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German Pages [233] Year 2013
Fin de Siècle Epoche – Autoren – Werke Herausgegeben von Johannes G. Pankau
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt. Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-24587-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72322-5 eBook (epub): 978-3-534-72323-2
Inhalt Johannes G. Pankau Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Galina Hristeva ‚Nervenkunst‘: Psychoanalyse und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Cornelia Pechota Frauen und Frauenliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sigurd Paul Scheichl Cliquen und Kreise: Wien und München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Helmut Koopmann Fin de Siècle und Décadence − Erscheinungsformen, Begründungen, Gegenbewegungen . . . . . . . . . . . . .
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Johannes G. Pankau Unterhaltungskultur um 1900: Film, Cabaret, Varieté . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans Richard Brittnacher Artistik und Zynismus der Dekadenz – Heinrich Mann als Autor des Fin de Siècle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Ortrud Gutjahr Thomas Manns Frühwerk: Anfänge und Vollendungen . . . . . . . . . . . . . . . 125 Elke Maria Clauß Arthur Schnitzler: Frühe Erfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Hartmut Vinçon Frank Wedekind – Aufbruch ins 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Antonia Eder „Wüthende Welten aus bohrender Prosa“: Hugo von Hofmannsthal als Autor des Fin de Siècle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
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Inhalt
Fred Lönker Der frühe Musil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Erich Unglaub „Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.“ Grenze und Übergang bei Rainer Maria Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
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Einleitung Moderne-Erfahrung – Blicke auf das Fin de Siècle Dass die Zeit, die unpräzise als Fin de Siècle bezeichnet wird (aber auch als: Jahrhundertwende, Belle Époque), keine ‚gute alte‘ war, dass sie nicht aufgeht in der Saturiertheit der großbürgerlichen und adligen Eliten, dass sich ihr ‚Geist‘ nicht in markigen Kaiserreden und imperial-aggressiven Machtgesten ausdrückt, ist inzwischen ins Allgemeinbewusstsein gedrungen. Andere Dimensionen sind verstärkt ans Licht gekommen: die tiefen sozialen Spannungen und Spaltungen der Zeit, Unterdrückung und Emanzipationsversuche der Frauen, der Aufstieg neuer sozialer Gruppen wie der Angestellten, die Modernisierung aller Lebensbereiche durch technische Neuerungen, Industrialisierung und Urbanisierung als Motor der gesellschaftlichen Dynamik. Das Bild der Zeit um 1900 wurde in den letzten Jahrzehnten auch deshalb breiter und plastischer, weil Alltagsgeschichte und Äußerungen ‚gewöhnlicher‘ Zeitgenossen stärker in den Blick traten, neben wissenschaftlichen oder literarischen Beschreibungen zunehmend auch fotografische und filmisch bewegte Bilder.1 Gegenüber dem noch vor einigen Jahrzehnten vorherrschenden Bild des deutschen Kaiserreichs als einer zwar technologisch und ökonomisch avancierten, im Kern aber statischen und in ihren Werten rückwärtsgewandten Gesellschaft trat in der letzten Zeit das Dynamische, ja Explosive der Ära in den Vordergrund. Charakteristisch für diesen Perspektivenwandel ist etwa das viel beachtete, auf den gesamteuropäischen Kontext gerichtete Buch Der taumelnde Kontinent von Philipp Blom. Hier heißt es zum Verhältnis von nachträglicher Verklärung und unmittelbarer Erfahrung: Die meisten Menschen, die das Jahr 1900 erlebt haben, wären erstaunt über diese nostalgische und statische Interpretation ihrer Zeit. Ihren eigenen Briefen, Tagebüchern, Zeitungen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Romanen nach zu urteilen war ihre eigene Erfahrung dieser Zeit gekennzeichnet von Unsicherheit und Erregtheit, eine rohe, kraftvolle Lebenswelt, die unserer eigenen in vielerlei Hinsicht ähnlich ist.2 Der Vergleich der Jahrhundertwenden, die Bildung historischer Analogien erscheinen gerade aus heutiger Sicht reizvoll, und diesem Reiz verdankt sich wohl
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auch der erstaunliche Verkaufserfolg von Florian Illies’ 19133, einem Buch, das mit einer Vielzahl von Beobachtungen und Aperçus das Ende der Vorkriegsepoche illustriert. Der große Knall, die ‚Urkatastrophe‘ des 20. Jahrhunderts steht unmittelbar bevor, die für das Jahrhundert grundlegende historische Zäsur, aber die erste Stufe gesellschaftlich-kultureller Modernisierung ist bereits zu Ende. Es mag ein wenig übertrieben sein, wenn es im Klappentext zu Bloms Buch heißt: „In den rund 15 Jahren zwischen der Weltausstellung von 1900 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs durchlebte Europa einen Taumel, der Alltag, Kunst, Wissenschaft und Politik erfasste. Das moderne Europa entstand [. . .].“ In Hinsicht auf Mentalitäten und kollektive Gefühlslagen lässt sich dieser Aussage jedoch kaum widersprechen. In vielen Äußerungen der Zeitgenossen, in wissenschaftlichen, künstlerischen wie medialen Diskursen ist die Rede von Irritationen angesichts der Zumutungen der Moderne, neuen Ansprüchen an Wahrnehmung und Fähigkeiten zur Lebensbewältigung. Auffällig besonders, wie oft und wie nachdrücklich die Beschleunigung thematisiert wird, die dem Einzelnen ihren Rhythmus aufzwingt. Der ‚Tempo-Virus‘ befällt die Stadtbewohner, mal gefeiert als Zeichen unaufhaltsamen Fortschritts, dann wieder beklagt als Verlust und Bedrohung des Individuums – kulminierend in den Folgeerscheinungen der Nervosität, Neurasthenie oder Hysterie, deren Diagnose und Therapiemöglichkeiten zum Spezialgebiet von Medizin und Psychologie werden.4 So erscheint die „Nervosität als der Preis des Fortschritts“5, deren mannigfache Ausprägungen allerdings bereits im Verlaufe der industriellen Entwicklung im 19. Jahrhundert zum Thema von Traktaten und literarischen Texten geworden waren. Endzeitstimmung, Entartungsvisionen, Degenerationsphantasien stellen sich ein, Max Halbe sieht in der Rückschau einen Zusammenhang von „Dekadenz, Fin de siècle, Abstieg und Ausklang, Gewitterschwüle, Unheilsahnen“6. Hermann Bahr, für die Stimmungen der Zeit stets empfänglich, sagte in seinen Studien zur Kritik der Moderne bereits 1894 das Ende der Epoche voraus und erahnte den Beginn einer neuen: „[. . .] die enge Welt ist erschöpft, und das karge Futter, das sie den Sinnen gewähren kann, ist verbraucht. Wir finden keine neuen Reize für die alten Sinne und Nerven mehr; wie wäre es, wenn wir einmal für die alten Reize es mit neuen Sinnen und Nerven versuchten?“7 Dies ist Ausklang der alten Welt; andererseits aber ist es gerade die Vielzahl von neuen Reizen, die Unsicherheit hervorruft. Neue Semantiken müssen entwickelt, die verwirrenden Eindrücke geordnet und überhaupt erst der Artikulation zugänglich gemacht werden. Besonders der prototypische Großstadtbewohner ist mit dem Problem konfrontiert, sich zurecht zu finden in einer Außenwelt, die sich den traditionellen Wahrnehmungs- und Erklärungsformen zwar nicht gänzlich, aber doch in großen Teilen verweigert. Neue wissenschaftliche Ansätze versuchen hier klärend einzugreifen, Freuds Psychoanalyse, insbesondere aber auch die modernen Gesellschaftswissenschaften, die im späten 19. Jahrhundert begründet werden. Niemand hat die städtische Moderne in allen ihren Ausformungen so präzise beobachtet und analysiert wie der Kultursoziologe Georg
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Simmel, der ab 1900 an der Berliner Universität lehrte und der mit seinen Vorlesungen und Schriften gerade auf die kommende Generation der expressionistischen Rebellen großen Einfluss ausübte. Die moderne Großstadtbildung ist für ihn Resultat der ökonomischen und technischen Entwicklungen – insbesondere der Universalisierung des Geldverkehrs – deren Auswirkungen auf den Habitus, die Moden, Topographie und Architektur der Großstadt oder auch in der Intimität der Geschlechterbegegnungen er betrachtet. So entstehen Werke wie die Philosophie des Geldes (1900), die Philosophie der Mode (1905) oder das Kapitel zur Koketterie in dem Buch Philosophische Kultur von 1911. Simmel sieht das moderne Individuum als fragmentiert und isoliert, von der Versachlichung des Lebensvollzugs in seinen Interaktionen wie in seiner Gefühlswelt bestimmt; Simmels Reflexion ist nicht primär zivilisationskritisch, anders als vorgängige Arbeiten zum Thema wie die grundlegende Studie des Soziologen Ferdinand Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) oder die Schriften des Volkskundlers Wilhelm Heinrich Riehl. In Simmels Perspektive erscheint die urbane Moderne nicht stigmatisiert als Epoche ubiquitären Niedergangs oder der Degeneration, sondern sie fordert Anpassung und Neuorientierung, schafft damit dem Individuum Möglichkeiten, die sich in der modernen Stadtlandschaft auf der Grundlage von Naturwissenschaft und Technik schon teilweise realisiert haben. In seinem berühmten Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben beschrieb und analysierte Simmel 1903 die Anforderungen des Großstadtlebens an den Einzelnen als Paradigma der Moderne, die Versuche, den beständigen Wechsel der Ereignisse und Eindrücke zu bewältigen und zu organisieren. Der Mensch als Unterschiedswesen, meinte Simmel, reagiere auf die ungewohnten Reize durch eine grundlegende Veränderung seiner psychischen Disposition: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus groß-städtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“8 Durch die geforderten Eigenschaften der Pünktlichkeit, Disziplin, Ordnung bei gleichzeitig sachlicher und distanzierter Grundhaltung vermeide es der moderne Großstädter, einem Chaos anheimzufallen, das durch die Reizüberflutung drohen könnte. Die Bedrohung der Identität als Verlust von Ordnung und Zusammenhang spricht auch aus zahlreichen anderen wichtigen Texten der Zeit, wird etwa literarisch – ebenfalls im berühmten Chandos-Brief Hofmannsthals 1903 – auf den Punkt gebracht: „Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“9 Die allerorten beklagte Ausdruckskrise führt allerdings nicht notwendig in resignatives Verstummen, dieses Krisenbewusstsein ist auch dynamisierendes Element bei der Neukonstruktion gerade im ästhetischen Bereich. Die Bedrohung vertrauter Ordnungen und Gewissheiten provoziert Reaktionsbildungen unterschiedlichster Art. Die Übermacht seelenloser Technik wird gefürchtet, ebenso – und mit dieser Angst oft einhergehend – der drohende Verlust der Herrschaft des Mannes, der Untergang des aktiven, kontrollierenden
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Typus, gerade dieser scheint, wie die vielen schwächlichen Männerfigurationen in der Literatur nahelegen, affiziert von Krankheiten oder gar Degenerationssymptomen, von denen die geradezu inflationär thematisierte Neurasthenie nur die auffälligste ist; so zentral im öffentlichen Bewusstsein waren diese Erscheinungen, dass vom Zeitalter der Nervosität gesprochen werden konnte.10 Diese Abwehr von Moderne, Technik, Urbanität, die die gesamte Gegenwart degeneriert und unnatürlich erschienen ließ, prägt wichtige wissenschaftliche wie künstlerische Tendenzen der Zeit, eine rückwärts gewandte Heimatkunst, eine wieder aufgewärmte Romantik, Teile eines späten Klassizismus, eine nostalgische Idyllik, die besonders in der trivialen Massenliteratur ihren Ausdruck fand. Dagegen stehen gleichzeitig die Versuche der Neuerer und Avantgardisten, die nicht selten der randständigen großstädtischen Bohème entstammen. Solche inhaltlichen wie formalen Neuentwürfe, gefasst im offensiv verwendeten Begriff der Moderne, finden sich künstlerisch in den Ansätzen des Symbolismus, der Dekadenz, auch in der Theateravantgarde; diese jugendlichen Neuentwürfe kulminieren in den Versuchen der expressionistischen Künstler und Literaten, die in der Mitte des ersten Jahrzehnts provokant hervortreten, und finden ihren radikalsten Ausdruck in der technikversessenen, radikal fortschrittsfixierten Richtung des Futurismus, dessen Wirkung, von Italien ausgehend, auch in die deutschen Großstadtzentren strahlte. Besonders deutlich zeigen sich die Kontroversen um Tradition und Modernität angesichts der neu entstehenden Medien, vor allem des Films, aber überhaupt in einer die Metropolen zunehmend dominierenden Vergnügungs- und Populärkultur, den Varietés, Cabarets und Revuetheatern Berlins und anderer Großstädte. Im Verlaufe dieser Entwicklungen bleiben auch Literatur und insgesamt die Schriftkultur nicht unberührt, mehr und mehr geht ihre hegemoniale Stellung verloren. Die wachsenden Metropolen sind Stätten des Lichts und des Sehens, vorgebildet in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, der Ville-Lumière, Paris. Das andere Sehen gelernt wird hier, wo der Erzähler im ersten deutschen Großstadtroman, Rilkes Malte Laurids Brigge, den neuen Blick einübt, ohne ihn entschlüsseln und auf seine Innenwelt beziehen zu können: Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.11
Fin de Siècle und ästhetische Moderne – Versuche der Bestimmung In der Bezeichnung Fin de Siècle, die sich – aus dem französischen Theater des späten 19. Jahrhunderts übernommen – schon früh auch in Deutschland in der Kunst- und Literaturwissenschaft eingebürgert hat, ist das Spätzeitliche betont. Der Begriff taucht 1886 in Zolas Roman L‘Œuvre auf, zugleich auch in der Zeit-
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schrift Le Décadent, 1888 erscheint in Paris die Komödie Fin de siecle von Jouvenot und Micard. Wenig später verwenden dann auch deutschsprachige Autoren die Bezeichnung, so Marie Herzfeld, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr in einem 1891 unter diesem Titel erschienenen Novellenband.12 Im zeitgenössischen Verständnis bezeichnet der Begriff sowohl das eher positive Bewusstsein, das fortschrittsgläubige 19. Jahrhundert überwunden zu haben, als auch das pessimistisch getönte Gefühl, an einem Endpunkt zu stehen, von dem aus eine Progression zunächst nicht bestimmbar scheint. Als emphatischer Programmbegriff verwendeten schon die naturalistischen Erneuerer den Begriff der Moderne oder des Modernen, der inzwischen mit dem des Fin de Siècle eng verbunden erscheint, im damaligen Verständnis aber auch einen Gegensatz ausdrückt. Im naturalistischen Kunstprogramm der Gruppe Durch! von 1886 wird gegen das Verhaftetsein in Antikenkult und Epigonalität offensiv das Moderne gesetzt, statt an einem Endpunkt sieht man die deutsche Literatur an einem „Wendepunkt ihrer Entwickelung angelangt, von welchem sich der Blick auf eine eigenartige bedeutsame Epoche eröffnet.“13 Die moderne Literatur wird hier auf einen Fortschritt verpflichtet, aus dem heraus das Gebot der realistischen Darstellung erwächst, denn sie „soll den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit zeichnen“14. Von unserer Gegenwart her gesehen markiert der Begriff Fin de Siècle eine Schwellenzeit, eine Übergangsperiode hin zu den Entwicklungen und Verwerfungen, die im Verlaufe des 20. Jahrhunderts folgen sollten. Der Übergang zur Moderne ist in den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Sektoren sehr unterschiedlich ausgebildet, die mangelnde Synchronizität ist verantwortlich für viele der heute schwer verständlichen Konflikte. So besteht neben den unzweifelhaften Fortschritten in den industriellen Fertigungstechniken, den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, den militärischen wie wirtschaftlichen Entwicklungen, vor allem im preußisch geprägten deutschen Kaiserreich ein starrer Beamtenapparat und eine äußerst konservative Militärkaste. Neben freizügigen und toleranten Positionen leben antidemokratische und antisemitische Haltungen fort, neben Freiheiten des individuellen Umgangs und der Selbstpräsentation stehen für Frauen in vielen Bereichen nach wie vor eingeschränkte Möglichkeiten, von der Bildung bis hin zu den Kleiderordnungen. Besonders in die Innenwelt der Individuen, die Mikrostrukturen der Psyche scheint die Moderne noch nicht allgemein gedrungen zu sein; sie sei, schreibt Hermann Bahr 1890, „nur in unserem Wunsche und sie ist draußen überall, außer uns“15. Die Moderne erscheint auch als eine bedrohliche, potentiell vernichtende, aber unentrinnbare Gewalt, wie Bahr in gesteigertem Pathos, aber zugleich mit zeittypischer Tendenz kündet: Es kann sein, daß wir am Ende sind, am Tode der erschöpften Menschheit, und das sind nur die letzten Krämpfe. Es kann sein, daß wir am Anfange sind, an der Geburt einer neuen Menschheit, und das sind nur die Lawinen
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des Frühlings. Wir steigen ins Göttliche oder wir stürzen, stürzen in Nacht und Vernichtung – aber Bleiben ist keines. [. . .] In uns wuchert die Vergangenheit noch immer und um uns wächst die Zukunft.16 Die Forschung zum Fin de Siècle hat in den letzten Jahrzehnten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in vielen Einzeluntersuchungen näher gefasst, sie ist der „Pluralisierung der Trägerschichten von Kunst, der Ausdifferenzierung der Wissenschaften und des hohen Innovationstempos“17 nachgegangen; die davor übliche Tendenz zur Isolierung der Einzelphänomene konnte weitgehend überwunden werden. Allerdings ließen sich gerade in der Literaturwissenschaft auf längere Zeit perspektivische Verengungen beobachten. Die ältere germanistische Forschung unterschied Teilaspekte und Richtungen wie Dekadenzliteratur, Symbolismus, Impressionismus oder auch Vitalismus, allesamt Hilfsbegriffe, teilweise schon um 1900 verwendet, die häufig mit bestimmten programmatischen und ideologischen Besetzungen aus Frankreich oder auch Skandinavien in den deutschsprachigen Bereich gelangten. Die gewohnte (und prinzipiell problematische) Epochenklassifizierung stieß hier an ihre Grenzen, und als ‚Epoche‘ erscheint das Fin de Siècle in den seriösen Darstellungen inzwischen auch nur selten. Viktor Žmegacˇ wies im Vorwort zu dem von ihm 1981 herausgegebenen Sammelband zur Fin-de-Siècle-Forschung auf die entscheidende Bedeutung der Phase für die folgende europäische Geschichte hin, klassifizierte sie dann im literaturwissenschaftlichen Sinne eher vage als „die Zeit eines literarischen und künstlerischen Stilgemenges“18. Auch der ausgewiesene Dekadenz-Forscher Wolfdietrich Rasch erwähnte die „sich rasch ablösenden ‚Stile‘“19; zugleich betonte er die Unsicherheit bei der Sichtung und Bewertung der literarischen Werke: Das harte Nebeneinander von echten und verdorbenen Formen, von Kunst und Pseudokunst, die Unsicherheit des Formniveaus auch bei respektablen Künstlern machen das Gesamtbild der Zeit um 1900 verwirrend zwiespältig und begründen bei Nachlebenden eine häufig wahrnehmbare Unsicherheit des Urteils, ein Misstrauen gegen Dichtung und Kunst der Jahrhundertwende, das sich nicht selten auch auf ihre gelungenen Schöpfungen erstreckt.20 Bei der Wertungsfrage scheint ein Misstrauen der Literaturwissenschaft durch, das mit ihren eigenen ideologischen Wurzeln zu tun hat. In der Tradition von Max Nordau und anderen Degenerationstheoretikern wurde die Literatur der Jahrhundertwende letztlich als affiziert vom ‚dekadenten‘ Zeitgeist angesehen und so abgewertet. Im Hintergrund stehen hier immer noch musterhaft die Ideale und Formgesetze der Weimarer Klassik, zudem eine Abwehrhaltung gegen die großstädtische Zivilisation. Die Fixierung auf das Dekadenz-Paradigma und dessen Implikationen verschärfte sich bis hin zu einer restaurativ-völkischen Rezeptionsform, die weite Teile der Vorkriegsliteratur als minderwertig und ‚volksfremd‘ denunzierte.21 Endgültig überwunden wurden diese Abwehrhaltungen
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der Literaturwissenschaft erst durch die späte Rezeption der bereits 1930 auf Italienisch erschienenen umfassenden komparatistischen Studie Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik von Mario Praz; einflussreich war auch die in der Einleitung ebenfalls vergleichend vorgehende deutschsprachige Darstellung Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche von Jens Malte Fischer.22 Inzwischen ist in wissenschaftlicher Perspektive die Bezeichnung Fin de Siècle eine feste Verbindung mit dem Begriff der literarischen Moderne eingegangen, die hier, so wird angenommen, ihren eigentlichen Anfang nahm. Aber auch diese Neuetikettierung hat das Dilemma der historischen Bestimmung nicht verschwinden lassen. In der Neufassung des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft erscheint als gemeinsamer Nenner lediglich die Abkehr vom Naturalismus, ansonsten ist die Rede weiterhin von einer Übergangsperiode, „eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene und Tendenzen umfassend“23. Die neueste (und eigentlich erste) groß angelegte, den internationalen Kontext einbeziehende Darstellung, das Handbuch Fin de Siècle, spricht von „Sattelzeit“, bestimmt von der „Vielfalt des Nebeneinander“.24 Das Unbehagen an der Bestimmung der Phase wird häufig direkt formuliert, etwa in Peter Sprengels Geschichte der deutschsprachigen Literatur.25 Hans Richard Brittnacher ist der Ansicht, dass sich der Begriff des Fin de Siècle zwar nicht als Epochenbezeichnung, aber als „Formel“26 bewährt habe, der ein „unverwechselbares Profil“27 zukomme, das vor allem durch die „Krisenerfahrung des Jahrhundertendes bestimmt“28 sei. In diesem Zusammenhang ist die im Anschluss an Nietzsche immer wieder formulierte Kritik an der Dekadenz von Bedeutung, hier verstanden als Versuch, „das Neue als das gleichzeitig Verschwindende zu beschreiben“.29 Offenbar ist es gerade diese Krisenerfahrung, die die Dynamik der Zeit um 1900 begründet, verbunden mit dem Willen zur Neukonstruktion oder Restitution des Fragmentierten. Die auf das Dekadenz-Phänomen fokussierte ältere Literaturwissenschaft neigte dazu, die Stimmen und Stimmungen des Aufbruchs in dieser Zeit zu unterschätzen (oder abzuwerten), die Bejahung von technologischem und medialem Fortschritt, die ambivalente Faszination durch die großstädtische Zivilisation. Der Zusammenhang von Kultur, Literatur und Technik ist für diese Zeit überhaupt erst spät untersucht worden.30 Überwunden wurde auch die einseitige und isolierte Analyse von Stilmerkmalen und formalen Spezifika; wesentliche Merkmale dieser „Epochenscheide“31 werden zunehmend im kulturhistorischen Gesamtbild erkannt, wie es der Historiker Paul Nolte als Aufgabe formuliert hat: Während die Erforschung der ‚Hochkultur‘ des Kaiserreichs [. . .] von Malerei und Architektur, Theater und Wissenschaft in den letzten Jahren spürbar in Gang gekommen ist, [. . .] klaffen noch deutliche Lücken, was den Wandel der populären Kultur, die Entstehung des Phänomens der Massenkultur in dieser Zeit einschließlich der Veränderung von Lebensformen und Lebensstilen angeht.32
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Diese Forderung wurde zwar in einzelnen Disziplinen und speziellen Projekten befolgt, in den Literaturgeschichten, Überblicksdarstellungen und Einführungen zur Literatur des Fin de Siècle hat dies bisher jedoch kaum einen Niederschlag gefunden.33 Immer noch erscheint die Forschung zersplittert, jedenfalls was die Vermittlung mit den spezifisch literaturgeschichtlichen Fragestellungen angeht. So sind die Frühgeschichte des Films wie andere Formen der populären Kultur gut erforscht (gerade im Rahmen einer ‚Filmphilologie‘), das Verhältnis bestimmter Autoren wie Schnitzler, Hauptmann oder Döblin zum Film wurde zum Gegenstand von Studien, die Betrachtung der literarischen Entwicklung vollzieht sich allerdings immer noch weitgehend ohne die Integration dieser Ergebnisse. Wie sich bündige Charakterisierungen des Fin de Siècle verbieten (obwohl diese Zeit immer wieder als fest umrissene ‚Epoche‘ in Studienplänen und Einführungen auftaucht), so bleiben auch Periodisierungen unbefriedigend. Wenn man sie als Geburtsphase der kulturellen Moderne versteht, so muss zugleich ihre Verankerung im ‚langen‘ 19. Jahrhundert (Longue durée)34 mitbedacht werden – etwa angesichts des nachwirkenden Historismus. Der Beginn der ‚klassischen Moderne‘ in den verschiedenen Künsten wird allgemein an die Zeit des späten 19. Jahrhundert bzw. der Jahrhundertwende gekoppelt, auch wenn die Frühformen weit zurück reichen, auch Teile der Frühromantik tragen bereits Züge dieser Modernität: Unabgeschlossenheit, Krisenbewusstsein, Pluralität der Ausdrucksweisen und Stile, antimimetische Grundrichtung. Zugleich ist der Begriff nach wie vor nicht unumstritten und wird von weiteren kategorialen Versuchen überlagert, erweitert, konterkariert.35 Die Setzung von Eckdaten bleibt bis zu einem gewissen Grade willkürlich (wenn sie auch im Einzelfall gut begründet sein kann); in der Literaturwissenschaft sind immer wieder entsprechende Versuche unternommen worden. So ist bei Viering das Fin de Siècle „eine Übergangsphase, die mit der Abkehr vom Naturalismus um 1890 [. . .] beginnt und erst um 1910 mit dem Aufkommen des Expressionismus endet“36. Würffel in der Einleitung zum Handbuch Fin de Siècle versteht darunter „eine Epoche, welche die vorletzte Jahrhundertwende, den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, im Zentrum eines Zeitraums situiert, der sich von der Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs erstreckt“37; Kimmich/Wilke schreiben in der Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende (2006): „Die Entstehungs- und Erscheinungsjahre der Texte, die den Zeitraum ‚um 1900‘ in literarischer Hinsicht maßgeblich geprägt haben, legen es [. . .] nahe, sein Ende im Umfeld schon des Jahres 1910 zu verorten.“38 Auch für Fähnders in Avantgarde und Moderne 1890–1933 ist 1910 das Schlüsseljahr und Ende der Jahrhundertwende als literarischer Phase, mit dem eigentlichen Neubeginn durch die Formierung der expressionistischen Avantgarde.39 Der vorliegende Sammelband kann – schon von seinem Umfang her, aber auch auf Grund der Heterogenität und Offenheit des Gegenstandes – nicht den Anspruch erheben, auch nur annäherungsweise ein Gesamtbild des Fin de Siècle zu
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bieten. Er will stattdessen einige der anerkannt bedeutenden Autoren in den Vordergrund rücken, aber auch solche zeittypischen Aspekte, die in der kulturwissenschaftlichen Diskussion in jüngerer Zeit verstärkt thematisiert wurden: den Zusammenhang von Literatur und Psychologie/Psychoanalyse, großstädtische Zentren der Herausbildung von Modernität, den Anteil weiblichen Schreibens, die Bedeutung der entstehenden Unterhaltungskultur. Demgegenüber treten Fragen der Stilistik, der Gattungsbestimmung, der philosophisch-geistesgeschichtlichen Grundlagen (etwa die Lebensphilosophie), der verschiedenen ‚-Ismen‘ etwas zurück. Unverzichtbar erscheint freilich ein Abschnitt zur Décadence, die (etwa im ‚Renaissancismus‘) den literarischen Ausdruck der Jahrhundertwende deutlich geprägt hat. Bei den Autoren war – gemäß den Vorgaben der Reihe – eine Auswahl auf wenige unabdingbar, aber schwierig. Es ist nicht auszuschließen, dass hier persönliche Präferenzen des Herausgebers ins Spiel gekommen sind. Man könnte sich durchaus fragen, warum so wichtige Schriftsteller wie Stefan George oder Carl Sternheim nicht mit einem eigenen Beitrag bedacht wurden. Insgesamt gilt: Mit der Schwerpunktsetzung innerhalb dieses Buches sollte keine implizite Bewertung vorgenommen werden. Die Literatur der Jahrhundertwende wird getragen von einer Vielzahl von Autoren, die in ihrer Zeit nicht unbekannt waren, sondern auch in der Öffentlichkeit eine zentrale Rolle spielten, etwa Paul Heyse, viel gelesen und hoch gewürdigt, Max Halbe, Ernst von Wolzogen und Otto Julius Bierbaum, Initiatoren der ersten deutschen Kabarettversuche – oder auch Richard Dehmel, den seriöse Kritiker seinerzeit für den größten deutschen Lyriker der Epoche hielten. Die Wertungen haben sich geändert, und diese Namen sind aus der Erinnerung des Publikums geschwunden. Es sollte aber bedacht werden, dass sich die Jahrhundertwende in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit und in ihrem Reichtum erst dann erschließt, wenn man besonders diese Schriftsteller in das Gesamtbild mit einbezieht.
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Aus einer großen Zahl von Bildbänden und Schilderungen von Zeitgenossen sei herausgehoben Michael Epkenhans, Leben im Kaiserreich, Deutschland um 1900, Stuttgart 2012; als intensive Schilderung von Erziehungsprozessen der Zeit, Familiarität und Medien Michael Hagner, Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900, Berlin 2010, zu den populären ‚Kaiserfilms‘ Dominik Petzold, Der Kaiser und das Kino. Herrschaftsinszenierung, Populärkultur und Filmpropaganda im Wilhelminischen Zeitalter, Paderborn 2011. Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, München 2009. S. 12. Florian Illies, 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2012. So Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt/M. 2004, bes. S. 165ff. Ursula Link-Heer, „Le mal a marché trop vite.“ Fortschritts- und Dekadenzbewußtsein im Spiegel des Nervositäts-Syndroms, in: Wolfgang Drost (Hg.), Fortschrittsglaube und Deka-
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denzbewußtsein im Europa des 19. Jahrhunderts. Literatur – Kunst – Kulturgeschichte, Heidelberg 1986, S. 45–67, hier S. 46. Max Halbe, Jahrhundertwende. Geschichte meines Lebens 1893–1914, Danzig 1935, S. 208; vgl. Max Nordau, Entartung, 2 Bde., Berlin 1892/93. Hermann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne, Frankfurt/M. 1894, S. 11. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Silvio Vietta (Hg.), Lyrik des Expressionismus, Tübingen 1976, S. 11. Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. 7, Frankfurt/ M. 1979, S. 461–472, hier S. 465. Vgl. Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998. Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, hg. u. komm. v. Manfred Engel, Stuttgart 1997, S. 7f. Zur Begriffsgeschichte vgl. Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870– 1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende, München 1998, S. 121ff. Thesen der „Freien Litterarischen Vereinigung Durch!“, in: Das Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes. Wochenschrift der Weltlitteratur, Jg. 55 (1886), Nr. 51, S. 810. Ebd. Hermann Bahr, Die Moderne, in: Moderne Dichtung. Monatsschrift für Literatur und Kritik, Jg. 1 (1890), H. 1, S. 13–15, hier S. 14. Bahr, Die Moderne, S. 13f. Philip Ajouri, Rezension zu Sabine Haupt, Stefan Bodo Würffel (Hg.), Handbuch Fin de Siècle, in: Zeitschrift für Germanistik XIX – 3 (2009), S. 699–701, hier S. 700. Viktor Žmegacˇ , Zum literarhistorischen Begriff der Jahrhundertwende (um 1900), in: Viktor Žmegacˇ (Hg.), Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Königstein/Ts. 1981, S. IX–LI, hier S. IX; vgl. auch S. VII. Wolfdietrich Rasch, Aspekte der deutschen Literatur um 1900 (1967), in: Žmegacˇ (Hg.), Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, S. 18–48, hier S. 21. Rasch, Aspekte der deutschen Literatur um 1900, S. 39. Vgl. Jürgen Viering, Fin de siècle, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin 1997, S. 602–605, hier S. 604f. S. Mario Praz, Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik, München 1963; Jens Malte Fischer, Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche, München 1978. Viering, Fin de siècle, S. 602. Sabine Haupt u. Bodo Würffel, Hg., Handbuch Fin de Siècle. Ein Handbuch. Literatur, Kultur und Gesellschaft, Stuttgart 2008, S. XV (Vorwort). Vgl. Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900; Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004. Hans Richard Brittnacher, Ermüdung, Gewalt und Opfer. Signaturen der Literatur um 1900, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 1 (2000), S. 77–94, hier S. 78. Ebd. Ebd. Luca Crescenzi, Moderne und décadence um 1900, in: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, hg. v. Sabina Becker u. Helmuth Kiesel, Berlin 2007, S. 317–327, hier S. 317; zur Begriffsgeschichte S. 17f. Vgl. etwa Götz Großklaus u. Eberhard Lämmert (Hg), Literatur in einer industriellen Kultur, Stuttgart 1989; Thomas Kuchenbuch, Die Welt um 1900. Unterhaltungs- und Technikkultur, Stuttgart 1992 und die Studien von Harro Segeberg, Literatur im technischen Zeitalter. Von
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der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, Darmstadt 1997 sowie Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914, Darmstadt 2003. Paul Nolte, 1900: Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 281–300, hier S. 283. Nolte, 1900: Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts, S. 293. Etwa Philip Ajouri, Literatur um 1900, Berlin 2009; Dorothee Kimmich u. Tobias Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, Darmstadt 2006 (hier immerhin ein kurzer Abschnitt zu „Neue Medien, Photographie und Kino“, S. 25–29). Auch das Handbuch von Haupt und Würffel beschäftigt sich mit diesen Fragen nur am Rande. Zur Erforschung des frühen Films und der Populärkultur s. die in der Bibliographie genannten Arbeiten von Elsaesser, Heller, Kreimeier, Maase u. a. Vgl. Nils Freytag u. Dominik Petzold (Hg.), Das „lange“ 19. Jahrhundert. Alte Fragen und neue Perspektiven, München 2007. Zu Begriff und Entwicklung der künstlerischen Moderne vgl. Hellmuth Kiesel, Klassische Moderne? Überlegungen zur Problematik einer Epochenbezeichnung, in: Klassische Moderne. Ein Paradigma des 20. Jahrhunderts, hg. v. Mauro Ponzi, Würzburg 2010, S. 35–44; Hellmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004. Viering, Fin de siècle, S. 602. Stefan Würffel, Einleitung: Epoche – Politik – Kultur, in: Haupt u. Würffel, Handbuch Fin de Siècle, S. 1–47. Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 8. Vgl. Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890–1933, 2., aktualis. u. erw. Aufl., Stuttgart 2010, S. 124.
Galina Hristeva
‚Nervenkunst‘: Psychoanalyse und Literatur Einleitung Sensationen, nichts als Sensationen, unverbundene Augenblicksbilder der eiligen Ereignisse auf den Nerven – das charakterisiert diese letzte Phase, in welche die Wahrheit jetzt die Litteratur getrieben hat. Sie ist noch lange nicht am Extrem: wir werden, wenn sie nur erst das scheue Zaudern des ersten Versuches überwunden und sich ihre eigentliche Bedeutung recht zum Bewußtsein gebracht haben wird, noch gar wunderliche Dinge mit ihr erleben und können uns getrost darauf gefaßt machen, nächstens die obligaten 350 Seiten hindurch die sämtlichen Sensationen versetzt zu kriegen, welche eine Havanna auf den Nerven vollbringt und wie ihre Wirkungen sich von denen der grünen Chartreuse unterscheiden; bald wird sich jeder Kritiker einen Lebemann als Sachverständigen der Nervosität zur Seite halten müssen.1 Mit diesen Worten leitet Hermann Bahr 1891 in seinem Aufsatz Wahrheit! Wahrheit! programmatisch eine neue literarische Bewegung ein und lädt zum „jähen Kopfsprung in die neue Romantik, in das neue Ideal, ins Unbekannte, um das uns diese wilden Schmerzen verzehren“2 ein: Sie brauchen nur getrost das Nervöse zu betreten, mutig an den biegsamen Rand hinaus, und, kaum daß sie nur zögernd sich leise darauf wiegen, so schwingt es sich von selbst in den Traum hinab, tief in den Abgrund des göttlichen, seligen Traumes, wo nichts mehr von der Wahrheit, sondern nur Schönheit ist.3 Als Hermann Bahr diese Zeilen schreibt, ist das von ihm apostrophierte „Nervöse“, „eins der markantesten Phänomene der Zeit um 1900“4, im Leben der Menschen in Mitteleuropa schon längst da. Die von Bahr so emphatisch gefeierte Nervosität entwickelt sich zu einem der drückendsten Probleme der Moderne – „eine beunruhigende und quälende Erfahrung“5, die etwa von folgender Selbstaussage eines 21jährigen Patienten dokumentiert wird: „Ich sag’s Ihnen genau, ich bin verloren. Meine Nerven sind kaputt bis auf den Lebensnerv, und auch der ist im
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Absterben begriffen.“6 Auch der berühmte Psychiater Richard von Krafft-Ebing schreibt 1895 in seiner Schrift Nervosität und neurasthenische Zustände, „dass die Nervosität in fataler Weise um sich greift.“7 Zahlreiche ärztliche und literarische Zeugnisse aus dieser Zeit geben Aufschluss über die Ubiquität der Nervosität und über ihre Symptome: „Müdigkeit, Nervenschwäche, blasierte Skepsis“8, „Schwäche des Willens, mangelnde Aktivität, Abwertung aller Wirklichkeit und entfremdete Isolierung von ihr, gesteigerte Sensibilität, ferner die Abwendung vom Natürlichen und die Neigung zur Künstlichkeit [. . .]“9 sowie ein Gefühl der „Spätzeitlichkeit“10 und des „Krisenbewußtsein[s]“11. Als Auslöser der modernen Nervosität gelten in der Forschung die Industrialisierung und die Urbanisierung12, die „Reizüberflutung durch technische Beschleunigung und neue Medien“13, „die Überforderung des auf sich gestellten Individuums“14, der „Verlust der Bindungen und absoluten Gewißheiten und Werte [. . .]“15 sowie der „Dauerzustand diffuser Begierden“ und das „Hin-und-her-gerissen-Werden zwischen einer Vielzahl von Wünschen“, die der Historiker Joachim Radkau aus dem Wesen der kapitalistischen Wirtschaft ableitet16. Solche diffusen Krankheitsbilder geringerer Intensität wurden bisher in der Forschungsliteratur verstärkt analysiert, wobei die ‚Nervenkunst‘ auf die Empfindungen meist willensschwacher Individuen und auf ihre Suche nach immer „neue[n] Genüsse[n]“ und „Sensationen“17 reduziert wurde. Der traumatische Charakter ihrer Erfahrungen wurde weitgehend vernachlässigt, während sich der Blick hauptsächlich auf die Schwäche und die „Liebe zum Verfall“18 der beteiligten Akteure richtete: „Es sind fast immer Menschen von geschwächter Vitalität, verminderter Lebensenergie, gebrochener Willenskraft, erschlafften Nerven“.19 Übersehen wird dabei, dass die ‚Nervenkunst‘ der Jahrhundertwende auch Strategien des Überlebens und der Gegenwehr entwirft. Sie ist nicht nur Poetik der flüchtigen „Sensationen“, sondern auch Poetik des Traumas, welche auch Wege aus dem Trauma konturiert. Die von Nietzsche ausgehende Dichotomie von Vitalität und Dekadenz ist unfruchtbar und ist zu revidieren. Die Plage der modernen Nervosität rief eine Vielzahl von Erklärungs- und Therapiekonzepten auf den Plan, die im Kontext der für die Jahrhundertwende charakteristischen Tendenzen von „Ende und Neubeginn“20 und der Konkurrenz der Modelle und Konzepte21 zu situieren sind. Mit der Neubewertung des geläufigen und teilweise irreführenden Begriffs ‚Nervenkunst‘ soll auf zwei extreme Positionen erwidert werden: auf die Verwerfung der ‚Nervenkunst‘ als entartet bei Nietzsche, Nordau, Bartels u. a. sowie auf die Einschätzung dieser Kunst ausschließlich als ‚Ästhetik des Verfalls‘, die Nietzsches Position lediglich mit einem positiven Vorzeichen versieht.
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Zwischen Physiologie, Psychologie und Biologie – Friedrich Nietzsche und die ‚Nervenkunst‘ Nietzsche verstand sich als herausragender Diagnostiker der bürgerlichen Gesellschaft. Insbesondere in seiner Schrift Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem (1888)22 nahm er sich das „Labyrinth der modernen Seele“ vor und entlarvte die moderne Kunst am Beispiel von Wagners Musik als „Wille zum Ende“ und „grosse Müdigkeit“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 12): [. . .] Wagner’s Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärfern Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Principien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet (– eine Kranken-Galerie! –): Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lässt. Wagner est une névrose. (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 22) Nietzsche zeigt das Bild einer „sinistre[n] Wirklichkeit“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 26): Wagner „macht Alles krank, woran er rührt, – er hat die Musik krank gemacht.“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 21) Nietzsches höchst imposante Verfallsszenarien, seine Typisierungen und Generalisierungen haben eine enorme Suggestivkraft, welche die Verdammung der dekadenten Kunst der „müden Nerven“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 23) effektvoll forciert. Das ganze ingeniös aufgebaute Netz rhetorischer Gesten in dieser Schrift – z. B. die Anreden an den Leser, die polternde, gewalttätige Sprache – versperrt jedem Versuch einer kritischen Überprüfung der Thesen des Autors den Weg. In der Pose eines allmächtigen Richters und Anklägers donnert Nietzsche gegen die moderne Nervosität. Seine sich in Form medizinischer Diagnosen äußernden Urteile sind Invektiven und Stigmata – so sei die moderne Kunst der Nerven auf „Charakterverfall“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 26) zurückzuführen. Nietzsche pocht stets auf seine psychologische Kompetenz, zieht jedoch nur die alte ätiologische Erklärung der Nervosität als „Ausdruck physiologischer Degenerescenz“ und das Verdikt „Hysterismus“ heran (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 27). Dabei begnügt sich der Autor nicht mit der Analyse von Richard Wagners Dekadenz, einer ohnehin dürftigen Analyse, die mit Sätzen wie „Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt“ auftrumpft (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 27), sondern überträgt seine Diagnosen auch auf Wagners Anhänger, die er mit dem Blick des Physiologen taxiert: „Sehen Sie doch diese Jünglinge [die Wagnerianer] – erstarrt, blass, athemlos!“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 29) Dagegen setzt Nietzsche die „Halkyonier“ und ihr Kunstideal: „la gaya scienza; die leichten Füsse; Witz, Feuer, Anmuth; die grosse Logik; den Tanz der Sterne; die übermüthige Geistigkeit; die Lichtschauder des Südens; das glatte Meer – Vollkommenheit . . .“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 37) Nietzsche drängt zu einer energischen Abrechnung mit Wagner, den er aufgrund einer dunklen und diffusen Phy-
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siologie der Instinkte verurteilt (so sei Wagner „nicht Musiker von Instinkt“ gewesen – Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 30), und mit der dekadenten Kunst: „Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser décadent uns die Gesundheit verdirbt – und die Musik dazu!“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 21) Als therapeutischen Ausweg fordert der Autor „die Rückkehr zur Natur, Gesundheit, Heiterkeit, Jugend, Tugend!“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 16) Nietzsche hat zwar die Widersprüchlichkeit des modernen Menschen erkannt, seine überschwängliche „Diagnostik der modernen Seele“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 53) trägt aber nicht weit. So zeigt Horst Thomé, dass Nietzsche für die „zeitgenössische Diskussion“ charakteristische Begriffe wie Nervosität, Neurasthenie und Hysterie unterschiedslos verwendete.23 Die Forschung tendiert trotzdem dazu, Nietzsche eine erstaunliche und allumfassende Kompetenz zuzuschreiben wie in folgender Aussage von Renate Müller-Buck: „N. wird als Psychologe auch zum Biologen und Physiologen.“24 Was Nietzsches wissenschaftliche Kompetenz bei all seinem Kokettieren mit der Wissenschaft anbelangt, erinnert Thomé an die leicht zu übersehende Tatsache, dass ziemlich fragwürdig ist, „daß ihn die ‚Bahnhofsbuchhandlung von Sils Maria‘ fortwährend mit der neuesten medizinischen Fachliteratur versorgt hat.“25 Nietzsches Verurteilung der modernen Kunst erwies sich aber als äußerst fruchtbar bei der Diskreditierung der „Überreiztheit der nervösen Maschinerie“ (Nietzsche, KSA, Bd. 6, S. 23) der „modernen Seele“ und ihrer ‚Nervenkunst‘ als Kunst der „Entartung“.
Sigmund Freuds Entwurf einer Psychologie als ‚Nervenkunst‘ Nietzsche profitierte vom außerordentlichen Prestige der Physiologie, der „Königin unter den Naturwissenschaften“26, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die menschlichen Sinne und Empfindungen sowie die Nerven rückten schnell in den Mittelpunkt des Interesses dieser Wissenschaft. Die Nerventätigkeit wurde insbesondere mit Energie in Zusammenhang gebracht, wie dies etwa von einer brillanten Rede Ewald Herings Über die spezifischen Energien des Nervensystems (1884) belegt wird. Unterstrichen wurden vor allem die integrative Kraft, die Leistungsfähigkeit und die Regulationsmechanismen des Nervensystems. Sigmund Freud – ein Schüler des berühmten Physiologen Ernst Brücke – beginnt seine Schrift Entwurf einer Psychologie (1895)27 mit der programmatischen Absicht, Physiologie und Psychologie zu verbinden und „psychische Vorgänge [. . .] als quantitativ bestimmte Zustände“ der Neurone „anschaulich und widerspruchsfrei“ aufzuzeigen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 387). Die Neurone werden von Freud mit einer Energiemenge, der „fließenden Quantität“ Q, ausgestattet (Freud, GW, Nachtragsband, S. 388). Sie unterliegen dem Prinzip der Trägheit, weil sich jedes Neuron „[der] Q zu entledigen trachtet“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 388). Zwar zieht der Autor einige physiologische Begriffe und mechanis-
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tische Vorstellungen heran (Siebe, Triebfedern, Schirme usw.), er setzt sich jedoch bald über den „neurophysiologischen Reduktionismus“28 hinweg. Die auf den ersten Blick strenge wissenschaftliche Diktion wird von einigen der damaligen Neurophysiologie nicht geläufigen, von Freud erfundenen physiologischen Begriffen29 und von Bemerkungen wie derjenigen über die „Not des Lebens“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 390) mehrmals durchkreuzt. Durch die anschauliche Darstellung der Neurone und durch die lebendige Argumentationsweise entsteht das Bild eines komplexen, subtil gebauten, hoch organisierten und fein abgestimmten Nervenapparats, so dass von einem „Klappern der [Neuronen]Maschine“ im Entwurf einer Psychologie30 nicht die Rede sein kann. Die beeindruckende Feindifferenzierung der Nervenzellen in f-, y- und w-Neurone soll die „[steigende] Komplexität des Inneren [des Organismus]“ demonstrieren (Freud, GW, Nachtragsband, S. 389). Das scheinbar klare und harmonische Bild des Nervensystems, das „aus distinkten, gleich gebauten Neuronen besteht“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 390), wird aber immer wieder getrübt und gebrochen, wenn Freud die Gefährdung und sogar das „Versagen“ dieses Systems beschreibt (Freud, GW, Nachtragsband, S. 399). In solchen Fällen wird das Nervensystem personifiziert: „Hiermit ist das Nervensystem gezwungen, die ursprüngliche Tendenz zur Trägheit [. . .] aufzugeben. Es muß sich Vorrat von Qή gefallen lassen, um der Anforderung der spezifischen Aktion zu genügen.“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 390) Das Nervensystem wird in die Defensive gedrängt: „Durch die Not des Lebens gezwungen, hat das Nervensystem sich einen Qή Vorrat anlegen müssen.“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 393) Auffallend ist auch Freuds Kommentar vom „zwiespältigen Bau“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 391) des Nervensystems, der im Kontrast zu den Vorstellungen der zeitgenössischen Physiologie steht, etwa seines Mentors Josef Breuer, für den das Nervensystem „ein durchaus zusammenhängendes Ganzes“ ist31. Der „Not des Lebens“, der später in Freuds Schriften häufig auftauchenden Göttin Ananke32, widmet der Autor in seiner neurophysiologischen Schrift ebenfalls beeindruckende Zeilen: „Aus letzterer Verpflichtung ergab sich ja durch die Not des Lebens der Zwang zur weiteren biologischen Entwicklung.“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 395) Die prekäre Stellung der Neurone zwischen „Reize[n] von außen“ und endogenen Reizen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 395) kommt ebenfalls deutlich zum Vorschein. Die Außenwelt ist für Freud mit „großen Energiequantitäten“ ausgestattet, die „aus mächtigen, heftig bewegten Massen“ bestehen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 397). Dass diese „mächtigen Massen“ die feinen und zarten Strukturen des Nervensystems bedrohen, liegt auf der Hand. Demnach werden Kategorien wie „der Eindruck“ und die „Macht eines Erlebnisses“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 393) für Freud relevant. Die Vielschichtigkeit des von Freud im „Schreibfieber“33 entworfenen Bildes des Nervensystems wurde von einigen Forschern anerkannt: So beschreibt Sulloway Freuds Entwurf einer Psychologie als ein „Mosaik von Gedanken, Ansätzen und höchst ehrgeizigen wissenschaftlichen Bestrebungen“34, und Zvi Lothane
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würdigt den Text ebenfalls als „a multifaceted work“35. Siegfried Bernfeld bezeichnete Freuds früheste Theorie insgesamt als „anspruchsvoll“ und als ein weites Feld, das über das bloße „Abreagieren aufgestauter Affekte“ in beträchtlichem Maße hinausgeht36. Mark Solms und Michael Saling hingegen untersuchen den Text lediglich im Licht der Neurophysiologie, unterstreichen den fiktiven Charakter der meisten Konzepte, z. B. der Systeme f, y und w37, und sprechen daher dem Entwurf einer Psychologie den Rang einer neurologischen Schrift ab: „A brief analysis of the major constructs contained in the Project will illustrate that it is not a neurological model at all.“38 Was ist Freuds Entwurf einer Psychologie aber dann? Die tiefgründige Auseinandersetzung mit der Funktionsweise der Nerven und mit dem „Nervösen“ sowie der phantasievolle Charakter dieser Schrift, der besonders von Zvi Lothane betont wurde, machen den Entwurf einer Psychologie zu einem Meilenstein des zeitgenössischen Nervendiskurses und zu einem eindrucksvollen Dokument der zeitgenössischen ‚Nervenkunst‘. Der Autor führt hier nicht nur eine qualitative, subjektiv-emotionale Ebene ein, sondern lässt auch den „Nervenmenschen“ entstehen – jenen Menschen des Übergangs, der „im Schnittpunkt von Medizin, Physiologie, Psychologie, Literatur und Kunst steht“39. Indem er ein neues, dynamisches Verhältnis zwischen Psyche und Physis entwarf und sich radikal von der charakteristischen Bindung der Neurophysiologie an die Probleme des Bewusstseins und der willentlichen Aktion entfernte40, näherte sich Freud an die moderne Literatur und an die von Hermann Bahr geforderte „Mystik der Nerven“41 an. Kennzeichnend für die Auslotung der Tiefe, in der „die Nerven“ angesiedelt werden, ist etwa folgende Äußerung: „Die sensible y Leitung ist nämlich in eigentümlicher Weise gebaut, sie verzweigt sich fortwährend und zeigt dickere und dünnere Bahnen, welche in zahlreichen Endstellen ausgehen [. . .]“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 407). Mystisch muten sowohl die Natur von Q42 als auch der ungeklärte Status der „endogenen Leitungen“ an, „jene[r] Bahnen, auf welchen endogene Erregungsquantitäten aufsteigen [. . .] Dann ist aber y auf dieser Seite den Q schutzlos ausgesetzt [. . .]“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 408). Noch wichtiger ist Freuds ausdrücklicher Hinweis, dass unser Bewusstsein „von den bisherigen Annahmen – Quantit[äten] und Neuronen – nichts weiß [. . .]“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 400). Die für Hermann Bahr und die Literatur der Jahrhundertwende so zentralen Empfindungen sind in Freuds Entwurf einer Psychologie ebenfalls ein Hauptthema. Wie die Autoren der literarischen ‚Nervenkunst‘ unterstreicht auch Freud die „Flüchtigkeit des Bewußtseins“ und der Empfindungen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 402). Anders als im literarischen Diskurs aber sind Empfindungen für den Naturwissenschaftler Freud bewusst und nur „Qualitäten“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 401), deren unbewusste Quantität erst zu erschließen ist. Im Mittelpunkt der von Freud analysierten Empfindungen steht im Entwurf einer Psychologie der Schmerz, das „Hereinbrechen großer Q nach y“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 399), bei dem die Schutzmechanismen von f und y ver-
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sagen: „Der Schmerz setzt das f wie das y System in Bewegung, es gibt für ihn kein Leitungshindernis, er ist der gebieterischeste aller Vorgänge.“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 399) Der Schmerz ist ein sehr umfassendes Phänomen, das sowohl aktuelle und äußere traumatische Erlebnisse als auch Erinnerungsbilder einschließt und das Dauerschäden verursachen kann: „In y hinterläßt er nach unserer Theorie, daß Q Bahnung [. . .] macht, wohl dauernde Bahnungen, wie wenn der Blitz durchgeschlagen hätte [. . .]“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 400). Wünsche – die kontinuierliche „Summation“ von Erregung in Psi (Freud, GW, Nachtragsband, S. 414–415) – können auch Schmerz auslösen und traumatisierend wirken. Mit solchen Ideen begründet Freud im Entwurf einer Psychologie seine viel diskutierte und später besonders in Jenseits des Lustprinzips weitergeführte Traumatheorie. Die Bewältigung der Schmerzerlebnisse, denen das Nervensystem ausgesetzt ist, erfolgt durch die Entladung der traumatisierenden Q im Affekt oder durch „reflektorische“ Tätigkeit (Freud, GW, Nachtragsband, S. 415), bei der das Ich die Besetzung von schmerzerregenden Vorstellungen abzieht. Gegen die von Ernst Mach und Hermann Bahr entworfene und für die Literatur der Jahrhundertwende charakteristische „Diskontinuität“ des Ich43 errichtet Freud bereits im Entwurf einer Psychologie seine neurophysiologisch fundierte und psychologisch motivierte Instanz des Ich – „eine Gruppe von Neuronen [. . .], die konstant besetzt“ und eine „Organisation“ ist (Freud, GW, Nachtragsband, S. 416), welche durch „Hemmung“ der Primärvorgänge (Freud, GW, Nachtragsband, S. 417) sowie durch die Ausschaltung schädlicher Erinnerungsbilder und Wünsche dem Nervensystem Stabilität und Kohärenz verleiht. Für den Fall, dass das Ich selbst „in Hilflosigkeit und Schaden“ gerät und halluzinatorische Bilder mit „realen“ Objekten verwechselt, führt Freud das durch die w-Neurone gelieferte „Realitätszeichen“ ein (Freud, GW, Nachtragsband, S. 420), welches dem Ich die Übereinstimmung der inneren Bilder mit der Realität signalisiert. Freuds Entwurf einer Psychologie präsentiert das Subjekt im Griff der Nervosität und in der Krise. Obwohl es nicht allmächtig ist, verarbeitet das Ich die bedrohlichen Q-Mengen von außen und von innen, kontrolliert den „Abfluß“ traumatischer Erinnerungen (Freud, GW, Nachtragsband, S. 415) und steuert das Nervensystem des Subjekts. Durch seine Urteilsfunktion und die Verbindung zur Realität setzt das Ich letztlich auch die „Mystik der Nerven“ außer Kraft und bringt Licht in die Tiefe des Nervenapparats.
