die Macht der jeweils anderen ‚Rasse‘ zu verteidigen, indem deren Anspruch zurückgedrängt werden sollte. Sowohl in England als auch in Frankreich verstand sich der Diskurs über den „Krieg der Rassen“ (VG 79) als Gegenhistorie und Gegendiskurs. Er wurde eingesetzt, um die herrschende philosophisch-juridische Erzählung der universalisierenden Souveränität des monarchischen Absolutismus zu durchkreuzen und den juridisch-historischen Anspruch auf Macht zu kritisieren. Vom englischen Volk wie von der französischen Aristokratie wurde die Figur des die Gesellschaft unterteilenden „binären Schemas“ (VG 136) als „Infragestellung der königlichen Macht“ (VG 77) und als „eine Politik der Revolte und der Revolution“ (VG 106) vorgebracht. Der Rekurs auf zwei sich im Krieg befindende ‚Rassen‘ wurde als Schneise und Bruch in die herrschende Ordnung eingesetzt, indem der hegemonialen Ordnung, in der sich das englische Volk und die französische Aristokratie nicht repräsentiert sehen wollten, eine andere Ordnung entgegengesetzt wurde. Im 19. Jahrhundert wandelte sich der Kriegsdiskurs in ebenso einschneidender wie folgenschwerer Weise: Der politisch-kriegerische Diskurs transformierte sich in einen medizinisch-biologischen. Das Fundament für diesen Wandel lieferte der darwinsche evolutionstheoretische Diskurs1. Der medizinisch-biologische Diskurs führte zu einer Neudefinition der ‚Rassen‘ und zu einer Neuanordnung der
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hält jedoch „weniger die Theorie Darwins selbst als die Gesamtheit, das Bündel von Begriffen (wie die Hierarchie der Arten auf dem Stammbaum der Evolution, der Kampf ums Dasein zwischen den Arten, die Zuchtwahl, die die am wenigsten Angepaßten aussondert)“ (VG 303) für verantwortlich.
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beiden Gruppen: Die ‚Rassen‘ im Plural gingen in die ‚Rasse‘ im Singular, die Bedrohung vom Außen ins Innere über. Fortan wurde die Vorstellung leitend, „daß die andere Rasse im Grunde nicht eine ist, die von woanders herkommt und eine Zeit lang triumphiert und geherrscht hat, sondern eine, die ohne Unterlaß und auf Dauer in den Gesellschaftskörper eindringt oder vielmehr im sozialen Gewebe und ausgehend von ihm beständig neu entsteht“ (VG 80). Die Konfrontation der ‚Rassen‘ ist nicht länger eine äußere, sondern eine zwischen einer „Überrasse“ (VG 80) und einer „Unterrasse“ (VG 80) im Inneren der Gesellschaft. Mit dem Auftreten des „biologisch-sozialen Rassismus“ (VG 80) wurde Gesellschaft zu einer biologischen Entität, zu einem sozialen Körper mit inhärenten Gefahren. Nicht mehr galt, sich gegen eine einem selbst feindlich entgegengesetzte Gesellschaft zu verteidigen, sondern die Gesellschaft zu verteidigen (VG 81) – mit einer gewichtigen Konsequenz: Im Krieg wird es von nun an um zwei Dinge gehen: nicht nur einfach darum, den politischen Gegner, sondern die gegnerische Rasse, diese Art biologische Gefahr, welche das Gegenüber für unsere Rasse darstellt, zu zerstören. Sicherlich handelt es sich hier in gewisser Weise nur um die biologische Extrapolation des Themas des politischen Feindes. Aber darüber hinaus wird der Krieg – das ist absolut neu – am Ende des 19. Jahrhunderts als Möglichkeit erscheinen, nicht nur die eigene Rasse durch Beseitigung der gegnerischen Rasse zu stärken (entsprechend der Themen der Selektion und des Kampfes ums Dasein), sondern die eigene Rasse auch zu regenerieren. Je zahlreicher jene sein werden, die durch uns umkommen, um so reiner wird die Rasse sein, der wir angehören. (VG 304)
Rassismus als Modus permanenter innerer ‚Reinigung‘ wird zu einem grundlegenden Element der Gesellschaft. Das Eindringen des „biologisch-sozialen Rassismus“ (VG 80) in den Kriegsdiskurs wies auch dem Staat eine neue Rolle im Kriegsdispositiv zu: Während der historisch-politische Diskurs der ‚Rassen‘ sich gegen den Staat und seine Apparate gerichtet hatte, da der Staat als Herrschaftsinstrumente der einen ‚Rasse‘ über die andere galt, wurde der biologisch-soziale Diskurs der ‚Rasse‘ „eine Waffe in den Händen des Staates“ (Folkers und Lemke 2014, 16). Der im 19. Jahrhundert auftretende Rassismus „mündete“ in den „Staatsrassismus“ (VG 81). War der Staat im „‚nichtrassistischen Rassediskurs‘“ (Stingelin 2000: 18) Adressat und Terrain des Kampfes, wurde er mit dem Aufkommen des Staatsrassismus zu jener Instanz, die sich dem Schutz der einen ‚Rasse‘ verschreibt. Staatsrassismus wurde zu einer Taktik „in the internal fission of society into binary oppositions, a means of creating ‚biologized‘ internal enemies, against whom society must defend itself“ (Stoler 1995: 59). Damit besetzte der Staat jenen Diskurs des Krieges, der im 17. und 18. Jahrhundert noch Gegenwissen war.
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4 Bio-Macht, Rassismus und Staat Über die Analyse der Transformation des historisch-politischen Diskurs des Krieges zum biologisch-medizinischen gelangt Foucault in der letzten Vorlesung zur Einführung der Bio-Macht, deren Herausbildung im 19. Jahrhundert er nachzeichnet (VG 286). Zielscheibe der Bio-Macht ist ein „neuer Körper: ein multipler Körper mit zahlreichen Köpfen“ (VG 289): die Bevölkerung. Während die Disziplinen sich an die „Körper-Menschen“ richten, adressiert die Bio-Macht den „GattungsMenschen“ (VG 286). Während die souveräne Macht über das Recht, „sterben zu machen oder leben zu lassen“ (VG 284) wirkt, operiert die Bio-Macht über Techniken, die darauf abzielen, „leben zu ‚machen‘ und sterben zu ‚lassen‘“(VG 284). Aus der Macht des Todes wird eine Macht des Lebens, deren Gegenüber nicht Rechtssubjekte, sondern Lebewesen sind. Die Bio-Macht macht das Leben zum Einsatz politischer Strategien und zielt über statistische Erhebungen zur Demographie, die Medikalisierung der Gesellschaft und die Verbreitung der Hygiene auf die Vermehrung der Kräfte der Bevölkerung. Nicht aber tritt die Bio-Macht bloß neben die Disziplinarmacht und die souveräne Macht. Vielmehr eröffnet die Einführung der Bio-Macht Foucault eine Perspektive, durch sie hindurch die Disziplinar- und Souveränitätsmacht neu zu denken. Mit der Einführung der Bio-Macht gerät Foucault in die Lage, die Disziplinen aus dem Kontext der individuellen Dressur herauszulösen und als Techniken der Bio-Macht auf die gesamte Bevölkerung zu beziehen. Die Disziplinen werden zu Techniken innerhalb der Bio-Macht, die sich zugleich auf das Individuum und die Bevölkerung beziehen. Die Bio-Macht „umfaßt“ und „integriert“ (VG 285) die Disziplinarmacht. Auch das Recht zu töten (in einem weiten Sinn)2 geht in veränderter Form in die Bio-Macht ein. Voraussetzung dafür ist, dass eine Antwort auf ein Bündel von Fragen gefunden wird: Wie kann eine solche Macht töten, wenn es stimmt, daß es im wesentlichen darum geht, das Leben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern, seine Möglichkeiten zu vervielfachen, Unfälle fern zu halten oder seine Mängel zu kompensieren? Wie ist es einer politischen Macht unter diesen Bedingungen möglich zu töten, den Tod zu fordern, den Tod zu verlangen, zu töten, den Tod zu befehlen, nicht nur seine Feinde dem Tod auszusetzen, sondern sogar die eigenen Bürger? Wie kann diese Macht, die wesentlich die Hervorbringung von Leben zum Ziel hat, sterben lassen? (VG 300)
Die Antwort sieht Foucault im Rassismus, dem er eine „vitale Bedeutung“ (VG 303) für die Bio-Macht zuspricht, was in der Foucault-Rezeption oft nur marginale
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vertritt ein weites Verständnis des Todes und meint nicht nur den direkten Tod, „sondern auch alle Formen des indirekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes ausliefern, für bestimmte Leute das Todesrisiko oder ganz einfach den politischen Tod, die Vertreibung, Abschiebung usw. erhöhen“ (VG 303).
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Erwähnung findet (siehe dazu auch Balibar 1991, 44; Lemke 2000, 161; Magiros 1995; Stingelin 2000; Stoler 1995, 19). Rassismus ist die Voraussetzung für das Töten innerhalb der Bio-Macht und treibt sie zugleich an. Rassismus ist notwendig mit der Bio-Macht verbunden, ist ihre Kehrseite (VG 302). Er erlaubt es auf zweierlei Weisen, die Macht zu töten in die Bio-Macht zu integrieren. Beide Funktionen sind Reaktivierung wie Transformation der Kriegslogik zugleich. Als erste „Funktion des Rassismus“ (VG 301) identifiziert Foucault die Aufteilung des biologischen Kontinuums. Der Rassismus ermöglicht es, eine „Zäsur einzuführen […] zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muß“ (VG 301). Die zweite Funktion besteht darin, den Pol des Todes mit dem Pol des Lebens zu verbinden: Der Tod des Anderen wird zur Bedingung des Lebens und dem „Leben und Besser-leben“ (STB 486) der ‚eigenen Rasse‘. „Der Tod des Anderen bedeutet nicht einfach mein Überleben in der Weise, daß er meine persönliche Sicherheit erhöht; der Tod des Anderen, der Tod der bösen ‚Rasse‘, der niederen (oder degenerierten oder anormalen) ‚Rasse‘ wird das Leben im allgemeinen gesünder machen; gesünder und reiner“ (VG 302). In dieser zweiten Funktion des Rassismus sieht Foucault nicht nur einen neuen Inhalt, sondern eine neue Technik der Macht im Kriegsdispositiv: Erst mit dem biologisch-medizinischen Diskurs wird die Eliminierung und Auslöschung der Anderen zur Bedingung der Reinigung des Eigenen. Das wechselseitige Durchdringen von Bio-Macht und Rassismus wird über den Staat gesichert. Der Rassismus zieht „in die Mechanismen des Staates ein“ (VG 301). Im nationalsozialistischen Staat zeigte sich der Staatsrassismus in seiner ausgeprägtesten Form. Hier kam es zur „vollkommenste[n] Entfesselung der Tötungsmacht“ (VG 306), die sich auf all jene richteten, die als ‚Rassenfeinde‘ galten und zugleich zur präzisesten Überwachung und Regulierung des Lebens all jener, die der ‚arischen Rasse‘ angehörig galten. Im Nationalsozialismus wurde die „BioMacht absolut verallgemeinert, aber gleichzeitig das souveräne Recht zu töten generalisiert“ (VG 307). Foucaults Pointe besteht darin, Rassismus als Machttechnik des modernen westlichen Staates sichtbar zu machen. Rassismus lässt sich nach Foucault weder auf „Verachtung oder Haß zwischen den Rassen“ (VG 305) noch auf „eine Art ideologische[] Operation“ (VG 305) reduzieren, sondern ist „Technik der Macht“ (VG 305) des Staates. Aufgabe des Staates ist der „Rassenschutz“ (VG 102). In diesem Eingelassensein des Rassismus in den Staat zeigt sich – obgleich in transformierter Weise – die Logik des Krieges wieder, die die alte Souveränitätsidee reaktiviert, gegen die sich der Kriegsdiskurs in seinem Ausgang im 17. Jahrhundert gerichtet hatte. Verstand sich der Kriegsdiskurs in seinen Anfängen als „Kampfinstrument für dezentrierte Lager“ (VG 80), wird er durch den Eintritt des Biologischen in die Politik „rezentriert“ (VG 80). Durch den Staatsrassismus kann der Staat den souveränen Anspruch der Universalität und der Einheit des in ihm repräsentierten Volkes nicht nur über den juridisch-philosophischen, sondern auch über den kriegerisch-biologischen Diskurs sichern. Über den Staatsrassismus kann der Staat die Macht des Universellen beanspruchen, die ihn als biopolitischer Staat auch mit der Macht zum Töten ausstattet.
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Am Ende des Vorlesungszyklus macht Foucault somit eine paradoxe Bewegung innerhalb des Kriegsdispositivs sichtbar: Der Kriegsdiskurs im 17. Jahrhundert bildete sich als kritische Intervention und Taktik gegen die Idee der Souveränität heraus. Bis ins 19. Jahrhundert war der Einsatz der Schlacht der ‚Rassen‘ GegenHistorie, Gegen-Wissen, Gegen-Diskurs. Als Staatsrassismus, zu dem sich der Kriegsdiskurs im 19. Jahrhundert gewandelt hatte, wurde nicht nur das Historische ins Biologische, die Binarität der ‚Rassen‘ in eine ‚Unterrasse‘ und ‚Überrasse‘, die Kämpfe gegeneinander in das Töten der Anderen überführt, sondern auch die Souveränität und Universalität des Staates und im Staat gesichert. Wie Ann Laura Stoler hervorhebt, liegt in diesem Sichtbarmachen nicht der Brüche, sondern der Wandelbarkeit von Macht eine Stärke der Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft (Stoler 1995, 89). Foucault geht es nicht darum zu zeigen, wie Machttechniken sich in Brüchen herausbilden, sondern wie die Mächtigkeit von Machttechniken in deren Dynamik liegt: Using a substitutional set of terms (reinscription, recuperation, recovery, reimplantation, encasement), he identifies how racial discourse underwent micro- and macrotransformations: from a discourse on war proper to a war conceived in biological terms; from a power based on discipline to one transfigured into normalization; from a discourse that opposed the state to one annexed by it; from an ancient sovereign right to kill converted into a deadly principle in the modern state’s biopolitical management of life; from racial discourse as the nobility’s defense against the state into a discourse in which the state intervenes to defend society against itself. (Stoler 1995, 89)
In den Vorlesungen geht es Foucault also nicht darum, das Verschwinden des kriegerischen Gegen-Diskurses aufzuzeigen, sondern die Wege nachzuzeichnen, wie ein als Gegen-Wissen eingesetzter Diskurs zum Staatsrassismus werden konnte. Die Transformation der ‚Rassenkriege‘ vom Plural in den Singular beschreibt Foucault als Reaktion auf eine sich im Übergang zum 19. Jahrhundert andeutende beginnende revolutionäre Form des ‚Rassenkriegs‘ – nämlich der Übernahme des Topos des ‚Rassenkrieges‘ durch den Klassenkrieg. Der Kriegsdiskurs wird just dann biologisch-rassistisch, als er dabei ist, in einen revolutionären Diskurs des ‚Rassenkampfes‘ als Klassenkampf überzugehen (VG 100). Hier identifiziert Foucault den Ausgang für die Gegenbewegung zum Kriegsdiskurs als GegenDiskurs. Das Aufkommen des Klassenkampfes als ‚Rassenkampf‘ und mithin die Fortsetzung des historisch-politischen Diskurses als Einsatz gegen eine universalisierende Vorstellung des Souveräns wird durch die Entwicklung des biologischen Rassismus ausgebremst. Foucault argumentiert aber nicht, dass der Staatsrassismus sich als „ideologisches Gebäude“ (VG 101) herausgebildet habe, das die Arbeiter*innen von ihrem Klassenkampf ablenken solle, sondern dass es dem biologischen Rassismus gelungen sei, Elemente des Kriegsdiskurses aufzunehmen und zu einer neuen Technik der Macht umzuformen. In diesem Licht wird die Geburt des Staatsrassismus auch als eine Technik der Macht entzifferbar, die durch einen totalitären und tödlichen Anspruch die im Kriegsdiskurs angelegte Dynamik des Gegen-Wissens stillstellen konnte.
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5 „Im Innern einer Macht“ über Körper und Leben In der ersten Vorlesung am 7. Januar 1976 hatte Foucault als Programmatik festgelegt: „Den Machtwirkungen, wie sie einem als wissenschaftlich betrachteten Diskurs eigen sind, muß die Genealogie den Kampf ansagen“ (VG 24). Dies bleibt die Absicht des Vorlesungszyklus: Über die Sichtbarmachung von disqualifiziertem, verdecktem Wissen rekonstruiert Foucault das Kriegsdispositiv. Genealogisch setzt er also eine Gegenerzählung zum souveränen Machtmodell ein. Dabei zeichnet Foucault nach, wie sich eine als Gegen-Wissen formulierte Perspektive auf die Geschichte und Machtbeziehungen in eine Technik der Machtausübung wandelte. Auf diese Weise gelangt er zur Bio-Macht und zum Staatsrassismus. Noch eine letzte Verschiebung wird vor diesem Hintergrund möglich, die Foucault in der letzten Vorlesung am 17. März 1976 vollzieht: Indem er die Gesellschaft durch das Prisma der Bio-Macht betrachtet, begreift Foucault die westliche Gegenwartsgesellschaft nicht mehr nur als Disziplinargesellschaft sondern auch als „Normalisierungsgesellschaft“ (VG 299). Letztere ist nicht bloß die Verallgemeinerung der ersten, sondern eine Gesellschaft, in der sich die „Norm der Regulierung“ und die „Norm der Disziplin“ (VG 299) miteinander verknüpfen. „Wir befinden uns somit im Innern einer Macht, die den Körper und das Leben vereinnahmt oder die das Leben im allgemeinen […] mit den Polen des Körpers auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite in Beschlag genommen hat“ (VG 299). Diese Macht operiert über „einen Korpus von Normen, der Abweichungen qualifiziert, Differenzen bewertet und Interventionen strukturiert“ (Lemke 2000, 162). Die Medizin wird dabei zu einem wichtigen Macht-WissenKomplex der Normalisierungsgesellschaft: Als „politische[n] Technik der Intervention“ (VG 298) stellt sie das Wissen über die Normen der Körper und des Lebens bereit. Foucault macht in In Verteidigung der Gesellschaft sichtbar, wie sich eine Machtform herausbildet und in den Staat eingeht, die die Anordnung der Subjekte in der Normalisierungsgesellschaft durch eine spezifische Aufteilung der Körper hervorbringt und legitimiert. Die multiplen Techniken, mit denen die Bio-Macht „das Leben in Beschlag“ (VG 299) nimmt, wirken ebenso durch die Körper hindurch, wie die Zäsur zwischen denen, die leben sollen, und denen, die sterben müssen. Körper werden so zum Terrain und Körperpolitiken zu Techniken der binären Aufteilung der Gesellschaft. Die Verteidigung der Gesellschaft bringt eine Aufteilung der Körper hervor, verbindet die Körper in spezifischer Weise miteinander und setzt sie in ein Verhältnis zum Staat: Die einen gelten als schützenswert, die anderen müssen (in einem weiten Sinne) getötet werden, damit Erstere leben und besser leben können. Wie Foucault ausführt, stellt der Sex das Scharnier zwischen den Disziplinen und der Regulierung der Bevölkerung dar. „Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung“ (SW1, 141; siehe auch VG 296 f.). Der Sex ermöglicht darüber hinaus die Konstitution eines ‚eigenen
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Körpers‘. Wie Foucault in Der Wille zum Wissen ausführt, liegt ein Effekt des Sexualitätsdispositiv darin, dass das moderne Subjekt dadurch lernt, „einen Körper zu haben“ (SW1 137). Die Figur des eigenen Körpers ist ein wichtiges Pendant der Bio-Macht, da darüber die Subjekte zur Sorge um ihr ‚Leben und Besserleben‘ angeregt werden (vgl. dazu Lorey 2007; Ludwig 2011, 118–120). Grundlage der Bio-Macht ist eine Vorstellung von Körpern nicht als interkorporeales Gefüge, das erst in Beziehungen zu anderen Körpern, Subjekten, Institutionen zu einem je spezifischen Körper wird, sondern als autarke, abgeschlossene Einheit. Die Bio-Macht beruht somit auf einer phantasmatischen Voraussetzung von Körpern (Ludwig 2015) und folglich auf einer fundamentalen Leugnung dessen, was Judith Butler als geteiltes ‚Prekär-Sein‘ konzipiert. Prekär-Sein begreift Butler als sozialontologische Bedingung von Leben, das eine existentielle Gemeinsamkeit aller Menschen darstellt, die sich aus der fundamentalen Sozialität des leiblichen Lebens ableiten lässt (Butler 2005). Butler geht daher von einer sozialen Ontologie der Körper aus, die die „Gefährdung, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, wechselseitige Abhängigkeit, Exponiertsein“ (Butler 2010, 10) umschließt. Wenngleich Prekär-Sein eine sozialontologische Bedingung aller Menschen ist, führen rassisierende, heteronormative, geschlechtliche, ability-zentrierte Machtverhältnisse zu einer ungleichen Verteilung des Prekär-Seins. Diese politische Gefährdung von bestimmten Leben ist Teil der BioMacht. Die Bio-Macht bringt nicht nur eine hierarchische Verteilung des Prekär-Seins hervor, sondern verwaltet im Tod der Anderen als Voraussetzung für das ‚eigene‘ Wohl das geteilte Prekär-Sein aller macht- und gewaltvoll. Der Tod der ‚Anderen‘ ist die Zuspitzung des hegemonialen Umgangs mit dem geteilten Prekär-Seins. Voraussetzung für die Bio-Macht ist es, die fundamentale Verwiesenheit und Verletzbarkeit aller mittels rassisierender, vergeschlechtlichter, heteronormativer und ability-zentrierter Machttechniken lediglich jenen zuzuschreiben, die zu Anderen gemacht werden. Nur wenn auf diese Weise Körper in Abgrenzung und Autonomie zueinander gedacht werden, kann der Tod derer, die als abweichende Andere konstituiert werden, zur Bedingung für das eigene Wohl werden. Die Tötung (im weiten Sinn) der Anderen stellt aus dieser Perspektive die Voraussetzung dafür dar, dass diejenigen, deren ‚Leben und Besser-Leben‘ geschützt wird, die wechselseitige Verwiesenheit verdrängen können und das Phantasma eines eigenen Körpers sich fortschreiben lässt. Noch eine zweite Weiterentwicklung von Foucaults machttheoretischen Ausführungen in In Verteidigung der Gesellschaft sei hervorgehoben: Obwohl Foucault seine Vorlesungen aus dem Jahr 1975/76 explizit auch als Auseinandersetzung mit Rassismus verstanden wissen will, weist seine Genealogie eine gewichtige Leerstelle auf, denn der Fokus liegt ausschließlich auf Europa. Foucault richtet seinen Blick weder auf die Machtformationen in den Kolonien noch auf die konstitutive Verwobenheit der europäischen Moderne mit den Macht- und Gewaltverhältnissen in den Kolonien. Damit schreibt er die Fiktion fort, dass eine Genealogie der Machtbeziehungen innerhalb abendländischer Gesellschaften mit dem ausschließlichen Augenmerk auf ebendiese geschrieben werden könne (zur
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Kritik daran u.a. Chakrabarty 2000; Conrad und Randeria 2002). Interessanterweise erwähnt Foucault zwar, dass sich der biologische Rassismus „zunächst mit der Kolonisierung, d. h. dem kolonisatorischen Völkermord“ entwickelte (VG 304), und führt an anderer Stelle an, dass es eine „Art Rückwirkung der Kolonialpraxis auf die rechtlich-politischen Strukturen des Abendlands“ (VG 126) gab, verfolgt diese Überlegungen aber nicht systematisch weiter (Stoler 1995; Mbembe 2003; Rasmussen 2011). Diese Leerstelle hat Ann Laura Stoler aufgegriffen und gezeigt, wie die Kolonien als „laboratories of modernity“ (Stoler 1995, 15) in eine Genealogie der Bio-Macht miteinbezogen werden müssen. Denn der Kolonialismus war formierend für den europäischen Staatsrassismus (Stoler 1995, 28). Der Diskurs um die ‚Reinheit des Blutes‘ der ‚eigenen Rasse‘ entstand nicht erst in Europa des 19. Jahrhunderts, wie Foucault argumentiert, sondern bereits seit dem 16. Jahrhundert in den Kolonien. Wie Stoler anhand der Kolonien in Dutch East India darlegt, war die Überwachung der ‚Reinheit‘ des ‚weißen Blutes‘ und die detaillierte Befassung mit der Aufgabe, wie die ‚Vermischung‘ der ‚Rassen‘ in den Kolonien verhindert werden könne, zentral für das imperiale Projekt der kolonialen Unterwerfung wie der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten (Stoler 1995, 40–49; siehe auch Castro Varela und Dhawan 2009; McClintock 1995). Darüber hinaus muss aus einer Perspektive, die die Bio-Macht nicht nur innerhalb Europas verortet, noch eine zweite Erweiterung vorgenommen werden: Die Grenzziehung, die der Rassismus vollzieht, und die Dynamik, dass das Wohl der Einen vom Tod der Anderen anhängt, verliefen keineswegs nur innerhalb europäischer Nationalstaaten, sondern wiesen auch eine globale Dimension auf; diese stellt wiederum eine grundlegende Dynamik des Kolonialismus dar, die sich bis in die postkoloniale Gegenwart fortschreibt. Kolonialismus bedeutet, dass das ‚Leben und Besser-Leben‘ der Kolonisierenden vom Erhöhen des Todesrisikos der Kolonisierten abhängt. Wird Kolonialismus mit Anibal Quijano als „coloniality of power“ (2000) und mithin nicht nur als System der gewaltvollen ökonomischen Ausbeutung verstanden, sondern auch als Machtformation gefasst, die auf die Zurückdrängung, Unterwerfung und Auslöschung aller anderen Lebensweisen abzielt, die aus einer eurozentrischen Perspektive als nicht-zivilisiert gelten, kann der Radius von Foucaults Analyse der Bio-Macht nochmals erweitert werden: Denn das koloniale Projekt umfasste neben dem direkten wie indirekten Tod der Kolonisierten auch die Zurückdrängung, Verunmöglichung und Vernichtung – den Tode also – von Lebensweisen, die als das ‚Andere‘ der europäischen Lebensweise konstruiert wurden. María Lugones (2007) hat dies anhand ihres Arguments, dass Geschlecht eine koloniale Erfindung sei, deutlich gemacht. Sie zeigt, dass ein wichtiges Element des Kolonialismus auch darin bestand, Praxen von Geschlecht und Verwandtschaft auszulöschen, die nicht dem europäischen heteronormativen Ideal der binären, hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit entsprachen (2007, 202). Nach Lugones war diese Vernichtung Voraussetzung dafür, dass sich heteronormative patriarchale Normen global als hegemoniale Lebensweise durchsetzen konnten. Lugones unterscheidet eine „light and a dark side“ (Lugones 2007, 206) im eurozentrischen, kolonialen „gender system“. Die erste Dimension beschreibt sie wie folgt:
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The light side constructs gender and gender relations hegemonically, ordering only the lives of white bourgeois men and women and constituting the modern/colonial meaning of men and women. Sexual purity and passivity are crucial characteristics of the white bourgeois females who reproduce the class and the colonial and racial standing of bourgeois, white men. But equally important is the banning of white bourgeois women from the sphere of collective authority, from the production of knowledge, from most control over the means of production. […] The gender system is heterosexualist, as heterosexuality permeates racialized patriarchal control over production, including knowledge production, and over collective authority. (Lugones 2007, 206)
Die Dimension der ‚dark side‘ konzeptualisiert Lugones als gewaltvolle Vernichtung aller Formen nicht-heteronormativer, nicht-patriarchaler Lebensweisen (Lugones 2007, 206). Beide Dimensionen verweisen aufeinander: Das ‚Leben‘ der patriarchalen Heteronormativität – die ‚light side‘ – hängt vom ‚Tod‘ aller anderen Formen geschlechtlicher Körper und Begehren – der ‚dark side‘ – ab. Die gewaltvolle Vernichtung aller anderen Formen von geschlechtlichem Leben, Körpern, Sexualitäten und Verwandtschaftssystem stellte die Bedingung für das ‚Leben-und-Besser-Leben‘ eurozentrischer Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen dar (Lugones 2007, 206; für die gleiche Dynamik im Kontext des Settler-Kolonialismus in den USA vgl. Morgensen 2010). Wird Foucaults Analyse der Bio-Macht und des Staatsrassismus aus der eurozentrischen Reduktion herausgelöst, zeigt sich, dass beide Funktionen des Rassismus sowohl im kolonialen als auch im postkolonialen Kontext eine globale Dimension aufweisen. Bio-Macht und Staatsrassismus stellen eine Grundlage des Kolonialismus dar. Das ‚Innere einer Macht, die den Körper und das Leben vereinnahmt‘, endet(e) nicht an den Grenzen europäischer Nationalstaaten, sondern ist Teil kolonialer wie postkolonialer Machtformationen. Wenn wir jene Spuren, die bei Foucault angelegt, nicht aber systematisch ausgeführt wurden, zusammenführen, lässt sich folgendes Zwischenfazit ziehen: Dass sich der Rassismus im 19. Jahrhundert als biologischer Staatsrassismus herausbilden und die Bio-Macht zu einem Teil des Staates werden konnte, hatte nicht nur die Umdeutung des Kriegsdiskurses zur Voraussetzung, sondern auch die Durchsetzung eines phantasmatischen Verständnisses von Körpern, das die konstitutive Verwiesenheit verleugnet, sowie einer „coloniality of power“ (Quijano 2000), in der die ‚Reinheit‘ der Körper der Kolonisierenden den Tod der Körper der Kolonisierten verlangte. Erst durch diese globale Kartographie von Körperpolitiken konnte die Aufteilung der Bevölkerung in jene, deren Leben als (vom Staat) schützenswert galt und jene, die nicht leben sollen, hervorgebracht, verbreitet und legitimiert werden.
6 In der Schlacht der Wissen Foucaults Anliegen in In Verteidigung der Gesellschaft ist es nicht, eine Theorie der Macht zu schreiben, sondern eine Analytik der Macht bereitzustellen. Aus dieser Perspektive wird Macht als dynamisches und wandelbares Phänomen
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begreifbar. Für dieses Vorhaben legt Foucault in der Vorlesungsreihe von 1975/76 einen wichtigen Grundbaustein. Zugleich wird er seine Analytik der Macht mit den Gouvernementalitätsvorlesungen 1977/78 und der Einführung des Begriffs des Regierens in einschneidender Weise erweitern. Dieser Übergang zwischen den beiden Vorlesungen ist auch in einem Interview von 1977 sichtbar, in dem Foucault die selbstkritische Frage stellt, ob „Herrschaftsprozesse nicht viel komplexer und komplizierter als Krieg“ sind (DE III/215, 505 f.; siehe auch Lemke 1997, 109; Lorey 2015). Antworten auf diese Frage wird Foucault in den Vorlesungen zu Sicherheit, Territorium, Bevölkerung 1977/78 entwickeln, in denen er sich von der Kriegs-Hypothese lösen und auf diese Weise endgültig in die Lage geraten wird, die Vielfältigkeit von Macht zu konzeptualisieren. Dennoch stellt er in den Vorlesungen von 1975/76 wichtige Einsichten bereit, an denen es sich trotz werksimmanenter Weiterentwicklung festzuhalten lohnt. Nicht nur, da Foucault hier fundamentale Elemente der Genealogie der Bio-Macht beschreibt, sondern auch, da er darin einige politische Reflexionen über Wissensproduktion und Theoriearbeit vorlegt, die abschließend dargelegt werden. Foucaults Kritik an der juridischen Konzeption von Macht ist sowohl theoretisch wie politisch motiviert. Die Verengung der Machtanalyse auf ein juridisches Verständnis fasst er als Teil jener Machtstrategien, die die subtilen wie feinmaschigen produktiven Elemente von Macht als Kampf unsichtbar zu machen versuchen. Kritischen Intellektuellen komme folglich nicht nur die Aufgabe zu, Macht in nicht-juridischer Weise zu denken, sondern auch selbst in die „Schlacht der Wissen gegen die Machteffekte des wissenschaftlichen Diskurses“ (VG 28) einzutreten. Es gehe darum, „eine topographische und geologische Aufnahme der Schlacht zu erstellen“ (DE II/157, 940) und in die Schlachten und Kämpfe zu intervenieren. Diese Notwendigkeit der Intervention in die Kämpfe um Wissen begründet Foucault nicht mit einer metaphysischen Normativität, sondern genealogisch. Denn mit dem Auftreten des Kriegsmodells wird Wissensproduktion und Theoriebildung selbst zum Einsatz in den Kriegen um Wissen und Gegen-Wissen, um Geschichte und Gegen-Historie. „Die Geschichte ist zu einem Wissen um Kämpfe geworden und entfaltet sich und funktioniert in einem Kampffeld: Politischer Kampf und historisches Wissen sind von nun an nicht mehr voneinander zu trennen“ (VG 204). Damit offeriert Foucault bereits vor seinem 1978 gehaltenen Vortrag Was ist Kritik (WK) eine nicht-metaphysische Begründung, warum Wissen emanzipatorisch sein kann – ohne dabei Begründungszusammenhänge bemühen zu müssen, die jenseits der Macht zu suchen wären. Kritisches Wissen ist daher nicht Kontinuität und Ordnung, sondern Diskontinuität und das Schlagen einer Schneise in die bestehende (Wissens-)Ordnung (VG 207). Kritik kann nicht die hegemonialen Parameter von Wissenschaftlichkeit und Wissensordnungen fortschreiben, wie Foucault insbesondere mit Blick auf jenen Strang der zeitgenössischen marxistischen Theorie problematisiert, der Marxismus als Wissenschaft definiert (VG 24). Am Ende der Vorlesungsreihe von 1975/76 kritisiert Foucault in etwas kryptischer Manier den Sozialismus dafür, dass dieser die Bio-Macht nicht nur
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keiner Kritik unterzogen hat, sondern sie aufgegriffen hat und fortschreibt (VG 309). Die Vorstellung schließlich, daß Gesellschaft oder Staat oder das, was an die Stelle des Staates treten sollte, im wesentlichen die Aufgabe hat, das Leben in Beschlag zu nehmen, es zu gestalten, zu vermehren und seine Zufälle zu kompensieren, seine Chancen und biologischen Möglichkeiten zu durchlaufen und einzugrenzen – all das wurde vom Sozialismus, wie mir scheint, übernommen. (VG 309)
Dabei wurde auch der biologische Staatsrassismus übernommen. In der Kritik sowohl an der marxistischen Theoriebildung, wenn sie sich als Wissenschaft verstehen möchte, als auch an einer realsozialistischen Politik, die die Bio-Macht und den Staatsrassismus übernimmt, wird Foucaults Einsatz für eine Form der politischen Wissensproduktion deutlich, die darauf abzielt, Brüche in hegemonialen Macht-Wissens-Formationen zu suchen und diese zu vertiefen. Wenn Foucaults Analyse zutreffend ist, dass Bio-Macht durch Körper hindurch operiert, hat der Vorschlag einer derartigen theoretisch wie politischen Intervention immer auch eine körperliche Dimension: Die Schlacht der Wissen wird auch als Kritik der bestehenden politischen Ordnung der Körper geführt und kämpft für eine andere Ordnung der Körper. Aus dieser Perspektive gilt es, Formen der Kritik zu entwickeln, die den Eintritt des Biologischen in die Politik und jene Anordnung der Körper bekämpfen, die den Schutz der Einen nur unter der Bedingung des Todes der Anderen möglich macht. Judith Butler stellt in ihren jüngsten Arbeiten zu einer performativen Theorie der Versammlung (2015) für eine derartige Kritik und Praxis wichtige Anregungen bereit. Butlers Überlegungen gründen in der Suspendierung der Annahme, dass Körper souveräne Entitäten seien. Körper sind vielmehr verletzbare Relationalitäten und ein „Modus einer Beziehung“, der notwendig ein „Modus der Enteignung ist“ (Butler 2005, 41): Durch die Verbundenheit mit anderen werden wir zugleich begründet wie enteignet. In einer Gesellschaft der Bio-Macht wird diese wechselseitige Verwiesenheit gewaltvoll über die politische „Derealisierung des ‚Anderen‘“ (Butler 2005, 51) bearbeitet, die zugleich Bedingung des ‚Lebens und Besser-Lebens‘ des ‚Eigenen‘ ist. Rassismus, Kolonialismus und eine heteronormative Geschlechterordnung sind dabei Techniken der Macht, die diese Aufteilung der Körper ermöglichen und legitimieren. Die fortwährende Notwendigkeit, diesen macht- und gewaltvollen Umgang mit der wechselseitigen Verwiesenheit der Körper sichtbar zu machen und Wege seiner Überwindung zu suchen, lässt sich als politisches Fazit aus Foucaults Vorlesungszyklus von 1975/76 gewinnen.
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„Im Innern einer Macht“ über Körper und Leben
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Gundula Ludwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an der Universität Bremen.
Der Anteil des Gegen-Verhaltens an Revolte und Revolution. Foucaults lange Geschichte der Gouvernementalität Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1977/78) Friedrich Balke 1 Das politische Hirtenamt Warum eigentlich ist die große Französische Revolution ‚gescheitert‘, wie Hannah Arendt in ihrem Buch Über die Revolution behauptet hat? Arendts Antwort lautet bekanntlich: weil sie die soziale Frage zu lösen versuchte, die politisch nicht zu lösen sei oder doch nur, wenn die Revolution selbst ihren politischen Freiheitsbezug aufgibt und das öffentliche Wohl (salut publique) einer diktatorischen Kompetenz überantwortet (Arendt 1986, 73–146). Weil Arendt ihren Begriff des Politischen von der griechisch-römischen Tradition ableitet, tut sie sich schwer, den spezifisch christlichen Beitrag zur Revolutionsgeschichte anzuerkennen. Mit dem Zitat Saint-Justs, das sie als Motto dem zweiten Kapitel ihres Buches voranstellt: „Les malheureux sont la puissance de la terre.“ (Arendt 1986, 73) gibt sie immerhin einen wichtigen Hinweis auf die pastorale Dimension der Französischen Revolution: les malheureux, die Unglücklichen, deren Schicksal die Revolutionäre, die in ihrem Namen handelten, nicht ertrugen und zu wenden versuchten. Lange vor Ausbruch der Französischen Revolution hatten die Monarchen ihre Rolle als Hirten des Volkes eingebüßt. Die Könige kümmerten sich nicht mehr um das Volk. Ihnen fehlte gerade, was Arendt zufolge die Hauptleidenschaft der Revolutionäre werden sollte: das Mitleiden, bekanntlich eine christliche Kardinaltugend, mit den Ausgeschlossenen und Unglücklichen, die auf ihre physische Existenz oder Körperlichkeit zurückgeworfen waren. Das Mitleiden nennt Arendt auch das den „Männern der Revolution“ eigene „leidenschaftliche Mitfühlen“, mit einer in der Rhetorik der Revolution ebenfalls gebräuchlichen Formel: le zèle compatissant (Arendt 1986, 142).
F. Balke (*) Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_8
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Aus Sicht Arendts ist das Mitleiden kein politischer Affekt, denn sie versteht das Politische aus dem griechisch-römischen Horizont. In diesem Punkt wird sie von Foucault bestätigt, der in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität ausführlich die Gründe erörtert, warum die dort im Mittelpunkt stehende pastorale Regierungstechnik grundsätzlich verschieden ist von einer vom Gesetz und der öffentlichen Deliberation her gedachten Politik, wie sie die antike politische Philosophie begründet, die im modernen Kontraktualismus ihre moderne Fortsetzung findet. Das Gesetz und die Figur des Gesetzgebers definieren hier das Politische und rücken es damit in einen Gegensatz zu den pastoralen Regierungstechniken, die das politische Verhältnis nicht primär im Akt der normativen Ordnungsstiftung verankern. Für die ‚Griechin‘ Arendt steht dagegen fest, dass nur freie (ökonomisch unabhängige) Bürger, die gemeinsam über die Verfassung einer politischen Ordnung beraten und entscheiden, als politische Subjekte in Frage kommen, nicht Abhängige, Sklaven, Arme oder eben ‚die Unglücklichen‘. Die moderne Revolution besteht für sie daher im Wesentlichen darin, die soziale Selektivität des politischen Status aufzuheben und damit den institutionellen Zusammenhang des politischen Bürgerrechts mit der ökonomischen Stellung zu beseitigen. Die Unglücklichen der Moderne sind nicht mit den griechischen und römischen Sklaven identisch, die ebenfalls, jedenfalls so lange sie nicht emanzipiert waren, von der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen waren. Die Unglücklichen sind die Ausgeschlossenen, die diesen Ausschluss nicht länger hinzunehmen bereit sind und daher an ihm leiden. Diese Deutung der politischen Antriebskraft der Französischen Revolution ignoriert allerdings, dass dieses für die Moderne konstitutive politische Ereignis nicht vollständig aus einem griechisch-römischen Horizont begreifbar ist, wie Arendt selbst erkennt, wenn sie das Mitleiden der Revolutionäre mit dem ‚armen Volk‘ als einen im Grunde unpolitischen Affekt kritisiert, der die Politik der Dynamik dessen ausliefert, was sie die soziale Frage nennt. Im Anschluss an Michel Foucaults Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität möchte ich im Folgenden die These vertreten, dass der Großen Revolution, die Foucault in seinen Ausführungen ausspart, die Struktur des Pastorats eingeschrieben ist, die er in der ersten Hälfte des Vorlesungszyklus entwickelt. Ihr ‚Scheitern‘ erweist sich als die pastorale Wiedergewinnung der Macht über einen Bereich des politischen Verhaltens, den Foucault in den Vorlesungen als „Gegen-Verhalten“ (contreconduite) oder auch, in Anspielung auf gegenwärtigere Praktiken des politischen Widerstands, als Dissidenz bezeichnet. Das Gegen-Verhalten fasst er als „Kampf gegen die zum Führen von anderen eingesetzten Verfahren“ auf (STB 292). Es ist auffällig, dass Foucault das Gegen-Verhalten, von wenigen Andeutungen abgesehen, die ins 20. Jahrhundert verweisen, nicht über die Schwelle der mittelalterlichen antik-klerikalen Widerstandsformen hinaus verfolgt. Nirgendwo in seinen Vorlesungen stellt er sich systematisch die Frage, wie sich das Spannungsverhältnis von Pastorat und Gegen-Verhalten, von Regierungskünsten und dem Willen der Regierten, nicht so regiert zu werden, unter den Bedingungen einer staatlichen Aneignung des Pastorats entwickelt, die im Zentrum des zweiten Teils der Vorlesungen steht und durch das Ereignis der Abkopplung des Politischen
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von transzendenten Bezugsgrößen und die Entstehung einer „offenen Historizität“ bestimmt ist, auf die eine „unbegrenzte Regierung“ (STB 376) antwortet. Mit der Staatsräson tritt die Politik, systemtheoretisch gesprochen, ins Zeitalter ihrer strukturellen Autonomie ein – was heißt, dass sie nicht mehr im Horizont der religiösen Heilsgeschichte betrieben wird. Zugleich bedeutet diese Abkopplung aber nicht, dass die moderne Politik ihren Bezug zur Pastoratsfigur aufkündigt – insofern lässt sich, entgegen Foucaults initialer Relativierung des Staatsbezugs seiner Überlegungen behaupten, dass der Staat, nachdem er auf konzeptueller Ebene das Monopol des Regierens einbüßt, sich ausgerechnet jene pastoralen Funktionen des Christentums aneignet, die das Regieren nicht länger primär an territoral-herrschaftliche Funktionserfordernisse, sondern an die Sorge um die Bevölkerung bindet. Politik ist für Foucault eng an eine ‚polizeilich‘ verstandene Sorge geknüpft, der nichts zu geringfügig ist, was sich in ihrem Einwirkungsbereich ereignet. Für die moderne Macht gilt das Axiom einer Diskursivierung des Alltäglichen, wie sie Foucault auch an anderen Stellen seiner Arbeiten immer wieder hervorgehoben hat: All diese Dinge, die das Gewöhnliche ausmachen, die bedeutungslose Einzelheit, die Dunkelheit, die glanzlosen Tage, das gemeine Leben können und müssen gesagt – besser: geschrieben – werden. Sie sind eben in dem Maße beschreibbar und umschreibbar geworden, wie sie von den Mechanismen einer politischen Macht durchquert werden. (DE III/198, 325)
Foucaults Vorlesungen sind der Versuch, die Genealogie dieser Macht zu beschreiben. Ich will hier nicht noch einmal rekapitulieren, was Foucault vor allem in den Vorlesungen 5 bis 9 der Geschichte der Gouvernementalität ausführt, in denen er das Pastorat als genealogischen Entstehungsherd der späteren, säkularen Regierungspraktiken beschreibt, die der Staat nicht erfindet, sondern die er sich aneignet. Im Kern geht es mir im Folgenden um die Frage, ob die (große) Revolution und ihr von Arendt diagnostiziertes Scheitern in der französischen Variante auf die institutionelle Struktur und die topischen Zwänge des Pastoratsmodells und der in ihm reflektierten spezifischen Gehorsamsbeziehungen zwischen dem Hirten und der Herde zurückgeführt werden kann, genauer: ob die Revolution als eine Form des „Gegen-Verhaltens“ im Sinne Foucaults verstanden werden kann, das als solches nur im Rahmen des Pastorats möglich ist bzw. das durch pastorale Praktiken stillgestellt oder angeeignet wird. Foucaults zentrale These, die er 1978 in einem Vortrag unter dem Titel „Die analytische Philosophie der Politik“ vorgetragen hat, unterstreicht die Permanenz des Pastorats und seiner Individualisierungstechniken auch unter den Bedingungen einer säkularen Politik: Wie auch immer die Verabschiedung einer Reihe religiöser Institutionen aussah, welches immer die Veränderungen waren, die man der Kürze halber als ideologisch bezeichnen könnte, die das Verhältnis des westlichen Menschen zu den religiösen Glaubensvorstellungen gewiss tiefgreifend verändert haben, es gibt eine Einpflanzung, sogar eine
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Vervielfachung und Ausbreitung der Pastoraltechniken im laizistischen Rahmen des Staatsapparates. (DE III/232, 693)
Man spreche auch deshalb wenig von diesen Pastoraltechniken, die sich, wie ich hinzufügen möchte, selbst in das Begehren nach der politischen Revolution ‚einpflanzen‘, „weil diese kleinen Machtmechanismen etwas Niedriges und Unaussprechliches an sich haben, von dem man nicht meinte, dass es analysiert und ausgesprochen werden sollte“ (DE III/232, 693). Wie tief das Problem des Pastorats in den politischen Debatten der Vorrevolutionszeit verankert ist, verdeutlicht eine Szene, die das Verhalten des Pastors, der sich von seiner Herde entfernt und damit das „Residenzgesetz“ (Mercier 1979, 77) missachtet, als Skandal brandmarkt. In seinem zuerst 1781 erschienenen Tableau de Paris – ein Reportagewerk, das in seiner letzten Ausgabe von 1788 schließlich mehr als tausend Kapitel umfassen wird – beschreibt Louis Sébastian Mercier diesen Skandal am Beispiel des geistlichen Hirtenamtes. Aber die Art, wie er dies tut, macht deutlich, dass er die Missachtung des sogenannten Residenzgesetzes zugleich politisch verstanden wissen will: Was er am Beispiel der Bischöfe anprangert, entfaltet seine eigentliche Sprengkraft, wenn er auf die Entfernung des politischen Pastors, des Königs und seines Hofes, von jenem Ort zu sprechen kommt, an dem die Bevölkerung residiert, also wenn er den Abstand zwischen Versailles und Paris als ein eminent politisches Problem beschreibt. Die Bischöfe entfernen sich von ihren Heimatgemeinden, um in Paris „in der Menge unterzutauchen“ und ihren Reichtum „ungehemmt zu genießen“. „Wie ist es denn überhaupt möglich, daß der Schäfer seine Herde verläßt?“ fragt Mercier, nur um hinzuzufügen: „Aber dieses Bild hat seinen Sinn schon längst verloren; nichts wird heute weniger ernst genommen als das Amt des Seelenhirten.“ (Mercier 1979, 77) Was dann folgt, sind lauter weitere Hinweise, wie sträflich die klerikalen Pastoren ihre Herde vernachlässigen. Die Kritik an diesem Verhalten sei allerdings schon seit dem 16. Jahrhundert geläufig: Konzilsbeschlüsse beklagen schon damals, dass die Hirten „‚ihre Taschen im Vorübergehen mit dem Gut der Kirche füllen und darauf das Weite suchen, denn als Väter und Hirten, die bei ihr ausharren, sie nähren, führen und trösten sollten‘“ (Mercier 1979, 78). Die eigentliche Pointe dieses Kapitels besteht aber darin, dass den Gemeinden auch durch die Präsenz der Bischöfe nicht geholfen sei, weil sie dann den Gläubigen „durch ihre strenge Bigotterie, ihre geschäftige Frömmelei und jene kleinliche Borniertheit, die so leicht in blindes, unüberlegtes Eiferertum und in Fanatismus umschlägt“ (Mercier 1979, 78), zur Last fallen. Schlimmer noch als die abwesenden, so macht Mercier klar, sind die anwesenden geistlichen Hirten. Folgt aus diesen kirchenkritischen Einlassungen Merciers, dass er das Pastoratsmodell insgesamt für obsolet hält? Interessanterweise ist das nicht der Fall – und bereits der Schluss des „Bischöfe“ überschriebenen Kapitels macht deutlich, dass er nicht sosehr im Typus des Pastors als in seiner physiognomisch ablesbaren Degeneration das eigentliche Problem erkennt: Wer die in verschiedenen Zeiten entstandenen Bischofskonterfeis vergleiche, erkenne, dass die frühen Bilder „Männer von biblischer Einfachheit“ zeigen, die schwer an
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der „Last des Amtes tragen“ und denen der Betrachter seine Bewunderung nicht versagen kann. „Schon bald jedoch verschwinden die Asketengesichter, die langen Bärte und die schlichten Gewänder, und noch etwas später fangen die Kirchenfürsten auf der Leinwand gar zu lächeln an und lassen sich nur noch in geschniegelter Lockenpracht und erlesener Kleidung abschildern“ (Mercier 1979, 79). Diesen Hirten sieht man also an, dass sie längst anderes im Sinn haben als das tätige Mitleiden mit ihrer Herde. „Salon-Prälaten“ (Mercier 1979, 79) nennt sie Mercier – und weint ihnen keine Träne nach. Das politische Problem des Pastorats hat sich allerdings mit dieser Degeneration des klerikalen Pastorats keineswegs erledigt. Man könnte sagen, dass Mercier zwar den Niedergang des religiösen Pastorats in gewissem Sinne begrüßt – aber nur, um den politischen Parallelvorgang umso unnachsichtiger zu kritisieren. Er bestätigt damit Foucaults Hinweise, dass die moderne Politik aus einem Transfer des Pastorats auf die staatlichen Funktionen resultiert. Als Träger dieses säkularen Pastorats identifiziert Mercier keineswegs nur den König, dem diese Rolle traditionell zugeschrieben wird und der sie gewissermaßen öffentlich zu verkörpern hat, sondern in erster Linie die Polizei, deren Funktionserweiterung im Absolutismus und deren Bedeutung für das politische Pastorat Foucault ausführlich in den letzten drei Vorlesungen seiner Geschichte der Gouvernementalität behandelt. Dem König wiederum stellt Mercier daher folgerichtig eine Figur an die Seite, die man den entscheidenden Delegierten des politischen Pastorats bezeichnen könnte: den sogenannten „Polizeileutnant“, von dem es im gleichnamigen Kapitel heißt: Ein Polizeileutnant ist heutzutage ein Mann von Bedeutung und Gewicht, obgleich sein Rang dies nicht vermuten ließe. Unter der Hand übt er gewaltigen Einfluß aus; mit dem, was er weiß, vermag er ebensoviel Schaden anzurichten, wie Gutes zu stiften, denn in seiner Hand laufen unzählige Fäden zusammen, die er je nach Lust und Laune durcheinanderbringt oder auseinandertrieseln kann. Er schlägt zu oder er errettet; er verbreitet Finsternis oder Licht: seine Machtbefugnisse sind ebenso subtil wie ausgedehnt. (Mercier 1979, 63 f.)