Literarische ‚Nervenkunst‘ oder „wenn die entzügelten Nerven träumen“44 Wie Freud verband auch Hermann Bahr die Nerven mit den „Grenzen des Bewußtseins“45, als er schrieb: „jeder [seelische] Prozeß wird ganz auf den Nerven und in den Sinnen vollzogen und das Bewußtsein wird erst von dem Resultate
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verständigt, wenn es bereits entschieden und unwiderruflich ist.“46 Er verlangt eine neue Methode der Darstellung „alles dieses Wunderlichen und Seltsamen in uns“, das sich „vor der Schwelle der Besinnung“ vollzieht47. Hermann Bahr formuliert das Programm einer „neuen Psychologie“ des „neuen Menschen“, der ganz aus „Nerven“ besteht: „Auf den Nerven geschehen [seine] Ereignisse und ihre Wirkungen kommen von den Nerven.“48 Er verkündigt die Abkehr von den „Sachenständen“ zu den „Seelenständen“49. Während Freud aber dem bewussten Denken noch weit gehende Kompetenzen einräumt und mit dem Ich eine urteilende, die „Seelenstände“ mit den „Sachenständen“ verbindende Instanz aufbaut, wertet Bahr die Vernunft ab50, drängt zur Verinnerlichung und fordert, sich dem „Befehl der Nerven“51 zu ergeben. Er erhofft sich eine „jubelnde Befreiung“, „wenn sich das Nervöse alleinherrisch und zur tyrannischen Gestaltung seiner eigenen Welt fühlt.“52 An die Stelle des Ich, das für Hermann Bahr „nichts als eine launische und gänzlich grundlose Fiktion [ist], die mutig weggeworfen werden muß“, sollen die „Sensationen“ treten, die einzige „zuverlässige und unwiderlegliche Wahrheit [. . .]“53. Die Bedeutung Hermann Bahrs für die Herausbildung einer neuen Literatur steht außer Zweifel.54 Man darf dabei aber auch Horst Thomés Warnung nicht vergessen, dass Bahrs „neue Psychologie“ keine „präfreudianische Psychologie des Unbewußten“ darstellt, wie von Michael Worbs angenommen.55 Zwar lässt sich auch bei Bahr wie in Freuds angeblich missglücktem Entwurf einer Psychologie die Verlegung der Psychologie in die Nerven56 feststellen, wobei die Nerven jetzt mit der Tiefe assoziiert werden. Dennoch verbleibt Bahr bei dem reinen Reiz-Reaktion-Schema, sein „nervale[s] Unbewußtes“ beschränkt sich auf „partialisierte Wahrnehmungen und diffuse Stimmungen“57, während sich bei Freud neben dem Ich bereits im Entwurf einer Psychologie auch das dynamische Unbewusste abzeichnet. Demnach ist Bahrs ‚Nervenkunst‘ zum einen bloß oberflächlich58 und zum anderen wird der moderne Mensch zum ohnmächtigen Sklaven seiner „Nerven“ degradiert: „Bei Bahr sind die Figuren vollends Getriebene, die nicht nur den Bedürfnissen ihrer ‚Nerven‘ ausgeliefert sind, sondern diese nicht einmal mehr deuten können.“59 Dass diese ‚tiefenpsychologischen‘ Defizite des Programmatikers Hermann Bahr für Arthur Schnitzler nicht gelten und dass Schnitzler Sigmund Freud näher steht als seinem Kollegen Hermann Bahr, wird im Weiteren zu zeigen sein. Schnitzlers psychodynamische Konzeption wurde von Horst Thomé als „durchaus originär“ gewürdigt60. Während Thomé aber seiner Zielsetzung entsprechend nur die „alltäglichen Lebenskontexte“ in Schnitzlers Texten untersucht61, soll hier der „extreme psychische Kasus“62 in Schnitzlers Erzählung Sterben (1894)63 unter die Lupe genommen werden. Wie in Freuds Entwurf einer Psychologie spielt in Sterben die psychische Grenzsituation ebenfalls eine zentrale Rolle: Im Sinne von Freuds Entwurf einer Psychologie tritt hier eine große Quantität Q – die traumatische Nachricht vom bevorstehenden Tod von Felix – an die Protagonisten heran und bedroht deren Integrität. Zudem werden in beiden Texten psychische und
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physiologische Prozesse eng korreliert. Schnitzlers Sterben verfolgt sowohl den physiologischen Prozess des Sterbens als auch den psychologischen Prozess des Umgangs mit dem Sterben, der auch Überlebensstrategien einbezieht. Um diese Prozesse zu entfalten, setzt Schnitzler nicht auf die sprengende, sofort zertrümmernde Wirkung des Traumas, sondern auf die kontinuierliche Traumatogenese und Traumaverarbeitung, die in der „Dämmerung“ des „Gartensalon[s]“ im Prater stattfinden (Schnitzler, ES I, S. 98) – einer Atmosphäre, die dem von Schnitzler favorisierten „Mittelbewusstsein“ entspricht und in der sich der Überlebenskampf abspielt64: Sie öffneten die Tür zum Gartensalon, in dem ein paar zurückgedrehte Gasflammen fauchten. Ein kleiner Kellnerjunge hatte schlummernd in einer Ecke gesessen. Er erhob sich rasch, beeilte sich, die Gashähne besser aufzudrehen, und war den Gästen beim Ablegen behilflich. Sie setzten sich in eine Ecke, in der es recht dämmerig und traulich war, und rückten ihre Sessel ganz nahe zusammen. Sie bestellten etwas zu essen und zu trinken, ohne lange zu wählen, und waren nun allein. Nur vom Eingange her blinkten die trübroten Laternenlichter. Auch die Ecken des Saales verschwammen im Halbdunkel. (Schnitzler, ES I, S. 100) Die erschreckende Nachricht enthüllt sich Marie nicht plötzlich: Sie betrachtet Felix, der ihr „blässer als sonst“ erscheint, sie bemerkt sein verändertes Verhalten (Schnitzler, ES I, S. 98). Der Übermittlung der erschreckenden Nachricht geht ein langes Vorspiel aus Verstellung („[. . .] versuchte er in sein Lächeln einen Ausdruck des Glückes zu legen“ – Schnitzler, ES I, S. 100), Verärgerung (Felix macht eine „ärgerliche Bewegung“ – Schnitzler, ES I, S. 100), weinerlicher Gereiztheit („sagte er mit fast weinerlicher Stimme“ – Schnitzler, ES I, S. 99) voraus. Schnitzler erfasst meisterlich das ‚Spiel der Nerven‘, die vielfältigen und diffusen Sensationen dieser quälenden Augenblicke. Dass bei Felix das Trauma bereits eingeschlagen hat und seine körperliche Signatur hinterlassen hat, wird daran erkennbar, dass die traumatische Nachricht von Marie an den Augen von Felix abgelesen wird, in denen es „schimmerte“ (Schnitzler, ES I, S. 101). Der von Felix sachlich vorgetragenen Mitteilung, dass er sterben wird, folgen Beschreibungen der psychischen und körperlichen Reaktionen der Protagonisten – sie schluchzen, weinen, Marie wird totenblass. Die Kommunikation erschöpft sich in kurzen, schreckerfüllten Ausrufen – „Felix, Felix“ und „Entsetzlich! Entsetzlich!“ (Schnitzler, ES I, S. 101) Vom Versagen der Sprache ist hauptsächlich Marie betroffen: „Sie konnte nicht sprechen, sie konnte nicht fragen.“ (Schnitzler, ES I, S. 101) Für ihre Zerrüttung finden die Protagonisten keine verantwortliche Instanz, was sich in der Unpersönlichkeit der Aussagen niederschlägt: „Etwas Kaltes und Entsetzliches schnürte ihr die Kehle zusammen, bis sie plötzlich aufschrie [. . .]“ (Schnitzler, ES I, S. 101). Die von Freud formelhaft als offene Größe formulierte Q – die das Individuum von innen und von außen bedrohende Energie –
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wird auch bei Schnitzler nicht konkretisiert, sondern potenziert: Sie ist das Unbegreifliche, Unfassliche und Grässliche, das hinter der traumatisierenden Nachricht steht. Viel stärker als Freud akzentuiert Schnitzler die Schäden, die durch das Trauma verursacht werden: „Sie aber, mit aufgerissenen Lidern, totenblaß, verstand nichts, wollte nichts verstehen.“ (Schnitzler, ES I, S. 101) Schnitzler entfaltet auch viel ausführlicher und eindringlicher die von Freud nur genannte „Macht des Erlebnisses“. Der Rest der Erzählung gibt den unterschiedlichen Umgang beider Protagonisten mit dem Trauma in einer aporetischen Situation wieder: Je mehr sie sich von jenem katastrophalen Abend im Prater entfernen und die traumatische Nachricht verarbeiten, desto mehr nähern sie sich dem Augenblick, der sie vernichten wird. Diese schreckliche Zeitspanne unter dem Druck der „für Schnitzlers Erzählkunst konstitutive[n] zeitliche[n] Limitierung65, in der die entsetzliche Wahrheit den Nerven der Protagonisten äußerste Anstrengung abverlangt und unterschiedliche Reaktionen auf das Trauma sowie unterschiedliche Bewältigungsmechanismen zutage fördert, beginnt bei Felix mit ‚vernünftigen‘ Überlegungen über den hohen Wert der Wahrheit und der Klarheit. Felix versucht, Angst und Entsetzen rational zu meistern. Daraus ergibt sich seine Entscheidung, den Rest der Zeit „so weise als möglich zu verleben“ (Schnitzler, ES I, S. 108). Marie hingegen sträubt sich mit aller Kraft gegen die traumatische Wahrheit und leugnet das Unabwendbare: „Du wirst nicht sterben, nein, nein [. . .]“ (Schnitzler, ES I, S. 103). Ihre Reaktionen gehen an der Realität völlig vorbei: „Was sagst du da? Ohne dich werde ich keinen Tag leben, keine Stunde.“ (Schnitzler, ES I, S. 102) Maries erdrückender Schmerz wird auf die Außenwelt projiziert: „Lebendiger war es um sie geworden, laut und hell. Wagenrasseln auf den Straßen, Pfeifen und Klingeln der Trams, das schwere Rollen eines Eisenbahnzuges auf der Brücke über ihnen. Marie zuckte zusammen. All dies Leben hatte mit einem Male etwas Höhnisches und Feindliches, und es tat ihr weh.“ (Schnitzler, ES I, S. 102) Entfaltet wird ein breites Spektrum verschiedener Wahrnehmungen und Empfindungen. So geht das ursprüngliche sprachlose Entsetzen und Ohnmacht gelegentlich in das weichere, aber immer noch sprachlose, nur durch Weinen artikulierbare „Gefühl unendlicher Angst“ über (Schnitzler, ES I, S. 104). Auffallend ist hier wieder die Unbestimmtheit, die an das Pronomen „es“ gebunden ist. Meint „es“ das Leben der Außenwelt oder ihr Inneres, das ihr wehtut? Alles ist unscharf, konturenlos, Innen und Außen verschmelzen im traumatischen Schmerz. Es kommt zu einer „Entgrenzung“ zwischen Subjekt und Umwelt, bei der die Landschaft „zur Chiffre für neue Seelenzustände“66 wird. Dem männlichen Protagonisten hingegen steht die Sprache in viel höherem Maße zur Verfügung, so dass er die prägnante Metapher der „Grenze“ formulieren kann, um „das Unbegreifliche“ zu fassen: „Ich hab’ mir alles wohl überlegt. Ja gewiß. Weißt du, wie so mit einem Male die Grenze gezogen war, sah ich so scharf, so gut.“ (Schnitzler, ES I, S. 103) Felix gelingt es am Anfang trotz seiner Erschütterung, zwischen sich und Marie und zwischen ihren beiden Schicksalen zu unterscheiden und ‚Grenzen‘ zu ziehen, weshalb er zu Marie
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sagt: „Ich muß gehen, und du mußt bleiben.“ (Schnitzler, ES I, S. 105) Diese Grenzbildung zwischen Subjekt und Objekt, die freudianisch gesprochen bei Felix noch vom Ich geleistet wird, ist ein Indikator für die noch relativ intakte Psyche des männlichen Protagonisten in diesem Stadium der Traumatogenese und eine der von ihm eingesetzten Strategien zur Abwehr des Traumas. Doch die Verschlechterung der körperlichen Symptome – Müdigkeit, Frösteln und Blässe – sowie die lange psychische Anspannung, die das erste Schocktrauma zusätzlich verstärkt und zu der auch das Beziehungsdrama hinzutritt, schwächen den Protagonisten. Zwar leuchtet immer wieder Hoffnung auf („War nicht alles ein böser Traum gewesen? Er selbst kam sich jetzt so gesund, so frisch vor.“ – Schnitzler, ES I, S. 105), aber der Text signalisiert mit Hilfe des Wechsels zwischen Morgengrauen und „hellichtem Tag“ (Schnitzler, ES I, S. 105) das zunehmende Schwanken der Gefühle und das Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Subjekt und der Realität. Die Reisen der Protagonisten sind Versuche der ‚Schmerzflucht‘, die sich für Felix allerdings als völlig überflüssig erweisen. Die Kahnfahrt auf dem See unter klarem Himmel, aber kurz bevor es zu regnen beginnt, verbindet einen „wunderbaren Frieden“ mit dem Gefühl der Bedrohung: „Auf der weiten, ruhigen Wasserfläche lagen leichte Nebel, und es schien, als stiege die Dämmerung langsam aus dem See empor, um sich allmählich gegen die Ufer hinzubreiten.“ (Schnitzler, ES I, S. 110) Der Versuch, „zum Philosophen“ zu werden (Schnitzler, ES I, S. 113), misslingt ebenfalls, und Felix’ Widerstandskraft bröckelt weiter. Seine Auseinandersetzung mit dem Trauma nimmt nun Formen an, die früher für Marie typisch waren. Beachtenswert ist wieder der Umgang mit dem unpersönlichen „es“. Jetzt charakterisiert auch Felix seinen Zustand mit Hilfe dieses Pronomens: „So wehrlos komme ich mir vor. Plötzlich überfällt es einen.“ (Schnitzler, ES I, S. 112) Das Es erscheint jetzt in Felix’ Aussagen sogar in substantivierter Form: „,Es‘ ist nicht von mir genommen. ‚Es‘ kommt immer näher, ich spüre es.“ (Schnitzler, ES I, S. 121) In seinem Schrecken will Felix Marie noch fester an sich binden, um die ‚Grenze‘ zu durchbrechen. Dieser Wunsch entsteht jedoch nicht aus einem Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern gerade aus der Entzweiung der Figuren. So sagt Felix auf der Kahnfahrt: „Ich habe nie geahnt [. . .] wie schön das alles ist.“ Marie erwidert: „Ja, es ist reizend.“ „Du weißt es ja nicht“, rief Felix aus. „Du kannst es ja nicht wissen, du mußt ja nicht Abschied davon nehmen.“ (Schnitzler, ES I, S. 114) Zu einem Genuss von Licht, Schönheit und Freiheit kommt es für Felix erst wieder auf einem Waldspaziergang ohne Marie (Schnitzler, ES I, S. 116). Die Entfremdung zwischen den beiden wirkt immer bizarrer. Das „nervöse Bedürfnis“ der Protagonisten, „viel miteinander zu sprechen“ (Schnitzler, ES I, S. 123) dient der Angstabwehr, die mit dem „Es“ zusammenhängt: „Es wurde ihnen immer ängstlich, wenn sie zu reden aufhörten.“ (Schnitzler, ES I, S. 123) Die „lächerliche Komödie“ (Schnitzler, ES I, S. 123) der Kommunikation der Figuren wird nun auch von „bösen Wort[en]“ und von etwas „Lauernde[m]“ belastet (Schnitzler, ES I, S. 127). Felix ist auch nicht mehr bereit, Marie „das kommende Elend zu erspa-
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ren“ (Schnitzler, ES I, S. 123), sondern überlegt Szenarien, wie er sie in den Tod mitreißen kann. Der Text demonstriert die allmähliche Zerrüttung der rationalen und der sittlichen Kraft von Felix (er kapituliert vor der „gräßliche[n] Angst vor dem Tode“ und erklärt männliche Tugenden wie Lächeln und Fassung für eine „Pose“ – Schnitzler, ES I, S. 144), seine moralische Desintegration im Zuge der Herausbildung eines neuen, bösartigen Willens, der sich zunehmend in inneren Monologen artikuliert und das ganze Ausmaß der durch das Trauma angerichteten Schäden enthüllt. Dieses boshafte Bewusstsein (siehe „schadenfrohes Lächeln“ – Schnitzler, ES I, S. 135) offenbart die Depersonalisation des Protagonisten und die fortschreitende Entwirklichung, bei der die „Umrisse“ verschwimmen (Schnitzler, ES I, S. 137)67, aber auch die neue Machtverteilung – nun erscheint dem sterbenskranken Felix die gesunde Marie als „Sklavin“ (Schnitzler, ES I, S. 135). Die destruktive Eigendynamik des Traumas hat Felix von einem Opfer in einen Täter verwandelt. Eine neue Einheit der Protagonisten ist nur im Würgegriff möglich. Bei Marie nimmt die Geschichte einen anderen Verlauf. Besonders am Anfang empfindet sie viel stärker als Felix „lähmende Angst“ (Schnitzler, ES I, S. 125) und die „Hoffnungslosigkeit“ der Situation (Schnitzler, ES I, S. 126). Als auch das Beziehungsdrama seine traumatisierende Wirkung zeigt, bemüht sie sich um „versöhnliche Milde“ (Schnitzler, ES I, S. 130). Doch während sich Felix immer mehr verschließt und zurückzieht, spürt sie die „erfrischende“ (Schnitzler, ES I, S. 144) Kraft der Luft und die Lockungen des „offene[n] Fenster[s]“ (Schnitzler, ES I, S. 145). Die Kerze symbolisiert im Text Felix‘ niederbrennendes Leben und das Schwinden seiner psychischen Integrität (Schnitzler, ES I, S. 105), das Fenster hingegen verweist auf Maries Drama aus Schmerz und Wunsch und auf ihre bevorstehende Befreiung, die in kleinen Schritten und unmerklich erfolgt. Der Schmerz verwandelt sich zuerst in ein „Gemisch von Angst und Gleichgültigkeit“ (Schnitzler, ES I, S. 145), um dann dem „Gefühl lebensfreudiger Gesundheit“ Platz zu machen (Schnitzler, ES I, S. 150). Zu dieser neuen Lebenslust kommt die Protagonistin trotz Angst, Schuldbewusstsein und Schmerz, ohne rationale Überlegung und ‚Realitätsprüfung‘ (vgl. „eine ausgesprochene Unlust, zu denken“ – Schnitzler, ES I, S. 145), ohne heroische Anstrengung. Die neu erwachte Lebensfreude berieselt sie „wie aus hundert Quellen auf einmal“ (Schnitzler, ES I, S. 150). Die Wiedergewinnung des Lebens erhält bei Schnitzler jedoch kein positives Vorzeichen: So wie das Trauma in Felix den Wunsch erweckt, Marie zu erwürgen, so weckt in ihr das wiedererwachende Leben den Wunsch, er möge sterben (Schnitzler, ES I, S. 170). Das Motiv des Grauenhaften und Grässlichen ist in Schnitzlers Darstellung des Traumas zentral, doch die von Wolfdietrich Rasch behauptete Vorliebe der Dekadenzliteratur für das Grauenhafte lässt sich hier nicht entdecken.68 Marie erwehrt sich des Grässlichen, und die Transformation des unbekannten, traumatisierenden Es in ein reales Subjekt am Ende des Textes, als ‚es‘ die konkrete Gestalt ihres Geliebten annimmt, indiziert die Überwindung des Grässlichen und die Rück-
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kehr zum Leben. Auch wenn ihr der Ausbruch nicht sofort gelingt – er wird zuerst nur in Gedanken durchgespielt („Über ihre Seele war eine so wonnige Ruhe gekommen, wie seit lange, lange nicht. Und dann sah sie die Gestalt, die sie selbst war, sich erheben und auf die Straße treten und langsam davon gehen. Denn nun konnte sie ja hingehen, wohin sie wollte.“ – Schnitzler, ES I, S. 170), sucht sie unter dem Druck ihrer Wünsche und nach Felix‘ Angriff wirklich das Freie und „rannte zur Türe“ (Schnitzler, ES I, S. 173). Marie landet in den Armen des ärztlichen Freundes und wird es womöglich schaffen, ihre psychische Stabilität zurückzuerobern, während „es“ für Felix „dunkel“ wurde (Schnitzler, ES I, S. 175). Bedenkt man, dass Schnitzler den Leser über die Diagnose der Krankheit von Felix völlig im Dunkeln lässt, erscheint die von Marie überwundene traumatische Belastung nicht wesentlich geringer als diejenige von Felix: Beide mussten sich im Reich der durch das Trauma „entzügelten Nerven“ bewähren, wobei er unterliegt und sie sich befreien kann.
Schlussbemerkungen Die Untersuchung der Texte Sigmund Freuds und Arthur Schnitzlers hat gezeigt, dass ‚Nervenkunst‘ nicht nur ein Schwelgen in „Sensationen“, nicht nur Ästhetizismus und „Mystik der Nerven“, sondern auch Traumatologie sein kann – die Darstellung und Analyse traumatischer Erlebnisse, die zur Zerreißprobe für die körperlichen und geistigen Kräfte der Protagonisten werden. Die untersuchten Texte präsentieren Situationen multipler Traumatisierung und Retraumatisierung durch die Außenwelt und durch innere Reize und profilieren Bewältigungsmechanismen, in denen neben der ‚morbiden‘ Schwäche auch die Widerstandskraft des Subjekts zutage tritt. Sowohl Freud als auch Schnitzler setzen sich über den fatalistischen Konnex zwischen den ‚Nerven‘ und der Entartung hinweg und erforschen aus dieser neuen Perspektive die Bedrohung des Individuums und die Möglichkeiten seiner Emanzipation und der „Rückgewinnung der lebenskräftigen Gesundheit“69. Während sich beide Autoren hauptsächlich auf die Symptome und die Reparaturprozesse konzentrieren, werden in den untersuchten Texten die Ursachen der Traumata sowie die Gründe für die unterschiedliche Widerstandsfähigkeit der Protagonisten nur unzureichend erschlossen. Die von Freud eingeführte Größe Q und das von Schnitzler immer wieder evozierte ‚Es‘, hinter denen das Trauma steckt – letzteres unterscheidet sich erheblich von dem im Kontext des Lebenspathos von Georg Groddeck entworfenen und von Freud später modifizierten Es70 – zeichnen sich durch Unbestimmtheit, Offenheit und Diffusion aus. Freud beschränkt sich im Entwurf einer Psychologie weitgehend auf die „Ökonomik der Nervenkraft“71 und wird erst in späteren Schriften den topischen und dynamischen Aspekt entwickeln, mit denen wichtige Ursachen nervöser Beschwerden expliziert werden können. Gegen die Gefahr der Desintegration des Subjekts
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schlägt Freud als Lösung die Stärkung des Ich vor, während Schnitzler seine Skepsis am integrativen Potenzial des Ich bekundet und dem ‚kathartischen‘ Abreagieren des Affekts wie in Maries Fall den Vorzug zu geben scheint. Worauf genau aber Maries Resilienz beruht und woher sie ihre Fähigkeit zur Abfuhr des traumatischen Affekts und ihre Ressourcen zur Überwindung des Traumas schöpft, bleibt ungeklärt und durch das Symbol des offenen Fensters nur angedeutet. Schnitzler beschränkt sich allerdings nicht auf die naheliegende Annahme, dass Marie die Situation nur kraft ihrer weiblichen Zähigkeit bewältigt, zeigt er doch, dass die Umstände der Traumatogenese auch eine Rolle spielen: So wird Marie noch vor der Übermittlung der traumatischen Nachricht allmählich in Angstbereitschaft versetzt, was ihren Reizschutz verstärkt und die spätere Bewältigung des Traumas erleichtert. Felix hingegen bringt durch frühere neurotische „Launen“ (Schnitzler, ES I, S. 100) eine Disposition mit, die für die Traumabewältigung ungünstig ist. Ob aber die Disposition zur Neurose als männliche Eigenschaft zu verstehen ist, bleibt unklar. Anders als bei Nietzsche und Bahr lassen sich bei Schnitzler und Freud Entgrenzungseuphorie und Einheitsvisionen vermissen. Erinnert sei hier besonders an die Pathologizität der Entgrenzung im traumatischen Schmerz bei Marie sowie der Entgrenzung während der traumatischen Desintegration bei Felix. Als moralisch bedenklich problematisiert wird von Schnitzler auch die lebenspathetische Allverbundenheit, die Marie aus der Krise führt. Infolge der Überwindung der Degenerationshypothese loten die Texte verstärkt die „soziale Dimension“ der Krankheit72 aus. Freuds Modell weist schon im Entwurf einer Psychologie eine intersubjektive und zugleich moralisch konnotierte Komponente auf, wenn er die „fremde Hilfe“ durch ein „erfahrenes Individuum“ (Freud, GW, Nachtragsband, S. 410) bei der Überwindung der „anfänglichen Hilflosigkeit“ des Menschen betont (Freud, GW, Nachtragsband, S. 411). Diese Aussage nimmt die Rolle des Psychoanalytikers vorweg, eines „Sachverständigen der Nervosität“, der den Patienten bei der Verarbeitung der ihn bedrängenden Bilder, Assoziationen und „Sensationen“, bei der Stärkung seines Ichs und bei der Ziehung von Trennlinien zwischen Innen- und Außenwelt unterstützt. Schnitzler führt in Sterben zwar ebenfalls ein Zweipersonen-Drama auf, doch sein skeptischer Blick richtet sich viel stärker auf den Egoismus, die Aggressivität und die Machtstrukturen, die durch das Trauma entfesselt werden. Wie die ‚Heilung durch das Ich‘ ist für Schnitzler auch die Heilung durch Liebe und gegenseitiges Vertrauen nicht möglich.
Anmerkungen 1
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Hermann Bahr, Wahrheit! Wahrheit! in: Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, hg. v. Claus Pias, Weimar 2004, S. 120–127, hier S. 126f. Bahr, Wahrheit! Wahrheit! S. 127. Ebd.
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Philip Ajouri, Literatur um 1900, Berlin 2009, S. 20. Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998, S. 13. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 102. Zit. nach Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004 [= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IX, 2], S. 34. Wolfdietrich Rasch, Fin de siècle als Ende und Neubeginn, in: Roger Bauer et al. (Hg.), Fin de siècle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1977, S. 30–49, hier S. 31. Rasch, Fin de siècle, S. 34. Rasch, Fin de siècle, S. 35. Horst Thomé, Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle, in: York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus: 1890–1918, München 2000 [= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 7], S. 15–27, hier S. 20. Dorothee Kimmich u. Tobias Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, Darmstadt 2006, S. 19. Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918, S. 34. Wolfdietrich Rasch, Die literarische Décadence um 1900, München 1986, S. 122. Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 122–123. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 22. Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 66. Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 31. Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 38. Vgl. Wolfdietrich Raschs Titel Fin de Siècle als Ende und Neubeginn. Vgl. dazu Thomé, Modernität und Bewußtseinswandel. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, hg. v Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlinork 1980 (Im Folgenden zit. als KSA). Horst Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993, S. 201. Renate Müller-Buck, Psychologie, in: Nietzsche Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, hg. v. Henning Ottmann, Stuttgart 2011, S. 509–514, hier S. 510. Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 200. Emil Du Bois-Reymond, Der physiologische Unterricht sonst und jetzt, Berlin 1878, zit. nach Philip Sarrasin u. Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998, S. 24. Sigmund Freud, Entwurf einer Psychologie, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud et al., Frankfurt/M. 1999, Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885–1938, S. 373–486. Frank J. Sulloway, Freud – Biologe der Seele. Jenseits der psychoanalytischen Legende, KölnLöwenich 1982, S. 181. Vgl. Mark Solms u. Michael Saling, On Psychoanalysis and Neuroscience: Freud’s Attitude to the Localizationist Tradition, in: International Journal of Psychoanalysis (1986), H. 67, S. 397–416, hier S. 400. Vgl. Mai Wegener, Neuronen und Neurosen. Der psychische Apparat bei Freud und Lacan. Ein historisch-theoretischer Versuch zu Freuds Entwurf von 1995, München 2004, S. 21. Siegfried Bernfeld, Freuds früheste Theorien und die Helmholtz-Schule, in: Siegfried Bernfeld u. Susanne Cassirer Bernfeld, Bausteine der Freud-Biographik, hg. v. Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt/M. 1981, S. 54–77, hier S. 60.
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Vgl. etwa Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band XIII, S. 3–69, hier S. 47. Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fliess 1887–1904, hg. v. Jeffrey Mousaieff Masson, Frankfurt/M. 1986, S. 147. Sulloway, Freud – Biologe der Seele, S. 184. Zvi Lothane, Freud’s 1895 Project: From Mind to Brain and Back Again, in: Annals of New York Academy of Sciences (1998), H. 843, S. 43–65, hier S. 63. Siegfried Bernfeld, Freuds früheste Theorien und die Helmholtz-Schule, S. 76. Solms u. Saling, On Psychoanalysis and Neuroscience, S. 401. Solms u. Saling, On Psychoanalysis, S. 400. Kimmich u. Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 79. Solms u. Saling, On Psychoanalysis and Neuroscience, S. 402. Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, in: Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 128–133, hier S. 130. Vgl. Solms u. Saling, On Psychoanalysis and Neuroscience, S. 400: Qή ist „undefined and unmeasurable“, also keine neurophysiologische Kategorie. Vgl. Horst Thomé, Kernlosigkeit und Pose. Zur Rekonstruktion von Schnitzlers Psychologie, in: Klaus Bohnen et al. (Hg.), Fin de siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext. Text & Kontext. Sonderreihe, Bd. 20, München 1984, S. 62–87, hier S. 63. Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 133. Bahr, Die neue Psychologie, in: Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 89–101, hier S. 99. Ebd. Ebd. Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 132. Hermann Bahr, Die Krisis des Naturalismus, in: Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 61–66, hier S. 62. Vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 28. Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 131. Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 132. Bahr, Wahrheit! Wahrheit! S. 126. Vgl. etwa Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 30. Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 400; Michael Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1983, S. 80–85. Vgl. Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, S. 94. Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 409. Vgl. Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 421: „Die Sprache Bahrs stößt so gar nicht zu den ‚Gefühlen in den Nerven‘ vor.“ Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 431. Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 610. Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 646, Anm. 148. Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 645. Arthur Schnitzler, Die Erzählenden Schriften. Erster Band, Frankfurt/M. 1961 (fortan als ES I zitiert). Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 639. Thomé, Autonomes Ich und „inneres Ausland“, S. 649.
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Helmut Koopmann, Entgrenzung. Zu einem literarischen Phänomen um 1900, in: Fin de Siècle, hg. v. Bauer et al., S. 73–92, hier S. 75. Vgl. Rasch, Die literarische Décadence um 1900, S. 203 über die „Entwirklichung“ bei Schnitzler. Vgl. Rasch, Die literarische Décadence um 1900, Kap. 10, S. 95–98. Rasch, Fin de siècle, S. 45. Vgl. Georg Groddeck, Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin, Frankfurt/M. 1989 sowie Sigmund Freud, Das Ich und das Es, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Band XIII, S. 237–289. Freud, Briefe an Wilhelm Fliess, S. 130. Michaela Perlmann, Arthur Schnitzler, Stuttgart 1987, S. 141.
Cornelia Pechota
Frauen und Frauenliteratur In der Übergangszeit, als die sich das Fin de Siècle verstand, begannen Frauen verschiedenster Herkunft ähnlich der Arbeiterschaft nach Mitteln und Wegen zu suchen, um sich aus einer Situation der Macht- und Rechtlosigkeit zur Selbstbestimmung durchzuringen. Hatte der Kampf einzelner Frauen gegen ihre Unterdrückung im deutschen Vormärz bereits emanzipatorische Prozesse eingeleitet1, so lernten die Frauen in Deutschland um 1900 mit etwas Verspätung gegenüber Frankreich, den USA und England im Kollektiv zu denken und zu handeln, was zur Entstehung der ersten deutschen Frauenbewegung führte. Hatte die im Zuge der Industrialisierung verfestigte Rollenteilung der Geschlechter dem Mann die Außenwelt zugewiesen, während sich der weibliche Wirkungskreis auf den häuslichen Bereich beschränkte, so steckten sich die Frauen nun neue Ziele und erhoben Anspruch auf Öffentlichkeit, um die Gesellschaft in ihrem Sinne zu verändern. Zwischen der Idee einer weiblichen Kulturmission und dem Wunsch nach sexueller Selbstbestimmung ermutigten sie sich gegenseitig zur Artikulierung von Forderungen, die im Diskurszusammenhang des Fin de Siècle ihren Platz fanden.2 So unterschiedlich ihre Positionen gegenüber der sogenannten Frauenfrage auch sein mochten, teilten die meisten den Wunsch nach höherer Bildung und Berufstätigkeit als Voraussetzung für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Die Herausbildung einer spezifischen Frauenliteratur um 1900 kann als Parallele zum Aktivismus gewertet werden, der sich in der Frauenbewegung entfaltete und der weibliche Fantasien mit dem Schritt über die Schwelle spielen ließ. Die wichtigsten Bürgerrechte wurden den Frauen noch verweigert und die Bildung junger Mädchen war so rudimentär, dass sie in ihren Entscheidungen von der Wertskala ihrer Eltern abhängig blieben. Riskierten sie daher viel, wenn sie im realen Leben konventionelle Fesseln sprengten, so bot ihnen die Schrift die Möglichkeit, ihre Ansprüche in weiblichen Figuren zu spiegeln und ihre bisherigen Rollen zwischen Autobiografie und Fiktion kritisch zu beleuchten. Die politischen Forderungen der Frauenbewegung, die einen bürgerlich-gemäßigten, einen bürgerlich-radikalen und einen sozialistischen Flügel umfasste, wurden in fiktionalen Werken selten direkt thematisiert, doch kann die ‚radikale‘ Helene Stöcker als politische Vertreterin ihrer dichtenden Zeitgenossinnen betrachtet werden. Was sie ihnen anbot, war eine Neue Ethik unter nietzscheanischen Vorzeichen. Ihrem
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Sammel-Band Die Liebe und die Frauen (1906) liegt folgende Forderung zu Grunde: Aller Fortschritt der Menschheit vom Urmenschen bis zu Nietzsche soll allen zugute kommen. [. . .] Ich finde, der Mann muß unser Leben so gestalten wollen, daß er den Fluch, ein Weib zu sein, ohne allzu großes Entsetzen auch über sich selbst verhängt sehen könnte!3 Wagten mutige Frauen wie Stöcker den Schritt in die politische Arena, so griffen jene, die öffentliche Kundgebungen eher scheuten, lieber zur Feder, um ihre unbefriedigende Wirklichkeit literarisch zu brandmarken oder imaginär zu korrigieren. Der defensive Umgang mit dominanten Vorstellungen von Weiblichkeit treibt in zeitgenössischen Werken von Frauen hybride Blüten, die zwischen tradierten Werten und der Utopie einer Neuen Frau jene Ambivalenz sichtbar machen, die das Fin de Siècle generell kennzeichnet. Die literarisierte Kritik reicht von zaghafter Hinterfragung der bürgerlichen Lebenswelt zu offener Rebellion und kann – wie in Helene Böhlaus Roman Halbtier! (1899)4 – sogar zum Männermord führen, was eine versöhnlichere Haltung in späteren Werken nicht ausschließt. Dort wo Schriftstellerinnen wie Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé oder Franziska zu Reventlow die weibliche Problematik auf familiale Strukturen zurückführen, verschmilzt die Gattung des Bildungsromans, der die Reifung einer Figur in den Mittelpunkt stellt, mit dem Modell des Freud’schen Familienromans, der dem Bedürfnis entspringt, die Bande mit den Eltern zu modifizieren oder neue Konstellationen zu erfinden. Die Suche nach neuen Vorbildern weist Vätern oft eine wegweisende Rolle zu, während sich bürgerliche Mütter nur selten zur Identifikation anbieten.5 Bringen die dargestellten Töchter selbst ein Kind zur Welt, so verzichten sie indes vermehrt auf den Beistand des Erzeugers, was in autobiografischen Romanen zu einer Heroisierung der Mutterrolle führt.6 Die stark engagierte Dohm, die sich mit spitzer Feder als Pamphletistin einen Namen machte, bringt ihre Forderungen als Roman-Autorin in gemilderter Form zum Ausdruck. Ihrer erfolgreichen Familien-Triologie Schicksale einer Seele (1899), Sibilla Dalmar (1896) und Christa Ruland (1902) schickt sie indes das nietzscheanische Motto Werde, die du bist! voraus, das sie auch als Titel für eine Erzählung wählte und das weibliche Emanzipation jenseits der jeweiligen Handlung postuliert.7 Der pindarische Imperativ „Werde, der du bist“, den Nietzsche für die junge Louise Salomé bereits feminisierte8, kann tatsächlich als utopische Zielsetzung der meisten Texte verstanden werden, die Frauen in der Umbruchszeit der Jahrhundertwende verfasst haben. Zahlreich sind jene, die in implizitem oder explizitem Bezug auf Nietzsches „Umwertung aller Werte“ nach einer neuen weiblichen Stimme suchten, wobei sie über die allgemein als frauenfeindlich eingestuften Äußerungen des Philosophen meist hinwegsahen oder sie als Gesellschaftskritik interpretierten. Neben den bisher genannten Schriftstellerinnen geben sich auch die Historikerin Ricarda Huch und die Sozialdemokratin
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Lily Braun als Rezipientinnen des Philosophen zu erkennen9, und die Dichterin und Übersetzerin Isolde Kurz zollt dem „stille[n] Prophet[en] und Umwerter der Werte“ in ihren Florentinischen Erinnerungen einen bewundernden Tribut.10 So sehr sich Frauen durch ihre Nietzsche-Lektüren auch zum Widerstand ermutigt fühlten, bleibt das tragische Scheitern der Heldin Agathe in Reuters Roman Aus guter Familie (1895)11 doch symptomatisch für die kulturellen Hindernisse, die Frauen als ‚Umwerterinnen‘ zu überwinden hatten. Ihrem problembewussten Schreiben entsprechend gestaltete sich die Rezeption ihrer Werke, da sie die zeittypischen Ängste vor der décadence als Vermännlichung der Frau und Verweiblichung des Mannes schürten.12 Wohl erschlossen sich die schreibenden Frauen einen breiten LeserInnen-Kreis, doch zogen sie durch ihre öffentliche Präsenz als ‚Mannweib‘ oft jene Gift-Pfeile auf sich, die auch die Juden zu spüren bekamen. „Die Frauen sind eine Macht in unserer Literatur geworden; gleich den Juden begegnet man ihnen auf Schritt und Tritt“, bemerkte ein bedeutender Publizist bereits 1859.13 Der Versuch, sich jenseits ihres geistigen Gettos einen Ort zu erkämpfen, war tatsächlich ein wichtiger Faktor in der Emanzipations-Geschichte beider Gruppen, die durch die Begegnung von Juden und Frauen im Umfeld der Psychoanalyse noch einmal ein gemeinsames Terrain fanden.14 Um die Brüche, Ambivalenzen und Differenzen bei schreibenden Frauen des Fin de Siècle sichtbar zu machen, sollen mit Lou Andreas-Salomé und Franziska zu Reventlow zwei ihrer Vertreterinnen näher vorgestellt werden, die auch heute noch faszinieren, und deren Werke uns in Neuauflagen zugänglich sind.15 Die beiden Frauen sind sich wohl nie persönlich begegnet, da Lou Andreas-Salomé während ihrer Münchner Zeit nicht in die Quartiere der Schwabinger Bohème vordrang, wo die entfesselte Gräfin ihr Wirkungsfeld gefunden hatte. Dennoch verband sie neben der gleichzeitigen Freundschaft mit Rainer Maria Rilke und Affinitäten zu Friedrich Nietzsche, Henrik Ibsen und Ludwig Klages eine individuelle Emanzipierung von ihrer Herkunftsfamilie, die viel Mut und einen unbändigen Wunsch nach Selbstverwirklichung voraussetzte. Charakteristisch für beide ist auch ihre Distanzierung zur Frauenbewegung, deren Forderungen sie aus einer ‚männlichen‘ Perspektive unterlaufen. In ihren Augen braucht die Frau für ihr Glück keine Gleichberechtigung, sondern die Anerkennung ihrer spezifischen Weiblichkeit, durch die sie dem Mann bereits mehr als ebenbürtig sei. Dass sie die Frauenbewegung als unangemessen ablehnten und sie nur ex negativo reflektierten, hinderte sie indes nicht daran, sich das öffentliche Interesse zu sichern. Ihre Befreiungs-Strategien, ihre Nähe zu den Großen der damaligen Geisteswelt und ihre Literarisierung weiblicher Wünsche zwischen zielstrebigem Aufbruch und erotischer Lebensfeier machten sie zu Ausnahme-Erscheinungen, zu denen Frauen wie Männer bewundernd aufschauten, wenn moralische Bedenken es ihnen nicht verboten. Heute haftet beiden der Ruf an, sich als Femme fatale durch zahlreiche Beziehungen zu bedeutenden Männern einen öffentlichen Status erworben zu haben. Ihre geistigen Leistungen geraten bei dieser Gewichtung leider meist aus dem Blick. Dabei hat Andreas-Salomé, die zu Lebzeiten immerhin ernst
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genommen wurde, als Dichterin und Essayistin vor allem in psychologischer Hinsicht Erstaunliches geleistet, während Reventlow, die als Ikone der sexuellen Befreiung in die Geschichte einging, durch die ironische Färbung ihres späteren Erzählstils eine Neuentdeckung verdient.