Der Polizeileutnant agiert wie ein König im Kleinen – wobei die Beschreibung das Ineinander von souveräner ‚Willkür‘ (er kann mit seinem Wissen „nach Lust und Laune“ verfahren und Schaden anrichten) und pastoraler Umsicht vorführt (er kann Gutes stiften und sogar ‚erretten‘, also das Heil seiner Untertanen bewirken).1 Im weiteren Verlauf wird aber deutlich, dass er seine pastorale Funktion sozial selektiv ausübt – er, der die berühmten lettres de cachet ausstellt, deren machtgeschichtliche Rolle Foucault im Leben der infamen Menschen nachgeht, kann diese Macht nutzen, um „eine Menge junger Leute aus gutem Haus“
1Diese Dialektik des Pastorats, das dem Hirten in bestimmten Situationen abverlangt, ein Schaf, das Schande macht, zur Rettung der Herde zu opfern, ist ein Motiv, das Foucault ausführlich unter dem Stichwort der pastoralen Wahl erörtert. Der Schaden, den der Hirte hier anrichtet, bleibt also, anders als in Merciers kritischer Perspektive, immer auf das Ziel der Wohlfahrt seiner Herde bezogen (vgl. STB 247).
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der regulären Strafverfolgung zu entziehen, damit so der Ruf ihrer Familien gewahrt bleibt. Was der Polizeileutnant hier Gutes tut, wird mehr als aufgewogen durch die massenhafte Inhaftierungspraxis und die Verhängung von Kapitalstrafen, deren Opfer regelmäßig „Angehörige der Plebejerklasse“ sind: „Ohne viel Federlesens und ohne daß dazu mehr erforderlich wäre als ein einfacher Befehl des Kommissars, macht man jeden Monat drei- bis vierhundert Straßendirnen dingfest“, um sie entweder in Internierungshäusern zu ‚heilen‘ oder zu ‚bessern‘: „Dieser Teil der Gesetzgebung ist sehr mangelhaft und voller Willkür. Wer ins Gefängnis geht und für wie lange, entscheidet allein der Sekretär des Polizeileutnants“ (Mercier 1979, 64 f.). Die souveräne Macht, die formal beim König liegt, delegiert dieser an den Polizeileutnant, der sie wiederum an seinen Sekretär delegiert – wobei der Sekretär bei seinen Aufgaben durch einen Bürodiener unterstützt wird. Das auf diese Weise entstehende System einer organisierten politischen Unverantwortlichkeit steht im äußersten Gegensatz zum politischen Pastorat, denn es teilt die Herde in die wenigen Privilegierten und die große Masse derer auf, die keinen politischen Schutz beanspruchen können. Dieser polizeiliche Despotismus, der auf einer Perversion der „Pastoral der Wahl“ (STB 381) beruht, wie sie für die Staatsräson charakteristisch ist, ist durchaus vereinbar mit Phasen, in denen sich die Polizei, wie Mercier schreibt, „unglaublichster Nachlässigkeit hingibt“ (Mercier 1979, 66). Mercier führt Skandalaffären und Morde an, die die Polizei nach Möglichkeit vertusche und verheimliche, weil sie die „auf die Wachsamkeit der für die Sicherheit der Hauptstadt Verantwortlichen ein schlechtes Licht werfen könnten“ (Mercier 1979, 66). Ein besonders spektakulärer Fall einer derartigen ‚Nachlässigkeit‘ ereignet sich in Frankreich 1750 – was ihn von anderen Fällen auszeichnet, ist die Tatsache, dass es hier zu einer unglaublichen Umkehrung der Rollen von Volk und Polizei kommt, denn es ist die Polizei, die ein aufsehenerregendes Verbrechen begeht, und es ist allein der Wachsamkeit des Volkes, das sie eigentlich schützen soll, zu verdanken, dass das Verbrechen nicht unbemerkt bleibt – wobei die Wachsamkeit die wiederum politisch brisante Form der Revolte annimmt, die sich genauer als antipastorale Verhaltensrevolte zu erkennen gibt.
2 Die ‚schwarze Legende‘: Der König als ‚neuer Herodes‘ Die Foucault-Mitarbeiterin Arlette Farge und ihr Kollege Jacques Revel veröffentlichten 1988 eine Studie zu den sogenannten „Kinderdeportationen in Paris 1750“ unter dem Titel Logik des Aufruhrs, im französischen Original Logique de la foule. Warum revoltiert der Pariser ‚Pöbel‘? ist, kurz gesagt, die Frage des Buches. Die naheliegendste Antwort lautet: „1750 erhebt sich Paris gegen seine Regierenden und seine Polizei, die man beschuldigt, Kinder zu rauben und verschwinden zu lassen. Die Anklage ist schwerwiegend und skandalös: sie ist auch außergewöhnlich, fast exotisch“ (Farge und Revel 1989, 8). Die Polizei, die im 18. Jahrhundert einen wichtigen Formwandel durchmacht – der traditionellen
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und vertrauten Polizei, der die alltägliche Konfliktregulierung oblag, steht ein neu geschaffener Polizeiapparat gegenüber, der auf den „Bereich der öffentlichen Ordnung“ spezialisiert war und das kollektive Leben der Stadt „bis in die intimsten Bereiche“ aushorchte und sich einer „präventive[n] Säuberungspolitik“ verpflichtete (Farge und Revel 1989, 47 f.) –, ist der unmittelbare Adressat der Beschwerden und revoltierenden Akte: Ihr Auftrag lautet, Paris von den Bettlern, Freudenmädchen und Vagabunden zu reinigen, doch der mächtige Generalleutnant (Nicolas René Berryer) deckt und ermutigt eine Praxis, die weit über diesen Auftrag hinausgeht. Polizeiagenten nehmen wahllos alle möglichen Personen fest, darunter eben auch Kinder, die sich ohne erkennbaren Zweck auf den Straßen aufhalten. Man ging schließlich sogar soweit, wie es in einem Bericht hieß, „die Kinder von Arbeitern und Bürgern festzunehmen, die auf den Plätzen spielten“ (Farge und Revel 1989, 36). Die Kindergreifer erhalten Kopfprämien für ihre Beute und werden sich, als die Revolten schließlich vor dem Pariser Parlament ein juristisches Nachspiel haben, damit rechtfertigen, dass sie für ihren Lebensunterhalt auf diese empörende Tätigkeit angewiesen seien. Hinter diesen Maßnahmen, so willkürlich sie erscheinen, steht durchaus ein Kalkül, das der Bevölkerung auch bekannt ist: „zur ständigen Sorge um die öffentliche Ruhe und Ordnung kam die Absicht, gewaltsam Siedler für die Inseln und für Louisiana zu rekrutieren“ (Farge und Revel 1989, 86). Es handelt sich bei den Pariser Revolten um 1750 nicht nur um eine frühe Form dessen, was Farge und Revel (1989, 84) „das Durchdrehen einer Polizeiaktion“ nennen. Die Logik des Aufruhrs ist auch eine Studie, die man mit Foucault unter die Überschrift „Omnes et singulatim“ stellen könnte: Sie wirft einen dunklen Schatten auf jenen Aspekt der Polizei, den Foucault mit einem Zitat Mayerne-Turquets, der eines „der ersten utopischen Programme eines Polizeistaats“ (DE IV/291, 189) entwickelte, auf die Formel bringt: „Der wahre Gegenstand der Polizei ist der Mensch“ (DE IV/291, 191), in dessen Lebensbedingungen sie vorteilhaft interveniert, um die Kräfte des Gemeinwesens, über die der Souverän verfügt, zu steigern. Im Zentrum der polizeilichen Aktivität steht die Regelung dessen, was man die soziale Zirkulation des urbanen Raums oder die „Kommunikation“ nennt – wobei die Deportation von sogenannten unerwünschten Elementen ein, besonders repressiver Aspekt dieser Regulierung der Lebensund Bewegungsbedingungen der Bevölkerung ist. Die Polizei kontrolliert die ‚Kommunikation‘ in einem umfassenden Sinne, der die Semantik des Verkehrs in sich aufnimmt (STB 29, 35),2 wie Foucault ausdrücklich feststellt, indem er Kommunikation als die Gesamtheit der „gemeinschaftlichen Aktivitäten der Einzelnen (Arbeit, Produktion, Tausch, Annehmlichkeiten)“ (DE IV/291, 191) definiert. Es gibt jedoch noch einen anderen Aspekt der Pariser Revolten, der die
2Verkehr schränkt, anders als Kommunikation, die Sphäre des sozialen Austauschs nicht auf die sprachliche oder informationelle Dimension ein, sondern umfasst Körper bzw. Personen und Güter ausdrücklich mit. Vgl. Schabacher (2013) zur Semantik des Verkehrs aus historischer Perspektive mit Blick auf eine umfassende Medientheorie der Logistik.
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Logik des Aufruhrs mit seiner Rhetorik zusammenführt. Die Entführungen der Kinder (vorzugsweise kleiner Jungen) wird nämlich, wie Farge und Revel im zweiten Teil ihrer Studie deutlich machen, von einem Gerücht begleitet, dessen mediale Dynamik das diskursive Pendant zur Zirkulation der Körper ist: „Die Mehrzahl der Festnahmen, die uns aus den Untersuchungsakten bekannt sind, haben sofort zu großen Volksaufläufen geführt und die Neuigkeit hat sich sehr schnell in Paris verbreitet“ (Farge und Revel 1989, 88). Wie gelingt es diesen „winzigen, trivialen Episoden“, so fragen sich Farge und Revel (1989, 88), „die Menge mit einer Effizienz aufzuwühlen, die ungewöhnlich ist“? Die Antwort lautet, kurz gesagt: weil diese Episoden in ein Skript übersetzt werden können, dessen diskursiver Kern die Struktur des Pastorats ist. Die Dramatisierung der Ereignisse rund um die Kinderdeportationen verdankt sich der Wirksamkeit einer „Fabel“, die Farge und Revel (1989, 96) „Blutfabel“ nennen. In Umlauf werden nicht nur die Fakten der Entführungen gebracht, sondern zugleich eine Einschätzung ihres Hintergrunds, die über die polizeilichen und administrativen Logiken (wie sie die königlichen Ordonanzen formulieren) weit hinausgeht. Kern dieser Fabel ist die Behauptung, dass es „einen aussätzigen Prinzen gebe, zu dessen Heilung man ein Bad oder mehrere Bäder in Menschenblut brauche“ (Farge und Revel 1989, 96). Die Fabel ist alt und bereits Bestandteil von gelehrten Gerüchten, die die Figur Kaiser Konstantins umgaben. Die politischen Beobachter dieser Entwicklung registrieren genau, dass das Pariser Volk niemand anderes als den König für die Kindesentführungen verantwortlich macht. René Louis D’Argenson beispielsweise schreibt: „Man verbreitet, der König sei aussätzig und bade in Blut wie ein neuer Herodes.“ (Farge und Revel 1989, 96) Damit ist die entscheidende biblische Figur aufgerufen, die den König, dessen Rolle darin besteht, das Volk vor allen Gefahren zu schützen, als den ‚perversen‘ Aggressor identifiziert, der, um im pastoralen Modell zu bleiben, vom Hirten zum Wolf mutiert ist. Die Blutfabel hat also zwei Funktionen. Durch sie gelingt es, den König in den Mittelpunkt des Gerüchts zu stellen und damit das ‚Undenkbare‘ zu formulieren, nämlich dass der Monarch, konkret: Ludwig XV sich vom Beschützer zum Feind des Volkes gewandelt hat. Dass die Fabel den „Aussatz“ des Königs hervorhebt, stigmatisiert ihn außerdem als einen sündigen Monarchen. Der Aussatz ist das Zeichen der Sünde. Konstantin, der die Christen verfolgte, wurde mit Aussatz geschlagen: Nur seine Bekehrung konnte ihn heilen. Ludwig XV dagegen weigert sich, sich zu bekehren. Von seinem Volk wird der politisch glücklose König der „fainéantise“, der Nichtstuerei beschuldigt, weil er nur seinen sexuellen Vorlieben (die Maitressen, die Pompadour…) lebe: „Der Ausdruck taucht unablässig in den Berichten auf, die die Polizei über den Zustand der öffentlichen Meinung liefert.“ Er gibt sich nur seinen Vergnügungen hin und „vollzieht selbst die traditionell mit der Ausübung der Funktionen des Herrschers verbundenen Gesten nicht“ (Farge und Revel 1989, 110). Zu diesen Gesten zählt nicht zuletzt die Berührung der Aussätzigen, die der König kraft seiner magischen Kapazitäten zu heilen vermag, wie es die pastorale Legende will. Statt die Aussätzigen zu heilen, wird der König selbst zu einem Aussätzigen. Klarer kann
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man seinen Wechsel von der Position des Hirten zu dem des ‚verirrten‘ oder ‚schwarzen‘ Schafes nicht markieren. Man wirft dem Souverän ganz offen vor, dass er sich weigert, zu regieren – was noch über den Vorwurf hinausgeht, dass er falsch regiert. Eine „Lawine von Libellen, Gassenliedern, Anschlägen, deren Zielscheibe die Favoritin (die Pompadour) ist, trifft bisweilen auch Ludwig XV“ (Farge und Revel 1989, 113). Und noch das Attentat von Damiens, sieben Jahr nach den Kinderdeportationen, mit dessen zeitgenössischem Bericht Foucault Überwachen und Strafen eröffnet (ÜS 9–14), reiht sich in die Geschichte der „Anprangerung des ungerechten und gottlosen Königs“ ein, die nicht zuletzt auch religiös, nämlich durch die jansenistische Propaganda, verstärkt wird. Für den Revolutionshistoriker Jules Michelet gibt es keinen Zweifel, dass die gegenseitige „Abkühlung der Gefühle zwischen König und Volk“ (Farge und Revel 1989, 114) den Weg von der Revolte zur „großen Revolution“ ebnete. Farge und Revel halten diese Einschätzung zunächst für irreführend, denn das Gerücht griff zwar die Person des Königs, nicht aber die Institution der Monarchie an. Immerhin schreiben auch sie: „Natürlich hat die Französische Revolution die Wutausbrüche der Vergangenheit nicht völlig vergessen“ (Farge/Revel 1989, 114). Die Revolte vollzieht sich noch völlig im Bann jener ‚archaischen‘ Vorstellung von ‚Treue‘, die dem Pastoratsmodell zugrunde liegt, wie es Foucault in seinen Vorlesungen detailliert beschreibt: Der Hirte muss sich im Grenzfall sogar selbst opfern, um das Wohl der Herde zu garantieren. Lenkung und Leitung als zentrale pastorale Aktivitäten sind auf den Ausnahmefall des Irregehens bezogen. Der Hirte hat es mit einem wesentlich als Multiplizität gedachten Volk zu tun, das in ständiger Fortbewegung begriffen ist und daher auch auf Abwege gelangt. Der Pastor muss dem Volk daher, wie Foucault mit Blick auf den Fall des israelitischen Volkes im Alten Testament sagt, die Richtung vorzeigen und sich an seine Spitze setzen. Das Thema der Wachsamkeit ist für den politischen Pastor absolut konstitutiv. Das ist der Grund, warum Foucault den Pastor vom Souverän unterscheidet, der sich im Glanz seiner Macht sonnt: Der Hirte ist nicht derjenige, „dessen Stärke in den Augen der Menschen strahlt, wie die Souveräne und Götter“, sondern „derjenige, der wacht“ […] ‚Wachen‘ natürlich im Sinne von Überwachung dessen, was sich an Bösem ereignen kann, doch vor allem Wachsamkeit gegenüber allem, was an Unglück geschehen kann“ (STB 199). Farge und Revel sprechen nicht vom Pastorat, aber ihr gesamter Text ist ohne die Matrix des Pastorats undenkbar. Der König hat Verrat an seiner pastoralen Funktion geübt und die normativen Pflichten, die aus dieser Funktion resultieren, sträflich ignoriert. Er wacht nicht länger über seine Herde, sondern ist nur mit seinen eigenen Lüsten beschäftigt und opfert immer größere Teile seiner Herde, um ‚seine‘ Ordnung aufrechtzuerhalten. „Michelet täuscht sich, und doch hat er recht“, müssen die Autoren der Studie schließlich zugeben, denn die Unterminierung der normativen Grundlagen des Pastoratsvertrags durch denjenigen, der ihn garantieren muss, erlaubt es dem Volk, „jene neue und schreckliche Wahrheit auszusprechen: ‚Das Volk liebt seine Könige, die es einst so sehr liebte, nicht mehr‘“ (Farge und Revel 1989, 119). Insofern führt dann doch ein Weg von dem
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„winzigen Ereignis“ der Affäre der Kindesentführungen zur großen Revolution, die auch Ausdruck der Einsicht ist, dass nicht länger Könige die Verpflichtungen garantieren können, die aus dem Pastoratsmodell resultieren.
3 Was ‚die Kröten‘ denken: Die medialen Dynamiken des Gegen-Verhaltens Das revoltierende Volk ist ein beredtes Volk. Die Revolte vollzieht sich nicht nur in der Dimension der Aktion, sondern auch derjenigen des Sprechakts oder der Kommunikation, ein Begriff, der, was häufig vergessen wird, wortgeschichtlich auf die Sphäre des Verkehrs verweist3, der neben den Wörtern immer auch die Körper und die Dinge umfasst. In den Vorlesungen zur Gouvernementalität bezeichnet Foucault diese Dimension des Sozialen, die einen spezifischen Regulierungsbedarf hervorbringt, mit dem Begriff der Zirkulation – und es ist die moderne Stadt, die nicht länger durch Festungsmauern von ihrer Umwelt abgeschlossen ist, an der er die Dynamiken der Zirkulation erörtert, vorzugsweise die Zirkulation der Güter und Waren, die die von ihm untersuchten ökonomischen Theorien befürworten und mit politischen Maßnahmen zu unterstützen versuchen (STB 28–44). „Unmäßige Größe der Stadt“, lautet die Überschrift eines Kapitels, mit dem Mercier den Zusammenhang von städtischem Wachstum und absolutistischer Regierungspraxis beschreibt, den Foucault auf seine theoretischen Implikationen beleuchtet: Die absolutistischen Regierungen, so Mercier, tun alles, „um Paris mit Menschen vollzustopfen; die großen Herren lockt sie mit Luxus und Genüssen – die Massen treibt sie in den Pferch wie Lämmer, auf daß es den Schäferhunden leichter falle, die Herde zusammenzuhalten und den Gesetzen Geltung zu verschaffen“ (Mercier 1979, 19). Kaum einen der relevanten Parameter urbaner „Multiplizitäten“ (STB 27 f.), die es zu regieren bzw. zu regulieren gilt, entgehen der Aufmerksamkeit Merciers, der sich nicht nur als Dokumentarist der Phänomene versteht, sondern zugleich auch als Sozialkritiker, der hofft, dass seine „ungeschminkte Wiedergabe“ der Pariser Zustände „den Eifer und das Genie moderner Administrateure entflammen“ werde (Mercier 1979, 16). Die antiabsolutistische Polemik Merciers, den man zu den Literaten des Untergrunds (vgl. Darnton 1985) rechnen darf und dessen Tableau de Paris von der Zensur verboten war, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den urbanen Raum trotz seines unmäßigen Wachstums unter dem Gesichtspunkt der „Entwicklungsmöglichkeiten“ (STB 37) betrachtet und sich deshalb mit jenen Funktionseliten solidarisch fühlt, die das Leben der Stadt verbessern und ‚erleichtern‘ wollen. Um den urbanen Raum als einen Zirkulationsraum oder ein Milieu zu erfassen, muss man alle möglichen ‚Dinge‘ beschreiben und in ein Verhältnis setzen, wie Foucault
3Im Anschluss
an die Studie Jean-Claude Perrots über die Stadt Caen im 18. Jahrhundert definiert Foucault das Problem der Stadt „wesentlich und grundlegend“ als „ein Verkehrsproblem“ und den Raum der Stadt als einen „Zirkulationsraum“ (STB 29).
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zeigt und wie es Mercier vorführt, wenn er über Friseure, Salzträger, Spitzel und Schlagbäume genauso schreibt wie über Sekretäre, Schreiberseelen, Nichtstuer, Lakaien, Straßendirnen und Kolporteure, um nur einige wenige der über tausend Kapitel des Tableau de Paris aufzurufen. Foucault betont in seinen Vorlesungen die Ersetzung des Territoriums als privilegiertem Herrschaftsraum durch die Bevölkerung, die ein wesentlich mobiles Element ist, das sich nicht ohne weiteres in bestimmten Grenzen halten lässt und nur durch sogenannte „Sicherheitsdispositive“ regierbar ist, die dem Zeitlichen und Aleatorischen Rechnung tragen (STB 40). Vor dem Hintergrund dieser modernen Zirkulations- und Deterritorialisierungsdynamiken erkennt man die ganze Fragwürdigkeit der Vorstellung von einem armen und stummen Volk, das Hannah Arendt in Über die Revolution malt: ein Volk, das allein von einer „präpolitischen Notwendigkeit“ bzw. seiner körperlichen Not angetrieben wird (Arendt 1986, 116). Mit ihrer Kritik an der Ökonomisierung der Politik registriert sie zwar das Eintreten der Bevölkerung und der kollektiven Lebenszusammenhänge in das Feld der Regierung, wie es Foucault umfassend in seinen Vorlesungen beschreibt. Sie ignoriert aber einen anderen Vorgang völlig, der mit einem Phänomen zusammenhängt, das Foucault in seinen Vorlesungen unter dem Stichwort der Meinungen und der sogenannten „großen Meinungskampagnen“ (STB 394) behandelt – als dem zweiten Aspekt des „Realitätsfelds“ (STB 394) der Regierung. Ich möchte nun, über Arendt und Foucault hinausgehend, die Frage stellen: Kann es sein, dass die Bevölkerung in diesem Realitätsfeld nicht nur als ein Objekt erscheint, das durch (staatliche) Meinungskampagnen ‚manipuliert‘ wird, sondern dass sie selbst ‚publizistisch‘ in Erscheinung tritt (selbst dann, wenn sie durch staatliche Zensur- und Repressionsmaßnahmen an ihrer Manifestation gehindert wird) und einen komplexen Erscheinungsraum konstruiert, der, anderes als Arendt gelegentlich suggeriert, keineswegs einfach vorhanden ist oder sich bloß dem persönlichen Mut derjenigen verdankt, die das Wort ergreifen, weil er sich allererst in Abhängigkeit von bestimmten Medien und medialen Praktiken formiert? Die Menge also, die im 18. Jahrhundert politisch zu zählen beginnt, ist keineswegs stumm und sie war es auch nicht, bevor sie ihren großen revolutionären Auftritt hatte. Vor der Revolution, das sollte die Erinnerung an die Studie zu den Kindesentführungen um 1750 deutlich machen, war die Revolte, und diese Revolte erweist sich, worauf Robert Darnton aufmerksam gemacht hat, als ein wesentlich ‚diskursives‘ und ‚mediales‘ Geschehen. Von einem mauvais discours sprachen die Zeitgenossen, von einer „Kakophonie des Aufruhrs, in Reime gebracht“ (Darnton 2002, 20), spricht der Historiker. Im Ancien Régime existierte ein enorm komplexes Kommunikationssystem, das in Ermangelung von Zeitungen, die über politische Ereignisse informierten, relevante Neuigkeiten, die die Regierung und ihr Personal betrafen, in Form von zunächst mündlich mitgeteilten und anschließend in unterschiedlichen Formen transkribierten „stories“ zirkulieren ließen. Die Existenz dieses Kommunikationssystems ist, wie Darnton gezeigt hat, zugleich ein erheblicher politischer Faktor, so dass ein Großteil der polizeilichen Regierbarmachung des Volkes darin besteht, herauszufinden, was es ‚denkt‘ bzw. dieses Denken gezielt zu beeinflussen. Wieder ist es Mercier, der
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in einem „Von der Bevölkerung der Hauptstadt“ überschriebenen Kapitel des Tableau dieses Interesse des Hofes für die popularen Kommunikationswege klar benannt hat: Recht aufmerksam verfolgt der Thron das, was ‚die Kröten‘ – so werden die Pariser in der Sprache des Hofes genannt – untereinander zu bereden pflegen. Was sagen die Kröten? fragen sich nicht selten die Prinzen. […] In der Tat gibt ihnen das Volk durch sein Verhalten zu verstehen, was man über sie denkt. (Mercier 1979, 24)
In Paris gab es bestimmte Plätze, darunter ein Nussbaum im Garten des PalaisRoyal, bestimmte Bänke in den Tuilerien, Cafés im Luxembourg, „speakers’ corners“ an der Pont Neuf, die Darnton als „nerve centers for transmitting ‚public noises‘ [bruits publics]“ bezeichnet (Darnton 2000, 2). Darnton zeigt, wie Neuigkeiten (nouvelles) „through several media and by different modes – oral, manuscript, and print“ (Darnton 2000, 4) zirkulierten. All diese Aktivitäten vollzogen sich außerhalb des Gesetzes. Ihr Ehrgeiz war, Einblicke in die arcana imperii des Königs zu gewähren, wobei diese Geheimnisse des Königs eine bestimmte Färbung annehmen, die sich stark von dem unterscheiden, was Foucault in seinen Vorlesungen als den eigentlichen, nämlich administrativen Inhalt dieser arcana imperii bezeichnet (STB 398): Statistiken oder, wie Leibniz sagte, Staats-Tafeln, die den Fürsten über die Stärke und Kräfte seines Landes und vor allem seiner Bevölkerung umfassend und bequem informierten.4 Die Einblicke, die die unauthorisierten Nachrichten oder Neuigkeiten aus Versailles in das politische Zentrum der Macht geben, sind dagegen ganz anderer Art. Die eigentlichen arcana imperii sind hier Anekdoten aus dem Privatleben des Königs, vor allem aus dessen Liebesleben. Arkan ist der Sex des Königs. Nachrichten darüber sollen dem Volk möglichst verborgen bleiben, denn sie wirken sich massiv auf die öffentliche Meinung aus. Darnton zitiert eine Geschichte aus einem späteren Top-Bestseller der Zeit, die Anecdotes sur Mme. la comtesse du Barry (London 1775), die ein Ereignis aus dem Jahre 1773 behandelt: Ludwig XV liebte es, um sich von der Anstrengung seiner Regierungsgeschäfte zu erholen, seinen Kaffee selbst aufzubrühen. Als er einmal abgelenkt ist, kocht die Kaffeekanne über und die anwesende Comtesse, seine Maitresse, die das sieht, ruft ihm zu: „Hey France! Look out! Your coffee’s
4„Ich
nenne Staats-Tafeln eine schriftliche kurze Verfassung des Kerns aller zu der Landesregierung gehörigen Nachrichtungen, so ein gewisses Land insonderheit betreffen, mit solchen Vorteil eingerichtet, daß der hohe Landesherr alles darin leicht finden, was er bei jeder Begebenheit zu betrachten, und sich dessen als eines der bequemsten Instrumente zu einer löblichen Selbst-Regierung bedienen könne“ (Leibniz 1966, 80). Aus diskursgeschichtlicher Perspektive ließen sich die Tableaus Merciers als Versuche begreifen, eine „schriftliche kurze Verfassung“ aller relevanten Parameter urbanen Lebens für ein Publikum zusammenzustellen, das ohne formelle Regierungskompetenz ausgestattet ist, aber dennoch auf vielfältige Weise in die urbane Regierungsaktivität eingebunden ist und wichtige Funktionen zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der städtischen Infrastruktur ausübt. Vgl. Schöning (2018) zur Rolle Merciers für die Entwicklung einer infrastrukturellen Perspektive auf Paris als die seinerzeit größte Stadt der Welt.
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buggering off“ (La France, ton café fout le camp). Der Erzähler dieser Anekdote fügt noch hinzu, dass „La France“ der vertraute Ausdruck war, den die du Barry benutzte, um den König anzureden, wenn sie unter sich waren. Entscheidender aber als die infame Anrede des Königs, die den Namen der Nation verwendet, ist zweifellos die sexuelle Implikation der Formulierung (foutre), mit der die Mätresse des Königs dessen Malheur beschreibt: „Such details should never circulate outside of them, but they escape, nonetheless, thanks to the malignity of the courtiers“ (Darnton 2000, 8). Darnton hat den kommunikativen Weg dieser ‚geleakten‘ Anekdote auf der Grundlage polizeilicher Ermittlungsakten nachgezeichnet. Sie durchläuft vier diskursive Verarbeitungsphasen: First, it began as mauvais propos, or insider gossip at court. Second, it turned into a bruit public, or general rumor in Paris – and the text uses a strong expression: ‚the general opinion of the public‘. Third, it became incorporated in nouvelles à la main, or manuscript news sheets, which circulated in the provinces […]. Fourth, it was printed in a libelle, or scandalous book – in this case a bestseller, which went through many editions and reached readers everywhere. (Darnton 2000, 9)
Darnton macht aus medienhistorischer Sicht klar: „the media of the Old Regime were mixed. They transmitted an amalgam of overlapping, interpenetrating messages, spoken, written, printed, pictured, and sung“ (Darnton 2000, 9). Es lohnt sich, diese Befunde Darntons, die er in seiner Monografie Poesie und Polizei (2002) ausführlicher behandelt hat, mit Foucaults Geschichte der Gouvernementalität zu verknüpfen, um den eingangs von mir behaupteten blinden Fleck der Vorlesungen deutlicher zu sehen. Er betrifft den Komplex der sogenannten „Gegen-Verhaltensformen“ bzw. der „Verhaltensrevolten“, denen Foucault zwar eine ganze Vorlesung widmet (STB 278–330)5, um das Thema dann aber fallenzulassen und im weiteren Verlauf seiner Geschichte, die die Ausbildung der Staatsräson, der Polizei und der Diplomatie behandelt, nicht mehr aufzugreifen. Warum beschränkt Foucault seine Beschreibungen der Formen von ‚Widersetzlichkeit‘ (insoumission) im Wesentlichen auf die im Mittelalter entwickelten Formen des antipastoralen ‚Gegen-Verhaltens‘? Für diesen Zeitraum unterscheidet er fünf Formen von Gegen-Verhalten: 1) Askese oder die Exzesse des Mönchstums; 2) egalitär strukturierte Gemeinschaften ohne priesterlichen Vormund; 3) Mystik als ‚direkte‘ religiöse Erfahrung ohne pastorale Vermittlung; 4) Rückkehr zur Heiligen Schrift (ohne priesterliche Auslegungsautorität); 5) Eschatologie oder Wiederkehr Christi (des wahren Hirten) und Entlassung der Pastoren (als der angemaßten Hirten) (STB 296–311). Foucault schweigt merkwürdigerweise völlig darüber, welche Formen das Gegen-Verhalten im Zeitalter des durch
5Foucault wählt das „zweifellos schlecht konstruierte Wort vom ‚Gegen-Verhalten’ [contreconduite]“, weil es, anders als das französische „inconduite“, das die schlechte Führung oder den schlechten Lebenswandel bezeichnet, den Vorteil habe, „daß es erlaubt, sich auf die aktive Bedeutung des Wortes ‚Verhaltensführung’ zu beziehen. Gegen-Verhalten im Sinne von Kampf gegen die zum Führen von anderen eingesetzten Verfahren“ (STB 292).
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den Staat angeeigneten Pastorats, also unter den Bedingungen von Polizei und Diplomatie als den beiden Formen der innen- und außenpolitischen Machtausübung im Absolutismus und im Zeitraum der (vor-)revolutionären Transformation des Ancien Régimes annimmt. Darntons Formel Poesie und Polizei gibt hier interessanterweise eine Antwort, denn wie gerade gezeigt, hängt das irritierende Interesse der Polizei an den Ausprägungen einer populären Literaturproduktion, die zum Untergrund gehört, mit der offiziellen Einschätzung zusammen, dass es sich bei dieser verschiedene mediale Register übergreifenden Poesie um eine Form der insoummission, der Widersetzlichkeit oder eben des Gegen-Verhaltens handelt. Nein, das Volk, das unterdrückte und ausgebeutete, das ‚arme‘ Volk war keineswegs das medial enteignete oder sprachlose Volk. Es plauderte, schrieb und sang unablässig, und was es auf diese Weise in den Umlauf setzte, waren eben genau jene arcana imperii, die verborgen bleiben sollten, weil sie mit der Rolle des Fürsten oder Monarchen als des ‚guten Hirten‘ unvereinbar waren. Gerüchte, Geschichten, Schmähreden und Gesänge zirkulieren, die Ludwig XV als einen König porträtieren, der sein Königreich nicht länger pflichtgemäß regiert, weil er selbst von seinen Mätressen ‚erobert‘ worden ist, der schließlich krank wird und sich außerstande sieht, jene staunenswerten Wunder zu vollbringen, die Teil seiner pastoralen Würde sind. Die ‚Entfremdung‘, die zwischen dem Hirten und seiner Herde eintritt, ist das Ergebnis einer paradoxen ‚Verhaltens-Revolte‘, die darin besteht, dass das Volk den Herrscher an seine pastorale Rolle erinnert, die dieser systematisch vernachlässige und ihm schließlich sogar in besonders radikalen Gedichten mit dem Königsmord droht: Ludwig verlasse deine Metze Ludwig gib uns Brot Ludwig paß auf dein Leben auf In Paris gibt es noch so manchen Ravaillac.6 (zit. nach Darnton 2002, 112)
Der König würde durch sein Verhalten, das Gott beleidigt, dessen Zorn provozieren: Sein permanenter Ehebruch und seine Unwilligkeit, sein lasterhaftes Leben zu ändern, lösen politisch-militärische Niederlagen aus und schwächen seine pastorale Kapazität, die sich sichtbar im Ritual der Heilung von Untertanen durch Handauflegung manifestiert. Dieses Ritual, das Marc Bloch (1998) ins Zentrum seiner Geschichte der wundertätigen Könige gestellt hat, verlangt nämlich seinerseits vom König, dass dieser regelmäßig seine Sünden beichtet und die Kommunion empfängt. Genau dazu war Ludwig XV aber seit 1738 nicht mehr bereit und in der Lage: Seine Beichtväter würden ihn so lange nicht zur Eucharistie zulassen, wie er nicht auf seine Maitressen verzichtete. Obwohl Foucault, der mit Arlette Farge eine kommentierte Ausgabe ausgewählter Lettres de cachet aus den Archiven der Bastille herausgegeben hatte
6„Louis
prend garde à ta vie/Il est encore des Ravaillac à Paris.“
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(Farge und Foucault 1989), die Dynamik populärer Kommunikationsakte keineswegs unbekannt war, berücksichtigt er sie im Kontext seiner Geschichte der Gouvernementalität nicht. Diese Geschichte ist tendenziell eine Geschichte ‚von oben‘, die die politische Durchsetzung der Regierungstechnologien auf ähnliche Weise erzählt, wie andere den Siegeszug des modernen Nationalstaates. Soll man Foucault dieses Schweigen über die modernen Verhaltensrevolten und ihre Diskurspraktiken vorwerfen? Ich denke, dass ist deshalb schon abwegig, weil die ‚systemische‘ Perspektive, die diese Vorlesungen einnehmen, mit Foucaults Theorie der Diskursereignisse und seinem performativen Konzept der Macht zusammengehalten werden muss, um zu sehen, dass er über ein Instrumentarium verfügt, das zu verstehen erlaubt, warum es sich bei den Diskursen, die Darnton beschrieben hat, um Ereignisse im Sinne jener Definition handelt, die Foucault in seinem ersten Vorlesungszyklus am Collège de France gegeben hatte: „Unter Ereignis verstehe ich keine abgrenzbare Einheit, der man eindeutig zeitliche und räumliche Koordinaten zuordnen könnte. Ein Ereignis besitzt eine Streuung und stellt eine Mannigfaltigkeit dar. Es erstreckt sich hierhin und dorthin und hat zahlreiche Köpfe“ (ÜWW 250). In unserem Fall nicht nur die Köpfe des Hofes, die bestimmte Gerüchte lancierten, sondern auch die vielen Köpfe der popularen ‚Hydra‘, die die Informationen aufgriff und auf kreative Weise weiterentwickelte und zirkulieren ließ; dazu kommen noch die Polizeispitzel, die die Regierung auf die Autoren und die Distributoren angesetzt hatte, um die Verbreitungswege zu entdecken und die ‚Verantwortlichen‘ zu bestrafen. Im Zusammenhang mit seiner Theorie des Diskursereignisses betont Foucault immer wieder, seiner nietzscheanischen Inspiration folgend, dass es dem Historiker nicht darum gehen kann, den Wahrheitsgehalt der Diskurse zu beurteilen. Das ist auch sein Hauptargument, wenn er sich dagegen wehrt, das Ereignis oder Faktum der Revolte an irgendeiner Wahrheit zu messen: „Ist es richtig, zu revoltieren? Lassen wir die Frage offen. Menschen erheben sich, das ist eine Tatsache“ (DE III/269, 991). Mit Bezug auf die Diskurse, die diejenigen führen, die das Risiko sich zu erheben, eingehen, sagt Foucault weiter: „Niemand muss glauben, diese wirren Stimmen sängen schöner als andere und sagten die letztgültige Wahrheit. Es genügt, dass sie da sind und alles sie zum Schweigen zu bringen versucht, damit es sinnvoll ist, sie anzuhören und verstehen zu wollen, was sie sagen“ (DE III/269, 991). Arlette Farge weist in ihren Überlegungen zum Archiv auf jene Eigenschaften der Dokumente hin, die nicht in ihrer Funktion als ‚Spiegel‘ einer bestimmten sozialen Wirklichkeit aufgehen, sondern sich in den Gerichtsarchiven manifestieren, in denen sich auch die Protokolle und Zeugenaussagen des Pariser Kinderdeportationsskandals von 1750 finden. Die polizeilichen Quellen sind für Farge so aufschlussreich, weil mit ihrer Hilfe herausgefunden werden kann, wie die „Teilungen und Mitteilungen sich wirklich vollzogen haben“: Ungleichheit und Konfrontation stehen im Zentrum der polizeilichen Quellen. Warum sollte man daraus keinen Vorteil ziehen und aus der Störung und den Brüchen eine Grammatik erstellen, die zu lesen erlaubt, wie sich die Existenzen Zug um Zug ersonnen und geformt, verneint oder vernichtet haben? (Farge 2011, 39)
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Von diesen Überlegungen fällt ein Licht auf das Verhalten des Königs, der um 1750 im Mittelpunkt der gereimten Beschwerdediskurse stand, die mitunter einem Aufruf zum Regizid nahekamen. Der König nämlich dachte gar nicht daran, den Kritikern seines Lebensstils zu willfahren und die Pose des guten Hirten anzunehmen. Er begann nun öffentlich seinen Ehebruch mit Mme de Mailly zur Schau zu stellen: „From that time on, Louis never again took Easter Communion and never again touched the sick“ (Darnton 2000, 16). Der König selbst also, der doch sein Volk vor Verirrungen und Gefahren aller Art zu bewahren hatte, wie es seine pastorale Rolle vorsah, hatte sich in ein schwarzes Schaf verwandelt, das sich hartnäckig weigerte, zu seiner Herde zurückzukehren. Ein hochsymptomatischer Ausdruck dieser Weigerung bestand darin, dass er sich von 1744 an strikt weigerte, jemals wieder Paris zu betreten, denn dort wohnte ja seine Herde, die immer neue Nachrichten über seine skandalöse Lebensweise in Umlauf setzte und seine königliche Würde degradierte. Symptomatisch an diesem Verhalten des Königs ist auch die Konsequenz, mit der er seine Weigerung in logistischer Hinsicht umzusetzen verstand. Um auf alle Fälle zu vermeiden, mit seinen Untertanen in Paris auch nur in Kontakt zu treten, ließ er 1750 eine Straße um die Stadt herum bauen, so dass er von Versailles nach Compiègne reisen konnte, ohne sich den Parisern auch nur zeigen zu müssen (Darnton 2000, 15).
4 „Meinungskampagenen“: Foucault liest Bacon Gerüchte und Lieder waren die wichtigsten Medien der popularen Widersetzlichkeit – und die Bedeutung dieser Medien ist keine heutige Projektion auf das Zeitalter des Absolutismus, sondern war bereits den zeitgenössischen Beobachtern, darunter Autoren wie Nicolas Chamfort, geläufig, dem das Wort zugeschrieben wird, dass das ganze französische Königreich „von ‚einer durch Lieder gemilderten absoluten Monarchie‘ regiert werde“ (Darnton 2002, 102). Damit kommt dieser Kommunikationsform eine eminente Bedeutung für die Formierung der öffentlichen Meinung zu – und dieser Punkt verdient Beachtung, weil Foucault die öffentliche Meinung ausdrücklich und an zentraler Stelle seiner Vorlesungen in den Blick nimmt, wenn es darum geht, wie man eine wirkungsvolle Bekämpfung von Aufständen oder Revolten organisieren müsse. Foucaults Überlegungen sind durch einen wichtigen Essay Francis Bacons veranlasst, dessen Analyse er mehrere Seiten in der 10. Vorlesung widmet: „Über Aufstände und öffentliche Unruhen (Of Seditions and Troubles)“ (Bacon 1970, 44–53). Wie versteht Bacon den Aufstand? Provokanterweise, so Foucault, „nicht sosehr als ein außergewöhnliches denn als völlig normales, natürliches“ Phänomen, ein „dem Leben der res publica immanentes Phänomen“ (STB 386). Weil Aufstände und öffentliche Unruhen den Staat gewissermaßen inhärent sind und ständig begleiten, muss man in ihrer Beobachtung und gegebenenfalls Bekämpfung eine permanente Aufgabe sehen, die daher in die Kompetenz eines regulären Regierungsorgans fällt, dem Foucault so viel Aufmerksamkeit widmet, nämlich der Polizei. Aufstände sind ‚natürlich‘, ihre „allzu strenge Unterdrückung“ ist daher gerade kein
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probates Mittel: „Häufig tut man am besten, sie nicht wichtig zu nehmen, um ihnen Einhalt zu tun“ (Bacon 1970, 45). Zugleich haben sie eine semiotische Seite: Man erkennt sie daran, dass die Anordnungen des Fürsten nicht unwidersprochen bleiben, dass sie vom Volk kommentiert und interpretiert werden. Die Aufstände werden von „Vorzeichen“ (STB 388) angekündigt. Das Erzählen skandalöser Geschichten und das Verbreiten von Gerüchten, deren Gegenstand der Hof des Fürsten sind, kann man in diese Kategorie der Vorzeichen des Umsturzes einordnen7, die der Monarch daher mit polizeilichen Mitteln verfolgt, weil er mehr noch als den Inhalt die Geschwindigkeit ihrer Verbreitung sowie die zum Einsatz kommenden klandestinen Medien und die Infrastrukturen ihrer Zirkulation fürchtet: Denn in einem derartigen Kommunikationssystem, wie es Darnton für das vorrevolutionäre Paris rekonstruiert, konnte sich ein Gerücht oder ein „catchy song“ wie ein Lauffeuer verbreiten und zugleich wachsen, because it aquired new phrasing in the course of oral transmission and because everyone could join in the game of grafting new stanzas onto the old. The new verses were scibbled on scraps of paper and traded in cafés just like poems and anecdotes diffused by nouvellistes. (Darnton 2000, 20)
Bereits Bacon macht eine bezeichnende Beobachtung, die in dasselbe kommunikative Register gehört, wenn er feststellt, „daß witzige und beißende Bemerkungen, die Fürsten beiläufig fallenlassen, zuweilen Empörungen angefacht haben“ (Bacon 1970, 52). Bacon zufolge gibt es nur zwei Ursachentypen, die bei der Erklärung des Aufstands herangezogen werden müssen, nämlich entweder Armut oder ‚Unzufriedenheit‘. Rebellionen kommen entweder vom Magen und „das sind die schlimmsten“ (STB 388), oder sie kommen vom Kopf, und diese ‚Kopfgeburten‘ der Revolte, die die „Meinung“ und die „Wahrnehmung“ betreffen, sind, wie Foucault ausdrücklich hervorhebt, Bacon zufolge keineswegs „korrelativ“ zum Zustand des Bauchs. Man kann satt und trotzdem unzufrieden sein. Das politische Kommunikationssystem, das Darnton beschreibt, legt genau von diesem zweiten Ursachentyp und seiner kommunikativen Dynamik Rechenschaft ab, denn die Pariser Bevölkerung ist unzufrieden mit dem Lebenswandel des Königs – und das ganz unabhängig davon, ob er damit dem Volk ‚wirklich‘ Schaden zufügt: Nach Bacon ist es „eines der Merkmale der Naivität des Volkes“, „sich über Dinge zu empören, die nicht der Mühe wert sind, und dafür Dinge hinzunehmen, die man nicht tolerieren sollte“ (STB 389). Und gewinnen heutige Leser_innen bei der Beschäftigung mit den Pamphleten, Gedichten und Anekdoten, die Darnton untersucht, nicht tatsächlich leicht den Eindruck, als ginge es in ihnen, politisch
7Beobachter wie der Bruder eines der mächtigen Ministers des Königs erkennen in den populären Genres des gereimten Aufruhrs um 1750 „Anzeichen einer anderen Fronde“ (bezogen auf die Mazarinaden des Aufstandes von 1648) und lesen darin „Zeichen einer beginnenden Rebellion oder gar eines versuchten Anschlags auf des Königs Leben“ (Darnton 2002, 128).
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gesehen, um nichts, da es schließlich egal ist, wie viele Mätressen ein König hat, wenn er nur seinen Regierungsgeschäften nachkommt und politischen Erfolg hat? Die Aufstandsbekämpfung vollzieht sich entsprechend der Ursachentypologie für Bacon auf zwei Ebenen, die Foucault in seinen Vorlesungen als die beiden wesentlichen Felder der staatlichen Regierungsaktivität identifizieren wird: Das „Kalkül der Regierung“ richtet sich zum einen auf „die Reichtümer, auf ihre Zirkulation, auf die Steuern, die Abgaben usw.“, zum anderen auf „die Meinung“, wobei hier nicht länger der äußere „Eindruck des Fürsten“ der Interventionspunkt ist, sondern das, wie sich Foucault ausdrückt, „was in den Köpfen der Leute geschieht, die regiert werden“ (STB 393). Diese Meinung ist zum einen eine komplexe Zeichenpraxis und zum anderen ein kommunikatives Artefakt, das, abhängig von den Medien, die zu seiner Mobilisierung benutzt werden, ein wachsendes Publikum erreicht. Foucault schließt an seine Lektüre von Bacons Essay noch eine wichtige Bemerkung an, die die politische Praxis der Zeit betrifft, in der sich gewissermaßen die beiden Seiten der politischen Aufstandsbekämpfung widerspiegeln. Mit dem Merkantilismus und der ihn anleitenden physiokratischen Wirtschaftstheorie hatte sich Foucault bereits ausführlich in den ersten Vorlesungen beschäftigt. Für den zweiten Pfeiler der Aufstandsbekämpfung zieht er ein aufschlussreiches französisches Beispiel heran – aufschlussreich deshalb, weil es gewissermaßen die andere, nennen wir sie: die hegemoniale Seite der von Darnton beschriebenen Kommunikationssituation markiert. Foucault führt die „Regierung Richelieus“ an, die die „ersten großen Meinungskampagnen“ organisiert habe: „Richelieu hat die politische Kampagne mittels Schmähschriften, Pamphleten usw. erfunden, und er hat diesen Beruf der Meinungsmanipulateure erfunden, die man zu jener Zeit die ‚publicistes‘ nannte“ (STB 394). Die moderne staatliche Regierungstechnologie: Das ist nicht nur die Ökonomisierung des Regierens, der Einritt des kollektiven Lebens in das Kalkül der Staatsmacht, sondern zugleich auch die Ausweitung des Regierens auf das Feld der öffentlichen Meinung und ihrer Kommunikation. Es gibt also, zusammengefasst, ein doppeltes Bezugsproblem der Pastoralpolitik, ein ökonomisches und ein ‚publizistisches‘, wobei Foucaults Vorlesungen an einem massiven Ungleichgewicht kranken, denn sie konzentrieren sich fast ausschließlich auf die biopolitische Dimension der modernen Gouvernementalität. Das Wohl und Heil der politischen Herde muss aber, darin liegt der ‚Totalitätsanspruch‘ des Pastorats, materiell und ‚spirituell‘ gewährleistet werden. Mit der Aneignung des Pastorats durch den Staat rückt die Meinungsmanipulation in den Rang einer flexiblen, situationsspezifisch abgewandelten ‚Indoktrinierung‘ der Bevölkerung, der bekanntlich auch in sogenannten liberalen Staaten eine große Zukunft beschieden ist. So jedenfalls stellt sich die Situation aus staatlicher Sicht dar. Darntons Analysen zur frühen Informationsgesellschaft des 18. Jahrhunderts zeigen, wie die Bevölkerung selbst sich in das Geschäft der ‚Meinungsmache‘ einschaltet und zu einem erstrangigen medialen Player wird, der, wie wir es heute im Zusammenhang mit den Kampagnen, storms und den leaks in den sozialen Medien diskutieren, die (vermeintlichen) Geheimnisse der offiziellen Machtträger ausplaudert bzw. deren Image beschädigt oder sogar zerstört. Mit der
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Französischen Revolution, aber eben auch schon in ihrem Vorfeld, beobachten wir, wie sich das ‚Volk‘ die Techniken Richelieus aneignet und dies in der Absicht, den ‚verirrten‘ Hirten wieder an die Herde zu binden. Das revolutionäre Gegen-Verhalten tritt hier auf eine paradoxe Weise in den Dienst nicht einer Schwächung, sondern einer Verstärkung des Pastorats, auch wenn die Bemühungen der Pariser Bevölkerung in diesem Fall vergeblich sind. Der Pastor kehrt nicht zu seiner Herde zurück. Er wird schließlich sogar, wenn auch vergeblich, die Flucht antreten, um Frankreich zu verlassen und damit vollends die Zusammengehörigkeit von Hirt und Herde aufzukündigen. Sein verwaistes Amt übernehmen die Revolutionäre.
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Friedrich Balke ist Professor für Medienwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Theorie, Geschichte und Ästhetik bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum
Die Grenzen des Regierens. (Neo) liberalismus, Kritik, Ökonomie Die Geburt der Biopolitik (1978/79) Andreas Folkers
1 Einleitung Die Vorlesungsreihe Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II (GBP) von Michel Foucault weicht von der gewöhnlichen historischen und geographischen Verortung seiner Vorlesungen am College de France ab. Zum einen wird der Gallozentrismus aufgebrochen, der all seinen Vorlesungen zur Moderne eigen war. Stattdessen werden ausgiebig britische, US-amerikanische und deutsche Quellen analysiert. Zweitens reicht die Vorlesung bis in Foucaults Gegenwart und ist damit nicht nur eine „Geschichte der Gegenwart“ (ÜS 43), sondern auch eine unmittelbare Auseinandersetzung mit letzterer. Gleichwohl ist das eigentlich Erstaunliche, dass auch die Leser_innen der ca. dreißig Jahre nach ihrer mündlichen Präsentation veröffentlichten Vorlesung immer noch meinen konnten, hier ginge es um ihre von neoliberalen Reformen geprägte und geplagte Gegenwart. Mit seiner Vorlesung zum (Neo)liberalismus ist Foucault somit ein besonders meisterliches Stück seiner stets auf mehr als Nacherzählung des Gewesenen zielenden Geschichtsschreibung gelungen. Eine Geschichte, die von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart der späten 1970er Jahre reicht und zugleich von genau der neoliberalen Zukunft zu erzählen scheint, in der diese Flaschenpost – gerade zur rechten Zeit – aus dem Strom der Geschichte geborgen wurde. Es überrascht daher nicht, dass die Vorlesung nicht nur gemeinsam mit ihrer Vorgängerin „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“ (STB) die governmentality studies (Burchell et al. 1991) ermöglicht, sondern zudem einen ganz eigenen Zweig der Analyse (neo)liberalen Regierens geprägt hat (Rose 1996; Bröckling et al. 2000).
A. Folkers (*) Institut für Soziologie, Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_9
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Zweifellos haben diese Analysen viel zum Verständnis des Regierens und der Machtausübung in der Gegenwart beigetragen. Im Rückblick auf die Vorlesungen und mit einer gewissen historischen Distanz wird allerdings auch deutlich, dass die Suggestivkraft, die von der Gleichzeitigkeit neoliberaler Reformen und der Veröffentlichung der Vorlesung ausging, auch zu einer Reihe von Verkürzungen in der Rezeption beigetragen hat, die sowohl die Auslegung der Vorlesung als auch die angemessene Interpretation des (Neo)liberalismus betreffen. Gerade die mit Foucault über Foucault hinausgehende Analyse ökonomischen Denkens und der Genealogie (neo)liberalen Regierens hat viele der frühen Rezeptionsdefizite und nicht zuletzt Foucaults eigene, teils grandiose Fehlinterpretationen und Leerstellen, korrigiert (Collier 2011; Biebricher 2018; Tellmann 2017; Gane 2014; Vogelmann 2012; Folkers 2014; Gertenbach 2007). Damit stellt sich jedoch umso mehr die Frage, wie genau sich der Beitrag der Vorlesung in Foucaults Werkzusammenhang einerseits und der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft andererseits verorten lässt. Einen solchen Verortungsversuch, der die etablierte Interpretation der Vorlesungen ein Stück weit verschiebt, möchte ich in diesem Text vornehmen. Dabei werde ich mich von der These leiten lassen, dass Foucaults Vorlesungen gerade nicht einfach das gültige neoliberale Regierungsprogramm und damit die hegemoniale Machtform der Gegenwart skizzieren. Vielmehr zeigen sie zunächst einmal, wie historisch versucht wurde, das Regieren zu begrenzen. Der (Neo)Liberalismus ist eine historische Spielart der Regierungsbegrenzung neben anderen, der eine bestimmte Form politisch-bürokratischer Regierungsrationalitäten kritisiert. Darin unterscheidet sich der zweite Teil der Vorlesung zur Geschichte der Gouvernementalität nicht nur signifikant vom ersten Teil (STB), sondern etablieret auch einen neuen Gesichtspunkt in der Foucault’schen Analytik der Macht. Anstatt bloß zu zeigen, wie eine Rationalität des Regierens von einer anderen abgelöst wird, interessiert sich Foucault nun dafür, wie das Regieren kritisiert, eingeschränkt und dadurch immer wieder modifiziert wurde. Die Begrenzungen des Regierens konstituieren dabei freilich kein Außerhalb der Macht. Vielmehr modifizieren sie das Terrain der Machtausübung. Eine Grenzziehung des Regierens trennt kein Innen der Machtausübung von einem Außen der Herrschaftsfreiheit ab, sondern erzeugt eine Falte in der Topologie der Macht. Regieren vollzieht sich differentiell an unterschiedlichen Schauplätzen der Macht, gemäß unterschiedlicher – religiöser, staatlich-politischer, sozialer, ökonomischer – Modi und Veridiktionsformen. In gewisser Weise reflektiert Foucault damit ein Phänomen, das in der Soziologie als „soziale Differenzierung“ angesprochen wird. Anders als in der Soziologie ist die soziale Differenzierung hier jedoch nicht die Folie, vor deren Hintergrund ein modifiziertes Nachdenken über die Möglichkeiten, Begrenzungen und geeignetsten Mittel des Regierens erklärt werden (Luhmann 1989). Vielmehr werden die Grenzstreitigkeiten selber zum Gegenstand der Untersuchung gemacht und in ihrer performativen Kraft für die Hervorbringung bzw. Absonderung eines differenzierten Terrains der Machtausübung analysiert. Das zeigt Foucault vor allem an der Debatte darüber, ob der Markt ein Gegenstand oder
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eine Grenze des Regierens darstellen soll. Dabei geht er mit Smith auf eine liberale Kritik ein, die von der Regierung verlangt, die Grenzen des Marktes und mithin die Grenzen des Wissens über Marktphänomene anzuerkennen, und zwar zu einem historischen Zeitpunkt, an dem von einer vollends ausdifferenzierten, autonomen Marktsphäre noch überhaupt keine Rede sein konnte. Die liberale Kritik hat dazu beigetragen den Markt überhaupt erst als Begrenzungsprinzip und später als alternativen Modus des Regierens hervorzubringen. Versteht man Die Geburt der Biopolitik in diesem Sinne als Reflexion auf die Begrenzungen des Regierens und die Komplizierung der Topologie der Macht verändert das zugleich das Verständnis von drei wesentlichen Begriffen bzw. Gegenständen der Foucault’schen Regierungsanalytik. Zunächst einmal ist „Kritik des Regierens“ nicht mehr nur das Ziel, sondern hier auch der Gegenstand von Foucaults Geschichte der Gouvernementalität. Foucault untersucht den „Willen nicht so regiert zu werden“ (WK 11) als ein historisch wiederkehrendes Motiv der Bemühungen um die Begrenzung und Modifikation der Regierungstätigkeit und problematisiert auf diese Weise gängige Formen der Staatskritik. Zweitens ist der (Neo)liberalismus in dieser Hinsicht eine ganz wesentliche Kraft dieser Regierungskritik. Er ist damit in einer Doppelrolle als Rationalität und Kritik des Regierens zu untersuchen. Schließlich ist, drittens, die „Ökonomie“ nicht nur ein Gegenstand und eine Wissensform in den Diensten der Regierung, sondern markiert zugleich ein Instrument und ein Begrenzungsprinzip der Gouvernementalität. Ich werde im Folgenden zunächst zeigen, wieso der Fokus auf den (Neo)liberalismus eine eingehendere Beschäftigung mit der Biopolitik erschwert hat, wieso also der Vorlesungstitel so wenig mit deren Inhalt zu tun hat (2). Im Anschluss gehe ich auf unterschiedliche Spielarten der Regierungsbegrenzung ein. Dabei werde ich zeigen, inwiefern der (Neo)liberalismus eine zentrale Form der Kritik des Regierens darstellt (3). Schließlich gehe ich auf das schwierige Verhältnis von Ökonomie und Regierung im (Neo)liberalismus ein (4).
2 Von der Biopolitik zum (Neo)liberalismus Die Geburt der Biopolitik setzt in vielerlei Weise die Überlegungen zur Gouvernementalität aus der Vorlesungsreihe Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (STB) des vorherigen Jahres fort. So finden sich im zweiten Teil die vielleicht luzidesten Stellen zu Methodologie und begrifflichen Grundentscheidungen der Foucault’schen Regierungsanalytik: Untersucht wird nicht die Regierungspraxis, wie sie „wirklich war“, sondern die „Regierungskunst“, verstanden als „Instanz der Reflexion“ (GBP 14) des Regierens.1 Foucault geht den Rationalitäten des
1Die gängige Kritik an Gouvernementalitätsanalysen, diese würden immer nur Programme und keine Praktiken analysieren, geht deshalb ins Leere. Die Gouvernementalitätsanalyse ist gerade gehalten, sich nicht in einen positivistisch-evaluativen Abgleich von Programm und Praxis zu ergehen, wie es in der „good governance“-Forschung üblich ist.
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Regierens in historisch wechselnden Gestalten nach und unterläuft damit universelle Begriffe und Analyseeinheiten der politischen Theorie, wie Souveränität, Volk und vor allem Staat (GBP 15). Die historische Analytik des Regierens unterscheidet sich von der Staatstheorie, die Foucault für eine „unverdauliche Mahlzeit“ (GBP 114) hält, weil sie den Blick auf ein wesentlich heterogeneres und komplexeres Feld des Regierens verstellt. Statt vom Staat auszugehen, dechiffriert Foucault ihn als „Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten“ (GBP 115). Darin lässt sich eine konsequente Erweiterung der „Mikrophysik der Macht“ (MM) sehen, die gerade „keine Frage der Größenordnung“ ist, sondern einen bestimmten „Gesichtspunkt“ (GBP 261) darstellt, die Macht zu analysieren. Es geht also nicht darum, bloß die „Mikroebene“ zu betrachten – das Subjekt, die Interaktion etc. – sondern nachzuvollziehen, wie scheinbar selbstständige Makromächte überhaupt entstehen können.2 Gleichwohl gibt es zwischen beiden Vorlesungsreihen auf der sachhaltigen Ebene eine größere Diskontinuität als zumeist wahrgenommen. Foucault setzt nämlich seine in der ersten Vorlesungsreihe begonnene Geschichte aufeinanderfolgender Regierungsrationalitäten nicht einfach fort, so dass der (Neo)liberalismus, dem er nun fast die gesamte Vorlesung widmet, als historischer Nachfolger von Pastoralmacht und Staatsräson (die Hauptgegenstände der ersten Vorlesung) dargestellt würde. Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten an der Tatsache, dass der ursprünglich anvisierte Titel der Vorlesung so gut wie gar nichts mit dessen Inhalt zu tun hat. Es geht in der Vorlesung um Märkte und Interessen, um Rechtsstaatlichkeit und Nutzenkalkül, um Europa und die SPD – aber nicht um Biopolitik, verstanden als die Regierung des Sets von Problemen, die „durch die Phänomene gestellt wurden, die eine Gesamtheit von als Population konstituierten Lebewesen charakterisieren: Gesundheit, Hygiene, Geburtenziffer, Lebensdauer, Rassen…“ (GBP 435). Hätte Foucault den Faden der vorherigen Vorlesung einfach aufgreifen und weiterspinnen wollen, dann hätte er wieder auf die Themen eingehen können, die er in Vorlesung 1–3 des vergangenen Jahres skizziert hatte, in denen es um die „Sicherheitstechnologien“ ging, deren Zielscheibe die Bevölkerung ist (STB 13–133). Er hätte zeigen können, wie das, was er in der vergangenen Vorlesung dargestellt hatte, das „Präludium“ (STB 268) der modernen Biopolitik darstellt. Zunächst hat die Pastoralmacht eine Regierungskunst etabliert, die vom Schema Hirte-Herde ausgegangen ist und in ihrer karitativen Praxis bereits eine erste, wenngleich noch theologisch vom Thema des Heils überdeterminierte, Form der Sorge um das Leben etabliert. Die Staatsräson und insbesondere ihr wesentliches Instrument die Polizey hätte demgegenüber eine
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ist daher ein – insbesondere von der sogenannten materialistischen Staatstheorie gern gepflegtes – Missverständnis, die Gouvernementalitätsanalyse als eine Subjektformierungsanalyse auf der Mikroebene zu verstehen, während die Meso- (staatliche Institutionen) und Makroebene (die kapitalistische Gesellschaft) den marxistischen Großtheorien überlassen bleibt. Eher lässt sich Foucaults Verfahren mit dem Ansinnen der Akteur-Netzwerk-Theorie (Callon und Latour 2006) in Verbindung bringen, den großen Leviathan zu demontieren.
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umfassende staatliche „Vorsorge“ (Hegel 1970, 346) organisiert, der, um wirklich als Biopolitik zu gelten, nur noch „die Bevölkerung“ als statistisch vermessenes „Subjekt-Objekt“ (STB 117) der Regierung gefehlt hat. Gemäß dieser Logik hätte Foucault all die Formen der paternalistisch-wohlfahrtsstaatlichen Biopolitik seit dem 19. Jahrhundert aufzeigen können, die im besten Fall zu allgemeiner Gesundheits- und Sozialversicherung und im schlimmsten Fall zum KZ geführt haben. Wir erfahren aber kaum etwas über diese Art der sicherend-sorgenden Biopolitik der Bevölkerung, über den Aufstieg des Sozialen (Donzelot 1988) und der Sozialversicherung (Ewald 1993), die Regierung der Armut (Procacci 1991), über Hygiene, Bakteriologie (Latour 1988; Gandy 2004) und Infrastrukturentwicklung (Osborne 1996; Folkers 2017), über die Biopolitik des Kolonialismus (Stoler 1995) und Eugenik (Weingart et al. 1988). Und wenn man doch etwas über dieses dichte Netz aus bürokratischen Vorschriften und bedürftigen Körpern, umwälzenden Errungenschaften, und grausamen Gewaltexzessen erfährt, dann nur negativ durch die Kritik des Neoliberalismus am NS-Regime und an der Planwirtschaft (GBP 156–160), an der Politik des New Deal und am Beveridge Plan (GBP 301 f.). Statt aber den (Neo)liberalismus als substantielles gouvernemental-biopolitisches Regime zu beschreiben, interpretiert Foucault diesen als „ein Instrument der Realitätskritik: der Kritik einer früheren Gouvernementalität, von der man sich freizumachen sucht, einer aktuellen Gouvernementalität, die man zu reformieren und zu rationalisieren bestrebt ist“ (GBP 438). Der (Neo)liberalismus ist die Dagegen-Partei der modernen Regierungskunst, insofern er stets davon ausgeht, „daß zuviel regiert wird“ (GBP 437) und folglich versucht, die Regierungsaktivität zu begrenzen. Das gilt nicht zuletzt für biopolitische Regierungsprojekte wie die Implementierung umfassender sozialer Sicherungen, die der (Neo)liberalismus verdächtigt, mit dem Aufbau überbordender Bürokratien einherzugehen, die den staatlichen Zugriff auf das Leben des Einzelnen ermöglichen. Der (Neo) liberalismus verkompliziert damit den Versuch, eine kontinuierliche Geschichte der modernen Biopolitik von der Pastoralmacht bis zur modernen Wohlfahrtspolitik zu schreiben. Vielmehr muss – so Foucault – zunächst geklärt werden, welche Kompromisse und Verschiebungen notwendig waren, um substantielle biopolitische Regierungsprojekte mit (neo)liberalen Rationalitäten und Sensibilitäten zu vereinbaren.3 „Wie kann dieses Phänomen der ‚Population‘ mit seinen spezifischen Wirkungen und Problemen in einem System Berücksichtigung finden, das auf die Respektierung des Rechtssubjekts und der Entscheidungsfreiheit bedacht ist?“ (GBP 435).
3Wie Ewald (1993) gezeigt hat stellt die Sozialversicherung einen solchen Kompromiss zwischen liberalen und sozialistischen Bestrebungen dar, weil sie es ermöglicht kollektive Sicherungsprinzipien zu etablieren ohne die Prinzipien des liberalen Individualismus zu kompromittieren. Ein ähnlicher Kompromiss kann gegenwärtig in der marktkonformen Bearbeitung ökologischer Probleme (z. B. durch Emissionsmärkte) gesehen werden.
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3 Kritik und die Begrenzung des Regierens Der (Neo)liberalismus ist bei Weitem nicht die einzige historische Bewegung der Regierungskritik. Entsprechend führt Foucault das Thema der Grenzen des Regierens gleich zu Beginn der Vorlesungsreihe zunächst noch ohne Bezug auf den Liberalismus ein und verortet diesen dadurch in einer längeren Tradition. Eine erste Grenze des Regierens kann schlicht in den territorialen Grenzen des Staatsgebiets gesehen werden. Seit dem Westfälischen Frieden sollen europäische Staaten ihre Machtansprüche auf das eigene Territorium beschränken und sich von imperialen und missionarischen Eroberungsphantasien verabschieden (GBP 20). Die absolutistische Regierung muss sich folglich bereits mit außenpolitischen Beschränkungen arrangieren. Dahinter steht – auch wenn das Foucault nicht explizit erwähnt – die Abkehr von einer religiös dominierten Regierungsrationalität, die in den Konfessionskriegen des 17. Jahrhunderts mündeten. Demgegenüber etabliert die zu dieser Zeit aufkommende Staatsräson eine von der Religion befreite autonome Sphäre genuin politischer Reflexion auf das Regierungshandeln. Wie immer unbegrenzt die absolutistischen Regierungen später erscheinen mochten, immerhin verfolgten sie nur noch unbegrenzte weltliche und keine unbegrenzt religiösen Ziele mehr. Diese Politisierung des Regierens erlaubte den Verzicht auf Konfessionskriege und die Bindung an internationales Recht und Territorialgrenzen.4 Der Begrenzung der Regierungspraxis der Staatsräson nach außen stand eine unbegrenzte Regierungstätigkeit im Inneren gegenüber, deren wesentlichen Arm die Polizei in einem umfassenden Sinn darstellte. „Die Begrenzung des internationalen Ziels des Regierens nach der Staatsräson […] hat die Unbegrenztheit in der Ausübung des Polizeistaates zur Entsprechung“ (GBP 21). Allerdings wurde auch dem Polizeistaat eine Reihe von Grenzen auferlegt. Zunächst sollte die Etablierung rechtsstaatlicher Prinzipien, die die Regierung an Verfahrensvorschriften binden, den ausufernden Polizeistaat begrenzen. Rechtsstaat meint hier noch nicht Menschen- bzw. Bürger_innenrechte, sondern zunächst einmal nur das öffentliche Recht, das den Zugriff der staatlichen Macht in halbwegs vorhersehbaren Bahnen hält und somit staatliches Willkürhandeln einschränkt. „Das öffentliche Recht ist […] im 17. und 18. Jahrhundert oppositionell“ (GBP 24). Erst im Verlauf der bürgerlichen Emanzipation kommt es zur Etablierung der Menschenrechte als weiteres Begrenzungsprinzip der Regierung (GBP 65 f.). Auf den ersten Blick ist eine Interpretation der Menschenrechte, die in diesen ein Instrument des Schutzes der Bürger_innen gegenüber dem Staat sieht, durchaus konventionell. Originell wird Foucaults Blick auf die Menschenrechtsthematik allerdings dadurch, dass er sie aus ihrem gewöhnlichen Zusammenhang mit Themen wie Souveränität, Volk, Demokratie und Staat löst, um sie als Teil einer umkämpften Geschichte des Regierens kenntlich zu machen. So verstanden,
4So
zumindest die Interpretation von Reinhard Koselleck (1973, 11–39).
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deuten Foucaults Bemerkungen eine historisch-situierte und politisch-strategische Theorie der Menschenrechte an. Menschenrechte sind demnach weniger ein ewiger Selbst- und Endzweck, sondern ein spezifisches und historisch kontingentes Mittel zur Begrenzung des Regierens. Die bürgerlichen Revolutionen wären so betrachtet kein definitiver Schnitt in der Geschichte, der endlich die Freiheit des menschlichen Individuums zur Geltung gebracht und zum Prinzip der Politik gemacht hätte, sondern nur eine Neuverhandlung des Verhältnisses zwischen Regierung und Regierten. Die Freiheit, die die Menschenrechte einbringen sollen, wären so betrachtet nichts „anderes – aber das ist schon sehr viel – als ein aktuelles Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten“ (GBP 97). In diesem Sinne lässt sich auch eine Bemerkung von John Dewey verstehen, der ähnlich wie Foucault die moderne Idee der Freiheit und die Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft/Staat aus der spezifischen Kräftekonstellation während der bürgerlichen Revolutionen erklärte. Born in revolt against established forms of government and the state, the events which finally culminated in democratic political forms were deeply tinged by fear of government, and were actuated by a desire to reduce it to a minimum so as to limit the evil it could do.[…] Freedom presented itself as an end in itself, though it signified in fact liberation from oppression and tradition.[…] There was no logic which rendered necessary the appeal to the individual as an independent and isolated being. In abstract logic, it would have sufficed to assert that some primary groupings had claims which the state could not legitimately encroach upon. In that case, the celebrated modern antithesis of the Individual and Social, and the problem of their reconciliation, would not have arisen.[…] But […] the obnoxious state was closely bound up […] with other associations, ecclesiastic (and through their influence the family), and economic, such as gilds and corporations, and, by means of the church-state, even with unions for scientific inquiry and with educational institutions. The easiest way out was to go back to the naked individual, to sweep away all associations as foreign to his nature and rights. (Dewey 1927, 86–88)
Das Individuum ist gewissermaßen die sich anbietende Restgröße, um gegenüber allen politisch-sozialen Kräften des unbegrenzten Polizeistaats eine Distanz aufzubauen.5 Ironischerweise ist gerade dieser a-politische Rest in der politischen Theorie zum Subjekt der Politik gemacht worden. Und auch die Menschenrechte des globalen Humanitarismus, wie er sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt
5Ähnlich interpretiert Gesa Lindemann (2011) den Aufstieg der Idee der Menschenwürde aus dem sozialen Differenzierungsgeschehen moderner Gesellschaften. Der Mensch ist das, was ansonsten in keinem Funktionssystem einen Platz und Wert hätte. Deswegen muss ihm nachträglich ein Recht zugesprochen werden, was nicht mehr an einer je spezifischen sozialen Rolle in einem sozialen Funktionssystem hängt. Im Gegensatz zu dieser Erklärung über das soziologische multi-tool der „sozialen Differenzierung“ legt die hier vertretene Interpretation Wert darauf, soziale Differenzierung nicht als Erklärungsgröße vorauszusetzen, sondern aus den historischen Kämpfen um Macht heraus verständlich zu machen. Außerdem sei angemerkt, dass sich die Postulierung der Rechte des „nackten Individuums“ nicht vor dem Hintergrund einer bereits in klar abgrenzbare Funktionsbereiche ausdifferenzierten Gesellschaft vollzieht, sondern sich gegen einen übermächtigen, alle Details des Lebens reglementierenden Staat richtet.
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hat, sind Rechte des Individuums „den Regierungen gegenüber“ (DE IV/355). Auch hier ist der Mensch wieder die Restgröße des „nackten Individuums“, nur dass dieses weniger als Träger unveräußerlicher Freiheiten figuriert, sondern als Träger eines verwundbaren, prekären und deshalb schützenswerten Lebens.6 Bei den bisher diskutierten Begrenzungsformen des Regierens – territoriale Begrenzung und internationales Recht nach außen, Begrenzung durch öffentliches Recht und durch Menschenrechte im Inneren – handelt es sich um normativ-juridische Grenzen. Demgegenüber analysiert Foucault im Großteil der Vorlesung eine andere Art der Begrenzung, die er als „interne“, „faktische Begrenzung“ (GBP 25), als „Grenze […] der Nützlichkeit“ (GBP 67) und „Selbstbegrenzung durch das Prinzip der Wahrheit“ (GBP 36) bezeichnet. Damit spricht er jene Begrenzungstechniken an, die der Liberalismus durch Bezug auf die Gesetzmäßigkeiten der politischen Ökonomie zur Geltung bringt. Die Regierung wird hier weniger gemäß dem Schema der Il-Legitimität, sondern vielmehr dem der In-Effektivität beurteilt. Die unbegrenzte Regierung, die etwa übermäßig in den Markt interveniert, wird vor allem dafür kritisiert, gegen Nützlichkeitserwägungen zu verstoßen. Dieser Übergang von natürlichen Rechten zur Begrenzung durch die Natürlichkeit ökonomischer Gesetzmäßigkeiten geht laut Foucault mit einer neuen „Herrschaft des Wahren in der Politik“ (GBP 36) einher. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein klassisches Argumentationsmuster aus dem Foucault’schen Theoriebaukasten. Und tatsächlich verweist Foucault explizit auf seine Arbeiten zur Strafjustiz, in denen er einen ähnlichen Übergang von der Rechts- zur Wahrsprechung bzw. von der Macht des Gesetzes zur Macht der Norm diagnostiziert hat (GBP 59 f., ÜS). Allerdings steht die liberale „Herrschaft des Wahren“ gerade nicht lediglich in den Diensten der Ausweitung der Macht, sondern ist ein Instrument zur Einschränkung von bestimmten Spielarten des Regierens. Die politische Ökonomie ist nicht einfach ein neues Machtwissen der Regierung (siehe GBP 52), sondern zunächst einmal ein regierungskritisches Wissen. Mit dem Liberalismus beginnt ein Zeitalter, in dem „die politische Ökonomie sich als Kritik der gouvernementalen Vernunft darstellen kann“ (GBP 389). Hatte Foucault in der vorangegangen Vorlesungsreihe die politische Ökonomie noch als „wichtigste Wissensform“ (STB 162) der Gouvernementalität charakterisiert, so versteht er nun zumindest die liberale Ökonomik als wichtigste Form der Regierungskritik. Für den Liberalismus stellt der Markt selbst und nicht „der Kopf der Ökonomen“ den entscheidenden „Ort und […] Mechanismus zur Bildung von Wahrheit“ (GBP 52) dar. Der Markt ist ein verteilter, a-subjektiver Verdiktionsmodus,
6Vielleicht
liegt im Humanitarismus heute die wichtigste Schnittstelle zwischen einer Biopolitik, für die Leben das höchste politische Gut darstellt, und einem Liberalismus, für den Solidarität nicht mehr, aber auch nicht weniger bedeutet als die Unfähigkeit, Grausamkeit zu tolerieren (Rorty 1992). Zu Praxis und Paradoxien des Humantiarismus aus Foucault’scher Perspektive siehe Fassin (2012).
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der Wahrheit in Form von Preisen kommuniziert. In seiner durchaus eigenwilligen Interpretation des Motivs der unsichtbaren Hand bei Adam Smith macht Foucault geltend, dass für den Liberalismus die Funktionsweise des Verdiktionsmechanismus Markt opak bzw. unsichtbar bleiben muss. Die Aufgabe der politischen Ökonom_innen ist es deshalb vor allem, die Grenzen des ökonomischen Wissens herauszuarbeiten anstatt zu versuchen, das Sichtfeld der Regierung auszuweiten. Darin sieht Foucault eine Homologie zwischen der liberalen Ökonomie in der schottischen Aufklärung und der Vernunftkritik des deutschen Aufklärers Immanuel Kant. „Schließlich sollte Kant dem Menschen ein wenig später sagen, daß er nicht die Gesamtheit der Welt erkennen könne. Nun, die politische Ökonomie hatte dem Souverän einige Jahrzehnte zuvor gesagt: ‚Auch du kannst nicht erkennen, du kannst nämlich die Gesamtheit der Wirtschaftsprozesse nicht erkennen.‘“ (GBP 389) Diese epistemische Kritik an gouvernementalen Versuchen der Intervention in das ökonomische Geschehen ist auch für den Neoliberalismus charakteristisch. Vor allem die österreichische Schule um Friedrich Hayek und Ludwig von Mises ist für ihre skeptische epistemische Haltung bekannt, die die „Anmaßungen des Wissens“ kritisiert (Hayek 1989). Daneben formuliert aber insbesondere der Neoliberalismus eine Kritik des Regierens, die man in Anlehnung an Max Weber (1988, 150) als technische Kritik bezeichnen kann. Ihr geht es darum, zu zeigen, wie die eingesetzten Instrumente und Praktiken der Gouvernementalität in Konflikt mit ihren eigentlich anvisierten Zwecken geraten können. Auch diese Art der Kritik ist keine, „politische oder juridische Kritik“ (GBP 341), sondern eine Kritik aus der Perspektive von Nützlichkeitserwägungen, die Kosten und Nutzen des Regierungshandelns gegeneinander abwägt. Schon in der klassischen politischen Ökonomie lässt sich eine solche Regierungskritik beobachten. So kritisieren die Physiokraten den Umgang der absolutistischen Herrscher mit dem Nahrungsmangel, weil sie glauben, dass die Regierungsinterventionen in das ökonomische Geschehen das Phänomen, das sie bekämpfen wollen, nur verschlimmern (STB 55–67). Aber vor allem im amerikanischen Neoliberalismus entfaltet diese Kritik ihre volle Kraft, weil sie hier nicht mehr nur „ein Luftschloß oder die Idee eines Theoretikers“ (GBP 341) ist, sondern sich verstetigt und gewissermaßen institutionalisiert. Foucault spielt hier wohl auf die neoliberale Denkschule der „public choice“-Theorie an, die systematisch beginnt, das Handeln der öffentlichen Hand gemäß eines „ökonomische[n] Raster[s]“ (GBP 340) zu überprüfen und damit einem „ständige[n] ökonomische[n] Tribunal“ (GBP 342) zu unterwerfen. Wie an Foucault anschließende Arbeiten gezeigt haben, haben sich durch neue Praktiken im accounting (Power 1999) und in der Budgetplanung (Collier 2005) Konventionen und Formate der Regierungskritik gebildet, die zu einer dauerhaften ökonomischen „Bewährungsprobe“ (Boltanski und Thévenot 2007) des politischen Handelns geworden sind, die sich häufig im Inneren der Regierungsapparate institutionalisiert hat. Der (Neo)Liberalismus ist also nicht einfach nur ein alternatives Regierungsprogramm, wie die geläufige Rede von neoliberaler Gouvernementalität in den
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post-Foucault’schen Regierungsanalysen suggeriert. Vielmehr ist er zunächst einmal eine Kritik etatistischer Spielarten des Regierens. Der Liberalismus ist ein fester Bestandteil des „Zeitalter[s] der kritischen gouvernementalen Vernunft“ (GBP 29). Damit verortet Foucault den Liberalismus in den vielfältigen Bewegungen der Kritik, die von dem Willen getragen sind, „nicht so regiert zu werden“ (GBP 11). Diese Beschreibung der Kritik in der Moderne hat Foucault nur kurze Zeit vor der Vorlesungsreihe Die Geburt der Biopolitik in dem berühmten Vortrag „Was ist Kritik?“ formuliert. Während dieser Vortrag zumeist nur als Selbstbeschreibung von Foucaults eigenem Kritikprogramm verstanden wurde, zeigt sich mit Blick auf Die Geburt der Biopolitik, dass Foucault Kritik zugleich zum Gegenstand seiner genealogischen Untersuchungen gemacht hat. Dieser „Genealogie der Kritik“ (Folkers 2016) geht es nicht darum, Kritik per se zu diskreditieren. Vielmehr kann sie einerseits die historischen Effekte der Kritik sichtbar machen und andererseits stumpf gewordene Semantiken der Kritik identifizieren. So argumentiert Foucault (GBP 265–269), dass eine bestimmte Form der auch in links-anarchistischen Kreisen gepflegten Staatskritik „inflationär“ geworden ist, insofern sie in ganz ähnlicher Weise auch von den Neoliberalen geübt wurde. Die Neuorientierung der Analyse von Staatlichkeit durch das Konzept der Gouvernementalität ist so verstanden nicht zuletzt eine Reaktion auf die Fallstricke der Staatskritik.
4 Ökonomisierung der Politik – Politisierung der Ökonomie Der Liberalismus ist nicht nur eine Bewegung zur Kritik und Begrenzung der Regierung, sondern hat immer wieder zu einer Neuausrichtung des Regierens beigetragen. Zum einen hat sich die Dauerkritik des „Zuviel-Regierens“ im Inneren der Regierungsapparate institutionalisiert. Zum anderen hat der Liberalismus in seiner langen Geschichte dazu beigetragen, ganz neue Formen und Felder des Regierens zu etablieren. Das beginnt bereits mit dem klassischen Liberalismus. Zwar zielte die Kritik des Regierens und die Empfehlung zum laissez-faire offiziell darauf, den Markt sich selbst zu überlassen. Aber wie etwa Karl Polanyi (1957) gezeigt hat, existierte der „freie Markt“ zunächst bloß in den Schriften der Liberalen und noch nicht im faktischen ökonomischen Geschehen, also bloß im Sollen schottischer Moralphilosophie, nicht im Sein britischer Handelsvollzüge. Anstatt eine Grenze zwischen zwei präexistierenden Entitäten – Staat und freier Markt – zu ziehen, bestand der Erfolg der liberalen Kritik gerade darin, dass mit einer Reihe institutioneller Vorkehrungen eine Marktsphäre geschaffen wurde, die scheinbar unabhängig vom staatlichen Handeln fungierte. Die liberale Kritik hat damit eine Falte in die Topologie der Macht geschlagen und nicht bloß die nachträgliche Semantik einer sich ohnehin schon vollzogenen sozialen Differenzierung
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geliefert.7 Die Grenzen zwischen unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Gewebes sind nicht einfach durch klare Grenzlinien voneinander abgetrennt, sondern gewissermaßen durch die Faltungen des Machtgeschehens zugleich miteinander verbunden. Im Neoliberalismus wandelt sich die aktive, liberale Gouvernementalität vom stummen Subtext zum expliziten Inhalt der Regierungsprogrammatik. Das hat nicht nur mit der berühmt-berüchtigten politischen Rolle von neoliberalen Theoretiker_innen seit dem Zweiten Weltkrieg – von den ordoliberalen Beratern Ludwig Erhards bis zu Hayeks Konsultationen Pinochets – zu tun. Vielmehr verweist der Wandel liberaler Gouvernementalität auf eine Verschiebung des Ökonomieverständnisses im Neoliberalismus. Die Neoliberalen geben die „naturalistische Naivität“ (GBP 172) des klassischen Liberalismus und der Neoklassik auf, nach der Märkte wie Naturtatsachen existieren und nur in Ruhe gelassen werden müssen, um im Dienste des Wohls aller zu funktionieren. Die Beziehung zwischen Markt und Staat wird nicht mehr als „Beziehung wechselseitiger Begrenzung verschiedener Bereiche“ (GBP 174) verstanden. Es wird vielmehr von einem „komplexe[n] Exterioritäts- und Interioritätsverhältnis“ (GBP 437) von Staat und Markt, Politik und Ökonomie ausgegangen. Der Neoliberalismus zeichnet sich durch ein geradezu konstruktivistisches Verständnis des Ökonomischen aus. Märkte müssen gehegt, gepflegt oder sogar geschaffen werden, damit die Ökonomie optimal funktionieren kann. Und dieses Hegungs- und Herstellungshandeln ist Aufgabe der Regierung. Dabei unterscheidet sich die ordoliberale Regierungsstrategie von der des amerikanischen Neoliberalismus. Während der Ordoliberalismus laut Foucault bestrebt ist, den Markt in einen sozio-politischen Rahmen einzubetten,8 versuchen die amerikanischen Neoliberalen, ökonomische Rahmungen auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen. In der ordoliberalen Wirtschaftspolitik gibt sich der Staat als Wettbewerbshüter, der Monopolbildungen verhindert, um die Konkurrenz der Marktakteur_innen verstanden als Garanten „ökonomischer Rationalität“ (GBP 171) zu gewährleisten (GBP 190). Zudem können staatliche Akteure durch Geld- und Zinspolitik versuchen, günstige Bedingungen für Märkte zu schaffen und Preisstabilität zu wahren (GBP 197). Schließlich sind gesellschaftspolitische Maßnahmen dafür verantwortlich, die soziokulturelle Grundlage für eine
7Deswegen
wäre es falsch, in der Kritik des Regierens in der Epoche der Aufklärung bloß einen Reflex sozialstruktureller Transformationsprozesse zu sehen, durch die das Regieren auf die Komplexität einer differenzierten Gesellschaft aufmerksam gemacht wurde (Leanza 2017, 91). Gerade ein Luhmann’sches Komplexitätsargument ist in diesem Zusammenhang schon deshalb problematisch, weil damit genau die Kritik wiederholt wird, die – zumindest laut Foucault – von den Liberalen selbst stets geübt wurde und wird: Der Markt sei zu komplex, um vom Souverän oder ökonomischen Regierungsexpert_innen überblickt werden zu können. 8Siehe aber die Interpretation von Biebricher und Vogelmann (2017, 7 f.) nach der die Ordoliberalen bereits eine aktivierende Sozialpolitik betreiben und damit zur Ausweitung ökonomischer Handlungsmuster beitragen.
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„gesunde“ Wirtschaft zu schaffen. Die Pathologien der industriellen Massengesellschaft sollen durch die Förderung mittelgroßer Wirtschaftseinheiten gemindert werden (GBP 210 und 335 f.). Die Ordoliberalen verstehen sich gewissermaßen als Gärtner_innen eines Marktgeschehens, dass zwar von sich aus gedeiht, aber zugleich der sorgsamen Pflege und rahmenden Einhegung bedarf, um Wildwuchs zu verhindern. Der amerikanische Neoliberalismus versucht demgegenüber durch die Ausweitung ökonomischer Rahmen gesellschaftliche Abläufe zu optimieren. Es geht ihm nicht um eine Rückbindung des Ökonomischen an das Soziale, sondern um die strategische Ausweitung ökonomischer Denk- und Handlungsweisen und damit um die „Ökonomisierung des Sozialen“ (Bröckling et al. 2000). Ökonomisierung heißt dabei nicht einfach die Ausweitung der Marktsphäre oder eine zunehmende Kommodifizierung. Bereits die „Anwendung des ökonomischen Rasters“ (GBP 332) hat ökonomisierende Effekte. Ähnlich wie Koray Çalışkan und Michel Callon (2009) argumentiert auch Foucault, dass schon die Fassung sozialer Vorgänge in einem „ökonomischen Raster“ bzw. Rahmen (Callon 1998a) – etwa durch Einführung bestimmter kalkulativer Praktiken – eine Ökonomisierung darstellt. Wenn Foucault also davon spricht, dass der amerikanische Neoliberalismus versuche die „ökonomische Form des Marktes zu verallgemeinern“ (GBP 336), dann geht es dabei nicht nur um einen Markt als Ort „monetärer Tauschhandlungen“, sondern um den Markt als „Prinzip der Verständlichkeit, als Prinzip der Deutung sozialer Beziehungen und individueller Verhaltensweisen“ (GBP 336). Das zeigt sich etwa an dem neoliberalen Verständnis der Kriminalität. Kriminelle werden hier nicht als anthropologische Figuren verstanden, sondern als ökonomische Akteur_innen, die Kosten und Nutzen ihrer Handlungen wägen. Kriminelle Neigungen lassen sich damit durch die Modifikation des ökonomischen Umfeldes und nicht durch Veränderungen eines kriminellen Wesens verändern (GBP 343–352). Eine weitere wichtige Ausweitung des ökonomischen Rasters betrifft die bereits angesprochene ökonomische Analyse politischen Handelns (GBP 340– 342). Auch ohne Privatisierung und Vermarktlichung öffentlicher Zuständigkeiten kann es dadurch zu einer „Ökonomisierung“ des Staates kommen. Häufig zielt die interne Regierungskritik darauf nachzuweisen, dass staatliche Institutionen per se ungeeignet sind, bestimmte öffentliche Aufgaben zu erledigen. Märkte oder marktähnliche Situationen könnten besser – d. h. effektiver – mit bestimmten Problemen umgehen. Dabei handelt es sich zunächst um hypothetische Marktsituationen, die auf Grundlage allgemeiner Annahmen über rationales Verhalten und Marktmechanismen modelliert werden. Damit diese Märkte eine Existenz jenseits des Papiers bzw. des Computers annehmen, müssen sie ironischerweise mit Hilfe von staatlichen Interventionen und Regulationen geschaffen werden. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe derartiger Märkte, die vormals staatliche Steuerungsfunktionen und Regulierungsaufgaben übernommen haben. Finanzmärkte für Termingeschäfte sind seit Ende der 1970er Jahre gefördert worden, um den Welthandel gegen Wechselkursschwankungen nach Ende des Bretton Woods-Abkommens abzusichern.
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Elektrizitätsmärkte, wie z. B. sogenannte Kapazitätsmärkte (Breslau 2013) oder der momentan von der Bundesregierung propagierte „Strommarkt 2.0“ (Folkers 2019a) soll dafür sorgen, Stromverbrauch und Konsum aufeinander abzustimmen und damit die Steuerungstätigkeit technisch-administrativer Behörden zu reduzieren. Märkte für CO2-Emissionen versprechen, dass mit ihrer Hilfe der kosteneffiziente Weg in die dekarbonisierte Wirtschaft beschritten werden kann (Lohmann 2005). Gerade das letzte Beispiel ist aufschlussreich, weil es zeigt, wie im neoliberalen Regieren Märkte gleichzeitig als Problem und Technologie des Regierens ins Spiel gebracht werden. Denn der Klimawandel, der nun durch CO2-Emissionsmärkte aufgehalten werden soll, gilt als der größte „market failure“ (Stern 2007) der Geschichte, insofern Märkte unfähig waren, ihre Externalitäten zu berücksichtigen. Der Markt hat versagt, weil es ihm nicht gelungen ist, die ökologische Wahrheit in Form angemessener Preise zu kommunizieren. Wenn es jedoch gelingt, mithilfe von Emissionsmärkten ökonomische Externalitäten (Emissionen) durch Bepreisung zu internalisieren, wenn also die Preise dazu gebracht werden, die ökologische Wahrheit zu sprechen, können sie von Böcken zu Gärtnern werden. Foucault selber erwähnt diese Praktiken des „market design“ nicht, wohl auch, weil die große Zeit des Marktdesigns erst in den 1980er Jahren beginnen sollte (siehe dazu: Mirowski und Nik-Khah 2017). Sie seien trotzdem benannt, weil hier die Annahmen über die Veridiktionsfunktion von Märkten und die „aktive Gouvernementalität“ des Neoliberalismus auf paradigmatische und ungemein wirksame Weise zur Geltung kommen. Märkte können eine Wahrheit sprechen, die Regierungen und Expert_innen überhaupt nicht zugänglich ist. Sie können dies aber nur, wenn sie zuvor von Regierungen und Expert_innen richtig programmiert wurden. Märkten wird zugetraut, Probleme besser zu adressieren, als die Politik der öffentlichen Hand. Aber es braucht dennoch die sichtbare Hand des Staates, damit die unsichtbare Hand des Marktes ihre Funktionen erfüllen kann. Der Markt ist damit nicht mehr Gegenstand oder Grenze, sondern vielmehr ein Mittel des Regierens und der Politik geworden. So hat der Neoliberalismus nicht nur zu einer Ökonomisierung der Politik, sondern auch zu einer Politisierung der Ökonomie und des Marktes beigetragen.
5 Ausblick Zum Abschluss möchte ich noch einmal anhand von vier Punkten verdeutlichen, welche Implikationen die von mir vorgeschlagene Interpretation von Die Geburt der Biopolitik für das Verständnis von Foucault und der Forschung zur Gouvernementalität hat. 1. Zwar ist die Vorlesung unbestreitbar eine kritische Genealogie moderner Regierungskünste. Sie praktiziert aber nicht nur Genealogie als Kritik, sondern enthält auch wichtige Elemente einer Genealogie der Kritik. Foucault geht mit dem (Neo)liberalismus auf eine historisch ungemein wirkmächtige Spielart der
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Regierungskritik ein und analysiert damit nicht nur, wie sich die Macht ausweitet und wie sich neue gouvernementale Rationalitäten Schritt für Schritt in den modernen Institutionen des Regierens sedimentieren. Er zeigt auch, mit welchen Mitteln das Regieren problematisiert, kritisch reflektiert, begrenzt und schließlich grundlegend modifiziert wurde. Für die Forschung in den governmentality studies sollte das Grund genug sein, nicht mehr nur das Regieren, sondern auch die Regierungskritik zu analysieren, die nicht erst seit den jüngsten rechtspopulistischen Wahlerfolgen im Inneren der Regierungsapparate heimisch geworden ist. Eine solche Sensibilität kann dabei zum einen die Form einer eigenständigen Genealogie der Kritik annehmen, für die Foucault auch über Die Geburt der Biopolitik hinaus wichtige Hinweise geliefert hat (Vogelmann 2017; Folkers 2016; Boland 2014; Folkers 2019b). Zum anderen kann die Untersuchung von Kritik gewinnbringend in die Analytik kontemporärer Gouvernementalitäten integriert werden, weil sich auf diese Weise besser die Ambivalenzen von Machttechnologien aufzeigen lassen (Folkers 2018). Dafür ist es durchaus von Vorteil, die Positionalität von Kritiker_innen ernst zu nehmen, anstatt bloß das anonyme Rauschen des Gouvernementalitätsdiskurses zur kartieren. Das quasistrukturalistische Interesse an der Entwicklung von historisch langlebigen Dispositiven der Macht kann so durch die Sensibilitäten einer pragmatistischen Soziologie der Kritik (Boltanski and Thévenot 2007) ergänzt werden, die die Kapazität von situierten Akteur_innen zur Infragestellung der sie umgebenden Mächte betont. 2. Die Sensibilität für historisch wirksame Kritiken des Regierens kann auch den Blick auf den (Neo)liberalismus modifizieren. Es ist weithin anerkannt, dass Foucaults Vorlesung eine umfassende und produktive Diskussion über die politische Bedeutung des (Neo)liberalismus erzeugt hat. Der (Neo)liberalismus ist nicht einfach nur der ideologische Reflex des Kapitalismus, sondern eine eigenständige politische Rationalität, die auf vielfache Weise ihren Niederschlag in der Gouvernementalität moderner Gesellschaften gefunden hat. Gleichzeitig ist der Liberalismus nicht nur ein Regierungsprogramm, sondern vor allem auch eine Kritik des Staates und des Zuviel-Regierens. Der (Neo)liberalismus ist damit die historisch vielleicht wirkmächtigste Bewegung der Regierungsbegrenzung. Der (Neo)liberalismus bestimmt den Preis des Regierens und etabliert damit eine kritische Distanz zu den vielfältigen Techniken und Dispositiven der modernen Gouvernementalität. Zwar bleibt es wichtig „neoliberale Regierungstechnologien“ zu analysieren, aber auch die kritische Reflexion des Regierens durch den (Neo) liberalismus sollte zum Gegenstand der Gouvernementalitätsanalyse gemacht werden. Dabei sollte der Vielfältigkeit des (neo)liberalen „Denkkollektiv[s]“ (Mirowski 2009) Rechnung getragen werden, anstatt „(Neo)liberalismus“ zu einem homogenen Machtgeschick zu hypostasieren. 3. Foucaults Fokus auf den (Neo)liberalismus in Die Geburt der Biopolitik hat auch zu einem erweiterten Verständnis ökonomischer Zusammenhänge beigetragen. Die Ökonomie ist weder eine die gesamte Gesellschaft bestimmende Tiefenstruktur, noch ein gesellschaftliches Subsystem neben anderen, sondern
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das Korrelat, der Gegenstand und das Instrument der Gouvernementalität. Gerade Foucaults Analyse des Neoliberalismus hat verdeutlicht, wie veränderbar die Ökonomie ist und wie sehr sie von polit-ökonomischen Rationalitäten abhängt, die sie modifiziert, lanciert oder gezielt ins Werk setzt. Darin besteht klarerweise eine Parallele zur performing markets-Literatur in den science and technology studies, die das enge Verhältnis von Ökonomie und ökonomischem Wissen bei der Hervorbringung von Märkten betont hat (Callon 1998b; MacKenzie 2006). Im Vergleich zu diesem Forschungsstrang fällt jedoch auf, dass sich Foucault nur sehr wenig mit den konkreten ökonomischen Modellen und Formeln, kalkulativen devices und Infrastrukturen beschäftigt hat, die häufig erst verständlich machen, wie allgemeine Annahmen über Marktmechanismen und rationales Verhalten in konkreten ökonomischen Settings wirksam werden können. Hier können Gouvernementalitätsanalysen von den Ansätzen aus den science and technology studies profitieren. Umgekehrt liegt die Stärke des Gouvernementalitätsansatzes aber darin, den politischen Einsatz der Marktkonstruktion gerade auch in historischer Perspektive verdeutlichen zu können. So hat Foucault gezeigt, wie die Idee, dass Märkte konstruierbar sind und keine unveränderlichen Naturtatsachen, seit dem Zweiten Weltkrieg im Neoliberalismus Fuß gefasst hat. Marktdesign ist seitdem immer mehr zu einer bewussten Strategie neoliberalen Regierens geworden. Insofern entfalten ökonomisches Wissens und ökonomische Techniken stets eine sowohl ökonomische, wie auch politische Performativität bzw. Macht. Sie sorgen nämlich für die Verlagerung des Regierens von Politik und Staat auf Ökonomie und Markt und damit gleichzeitig für die Ökonomisierung der Politik und die Politisierung der Ökonomie. 4. Dieses komplexe Wechselspiel zwischen Politik und Ökonomie hat sich gleichwohl nicht erst im Neoliberalismus eingestellt. Vielmehr betont die Foucault’sche Regierungsanalytik die historisch langlebige Verwicklung von Politik und Ökonomie. Anders als die Soziologie sozialer Differenzierung wird dabei nicht davon ausgegangen, dass Ökonomie und Politik in der Moderne zu autonomen Subsystemen geworden sind. Vielmehr sind beide Bereiche Teil derselben Topologie der Macht und insofern weniger durch Grenzen getrennt, als durch Faltungen der Landkarte moderner Gouvernementalität verbunden. Kritik ist ein zentraler Operator dieser Faltungsprozesse. Sie erfolgt nicht vor dem Hintergrund bereits ausdifferenzierter Subsysteme oder Wertordnungen (Boltanski and Thévenot 2007), sondern bringt die Bereiche, in deren Namen sie spricht, häufig überhaupt erst hervor. Die Geschichte der Gouvernementalität ist nicht einfach die Geschichte des modernen Staates oder der Politik in der Moderne, sondern die wechselvolle Geschichte von miteinander im Konflikt stehenden Rationalitäten des Regierens. In Europa ist zunächst mit der Pastoralmacht eine theologische Rationalität des Regierens entstanden, die dann von der politisch-etatistischen Rationalität der Staatsräson in Frage gestellt wurde. Die Staatsräson wurde ihrerseits zum Gegenstand der Regierungskritik des Liberalismus, der die politische Rationalität des Regierens durch ökonomische Rationalitäten ergänzen und einschränken wollte.