Lou Andreas-Salomé (1861–1937) Fatum – im griechischen Sinne des Wortes – ließ sie Schicksal werden für große Menschen. Fatum bestimmte ihr eigenes Schicksal durch große Menschen. [. . .] [S]tärkere, unmittelbarere Wirkung hat keine Frau der letzten 150 Jahre im deutschen Bereich ausgestrahlt als diese Lou von Salomé aus Petersburg. Kurt Wolff 16
Die in St. Petersburg geborene Lou Andreas-Salomé hat als Dichterin, Essayistin und freudianische Psychoanalytikerin ein umfangreiches Schrifttum in deutscher Sprache hinterlassen. Neben fiktionalen Texten, Korrespondenzen und kritischen Studien umfasst es etwa 130 publizierte Aufsätze und Rezensionen, in denen sie sich die Diskurse der Moderne und psychoanalytische Ideen aus ihrer persönlichen Sicht und Erfahrung anverwandelt. Der postum veröffentlichte Lebensrückblick (1951), der jede der wichtigsten Etappen ihrer Entwicklung als „Erlebnis“ oder „Erleben“ nachzeichnet, kann als erste Lektüre empfohlen werden.17 Das einleitende Kapitel, das unter dem Titel „Das Erlebnis Gott“ ihren frühen Glaubensverlust schildert, ist richtungsweisend für die wichtigsten Entscheidungen, die sie in ihrem außergewöhnlichen Leben traf, wie auch für die spätere „Grundempfindung unermeßlicher Schicksalsgenossenschaft mit allem, was ist“18, die sie in den Einflussbereich von Menschen ähnlicher Prägung führte. Beginnend mit dem holländischen Pastor Hendrik Gillot in St. Petersburg, der die Siebzehnjährige philosophisch schulte und ihr – an Stelle des schwer aussprechbaren russischen Vornamens Lolja – den Namen Lou gab, fand sie diese Menschen stets in einem avantgardistischen Kontext. Am bekanntesten sind ihre Beziehungen zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud, die aus ihren philosophischen, literarischen und psychoanalytischen Texten nicht wegzudenken sind. Dass es bei ihren Freundschaften mit innovativen Persönlichkeiten, die zum Zeitpunkt der ersten Begegnung noch nicht auf dem Gipfel ihres Ruhmes standen, um eine wechselseitige Beeinflussung ging, wird heute vermehrt wahrgenommen. Lou – der Gebrauch dieses Kürzels, das der Dichterin auch als Pseudonym diente19, ist politisch korrekt – brachte ihr eigenes Wissen und Verstehen in ihre Beziehungen ein, transzendierte neu erworbene Kenntnisse im Sinne ihrer persönlichen Weltanschaung und inspirierte ihre Partner nachhaltig. Der Rückblick auf ihre russische Kindheit steht bei Lou Andreas-Salomé im Zeichen eines persönlichen Gottes, dem sie alles erzählte, was sie tagsüber erlebte, bis ihr Vertrauen in seine Allmacht schwand, als er ihr eine Anwort schul-
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dig blieb. Lieh sie diesem Gott Züge ihres geliebten Vaters, der als geadelter Zarendiener Autorität und Charisma besaß, so fand sie nach dessen Tod einen jüngeren Gottersatz in Pastor Gillot, dessen unorthodoxe Predigten sie begeistert hatten. Ihm konnte sich die eigenwillige Ljola unterwerfen, da sein Unterricht, den sie als Privatschülerin genoss, einem Wissensdrang entgegenkam, der sie als Mädchen isolierte. Ihre bisherige Traumwelt ersetzte der Mentor durch Lektionen in Religionswissenschaft und Philosophie, die sie mit Texten von Kant, Leibniz, Schopenhauer und vor allem Spinoza bekannt machten, der lebenslänglich ihr geistiger Rückhalt blieb. Im Spiegel ihres autobiografischen Romans Ruth (1895)20 schildert Lou diesen Unterricht als Dressur eines begabten Wildfangs durch eine Art Pygmalion, der als Pädagoge zuletzt versagt, da er sich in sein ‚Werk‘ verliebt und es zur Frau begehrt. Der Lebensrückblick präsentiert die reale Erfahrung des projektiven Übergriffs durch Gillot als schockartiges Erlebnis, das der jungen Ljola noch einmal einen ‚Gott‘ raubte: Mit einem Schlage fiel das von mir Angebetete mir aus Herz und Sinnen ins Fremde. Etwas das eigene Forderungen stellte, etwas, das nicht mehr nur den meinigen Erfüllung brachte, sondern diese im Gegenteil bedrohte, [. . .] hob blitzähnlich den Anderen selber für mich auf.21 Als sich Lou nach dem verstörenden Heiratsantrag ihres Lehrers von ihm löste, fühlte sie sich reif genug, um Russland zu verlassen und im Ausland zu studieren. In Begleitung ihrer Mutter reiste sie 1880 nach Zürich, wo sie die bei Gillot erworbenen Kenntnisse für ein Hochschulstudium nutzen wollte. Die Zürcher Universität war damals eine der ersten Europas, die Frauen zum Studium zuließen. Als Hörerin der Fächer Theologie, Philosophie und Kunstgeschichte erntete Lou durch ihren Eifer und ihre gute Gesinnung das Lob ihrer Professoren. So beschrieb sie der seinerzeit bekannte Theologe Alois Biedermann als „ein Wesen ganz ungewöhnlicher Art: von kindlicher Reinheit und Lauterkeit des Sinns und zugleich wieder von unkindlicher, fast unweiblicher Richtung des Geistes und Selbständigkeit des Willens und in beidem ein Demant“.22 Aus gesundheitlichen Gründen musste Lou ihr Studium im darauffolgenden Sommer jedoch schon wieder aufgeben und in wärmere Gefilde ziehen, nachdem eine Kur in Scheveningen keine Besserung gebracht hatte. Im Frühjahr 1882 lernte sie in Rom bei der Alt-Achtundvierzigerin Malwida von Meysenbug die Philosophen Paul Rée und Friedrich Nietzsche kennen. Die beiden Freunde erblickten in der jungen Frau sofort eine Geistesverwandte, die ihnen als philosophisch versierte Denkerin ebenbürtig, wenn nicht überlegen war. Während Lou bis zu ihrer Eheschließung mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas im Jahr 1887 eng mit Paul Rée befreundet blieb, scheiterte die Beziehung zu Nietzsche an dessen Eifersucht, die seine Auserwählte, die er heiraten wollte, in ein kaltblütiges Monster verwandelte, was er später immerhin bereute. Nicht die Schülerin, die Nietzsche zu seiner geistigen Erbin bestimmte, sondern die unabhängige Denkerin, die ihre eige-
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nen Wege ging und unter teilweise schwierigen Umständen eine platonische Ehe führte, schrieb später das Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894), mit dem sie dem Freund nachträglich ein würdiges Denkmal setzte. Ihre phasenmäßige Einteilung seines Schaffens und ihre Erklärung des Philosophen durch den Menschen haben in der Forschung Schule gemacht. Hatte sich Lou von Nietzsche nicht vereinnahmen lassen, so mochte sein ambivalentes Verhältnis zur Emanzipation der Frau sie dennoch beeinflusst haben. Die biologistische Lobpreisung einer selbstgenügsamen weiblichen ‚Natur‘ in ihrem Essay Der Mensch als Weib (1899)23 zog die Kritik der streitbaren Hedwig Dohm auf sich, die sich veranlasst sah, der sonst sehr geschätzten Kollegin antifeministische Tendenzen anzulasten. Dabei wies sie jedoch auf eine Diskrepanz zwischen verschiedenen Kommentaren hin, die ihr ein eindeutiges Urteil erschwerten.24 Einige von Lous Stellungnahmen zur Frauenfrage erstaunen tatsächlich noch heute als Äußerungen einer Kosmopolitin, die sich selbst schreibend behauptete. Dass sie ihren Kolleginnen in den 1898 publizierten Ketzereien gegen die moderne Frau nahelegte, ihr Interesse auf den kreativen Prozess und nicht auf das Ergebnis zu richten – „Ungefähr so, wie man jauchzt und weint, ohne den eigenen Namen darunter zu schreiben“25 –, war für diese sicher keine Hilfe im Kampf um berufliche Anerkennung. Andererseits war Lou durchaus motiviert, den Kontakt mit engagierten Zeitgenossinnen wie Helene Stöcker, Helene Lange oder Rosa Mayreder zu pflegen, deren Hochachtung sie ihrerseits genoss. Der oft geäußerte Vorwurf, Lou sei nur ihre persönliche Emanzipation wichtig gewesen, während sie sich um die Probleme ihrer ‚Schwestern‘ nicht gekümmert habe, widerlegen auch ihre fiktionalen Werke, wo unterschiedliche Frauen-Typen oft ein selbstbestimmtes Leben suchen. Dort wo sie an inneren oder äußeren Widerständen scheitern, erscheinen sie dennoch erfolgreich, wenn sie, durch ihre Erfahrung gereift, ihr Schicksal annehmen. Die Entwicklung, die Lou ihren Heldinnen zugesteht, hat Theodor Heuß als intrapsychisches Wachstum mehr denn als Ausbruch treffend charakterisiert: „[E]s ist weniger das Losreissen von den Fesseln einer alt gewordenen Gesellschaft und Moral, auf das die Dichterin ihre Blicke lenkt, sondern die Emanzipation der Frauenseele aus ihrer eigenen inneren Gebundenheit.“26 Lous frühe Studie über Ibsens Frauengestalten (1892)27 ist in diesem Sinn emanzipatorisch, und auch die in einem Band veröffentlichten Erzählungen Fenitschka und Eine Ausschweifung (1898)28 illustrieren ein weibliches Ringen um Autonomie, da sie einer Akademikerin und einer Künstlerin erlauben, über kulturelle Zuschreibungen nachzudenken, die ihnen den Weg erschweren. Leicht macht es die Autorin auch ihren LeserInnen nicht, und die Feststellung ihrer intimsten Freundin Frieda von Bülow, dass man ihre Bücher „wieder und wieder lesen“ müsse, um deren „ganze Fülle [. . .] zu erfassen“29, gilt besonders für die Literarisierung der Frauenfrage in ihren Erzählungen. Die ungleiche Geschlechterbeziehung, die Lou in ihrem Roman Ruth scheitern lässt, präformiert die Figurenkonstellation, aus der sich in Fenitschka und Eine Ausschweifung ein Befreiungsprozess entwickelt. Auf Grund der autobiografischen Elemente in
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der Gestaltung eines weiblichen Bildungswegs kann die Erzählung Fenitschka geradezu als Fortsetzung von Ruth gelesen werden. Unter Bezug auf Lous Erfahrungen und Ansichten wird die fiktionale Russin in der Forschung oft erwähnt, um auf sexuelle Vorurteile zu verweisen, deren Hinterfragung die Gender-Diskussion auslöste. Im diskursiven Geschlechterkampf des Fin de Siècle wurden kulturelle Stereotypen besonders stark strapaziert, und es kam „zu einer überwältigenden Produktion von Weiblichkeitsbildern, als sässe auf der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert eine bedrohliche Sphinx, die nur demjenigen Eintritt in das Zeitalter der Moderne gewährt, der das Rätsel der Frau zu lösen vermag“.30 Ihre Einsicht in die beschränkende Wirkung geschlechtsspezifischer Zuschreibungen, mit denen schon die knabenhafte Ruth spielerisch umgeht, legt Lou in Fenitschka nicht der Titelheldin, sondern einem Mann in den Mund, der sie zwischen Typ (Madonna) und Gegen-Typ (Femme fatale) zu klassifizieren sucht, wobei er die Reduktion auf Klischees, die sich ihm unvermittelt aufdrängen, selbst zurückweist.31 Das Leib-Geist-Problem, das auch Fenitschka nicht löst, da sie sich als arrivierte Akademikerin am Schluss in eine ‚Revirginisierung‘ flüchtet, schlägt einen Bogen zum zweiten Text des Bandes, dessen Titel Eine Ausschweifung eine schuldbesetzte Emanzipation bereits impliziert. Die Ich-Erzählerin, die sich in Paris als Künstlerin erfolgreich durchsetzt, scheint hier zur Überzeugung zu gelangen, dass es dem „Weib“ auf Grund seiner psychosexuellen Beschaffenheit versagt bleibt, sich außerhalb seiner Liebe zum Mann auf befriedigende Weise zu verwirklichen. Die atavistischen Wünsche, die als dumpfe Sehnsucht nach „Sklavenseligkeiten“ mit ihrem Kunsttrieb konkurrieren, erklärt sie einem Freund, der selbst kein „ausübender Künstler“ ist: [W]ollte ich dir mein Leben erzählen, [würde] von der Kunst kaum mehr die Rede sein, und kaum würde sie ärmlichsten Raum finden, riesengroß aber müsste in den Vordergrund treten, was doch in meinem individuellen Bewusstsein kaum existiert und was mir selbst immer schattenhaft undeutlich geblieben ist.32 Die Unvereinbarkeit ihrer beruflichen Ziele mit der unterwürfigen Selbstaufgabe, zu der ihre Mutter noch bereit war, stößt Adine in ein Niemandsland zwischen neuen und althergebrachten Verhaltensweisen. Dabei bedrücken sie vor allem die moralischen Folgen ihrer „Ausschweifung“, die sie ihrem einstigen Verlobten definitiv entfremden werden. Während die Ich-Erzählerin für den libertären Umgang mit dem anderen Geschlecht bei jüngeren Mädchen Verständnis aufbringt, behaftet sie ihre eigene ‚Entfesselung‘ mit dem Stigma der Tragik. Gegenüber umstürzlerischen Ideen bewähren sich in Lous fiktionalen Werken oft bürgerliche Qualitäten, und die Befreiung, die sie ihren weiblichen Figuren gestattet, wird häufig durch einen Kompromiss erzielt. Lous nie vollzogene, aber lebenslängliche Ehe, in der sie selbst „eigenständig wie tragisch gebunden“ war, gibt dafür das autobiografische Muster ab.33 Anspruchsvoller zeigt sich Lou bei
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der literarischen Gestaltung von Heranwachsenden, die diese Problematik erst erahnen. Besonders anrührend sind in dieser Hinsicht die fünf Erzählungen, die sie unter dem Titel Im Zwischenland 1902 veröffentlichte.34 Die Adoleszenz russischer Mädchen wird darin aus einer einfühlenden Perspektive beleuchtet, die im Fin de Siècle ein Novum war. Durch ihre differenzierte Wahrnehmung seelischer Konflikte, die schon die zeitgenössiche Kritik lobte, gibt sich Lou in diesem Zyklus als prädestinierte Analytikerin vor Freud zu erkennen.35 Die Heldinnen, die zwischen kindlichen Träumen und kühnen Zukunftsvisionen ihr kreatives Potenzial beweisen und die Gesellschaft von Künstlern bevorzugen, illustrieren Lous theoretische Kommentare zur Verwandtschaft von Kind und Kunst.36 Reifen die Mädchen auch hier ihrer traditionellen Rolle entgegen, sind Erwachsene für sie doch nur nachahmenswert, wenn sie durch Kunst oder Dichtung „alle[n] Dinge[n] dieser Welt“ eine „Zuflucht“ bieten.37 Der Wunsch, Herkunft und Zukunft zu harmonisieren, den der ZwischenlandZyklus poetisch anklingen lässt, steht auch hinter Lous späterem Interesse für die Freud’sche Psychoanalyse, das sie im Lebensrückblick vor allem durch zwei Einflüsse motiviert: „das Miterleben der Außerordentlichkeit und Seltenheit des Seelenschicksals eines Einzelnen – und das Aufwachsen unter einer Volksart von ohne weiteres sich gebender Innerlichkeit“.38 Mit der erwähnten „Volksart“ verwies sie auf ihre eigene Kindheit in Russland, mit dem „Einzelnen“ auf den vierzehn Jahre jüngeren Rainer Maria Rilke, dessen Probleme sie auf die Verdrängung frühkindlicher Traumata zurückführte. Hatte Lou diese 1901 vielleicht reaktiviert, als sie den Freund nach der zweiten gemeinsamen Russland-Reise in einem trostlosen Zwischenland zurückließ39, so war dieser Bruch nicht definitiv, sondern erlaubte zwei Jahre später die Verwandlung ihrer anfänglichen Liebesbeziehung in lebenslängliche Freundschaft. Von der Muse, die den Dichter zwischen 1897 und 1901 entscheidend prägte, wurde Lou 1912 wieder zur Schülerin, die Freuds Lehre begeistert assimilierte, ohne ihre kreative Eigenart aufzugeben, durch die sie für Rilke eine wichtige Ansprechpartnerin blieb.40 Ihr dichterisches Schaffen hat die Begegnung mit Freud indes nicht gefördert, und es sind vor allem psychoanalytische Essays wie Narzißmus als Doppelrichtung (1921) oder Mein Dank an Freud (1931) sowie das Gedächtnisbuch für Rilke (1928), die danach besondere Beachtung verdienen.41 Interessant ist indes die Tatsache, dass ein fiktionaler Text wie Das Haus, den Lou 1904 schrieb, aber erst 1921 veröffentlichte42, bereits jene Probleme anklingen lässt, für die sie sich als Psychoanalytikerin besonders interessierte, wobei der Roman einen Lösungsansatz entwickelt, der erst nach Freud Geltung erlangte.43
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Franziska zu Reventlow (1871–1918) Sie war ‚the woman who did‘, und nachdem eine Gräfin das Zeichen gegeben, glaubten viele bürgerliche Bovarys, ‚es sei ja nichts dabei‘, und vergeudeten sich sinnlos. Oscar A. H. Schmitz44
Die in Husum als Fanny Liane Wilhelmine Sophie Adrienne Auguste Comtesse zu Reventlow geborene Schriftstellerin, die sich später Franziska zu Reventlow nannte, während sie ihre Werke unter dem Namen F. Gräfin zu Reventlow veröffentlichte und sich durch andere auch als Gräfin Fanny verewigen ließ, hat ihre Kindheit im Gegensatz zu Lou nie idealisiert. Die tiefen Wunden, die ihr ihre strengen Eltern – vor allem eine lieblose Mutter – und autoritäre Lehrpersonen zufügten, warfen lange Schatten auf ihr Leben, denen sie auch im erotisierten Milieu der Münchner Bohème nicht entkam. Reventlow war wie Lou bestrebt, ihren Horizont zu erweitern, doch war es nicht der Drang zum Studium, der ihren Aufbruch motivierte, sondern die Sehnsucht nach dem ‚eigentlichen‘ Leben und der brennende Wunsch Malerin zu werden. Die ‚sexuelle Revolution‘, als deren Wegbereiterin Reventlow noch immer gilt, war zwar ein wichtiger Bestandteil ihrer Befreiung45, doch adelte sie diese durch ihre vornehme Herkunft und ein zeittypisches Kunst-Ideal, das sie in der Malerei zu verwirklichen suchte. Dass sie gewillt war, vorerst ein Diplom als Lehrerin zu erwerben, stand mit diesem Ziel in Zusammenhang, sollte ihr die Wahl eines Brotberufs doch gestatten, unter Gleichgesinnten der Kunst zu frönen und so ihr Leben in Nietzsches Sinn zu rechtfertigen.46 Erst als sie eingesehen hatte, dass ihr zur Malerin nicht nur das Geld, sondern auch das nötige Talent fehlte, griff sie nach der Geburt ihres vaterlosen Sohnes ernstlich zur Feder. Dies mag u. a. erklären, warum sie das eigene Schreiben als inadäquaten Beruf darstellte, der ihr mehr Mühe als Freude bereitete. Ein Vergleich der Texte von Franziska zu Reventlow mit jenen von Lou AndreasSalomé lässt als verbindendes Element vor allem die bereits erwähnte Abneigung gegenüber den „Bewegungsdamen“ (Reventlow) erkennen, die mit dem Mann in Konkurrenz zu treten suchen.47 Als hätten sie voneinander abgeschrieben, heißt es 1899 bei Lou: „[W]ie selten haben Frauen ‚sich‘ gedichtet, – weder unmittelbar, noch mitteilbar, durch ein weibliches Kunstwerk über den Mann oder über die Welt, wie sie ihnen erscheint“48 und im gleichen Jahr bei Reventlow: „Künstlerisches Gefühl [. . .] ist [. . .] etwas, was sich bei der Frau noch eher findet wie überwiegendes Denken. Und doch, – was ist denn bis jetzt auf künstlerischem Gebiet von Frauen geleistet worden?“49 Trotz ihrer individualistischen Lebensplanung, die sie in männliche Domänen vordringen ließ, beharrten beide auf einer Geschlechterbinarität, in der Gleichwertigkeit nicht Gleichheit bedeutet, und erreichten wichtige Ziele, indem sie die Nähe bedeutender Männer suchten. Dem „Vatergesicht über [ihrem] Leben“50, das Lou Andreas-Salomé noch zwei Jahre vor ihrem Tod in Freud erblickte, entspricht bei Franziska zu Reventlow der Philosoph Ludwig Klages, der sie zu ihrem autobiografischen Roman Ellen
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Olestjerne ermutigte und ihr im Rückblick die „einzige Heimat“ war, die sie „jemals gefunden“ hatte.51 Durch ihre öffentliche Kritik am wilhelminischen Sittenkodex52, ihre Literarisierung weiblicher Sexualität und ihre Positivierung der ehelosen Mutterschaft leistete die Gräfin indes einen Beitrag zu Debatten, die auch die Gemüter der damaligen Frauenrechtlerinnen erhitzten. Dass ihre Forderung nach sexueller Selbstbestimmung in Einklang mit Helene Stöckers neuer Ethik stand, war für „the woman who did“53 eine Bestätigung, die sie gleichzeitig verspottete und begrüßte. Sie konnte sich „über die ‚Ethisierung‘ der freien Liebe genau so lustig mach[en], wie über die bürgerlichen Vorurteile“, doch kam es ihr auch „sehr gelegen [. . .], daß ihr haltloses Treiben durch das ‚Neue Ethos‘ [. . .] eine Deckung erhielt in den Augen mancher guten Familien, die nicht ‚zurückgeblieben‘ erscheinen wollten“.54 Die verschiedenen Rollen, in denen Reventlow ihr Selbst zu verkörpern suchte, und die für sie maßgebenden Beziehungen zu männlichen Geistesgrößen ihrer Zeit sind vielfältig genug, um eine objektive Einschätzung ihrer Persönlichkeit zu komplizieren. War Lou als Nietzsche-Interpretin, Essayistin und Dichterin bereits eine anerkannte Publizistin, als Rainer Maria Rilke sie 1898 in München kennen lernte, umgab die „heidnische Heilige“ (Klages), „Madonna mit dem Kind“ (Rilke) und jedenfalls „einzigartige [. . .] Frau“ (Mühsam)55 um 1900 eine Aura, die weniger ihren Werken als dem besonderen Zauber zugeschrieben wurde, den sie auf andere ausübte. Auch Rilke hat dieser Wertung zugearbeitet. Dem Auftrag, über Ellen Olestjerne eine Rezension zu schreiben, kam er nur zögernd nach, da der wahre Wert von Reventlows Leben für ihn darin bestand, „gelebt worden zu sein ohne Untergang“. Vielleicht, meinte er, verliere dieses Leben „zu sehr an Nothwendigkeit“, wenn es von dem erzählt werde, „der es gelenkt und gelitten ha[be], ohne doch daran zum Künstler geworden zu sein“. Jenes „Leichtsinns, der [ihm] nur wie ein glückliches Mimicry erschien, sich im Schweren unauffällig zu verlieren“, fand er das Buch voll, doch wirkte dieser für ihn nun „fast wie ein Anpassungsvermögen an das Oberflächlichste und Leichteste [. . .], an das fortwährende Vergnügen, aus dem nichts entsteht“.56 Die „Nothwendigkeit“ der Erzählung attestiert Rilke in seiner an die Titelfigur gerichteten Besprechung schließlich doch noch, indem er sie „jungen Mädchen und jungen Männern“ zur Lektüre empfiehlt. Eingedenk der Schwere und Einsamkeit, durch die das gelebte Leben das Buch übertraf, preist er dieses nun als „Ereignis“, das Ellens Geschichte für seine LeserInnen so fühlbar mache wie einst für „jene anderen die Nähe Ihres Schicksals [. . .], da es geschah.“57 Dass der Dichter junge Menschen anspornte, das Leben der Freundin nachzuahmen, mutet indes seltsam an, wenn man bedenkt, welchen Preis die enterbte, oft kranke und als Malerin erfolglose Frau, die im Alter von siebenundvierzig Jahren starb, dafür bezahlte. Dennoch scheint seine Interpretation in Reventlows Sinn gewesen zu sein, lag ihr doch der Kampf, den sie ihre Heldin ausfechten lässt, mehr am Herzen als der literarische Wert ihres Buches. Dies teilt sie einem jungen Leser mit, den sie ermutigt nie aufzugeben, „denn wir leben in einer Welt, gegen die man sich wehren muß bis aufs Blut“.58 Dabei verdient die
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Form des Romans durchaus Beachtung, da sie sich am Bezugsrahmen des Milieus orientiert, in dem Reventlow ein alternatives Lebensmodell suchte. Die diskursive Spannweite ihrer rückblickenden Selbststilisierung macht ihn zu einem wichtigen Zeitdokument, das heute nicht nur als Rekonstruktion biografischer Fakten verstanden wird.59 Den Bruch einer rebellischen Tochter mit ihrem aristokratischen Elternhaus zugunsten einer ungesicherten Existenz im Schwabinger Künstlerkreis präsentiert Ellen Olestjerne nicht, wie Rilkes erstes Urteil vermuten lässt, bloß als Folge von Leichtsinn und Vergnügungssucht. Am „Schnittpunkt zeitgenössischer Vielstimmigkeit und Stiltendenzen“ kombiniert der Roman den „Wille[n] zum ‚schönen‘ Leben“ mit „Leben für und als Kunst, Leben als uneingeschränktes Sichausleben, Lebensmystik, Ibsenverehrung und Nietzschekult, Kritik der Erziehung und Moral, Faszination durch die Bohème, fatalistische Schicksalsgläubigkeit, Problematik weiblicher Selbstverwirklichung und ledige Mutterschaft“.60 Bezieht Ellen die Argumente für ihre Rebellion aus dem heimlich besuchten „Ibsenklub“ sowie aus den Schriften der Sozialisten August Bebel und Ferdinand Lassalle, so legitimiert vor allem Nietzsche ihren Wunsch, aus familialer und gesellschaftlicher Enge in imaginäre Weiten zu gelangen. Die Heldin und ihr Lieblingsbruder Detlev, der Nietzsches Zarathustra nach Hause bringt, rezipieren das Buch mit rauschhafter Begeisterung: Sie bebten beide – der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter blauer Ferne – jedes Wort löste einen Aufschrei aus tiefster Seele, band eine dumpfe, schwere Kette los [. . .]. Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen – es war Offenbarung, letzte äußerste Erkenntnis, die mit Posaunen schmetterte – brausend, berauschend, überwältigend.61 Also sprach Zarathustra wird für die Geschwister „ihre Bibel, die geweihte Quelle, aus der sie immer wieder tranken und die sie wie ein Heiligtum verehrten.“ Nietzsches Aufruf zur Selbstbefreiung und Ibsens innovative Gestaltung weiblicher Lebenskrisen ‚weihen‘ schließlich den Weg der Heldin in die Münchner Bohème, wo sie als angehende Malerin und Praktikantin der freien Liebe in das heidnische Lebensgefühl ihrer männlichen Vorbilder einschwingt. Nach beruflichen und privaten Enttäuschungen, die ihren Kunst-Traum platzen lassen, bekennt sie sich als unverheiratete Frau zum Ideal der Mutter-Kind-Dyade, die einen Dritten ausschließt. „Mein Kind hat keinen Vater, es soll nur mein sein“62, schreibt sie in ihr Tagebuch. Ohne geistige Väter ist indes weder die ‚Geburt‘ des Romans noch die stilistische Erhöhung der Mutter-Rolle denkbar, in die sich die Heldin flüchtet. Förderte Klages die Produktion des Buches durch Ansporn, Trost und Bestätigung, so sanktioniert Nietzsche auf fiktionaler Ebene den von Ellen gewählten Ausweg. Zarathustras oft zitierte Reduktion der Frauenfrage auf ein biologisches Problem – „Alles am Weibe ist ein Räthsel, und Alles am Weibe hat Eine Lösung: sie heisst Schwangerschaft“63 – findet bei Reventlow eine posi-
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tive Resonanz, kommt es Ellen doch vor, „als ob mit dem großen Rätsel, das sich in [ihrem] Körper vollendet, auch all die andern Rätsel sich lösten . . .“.64 Aus der Nietzsche-Rezeption in Ellen Olestjerne geht bereits hervor, wie leicht es Reventlow fiel, sich männlichen Projektionen anzupassen, gegen die sie sich auch in ihrer Beziehung zu Klages erst spät zu wehren begann. Im Schwabinger Kreis der sogenannten Kosmiker um ihn, Alfred Schuler und Karl Wolfskehl verschwand ihre Persönlichkeit vorerst hinter der Hetären-Fantasie, die ihre Freunde aus Bachofens Mutterrecht ableiteten65 und deren modernisierte Form auch Reventlow zum weiblichen Ideal erhob. An Klages Seite fand sie als ‚Königin von Schwabing‘ Zugang zu der okkulten Runde, die Stefan George nahe stand und die ihre enthemmte Lebensweise sanktionierte: „Die Enormen, wie sich die Kosmiker nach Klages nannten, sahen sich als Eingeweihte, da sie sich selbst zu den wenigen zählten, die zum erotischen bzw. dionysischen Rausch noch fähig waren.“66 Wie sehr Reventlow an der Inkarnierung fremden Begehrens in oft parallel laufenden Partnerschaften dennoch litt, geht – vor allem im Hinblick auf Klages – aus ihren Tagebüchern hervor. Sie spiegeln die Zerrissenheit einer narzisstisch gestörten Frau, deren Liebesleben „nur vordergründig unkompliziert war, da es sich in überwiegend quälenden Beziehungsmustern äußerte“.67 Eine Waffe hatte die Gräfin aber in der Hand, die ihr erlaubte, sich im Rollenspiel der Geschlechter als Subjekt zu behaupten: die Ironie. Hatte sie durch Beiträge zur satirischen Wochenschrift Simplicissimus68 so wie zu anderen Publikationen schon früh versucht, sich über Witz und Persiflage zu profilieren, so erlaubte ihr die geografische und persönliche Distanz zum Münchner Kreis, die sie ab 1910 in der Schweiz gewann, Schwabing als „Wahnmoching“ – den Namen soll ihr Sohn erfunden haben69 – aus einer überlegenen Perspektive zu verspotten. Als geistreiche Chronistin der Bohème brilliert sie im Roman Von Paul zu Pedro aus dem Jahre 1912 und in Hern Dames Aufzeichnungen, die ein Jahr später erschienen.70 Ihre originelle Satire Der Geldkomplex, in der sie die Psychoanalyse und das finanzielle Fiasko ihrer Scheinehe mit einem baltischen Baron ironisiert, spielt dagegen auf ihre Zeit in Ascona an, wo sie die letzten Jahre ihres kurzen Lebens verbrachte.71 Die Schwabinger Texte, die wichtige Aspekte eines Zeitgeists in Erinnerung rufen, sollen abschließend vorgestellt werden. Möge ihre Würdigung zu einer Neubetrachtung des Reventlow’schen Schaffens anspornen. Die stilistischen Unterschiede zwischen Ellen Olestjerne und den Amouresken, die Reventlow in ihrem undatierten Briefroman Von Paul zu Pedro beschreibt, sind erheblich. Neben dem ironischen Ton, in dem sich hier eine Frau an einen „liebe[n] Freund“ oder „Doktor“ wendet, um verschiedene Liebhaber Revue passieren zu lassen, frappiert im Vergleich mit dem früheren Werk die überlegene Haltung der Ich-Erzählerin. Als begehrenswertes Objekt distanziert sich die Briefschreiberin vom Besitzanspruch der Männer, indem sie letztere gemäß der ihnen zugeordneten „Amouresken“ kategorisiert. Die „Päule“ stehen dabei für flüchtige Abenteuer, die sich stets wiederholen und ohne Konsequenzen bleiben,
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während die anderen Männer-Typen komplexere Verhaltensweisen auf den Plan rufen. Von Paul zu Pedro scheint der einzige Text der Reventlow zu sein, über den sich ein direkter Bezug zu Lou Andreas-Salomé herstellen lässt. Unter ihren zahlreichen Rezensionen findet sich auch eine über diesen Roman, die zu seiner Bewertung herbeigezogen werden kann.72 Woran Lou als Kritikerin Anstoß nimmt, ist die Tatsache, dass „der Frau im Briefbüchlein etwas Lebenswesentliches, worüber man sich selbst vergessen könnte, weder in- noch außerhalb des ‚Amourösen‘ aufgeht“.73 Während der Ich-Erzählerin bei den „gewollten und ungewollten Selbstaufdeckungen“ der Autorin die Rolle einer frivolen Buchhalterin ihrer Männergeschichten zu gefallen scheint, stört Lou eine „Liebesliteratur“, deren „Trivialität“ ein „dummes, ganz echtes Entzücken“ nicht zulässt.74 Was Lou übersieht, ist die Funktion dieser Trivialität in der subversiven Selbstinszenierung, die Reventlow etwa am „Retter“, an der „Begleitdogge“, am „Krawattenmann“, am „Dichter“ oder am „fremden Herrn“, festmacht: Sie dient der emanzipatorischen Umkehrung geschlechtsspezifischer Rollen, die ihr im realen Leben keineswegs gelang, die sie aber schreibend in eine ironische Form zwingen konnte. Was Klages als „Retter“, Rilke als „Dichter“ oder der Rechtsanwalt Albert Frieß als „fremder Herr“ für sie tatsächlich bedeuteten, ist darin nicht zu erkennen. Während Lou die „Liebesliteratur“ ihrer Kollegin nicht als Therapeutin beurteilt, sondern sie zu ihrem Nachteil an männlichen Werken dieser Gattung misst, verweist die Autorin des Romans auf den Versuch einer ‚Selbst-Heilung‘, wenn ihre Ich-Erzählerin feststellt, dass sich rückblickend „die tragischen und die heiteren, seriöse Dauersachen und flüchtige Minnehändel – wie sie sich nacheinander, nebeneinander und durcheinander abspielten“, „ganz von selbst zur schönsten Harmonie zusammen[finden]“.75 In Herrn Dames Aufzeichnungen erkannten schon Reventlows Münchner Freunde ein kulturelles Dokument besonderer Art. Dieses Buch, das den Kosmiker-Kreis persifliert, ist auf Grund seiner außerfiktionalen Bezüge noch immer ein wichtiger Schlüsselroman. Aus einer ironischen Perspektive beleuchtet es ein kurzlebiges, aber symptomatisches Phänomen des Fin de Siècle, das den Nährboden für unheilvolle Entwicklungen abgeben sollte. Die „beste Quelle, fast bis ans Tatsächliche heran, jedenfalls doch für Stimmung und Luft der Epoche“ nannte der jüdische Schriftsteller Karl Wolfskehl den Roman noch in seinem neuseeländischen Exil.76 Dass der „Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen“ in der Welt der Kosmiker unvermeidbar war, hat Schmitz in seinen Erinnerungen deutlich belegt77, und es ist denn auch ihre groteske Seite, die in den Aufzeichnungen zum Tragen kommt. Hier „lernt man dieses ‚Wahnmoching‘ kennen mit seinen Riten und Ekstasen, seiner Verstiegenheit und seiner Geheimsprache“, schreibt Erich Mühsam über Reventlows „ebenso liebenswürdige wie schonungslose Verhöhnung des reinen Ästhetentums, das sich zufriedengab, wenn es die großen Probleme der Menschheit in ein klingendes Wort und ein genießerisches Seufzen eingefangen hatte.“78 Der in Ascona erwachte Wunsch die „Enormen“ – vor allem Klages,
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Schuler und Wolfskehl – sowie den George-Kreis in einem Buch zu verspotten, veranlasste die inzwischen ernüchterte Reventlow, sich mit der kosmischen Weltanschaung gründlicher auseinanderzusetzen, als sie es in der Rolle der Hetäre getan hatte. Bei ihrem Projekt war ihr diesmal der jüdische Philosoph Paul Stern behilflich, der sich später den Nazis entzog, indem er sich das Leben nahm. Bevor Reventlow die „geistige Bewegung“, als die sich das exzentrische Schwabing einst ausgab, fiktional verwerten konnte, musste ihr Stern z. B. erklären, warum alles „mit Ur-„ und „ mit Blut“ für die Kosmiker so „enorm“ war.79 Reventlows distanzierte Karikierung von authentischen Menschen und Momenten aus der Sicht eines naiven Beobachters macht Herrn Dames Aufzeichnungen zu einem Roman, der an Unterhaltungswert bis heute nichts eingebüßt hat. Die eingewobene Kritik, die vor allem den Größenwahn und den Antisemitismus der Figuren Hallwig (Klages) und Delius (Schuler) trifft, ist dabei scharf genug, um die ethische Absicht der Autorin sichtbar zu machen. Ihr expliziter Wunsch, den „persönlichen“ Klages zu schonen80, schränkt dessen Abbild aber so weit ein, dass seine rassistisch getönte Metaphysik über die Aufzeichnungen hinaus einer kritischen Einschätzung bedarf.
Fazit Die Werke schreibender Frauen des Fin de Siècle, in denen sie ihre Suche nach neuen Daseinsformen spiegeln, enthüllen sich oft als ein gleichzeitig kühnes und beschwichtigendes Unterfangen, für das Lou Andreas-Salomé und Franziska zu Reventlow leuchtende Beispiele sind. Scheuten sich beide Schriftstellerinnen nicht, ihren Anspruch auf Freiheit und Selbstausdruck, der ihren Lebensstil bestimmte, literarisch zu formulieren, so verloren sie doch nicht eine maskuline Gesellschaft aus den Augen, von deren Gunst sie abhängig blieben. Der Wunsch, den Männern nicht zu missfallen, der ihre theoretische Argumentation oft beeinflusst, verbindet sich in fiktionalen Texten mit der weiblichen Angst vor Liebesverlust zu einem wichtigen Motiv. Die Umwertungen, die schreibende Frauen zwischen Respektabilität und Abweichung vornahmen81, blieben Arrangements mit der herrschenden Kultur, in der es sich auch als Ausnahme-Frau einzurichten galt. Viele Ziele, für die sich politisch aktive Zeitgenossinnen einsetzten, wurden um 1900 indes erreicht, und es waren die historischen Brüche im Kontext der beiden Weltkriege, die verhinderten, dass sich daraus eine literarische Neuorientierung ergab. Die Tatsache, dass sich Frauen- und Männerwelten inzwischen angenähert haben, verleiht Schriftstellerinnen heute Flügel, die Frauen im Fin de Siècle nicht zur Verfügung standen. Die Motivation ihrer Reflexions-Prozesse ist jedoch modern geblieben. Obwohl sich die ästhetischen Kriterien verändert haben, fühlen sich kreative Frauen noch immer zum Schreiben gedrängt, um sich aus einer inneren oder äußeren ‚Gebundenheit‘ zu lösen, indem sie sich sprachlich als Subjekt konstituieren.
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Vgl. dazu Frauenemanzipation im deutschen Vormärz, hg. v. Renate Möhrmann, Stuttgart 1978. Vgl. dazu Handbuch der Frauenbewegung, hg. v. Helene Lange u. Gertrud Bäumer, 5 Teile, Berlin 1901–1906; auf Mikrofiches, Erlangen 1996. Helene Stöcker, Die Liebe und die Frauen, Minden in Westf. 1906 (Essays aus den Jahren 1893–1905), S. 26. Vgl. Helene Böhlau, Halbtier!, hg. v. Henriette Herwig, Mellrichstadt 2004. Vgl. Cornelia Pechota Vuilleumier, ‚O Vater, laß uns ziehn!‘ Literarische Vatertöchter um 1900. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé, Hildesheim 2005. Vgl. Franziska zu Reventlow, Ellen Olestjerne (1903), in: Sämtliche Werke in 5 Bänden, hg. v. Michael Schardt, Oldenburg 2004, Bd. 1: Romane 1, S. 11–184; Gabriele Reuter, Das Tränenhaus, Berlin 1908/1909 (Neubearb. 1926). Vgl. Hedwig Dohm, Schicksale einer Seele, Berlin 2007; Hedwig Dohm., Sibilla Dalmar, Berlin 2007; Hedwig Dohm., Christa Ruland, Berlin 2007; Hedwig Dohm, Werde, die du bist, Berlin 2008. Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1986, Bd. 6, S. 247. Vgl. Ricarda Huch, Aus der Triumphgasse. Lebensskizzen (1902), Berlin 1996; Lily Braun, Memoiren einer Sozialistin, 2 Bde. (1909/1911), Berlin 1985. Vgl. Isolde Kunz, Florentinische Erinnerungen, München 1910, S. 246. Vgl. Gabriele Reuter, Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens, Studienausgabe, 2 Bde., hg. v. Katja Mellmann, Marburg 2006. Vgl. dazu als extremstes Zeugnis Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903), München 1980. Zum Zusammenhang von décadence und weiblicher Emanzipation vgl. Cornelia Pechota Vuilleumier, Väter in der Literatur von Frauen um 1900. Die décadence als Chance der Töchter, in: Entwürfe. Zeitschrift für Literatur 51: Vater, Zürich 2007, S. 65–70. Vgl. Robert Prutz, Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848–1858, Leipzig 1859, Bd. II, S. 252. Vgl. dazu Silvia Vegetti Finzi, Psychoanalyse und Feminismus, in: Lettre 1 (1988), S. 68–72; Sander L. Gilman, Freud, Race and Gender, Princeton 1993. Die Neuedition der Salomé’schen Werke ist im Gang und umfasst bereits mehrere Bände. Vgl. Lou Andreas-Salomé,Aufsätze und Essays: Von der Bestie bis zum Gott, Bd. 1: Religion, hg. v. Hans-Rüdiger Schwab, 2. Aufl., sowie weitere Bände, Taching am See 2010 etc., http:// www.medienedition.de/lou-andreas-salome/index.php?id=21; zu Franziska zu Reventlow vgl. Sämtliche Werke, Bde. 1–5. Kurt Wolff, Lou Andreas-Salomé. Ein Porträt aus Erinnerungen und Dokumenten, gesendet am 4. September 1963 im Bayerischen Rundfunk, in: Kurt Wolff. Ein Literat und Gentleman, hg. v. Barbara Weidle, Bonn 2007, S. 236. Vgl. Lou Andreas-Salomé, Lebensrückblick, 5. Aufl., Frankfurt/Main 1968 (TB-Aufl. 1974). Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 24. Besonders empfehlenswert unter den Biografien ist Lou Andreas-Salomé. ‚Wie ich dich liebe, Rätselleben‘, hg. v. Michael Wiesner-Bangard u. Ursula Welsch, 2. akt. Aufl., Leipzig 2008; forschungsmäßig aktueller sind die Biografien von Stephane Michaud, Lou Andreas-Salomé. L’alliée de la vie, Paris 2000, und Isabelle Mons, Lou Andreas-Salomé en toute liberté, Paris 2012. Vgl. Lous ersten, um eine Nietzsche-Figur zentrierten Roman Im Kampf um Gott (1885), den sie zu Ehren ihres Petersburger Mentors unter dem Pseudonym Henri Lou veröffentlichte.
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Vgl. Lou Andreas-Salomé, Ruth. Erzählung, hg. v. Michaela Wiesner-Bangard, Taching am See 2008. Vgl. Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 29. Brief Alois Biedermanns an Lous Mutter vom 7. Juli 1883, in: Andreas-Salomé, Lebensrückblick, S. 239. Vgl. Lou Andreas-Salomé, Der Mensch als Weib. Ein Bild im Umriß (1899), in: Die Erotik (1910), Frankfurt/M. 1992, S. 7–44; in: Lou Andreas-Salomé, Aufsätze und Essays: Ideal und Askese, Bd. 2: Philosophie, hg. v. Hans-Rüdiger Schwab, Taching am See 2010, S. 95–130. Hedwig Dohm, Reaktion in der Frauenbewegung, in: Die Zukunft, Bd. 29, Berlin 1899, S. 279–291, hier S. 280; in: Hedwig Dohm, Ausgewählte Texte, hg. v. Nikola Müller u. Isabel Rohner, Berlin 2006, S. 138. Vgl. auch Caroline Kreide, Lou Andreas-Salomé: Feministin oder Antifeministin? Eine Standortbestimmung zur wilhelminischen Frauenbewegung, New York 1996. Lou Andreas-Salomé, Ketzereien gegen die moderne Frau, in: Die Zukunft 7 (1898/99); in: Lou Andreas-Salomé, Aufsätze und Essays: Ästhetische Theorie, Bd. 3.2: Literatur II, hg. v. HansRüdiger Schwab, Taching am See 2012, S. 277–282. Theodor Heuß, Lou Andreas-Salomé, in: Der Kunstwart 21 (1.–15. Januar 1908), S. 11. Vgl. Lou Andreas-Salomé, Henrik Ibsens Frauen-Gestalten. Psychologische Bilder nach seinen sechs Familiendramen: Ein Puppenheim/Gespenster/Die Wildente/Rosmersholm/Die Frau vom Meere/Hedda Gabler, Berlin 1892 (Neuedition m. Kommentaren u. Nachw.v. Cornelia Pechota, Taching am See 2012). Vgl. Lou Andreas-Salomé, Fenitschka/Eine Ausschweifung, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1983. Frieda von Bülow, Neue Bücher, in: Vom Fels zum Meer, September-Februar 1902–1903, S. 474. Ortrud Gutjahr, Lulu als Prinzip – Verführte und Verführerin in der Literatur um 1900, in: Lulu, Lilith, Mona Lisa . . . Frauenbilder der Jahrhundertwende, hg. v. Irmgard Roebling, Pfaffenweiler 1989, S. 45. Andreas-Salomé, Fenitschka, S. 36. Andreas-Salomé, Auschweifung, S. 71–73. Vgl. das Nachwort von Ernst Pfeiffer in: Andreas-Salomé, Ausschweifung, S. 123–126, hier S. 124. Vgl. auch das F. C. Andreas gewidmete Kapitel im Lebensrückblick, S. 185–197, sowie das folgende Kapitel, S. 199–216. Vgl. Lou Andreas-Salomé, Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen, Stuttgart 1902. Kommentierte Neuedition in Vorbereitung. Vgl. Hermine von Hug-Hellmuth, Vom wahren Wesen der Kinderseele, in: Imago 3 (1914), S. 85–95. Vgl. Lou Andreas-Salomé, Kind und Kunst, in: Das literarische Echo, 1 (Oktober 1914), 17. Jg., Kol. 1–3; in: Andreas-Salomé, Aufsätze und Essays, Bd. 3.2, S. 270. Vgl. etwa den Schluss von Vaters Kind, in: Andreas-Salomé, Zwischenland, S. 183f., hier S. 183. Zu Lous auch zeittypischer Ambivalenz gegenüber weiblicher Kreativität und ihrer Überhöhung durch die Mutterschaft vgl. Britta Benert, Une lecture de ‚Im Zwischenland‘. Le paradigme de l’altérité au cœur de la création romanesque de Lou Andreas-Salomé, Brüssel 2011, S. 81–84. Andreas-Salomé, Das Erlebnis Freud, in: Lebensrückblick, S. 151. Zu Lous psychoanalytischer Schulung vgl. Lou Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/13 (1958), hg. v. Ernst Pfeifer, Berlin 1983. Vgl. Rainer Maria Rilke, Tagebücher aus der Frühzeit (1942), hg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber, Leipzig 1973, S. 346–348. Vgl. dazu Christiane Wieder, Die Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé. Ihr Werk im Spannungsfeld zwischen Sigmund Freud und Rainer Maria Rilke, Göttingen 2011.
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Vgl. Lou Andreas-Salomé, Narzißmus als Doppelrichtung, in: Lou Andreas-Salomé, Aufsätze und Essays: Mein Dank an Freud, Bd. 4: Psychoanalyse, hg. v. Brigitte Rempp u. Inge Weber, Taching am See 2012, S. 117–154; Lou Andreas-Salomé, Mein Dank an Freud, in: AndreasSalomé, Aufsätze und Essays, Bd. 4, S. 169–266; Lou Andreas-Salomé, Rainer Maria Rilke, Hamburg 2010. Vgl. Lou Andreas-Salomé, Das Haus. Eine Familiengeschichte vom Ende des vorigen Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1987. Vgl. dazu Cornelia Pechota, Kunst als Therapie in Lou Andreas-Salomés Roman ‚Das Haus‘. Die kreative Heilung im Lichte ihrer Narzissmus-Theorie, in: Ihr zur Feier: Lou Andreas-Salomé. Interdisziplinäres Symposium aus Anlass ihres 150. Geburtstages, Taching am See 2011, S. 75–98. Oscar A. H. Schmitz, Dämon Welt. Jahre der Entwicklung, München 1926, S. 274. Vgl. dazu Johann Albrecht von Rantzau, Zur Geschichte der sexuellen Revolution. Die Gräfin Franziska zu Reventlow und die Münchener Kosmiker, in: Archiv für Kulturgeschichte, hg. v. Fritz Wagner, Köln 1974, S. 394–439. Zu Friedrich Nietzsches Rechtfertigung des Lebens durch die Kunst vgl. Die Geburt der Tragödie, in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, Bd. 1, S. 47. Neben dem bereits erwähnten Essay Ketzereien gegen die moderne Frau von Lou AndreasSalomé vgl. Franziska zu Reventlow, Das Männerphantom der Frau (1898) und Viragines oder Hetären (1899), in: Sämtliche Werke, Bd. 5: Gedichte, Skizzen, Novellen, Sonstiges, S. 199–210 bzw. S. 210–220. Andreas-Salomé, Mensch als Weib, S. 107. Reventlow, Viragines, S. 216. Vgl. Lous Brief an Freud v. 4. Mai 1935, in: Sigmund Freud/Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1980, S. 227. Vgl. Reventlow, Sämtliche Werke, Bd. 3: Tagebücher, S. 361. Vgl. Franziska zu Reventlow, Erziehung und Sittlichkeit, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 220–226. Zuerst ersch. im Band des Münchner Kabaretts Die 11 Scharfrichter, hg. v. Otto Falckenberg, München 1900 (Bd. Nr. u. S. unb.). Vgl. Titelzitat. Schmitz, Dämon Welt, S. 275. Zu den verschiedenen Zuschreibungen vgl. Richard Faber, Männerrunde mit Gräfin. Die ‚Kosmiker‘ Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow. Mit einem Nachdruck des ‚Schwabinger Beobachters‘, Frankfurt/M. 1994, S. 11–13. Zur „Madonnenmutterverehrung“, die Rilke der Gräfin entgegenbrachte, nachdem sie 1897 ihren unehelichen Sohn Rolf zur Welt gebracht hatte, vgl. seinen Brief an sie (wohl Januar 1898), in: Rainer Maria Rilke, Briefe in 2 Bänden, hg. v. Rilke-Archiv, Bd. 2, Leipzig 1950, S. 4. Rainer Maria Rilke/Lou Andreas-Salomé, Briefwechsel, Frankfurt/M. 1989, S. 136f. Rainer Maria Rilke, Franziska Gräfin zu Reventlow, Ellen Olestjerne, in: Die Zukunft, Jg. 12, Nr. 21 (1904), S. 306f., hier S. 306; in: Schriften zu Literatur und Kunst, in: Kommentierte Ausgabe in 4 Bänden, hg. v. Manfred Engel et al., Frankfurt/M. 1996, Bd. 4, S. 555–558, hier S. 557. Brief an Maximilan Brantl v. Ende Februar 1904, in: Reventlow, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 438. Vgl. z. B. Karin Tebben, Franziska Gräfin zu Reventlow, Ellen Olestjerne (1903), in: Literarische Intimität. Subjektkonstitution und Erzählstruktur in autobiographischen Texten von Frauen, Tübingen 1997, S. 179–236, hier S. 179. Gisela Brinker-Gabler, Perspektiven des Übergangs. Suche nach dem Ich/Anderen, in: Gisela Brinker-Gabler., Hg., Deutsche Literatur von Frauen, 2 Bde., München 1988, Bd. 2, S. 185.
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Reventlow, Olestjerne, S. 73. Reventlow, Olestjerne, S. 178. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 4, S. 84. Reventlow, Olestjerne, S. 182. Vgl. Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur (1861), Frankfurt/M. 2003. Elke-Vera Kotowski, Feindliche Dioskuren. Theodor Lessing und Ludwig Klages. Das Scheitern einer Jugendfreundschaft (1885–1899), Sifria, Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 3, Berlin 2000. Wiebke Eden, ‚Das Leben ist ein Narrentanz‘. Weiblicher Narzißmus und literarische Form im Werk Franziska zu Reventlows, Pfaffenweiler 1998, S. 37. Vgl. etwa Das jüngste Gericht und Das allerjüngste Gericht (1897), in: Reventlow, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 77–86, bzw. S. 87–92. Vgl. ihren Brief an Franz Hessel v. 12. Juni 1912, in: Reventlow, Sämtliche Werke, Bd. 4: Briefe, S. 581. Vgl. Franziska zu Reventlow, Von Paul zu Pedro. Amouresken, in: Reventlow, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 185–251; Franziska zu Reventlow, Hern Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913), in: Reverntlow, Sämtliche Werke, Bd. 2: Romane 2, S. 9–112. Vgl. Franziska zu Reventlow, Der Geldkomplex, in: Reventlow, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 113–187. Zu Reventlows ökonomischer Verbindung mit dem baltischen Baron Alexander Rechenberg-Linten vgl. Ulla Egbringhoff, Franziska zu Reventlow, Reinbek b. Hamburg 2000, S. 110–126. Vgl Lou Andras-Salomé, Von Paul zu Pedro (1912), in: Die neue Generation 9, H. 10, S. 529–533; in: Aufsätze und Essays: Lebende Dichtung, Bd. 3.1: Literatur I, hg. v. Hans-Rüdiger Schwab, Taching am See 2011, S. 255–319. Andras-Salomé, Von Paul zu Pedro, S. 258. Andras-Salomé, Von Paul zu Pedro, S. 258f. Reventlow, Paul zu Pedro, S. 194. Vgl. seinen Brief an Ludwig Curtius v. 29. September 1946, zit. in: Dirk Heißerer, Wo die Geister wandern. Die Topographie der Schwabinger Bohème um 1900, München 1993, S. 174. Schmitz, Dämon, S. 292. Erich Mühsam, Namen und Menschen. Unpolitische Erinnerungen (1931), Berlin 1977, S. 115. Vgl. Reventlows Briefe an Stern v. 14. Juni 1912 und Juli 1912 aus Ascona, in: Reventlow, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 582, bzw. S. 587. Vgl. Reventlows Brief an Stern v. Anfang August 1912, S. 589. Vgl. dazu Ruth-Ellen Boetcher Joeres, Respectability and Deviance. Nineteenth-Century German Women Writers and the Ambiguity of Representation, Chicago 1998.