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Diese Liste der Regierungsrationalitäten ist natürlich keineswegs vollständig. Doch sie liefert zumindest einen Ansatzpunkt für eine systematische Differenzierung zwischen unterschiedlichen Wertordnungen (Boltanski and Thévenot 2007) des Regierens, die bis heute in der einen oder anderen Weise wirksam sind, sich verschränken und wechselseitig in Frage stellen. Das betrifft nicht zuletzt die theologische Regierungsrationalität, die gegenwärtig in allen Teilen der Welt wieder an Bedeutung gewinnt. Auch das ist ein Ausdruck des Willens, nicht so regiert zu werden: nicht bloß im Namen von politischen und ökonomischen Grundsätzen.9 Die historische Analytik des Regierens erfordert in diesem Sinne eine Untersuchung, die in der Lage ist, den Konflikt um die richtige Rationalität des Regierens als meta-politische Auseinandersetzung zu dechiffrieren, weil es nicht zuletzt um die Frage geht, ob eine politische Codierung des Regierens überhaupt angemessen ist. In der Meta-Politik der Gouvernementalität geht es mithin darum, in welchem Modus (religiös, politisch, ökonomisch) regiert wird und welche Agenzien (Priester, Souveräne, Märkte) Regierungsmacht beanspruchen können.
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9Genau
das scheint Foucault auch an der iranischen Revolution interessiert zu haben, die er als „politischen Generalstreik […] einen Streik gegenüber der Politik“ (DE III/248 880) beschrieben hat.
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Andreas Folkers ist Projektleiter am Institut für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Subjektivierung als Selbstaufgabe. Von der Geburt abendländischer Subjektivität im Kloster Die Regierung der Lebenden (1979/80) Maria Muhle
1 Einleitung Im Jahr 1986, zwei Jahre nach Michel Foucaults frühem Aids-Tod, veröffentlicht Gilles Deleuze eine Art intellektuelle Hommage an seinen Freund und Kollegen unter dem prägnanten Titel: Foucault. Der schmale Band besteht aus sechs relativ unabhängigen Texten, die sich aus der spezifischen Perspektive Deleuzes verschiedenen Aspekten des Foucault’schen Denkens widmen, so u. a. auch der Frage: „Was ist während des langen Schweigens geschehen, das auf Der Wille zum Wissen folgte?“ (Deleuze 1987, 131)1 Diese Frage hat nicht nur Deleuze, sondern auch einen großen Teil der Foucault-Forschung seit seinem Tod umgetrieben und wurde von dem lang aufrecht erhaltenen Imperativ „Pas de publications posthumes!“ befeuert. Dieses Verbot betraf besonders die Veröffentlichung des vierten Bandes der Geschichte der Sexualität, Die Geständnisse des Fleisches (SW4), mit dem die in Der Wille zum Wissen begonnene Geschichte der Sexualität zu ihrem
1In seiner „Zeittafel“ führt Daniel Defert dieses Schweigen auf eine Auseinandersetzung mit Gallimard zurück: „1975 hatte Foucault Gallimard gebeten, eine Vorauszahlung von zweihunderttausend Francs an René Allio für die Dreharbeiten an Pierre Rivière zu leisten. Als Gegenleistung verlangte der Verlag von Foucault eine Exklusivoption auf die Bücher der nächsten fünf Jahre, die Foucault auch gewährte. Aber er beschloss, sein nächstes Buch sehr schmal zu halten [das war La Volonté de savoir, dt. Der Wille zum Wissen] und innerhalb der fünf Jahre kein weiteres Buch zu schreiben (was viele als eine Krise in seinem Denken deuteten).“ (Defert 2005, 78)
M. Muhle (*) Lehrstuhl für Philosophie, Akademie der Bildenden Künste München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_10
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Abschluss kommen sollte und der 2018 endlich erschienen ist.2 Was geschah also zwischen 1976 und dem Todesjahr Foucaults 1984, in dem er noch vom Krankenbett aus das „bon à tirer“ für den zweiten und dritten Band der Geschichte der Sexualität erteilte, an deren Rezeption er jedoch schon nicht mehr teilnehmen konnte? Für Deleuze hängt dieses jahrelange Schweigen mit einem Missverständnis zusammen, dem Foucault wider Willen selbst in Der Wille zum Wissen erlegen sei und das den omnipräsententen, kleinteiligen, unhintergehbaren Charakter der Machtbeziehungen betrifft, den Deleuze als „Sackgasse“ bezeichnet, „in die uns die Macht selbst führt“. Einen „Ausweg“ aus einer solchen Sackgasse würde, so Deleuze, die Einführung einer „neuen Achse“ voraussetzen. die zugleich von der des Wissens und der der Macht unterschieden wäre. Eine Achse, durch die sich eine Heiterkeit gewinnen läßt, eine wirkliche Bejahung des Lebens? Auf jeden Fall ist es keine Achse, die die anderen aufhebt, sondern eine Achse, die bereits mit den anderen zugleich wirksam war und sie davor bewahrte, in der Sackgasse steckenzubleiben. […] Foucault empfand die Notwendigkeit einer allgemeinen Umarbeitung, um diesen Pfad zu entwirren, der so lange kaum wahrnehmbar blieb, als er mit den anderen verflochten blieb: diese Umarbeitung stellt Foucault in der allgemeinen Einleitung zum Gebrauch der Lüste vor. (Deleuze 1987, 134)
Deleuze stellt diese „theoretische Verschiebung“, die Foucault in eben jener Einleitung benennt, unter den Begriff der „Subjektivierung“ und hat damit auch jenen Interpretationen das Wort geredet, die dem „späten Foucault“ wahlweise eine „ethische Wende“ oder eine „Wende zum Subjekt“ unterstellen. Diese Wenden sollen zugleich einen hoch willkommenen Bruch mit den vorausgegangenen Thesen zur Archäologie des Wissens und der Analytik der Macht liefern, so dass diese Interpretationen letztendlich einen Ausweg aus der aussichtlosen Verstrickung der Menschen (juridischen Subjekte, disziplinären Individuen, Lebewesen) in die Macht-Wissens-Formationen versprechen. Die Deleuze’sche Rede von den drei Achsen (Wissen – Macht – Leben/Subjekt) wurde so umstandslos reformuliert als Unterscheidung dreier Epochen im Denken Foucaults (Archäologie und Geschichte der Diskurse in den 1960er Jahren – Genealogie und Analytik der Macht in den 1970er Jahren – Ethik und Rückkehr zu den Griechen in den 1980er Jahren).3 Dabei handelt es sich nicht (nur) um eine chronologische Abfolge, sondern auch um Revisionen und Infragestellungen bzw. Brüche mit den vorausgegangenen Positionen – besonders, so möchte es die kritische Rezeption, wenn es um die sogenannte ethische Wende Ende der 1970er und Anfang der
2Geplant
war dieses Buch zunächst als zweiter Band einer Geschichte der Sexualität, Foucault fertigte in den Jahren 1979–1980 mehrere Versionen an, von denen er die letzte an Gallimard schickte, dann aber vor der Veröffentlichung zurückhielt. Es folgte die Abfassung der Bände 2 und 3 der Geschichte der Sexualität, die ursprünglich als ein Buch geplant waren. 3Für eine vehemente Kritik dieser epochalen Einteilung sowie der Reduktion des „späten“ Foucaults „à un simple historien de l’éthique ancienne“, siehe Lorenzini et al. (2015, 8 f.).
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1980er Jahre geht, die die vorausgegangenen machttheoretischen, disziplinären und biopolitisch-gouvernementalen Analysen wahlweise revidiert, resituiert oder korrigiert. Es fallen gleich mehrere Dinge an der Einschätzung auf, Foucault habe sich in den acht Jahren zwischen 1976 und seinem Tod 1984 in philosophisches Schweigen gehüllt. Am augenfälligsten ist vielleicht die Tatsache, dass gerade von einem Schweigen Foucaults nicht die Rede sein kann, zieht man die enorme Proliferation an politischen Stellungnahmen, militanten Engagements, Interviews und „kleineren Texten“ in Betracht, die in diesen Jahren erscheinen und im dritten und vierten Band der Dits et Ecrits 1994 veröffentlicht werden. Dies ist umso erstaunlicher, als gerade Deleuze darauf insistiert, dass die Gespräche, Artikel und Interviews jene andere Hälfte von Foucaults Denken darstellen, die dieser „aus Sorge um die Strenge, aus dem Willen heraus, nicht alles zu vermischen, aus Vertrauen in den Leser“ (Deleuze 1991, 162) nicht formuliert hat. Dort kann Foucault, so Deleuze, jene „Aktualisierungslinien“ ziehen, die einer anderen Ausdrucksweise bedürfen als die Linien der Schichten oder Sedimentierungen der großen Bücher: „Die Gespräche sind Diagnostiken.“ (Deleuze 1991, 162) Ähnlich wie die Veröffentlichung der Dits et Écrits Mitte der 1990er Jahre die Foucault-Forschung mit eben diesem Unterschied zwischen den großen Büchern und den kleinen Texten konfrontiert hat, arbeitet nun auch die soeben abgeschlossene Veröffentlichung der Vorlesungen am Collège de France auf dem Lehrstuhl Geschichte der Denksysteme an einer Rekadrierung der FoucaultForschung mit und widerspricht ihrerseits der These eines angesichts eines Machtdilemmas verstummten Foucaults. So entfalten besonders die Vorlesungen der Jahre 1975/76 (VG) die in Der Wille zum Wissen (SW1) eingeführten Begrifflichkeiten einer post-souveränen biopolitischen Macht „über das Leben“, ergänzen und rejustieren sie teilweise. Die Vorlesungen der Jahre 1977/78 und 1978/79 erweitern diese Diskussion gleichsam und führen sie unter dem hier neu eingeführten Begriff der Gouvernementalität fort (STB, GBP). Gleichwohl kommt es in diesen Jahren zwischen 1976 und 1978 zu einer zugleich „methodologischen“ und topologischen Verschiebung im Denken Foucaults, insofern seine Vorlesungen am Collège von nun an zum zentralen Ort werden, an dem das philosophische Denken stattfindet: „derjenige Ort, an dem die Aktivität des ‚Ideen Habens‘ ausgestellt, riskiert, erprobt wird“ (Senellart 2011, 148, Übersetzung M.M.). Begleiten die Vorlesungen der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine Forschung, die ‚andernorts‘ (in den Büchern) stattfindet, so werden sie angesichts der fehlenden Bücher der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zum primären Ort dieser Forschung. Die Vorlesungen dienen nicht mehr der reinen Präsentation von Forschungsergebnissen, sondern der experimentellen philosophischen Arbeit. Dies gilt jedoch wiederum nur in eingeschränkter Weise für die Vorlesungen der Jahre 1979–1980, die gemeinhin als „cours charnière“ zwischen dem Machtanalytiker und dem „späten“ Foucault bezeichnet werden. Denn die Situation verkompliziert sich hier insofern, als die Vorlesungen zur Regierung der Lebenden zeitgleich mit der Abfassung des damals noch zweiten Bandes der Geschichte der Sexualität stattfanden, der jedoch bis 2018 unveröffentlicht blieb, sodass bis
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jetzt keine „gemeinsame“ Rezeption oder Abgleich stattfinden konnte.4 Erst die Veröffentlichung dieses Bandes als vierter und letzter Band der Geschichte der Sexualität gibt tatsächlich genaueren Aufschluss über diesen Zusammenhang (vgl. Senellart 2015, 31–51).
2 1980 – Ein „cours charnière“ Als „Scharnier“ werden die Vorlesungen im Winter und Frühjahr 1980 vor allem deshalb bezeichnet, weil sie einen inhaltlichen Bruch mit den vorausgegangen Biopolitik- und Gouvernementalitätsanalysen darstellen und sich jenen Fragen nach Subjekt, Subjektvierung, Ethik und Wahrheit zuwenden, die den späten Foucault umtreiben. 1980 wäre also das Jahr, in dem die neue, dritte Epoche im Denken Foucaults an- und das „Spätwerk“ einsetzen würde. Festmachen ließe sich das bereits daran, so eine These, dass der Titel zwar noch von den Lebenden („des vivants“) spricht, diese jedoch in den Vorlesungen nicht mehr explizit thematisiert werden. Stattdessen formuliert Foucault die Aufgabe der Vorlesungen so: „Wie Sie sehen, geht es im Großen und Ganzen darum, den Begriff der Regierung der Menschen durch die Wahrheit etwas auszuarbeiten.“ (RL 27, Hervorhebung M.M.)5 Der Begriff des „Lebens“, der im Zentrum sowohl der Regierungspraktiken als auch des Foucault’schen Interesses der vorausgegangenen Jahre stand, scheint nun durch den Begriff der Wahrheit bzw. einer Regierung durch die Wahrheit ersetzt zu werden, die Foucault am Beispiel von Sophokles König Ödipus als Tragödie der Wahrheit einerseits, den „Wahrheitsakten“ des frühen Christentums andererseits untersucht. Mit dieser Ersetzung geht eine doppelte Verschiebung einher – vom Wissen zur Wahrheit sowie vom Leben zum Subjekt –, die es jedoch im Folgenden genauer zu verstehen gilt. Die von Michel Senellart gewählte Interpretation sieht darin die Verschiebung einer äußeren Macht – einer Macht, die von außen auf das Leben zugreift – zu einer inneren Macht – eine Macht, die den Menschen von Innen beherrscht, insofern sie seine eigene Wahrheit erfasst, sein Inneres im persönlichen Wahrheitsakt (beispielsweise der christlichen Beichte) für den Zugriff der Macht öffnet. Die neue, an die Pastoralmacht angelehnte Regierung durch die Wahrheit wäre folglich eine, in der das Subjekt sich selbst beherrscht. Dem ließe sich
4Dazu
Senellart: „Mit der Abfassung dieses Buches ist […] die Vorlesung von 1980 eng verbunden. Die Regierung der Lebenden erscheint so als die seit langem erste Vorlesung, deren Stoff mit einem sich in Vorbereitung befindenden Werk in Zusammenhang steht […].“ (Senellart 2014, 449) 5Foucault weist darauf hin, dass er in den vorausgegangenen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität bereits mehrfach über diesen Begriff gesprochen hat (RL 40, Fußnote 20). Senellart erinnert daran, dass der Titel der Vorlesungen bereits im Frühjahr 1979 bekannt gegeben wurde und sich diese inhaltliche Verschiebung also auch aus einer zeitlichen Verschiebung ergeben habe. Ähnlich sieht es im Falle der Vorlesungen zur Geburt der Biopolitik aus, in denen der Begriff der Biopolitik explizit kaum mehr eine Rolle spielt.
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entgegenhalten, dass Foucault die Verinnerlichung des Machtzugriffs, also eine Regierung des Selbst, bereits in den biopolitischen Analysen theoretisiert, insofern der Lebensbegriff, auf den sich die Gouvernementalität beruft, gerade kein reduktiv biologischer ist, sondern seine lebendigen Potentiale im Sinne einer Selbst-Regierbarmachung entfaltet.6 Darin liegt die Kraft der biopolitischen Gouvernementalität, dass sie das Leben derart regiert, als würde es sich selbst regieren. In dieser Lesart kann folglich nicht von einem Bruch zwischen Leben und Subjekt gesprochen werden, insofern beide eine Verkoppelung von Fremdund Selbstregulierung vornehmen und Regierungsformen quasi als Lebensformen verinnerlichen. In diesem Sinne ist auch die Annahme eines Bruches zwischen den explizit politischen Gouvernementalitätsvorlesungen und den „ethischen“ Fragen nach Subjektivierung und Wahrheitsakten nur schwer aufrecht zu erhalten. Gerade die These von einem Bruch wurde jedoch in der Foucault-Rezeption hinsichtlich der Frage nach den Möglichkeiten zum Widerstand immer wieder vertreten und kann auch auf eine Lektüre von Deleuzes Foucault zurückgeführt werden. Eine solche Interpretation verlagert widerständische Momente in dem von Foucault gestrickten und abgedichteten Machtsystem auf die individuelle Ebene und verhandelt sie in Begriffen von Subjektivierung und ethischer Subjektwerdung (vgl. u. a. Saar 2007; Sarasin 2005, 2015). Foucault selbst spricht in der bereits genannten Einleitung zum Gebrauch der Lüste von einer „dritten theoretischen Verschiebung“, die notwendig ist, um zu analysieren, „was als ,das Subjekt‘ bezeichnet wird; es sollte untersucht werden, welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt“ (SW2 12). Damit ist allerdings weder gesagt, dass Subjektkonstitution jenseits von Machtregimen vonstattengeht, noch, dass sich Wahrheitsregime frei von Macht konstituieren würden. Diese These vertritt auch Thomas Lemke, für den die beiden letzten Bände von Foucaults Geschichte der Sexualität „nicht eine Aufgabe seiner Machtanalyse [bedeuten], sondern ihre Weiterentwicklung und Korrektur, die in einer Kontinuität zu seinen frühen Arbeiten steht und sie zugleich präzisiert und relativiert“ (Lemke 1997, 259). Dies, so die These des vorliegenden Textes, zeigt sich ebenfalls in den Vorlesungen des Winters und Frühjahrs 1980 – wenn auch nicht in Begriffen von Macht und Wissen, sondern anhand der Untersuchung von Geständnis und Wahrheitsregimen. Die Genealogie dieser Begriffe erlaubt es Foucault zu zeigen, dass die hier verhandelte Subjektkonstitution gerade keine freiheitlich-autonome ist, wie ich im Folgenden zeigen werde. Dafür gilt es, die zentralen Begriffe dieser Vorlesungen und deren mögliche Interpretationen und Missinterpretationen genauer in den Blick zu nehmen.
6Vgl.
zum erweiterten biopolitisch-gouvernementalen Lebensbegriff Muhle (2013).
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3 Der Griechisch-Christliche Komplex 3.1 König Ödipus Foucaults „Genealogie der Beichte“, die er in diesen Vorlesungen unternimmt, lässt sich grob in zwei historische und philosophische Momente – den Griechischen und den (Früh)Christlichen – unterteilen, die den Ablauf der Vorlesungen bestimmen: Foucault widmet sich zunächst in den ersten vier Vorlesungen einer „alethurgische[n] Lektüre“ von Sophokles’ König Ödipus, die „nicht im Hinblick auf das Begehren und das Unbewusste, sondern im Hinblick auf die Wahrheit und die Macht“ (RL 43) geführt wird.7 Der zentrale Begriff der „Alethurgie“ wird von Foucault zunächst ganz allgemein als „rituelle Wahrheitsmanifestation“ beschrieben, die jeder griechischen Tragödie zugehört, insofern sie „durch die Mythen, durch die Helden, durch die Masken, die die Schauspieler tragen, natürlich das Wahre zu Gehör und zu Gesicht bringt“ (RL 43). Während jedoch zumeist die tragische Enthüllung der Wahrheit mit der Umkehrung im Schicksal der Personen einhergeht, die also aufgeklärt (und geläutert) aus der Tragödie hinausgehen, ist dies bei König Ödipus gerade nicht der Fall, denn hier ist es „der Weg und die Arbeit der Wahrheitsfindung“, die den Umschlag im Schicksal von Ödipus auslösen: „König Ödipus ist also, wie jede Tragödie, eine Dramaturgie der Wiedererkennung, eine Dramaturgie der Wahrheit, eine Alethurgie, doch eine besonders intensive und grundlegende Alethurgie, da diese der Gegenstand [le ressort] der Tragödie selbst ist.“ (RL 45) Besonders interessieren Foucault die „Verfahren der Wahrheitsmanifestation“, die dazu führen, dass König Ödipus nicht nur die Tragödie der Blindheit ist (Blindheit des Teiresias, metaphorische und zuletzt körperliche Blindheit von Ödipus selbst), sondern auch eine „Dramaturgie der multiplen Wahrheiten, der wuchernden Wahrheiten, der überflüssigen Wahrheiten“ (RL 45) aufweist. Diese lassen sich bei Sophokles ganz grundlegend aufteilen in jene Verfahren der Wahrheit, die den Göttern und den Sehern obliegen (das Orakel von Delphi, Teiresias), und jene andere Hälfte, die den Menschen obliegt und die sich im visuellen Protokoll der Zeugenschaft entfaltet. Dieses Protokoll der Zeugenschaft geht den „Weg der Untersuchung“ (RL 47), den der Chor jedoch genauso als unzureichend zurückweist wie die göttliche Wahrheit Apolls in den Worten des blinden Sehers. Foucault ordnet diese unterschiedlichen Wahrheitsprozeduren bzw. die beiden göttlichen und menschlichen Hälften der Wahrheitsprozedur bei Sophokles den Göttern und den Sklaven zu: Eine „göttliche Alethurgie“ steht einer „Alethurgie
7Foucault hat sich bereits verschiedentlich mit diesem Stück beschäftigt, so in der letzten Vorlesung von Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970–1971 (ÜWW) sowie in verschiedenen Konferenzbeiträgen, vor allem im zweiten Vortrag des im Mai 1973 in Rio de Janeiro gehaltenen Vortragszyklus „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ (DE II/139, 686–706).
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der Sklaven“ (RL 57) entgegen – beide haben eine Wahrheit, erstere haben sie gehört, letztere haben sie gesehen. Während die Götter jedoch von einer „Kraft der Wahrheit“ bewohnt sind, die sich weniger auf eine wahrsagerische Fähigkeit bezieht, als vielmehr auf die „Konnaturalität der Macht, es [das was geschehen wird] zu sagen, und der Macht, es geschehen zu lassen“ (RL 61), ist die Sichtung der Wahrheit auf Seiten der Sklaven nicht an eine Fähigkeit gebunden, etwas sichtbar zu machen, denn gerade darüber verfügen die passiven Sklaven als „ohnmächtige Zuschauer“ nicht. Folglich muss sich die Wahrheit ihres Blicks im authentifizierenden „Gesetz der Präsenz“, in der einfachen Tatsache begründen, dass sie da waren, dass sie selbst da waren, mit ihren eigenen Augen gesehen und mit ihren eigenen Händen agiert haben […] Somit baut sich die ganze Beziehung zwischen dem Sehen und dem Wahrsprechen […] rund um die Präsenz der Personen auf, der Identität des Zeugen, der Tatsache, dass er selbst, αὐτός, es ist, der sieht und der spricht. (RL 61 f.)
Im Gegensatz zu Göttern und Wahrsagern „finden [die Sklaven] sich zufällig auf der Bühne der Wahrheit wieder. Sie sind in der Wahrheit, die Wahrheit ist nicht in ihnen [non pas habités par elle]“ (RL 62).8
3.1.1 Wahrsprechen als Stückwerk Sophokles’ Tragödie bestimmt nun aber laut Foucault nicht nur die beiden großen Verfahren „mittels derer man im klassischen Griechenland die Art und Weise festlegte, wie für die Manifestation der Wahrheit gemäß von Regeln zu sorgen ist, die diese Manifestation beglaubigen und verbürgen können“ (RL 65). Vielmehr zeigt Sophokles’ Chor, dass es beide Wahrheitsprozeduren braucht, damit überhaupt so etwas wie Gewissheit, also Wahrheit, für die Menschen – für Ödipus – entstehen kann: Folglich bedurfte es des Falschsprechens [dire-faux] der Sklaven, damit das Sprechen der Götter wahr wird, [dann] des Wahrsprechens [dire-vrai] der Sklaven, damit das verschwommene Wahrsprechen der Götter zu einer unausweichlichen Gewissheit für die Menschen wird. (RL 68)
Vor dem Hintergrund der zu Anfang aufgerufenen Fragestellung präzisiert Foucault in der folgenden Vorlesung vom 23. Januar 1980, inwiefern gerade das stückhafte, sich Schritt für Schritt vollziehende Wahrsprechen der Menschen (Diener, Sklaven), das insofern heteronom ist, als es „der Form und dem Gesetz
8Diese „juridischen Wahrheitsprozeduren“, die folglich das Gegenstück zur rituellen Alethurgie darstellen und sich auf einer Zeitachse nicht vor, sondern nach den Ereignissen situieren, haben damit einen quasi-dokumentarischen Charakter, sie funktionieren indexikalisch und rufen mit der Zufälligkeit ihres Da-gewesen-Seins photographische Diskurse von Walther Benjamin (das Optisch-Unbewusste) bis Roland Barthes (punctum) auf. Vgl. auch den Verweis auf die zweite Konferenz aus „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ (RL 72, Fußnote 52).
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und den Zwängen der Erinnerung gehorcht“ (RL 75),9 dem Subjekt eine tragende Rolle zuspricht. Denn während sich die religiöse Alethurgie durch die Kraft eines (großen) Namens legitimiert, legitimiert sich die juridische Alethurgie einzig durch die Fähigkeit, „ich“ zu sagen: ich war da, ich habe gesehen, ich habe x,y,z getan. Es ist also dieses plebejische Wahrsprechen,10 das der Herrschaft der Präsenz und der Fakten unterworfen ist, anhand dessen Foucault nun die viel besungene „Wende zum Subjekt“ vollzieht, zu einem Subjekt, das hier immer schon in seiner Abhängigkeit zu und von juridischen und anderen Prozeduren erscheint, dessen Wahrheit aus einem Moment der Zufälligkeit herrührt und dessen Glaubhaftigkeit nur im Zusammenspiel mit der göttlichen Alethurgie zu haben ist, das aber zugleich selbst absolut notwendig ist, um die Wahrheit zu manifestieren: Und wie das Stück von Sophokles zeigt, kann die Manifestation der Wahrheit erst [vollständig], der Kreis der Alethurgie erst ganz geschlossen werden, wenn er über Individuen läuft, die „ich“ sagen können, über die Augen, die Hände, die Erinnerung, das Zeugnis [le témoignage] von Menschen, die sagen: Ich war da, ich habe gesehen, ich habe getan, ich habe mit meinen eigenen Händen gegeben, ich habe mit meinen eigenen Händen empfangen. (RL 108)
Erst diese Art der plebejischen, gebrochenen, dokumentarischen, heteronomen „Subjektvierung“, die wenig mit der Vorstellung einer klassischen, autonomen Theorie des Subjekts zu tun hat, erlaubt es, die Manifestation der Wahrheit zu vollenden, eine Manifestation, die für jede Machtausübung notwendige Voraussetzung ist. Das heißt zugleich, dass es sich bei diesem alethurgischen Verfahren um etwas anderes handelt als eine instrumentelle Wissensproduktion: Denn dann wäre Theben erst von der Pest befreit worden, wenn der Orakelspruch sich bewahrheitet hätte und Ödipus für sein Verbrechen bestraft worden wäre. Allein „Ödipus [wird] bleiben, und trotzdem wird Theben befreit. […] Die notwendige und hinreichende Voraussetzung für die Befreiung Thebens war, dass die Wahrheit an den Tag kommt.“ (RL 109)
3.1.2 Eine Art Anarchäologie Mit der Feststellung einer exzessiven, nicht-instrumentellen Wahrheit, an die die Subjektivierung notwendigerweise gebunden ist, die selbst wiederum alles andere als autonom ist, sondern vielmehr von unterschiedlichen Faktizitäten abhängt, beendet Foucault in der vierten Vorlesung seine Ödipus-Lektüre und leitet über zu einer Beschäftigung mit den frühchristlichen Wahrheitspraktiken, deren
9Vgl.
hierzu den aristotelischen Gegensatz zwischen der „freien“ Fiktion des Tragödiendichters und der Unfreiheit des Historikers, der dem Ablauf der Ereignisse unterworfen ist (Aristoteles 1994). 10Zur Frage der plebejischen Wortergreifung, die auch non-verbal sein kann, ähnlich wie Foucault es auch hier in seinen Vorlesungen suggeriert, siehe Brossat (2012).
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Inaktualität, so Senellart, im krassen Gegensatz zu den hoch aktuellen Liberalismus-Analysen der Vorlesungen des Vorjahres steht und Foucaults Zuhörerschaft „einigermaßen verwirrt“ (Senellart 2014, 447) habe.11 Foucault fasst die Forschungsfrage dieser Vorlesungen, in der sich die drei Einsichten aus der Sophokles-Lektüre verbinden, folgendermaßen zusammen: Wie kommt es, dass in einer Gesellschaft wie der unseren die Macht nicht ausgeübt werden kann, ohne dass sich die Wahrheit manifestieren muss, in Form der Subjektivität manifestieren muss, und dass man andererseits von dieser Wahrheitsmanifestation in Form der Subjektivität Effekte erwartet, die über den Erkenntnisauftrag hinausgehen und das Heil betreffen, die Erlösung eines jeden und aller? (RL 110)
Bereits in der ersten Vorlesung vom 9. Januar 1980 hatte Foucault anlässlich seiner Analyse des Gerichtssaals des Septimus Severus auf diese „zusätzliche[], übergroße[], fast würde ich sage nicht-ökonomische[] Wahrheitsmanifestation“ hingewiesen, „dieses etwas luxuriöse, etwas supplementäre, etwas übergroße, etwas zwecklose Wahre“ (RL 20), das es weniger als Wissen zu organisieren, denn in seiner ritualisierten Manifestation zu untersuchen gilt. Auch im zweiten Teil der Vorlesungen, der den Kirchenvätern gewidmet ist, untersucht Foucault diese exzessive Wahrheit und zwar anhand zweier weiterer Begriffe, den „Wahrheitsakten“ und den „Wahrheitsregimen“. Der Wahrheitsakt stellt dabei die Rolle des Subjekts in den Vordergrund, das sowohl Akteur, Zeuge oder Gegenstand der Handlung sein kann. Dabei hat das Geständnis, das Foucault besonders interessiert und das er im weiteren Verlauf unter dem Begriff der Exagouresis eingehender untersuchen wird, die Besonderheit, eine Handlung zu sein, bei der das Subjekt zugleich Akteur, Zeuge und Gegenstand der Wahrheitsmanifestation ist: [Der Ausdruck] „Wahrheitsakt“ kann sich faktisch auf diese drei Rollen erstrecken, entweder den Akteur oder den Zeugen oder den reflektierten Gegenstand, doch auf eine spezielle Weise, denn ich möchte hier über das Geständnis sprechen; wenn ich „Wahrheitsakt“ sagen werde, werde ich nicht nachsetzen „reflektierter Wahrheitsakt“, sondern ich werde damit vornehmlich und ohne weitere Korrektur den reflektierten Wahrheitsakt bezeichnen. (RL 120)
Als Wahrheitsregime bezeichnet Foucault ein kohärentes und historisch situiertes Ensemble von Wahrheitsakten, wie beispielsweise das christliche Wahrheitsregime, das aus zwei unterschiedlichen aber zugleich untrennbaren Akten besteht, den „Glaubensakt“ und den „Geständnisakt“. In seiner Analyse dieses Vorlesungszyklus’ liest Philippe Chevallier die Wahrheitsakte als ein „virage méthodologique“ (Chevallier 2015, 56), insofern sich in ihnen der Übergang aus einer Macht-Wissens-Konstellation zu den
11Senellart
verweist auch auf die politischen Ereignisse dieser Jahre, zu denen Foucault sich explizit geäußert hat, besonders die Iranische Revolution 1978–1979 und die SolidarnoscBewegung Anfang der 1980er Jahre.
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Wahrheitsregimen manifestiert. Das heißt, dass sich hier die Verschiebung von „Wissen“ zur „Wahrheit“ jener bereits in den Vorlesungen der Jahre 1978 und 1979 theoretisierten Verschiebung weg von der Macht hin zur Gouvernementalität bzw. zur Regierung an die Seite stellt. Damit führt Foucault zugleich eine Verschiebungskette weiter, in der die Einführung des Wissensbegriffs bereits als eine „Absage an die ideologische Analyse“ (RL 111) zu verstehen ist, die sich nicht aus einer universalistischen und humanistischen Position zu lösen vermag. Im Gegenteil betrachtet eine „archäologische Studie“ die konkreten Praktiken, in diesem Fall des Regiertwerdens, „in ihrer historischen Einzigartigkeit, in ihrer Kontingenz im Sinne von Brüchigkeit, grundlegender Nicht-Notwendigkeit, was natürlich (im Gegenteil!) nicht heißen soll, dass sie keiner Logik gehorchen und dass man sie als rohe Tatsachen hinnehmen muss“ (RL 116). Mit dieser durchaus ironischen methodologischen Mise au Point schlägt Foucault also eine „Art Anarchäologie“ als Untersuchungsmethode vor, die „die Nicht-Notwendigkeit jeglicher Macht betrifft“ (RL 115)12 und daher die Frage stellt, welche Wissensrelationen und Subjektivierungsmöglichkeiten sie zulässt.
3.2 Die Kirchenväter Es ist also besonders der Wahrheitsakt des Geständnisses („aveu“), der Foucault im weiteren Verlauf beschäftigt, und zwar auch in Absetzung zu einer bereits in Die Anormalen (AN) vorgenommene Untersuchung der christlichen Buße, die eine Pflicht zum Geständnis in Form der Beichte institutionalisierte und letztendlich zu einer Ununterscheidbarkeit der beiden Begriffe führte. Für Foucault liegt das Geständnis nun vielmehr am archäologischen Grund der konkreten Beichtpraktiken, die das Wahrheitsregime des Geständnisses letztendlich zu verstellen drohen. In diesem Sinne erarbeiten die Vorlesungen von 1980 eine „Genealogie der Beichte“ (Senellart 2014, 441), die Foucault anhand der drei großen Praktiken des Geständnisses untersucht: die Taufe (besonders bei Tertullian), die kirchliche Buße (unter dem Begriff der Exomologese) und zuletzt – und besonders relevant – die Gewissensführung (unter dem Begriff „Prüfung-Geständnis“ und der Exagouresis).
3.2.1 Taufe und Buße Foucaults Leitfrage nach der Beziehung von Wahrheit und Subjektivität wird dabei einer fortschreitenden Präzisierung unterzogen, die zuletzt auf die Herausbildung jener Selbstpraktiken hinausläuft, die besonders das klösterliche Leben fördert. In diesem Sinne lässt sich hier von einem Bruch sprechen, den Foucault zwischen
12Vgl.
hierzu die Analyse von Roberto Nigro, der in der Nicht-Notwendigkeit der Macht die zentrale These dessen sieht, was gemeinhin als die Schriften des späten Foucault bezeichnet wird: Es geht hier folglich nicht um die Abwesenheit von Macht, sondern um die Tatsache, dass Macht in einer konkreten Form nicht-notwendig und somit hinterfragbar, verschiebbar, kritisierbar ist (vgl. Nigro 2015, bes. 82–86).
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den Tauf- und Bußpraktiken sowie denen der Gewissensprüfung einführt: Anhand einer eingehenden Analyse von Tertullians De probatione zeigt er, dass die probatio anima, die Seelenprüfung, die für die Taufe, also den einmaligen Eingang ins christliche Leben notwendig ist, vor dem Taufritual geschehen muss (und nicht ausschließlich durch dieses), das so genannte Katechumenat also das Subjekt oder Selbst auf dem Weg zur Wahrheit einfasst. Die Bußübungen hingegen, die auch als „zweite Taufe“ bezeichnet wurden, ermöglichen es dem gefallenen Christen, also dem Sünder, in den Schoße der christlichen Kirche zurückzukehren (RL 261):13 Die so genannte penitentia secunda umfasst eine der Taufe noch fremde „Pflicht des Sünders, seine eigene Wahrheit zu offenbaren“ (RL 271), bzw. entwickelt diese „Pflicht, sich selbst zu zeigen, sich zu offenbaren“ (RL 271) nun im Gegensatz zum Katechumenat einen eigenständigen Status. „Bei der Buße gibt es […] eine ganze Reihe von Akten und Verfahren, die explizit dazu bestimmt sind, denjenigen, der Buße tut, aufzufordern, zu ermahnen oder zu zwingen, die Wahrheit über sich aufzuzeigen.“ (RL 271) Dabei spielt die Dramatizität dieser publicatio sui eine entscheidenden Rolle, insofern es sich um die Zurschaustellung des Büßerselbst handelt, um die „Exomologese“, die über die Zustimmung zum Sünderstatus hinaus besonders deren dramatische Manifestation bezeichnet: „die Anerkennung, die Tatsache, dass man sich über etwas einig ist, nämlich über seine Sünde und das Sünder-Sein“ (RL 271). Dabei spricht der wahrhaftige Christ, der in seiner Exomologese seinen Sünderstaus affirmiert, „weder wahr noch falsch“ (RL 288): Denn durch sein Wahrsprechen – „Ich bin ein Sünder“ – wird diese Wahrheit sogleich ausgelöscht: Durch die „exomologetische Dramatizität […] führt man in actu, realiter, die metanoia aus, die Loslösung von einer Sünde“ (RL 288). In diesem Sinne produzieren Taufe und Buße, im Gegensatz zu der in der Folge untersuchten Praktik der klösterlichen Askese, „eine Art Desidentifikation des Subjekts“, insofern dessen „Wahrheitsmanifestation […] darauf abzielt, aus jemandem der ein Sünder war, jemanden zu machen, der kein Sünder mehr ist“, das Subjekt also „von seiner eigenen Wahrheit befreit“ (RL 302). Dem steht die Askese entgegen, die gerade auf keinen Identitätsbruch abzielt, sondern vielmehr auf die ständige Vervollkommnung der Erkenntnis des Subjekts in „seinem Innersten und seiner Identität, in seiner Unveränderlichkeit“ (RL 302).
3.2.2 Klosterleben: Gehorsam, Prüfung, Geständnis Es ist also erst die klösterliche Askese, die „den Beginn eines letztlich sehr langen Prozesses markiert, bei dem sich die Subjektivität des abendländischen Menschen ausbildet“ (RL 300). Denn erst im Laufe des 7. und 8. Jahrhunderts verbinden sich zwei Verfahren, die bei Taufe und Buße nur eine nebensächliche Rolle gespielt
13„Man
öffnet die Tore noch ein zweites Mal, doch wird man sie kein drittes Mal mehr öffnen. […] Die Buße ist somit im Prinzip die nicht wiederholbare Wiederholung von etwas, was ohnehin nicht wiederholt werden kann. […] Es ist nicht mehr und nicht weniger als die Verdoppelung der Einmaligkeit.“ (RL 262)
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haben: Die notwendige Verbalisierung der Wahrheiten des Selbst und die Selbsterkenntnis, die an die Stelle der Manifestation des Selbst tritt und nun ein Vordringen in das Innere des Selbst erfordert. Erst im Zusammenspiel dieser beiden Verfahren von Verbalisierung und Selbsterkenntnis kann von einer Ausbildung der Subjektivität gesprochen werden, die sich „bei einem dritten Typus von Institution, der Institution des Klosters“ (RL 301) und dem Klosterleben vollzieht. Während also vorher von einem Identitätsbruch, gar von paradoxer Identität die Rede war, implementiert die Klosteraskese „eine Struktur äußerster Kontinuität, da es für das Subjekt darum geht, sich von Tag zu Tag, von Moment zu Moment, von Augenblick zu Augenblick unaufhörlich auf eine größere Vollkommenheit hinzuentwickeln“ (RL 302). Es ist bemerkenswert, wie stark diese jetzt erst einsetzende Geschichte der abendländischen Subjektivität, die immer wieder als ‚Wende zum Subjekt‘, zu seiner Autonomie und Freiheit, missverstanden wurde, von Foucault in Begriffen von Wiederholung und Iteration gedacht wird, denen er einen juristischen Ursprung zuspricht: es bedarf letztlich einer kompletten, ich würde sagen juristischen Umwandlung der Funktionsweise der Buße. Notwendig war vor allem, dass die Buße aufhört, ein einmaliger Status zu sein, der dem Büßer einmal – und nur einmal – gewährt wird, und zu einer Art sich wiederholendem, iterativem Verhalten wird, das jedes Mal, wenn man gesündigt hat, einsetzt, herbeigeführt, aufgenommen wird. (RL 301)
Anhand der von Johannes Cassianus (oder Cassian) verfassten Schrift Einrichtungen der Klöster im 5. Jahrhundert untersucht Foucault im letzten Teil seiner Vorlesung die „Ökonomie eines Dreiecks“, das drei Prinzipien des klösterlichen Lebens vereint: „das Prinzip des unbegrenzten Gehorsams, das Prinzip der unaufhörlichen Prüfung und das Prinzip des vollständigen Geständnisses“ (RL 384) oder: „auf den anderen hören, sich selbst betrachten, mit dem anderen über sich sprechen“ (RL 384). Wobei Foucault sofort darauf verweist, dass es sich hier im Grunde doch um eine binäre Struktur handelt, die auf der einen Seite den absoluten Gehorsam der Novizen beinhaltet, deren Willen gebrochen werden muss, und auf der anderen Seite das „Paket, das aus der Prüfung und dem Geständnis besteht, dem Prüfungs-Geständnis“ (RL 385). Der Mönch muss gleichzeitig zwei mit diesen Prinzipien verbundenen Gefahren entgehen, nämlich der „Laxheit“, die durch Gehorsam bekämpft wird, und der „Übertreibung der Strenge, [der] Übertreibung der Askese“, da diese zu einem zu „große[n] Selbstvertrauen, Hochmut, Eitelkeit“ (RL 385) führen kann. Der Mönch soll, klassischerweise, wie auch Foucault bemerkt, die „Form der rechten Mitte“ (RL 385) finden, die Cassian als „discretio“ bezeichnet. Diese Maßhaftigkeit der discretio, dieses nicht Zuviel an Askese, das sie einfordert, markiert einen entscheidenden Unterschied zwischen ihrer antiken und frühchristlichen Ausformung. Denn wie Foucault anhand von Cassian feststellt, genügte nicht einmal die Heiligkeit der ersten Apostel, „um aus sich selbst heraus den Grundsatz einer Mäßigung definieren zu können […]. Die Apostel waren nicht
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das Maß ihrer selbst. Und sie bedurften dieser göttlichen Intervention, damit die Mäßigung, das Prinzip der Mäßigung […] ihnen auferlegt wurde“ (RL 390). Die christliche discretio ist damit keine natürliche, „die dem Menschen innewohnt“ (RL 391), im Gegensatz zur antiken discretio, die ebenfalls zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig entscheidet, deren Prinzip jedoch im logos des antiken Weisen, in seiner ihm eigenen Vernunft zu finden ist: [D]er antike Weise sucht sein Maß auf jeden Fall in sich selbst, einzig in sich selbst. Der christliche Heilige, der christliche Asket kann sein Maß nicht in etwas finden, was in ihm selbst wäre. […] Kurz, die discretio ist unerlässlich. Es gibt nur ein Problem: Sie fehlt dem Menschen. (RL 391)
Auch hinsichtlich der Gegenstände der discretio sieht Cassian einen wesentlichen Unterschied darin, dass die discretio der antiken Weisheit „sich im Wesentlichen auf Dinge erstreckte auf den Wert der Dinge“ (RL 395), also auf die Welt außerhalb des Subjekts; „das Problem der discretio bei der christlichen Heiligkeit oder bei der christlichen Vollkommenheit [erstreckt sich] auf mich selbst, auf das, was sich in mir abspielt, und auf die Gedanken, die mit zu Bewusstsein kommen“ (RL 395). Die christliche Spiritualität rückt damit das Subjekt selbst in den Mittelpunkt, aber „das Subjekt, insofern in ihm ein anderes Prinzip [der Teufel; M.M.] Quartier bezogen hat, ein fremdes Prinzip, das zugleich Prinzip der Täuschung ist“ (RL 395). Die Antwort auf das Fehlen der discretio als natürliches Prinzip des Subjekts, und damit dessen radikale Ausgesetztheit einer inneren Unsicherheit gegenüber, die aus der Allgegenwart des Teufels resultiert, ist jenes „Paket“, dem eigentlich Foucaults Interesse gilt, nämlich das „Dispositiv Prüfung – Geständnis“ (RL 395), das sich im Fall des frühen Christentums auf die cogitationes, auf die Gedanken und nicht auf die Taten bezieht. Während die antike Prüfung, mit Seneca, sich dem vollbrachten Tag und den vollzogenen Taten widmet, die man abends Revue passieren lässt, ist die „Grundmaterie“ der christlichen Prüfung hiervon gänzlich unterschieden:14 Es geht mithin nicht darum, die Handlungen nachträglich einzuschätzen, um zu wissen, ob sie gut oder schlecht sind, sondern darum, die Gedanken in dem Augenblick, in dem sie sich zeigen, zu ergreifen und sodann zu versuchen, so schnell wie möglich, sofort diejenigen, die man in sein Bewusstsein aufnehmen soll, von denjenigen zu trennen, die es zurückzuweisen, aus seinem Bewusstsein auszutreiben gilt. (RL 400)
3.2.3 Exagoreusis Mit der „Grundmaterie“ (Taten/Gedanken) ändert sich zugleich der Begriff der Wahrheit, die in der Prüfung zutage gefördert werden soll. Während der Stoiker die Wahrheit als objektiven Inhalt seiner Ideen versteht, die „im Nachhinein, am Abend, in der Dunkelheit, wenn meine Frau schwieg“ (RL 403) durchdacht
14Siehe
zu den Unterschieden der Prüfungsformen auch den Beitrag von Andreas Gelhard in diesem Band.
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werden, zielt die christliche Prüfung auf die „materielle Realität der Idee“ (RL 403), und das bedeutet, so Foucault, die Unsicherheit hinsichtlich dessen, was ich bin […], was sich in meinem Innersten abspielt […]. Es geht nicht um die Wahrheit meiner Idee, es geht um die Wahrheit von mir selbst, der ich eine Idee habe. Es geht nicht um die Wahrheit dessen, was ich denke, sondern um die Wahrheit von mir, der ich denke. (RL 403)
Eine, meine Wahrheit, die ich denke, die ich als „Fährmann meiner eigenen Ideen“ (RL 404) der Gefahr der inneren Täuschung abringen muss, die mich ständig in meiner Wahrheit bedroht. Um zu entscheiden, was in mein Bewusstsein eingehen darf und was nicht, also eine Trennung zu vollziehen, für die dem Menschen die natürliche Fähigkeit, die discretio, abgeht, wird die Prüfung durch den Akt des Geständnisses erweitert, der es ermöglicht, „diesem Paradoxon der möglicherweise trügerischen Prüfung zu entkommen“ (RL 405). Das gelingt nicht so sehr wegen der Intervention desjenigen, dem ich das Geständnis ablege, „sondern allein aufgrund der Tatsache, dass ich zu einem anderen spreche“, also allein aufgrund der „Form des Geständnisses“, die selbst ein „Prinzip der Unterscheidung, mehr noch als die Weisheit dessen, zu dem ich spreche“ (RL 405) ist. Denn „allein die Tatsache des Sprechens, Worte aus seinem Munde kommen zu lassen, [stellt] einen Akt der Austreibung dar […], der materiellen Austreibung. Schon ist das nicht mehr im Herzen, was auf der Zunge ist“ (RL 407). Damit wäre die Diskurswerdung „der entscheidende Faktor für die Unterscheidung“ (RL 407). So würde der dem Menschen auf natürliche Weise fehlenden discretio durch das Geständnis, genauer: durch seine Form, zu ihrem Recht verholfen. Wenn dem so ist, schlussfolgert Foucault, „impliziert dies, dass das Geständnis lebenslänglich und ständig erfolgt“ (RL 407), dass es also eine nicht endende und permanente Diskursivierung des Selbst geben muss, die im Geständnis ihre Form findet. Die griechische Spiritualität bezeichnet diese „Notwendigkeit, die Pflicht, alles über den hintersten Winkel seines Denkens in dem Moment zu sagen, in dem man kaum beginnt es zu denken“ (RL 407) mit dem Begriff der Exagoreusis, den Foucault als „ständige Diskursivierung seiner selbst“ (RL 408) umschreibt. Sie unterscheidet sich von der Exomologese des Büßertums insofern, als diese vor allem auf die Dramatisierung und Inszenierung des SünderSeins mitsamt des „dramatische[n] und spektakuläre[n] Element[s] der Haltung, der Geste und der Kleidung“ abzielte, ohne die „begangene Tat, die Art der Sünde, die Detailaufnahme ihrer Umstände“ (RL 409) zu berücksichtigen: „Sie war die Alethurgie des Sünders als Sünder.“ (RL 409) Die weitaus nüchternere Exagoreusis hingegen beschreibt einen Bezug zu sich selbst, der so fein, so beständig, so analytisch, so detailliert wie möglich ist, einen Bezug, der sich nur herstellen und der nur wirklich sein kann, sofern er sich durchgängig auf eine Diskursaktivität stützt, eine Diskursaktivität, die macht, dass ich selbst es bin, der einen Diskurs über mich anstimmt, wie ich bin, wie ich denke, wie sich mir der Strom der Gedanken darbietet, und dass ich dabei unterscheiden muss, unterscheiden, um schließlich zu wissen, woher das kommt, was ich denke, um schließlich
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die Möglichkeit der Täuschung und des Betrugs durchschauen zu können, die mir mein ganzes Leben lang ständig innewohnt. (RL 409)
Derart unterscheidet sich die Geständnispraxis von jener der Buße und Taufe, die Foucault vorher untersucht hatte, und es wird deutlich, dass gerade diese permanente Selbst-Diskursivierung zum ausschlaggebenden Moment einer Geschichte der abendländischen Subjektivierung wird. Diese unterscheidet sich auch – und das ist im Hinblick auf die innerfoucaultsche Diskussion um die Unterscheidung griechischer und christlicher Selbstpraktiken in den Bänden zwei bis vier der Geschichte der Sexualität relevant – von der antiken Selbstführung, deren Ziel Foucault am Beispiel des allabendlich über seine vollbrachten Handlungen sinnierenden Seneca als die Fähigkeit beschreibt, „sich selbst sein Gesetz zu geben“ (RL 409). Der christlichen Selbstführung hingegen geht es nicht um „Rechtsprechung“, sondern um „Wahrsprechung […]: die Pflicht, ständig über sich selbst, in Bezug auf sich selbst die Wahrheit zu sagen, und zwar in Form eines Geständnisses“ (RL 409). War die Autonomisierung des Subjekts das Ziel der antiken Führung, so ist der „Gehorsam in Bezug auf den anderen mit einem Wahrsprechen seiner selbst – als Instrument – […] die Formel der [christlichen] Führung“ (RL 410). Das Geständnis folgt dabei spezifischen Gesetzen, die ihrerseits bestimmte Topoi des Foucault’schen Denkens wieder aufnehmen: so das „Gesetz der Vertiefung bis ins Endlose“ – alles muss gesagt werden „nichts ist gleichgültig“ – ähnlich wie dies bereits in dem ganz anderen Kontext der lettres de cachets anklang (vgl. DE III/198); das „Gesetz der Äußerung“ (RL 410), das gerade keinen unerreichbaren Bereich der Innerlichkeit definiert, sondern diese vielmehr nach Außen kehrt; das „Gesetz des Tropismus“ (RL 410) als Hang, „das im Verborgenen Verborgene aufzuspüren“ (RL 410); und letztendlich das „Gesetz der Produktion von Wahrheit“ (RL 410 f.), also eine Wahrheit nicht aufzudecken, sondern herzustellen, die mir unbekannt war.
4 Subjektivierung als Selbstaufgabe In diesem letzten Gesetz der Produktion scheint erneut jene Ambiguität oder Paradoxie christlicher Subjektivierung zum Tragen zu kommen, die Foucault besonders an der Beziehung von Subjekt und Wahrheit interessiert und die er bereits zu Anfang an einen exzessiven, nicht-instrumentellen Wahrheitsbegriff gebunden hatte. Hier reformuliert er auch den Begriff der Subjektivierung – allerdings nicht im Sinne einer Produktion autonomer Subjekte, vielmehr ganz im Gegenteil: Denn „diese Notwendigkeit, die Wahrheit herzustellen, die ich bin, diese Notwendigkeit der Alethurgie ist […] mit einem grundlegenden Verzicht auf das Selbst verbunden“ (RL 411). Die Produktion der Wahrheit meiner selbst ist nur durch den Verzicht auf mich selbst möglich und gerade nicht, wie es klassischer- und subjekttheoretischerweise anzunehmen wäre, „an den Willen
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gekoppelt, schließlich im Sein das auszuarbeiten, was ich bin“ (RL 411). Für Foucault ist diese „Verbindung zwischen Wahrheitsproduktion und Selbstverzicht“ (RL 411) das Schema der christlichen Subjektivität. Damit resituiert Foucault das christliche Subjekt nicht nur hinsichtlich des nach Autonomie strebenden antiken Subjekts, dessen Selbstpraktiken er sich ausführlich in Band zwei und drei der Geschichte der Sexualität widmet, er resituiert das christliche Subjekt auch hinsichtlich einer tradierten Geschichte abendländischer Subjektivität, die sich gerade nicht über Gehorsam, Abhängigkeiten und Selbstverzicht bestimmt sehen möchte. In diesem Sinne schreibt auch Nigro: In seinem [Foucaults] Ansatz geht es um die Frage nach den Effekten eines Diskurses, der für sich beansprucht, die Wahrheit von Subjektivität zu erkennen. Subjektivität ist bei ihm nicht entlang einer Theorie des Subjekts konzipiert. Es gibt keine ursprüngliche Erfahrung des Subjekts, keine Anthropologie mit universeller Bedeutung und Geltung. […] Ausgehend von diesen Überlegungen wird Wahrheit als ein System von Zwängen oder Pflichten konzipiert. (Nigro 2015, 93)
Foucault scheint also dem freien Willenssubjekt europäischer Aufklärung eine andere, negative Form des Selbstbezugs entgegenzusetzen, die er in der Zusammenfassung seiner Vorlesungen so noch einmal auf den Punkt bringt: Man muss jedoch unterstreichen, dass das Ziel dieser Manifestation [die verbale Manifestation der Wahrheit; M.M.] nicht darin besteht, eine souveräne Selbstbeherrschung zu begründen; was man im Gegenteil erwartet, ist Demut und Mortifikation, die Lösung von sich selbst und die Konstituierung eines Selbstbezugs, der auf die Zerstörung der Form des Selbst abzielt. (RL, 429 f.)
Damit kann man zwar weiterhin behaupten, dass diese Vorlesungen von 1979 und 1980 eine Scharnierfunktion innehaben, insofern sie ohne Zweifel Verschiebungen vornehmen, die für den Foucault der kurzen 1980er Jahre zentral sein werden, wie eben diejenigen vom Leben zum Subjekt und vom Wissen zur Wahrheit und – hinsichtlich der Architektur von Foucaults Denken – jenen Übergang von der Untersuchung neoliberaler Gouvernementalität zu den Wahrheitsregimen des frühen Christentums. Dass damit jedoch ein Paradigmenwechsel eingeleitet würde von einem „politischen“ zu einem „ethischen“ Denken15 muss entschieden zurückgewiesen werden, da diese Vorlesungen besonders eindrücklich zeigen, dass eben die hier entwickelten Verschiebungen nicht im Sinne einer ethischen Wende einem autonomen, freien, unabhängigen, wahren Subjekt stattgeben, sondern vielmehr
15Für
Lorenzini, Revel und Sforzini stellt diese Resituierung des Foucaults der 1980er Jahre unter dem „Banner der Ethik“ eine Banalisierung des späten Foucault dar: „Il est dès lors capital, pour nous, de réproblématiser la généalogie foucaldienne des formes de sujectivité à l’intérieur de cette perspective technico-politique. Sans aucun doute, parler d’une dimension éthique chez Foucault en la dissociant de la sphère politique est un non-sens […].“ (Lorenzini et al. 2015, 10, 16)
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in der Genealogie dieser Diskurse dessen Heteronomien, Pflichten, Abhängigkeiten und historischen Kodierungen aufzeigen. Dies verdeutlicht Foucault nicht zuletzt an immer wiederkehrenden Begriffen wie hier besonders diejenigen des (Wahrheits-)Regimes und der Subjektivierung im Sinne eines asujettissement, die auf die „Politizität“ und das heißt bei Foucault eben immer auch auf die Machtförmigkeit vermeintlich ethischer Freiheitsmomente verweisen.16
Literatur Aristoteles. 1994. Poetik, Ditzingen: Reclam. Brossat, Alain. 2012. Plebs Invicta. Berlin: August Verlag. Chevallier, Philippe. 2015. Vers l’éthique. La notion de ‚régime de vérité‘ dans le cours Du Gouvernement des vivants. In Michel Foucault: éthique et vérité. Hrsg. von Daniele Lorenzini, Ariane Revel und Arianna Sforzini, 53–65. Paris: Vrin. Defert, Daniel. 2005 [1994]. Zeittafel. In Foucault, Michel. Schriften in vier Bänden, Band 1, 15–105. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles. 1987 [1986]. Foucault, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles. 1991 [1989]. Was ist ein Dispositiv? In Spiele der Wahrheit, Michel Foucaults Denken. Hrsg. von François Ewald und Bernhard Waldenfels, 153–162. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lemke, Thomas. 1997. Eine Kritik der politischen Vernunft, Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Hamburg: Argument. Lorenzini, Daniele, Arianne Revel und Adrianna Sforzini. 2015. Actualité du ‚dernier‘ Foucault. In Michel Foucault: éthique et vérité (1980–1984). Hrsg. von Daniele Lorenzini, Arianne Revel und Adrianna Sforzini, 7–28. Paris: Vrin. Muhle, Maria. 2013. Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem. München: Fink. Nigro, Roberto. 2015. Wahrheitsregime. Berlin/Zürich: Diaphanes. Saar, Martin. 2007. Die Form des Lebens. Künste und Techniken des Selbst beim späten Foucault [Nachwort]. In Foucault, Michel. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, 321–343. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sarasin, Philip. 2005. Foucault zur Einführung, Hamburg: Junius. Sarasin, Philip. 2015. Vom „Wissen“ zur „Wahrheit“. Foucaults „Geschichte der Wahrheit im Okzident“ in den Vorlesungen von 1979–1980. Le foucaldien 1 (1), DOI: https://doi. org/10.16995/lefou.4. Senellart, Michel. 2011. Le cachalot et l’écrevisse. Réflexions sur la redaction des Cours a Collège de France. In Cahier de l’Herne. Michel Foucault. Hrsg. von Philippe Artières, JeanFrançois Bert, Frédéric Gros und Judith Revel, 147–155. Paris: Editions de l’Herne. Senellart, Michel. 2014. Situierung der Vorlesungen. In Foucault, Michel. Die Regierung der Lebenden. Vorlesungen am Collège de France. 1979–1980. Hrsg. von Michel Senellart, 431– 472. Berlin: Suhrkamp 2014. Senellart, Michel. 2015. Le cours Du Gouvernement des vivants dans la perspective de L’Histoire de la sexualité. In Michel Foucault: éthique et vérité (1980–1984). Hrsg. von Daniele Lorenzini, Arianne Revel und Adrianna Sforzini, 31–51. Paris: Vrin.
16Damit
unterstreicht Foucault hier die politische Dimension der Wahrheit, die auch in seinen berühmten Untersuchungen der Parrhesia in den 1980er Jahren bis zu seinem Tod zentral bleibt. Vgl. besonders die letzten von Foucault am Collège gehaltenen Vorlesungen (MW). Für eine kritische Situierung vgl. hierzu auch Vogelmann (2012).
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Vogelmann, Frieder. 2012. Foucaults „parrhesia“ – Philosophie als Politik der Wahrheit. In Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit. Hrsg. von Petra Gehring und Andreas Gelhard, 203–229. Zürich: Diaphanes.
Maria Muhle ist Professorin für Philosophie mit Schwerpunkt Ästhetische Theorie an der Akademie der bildenden Künste München.
Das Subjekt des Sexes. Foucaults Genealogie des Begehrens Subjektivität und Wahrheit (1980/81) Francesca Raimondi
1 Einleitung Die Vorlesung von 1980/81 gibt nicht nur Einblick in die Vorarbeiten zum zweiten und dritten Band von Sexualität und Wahrheit und somit in den Umstellungen innerhalb von Foucaults Auseinandersetzung mit Sexualität.1 Sie enthält auch Überlegungen, die sich in den publizierten Texten nicht finden. Thema der Vorlesung ist eine „Geschichte des Begriffs der Begierde“ (SuW 32), einem Begriff, der in verschiedenen Ansätzen – so etwa in der Psychoanalyse, bei Deleuze und Guattari oder im Queer*Feminismus – mit einer disruptiven und subversiven Kraft in Verbindung gebracht wird. Stattdessen rekonstruiert Foucault die Herkunft dieses Konzepts aus einer „traurigen“ Sexualethik (SuW 33) ehelicher Keuschheit, Schamhaftigkeit und (Selbst-)Regulierung, die mit der Stoa beginnt und über das christliche Dispositiv des Fleisches bis hin zur modernen Sexualität der bürgerlichen Familie fortwirkt. Statt als einer grundsätzlichen Kritik des Begehrens, die aufgrund der allzu selektiven Materialbasis nicht wirklich einzuleuchten vermag, ist die Vorlesung besser als Problematisierung einer bestimmten, wirkmächtigen Tradition dieses Konzepts zu lesen und zugleich als Eröffnung einer besonderen historischen Perspektive auf die Analyse der Sexualität. Foucault zeigt, wie die Formatierung des Begehrens durch die eheliche Sexualmoral erste Weichen für die Herausbildung der Sexualität als ein eigenes „Dispositiv“ legt.
1Die „Modifizierungen“, die das Projekt nach dem ersten Band erfährt, hält Foucault prägnant in der Einleitung zu Der Gebrauch der Lüste (vgl. SW2 9–21) fest.
F. Raimondi (*) Philosohie, Kunstakademie Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_11
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Während sich ungefähr zur selben Zeit der Vorlesung im angelsächsischen Bereich die (später etwa von Judith Butler problematisierte) Differenzierung zwischen sex und gender zu etablieren beginnt, erschließt Foucault eine eigene Perspektive auf die Geschlechterkonstitution, die auf einem historisch variablen „Gebrauch“2 der Lüste beruht, den Foucault als „Ökonomie“ (SuW 198) bezeichnet. Mit der Entstehung der ehelichen Moral in der Stoa rekonstruiert Foucault die Herausbildung spezifischer heteronormativer Subjektinstanzen, die man, so mein Vorschlag, als ‚Begehrensidentitäten‘ bezeichnet könnte und die für eine queer*feministische Hinterfragung binärer Geschlechter- und Sexualitätsordnungen von Interesse sind. Darüber hinaus enthält die Vorlesung, wie der Titel schon anzeigt, auch allgemeinere methodologische Überlegungen. Da es sich um die erste Vorlesung am Collège de France handelt, in der sich Foucault mit antiken ethischen Praktiken auseinandersetzt, erläutert er die Konzepte von „Lebenskunst“ und „Selbsttechnologie“ besonders ausführlich.3 Während die Überlegungen zur Wahrheitsdimension der entsprechenden Diskurse auch Schwachstellen von Foucaults Diskursanalyse zu Tage bringen, erschließen die Lebenskünste selbst den Blick auf ein anderes Denken und eine andere Praxis von Subjektivität, die auch über ihre antike Herkunft hinaus fruchtbar gemacht werden kann.
2 Die Lust der aphrodisia Mit den Vorlesungen von 1980/81 beginnt die historische Dezentrierung der modernen Kategorie der Sexualität, die noch im Zentrum von Der Wille zum Wissen stand. „Es wäre nicht leicht“, schreibt Foucault prägnant zu Beginn von Der Gebrauch der Lüste, bei den Griechen (wie übrigens auch bei den Lateinern) einen Begriff zu finden, der dem der „Sexualität“ und des „Fleisches“ entspräche. Also einen Begriff, der sich auf eine einzige Entität bezieht und als zugehörig zur selben Art, zum selben Ursprung und zum selben Kausalitätsprinzip mannigfache und anscheinend voneinander entfernte Phänomene zusammenfaßt: Verhaltensweisen, aber auch Empfindungen, Bilder, Begehren, Instinkte, Leidenschaften. (SW2 49)
Das Interesse an der Kategorie des Begehrens, die Foucault als Thema der Vorlesung angibt, ist also vor dem Hintergrund der allgemeinen Frage zu verorten,
2Foucault
verwendet 1981 zwar bereits den Terminus des „Gebrauchs“, allerdings noch sehr beiläufig, verglichen etwa mit Sexualität und Wahrheit 2. Zu diesem ethischen Konzept vgl. auch Giorgio Agambens The Use of Bodies und darin zu Foucault insbesondere den Aufsatz „Use and Care“ (2016, 31–37). Agamben geht dort auf den Unterschied zwischen „Gebrauch“ und „Sorge“ ein, wobei er Foucault vorwirft, diesen niemals ausführlich dargelegt zu haben. 3Den Begriff der „Selbsttechnologie“ verwendet Foucault zum ersten Mal im Herbst 1980 bei Vorträgen in Berkeley und Dartmouth (vgl. OHS; dazu Gros 2016, 387).
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wie es historisch zur Herausbildung der Sexualität als „eine einzige Entität […] und als zugehörig zur selben Art“ (SW2 49) kam, was gleichbedeutend mit der Frage ist, wie die Sexualität allmählich zu einem eigenen „Dispositiv“ werden konnte. Letzteres geschieht zwar erst mit der christlichen Erfahrung des Fleisches, welche die Sexualität mit minutiösen Verboten und Reinigungspraktiken versieht. Die entscheidende Weichenstellung dazu findet Foucault allerdings schon in der Lehre der Stoa vor. Das Material, was Foucault im Rahmen der Vorlesung sichtet und deutet, dient also dazu, die Modalitäten dieses grundlegenden Wandels in der griechischen Antike zu rekonstruieren, welches die Formierung des christlichen Fleisches und der modernen Sexualität vorbereitet. Anhand einer eingehenden Lektüre von Artemidors Traumbuch (Vorlesung 3 und 4), das in vier seiner Kapitel sexuelle Träume untersucht, rekonstruiert Foucault die Grundzüge der griechischen Erfahrung der aphrodisia. Obgleich das Buch aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert stammt, liest es Foucault auch als Dokument älterer Bestände und Traditionen, auf die sich der Text immerhin auch explizit beruft.4 Die Wahl eines Traumbuchs ist programmatisch. Foucault findet dort „Beurteilungsmechanismen“ (SuW 110) und eine „ethische Perzeption“ der sexuellen Lüste vor, vor deren Hintergrund er anschließend den spezifischen Einsatz der stoischen Lehre hervorheben kann. Die Wahl eines Traumbuchs ermöglicht es Foucault zugleich, einen diachronen Vergleich zum 20. Jahrhundert und zu Freuds Traumdeutung vorzunehmen. Zwei Merkmale sind es, die Foucault ausgehend von Artemidor als kennzeichnend für die antike aphrodisia herausarbeitet: das „Prinzip des sozio-sexuellen Isomorphismus“ (SuW 111–119) und das „Prinzip der Aktivität“ (SuW 119–127).
2.1 Der sozio-sexuelle Isomorphismus Nahezu im Gegensatz zu Freud, für den alle Träume Ausdruck verdrängter sexueller Wünsche sind, deutet Artemidor die sexuellen Träume als Anzeichen oder Prognosen von gesellschaftlichen, ökonomischen oder politischen Entwicklungen. Daraus schließt Foucault, dass es für die Griechen „zwischen der sexuellen Betätigung und der gesellschaftlichen Betätigung […] so etwas wie eine unmittelbare Verbindung, eine natürliche Analogie“ (SuW 85) gäbe. Entsprechend sei für die Beurteilung der Träume und ihres prognostischen Werts weniger der Geschlechtsakt selbst als vielmehr der soziale Status der jeweiligen Partner im Traum von Belang. Von positivem prognostischem Wert seien all jene Verbindungen, die mit den sozialen Hierarchien und Ordnungen konform gehen. Die aphrodisia, so Foucaults Schlussfolgerung, ist für die Griechen integraler Bestandteil gesellschaftlicher Beziehungen. Sie durchzieht verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse und ist nicht auf eine spezifisch dafür vorgesehene Beziehung,
4Dieses
Material wird in Die Sorge um sich wieder aufgegriffen, ausführlicher behandelt und in der Systematisierung etwas präzisiert (SW3 9–51).
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wie die Ehe, beschränkt – wenn dieser auch eine Sonderstellung gebührt. Entsprechend bildet die Unterscheidung zwischen Hetero- und Homosexualität noch kein normatives Beurteilungskriterium. Die Knabenliebe sei nur dann unvorteilhaft, wenn die Liebenden die Hierarchien der sozialen Ordnung unterlaufen.
2.2 Das Prinzip der Aktivität In Der Wille zum Wissen hatte Foucault die „Repressions-Hypothese“ (SW1 19 f.) zurückgewiesen, also die Unterstellung, dass die entscheidende Beziehung der Moderne zur Sexualität die des Verbots und der immer stärkeren Unterdrückung sei. Stattdessen stellte er eine kontinuierliche „Vermehrung der Diskurse über den Sex“ (SW1 28) fest. In Subjektivität und Wahrheit relativiert er auch die gängige Gegenüberstellung eines restriktiven Christentums und eines freizügigen Griechenlands. Schon in der Antike gilt eine Reihe von Restriktionen, angefangen damit, dass Frauen und Sklaven der Status von sexuellen Subjekten aberkannt wird. Diese Restriktionen hängen insbesondere mit dem zweiten Prinzip, den Foucault herausarbeitet, dem „Prinzip der Aktivität“ zusammen. Nach diesem wird allein die aktive Rolle im Geschlechtsverkehr – und das heißt für die Griechen Penetration und Ejakulation – anerkannt, während die angeblich passive Lust „ein Abgrund“ (SuW 125) sei. Das „Prinzip der Aktivität“ mache daher die Homosexualität, obzwar als solche gesellschaftlich anerkannt, zu einem „fortwährenden Anreiz zu reflektieren, nachzudenken, zu diskutieren, zu reden“ (SuW 129). Während die passive Lust der Frau den Griechen schlichtweg als abjekt gilt, führt das Verhältnis Mann-Knabe in eine Paradoxie: Das männliche Subjekt tritt hier in einer aktiven und passiven Position auf, also als Subjekt und Objekt der Lust. Entschärft wird diese Paradoxie im Inneren der Ordnung der aphrodisia durch Regulierung und Beschränkung (vgl. SuW 132). Um seine künftige aktive Rolle nicht zu gefährden, sei es für den Knaben am vorteilhaftesten, gar keine homosexuelle Lust zu empfinden. Aus demselben Grund, um also den künftigen aktiven Bürger nicht zu präjudizieren, soll die Lust des Mannes beherrscht sein und im Dienst des eros treten, also der Achtung des Anderen, die sich bis hin zum Verzicht auf die sexuelle Lust erstrecken kann. Die Praxis des sexuellen Verzichts, die für die christliche Sexualmoral so zentral werden wird, tritt also bereits bei den Griechen auf, und zwar ausgerechnet dort, wo sie gegenüber der heteronormativen Moderne auf den ersten Blick toleranter zu sein scheinen.5
5Foucaults
nicht-idealisierender Blick auf die Antike und die Hervorhebung der Beschränkungen im Bereich der Homosexualität sind Aspekte, die David M. Halperin in seiner Untersuchung der Wichtigkeit Foucaults für den queeren Widerstand hervorhebt (vgl. Halperin 1995, S. 31–38).
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3 Die Illusion des Kodex Foucault geht es in seiner Rekonstruktion also nicht um den Nachweis, dass die griechische aphrodisia weniger normiert sei als die moderne Sexualität, sondern um deren grundlegend unterschiedliche Organisation dieses Bereiches. Anders als die moderne Sexualität sei die aphrodisia eine nicht-relationale Aktivität: „die Aktivität eines Subjekts und die Aktivität des Subjekts“ (SuW 120).6 Als eine nicht-relationale Aktivität unterliege sie genauso wie alle anderen Aktivitäten einer notwendigen Beherrschung. Damit bilden die sexuellen Lüste des Mannes für die Griechen keinen Bereich sui generis. Wie Foucault später in Der Gebrauch der Lüste präzisieren wird, gehören sie vielmehr, ganz im Gegensatz zur christlichen Erfahrung des Fleisches, zu den „natürlichen und notwendigsten“ Impulsen (SW2 65 f.) und eben deshalb seien sie nicht wie im Christentum durch ein System von Kodizes und von minutiösen Verboten geregelt. Weniger objektive Gesetze als subjektive Mechanismen der Urteilsbildung dienen hier zur Formung der Lüste und nur ein „milder legislatorischer Kodex“ (SuW 140) liege in der Antike vor. Die Begegnung mit einer anderen Form der Regulierung erlaubt es Foucault, die „Illusion des Kodex“ und das damit verbundene „juristische Trugbild“ (SuW 138) aufzudecken, zu denen die christliche Sexualmoral aufgrund ihrer Form verleitet.7 Die ausschließliche Ausrichtung auf den Kodex erlaube nicht zur Frage vorzudringen, warum eine Kultur überhaupt eine solche minutiöse Kodifizierung aufgestellt habe und andere nicht bzw. was die Errichtung und den Wandel solcher Regulierungen auslöst. Mit Blick auf eine Genealogie des Begehrens sei eine Ausrichtung auf den Kodex, und sei er noch so mild, deshalb nicht zielführend. Die entscheidende Veränderung, die Foucault innerhalb der antiken aphrodisia rekonstruiert, wird zunächst von der allmählichen Formulierung einer neuen „Lebensordnung“ und den damit verbundenen „Lebenskünsten“ (SuW 231) ausgelöst, nicht durch das Errichten neuer Verbote.
4 Die „Überbewertung“ der Ehe Die Veränderung, die Foucault im Innern der antiken aphrodisia ausmacht und die das Christentum erben wird,8 vollzieht sich im Zeitraum vom 1. vor- bis zum 2. nachchristlichen Jahrhundert und wird maßgeblich durch eine Umwertung der 6Trotz
der fortgesetzten Zentrierung auf den Mann breche schon die christliche Lehre mit dieser Nicht-Relationalität, indem sie auch ein „Gesetz des Objektes“ kennt – die Theorie des weiblichen Geschlechtsorgans als „natürliches Gefäß“ (SuW 121). 7Eine Kritik an der christlichen gesetzesförmigen Urteilspraxis, die noch die Psychoanalyse informiert, formulieren auch Deleuze und Guattari (vgl. Deleuze 2000, Deleuze und Guattari 1974, dazu Foucault in DE III/189). 8Ein wichtiges Anliegen der Vorlesung in historisierender Hinsicht liegt darin, den Übergang von der griechischen und römischen Antike ins Christentum nicht nur als Bruch, sondern auch in seinen Kontinuitäten, Vorbereitungen und Überlagerungen zu thematisieren.
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Ehe bei den Moralisten und Philosophen der Stoa vorangetrieben (Vorlesung 7–9). Foucault fasst deren Grundelemente wie folgt zusammen: „Ausschluss jeglicher sexuellen Aktivität außerhalb der ehelichen Beziehung, Betonung der Funktion der Zeugung auf Kosten der Funktion der Lust, affektive Funktion der sexuellen Beziehung innerhalb der Ehe.“ (SuW 381) Die Ehe hatte bereits im Rahmen des sozio-sexuellen Isomorphismus eine gewisse Sonderstellung als die vollkommenste Erfüllung dieses Prinzips. Deren Stellenwert war in der griechischen Antike aber keinesfalls unumstritten (Vorlesung 5). So sind Kynismus und Epikureismus als Lebensformen durch eine grundsätzlich negative Einschätzung der Ehe gekennzeichnet, da in ihr ein Hindernis für die Autonomie und das philosophische Leben der Theorie gesehen wurde. Im Gegensatz dazu sieht die Stoa die Ehe als einen ethischen Selbstzweck sowohl für den gewöhnlichen Bürger als auch für den Philosophen. Und während Xenophon oder Aristoteles wiederum die Ehe lediglich als Interessensgemeinschaft zur Befriedigung sexueller Lüste und der Reproduktion ansahen, verstehen Autoren wie Musonius Rufus und Hierokles (Vorlesung 6) die Ehe als eine „Gemeinschaft von Körper und Seele“ (SuW 178), in der es zu einer Verschmelzung von Mann und Frau zu einer einzigen Substanz (krasis) kommt. Es ist durch diese Aufwertung der Ehe, dass eine „neue Ökonomie der sexuellen Lüste“ (SuW 198) aufkommt.
4.1 Die Intimität des Paares Mit der Entstehung der „konjugalen Moral“ (SuW 233) wird die Lust entwertet. Die Problematisierung, die mit der weiblichen Lust und der homosexuellen Liebe verbunden war, entgrenzt sich allmählich zu einem grundsätzlichen „Misstrauen gegenüber den sexuellen Lüsten“ (SuW 198). Die Lust wird entweder aus der Ehe verbannt oder aber in den Dienst der Reproduktion gestellt, womit sich die Reglementierung ihrer Orte, Zeiten und Intensitäten verstärkt. Eine Problematisierung der Lüste als solche ist, wie Foucault ausführt (Vorlesung 7), schon vor der Stoa bekannt und insbesondere im Kontext der religiösen Praktiken, des philosophischen Lebens und der Medizin verortet, wo Sex mit Unreinheit und Tod in Verbindung gebracht wird. Mit der Stoa verdichtet sich dieses Misstrauen zu einer „traurigen“ Sexualmoral, in der alle Lüste, auch die männlichen, „als Zeichen einer gefährlichen Passivität angesehen [werden], die dem Herzen eines jeden Subjekts, sei es auch aktiv, innewohnt“ (SuW 144). Musonius Rufus dient Foucault daher weniger als Beispiel für die Tatsache, dass hier die Frau dem Mann in der Ehe gleichgestellt werde (vgl. dazu Nussbaum 2002), als dafür, dass die Lust des Mannes nun genauso entwertet wird, wie die der Frau.
4.2 Die Verdrängung der Homosexualität Mit oder ohne Lust wird die Ehe zum einzig legitimen Ort der Sexualität, während es im Gegenzug zu einer „Deaphrodisierung“ (SuW 333) der gesellschaftlichen
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Verhältnisse kommt. Neben dem Traumbuch von Artemidor ist es der Erôtikos von Plutarch, ein von der Stoa beeinflusster Autor, dem Foucault die zweite längere Lektüre der Vorlesung widmet (Vorlesung 8). Anders als einige stoische Autoren verbannt Plutarch die Lust nicht vollkommen aus der Ehe, verortet sie allerdings an entschieden anderer Stelle: Sie tritt in den Dienst der krasis, der Verschmelzung von Mann und Frau, und verbindet sich mit eros, der affektiven Bindung an den Anderen. Die „Kosten“ dieser doppelten Veränderung liegen somit auch in der Verdrängung anderer Formen von Sexualität, allen voran der Homosexualität. An Plutarch zeigt Foucault, wie die neuartige Verbindung von eros und aphrodisia in der Ehe zu deren Herabsetzung führt. Während diese Verbindung in einem ersten Schritt dazu dient, Frauenliebe und Knabenliebe einander anzugleichen, dient deren spezifische Konstellation mit der krasis, der dauerhaften Verschmelzung von Mann und Frau, dazu, die Homosexualität als bloß scheinhafte Verbindung bloßzustellen, die nur im Dienst der Lust stehe. An die Stelle verschiedener sexueller Verhältnisse tritt damit ein „Modell der ehelichen Treue“ (SuW 321) zwischen den Partnern, das nun jeglichen Ehebruch des Mannes tadelt.
4.3 Die Geburt des Begehrens Unter Hinzunahme von persönlicheren Schriften wie die Gedichte von Stanius und die Briefe von Plinius zeigt Foucault, wie die affektive Besetzung der Lust und ihre Lokalisierung in der Ehe sie schließlich in ihrer Struktur transformiert und zu einer neuartigen Erfahrung, der Erfahrung des Begehrens führt. Aufgrund der exklusiven Hingabe (caritas) aneinander und der dauerhaften Gemeinschaft (concordia) von Mann und Frau wird der/die Andere zum einzigen Objekt der Lust. Diese neuartige Besetzung des Partners ist es, die Begehren erzeugt. Foucault räumt beiläufig ein, dass der Begriff des Begehrens nicht erst bei Plinius auftaucht, geht aber einer differenzierten Genealogie nicht weiter nach. Stattdessen findet er dort eine Reihe von Elementen – „die Abwesenheit, den Mangel, die bildliche Vorstellung, das Spiel von Tag und Nacht, das Kommen und Gehen, das Schließen der Tür, den Ausschluss etc.“ (SuW 282) –, die bis hin zu Proust fortdauern und das Begehren als „Mangel“ und „Qual“ bestimmen (SuW 282). Während sich die Modalitäten und Gegenstände des Begehrens historisch ändern, bleibt dessen Matrix – die neue Konstellation der Lüste, die mit der ehelichen Moral geboren wird – für Foucault dauerhaft erhalten: Indem die Lüste lokalisiert und aus den gesellschaftlichen Verhältnissen auf eine besondere affektive Beziehung konzentriert werden, verbindet sich die Erfahrung des Mangels mit der Lust und wird so zum Begehren. Mit der Form des Begehrens und zugleich infolge der stärkeren Regulierung des Sexes innerhalb der Ehe konstituiert sich der Bereich der aphrodisia allmählich zu einem inneren Gegenstand des Selbstbezugs.
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5 Lust vs. Begehren? Aufgrund der sparsamen Materialbasis ist die von Foucault angebotene Genealogie mit Vorsicht zu genießen. Seine Skepsis gegenüber dem Begriff des Begehrens ist älter als die Vorlesung selbst. Foucault hatte sie bereits in Der Wille zum Wissen artikuliert und in einem Interview mit Jean Le Bitou aus dem Jahr 1978 auf dem Punkt gebracht (vgl. GS).9 Dort kritisiert er den Begriff vor allem ausgehend von der Praxis der Medizin und der Psychoanalyse als ein Vehikel der Regulierung und Normalisierung von Sexualität. Foucault äußert auch gegenüber Deleuzes und Guattaris Versuch Vorbehalte, Begehren jenseits des psychoanalytischen Diskurses zu denken, und setzt dagegen auf ein alternatives Modell, das der Lust.10 Lust sei deutlich weniger normativ durchzogen – es gibt keine anormale Lust wie es ein anormales Begehren gibt – und, so Foucault weiter im Interview, sie bezeichnet ein Ereignis an der Oberfläche oder zwischen den Subjekten, keinen inneren Gegenstand oder versteckte Wahrheit (vgl. GS 389 f.). Im Begriff des Begehrens, so wie er in Subjektivität und Wahrheit rekonstruiert wird, verbinden sich nicht nur Lust und Mangel. Das Begehren ist das Resultat einer Internalisierung der Lust, die aus der dauerhaften Verbindung von aphrodisia und eros und der verstärkten Regulierung ihrer Modalitäten resultiert. Als Begehren beginnt die Lust, diskursive Intelligibilität zu gewinnen und zu einer inneren Wahrheit zu werden, zu der sich das Subjekt zu verhalten hat. Weil dies auf der Grundlage einer restriktiven und lustfeindlichen Ehemoral geschieht, steht diese neuartige subjektivierende Wirkung der Sexualität unter dem Vorzeichen des Verdachts und einer gewissen Abwehr. Die Verdächtigung der Lust, die sich bei der Stoa nachweisen lässt, verstärkt sich im Christentum, so dass sich um die Sexualität herum allmählich ein regelrechtes Dispositiv von Beichte, asketischen Praktiken etc. zu formieren beginnt, das nicht mehr nur Beherrschung, sondern sogar Befreiung von Fleischeslust anvisiert. Die Moderne wird ein eigenes Dispositiv der Sexualität etablieren, das zwar nicht einfach repressiv funktioniert, sie aber weiterhin einer Reihe von Regulierungen, Wahrheitspraktiken und Kontrollen aussetzt. Foucaults Genealogie ist damit als Befragung dieser bestimmten Formatierung des Begehrens durchaus einleuchtend und wichtig, nicht aber als eine grundsätzliche Kritik dieses Begriffs. Dafür ist seine Genealogie zu sehr auf eine ganz bestimmte Tradition fokussiert. So charakterisiert Deleuze Begehren (im Anschluss an Spinoza und Nietzsche) gerade nicht durch Mangel und als innere Wahrheit, sondern als „Prozess“, „Ereignis“, „Affekt“ und als „nur durch Intensitätszonen, Schwellen und Gradienten definiert“ (Deleuze 1996, 31).
9Auf
dt. liegt eine Übersetzung dieses Interviews noch nicht vor. Auf frz. ist eine erste kürzere Version davon erschienen (GSa, GSb). Zur Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte dieses Interviews vgl. Halperin (2011). 10Deleuze verhält sich zu dieser Kontroverse von Lust vs. Begehren in einer Notiz, die François Ewald an Foucault weiter leiten sollte und die unbeantwortet blieb (vgl. Deleuze 1996).
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Obgleich Deleuze in Antwort auf Foucault die Gegensätzlichkeit der jeweils von ihnen favorisierten Konzepte bejaht, fragt er sich wie dieser, ob nicht vielleicht doch eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen ihren Konzeptionen besteht. In der Tat wäre zu bedenken, ob die Frontstellung von Begehren und Lust in den Auffassungen von Deleuze und Foucault sich nicht im Sinne einer (möglicherweise) spannungsreichen Komplementierung auflösen ließe, so dass diese Konzepte mit ihren unterschiedlichen Topologien und Wirkungsweisen auch als Gegengewichte zum jeweils anderen verstanden werden könnten. Denn wie Foucault und Deleuze jeweils zeigen, können beide Phänomene, Lust wie Begehren, einer problematischen Identifizierung oder Normierung unterliegen und bedürfen mithin jeweils auch einer kritischen Analyse.
6 Begehrensidentitäten Zur spezifischen Formatierung des Begehrens, die Foucault vor Augen hat, gehört auch die Errichtung ganz bestimmter heteronormativer Positionen. Die subjektivierende Wirkung der stoischen Ehemoral etabliert eigene Geschlechtsidentitäten mit entsprechenden Begehrensmustern. Die Position des Mannes steht dabei weiterhin im Vordergrund (Vorlesung 11), wobei das frühere sozio-sexuelle Kontinuum, das ihm vorbehalten war, sich in einer doppelten Geschlechtsidentität spaltet, einer sexuellen, die der Ehe vorbehalten ist, und einer sozialen des öffentlichen Auftretens. Dadurch ist die neue Form des Selbstbezugs in Termini des Begehrens eigentlich dem Mann allein vorbehalten. Es ist seine Position, die die eigene Sexualität nun neu nach Maßgabe des Unterschieds zwischen öffentlich und privat reglementieren und beherrschen muss, um in der ehelichen Existenz, die nach wie vor eine Hierarchie der Geschlechter etabliert, weiterhin seine sexuelle Aktivität zu entfalten. Aber auch die Frau tritt im Diskurs der Stoa in einer etwas anderen Position auf und wird verstärkt zum Thema gemacht. Als reziproke Verbindung konzipiert, verlangt die Ehe eine gewisse Reflexion der weiblichen Rolle in ihr. Weiterhin nicht durch sexuelle Lust und Aktivität gekennzeichnet, geht die Frau vollständig in der kharis auf, in der Hingabe an den Mann. „Die kharis ist die Frau als sich in einem vollständig von der Aktivität des Mannes definierten Feld anerkennendes und akzeptierendes Subjekt.“ (SuW 256) Der Diskurs, der nun um die Frau entsteht, dient somit der Statuierung ihrer freiwilligen Unterordnung in der Ehe und der Konstruktion einer negativen Begehrensidentität, mit der die Frau sich hingebungsvoll zum Gegenstand des Begehrens des Mannes macht, während ihre eigene Lust weiterhin undenkbar bleibt.11
11Zur
unmöglichen Lust der Frau seit der Antike vgl. auch die Untersuchungen von Luce Irigaray (1991).
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7 Lebenskunst Die stoische Ehemoral mit ihren zahlreichen und Foucault zufolge sehr weitreichenden Implikationen gehört zu einer besonderen Sorte von Diskurs, den philosophischen „Lebenskünsten“, die er folgendermaßen prägnant definiert: Von der Seite ihrer Ziele betrachtet, soll die Lebenskunst die Erlangung einer Reihe von Qualitäten erlauben, die keine Fähigkeiten sind und ebenso wenig Tugenden im moralischen Sinne, wie man später meinen wird, sondern sie sind vielmehr Qualitäten des Seins, Qualitäten des Daseins, das, was ich Modalitäten der Erfahrung nennen würde, Qualitäten, die sich auf das Sein selbst auswirken und es verändern. (SuW 53)
Die Lebenskünste sind also Praktiken, die das Subjekt nicht in seinen Fähigkeiten, sondern in seiner Seinsweise modellieren. Daher spricht Foucault auch von einer „Arbeit an sich“ (SuW 55), um die produktiv-gestaltende und verändernde Wirkung der Lebenskünste hervorzuheben. Foucault geht davon aus, dass die Lebenskünste, die noch in den asketischen Praktiken des Christentums fortwirken, in der Moderne zugunsten der Berufsbildung verschwinden. Damit verschwindet auch ein Verständnis von Subjektivität als qualifizierte Seinsweise, die mittels dieser Künste verändert werden kann. Die Selbsteinwirkung qua Berufsbildung ist nämlich eine, die nur auf das Erlernen bestimmter Fähigkeiten hin ausgerichtet ist, ohne Rücksicht auf die je eigene Seinsweise – obwohl man natürlich sagen kann, dass die moderne Arbeitsdisziplin gerade durch diese Leerstelle massive Auswirkungen auf die Seinsweise der Subjekte hat. In den 1980er Jahren konnte Foucault jene Explosion der Ratgeberliteratur nicht voraussehen, die inzwischen einen beträchtlichen Teil der Publikationsbranche erobert hat. Interessant sind seine Ausführungen dennoch auch für diese Entwicklung, denn sie erlauben einen differenzierteren und kritischen Blick auf sie. Zumindest was die neoliberalen Ratgeber angeht, kann man sagen, dass sie, wie die moderne Berufsbildung, auf das Erlernen bestimmter Fähigkeiten ausgerichtet sind, ohne Bezugnahme auf die Frage der damit verbundenen Seinsweise. Die Fähigkeiten, um die es heutzutage geht, sind nicht mehr jene der Fabrikarbeit, sondern die einer kreativen ‚Industrie‘ des Selbst. Die betreffenden „soft skills“ und Kompetenzen sind angeblich kein Drill von außen mehr, sondern sollen der Entfaltung des Selbst dienen. Indem sie die Wahrheit oder Authentizität des Selbst zu extrahieren versuchen, bleibt die Frage der Seinsweise aber weiterhin ausgeklammert. Die grenzlose Perfektionierung, die dabei in Aussicht gestellt wird und auf Erfolg ausgerichtet ist, erweist sich daher als neues subtiles Instrument der Kontrolle und treibt die Verdinglichung, die Marx in den Pariser Manuskripten am Grund der modernen Arbeit diagnostiziert hatte, noch eine Stufe weiter.12
12Vgl.
dazu Bröckling (2007).
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Die antiken Lebenskünste sind auch ein „Diskurs des Subjekts über sich selbst“ (SuW 31) – im Unterschied zu den Diskursen über den Wahnsinn, das Verbrechen oder die Krankheit, die Foucault in früheren Arbeiten beschäftigt hatten und die wesentlich Diskurse über andere sind. Die Wirkung der Lebenskünste ist daher, anders als das Gefängnis oder die Anstalt, nicht disziplinierend und auch nicht normierend, sondern (selbst-)konstituierend. Gleichwohl transportieren die Lebenskünste und die damit verbundene „Sorge um sich“ ein anderes Verständnis von Subjektivität als die moderne Selbsterkenntnis – ein Unterschied, den Foucault in Die Hermeneutik des Subjekts genauer unter die Lupe nehmen wird.13 Während die Selbsterkenntnis von einer zu erkennenden Wahrheit des Subjekts ausgeht, sind die antiken Lebenskünste umgekehrt Techniken zur Transformation der eigenen Seinsweise. Das stoische Begehren ist für Foucault deshalb von Interesse, weil dort die erste Weichenstellung für ein epistemisches Verhältnis zum eigenen Selbst vorgenommen wird, das im Christentum und in der Moderne zur vollen Entfaltung kommen wird. Die Internalisierung der Lüste durch die konjugale Ehemoral ist eine erste Wendung, die sie zum Gegenstand der Selbstbeobachtung werden lässt. Die christliche Erfahrung des Fleisches wird dann die Abwertung der Lust vorantreiben und mit der Praxis der Beichte eine kontinuierliche Aussprache der Wahrheit über das eigene Begehren zum Zweck der Reinigung von der Sexualität veranlassen. Der Diskurs der Lebenskünste, auf den Foucault durch die Hinwendung zum antiken Gebrauch der Lüste stößt, eröffnet daher in mehrfacher Hinsicht die Möglichkeit einer weiteren Differenzierung innerhalb der „Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung“ (DE IV/306, 269), durch den Unterschied zwischen Selbsterkenntnis und Lebenskünste, aber auch durch eine innere Differenzierung innerhalb der letzteren.
8 Das Spiel der Veridiktionen Die innere Historizität der Lebenskünste wirft die Frage nach dem Grund ihres Aufkommens auf. Warum taucht im Innern der antiken aphrodisia der Diskurs der Stoa auf? Foucault siedelt die Lebenskünste und mit ihnen die (antike) Philosophie auf einer eigenen Ebene an zwischen Kodifizierungen, Bewertungsprinzipien, wie jene, die sich bei Artemidor nachzeichnen lassen, und Verhaltensweisen. Er beschreibt sie als einen „Begleitdiskurs“ (Vorlesung 10), dessen Stellenwert sich weder nach Maßgabe von Wahrheit noch von Falschheit bestimmten lässt. Die konjugale Moral der Stoa bildet nicht die Wirklichkeit ab, so wie sie in den realen Praktiken bestanden hat. Der Diskurs ist aber auch nicht das Gegenteil, eine ideologische Verschleierung der realen Verhältnisse. Es ist nicht die Wirklichkeit, die die Lebenskünste als wahrer oder falscher Diskurs hervorbringt, vielmehr ist es
13Siehe
dazu den Beitrag von Andreas Gelhard in diesem Band.
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umgekehrt der Diskurs, der auf die Wirklichkeit einwirkt: „Der Diskurs wirkt auf die Wirklichkeit ein, und er wirkt auf die Wirklichkeit ein, indem er sie transformiert.“ (SuW 315) Daher spricht Foucault auch von einem „Spiel der Veridiktion“ (SuW 308), um die praktische Funktion der Lebenskünste und zugleich den Spielraum anzuzeigen, in dem sich diese ansiedeln. Die Wirklichkeit, zumindest wenn man [darunter] die menschlichen Praktiken versteht, ist immer unangemessen, immer schlecht angepasst; es ist immer die Kluft zwischen den Gesetzen und den Prinzipien einerseits und den tatsächlichen Verhaltensweisen, dem wirklichen Benehmen andererseits, immer das Spiel zwischen dem, was die Regel ist, und dem, was ihr nicht entspricht, in dem die Dinge geschehen und Bestand haben. (SuW 317)
Foucault rechnet in der Vorlesung mit einer Reihe von großen philosophischen Konzepten ab: das der Repräsentation, der Ideologie, der Rationalisierung und der Nützlichkeit. Sie alle werden aufgrund einer operativen Abkünftigkeit oder Nachträglichkeit gegenüber der Wirklichkeit kritisiert, während Foucault die „Wirklichkeitseffekte“ (SuW 310) der Lebenskünste unterstreicht. Diese sieht Foucault – mit einer plötzlichen Volte gegenüber der vorausgegangenen Argumentation, die deutlich den Werkstattcharakter der Vorlesung anzeigt – darin, auf eben jene unangepasste und sich wandelnde Realität einzuwirken, um sie mit Beurteilungsprinzipien oder Kodizes neu zu vermitteln. Die Lehre der Stoa vollzieht weder Setzung noch Bruch, sondern schlägt eine bestimmte Transformation des Subjekts und einen neuen Gebrauch seiner Lüste als eine mögliche Vermittlung zwischen dem alten Beurteilungssystem und den neuen Entwicklungen vor. Damit ist der Diskurs weder Ideologie noch Rationalisierung, sondern eine mögliche Lösung im Rahmen einer sich vollziehenden geschichtlichen Veränderung. Zwar leuchtet Foucaults Kritik an den großen Ordnungskonzepten der Philosophie und seine Hervorhebung der Unangemessenheit oder Unangepasstheit der Wirklichkeit mit Bezug auf Normen und Kodizes ein. Berücksichtigt man die Langlebigkeit der monogamen Sexualmoral, die mit der Stoa aufkommt und über das Christentum bis in die bürgerliche Moral (mit Unterschieden) fortwirkt, ist seine Erläuterung allerdings unbefriedigend. Die weitgehende Ausklammerung von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Aspekten – kurz die Verabschiedung von materialistischen Ansätzen Marx’scher Prägung – riskiert in einen eigentümlichen Idealismus zu verfallen. Obgleich Foucault eine „politische Analyse der Wahrheit“ (SuW 310) verfolgt, bleibt ihre politische Seite merkwürdig unterbestimmt, insbesondere im Vergleich etwa mit den Analysen der proletarischen und bürgerlichen Familie, die durch die feministischen Positionen des italienischen Operaismus erarbeitet wurden (vgl. Dalla Costa 1973, Federici 2012). Dort wird eine bestimmte Organisation von Sexualität im Zusammenhang mit der Form der Arbeit und der kapitalistischen Ausbeutung gebracht, so dass sich diese Bereiche wechselseitig erhellen. Foucaults Machtanalysen sind eine berechtigte kritische Reaktion auf einen zu eng gewordenen marxistischen Ökonomismus. Doch sollte dies nicht zu einer vollständigen Ausblendung von
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ökonomischen Parametern führen, sondern vielmehr deren Einbeziehung auf eine neuartige, eben nicht reduktionistische Weise bewirken. Dass eine solche Perspektive in der Vorlesung fehlt, zeigt sich in Foucaults letztlich nur diffusen Ausführungen zum Ort der Veridiktionen.14 Die Berücksichtigung zusätzlicher ökonomischer und gesellschaftlicher Aspekte würde auch die spezifischen Unterschiede der stoischen Ehemoral etwa in Absetzung zur kapitalistischen Kleinfamilie, gerade in ihrer jeweiligen Organisation von Sexualität, schärfer beleuchten.
9 Das Subjekt der Selbsttechnologien Die Stärke von Foucaults Ausführungen besteht weniger in der Einbettung und Herleitung des Diskurses selbst als in der Analyse seiner Wirkungsweise. Bei der Lehre der Stoa wie auch bei anderen antiken Lebenskünsten handelt es sich um „reflektierte, ausgearbeitete, systematisierte Verfahren […], die man die Individuen lehrt, so dass sie durch ihre Lebensführung, durch die Beherrschung und Transformation ihrer selbst einen bestimmten Modus des Seins erreichen“ (SuW 57). Erst durch Technik zu erreichen, sind die Modi des Seins nicht unmittelbar gegeben und dennoch als bestimmte Lebensweisen normativ präfiguriert. Der Hinweis auf die Transformierbarkeit des Seins markiert einen weiteren Unterschied zum gleichbleibenden und angeblich universellen Substrat von Vermögen und Eigenschaften, als welches das moderne Subjekt verstanden wird. Foucault nimmt daher wiederholt Bezug auf die antike Konzeption des bios, um diesen Unterschied zu markieren: „Der bios ist das Korrelat der Möglichkeit, sein Leben zu ändern, es auf eine vernünftige Weise und gemäß der Prinzipien der Lebenskunst zu ändern.“ (SuW 56) Während Giorgio Agamben im antiken bios den Anfang einer problematischen Spaltung des abendländischen Lebensbegriffs ausmacht (Agamben 2002, insbes. 11–24), die sich bis in die Moderne zieht, findet Foucault gerade in dessen Differenz zum modernen Subjektbegriff eine interessante Perspektive, die sich ausbauen lässt. Obgleich die antike Lebenskunst als solche in der Moderne keinen Bestand mehr haben kann, so lassen sich einzelne Elemente dieser Praxis doch aktualisieren. Betrachtet man etwa Foucaults Beschreibung der eigenen Forschungstätigkeit, so lassen sich darin deutlich Züge einer „Lebenskunst“ ausmachen, nicht mehr im Sinne einer tradierten Technik zur Erlangung einer bestimmten Seinsweise, sondern als eine Dezentrierung seiner selbst durch Experimente des Denkens: Der „Versuch“ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selbst und als vereinfachende Aneignung des anderen zu Zwecken der Kommunikation – ist der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken. (SW2 16)
14Foucault blendet die Ökonomie nicht immer in dieser Weise aus. In ÜS und in DE II/139 weist er immer wieder auf diesen Bezug hin und die Nähe zu Marx tritt deutlicher zu Tage. Roberto Nigros Essay Wahrheitsregime (2015) versucht, eine materialistischere Deutung auch von Foucaults Verständnis von Veridiktionen zu geben.