Sigurd Paul Scheichl
Cliquen und Kreise: Wien und München Nicht anders als in früheren Epochen der Literaturgeschichte bildeten Autorinnen und Autoren des Fin de Siècle Kreise, manchmal um eine Zeitschrift, um einen Verlag, um eine Bühne oder eine andere Institution, manchmal eher um eine Person, gelegentlich in späten Salons (wie, in Wien, dem der Journalistin Bertha Zuckerkandl, in dem sich eben die Autoren trafen, die bis 1896 das Café Griensteidl frequentierten, und jenem der Schulreformerin Eugenie Schwarzwald1). Wie seit jeher sollten diese Gruppen der Durchsetzung literarischer Neuerungen – manchmal (wie in der von 1891 bis 1893 bestehenden „Iduna“, einer vor allem aus Dilettanten bestehenden „freien deutschen Gesellschaft für Literatur“2) auch der Verteidigung der Tradition – dienen, ebenso wichtig waren die gesellschaftlichen Kontakte und das Gespräch. Durch die rasch anwachsende Zahl der Autoren und durch Veränderungen in den Medien wie im Literaturbetrieb wurden diese Gruppen allerdings von der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen als vergleichbare Gruppen und Vereinigungen in früheren Jahrzehnten; wahrscheinlich zwangen die neuen medialen und ökonomischen Bedingungen die Autoren (und noch mehr die bildenden Künstler) zu diesen Formen der Selbstorganisation.3 Solche Gruppenbildungen lassen sich für die Zeit um 1900 am Beispiel Wien besonders gut darstellen, haben sich doch Literatinnen und Literaten „selten [. . .] so deutlich zu Gruppierungen und Netzwerken formiert wie in Wien“,4 das damals trotz den bedeutenden Autoren des 19. Jahrhunderts als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ (Karl Kraus), als Zentrum einer „fröhlichen Apokalypse“ (Hermann Broch) erst um die Jahrhundertwende sein eigentliches literarisches Erwachen erlebte.5 Als Einstieg mag ein zeitgenössisches Zeugnis dienen: Karl Kraus’ Satire Die demolirte Literatur, zunächst in einer Zeitschrift erschienen, dann (1897) als selbständige (und erfolgreiche) Broschüre.6 Sie beweist, dass die informell zusammen kommenden ‚Jung-Wiener‘ bereits damals als feste Gruppe wahrgenommen worden sind. Dass die Satire in der gleichen Zeitschrift, in diesem Fall der Wiener Rundschau, steht wie die Werke ihrer satirischen Objekte, ist für diese Gruppenbildungen nicht untypisch,7 denn man stand einander zwar kühl, ja feindlich gegenüber, kannte sich aber doch persönlich. Die jungen Wiener Literaten kamen aus einem sehr ähnlichen Milieu: aus gutbürgerlichem wo nicht vermögendem Elternhaus, häufig aus (assimilierten) jüdischen, so gut wie immer aus liberalen Familien;
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viele hatten die gleichen Gymnasien besucht und an der Universität Wien studiert (manche sogar ein Studium abgeschlossen).8 Die meisten hatten sich selbstverständlich von den Idealen der älteren Generation und zumal vom Liberalismus radikal losgesagt. Das abwertende Schlagwort ‚Kaffeehausliterat‘, geprägt von dem radikalen Deutschnationalen Georg von Schönerer,9 hatte nicht nur einen antimodernen, sondern auch einen antisemitischen Beigeschmack, impliziert auch die Ablehnung eines bohemehaften Lebensstils, der in Wien allerdings – vielleicht wegen der sozialen Herkunft der Literaten – keineswegs so dominierte wie in Schwabing, trotz dem Erzbohemien Peter Altenberg, der mit allen ‚modernen‘ Kreisen Kontakt hatte. Im Großen und Ganzen haben wir es mit ganz informellen und zufälligen, meist nicht besonders langlebigen Gesprächsrunden zu tun, ohne feste Strukturen, weshalb es auch wenig verlässliche Quellen zu ihnen gibt. Die Satire von Kraus nimmt den Abriss des in der Nähe der Hofburg gelegenen Café Griensteidl (Anfang 1897) zum Anlass satirischer Portraits der in diesem Café verkehrenden Literaten (zu denen er auch selbst gehörte). Auf die Bedeutung dieses und anderer Cafés – etwa des Café Central und später des Café Herrenhof 10 – für die gesellschaftlichen und literarischen Kontakte11 will ich nicht eingehen; nur ein Beispiel: Ein Autor der vorhergehenden Generation, der Wiener Dramatiker Ludwig Anzengruber (1839–1889), erledigte bis zu seinem Tod die Redaktionsarbeit für den Figaro im Griensteidl.12 Trotz dem Mythos um das Wiener Kaffeehaus waren im Übrigen solche Lokale auch in Berlin, München und Zürich Umschlagplätze der Ideen. Freilich wird speziell dem Café Griensteidl bescheinigt: „Niemals früher und niemals später, weder in Österreich noch in Deutschland, Frankreich oder Italien, hat sich Literatur- und Kulturleben inniger mit dem Kaffeehaus verschwistert als das ‚Junge Wien‘ mit dem ‚Café Griensteidl‘.“13 Als Zentralfigur der Griensteidl-Literaten – nur auf diese geht Kraus ein, andere Gäste wie der Architekt Loos und der sozialdemokratische Politiker Adler werden nicht erwähnt – stellt die Satire Hermann Bahr (1863–1934) vor, einen zeitweise auch als Dramatiker erfolgreichen Autor, dessen Bekanntheit aber vor allem auf seiner publizistischen Tätigkeit (in vielen Zeitschriften und Zeitungen) beruhte; ob Kraus’ persönlich gefärbtes Urteil über Bahr zutrifft, interessiert hier weniger als dessen Ausstrahlung auf die mit ihm befreundeten Literaten und dessen Rolle als Förderer jüngerer Talente. Kraus’ Spott über Bahrs name-dropping („In jedem seiner Referate ergoss sich eine Sturzfluth neuer Eigennamen ins Land.“) sollte nicht übersehen lassen, dass dieser Kreis Einfallstor für Informationen über neue Entwicklungen in der Literatur Europas gewesen ist, weit über das vom Satiriker verhöhnte Propagieren der jeweils neuesten literarischen Moden hinaus. Besonders wichtig für die weitere Entwicklung war die Orientierung des Griensteidl-Kreises an der französischen ‚symbolistischen‘ Literatur und die Abneigung gegen Berlin und sein literarisches Leben; schon der 1891 nach Berliner Vorbild gegründete Verein „Freie Bühne“ war ja in Wien über ein paar Anfangsveranstaltungen nicht hinaus gekommen.14 Nicht nur aus Kraus’ Satire wissen
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wir, dass den Literaten im Griensteidl auch eine gewisse zum Dandytum tendierende Selbststilisierung zum ‚Künstler‘ und ein Spiel mit der ‚Dekadenz‘ wie mit den ‚Nerven‘ gemeinsam waren. (Übrigens greift Kraus noch im Ersten Weltkrieg in seinen Letzten Tagen der Menschheit auf Motive seiner frühen Satire zurück.) Um die Sonne Bahr kreisen im Griensteidl einige (von Kraus nicht namentlich genannte, trotzdem deutlich identifizierbare15) Planeten, darunter mit Schnitzler und Hofmannsthal zumindest zwei Dichter, deren Rang heute weit weniger umstritten ist als jener Bahrs, des „Herrn aus Linz“. Es ist nicht nötig auf die Leopold von Andrian, Richard Beer-Hofmann und Felix Dörmann einzugehen, die zu diesem Kreis gehören. Wichtig ist, was schon Kraus festhält, dass ihnen neben dem Treffpunkt die Abneigung gegen den Naturalismus (insbesondere seine Berliner Spielart) und Offenheit für die Gegenströmungen zu diesem gemeinsam sind; man orientierte sich nicht mehr an Zola, sondern an Barrès und seiner „culture du moi“.16 Symptomatisch ist der Besuch des jungen Stefan George, der 1891 Hofmannsthal im Café Griensteidl kennen gelernt hat. Dieser und seine Freunde waren besonders von Georges Mallarmé-Kenntnis fasziniert. Ein gemeinsames literarisches ‚Programm‘ hatten die Jung-Wiener nicht; man denke nur an die Unterschiede zwischen ihren bedeutendsten Repräsentanten: Eine ätzende Satire wie Lieutenant Gustl (1900) aus der Feder Hofmannsthals ist so wenig vorstellbar wie dessen Klang- und Sprachzauber bei Schnitzler. Trotz dem Lieutenant Gustl waren die Griensteidl-Literaten im Großen und Ganzen an der tagespolitischen Aktualität und an sozialen Fragen wenig bis kaum interessiert. (Im Übrigen hinderte niemand den im Griensteidl-Kreis verkehrenden Felix Salten an der Gestaltung von Themen des Naturalismus mit dessen Verfahrensweisen). Wichtig und fruchtbar war das intensive Gespräch über Literatur in diesem Kreis: „Wohl selten hat es in einem Künstlerkreis einen so regen geistigen Austausch, einen so lebhaften gesellschaftlichen Verkehr gegeben wie im Kreis der Jung Wiener.“17 Bei aller Kunstbeflissenheit geht es den Jung-Wienern auch um die gemeinsame Wahrnehmung konkreter Interessen, analog zur 1897 gegründeten Secession der bildenden Künstler, mit der die jungen Autoren sympathisierten. Bahrs programmatische Gegnerschaft gegen den (Berliner) Naturalismus reiht sich in seine auch andernorts spürbare Verteidigung des österreichischen Literaturmarkts gegen Importe aus der literarisch übermächtigen Nachbarschaft ein; Schnitzler, von dem man in Berlin gerade eine Novelle abgelehnt hatte, schreibt am 27. März 1892 an Hofmannsthal: „Wir brauchen ja doch ‚unser‘ Blatt!“18 „‘Unser‘ Blatt“, eine Zeitschrift allein der Jung-Wiener, hat es zwar nie gegeben, doch entstanden nach 1890 in Wien zahlreiche Periodika, in denen Texte der neuen Autorengeneration Aufnahme fanden. Besonders wichtig war selbstverständlich Bahr, einerseits als Kontaktmann zum S. Fischer-Verlag in Berlin, andererseits als Kritiker wie als Zeitschriftenherausgeber und -mitarbeiter, sozusagen als Scharnier zwischen journalistischem und literarischem Feld, wobei diese Felder, auch durch den selbst literarisch ambitionierten Theodor Herzl als Feuille-
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tonredakteur der wichtigen und gute Honorare bezahlenden Neuen Freien Presse, in Wien fast nahtlos ineinander übergingen. (Kraus sollte in der Fackel von Anfang an explizit für eine scharfe Trennung der Felder plädieren.) Die nicht nur strategische Österreich-Orientierung der Jung-Wiener – besonders ausgeprägt bei Leopold von Andrian – hat auch mit dem spezifischen Bewusstsein der ‚Deutschen in Österreich‘ nach der völkerrechtlichen Trennung vom Deutschen Bund (1866) und nach der Gründung des zweiten Kaiserreichs 1871 zu tun. Damit war auch im kulturellen und noch mehr im literarischen Bereich plötzlich eine Sonderstellung Österreichs innerhalb der Kultur deutscher Sprache entstanden, mit der schwer umzugehen war; in weiteren Kreisen der Bevölkerung hat sich dieses Österreich-Bewusstsein der Jung-Wiener erst sehr viel später durchgesetzt. Als Karl Kraus wenig später (1899) seine eigene Zeitschrift, Die Fackel, gründet, schart sich um diese ein kleiner Kreis von Schriftstellerinnen und Schriftstellern (z. B. Karl Hauer und Otto Stoessl, später Franz Janowitz), die den sozialkritischen Impetus des neuen Periodikums teilen und mit dem Jung-Wiener Ästhetizismus gebrochen haben, in dieser Hinsicht eher mit den Anliegen des in Österreich wenig präsenten Naturalismus sympathisieren. Literarisch weisen ab etwa 1905 manche Autoren der Fackel schon auf den Expressionismus voraus, mit dessen wichtigstem Berliner Organ, dem Sturm (um dessen Herausgeber Walden sich ebenfalls ein Kreis gebildet hatte), Kraus um 1910 für einige Zeit eng zusammenarbeitete.19 Zu diesem Kreis, der sich nicht mit einem bestimmten Ort verbinden lässt, auch wenn fast tägliche Zusammenkünfte in verschiedenen Cafés – oft im Café Imperial – stattfanden, gehören radikale Gegner Jung-Wiens, insbesondere der Architekt Adolf Loos, dessen Kritik am funktionslosen ‚Ornament‘ des Historismus und des Jugendstils Kraus’ Kritik am Ästhetizismus und noch mehr am Stil der Presse entspricht. Mit vielen, die er zunächst förderte, hat Kraus später radikal gebrochen, wie z. B. mit Franz Werfel. Diesen Kreis charakterisiert unter anderem sein großes Interesse am Verhältnis der Gesellschaft zur Sexualität und an entsprechenden Reformen der Gesetze. Insbesondere gehören Kraus und seine Freunde zu den ersten Bewunderern von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903), einem sehr zeittypischen Werk, welches das Denken einer Generation prägte, indem es in aufs Äußerste zugespitzter Form die Geschlechterproblematik in den Mittelpunkt von Überlegungen rückte, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben. Schon im Werk einiger Griensteidl-Autoren, zumal Bahrs und Schnitzlers, auch Saltens (des Verfassers der Josefine Mutzenbacher) war unabhängig von Weininger und vor Freud Sexualität ein wichtiges Thema. Vom Kreis um die Fackel ergeben sich um 1910 Verbindungen zum 1908 gegründeten „Akademischen Verband für Literatur und Musik“20 um den nachmaligen Journalisten Ludwig Ullmann und den Literaten Robert Müller, einer studentischen Vereinigung für moderne Kunst und Literatur, die ihre Aufgabe in der Vermittlung von moderner Literatur (und Musik) sah und weniger in der Bildung eines Autorenkreises (obwohl ihr auch Schriftsteller angehörten, wie eben
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Robert Müller). Der Verband veranstaltete die ersten Wiener Vorlesungen von Kraus, organisierte Konzerte des Schönberg-Kreises und förderte frühe expressionistische Autoren in Wien. Die jungen Prager Literaten um Willy Haas, Veranstalter von Vorlesungen Kraus’ in Prag, und der Kreis um die von Ludwig von Ficker herausgegebene Innsbrucker Zeitschrift Der Brenner, deren wichtigste Mitarbeiter, unter ihnen Trakl, sich ebenfalls regelmäßig in einem Innsbrucker Kaffeehaus trafen, waren weitere literarische Kreise, die sich, außerhalb Wiens, als Bewunderer und Freunde der Fackel definierten. Mehr noch als der Mitarbeiterkreis der Fackel selbst gehören diese Gruppen in das Um- und Vorfeld des Expressionismus. Kraus’ Wirkung strahlte bis in anarchistische Gruppierungen (um Karl F. Kocmata) aus. Dass die Grenzen zwischen den Gruppierungen fließend waren, wird vor allem an Peter Altenberg sichtbar, der den Einen so willkommen war wie den Anderen. Neben Altenberg stellten andere Literaten Verbindungen zwischen den Kreisen her, so vermutlich Alfred Polgar und Egon Friedell. Eine abschließende Bemerkung zum literarischen Gespräch im Café: Die politischen Spannungen scheinen in dieser Atmosphäre abgeschwächt gewesen zu sein, so dass, schon in der Zwischenkriegszeit, Antisemiten wie Mirko Jelusich oder Bruno Brehm dort den Kontakt mit dem jüdischen Autor Leo Perutz so wenig vermieden haben wie dieser das Zusammentreffen mit jenen. Edward Timms hat „die gesamte Struktur der avantgardistischen Kultur in Wien [. . .] als Gefüge solcher Kreise“ beschrieben,21 über das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinaus. Jede der führenden Persönlichkeiten habe „ihren eigenen Kreis von Adepten“ um sich geschart. Timms räumt aber ein, dass es sich dabei nicht immer um Kreise im wörtlichen Sinn gehandelt habe; als solche Zirkel, „Sub-Gruppen“ innerhalb der kulturellen Elite Wiens, nennt er Kraus’ Kaffeehausrunde und Freuds Mittwochabendgesellschaft. Ihre große Bedeutung haben nach Timms diese Kreise durch „ihre enge Verbindung untereinander“ gewonnen; Personen, die mehreren Kreisen angehörten, hätten für die rasche Zirkulation der Ideen gesorgt, etwa der Psychoanalytiker Fritz Wittels, der auch Mitarbeiter der Fackel war, und der Kraus nahe stehende Sozialdemokrat Robert Scheu. „Zentrum dieses Systems war der Kreis um Kraus.“22 Ob dieses von Timms entworfene Bild der Wiener Avantgarde – in dem das Griensteidl nur noch in der Schrumpfform von „Schnitzlers eher lockerem Zirkel aus literarischen Bekanntschaften“23 vorkommt – in allen Einzelheiten zutrifft, muss hier offen bleiben; es ist jedenfalls ein sehr anregender Ansatz zur Beschreibung der Struktur der Wiener Moderne über die Literatur hinaus. Bemerkenswert ist die Wichtigkeit, die er den Kreisen, Runden, Cliquen und Gruppen beimisst, also letztlich persönlichen Beziehungen (und Abneigungen).24 Timms hat dieses Modell der Kreise in erhellender Weise um einen Blick auf deren Förderer und die Auftraggeber der Künstler25 sowie auf die „erotische Subkultur“26 ergänzt. In mehr oder minder festen Kreisen und Runden trafen sich auch sozialdemokratische Intellektuelle, die durch das Milieu ihrer Herkunft und durch ihre Re-
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formorientiertheit den hier eingehender vorgestellten Gruppen am stärksten verbunden und in einigen Fällen auch persönlich mit ihnen verflochten waren.27 Über zionistische Intellektuellen- und Literatenrunden ist wenig bekannt, doch hat es sie gewiss gegeben. Zu erwähnen sind schließlich der Kreis um die 1899 von Marie Lang gegründete Zeitschrift Dokumente der Frauen, zu dem neben Literatinnen wie der heute mehr als früher gewürdigten Rosa Mayreder auch die Frauenemanzipation bejahende Autoren gehörten, und der „Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in Wien“, 1885 gegründet, dem wiederum Rosa Mayreder, neben ihr u. a. Bertha von Suttner und aus der älteren Generation Marie von Ebner-Eschenbach angehörten.28 Diese Kreise spielten wohl aktuell im literarischen Leben Wiens keine große Rolle, sind jedoch wichtig durch ihre Langzeitwirkung. Sind die ihnen angehörenden Autorinnen heute auch nicht mehr im Kanon, so haben sie doch der nächsten und übernächsten Generation schreibender Frauen den Weg gebahnt.29 Anders als in München, vor allem in der Schwabinger Szene, war im Café Griensteidl kein Platz für Literatinnen, auch nicht in den Freundes- und Bekanntenkreisen von Hofmannsthal, Schnitzler und den anderen. Bertha Zuckerkandl war vielleicht eine Ausnahme, Ea von Allesch tritt erst nach 1910 in Erscheinung.30 Die Bedeutung des Themas Sexualität in den Diskursen der Wiener Autoren und die starke Erotisierung der bildenden Kunst (Klimt) scheinen in einem gewissen Gegensatz zur geringen Präsenz von Frauen in den literarischen Cliquen zu stehen. Dieser Zusammenhang wäre noch einmal zu überdenken. Gruppen und Cliquen am Rand dieses Netzes von „Kreisen“ sind zwar aus der Sicht des heutigen Kanons von geringem Interesse; doch sie gehören zum Bild der Literatur Wiens um die Jahrhundertwende, zumal es selbst zwischen ihnen und den (aus heutiger Sicht) sozusagen etablierten Runden Querverbindungen gab. Eine ganz andere Haltung als die informellen, zur Bohème neigenden Kreise in den Cafés vertritt der 1896 gegründete „Verband katholischer Schriftsteller Österreichs“, nämlich eine sich auf die Romantik berufende dezidierte Gegenpositio gegen alle sich vom Liberalismus herleitenden literarischen Strömungen, im Sinne der christlichsozialen Politik; ähnlich agierte der 1905 begründete Gralbund, wie jener Verband in Fortführung der schon genannten „Iduna“. Gleichwohl ist es dem politischen Katholizismus bis 1938 nicht gelungen die ‚linke‘, zumindest säkulare Meinungsführerschaft zu brechen; die in jenem Verband organisierten Autoren – Richard von Kralik (der auch im Gralbund tonangebend war), Enrica von Handel-Mazetti (in deren Werk gleichwohl die für die Moderne typische „Erotisierung der Geschlechterbeziehungen“ Spuren hinterlassen hat31) und andere – standen, trotz beachtlichen Auflagen ihrer Bücher und trotz dem Anspruch vor allem Kraliks, Literatur und Kunst aus dem christlichen Gauben von Grund auf zu erneuern, schon damals eher am Rande des literarischen Lebens32 und gehören nach wie vor nicht zum Kanon der Literatur aus Österreich. Ähnliches gilt für die 1897 gegründete „Deutsch-österreichischen Schriftsteller-
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genossenschaft“ mit eher deutschnationaler Tendenz; ihr Gründer Karl Hans Strobl ist heute nicht weniger vergessen als Kralik. Nicht nur der Vollständigkeit halber sei die literarisch-künstlerische Gesellschaft um Albert Ilg (1847–1896) erwähnt, die von 1885 bis 1894 die Flugschriften Gegen den Strom herausgab. Deren (eher konservative) Zeitkritik steht am Anfang der Modernisierung der Wiener Kulturszene. Und zuletzt: Selbstverständlich waren nicht alle Literaten in diese Szene integriert. Otto Weininger war mit Sicherheit kein Habitué der Cafés; der erfolgreiche Dramatiker Karl Schönherr, der seit 1891 in Wien lebte, muss viele Kontakte zur Theaterwelt gehabt haben, doch offensichtlich keine zu den Literatencliquen in den Cafés. Von den nachmals Berühmten fehlen in dieser Kaffeehaus-Szene Musil, weil er nicht in Wien lebte, und Broch, weil er zu jung war und dann völlig von seiner Tätigkeit als Industrieller absorbiert wurde. Beide frequentierten aber in den 20er und 30er Jahren die Cafés. Die Verhältnisse in München, auf die abschließend ein Blick zu werfen ist, sind in mehrfacher Hinsicht anders als in Wien. Die bayerische Hauptstadt war viel kleiner als die Kaiserstadt an der Donau und hatte obendrein durch die Reichseinigung von 1871 viel von ihrem politischen Gewicht verloren; Politik wurde in München kaum noch gemacht. Und während die Opposition zwischen Berlin und Wien die Opposition zweier europäischer Hauptstädte war, war die zwischen München und Berlin jene zwischen der Hauptstadt eines großen Staates und einer zur Provinzstadt degradierten ehemaligen Metropole, die freilich großen Wert auf ihre kulturelle Rolle legte, sich als Kulturhauptstadt fühlte. Viele Autoren zogen aus anderen Gebieten des Reichs nach München, unter ihnen Frank Wedekind, Thomas Mann, Erich Mühsam, Karl Wolfskehl und immer wieder für längere Aufenthalte Stefan George. In München erschien auch die von Michael Georg Conrad 1883 begründete und bis 1893 herausgegebene (dann von anderen geleitete) wichtige naturalistische Zeitschrift Die Gesellschaft, um die sich 1890 eine kurzlebige „Gesellschaft für moderne Leben“ bildete. Zu ihren Mitgliedern zählten Bierbaum und Liliencron; wichtig ist das programmatische ‚modern‘ im Namen des Vereins. Die Attraktivität Münchens für die deutschsprachige Moderne beruhte zum Teil darauf, dass die Zensur in Bayern lockerer gehandhabt wurde als in Preußen, so dass eine satirische Zeitschrift wie der 1896 gegründete Simplicissimus, um den sich ein allerdings mehr Grafiker als Schriftsteller anziehender Kreis bildete, in München bessere Bedingungen vorfand als im auch sonst als sittenstrenger geltenden Berlin. Ludwig Thoma und Frank Wedekind waren in München lebende satirische Autoren der Zeitschrift.33 Der überregional (auch von der Justiz) wahrgenommene Simplicissimus (übrigens mit vielen Wiener Mitarbeitern, wie Kraus und Polgar) ist im 1894 gegründeten Albert Langen-Verlag erschienen. Mit diesem gab es in München eine Institution, die in Wien fehlte, weil es dort weder alte noch neu gegründete literarische Verlage von einiger Bedeutung gegeben hat.34 Raoul Auernheimer, eine Randfigur
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der Wiener Szene, merkte zu Recht sarkastisch an, die einzige Gemeinsamkeit der Jung-Wiener sei ihr Verlag (S. Fischer) in Berlin,35 der übrigens von Auernheimer nur wenige Manuskripte angenommen hat. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß sind beinahe das einzige aus heutiger Sicht wichtige Buch eines österreichischen Autors vom Beginn des 20. Jahrhunderts, das in Österreich verlegt worden ist.36 Im Verlag Langens, zu dessen Autoren Ludwig Thoma, Hermann Hesse und für kurze Zeit Karl Kraus gehörten, erschienen viele Übersetzungen moderner europäischer, besonders skandinavischer Literatur. Nicht nur die Verlagssituation war in München anders, besser als in Wien, sondern dort gedieh auch eine lebensreformerische, im weitesten Sinn esoterische Szene, wie sie Thomas Mann in seiner Skizze „Beim Propheten“ (1904) schildert und die es in Wien nicht oder kaum gegeben hat (am ehesten im Umfeld der Rassenfanatiker und ihrer Sekten). „In München wimmelte es von Erlösern und Propheten, von dietätischen Anarchisten und Abstinenzlern, Reformern an Leib und Seele, Weltverbesserern, Künstlern und Käuzen.“37 Vorläufer dieses tendenziell sektiererischen Reformeifers finden sich schon in Conrads Gesellschaft. Diese in vieler Hinsicht sehr freizügige Bohème-Welt – deren Lebensfreude sich in legendären Kostümfesten artikulierte und als deren Chronistin die ebenfalls aus Norddeutschland kommende Franziska zu Reventlow gilt – konzentrierte sich in der Vorstadt Schwabing, dem „weltanschauungsgeschwängerten Schwabing“38, und dort wiederum, nicht anders als in Wien, in bestimmten Cafés. Wie immer die Wiener Literaten und Künstler ihr Privatleben gestalteten, ein so demonstrativ den bürgerlichen Verhaltensnormen ins Gesicht schlagendes Leben wie die Schwabinger führten sie in der Regel nicht. Ludwig Derleth sowie die in vielerlei persönliche Beziehungen, nicht nur zu George, verstrickten ‚Kosmiker‘ Karl Wolfskehl, Ludwig Klages und Alfred Schuler waren eher ‚prophetische‘ Einzelgänger und bildeten keine Kreise von Anhängern – anders als George, der oft in Schwabing in Erscheinung trat und enge Kontakte mit Klages und Schuler unterhielt, dessen Kreis aber nicht auf München beschränkt war und im Übrigen sein Zentralgestirn um Jahrzehnte überlebte. Dass das erste Buch über George von Ludwig Klages stammt (1902), also im (damaligen) George-Kreis entstanden ist, zeigt überdeutlich eine Funktion dieser Vernetzung: die wechselseitige literarische Förderung.39 Der George nahe stehende Karl Wolfskehl, sein „Statthalter“ in diesen Schwabinger Kreisen, ein profunder Kenner okkulter Literatur, war eine dominante Gestalt im damaligen literarischen München. Im Übrigen ist der George-Kreis durch die strenge Hierarchie zwischen Meister und Jüngern und durch die Bedeutung des Erotischen, auch durch seinen weit über die Literatur hinaus reichenden Erneuerungsanspruch ein Sonderfall innerhalb der Kreis-Bildung um 1900; das ihm eigene Elitebewusstsein („Exklusivität als Markenzeichen“40) ist aber in schwächerer Form wohl ein gemeinsames Merkmal aller dieser Kreise, wiewohl es in den wichtigeren Wiener Kreisen und Cliquen vergleichbare Sakralisierungstendenzen nicht gegeben zu haben scheint, nicht
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einmal gegenüber Kraus, dessen Anhänger am ehesten dafür anfällig waren. (Neben München waren Berlin und Heidelberg Zentren der George-Jünger; dass der ‚Meister‘ trotz seinem Werben um Hofmannsthal und trotz den Beiträgen Andrians zu den Blättern für die Kunst in Wien nicht Fuß fassen konnte, ist für eine gewisse literarische Auseinanderentwicklung Österreichs und des Deutschen Reichs vielleicht signifikant.) Das Zerbrechen der ‚kosmischen Runde‘ von George, Wolfskehl, Klages und Schuler ist insofern für diese Kreis-Bildungen typisch, als viele derartige Runden instabil und ‚Verstoßungen‘ wie ‚Abkehr‘ in ihnen an der Tagesordnung waren (was etwa in Wien sowohl für die Bewunderer von Karl Kraus als auch für die Psychoanalytische Vereinigung zutrifft). Zu nennen sind noch drei weitere Münchner Zeitschriften, die 1896 gegründete Jugend, wiederum vor allem wegen ihrer grafischen Gestaltung stilbildend, von geringerem Interesse für die Literatur, und die zunächst liberalen, bayerischkulturpatriotischen, häufig gegen Unternehmungen Langens polemisierenden Süddeutschen Monatshefte (ab 1904), deren literarisch bedeutendster Mitarbeiter der Literaturkritiker und Essayist Josef Hofmiller)41 gewesen ist, schließlich der ab 1907 bei Langen erscheinende liberale März, redigiert von Ludwig Thoma und Hermann Hesse. Die 1903 gegründete katholische, aber nicht klerikal-ultramontane, daher auch gegen die Konzepte des Wieners Kralik opponierende Zeitschrift Hochland sollte für die Auseinandersetzung der Kirche mit der Moderne wichtig werden, war aber nicht in erster Linie literarisch. Kreise und Cliquen haben sich um diese Zeitschriften kaum gebildet, zumal ihre Mitarbeiter vielfach nicht in München lebten. Die Münchner Literatengruppen, denen Thomas Mann zwar nicht zuzuordnen ist, die aber auf ihn gewirkt haben, waren sozial viel weniger homogen als die Runden in Wien. Zur dortigen Dominanz der Söhne vermögender jüdischer Familien gab es in der bayerischen Landeshauptstadt keine Entsprechung – wie die Münchner Literatinnen und Literaten aus allen Teilen des Reichs kamen (zumindest aus dem vorwiegend protestantischen Franken), während die Angehörigen der Wiener Kaffeehausrunden zumeist Wiener waren oder doch aus dem weiteren Umfeld von Wien kamen. Schließlich ist als den Gruppenbildungen vergleichbares Münchener Phänomen das Kabarett zu nennen, das ja von vornherein Gruppencharakter hat, vor allem die „Elf Scharfrichter“ (1901–1904), die eng mit der Person Frank Wedekinds verbunden sind. Zwischen den Münchner und den Wiener Kreisen gab es vielerlei Kontakte: Das erste Heft der Modernen Dichtung (1890), der ersten ‚neuen‘ Literaturzeitschrift in Österreich, enthält als Bildbeigabe ein Porträt Michael Georg Conrads; einige Bücher von Kraus erschienen bei Langen; Mühsam hielt sich längere Zeit in Wien auf, im Umfeld von Kraus; dieser förderte Wedekind; Polgar schrieb für den Simplicissimus, den man selbstverständlich auch in Wien las (und nachahmte); Hochland polemisierte gegen den Wiener Gral, dieser gegen Hochland;
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die Münchner Kabarettisten traten 1903 in Wien auf und trugen zum Entstehen einer Wiener Kabarett-Kultur bei. Noch vor 1910 beginnt die Zusammenarbeit zwischen Hofmannsthal und dem Münchner Richard Strauß. Dass es trotz dem Wahren einer gewissen Distanz enge Beziehungen sowohl zwischen München und Berlin als auch zwischen Berlin und Wien gab, ist selbstverständlich; sie gehen weit über den Kontakt zum Verleger S. Fischer hinaus. Karl Kraus spielte um 1910 gar mit dem Gedanken einer Übersiedlung nach Berlin. Die Konzentration auf die Runden der ‚Jungen‘ darf nicht den Blick dafür verstellen, dass neben ihnen die ‚Alten‘ weiter geschrieben haben, zum Teil, wie Ebner-Eschenbach und Saar in Wien, von der neuen Generation durchaus geschätzt und gewürdigt, zum Teil kaum beachtet wie Peter Rosegger oder, in München, Paul Heyse und Martin Greif. Die meisten dieser literarischen Kreise unterhielten auch Beziehungen zu bildenden Künstlern. Hermann Bahr schrieb begeisterte Artikel über die Maler der Secession, George legte größten Wert auf die grafische Gestaltung der Blätter für die Kunst, in der Schwabinger Bohème ergaben sich persönliche Kontakte fast von selbst. Selbstverständlich waren diese Kontakte im Umfeld des Simplicissimus. Nahezu alle für die Zukunft (der Literatur) wichtigen Gruppen und Cliquen zwischen etwa 1885 und 1910 rückten das (nie sehr präzis gefasste) Konzept der ‚Moderne‘ in den Mittelpunkt, selbst die Runden der mehr oder minder Marginalisierten beschäftigten sich insofern damit, als sie die Moderne abwehren wollten. Zahllose formale wie thematische Innovationen kommen aus diesen Kreisen: ein neuer Sinn für die Autonomie der Sprache bei George und Hofmannsthal oder, ganz anders, bei Kraus; eine radikale Infragestellung der Möglichkeiten, die Realität darzustellen, bei fast allen Autoren dieser Generation; neue Verfahrensweisen zur Analyse des seelischen Lebens, von denen der innere Monolog bei Schnitzler nur eine ist; neue dramatische Formen z. B. bei Wedekind; die Montage von Zitaten bei Kraus; die Erweiterung der stilistischen Möglichkeiten der Literatursprache, zumal im Bereich der Satire; die Geschlechterthematik und das Thema der Doppelmoral; die Erschöpfung der bisherigen gesellschaftlichen Normen. Dass vieles davon sich im kollegialen Gespräch und im kollegialen Streit entwickelt hat, wird man angesichts der Quellenlage nicht beweisen können; doch ist es mehr als wahrscheinlich, dass eben diese Diskussionen der eigentliche Ertrag dieser Cliquenbildung gewesen sind. Die meisten der hier vorgestellten Kreise hatten ein kurzes Leben – die Griensteidl-Clique dürfte trotz fortdauernden privaten Kontakten ihrer Angehörigen nicht viel älter als fünf Jahre geworden sein (1891 bis 1896/97) – und sind zumeist rasch „am Widerstand des bürgerlichen Kunstsinns oder an internen Konflikten“42 gescheitert, in München nicht anders als in Wien; das ändert nichts daran, dass sie auf Dauer stark gewirkt haben. So wenig man heute das Werk eines Hermann Bahr oder eines Otto Julius Bierbaum schätzt, so unbestreitbar ist, dass sie als Personen über ihre Freunde den Weg für die weitere Entwicklung der deutschen Literatur bereitet haben. Und sei es nur als Katalysatoren.
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Zu diesen Salons vgl. Alexandra Millner, Von Alpha bis Zirkular. Literarische Runden und Interessensvereinigungen in Wien (1900–2000) (Enzyklopädie des Wiener Wissens 5), Weitra 2007, S. 29–33. Der Schwerpunkt des im Detail nicht immer verlässlichen Buchs liegt auf der Zeit nach 1945. Über sie Eduard Castle, „Iduna“, freie deutsche Gesellschaft für Literatur (1891 bis 1893), in: Johann Willibald Nagl; Jakob Zeidler; Eduard Castle (Hg.), Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, Bd. 3: 1848–1918 [2. Teilband: Gesellschafts- und Staatskrise 1890–1918], Wien 1937, S. 1931–1948. Allgemeines zur Bildung solcher Gruppen – ohne Eingehen auf lokale Vereinigungen – bei Stefan Bodo Würffel, Kunst-Kreise, -Gruppen und -Gemeinschaften, in: Sabine Haupt u. Stefan Bodo Würffel (Hg.), Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart, S. 195–217, bes. S. 195–198. Millner, Von Alpha bis Zirkular, S. 15. Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie, hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 2001 geht zwar auf Gruppenbildungen u. dgl. kaum ein, ist aber eine unübertroffene Einführung in das geistige Klima des damaligen Wien. Karl Kraus, Frühe Schriften 1892–1900, hg. v. Joh. J. Braakenburg, Bd. 1: 1892–1896; Bd. 2: 1897–1900. Die demolirte Literatur. Eine Krone für Zion, München 1979; Erläuterungen von Johannes J. Braakenburg, Frankfurt/M. 1988. Die Zeitschriften-Fassung in Bd. 1, S. 269–289; die Broschüren-Fassung von 1897 in Bd. 2, S. 277–297. Zur Wechselwirkung von Erscheinungsort und Satire vgl. Sigurd Paul Scheichl, Hugo von Hofmannsthal in Karl Kraus’ Demolirter Literatur, in: Cultura tedesca (Rom) 12 (1999), S. 211–223. Eine Verbildlichung dieses Milieus und der persönlichen Verflechtungen in ihm versucht die Ausstellung bzw. der Ausstellungskatalog: Felicitas Heimann-Jelinek (Hg.), Zu Gast bei BeerHofmann. Eine Ausstellung über das jüdische Wien der Jahrhundertwende, Wien 1998. Der Duden Band 12: Zitate und Aussprüche, bearb. v. Werner Scholze-Stubenrecht, 2. Aufl., Mannheim 2002. Vgl. die lange Liste der für die Literaturszene wichtigen Wiener Cafés und ihrer Gäste bei Millner, Von Alpha bis Zirkular, S. 43–53; interessant sind diese Listen in Hinblick auf die Querverbindungen zwischen den Gruppierungen. Aufschlussreich ist der ‚Nachruf‘ auf das Café Griensteidl in der Neuen Freien Presse vom 7. 11. 1896, zit. in: Ludwig Greve u. Werner Volke (Hg.), Jugend in Wien. Literatur um 1900. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N. (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums 24), München 1974, S. 265. Vgl. auch die dort, S. 92f., wiedergegebene deskriptive Kritik Berthold Viertels am Kaffeehaus (aus einem Brief von etwa 1908). Greve u. Volke, Jugend in Wien, S. 39. Alfred Zohner, „Café Griensteidl“, in: Nagl; Zeidler; Castle, Deutsch-österreichische Literaturgeschichte, Bd. 3, S. 1715–1736, hier S. 1715. Dort auch ein Bild des Lesezimmers in dem Café. Ein weiteres Bild des Café Griensteidl ist reproduziert in: Edward Timms, Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse, Übers.g aus dem Engl., Wien 1995, S. 21. Greve u. Volke, Jugend in Wien, S. 107–109. Vgl. die Erläuterungen von Braakenburg zu Kraus: Frühe Schriften, S. 186–193 (zur Broschürenfassung). Eduard Castle, Jung-Österreich und Jung-Wien. Die neue Generation um Hermann Bahr, in: Nagl; Zeidler; Castle, Deutsch-österreichische Literaturgeschichte, Bd. 3, S. 1649–1702, hier S. 1652.
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Jens Rieckmann, Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle, Königstein/Ts., 1985, S. 93. Hugo von Hofmannsthal u. Arthur Schnitzler, Briefwechsel, Frankfurt/M. 1964, S. 18. Zu den Publikationsmöglichkeiten der Jung-Wiener in den frühen 90er Jahren vgl. Rieckmann, Aufbruch in die Moderne, S. 69–89. Vgl. Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein. Karl Kraus – Herwarth Walden. Briefwechsel 1909–1912, hg. von George C. Avery (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 79), Göttingen 2002. Über diesen siehe Heinz Lunzer, Karl Kraus und der „Akademische Verband für Literatur und Musik in Wien“, in: Stefan H. Kaszynsk u. Sigurd Paul Scheichl (Hg.), Karl Kraus. Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznan, München 1989, S. 141–178. Timms, Karl Kraus, S. 23. Timms, Karl Kraus, S. 24. Timms, Karl Kraus, S. 23. Ausgearbeitet hat Timms dieses Modell in seinem Beitrag Die Wiener Kreise. Schöpferische Interaktionen in der Wiener Moderne, in: Jürgen Nautz u. Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse. Umwelt. Wirkungen (Studien zu Politik und Verwaltung 46), Wien 1993, S. 128–141. Wichtig die Grafik auf S. 130. Timms, Die Wiener Kreise, S. 134ff. Timms, Die Wiener Kreise, S. 137f. In diesem Zusammenhang interessante Informationen zu den Kreisen, in denen sich Victor Adler bewegte, bei Wolfgang Maderthaner, Politik als Kunst: Victor Adler, die Wiener Moderne und das Konzept einer poetischen Politik, in: Nautz u. Vahrenkamp, Die Wiener Jahrhundertwende, S. 759–776. Zu den vor allem sozialen Zielsetzungen dieses bis 1937 bestehenden Vereins, der auch einen Pensionsfonds einrichtete, vgl. Helga H. Harriman, Women Writers and Artists in Finde-Siècle Vienna, in: Modern Austrian Literature 26 (1993), H. 1, S. 1–18. Auf das Verborgenbleiben vieler Publizistinnen macht aufmerksam: Monika Kollmann, Essayistinnen und Feuilletonistinnen der Wiener Jahrhundertwende. Eine Forschungslücke, in: Sigurd Paul Scheichl u.Wolfgang Duchkowitsch (Hg.), Zeitungen im Wiener Fin de siècle, Wien 1997, S. 157–168. Zu intellektuellen Frauen und Literatinnen im Wien der Moderne (kaum zu ihren Gruppenbildungen) vgl. die Beiträge in: Lisa Fischer u. Emil Brix (Hg.), Die Frauen der Wiener Moderne, Wien 1997. Eda Sagarra, Einleitung. Die Frauen der Wiener Moderne im Zeitkontext, in: Fischer u. Brix, Die Frauen der Wiener Moderne, S. 11–20, hier S. 18. Vgl. Timms, Die Wiener Kreise, S. 141. Zu dieser Zeitschrift vgl. u. a. Gertrud Maria Rösch (Hg.), Simplicissimus. Glanz und Elend der Satire in Deutschland (Schriftenreihe der Universität Regensburg 23), Regensburg 1996. Über die Beziehungen in diesem Kreis schreibt die zeitweilige Gattin des Simplicissimus-Zeichners Olaf Gulbranssen, Grete Gulbranssen, ausführlich in ihren Tagebüchern: Der grüne Vogel des Äthers. Tagebücher. Band 1: 1904–1912, hg. u. kommentiert v. Ulrike Lang, Frankfurt/M. 1998. Vgl. Murray G. Hall, L’édition littéraire à Vienne entre 1900 et 1914, in: François Latraverse u. Walter Moser (Hg.), Vienne au tournant du siècle, Ville LaSalle, Québec 1988, S. 359–371. Raoul Auernheimer, Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit. Erlebnisse und Bekenntnisse, Wien 1948, S. 54. Vgl. die Präsentation des Wiener Verlags, mit zum größten Teil wenig interessanten Titeln, bei Greve u. Volke, Jugend in Wien, S. 395–400.
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Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie, München 2007, S. 313. Würffel, Kunst-Kreise, -Gruppen und -Gemeinschaften, S. 206. Ein Extremfall derartiger Verflechtung bei Karlauf, George, S. 447f.: Wolfskehl bespricht auf Bitte Georges (für die Süddeutschen Monatshefte) ein Werk des George-Freunds Wolters, George verändert die Besprechung und diktiert Wolfskehls Frau die Endfassung. Würffel, Kunst-Kreise, -Gruppen und -Gemeinschaften, S. 204. Über Hofmiller – und die Kreise, in denen er sich bewegte – jetzt Michael Pilz, Konservative Literaturkritik und ihre Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Das Beispiel Josef Hofmiller (1872–1933) (Angewandte Literaturwissenschaft 14), Innsbruck 2012. Lunzer, Karl Kraus und der „Akademische Verband für Literatur und Musik in Wien“, S. 141f. Lunzers knappe Überlegungen zur Nachwirkung modernisierender Initiativen (141f.) sind bedenkenswert.
Helmut Koopmann
Fin de Siècle und Décadence − Erscheinungsformen, Begründungen, Gegenbewegungen Kaum etwas anderes hat in den Jahren zwischen etwa 1850 und 1914 das Lebensgefühl stärker beeinflusst als das Wissen um die eigene Décadence. Décadence bestimmte die Signatur der Epoche, stand für Krankheit, Entartung, Nervenschwäche, das Bewusstsein, einer Spätzeit anzugehören, und an dem schienen ganze Jahrzehnte zu leiden. Décadence war ermüdendes Leben, Kennzeichen waren schwindende Vitalität, Zersetzung und biologischer Niedergang, Abnutzungs- und Auflösungserscheinungen jeglicher Art, Labilität, Willensschwäche, Verlust aller Lebenskräfte, Zukunftslosigkeit; zur Décadence gehörten Neurosen und Selbstzerstörungsgedanken bis zur Todessehnsucht. Décadence war dabei kein Nationalphänomen – an ihr haben alle europäischen Literaturen und Künste partizipiert. Dekadentes ist Thema bei Stefan George so gut wie bei Hugo von Hofmannsthal, bei Arthur Schnitzler wie bei Thomas Mann, bei Gustave Flaubert wie bei Eduard von Keyserling, bei Rainer Maria Rilke wie bei Paul Valéry, bei André Gide wie bei Marcel Proust, bei Oscar Wilde wie bei Joris-Karl Huysmans (mit seinem für die Epoche so repräsentativen Roman A rebours), bei Richard Wagner wie bei Franz Lenbach, bei Émile Zola wie bei Heinrich Mann, bei Joseph Roth wie bei Frank Wedekind, bei Théophile Gautier wie bei Charles Baudelaire und Paul Bourget, bei Hermann Bahr wie bei Arno Holz, kurzum: nahezu bei fast allen, die Rang und Namen im damaligen Europa hatten. Die Aufzählung ist unvollständig.1 Man hat immer wieder darüber spekuliert, wie es eigentlich zu jener Décadence-Stimmung in Europa kommen konnte. Es hat verschiedene Antworten gegeben. Die Aufklärung, die futurisch orientiert war und eine stete Verbesserung der Kultur, ein Aufwärts der Menschheit vor Augen gehabt hatte, war mit der deutschen Klassik an ein Ende gekommen; schon beim späten Schiller breitete sich ein unübersehbarer Geschichtspessimismus aus, und Pessimismus blieb ein Grundzug des 19. Jahrhunderts überhaupt, zum einen als Ergebnis der Französischen Revolution und ihrer beunruhigenden Nachbeben, zum anderen aber auch als Folge des Zusammenbruchs einer großen Weltordnung, wie er nach dem Ende der Aufklärung überall zu beobachten war. War das auf sich selbst ge-
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stellte Individuum überfordert gewesen, „seit die haltgebenden und entlastenden Bindungen durch die Kirche und die festgefügten Sozialordnungen sich lockern und auflösen, die Orientierung an vorgezeichneten Denkwegen unsicher wird“, wie Wolfdietrich Rasch das formuliert hat?2 Der Einzelne habe sich vom Glauben emanzipiert, aber die Aufklärung habe ihn eben gleichzeitig auch isoliert, es habe keine stützende Gemeinsamkeit mehr gegeben; und die Relativierung aller Werte, auf die Hegel schon aufmerksam gemacht habe, der Verlust des Absoluten, wie Georg Simmel das genannt hat, habe zu einem Spätzeitbewusstsein geführt, das eben das Bewusstsein einer dekadenten eigenen Gegenwart gewesen sei. Décadence wird hier als Endzeit verstanden, als Auflösung kultureller und sozialgeschichtlicher Einheiten im besseren, als Untergang im schlimmsten Falle. Natürlich hat die um 1900 sich verstärkende Décadence-Stimmung auch einen Zeithintergrund: Es war in Deutschland der hemmungslose Optimismus des wilhelminischen Zeitalters, der staatliche Größenwahn, der in Imperialismus mündete, es war die Selbstsicherheit einer Zeit, die die Gründerjahre als ein Kapital nahm, mit dem man beliebig wuchern konnte. Es sollte alles größer, schöner, mächtiger, imposanter werden, und Kaiser Wilhelms II. berühmter Satz „Ich führe Euch herrlichsten Zeiten entgegen“ wurde zu einem Propagandaslogan für ein wirtschaftlich und gesellschaftlich fundiertes rasantes Aufblühen. Von daher gesehen ist die Décadence auch so etwas wie eine Revolte, ein Widerstand gegen die angeblichen Herrlichkeiten der neuen Zeit. Heinrich Mann hat diese in seinem frühen Roman Im Schlaraffenland satirisch porträtiert, denn vieles davon war Talmi. Eine weitere Erklärung geht dahin, dass die zunehmende Technisierung ihren Preis gefordert habe. Geld, so meinte schon Richard Wagner 1881, werde zur „allvermögenden Kulturmacht“3; andere, Jacob Burckhardt etwa, der den Erwerbssinn für die „Hauptkraft der gegenwärtigen Kultur“ hielt, nahmen an, dass „der entsetzliche Kapitalismus von oben und das begehrliche Treiben von unten wie zwei Schnellzüge auf denselben Geleisen gegeneinanderprallen“ und damit das Ende der Kultur bedeuten würden.4 Décadence also das Bewusstsein der Ohnmacht gegenüber den modernen Lebensprozessen? Auch das ist eine Antwort, die ebenfalls manches verständlich macht, aber nicht alles; sie lässt weiterhin die Frage offen, woher die Décadence kam und was sie als alles durchtränkende Zeitstimmung begründete. Es gab keine Dekadenz-Literatur, die das Phänomen als ganzes behandelt hätte, wie Wolfdietrich Rasch zu Recht bemerkt hat; beschrieben wurden immer nur Einzelerscheinungen.5 Wenn man dennoch nach einem gemeinsamen Nenner sucht, so war es wohl vor allem das rapide aufgekommene Wissen um die eigene Spätzeitlichkeit − und um die unaufhebbare Differenz zu einem besseren Dasein, wie es vor allem in der Antike gelebt worden war. Das 18. Jahrhundert sah diese Differenz zur Antike auch schon − für den jungen Schiller war die Welt der Antike zwar eine noch leicht zugängliche Nachbarschaft, aber spätestens um 1795 war das ein Gefühl der eigenen minderwertigen Spätzeitlichkeit mit sei-
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nem großen Essay Ueber naive und sentimentalische Dichtung aufgekommen, der optimistische Blick in die Zukunft hatte sich eingetrübt. Das Bewusstsein der eigenen Dekadenz hatte sich Jahrzehnte zuvor aber auch anderswo breitgemacht: Rousseau hatte bereits seit 1749 in seinen kulturkritischen Abhandlungen, vor allem in seinem Premier Discours den angeblichen Fortschritt der Wissenschaften und Künste, den D’Alembert in seiner Encyclopédie beschworen hatte, als Entartung gebrandmarkt6, als Zeichen der Dekadenz, aus der nur der Weg zurück zur Natur herausführen könne. Der Weg dahin wurde im 19. Jahrhundert aber kaum begangen. Umso stärker wurden jedoch etwa ab 1880 wehmütige Rückblicke in die Vergangenheit; die war größer gewesen als die Gegenwart. Diese erschien im Vergleich dazu als dekadent: als lebensfern, künstlich, fernab aller Natürlichkeit, ausgestattet mit Nervenschwäche und Müdigkeit, eben mit Verfallserscheinungen jeglicher Art. Und dieses Wissen um die eigene Décadence überflutete geradezu Europa. Ihren Anfang nahm sie mit Paul Bourgets Essais de psychologie contemporaine und seiner Théorie de la décadence von 1883. 1886 folgte die Gründung der Zeitschrift Le Décadent7; dort und in Zolas Künstler-Roman L’Œuvre fand sich auch der Begriff Fin de siècle – in Anlehnung an das Augustinische finis saeculi. Ab 1890 bestimmte décadence ebenfalls die deutsche Literatur mit ihrer Melancholie, ihrer Resignation und mit dem Wissen um die Überforderung durch eine sich immer stärker ausbreitende, lebenszerstörende „Civilisation“; „Hast“, „Flucht vor sich selbst“ und eine zunehmende Fallgeschwindigkeit, so Nietzsche in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen, wurden ihre perennierenden Begleiterscheinungen.8 Die Zeit war veloziferisch geworden, und sie entfernte die Gegenwart immer mehr von einer nicht mehr als nachbarlich verstandenen, sondern tief versunkenen gloriosen Antike. Sie lebte allenfalls noch bei den Malern weiter: in Bildern von heroischen Landschaften, wie sie in der Nachfolge von Claude Lorrain oder Nicolas Poussin etwa Jacob Philipp Hackert, Angelika Kauffmann, Anton Raphael Mengs oder Carl Rottmann malten: häufig war bei ihnen die Antike mit ihren grandiosen Hinterlassenschaften präsent. Die überkommenen Trümmer, die zerbrochenen Säulen und verfallenen Tempel der Antike waren dabei mit einem fast romantischen Licht verklärt. Von Unkraut überwucherte Mauern, Ruinenfelder, zerbrochene Götterstatuen, bukolische Landschaften am Rande ihrer Zerstörung: die Antike, wie sie etwa auch in den Bildern Arnold Böcklins begegnet, war eine heile Welt, obwohl es eine zerstörte Antike war, war ein Ganzes, obwohl man nur Relikte einer vergangenen Zeit sah. Böcklin war vermutlich der prominenteste jener Maler, die die Antike in ihrer edlen Trümmerhaftigkeit darstellten; in München gab es eine Zeitlang geradezu ein „Böcklin-Fieber“.9 Diese Welt war immer harmonisch, auch wenn das nicht wenig zu ihrer Kulissenhaftigkeit beitrug und umgekehrt das Kulissenartige zu einem Verständnis der Antike, das Sprünge und Verwerfungen, Risse und dunkle Seiten gar nicht wahrnahm, weil man das nicht wahrnehmen wollte. Diese Trümmerantike war alles andere als eine dekadente Welt: aber dekadent war, dass man sich für sie als eine größere Zeit interessierte.