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Im Manuskript der Vorlesung verwendet Foucault den Begriff der “Biopoetik” (im Unterschied zur „Biopolitik“, SuW 57), um in einem erst einmal neutralen Sinne die Möglichkeit einer transformativen Selbsteinwirkung anzuzeigen, die nicht durch die Erlangung bestimmter Fähigkeiten erfolgt, sondern in der Transformation der eigenen Seinsweise liegt und mit dieser der Bedingungen der eigenen Erfahrung. Sieht Foucault die Philosophie – oder zumindest bestimmte Weisen, sie zu betreiben – weiterhin als Diskurs der Lebenskunst, so wäre über seine Ausführungen hinaus zu fragen, ob und wie subjektivierende Praktiken jenseits des akademischen Diskurses ebenfalls eine solche transformative Qualität erlangen können. In diese Richtung wäre das Instrumentarium, das Foucaults Analyse der Lebenskunst und der Selbsttechnologien zur Verfügung stellt, zunächst einmal kritisch auf die gegenwärtigen Subjektivierungsformen anzuwenden. Welche Formen nimmt der Selbstbezug in unserer Gegenwart an? Welche Topologie des Selbst und welche Ökonomie seiner Lüste, Kapazitäten, Begierden liegt dem zugrunde? Wie ist die neoliberale Arbeit an sich genau strukturiert? Auf dieser Grundlage ließen sich die Notwendigkeit und die Einsatzstellen alternativer Praktiken und Subjektivierungsformen spezifischer bestimmen. Weiter auszubauen wäre dann die Gegenüberstellung zwischen einer subjektivierenden Praxis der Wahrheit und einer des Gebrauchs. Wie schon mit Bezug auf die Differenz zwischen Begehren und Lust wäre auch diese Differenz weniger im Sinne eines wechselseitigen Ausschlusses als vielmehr in Form einer Komplementierung weiter zu denken. Wie Foucault selbst mit seinen Untersuchungen zur parrhesia (etwa verglichen mit der christlichen Beichte) zeigt, können Praktiken der Wahrheit sehr unterschiedlich funktionieren. Ihnen kann eine widerständige Komponente zukommen, wenn sie nicht eine angeblich schon feststehende Wahrheit festzuhalten trachten, sondern – im Sinne von Foucaults „Versuch“ – eine Rekonfiguration und Verschiebung ihrer eigenen Ausgangslage vornehmen. In seinen Ausführungen zum Begriff des Gebrauchs bei Foucault, weist Agamben diesem Konzept eine eigentümliche Form des Selbstbezugs zu. Er sieht darin, auch im Unterschied zur Selbstsorge, eine wesentlich äußerliche, weil durch andere(s) vermittelte Form des Selbstverhältnisses, die insofern eine (ebenfalls widerständige) desubjektivierende Valenz annehmen kann (vgl. Agamben 2016, 32–35). Diese konzeptuellen Linien sind weitere Spuren, die Foucaults Denken legt, und die es gegenwärtig weiter zu denken gilt.
10 Zusammenfassung Die Vorlesung von 1980/81 weist in verdichteter Form eine Vielzahl von Denkwegen auf, die durch Foucaults neuen Untersuchungsgegenstand eröffnet werden. Mit der Untersuchung der antiken Lebenskünste betritt Foucault den Bereich der ethischen Praktiken als bisher vernachlässigte Dimension der Subjektivierung. Ausgehend von ihren verschiedenen historischen Ausformungen wird die Geschichte der Subjektivierungsformen wesentlich auch als eine Geschichte verschiedener Ökonomien der Lüste ausgewiesen, wobei Foucault damit einen
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originellen Blick auf die Herausbildung einer heteronormativen Sexualmoral und ihren Implikationen gewinnt. Die Hinwendung zur Antike dient nicht allein einer Dezentrierung der modernen Sexualität, sondern eröffnet auch ein alternatives Denken von Subjektivität, das sich für eine Kritik gegenwärtiger neoliberaler Praktiken fruchtbar machen lässt. Foucault selbst wird im Rahmen seiner weiteren Vorlesungen und Publikationen einige dieser Untersuchungsstränge weiter ausarbeiten. Dass die Vorlesungen zugleich offene Fragen hinterlassen, die sich, nach fast vierzig Jahren, an unsere Gegenwart richten, zeigt die eigentümliche Lebendigkeit von Foucaults Forschungspraxis.
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Francesca Raimondi ist Juniorprofessorin für Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf.
„La Selbstbildung comme diraient les Allemands“. Techniken der Selbsterfahrung in der Hermeneutik des Subjekts Hermeneutik des Subjekts (1981/82) Andreas Gelhard 1 Vorbemerkung Die Hermeneutik des Subjekts gehört zu den Vorlesungen Foucaults, in denen er nicht Ergebnisse seiner Arbeit präsentiert, sondern seine Überlegungen vor Publikum entwickelt. Es geschieht Vieles, was nicht von vornherein absehbar war. Entsprechend locker ist die Verbindung zwischen dem vorab angekündigten Titel der Vorlesung und ihren tatsächlichen Themen. Die Rede von einer „Hermeneutik des Subjekts“ bezieht sich in Foucaults Schriften der 1980er Jahre durchgehend auf Selbstpraktiken der christlichen Asketik. Wenn Foucault in dieser Zeit von einer Hermeneutik – einer Exegese oder Entzifferung – des Subjekts spricht, hat er prinzipiell Praktiken im Blick, die das Subjekt auf die eine oder andere Weise zum Thema eines wahren Diskurses machen. Dieses Sprechen über sich selbst verbindet sich im Falle der christlichen Praktiken mit einer Form von Askese, die stark durch die Einübung von Verzicht und durch eine Orientierung an Schuldfragen gekennzeichnet ist; sie kombiniert den Akt des Geständnisses, in dem das Subjekt die Wahrheit über sich selbst ausspricht, mit Praktiken der körperlichen und geistigen Entsagung. Wie zutreffend diese Charakterisierung christlicher Askese ist, sei hier dahingestellt. Wichtig ist, dass Foucault mit dem Titel Hermeneutik des Subjekts auf ein Ensemble von Praktiken verweist, die in der Vorlesung nicht das eigentliche Thema, sondern eher die historisch-systematische Kontrastfolie bilden, vor der Foucault die Selbstpraktiken der griechischen und römischen Antike analysiert. Diese Selbstpraktiken sind stark an Idealen der Selbstgenügsamkeit und Seelenruhe – der
A. Gelhard (*) Bonner Zentrum für Lehrerbildung, Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_12
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Autarkie und Ataraxie – orientiert. Sie machen das Selbst nicht zum Thema wahrer Diskurse, sondern nutzen die Suche nach wahrer Weltkenntnis, um ein freies Selbstverhältnis aufzubauen. Im Zentrum der Vorlesungen stehen daher Praktiken des Übens und Prüfens, auf die die Bezeichnung einer Hermeneutik des Subjekts, gerade nicht zutrifft. Historisch liegt ihr Schwerpunkt auf den Selbstpraktiken des 1. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts, das Foucault als „ein Goldenes Zeitalter der Sorge um sich“ charakterisiert (HS 111). Die kurze Darstellung dieser Selbstpraktiken in Foucaults Zusammenfassung der Vorlesung schließt mit der Feststellung: „Wir sind noch sehr weit von einer Hermeneutik des Subjekts entfernt“ (HS 610). Foucault konzentriert sich in seiner Vorlesung auf ein Konzept der Selbsterfahrung, das den Begriff der Erfahrung konsequent von allen Vorstellungen des unmittelbaren Empfindens und des authentischen Selbstseins abrückt. Es geht um Techniken der Asketik, die im Zusammenhang übergreifender Systeme der Lebensführung stehen (2). Subjektivität wird in diesem Zusammenhang als Produkt von Prozessen der Selbstbildung gefasst. Diese Prozesse können stärker am Ideal der Selbsterkenntnis oder an praktischen Formen der Selbstsorge orientiert sein; Foucault zeigt das vor allem an den verschiedenen Praktiken der Konversion (3). Dabei fokussiert er immer wieder auf die Frage, inwiefern die Selbstbildung als ein Prozess der Befreiung verstanden werden kann. Seit Platon wird Selbstbildung als ein Prozess der Umbildung dargestellt, der mit mangelhafter Erziehung, schlechten Angewohnheiten und allen Arten von Selbstzwängen bricht. Wenn das Subjekt als Produkt individualisierender Macht begriffen wird, gewinnt Befreiung den Charakter einer Befreiung von sich (4). Foucault begnügt sich allerdings nicht mit dieser allgemeinen Einsicht, sondern untersucht am historischen Material, in welchen konkreten Formen Prozesse der Selbstbildung auftreten. Die beiden wichtigsten Formen sind Praktiken des Wahrsprechens (5) und der Selbstprüfung (6). Das Thema des Wahrsprechens wird Foucault erst in den Vorlesungen der Folgejahre einer eingehenden Analyse unterziehen. In der Hermeneutik des Subjekts beleuchtet er vor allem die Bedeutung von Techniken des Prüfens und Übens für Prozesse der Selbsterfahrung. Damit nähert er sich einer Theorie der Erfahrung, die in der Moderne vor allem Hegel vorgelegt hat. Foucault verweist auch auf die Phänomenologie des Geistes als exemplarische Formulierung der philosophischen Herausforderung, vor die uns die Analyse von Prozessen der Selbstbildung stellt. Dieser Korrespondenz in der Sache stehen allerdings so tiefgreifende Divergenzen des Philosophieverständnisses gegenüber, dass der Verweis auf Hegel Episode bleibt (7).
2 Techniken der Selbsterfahrung Die Geste, mit der Foucault seine Vorlesung im Januar 1982 eröffnet, signalisiert eine extreme Erweiterung des Gesichtsfeldes. Die Vorlesung des Vorjahres hatte die Frage nach dem Verhältnis zwischen Subjektivität und Wahrheit in Bezug auf sexuelle Verhaltensordnungen in der Antike gestellt. In der Hermeneutik des Subjekts schränkt Foucault seine Untersuchung nicht länger auf die Frage der
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Sexualität ein. Es ist nun sein erklärtes Ziel, das Verhältnis zwischen Subjektivität und Wahrheit „in viel allgemeinerer Gestalt erscheinen [zu] lassen“ (HS 16). Natürlich entwickelt Foucault seine philosophische Frage auch diesmal an historischem Material. Aber er zielt deutlich direkter als zuvor auf das Problem subjektiver Selbstbeziehungen, das sich aus seiner Analyse individualisierender Machtmechanismen und pastoraler Regierungstechniken ergeben hat. Dass er sich dabei auf einige philosophische Schulen des 1. und 2. Jahrhunderts konzentriert, versteht sich nicht von selbst. Vieles spricht dafür, dass Foucaults Auseinandersetzung mit den Schriften Pierre Hadots bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle spielte.1 Hadot hat mit großer Konstanz den Primat des Praktischen herausgearbeitet, der für viele philosophische Schriften des Hellenismus und des römischen Kaiserreichs charakteristisch ist. Dieser praktische Zug der philosophischen Arbeit hat nichts mit moralischen Fragen im engeren Sinne zu tun; es geht um Praktiken der Askese – der Übung im weitestmöglichen Sinne –, die eine bewusste Formung von Selbstverhältnissen ermöglichen. Der programmatische Titel, unter dem Hadot seine wichtigsten Schriften zu diesem Thema veröffentlicht hat, lautet: Exercices spirituels et philosophie antique (2002). Damit prägt Hadot den spezifischen Begriff der „Geistigkeit“ – der spiritualité – den Foucault zu Beginn seiner Vorlesung aufgreift (HS 32). Dieser Begriff der Geistigkeit benennt ein ganzes Ensemble von Techniken der Lebensführung, die auf eine Formung und Verwandlung von Subjektivität angelegt sind. Anders als Hadot hebt Foucault dabei von Anfang an die Frage nach dem Zusammenhang von Subjektivität und Wahrheit hervor. Die Traditionslinie der Geistigkeit in der abendländischen Philosophie ist, Foucault zufolge, nicht am Problem der Erkenntnis orientiert, sondern an der Idee, dass das Subjekt sich einen Zugang zur Wahrheit nur bahnen kann, indem es sich „verändert, wandelt, einen Weg zurücklegt“ (HS 32). Dabei geht es nicht nur um eine Änderung einzelner Handlungsmaximen und Verhaltensweisen, sondern um Prozesse der Selbsterfahrung, in denen das Subjekt „ein anderes wird“ (HS 32). Die Praktiken der Selbstsorge, die Foucault in den Blick nimmt, betreffen nicht einzelne Aspekte der Lebensführung, sondern „das Sein selbst des Subjekts“ (HS 32). Das klingt gefährlich nach Authentizität und Unmittelbarkeit. Man darf daher nicht aus dem Blick verlieren, dass alle Analysen antiker Selbstpraktiken, die Foucault in seiner Vorlesung vornimmt, auf der Ebene strategischer Machtbeziehungen angesiedelt sind (vgl. HS 314). Anders als der Begriff der Selbstsorge vermuten lassen könnte, interessiert sich Foucault nicht für existenzielle Grundstimmungen und unausweichliche Aufrufe zum Selbstsein. Er hebt vielmehr die „Technizität“ (HS 507) der analysierten Selbstpraktiken hervor und wählt den aus Kants Schriften bekannten Begriff der Asketik,2 um das Gesamt dieser Praktiken zu bezeichnen:
1Persönlich
begegneten sich Foucault und Hadot erstmals im Jahr 1980; Foucault unterstützte Hadots Kandidatur für eine Professur am Collège de France (vgl. Hadot 2002, 305 f.). 2Vgl. vor allem die Allgemeine Anmerkung zum Ersten Stück der Religionsschrift (Kant 2003, 57–71) und den Abschnitt über ethische Asketik in der Metaphysik der Sitten (Kant 2008, 136 f.).
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Da sich das Ensemble von Übungen, um das es hier geht, weder mit dem Wort „Asketentum“ noch mit dem Wort „Askese“ treffend bezeichnen läßt, möchte ich es einfach „Asketik“ nennen. Die „Asketik“, d. h. das mehr oder weniger geordnete Ensemble von Übungen, die den Individuen im Rahmen eines ethischen, philosophischen oder religiösen Systems zur Verfügung stehen, ihnen anempfohlen oder gar auferlegt sind; auf jeden Fall können sie von ihnen angewandt werden, um zu einem festgelegten geistigen Ziel zu gelangen. (HS 506)
Diese Bestimmung der Asketik ist sehr wichtig, will man Foucaults Begriff der Erfahrung nicht missverstehen. Thema von Foucaults Vorlesung sind historisch konkrete Formen der „Selbsterfahrung des Subjekts“ (HS 289). Diese Selbsterfahrung ist aber keine unmittelbare, sie vollzieht sich „im Rahmen eines ethischen, philosophischen oder religiösen Systems“ (HS 506). Foucault gebraucht den Begriff des Systems hier ähnlich wie Max Weber, der die protestantische Ethik als eine „systematisch durchgebildete Methode rationaler Lebensführung“ (Weber 1988, 116) charakterisiert.3 Diese Perspektive bestimmt auch Foucaults Beschäftigung mit den philosophischen Schulen des Hellenismus und des römischen Kaiserreichs. Antike und Moderne unterscheiden sich nicht dadurch, dass irgendwann Formen der systematischen Lebensführung aufgekommen wären, sie unterscheiden sich, weil sie unterschiedliche Systeme der Lebensführung hervorgebracht haben.4
3 Figuren der Konversion Foucaults Auseinandersetzung mit den hellenistischen und römischen Programmen der Selbstsorge gilt Bildungsprozessen, die man nicht auf Fragen der Erziehung reduzieren kann. Um die Eigenart dieser Prozesse terminologisch zu fixieren, schlägt er vor, von „culture de soi“ oder „formation de soi“ zu sprechen: „la Selbstbildung comme diraient les Allemands“ (HS 69; frz. 46). Die deutsche Übersetzung der Vorlesung verzeichnet diesen Rekurs auf den deutschen Bildungsbegriff, übersetzt „culture de soi“ aber meist mit „Selbstkultur“. Das ist eine gute Entscheidung, weil der Begriff der Bildung im Deutschen mit einer Vielzahl von Konnotationen befrachtet ist, die das Verständnis von Foucaults Ausführungen eher erschweren als erleichtern würden. Dennoch kann man sagen, dass sich Foucault in seiner Vorlesung auf die spezifische deutschsprachige Tradition bezieht, die sich mit dem Bildungsbegriff verbindet. Moses Mendelssohn beginnt seine Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ mit dem Satz: „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge“ (1974, 3). Damit steckt er den Horizont ab, den auch Foucault in seiner Lektüre antiker Texte durchgehend präsent hält. Seine Geschichte der Philosophenschulen,
3Foucault
betont die Bedeutung Webers für seine eigenen Arbeiten in WK 25, 28. spricht in diesem Zusammenhang auch von „Dispositiven der Subjektivität“ (vgl. HS 392 und Gelhard 2013).
4Foucault
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die eine „echte Selbstkultur“ (HS 259) entwickelten, bezieht sich immer wieder auf Autoren, die eng mit der deutschsprachigen Tradition des Bildungsdenkens verbunden sind: Er nennt unter anderem Kant, Lessing, Goethe und Hegel (HS 49, 381 f., 594). Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass Foucault nicht einfach von Bildung, sondern von Selbstbildung spricht. Denn die zentralen Motive und Praktiken, die er in den hellenistischen und römischen Texten findet, geben den Prozessen der Bildung eine ausgesprochen individualistische Wendung. Besonders deutlich zeigt sich das an dem „Praxisschema“ der „Konversion“ (HS 262), das in Foucaults Analysen eine zentrale Rolle spielt. Einen ersten Ansatzpunkt bietet dabei Hadots Unterscheidung zweier Spielarten der Konversion, die sich grob der antiken und der christlichen Asketik zuordnen lassen: epistrophē und metánoia (Hadot 1953). Hadot betont die Radikalität des christlichen Erneuerungsanspruchs: Es geht nicht bloß um eine Änderung des Lebenswandels, sondern um eine vollständige geistige Wiedergeburt. Sowohl die antike als auch die christliche Tradition kennen die Idee einer geistigen Erneuerung, aber das christliche Schema von Tod und Auferstehung verleiht dieser Idee eine weitaus radikalere Gestalt. Der Anspruch des Christentums zielt nicht mehr nur auf eine Erweckung zum besseren Leben, sondern auf die Geburt eines „absolut neuen Menschen“ (Hadot 1953, 32). Foucault stützt sich auf diese Analysen Hadots, um zwei Leitunterscheidungen seiner Vorlesung in ein geordnetes Verhältnis zu setzen: Die Unterscheidung zwischen Selbsterkenntnis und Selbstsorge und die Unterscheidung zwischen „philosophischen“ und „christlichen“ Techniken der Asketik. Dazu führt er eine dritte Position in Hadots Schema ein, die das Kontinuum zwischen platonischer und hellenistisch-römischer Philosophie unterbricht: Die Konversionstechniken des 1./2. nachchristlichen Jahrhunderts sind, Foucault zufolge, „weder epistrophē noch metánoia“ (HS 274). Sie lassen sich daher durch eine doppelte Abgrenzung bestimmen, die sie auf der einen Seite von der platonischen Philosophie und auf der anderen Seite vom Christentum abhebt. Foucault gehört zu den Autoren, die klar zwischen der philosophischen Praxis des Sokrates und den Lehrgehalten der platonischen Philosophie unterscheiden. Sokrates, so kann man aus dieser Perspektive sagen, bereitet die späteren Praktiken der Selbstsorge vor; die philosophische Lehre Platons, die in den mittleren und späten Dialogen immer mehr an Eigengewicht gewinnt, ist aber mit dieser Praxis nur bedingt kompatibel. Foucault präsentiert sie als eine Philosophie, die durch eine starke Emphase der Transzendenz und einen klaren Primat des Erkennens gekennzeichnet ist (HS 264).5 Dem setzten die Autoren der
5Foucaults
Lektüre Platons ist hier stark durch die Unterscheidung zwischen Selbsterkenntnis und Selbstsorge bestimmt. Platon erscheint als paradigmatischer Denker der Selbsterkenntnis in einer Linie mit Descartes und Kant. Diese Sicht wird sich in den späteren Vorlesungen deutlich verschieben, wo Foucault den „sokratischen“ Platon in den Vordergrund rückt und seine Dialoge aus dem Blickwinkel der praktischen Politik liest (vgl. Vogelmann 2012). Eine ähnliche Verschiebung des Blickwinkels lässt sich auch für Kant feststellen (vgl. Anm. 11).
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hellenistischen und römischen Zeit Techniken der Konversion entgegen, die der asketischen Übung den Vorrang vor der Erkenntnis einräumen und sich ganz in der „Immanenz dieser Welt“ ansiedeln (HS 265). Foucault gebraucht den Begriff der „Befreiung“, um diese Formen einer voll ausgebildeten „Selbstkultur“ (HS 265) zu bestimmen. Diese Befreiung ist aber keine Befreiung der Seele vom Leib; es fehlt ihr jede Beziehung zu einem Wesen hinter den Erscheinungen oder einem Jenseits „über“ der gegebenen Welt. Stattdessen geht es darum, sich von dem abzuwenden, „was nicht in unserer Macht steht“, um sich auf das zu konzentrieren, „was in unserer Macht steht“; es geht um die „Herstellung einer umfassenden, vollendeten und angemessenen Beziehung zu sich selbst“ (HS 265). Diese Emphase der Selbstgenügsamkeit – eher der Autarkie als der Autonomie – bestimmt auch die Abgrenzung der hellenistisch-römischen Selbstkultur gegen die christlichen Formen der Konversion. Die christlichen Praktiken der Konversion wahren den Primat des Praktischen, der Seneca von Platon trennt; sie erschließen aber erneut die Dimension der Transzendenz, die Seneca – aus Foucaults Perspektive – glücklich hinter sich gelassen hatte. Dabei treten neue Formen der Lebensführung in den Vordergrund, die an Idealen der Entsagung und des Verzichts orientiert sind. Das ist ein Punkt, den Foucault sehr häufig hervorhebt, wenn es um die Abgrenzung der hellenistisch-römischen von der christlichen Asketik geht: die genuin „philosophische“ Asketik ist keine des Verzichts.6
4 Befreiung von sich Wo Foucault die „philosophischen“ gegen die „christlichen“ Formen der Asketik setzt, betont er sehr nachdrücklich die Ideale der Seelenruhe und Selbstgenügsamkeit – der Ataraxie und der Autarkie – gegen die Dramatik des christlichen Buß- und Befreiungsgeschehens (vgl. HS 234 f.). Das klingt immer wieder wie
6Eine
unmittelbare Konfrontation der antiken Ethiken der Selbstsorge mit der christlichen Asketik des Verzichts findet sich vor allem in den Vorlesungen vom 3. Februar (erste Stunde) und 24. Februar (erste Stunde). Die Diskussion der Unterscheidung lohnt auch mit Blick auf spätere Adaptionen von Foucaults Analysen, die sich auf den Begriff der Tugend stützen. Lorraine Daston und Peter Galison sprechen in ihrer Geschichte der Objektivität zum Beispiel von epistemischen Tugenden, um die Geschichte der Objektivität als „Teil“ einer umfassenderen „Geschichte des Selbst“ (Daston und Galison 2007, 39) zu schreiben. Dabei berufen sie sich ausdrücklich auf Hadot und Foucault, um den Begriff der Tugend von einem engen moralischen Verständnis zu befreien (Daston und Galison 2007, 39). In der Durchführung ihrer Untersuchung versehen sie den Begriff der Tugend aber immer wieder mit den Konnotationen der Entsagung und des Verzichts, die Foucault nur mit dem christlichen Verständnis von Tugend assoziiert. Der Kampf gegen sich, den die Verwirklichung wissenschaftlicher Objektivität aus dieser Perspektive fordert, geh „bis an den Rand der Selbstzerstörung“ (Daston und Galison 2007, 397). Es scheint mir nicht ausgeschlossen, dass diese Diagnose etwas mit dem engen Verständnis von Tugend zu tun hat, das sich in der Studie von Daston und Galison – trotz der Referenz auf Hadot und Foucault – durchhält.
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eine Feier des Selbst, die ihr Heil in der ungebrochenen Identität sucht. Der christliche „Bruch“ mit dem eigenen Selbst, aus dem sich die Vorstellungen des Neuen Menschen speisen, finden in den Kulturen der Selbstsorge keine Entsprechung; Ataraxie und Autarkie verlangen den Bruch mit der Welt, aber „kein[en] Bruch innerhalb des Selbst“ (HS 268). Diese und ähnlich Formulierungen finden sich regelmäßig, wo Foucault die Kultur der Selbstsorge von der christlichen Asketik des Verzichts abhebt. Der Bruch im Selbst, den er negiert, ist der Bruch der Entsagung und des Selbstverzichts. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Prozesse der Selbstbildung, die er bei den Stoikern und Epikureern findet, auf ein simples Bild der Selbstgenügsamkeit und der Seelenruhe reduzieren ließen. Schon in der Lektüre von Platons Alkibiades, der in der Hermeneutik des Subjekts als eine Urszene der Selbstsorge fungiert, hebt Foucault das Problem der schlechten Erziehung hervor, das Alkibiades zur Beschäftigung mit sich selbst zwingt.7 Diese Szene hat auch für die späteren Programme der Selbstsorge paradigmatische Bedeutung, weil sie zeigt, dass die Sorge um sich nicht bei Null beginnt. Sie bricht mit einer Vorgeschichte der schlechten Erziehung.8 Dieser Bruch bildet auch ein wichtiges Motiv bei den hellenistischen und römischen Autoren. Foucault stellt es am deutlichsten an Seneca dar. Selbstgenügsamkeit und Seelenruhe – das, was man aus stoischer Perspektive „Freiheit“ nennen kann – verlangen eine Arbeit der Befreiung. Die Vorgeschichte der schlechten Erziehung kehrt bei Seneca wieder als ein Zustand der inneren „Unfreiheit“; als servitutem sui, die „Knechtschaft seiner selbst“ (HS 338). Das rückt die Selbstkultur des 1./2. Jahrhunderts in ein komplexeres Verhältnis zu den christlichen Praktiken des Bruchs. Foucaults erste Abgrenzung der hellenistisch-römischen Selbstsorge von den Asketiken des Selbstverzichts folgte der einfachen Unterscheidung zwischen „ein Bruch“ und „kein Bruch“ (HS 266 f.). Diese Unterscheidung lässt sich bei näherer Betrachtung der spezifischen
7Alkibiades ist noch nicht zwanzig Jahre alt und möchte als Politiker zu Ruhm kommen. Sokrates bringt ihn zu der Einsicht, dass nur ein tugendhafter Mensch zur gerechten Verwaltung des Gemeinwesens befähigt ist, dass Tugend ein Produkt guter Erziehung ist und dass sich ein Staat folglich mit besonderer Sorgfalt der Erziehung widmen muss, wenn er eine gute Regierung erhalten will. Das klingt nach einem sehr einfachen Regelkreis von Politik und Pädagogik: Die gute Regierung der Heranwachsenden sichert eine gute Regierung der Erwachsenen, die sich um eine gute Regierung der Heranwachsenden kümmert. Die Pointe des Alkibiades besteht aber darin, dass der Kreis durchbrochen werden muss – dass man eine Notlösung braucht – weil die athenische Erziehung zu schlecht ist. Sokrates führt es Alkibiades sehr drastisch vor Augen: Verglichen mit der Erziehung der Spartaner und Perser, die, falls Alkibiades Athen jemals regieren wird, seine Gegner sein werden, ist seine Erziehung unterlegen. Er muss beginnen, sich um sich selbst zu kümmern, wenn er diese Unterlegenheit wettmachen will (vgl. HS 57 f.). 8Christoph Menke nutzt Foucaults genealogische Perspektive, um die Bedeutung dieser Vorgeschichte der Befreiung in Hegels Philosophie herauszuarbeiten (Menke 2018). Die dialektische Pointe, dass schon der Zustand der Unfreiheit, aus dem sich das Selbst befreien muss, Produkt eines Aktes der Befreiung – der Befreiung von Natur – ist, findet sich bei Foucault allerdings nicht.
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Techniken aber nicht halten. Foucault bemerkt das selbst sehr deutlich: „Wie ist es möglich, zu behaupten: Es gilt das Selbst zu verehren, anzustreben und stets im Auge zu behalten, da man bei ihm die größte Freude erlebt, und gleichzeitig: Man muß sich von sich selbst befreien?“ (HS 338) Elemente einer Antwort hat Foucault schon in den vorausgehenden Vorlesungen immer wieder angedeutet. Sokrates begegnet der schlechten Erziehung des Alkibiades mit den Mitteln der Selbsterkenntnis. Seine Seelenleitung ist auf Einsicht ausgerichtet und folgt dem „Spiel zwischen Nichtwissen und Erinnern“ (HS 168). Das ändert sich in den hellenistischen und römischen Texten. Die Verschiebung von der Selbsterkenntnis zur Selbstsorge führt zu einer grundsätzlich anderen Diagnose des Problems. Die Anamnesis-Lehre rückt in den Hintergrund, weil der Zustand, aus dem das Selbst befreit werden muss, sich nicht mehr in Kategorien des Wissens fassen lässt. Der Adressat der Seelenleitung wird nicht mehr als unwissend, sondern als „verbildet“ – als mal formé oder déformé – betrachtet; die Praktiken der Selbstbildung erweisen sich im konkreten Vollzug als Praktiken der „Umbildung“ (HS 169). Für den Prozess einer Befreiung von sich, den Seneca beschreibt, bedeutet das, dass er nur in zweiter Linie kognitiver Natur ist, in erster Linie aber eine Sache der Übung. Das Selbst, das sich in Knechtschaft hält, ist „in schlechten Gewohnheiten befangen“ (HS 169). Das gibt dem Kampf gegen die Knechtschaft, den Seneca als Weg zur Tugend zeichnet, seinen eigentümlichen Charakter. Der Ausgang aus der Selbstgefangenschaft ist keiner aus der platonischen Höhle. Es geht nicht um die Abwendung von Trugbildern, sondern um die „Umwandlung“ von „schlechten Gewohnheiten“ (HS 170). Eine der deutlichsten Korrespondenzen zwischen Sokrates und Seneca liegt in Foucaults Darstellung daher darin, dass sie Mittel zur Bearbeitung mangelhafter Erziehung und schlechter Angewohnheiten entwickeln. Die Techniken der Meditation und Aufmerksamkeitslenkung, die geordneten Verfahren des Zuhörens, Lesens und Schreibens, die Vorwegnahme möglicher Übel zur Wappnung gegen die Wechselfälle des Lebens, die Verfahren der Selbstprüfung und Gewissensleitung dienen einem Prozess der Selbstbildung, in dem es ganz wesentlich um das Verlernen eingespielter Verhaltensweisen geht. Virtutes discere vitia dediscere, heißt es in Senecas Briefen an Lucilius: „Tugenden lernen heißt Laster verlernen“ (50. Brief, Abschn. 7; vgl. Seneca 2011, 264 f.; vgl. HS 128).9
5 Geständnispraktiken und freimütige Rede Foucaults Unterscheidung zwischen antiker Selbstsorge und christlicher Selbstexegese nimmt sehr frühe Motive seines Denkens auf, die in den 1970er Jahren zeitweilig in den Hintergrund gerückt waren. Im Vorwort zu Wahnsinn und
9Das
Problem der Bearbeitung schlechter Angewohnheiten hat eine lange Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht (vgl. Kleeberg 2012).
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Gesellschaft, seiner ersten großen historischen Studie, präsentiert Foucault die Entstehungsgeschichte der modernen Psychiatrie als Geschichte eines „abgebrochenen Dialogs“: Die Geste, mit der die Vernunft die Bedrohung durch den Wahnsinn bannt, verwandle den Dialog zwischen Vernunft und Wahnsinn in einen „Monolog der Vernunft über den Wahnsinn“ (WG 8). Foucault ersetzte das Vorwort der ersten Auflage in den weiteren Auflagen des Buches durch einen neuen, weit kürzeren Text. Die Rede vom abgebrochenen Dialog gehörte für ihn sicher zu jener „Lyrik des Außenseitertums“ (ÜS 389; frz. 352), von der er sich später distanzierte. Es ist aber offensichtlich, dass in der Hermeneutik des Subjekts einige wichtige Motive der frühen Studie über den Wahnsinn – in einer weniger feierlichen Rhetorik – wiederkehren. Foucault zeichnet noch einmal, mit einem deutlich weiter gespannten historischen Bogen, eine Geschichte der Verdrängung und der Wiederkehr: Der „cartesianische Moment“ markiert in dieser Erzählung nicht die Abspaltung des Wahnsinn von der Vernunft, sondern eine Verdrängung von Praktiken der Selbstsorge, die sich erst im 19. Jahrhundert allmählich wieder Geltung verschaffen (HS 30–49). In diesem Zusammenhang kehren eine Reihe von Begriffen und Motiven zurück, die in Foucaults Schriften der 1970er Jahre vorübergehend verschwunden waren: Er spricht wieder von Freiheit und Erfahrung; und er interessiert sich wieder für das strategische Manöver, das adressierte Mitteilungen in Aussagen über Gegenstände verwandelt. Deutlichstes Zeugnis dieser Verschiebung des Blickwinkels ist Foucaults Strategie, den Zusammenhang zwischen seinen früheren Studien als Geschichte des Wahrsprechens – der véridiction – zu interpretieren (HS 288). Die Grundfrage nach der Beziehung zwischen Subjektivität und Wahrheit konkretisiert sich so zu einer Geschichte von sprachlichen Formen der „Selbsterfahrung“ (HS 289). In dieser Geschichte spielen die Formen der „Selbstexegese“ (HS 298), die für die christliche Gewissensprüfung charakteristisch sind, eine zentrale Rolle. Anders als es die Rede von einer „Hermeneutik des Subjekts“ vielleicht vermuten ließe, stellt Foucault diese Formen der Selbstexegese durchgehend als sprachliche Praktiken dar, in der ein Subjekt die Wahrheit über sich selbst sagt: Ich glaube, daß der Moment, da die Aufgabe, über sich selbst wahr zu sprechen, der zur Erlangung des Seelenheils unerläßlichen Prozedur einverleibt wurde und die Verpflichtung, über sich selbst Wahres zu sagen, […] Eingang in die Pastoralinstitutionen fand, daß dieser Moment absolut grundlegend ist in der abendländischen Geschichte der Subjektivität bzw. der Geschichte der Beziehungen zwischen Subjekt und Wahrheit. (HS 443)
Foucault skizziert hier offenkundig die Herkunft der neuzeitlichen Geständnispraktiken, die er zuvor in Der Wille zum Wissen analysierte. Im Gegenzug geht er auf die Suche nach spezifischen Formen des Wahrsprechens, die von den christlichen Geständnispraktiken abgelöst wurden und findet sie in Formen der freimütigen Rede – der parrhesia – als einer „Ethik des gesprochenen Wortes“ (HS 179).
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Foucault wird seine Vorlesungen der Folgejahre vollständig der parrhesia widmen (vgl. Gehring und Gelhard 2012 sowie die Beiträge von Sabellek und Schneider sowie Hoppe in diesem Band). Schon in der Hermeneutik des Subjekts fungiert sie als eine mögliche – sprachliche – Konkretisierung des allgemeinen Begriffs „Selbsterfahrung“. Der Parrhesiast spricht nicht „über“ sich, er tritt aber in ein spezifisches Verhältnis zu sich, indem er sich freimütig äußert. Wichtiger als diese Form der Selbsterfahrung sind für Foucault zu diesem Zeitpunkt aber noch die verschiedenen Formen der Selbstprüfung, die er in den Schriften der Stoiker und Epikureer findet.
6 Prüfung und Selbstprüfung Prüfungstechniken spielen schon eine große Rolle in Foucaults Analysen der Disziplinarmacht (vgl. Gelhard 2017). In Überwachen und Strafen zeigt er, dass das Aufkommen neuer Formen der Individualisierung im 18. Jahrhundert maßgeblich durch Prüfungstechniken getragen war. Dabei rekurriert er gelegentlich auf die religiösen Praktiken der Gewissensleitung, die in die neuen medizinischen, psychologischen und pädagogischen Formate Eingang fanden. Vieles, was Foucault in seinen Texten und Vorlesungen der späten 1970er Jahre unter dem Titel der Pastoralmacht analysiert, schließt hier unmittelbar an. Es eröffnen sich aber auch neue systematische Fragen, die in Überwachen und Strafen unbeachtet blieben. Die deskriptive Nüchternheit des Buches nimmt Abstand von der frühen Emphase der Tragik und des Widerstands; sie bleibt aber auch blind gegenüber wichtigen analytischen Fragen, wie der nach der Akzeptabilität von Disziplinar- und Regierungstechniken.10 Wären die analysierten Techniken tatsächlich dazu geeignet, das Verhalten von Menschen zu lenken, wenn sie nicht auf einer ganz elementaren Ebene zustimmungsfähig wären? Und sind Prüfungstechniken vielleicht deshalb besonders geeignete Mittel der Menschenlenkung, weil sie schon seit der Antike ein integraler Bestandteil der menschlichen Erfahrung sind? Nimmt man Foucaults Argument, dass Erfahrung niemals nur „unmittelbar“ ist, an dieser Stelle ernst, so liegt es nahe, diese Frage zu bejahen. Die Formen von Selbsterfahrung, die er in der Hermeneutik des Subjekts analysiert, stützen sich, ganz gleich, welche Freiheitsgrade sie gestatten, auf Systeme der Selbsterfahrung. Diese Systeme können ganz unterschiedliche Formen der Lebensführung begünstigen – Techniken der Prüfung und Selbstprüfung scheinen dabei nahezu durchgehend eine entscheidende Rolle zu spielen. Eine mögliche Antwort auf die Frage, warum wir zwar einzelne Formen der Prüfung ablehnen, uns aber niemals aus allen Prüfungsprozessen verabschieden können, lautet: Weil Prüfungsprozesse Erfahrung ermöglichen.
10Vgl.
die Überlegungen zur Akzeptabilität und tatsächlichen Akzeptanz bestimmter Erkenntnisverfahren in WK 32–35.
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Foucault formuliert diese These nicht ausdrücklich. Es ist aber auffallend, dass er die Hermeneutik des Subjekts mit einer Zusammenfassung seiner Analysen abschließt, die ganz auf ein Motiv abhebt: das Leben als Prüfung. Den Auftakt dieser Summe seiner Überlegungen bilden einige kurze Bemerkungen über die Gewissensprüfung in Senecas De ira. Diesen Text stellte Foucault schon in früheren Vorlesungen der christlichen Gewissensleitung gegenüber: Es geht nicht um Schuldfragen, so der Tenor seiner Analyse, sondern um eine Prüfung des Tagesverlaufs, die es erlaubt, künftig Fehler zu vermeiden (HS 584–590). Es geht also um die produktive Seite von Prüfungen: nicht um Techniken der Disziplinierung und Kontrolle, sondern um solche, die Erfahrung ermöglichen. Diese Erfahrung hat eine technische Seite, sie stützt sich zum Beispiel auf die hypomnemata, die Gedächtnishilfen, die wir immer bei der Hand haben sollten, um auf die Wechselfälle des Lebens vorbereitet zu sein (HS 590). Gerade deshalb ist es möglich, der Selbsterfahrung eine geordnete Form zu geben und sie als „Selbstsorge“ (HS 591) zu vollziehen. Wenn dem so ist, lässt sich der Erfahrungscharakter des Lebens – die Lebensform im Unterschied zum bloßen Leben – auf die Formel bringen, dass „man das Leben insgesamt als Prüfung betrachten kann“ (HS 590). Terminologisch zieht Foucault daraus die Konsequenz, die Begriffe expérience, épreuve und exercice – Erfahrung, Prüfung und Übung – in eine so enge Beziehung zu setzen, dass sie nur noch als verschiedene Aspekte desselben Geschehens erscheinen. In der Vorlesung des Vorjahres hatte er bereits die Unterscheidung zwischen zoë und bíos behandelt, um das organische Leben von der bewussten Lebensführung zu unterscheiden (vgl. SuW 45–69). Am Ende der Hermeneutik des Subjekts bestimmt er den Begriff des bíos als einen beständigen Prozess der Selbsterprobung und erläutert wie folgt: Daß der bíos, daß das Leben – ich meine: die Art und Weise, wie sich die Welt uns unmittelbar im Laufe unserer Existenz darbietet – eine Prüfung [épreuve] ist, hat zwei Bedeutungen. Prüfung im Sinn von Erfahrung [expérience], das heißt, daß die Welt als das anerkannt wird, vermittels dessen wir die Erfahrung unserer selbst machen, vermittels dessen wir uns erkennen, vermittels dessen wir uns entdecken und wodurch wir uns selbst offenbaren. Und zweitens Prüfung in dem Sinn, daß die Welt, dieser bíos auch eine Übung ist [exercice], das heißt, daß er das ist, wovon ausgehend oder wodurch vermittelt, oder wogegen oder dank dessen wir uns bilden [former], uns umformen [transformer], einem Ziel oder unserem Heil zustreben, unsere Vervollkommnung verfolgen. (HS 593; frz. 466)
Diese Auffassung des Lebens als Prüfung ist Foucault offenbar so wichtig, dass er seine gesamte Vorlesung der Erforschung des Zusammenhangs von Erfahrung, Prüfung und Übung widmet, der für die philosophischen Texte des 1. und 2. Jahrhunderts charakteristisch ist. Dabei leitet ihn durchgehend die historische These, mit der er seine Vorlesung eröffnete: Die skizzierte Konstellation bleibt nicht auf das Goldene Zeitalter der Selbstsorge beschränkt, sie kommt im 19. und 20. Jahrhundert wieder zum Durchbruch.
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7 Eine philosophische Herausforderung Die Analysen der Hermeneutik des Subjekts bewegen sich auf dem Feld, das Foucault in Was ist Kritik? erstmals programmatisch umrissen hat. Die Untersuchung von Prozessen der Selbstbildung steht in der Nachfolge von Kants Programm der Aufklärung. Das erklärt den überraschend emphatischen Verweis auf Hegels Phänomenologie des Geistes, mit dem Foucault seine Vorlesung schließt. Hegels Phänomenologie ist im Grundriss als eine Selbstprüfung des Bewusstseins angelegt; sie entwickelt eine elaborierte Theorie des Prüfungscharakters von Erfahrung (vgl. Gelhard 2018, Kap. IV). Foucault markiert Hegels Phänomenologie schon am Anfang seiner Vorlesungen als einen der philosophischen Einsatzpunkte, an denen die lange verdrängte Selbstsorge wieder zum Durchbruch kommt (HS 49). Diesen kurzen Hinweis nimmt er am Ende seiner Vorlesung wieder auf, um seine kleinschrittigen Lektüren antiker Texte in einen weiteren philosophischen Horizont zu stellen: Die Herausforderung besteht in folgendem: Wie ist es möglich, daß das, was vermittelt über die technische Beherrschung sich als Objekt des Wissens gibt, zugleich der Ort ist, wo die Wahrheit des Subjekts, das wir sind, sich manifestiert, sich erprobt und unter Schwierigkeiten vollendet? Wie ist es möglich, daß die Welt, die sich auf der Grundlage der technischen Beherrschung als Erkenntnisobjekt gibt, zugleich der Ort ist, an dem sich das „Selbst“ [le soi-même] als ethisches Subjekt der Wahrheit manifestiert und bewährt? Gesetzt, dies ist das Problem der abendländischen Philosophie – wie kann die Welt Erkenntnisobjekt und zugleich Ort der Bewährung [épreuve] für das Subjekt sein; wie ist es möglich, daß es ein Erkenntnissubjekt gibt, das sich die Welt vermittelt über eine technē als Objekt gibt, und ein Subjekt der Selbsterfahrung, das sich dieselbe Welt in der radikal unterschiedenen Gestalt der Bewährung gibt –, gesetzt also, das ist tatsächlich die Herausforderung, der sich die abendländische Philosophie zu stellen hat, dann verstehen Sie auch, warum die Phänomenologie des Geistes den Höhepunkt dieser Philosophie bildet. Soweit für dieses Jahr. Danke. (HS 593 f.)
Den Prüfungscharakter von Erfahrung auf der Höhe des neuzeitlichen Denkens zu reformulieren bedeutet für Foucault, zwei Formen des Weltbezugs – und folglich zwei Formen von Subjektivität – zueinander ins Verhältnis zu setzen. Da dasselbe Subjekt zugleich „Erkenntnissubjekt“ und „Subjekt der Selbsterfahrung“ sein kann, bewegt es sich in der Welt, die es zum Gegenstand der Erkenntnis macht; das Ganze möglicher Erkenntnisgegenstände ist zugleich ein Ort der permanenten Prüfung an dem sich das Subjekt in Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten des Lebens „bewährt“ (HS 594). Foucaults erster prominenter Text, in dem er dieses Verhältnis zwischen Gegenstandserkenntnis und Selbsterfahrung thematisiert, ist Was ist Kritik? Dort unterscheidet er Kants Erkenntniskritik von der politischen Geste, mit der dieser sich im „Zeitalter der Kritik“ situiert. Es ist offensichtlich, dass es in den Schlusspartien der Hermeneutik des Subjekts um die Frage geht, wie sich diese beiden
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Formen der Kritik ins Verhältnis setzen lassen.11 Die beiden Weisen des Weltzugangs, die Foucault hier unterscheidet, entsprechen den beiden Formen von Kritik, die Foucault bei Kant am Werk sieht. Warum bringt Foucault an diesem Punkt Hegels Phänomenologie ins Spiel? Ließe sich das Problem nicht auch mit Heidegger bearbeiten, auf den er sich regelmäßig bezieht?12 Viele Partien der Hermeneutik des Subjekts lassen sich mit Heideggers Denken in Beziehung setzen. Das gilt auch für das Weltproblem. In einer seiner Freiburger Vorlesungen zeigt Heidegger, dass Kant zwei Weltbegriffe aus der philosophischen Tradition aufgreift, sie aber unvermittelt „nebeneinander stehen“ (Heidegger 1996, 248) lässt. Er unterscheidet den metaphysischen Weltbegriff der Erkenntniskritik – Welt als das Ganze aller Erkenntnisgegenstände – vom anthropologischen Weltbegriff, der Welt als Wohnort des Menschen bestimmt. Das sind die beiden Weltbezüge, von denen auch Foucault am Ende seiner Vorlesung spricht. Kants erste Kritik behandelt Welt als Korrelat von Erkenntnisakten; seine Anthropologie untersucht dagegen eine Form von Weltkenntnis, für die „Welt“ in erster Linie „Miteinandersein“ (Heidegger 1996, 300) bedeutet. Die philosophische Herausforderung, mit der Foucault seine Vorlesung schließt, lässt sich also – bis zu einem gewissen Prunkt – auch mit Heidegger formulieren. Die Grenzen dieser Referenz zeigen sich am deutlichsten in den Analysen der Gewissensprüfung. Foucaults Überlegungen treffen sich in einer sehr allgemeinen, abgrenzenden Geste mit Heideggers Bestimmung des Gewissens in Sein und Zeit. Beide betrachten die Unterwerfung unter das Gesetz, die den Kern von Kants Autonomiekonzept ausmacht, als spezifisch moderne Auffassung von Moral, deren Tendenz zur „Verrechtlichung“ man nicht unbesehen nachgeben sollte (HS 149). Beide behaupten, Grundzüge des Gewissens angeben zu können, die der Gesetzesform gegenüber „vorrangig“ sind (HS 149). In der Analyse dieser Grundzüge heben Heidegger und Foucault allerdings zwei sehr unterschiedliche Aspekte traditioneller Gewissensbegriffe hervor, die sich komplementär zueinander verhalten. Heidegger setzt Kants Gerichtshof-Vorstellung des Gewissens das Phänomen des Rufverstehens entgegen, das uns aus dem Gerede der Öffentlichkeit reißt und auf uns selbst zurückwirft. Dabei betont er die Unausweichlichkeit, mit der „uns“
11Foucaults
wenige Bemerkungen über Kant in der Hermeneutik des Subjekts beziehen sich durchgehend auf Kants Erkenntniskritik. Aus dieser Perspektive besiegelt Kant die Verdrängung der Selbstsorge, die Foucault mit Descartes assoziiert (HS 242). Für den Schluss der Vorlesung hatte Foucault aber noch einen kurzen Verweis auf Kants Begriff der Aufklärung vorgesehen, den er nicht vorgetragen hat. Diese Schlussbemerkung betrifft genau das Verhältnis zwischen Gegenstandserkenntnis und Selbsterfahrung, dessen avancierteste Analyse Foucault in Hegels Phänomenologie des Geistes findet: „Wenn die von der Aufklärung (dt. im O. – A. d. Ü.) überlassene Aufgabe (die die Phänomenologie verabsolutiert hat) darin besteht, der Frage nachzugehen, worauf unser System objektiven Wissens beruht, so besteht sie ebenso darin, der Frage nachzugehen, worauf die Modalität der Selbsterfahrung beruht“ (HS 595, Anm.). 12Auch im Wortwechsel mit den Zuhörern der Hermeneutik des Subjekts betont Foucault, er untersuche das Feld „von Heidegger aus“ (HS 240).
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der Ruf trifft. Diese Analyse des Gewissens ist konsequent gegenaufklärerisch. Sie streicht das Moment der Selbstprüfung, das aus dem Gewissen eine Instanz der Kritik machen könnte und behält nur das Motiv einer Stimme des Gewissens zurück, deren unbedingten Anspruch wir nicht überhören können. Beide Motive finden sich in Kants Theorie des Gewissens. Heidegger halbiert diese Theorie und präpariert sauber die autoritären Restebestände heraus. Nach Heidegger müssen alle Vorstellungen vom Gewissen, die dem Gedanken der moralischen Selbstprüfung verpflichtet sind, überwunden werden. Die Idee, das Gewissen könnte eine „kritische Funktion“ wahrnehmen, ist aus seiner Perspektive Kennzeichen einer vulgären Gewissensauslegung (Heidegger 1993, 290). Dadurch fällt die Auslegung des Gewissens auf eine reine Apotheose des Rufverstehens zurück, die in immer neuen Anläufen die Unausweichlichkeit betont, mit der uns der Ruf aufrüttelt und aus dem bloßen Gerede der Öffentlichkeit reißt (Heidegger 1993, 271). Auch Foucault wendet sich gegen die rechtliche Reduktion des Gewissens, hebt aber im Gegenzug nicht die Unmittelbarkeit des Rufverstehens hervor, sondern, ganz im Gegenteil, die Technizität der Asketik. Foucault ist nicht an einer Ontologie des Gewissens interessiert, die uns sagt, was das Gewissen eigentlich – diesseits aller empirischen Missverständnisse – ist. Sein Ziel ist es, historisch zu demonstrieren, „daß das Gesetz, als Episode und Übergangsform, selbst Teil einer viel umfassenderen Geschichte ist, nämlich der Geschichte der Techniken und Technologien im Rahmen der auf das eigene Selbst gerichteten Praktiken“ (HS 149). Das ist der Punkt, an dem der Schritt von Kant zu Hegel deutlich näher liegt als der zu Heidegger. Die Phänomenologie des Geistes enthält nicht nur eine Analyse des Gewissens, die den Prüfungscharakter des Geschehens konsequent hervorhebt; sie formuliert auch einen Vorschlag, wie sich das Nebeneinander der genannten Weltbegriffe – Welt als Gegenstand von Erkenntnis und Welt als Ort der Selbsterfahrung – in ein artikuliertes Verhältnis bringen lässt. Dazu stützt sich Hegel auf einen Systemteil von Kants kritischer Philosophie, den Heidegger vollständig ignoriert: die transzendentale Dialektik.13 Eine entscheidende Gemeinsamkeit zwischen Kants metaphysischem und seinem anthropologischen Weltbegriff ist die Bestimmung der Welt als Totalität. Kants transzendentale Dialektik zeigt, dass jeder Versuch, eine Totalität zu bestimmen, deren Teil ich bin, zu Widersprüchen führt. Auch die anthropologische Bestimmung der Welt als Wohnort des Weltbürgers fasst „Welt“ als ein „Ganzes“, in dem Menschen miteinander in Gemeinschaft stehen (Kant 2000, 13). Das ist entscheidend für Hegels praktische Weiterbestimmung von Kants erkenntniskritischer Dialektik. Der Weltbegriff der transzendentalen Dialektik wird antinomisch, weil dieselbe Totalität entgegengesetzten Bestimmungen zugänglich ist. Die Welt des Weltbürgers ist antagonistisch verfasst, weil die Welt für freihandelnde Menschen in inkompatible
13Heidegger
zitiert Passagen aus den entsprechenden Kapiteln der Kritik der reinen Vernunft. Die darin entfaltete Dialektik spielt für seine Kantlektüre aber keine Rolle. Sein Kantbuch (Heidegger 2010) reduziert Kants Erkenntniskritik auf die transzendentale Analytik.
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Bestimmungen desselben Ganzen zerfällt. Hegels philosophischer Begriff für den Austrag dieser Antagonismen lautet „Bildung“ (vgl. Gelhard 2018, Kap. VI). Vergegenwärtigt man sich diese Zusammenhänge, ist es nicht mehr ganz so überraschend, dass Foucault am Ende der Hermeneutik des Subjekts auf Hegel verweist. Liest man die Vorlesung von ihrem Ende her, so finden sich auch eine Reihe von Motiven, die sich mit der Phänomenologie des Geistes in Beziehung setzen lassen: allen voran die Figuren der Konversion. Hegel bezeichnet die Wendepunkte seiner Erfahrungsgeschichte, an denen nicht nur einzelne Erkenntnisgegenstände, sondern die Maßstäbe der Welterschließung korrigiert werden, als „Umkehrung des Bewusstseins“ (Hegel 1988, 67). Diese Formel bezieht schon Hadot unmittelbar auf die Praktiken der Konversion, die er in antiken, hellenistischen und römischen Texten findet (Hadot 2002, 233). Foucaults These, dass mit Hegels Phänomenologie die durch Descartes verdrängte „Geistigkeit“ in die Philosophie zurückkehrt, deutet in dieselbe Richtung. Dennoch sind dem Versuch, Korrespondenzen zwischen Foucaults Vorlesung und Hegels Phänomenologie herzustellen, enge Grenzen gesetzt. Hegels Begriff der Erfahrung ist Teil eines philosophischen Programms, das er als „sich vollbringenden Skeptizismus“ bezeichnet (vgl. Hegel 1988, 61). Damit benennt er eine philosophische Tradition, die Hadot und Foucault weitgehend ignorieren.14 Wenn Foucault in der Hermeneutik des Subjekts das Goldenen Zeitalter der Selbstsorge untersucht, bezieht er sich vorwiegend auf die Stoa, regelmäßig auf den Epikureismus, gelegentlich auf den Kynismus und niemals auf den Skeptizismus. Das ist aus philosophiegeschichtlicher Perspektive erstaunlich, systematisch aber naheliegend, weil sich Foucault schon sehr früh von jeglicher Form der Dialektik distanzierte. Man kann die Diskussion an diesem Punkt also abkürzen. Hegels Phänomenologie des Geistes greift den antiken Skeptizismus auf, um Kants transzendentaler Dialektik eine praktische Wendung zu geben. Er stützt sich auf die hellenistische Schule, die Hadot und Foucault ausblenden, um den Systemteil von Kants Philosophie, den Heidegger und Foucault ignorieren, zu einer Revision von Kants kritischer Philosophie zu nutzen. Foucault hätte also einen einigermaßen tiefgreifenden Kurswechsel vornehmen müssen, um den – sachlich sehr naheliegenden – Hinweis auf Hegel philosophisch fruchtbar zu machen. Welche philosophischen Probleme hätten sich nach einem solchen Kurswechsel besser bearbeiten lassen? Vielleicht, zum Beispiel, das Verhältnis zwischen den Praktiken der Konversion, die Foucault in seiner Vorlesung ausführlich analysiert, und der Reversibilität von Machtverhältnissen, die er an nur einer Stelle
14Ruedi Imbach hat schon in seiner Rezension der ersten Auflage von Hadots Exercices spirituels et philosophie antique sein Erstaunen darüber bekundet, dass Hadot die Auseinandersetzung mit dem Pyrrhonismus umgeht (Imbach 1985, 280 f.). Hadot stimmt Imbachs Kritik im Nachwort zur zweiten Auflage seines Buches ausdrücklich zu (Hadot 2002, 314). Er nimmt aber auch in den später hinzugefügten Texten nur sporadisch Bezug auf die Skepsis (vgl. z. B. Hadot 2002, 266 f.). Zu Foucaults Vernachlässigung der Skepsis vgl. Frédéric Gros’ Nachwort zur Hermeneutik des Subjekts in HS 634 f.
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aufruft (HS 314). Die Reversibilität von Machtverhältnissen ist eine der entscheidenden Bedingungen für die Vereinbarkeit von Macht und Freiheit. Anders als es die verbreitete Gleichsetzung von Macht und Herrschaft nahelegt, sind Machtbeziehungen nicht hierarchisch fixiert. In Was ist Kritik? betont Foucault, die spezifische Struktur von Machtverhältnissen lasse sich nur zugänglich machen, wenn man darauf verzichtet, Macht als Herrschaft zu verstehen, um sie stattdessen als ein Feld von Möglichkeiten und folglich der möglichen Verkehrung von Machtbeziehungen zu begreifen: „un domaine de possibilité et par conséquent de réversibilité, de renversement possible“ (WK 40; frz. 57). Dieses Feld hat sehr deutliche Ähnlichkeit mit den Dynamiken der Bildung, die Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes darstellt. Hegel beschreibt sie als ein Spiel von „Mächten“, deren Verhältnis durch die beständige Möglichkeit einer „Verkehrung“ der Machtverhältnisse gekennzeichnet ist. Das schützt Hegels Bildungsbegriff vor einer rein individualistischen Interpretation, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat (vgl. Gelhard 2018, Kap. VI). Genau dieser individualistischen Auffassung von Bildungsprozessen kommt Foucaults Begriff der Selbstbildung oft gefährlich nahe. In der Hermeneutik des Subjekts vertritt er die These, der einzig mögliche „Punkt des Widerstands gegen politische Macht“ liege in einer „Ethik des Selbst“ (HS 313). Diese These hat er später korrigiert (DE IV/356, 901). Die philosophische Herausforderung, die Foucault am Ende seiner Vorlesung formuliert, kann also auch mit Foucault unterschiedlich beantwortet werden.
Literatur Daston, Lorraine und Peter Galison. 2007. Objektivität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gehring, Petra und Andreas Gelhard. Hrsg. 2012. Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich/Berlin: diaphanes. Gelhard, Andreas. 2013. Dispositive der Subjektivierung. Eine terminologische Notiz. In Techniken der Subjektivierung. Hrsg. von Andreas Gelhard, Thomas Alkemeyer und Norbert Ricken, 107–129. Paderborn: Fink. Gelhard, Andreas. 2017. Die Entgrenzung des Examens. Foucaults Analyse von Prüfungsformen. In Vierzig Jahre „Überwachen und Strafen“. Zur Aktualität der Foucault’schen Machtanalyse. Hrsg. von Roberto Nigro und Marc Rölli, 43–61. Bielefeld: Transkript. Gelhard, Andreas. 2018. Skeptische Bildung. Prüfungsprozesse als philosophisches Problem. Zürich/Berlin: diaphanes. Hadot, Pierre. 1953. Epistrophè et metanoia dans l’histoire de la philosophie. In Actes du XIème Congrès International de Philosophie. Brüssel. Bd. XII: 31–36. Hadot, Pierre. 2002. Exercices spirituels et philosophie antique, nouvelle édition revue et augmenté. Paris: Albin Michel. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm. 1988 [1807]. Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Meiner. Heidegger, Martin. 1993 [1927]. Sein und Zeit. 17. Aufl. Tübingen: Niemeyer. Heidegger, Martin. 1996. Einleitung in die Philosophie. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1928/29. Frankfurt a. M.: Klostermann. Heidegger, Martin. 2010 [1929]. Kant und das Problem der Metaphysik. 7. Aufl. Frankfurt a. M.: Klostermann. Imbach, Ruedi. 1985. La philosophie comme exercice spirituelle. In: Critique 454: 275–283.
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Kant, Immanuel. 2000 [1798]. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel. 2003 [1794]. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel. 2008 [1797]. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. 2. Aufl. Hamburg: Meiner. Kleeberg, Bernhard. Hrsg. 2012. Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750–1900. Berlin: Suhrkamp. Mendelssohn, Moses. 1974 [1784]. Über die Frage: was heißt aufklären? In Was ist Aufklärung? Hrsg. von Ehrhard Bahr, 3–8. Stuttgart: Reclam. Menke, Christoph. 2018. Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel. Berlin: Suhrkamp. Seneca, L. Annaeus. 2011. Briefe an Lucilius. Lateinisch-deutsch. 2. Aufl. Mannheim: Artemis & Winkler. Vogelmann, Frieder. 2012. Foucaults parrhesia – Philosophie als Politik der Wahrheit. In: Parrhesia. Foucaults letzte Vorlesungen – philosophisch, philologisch, politisch. Hrsg. von Petra Gehring und Andreas Gelhard, 203–229. Zürich/Berlin: diaphanes. Weber, Max. 1988 [1920–1921]. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: Mohr.
Andreas Gelhard ist Professor für allgemeine Pädagogik an der Universität Bonn.
Szenographie als Philosophiegeschichte Die Regierung des Selbst und der anderen (1982/83) Aaron Sabellek und Ulrich Johannes Schneider
1 Die Frage nach der Wirklichkeit der Philosophie In seiner Vorlesung von 1982 (siehe vorheriges Kapitel) war Foucault tief in antike philosophische Texte eingetaucht. Thema waren primär die Selbsttechniken, mit denen die antiken Autoren versuchten, auf die eigenen Affekte kontrollierenden Einfluss zu nehmen. Paradigmatisch war der Weise, der sein Gewissen prüft und sein Handeln daran angleicht. Eine konkrete Situation war für diese Selbsttechniken nicht entscheidend. Wichtig war die individuelle Reflexion: Was muss getan werden, um Herr über seine Affekte zu werden? Mit den zehn Doppelstunden der Vorlesung von Anfang 1983 (5. Januar bis 9. März) kehrt Foucault dieses Verhältnis um und thematisiert die Philosophie allgemein als mit der Aufgabe des Wahrsprechens befasst. Wo er zuvor das „Wahr-Sprechen als eine Seinsweise des Subjekts“ (HS 401) bezeichnete, fragt er nun, ob man nicht „die Geschichte der modernen europäischen Philosophie“ insgesamt als „eine Geschichte der Praktiken der parrhesia auffassen“ (RSA 437) könne. Parrhesia, d. h. auf Deutsch Redefreiheit und Freimut, ist der zentrale Begriff dieser Vorlesungsreihe, in der das Verhältnis von Philosophie und Politik Thema wird: Die Philosophie als Askese, die Philosophie als Kritik, die Philosophie als widerstrebende Exteriorität gegenüber der Politik, das ist, glaube ich, die Seinsweise der modernen Philosophie. Jedenfalls war das die Seinsweise der antiken Philosophie. (RSA 445)
A. Sabellek (*) Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] U. J. Schneider Universitätsbibliothek Leipzig, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_13
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Man hat diese Sätze im Rahmen einer Bestimmung der politischen Philosophie verstanden (Elden 2016, 5–7) und den Anschluss an frühere Ausführungen Foucaults gesucht. Sie legen aber noch eine andere Frage nahe: Operiert hier Foucault als Philosophiehistoriker? Diesen Verdacht kann man haben, wenn man die Themen der späten Vorlesungen in den Blick nimmt: Subjekt, Ethik, Lebenskunst, Wahrsprechen. Noch 1982 hatte Foucault den subjektzentrierten Ansatz seiner Pariser Vorlesung vom Frühjahr im Herbst an der Universität von Victoria in Toronto in fünf Vorlesungsstunden weiterentwickelt: „Wahrsprechen über sich selbst“ (DVSM). 1983 nun zeigt der Titel Die Regierung des Selbst und der anderen eine Ausweitung des thematischen Feldes an, die er ebenfalls weiter vertiefen wird, in Berkeley im Oktober und November 1983 (DV). Damit wäre das „Wahrsprechen“ als solches ein durchgehendes Thema bis zum Ende von Foucaults Vorlesungstätigkeit am 28. März 1984, denn auch dann noch ist für Foucault die Frage nach der Wahrheit zentral. Es wäre allerdings eine neue Rolle für Foucault, als Philosophiehistoriker aufzutreten, selbst wenn er früh schon eine Debatte über den Rang und die Rolle von Descartes anzettelte (WG 68–71; Custer et al. 2016), sich affirmativ auf Nietzsche und Heidegger bezog (Schneider 2001), negativ auf Hegel und Marx (Schneider 2003), sowie sich intensiv mit Kant beschäftigte (Schneider 2000, 2004). Im Unterschied zu Zeitgenossen wie Gilles Deleuze (Schneider 1996) und Jacques Derrida (Aryal et al. 2016) standen philosophische Autoren jedoch für Foucault niemals im Vordergrund seiner Aufmerksamkeit. Das ändert sich mit den späten Vorlesungen und den darin enthaltenen Ausführungen zu Aristoteles, Diogenes von Sinope, Diogenes Laertius, Epiktet, Platon und Sokrates. Nach Auskunft des Herausgebers Frédéric Gros sollte die Vorlesung von 1983 ein (dann doch nicht realisiertes) Buchprojekt vorbereiten (RSA 471). Tatsächlich kennen die 550 handschriftlichen Seiten des Vorlesungsmanuskripts zahlreiche interne Gliederungen und Zwischenüberschriften, wie sie für Buchmanuskripte typisch sind, lassen aber – im Unterschied zu anderen Vorlesungsmanuskripten Foucaults – nicht erkennen, wo eine Vorlesungsstunde beginnt oder endet.1 Der Neuansatz von 1983 bringt also eine Verallgemeinerung des Denkens und der Praktiken von parrhesia, was 1982 noch eher kursorisch geschah (HS 447–450, 453–498) – damals, um das Wahrsprechen mit der Lebensführung zu verbinden. Wahrsprechen wurde entsprechend zusammen mit den Aufgaben der Ethik, der Pädagogik und der Rhetorik diskutiert. Dagegen entwirft Foucault 1983 nun einen neuen Ansatz, programmatisch in der ersten Stunde der zweiten Vorlesung zusammengefasst:
1Ergebnis
einer Durchsicht von U. J. Schneider in der Bibliothèque Nationale de France am 09.03.2019: NAF 28730, Boîte XII.
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Mit der Fragestellung nach der Regierung des Selbst und der anderen möchte ich versuchen herauszufinden, wie das Wahrsprechen, die Verpflichtung und die Möglichkeit des Wahrsprechens in den Verfahren der Regierung zeigen können, wie das Individuum sich in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen als Subjekt konstituiert. (RSA 64)
Foucaults Überlegungen laufen nun auf eine grundlegende Auseinandersetzung des Verhältnisses von Philosophie und Politik hinaus: „Politik ist […] dasjenige, wodurch, auf dessen Grundlage und in Beziehung worauf das philosophische Wahrsprechen seine Wirklichkeit finden muss.“ (RSA 372) In der Vorlesungstätigkeit von Foucault wird so zum ersten Mal „die Philosophie“ thematisch, nicht ein Denken, eine Rede, eine Praxis. Foucault wählt einen ganz besonderen Einstieg für seine Thematisierung der Philosophie von der Antike zur Gegenwart. Er setzt ein bei Kant. Es ist die alles überspannende Frage nach der „Wirklichkeit“ der Philosophie, die den exkursartigen Beginn bestimmt: die Problematisierung von Immanuel Kants 1784 veröffentlichter Schrift „Was ist Aufklärung?“2 Foucault nennt Kant den ersten Philosophen, der nach der Relevanz seiner eigenen Gegenwart gefragt habe. Jeder Philosoph, sagt Foucault, der über die Gegenwart spricht, thematisiert damit ein philosophisches Ereignis, dem er selber angehört (RSA 27). Von daher gilt: „Der Diskurs soll seine eigene Gegenwart berücksichtigen.“ (RSA 30) Diese Gegenwart bestimmt Kant als „Ausgang, als eine Bewegung, durch die man sich von etwas befreit, ohne dass etwas darüber gesagt wäre, woraufhin man sich bewegt.“ (RSA 45) Diese Bewegung leistet das „kritische Denken, das die Form einer Ontologie unserer selbst annimmt, eine Ontologie der Gegenwart“ (RSA 39). Bei Kants Reflexionen über die Aufklärung handelt es sich um eine solche Ontologie der Gegenwart, eine bewusste Selbstverortung des Menschen in der Geschichte. Mit dieser Aussage charakterisiert Foucault indirekt seinen eigenen Ansatz, bei dem es ihm im Collège de France darum geht, ein fremd gewordenes Denken (in der Hauptsache: der Antike) im Abstand zur eigenen Gegenwart nachzuvollziehen. Auch in anderer Hinsicht lässt sich die Aussage über Kant als Selbstauskunft verstehen, insofern Foucault sich in den Vorlesungen experimentell in neue Wissensgebiete und Textregionen vorarbeitet und dabei sein Publikum vor gedankliche Herausforderungen stellt. Kant hat mit seiner auf die Gegenwart orientierten Bewegung der Philosophie eine Geschichte gegeben, eine Vorgeschichte gewissermaßen, die eine Entwicklung vollzieht (Engfer 1996, 418–434).
2Vermutlich setzte sich Foucault auch deshalb mit diesem Text auseinander, weil dessen 200-jähriges Jubiläum bevorstand. Foucault veröffentlichte 1984 einen Text über Kants Schrift, vgl. DE IV/351.
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2 Szenographie des Wahrsprechens Der Einstieg mit Kant verstärkt Foucaults allgemeine Perspektive auf die Philosophie und deren Aufgabenbestimmung – etwas, das er in früheren Vorlesungen eher am Rande bemerkte. Foucault antwortet zu Beginn der sechsten Vorlesung vom 9. Februar 1983 auf Einwände, er mache nicht hinreichend klar, was mit parrhesia eigentlich gemeint sei: Darunter verstünde er nicht nur allgemein freimütiges Reden, sondern „Szenen des politischen Lebens“ (RSA 241). In diesem Sinne kann man den gesamten Vorlesungszyklus als eine szenographische Arbeit verstehen, die verschiedene Beispiele des freimütigen, wahr-sprechenden Redens aus antiken Quellen in Szene setzt. Die Relevanz des Theaters für Foucaults Methodologie hatte sich schon früher gezeigt: 1971 begann Foucault seine zweite öffentliche Vorlesung, in der er eine „Analyse der Macht als Theater“ (TIS 86) versuchte; ein Jahr später inszenierte er in einem Vortrag eine politische Zeremonie des 17. Jahrhunderts in fünf Akten (TIS 305–310). In einem Gespräch 1978 betrachtete er schließlich das Abendland als Bühne der Wahrheit (DE III/234, 718–747). Zudem zieht sich seine Beschäftigung mit dem Stück König Ödipus von Sophokles durch zahlreiche Vorlesungen, das er nach Formen des Wahrsprechens befragt. Hauptfiguren von Foucaults Vorlesung sind nicht allein Philosophen wie Platon und Sokrates, sondern auch die sagenhaften Gestalten Ion und Ödipus, die Politiker Dionysios und Perikles, und im Hintergrund die Dramatiker Euripides und Sophokles, die Schriftsteller Plutarch und Xenophon sowie der Historiker Thukydides. Sie lässt Foucault auftreten, um zu testen, was sie zu einer Ausdeutung des Begriffs der parrhesia beitragen können. Foucault zieht den Vergleich zum Theater nicht explizit, jedoch prägt die Vorlesung ein entsprechendes Vokabular: Gleich zu Beginn spricht er von der „Bühne“, auf der er Platon, Dion und Dionysios auftreten lässt (RSA 73) und von der „Szene“, in der sie miteinander interagieren (RSA 75). Dabei ist der Szenograf schreibend und beschreibend tätig, er in-szeniert. Das bedeutet zweierlei: Foucault thematisiert die parrhesia nicht als ein philosophisches Konzept von Wahrheit und er führt seine Figuren nicht aus historischem Interesse an. Vielmehr modelliert er an seinen Figuren, ihrer Rede und ihren Handlungen allgemeine Handlungskonstellationen. Foucault beschreibt den Parrhesiastiker wie folgt: „Der Parrhesiastiker ist derjenige, der die Wahrheit sagt und der sich folglich von jeder möglichen Lüge oder Schmeichelei absetzt.“ (RSA 77) Später wird Foucault sich fragen, ob „der Prophet, der Weissager, der Philosoph, der Wissenschaftler“, auch „der Kritiker“ und „der Revolutionär“ (RSA 97, 99) als solche Figuren gelten können. Bei der parrhesia wird das Wahrsprechen aber radikal herausgefordert, denn es gilt: „Die Parrhesiastiker sind jene, die im Grenzfall den Tod um des Sagens der Wahrheit willen akzeptieren.“ (RSA 84) Das ist die „Urszene“ – so von Foucault benannt – der parrhesia, „der Punkt, an dem die Subjekte die Wahrheit sagen“ (RSA 84), um den Preis ihrer Existenz.
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3 Auftritt Platon (Erste Sizilienreise) Foucault findet für seine Szenographie bei Platon einen ersten Protagonisten, ein erstes Beispiel für Situationen, in denen das Wahrsprechen in einer existenziellen Form angetroffen werden kann. Statt einer philosophischen Abhandlung nimmt Foucault sich die von Plutarch überlieferte Erzählung von Platons erster Reise nach Sizilien an den Hof des Dionysios vor. Platon tritt in Sizilien auf und erregt den Zorn des Herrschers durch seine Bekundung, jeder andere sei eher mannhaft als ein Tyrann. Die Provokation mündete in Dionysios‘ Befehl, Platon umbringen zu lassen. Dieses Ereignis erklärt Foucault zu einem paradigmatischen Fall von parrhesia: „Ein Mann erhebt sich vor einem Tyrannen und sagt ihm die Wahrheit.“ (RSA 75) Dazu kommt das existenzielle Risiko im Vollzug der parrhesia, die Foucault streng von Strategien des Beweisens, des Überredens, sowie von Belehrungen und Diskussion abgrenzt (RSA 78 f.); parrhesia gibt es „immer dann, wenn das Wahrsprechen sich unter solchen Bedingungen vollzieht, dass die Tatsache, dass man die Wahrheit sagt, und die Tatsache, dass sie ausgesprochen wurde, kostspielige Konsequenzen für diejenigen, die die Wahrheit gesagt haben, nach sich ziehen wird, kann oder muss“ (RSA 83). In letzter Konsequenz ist dieser Preis das eigene Leben, wobei Foucault präzisiert, dass es nicht die objektive Gefahr sei, sondern das Wissen, das beispielsweise Platon von der Gefahr hatte, in die er sich begab, was zählt (RSA 95). Foucault grenzt die parrhesia ausführlich von der performativen Aussage ab. Als tragendes Beispiel für performative Aussagen fungiert an diesen Stellen das Eröffnen einer Zusammenkunft durch den Satz: „Die Sitzung ist eröffnet.“ (RSA 87) Dabei kommt es darauf an, „dass die Äußerung ‚Die Sitzung ist eröffnet‘ durch sich selbst den Sachverhalt herstellt, dass die Sitzung eröffnet ist.“ (RSA 87) Wahrheit spielt hier keine Rolle. Die performative Aussage stellt keine Situation fest, sondern stellt sie her. Dazu müssen Ausspruch und Akzeptanz bereits eingeübt sein und im Voraus festliegen. Die parrhesia hingegen, das wird an Platons Auftritt in Sizilien deutlich, „bringt keine kodierte Wirkung hervor, sondern eröffnet ein unbestimmtes Risiko“ (RSA 88 f.). Sie bricht mit dem eingeübten Normalfall und öffnet damit die Situation ins Ungewisse. Das geschieht derart, dass die Wahrheit begleitet wird durch „eine Schroffheit, etwas Gewalttätiges, einen rauhen Aspekt“ (RSA 80 f.), der das Machtverhältnis der Figuren nicht beachtet und auf diese Weise verwirrt. Die in der Sprachphilosophie gängige Analyse performativer Äußerungen nennt Foucault Diskurspragmatik (RSA 95). Worum es ihm dagegen geht, nennt er die „Dramatik“ des Diskurses, d. h. „die Analyse dieser Diskurstatsachen, die zeigt, wie das Ereignis der Äußerung selbst das Sein des Sprechers beeinflussen kann“ (RSA 97). Foucault markiert die Distanz zur Sprachphilosophie deutlich: Diese analysiert normalerweise Situationen, in denen ein Sprecher aufgrund seiner sozialen Rolle in die Situation eingreift, während die von Foucault ins Zentrum gerückte Dramatik der parrhesia den Sprecher selbst transformiert, weil er seine soziale Rolle aufgibt und dem verlangten Verhalten nicht entspricht.
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4 Auftritt Ion Parrhesia ist nicht allein im Freimut risikoreicher Reden zu finden. Für eine neue Szene zieht Foucault am Beginn der dritten Vorlesung Euripides heran und analysiert dessen Drama Ion bzw. dessen Protagonisten ausführlich bis in die Mitte der fünften Vorlesung hinein. Von dieser Tragödie sagt Foucault, „dass sie gänzlich der parrhesia gewidmet ist oder zumindest durch und durch vom Thema der parrhesia (des Alles-sagens, des Wahrsprechens und des Freimuts) beherrscht wird“ (RSA 105). Foucault spricht vom „Drama des Wahrsprechens“ (RSA 143) und erläutert, dass Euripides sein Stück in unmittelbarer „Reaktion auf ein konkretes politisches Problem“ (RSA 143) schrieb. So bezeichnet er es als „das griechische Drama über die politische Geschichte des Wahrsprechens, über die legendenhafte und wahre Begründung des Wahrsprechens im Reiche des Politischen“. (RSA 143) Foucault nimmt das Drama Ion in seiner historischen Einmaligkeit und versteht es als Redeakt, den man philosophisch analysieren kann. Foucault bestimmt zu Beginn der fünften Vorlesung drei Praktiken des Wahrsprechens im Stück Ion. Er (be-)nennt zuerst die politische parrhesia, die sich „einerseits auf eine bestimmte politische Struktur, die das Gemeinwesen auszeichnet; und zweitens auf den sozialen und politischen Status bestimmter Personen innerhalb dieses Gemeinwesens“ bezieht (RSA 100). So beschreibt Foucault die parrhesia als die Szene des Einklagens politischer Mitsprache. Dieses Vorrecht ist im antiken Athen an die Abstammung geknüpft: Wer kein attisches Elternteil hat, wird von der politischen Gemeinschaft als Fremder begriffen und ausgeschlossen, d. h. darf nicht öffentlich in politischen Angelegenheiten mitsprechen. Es muss eine Staatsverfassung gelten, gewissermaßen als Bühne, damit parrhesia in diesem Sinne auftreten kann: Sie ist ein Element, das innerhalb des notwendigen Rahmens der demokratischen politeia den Individuen gestattet, einen gewissen Einfluss aufeinander auszuüben, indem sie allen das Recht zu sprechen verleiht. Sie ermöglicht bestimmten Individuen, unter den ersten zu sein und, indem sie sich an die anderen wenden, ihnen zu sagen, was sie denken, was sie für wahr halten, was sie wirklich für wahr halten […] und dadurch, dass sie das Wahre sagen, das Volk durch gute Ratschläge zu überzeugen, um auf diese Weise die Stadt zu leiten und sich um sie zu kümmern. (RSA 205)
Diese Form der parrhesia ist für Foucaults szenographische Analyse des Ion wichtig und aufschlussreich, auch weil sie, wie Foucault hervorhebt, bei Euripides tatsächlich parrhesia genannt wird (RSA 200). Andere Formen des Wahrsprechens werden in der Antike erst später mit diesem Wort in Verbindung gebracht werden. In der politischen parrhesia bündeln sich für Foucault Demokratie, Wahrsprechen und Freimut, ohne dass sich die Elemente voneinander trennen lassen: „Damit die Demokratie möglich ist, muss es parrhesia geben. Aber umgekehrt ist die parrhesia, wie Sie wissen […] einer der charakteristischsten Züge der Demokratie.“ (RSA 202) In der Demokratie ist die Rede in Akte der Rivalität und Konkurrenz, in „eine agonistische Struktur“ (RSA 204) eingebunden.
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Foucault wird das Thema dieser politischen (d. h. hier der demokratischen) parrhesia wieder aufnehmen, wenn er die Reden des Perikles auslegt. Zunächst aber nimmt Foucault in einer zweiten Szene des Wahrsprechens ein Motiv wieder auf, das er bereits mit Platon eröffnet hatte: die Anklage des Ohnmächtigen gegenüber einem viel Mächtigeren. Hier entfaltet sich die gänzlich existenzielle Bedeutung, die im Wahrsprechen möglich ist. Foucault spricht in diesem Sinne von der gerichtlichen parrhesia: Weit davon entfernt, das durch den Mächtigen über die Mitbürger ausgeübte Recht auf ihre Führung zu sein, ist es im Gegenteil der Schrei des Ohnmächtigen gegen denjenigen, der seine Gewalt missbraucht. (RSA 200)
Im Drama Ion findet sich diese Form der gerichtlichen parrhesia bei der Figur Krëusa, Ions Mutter, und ihrem Vorwurf gegen Apollon, dem sie – als einem Gott – hilflos gegenübersteht. Auch als Unterlegene ist Krëusa aber bereit und fähig, die Ungerechtigkeit Apollons anzuprangern. Foucault zieht eine Verbindung zur Freiheit, wenn er fragt: „Inwiefern ist die Tatsache, dass man sich der Wahrheit verpflichtet […], in Wirklichkeit die Ausübung, und zwar die höchste Ausübung der Freiheit?“ (RSA 95) Die parrhesia als Anklage wird hier gleichsam zum emanzipatorischen Auftritt, dessen offensichtliches Risiko der Preis dafür ist, sich einer Übermacht nicht weiter zu fügen. Eine dritte Szene der Praxis des Wahrsprechens – neben der politischen und der anklagenden – nennt Foucault moralisch. Sie besteht in der Läuterung dessen, der sein Gewissen entlastet, indem er sich jemandem anvertraut (RSA 201). Dieses „Wahrsprechen über sich selbst“ war als Beichtpraxis bereits Thema der Vorlesung von 1982 (HS 444). Ein Jahr später und in der szenographischen Analyse des Ion aber bleibt die politische parrhesia zentral. Sie ist der anklagenden parrhesia bei Platon und Ion dahingehend verwandt, dass sie „als freie und daher mutige Handlung von einigen auftritt, die sich hervortun, das Wort ergreifen, die anderen zu überzeugen und zu leiten versuchen, und zwar mit allen Risiken, die das mit sich bringt“ (RSA 205). Zum Vergleich mit Ion zieht Foucault wiederholt Ödipus heran, genauer das Drama König Ödipus von Sophokles. Darauf hatte Foucault schon in anderen Vorlesungen verwiesen, als es um das prozedurale Verfahren der Wahrheitsproduktion ging oder darum, mittels einer Untersuchung das Zeugenwissen von Sklaven zu emanzipieren (RL 43, 66). Bereits in der zweiten Hälfte der zweiten Vorlesungsstunde erläutert Foucault anhand der Figur des Ödipus, dass der „Einbruch der wahren Rede eine offene Situation“ (RSA 88) mit unbekannten Wirkungen schaffe. Die Nähe zur parrhesia ist kaum zu übersehen. Doch obschon das Aussprechen der Wahrheit bei König Ödipus bedeutsam ist, handelt es sich bei Ödipus um keinen Parrhesiasten – er ist selber König und sich selbst auf der Spur, steht keinem freien Mitbürger und keinem übermächtigen Antagonisten gegenüber. Im Verlauf der Analyse Ions bleibt Ödipus deswegen präsent, um im Kontrast Aufschluss über die parrhesia zu erhalten.
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5 Auftritt Perikles Die Beziehung zwischen parrhesia und Demokratie vertieft Foucault in seiner Auseinandersetzung mit dem Staatsmann und Militär Perikles, beginnend in der zweiten Stunde der fünften Vorlesung. Perikles wird von Foucault in einem sozialen Gefüge verortet, in dem sehr spezielle Verfahren des Sprechens erlaubt und auch notwendig sind, um die Demokratie Athens funktionieren zu lassen. Das zentrale Problem dieser parrhesia lautet: „Wie kann die Demokratie die Wahrheit ertragen?“ (RSA 223) Hier wird die agonistische Struktur der parrhesia erneut relevant, in der die Athener durch Konkurrenz und Rivalität Einfluss aufeinander ausüben. Für diese Ordnung gilt Perikles als Vorbild (RSA 222 f.). Das ergibt sich exemplarisch aus drei Reden des Perikles, überliefert von Thukydides in dessen Schrift Der peloponnesische Krieg. Eingedenk der eigenen Verfügung, dass die parrhesia nicht ein Wahrsprechen aus der Position der Macht heraus ist, trifft Foucault bei Perikles auf jemanden, der widerspricht, der einen Einspruch formuliert, allerdings im Namen und mit Berufung auf die Wahrheit: Was er zu sagen hatte, kennzeichnete er als etwas, das er nicht nur für wahr hielt, sondern auch für etwas, das seine Meinung war. […] Er bekannte sich dazu, in dieser Lage die Wahrheit zu sagen, und er identifizierte sich mit diesem Bekenntnis der Wahrheit. (RSA 242)
Perikles führt also die Wahrheit als Anspruch in die Wirklichkeit ein, indem er sie nicht nur behauptet, sondern sich auch dazu bekennt. Er verbindet das Aussprechen der Wahrheit mit dem ganzen Gewicht seiner eigenen Existenz, die er aufs Spiel setzt. Auch Platon und Krëusa bekannten sich den Mächtigen gegenüber zu ihren Wahrheiten. In der Demokratie ist das Risiko allerdings ein anderes: Perikles setzt sich keinem Herrscher oder Gott, sondern der Öffentlichkeit aus und will ihr gegenüber seine Verantwortung beweisen. Dafür formuliert Foucault das produktive Paradox der demokratischen Regierung Athens: Auch wenn gleichrangige Bürger über politische Entscheidungen debattieren, wird nur wenigen ausgezeichneten Bürgern größerer Einfluss zugesprochen. Diese Wenigen müssen beweisen, dass sie diesen Einfluss auch verdienen. Die prinzipiell gleichrangigen Bürger entscheiden also darüber, wer am besten dazu geeignet ist, größeren Einfluss zu besitzen. Lange Zeit war diese Person Perikles: In der Tat ist es eben […] sowohl das Paradox als auch das Genie des Perikles, es so eingerichtet zu haben, dass er allein zugleich der einflussreichste Mann war, dass aber die Art und Weise, wie er seine Macht durch die parrhesia ausübte, weder die eines Monarchen noch eines Tyrannen, sondern ganz demokratisch war. Deshalb ist Perikles, auch wenn er der einzige ist, auch wenn er der Einflussreichste ist, und nicht nur einer unter den Einflussreichsten, das Vorbild für das richtige Funktionieren, für die richtige Art, politeia und parrhesia aufeinander abzustimmen. (RSA 224).
Die Bühne der parrhesia ist so bestimmt: Die Szene zeigt das Einstehen für eine Wahrheit und das Risiko, das mit dem Aussprechen dieser Wahrheit einhergeht.
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Sich diesem Risiko zu stellen, ist notwendig für das Funktionieren der attischen Demokratie. Nach Perikles‘ Tod wird sich Athen als eine Stadt erweisen, „in der das Spiel der Demokratie und der parrhesia, der Demokratie und des Wahrsprechens, nicht zusammengehen und nicht auf geeignete Weise einander angepasst werden, so dass das Überleben dieser Demokratie sichergestellt wird“ (RSA 231). Die Gefahr ergibt sich, dass die Demokratie nicht richtig ausgeübt wird. Diese „falsche“ Ausübung ist eng damit verbunden, welche Rolle das Wahrsprechen im demokratischen Diskurs besitzt. Foucault zieht den Rhetor Isokrates heran, dessen kritische Gegenwartsdiagnose verschiedene Mängel der Demokratie Athens beklagt, allen voran die Gefahr der Schmeichelei: Wenn es zwischen der parrhesia und der Demokratie nicht mehr jenes gute Einvernehmen gibt, dann nicht nur deshalb, weil das Wahrsprechen abgelehnt wird, sondern weil für etwas anderes Raum geschaffen wird, das die Imitation des Wahrsprechens ist, nämlich das falsche Wahrsprechen. Dieses falsche Wahrsprechen besteht gerade in den Reden der Schmeichler. (RSA 233)
Foucault stellt dem produktiven Paradox der Demokratie im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Isokrates ein negatives gegenüber, das die Demokratie immer bedroht: Demokratie ist anfällig dafür, den Schmeichlern mehr Gehör und damit auch mehr Einfluss zu schenken als den freimütigen Parrhesiasten, die das Risiko des Aneckens und Provozierens eingehen und nach Foucault „von jeder möglichen Lüge oder Schmeichelei“ (RSA 77) absehen. Foucault jedoch sieht die Schmeichelei in der Demokratie verortet. So wie die wahre Rede von der Demokratie vorausgesetzt wird, wird sie im gleichen Zuge von ihr bedroht: Damit die Demokratie tatsächlich ihren Lauf fortsetzen kann, damit sie durch Wandlungen, Ereignisse, Auseinandersetzungen und Kriege aufrechterhalten werden kann, muss es einen Platz für die wahre Rede geben. Die Demokratie besteht also nur durch die wahre Rede fort. Andererseits aber und insofern die wahre Rede in der Demokratie nur in der Auseinandersetzung, im Konflikt, in der Rivalität auftritt, wird die wahre Rede auch immer von der Demokratie bedroht. (RSA 235 f.)
Die Krise der Demokratie veranlasst die Entwicklung neuer Formen der politischen Praxis und des politischen Sprechens. Für die szenographische Analyse werden damit Sokrates und erneut Platon zentrale Figuren bei Foucault. Anhand ihrer „Szenen“ beschreibt Foucault eine neue Form der parrhesia, die sich an den philosophischen Diskurs bindet und von dort aus in politische Entscheidungen eingreift.
6 Platon (Zweite Sizilienreise) Wenn Foucault in der sechsten Stunde, also ungefähr zur Hälfte der gesamten Vorlesungsreihe, erneut auf Platon zu sprechen kommt, geht er auf Platons zweite Sizilienreise an den Hof von Dionysios II. ein. Foucault liest die Schrift Der siebte
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Brief, die Platon zugeschrieben wird, und findet dort den Grund für diese Reise: Es ist der kairos, der gute Augenblick, von Foucault übersetzt mit „Gelegenheit“ (RSA 284 f.). Foucault liest Platons zweite Sizilienreise als Reaktion auf die politischen Probleme, mit denen die Demokratie Athens zu kämpfen hat. Dionysios II. und der Vermittler Dion sind der Philosophie gegenüber wohlgesonnen und offen für Platons Ratschläge. Platon muss zudem nur den Tyrannen Dionysios II. überzeugen und nicht eine Masse von Bürgern: Die Fragen nach der Wirklichkeit der Philosophie zu stellen, wie es der VII. Brief anscheinend tut, heißt, sich zu fragen, was der Wille, die Wahrheit zu sagen, diese Tätigkeit des Wahrsprechens, dieser vollkommen besondere und einzigartige Akt der Veridiktion, der sich Philosophie nennt – und der sich übrigens täuschen und das Falsche sagen kann –, in seiner Wirklichkeit selbst ist. Mir scheint, dass es um folgende Frage geht: Wie, auf welche Weise fügt sich das philosophische Wahrsprechen, diese besondere Form der Veridiktion, die die Philosophie ist, in die Wirklichkeit ein? (RSA 289 f.)
Foucault interessiert sich für Platons Art, in das politische Geschehen einzugreifen und dennoch nicht als Politiker aufzutreten. Zunächst zwar gibt Platon Ratschläge zu aktuellen Problemen, wie beispielsweise mit den Städten Siziliens zu verfahren sei oder auf welchem Wege funktionierende Gesetze formuliert werden sollten. Aber auch wenn Platon die Politik behandelt, spricht er als Philosoph; er macht seine Ratschläge als Berater geltend, nicht aus einem politischen Auftrag heraus. Platon bindet überdies die politische Qualität des Herrschers an dessen Person. Ein guter Herrscher muss persönliche Tugenden mit sich bringen, um vernünftig regieren zu können. Hier kommt das Motiv der Sorge um sich zur Sprache, das Foucault in seiner Vorlesung von 1982 ausführlich untersucht hatte (HS 16–163). Platon fordert, dass Dionysios II. zuerst sich selbst regieren und die Kontrolle über die eigenen Begierden, Triebe und Affekte gewinnen müsse, um dem Amt des Herrschers gerecht zu werden: Das Oberhaupt, derjenige, der befiehlt, der Herrscher soll sich in der Tat selbst beherrschen, und zwar in dem Sinne, dass er enthaltsam ist, dass er in der Lage ist, seine Begierden in den Grenzen des Schicklichen zu halten, sie zu mäßigen und daher alle Misstöne zu vermeiden, die den Einklang verhindern. (RSA 341)
Foucault versucht, die Rolle des Philosophen gegenüber der Politik auszuzeichnen: Allgemein handelt es sich bei der philosophischen parrhesia um „eine bestimmte nicht-politische Weise, zu den Regierenden zu sprechen, und zwar darüber, wie sie die anderen und sich selbst regieren sollen“ (RSA 441). Die Philosophie gewinnt Einfluss auf den politischen Diskurs, ohne in ihm aufzugehen. Diese Form bestimmt die griechische Antike für lange Zeit und hat sich historisch in vielfältiger Weise ausdifferenziert, beispielsweise „in Form kynischer Unverfrorenheit“ oder „durch die Erziehung des Fürsten“ (RSA 431). Der philosophische Parrhesiast ist selbst kein Politiker:
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Diese indirekte Beziehung, diese Beziehung des Außenstehens und der Korrelation mit der Politik, stellt die Philosophie in eine Art von Gegenposition zur Politik, eine Gegenposition, die durch ihr Außenstehen, aber auch durch ihre Nichtreduzierbarkeit bestimmt ist. (RSA 441)
Damit entwickelt Foucault keine politische Philosophie, sondern analysiert und kommentiert politische Ereignisse, beschreibt verschiedene Szenen wie einzelne Auftritte. Schon in der ersten Vorlesung von 1970/71, Über der Wille zum Wissen, hatte Foucault die Forderung des Aristoteles abgelehnt, die Politik in die Philosophie hineinzuholen, und ihm vorgeworfen, „ein gewisses Außen des philosophischen Diskurses zu eliminieren“ (ÜWW 61). Die Wahrheit muss im Kampf begriffen werden, im „Agon“ (ÜWW 104). Und auch in seiner Vorlesung zur Gouvernementalität von 1977/78 sprach er von einer „Politik der Wahrheit“ (STB 15), die es auf philosophisch-analytischer Ebene zu behandeln gelte, da er selbst nur einen einzigen Imperativ vorschlagen wolle, „aber der wird kategorisch und unbedingt sein: Niemals Politik machen“ (STB 17).
7 Warum Szenographie? Fragt man sich, aus welchem Grund Foucault in seiner Vorlesung derart szenographisch vorgeht, könnte man sein Gesamtwerk in den Blick nehmen. Am Thema der Sexualität spricht Foucault beispielweise direkt an, wie er die Kontinuität seiner Forschungen seit Wahnsinn und Gesellschaft versteht: Problematisierung des Wahnsinns und der Krankheit ausgehend von sozialen und medizinischen Praktiken […]; Problematisierung des Lebens, der Sprache und der Arbeit in Diskurspraktiken […]; Problematisierung des Verbrechens und des kriminellen Verhaltens ausgehend von bestimmten Strafpraktiken, die einem „disziplinären“ Modell folgen. Und jetzt möchte ich zeigen, wie in der Antike die sexuelle Aktivität und Genüsse im Rahmen von Selbstpraktiken problematisiert worden sind, die den Kriterien einer „Ästhetik der Existenz“ folgen. (SW2 19–20)
Mit einer solchen Rückblende – auch in der Vorlesung Die Regierung des Selbst und der anderen (RSA 16–18) – überspielt Foucault den methodischen Umschwung, der mit seiner Privilegierung antiker Quellen verbunden war. Einhergehend damit arbeitete er spätestens seit seiner Vorlesung Die Regierung der Lebenden (1980) nicht mehr als Analytiker von Disziplinarmächten und Regierungsarten, sondern als Ausleger und Kommentator antiker Autoren (Chevallier 2011, 155, 188) und der Praxisfelder ihrer Texte. Das sowohl diskursarchäologische wie praxisanalytische Vorgehen Foucaults in Die Regierung des Selbst und der anderen kann man zweifach qualifizieren als Operation a) der Freistellung von Praktiken und Redeweisen, eben die der parrhesia. Oder aber man sieht darin eine Operation der b) Einbettung parrhesiastischer Redeweisen in Situationen, die mit darüber entscheiden, was als
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Philosophie überhaupt auftritt. Etwas überspitzt könnte man die erste Operation eine der Verfremdung, die zweite als Historisierung bezeichnen. a) Versteht man Foucaults Verfahren als Verfremdung, lässt sich der in der Vorlesung selbst mit Nachdruck gegebene Hinweis auf Kants Philosophie der Kritik und der Gegenwartsbezüglichkeit aufnehmen. In diesem Sinne schreibt etwa der Herausgeber Frédéric Gros, Foucault separiere seine Themen nicht, er lasse Überschneidungen zu, und nähere die Praxis der antiken parrhesia der modernen Kritik, wie sie seit Kant die Frage nach der Gegenwärtigkeit der Philosophie präge (Gros 2016, 17). In der Tat stand Kants Frage „Was ist Aufklärung?“ am Anfang der Vorlesung, und Foucault bekennt sich zur „Philosophie als Kritik“ (RSA 445) an deren Ende. Wenn aber die antiken Formen der parrhesia tatsächlich vergegenwärtigt werden sollen, dann gewissermaßen verfremdet und als Beispiele. So nimmt es Stuart Elden an, der den Ausführungen Foucaults Lektionen über das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit entnimmt (Elden 2016, 196). Und Foucault selbst bietet gelegentlich allgemeine Aussagen wie: „Die philosophische parrhesia war eine bestimmte nicht-politische Weise, zu den Regierenden zu sprechen.“ (RSA 441) Auch wenn Foucault die von ihm zitierten griechischen Autoren nicht als Vorbilder herausstellen wollte, hebt er in seinem Verfahren der Kommentierung die angeführten drei Typen des parrhesiastischen Redens heraus, löst sie in der Beschreibung gewissermaßen aus dem Kontext. Dabei vollzieht Foucault keine soziologische Rollenbestimmung der auftretenden Figuren. In seiner letzten Vorlesung Der Mut zur Wahrheit grenzt sich Foucault explizit von der Ansicht ab, ihm sei es in seinen Untersuchungen zur parrhesia um „Typen oder gesellschaftliche Rollen“ gegangen; stattdessen handle es „sich im Wesentlichen um verschiedene Ausprägungen der Veridiktion“ (MW 46). Der Parrhesiast nimmt eine soziale Rolle ein und verkörpert darüber hinaus selbst die Wahrheit, die er fordert. Die risikoreiche Provokation des Dionysios durch Platon und die anderen parrhesiastischen Reden werden von Foucault in diesem Sinn als Selbsttechniken inszeniert und aus ihrem antiken Setting gelöst. Während in der Hermeneutik des Subjekts dieses Verhältnis noch als Zugriff der Individuen auf sich selbst beschrieben wurde, lassen sich beim Parrhesiasten die anderen als konstitutive Momente der Selbsttechniken nicht länger ausblenden; in den Akten der parrhesia geht die Selbsttechnik in die (politische) Interaktion über. Diese Übertragung der Antike in die Moderne findet sich auch in Der Mut zur Wahrheit, wenn Foucault das Konzept der parrhesia aktualisiert und den Revolutionär, den kritischen Philosophen und den Wissenschaftler in eine Traditionslinie mit den antiken Parrhesiasten stellt (MW 51 f.). Foucault betreibt keine Auslegungsarbeit. Das Abstrahieren von den Personen zu Sinnzusammenhängen gleicht als Verfahren der Verfremdung vielmehr einer Neuinszenierung antiker Dramen, wie Ion. Dabei wird es gleichgültig, ob es sich bei den herangezogenen Quellen um historische Szenen oder Fiktionen handelt. Foucault interessiert dieser Unterschied in keinem seiner Werke. Er ist kein Historiker realer Geschehnisse, sondern Analytiker von Diskurs-, Macht- und Subjektivierungsformationen. Relevant ist für ihn, was zu einer Zeit gesagt wurde und
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gesagt werden konnte. Daher nimmt das szenographische Vokabular Foucaults bewusst den einzelnen Szenen alles Natürliche. Ein König ist nicht einfach König, ein Philosoph ist nicht einfach Philosoph. Sie begegnen sich in Rollen, die sie sich selbst und einander zuschreiben, und spielen mit den Erwartungen und Möglichkeiten, die ihnen diese Rollen bieten. Wichtig dabei ist, dass sich die Erwartungen, die an den Rollen haften, verändern können und dass auch mit ihnen gebrochen werden kann. Gleichwohl, und hier liegt die Komplexität dieses methodischen Spiels, sind diese Rollen konstitutiv für das Selbst der Akteure. Es handelt sich um kontingente Subjektformen, die nicht notwendig, aber ebenso auch nicht reduzierbar sind: Verfremdung im Brecht’schen Sinn (Brecht 1993). b) Man muss selbst keine grundsätzlichen Zweifel mehr anmelden, ob Foucault in seiner Vorlesung von 1982 philosophische Ansätze für die Gegenwart herausgearbeitet hat. Solche Zweifel hat in Bezug auf Foucaults Behandlung der parrhesia Jacques Rancière geäußert, der kein derartiges Übertragungspotential erkennen kann (Rancière 2014, 236). Der durchweg beschreibende Stil Foucaults und seine durchgehaltene Metaphorik der Bühne und Szene machen jedoch wahrscheinlich, dass Foucault der Philosophie überhaupt Orte und Zeiten und sogar eine „Urszene“ (RSA 84) geben wollte. So gäbe es eine umgekehrte Perspektive, die statt Verfremdung eher Einbettung sieht. Dann dient die philosophische Szenographie nicht der Typisierung und Exemplifizierung, sondern der Historisierung. Entsprechend kann man aus Foucaults Ausführungen von 1983 herauslesen, dass sich Wahrheit eben nicht allgemein aussprechen lässt, dass sie jenseits der Orte und der Akteure des Aussagens keine Existenz besitzt. Erstaunlich genug sagt dies Foucault relativ direkt und verbindet einen methodischen Anspruch damit: Die Geschichte des Denkens, wenn man sie von einer Geschichte der Kenntnisse unterscheiden will […], wenn man sie ebenfalls unterscheiden will von einer Ideengeschichte, die sich anhand eines Wirklichkeitskriteriums realisieren ließe, nun, diese Geschichte des Denkens – eine solche möchte ich jedenfalls schreiben – muss als Geschichte der Ontologien verstanden werden, die auf ein Prinzip der Freiheit bezogen wäre, wobei die Freiheit nicht als Recht zu sein, sondern als Fähigkeit des Handelns bestimmt wird. (RSA 389 f.)