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Das Zeitalter der Décadence, das sich als so zerrissen, amorph, haltlos empfand, liebte das Gegenteilige: eine Antike, die selbst in ihren Trümmern noch unzerstört war. Davon zeugt auch manches Gedicht Hofmannsthals oder Georges. Der Blick zurück in eine bessere Welt. Im Zeitalter der Décadence haben sich die Bilder einer harmonischen Antike eher noch aufgehellt als verdunkelt. Aber gleichzeitig wuchs das Bewusstsein der Differenz zu jener Zeit: je stärker die eigene Gegenwart als Epoche der Fäulnis, der Zersetzung, der nervösen Erkrankungen und einer aus medizinischer Sicht sich immer mehr steigernden unvermeidbaren Degeneration empfunden wurde, desto größer wurde das Wissen um deren Unerreichbarkeit − und desto stärker faszinierten die Bilder einer vergangenen Welt. Und dieser gleichsam doppelte Blick auf eine große Vergangenheit, die als Vorbild galt und die dennoch nicht wieder erreichbar war, der Wunsch, der Antike nahezukommen und die Einsicht in die Unmöglichkeit, diesem Wunsch zu entsprechen, mündeten im Wissen um die schwächliche Gegenwart: im Bewusstsein der eigenen Décadence. Aber man wusste um den unüberbrückbaren Abstand zu jener Welt. Der Blick zurück war der Blick auf ein verlorenes Goldenes Zeitalter, die Gegenwart erschien in ihrer Misere. Es waren vor allem die Philosophen und Historiker der Zeit, die das Bewusstsein der eigenen Décadence untermauerten. An die Stelle einer zukunftsorientierten Sicht der Geschichte war bereits im frühen 19. Jahrhundert eine andere Geschichtsphilosophie getreten: sie sah die Geschichte nicht als Siegeszug, sondern als einen trostlosen Kreislauf. Schon Heinrich Heine hatte 1833 in einem kleinen Aufsatz, Verschiedenartige Geschichtsauffassung überschrieben, in der nach der Julirevolution von 1830 verstärkt einsetzenden Diskussion um ein angemessenes Geschichtsverständnis auf neue Auslegungen des „Buches der Geschichte“ aufmerksam gemacht und jener alten Geschichtssicht der „Humanitätsschule“, „wonach alle irdischen Dinge einer schönen Vervollkommenheit entgegenreifen“, eine neuere gegenübergestellt: deren Vertreter sehen in allen irdischen Dingen nur einen trostlosen Kreislauf; im Leben der Völker wie im Leben der Individuen, in diesem wie in der organischen Natur überhaupt, sehen sie ein Wachsen, Blühen, Welken und Sterben: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. ‚Es ist nichts Neues unter der Sonne!‘ ist ihr Wahlspruch.10 Heines kleiner Aufsatz dokumentiert endgültig den Beginn eines pessimistischen Geschichtsverständnisses, das dann das ganze 19. Jahrhundert durchtränkte: Nikolaj Danilevskij gehörte zu den Geschichtspessimisten ebenso wie Karl Vollgraff und Ernst von Lasaulx, die allesamt nachträglich besehen Vorläufer Oswald Spenglers und seines monumentalen Der Untergang des Abendlandes (1917, 21922) waren.11 Unter Décadence verstand man um 1900 zwar zunächst nur den Untergang der Alten Welt, aber an ihm konnte man ermessen, was auch der eigenen Zeit blühen würde. Der Historiker Otto Seeck schrieb ab 1895 eine Ge-
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schichte des Untergangs der antiken Welt, und er nahm darin auf einen älteren Titel Bezug, auf Edward Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776–1788).12 Auch Montesquieu hatte sich in seiner Consideration sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence schon 1734 mit dem Niedergang des römischen Reiches beschäftigt. Andere Schriften über den Untergang Roms und der antiken Welt aber waren wie die Geschichte von Seeck eigentlich zugleich verkappte Gegenwartsanalysen, und wenn in Deutschland die Historische Zeitschrift 1900 den ersten Jahrgang mit einem Aufsatz über Der Verfall der antiken Kultur (von Julius Beloch) eröffnete, dann war das eine Bestandsaufnahme der eigenen Zeit im Spiegel der antiken Verfallsgeschichte: der Blick auf den Verfall der antiken Welt nahm den der eigenen Zeit gleichsam vorweg. Und dieser Blick zurück war lähmend. Nietzsche machte denn auch das überall dominante Interesse an allem Historischen für das Aufkommen dekadenter Stimmungen verantwortlich, sagte in seiner Götzen-Dämmerung, dass er siebzehn Jahre lang versucht habe, „den entgeistigenden Einfluß unsres jetzigen Wissenschafts-Betriebs an’s Licht zu stellen“ (KSA, Bd. 6, S. 105), und sprach von den nihilistischen Konsequenzen des Übermaßes an Historie: damit werde die dem Menschen notwendige Lebenskraft und Sicherheit genommen, und der Glaube an etwas Beständiges werde zerstört durch „das rasend-unbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, ihre Auflösung in ein immer fliessendes und zerfliessendes Werden, das unermüdliche Zerspinnen und Historisiren alles Gewordenen durch den modernen Menschen“ (KSA, Bd. 1, S. 313). Nur Materialisten waren um 1900 noch der Meinung, „daß an der Hand der Ausmerzung alter Vorurteile, alter Dummheit und alten Aberglaubens ein unbegrenzter Forschritt auf dem Wege der Tugend, Weisheit und Glückseligkeit möglich“ sei – so etwa der fortschrittsgläubige Ludwig Büchner.13 Aber das war eine Ausnahmestimme; aus ihr sprach eigentlich noch das 18. Jahrhundert. Die Historiker folgten vielfach dem Grafen Gobineau, der von „la chute des civilisations“ gesprochen hatte.14 Und so kam denn die Vorstellung auf, dass auch die gegenwärtige Kultur dekadent sei und sterben könne. Kultur, civilisation, war im 18. Jahrhundert gleichsam ein System gewesen, eine feste Ordnung, überpersönlich und auf lange Zeiten berechnet. Aber im 19. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, wurde Kultur zunehmend als etwas Lebendes verstanden, und somit konnte sie auch erkranken und schließlich zugrunde gehen. Schon in Ferdinand Tönnies‘ berühmtem Buch Gemeinschaft und Gesellschaft von 1887 hieß es: „Und da die gesamte Kultur in gesellschaftliche und staatliche Zivilisation umgeschlagen ist, so geht in dieser ihrer verwandelten Gestalt die Kultur selbst zu Ende“.15 Der Historismus hat das Aufkommen dekadenter Stimmungen zweifellos außerordentlich stark befördert, und bereits am Ausgang des 19. Jahrhunderts kam es geradezu zu einem Endzeitbewusstsein: das Wissen um den Verfall war allgegenwärtig. Dabei war der Untergang eines Einzelnen oder einer einzelnen Familie eigentlich nur ein Symptom, so wie der Untertitel zu Thomas Manns Buddenbrooks, Verfall einer Familie, eben mehr beinhaltete als nur den Verfall einer
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Kaufmannsfamilie; es war ein prototypisches „Abwärts“ (so sollte Buddenbrooks eigentlich überschrieben werden), der familiäre Niedergang eigentlich der Untergang einer ganzen Kultur – und wie Décadence zu verstehen war, kann man an diesem Roman geradezu paradigmatisch beobachten: sie war Nervenschwäche, war Arbeitsunlust, war ein immer schnelleres und früheres Sterben, war wirtschaftlicher Verfall, war zugleich Abkehr von einem früher so selbstverständlichen wie fraglos-naiven religiösen Glauben, und das einzig Positive daran schien die Verfeinerung der Nerven zu sein, aber das galt nicht für jeden. Beherrschender war die allgemeine Willensschwäche, die sogar Form und Ausmaß einer tödlichen Krankheit annehmen konnte. Gab es eine Möglichkeit, dem eigenen Verfall zu entfliehen? Nein, auch dort nicht, wo man gegen ihn ankämpfte. Der Einblick in die eigene Décadence, das Reflektieren darüber taten ein übriges, um eine Befreiung aus diesem Sog der Negativität zu verhindern. An den Herrlichkeiten des neuen Deutschen Reiches gemessen, aber auch im Rückblick auf eine „heile“Antike erschienen die Dekadenten geradezu als Kranke: Krankheit war denn auch deren Hauptmerkmal. An der Krankheit der Décadence starb man zwar nicht, Dekadente waren nicht ganz krank; aber ein wenig krank waren sie alle. In dem Roman Die Dekadenten von Gerhart Ouckama-Knoop sagt jemand: „Du bist zwar nicht krank, aber auch kein normaler Mensch [. . .]. Zwar gehörst Du zu den Entarteten, aber Entartung ist nicht stets, noch für immer ein Unglück. Du teilst Dein Unglück mit einem Drittel der zivilisierten Menschheit [. . .]. Du bist ein Degenerierter höherer Gattung“.16 Heilung gab es bei einem solchen Krankheitsbild nicht. Über Entartung hatte Max Nordau 1892 geschrieben, der sein Buch nicht zufällig dem italienischen Psychiater Cesare Lombroso gewidmet hatte, der bereits 1864 mit seinem Buch Genio e follia (deutsch als Genie und Wahnsinn) vor allem den Künstler als Degenerierten denunziert hatte; aber vorher schon gab es eine Grundlagenarbeit über das Phänomen der Entartung, das nur ein anderes Wort für Décadence war: Bénédicte Auguste Morels Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et de ses causes qui produisent ces variétés maladives (1857). Was diejenigen miteinander verband, die sich als von der Décadence Gezeichnete sahen, war ihre Überzeugung von der Unausweichlichkeit des Verfalls. Und was die Entartung so verheerend machte, war, dass sie (1.) irreversibel war, dass sie (2.) vererbt wurde und dass sie sich (3.) von Generation zu Generation steigerte. Nervenschwäche war allgemein verbreitet. Der Mediziner George M. Beard handelte über Die Nervenschwäche (Neurasthenia). Ihre Symptome, Natur und Folgezustände und Behandlung; das Buch erschien schon 1889 in zweiter Auflage. Der Psychiater Oswald Bumke schrieb 1911 ein Buch Über nervöse Entartung. Als Stefan George im Herbst 1892 erkrankte und gefragt wurde, welcher Art seine Krankheit sei, da antwortete er: „was soll ich Sie damit plagen? nervenschwäche
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woran jeder von uns ein wenig leidet“.17 Émile Zola stellte fest: „Nous sommes malades, cela est bien certain, malades de progrès“.18 Das war das Mal du siècle, und als krank hat sich auch Nietzsche empfunden; sein Kampf gegen Wagner sei immer auch von der Absicht geleitet gewesen, „Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir, eingerechnet Wagner“ (KSA, Bd. 6, S. 12). Krank aber war für ihn vor allem Wagner. „Wagner est une névrose“, schrieb er, und: „Wagner’s Kunst ist krank“ (KSA, Bd. 6, S. 22). Die Décadence war umso auffälliger, als es in der gleichen Zeit Bemühungen gab, dem Phänomen des Lebens nahezukommen. Leben: das war Ursprünglichkeit, ein Mysterium, es bedeutete rauschhafte Entgrenzung und Magie des Daseins, und die Suche nach einem solchen wirklichen „Leben“ prägte eine ganze Generation junger Autoren. In München begründete Georg Hirth 1896 die Wochenschrift Jugend, und Fritz von Ostini eröffnete den Jahrgang 1898 in seinem Anti-Fin de siècle geradezu mit einem Programm: „Wir wollen zu Felde ziehen gegen die Fin de siècle-Philister und gegen die Fin de siècle-Gecken“.19 Der wortmächtigste Verkünder eines Hymnus auf das Leben (KSA, Bd. 6, S. 336) aber war Friedrich Nietzsche; Leben war für ihn „Instinkt“, ein Mysterium jenseits aller Kultur, war Trieb, ein Dasein ohne Intellekt, unbewusste Fülle des Augenblicks, ursprüngliches Dasein, Freiheit vom Wissen um Vergangenheit und Zukunft, das Gegenwärtige als höchstes Glück. Feind allen solchen Lebens war für ihn das Christentum, das er auch für das Aufkommen der Décadence verantwortlich machte: „Christentum ist ein Typus der décadence“. (KSA, Bd. 15, S. 511) Die Moral des Christentums war für ihn „das Verbrechen par excellence − das Verbrechen am Leben“, das Heidentum hingegen das „Jasagen zum Natürlichen, das Unschuldsgefühl im Natürlichen, ‚die Natürlichkeit‘“ (KSA, Bd. 12, S. 571). Aber das alles war von der Gegenwart weit entfernt, das Leben war nicht zu leben, sondern nur in seiner Eigentümlichkeit und Einzigartigkeit zu erkennen − aus dem Wissen um die eigene Inferiorität. Gerade Erkenntnisfähigkeit hat Nietzsche als Ausdruck der eigenen Spätzeit empfunden, schrieb: Unser Wille selbst zur Erkenntnis ist ein Symptom einer ungeheuren décadence [. . .] jetzt haben wir den entgegengesetzten Punkt erreicht, ja, wir haben ihn erreichen gewollt − die extremste Bewußtheit, die Selbstdurchschauung des Menschen und der Geschichte [. . .]. Wir streben nach dem Gegenteil von dem, was starke Rassen, starke Naturen wollen − das Begreifen ist ein Ende. . . (KSA, Bd. 13, S. 398) Zum Hymnus auf das „Leben“ gehört korrespondierend aber immer auch das Gefühl, dass das Leben anderswo sei, und der Dekadente weiß nur zu gut, dass er an diesem Leben nicht teilnehmen kann. Die Décadence steht ohnehin in permanenter Opposition – zur herrschenden Gesellschaft, zu einem fraglosen Dasein, zur Natur. Es gibt geradezu einen Welthass der Dekadenten, Flaubert spricht sogar von einem „unüberwindlichen Widerwillen gegen alles Irdische“. Das endete fast
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immer in l’ennui, in der Langeweile, im Gelangweiltsein, und führte oft zur Suche nach neuen Reizen, um dem schal gewordenen Leben abzuhelfen, und das wiederum – ein Teufelskreis – führte zur Ermüdung der Nerven, zu Ermattung und Willenlosigkeit, zum Niedergang der physischen und psychischen Kräfte. Nietzsche hat dafür die richtigen Worte gefunden, wenn er zur Wagner-Begeisterung sagt: „Der Instinkt ist geschwächt. Was man zu scheuen hätte, das zieht an. Man setzt an die Lippen, was noch schneller in den Abgrund treibt. [. . .] Den Erschöpften lockt das Schädliche“. (KSA, Bd. 6, S. 22) Für Nietzsche, den bedeutendsten Psychologen der Décadence, war diese „ein Symptom niedergehenden Lebens“ (KSA, Bd. 6, S. 79). Und „Fortschritt“ war nicht das, was eine technik-, wissenschaftsund wirtschaftsgläubige Zeit erwartete; „vorwärts“ war für ihn „Schritt für Schritt weiter in der décadence [. . .]. Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht“. (KSA, Bd. 6, S. 144) Décadence als „Trachten nach ‚Rückkehr zur Natur‘“ eine allgemein verbreitete Zeitkrankheit, war Ausdruck „einer kranken und alternden Kultur“ − so Ferdinand Tönnies, der deren „immer sichtbarer werdende Zerrüttung“ diagnostizierte, in Der Nietzsche-Kultus20: „So hängt sich an alle Tendenzen der Verbesserung und des Fortschritts heute der lähmende Gedanke des Verfalles“. Nietzsche habe im übrigen „das Problem der décadence“, das ihn am tiefsten beschäftigt habe, „nur in unvollständiger, unzulänglicher, einseitiger Weise erfaßt“; er habe begriffen, dass er ein décadent sei, aber der Philosoph in ihm habe sich dagegen gewehrt.21 Doch von den bedeutenden Dekadenten hat sich ohnehin niemand uneingeschränkt zur Décadence bekannt, auch Nietzsche nicht. Berühmt ist sein Wort: „Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. [. . .] Als summa summarum war ich gesund, [. . .] als Specialität war ich décadent“. (KSA, Bd. 6, S. 266) Und im Vorwort zu Der Fall Wagner heißt es: „Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen.“ (KSA, Bd. 6, S. 11) War das eine Art Selbstdisziplinierung? Aber Nietzsche wusste auch, dass die Décadence nicht zu überwinden war. Er schrieb in der Götzen-Dämmerung: Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence – sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. (KSA, Bd. 6, S. 72) In auffälliger Übereinstimmung dazu war auch Thomas Mann kritischer Beobachter der Décadence und hat doch gleichzeitig an ihr partizipiert. In den Betrachtungen eines Unpolitischen steht sein eigentümliches Doppelbekenntnis zur Dekadenz:
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Ich gehöre geistig jenem über ganz Europa verbreiteten Geschlecht von Schriftstellern an, die, aus der décadence kommend, zu Chronisten und Analytikern der décadence bestellt, gleichzeitig den emanzipatorischen Willen zur Absage an sie, – sagen wir pessimistisch: die Velleität dieser Absage im Herzen tragen und mit der Überwindung von Dekadenz und Nihilismus wenigstens experimentieren22, auch wenn er 1950 das „über Europa hingehende Schlagwort Fin de siècle“ eine „allzu modische und etwas geckenhafte Formel für das Gefühl des Endes, des Endes eines Zeitalters“ nannte und für sich in Anspruch nahm, dass er „nie das makabre Narrenkleid des Fin de siècle getragen“ habe.23 Aber das stimmte so nicht. Das klassische Beispiel der Décadence ist sein Tod in Venedig, wo nichts anderes gezeigt wird als die Unmöglichkeit, der Décadence zu entfliehen. Die Flucht endet im Untergang, im Tod. Es gab Bemühungen, dem Sog einer sich überall immer stärker ausbreitenden Décadence zu entkommen: die auffälligste war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Renaissancismus. Wenn der auch nur eine Mode bis ins Architektonische hinein zu sein schien, so war diese doch gründlich fundiert, und zwar durch die Kunstgeschichte. Burckhardts Die Kultur der Renaissance in Italien war 1860 erschienen; das Buch erlebte bis 1885 vier Auflagen, von 1896 bis 1908 weitere sechs; zwei neue Auflagen folgten 1913 und 1918. 1860 erschien auch Gobineaus Die Renaissance. Historische Szenen, in vierter Auflage immerhin noch 1920. Walter Pater veröffentlichte sein Buch The Renaissance, Studies in Art and Poetry 1873 mit einem berühmt gewordenen Essay über Leonardo; auf Paters Renaissancebuch geht sowohl Max von Schillings Oper Mona Lisa zurück wie D’Annunzios Tragödie La Gioconda von 1899 sowie das Gioconda-Gedicht; die Gioconda begegnet auch in Hofmannsthals Der Tor und der Tod von 1893.24 Paters Essay The School of Giorgione von 1877 leitete in der Jahrhundertwende eine Flut von Giorgione-Literatur ein. Heinrich Wölfflins Renaissance und Barock, 1888, und Karl Brandis Die Renaissance in Florenz und Rom, 1899, fachten das Interesse an der Renaissance zusätzlich an, sie war Bildungsbürgerbesitz geworden – wobei anzufügen ist, dass die klassische Kunst der Renaissance allerdings kaum eine Rolle spielte; das zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass Wölfflins Werk ohne jede Wirkung auf das neue Renaissancebild blieb. Um so einflussreicher war Böcklin. In keinem guten Bürgerhaus des ausgehenden 19. Jahrhunderts durften Reproduktionen seiner Bilder fehlen25; er galt als „Vorkämpfer einer neuen Renaissance“.26 Ein Kunde etwa bestellte bei ihm ein Bild – egal, ob „eine sonnige Landschaft, ein Gewittersturm oder eine bewegte See“. Es sollte vor allem eines: in ein Wohnzimmer passen, das „in reinem Renaissancestyl“ gehalten war. 27 Wie präsent das Quattrocento war, zeigen auch die zahlreichen RenaissanceDramen: Karl Bleibtreu schrieb 1887 Der Dämon, 1899 Max Halbe die Tragödie Der Eroberer, Franz von Schönthan und Franz Koppel-Ellfeld verfassten ein Lustspiel in drei Akten mit dem Titel Renaissance28, Maurice Maeterlinck kam 1901
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mit Monna Vanna heraus, Emil Ludwig schrieb 1904 Ein Untergang, 1905 veröffentlichte Rudolf Herzog Die Condottieri, Julius Bab 1906 Der Andere, 1907 folgte von Emil Ludwig Die Borgia, Leo Greiner verfasste 1907 Herzog Boccaneras Ende, 1909 folgte, wiederum von Emil Ludwig, Der Papst und die Abenteuer oder die glücklichen Gärten, eine Komödie, von Johannes Raff gab es 1910 Der Zerstörer, ebenfalls 1910 von Carl Albrecht Bernoulli Der Herzog von Perugia, von Moritz Heimann 1911 Der Feind und der Bruder; und von Wilhelm Weigand erschien gar eine Tetralogie Renaissance (mit den Stücken Tessa, Savonarola, Cäsar Borgia, Lorenzino) – das ist nur eine Auswahl. „Theatralrenaissance“ hat das Walther Rehm genannt.29 Nichts war zu banal, und nichts war theatralisch genug. Besonders Rudolf Herzogs Die Condottieri hatte großen Bühnenerfolg; das Schauspiel behandelte die tragische Geschichte des Colleoni, dessen Reiterdenkmal immer noch in Venedig zu sehen ist. Es sind heute völlig vergessene Dramen, aber sie waren damals sehr wirkungsvoll: denn da gab es mörderische Eifersucht, verschlagene Gestalten und prunkende Kurtisanen, auf den Bühnen Blutlachen, fiebernde Helden, Feuerschein und Abendglanz. Rücksichtslos und unbedenklich, ebenso verrucht wie tückisch: so erschienen bei Weigand die „Renaissancemenschen“. Herrschergröße sollte gezeigt werden, selbst wenn die Eroberer Übeltäter waren; Gewaltnaturen wurden verherrlicht, auch Selbstsucht. Gift und Dolch, die bewährten Mittel, dem Anderen das Leben schwer zu machen oder ihn im Idealfall umzubringen, gehörten natürlich dazu. Es war der Triumph der Übermenschen – in dramatischer Mittelmäßigkeit. Man könnte den Eindruck gewinnen, dieser literarische Renaissancismus habe sich in plattem, banalem Theaterpopulismus erschöpft. Aber auch die besseren Geister konnten sich dessen Sog kaum entziehen. Renaissancenovellen bei C. F. Meyer, bei Heyse, bei Isolde Kurz: der Tribut an die Renaissance war unübersehbar. Dmitry Sergejewitsch Mereschkowski schrieb 1902 einen LeonardoRoman. Für den jungen Stefan George war die Renaissance eine aristokratische, eine kultische Angelegenheit, sie öffnete ein Fenster auf die Antike hin. Wenn Italien auch manchmal nur Hintergrund war, bei Hofmannsthal war mehr. Er schrieb 1893: Von den verblaßten Gobelins nieder winkt es mit schmalen weißen Händen und lächelt mit altklugen Quattrocento-Gesichtchen; aus den weißlackierten Sänften von Marly und Trianon, aus den prunkenden Betten der Borgia und der Vendramin hebt sichs uns entgegen und ruft: ‚Wir hatten die stolze Liebe, die funkelnde Liebe; wir hatten die wundervolle Schwelgerei und den tiefen Schlaf; wir hatten das heiße Leben; wir hatten die süßen Früchte und die Trunkenheit, die ihr nicht kennt‘.30 Das war die Faszination des eigentlich für immer Vergangenen, das aber nun restauriert werden sollte. Für Hofmannsthal war die Renaissance vor allem die Zeit der Giorgione, Tizian, Correggio; schon das Dramolett Gestern spielt „zur Zeit
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der großen Maler“ und beschwört „reiche Architektur der sinkenden Renaissance“.31 Die Renaissance ist ein Sehnsuchtsland, in das man sich im Traum hineinbegeben kann, und es ist nur zu oft der Traum von Dekadenten. Dort gibt es „Dinge, die wir herbeirufen, wenn unsere Gedanken nicht stark genug sind, die Schönheit des Lebens zu finden, und fortstreben, hinaus nach der künstlichen Schönheit der Träume“.32 Dieser Zeit einer neuen Sinnlichkeit, einer Reizverfeinerung galt freilich auch so manche fragwürdige Formulierung, etwa von Richard Dehmel: O, man suche die echte heiße Sinnlichkeit der Renaissance, noch durchströmt vom goldnen Sonnenblut des Tages, aber schon umhüllt vom müde fallenden Saum der Abendschatten, und man steht erglühend und versinkend, stumm, vor Tizian.33 Doch so unglaubwürdig seine Worte wirken: sie bezeugen, wie sehr die Renaissance auch als Stimmung, als Atmosphäre, als Gefühl, als das Geheimnisvolle einer vergangenen Zeit erlebt wurde. Andere haben die Renaissance allerdings zurückhaltender definiert: Wölfflin schrieb 1888: „Die Renaissance ist die Kunst des schönen ruhigen Seins. Sie bietet uns jene befreiende Schönheit, die wir als ein allgemeines Wohlgefühl und gleichmässige Steigerung unserer Lebenskraft empfinden“34, er sprach vom „höchsten Ausdruck des Kunstgeistes jener Zeit“ und der „Ruhe des Seins“35; die „Gewalt des Affekts“, „Aufregung, Ekstase, Berauschung“ schrieb er vielmehr dem Barock zu.36 Andere sahen die Renaissance aber gerade in ihrer sinnlichen Präsenz. Arthur Schnitzler verlegte in seinem Schauspiel Der Schleier der Beatrice eine Gegenwartsgeschichte in die Zeit des beginnenden 16. Jahrhunderts, aus einem griechischen Bankier wurde ein Renaissance-Fürst.37 Rilke beschwor die Renaissance in Die weiße Fürstin, einer vermutlich 1898 geschriebenen Szene am Meer; die Hinterbühne stellte (in der ersten Fassung) ein weißes Schloss „im Stile der reinen Frührenaissance“ dar, und in der späteren Fassung von 1904 können wir lesen, wie das gedacht war: Eine fürstliche Villa (gegen Ende des XVI. Jahrhunderts). Auf offener Loggia von fünf Bögen ein einfaches, geschlossenes Pilastergeschoß. Davor eine von Statuen eingefaßte Terrasse, von der sich eine Treppe mit breiten Stufen nach dem Garten niederläßt. Im Hintergrunde, hinter der Villa: der Park38 Diese fürstliche Villa dürfte ihren Ursprung freilich nicht in Italien, sondern in dem Bild Villa am Meer von Arnold Böcklin haben.39 Aber es ist unverkennbarer Renaissancismus, in der ersten Fassung geht ein Bote in dunkelroten Samt gekleidet. Und Böcklins Die Pest liefert offenbar auch den Hintergrund für den Tod, der aus dem Osten kommt und der das schöne Leben bedroht: er bezog sich auf die Pest von 1576, die auch Hofmannsthal für seinen Tod des Tizian 1892 nutzte. Die Pest war zugleich malerisches Thema des Renaissancismus bei Hans Makart
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und Fritz Erler: Hans Makart hatte sie um 1870 gemalt, Fritz Erler malte die Pest 1900, aber nicht als Untergang, sondern als Orgie, als sich noch einmal aufbäumendes Leben. Auch bei Hofmannsthal sollte im Tod des Tizian alles, wie er schrieb, „auf eine Art Todesorgie“ hinauslaufen.40 „Lebenserhöhung [. . .] durch den Tod“, der Tod als Fest: auch das war Renaissancismus. Wenn die Dichter die Renaissance als eine Zeit sahen, die es zu vergegenwärtigen galt, so sah die Philosophie, sah Nietzsche vor allem die Differenz. „Der Europäer von Heute bleibt, in seinem Werthe tief unter dem Europäer der Renaissance“ (KSA Bd. 6, S. 171), hatte Nietzsche gesagt. Für ihn war die Renaissance, so in der Götzendämmerung, „jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit“; es war „die letzte grosse Zeit“ (KSA Bd. 6, S. 138), die Renaissance „immer noch die Höhe dieses Jahrtausends“.41 Renaissance, so Nietzsche im Antichrist, war „die Umwerthung der christlichen Werthe, der Versuch, mit allen Mitteln, mit allen Instinkten, mit allem Genie unternommen, die Gegen-Werthe, die vornehmen Werthe zum Sieg zu bringen“ (KSA, Bd. 6, S. 250). Renaissance: das war „das Leben! [. . .] der Triumph des Lebens! [. . .] das grosse Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen!“. Und: „Cesare Borgia als Papst [. . .] das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange.“ (KSA, Bd. 6, S. 251) Aber in Menschliches, Allzumenschliches sah er die Renaissance auch als möglichen Gewinn für die eigene Gegenwart: Die italiänische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und blosen Effect [. . .]; ja, die Renaissance hatte positive Kräfte, welche in unserer bisherigen modernen Cultur noch nicht wieder so mächtig geworden sind. (KSA, Bd. 2, S. 199) Glaubt man der Literatur, schien dieser Sieg im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aber nahe zu sein: „Der Uebermensch, das Ueberweib spuken nun überall in der Dichtung.“42 Weit war es nicht zum Herrenmenschen. Und der war das vollkommene Gegenbild zum Décadent. Renaissancismus war ganz offensichtlich eine Gegenbewegung zur Strömung der Décadence, war der Versuch, sich noch einmal einer vergangenen großen Welt zu versichern; die klassische Antike war allenfalls in der Literatur wiederzugewinnen, die Renaissance hingegen schien geradezu lebensmöglich zu sein. Aber eben dieses Verlangen nach einer Rückkehr in eine „große“ Welt, als die die Renaissance galt, war auch ein untrügliches Zeichen der Dekadenz, war eine Flucht in die schöne Vergangenheit des Quattrocento aus einer als schal empfundenen Gegenwart heraus, war der Versuch einer Rückkehr zum starken Leben aus dem Wissen um die eigene Schwäche. Nietzsche hielt „die Franzosen“ für die-
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jenigen, die „die Aufgabe der Renaissance auf das Würdigste weitergeführt haben. Sie giengen von der Nachschöpfung antiker Formen mit herrlichstem Gelingen zur Nachschöpfung antiker Charaktere über“ (KSA, Bd. 2, S. 199). Er sah den Niedergang der Kultur und wünschte sich eine neue Renaissance: Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer grösseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist. Nun kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefühls, jener niederdrückenden CulturLast vonnöthen, welche, wenn sie selbst mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen Hoffnung einer neuen Renaissance Spielraum giebt. (KSA, Bd. 2, S. 204) Diese Hoffnung war freilich vergebens − aber als Hoffnung eben ein untrügliches Décadence-Signal. Décadence und Renaissancismus sind korrelative Größen. Niemand träumt glühender von der Renaissance als der Zeit großen Lebens als der Dekadent, der weiß, dass er nie an ihm wird teilhaben können. Die Neorenaissance um 1900 war ein Phantom, und wer ihr folgte, geriet unweigerlich in einen lächerlichen Dilettantismus hinein. Heinrich Mann, der mit seiner Romantrilogie Die Göttinnen als großer Verfechter einer neuen Renaissance galt, hat das gesehen und seinen Spott darüber ausgegossen. In den Göttinnen gibt es einen Maler Jakobus Halm, und der hat eine auskömmliche Tätigkeit: Er malt die Damen der hohen italienischen Gesellschaft in Renaissance-Kostümen. Aber das hatte auch noch jemand anders getan: Lenbach nämlich, der Münchner Maler, der sich manchmal als Renaissance-Condottiere herrichtete. Und Jakobus Halm alias Lenbach entlarvt sich selbst, wenn er sagt: Ich habe ein eigenes Genre entdeckt, ich nenne es heimlich: die hysterische Renaissance! Moderne Ähnlichkeiten und Perversitäten verkleide und schminke ich mit so überlegener Geschicklichkeit, daß sie an dem vollen Menschentume des Goldenen Zeitalters teilzuhaben scheinen.43 Lenbach hatte sich in seiner Renaissance-Vermummung wohlgefühlt, aber sein alter ego Jakobus Halm durchschaut das alles und stellt fest, dass das nur Maskerade sei, auch wenn es einen bewunderten eigenen Stil verleihe. Heinrich Mann hat Lenbach, dem Renaissancemaler um 1900, noch einen weiteren kleinen Schlag versetzt: Halm malt nämlich ein angeblich lange verlorengegangenes Gemälde Botticellis nach, Pallas, die „dem Centauren ihre Hand ums Horn legen“ muss. Er sagt:
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Ich habe mich darangemacht, die Göttin nochmals zu erträumen, von der der Florentiner geträumt hat . . . Tat er’s? Nein, ich glaube den Berichten nicht. Er hat sie nicht gemalt, er hat nichts weiter fertigbekommen als die bekannten Studien. Aber der ungeheuere Traum derer, die vor vierhundert Jahren da waren, wirkt weiter in allen, die seitdem sich nach Schönheit sehnen. Wenn wir während eines Augenblicks sehr groß sind, so ist uns eine Empfindung, eine einzige, in den Pinsel geflossen, die vor vierhundert Jahren einer gehabt hat. Ich habe diese Empfindung festgehalten. Ich behaupte, dies ist die Pallas, die Botticelli gemalt hätte.44 Jakobus Halm irrt, und zwar gründlich. Denn gerade zu der Zeit hatte man die Pallas des Botticelli wiedergefunden, 1895 war das Gemälde entdeckt und im Palazzo Pitti, später in den Uffizien aufgehängt worden. Und Halm muss gestehen: „Nun also, sie ist ganz anders. [. . .] Ganz anders als meine. Nein, ich habe nie einen der Träume des großen Jahrhunderts zu Ende träumen dürfen“.45 Ja, da irrte die nachempfindende Renaissance gründlich; was Urbild war, war hier zum fragwürdigen Abbild geworden. Das war Heinrich Manns eigentliches Urteil über den zeitgenössischen Renaissance-Kult, wie er sich bei Lenbach austobte. Anders gesagt: Heinrich Mann, der scheinbar wildeste Vertreter der Quattround Cinquecento-Begeisterung, war zugleich ihr schärfster Kritiker. Das Unglaubwürdige des Renaissancismus wird auch in seiner Novelle Pippo Spano deutlich, die 1903 entstand, „inmitten des besten Florenz“. Der Dichter Mario Malvolto will sich mit dem Renaissance-Condottiere bzw. mit dessen Bildnis, das über seinem Schreibtisch hängt, identifizieren; er glaubt in das volle Leben einzutauchen, und die von ihm geliebte Contessa Gemma Cantoggi ist für ihn Persephone und „Santa Venere“ (so Malvolto) in einem46: Der Lebenskult braucht mythische Bestätigung. Und sie ist noch mehr, denn wenn sie beschrieben wird als: „Sie war eine kostbare Muschel; ihr Haar, das sich auflöste, schlug um sie her wie Algen“47, dann denken wir an die Venus auf Botticellis Gemälde La nascita di Venere, die Liebesgöttin als Inbegriff des Lebens. Der Tod schließlich als höchste Erfüllung des Lebens: Malvolto schlägt der Contessa einen Liebestod vor, aber als er sie getötet hat, ist es vorbei mit dem starken Renaissance-Menschen: es reicht nicht mehr zum Selbstmord, weil er das Ganze nur als Theater, als Komödie erlebt hat – Schuld gibt er dem Pippo Spano und dessen Bild; und so ist die wilde Liebesgeschichte am Ende nur Konstruktion und Dekonstruktion eines mythologisch gebildeten Intellektuellen; sie war Erzählstoff, nicht mehr, das hohe Leben der scheinbar wiedergekehrten Renaissance ein Papierschwindel, Künstlerwerk, das Condottiere-Dasein am Ende eine Halluzination, der Renaissance-Kult der Jahrhundertwende eine zwielichtige Erscheinung, Schaumschlägerei: der Held war am Ende nur ein kleiner Décadent. Heinrich Mann hatte zuvor schon Kritik am Renaissancismus geübt, in seinem frühen Roman Im Schlaraffenland, als der junge Held Andreas Zumsee zu dem reichgewordenen Emporkömmling Türkheimer sagt: „Sie vergönnen uns
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geschwächten Modernen, einen Eroberertypus, einen Renaissancemenschen zu schauen!“48 Aber dieser Renaissancemensch ist ein Börsenschwindler, Heinrich Manns Satz ist ironisch. Zumsee meint wenig später: Neulich, an dem großen Tage, als ich nach der Börse mit Türkheimer die Linden entlangging, da habe ich ihm ins Gesicht gesagt, er sei ein Renaissancemensch, ein Eroberertypus. Nun, ich glaubte es momentan vielleicht selbst. [. . .] Aber unser Literatentum, die Kritik, mit der wir vollgesogen sind, zeigt uns immer wieder das Unerquickliche, Kleine an den Dingen. Haben Sie es nicht auch schon bemerkt? Wir leiden unter dem zweifelhaften Vergnügen, die Menschen zu durchschauen. So zum Beispiel, mit dem Renaissancemenschen ist es ja gar nichts.49 Man wird noch nicht, wie Lenbach, Renaissancekünstler, wenn man sich in der italienischen Kavalierstracht des späten 16. Jahrhunderts malt. Der Kritiker Heinrich Mann ist unerbittlich. Das große Leben war anderswo, nicht in der Renaissancebegeisterung um 1900. Es erscheint in seinem Roman als etwas Erahntes, und zugleich wird die ungeheure Distanz derer sichtbar, die glauben, es nachleben zu können. Die „geschwächten Modernen“ wissen am Ende sehr gut, dass sie Décadents sind, die starke Träume lieben, aber am Leben kranken. Thomas Mann, der vom Münchner Renaissancebau der Pringsheims, seiner späteren Schwiegereltern, so beeindruckt war, dann aber die Renaissance-Mode um 1900 in seiner Gladius Dei-Geschichte ebenfalls lächerlich gemacht hatte, hat sich noch einmal dagegen abgesetzt: in Tonio Kröger, wo er seinen Helden sagen lässt: Hören Sie mich an. Ich liebe das Leben, – dies ist ein Geständnis. [. . .] Aber ich beschwöre Sie, halten Sie es nicht für Literatur, was ich da sage! Denken Sie nicht an Cesare Borgia oder an irgendeine trunkene Philosophie, die ihn auf den Schild erhebt! Er ist mir nichts, dieser Cesare Borgia, ich halte nicht das geringste auf ihn, und ich werde nie und nimmer begreifen, wie man das Außerordentliche und Dämonische als Ideal verehren mag. Nein, das ‚Leben‘, wie es als ewiger Gegensatz dem Geiste und der Kunst gegenübersteht, – nicht als eine Vision von blutiger Größe und wilder Schönheit, nicht als das Ungewöhnliche stellt es uns Ungewöhnlichen sich dar; sondern das Normale, Wohlanständige und Liebenswürdige ist das Reich unserer Sehnsucht, ist das Leben in seiner verführerischen Banalität!50 Und dann reist er, anders als Bruder Heinrich, nicht nach Italien: Italien ist mir bis zur Verachtung gleichgültig! Das ist lange her, daß ich mir einbildete, dorthin zu gehören. Kunst, nicht wahr? Sammetblauer Himmel, heißer Wein und süße Sinnlichkeit . . . Kurzum, ich mag das nicht. Ich verzichte. Die ganze bellezza macht mich nervös.51
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Tonio Kröger ist alles andere als ein Renaissancemensch: Er ist ein Décadent wie später sein älterer Bruder, Gustav von Aschenbach im Tod in Venedig. Das Ende der Décadence kam bald: Der Erste Weltkrieg fegte die Ermüdungserscheinungen ein für allemal hinweg. Aber dem Nervenkult, der Ästhetik des ermüdenden Lebens, der Selbstverliebtheit der Dekadenten, der übersteigerten Sensibilität derer, die zum Leben nicht taugten, war schon früher der Prozess gemacht worden: Heinrich Mann hatte dem gründerzeitlichen Größenwahn in seinem Schlaraffenland-Roman einen satirischen Spiegel vorgehalten, und in seinem Roman Die Jagd nach Liebe, 1903 erschienen, räumt eine neue Gesellschaft auch mit dem Dekadententum auf − gründlich. In diesem Roman gibt es ebenfalls einen schwachen Bürger als letzten seiner Art: „Ich bin das Endergebnis generationenlanger bürgerlicher Anstrengungen, [. . .] Tatsächlich ist bei mir jede Bewegung zu Ende; ich glaube an nichts, hoffe nichts, erstrebe nichts [. . .] ich letzter, schwacher Bürger“.52 Er ist ein typischer Décadent. In Marie Herzfelds Essay Fin-de-siècle von 1892 steht ähnliches; dort sagt ein Erbe: Wir sind umgeben von einer Welt absterbender Ideale, die wir von den Vätern ererbt haben [. . .] die überanstrengten Nerven reagieren nur auf die ungewöhnlichen Reize und versagen den normalen den Dienst [. . .] das Gefühl des Fertigseins, des Zu-Ende-gehens – Fin-de-siècle-Stimmung.53 Aber nun regieren andere: Der Prolet kommt hoch, Untergangsgefühle belacht er, und er weiß: er wird immer wieder hochkommen. Über „seelische Erlebnisse“, die empfindliche Nerven voraussetzen, und über „dämliche Gefühsduseleien“ der Erben, die nie etwas zu tun hatten, kann er nur spotten. Lebensuntüchtigkeit ist nicht mehr das Vorrecht der an sich und an der eigenen Décadence Leidenden, es ist ein Todesurteil. Wenn jemand mal verkracht ist und insolvent wird: es macht nichts. „Das Feine ist, daß wir überhaupt nicht pleite gehn können. Dazu ist unser Betrieb viel zu verwickelt. Das eine versteigern sie uns [. . .] was macht das? Wir kaufen uns was anderes“.54 Die Welt der Emporkömmlinge. Es ist das endgültige Aus für die Welt der décadents, auch für ihre so lebensferne Begeisterung für das Quattro- und Cinquecento, die Jahrzehnte der Renaissance. Es war das Ende der Kultur der Nervenschwachen, der Überfeinerten, der Neurastheniker, der Willensschwachen und der Lebensmüden, der Entarteten und immer ein wenig Kranken. Es war das Ende der großen Zeit der Décadence.
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Die beste Darstellung der Décadence ist immer noch die von Wolfdietrich Rasch, Die literarische Décadence um 1900, München 1986; vgl. ferner seinen Beitrag: Fin de siècle als Ende und Neubeginn, in: Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, hg. v. Roger Bauer, Eckhard Heftrich, Helmut Koopmann, Wolfdietrich Rasch, Willibald Sauerländer u. J. Adolf Schmoll gen. Eisenwerth [= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts Bd. 35. „Neunzehntes Jahrhundert“. Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung,] Frankfurt/M. 1977, S. 30–49. Besonders ergiebig darin der Beitrag von Lea Ritter-Santini, S. 170–205. – Neue, sehr umfangreiche und fundierte Untersuchungen haben (als Herausgeber) Sabine Haupt und Stefan Bodo Würffel vorgelegt: Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart 2008. Vgl. auch den Abschnitt Décadence und Fin de siécle in der großen Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertmitte von Peter Sprengel, München 1998, S. 119–122 innerhalb des Kapitels Porträt einer Epoche, S. 3–149. Rasch, Die literarische Décadence, S. 122. Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. X, 3. Aufl., Leipzig 1898, S. 268. Vgl. dazu den wichtigen Artikel von Walter Wiora: „Die Kultur kann sterben“. Reflexionen zwischen 1880 und 1914, in: Bauer et al., Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, S. 50–72, hier S. 65. Jacob Burckhardts Briefe an seinen Freund Friedrich von Preen 1864–1893, hg. v. Emil Srauß, Stuttgart 1922, S. 271. Vgl. Wiora, Die Kultur kann sterben, S. 65. Rasch, Die literarische Décadence, S. 14. Discours sur les sciences et les arts. in: Œuvres compl., Paris 1828ff., I, S. 10. Dazu August Buck in seinem wichtigen Aufsatz Vorromantik und Rückkehr zur Antike in der europäischen Literatur des XVIII. Jahrhunderts, in: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 1 (1966), S. 5–17, hier S. 5f. Dazu Sprengel, Geschichte u. Rasch, Fin de siécle als Ende und Neubeginn, S. 33. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (Zitate fortan im Haupttext belegt als: KSA), hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, Bd. 1, S. 379. Vgl. Heide Eilert, Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900, Stuttgart 1991, S. 180. Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 10: Shakespeares Mädchen und Frauen und Kleinere literaturkritische Schriften, bearb. v. Jan-Christoph Hauschild, Hamburg 1993, S. 301. Dazu Hans Joachim Schoeps, Vorläufer Spenglers. Studien zum Geschichtspessimismus im 19. Jahrhundert, Leiden 1953. Vgl. dazu Wiora, Die Kultur kann sterben, S. 53. Ludwig Büchner, Am Sterbelager des Jahrhunderts. Blick eines freien Denkers aus der Zeit in die Zeit, Gießen 1898, S. 371. Vgl. auch Wiora, Die Kultur kann sterben, S. 50. Vgl. Wiora, Die Kultur kann sterben, S. 51. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887, S. 288. Gerhart Ouckama-Knoop, Die Dekadenten, Leipzig 1898, S. 81ff. Vgl. Rasch, Die literarische Décadence, S. 41. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, 2. Aufl. München 1953, S. 46. Émile Zola, Mes haines, Paris 1880, S. 57. Vgl. Rasch, Die literarische Décadence, S. 42. Zit. n. Rasch, Fin de siècle als Ende und Neubeginn, S. 45. Ferdinand Tönnies, Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik, Leipzig 1897, S. 20.
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Tönnies, Der Nietzsche-Kultus, S. 72. Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden (GW), Bd. XII, Frankfurt/M. 1974, S. 201. Thomas Mann, GW, Bd. XI, S. 311. Dazu Eduard Hüttinger, Leonardo- und Giorgione-Kult. Materialien zu einem Thema des Fin de Siècle, in: Bauer et al., Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, S. 143–169, hier S. 149. Vgl. Bernd Roeck, Florenz 1900. Die Suche nach Arkadien, München 2001, S. 214. Roeck, Florenz 1900, S. 219. Roeck, Florenz 1900, S. 218. Vgl. Eilert, Das Kunstzitat, S. 192. Walther Rehm, Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 54 (1929), S. 296–328, hier S. 309. Der Aufsatz ist auch heute noch grundlegend. Ergänzend das wichtige Buch von Gerd Uekermann, Renaissancismus und Fin de siècle. Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende [= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker NF 84 (208)], Berlin 1985. Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben (GW), hg. v. Herbert Steiner, Prosa I, Frankfurt/M. 1956, S. 147. Hugo von Hofmannsthal, GW, Gedichte und lyrische Dramen, Frankfurt/M. 1946, S. 207. Hugo von Hofmannsthal, GW: Prosa I, S. 157. Richard Dehmel, Bekenntnisse, Berlin 1926, S. 45 (Tagebucheintrag vom 19. Februar 1894). Heinrich Wölfflin, Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, 3. Aufl. München1908, S. 22. Wölfflin, Renaissance und Barock, S. 23 u. 45. Wölfflin, Renaissance und Barock, S. 23. Dazu Ritter-Santin, Maniera Grande, S. 189. Rainer Maria Rilke, Die weiße Fürstin, in: Sämtliche Werke, hg. v. Rilke-Archiv, besorgt durch Ernst Zinn, Erster Band, Frankfurt/M. 1955, S. 203. Zitiert bei Ritter Santini: Maniera Grande, S. 171. So Ritter Santini, Maniera Grande, S. 184 im Kommentar zu ihrem Rilke-Zitat. Hugo von Hofmannsthal in einem Brief an Walther Brecht vom 20. 2. 1929, in: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, S. 234. Brief an Franz Overbeck vom 10. November 1882, in: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Briefe Januar 1880-Dezember 1884, Berlin 1981 [= Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 3. Abtlg., 1. Bd], S. 276. So Rehm, Der Renaissancekult, S. 306. Heinrich Mann, Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy. II: Minerva, Frankfurt/M. 1987 [= Heinrich Mann, Studienausgabe in Einzelbänden, hg. v. Peter-Paul Schneider], S. 117. Heinrich Mann, Die Göttinnen, I: Diana, S. 227f. Heinrich Mann, Die Göttinnen, III: Venus, S. 230. Vgl. Eilert, Das Kunstzitat, S. 107. Dazu Eilert, Das Kunstzitat, S. 159. Heinrich Mann, Flöten und Dolche. Novellen, Frankfurt/M. 1988 [= Heinrich Mann, Studienausgabe in Einzelbänden], S. 43. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten, Frankfurt/M.1988 [= Heinrich Mann, Studienausgabe in Einzelbänden], S. 280. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland, S. 290f. Thomas Mann, GW, Bd. VIII, S. 302.
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Thomas Mann, GW, Bd. VIII, S. 305f. Heinrich Mann, Die Jagd nach Liebe, Frankfurt/M. 1987 [= Heinrich Mann, Studienausgabe in Einzelbänden], S. 429f. Das vollständige Zitat bei Sprengel, Geschichte; weitere Krankheitsbelege bei Rasch in Fin de siècle als Ende und Neubeginn. Heinrich Mann, Die Jagd nach Liebe, S. 162.
Johannes G. Pankau
Unterhaltungskultur um 1900: Film, Cabaret, Varieté Begriff, Selbstverständnis und Rezeption von Literatur haben sich bis in die Zeit um 1900 stark verändert. Seit dem 19. Jahrhundert wird immer deutlicher eine ‚ikonische Wende‘ wahrgenommen eine Verheißung der Bilder1, die aber einhergeht mit einer tiefgreifenden ‚Wahrnehmungskrise‘, die u. a. im berühmten Chandos-Brief Hofmannsthals ihren Ausdruck findet. Die hier angesprochenen Veränderungen sind hoch komplex, heteronom und teilweise auch widersprüchlich, in diesem Rahmen lassen sie sich nur skizzieren und an wenigen Phänomenen illustrieren. Im Zentrum stehen Funktion und Stellenwert der Literatur (wie auch des Theaters) um 1900 im Zusammenhang mit dem Auftreten neuer technischer Medien sowie einer metropolitanen Unterhaltungs- oder Zerstreuungskultur.2 Bereits im 19. Jahrhundert gab es Vorboten einer Wende: die sog. Buch- und Literaturkrise seit etwa 1850, die Entwicklung neuer Rezeptionsformen des Literarischen sowie veränderte Geschmackspräferenzen, auch die technisch wie sozial bedingte Entstehung einer populären Massenliteratur. Entscheidend aber für die Zukunft war die Erfindung und Verbreitung neuer Bildmedien – damit im Verbund die Entwicklung hin zu einer großstädtischen Unterhaltungskultur, die für breite Konsumentenschichten Vergnügungen aller Art offerierte: den ‚Kientopp‘ als neuer Thrill, aber auch andere Formen der Massenunterhaltung: Zirkus, Chanson/Moritat, Cabarets, Varietés oder volkstümliches Theater.
Neue Unübersichtlichkeit Seit dem späteren 19. Jahrhundert vollzieht sich, vor allem in den Metropolen, eine fundamentale Umwälzung der Lebenswelt, die alle gesellschaftlichen Bereiche mehr oder weniger stark erfasst.3 Die deutsche Gesellschaft erfährt nach der Reichsgründung einen gewaltigen Entwicklungsschub, eine rasante, wenn auch ungleichmäßige Modernisierung bricht sich Bahn, am augenfälligsten in der Zentralregion Berlin. Kulturell eröffnen sich neue Formen der Lebenspraxis für breite Schichten, was als Gewinn, teilweise aber auch als Schock erlebt wird – Abwehrhaltungen provozierend. Die entstehende Unterhaltungskultur wendet sich
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an die neuen großstädtischen Mittelschichten, die über Bildung, finanzielle Mittel und Freizeit verfügen. Die soziologische Erfassung dieser heterogenen Gruppe durch Siegfried Kracauer wurde zwar erst gegen Ende der Weimarer Republik geleistet, jedoch bildete sich eine sozial bedeutsame großstädtische Angestelltenschicht bereits in der Vorkriegsphase heraus. Heteronomie, Vielfalt, Widersprüchlichkeit – diese Kennzeichen der Fin-deSiècle-Kultur zeigen sich auch in den etablierten ‚hohen‘ Künsten, im Theaterleben ebenso wie im sog. ‚Stilpluralismus‘ der Literatur. Dem gestiegenen Unterhaltungsbedürfnis trugen die neuen technischen Medien ebenso Rechnung wie traditionelle Institutionen, etwa das Theater, das sich durch die Entwicklung neuer Genres ein Massenpublikum erschloss.4 Die künstlerischen Hierarchien wurden zunehmend relativiert – so kam es zu einem Neben- und Gegeneinander von extrem konservativen Positionen und Versuchen, den Anschluss an die neuen medialen und massenkulturellen Formen herzustellen. Selbst die Figur des Kaisers zeigt diese Gegensätze: Während vom Hof (im Verein mit klerikalen, ultramontanen, reaktionären Kräften) Versuche zur Verschärfung der Zensur (§ 184 StGB) unternommen wurden und Wilhelm II. in seiner Rede vom 18. 12. 1901 ein prononciert antimodernes Kunstverständnis ausdrückte, nutzte er selbst zunehmend die neuen Möglichkeiten medialer Selbstinszenierung (Fotografie, auch schon Film) zum Zwecke öffentlicher Wirkung.5 Die Folgen des Aufstiegs massenkultureller Phänomene für Gruppenmentalitäten, kollektive Wahrnehmungs- und Verhaltensformen wurden im zeitgenössischen Kontext bereits präzise analysiert, am genauesten in den Arbeiten des Soziologen und Kulturphilosophen Georg Simmel. Simmel beschäftigte sich mit Facetten des modernen Habitus und der Gefühlsökonomie, auch mit Themen der Stadtentwicklung und der daraus folgenden Wahrnehmungsveränderungen. In seinem 1903 erschienenen Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben versuchte Simmel auf der Basis von Beobachtungen in der neuen Metropole Berlin die Signatur der großstädtischen Moderne zu erfassen. Er sah die Vormachtstellung von Geld und Warenverkehr als Voraussetzung der entstehenden Freizeitund Vergnügungskultur, der Moden, den neuen Formen der Warenpräsentation, der Bedeutung des Konsums und seiner neuen Trägerschichten. Dies durchaus kritisch und teilweise mit kulturpessimistischer Tendenz wie in seinem Aufsatz Infelices Possidentes (1893), in dem er „den hohlen Prunk modernster Vergnügungen“6 beklagt Die neuen, bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts sich abzeichnenden Entwicklungslinien in Kunst und Kultur zeigen sich vor allem in folgende Tendenzen: − die Aufweichung der noch im 19. Jahrhundert relativ festgefügten Bewertungsund Geschmackskonventionen und Wertungshierarchien und damit die Öffnung für neue Rezipientenschichten, − die Heteronomisierung der einzelnen Künste, Genres und Werke, die Entstehung gemischter Formen, die für die Weiterentwicklung der künstlerischen Moderne wegweisend sind,
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− damit einhergehend eine Veränderung der Begriffe von Autor und Produzent im Sinne von Entautorisierung und ‚Versachlichung‘. Obwohl nach wie vor eine konstitutive Scheidung der einzelnen kulturellen Bereiche bestand (Hoch- und Trivialformen, Vergnügen und ‚Erbauung‘, Staats- und Hoftheater und Unterhaltungsbühne), so zeigten sich an den Rändern und in den Zwischenzonen doch zunehmend Interdependenzen. Diese neuen Positionierungen um 1900 wurden getragen von markanten (und heftig umstrittenen) Außenseiterfiguren (Panizza, Wedekind, Strindberg, die Secession in der bildenden Kunst). Um sie herum gruppieren sich relativ autonome und offene Szenen, die Zentren der großstädtischen Bohème, aber auch die lebensreformerischen Bünde oder ästhetisch-weltanschauliche Gruppen wie der George-Kreis, die Kosmiker oder das ‚Junge Wien‘. Für die künstlerische Moderne wegweisend sind vor allem die Überlappungen des ‚Hochliterarischen‘ mit den Sphären der Unterhaltungskultur. Diese ‚Vermischungen‘ ergaben sich aus sehr unterschiedlichen Intentionen und Wirkungsabsichten, wie im Folgenden gezeigt wird. Angepeilte synästhetische Effekte spielen meist eine wichtige Rolle, zugleich die Integration des Körperlich-Sinnlichen, der Bewegung, auch des Erotischen als Reaktion auf eine Tendenz zur Abstraktion in der bisherigen Kunst. Alle diese Eigenschaften vereint der Film, der zu Ende des 19. Jahrhunderts auf den Plan tritt.
Visualität – die Rolle des Films Grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des Films ist – im Verbund mit den technischen Erfindungen – die ‚Visualisierung‘ der Kultur bereits während des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit schwindet, wie Kittler gezeigt hat, das Speichermonopol des Schriftlichen durch die Ausdifferenzierung der akustischen wie visuellen Medien (Grammofon, Telefon, gespeicherte Bewegungsbilder), es kommt zu einem kontinuierlichen Anstieg der vom Individuum wahrgenommen Bilder.7 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich die kulturell wirksame Bildhaftigkeit explosiv weiter und erreicht größere Konsumentenschichten, zunächst vor allem durch massenhaft produzierte Postkarten und illustrierte Presseprodukte. Die im vergangenen Jahrhundert neu entstandenen oder popularisierten Bildmedien – Panorama, Panoptika, Laterna magica, auch Schaufenster, Passagen, Expositionen – zusammen mit der Aufhellung der Innenstädte durch verbesserte Beleuchtung (Elektrizität) führen zur Steigerung visueller Wahrnehmung und des panoramischen Sehens sowie zu einem beständigen Wechsel der Seheindrücke. Spuren all dessen lassen sich schon in Schreibformen des literarischen Realismus entdecken.8 Dass gerade das Aufkommen des Kino eine Herausforderung für die Literatur (und auch das Theater) darstellte, und zwar nicht nur im Sinne eines ‚Verdrän-
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gungswettbewerbs‘, das ist vielen literarischen Autoren um 1900 noch nicht klar, erst später setzt sich diese Erkenntnis allgemein durch, die Bertolt Brecht dann 1931 auf den Punkt brachte: Die alten Formen der Übermittlung [. . .] bleiben durch neu auftauchende nicht unverändert und nicht neben ihnen bestehen. Der Filmsehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmesehender.9 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gehen Literatur und Film eine „zwangsläufige und unabweisbare, problematische und stets konfliktreiche Liaison“10 ein. Die Reaktionen der Autoren reichen in dieser Frühphase von Erschrecken bis Bewunderung, im Allgemeinen überwiegt noch die Wahrnehmung des reproduzierten bewegten Bildes als einer Sensation, eine Wirkung auf die Schreibpraxis ist eher längerfristig und subkutan. Die Möglichkeit, bewegte Realitätsbilder in kurzen Streifen auf eine Leinwand zu projizieren, war zunächst örtlich fixiert auf Jahrmärkte. Spelunken, Varietés kamen hinzu. Gelegentlich verirrten sich Menschen der höheren Stände hierher – wie Alfred Döblin, der 1909 das Spektakel interessiert, aber nicht ohne Herablassung als Remedium gegen die Trunksucht der proletarischen Massen empfahl, um dann den Schluss zu ziehen: „Der Höhergebildete aber verlässt das Lokal, vor allem froh, dass das Kinema – schweigt.“11 Das Kino kann zunächst keinen Kunstcharakter beanspruchen, es zeigt sich allem Hochkulturellen gegenüber fremd, vor allem fehlt noch, was Brecht dann als Wesentliches für die literarische Praxis ansah, die Verbindung zum Narrativen, die kurzen frühen Filmstreifen beschränken sich in der Regel auf die Vorführung eines singulären Akts, akrobatische Sprünge, fauchende Wildkatzen oder exotischen Tanz. Bald aber entstanden die ersten stationären Kinos, die Filme wurden länger, Kamera- und Schnitttechniken differenzierter – das ursprüngliche Kino der Attraktionen entwickelte sich zu narrativer Integration.12 Der Film ist von Beginn ein hybrides Medium, er „bündelt [. . .] synkretistisch ältere Medien“13. Bereits früh wurden Spannung schaffende Elemente der Erzählliteratur und Bauprinzipien des Theaters integriert, gleichzeitig die Nummernabfolge aus Zirkus, Music Hall und Varieté (nach der Jahrhundertwende auch der Revues). Schon bald treten neben Sensationalismus und Kolportage auch Versuche komplexer Bildkomposition. Als technischen Innovationen wie ökonomischen Wandlungen permanent unterliegendes Medium ist dem Film eine Dynamik inhärent, die bald auch in die Richtung der etablierten Künste ausstrahlt und deren Exponenten zu neuer Positionierung nötigt. Das Kino wird zu einem Kulturfaktor, dem sich zunehmend auch das Publikum des Mittelstands und des Bildungsbürgertums öffnet. Neben grundsätzlich ablehnenden Stimmen, die das Kino auf einer Stufe mit der ‚Schundliteratur‘ stellen, gibt es bald auch differenzierende Äußerungen aus Literaten- und Intellektuellenkreisen: Man zieht zum Beispiel positiv die Eignung des Films als Erziehungsmittel in Betracht, und selbst
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schroff verdammende Äußerungen wie die von Franz Pfemfert deuten darauf, dass hier eine Auseinandersetzung der Tradition (Literatur) mit dem Neuen (Film) begonnen hat, die nicht mehr aufhören wird: „Ein schlechtes Buch kann die Phantasie des Lesers irreleiten. Kino vernichtet die Phantasie. Kino ist der gefährlichste Erzieher des Volkes.“14 Die wachsende Bedeutung von Film und Kino führte dazu, dass dieser Bereich zunehmend zum Kampfplatz der verschiedenen ästhetischen und kulturpolitischen Positionen (und auch zum Ziel staatlicher Interventionen) wurde. Die Kunsterziehungsbewegung etwa bemühte sich, das neue Medium über die bloße Unterhaltung hinaus in seinem ästhetischen Wert zu heben. Solche Versuche sind Teil der um 1900 vor allem im Buchwesen leidenschaftlich ausgefochtenen Kämpfe um ‚Schmutz und Schund‘.15 Vereinzelt gab es auch schon Versuche, einen eigenständigen Kunstcharakter des Films zu begründen.16 Insgesamt aber ist das frühe Kino in der öffentlich-kritischen Wahrnehmung noch stark an den Unterhaltungssektor, teilweise auch Dokumentation und Repräsentation gebunden.17 Bei den Produzenten ‚anspruchsvoller‘ Literatur rief das neue Medium zunächst eher Abwehrreaktionen hervor. Man versuchte häufig, die Literatur in ihrer ästhetischen Exklusivität zu halten, was besonders für die Lyrik gilt.18 Die technisch-visuellen Medien mit dem Höhepunkt des bewegten Bildes bedrohten offensichtlich die überkommenen Grenzziehungen zwischen einer elitären Hochkultur und einem trivialen und anspruchslosen Unterhaltungsangebot für die breiten Massen. Schon in Baudelaires ‚Protest gegen die Fotografie‘ formulierte sich ein ästhetizistischer Vorbehalt gegen die neuen Medien. Äußerungen von modernen Autoren dem Film gegenüber waren häufig von Skepsis geprägt, Ernst Bloch etwa wandte noch 1914 ein, das Auge sei durch die Wahrnahme von Filmen überlastet. Gleichzeitig finden sich bald auch positive Stimmen und ernsthafte Reflexionen wie Georg Lukács’ Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos (dt. 1913), bei Hugo von Hofmannsthal (Film als Massenkultur), zahlreiche Autoren waren selbst begeisterte Kinogänger (Kafka, Schnitzler).19 Von einer persönlichen Vorliebe hin zur produktiven Aufnahme des Films war es aber noch ein weiter Weg, auch bei Schriftstellern, die schon früh an Filmskripts mitarbeiteten, überwogen oft handfest finanzielle Interessen, so bei Gerhart Hauptmann oder Max Halbe, der 1912 einen Coup landete, als er für die Filmrechte an seinem Roman Die Tat des Dietrich Stobäus 4 000 Reichsmark erhielt.20 Andere Autoren, besonders aus dem Umkreis des Expressionismus, versuchten bald, die bisher im Roman vorherrschende Charakterpsychologie zu überwinden und einen kameraanalogen Außenblick zu realisieren; Alfred Döblin entwarf in seinem Berliner Programm von 1913 bereits eine Art ‚Kinostil‘, geprägt von Verknappung, Reihung, Kombinatorik, Simultanstil, einem Verfahren, das Ähnlichkeiten zur filmischen Montage aufweist. Das Erzählverfahren soll objektiviert werden, der Autor zurück treten. Im Appell An Romanautoren und ihre Kritiker (1913 im Sturm) heißt es:
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. . . der Gegenstand des Romans ist die entseelte Realität. Der Leser in voller Unabhängigkeit, einem gestalteten, gewordenen Ablauf gegenübergestellt; er mag urteilen, nicht der Autor. Die Fassade des Romans kann nicht anders sein als aus Stein oder Stahl, elektrisch blitzend oder finster; sie schweigt.21 Versuche einer produktiven Aufnahme des Filmischen im Kontext der Literatur wurden im Expressionismus unternommen, der sich – wie das Kino – explizit als Großstadtkunst verstand, wie bereits Emilie Altenloh in ihrer frühen Dissertation Zur Soziologie des Kinos (1914) vermerkte. Bezeichnenderweise ist der Anreger der ersten Sammlung von Filmszenarien Kurt Pinthus, der ‚expressionistischen Generation‘ zugehörig, 1920 gab er die bahnbrechende Sammlung expressionistischer Lyrik Menschheitsdämmerung heraus.
Das Kinobuch Dieser wichtigste Versuch, literarische Praxis und filmische Kompositionsformen produtiv zu verbinden, erschien noch kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrieg. Sechzehn meist jüngere Autoren wurden eingeladen, für den Sammelband kurze ‚Filmerzählungen‘ oder ‚Filmszenarien‘ nach freier Wahl zu verfassen; es beteiligten sich damals bereits bekannte Schriftsteller wie Max Brod, Albert Ehrenstein, Walter Hasenclever, Else Lasker-Schüler oder Paul Zech, aber auch noch recht Unbekannte wie Heinrich Lautensack, der im Umkreis der Münchner Bohème und beim Cabaret begonnen hatte und als einziger Erfahrungen in der praktischen Filmarbeit hatte; seit 1912 schrieb er Drehbücher und Szenarien für die Continental-Kunstfilm GmbH, eine Praxis, die auch in seinen Entwurf für das Kinobuch einfließt. Der bereits 1919 in einer Nervenheilanstalt verstorbene Bayer repräsentiert einen Ansatz multimedialer Praxis, als Dramatiker, Mitarbeiter bei Kabarett und Film. Früher Tod wie geistige Zerrüttung verhinderten, dass er für die Nachwelt zu mehr als einer Fußnote wurde; heute ist fast nur noch die bizarre Episode bekannt, als er laut schreiend bei der Beerdigung seines Idols Wedekind 1918 versuchte, Filmaufnahmen zu machen.22 Keins der Exposés wurde realisiert, aber die Bedeutung des Buches liegt darin, dass hier erstmalig in Deutschland der Versuch unternommen wurde, das Nachdenken über das neue Medium mit praktischen Ansätzen zu verbinden. Pinthus rückte in seinem Vorwort den Film neben die wichtigste epische Langform, den Roman: Viel mehr als dem Theaterstück könnte das Kinostück dem Roman ähnlich genannt werden. Während im Drama die Personen auf der Bühne festgehalten sind, kann im Kino wie im Roman der Zuschauer sich mit den Handelnden fortbewegen, und in steter Bewegung, unabhängig von räumlicher Begrenzung, Handlungen ausführen sehen.23
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Dieses Argument ist wichtig, denn der Aufstieg des Films zur eigenständigen Kunstform ist eng verbunden mit der Autonomisierung gegenüber dem Theater. Die Autoren und Regisseure wollten keine Dramen für die Massen herstellen, sondern filmische, den Gesetzen von Raum und Zeit enthobene Geschichten erzählen, und diese Narrativierung verbürgt die Wirkung des Kinos bis in die Gegenwart. Dem standen anfangs allerdings die technischen Begrenzungen, etwa durch die starre Kamera und die Schwierigkeit, Außenaufnahmen zu machen, entgegen. Noch der sog. ‚expressionistische Film‘ arbeitete teilweise mit bemalten Theaterkulissen – und dies nicht nur aus künstlerischen, sondern auch aus technischen Gründen.24 Filmautoren und expressionistische Literaten fanden eine gemeinsame Ebene im Willen zur Entgrenzung, der Transzendierung des bloß Realistischen, damit in der Aktivierung des Möglichkeitssinns der Rezipienten. Wie die schnellen Schnitt- und Einstellungssequenzen des Films sich mit frühexpressionistischen Vorstellungen von Simultaneität treffen, zeigen Gedichte wie Jakob van Hoddis’ Weltende oder Alfred Lichtensteins Kientoppbildchen, wo in der Reihung heteronomer Wahrnehmungspartikel die für das Kinoerlebnis typische Mischung aus Erregungssteigerung und Zerstreuung evoziert wird: Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma, Ein lautlos tobendes Familiendrama Mit Lebemännern dann und Maskenbällen. Man zückt Revolver, Eifersucht wird rege, Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf. Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf Die Älplerin auf mächtig steilem Wege. [. . .] Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht – Flirrt das hinein, entsetzlich! nach der Reihe! Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht – Wir schieben geil und gähnend uns in Freie.25
Bierbaum: Hans Dampf in allen Gassen, ein neuer Typ des Literaten Ein Typ des Literaten betritt in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die Szene, der sich aus den Höhen der anspruchsvollen Literatur in die Niederungen des Unterhaltungsbetriebes begibt. Natürlich ist das nicht ganz neu, vor allem aus finanziellen Gründen hatten auch ernsthafte Literaten schon vorher für Kleinkunstbühnen oder als Texter für das leichte Musiktheater gearbeitet, aber nun entdecken einige bekannte Schriftsteller Varieté, Kabarett, Singspiel oder Revue
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für sich, das Tingeltangel ist Ihnen nicht nur Geldquelle, sondern erscheint auch als Möglichkeit, die tradierten und teilweise verkrusteten Strukturen des etablierten Literatur- und Theaterbetriebs zu überwinden. Der naturalistischen und nachnaturalistischen Avantgarde entstammende Schriftsteller sehen – wie Wedekind – im Zirkus ein Strukturmodell für ihre eigene Praxis, sie fragen sich – wie Panizza oder Strindberg – welche Impulse aus den als nieder oder trivial verworfenen Formen des Varietés, der Music-Hall oder des Kabaretts gewonnen werden könnten. Von Interesse für die Phase um 1900 sind aber auch formal eher konventionelle Autoren, die, wie Otto Julius Bierbaum oder Ernst von Wolzogen, sich auf verschiedensten Feldern des literarischen Betriebes betätigen, kommerziell erfolgreiche Vielschreiber, immer offen für neue Trends, Modernisten vielleicht, aber ‚mit gebremstem Schaum‘; ihre Nachwirkung blieb gerade deshalb sehr beschränkt, denn schon wenig später erschienen literarische Revoluzzer in den Salons und auf den Bühnen der Metropole, abstoßend und anziehend zugleich für ein großes Publikum. Bierbaum war ein homme de lettres an der Schwelle zur Moderne.26 Er brachte schon 1903 einen illustrierten Bericht heraus über eine Reise mit dem Automobil nach Italien – mit der Pointe, dass die AdlerAutomobilwerke als Sponsor fungierten.27 Dies war für ein jüngeres gut situiertes Publikum interessant, zumal der Autor die sprachlich-stilistische Radikalität mied und eher einen behaglich-gemütlichen Erzählton pflegte. Bierbaum wie auch Ernst von Wolzogen bedienten die Vergnügungsbedürfnisse des neuen Hauptstadtpublikums, besonders den ‚Kabarett-Boom‘, der nach Pariser Vorbild seit den 1890er Jahren auch in Berlin und München zu spüren war.28 In der Reichshauptstadt entstand zu Beginn des Jahrhunderts eine Vielzahl von Kneipentheatern und Kleinkunstbühnen. Wolzogen erkannte die Chancen und gründete 1901 am Alexanderplatz das erste deutsche Kabarett, des Überbrettl unter der Bezeichnung Buntes Theater; er beabsichtigte, Unterhaltung, aber auf hohem literarischen Niveau zu bieten; die Bühne sollte demokratisiert, den legitimen Unterhaltungsbedürfnissen der neuen mittleren Publikumsschichten geöffnet werden. Habe der Naturalismus die Arbeitssphäre gestaltet, so komme nun auch die Freizeit als eigenständiger Lebensbereich in den Blick. Wolzogen sieht sich als Pionier einer neuen populären, ästhetisch wie erzieherisch gerichteten Kunst; Ziel ist, wie Wolzogen 1900 in der Zeitschrift Das literarische Echo schreibt, „die Hebung der Varietébühne [. . .] auf ein künstlerisch anspruchsvolles Niveau“29. Der Kritiker Julius Bab sah schon 1904 das Projekt wie seinen Initiator skeptisch: Die „Verpflanzung des ‚Kabaretts‘, dieses charakteristischen Produkts der Pariser Bohémiens, auf norddeutschen Boden“30 könne prinzipiell nicht gelingen, außerdem sei Wolzogen, „der so ziemlich in allen neueren Zigeunerlagern Deutschland mitgetanzt hat, [. . .] wie als Schriftsteller [. . .], so auch als Bohémien von einiger Oberflächlichkeit“ 31 Der Begriff des ‚Veredelns‘ taucht im Zusammenhang mit dem Varieté immer wieder auf, auch wenn dahinter kommerzielle Motive leicht auszumachen sind. Gerade Bierbaum, heute so gut wie vergessen, war ein „repräsentativer Charakter
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der zeitgenössischen deutschen Literatur, mehr als das, er war einer ihrer erfolgreichsten Autoren.“32 1900 gab er eine Sammlung von Brettl-Liedern heraus, die Deutschen Chansons, vertreten sind aktuelle Autoren wie Dehmel, Holz, Liliencron, Wedekind und Wolzogen. Die Sammlung wurde zu einem großen kommerziellen Erfolg, bereits im Erscheinungsjahr wurden 20 000 Exemplare verkauft.33 Im Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede begründet Bierbaum die Auswahl seiner Chansons für das Varieté aus dem Zusammenkommen des Heteronomen. Zugleich will er die Kunst aus den elitären Zirkeln heraus für die große Masse der Konsumenten öffnen: „So wollen auch wir Gedichte schreiben, die nicht bloß im stillen Kämmerlein gelesen, sondern vor einer erheiterungslustigen Menge gesungen werden mögen. Angewandte Lyrik, – da haben Sie unser Schlagwort.“34 Mit dem Begriff der ‚angewandten Lyrik‘ nimmt Bierbaum eine Bestimmung vorweg, die später als ‚Gebrauchslyrik‘ im Kontext der Neuen Sachlichkeit Furore machen sollte. Für Bierbaum, typischer Vertreter der urbanen Moderne, ist es unzweifelhaft, „dem Unterhaltungsbedürfnisse unserer Mitmenschen mit künstlerischen Mitteln auch dort gerecht zu werden, wo bisher fast ausschließlich rohe Unkunst35 herrschte.“ Die Lyrik gilt nicht mehr im Sinne der Autonomieästhetik als allen realen Zusammenhängen entrückt, sie erhält vielmehr einen Platz im Lebensvollzug und wird als Medium der Entspannung akzeptiert. Ähnlich sollte auch das Theater verändert werden: Bierbaum war Anreger für Wolzogens „Überbrettl“-Projekt, ein vor allem intertextueller Zusammenhang, denn in seinem 1897 in Berlin erschienenen satirischer Roman Stilpe bildete er das Bohème-Leben der Zeit kritisch ab. Der Roman ist vor allem deshalb interessant, weil er aus einer Insider-Perspektive die Problematik des Versuchs zeigt, Unterhaltungsabsicht, kommerziellen Ehrgeiz (im Gründungsprojekt eines Varietés) und ästhetisch-volkerzieherischen Anspruch zu verbinden.36 Im Scheitern des Anti-Helden Stilpe als Person und Unternehmer führt Bierbaum einen prinzipiellen Widerspruch vor, der auch sein eigener war: die Unfähigkeit, hochfliegenden Kunstanspruch mit der Praxis der Unterhaltung zu verbinden. Gezeichnet wird hier eine deutsche Metropolenszene, die zwar die neuen Trends – vor allem von Paris – begierig aufnimmt, deren Literaten- und Theaterszene aber schwankt zwischen Weltstadtambitionen, traditionell bildungsbürgerlichen Ansprüchen und eher unbeholfenen Ausbruchsversuchen. Dies alles ist in die Titelfigur gelegt, denn Stilpe handelt zwar, wie es im Brief an eine Dame heißt, „mit dem ganzen Bohème-Elan seines ungeberdigen Wesens“ – zugleich aber erscheint er als eine durch seine Entwicklung gehemmte, wechselhafte und schließlich tragikomische Spottfigur – Bierbaum entwirft eine parodistische Spätversion des Bildungsromans. Vom gefeierten Kritiker will Stilpe – zusammen mit einem Kreis Gleichgesinnter – zum Kabarett- und Varietéunternehmer werden; im Gegensatz zu einer letztlich elitären Zeitschrift, wie sie anfangs geplant wurde, soll das Tingeltangel mit seinem Unterhaltungsangebot alle ansprechen:
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Was ist die Kunst jetzt? Eine bunte, ein bißchen glitzernde Spinnwebe im Winkel des Lebens. Wir wollen sie wie ein goldenes Netz über das ganze Volk, das ganze Leben werfen. Denn zu uns, ins Tingeltangel, werden alle kommen, die Theater und Museen ebenso ängstlich fliehen wie die Kirche. Und bei uns werden sie, die bloß ein bißchen bunte Unterhaltung suchen, das finden, was ihnen allen fehlt: Den heiteren Geist, das Leben zu verklären, die Kunst des Tanzes in Worten, Tönen, Farben, Linien, Bewegungen. Die nackte Lust am Schönen, der Humor, der die Welt am Ohre nimmt, die Phantasie [. . .].37 Wille zur Massenunterhaltung und die pathetisch formulierte Idee der kulturellen Hebung breiter Volksmassen lassen sich nicht zur Deckung bringen. Die Zentralfigur ist für diese Erkenntnis blind, ihr Schöpfer allerdings formuliert sie drastisch: Ausgerechnet der Bildungsbürger Stilpe veranstaltet aus kommerziellen Gründen ein primitives Spektakel, das er dann selbst noch ideologisch überhöht. Sein Unternehmen mutiert völlig vom Literarischen weg zu grellem Erotizismus, der seine Bundesgenossen beim Projekt ‚Momus‘ eher befremdet: Der Zweck des ‚Momus‘ ist direkt, eurer ganzen Literatur den Rest von Interesse zu nehmen, den sie etwa noch hat. Wir wollen die Berliner ästhetisch machen. Es giebt hier immer noch Menschen, die Bücher lesen. Das muß aufhören. In den Spitzenunterhöschen meiner kleinen Mädchen steckt mehr Lyrik als in euren sämtlichen Werken, und wenn die Zeit erst so weit ist, daß ich ohne Unterhöschen tanzen lassen kann, dann werdet sogar ihr begreifen, daß es überflüssig ist, andere Verse zu machen, als solche, die bei mir gesungen werden. [. . .] Und wenn ihr schon durchaus Verse machen müßt, so vergeßt doch nicht, daß sie von schönen Mädchen gesungen werden, die nicht mit leeren Korsetts auftreten.38 Das Unternehmen, das ursprünglich Unterhaltung, Erotik und Bildung vereinen sollte, es endet in einer billigen Sexshow. Bierbaum verbindet mit der Propagierung der Unterhaltungskultur zugleich deren Demontage. Im ebenso tragischen wie komischen Schluss führt er dann nochmals drastisch das vollkommene Scheitern seines Helden vor: Auf der Bühne einer verkommenen Vorstadtkneipe vollzieht sich der vorher immer wieder als Effekt inszenierte Selbstmord real. Diese tragikomische Pointe erinnert an Heinrich Manns ungleich kunstvoller konstruierten und wirkungsmächtigeren Roman Professor Unrat, der 1905 erschien. Auch dort werden die unvereinbaren Sphären des traditionellen, aber schon porösen Bildungsbestandes und das vulgäre ‚Tingeltangel‘ konfrontiert.
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Varieté Kabarett, Varieté (auch Spezialitätentheater genannt) und Revue, nach 1900 Sensation des Berliner Nachtlebens, sie werden nicht nur von Modeautoren und Praktikern wie Bierbaum und Wolzogen in Dienst genommen, schon seit den 1890er Jahren gewinnt das Varieté besondere Bedeutung für avantgardistische Schriftsteller. Hier fanden sie den Ausdruck der neuen Zeit, zuerst August Strindberg, der schon 1894 schrieb: „Die Spezialitäten-Theater, die das wirkliche Theater verdrängen, sind ein Symptom der Epoche. Die ‚Nummer‘ herrscht auf der Bühne, wie die Anekdote oder die Skizze im Journal.“39 Das konnte durchaus als ein Abgesang auf die Epoche des traditionellen Theaters verstanden werden. In seinem Aufsatz Qu’est-ce que le Moderne? von 1894, der 1895 auf Deutsch im Magazin für Litteratur erschien, entfaltet Strindberg sarkastisch ein Panorama der modernen Medien in ihren Auswirkungen vor allem auf Theater und Drama. Da für ihn Tempo das zentrale Signum der Moderne ist, avanciert der kurze Einakter zur adäquaten theatralen Reaktionsform, mehr aber noch das Varieté, das zugunsten des momentanen Reizes sogar auf eine kontinuierliche Handlung verzichtet.40 Auch wenn Strindberg das ‚wirkliche Theater‘ ästhetisch über die neue Form stellt, so überwindet sein Blick doch die Fixierung auf eine vormoderne Tradition: Literatur wie hochbürgerlichem Theater wird ihr hegemonialer Anspruch genommen; Strindberg interessierte sich intensiv für die neuen auditiven und visuellen Medien, die sich in seiner Zeit entwickelten. Im Theater scheint die Nummernrevue als Überwindung der alten, noch im Naturalismus praktizierten Form des teleologisch gerichteten, mimetischen Theaters. Verlangte dieses als Rezeptionsmodus die konzentrierte Anteilnahme, so begünstigen Varieté und technische Medien den Genuss von Augenblickseindrücken, die Zerstreuung. Die Abkehr von der Hegemonie der schriftlichen Abstraktion und der Mimesis konvergiert mit der Zuwendung zu neuen Speichermedien (bei Strindberg vor allem Fotografie). Betrachtet man die Versuche des späteren Strindberg als Form der „Krisenbewältigung“41 des Dramatischen, so schlägt sich hier auch die Tendenz zur Hybridisierung der Gattungen und Kunstformen nieder, die sich im späten 19. Jahrhundert vollzieht. Das Zusammenkommen verschiedenartigster Elemente proklamierte später – 1913 – der Begründer des Futurismus, Filippo Tommaso Marinetti, in seinem Manifest Das Varieté als Essenz der Gegenwartskunst. Es vereine alle vorwärtsdrängenden Merkmale der Moderne: 1. Das Varieté, das gleichzeitig mit uns aus der Elektrizität entstanden ist, hat zum Glück weder Tradition noch Meister oder Dogmen, sondern lebt von Aktualität. 2. Das Varieté dient rein praktischen Zwecken, denn es sieht seine Aufgabe darin, das Publikum durch Komik, erotischen Reiz oder geistreiches Schockieren zu zerstreuen und zu unterhalten.
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3. Die Autoren, die Schauspieler und die Techniker des Varietés haben eine einzige Daseinsberechtigung und Erfolgschance: ständig neue Möglichkeiten zu ersinnen, um die Zuschauer zu schockieren. [. . .] die Folge ist ein Wetteifer der Gehirne und Muskeln, um die verschiedenen Rekorde an Geschicklichkeit, Geschwindigkeit, Kraft, Komplikationen und Eleganz zu überbieten.42 Das Varieté mit seinen vielfältigen Darbietungen wurde zu einem natürlichen Mittelpunkt der sich rapide entwickelnden Metropolen – mit erotischen Tänzen wie dem Cancan als Höhepunkt – in Paris bestanden seit 1872 die Folies Bergère, 1889 wurde das Moulin Rouge gegründet.43 Die neue europäische Metropole Berlin folgte bald nach. Dies hatte Voraussetzungen: Schon nach der Einführung der Gewerbefreiheit in den meisten deutschen Staaten 1869 wuchs die Zahl der Theatergründungen, für die Zeit bis 1885 kann geradezu von einer „Theaterinflation“44 gesprochen werden; neben den Staats- und Hoftheatern als Repräsentanten der offiziösen Kultur entstanden zunehmend Unterhaltungstheater, die bald ein großes Publikum anzogen.45 Neue oder wieder belebte Genres reüssierten: Posse, Schwank, erotische Komödie, Formen des musikalischen Volkstheaters, Ende des Jahrhunderts auch die Operette46 Für das Unterhaltungstheater typisch wurde die Verbindung textlicher mit musikalischen Teilen (Couplets, Moritaten u. ä.), wie sie in Frankreich und England (Vaudeville, Music Hall), teilweise auch in der Tradition des österreichischen und deutschen Volkstheaters vorgebildet war. Alle diese Elemente wurden nun im Rahmen der Varietés, Spezialitätentheater oder Cabarets angeboten. Neben den musikalischen gehörten auch starke visuelle Effekte zu den Vorführungen; die neuen Formen der Dreh-, Schiebe-, Versenkbühne ermöglichten beschleunigte Szenenwechsel, das Tempo der theatralen Vorführung konnte der Nummernfolge in Zirkus und Varieté angeglichen werden. Unterhaltungs- und ‚seriöses‘ Theater befruchteten einander, traten um 1900 auch verstärkt in Konkurrenz. Die etablierten Theaterinstitutionen und ihre Autoren gerieten immer stärker unter Legitimationsdruck: Sie standen vor der künstlerischen Aufgabe, konzeptionell die moderne Wirklichkeit zu erfassen, zugleich Präsentationsformen zu entwickeln, die den Veränderungen der Publikumsstruktur und Erwartungshaltungen gerecht wurden, wollten sie einen hoffnungslos musealen Status vermeiden. Gerade die Klassikerpflege in den etablierten Theatern wurde als wirklichkeits- und publikumsfern kritisiert. Allerdings erreichte auch die Theater-Avantgarde meist nur eine Minderheit, einige ihrer Vertreter erkannten das Dilemma und entwickelten Konzepte, die das Unterhaltungstheater funktionell integrierten.
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Wedekind und Panizza Frank Wedekind wie Oskar Panizza bewegten sich zunächst im Umkreis des Naturalismus, entwickelten dann auf je unterschiedliche Weise dramatische und theatrale Ausdrucksformen, die radikal die Begrenzungen naturalistischer Darstellungsformen überschritten. Panizza stellte sich in seinem Aufsatz Der Klassizismus und das Eindringen des Variétés, den er 1896 in der Zeitschrift Die Gesellschaft veröffentlichte, die Frage, wie die neuen Formen der Unterhaltung mit ihren bunten Nummernfolgen das Theater und die Kunst allgemein beeinflussen. Er bestimmte die Bedeutung des Varietés in zweifacher Weise, als Möglichkeit der ästhetischen Restitution von natürlicher Empfindung und als Destruktion beengender Moralvorstellungen durch das Aufscheinen spontaner Sinnlichkeit. Ausgangspunkt ist das Erlebnis eines Varieté-Besuchs mit dem raschen Wechsel der Eindrücke einer körperlichen Vorführung (Bewegungsanmut einer Tänzerin). Gegenüber einer obsoleten ‚klassizistischen‘ Systematik und Ordnung der ästhetischen Wahrnehmung dringe durch die „Eingangspforten“ sinnlichen Erlebens im Varieté eine „Mischung von seltsamen Tönen, kindlichem Schmachten und exotischem Jauchzen tief in unsere Nerven [. . .] und bis zu den letzten Tiefen der Entstehung unseres künstlerischen Geschmacks“47 vor. Panizza betreibt radikal die Destruktion der bisher noch weitgehend beachteten dramatischen Normen (mimetische Grundausrichtung, systematische Tektonik etc.), damit negiert er bewusst die Exklusivität und Abgeschlossenheit des bildungsbürgerlichen Kunstkanons. Dieser erscheint als bereits abgestorben. „[. . .] der Klassizismus [. . .] ist einzig und ausschließlich in die Schüler und Philologenköpfe verdrängt, wo man nicht empfindet, sondern auswendig lernt, nicht mit dem Herzen betet, sondern Litaneien spricht.“48 Selbst realisierte Panizza seinen radikalen Ansatz und die explosiven Mischungsverhältnisse in seinem als Skandal empfundenen Stück Das Liebeskonzil. 49 Für Frank Wedekind wurde schon früh eine ‚niedere‘ Unterhaltungskunst zum Modell seiner eigenen Gestaltungsabsicht, der Zirkus, seit dem 18. Jahrhundert in den meisten europäischen Ländern als Jahrmarktsvergnügen präsent, faszinierte Wedekind lebenslang. Schon der 23jährige Autor veröffentlichte in der Neuen Zürcher Zeitung ein großes Plädoyer für die Bewegungs- und Körperkunst als Ausdruck der Modernität: [. . .] das maßgebende Prinzip der Manege ist die Elastizität, die plastischallegorische Darstellung einer Lebensweisheit, deren gerade wir Kinder des neunzehnten Jahrhunderts, für die die alte, gemütliche Pilgerfahrt, jene langgedehnte Aufnahmeprüfung für bessere Tage, zu einer ununterbrochenen, rast- und ruhlosen Steeplechase über nichts als Hindernisse und Fallgräben hinweg geworden ist, deren gerade wir, sag’ ich, am meisten bedürfen.50
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Wedekind übertrug die in seinem Verstande zentralen Merkmale des Zirkus – Körperlichkeit (‚Elastizität‘), Buntheit, Geschwindigkeit, Erotik – auf seine Dramatik, transformierte sie dabei freilich tiefgehend. Mit neuen medialen Ausdrucksformen und mit Unterhaltung hatte er auch persönlich in jungen Jahren zu tun. 1886/87 leitete er die Werbeabteilung der aufstrebenden Schweizer Firma Maggi und verfasste Verse für die Kampagnen.51 Wichtiger noch waren Wedekinds Aktivitäten als Rezitator, Schauspieler und in gewisser Weise auch als Selbstdarsteller, die ihn bekannt machten, bevor er mit seinen ‚ernsten‘ Dramen auf den großen Bühnen Erfolg hatte. Wedekind war 1901/02 Ensemblemitglied des neu entstandenen Kabaretts Die Elf Scharfrichter in München.52 Er steuerte Balladen und Lieder bei, die er auch selbst zur Laute vortrug. Schon seit seiner Zeit in Paris war er von den neuen Formen der metropolitanen Unterhaltungskultur fasziniert und schöpfte aus diesem Reservoire bei seinen eigenen Versuchen, dem Pariser Revuetheater, dem französischen Salonstück und dem Feuilleton-Roman des 19. Jahrhunderts. Andererseits aber wollte er keineswegs auf eine Rolle als Unterhaltungskünstler reduziert werden, sondern insistierte auf seinem Anspruch als ernsthafter Lyriker und Dramatiker. Anders aber als den letztlich konservativen Bierbaum und Wolzogen geht es ihm nicht um die Verbindung des Unterhaltenden mit traditionellen Bildungswerten, sondern um den Anschluss der deutschen Dramatik an die Moderne und einen grundsätzlichen Neubeginn, dazu dient der Einbau unterhaltender oder sogar kolportagehafter Elemente, das von ihm entwickelte neue Drama realisiert sich als Misch- und Montageform. Besonders deutlich zeigt sich das konstruktivistische Prinzip im Bauplan der ‚Monstretragödie‘ Lulu, in dem „Traditionen der Farce, Klassiker-Parodien und Kolportage-Zitate, Melodram und szenische Groteske, Konversationsstücke und die theatralische Repräsentation ‚modernisierter‘ Mythen zusammen kommen“53. Die kabarettistische Praxis selbst verschaffte Anregungen und eine gewisse materielle Sicherheit, stand jedoch nicht im Zentrum von Wedekinds literarischem Selbstverständnis. Die Affinität zur Unterhaltungskultur zeigt sich in der Verwendung synästhetischer Effekte, neben den musikalischen Elementen stehen die visuellen Wirkungsmomente im Vordergrund, die Versinnlichung der theatralen Darbietungen, für Wedekind Teil seines Versuchs, die ‚blutleeren‘, abstrakten naturalistischen Theaterkonventionen zu überwinden. Statt den gezähmten ‚Haustieren‘ des vor allem von Ibsen geprägten Dramas soll, wie es im Erdgeist-Prolog formuliert wird, das wilde, gefährliche, lockende Tier in der Gestalt Lulus gezeigt, d. h. sinnlich-konkret vorgeführt werden. Deshalb entfaltet Wedekind, anders als die Naturalisten, keine durchgängig logisch oder psychologisch nachvollziehbare bürgerliche Realität, sondern begibt sich zur Quellen- und Materialsuche in die Niederungen der Kolportage und der Trivialmythen (allerdings auch der ‚hohen‘ Tradition), um damit einen sinnlicheren Realitätseindruck zu schaffen (etwa in der Figur des Jack the Ripper). Wedekinds Theater arbeitet deshalb auch mit einer Vielzahl von die Zuschauer irritierenden Elementen und Schockeffekten, die Einfühlung und Identifikation vermeiden sollen. Das neue Theater soll zugleich konkret-bildhaf-
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ter als auch ‚abstrakter‘ werden, auf die Wirkung der einzelnen Momente in ihrer Kombinatorik statt auf die gewohnte mimetische Darstellung vertrauen.54 Unterhaltung als kommerzieller Faktor für das Funktionieren des kulturellen Betriebes unter den Bedingungen des sich entfaltenden Kapitalismus erscheint auch immer wieder als Thema von Wedekinds Dramen. So werden im Kammersänger sowohl das klassische Repertoire als auch der Vortragskünstler selbst dem reinen Geschäftsprinzip ausgeliefert. In Hidalla werden die Ziele des idealistischen, dem Geschäftsprinzip unangepassten Weltverbesserers durch die Macht der kommerziellen Medien konterkariert. Jeweils nimmt Wedekind zeitgenössische Diskussionen auf, in diesem Falle die vielfältigen hochschwingenden Phantasien zu Auslesemodellen, die Eugenik-Diskurse der Jahrhundertwende. Jeweils steht ein hilfloser Idealist Propagandisten des modernen Geschäftsbetriebes gegenüber, die die Mechanik des Kommerzes enthüllen und das Scheitern der Helden funktional erklären. Der unüberbrückbare Gegensatz von Idealismus und Materialismus wird auch in der Figurenkonstellation eines der erfolgreichsten Stücke Wedekinds, Der Marquis von Keith, abgebildet. Dabei steht im Vordergrund ein Wedekind seit jeher faszinierender zeitgenössischer Sozialcharakter, der Geschäftemacher und Glücksritter, der versucht, die neuen ökonomischen Bedingungen für sich auszunutzen – die Pointe aber ist, dass dieser Abenteurer, der Marquis, letztlich den etablierten Reichen und Mächtigen unterliegt, die er düpieren wollte.55 Den Hintergrund des Marquis von Keith bildet konkret die Planung eines Vergnügungszentrums in München; Wedekind bezieht sich auf die Gründung des „Feenpalasts“ 1896 durch den Architekten Alexander Bluhm und den Unternehmer Friedrich Haenle. Der Direktor Emil Meßthaler, der zuerst ein Theater geplant hatte, erweiterte das Projekt dann unter dem Einfluss der Investoren, so dass ein großer Vergnügungspalast unter dem Namen „Deutsches Theater“ in der Schwanthaler Passage entstand – mit Cafés, Restaurants, Läden, Ballhaus, Varieté und riesigem Theatersaal, sehr begehrt vor allem bei Faschingsveranstaltungen. Das Projekt zog besonders die neuen zahlungskräftigen Schichten an. Wedekind führt es zunächst in der Hand eines Hochstaplers liegend vor, der die Vergnügungs- und Geldgier des Münchner Bürgertums für seine eigenen Zwecke ausnutzen will, wobei die geschäftlichen Mechanismen in den Blick treten. Da diese modischen Vergnügungsstätten Objekte der Spekulation waren, gab es starke Fluktuationen, Meßthaler als treibende Kraft wurde bald nach der Eröffnung bereits wieder entlassen.56 Wedekind entwirft, wie im Kammersänger, eine genuine modern Figur, es geht um die Vermittlung zwischen Kunst und Geld, wobei sich letzteres als entscheidender Machtfaktor erweist.57 Die Idee einer Zentrierung aller Künste in einem (modern gesprochen) multifunktionalen Rahmen, verabschiedet faktisch die alte idealistische Kunstidee und bildet den „Anfang einer vom Profit getriebenen, kapitalistischen Unterhaltungsindustrie.“58 Im 2. Akt entwirft Keith den Münchnern Pfahlbürgern, den „Karyatiden des Feenpalastes“, die die Finanzierung übernehmen sollen, in farbenkräftigen Wor-
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ten den Feenpalast als einen Konsumtempel für das wohlhabende Publium und kommentiert die Pläne: Was Sie hier sehen, ist der große Konzertsaal mit entfernbarem Plafond und Oberlicht, so daß er im Sommer als Ausstellungspalast dienen kann. Daneben ein kleinerer Bühnensaal, den ich durch die allermodernste Kunstgattung populär machen werde, wissen Sie, was so halb Tanzboden und halb Totenkammer ist. Das Allermodernste ist immer die billigste und wirksamste Reklame.59 Es gibt „Restaurationslokalitäten“, die das gesamte Erdgeschoss einnehmen sollen, Terrasse mit großem Café und Isarblick – eine vollendete und für die Investoren gewinnträchtige künstliche Genuss- und Erholungslandschaft, wie sie später in Berlin im Haus Vaterland oder den Lunaparks glamourös realisiert wurde, von Wellnesscharakter würde man heute sprechen. Ist auch der Marquis ein betrogener Betrüger, ein Spieler und Abenteurer, so entwirft Wedekind doch in seinem Stück kritische Abbilder der Formation einer Unterhaltungsindustrie, wie sie die ökonomisch-kulturellen Bedingungen der Jahrhundertwende hervortrieben. Die Vorstellung des Feenpalastes, in der noch Wagners Idee eines Gesamtkunstwerks aufscheint, ist durchaus ambivalent, Keith versucht, „die Kluft zwischen Kunst und Massenkultur“60 zu schließen, kann jedoch die Marktgesetzlichkeiten ebenso wenig aushebeln wie die Defizite der eigenen Person überwinden.
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So der Titel einer neueren Arbeit zum Thema: Sabine Schneider, Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900, Tübingen 2006. Vgl. Tobias Becker et al. (Hg.), Die tausend Freuden der Metropole: Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2011. Vgl. Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, München 2009, S. 12. Vgl. die Übersicht des Juristen und Theaterfachmanns Max Epstein, Das Theater als Geschäft, Berlin o. J. [1911], S. 5ff. Vgl. Peter W. Marx, Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen 2008; Wolfgang König, Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt, Paderborn 2007, S. 137, 181; Dominik Petzold, Der Kaiser und das Kino. Herrschaftsinszenierung, Populärkultur und Filmpropaganda im Wilhelminischen Zeitalter, Paderborn 2011. Georg Simmel, Infelices possidentes!, in: Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 17, Frankfurt/M. 2004, S. 293–297, hier S. 294; vgl. Daniel Fritsch, Georg Simmel im Kino. Die Soziologie des frühen Films und das Abenteuer der Moderne, Bielefeld 2009, S. 63ff. Vgl. Friedrich Kittler, Optische Medien: Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 25ff. Vgl. Sabina Becker, Literatur im Jahrhundert des Auges. Realismus und Fotografie im bürgerlichen Zeitalter, München 2010, S. 209. Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment, in: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M.1967, S. 156.
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Ludwig Greve (Hg.), Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm, München 1976, S. 7 (Vorwort). In: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929, hg. v. Anton Kaes, München 1978, S. 38. Vgl. Alexa Geisthövel u. Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2005, S. 228, auch Joseph Garncarz, Maßlose Unterhaltung. Zur Etablierung des Films in Deutschland 1896–1914, Frankfurt/M. 2010. Werner Faulstich, Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2012, S. 22. In: Kino-Debatte, S. 62. Vgl. Kaspar Maase, Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001. Zum Beispiel bei dem heute fast vergessenen Herberg Tannenbaum, vgl. Der Filmtheoretiker Herbert Tannenbaum, hg. v. Helmut H. Diederichs, Frankfurt/M. 1987. Vgl. Thomas Elsaesser (Hg.), Kino der Kaiserzeit: zwischen Tradition und Moderne, München 2002, S. 18ff, S. 24. Vgl. Andreas Kramer u. Volker Röhnert (Hg.), Die endlose Ausdehnung von Zelluloid. 100 Jahre Film und Kino im Gedicht, Dresden 2009. Äußerungen von Autoren s. Greve, Hätte ich das Kino! S. 159ff. Vgl. Greve, Hätte ich das Kino! S. 166f. In: Thomas Anz u. Michael Stark, Hg., Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, Stuttgart 1082, S. 66. Zu Lautensacks Werk vgl. Johannes G. Pankau, Sexualität und Modernität. Studien zum deutschen Drama des Fin de Siècle, Würzburg 2005, S. 197–229. Kurt Pinthus (Hg.), Das Kinobuch, Frankfurt/M. 1983, S. 21. Vgl. Silvio Vietta u. Hans-Georg Kemper, Expressionismus, 6. Aufl., München 1997, S. 130. In: Silvio Vietta (Hg.), Lyrik des Expressionismus, Tübingen 1976, S. 58f. So Erwin Koppen, Otto Julius Bierbaum – ein deutscher homme de lettres an der Schwelle zur Moderne, in: Das Wagnis der Moderne. FS f. Marianne Kesting, hg. v. Paul G. Klussmann et al., Franfurt/M. 1993, S. 215–231. Otto Julius Bierbaum, Eine empfindsame Reise im Automobil: von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein in Briefen an Freunde geschildert, ND Berlin 2002. Vgl. Ernst von Wolzogen, Ansichten und Aussichten. Ein Erntebuch, Berlin 1908. S. 222. Ernst von Wolzogen, Überbrettl (1901), in: Das Theater von Morgen. Texte zur deutschen Theaterreform (1870 –1920), hg. v. Christopher Balme, Würzburg 1988, S. 182–184, hier S. 102. Julius Bab, Die Berliner Bohème, hg. v. Michael Schardt, Paderborn 1994, S. 83. Bab, Die Berliner Bohème. S. 84. Koppen, Otto Julius Bierbaum, S. 215. Vgl. David Chisholm, Die Anfänge des literarischen Kabaretts in Berlin, in: Die freche Muse. Literarisches und politisches Kabarett von 1901 bis 1999, hg. v. Sigrid Bauschinger, Tübingen 2000, S. 21–37, hier S. 23. Otto Julius Bierbaum, Deutsche Chansons (Brettl-Lieder), Leipzig 1900, S. IXf. Bierbaum, Deutsche Chansons, S. 10. Zur Problematik der Varieté- und Cabaret-Gründungen vgl. Epstein, Das Theater als Geschäft, S. 11f. Otto Julius Bierbaum, Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive, München 1963, S. 171. Bierbaum, Stilpe. S. 180f. August Strindberg, Die Modernen? in: Das Magazin für Litteratur 64 (1895), Nr. 1, Sp. 5. Vgl. Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt/ M. 2004.