Der Rückbezug auf den Titel seines Lehrstuhls („Geschichte der Systeme des Denkens“) wird hier deutlich, ebenso wie ein Wideraufgreifen von Überlegungen im Umkreis der „Archäologie des Wissens“. Foucault sagt 1983, er befrage die Diskurse nicht daraufhin, „warum sie das Falsche sagen und der Wahrheit ermangeln“, sondern bemühe sich darum, „dass jede Ontologie als Fiktion analysiert wird“ (RSA 289). In einem 1978 geführten Gespräch beschreibt er die Beziehung seiner Arbeit zum Theater in Abgrenzung zur traditionellen Philosophie sehr genau: Seit Platon, und mehr noch seit Descartes, richtet sich eine der wichtigsten philosophischen Fragen auf das Wesen des Blicks, oder vielmehr darauf, ob das, was man sieht, wahr oder eine Täuschung ist; […] Zwischen Wirklichkeit und Täuschung, zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu entscheiden, das ist die Aufgabe der Philosophie. Nun kennt das Theater diese Unterscheidung aber überhaupt nicht. […] Ich möchte gern
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den Versuch unternehmen, die Art und Weise zu beschreiben, wie die Menschen des Abendlands die Welt gesehen haben, ohne je die Frage zu stellen, ob diese Sicht richtig war oder nicht, die Art und Weise zu beschreiben, mit der sie selbst durch das Spiel ihres Blicks das Weltspektakel aufgeführt haben. […] Ich würde gerne das Theater der Wahrheit beschreiben. (DE III/234, 718 f.)
Die unterschiedlichen Formen solcher Fiktionen, die man auch Aussageweisen oder Textgenres nennen könnte, hat Foucault durchaus im Blick, wenn er beispielsweise als Situationen des Wahrsprechens die folgenden aufzählt: „Vorlesungen, Aphorismen, Repliken, Meinungen, Urteile“ (RSA 83). Es geht ihm um den „Punkt, an dem die Subjekte die Wahrheit sagen“ (RSA 84) und sich selbst für das verbürgen, was sie anderen ins Gesicht sagen. Wenn Foucault unter die Situationen der parrhesia auch die Vorlesung zählt, liegt die Frage nahe, ob seine Ausführungen über das Wahrsprechen in seiner eigenen Vorlesung – mit einem weiten Bühnenraum der Formen und Verfahren – nicht auch als Form des Wahrsprechens qualifiziert werden könnten. Immerhin hat er doch kein Buch aus seiner Vorlesung von 1983 gemacht. Sie bleibt darum in einem erzählerisch exekutierten Sinn eine Historisierung der Philosophie, sicher auch aus pädagogischer Absicht oder zumindest als erste Stufe einer Beschäftigung, die nur nach zahlreichen Überarbeitungen zum Buch hätte werden können. Historisierung im nicht-hermeneutischen Sinn war schon länger Foucaults Verfahren (Schneider 2012). In seiner Philosophie geht es nicht darum, Philosophie mittels Archäologie oder Genealogie als separates Wissen zu extrahieren und zu stipulieren, sondern die Aktivität des Philosophierens in der Arbeit der Auseinandersetzung zu gewinnen. Auf diese existenziell-situative Qualität von Philosophie kommt Foucault, wie gesehen, beim politischen Platon zu sprechen und verweist zudem auf Sokrates. Zwei Dinge hebt Foucault hervor: Sokrates‘ Stil zeichne sich aus durch „schmucklose Rede, eine Rede, die Wörter, Ausdrücke und Sätze verwendet, die einem gerade in den Sinn kommen, eine Rede, die der Redner für wahr hält“ (RSA 395). Das ist die Anerkennung der unaufhebbaren Situationsbezogenheit des Philosophierens, wenn es selber ein Wahrsprechen ist. Und dann dies: Die philosophische parrhesia sei bei Sokrates „nicht einfach nur ein Diskursmodus, eine Diskurstechnik […], sondern das Leben selbst“ (RSA 409). Das ist der Hinweis auf die absolute Hingabe eines Lebens an das Denken bzw. Sprechen. Und wie anders kann man diesen Hinweis geben, als im Modus der Historisierung, d. h. in der Rede von einem historischen Sokrates, der zugleich mehr als eine historische Figur ist?
Literatur Aryal, Yubraj, Vernon W. Cisney, Nicolae Morar und Christopher Penfield. Hrsg. 2016. Between Foucault and Derrida. Edinburgh: Edinburgh University Press. Brecht, Bertolt. 1993 [1940]. Über experimentelles Theater. In Werke Band 22 (=Schriften Band 2, Teil 1), Bertolt Brecht, 540–557, Frankfurt a. M.: Suhrkamp und Berlin: Aufbau.
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Chevallier, Philippe. 2011. Michel Foucault et le christianisme. Lyon: Ens Éditions. Custer, Olivia, Penelope Deutscher und Samir Haddad. Hrsg. 2016. Foucault/Derrida. Fifty Years Later. The Futures of Genealogy, Deconstruction, and Politics. New York: Columbia University Press. Elden, Stuart. 2016. Foucault’s Last Decade. Cambridge: Polity Press. Engfer, Hans-Jürgen. 1996. Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Gros, Frédéric. 2016. Introduction. In Michel Foucault, Discours et vérité. Hrsg. von Henri-Paul Fruchard und Daniele Lorenzini, 11–18, Paris: Vrin. Rancière, Jacques. 2014. Die Methode der Gleichheit. Wien: Passagen. Schneider, Ulrich Johannes. 1996. Theater in den Innenräumen des Denkens. Gilles Deleuze als Philosophiehistoriker. In Anschlüsse an Gilles Deleuze. Hrsg. von Friedrich Balke und Joseph Vogl, 103–124. München: Fink. Schneider, Ulrich Johannes. 2000. Foucault und die Aufklärung In Aktualität der Aufklärung. Hrsg. von Ryszard Rózanowski, 217–233. Wroclaw: Wydawn, Uniwersytetu Wrocawskiego. Schneider, Ulrich Johannes. 2001. Foucault und Heidegger. In Foucault. Hrsg. von Marcus S. Kleiner, 224–238. Frankfurt a. M./New York: Campus. Schneider, Ulrich Johannes. 2003. Der ‚homo dialecticus‘ und Michel Foucault. In Figuren der Dialektik. Hrsg. von Hartwig Schmidt, 93–109. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag. Schneider, Ulrich Johannes. 2004. Philosophische Archäologie und Archäologie der Philosophie: Kant und Foucault. In Die Aktualität des Archäologischen. Hrsg. von Knut Ebeling und Stefan Altekamp, 79–97. Frankfurt a. M.: Fischer. Schneider, Ulrich Johannes. 2012. Artikel „Michel Foucault“, in: Handbuch Kulturphilosophie, Hrsg. von Ralf Konersmann, 185–188. Stuttgart: Metzler.
Aaron Sabellek ist wissenschaftliche Hilfskraft am Forum für Digital Humanities Leipzig Ulrich Johannes Schneider ist Professor für Philosophie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig und Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig
Wahrheit leben. Zum affirmativen Wahrheitsbezug in Michel Foucaults letzter Vorlesung Der Mut zur Wahrheit (1983/84) Katharina Hoppe
1 Einleitung Vielleicht würden sich die Menschen mehr um die Wahrheit kümmern, wenn sie begriffen, daß es nur dort Wahrheit gibt, wo sie ausgesprochen wird. Lassen Sie es mich erklären. Die Wahrheit ist immer etwas, das man ausspricht, nicht etwas, das man weiß. Gäbe es kein Sprechen oder Schreiben, dann gäbe es keine Wahrheit. Es gäbe nur, was ist. Daher sind für mich mein Leben und meine Beschäftigungen nicht die Wahrheit. Sie sind einfach mein Leben und meine Beschäftigungen. Jetzt aber bin ich damit beschäftigt, zu schreiben. Und mit dem Wagnis, mein Leben in diesen Bericht umzusetzen, nehme ich die furchtbare Verantwortung auf mich, die Wahrheit zu sagen. Ich halte den Bericht, den ich in Angriff genommen habe, für eine mühevolle Aufgabe, nicht etwa, weil es mir schwerfiele, die Wahrheit über mich selbst zu sagen im Sinne einer ehrlichen Aufzählung dessen, „was geschah“, „was sich zugetragen hat“, sondern weil es mir schwerfällt, die Wahrheit in einem anspruchsvolleren Sinne zu sagen. Wahrheit im Sinne von fordern, aufrütteln, überzeugen, einander ändern. Susan Sontag (1993, 20 f.)
In ihrem Roman Der Wohltäter, in dem Susan Sontag die Lebensgeschichte ihres Protagonisten und Ich-Erzählers Hippolyte schreibt, lässt sie diesen Überlegungen zum Verhältnis von Leben und Wahrheit anstellen. Es geht um die Wahrheit des Lebens in der autobiographischen Erzählung und ihr Verhältnis zu einem Leben der Wahrheit. Wahrheit zu leben, kann sich Hippolyte nur im Sprechen und im Schreiben vorstellen, nicht aber in einer Aufzählung dessen, was ist oder geschehen ist. Was geschah und was ist hat für ihn nur indirekt etwas mit der Wahrheit zu tun. Die Wahrheit (seines Lebens) ist für ihn vielmehr eine politische Wahrheit. Damit verbindet er auch einen emphatischeren Wahrheitsbegriff, der
K. Hoppe (*) Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Vogelmann (Hrsg.), „Fragmente eines Willens zum Wissen“, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_14
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die transformative Kraft von Wahrheit hervorhebt. Es geht ihm nicht um die Feststellung dessen, was ist oder war, sondern um die Frage danach, wie Wahrheit eine Wirksamkeit im Leben entfaltet – im eigenen ebenso wie im Leben anderer. Hippolyte vermutet im biographischen Zeugnis diese anspruchsvollere Wahrheit sagen zu können; eine Wahrheit, die fordert, aufrüttelt, überzeugt und – und hier wird der politische Charakter dieser Wahrheit besonders deutlich – einander ändert. Im Sagen oder Schreiben der Wahrheit liegt offenbar auch eine Aufforderung, die Wahrheit zu leben, was über eine gleichsam positivistische wahre Geschichte vom Leben im Sinne eines autobiographischen Berichts hinausgeht und eine deutlich performative Dimension mit sich führt. Die politische Kraft des Aussprechens von Wahrheiten und das Verhältnis von Wahrheit und Leben stehen im Zentrum von Michel Foucaults Vorlesungen Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der Anderen II, die er 1983/84 kurz vor seinem Tod am Collège de France gehalten hat. Seine intensive Auseinandersetzung mit antiken Praktiken der parrhesia, der freimütigen Rede oder des Wahrsprechens, die bereits in den Vorlesungen von 1982/83 und in den Berkeley-Vorlesungen 1983 eine entscheidende Rolle spielt (DuW; RSA), nimmt eine Schlüsselstellung in Foucaults Arbeiten ein. Dafür sind vor allem zwei Gründe zu nennen. Erstens erfüllt die Thematisierung des Wahrsprechens in seinem Werk – ähnlich dem Begriff der Regierung (STB; GBP; Lemke 1997) – eine Verknüpfungsleistung. Foucault begreift die parrhesia als eine „Einstellung“ (MW 98), die „unablässig das moralische Subjekt mit der Frage nach dem wahren Diskurs, durch den sich dieses moralische Subjekt konstituiert, und mit den Machtverhältnissen, in denen sich dieses Subjekt bildet, verknüpft“ (MW 98). Veridiktionspraktiken sind demnach ein Gegenstand, der es erlaubt Wahrheit, Macht und Subjekt gemeinsam zu analysieren. Zweitens, und hierin liegt eine wichtige Verschiebung gegenüber früheren Arbeiten Foucaults, kommt Wahrheit in diesen späten Vorlesungen nicht mehr allein als beschränkende und ausschließende „Diskurspolizei“ in den Blick (ODis) und auch nicht so sehr als ein Gegenstand, der mit seiner eigenen Kontingenz und Machtdurchdrungenheit zu konfrontieren wäre (DE III/192). Vielmehr fasziniert Foucault an der Analyse parrhesiastischer Praktiken deren affirmativer Wahrheitsbezug und die Art und Weise, wie dieser politische Relevanz gewinnen kann. Im Folgenden werde ich diese Verschiebung zunächst mit einem Fokus auf die Frage skizzieren, wie die affirmative Bezugnahme auf Wahrheit das Foucault’sche Programm einer Politik der Wahrheit weiterführt und ergänzt. Die Beschäftigung mit Praktiken des Wahrsprechens ermöglicht, über eine politische Epistemologie der Irritation und Destruktion, die auf dem Ausweis der Kontingenz von Wahrheiten basiert, hinauszugehen, indem eine Thematisierung des weiterreichenden Problemsins Zentrum rückt: die Frage, wie mit einer nicht mehr als notwendig erachteten Wahrheit zu leben und politisch umzugehen ist (2). Eine philosophische Antwort auf ein Leben mit der Kontingenz der Wahrheit macht Foucault im Kynismus aus. Seine Analyse der kynischen Praktiken des Wahrsprechens stelle ich daher im nächsten Schritt vor und zeige, wie sie das „Problem
Wahrheit leben. Zum affirmativen Wahrheitsbezug in Michel Foucaults …
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einer Ethik der Wahrheit“ (MW 250) bearbeiten (3). Im Ausblick halte ich fest, inwieweit Foucaults Überlegungen zur kynischen parrhesia Politiken der Wahrheit gegenwärtig informieren können (4).
2 Von der Analyse der Aussagesysteme zur Affirmation eines Wahrheit-Lebens Der Bezug auf die parrhesia markiert eine bedeutsame Verschiebung in Foucaults Arbeiten. Während frühe Texte wie Die Ordnung der Dinge (1966), ihre methodische Reflexion in der Archäologie des Wissens (1969) und besonders prominent auch Foucaults Antrittsvorlesung am Collège de France Die Ordnung des Diskurses (1972) den Existenzbedingungen von Aussagen und den Verknappungs- und Regulierungsmechanismen von Diskursen gewidmet sind sowie die enge Bindung des Wissensbegriffs an die Machtanalytik den produktiven Charakter von Wahrheit hervorhebt (DE IV/306), wendet die Problematisierung des Wahrsprechens die Frage nach der Wahrheit affirmativ. Wissen wird zwar immer noch als an Machtverhältnisse geknüpft verstanden, aber ihm kommt eine politische Valenz zu, die auch mit Blick auf eine transformatorische Praxis nutzbar gemacht werden kann und eine damit verbundene ethische Haltung als kritische Haltung formuliert. Ohne Zweifel ist Foucaults Projekt werksübergreifend auch von dem Unternehmen geprägt ein „Gegen-Gedächtnis“ (DE II/84, 186) zu etablieren, das heißt hegemonialen Macht-Wissensformationen etwas entgegenzusetzen. Allerdings fügen die späten Vorlesungen dieser Orientierung eine ethische Dimension hinzu, die im affirmativen Bezug auf ein Wahrheit-Leben liegt. In seinen frühen Arbeiten – so konstatiert Foucault etwa in der Archäologie des Wissens – fragten seine Untersuchungen nach den „Realitätsbedingungen von Aussagen“ (AW 184). Ihn interessierten „die Bedingungen des Auftauchens von Aussagen, das Gesetz der Koexistenz mit anderen, die spezifische Form ihrer Seinsweise und die Prinzipien […], nach denen sie fortbestehen, sich transformieren und verschwinden“ (AW 184). ‚Glücklich positivistisch‘ geht es Foucault um eine Analyse der Aussagesysteme als „Geschichte […] der wirklich gesagten Dinge“ (AW 184). Diese Untersuchungen entfalten einen kritischen Stachel, indem sie die Kohärenz und Geschlossenheit, in der sich Wissensformationen präsentieren, als historisch geworden und künstlich ausweisen. Die Analyse von Aussagensystemen geht von einem Staunen über die genannte Kohärenz aus. Die Archäologie setzt dem epistemologischen Frieden etwas entgegen – sie will „die Ruhe erschüttern mit der man sie [die Kontinuitäten; K.H.] akzeptiert“ (AW 40). In dieser Bewegung der Erschütterung liegt die Irritationskapazität der archäologischen Untersuchungen, ähnlich wie jene von Foucaults genealogischen Arbeiten, die darauf abzielen, die Gewordenheit und Nicht-Notwendigkeit der Subjektivierungsweisen und Machtverhältnisse auszuweisen und so (Selbst-)Transformationen anzustoßen
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(vgl. Saar 2007).1 Der Bezug auf Wissen und Wahrheit bleibt jedoch eindimensional. Foucault wirft nicht die Frage auf, wie – durch welche innerweltlichen Praktiken – das Wissen, das archäologische und genealogische Analysen hervorbringen, wirksam werden kann, sondern verbleibt auf der Ebene der Schriften. In den Berkeley-Vorlesungen von 1983 stellt Foucault zwei Seiten der Problematisierung der Wahrheit in der europäischen Philosophie heraus, welche die Verschiebung erhellen kann, die die Thematisierung der parrhesia markiert: Eine Seite ist damit befaßt sicherzustellen, daß das Argumentationsverfahren richtig ist, in dem man bestimmt, ob eine Aussage wahr ist […]. Und die andere Seite beschäftigt sich mit der Frage: Worin besteht für das Individuum und für die Gesellschaft die Bedeutung, wahr zu sprechen, die Wahrheit zu wissen und Leute zu haben, die die Wahrheit sprechen, und ebenso zu wissen, wie man diese erkennt? Mit der Seite, die sich damit befaßt, sicherzustellen, daß eine Aussage wahr ist, haben wir die Wurzeln jener großen Tradition in der westlichen Philosophie, die ich die „Analyse der Wahrheit“ nennen würde. Und auf der anderen Seite, die sich mit der Bedeutung des Wahrsprechens beschäftigt […] haben wir die Wurzeln dessen, was wir die „kritische“ Tradition im Westen nennen könnten. Und hier werden Sie eines meiner Ziele in diesem Seminar erkennen, nämlich eine Genealogie der kritischen Haltung in der westlichen Philosophie herauszuarbeiten. (DuW 177 f.)
Foucault positioniert sich hier innerhalb der kritischen Tradition, deren Genealogie er in den späten Vorlesungen zu schreiben beabsichtigt (RSA, MW)2 – darum schenkt er den parrhesiastischen Praktiken so viel Aufmerksamkeit. Nach Kriterien für Wahrheit zu suchen, mag eine herausragende Aufgabe der westlichen Philosophie sein, es ist aber nicht sein Interesse. Die Bindung von Wahrheit an Macht, an die herrschenden Verhältnisse, aus denen Wahrheiten nicht herauszulösen sind, macht die philosophische Suche nach Wahrheitskriterien obsolet (vgl. Lemke 1997, 329 f.). Das heißt allerdings nicht, dass Wahrheiten keine politische und philosophische Bedeutung zukommt. Ihnen muss jedoch in einem Zweischritt begegnet werden. Die archäologische oder genealogische Praxis, die Kontingenz ausweist und ‚uns‘ unsere Gewordenheit vor Augen führt, ist nur eine Seite der Medaille. Diese philosophische Praxis markiert einen destruktiven oder negativen Bezug auf Wahrheit und die Verhältnisse, in denen diese entsteht: „Nein sagen stellt die Minimalform eines Widerstandes dar. […] Man muss nein sagen und aus diesem Nein eine Form entschiedenen Widerstands machen“
1Ich
sehe an dieser Stelle von einer strikten Abgrenzung von Archäologie und Genealogie ab, da ich beiden ein gemeinsames analytisches Ziel zuschreibe, deren Bezugnahme auf Wissensbestände auf die Erschütterung von Gewissheiten und Seinsweisen abzielt. Zu den Problemen der Archäologie als Methode vgl. aber Dreyfus/Rabinow (1987, 105–127). Dass die Einsicht in die Produktivität der Macht auch als eine Korrektur des zu starken Fokus auf die Restriktionsmechanismen von Wahrheitsregimen gelesen werden kann, zeigt etwa Lemke (1997, 53–67). 2Zur Kontextualisierung der Vorlesungen vgl. auch Gros (2010); Folkers (2016); Elden (2016: Kap. 8).
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(DE IV/358, 917). Als Minimalform ist die Ablehnung der Verhältnisse, die Einsicht, „nicht dermaßen regiert“ (WK 12) werden zu wollen, der erste Schritt hin zu einem entschiedenen Widerstand. Doch damit ist noch nicht geklärt, wie diese Analysen wirksam werden. Der in archäologischen und genealogischen Analysen herausgearbeiteten Wahrheit kommt nicht per se diese Wirksamkeit zu – vielmehr, und hierin liegt der Kern der späten Vorlesungen, fahndet Foucault nach jenen Praktiken, die „die Wahrheit mit Kraft versehen“ (Vogelmann 2014, 1080). Die Genealogie der kritischen Haltung, die Foucault spätestens seit den Vorlesungen von 1981/82 ins Zentrum der Überlegungen stellt, kann als eine Spurensuche nach ebenjenen Praktiken gelesen werden, die das angedeutete, eher negativistische Programm um einen affirmativen Wahrheitsbezug ergänzen, der entschiedenen Widerstand ermöglichen soll.3 Während die Analyse der Aussagensysteme Texte hervorbringt, die ihren Leser_innen Denkanstöße geben und damit Gegen-Geschichten etablieren, sucht die parrhesiastische Praxis nach Wegen, Wahrheit im Subjekt wirksam zu machen – und zwar, indem Wahrheit gelebt wird. Ein Leben der Wahrheit ist kein Bericht, sondern der Versuch, „dem nutzlosen Wissen, das das Sein der Dinge und der Welt aussagt“ (MW 37) etwas entgegenzusetzen, indem die Wahrsprechende dem jeweiligen Gegenüber praktisch zu erkennen gibt, „was er selbst ist“ (MW 37). Foucaults Wahrheitsbegriff erfährt damit eine Erweiterung um eine ethische Problematisierung – Wahrheit ist nicht nur an Aussagen geknüpft, sondern auch an Alltagspraktiken, die Lebensform und das Selbstverhältnis. In der freimütigen Rede macht Foucault Praktiken aus, die Wahrheiten Wirkmacht verleihen. Die parrhesia zeichnet sich dabei durch vier Merkmale aus: Sie spricht die Wahrheit bezüglich dem Gegenüber; die Wahrsprechende bindet sich an die Wahrheit, die sie ausspricht, das heißt sie nimmt deren Konsequenzen auf sich. Daher ist die parrhesiastische Praxis immer geknüpft an ein „unbestimmtes Risiko“ (RSA 89) und sie erfordert Mut (vgl. MW 25–31; siehe auch Vogelmann 2012, 204 f.). Die Frage, wie sich ein Leben der Wahrheit verwirklichen ließe, das die Sorge um sich und den Mut, die Wahrheit zu sagen, aneinanderkoppelt, führt Foucault in die griechische Antike. Einen besonderen Stellenwert nimmt in Foucaults Genealogie der kritischen Haltung der Kynismus ein, dessen Analyse im Zentrum seiner letzten Vorlesungen steht. Der Kynismus habe in aller Deutlichkeit die Frage gestellt, wie mit der Kontingenz der Wahrheit zu leben sei, ohne sie aufzugeben; es ließe sich auch sagen, ohne in einen zynischen Relativismus abzugleiten: „Wo die Sorge um die Wahrheit diese ständig in Frage stellt, was ist da die Existenzform, die dieses Infragestellen ermöglicht; welche Art von Leben wird notwendig, sobald die Wahrheit nicht mehr notwendig ist?“ (MW 251).
3Dass es produktiv ist, ein Zusammenspiel dieser Schwerpunkte – einer destruktiven und einer affirmativen Bezugnahme auf Wissensbestände – zu konzeptualisieren, habe ich an anderer Stelle im Anschluss an Foucault und in Dialog mit der feministisch-wissenschaftskritischen Position Donna Haraways zu zeigen versucht (vgl. Hoppe 2019).
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3 Leben (mit) der Kontingenz der Wahrheit – die Frage des Kynismus Die Sorge um die Wahrheit mit einer Ethik der Sorge um sich zu verknüpfen, ist nicht allein eine Frage der Kyniker. In der ersten Hälfte der Vorlesungen von 1983/84 nähert sich Foucault der Verortung des Kynismus über Diskussionen platonischer Dialoge – insbesondere dem Phaidon, Kriton, Laches und Alkibiades. Hierüber erschließt er das, was er den „sokratische[n] Augenblick am Ende des 5. Jahrhunderts“ (MW 214) nennt. Während im Phaidon und Kriton deutlich werde, wie die Philosophie als „eine Form der Veridiktion“ (MW 155)4 zu begreifen sei, weist Foucault in seiner Lesart des Laches und Alkibiades zwei Schwerpunkte der Philosophie nach Platon aus, die sich aus deren unterschiedlichen Verknüpfungen der Sorge um sich mit dem Wahrsprechen ergeben. Im Alkibiades zeige sich eine der „rituellen Formeln Platons“ (MW 204), die eine Unterwerfung unter den logos postuliere und sich in der Aufforderung zuspitzt, „Rechenschaft über sein Leben, über sein ganzes Leben“ (MW 204) abzulegen. Hier werde das Selbst als psyche eingesetzt: Die Sorge um sich läuft auf eine Sorge um die Seele hinaus und „entsprach einem bestimmten Modus der Selbsterkenntnis, nämlich der Selbstbetrachtung der Seele und der Erkenntnis ihrer Seinsweise“ (MW 210).5 Demgegenüber würde im Laches eine andere Konzeption des Selbst vorgeschlagen, die zwar immer noch auf Selbsterkenntnis ziele, aber diese stärker auf das Leben (bios) als auf die Seele richte: Diese Einsetzung des Selbst als bios, und nicht mehr als psyche, als Leben und Lebensweise und nicht mehr als Seele, entspricht einem bestimmten Modus der Selbsterkenntnis, der auf gewisse Weise und grundsätzlich natürlich auf das Prinzip „Erkenne dich selbst“ zurückgeht, das gerade im Alkibiades so häufig genannt wird. Aber dieses gnothi seauton, das im Laches dieselbe Geltung besitzt wie im Alkibiades, das einerseits für die Entdeckung der Seele und andererseits für die Aktualisierung des Problems des bios Geltung besitzt, diese Selbsterkenntnis ist offensichtlich von ganz anderer Form, wenn die Bestandsaufnahme bezüglich des Selbst am Problem des bios (des Lebens), und nicht an der Entdeckung der Seele als einer ontologisch verschiedenen Wirklichkeit ausgerichtet ist. (MW 211)
In dieser Gegenüberstellung der unterschiedlichen Implikationen der Selbsterkenntnis – also zwei Modi der Bindung des Subjekts an die Wahrheit – macht Foucault eine bedeutsame Spaltung in der Philosophie nach Platon aus, auf deren zwei Richtungen er im Laufe der Vorlesungen immer wieder zurückkommt: im Alkibiades sieht er die Linie einer „Metaphysik der Seele“ angelegt, im Laches zeichne sich die Linie einer „Ästhetik der Existenz“ ab (beide Zitate MW 215; vgl. auch MW 207–217; 320–322; 437). Den ‚sokratischen Moment‘ versteht Foucault
4Vgl.
zum Verhältnis von Foucaults späten Vorlesungen und der Rolle der parrhesia zur Philosophie, besonders der politischen Philosophie Vogelmann (2012). 5Siehe dazu den Beitrag von Andreas Gelhard in diesem Band.
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vor diesem Hintergrund als jenen Punkt, an dem die Dialoge – trotz ihrer Unterschiede – „das Erfordernis des Wahrsprechens und das Prinzip der Schönheit der Existenz in der Sorge um sich“ (MW 215) verknüpfen. Diese Verknüpfung führt Foucault zum Kynismus, denn dieser treibe den radikalen „Anschluß des Wahrsprechens an die Lebensweise“ (MW 218) bis hin zur „unerträgliche[n] Unverfrorenheit“ (MW 218). Foucault versteht die parrhesia bei den Kynikern als reduzierende Praxis. Die Lebensweise im Verhältnis zum Wahrsprechen erfülle präzise Funktionen, die es erlauben würden, das Leben als „Manifestation der Wahrheit“ (MW 227) zu begreifen.6 Er stellt drei dieser Funktionen heraus: Erstens erfülle die Lebensweise „instrumentelle Funktionen“ (MW 225), da sie die Möglichkeitsbedingungen für das Wahrsprechen stelle. Etwa müsse der Kyniker „frei von jeglicher Bindung“ (MW 225) sein. Er habe keine Familie, sondern „im Grunde [sei] die menschliche Gattung seine Familie“ (MW 225). Die Lebensweise des Kynikers sei zweitens reduzierend. Sie sei Reduktion, indem sie sich von „nutzlosen Konventionen und aller überflüssigen Meinungen“ (MW 226) entledige. Drittens weise diese Lebensweise in ihrem Verhältnis zur Wahrheit einen Prüfungscharakter auf. Dieser erlaube es, das unbedingt Notwendige menschlichen Lebens sichtbar zu machen, „das elementarste, ursprünglichste Wesen des Lebens aufzudecken“ (MW 226) – eine Lebensweise also „in ihrer Unabhängigkeit, in ihrer ursprünglichen Freiheit“ (MW 226). Eben in dieser Engführung von Leben und Wahrheit, auch und entschieden in ihrer verkörperten Dimension, sieht Foucault die ultimative Manifestation der Wahrheit als deren Leben im Kynismus: Das Leben als unmittelbare, glänzende und wilde Gegenwart der Wahrheit, das kommt im Kynismus zur Manifestation. Aber auch: die Wahrheit als Disziplin, als Askese und Nüchternheit des Lebens. Das wahre Leben als Leben der Wahrheit. (MW 229)
Wenngleich sich Foucaults Quellenarbeit besonders auf antike Zeugnisse bezieht, spricht er dem Kynismus einen exemplarischen, „transhistorischen“ (MW 230) Charakter zu, da es sich um eine „historische Kategorie“ handle, „die in verschiedenen Formen mit verschiedenen Zielen die ganze abendländische Geschichte durchzieht“ (MW 230).7 Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die
6Für
diesen Manifestationscharakter der Wahrheit nutzt Foucault an einigen Stellen und auch hier den Begriff der „Alethurgie“ (MW 227; vgl. auch RL 21 f. und Gros 2010, 441 f.). Wie Frieder Vogelmann gezeigt hat, verschiebt sich mit diesem Begriff zwar Foucaults Fokus schon in den Vorlesungen Die Regierung der Lebenden von 1980/81 hin auf die Akte der Wahrheit, die entscheidende Frage nach den Praktiken, die Wahrheiten Wirksamkeit verleihen, wird aber mit einem anderen, stärker an den früheren Arbeiten zur Archäologie ausgerichteten Vokabular bearbeitet (vgl. Vogelmann 2014, 1071–1073). 7In Der Mut zur Wahrheit skizziert Foucault drei historische Artikulationen der kynischen parrhesia jenseits der Antike: erstens eine Kontinuität zwischen christlichen „Praktiken und Institutionen der Askese“ (MW 238) sowie Kynismus, zweitens eine Kontinuität zwischen revolutionären Bewegungen und Kynismus, weil diese in skandalöser Weise mit ihrer Lebensform Wahrheiten manifestieren würden. Drittens schließlich behauptet Foucault eine Kontinuität
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usweitung des Wahrheitsbegriffs, der sich nicht allein auf Aussagen, sondern A auch auf die Lebensweise bezieht und so expliziter die Frage nach der (politischen) Wirksamkeit von Wahrheiten stellt. Foucaults Auseinandersetzung mit dem Kynismus – dies wird in den bislang zitierten Stellen deutlich – ist von einem gewissen Pathos und teils begeistert anmutenden Tonfall geprägt. Dies hat in der Rezeption der Vorlesungen häufig dazu geführt, den Kynismus als das Modell für Kritik im Anschluss an Foucault zu lesen (vgl. etwa Sonderegger 2016; Wieder 2019). Ohne Frage haben Foucaults Schilderungen eines wahren als eines anderen Lebens bei den Kynikern eine Anziehungskraft und bergen Anhaltspunkte, um seinen Kritik- und Wahrheitsbegriff anzureichern. Gleichwohl wäre ich vorsichtig, allein die kynische Lebensweise für eine Kritik der Gegenwart im Anschluss an Foucault zentral zu setzen. Im Folgenden möchte ich zwei Aspekte näher beleuchten, um zu einer ausgewogenen Verortung des Kynismus in Foucaults Arbeiten zu gelangen und abschließend anzudeuten, worin dessen kritisches Potential liegt. Erst interessiert mich die Stilisierung des Kynikers als „philosophische[r] Held“ (MW 278) und daraufhin die Frage nach dem Verhältnis von wahrem und anderem Leben.
3.1 Die Kyniker als philosophische Helden Was die kynische parrhesia von anderen antiken Spielarten derselben unterscheidet, ist vor allem ihre verkörperte Dimension, die mit der genannten Ausweitung des Wahrheitsbegriffs einhergeht, der sich auch auf Praktiken und habituelle Ausprägungen bezieht. Der „kynische Skandal“ (MW 305) liegt darin, sein Leben nicht „einfach dadurch [zu riskieren], daß man die Wahrheit sagt oder um sie zu sagen, sondern durch die Lebensweise selbst“ (MW 305). Der Kynismus verkörpert die Frage: „Welche Lebensform ist so, daß sie das Wahrsprechen vollzieht?“ (MW 305) und hebt damit die performativ-verkörperte Dimension
von Kunst und Kynismus, denn die Lebensform der Künstler_in stehe für eine „Beglaubigung des Kunstwerks“ (MW 247; zu den drei Kontinuitäten vgl. MW 238–249). Den Kontinuitäten mit dem Christentum räumt Foucault auch am Ende der Vorlesungen von 1983/84 einigen Raum ein. Hier skizziert er einen Wandel der parrhesia, der maßgeblich durch eine sich ausbildende Zweischneidigkeit charakterisiert wird. Einerseits erfülle parrhesia eine positive Funktion in der mystischen Begründung des Christentums, indem sie „das Verhältnis zur Wahrheit im Gegenüber mit Gott [herstellt] und im Vertrauen, im menschlichen Vertrauen, das dem Ausfluß der göttlichen Liebe entspricht“ (MW 433). Zugleich erfahre die parrhesia im Christentum eine die asketische Tradition begründende Interpretation, die an Foucaults Bestimmung der Pastoralmacht erinnert: „Das ist der Pol, demzufolge das Verhältnis zur Wahrheit nur im furchtsamen und ehrerbietigen Gehorsam gegenüber Gott und in Form einer argwöhnischen Selbstentzifferung durch Versuchungen und Prüfungen hergestellt werden kann. Dieser anti-parrhesiastische, asketische Pol ohne Vertrauen, dieser Pol des Mißtrauens gegenüber sich selbst und der Furcht vor Gott ist nicht weniger wichtig als der parrhesiastische Pol. Ich würde sogar sagen, daß er in historischer und institutioneller Hinsicht viel wichtiger war, weil sich schließlich um ihn herum alle pastoralen Institutionen des Christentums entwickelt haben.“ (MW 433 f.)
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parrhesiastischer Praxis hervor. Ruth Sonderegger (2016, 60) interpretiert diese Dimension der Foucault’schen Lesart des Kynismus als „das Anti-Elitäre der Kyniker_innen“, weil sie sich von der Theorie distanzieren und der Alltagspraxis zuwenden. Dem korrespondiert Foucaults starke Betonung, dass der Kynismus eine Lebensweise statt einer Lehre überliefere (vgl. MW 270–278). Gerade diese Diskussion führt Foucault zum Heldentum der Kyniker, das er von der Weisheit ebenso unterscheidet wie von der christlichen Askese (vgl. MW 278). Als heroisch fasst Foucault die Lebensweise der Kyniker in ihren reduzierenden Funktionen auf, also in jenen Praktiken, die das Ursprünglich-Menschliche in die Öffentlichkeit tragen oder – wie er es an anderer Stelle formuliert – die „Tiernatur“ als eine Aufgabe begreifen (vgl. MW 346). Die Praktiken der Kyniker, in denen die Entledigung von Konventionen, ein Aufführen von Ungebundenheit und die Reduktion des Lebens auf dessen basale Bedürfnisse im Vordergrund stehen, beschreibt Sonderegger als Praktiken des „Ent/Übens“ (Sonderegger 2016, 64) – eine Praxis des Verlernens des Gewöhnlichen, dessen „was als am unveränderbarsten und kritikfernsten gilt“ (Sonderegger 2016, 65). Nun erfolgt bei den Kynikern solches Ent/Üben über eine Art Rückkehr zum Unveränderbaren, in einer Demonstration der Freiheit als Freiheit von kulturellen Beschränkungen und einer Reduktion auf basale Bedürfnisse, über die Herstellung eines „Körper[s] der Wahrheit“ (MW 229). Als philosophischer Held habe der Kyniker „eine Art von praktischer Matrix für die philosophische Haltung repräsentiert“ (MW 278). Allerdings stellt sich die Frage, in welcher Weise Foucault den Kynismus als philosophischen Heroismus geltend macht. Denn trotz des Unabhängigkeitspathos, das in vielen von Foucaults Beschreibungen des Kynismus anklingt, ist mit dem genannten Reduktionsmoment auch eine radikale Umdeutung politischen Heldentums verbunden, die in der Auseinandersetzung mit diesem heroischen Moment bislang noch wenig hervorgehoben wurde. Wendy Brown hat in ihrer Studie Manhood and Politics (1988) gezeigt, dass die westliche politische Philosophie eine männlich konnotierte Auffassung von Freiheit als Freiheit von Notwendigkeiten – besonders von Körperlichkeit – etabliert hat und auf der Leugnung des Lebens in seiner Vergänglichkeit basiert (vgl. Brown 1988, 193 f.). Wenn Freiheit in dieser Weise auf eine Freiheit vom Körper (als Notwendigkeit par excellence) enggeführt wird, wird das Leben zur Last für die Freiheit, denn es erinnert sie an ihre Begrenztheit. Eben diese Last verbanne Sterblichkeit aus der Politik: Freiheit und Notwendigkeit werden als Gegensätze verstanden. Allein in heroischen Gesten im klassischen Sinne kommen Tod und Sterben in der Politik dann in Betracht. Das Leben aufs Spiel zu setzen, funktioniert nur in einer Geste, die das Sterben als „größer“ als das Leben selbst darstelle – legitimes, mutiges Sterben ist Sterben für eine größere Sache. Während der Kynismus dieses Sterben für eine größere Sache zwar durchaus verkörpert und auf die Bühne bringt – ein Sterben für die Wahrheit nämlich –, ist diese Wahrheit allerdings eng mit dem Leben in dessen Vergänglichkeit, Gefährdung und den Notwendigkeiten des Lebens verknüpft. Im Reduktionismus des Kynismus ist daher eine affirmative Bezugnahme auf Notwendigkeiten als Wahrheit des Lebens angelegt. Demnach liegt dem kynischen
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Heroismus weniger eine Entkörperungs- und Ermächtigungsphantasie zugrunde als eine Kopplung politischen Handelns mit weltlichen Notwendigkeiten. Das Leben wird nur insofern aufs Spiel gesetzt, als es die Selbst-Sicherheit und damit auch die Machtverhältnisse, die diese ausmachen, in Frage stellt, indem Wahrheiten des Lebens verkörpert werden. In diesem Sinne haben wir es mit einem bescheidenen Heroismus zu tun. Feministisch gewendet, erinnern die Kyniker an die Tatsache der Dependenz – Freiheit ist nur in Nicht-Souveränität erfahrbar. Deswegen ist das Ziel des Kynismus auch nicht der „Zugang zur anderen Welt“, den Foucault in der platonischen Modalität der parrhesia angelegt sieht, sondern der „innerweltliche Kampf gegen die Welt“ (MW 438; vgl. auch 321 f.), der auf Veränderungen im Selbst- und Weltverhältnis zielt, auf ein anderes Leben: „Ist nicht und muß nicht das wahre Leben ein anderes Leben sein?“ (MW 320)
3.2 Das wahre Leben als anderes Leben Die Betonung der Innerweltlichkeit der kynischen parrhesia ist entscheidend, um die Bedeutung des affirmativen Wahrheitsbezugs in einer Politik der Wahrheit im Anschluss an Foucault zu begreifen. Der affirmative Bezug auf Wahrheiten des Lebens ist ein Bezug auf Dependenzen, weltliche Verstrickungen und Notwendigkeiten. Fluchtpunkt solch einer – auch verkörperten – parrhesia ist nicht die andere Welt als ein ambivalenzfreier Zufluchtsort oder ein Jenseits. Der Kynismus lässt sich vielmehr als Gegenprogramm zu einer reinigenden Politik lesen, die sich von den niederen Notwendigkeiten des Lebens befreit hätte oder dies als ihren Horizont markiert. Das andere Leben wird nicht ein für alle Mal erreicht, indem eine andere – ideale – Welt oder gute Ordnung eingerichtet wäre, vielmehr materialisiert sich im Kynismus für Foucault die Idee einer anderen Praxis als einem anderen Leben, das im Kommen bleiben muss: Und diese Praxis der Wahrheit, die das kynische Leben charakterisiert, hat nicht nur zum Ziel, daß gesagt und gezeigt wird, was die Welt in ihrer Wahrheit ist, sondern sie hat auch zum Ziel, und zwar zum letzten Ziel, zu zeigen, daß die Welt ihre Wahrheit nur finden kann, daß sie sich nur verwandeln und anders werden kann, um zu finden, was sie in Wahrheit ist, um den Preis einer Veränderung, einer völligen Veränderung im Verhältnis, das man zu sich selbst hat. Und in dieser Rückkehr von sich zu sich selbst, in dieser Sorge um sich liegt das Prinzip des Übergangs zu dieser anderen Welt, die der Kynismus verspricht. (MW 407; Hervorh. K.H.)
Die andere Welt, die der Kynismus verheißt, unterscheidet sich von einem erfüllten oder utopischen Jenseits, weil sie sich ihrer Verwirklichung nur im Leben annähern kann. Dies steht in entschiedener Kontinuität mit Foucaults machtanalytischen Studien, in denen er besonders darauf hinwies, dass jede Wissensproduktion etwas anderes einsetzt, andere Formen der Regierung, die gefährlich bleiben, wenn auch nicht zwangsläufig böse sind. Foucaults Kritik der Repressionshypothese ist hier besonders aufschlussreich. Das Sexualitätsdispositiv analysiert Foucault
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als Befreiungsdispositiv und zeigt so, wie gerade durch das Versprechen der Befreiung von Zwängen ethische Differenzierungen hervorgebracht werden, die ihre Innerweltlichkeit vergessen, die sich souverän setzen und neue Regierungen übersehen (SW1). Aber „die Wahrheit ist nie dasselbe“ (MW 438). Wahrheiten weisen konstitutiv über sich hinaus und sind Foucault zufolge nicht an eine souveräne Subjektposition gekoppelt. Als radikal innerweltliche Subjekte erinnern die Kyniker daran, dass Wahrheit produzierende ethische Differenzierungen auf Notwendigkeiten und Dependenzen, Ambivalenzen und die Gefahr der Einsetzung neuer Machtverhältnisse verwiesen bleiben. Der affirmative Bezug auf Wahrheit ist zuallererst ein Bezug auf die Nicht-Identität, der es erlauben soll, im Leben ein anderes Leben zu suchen, das die Welt in ihren Ambivalenzen nicht verleugnet. Damit sind auch solche Lesarten zurückzuweisen, die in Foucaults späten Schriften eine „nachgereichte normative Grundlage“ (Menke 2003, 285) auszumachen suchen. So rückt mit der Auseinandersetzung mit den Ästhetiken der Existenz in der Antike zwar ein anderer Modus der Subjektivierung in den Blick, Foucault betont aber, dass ein anderes Leben welcher Art auch immer, neue Regierungen einsetzt.8 Das andere Leben bleibt innerweltlich und transzendiert die Machtverhältnisse nicht, es verschiebt sie und arbeitet sie um – eine ultimative „Befreiung“ verspricht das andere Leben nicht.
4 Politik der Wahrheit als post-heroische Kritik Foucaults Auseinandersetzung mit dem Kynismus in diesen letzten Vorlesungen schlägt weniger ein Kritikmodell vor, an dem sich auch heute zu orientieren wäre; vielmehr – so habe ich zu zeigen versucht – geht es um die Frage der Beschaffenheit der ethischen Differenzierung, die Wahrheit in einem ‚anspruchsvollen Sinne‘ sagt. Dieser anspruchsvollere Sinn, der eine transformative Kraft von Wahrheit mobilisiert, kann geknüpft sein an ein Leben der Wahrheit, das im Sinne eines bescheidenen Held_innentums, das Foucault im Kynismus findet, weltliche Abhängigkeiten und Verstrickungen in Machtverhältnisse nicht zu überwinden versucht, sondern diese zum Dreh- und Angelpunkt einer Politik der Wahrheit macht. Ein solcher Modus des Wahrsprechens als Wahrheit-Leben bricht mit einem unbescheidenen Heldentum (sic), das sich souverän setzt. Eine souveräne epistemische Subjektposition wird damit ebenso zurückgewiesen wie die Vorstellung einer letzten Wahrheit oder eines Erlösungsversprechens. Sich mehr um die Wahrheit zu kümmern, wie es Sontags Hippolyte vermutet und fordert, bedeutet ein Risiko einzugehen, gerade weil die Wahrheit produzierende Subjektposition nicht mit sich selbst identisch ist, sondern Teil eines innerweltlichen Kampfes, und weil sie sich in ihrer Innerweltlichkeit exponiert und verändert.
8Siehe
dazu auch den Beitrag von Maria Muhle in diesem Band.
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Die Affirmation weltlicher Abhängigkeiten als Wahrheiten, die im Zentrum von Foucaults Analyse des Kynismus steht, kann dabei als Eintrittspunkt für eine Kritik verstanden werden, die mit einem Emanzipationsbegriff als Befreiung von Notwendigkeiten bricht und stattdessen Freiheit von Notwendigkeiten her begreift. Solche Freiheit artikuliert sich in einer positiven Anrufung des Körpers, über die ein Mut mobilisiert wird, der es ermöglicht, den herrschenden Verhältnissen entgegenzutreten – dabei repräsentiert der Körper keine letzte Wahrheit, sondern verkörpert oder vollzieht historisch situierte Wahrheiten. Entscheidend dafür ist der breiter angelegte Wahrheitsbegriff, der sich besonders auf Praktiken und Verkörperungen bezieht, die mobilisiert werden, um die Wahrheit wörtlich auszuüben. Eine solche Erinnerung an die geteilte Verwiesenheit auf Anderes und konstitutive Abhängigkeit von heterogenem Anderem lässt sich mit Hans Christian Andersens berühmten Märchen Des Kaisers neue Kleider illustrieren. In diesem machen Betrüger dem Kaiser weis, er bekäme neue Gewänder, die nur von edlen Menschen zu sehen seien. Aus Scham, sie selbst nicht zu sehen, geht der Kaiser nackt. Erst bei einer Parade, stellt ein Kind in der Menge fest: „Der Kaiser ist ja nackt!“. Das parrhesiastische Moment kommt hier zwei Mal zum Ausdruck – in der unbefangenen Aussage des Kindes, aber auch in der Idee der Betrüger, die verstehen, dass die Erinnerung an die Weltlichkeit der Herrschenden eine destabilisierende Wirkung haben kann. Solche Erinnerung entnaturalisiert Herrschaft und erinnert an etwas Gemeinsames. Hierbei handelt es sich nicht um eine überhistorische Idee „des Menschen“ als Tier oder dergleichen, sondern um die Erinnerung an Abhängigkeit voneinander und von natürlichen Ressourcen. Es sind gerade solche Gesten, die auch heute mobilisiert werden, wenn es um Forderungen für verstärkten Klimaschutz und Antworten auf die ökologischen Krisen geht. Bescheidene Held_innen unserer Zeit erinnern daran, dass Gefährdungen zwar differentiell verteilt sind, diese aber nicht abzulösen sind von ‚uns‘. Zentral ist dabei nicht so sehr ein Narrativ der Befreiung von Notwendigkeiten, denn eine Erinnerung an die Wahrheit geteilter Verwundbarkeit (vgl. auch Butler 2005). Damit wird ein kynisches, post-heroisches Moment mobilisiert, das versucht, die Wahrheit der Gefährdung im Leben geltend zu machen. Solche Kritik bindet sich an diese Wahrheiten, behauptet dabei aber keine Widerspruchsfreiheit und wartet auch nicht mit einer endgültigen Lösung oder Vorstellung einer vollkommenen Welt auf, sondern exponiert sich und versucht, einen anhaltenden innerweltlichen Kampf für eine in der Tat bessere Welt anzustoßen.
Literatur Brown, Wendy. 1988. Manhood and Politics. A Feminist Reading in Political Theory. Totowa: Rowman & Littlefield. Butler, Judith. 2005. Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dreyfus, Hubert L., und Paul Rabinow. 1987. Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a. M.: Athenäum. Elden, Stuart. 2016. Foucault’s Last Decade. London: Polity Press.
Wahrheit leben. Zum affirmativen Wahrheitsbezug in Michel Foucaults …
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Katharina Hoppe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der GoetheUniversität Frankfurt am Main.