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Thomas Götselius, Die Hölle ist los: Strindberg schreibt, in: Walter Baumgartner u. Thomas Fechner-Smarsly (Hg.), August Strindberg. Der Dichter und die Medien, München 2001, S. 113–132, hier, S. 129. Filippo Tommaso Marinetti, Das Varieté (1913), in: Manfred.Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Kommentare, Reinbek b. Hamburg 1982, S. 319–323, hier: S. 319. Zur Entwicklung vgl. Wolfgang Jansen, Das Varieté. Die glanzvolle Geschichte einer unterhaltenden Kunst, Berlin 1990, S. 155. Nic Leonhardt, Pictorial-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869–1899), Bielefeld 200, S. 61-65-55. Zum Durchbruch des Unterhaltungstheaters vgl. Siegfried Jacobsohn, Das Theater der Reichshauptstadt (1904), in: Schriften 1900–1909, hg. u. komm. v. Gunther Nickel u. Alexander Weigel, Göttingen 2005, S. 11–102, hier: S. 11f. Wolfgang Jansen (Hg.), Unterhaltungstheater in Deutschland. Geschichte – Ästhetik – Ökonomie, Berlin 1995, S. 19. Oskar Panizza, Der Klassizismus und das Eindringen des Variété: Eine Studie über zeitgenössischen Geschmack, in: Die Gesellschaft 12 (1896), S. 1252–1274, hier, S. 1267. Ebd. Auch Moeller-Bruck sah das Zeitgemäße des Varietés in der „Unendlichkeit von Mischungen“, die er bei Wedekind, Bierbaum, Lindner, Panizza und im Varietétanz des Cancan entdeckte – Arthur Moeller-Bruck, Das Varieté. Eine Kulturdramaturgie, Berlin 1902, S. 2. Frank Wedekind, Kritische Studienausgabe, hg. v. Elke Austermühl et al., Bd. 5/II, Darmstadt 2013, S. 96f. Vgl. Hartmut Vinçon (Hg.), Frank Wedekinds Maggi-Zeit. Reklamen/Reisebericht/Briefe, Darmstadt 1992. Zur Praxis Wedekinds als Kabarettist und Bänkelsänger vgl. ausführlich Georg W. Forcht, Frank Wedekind und die Anfänge des deutschsprachigen Kabaretts, Freiburg/Br. 2009. Jörg Schönert, „Lulu Regained“. Überlegungen zur Lektüre von Frank Wedekinds „Monstretragödie“ (1894), in: Literatur und Gesellschaft. FS f. Theo Buck zum 60. Geburtstag, hg. v. Frank-Rutger Hausmann et al., Tübingen 1990, S. 183–193, hier S. 193. Zur Theaterrefom um 1900 vgl. Balme, Das Theater von Morgen, S. 11–29. Zur Popularität des Hochstaplers als Sozialcharakter um 1900 vgl. Marx, Ein theatralisches Zeitalter, S. 13ff. Zur Entstehung der Feenpaläste vgl. Frank Wedekind, Kritische Studienausgabe, hg. v. Elke Austermühl et al., Bd. 4, Darmstadt 1994, S. 464–467. Vgl. Elizabeth Boa, Die unheimliche Heimat oder die verwandelte Welt: Wedekind und die Moderne, in: Sigrid Dreiseitel u. Hartmut Vinçon (Hg.), Kontinuität – Diskontinuität. Diskurse zu Frank Wedekinds literarischer Produktion (1903–1918), Würzburg 2001, S. 119–147, hier S. 130. Boa, Die unheimliche Heimat, S. 132. Frank Wedekind, Der Marquis von Keith, Kritische Studienausgabe, hg. v. Elke Austermühl et al., Bd. 4, Darmstadt 1994, S. 181. Boa, Die unheimliche Heimat, S. 132.
Hans Richard Brittnacher
Artistik und Zynismus der Dekadenz – Heinrich Mann als Autor des Fin de Siècle Im sogenannten Abrechnungsbrief aus dem Jahre 1903 liest Thomas Mann, unverkennbar mit einem schon seit langem aufgestautem Groll, dem älteren Bruder die Leviten: Bei dessen letztem Roman – gemeint ist der sechste Roman Heinrich Manns, Die Jagd nach Liebe1 –, handele es sich um ein ästhetisches Debakel, um den Offenbarungseid eines Talentes, das zu Größerem befähigt sei, aber sich aus „Wirkungssucht“ an den Markt verkauft habe. Bestenfalls habe Heinrich mit dieser Art von Literatur „ein neues Genre von Unterhaltungs- oder ZeitvertreibsLektüre“ begründet, in dem alles „verzerrt, schreiend, übertrieben, ‚Blasebalg‘, ‚buffo“, „durch Maßlosigkeit verdorben“ sei. Neben dem schrillen Ton ist es der fehlende moralische Anstand, der den dégout des jüngeren Bruders provoziert: Anstößig sei der Roman, angefüllt mit „verrenkten Scherzen“ und „unanständigen Lügengeschichten“, mit „unwürdigen Grimassen und Purzelbäume“. Vor allem aber empört Thomas Mann eine Freizügigkeit der Darstellung, die selbst einen in dieser Hinsicht notorischen Autor, nämlich Frank Wedekind, bekanntlich der „frechste Sexualist der modernen deutschen Literatur“, noch übertreffe. Nichts bleibe vom Geheimnis des Eros, wenn die Protagonisten des Romans, kaum dass sich ihre Hände berühren, „mit einander umfallen und l’amore machen“. Spätestens hier, wo es um die für Thomas Mann so prekäre Erotik geht, wächst sich die Stil- und Moralkritik zu einer Diatribe aus, deren schriller Tonfall weniger von der Ungeniertheit des älteren Bruders als vom diesbezüglich hochempfindlichen Charakter des jüngeren verrät: Diese schlaffe Brunst in Permanenz, dieser fortwährende Fleischgeruch ermüden, widern an. Es ist zu viel, zu viel ‚Schenkel‘, ‚Brüste‘, ‚Lende‘, ‚Wade‘, Fleisch, und man begreift nicht, wie Du jeden Vormittag wieder davon anfangen mochtest, nachdem doch gestern bereits ein normaler, ein tribadischer und ein Päderasten-Aktus stattgefunden hat.2 Kürzt man Thomas Manns Äußerungen um die heftige Polemik, die eher über charakterliche als ästhetische Differenzen Auskunft gibt, liefern sie eine durchaus zutreffende, wenn auch gewiss nicht vollständige Diagnose der Besonderheiten
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von Heinrich Manns Poetik. Dazu zählt die thematische Konzentration auf Skandalgeschichten, auf die faits divers des sozialen Lebens und auf explizit erotische Sujets, aber auch das narrative Tempo der Darstellung, das bereitwillig dem Unterhaltungsinteresse eines stoffhungrigen Lesers entgegenkomme. Ungenannt bleibt, aber auch dies dürfte dem Formbewusstsein des jüngeren Bruders widerstrebt haben, die szenische Dimension der Romane mit ihrem hohen dialogischen Anteil, hinter denen oft kein Erzähler spürbar ist, allenfalls ein Regisseur, der Winke für das Einsprechen gibt.3 Mit dieser sowohl inhaltlich wie formal demonstrativen Respektlosigkeit unterscheidet sich Heinrich Mann nicht nur von der Ästhetik des jüngeren Bruders, sondern nimmt auch im Kontext der Literatur des Fin de Siècle eine Sonderstellung ein. Unter Bezug auf die „Merkwort[e] der Epoche“,4 wie sie wenige Jahre zuvor von Hugo von Hofmannsthal namhaft gemacht wurden, um das Endzeitbewusstsein und die angeschlagene seelische Empfindsamkeit der Zeitgenossen zu charakterisieren,5 wird der Ausnahmecharakter des Werks von Heinrich Mann offensichtlich, das zwar noch teilhat an der elegischen Ästhetik des Fin de Siècle und ihrer Partizipation an der europäischen Kultur des Symbolismus, aber zu ihr auch respektlos, satirisch und zynisch oder aber dezidiert sozialkritisch auf Abstand geht.6 Zwar orientieren sich Heinrich Manns Romane und Erzählungen – immerhin hat der Autor bis 1905 neben seinen sechs Romanen auch drei Novellenzyklen vorgelegt7 – an den fundamentalen Verunsicherungen der Jahrhundertwende, die der Literatur dieser Zeit zu ihrem eigentümlichen Charakter verholfen haben, in dem einem nachhaltig empfundenen und artikulierten Krisenbewusstsein eine erstaunliche ästhetische Produktivität und Innovation abgewonnen wird.8 Aber während etwa bei Leopold Andrian oder Hugo von Hofmannsthal das Lebensgefühl der Fin de SiècleGeneration sich in zumeist wenigen Texten, in vereinzelten, kostbaren Petitessen von lyrischem Tonfall niederschlägt, experimentiert Heinrich Mann mit dem Endzeitbewusstsein seiner Protagonisten, einer Menagerie „lustiger Tiere“,9 in einer proliferierenden Fülle von Texten. Seine zwischen distanzierter Zustimmung und spöttischer Verachtung oszillierende Position soll im folgenden auf drei Feldern näher beschrieben werden. Die erste Sondierung zielt auf das Fin de Siècle-typische Syndrom der Müdigkeit, des Kraft- und Potenzverlustes und der Erfahrung historischer Vergeblichkeit, mit der eine Generation von ‚Erben‘, von ‚Spätlingen‘ sich am Ende ihrer Welt, sogar der Zeiten angekommen sieht. Diese Erfahrung historischer Niedergeschlagenheit, die von den Autoren des Fin de Siècle in vielfältigen, literarisch stilisierten Depressionen ausphantasiert wird, die vom Sprachverlust bis zur Desorientierung der sexuellen Identität reichen, findet bei Heinrich Mann eine unverwechselbar artistische, zynische Ausprägung. Als zweites Charakteristikum lässt sich die erst vor diesem Hintergrund der Erfahrung heilloser Vitalitätsdezifite verständliche Hypostasierung der Kunst als eines agonalen, rauschhaften oder gar dionysischen Remediums begreifen, der mal in dekadenter Schönheitstrunkenheit wie im Ästhetizismus gehuldigt, die mal als vergangene ästhetische Großartigkeit wie im Renaissancekult be-
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schworen wird. Die im Fin de Siècle oft geradezu sakralisierte Kunst zeigt unter dem skeptischen Blick Heinrich Manns eher profane Aspekte wie ihre Käuflichkeit und den schäbigen histrionischen Charaker derer, die von ihr leben. In einem dritten Komplex schließlich soll nach Heinrich Manns eigentümlicher Adaption der Exaltationen der Dekadenz gefragt werden, die sich in erotischen Sensationen, in einem Kult der Bizarrerie, der Evokation dämonischer Weiblichkeit und der Beschwörung ruchloser Amoral zur Geltung gebracht haben, die sich unter dem bösen Blick Heinrich Manns aber als grandiose, selbstreferenzielle artistische Metaphern lesen lassen oder aber sich als lächerliche Posten ‚steckengebliebener Komödianten‘ erweisen.
Spätzeit Auch Heinrich Mann kennt die im Fin de Siècle als Identifikationsfigur so verbreitete Gestalt des Spätgeborenen, des Letzten seiner Art, der „Parias der Höhe“,10 die sich wie das lyrische Ich in Hofmannsthals selbstmitleidigem Gedicht Manche freilich unwiderruflich dem Leben entfremdet haben.11 Violante d’Assy, die Heldin der Göttinnen-Triologie ist eine solche Nachgeborene, der eine Kindheitserinnerung, in der sie eine Eidechse beobachtete, zur epochengültigen Schlüsselerfahrung wurde: „Das Kind legte den Kopf auf die Arme, und lange belauschten sie einander in Freundschaft, die letzte zerbrechliche Tochter sagenhafter Riesenkönige und der urweltlichen Ungeheuer schwache kleine Verwandte“.12 Vom Schicksal der seelischen wie historischen Auszehrung ist nicht nur die Herzogin selbst, sondern auch ihre Entourage betroffen, ein buntes Panoptikum aus Liebhabern, Dichtern, Begleitern, Schmarotzern, Günstlingen und Hofschranzen, das mit jedem Roman weiter anwachsend sich in konzentrischen Kreisen um die alles beherrschende Figur der Herzogin lagert: ein dekadentes Biotop ausgelaugter, extravaganter Protagonisten einer sterbenden Welt, die ihren Verfall zelebrieren. Nino etwa, Violantes junger Protegé in Venus, hemmt „eine Müdigkeit im Blut“, und nach einem Uffizien-Besuch schwört er im zeittypischen Tonfall der Erschöpfung und des Dilettantismus, niemals zu malen, denn „man lebt gar nicht mehr. Wir alle sind herunter blasiert und dekadent, – aus zweiter Hand ist alles. Man sieht sich immer im Spiegel. [. . .] Es gibt nirgends etwas zu tun, alles ist schon geschehen.“13 Zur Erfahrung der Schwäche gesellt sich der Fluch der Rationalität, eine allzu großer Bewusstheit, die jede unwillkürliche Emotionalität zersetze: „Ich bin gar nichts, ich versichere Sie, auch kein Dichter, höchstens ein Problem, ja, mir selbst ein Problem [. . .]. Es ist meine Manie, mich verstehen zu müssen. Nie kann ich mich unschuldig der Welt hingeben, so sehr ich ihr zugetan bin.“14 Was diese Gestalten in ihrer zwischen Apathie und Feingefühl oszillierenden Haltung umtreibt, hatte der von Heinrich Mann intensiv rezipierte Paul Bourget als Dilettantismus beschrieben:15 Es ist ein allenfalls spielerisches Verhältnis zur eigenen Welt, das einhergeht mit besonderer Aufmerksamkeit und Sensibilität für andere Le-
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bensweisen und Einstellungen, die bruchlos adaptiert, aber auch gedanken- und folgenlos wieder fallengelassen werden. Auch Claude Marehn, der Held in Jagd nach Liebe, ist ein solcher Spätgeborener, der kraftlose Erbe eines reichen Immobilienspekulanten. Wie seine neurasthenischen Brüder in der Literatur der Zeit schmachtet auch er nach Leben, aber selbst er, ein Todkranker unter Hypochondern, vielleicht die moribundeste Gestalt in Heinrich Manns Romanuniversum, zeigt sich, verglichen mit dem Erwin des Leopold Andrian, dem Kaufmannssohn aus Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht, dem Paul in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs oder dem Malte aus Rilkes Roman bei aller physischen Schwäche und moralischer Verzagtheit doch immer noch vital und beredt. Die sozialen wie erotischen Konsequenzen seiner Auszehrung werden nicht still und schwermütig ertragen, sondern explizit und wortreich beklagt.16 Wo andere unfähig zum Leben sind und in müder Resignation physische Defizienz und Willensschwäche als Signum ihrer Existenz hinnehmen, werden sie von Marehn kultiviert: „Es gibt nur eine Art, nicht niedrig zu handeln: gar nicht handeln“.17 Eine solche sentenziöse Bemächtigung des eigenen Elends wäre bei den „tagblinden Schatten, zwischen den Kindern des Lebens“,18 wie Hofmannsthal sich und jene nannte, denen die Vitalität der Vätergeneration abhanden gekommen ist, völlig undenkbar. Aber bei Heinrich Mann wird diese Selbstcharakteristik seiner Helden noch zusätzlich durch die zynische Erzählerstimme kommentiert und als Selbstgefälligkeit ausgestellt: „[. . .] bebend vor Selbstgefühl, jeder ganz gehoben durch die Erkenntnis des eigenen Elends, ganz feierlich gestimmt durch das Gefühl der weiten Kälte rings um sein einsames Hirn.“19 Wie sehr sich Heinrich Manns décadents von ihren Brüdern in den Schlüsselwerken der Epoche unterscheiden, zeigt sich auch daran, dass sie sich den Genuss der Erotik keinesfalls nehmen lassen wollen. Der von den meisten der Zeitgenossen mit Entsetzen registrierte Wechsel der Geschlechterrollen wird von ihnen begrüßt: sie erblicken in der neuen Stärke der Frauen keine beängstigende Vision einer fatalen, gar tödlichen Erotik, vor der die Männer in die Knie gehen, sondern das trostreiche Angebot, an der Brust von Stärkeren Schutz zu suchen, wie schon zu Beginn von Die Jagd nach Liebe Ute und Bella im Gespräch klarstellen. „Der [Mann] von heute ist schwächer als wir, er weint nach einer Gefährtin – fällt es dir nicht auf, dass heute fast immer der Mann im Arm der Frau hängt – nach einer Erlöserin aus seiner nihilistischen Einsamkeit.“20 Die décadents des Heinrich Mann sind keine Versager, die träumerisch dem Vergehen ihrer Zeit oder gar ihres Lebens zusehen, es sind bei aller Pathologisierung21 paradoxerweise doch oft auch vitale Gestalten, die ihre Persönlichkeit und das soziale Prestige, das ihnen ihre Bizarrerien eintragen, durchaus genießen. Violante verkörpert den Dilettantismus, zugleich aber auch seine Überwindung, sie ist dekadent und blüht vor Vitalität. Der sterbende Kaufmannssohn Hofmannsthals verflucht bekanntlich auf seiner schäbigen Kasernenpritsche sein ganzes Leben,22 Violante hingegen „genießt bis zur Selbstzerstörung. Ihr Tod ist stürmisch wie ihr Leben; aber sie bereut nichts. Eine Freudigkeit im jeden Preis atmet aus all diesem Leben [. . .].“23
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Während die Spätgeborenen ihre Einsamkeit pflegen und allenfalls aus dem Anblick schöner Objekte kontemplativen Trost ziehen, verbringt Claude Marehn seine Zeit bei Bier und im Bordell, in der Gesellschaft von Kumpanen und Dirnen, Lustgreisen und gefallenen Töchtern, verkommenen Millionären und Spießbürgern, angeekelten Dandys und blasierten Salonlöwen.24 Die Helden Manns, selbst die eher aristokratisch konzipierten, sind im Grunde, auch dies im Unterschied zu den elegischen Spätlingen der Wiener Moderne, um eine von Arnold Hauser getroffene Unterscheidung aufzugreifen, eher Bohémiens als Dandys25 – keine nach oben deklassierte Intellektuelle, sondern zum Proletariat herabgesunkene Gestalten, ‚haltlose‘26 Individuen mit einer Neigung zum Raufen und zur käuflichen Liebe, keine anämischen, brustkranken Jünger der Schönheit. Ihr Weg wird in letzter Konsequenz nicht zum Verschwinden und nicht in den Untergang führen, sondern zu Anarchismus und Revolte. Noch bricht sich in Die Jagd nach Liebe der Blick des Erzählers an der Dekadenz skurriler Gestalten am Rande der Gesellschaft, aber deutlich zeichnen sich hier bereits die Umrisslinien eines neuen Themas ab, mit dem Heinrich Mann auf Distanz zur Poetik des Fin de Siècle geht: Die Autopsie der wilhelminischen „Bourgeoisie, die ihren Machtanspruch durch Gewaltanwendung nach innen und Kriege nach außen zu wahren sucht.“27 Mit Professor Unrat und der Entscheidung zu einer soziologischen Poetik lässt Heinrich Mann die Larmoyanz des Fin de Siècle endgültig hinter sich. Im Essay Eine Freundschaft. Gustave Flaubert und George Sand wird die gewandelte Einstellung sichtbar. Der Beginn der Arbeit an Der Untertan, mit dem Heinrich Mann seinen Ruf als schärfster Satiriker und Analytiker der wilhelminischen Ära begründen sollte, fällt in diese Epoche, wenn der Roman auch erst 1918 erschien. Mit dem Roman Die Armen wird Heinrich Mann 1917 schließlich sogar einen der wenigen Beiträge des deutschen Romans zu einer Poetik des vierten Standes liefern.
Kunst Auch die Diskrepanz von Kunst und Leben, gewiss das zentrale Thema der ästhetizistischen Jahrhundertwende, erhält bei Heinrich Mann einen besonderen, nämlich kämpferischen Akzent:28 Während die Vernachlässigung des Lebens in den programmatischen Werken der Epoche in der Rückkehr des zu Unrecht ausgeschlossenen Lebens endet, das Rache nimmt für die fahrlässige Verachtung und Geringschätzung durch den hochfahrenden Ästheten, bleibt Heinrich Mann der kompromisslose Anwalt des Schönen als der in jeder Hinsicht überlegenen Instanz. Gerade die Kunst ist es, die an die Geltung des Lebens erinnert. Eine frühe, markante Gestaltung erführ der Kunst-Leben-Gegensatz in Manns vielgerühmter Novelle Das Wunderbare, die den Begriffsantagonismus neu auf die beiden Polen des Gewöhnlichen und Wunderbaren verteilt. Auch hier findet sich, dem Schema so vieler Fin de Siècle-Erzählungen folgend, die Aburteilung eines ganz der dilettantischen Jagd nach der Kunst geweihten Lebens, aber auch die tröstliche Ein-
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sicht, dass sich inmitten der Welt bürgerlicher Profanität die Epiphanie des Wunderbaren ereignen kann und bewahren lässt. Indem er „das Wunderbare nicht zum Alltäglichen“29 machte, sondern sich mit der Erfahrung, einmal an einem kunstinduzierten mystischen Erweckungserlebnis teilgehabt zu haben, abfindet, kann er „ein bürgerliches Glück“30 leben. Auch Contessina in der gleichnamigen Novelle wird erst durch die Begegnung mit einem Künstler der Fülle des Lebens gewahr. Dass sie aus dieser Erfahrung die Entscheidung für einen symbolträchtigen Tod wählt, den Sprung in einen Brunnen, macht im Kontrast zur Weite und Fülle des Meers die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation deutlich, aber auch die verzweifelte Wertschätzung eines Lebens, das ihr vorenthalten bleibt. Zwar mögen die Ästheten bei Heinrich Mann zumeist Dilettanten sein, kraftlos und im Sinne einer dégenération supéreure auch überempfindlich und lebensfern wie die Protagonisten bei Hofmannsthal, Beer-Hofmann oder Przybyszewski auch, aber sie gewinnen an Dignität durch den Kontrast zu den Vitalen und Tatkräftigen, die ausnahmslos und unbarmherzig als geistlos, roh und banausisch denunziert werden.31 Die Bürger in der Welt des tendenziell eher konservativ empfindenden und wertenden Autors sind bourgeois, nicht citoyen – Bürger, so formuliert Violante gewiss im Sinne Heinrich Manns, „nenne ich alle, die hässlich empfinden und ihre hässlichen Empfindungen obendrein lügenhaft ausdrücken.“32 Als Apotheose einer überlegenen und unangreifbaren Schönheit konzipierte Heinrich Mann die Protagonistin seiner Göttinnen-Trilogie, eine herrische Verächterin alles Mediokren, die im deutschsprachigen Fin de Siècle vielleicht nur in der so amoralischen und schönheitssüchtigen Figur von Stefan Georges Algabal ein (männliches) Gegenstück hat: Alles ist ihr Spiel, zum Zwecke einer schönen Geste und eines starken Schauers. Kein Rausch raubt sie für immer, keinem Unglück kann sie je erliegen. Keine von allen Enttäuschungen wird sie je in Zweifel stürzen am Leben oder der eigenen Wünschenswürdigkeit. [. . .] Noch aus dem Tode wird sie ein Vergnügen machen, eine Szene, ein Spiel.33 Diesem imponierenden Ästhetizismus entspricht auch das dezidierte moralische Desinteresse der Protagonistin: Die Revolution der Morlaken, die sie zusammen mit dem Revolutionär Pavic anzettelt, kostet eine Reihe von Menschen das Leben, was sie jedoch nicht weiter bekümmert: „Das Leben von einigen tausend Menschen ohne Sinn und Schicksal“, so äußert sie am Ende des letzten Bandes zu Kardinal Tamburini, „ist uns beiden – seien wir doch ehrlich! –, völlig gleichgültig.“34 Seine Rechtfertigung findet ihre moralische Indolenz angesichts eines ästhetizistischen Selbstbewusstseins, das sich im zweiten, der Kunst gewidmeten Teil der Trilogie sein Motto aus einem von Platens venezianischen Sonetten borgt: „Und wessen Herz Vollendetem geschlagen,/Dem hat der Himmel weiter nichts zu geben.“35 Zwar beklagen Heinrich Manns Romane und Erzählungen nicht anders als etwa die Gedichte, Erzählungen und lyrischen Einakter Hofmannsthals die ver-
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lorene Eindrucksmacht der Kunst und das eigene ästhetische Unvermögen, aber sie haben den Werken der Wiener Moderne den zeitkritischen Blick auf die soziologische Dimension der Kunst und den skeptischen Blick auf den unzuverlässigen, histrionischen Charakter der Künstler voraus. Heinrich Mann sieht in der Kunst nicht nur die privilegierte Ausdrucksform eines empfindsamen Lebensüberdrusses, sondern auch eine sich für profane Interessen bereitwillig prostituierende Selbstdarstellung, die je nach Bedarf dem Geist des Symbolismus oder der Neuromantik entspricht, die sich dem Mystizismus verschreibt oder die Renaissance verehrt.36 Zu dieser unauthentischen, aber marktgängigen Kunst gehört auch der Renaissancismus, dem der Maler Jakobus Halm in Minerva, dem zweiten Band der Göttinnen-Trilogie, die zeittypische Prägung gibt: Ich habe ein eigenes Genre entdeckt, ich nenne es heimlich: die hysterisch Renaissance! Moderne Ärmlichkeiten und Perversitäten verkleide und schminke ich mit so überlegener Geschicklichkeit, dass sie an dem vollen Menschentume des goldenen Zeitalters teil zu haben scheinen.37 Der Renaissancismus, wie ihn Halm lanciert, ist durch die Diskrepanz zwischen der Schwächlichkeit seiner Urheber und der Kraft der von ihm Dargestellten charakterisiert– brutale Renaissancegestalten und ihre enthemmte Sexualität entstehen aus der Phantasie von Versagern und verdanken dem Pinsel von Schwächlingen ihr Bild.38 Nirgends hat Heinrich Mann den Renaissancismus als eine verräterische Kompensationsphantasie der Jahrhundertwende so zynisch verabschiedet wie in seiner Novelle Pippo Spano: Der – offenbar d’Annunzio nachgebildete39 – eher kleinwüchsige Dichter Mario Malvolto hadert mit seinem Leben und schwärmt von der Kraft und den Ausschweifungen des titelgebenden Feldherrn, der sich mit seiner durch die Amoral des Renaissancesöldners legitimierten Brutalität kurzerhand nahm, wovon der nachgeborene Dichter nur zu phantasieren vermag. Als jedoch die blutjunge Gemma Cantoggi in Malvoltos Leben tritt, scheint sich sein Traum einer räuberischen und skandalösen Liebe, die nicht nach der Konvention fragt, zu verwirklichen. Als Gemma den Gedanken des gemeinsamen Liebestodes aufbringt, stimmt Mario Malvolto zunächst begeistert zu, aber versagt im entscheidenden Augenblick – zwar tötet er die Geliebte, doch der Gedanke an die vielen dann ungeschrieben bleibenden Werke erlaubt ihm, das eigene Leben zu schonen – ein, wie der Erzählerkommentar bündig befindet, „steckengebliebener Komödiant“.40 Die Künstlerpersönlichkeiten im Frühwerk Heinrich Manns sind fast durchweg unansehnliche, oft sogar suspekte Gestalten, keine melancholischen Epigonen und von Selbstzweifel geplagte Dilettanten, sondern Scharlatane, die im Bereich der Kunst dem in Wirtschaft und Gesellschaft so erfolgreichen Typus des Hochstaplers nacheifern. Ein Paradebeispiel ist Andreas Zumsee im Schlaraffenland, der sich in die Kutte Balzacs hüllt, sich Adelswappen zulegt und von Pariser Schneidern einkleiden lässt. Das Histrionische im Charakter des Künstlers, der
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nur die Rolle des Gesellschaftskritikers und rebellischen Dichters spielt, zeigt sich, als er in seinem Drama „die Leute, bei denen er schmarotzte, nachher auf der Bühne von seinem Pöbel totschlagen ließ.“41 Mortœil in den Göttinnen ist ein Dilettant, dem das Leben nur ein Schauspiel und Experimentierfeld ist, einer liebestollen Engländerin ist er sehr viel mehr ergeben als seiner Dichtkunst; ein Dichter wie Jean Guignol wird schon namentlich durch die Alliteration ans Grand Guignol in seiner präpotenten Pathetik ironisiert;42 auch die gleichfalls onomastisch ironisierte Vielschreiberin Blà und der geschäftstüchtige Maler Jakobus Halm versagen gleichermaßen vor dem Leben und der Kunst.43 Kunst geht bei Heinrich Mann eben nicht in der Entgegensetzung wahrer Kunst und profaner Wirklichkeit oder in der Vergleichung großer Künstler und elegisch sich selbst bedauernder Epigonen und Dilettanten auf, sondern erscheint unter dem sezierenden Blick des Autors vornehmlich von Marktbedingungen bestimmt, d. h. von den Erwartungen einer Gesellschaft zu Geld gekommener Honoratioren, die Dekoratives von der Kunst verlangt und sich in geschönten Porträts der eigenen Machtfülle vergewissern will. Der Berliner Bildhauer Claudius Mertens im Schlaraffenland versorgt diese Gesellschaft kunstferner, aber auf die gefällige Ausstattung ihrer Salons im Geschmack der Zeit bedachter Banausen mit „einer Familie hagerer Faune und mondsüchtiger Sylphen, begehrlicher Ziegenböcke und rätselhaft lächelnder Knaben.“44 In keinem Roman geht diese Markierung der Kunst als Dekoration und der Künstler als umtriebige Teilhaber an einem sozialen Schwindel weiter als hier. Dass Mertens in den verschlungenen Ornamenten der Jugendstil-Mode, etwa einem kostbaren Teppich, Wahrheiten versteckt, die seinen Auftraggebern verborgen bleiben, demonstriert nur seinen Hochmut, nicht den subversiven Charakters seiner Kunst.45 Wie die Made im Speck lebt der „dandystischer Hochstapler“46 Andreas Zumsee in dieser Welt der Parasiten und avanciert in der Berliner haute volée bald zum Bel Ami. Zumsee, ursprünglich ein gescheiterter Lehramtskandidat, verführt nun – als „magerer Zeitvertreib“47 – mit Einwilligung des Finanzmagnaten Türkheimer dessen Frau Adelheid. In einer virtuosen komödiantischen Charade mimt er, der sich den Katholizismus als „Marotte“48 zugelegt hat, den sinnenfeindlichen Asketen, um zum sinnlichen Genuss zu gelangen. Die Kalkulation macht sich bezahlt, weil Adelheid beim „Anblick des bleichen Dichters im Mönchsgewand“49 alle großbürgerliche Contenance verliert. Zumsee steigt wie sein Vorbild Georges Duroy aus Maupassants Roman auf, wird schließlich auch zum gefeierten Hauptstadtdichter, dessen Drama „Die verkannte Frau“ von der Claque Türkheimers zum Bühnenerfolg hochgejubelt wird. Aber wie in den erkennbar als Vorbild dienenden Romanen Balzacs und Maupassants muss der zu schnell und zu hoch gestiegene Protegé, den seine Karriere übermütig hat werden lassen, einsehen, dass er seinen sozialen Kredit überzogen hat. Nichts besiegelt seinen Absturz deutlicher als das Schicksal, das ihm Türkheimer bereitet, als er ihn, den vormaligen Liebhaber seiner Frau, jetzt mit seiner ausrangierten Geliebten Agnes Matzke, einer proletarischen Mätresse
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abfindet, deren „in Kellerluft gebleichtes Fleisch“50 längst seinen Liebreiz verloren hat. Nicht minder schlimm als die Gewissenlosigkeit der Künstler ist die Empfindungslosigkeit des Publikums – so, wie die banausischen Honoratioren der wilhelminischen Gesellschaft Zumsees Drama ohne ästhetisches Urteil beklatschen, sitzen sie im Frack in ihren Logen und bejubeln bei der Aufführung des Dramas „Rache!“ ihren eigenen Untergang.51 Das sozialkritische Drama deckt keine Missstände auf, sondern befriedigt voyeuristische Gelüste. Als die enthemmten Proletarier auf der Bühne über die nymphomane Ehefrau des Fabrikanten herfallen, die von den ausgebeuteten Lohnsklaven auch noch sexuelle Dienstleistungen verlangt hatte, kommt es zu Beifallsstürmen im Zuschauerraum: „Der Racheschrei des ausgesogenen, geschändeten Volkes ging durch das ganze Haus. Er durchschüttelte die Damen, daß ihre Brillianten klirrten. [. . .] Die Millionäre auf den Stehplätzen schrieen da capo.“52 In diesem Roman unter feinen Leuten, wie er im Untertitel heißt, zeigt sich, wie Heinrich Mann, der lange konservative Verteidiger etablierter Ordnungen, sich bereits zum Kritiker einer Gesellschaft verwandelt hat, „die ihre raubtierhaften Züge nicht verleugnen konnte und deren Brutalität und Lebensgier [. . .] hier einem erbarmungslosen Gericht unterworfen wurden.“53 Dass die Kunst nur unter den Bedingungen des Marktes zu begreifen ist, ist eine Einsicht, die Heinrich Mann den meisten seiner schreibenden Zeitgenossen voraus hat. Balzacs Idee vom Geld als „bestimmendem Faktor der sozialen Motorik“54 und Georg Simmels Einsicht in das Geld als den buchstäblich alles in Bewegung setzenden Vektor der gesellschaftlichen Entwicklung55 hat bei Heinrich Mann auch Konsequenzen für den Bereich der Kultur, der im Berlin der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts von einer Kaste korrupter und kulturloser Nabobs wie James Luis Türkheimer wie alle anderen Bereiche des sozialen Lebens gekauft und benutzt wird. Türkheimer ist der typische Repräsentant des Parvenus, einer durch die Reparationszahlungen Frankreichs reich gewordenen Kaste, einer neuen Geldaristokratie, deren Bedeutung den alteingesessenen Erbadel längst verdrängt hat.56 Was Thomas Mann in seiner Kritik nicht expliziert hat, was auch erkennbar im Widerspruch zu seiner eigenen narrativen Praxis steht, ist der unbekümmerte Gebrauch, den Heinrich Mann bei der Exposition seines sozialen Panoptikums aus Spießern, Parvenüs und Möchtergernkünstlern von den Möglichkeiten eines polyperspektivischen Erzählens macht. Während sein Erstling In einer Familie nach ganz in der Tradition der auktorialen Erzählinstanz des Realismus im 19. Jahrhundert steht, erlaubt sich Heinrich Mann spätestens seit dem Schlaraffenland eine vordergründig standpunktlose, kaleidoskopische Erzählweise, die ganz unterschiedlichen, auch dezidiert unsympathischen Charakteren die Erzählstimme leiht, ihnen mal über die Schulter schaut, mal aus der Seele spricht, ohne doch deren jeweilige Perspektive zu der des Romans zu verallgemeinern.57 Das gilt auch für die antisemitischen Ausfälle Zumsees, die durch die mit erheb-
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lichem narrativen Aufwand betriebene Verspottung, ja Ridikülisierung dieser Figur zumindest relativiert werden – der Verdacht eines „mörderischen Antisemitismus“, wie er gelegentlich geäußert wurde, geht daher gewiss zu weit,58 wenngleich antisemitische Züge in diesem Roman – wie auch in Heinrich Manns etwa einjährigem Engagement für die völkisch-nationale, antisemitische Monatsschrift Das Zwanzigste Jahrhundert – unverkennbar sind.59 In der Aburteilung seiner dem histrionischen Sog ihrer Profession verfallenen Künstler wie in der Bloßlesung des ästhetischen Interesses, mit dem die Parvenus an der Kunst teilzuhaben vorgeben, als bloßer Dekoration einer Moral, der auch das Schöne käuflich ist, erweist sich das literarische Werk Heinrich Manns schon mit dem Schlaraffenland als Beginn der „Rückkehr aus langer Weltfeindlichkeit“60 ins politische Herz des modernen Lebens, die Heinrich Mann selbst erst mit der Göttinnen-Trilogie vollzogen glaubte.
Eros Thomas Manns Kritik hatte vor allem im erotischen Extremismus des Bruders, – ein Vorwurf, den er auch noch später, in den Bekenntnissen eines Unpolitischen wiederholte61 – den Anlass zur ästhetischen Entzweiung gesehen. Nachdem die an die Macht gekommenen Nazis den vom spießigen Wilhelminismus überlieferten Vorbehalt der Erotomanie nur zu gerne aufgegriffen hatten, um einen missliebigen Autor zu diskreditieren,62 hat in der Heinrich Mann-Forschung aus Gründen falscher Diskretion der in der Tat ostentative Einsatz erotischer Sujets lange nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Erst Ariane Martins Studie Erotische Politik erinnerte wieder an die Sexualität als das Schlüsselthema des frühen Heinrich Mann.63 Allerdings findet der Wechsel der Geschlechterrollen, auf den einige der Fin de Siècle-Autoren mit gewissermaßen angstgeweiteten Augen schauen, im Werke Heinrich Mann nur selten seinen Niederschlag in der Gestalt tränenloser, verruchter Schönheiten, die schwächlichen Männern das Verderben bringen. In Heinrich Manns Erstling, In einer Familie, begegnet Erich Wellkamp in Dora, der Stiefmutter seiner Frau, einer veritablen Femme fatale, allerdings kann er sich schließlich aus dieser Verstrickung lösen und Dora stirbt, nachdem sie die Pistole auf Anna, Wellkamps schwangere Frau gerichtet hat, eines natürlichen Todes. Derartig naive Anpassungen an das Klischee der Femme fatale sind jedoch eher auf das ganz frühe Werk beschränkt – ubiquitär hingegen ist Heinrich Manns Faible für zerbrechliche Jugendstilschönheiten.64 Am Beginn seiner Novellistik, etwa in der Erzählung Das Wunderbare, steht mit der Darstellung der geheimnisvollen Lydia, einer jungen Frau von blütenhafter Schönheit, offenbar dazu bestimmt, bald zu sterben, die Beschreibung einer zeittypischen Femme fragile im Vordergrund. Entsprechend ihrer vegetativ-zarten Konstitution ist das vorübergehende Interesse des Protagonisten an ihr von einer delikaten Keusch-
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heit, die ihre Erotik eher aus einer Art mystischen Versenkung in das geliebte Objekt bezieht. In einer charakteristischen Szene sieht Rohde die junge Frau über einem Blütenteppich schweben – Hodlers Gemälde einer entrückten jungen Frau, Was die Blumen sagen (1893–94), könnte direkt von dieser Passage inspiriert sein. Aber wie die Linie des Jugendstils ihr Vorbild in der Peitschenschnur hat,65 ist auch die scheinbar anmutig-unberührbare Femme fragile eine hexenhafte Erscheinung bzw. wird es unter dem Blick des Mannes, der aus dem Notenheft in ihrer Hand ein Gewirr schlanker Zweige aufsteigen sieht: „Die feinen Ranken des Schlinggewächses legten sich um mich her, um all mein Wesen, fester und fester, einschmeichelnd und erstickend,“66 also ob sie dem Protagonisten den Atem rauben und ihm wie Hylas einen Tod in Schönheit bei den Nymphen bereiten wollten.67 Solche Gestalten von zerbrechlicher Anmut finden sich auch noch in späteren Werken der ästhetizistischen Phase, man denke an die Kindfrau Gemma Cantoggi in Pippo Spano, die in einem Park voller Schlinggewächse heimisch ist, in die sie auch den Künstler zu verstricken sucht: „und [sie] zog ihn hinein in ihr gewalttätiges Reich, zwischen Sträucher voll roter Blüten, die alle bluteten und nickten bei dem Fall der ineinander Verschlungenen.“68 Aber die Femmes fragiles Heinrich Manns werden doch immer auch als Projektionen eines männlichen Betrachters dargestellt, dem es, je länger sein Blick auf dem Objekt seiner Begierde weilt, vor diesem, also dem eigenen Begehren, Angst und Bange wird. Zudem haben die Femmes fragiles zunehmend das Nachsehen gegenüber satirisch gezeichneten, sogar grotesk verzerrten Frauen, die dem kulturlosen Geldadel entstammen oder den Klatschspalten der Sensationspresse entstiegen scheinen. Unübersehbar etwa trägt Werda Bieratz im Schlaraffenland alle Merkmale einer Femme fragile, aber zugleich wird sie aus der Sphäre anämischer Vergeistigung heruntergeholt auf den Boden profane Wirklichkeit, wenn der Leser erfährt, dass sie korrupt und käuflich ist und zu Wucherzinsen Geld verleiht: „Ich habe gehört, der Engel leiht zu zwanzig Prozent an arme Beamte!“69 Zudem treten an die Seite der derart dekuvrierten Femmes fragiles ganz andere Frauengestalten, oft bizarre, bisweilen gar monströse Geschöpfe wie die fette, über und über mit Schmuck behangene Lizzi Laffé, die lasterhafte Claire Pimbusch oder Asta Türkheimer, „à la Ibsen frisiert, modernes Weib, mehr intellektuell als Geschlechtswesen“.70 An der Fürstin Cucuru hat das Alter eine unbarmherzige Veränderung vorgenommen, die der Erzähler, als ob ihm die Deformation der einstigen Schönheit zu monströser Ungestalt größtes Vergnügen bereitet, detailliert schildert: Ihr Fett hatte die Neigung, in gewellten Klumpen herabzurutschen von den Wangen auf den Hals, vom Hals auf den Busen, vom Busen auf den Bauch und vom Bauch auf die Beine, den Stock entlang, an dem die Alte sich aufrecht erhielt, wollte es scheinbar herabfließen, um auf dem Boden einen Brei zu bilden. So stand die Fürstin, schnaufend und heiter äugelnd, vor ihren hohen blonden Töchtern.71
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Dass sie sich überdies fortwährend ihrer prächtigen Gesundheit rühmt, die eigenen Töchter verkuppelt und ihre Freunde bespitzelt und denunziert, vervollständigt das Bild einer abstoßenden Vetula. Undenkbar auch dies im Werk zeitgleicher Autoren – wohl kennen auch sie schreckliche und verwelkte Matronen wie etwa Hofmannsthals Klytämnestra, aber deren Darstellung folgt dem Anliegen einer kühlen ästhetischen Infamierung, nicht der Lust an grotesker Wirkung.72 Eine Ausnahme und gewiss die komplexeste Erscheinung in der ästhetizistischen Werkphase stellt die Herzogin von Assy dar, die Heldin der drei Romane der Göttinnen-Trilogie. So sehr die Konzeption dieser Gestalt den Gussformen des Ästhetizismus geschuldet ist, so sehr sie auch das Repertoire der Femme fatale zu reproduzieren scheint,73 so wenig hat sie doch mit dem dämonischen Frauenbild des Fin de Siècle zu tun, und noch weniger mit seinem Gegenteil, der tuberkulösen oder anämischen Femme fragile. Violante, in deren Namen sich klangvoll Viola, Andante und Violence verbinden,74 glüht nach dem Entwurf ihres Autors im ersten Roman „vor Freiheitssehnen, im zweiten von Kunstempfinden, im dritten vor Brunst.“75 Zunächst agiert sie als Rebellin in Zara und Rom, sodann als Mäzenatin der Kunst in Venedig und zuletzt als Lebenskünstlerin des Eros am Golf von Neapel – der erste Roman also „exotisch bunt, der zweite kunsttrunken, der dritte obszön und bitter.“76 Violante ist eine überragende Persönlichkeit, die dank ihrer Schönheit zur Despotin einer Männerwelt wird, ohne doch den schematischen Konstruktionen der Femme fatale zu entsprechen. Eher dienen die Männer ihr als Spiegel als dass sie zur Projektionsfläche der Männer taugt.77 Der programmatische Charakter, den Heinrich Mann ihr als der Trägerfigur des ästhetizistischen Programms zuweist, spricht ihr zugleich die Menschlichkeit – zumindest im Sinne eines realistischen, an psychologischer Tiefe orientierten Schreibens – ab.78 Das Histrionische, das Heinrich Mann als den dominierenden Charakterzug seiner Dilettanten und Ästheten vermutet, findet in Gestalten wie Violante seine Vollendung in der zentralen Metapher brillianter Oberflächlichkeit, dem sich im Spiegel spiegelnden Spiegelbild: Die Spiegel sandten sich hundertfältig ihr Bild zu. Von vorn oder mit schimmerndem Nacken, sinnenden Auges, oder lächelnd, oder in nachdenklicher Dämmerung, oder blaß und kalt, oder übersprüht von Freude und Kerzenschein, oder als vergehendes Phantom, wanderte und verschwand unter wechselndem Licht sie selbst – immer sie selbst – in die gläserne Tiefe.79 Diese zu äußerster Artifizialität getriebene Gestalt vermag das erotische Spiel zu genießen, aber eben nicht im Sinne einer dämonisch ihre Partner verschlingenden Astarte, sondern nur als ein ästhetizistisches Abbild von Intimität, als einen verführerischen Tanz mit wechselnden, schillernden, gläsernen Identitäten, die ihr die eigene, unauflösliche Einsamkeit eines grandiosen Narzißmus zurückspiegeln:
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O, ich werde manchen von ihnen genießen – vielleicht den, der eben über meine Brust atmet. Aber es wird nur sein, als führe ich einen Strauß an die Lippen. Kein Mensch antwortet mir. Hinter dem Echo stehe wieder ich selbst: sagt mein Dichter. In allen Spiegeln, hundertfältig bis in die läserne Tiefe, tanze ich – immer ich – ganz, ganz allein.80 Der dritte Band der Göttinnen-Trilogie, der doch die erotischen Ekstasen zu seinem Thema hat, stellt, auch darin dem Vorhaben einer nuancierten Abweichung vom Paradigma des Fin de Siècle folgend, den Eros eben nicht als byzantinische Lasterhaftigkeit aus, sondern, bei aller strotzenden Fleischlichkeit, mit einem „fast antiken Vertrauen zur Erde, einer heidnischen Dankbarkeit für jedes Schicksal.“81 Lilian Cucuru, die nächst Violante vielleicht wichtigste Frauengestalt des Romans, plädiert für einen Eros, der nicht unter dem Druck einer repressiven Moral anzüglich werden musste, sondern sich ungeniert zum Selbstgenuss bekennt: „Ich erhebe, wenn ich nackt und lichtübergossen auf meinem Theater stehe, einen blendenden, sieghaften Einspruch gegen die ganze Heuchelei meiner Kaste, gegen jeden Unflat und alle Sinnenfeindlichkeit.“82 Die Explizität, mit der Manns Romane von der körperlichen Liebe sprechen, dürfte in der Literatur der Zeit zwar nicht einzig, aber doch selten sein: Die wundervolle Contessa Paradisi lag auf der niedrigen Lehne ihres Sitzes, das breite blasse Gesicht nach oben, mit saugenden Nüstern, pulsenden Lippen, Augen, die männliche Gelüste verschlangen (. . .) Kreisende Paare, die sich vergaßen, schwellende Frauen, die ruhten und sich darboten, Männer mit der Nase an ihren Corsagen: – sie alle warben, hauchten Gewährung.83 Am Ende der Ausschweifungen Violantes steht der Tod. Der Rückzug der Herzogin in das Sumpfland mit seinen „Fieberblumen“84 und seiner „Fieberluft“85 kündigt ähnlich wie die Cholera in Thomas Mann Tod in Venedig den tödlichen Sieg des Eros an. Schon zu Beginn spürt Violante „den Hauch der Zerstörung in der Fülle der Wollust“86 und stürzt sich in den Tod, begleitet vom Sterben derer, die sie anbeten und ihretwegen aus dem Leben scheiden. Aber der Tod ist hier nicht die morbide Blüte eines lasterhaften Lebens oder die tödliche Kehrseite einer verdrängten Leidenschaft, sondern eher im Sinne von Nietzsches amor fati als Einverständnis mit der lebenssatten Fülle der Erfahrungen zu verstehen, der die Heldin am Ende ihr Leben trotz des bitteren Sterbens gutheißen lässt: Mein ganzes Leben war eine einzige große Liebe; jeder Größe und der ganzen Schönheit habe ich meine heiße Brust entgegengeworfen. Ich habe nichts verschmäht, niemand verdammt, keinen Groll gehegt. Mich und mein Schicksal habe ich gutgeheißen bis ans Ende; wie könnte ich meinen Tod hassen? Er ist nichts Fremdes. Er hat teil an meinem Leben, das ich liebe.87 *
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So intensiv und wortreich Heinrich Mann am Ästhetizismus der Jahrhundertwende und ihrem Endzeitbewusstsein auch partizipierte, stand ihre Verbindung doch von Anfang an unter keinem guten Stern. Statt mit der elegischen Evokationen leerer Traumreiche einer vergehenden Welt nachzutrauern, amüsiert sich Heinrich Mann mit der Beschreibung der fiebrigen und nervösen Welt, die er in den faits divers der Gazetten vorfand; er schreibt keine Kunstmärchen über ängstliche und weltfremde Sonderlingen, sondern orientiert sich an der Karriere von Hochstaplern und Abenteurerinnen der Demi Monde. Seine Romane skizzieren ein satirisches theatrum mundi, eine artistische Welt des Klischees, des Dekors und der Kulissen, in der die Leser lächerliche Personen dabei beobachten können, wie sie sich selbst belügen und ihre Marotten und Eitelkeiten pflegen. Die komödiantische Unaufrichtigkeit seiner Protagonisten, die oft vermerkte Oberflächlichkeit der Figuren, die keine wirklich psychologische Tiefe haben, entspricht dem ästhetisch-systematischen Anspruch der impressionistischen Epoche.88 Renate Werner sprach mit Bezug auf die Göttinnen von einer ‚Cultur der Oberfläche‘89 und verwendete dabei einen Begriff, den Heinrich Mann selbst geprägt hatte, um eine ästhetizistische Einstellung zu charakterisieren, die dem sinnlosen Leiden kurzerhand den Rücken zuwendet: „zu stolz, um tief zu sein.“90 Das den drei Romanen der Göttinnen-Trilogie vorangestellte Motto aus Ada Negris Gedicht „Eppur ti tradiró . . .“– „Che son fatti die gorghi d’ogni abisso,/Degli astri d’ogni ciel!“ (Die gemacht sind aus den Schlünden jedes Abgrundes, aus den Sternen jedes Himmels) verdeutlicht die ambivalente Charakterzeichnung seiner Helden und Manns eigene ambivalente Stellung zu ihnen. Er bedauert sie nicht, er bewundert oder er verurteilt sie. Er ist kein Erzähler der Zwischentöne, sondern der starken, gelegentlich auch grellen Effekte. Mitunter jedoch lässt er sich von der Amoral seiner Charaktere auch bezaubern. Mit Kälte und Gleichgültigkeit – etwa bei der als ästhetisches Spektakel inszenierten Rebellion in Dalmatien – geht die Herzogin von Assy über Leichen, darf sich dabei jedoch der Nachsicht ihres Autors sicher sein: „Über Schönheit und Stärke ein Reich der Freiheit aufzurichten: welch ein Traum!“91 Diese Sympathie mit der Welt des schönen Scheins konnte freilich die Einsicht in den Auftrag, eine politische Autopsie seiner Zeit vorzulegen, nur vorübergehend fesseln.
Anmerkungen 1
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Nach In einer Familie (1894), Im Schlaraffenland (1900) und der Göttinnen-Trilogie Die drei Romane der Herzogin von Assy (1903). Dieses und die vorangegangenen Zitate aus dem Brief von Thomas Mann an Heinrich Mann, 5. Dezember 1903. In einem Brief vom 19. August 1904 an Ida Boy-Ed führt Thomas Mann aus, dass die Empfindung angesichts der künstlerischen Persönlichkeit seines Bruders eher mit Hass als mit Geringschätzung zu charakterisieren sei: Seine Bücher seien „schlecht, aber sie sind es in so außerordentlicher Weise, dass sie zu leidenschaftlichem Widerstande heraus-
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fordern.“ Zit. nach dem Materialienanhang von Peter-Paul Schneider in Heinrich Mann, Die Göttinnen. Die drei Romane der Herzogin von Assy I: Diana (= Heinrich Mann, Studienausgabe in Einzelbänden, hg. v. Peter-Paul Schneider), Frankfurt/M. 1987, S. 297–371, hier S. 347. S. 297–371, hier S. 347. Heinrich Mann selbst hat immer wieder auf den skulpturalen Stil Flauberts als seine wichtigste stilistische Orientierung hingewiesen. Vgl. Eine Selbstcharakteristik, in: Materialien zu Heinrich Mann: Die Göttinnen. Die drei Romane der Herzogin von Assy II: Minerva, in: SA, 281–361, hier S. 329. Hugo von Hofmannsthal, Gabriele d’Annunzio, in, Reden und Aufsätze I, 1891–1913, hg. v. Bernd Schoeller in Beratung m. Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 174–184, hier S. 175. Vgl. das Kapitel „Merkworte der Epoche“ in: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1984, S. 215–278. Im Folgenden werden die Jahre 1894 bis 1905 als Eckdaten der Fin de Siècle-Affinität Heinrich Manns genommen, mit den Romanen Im Schlaraffenland (1900) und der Göttinnen-Trilogie (1902/03) als Höhepunkt. Zwar wird gemeinhin erst der Essay Geist und Tat von 1910 als Manns Wende zu einem dezidiert politischen Dichterverständnis genommen, aber bereits 1905, mit dem Professor Unrat und dem Beginn der Arbeit am Untertan, zeichnen sich die Hinwendung zur politischen Autopsie des Wilhelminismus und die Ablösung von der Ästhetik des Fin de Siècle deutlich ab. Allerdings ist Renate Werner zuzustimmen, dass von einer klaren Trennungslinie zwischen dem ästhetizistischen und dem politischen Schriftsteller kaum die Rede sein kann, weil auch viele der frühen Texte in der Analyse ästhetizistischer Maskeraden bereits politischen Scharfsinn beweisen. Vgl. Renate Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus. Der frühe Heinrich Mann, Düsseldorf 1972. 1897 Das Wunderbare und andere Novellen (Das Wunderbare, Der Hund, Die Gemme, Contessina, Enttäuschung, Geschichten aus Rocca de’ Fichi); 1898 Ein Verbrechen und andere Geschichten (Ein Verbrechen, Doktor Biebers Versuchung, Der Löwe, Irrtum, Ist sie’s?, Das gestohlene Dokument, Das Stelldichein) und 1905 Flöten und Dolche (Pippo Spano, Fulvia, DreiMinuten-Roman, Ein Gang vors Tor). Vgl. dazu Hans Richard Brittnacher, Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de Siècle. Köln 2001. So in einem Brief an Albert Langen vom 2. Dezember 1900 über das Personal seines Romans Schlaraffenland, in: Sigrid Anger (Hg.), Heinrich Mann 1871–1950. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern, Berlin 1977, S. 88. Vgl. Alfred Kantorowicz, Nachwort, in: Heinrich Mann, Die Jagd nach Liebe (SA), Frankfurt/ M 1997, S. 487–499, hier S. 492. Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Gedichte, Dramen I: 1891–1898, hg. hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 26. Heinrich Mann, Diana, S. 23. Heinrich Mann Die Göttinnen, S. 157. Heinrich Mann, Die Göttinnen, S. 132. Vgl. Bengt Algot Sørensen, Der Dilettantismus des Fin de siècle und der junge Heinrich Mann, in: Orbis litterarum 24 (1969), S. 251–270. Vgl. auch Michael Wieler, Dilettantismus – Wesen und Geschichte. Am Beispiel von Heinrich und Thomas Mann, Würzburg 1996. „Sein Klassenbewusstsein hat nicht weniger gelitten als sein Mannesinstinkt“. Notiz Heinrich Manns, zit. nach Alfred Kantorowicz, Nachwort, in: Heinrich Mann, Die Jagd nach Liebe (SA), Frankfurt/M. 1997, S. 487–499, hier S. 490 Heinrich Mann, Jagd, S. 84. von Hofmannsthal, Gabriele d’Annunzio, S. 175. Heinrich Mann, Jagd, S. 83.
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Heinrich Mann, Jagd., S. 13. Die Pathologisierung des ästhetizistischen Personals erlaubt es, auch an einer so vitalen wie selbstbewussten Gestalt wie der Violante der Göttinnen-Trilogie die Züge eines autoritären Narzissmus wahrzunehmen. Vgl. André Banuls, Nachwort, in:.Heinrich Mann, Diana, S. 281–296, hier S. 287 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Das Märchen der 672. Nacht, in: Hugo von Hofmannsthal, Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, hg. von Bernd Schoeller in Beratung m. Rudolf Hirsch. Frankfurt/M. 1979, S. 45–63, hier S. 62f. Heinrich Mann, Notiz, zit. nach Materialien, in Diana, S. 330f. Vgl. Kantorowicz, Nachwort (Jagd), S. 492f. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1973, S. 966. Eine der aufschlussreichsten, noch weitgehend dem Naturalismus verpflichteten Novelle, die Ende 1890 entstand, trägt zur Charakterisierung ihres um einen Platz im Leben ringenden Helden eben diesen Titel Haltlos, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 5–54. Zur Dimension des ‚Hatlosen‘ und seiner Fundierung in der Dilettantismus-Theorie des von Heinrich Mann verehrten Paul Bourget vgl. Chantal Simonin, ‚Das Europäische Gesicht‘. Dilettantismus und europäisches Flair beim jungen Heinrich Mann, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 25 (2008), S. 113–131, hier v. a. S. 119. Kantorovicz, Nachwort ( Jagd), S. 495. Das ist auch Thomas Mann aufgefallen: „Der dualistische Bruch zwischen Kunst und Leben ist bei mir so gut vorhanden, wie bei ihm, – nur dass es bei mir noch Problem und Leidenschaft und bei ihm dies eben nicht mehr ist. Er hat sich entschieden; und zwar für die Kunst.“ Brief v. 19. Aug. 1904 an Ida Noy-Ed, zit. nach Materialien, Diana, S. 347. Heinrich Mann, Novellen (Werkauswahl in 10 Bänden), Düsseldorf 1976, S. 9–39, hier S. 13. Heinrich Mann, Novellen, S. 38. Ausführlich zum Banausentum der Großbourgeosie Werner, Skeptizismus, S. 84ff. Heinrich Mann, Diana, S. 133 Heinrich Mann, Venus, S. 146. Heinrich Mann, Diana, S. 280. Heinrich Mann, Minerva S. 9. Vgl. dazu Wilfried F. Schoeller, Nachwort, in: Heinrich Mann: Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten (SA), Frankfurt/M. 1988, S. 415–434, hier S. 423 Heinrich Mann, Minerva, S. 117. Vgl. dazu Hans Richard Brittnacher, Die Erfindung und Verabschiedung eines Zeitalters. Zur Renaissance bei Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Heinrich Mann, in: Zagreber Germanistische Beiträge 20 (2011), S. 3–17; Vgl. Hans Richard Brittnacher, Der Dichter als Condottiere? Heinrich Manns Abschied von der Renaissance. in: Walter Delabar u. Walter Fähnders (Hg.), Heinrich Mann (1871–1950), Berlin 2005, S. 61–76. Heinrich Mann, Flöten und Dolche (SA), S. 9–58, hier S. 58. Dass Heinrich Mann mit der Novelle Pippo Spano den Renaissancismus und den Lebenskult der Jahrhundertwende widerlege, dem er noch in den Göttinnen gehuldigt habe, ist so falsch wie das Verkennen des Pippo Spano als repräsentativem Beitrag zum Renaissancismus (etwa bei W. Rehm). Auch der Roman Minerva – man denke an die zynische Kommentierung des ‚hysterischen Renaissance‘ durch ihren Urheber Jakobus Halm – lässt keinen Zweifel am bloß phantasmatischen Charakter des Renaissancismus. Vgl. Helmut Koopmann, Heinrich Mann, in: Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max (Hg.), Deutsche Dichter Bd. 7: Vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1989, S. 22–45, hier S. 34; Walter Rehm, Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 54 (1929), S. 296–328.
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Heinrich Mann, Im Schlaraffenland (SA), S. 139. Vgl. Isabelle Stauffer, Zur Oberflächlichkeit literarischer Figuren des Finde siècle, in: Hans Georg von Arburg (Hg.), Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Literatur und Theater, Zürich 2007, S. 255–265, hier v. a. S. 260. Vgl. Banuls, Nachwort (Minerva), S. 277f. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland, S. 71. Dies gegen Renate Werner, Skeptizismus, S. 85. Vgl. Julia Bertschik, „Elegante Gefühllosigkeit“. Zur Figur der ‚kalten persona‘ beim frühen Heinrich Mann, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 24 (2007), S. 11–26. hier S. 13. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland, S. 187. Ariane Martin verweist in ihrer anregenden Arbeit auf den Antagonismus des Mageren und Fetten als ein zentrales metaphorisches Paradigma der Poetik Heinrich Manns. Vgl. Ariane Martin, Erotische Politik. Heinrich Manns erzählerisches Frühwerk, Würzburg 1993, S. 47ff. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland, S. 120. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland., S. 152. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland, S. 287. Da Manns Roman im Jahre 1893 spielt, liegt die Vermutung nahe, dass hier auf die erste öffentliche Aufführung von Hauptmanns Die Weber angespielt wird. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland, S. 127. Koopmann, Heinrich Mann, S. 26. Schöller, Nachwort (Jagd), S. 417 Georg Simmel, Philosophie des Geldes (1900), 8. Aufl. Frankfurt/M. 1987 Es charakterisiert einen konservativen Grundzug auch beim gesellschaftskritischen Heinrich Mann, dass seine Kritik nicht dem Reichtum als solchem bzw. dem kapitalistischen Wirtschaftssystem gilt, sondern dem Parvenu als dem halbseidenen Aufsteiger. Vgl. dazu Volker Riedel, Konservatismus im Werk des frühen Heinrich Mann, in: Jan Andres (Hg.), „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900, Frankfurt/M. 2007, S. 216–241, hier S. 218. Was etwa bei J. Haupt zu der Kritik geführt hat, Mann habe eine „Totalsatire der Gesellschaft“ geschaffen. Vgl. Jürgen Haupt, Heinrich Mann, Stuttgart 1980, S. 29; kritisch dazu Torben Fischer, Widersprüchliche Fundierungen, Annäherungen an die literarischen Anfänge Heinrich Manns in den 1890er Jahren, in: Delabar u. Fähnders, Heinrich Mann (1871–1950), S. 37–60, hier S. 55. Rolf Thiede, Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung, Berlin 1998, S. 125. Jost Hermand: Das Vorbild Zola. Heinrich Mann und die Dreyfus-Affäre, in: Julius H. Schoeps u. Hermann Simon (Hg.), Dreyfus und die Folgen, Berlin 1995, S. 234–250, v. a. S. 240. Vgl. Stefan Breuer, Das ‚Zwanzigste Jahrhundert‘ und die Brüder Mann, in: Manfred Dierks u. Ruprecht Wimmer (Hg.), Thomas Mann und das Judentum (Thomas-Mann-Studien 30), Frankfurt/M. 2004, S. 25–95. Heinrich Mann selbst räumte später ein, nicht immer liberal gedacht zu haben: „In den Zeiten meines nur genießenden Ästhetizismus [. . .] redigirte [ich] ohne Überzeugung ein reaktionäres Wurschtblatt.“ Vgl. Riedel, Konservatismus, S. 232. Heinrich Mann, Selbstcharakteristik, Materialien (Diana), S. 341. Thomas Mann spricht hier von „Romanen voll aphrodisischer Pennälerphantasien, Katalogen des Lasters, in denen keine Nummer vergessen war“. T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt/M. 1983, S. 541. Von der „frechen Karikatur des deutschen Lebens“ ist in der Abrechnung des Völkischen Beobachters mit Heinrich Mann zu lesen; vgl. dazu Martin, Erotische Politik, S. 10.
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Martin, Erotische Politik. Die Charakteristik der Femme fragile nach dem immer gleichen Schema mutet „beinahe zwanghaft“ an. Martin, Erotische Politik, S. 21. Robert Schmutzler, Art Nouveau – Jugendstil, Stuttgart 1962; vgl. auch Hartmut Scheible, Literarischer Jugendstil in Wien, München 1984, Heinrich Mann, Das Wunderbare, S. 27. Das Jugendstilhafte der Erzählung, die Heinrich Mann gezielt im Pan 1896 veröffentlichte, wurde durch die Illustrationen von Ludwig von Hofmann noch unterstrichen. Heinrich Mann, Pippo Spano, S 39. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland, S. 63. Heinrich Mann, Im Schlaraffenland., S. 42. Heinrich Mann, Diana, S. 148f. Es spricht einiges dafür, dass Heinrich Mann sich bei der Gestalt der Cucuru von der Geschichte einer der legendären Abenteurerinnen des 19. Jahrhunderts, Madame Rattazzi, einer Nichte Napoleon I. anregen ließ. Vgl. dazu Banuls, Nachwort (Diana), S. 306ff. Vgl. dazu Carola Hilmes, Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur, Stuttgart 1990, S. 177–222; Martin, Erotische Politik, hingegen beharrt auf dem auch diese Romane prägenden Muster der Femme fragile. Vgl. Banuls, Nachwort (Diana), S. 283. Brief an Albert Langen, 2. Dez. 1900, nach Materialien (Diana), S. 299. Ebd. Vgl. Stauffer, Oberflächlichkeit, S. 259. Peter Sprengel betont in seiner Literaturgeschichte die antiteleologischen Züge des Romans und versteht die Trilogie vor allem als eine narrativen Umsetzung von Nietzsches Kunst-Metaphysik. Der Übergang vom zweiten zum dritten Band, der durch die Vereinigungsszene mit Jakobus Halm eingeleitet wird, sei dementsprechend als dionysische Fundierung der bis dahin bloß apollinischen Existenz Violantes zu sehen. Vgl. Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004, S. 330. Heinrich Mann, Venus, S. 91; Vgl. dazu Stauffer, Oberflächlichkeit, S. 258. Heinrich Mann, Venus, S. 94. Notizen zur Venus, Materialien, S. 311. Heinrich Mann, Venus, S. 69 Heinrich Mann, Venus, S. 71 Heinrich Mann, Venus, S. 195. Heinrich Mann, Venus., S. 199. Heinrich Mann, Venus, S. 40. Heinrich Mann, Venus, S. 234 Vgl. dazu Stauffer, Oberflächlichkeit. Vgl. Werner, Skeptizismus, S. 88ff. Vgl. Werner, Skeptizismus, S. 619. Zit. nach Stauffer, Oberflächlichkeit, S. 257.
Ortrud Gutjahr
Thomas Manns Frühwerk: Anfänge und Vollendungen Der zu Beginn des Jahres 1901 veröffentlichte Roman Buddenbrooks brachte dem bis dahin nur in informierten Kreisen bekannten, erst 25-jährigen Schriftsteller Thomas Mann den literarischen Durchbruch. Obgleich der bald auch schon international renommierte Autor in größeren Abständen weiterhin noch erfolgreiche Romane publizierte, wie zunächst Königliche Hoheit (1909) und Der Zauberberg (1924), erhielt er im Jahr 1929 den Literaturnobelpreis ausdrücklich für dieses Erstlingswerk. Mann meinte selbst, ein „außerordentlich deutsches Buch“1 vorgelegt und schon in jungen Jahren alles gegeben zu haben. Wenig bescheiden befand er, dass mit den Buddenbrooks erstmals „der deutsche Roman seine Ansprüche auf Weltfähigkeit“2 anmelden könne. Es ist jedenfalls unbestreitbar ein Meisterwerk, mit dem sich Mann gleich zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere in die Gruppe der wichtigsten Autoren des Fin de Siècle einschreiben konnte – auch wenn er rückblickend meinte, dass dieses umfängliche Erzählwerk über die eigene „schwanke Kraft und künstlerische Unerfahrenheit damals weit hinausging“.3 Doch so ganz unerfahren war der junge Autor dann doch nicht, denn es lagen schon einige kürzere Texte vor, in denen er Erzählformen erprobt, Themen angeschnitten und Motive entwickelt hatte, die dann in seinem Erstlingsroman in größerem Stil wieder zum Einsatz kamen.
Erste Erzähltexte Bereits während seiner wenig glanzvollen Schulzeit entwickelt der Lübecker Kaufmannssohn ganz seiner musisch begabten Mutter nachkommend ein ausgeprägtes Interesse für Musik, Theater und Dichtung. Er liest die neueste Literatur der europäischen Moderne und versteht es, die innovativen Strömungen, wie sie beispielsweise mit dem psychologisierenden Erzählen zunächst vor allem in Frankreich, Russland und Skandinavien entwickelt wurden, für sein eigenes Schreiben fruchtbar zu machen. Publikationsmöglichkeiten für seine ersten schriftstellerischen Versuche findet Mann bei den in beachtlicher Zahl neu gegründeten Literaturzeitschriften, die sich um Förderung junger Talente bemühen. Eine kurze Prosaskizze mit dem Titel Vision erscheint 1893 neben ersten Gedichten zunächst
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noch in einer von ihm mitbegründeten Schülerzeitschrift. Die im Fin de Siècle populäre Stimmungsprosa wendet der literarisch bewanderte Schüler ins Sentimentale: Ein an der Schreibmaschine sitzender, in elegischer Stimmung seinen Erinnerungen nachhängender Jüngling bricht in Tränen aus, als er sich in einem selbstversunkenen Moment gewiss wird, in einer nun beendeten Verbindung geliebt worden zu sein.4 Auch wenn sich die spätere erzählerische Meisterschaft in dieser kleinen Erstpublikation allenfalls vage ahnen lässt, hat der angehende Schriftsteller doch bereits hier eine autopoetologische Leitfiguration gefunden, denn die Gestalt des sensitiven, dem Ästhetizismus zugeneigten Jünglings, der den Stoff für sein Schreiben in der eigenen Lebensgeschichte entdeckt, findet sich in vielen Variationen in Manns Frühwerk wieder. Auch im Text Gefallen, der 1894 in der für die Münchner Moderne tonangebenden Literaturzeitschrift Die Gesellschaft erscheint, wird ein junger Ich-Erzähler Zeuge, wie Lebenserfahrung vermittels der Adaption literarischer Vorlagen in Dichtung überführt wird. In einem Kunstatelier trifft der Erzähler außer mit dem dort tätigen Maler und einem idealistisch denkenden Nationalökonomen auch mit einem fortschrittlich gesinnten Arzt zusammen, der zunächst Ideen der virulenten Emanzipationsbewegung aufgreift und über „[d]ie schmachvolle soziale Stellung des Weibes“5 doziert. Im Kontrast zu diesen Ausführungen erzählt er den Freunden dann aber einfühlsam über die erste Begegnung eines Jünglings, „unschuldig, – rein am Leibe wie an der Seele“6, mit einer in Liebesangelegenheiten erfahrenen Frau „gleich fix und fertig in Novellenform“7. In dieser Binnengeschichte geht ein aus Norddeutschland stammender Student wenige Tage nach seiner Inskription an einer süddeutschen Universität ein Verhältnis mit einer jungen Schauspielerin ein, die als „naive Liebhaberin am Goethe-Theater“8 tätig ist. Als der in Liebesdingen Unerfahrene jedoch erkennen muss, dass sich seine Angebetete für Geld auch mit älteren Männern einlässt, weint er bitterlich über seine verlorene Unschuld. Mann hat mit dieser Erzählung nicht nur erneut den Typus des an der Liebe leidenden Jünglings gestaltet, sondern gibt überdies einen indirekten Hinweis auf deren (auto-)biographische Fundierung, denn er lässt den Arzt in der Rahmengeschichte bekennen, dass es sich beim Erzählten um eine selbst erlebte Jugendepisode handelt. Doch orientiert sich die Binnengeschichte geradezu überdeutlich an einer Jugendepisode des Titelprotagonisten in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hier sieht sich der junge Kaufmannssohn gleich zu Beginn in seiner schwärmerischen Liebe zur Schauspielerin Mariane jäh enttäuscht, als er von ihrem älteren Gönner erfährt, und gerät infolgedessen in eine tiefgreifende, mit schwerer Krankheit einhergehende Lebenskrise. Explizit überformt in Manns Erzählung also das Muster des kanonischen Romans die biographische Erzählung des Arztes im Text. Damit erweist sich das Erzählen von kränkenden Erlebnissen als Selbstheilungsprozess. Zugleich werden Manns eigene ‚Lehrjahre des Schreibens‘ thematisiert: als Suche nach einem schriftstellerischen Selbstverständnis über die Modellierung tradierter Themen und Formen. Dass es in diesem literarischen Selbstfindungsprozess auch um die Prägung durch den leistungsorientierten Va-
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ter hanseatischen Zuschnitts und die den Künsten zugeneigte, durch ihr südländisches Aussehen auffallende Mutter geht sowie um die Reflexion eines AndersSeins innerhalb einer pragmatisch orientierten, bürgerlichen Gesellschaft, verdeutlicht auch die 1896 in der renommierten Münchner Zeitschrift Simplicissimus erschienene Erzählung Der Wille zum Glück. Hier steht, wie so oft in Manns Texten, ein integrierter Außenseiter im Zentrum, der über physiognomisch auffällige Merkmale, körperliche Leiden und das Unvermögen gekennzeichnet ist, die ersehnte Liebesverbindung mit einer Frau realisieren zu können. Ein Erzähler erinnert sich an seinen Schulfreund Paolo Hofmann, den norddeutschen Sohn eines Besitzers von Plantagen in Südamerika und „eine[r] Eingeborene[n] aus gutem Hause“.9 Diese bis in die Namensgebung hinein als kulturell hybrid konzipierte Figur erscheint mit seinem schwarzem Haar und blassblauem Geäder an den Schläfen als Ebenbild seiner südamerikanischen Mutter. Während der Jugendzeit pflegt der Erzähler zu Paolo eine enge, durch das „,Pathos der Distanz‘“10 geprägte Beziehung und weiß zu berichten, dass der Freund in der Tanzstunde auf „ein blondes, fröhliches Geschöpf“11 ausgerichtet ist, ohne auf entsprechende Gegenreaktion zu stoßen. Nach der Schulzeit wechselt Paolo von Norddeutschland zum Kunststudium zunächst nach Karlsruhe und später nach München, wo er sich nun in die ihm zugeneigte 19-jährige Tochter des reichen Barons von Stein namens Ada verliebt, doch wird er ob seiner offenkundig kränklichen Konstitution als zukünftiger Schwiegersohn abgelehnt. Daraufhin flieht der Zurückgewiesene auf Reisen in nordafrikanische Länder und Italien, bis ihm der Baron einen Brief mit der Nachricht schickt, dass seine Tochter unverbrüchlich an ihm festhält und er nunmehr einer Verheiratung zustimmt. Daraufhin reist Paolo nach München, um Ada zu heiraten, doch stirbt er bereits am Morgen nach der Hochzeit. Diesen Tod seines Freundes kommentiert der Erzähler nun als schicksalhafte Erfüllung: „Er mußte sterben, ohne Kampf und Widerstand sterben, als seinem Willen zum Glück Genüge geschehen war; er hatte keinen Vorwand mehr, zu leben.“12 Mann gestaltet hier wie in vielen anderen seiner Erzähltexte die enge Verbindung von erotischem Begehren und Todesverfallenheit. Dass er mit diesem Konnex auch die Angst vor Enttarnung einer in jener Zeit unter Strafe gestellten, mit tödlicher Krankheit und Degenereszenz in Verbindung gebrachten Homosexualität literarisch produktiv ausgestaltet,13 wurde in der Forschung verschiedentlich herausgearbeitet.14 Auch finden sich zahlreiche Belege für die enge Verkopplung von Manns Leben mit seinem Werk. So sind insbesondere in den Narrativen über künstlerische Selbstfindung zahlreiche biographische Reminiszenzen auszumachen. Der im Juni 1875 als drittes Kind des geschäftstüchtigen Kaufmanns und angesehenen Senators Thomas Johann Heinrich Mann und seiner aus Südamerika stammenden Frau Julia in Lübeck geborene und dort aufgewachsene Thomas Mann zieht 1894, nach dem mit viel Mühen endlich erreichten Abschluss der Mittleren Reife, von seiner Heimatstadt nach München, wohin seine Mutter nach dem Tode des Vaters und dem Verkauf von dessen Firma schon 1891 übergesiedelt war. Er befindet sich auf der Suche nach einem geeigneten Beruf, tritt
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kurzfristig eine Stellung als Volontär bei der Süddeutschen Feuerversicherungsbank an, schreibt Erzählungen und besucht zeitweilig die Universität mit dem Ziel, Journalist zu werden. Im Juli 1895 reist er erstmals zu seinem in Rom weilenden Bruder Heinrich, verbringt den Sommer mit ihm im nahe gelegenen Landstädtchen Palestrina und verfasst dort unter anderem Buchrezensionen zur Literatur der europäischen Moderne. Im Jahre darauf reist Mann erneut nach Rom und schickt seine Erzählung Der kleine Herr Friedemann an die Redaktion der zum Fischer Verlag gehörenden Neuen Deutschen Rundschau. Auch in diesem Text wird über das Leiden eines gesellschaftlichen Außenseiters erzählt: Der kleinwüchsige Johannes Friedemann wächst nach dem frühen Tod seines Vaters, einem Kaufmann und niederländischen Konsul, bei seiner kränklichen Mutter und zwei Schwestern heran. Der Erzähler vermerkt, dass er dank seiner „große [n], rehbraune[n] Augen“ und einem „weichgeschnittenen Mund“ trotz seiner körperlichen Entstellung „beinahe schön zu nennen“15 sei. Doch als er im Alter von sieben Jahren in der Schule für Mädchen zu schwärmen beginnt, muss er erkennen, dass „[d]iese Dinge, [. . .] von denen die anderen ersichtlich ganz erfüllt waren“, zu denen zählten, „für die er sich nicht eignete“16 Wenig später hat es ihm zwar „die Schwester eines seiner Klassengenossen, ein blondes, ausgelassen fröhliches Geschöpf“17 angetan, doch als sich das Mädchen einem anderen zuwendet, schwört er sich: „Ich bin fertig damit. Es ist für mich abgetan. Nie wieder. –“18 Im Alter von 17 Jahren verlässt Johannes die Schule, wird Kaufmann und lebt zurückgezogen, bis er, bereits jenseits der Dreißig, Gerda von Rinnlingen kennenlernt, die burschikose Ehefrau des Bezirkskommandanten. Als er bei einer Aufführung von Wagners Lohengrin in einer Loge zufällig neben ihr zu sitzen kommt, muss er vor innerer Erregung frühzeitig die Vorstellung verlassen, doch wagt er nach einiger Zeit, sich ihr bei einer Soiree zu erklären. Die Angebetete, der er nur bis zur Brust reicht, lacht ihn jedoch verächtlich aus und stößt ihn zu Boden, woraufhin er sich voll Selbstekel ins Wasser fallen lässt. Die Erzählung, in der wiederum das Motiv des beschädigten Körpers mit einem unerfüllbaren erotischen Verlangen verknüpft ist, findet bei der Neuen Deutschen Rundschau so großes Interesse, dass Mann die Aufforderung erhält, alle bisherigen Novellen für einen möglichen Sammelband zu schicken. Dadurch wird nun auch der führende Verleger für moderne Literatur, Samuel Fischer, auf den jungen, erfolgversprechenden Autor aufmerksam und unterbreitet diesem im Mai 1897 ein äußerst verlockendes Angebot: „Ich würde mich aber freuen, wenn Sie mir Gelegenheit geben würden, ein größeres Prosawerk von Ihnen zu veröffentlichen, vielleicht einen Roman, wenn er auch nicht zu lang ist.“19 Mann ergreift diese ehrenvolle Offerte umgehend und vermerkt in einem Brief vom 20. August 1897, dass er den Stoff für einen großen Roman, der „etwa ‚Abwärts‘“20 heißen soll, gefunden habe. Unwillkürlich greift er auf die Geschichte seiner eigenen Familie zurück, wie er später in seinen autobiographischen Aufzeichnungen mit dem Titel Über mich selbst bekennt: „Bei der Umschau nach einem Stoff, der mir taugen könnte, lag naturgemäß am nächsten meine indivi-
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duelle Kindheitserfahrung, die Geschichte meiner eigenen Familie; als Milieu: meine Heimatstadt.“21 Er vertieft sich in „alle alten Familienpapiere, vergilbte Aufzeichnungen, Briefe, Festerinnerungen und Urkunden . . ., die in Truhen und Laden“22 auffindbar sind. Mann schwebt eine Art ‚Knabennovelle‘ vor, die er dann durch Hinzufügung der Herkunftsgeschichte des Protagonisten zu einem Roman auszuweiten gedenkt. Im Februar 1898 kommt der junge Autor mit dem Schreiben schon bis zum Ende des späteren dritten Teils.23 Doch hat er das Potential dieser Familiengeschichte gehörig unterschätzt und bei seiner Rückreise ein „über alles Erwarten angeschwollene[s] Manuskript“24 in der Tasche. Da er in München nun einen Posten als Lektor und Redakteur der Zeitschrift Simplicissimus annimmt, verzögert sich die Fertigstellung um mehr als zwei weitere Jahre. Als dem mittlerweile 25-jährigen Autor von seinem erfahrenen Verleger dann allerdings nahegelegt wird, den im Juli 1900 zum Druck eingereichten Roman um die Hälfte zu kürzen, erklärt er mit selbstbewusster Bestimmtheit, „daß der große Umfang eine wesentliche Eigenschaft des Buches sei“ und dass man es im Falle der Kürzung „verpfusche“.25 Und doch will Mann an seinem Roman, der sich von der zuerst konzipierten Schlussphase aus rückwärts zu einem Werk unkalkulierter Dimension entwickelt hatte, nicht alle Teile gleich gewichtet wissen, denn noch in späteren Jahren betont er, dass der eigentliche Kern der Buddenbrooks in der „Geschichte des sensitiven Spätlings Hanno“26 liegt.
Ein Dekadenz-, Familien-, Gesellschafts- und Epochenroman Thomas Manns Buddenbrooks ist ein nach Worten des Autors „als Familien-Saga verkleideter Gesellschaftsroman“27, mehr aber noch „ein vom Verfallsgedanken überschattetes Kulturgemälde“,28 mithin ein Dekadenz-Roman, der in elf Teilen mit zahlreichen Kapiteln und vielfältig ineinander verwobenen Handlungssträngen über den sukzessiven Zusammenbruch der tradierten Ordnung einer patrizisch-hanseatischen Familie und ihres Firmenbesitzes erzählt. So kann das Werk als literarisches Protokoll der inneren Zersetzung des Bürgertums im 19. Jahrhundert gelesen werden, bei dem soziale Stellung und psychische Befindlichkeit der Protagonisten untrennbar mit ökonomischen Umbrüchen und gesellschaftlichem Wandel verknüpft sind und ein an Profitmaximierung orientiertes Denken problematisiert wird. Zur Darstellung kommt eine steil abwärts führende Verfallsgeschichte, deren Unabänderlichkeit nicht zuletzt durch Versatzstücke aus dem seinerzeit populären sozialdarwinistischen und vererbungstheoretischen Ideenrepertoire und der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches Evidenz gewinnen soll. Es ist offensichtlich, dass in diesem Roman, dessen erzählte Zeit die Jahre von 1835 bis 1877 umfasst, über vier Generationen hinweg reziprok zur Abnahme des Firmenkapitals und der Verkürzung der Lebenszeit der männlichen Familienmitglieder deren Degenereszenz in Form physischer Defekte und psychischer Störungen zunimmt.
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Eingebettet in ein weit ausgreifendes Personeninventar sind vor allem die Geschwister der dritten Generation – Thomas, Antonie, Christian und die Nachzüglerin Clara Buddenbrook – ohne chronologische Verschiebung oder längere Rückblenden in ihrer unterschiedlichen Entwicklung als Agenten dieses Niedergangs gestaltet. Dabei steht deutlich der Firmenerbe Thomas im Zentrum des auf männliche Nachfolge konzentrierten Romans. Mit seinem Tod wie dem nur wenig später folgenden Ableben seines Stammhalters Hanno wird der Niedergang von Firma und Familie besiegelt. Unter dem Aspekt der Familienkonstellationen ist nun aber auffällig, dass Thomas in seiner Position als Sohn und Bruder weitaus mehr hervorgehoben wird als in seiner Rolle als Vater.29 Diese Gewichtung legt der Roman durch den Umfang der Narration sowie die Dauer der erzählten Zeit nahe, denn erst im siebten Teil und damit nach etwas mehr als der Hälfte des Buches kommt Thomas als Vater überhaupt in Betracht. Doch mit fanfarischen Ausrufen wird die Geburt seines Sohnes Hanno angekündigt: „. . . ein Erbe! Ein Stammhalter! Ein Buddenbrook! [. . .] auf dem längst so viele Hoffnungen ruhen, von dem längst so viel gesprochen, der seit langen Jahren erwartet, ersehnt worden“.30 Diese pathetische Einführung Hannos signalisiert bereits, dass sich durch ihn nicht allein ein Wertewandel innerhalb der Familiengenealogie ankündigt, sondern auch ein Epochenumbruch, der den Wechsel von der Gründerzeit (der Vätergeneration) zur Moderne (der Söhnegeneration) verdeutlicht. Manns Buddenbrooks lässt sich von daher als herausragendes Beispiel eines genealogisch organisierten Epochenromans lesen, in dem die Neuzuweisung von Familienrollen verhandelt wird.31 Die vom Erzähler präsentierte Vorgeschichte Hannos, in der sein Vater Thomas Buddenbrook als Protagonist im Zentrum steht, beginnt unmittelbar vor dem Einweihungsfest des von der Familie neu erworbenen Hauses mit einer Familienszene. Als betrachte er ein altes Familienportrait, beginnt der Erzähler im Gestus einer Ekphrasis Familienmitglieder aus drei Generationen vorzustellen: Im Zentrum thront in einem Armsessel auf den Knien ihres Großvaters die achtjährige Tony Buddenbrook mit in den Raum gerichtetem Blick, während die Großmutter auf einem „weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa“ (S. 9) neben der Mutter platziert ist, welche den Blick auf den in einem Stuhl neben sich sitzenden Vater richtet. Dieses familiäre Eingangstableau im „Landschaftszimmer“ ist vor einer Tapete arrangiert, die eine „Idylle im Geschmack des 18. Jahrhunderts“ (S. 12) ziert, und wird so als generationenübergreifende Verständigungssituation über tradierte Werte vorgestellt. Doch dem scheinbar so intimen Raum kommt zugleich öffentlicher Charakter zu, denn er dient der Repräsentation des gesellschaftlichen Status der Familienmitglieder und ist auch im Innern genuin Fassade. Hier muss immer Haltung eingenommen werden, wie dies durch das Einweihungsfest verdeutlicht wird, bei dem nicht nur die eben aus der Schule zurückgekehrten Söhne der jüngsten Generation – der neunjährige Thomas und der siebenjährige Christian – teilnehmen, sondern auch sorgsam ausgewählte Gäste, mit denen „die Kette der Verwandten durch Hausfreunde unterbrochen“ (S. 24) wird. Diese Freunde
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verkörpern in ihrer Stellung als Senator, Makler, Händler, Pastor und Dichter die öffentlichen Bereiche Politik, Handel, Kirche sowie Kunst und lassen das Haus zu einem erwählten gesellschaftlichen Kosmos in nuce werden. Die Familie ist in Manns Roman zugleich eine ökonomische Körperschaft, der es um Steigerung und Vererbung von materiellem und symbolischem Kapital geht, weshalb das persönliche Schicksal der einzelnen Familienmitglieder untrennbar mit der Wohlfahrt des Handelshauses verknüpft ist. Der Entwicklungsgang der Geschwister Thomas, Christian und Tony verdeutlicht eine zunehmende Ökonomisierung der Beziehungen und ein Scheitern am Firmenimperativ der Vermögensoptimierung, denn die Figuren werden vom abfließenden Kapital gleich ihrem unabwendbaren Schicksal mitgerissen. Dabei macht Mann seinen Erzähler, den er zunächst Connaisseur familiärer Gepflogenheiten, Verhaltenserwartungen, Lebensweisheiten und Werte sein lässt, zum Diagnostiker zunehmender Verunsicherung und Nervosität im Familienverband. Die Familie gerät ins Wanken, als mit dem Tod des Vaters der Erbfall eintritt und sich ein Generationenwechsel vollzieht. Denn nun rückt Thomas als ältester Sohn und männlicher Nachfolger ins Zentrum der Familie und wird dabei vom Erzähler wachsam begleitet. Der zum Firmenerbe Erzogene sieht sich in der Pflicht, die Rolle des Herrn im Hause Buddenbrook einzunehmen, sucht mit Übereifer dem väterlichen Gebot der Gewinnmaximierung nachzukommen, übernimmt die Aufgabe des Firmenleiters und Familienoberhauptes und positioniert sich gegenüber Mutter, Schwester und Bruder patriarchal-autoritär. Er regelt die Erbschaftsangelegenheiten, kontrolliert die Geldausgaben der Familie und unterstellt sich selbst einem unbedingten Leistungsethos. Er steigt zum Senator und Konsul auf und erreicht damit alle Ehrenämter, die ihm als Bürger der Stadt und ehrenwertem Kaufmann überhaupt zukommen können. Thomas wird zum Finanzchronisten, der bei jedem wichtigen Familienereignis bilanziert, dass die Firmenentwicklung hinter den Erwartungen zurückbleibt. Er tadelt seinen jüngeren Bruder Christian wegen dessen Leistungsverweigerung, beschuldigt ihn, den guten Namen der Familie zu verunglimpfen, und hält ihm vor, dass er sich mit seinen dubiosen Krankheitsberichten und seinem Hang zum weiblichen Theaterpersonal lächerlich mache. Eng verbunden ist Thomas hingegen mit seiner Schwester Tony, die sich, obgleich väterlicherseits in eine scheiternde Versorgungsehe gedrängt, in ihrem Denken und Handeln vollkommen mit den familiären Werten identifiziert. Durch Tony wird Thomas in seiner rigiden Selbstdisziplin und seinem unermüdlichen Erfolgsstreben als Familienoberhaupt ohne Wenn und Aber unterstützt. Im Gegenzug berät er sie in allen Lebenslagen, zahlt ihr als geschiedener Frau mit Kind eine weitere Mitgift aus, um ihr eine zweite Ehe im fernen München zu ermöglichen, und nimmt sie nach dem Scheitern auch dieser Verbindung wieder im Haus auf. Er selbst beendet seine unstandesgemäße Liaison mit der Blumenverkäuferin Anna mit größter Selbstverständlichkeit, um eine äußerst gewinnbringende Partie mit Gerda Arnoldsen, der reichen Tochter eines niederländischen Geschäftspartners, zu machen. Unterstellt Thomas selbst die Wahl seiner musisch begabten Ehefrau
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kaufmännischem Kalkül, so erweist sich der so sehnlich erwartete Erbe Hanno gerade aufgrund seiner mütterlichen Erbanlage als unfähig, die kaufmännische Familientradition fortzuführen.
Hanno als Erbe und Spätling In der von Mann ursprünglich geplanten ‚Knabennovelle‘, die im Roman zur Umbruchsgeschichte von der Väter- zur Söhnegeneration weiterentwickelt wird, geht es um das familiäre Drama eines musisch begabten Kindes, das in der ihm zugedachten Familienrolle nicht heimisch werden kann. Hanno identifiziert sich nicht mit den kaufmännischen Werten des Vaters, bleibt über die Kunst an die Mutter gebunden und imaginiert in der Freundschaft zu einem gleichaltrigen Mitschüler eine Position außerhalb der Familie; doch kann er diese aufgrund seines frühen Todes nicht mehr ausleben. Mit der Geschichte des letzten männlichen Familienerben zitiert Mann Narrative des Bildungs- und Künstlerromans an, bricht diese allerdings vor ihrer Entfaltung ab, denn einen Weg in selbstbestimmte Lebensgestaltung hat er für Hanno nicht vorgesehen. Die Gründe für seinen frühen Tod werden in seiner schwächlichen Konstitution ausgemacht. Der scheue, auffällig verträumte, häufig weinende Knabe entzieht sich von klein auf körperlicher Ertüchtigung und widersetzt sich den seitens des Elternhauses und der Schule an ihn gestellten Leistungsansprüchen. Er sucht Befreiung vom Unlust und Leid erzeugenden, väterlich konnotierten Leistungsanspruch bei Ferienaufenthalten am Meer und beim selbst inszenierten Spiel mit dem Puppentheater. Entgegen aller Erwartungen, die mit ihm als Stammhalter der Kaufmannsfamilie verbunden sind, erweist er sich als Erbe der mütterlichen Begabung für die Musik,32 die ihm hilft, seiner erwachenden Sexualität Ausdruck zu verleihen, wobei ihm die Musik Richard Wagners zum inspirierenden Quell eigener Phantasien wird.33 Der Organist Pfühl, der Hanno unterrichtet, erkennt, dass dem träumerischen Kind die Musik eine adäquate Ausdrucksweise ist: „Später einmal im Leben, das vielleicht seinen Mund immer fester verschließen wird, muß er eine Möglichkeit haben, zu reden . . .“ (S. 552). Mit dieser Prophezeiung deutet der kunstverständige Lehrer in autopoetologischem Gestus den Künstlerroman der Moderne an, den Mann in der ‚Knabennovelle‘ angelegt hat, und erläutert überdies implizit die Struktur des Familienromans als „krebsgängige Imitation“ (S. 554). Denn in einem Lehrgespräch formuliert er als zukünftige Aufgabe für Hanno, den komplexen kompositorischen Aufbau in der Musik zu begreifen: „[E]s ist die Nachahmung eines Themas von hinten nach vorn, von der letzten Note zur ersten . . . etwas ziemlich Schwieriges.“ (S. 554) Für Manns Roman Buddenbrooks ist nun aber kennzeichnend, dass diese „Nachahmung eines Themas von hinten nach vorn“ nicht aus der Perspektive des „sensitiven Spätlings“ erfolgt, sondern ein Erzähler den in analytischer Manier rückgreifenden Prozess darlegt, der zu Hannos familiärer Stellung und psy-
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chischer Disposition geführt hat. Dieser Erzähler geriert sich von Beginn des Romans an als getreuer Beobachter, der über die Zustände bei den Buddenbrooks bestens informiert ist. Im Erzählen der Familiengeschichte über vier Generationen hinweg will er von einer geradezu zwangsläufigen Abwärtsentwicklung zu Hanno hin überzeugen, indem er auf signifikante Szenen eingeht, die wie episodische Erläuterungen der Familienchronik gelesen werden können. Durch die Ausweitung des Blicks von der Sohnesproblematik zwischen Vater und Mutter hin zum genealogischen Familienverband, der auch Verwandte zweiten und dritten Grades mit einschließt, ist Hanno in Beziehungsmuster eingebunden, die über vererbte Ähnlichkeiten in Aussehen, Verhalten, Neigungen und Begabungen selbstverständliche Zugehörigkeit garantieren. Zugleich aber werden über neurasthenische Störungen, die über vier Generationen hinweg an Dynamik gewinnen und sich auf die männlichen Stammhalter letal auswirken, auch familiäre Zerstörungskräfte wirksam.34 So hat Thomas Mann für seinen Roman einen Erzähler entworfen, der sich in die Psychodynamik des familiären Romangeschehens hineinbegibt und mit ihrer Veränderung selbst weiterentwickelt. Er befleißigt sich bei der Schilderung der durch Traditionen abgesicherten Familie anfangs einer am Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts orientierten, humoristisch ironisierenden Erzählweise, wechselt bei der Beschreibung von Thomas’ Verantwortungsdruck und seinen zunehmenden Ängsten in eine teilnehmend reflektierende, bis er schließlich zu einem Scham abwehrenden, teilnahmsvoll schützenden Erzählen findet, sobald es um Hanno geht.
Bruch mit der Vaterwelt und Eingedenken Der Stammhalter wird in eine ‚erinnerte Familiengeschichte‘ eingebunden und damit in ein komplexes genealogisches Gefüge eingepasst, was schon sein Vorname Johann zeigt, den bereits der Firmengründer wie auch sein Urgroßvater und Großvater trugen. Der genealogische Wechsel kann aber nicht mehr durch eine Fortführung der Familientradition im Namen des Vaters und der Vorväter vollzogen werden, sondern nur durch einen Bruch mit der Vaterwelt. Eine Episode, in der die genealogische Zäsur signifikant in Szene gesetzt wird, findet sich in den Buddenbrooks anlässlich des 100-jährigen Firmenjubiläums im Jahre 1868. Noch bevor die geladenen Gäste kommen, soll Hanno dem Vater im Kreise der Familie das Gedicht Schäfers Sonntagslied (S. 533) von Ludwig Uhland aufsagen.35 Doch anders als bei der idyllischen Familienszene zur Einweihung des Hauses in der Mengstraße kann Hanno nicht wie einst Tony vergnügt auf dem Schoß des Großvaters sitzend nach Worten suchen und dann das auswendig Gelernte abspulen, sondern muss sich vor den prüfenden Augen der anwesenden Familienmitglieder beweisen. Die Anlage der Szene stellt heraus, dass hier ein verängstigter Sohn vor dem Tribunal des Vaters steht, über den der Erzähler wissen lässt: „Ernst, die eine Braue emporgezogen, maß er die Gestalt des kleinen
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Johann mit prüfendem, ja sogar kaltem Blick.“ (S. 532) Thomas stellt Hanno bloß, indem er ihn implizit mit dem Vorwurf konfrontiert, seinem Wunschbild von einem Stammhalter nicht gerecht zu werden. Der solchermaßen vor den Augen der Familie Beschämte kann nur noch die Gedichtzeile hervorbringen: „,Ich bin allein auf weiter Flur‘“ (S. 533), dann versagt ihm die Stimme und er beginnt zu weinen, woraufhin er vom Vater mit der rhetorischen Deckfrage: „Bist du denn ein kleines Mädchen?“ (S. 534) rigide abgewehrt wird. Dass der Vater nach dieser fundamentalen Enttäuschung und Sinnentleerung seines auf Nachkommenschaft aufgebauten Lebens wie auch der Sohn nach der tiefen Kränkung und dem Verlust seines Selbstvertrauens in eine suizidale Position geraten, verdeutlicht die Hilflosigkeit ihrer Kommunikation, die in der populären ‚Väter-und-Söhne-Literatur‘ der Jahrhundertwende ihresgleichen sucht.36 Hanno hinterlässt dem Vater einen buchstäblich wortlosen wie vielsagenden Abschiedsbrief. Er liest in der alten Familienchronik zufällig den Eintrag über seine Geburt, lässt seinen Blick über „das ganze genealogische Gewimmel hingleiten“ und zieht „mit der Goldfeder einen schönen, sauberen Doppelstrich quer über das ganze Blatt hinüber“ (S. 575). Als der Vater den Eintrag sieht, reagiert er auf die zeichenhafte Botschaft wiederum einfühlungs- und kommunikationsunfähig. In abwehrend strafendem Gestus schlägt er seinem Sohn mit einem leicht zusammengerollten Heft auf die Wange, worauf dieser nur stammeln kann: „,Ich glaubte . . . ich glaubte . . . es käme nichts mehr . . .‘“ (S. 576). Das wechselseitige ‚Aneinander-Leiden‘ führt jedoch auch zur Annäherung zwischen Vater und Sohn, die vom Erzähler durch verstärkte Innenschau verdeutlicht wird. Mit großer Disziplin versucht Thomas, seine zunehmende Ermattung zu überwinden, doch erkennt er sich (durch die zufällige, ihn jedoch existenziell erschütternde Schopenhauerlektüre) als schlechten Schauspieler seiner selbst. Auch Hanno beobachtet, wie sein Vater nur unter größter Mühe und unter Wahrung einer „Maske“ (S. 654) über seinem ermüdeten Gesicht seinen gesellschaftlichen und geschäftlichen Aufgaben nachkommen kann. Ist in zahlreichen Texten der Jahrhundertwende die Figur des Vaters als Repräsentant einer repressiven Ordnung konzipiert, so wird Thomas als dem Sohn gegenüber unempathischer, an seiner eigenen Überforderung leidender Vater gestaltet. Wie sehr diese Auseinandersetzung mit dem Vater durch ambivalente Gefühle geprägt ist, die zwischen Abrechnung und Abbitte schwanken, wird durch Hannos unwillkürliche Reaktion auf dessen Tod verdeutlicht: Er bekommt einen schluchzenden Lachanfall und kann „nicht an sich halten“ (S. 759).37 Mit dem Tod des Vaters eröffnet sich für Hanno die Möglichkeit zu einer Umorientierung durch die Intensivierung der Beziehung zu seinem ebenfalls künstlerisch ambitionierten Freund Kai. Dieser aus einem heruntergekommenen Adelshaus stammende, gleichaltrige Graf Mölln ist mit seinem „verwilderten Äußeren“ (S. 569) dem bürgerlich adrett gekleideten Kaufmannssohn als bohemienhafte Künstlergestalt zur Seite gestellt. Hanno teilt Kais Neigungen und ist diesem in bürgerlicher Mission verbunden, wie der Kommentar des Erzählers
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verdeutlicht: „Hanno wirkte besänftigend, zähmend und geradezu veredelnd auf Kai, der ihn zärtlich liebte“ (S. 572). Die beiden Schulkameraden, die aus ihrer Ablehnung der lehrerseits geforderten Leistungen und ihrer Überheblichkeit gegenüber den Mitschülern keinen Hehl machen, sind während der Schulstunden in Gedanken meist abwesend: Kai schreibt an seinen literarischen Texten und Hanno sinniert über die Musik. Anders als die unverständigen Erziehungsinstanzen versetzt sich der Erzähler empathisch in Hannos Leidenschaft für die Musik, seine Neigung zu Kai und seine Furcht vor Beschämung. Er verweigert demgegenüber eine Begleitung seines Sterbens, denn der letale Verlauf seiner TyphusErkrankung findet lediglich in einer medizinisch-sachlichen Beschreibung Ausdruck. Der Roman endet sechs Monate nach dem Tod Hannos mit einer Gedächtnisszene, die als „eine kleine Familienzusammenkunft, um Abschied zu nehmen“ (S. 833), bezeichnet wird. In der Erinnerung der (auch in Bezug auf die neue Zeit) zurückgebliebenen, aber gegenüber der männlich-letalen Genealogie nichtsdestotrotz vitalen Frauen unter der Ägide der mittlerweile 50-jährigen Tony wird Hannos Abschied von dem ihn zärtlich liebenden Kai auf dem Totenbett als szenisches Denkbild memoriert und mit einer Krankheit in Verbindung gebracht, über die nicht gesprochen werden kann. Auch wenn Mann die ‚Knabennovelle‘ zum Ausgangspunkt des Erzählens wählte, hat sich durch die Ergänzung der genealogisch angelegten Familiengeschichte des „Spätlings“ Hanno die Richtung des Werkes vollkommen verändert. Sein vier Generationen einer norddeutschen Kaufmannsfamilie umfassender Roman ist entschieden auf das ‚bürgerliche Haus‘ zentriert, das auch für das Ende einer Lebenswelt und den Umbruch zu einer neuen Epoche steht: Wie die Buddenbrooks ihr Haus von einer „ehemals so glänzenden Familie“ erworben haben, die dann „verarmt, heruntergekommen, davongezogen war . . .“ (S. 25), so übernimmt am Ende der Parvenü Hagenström das Haus wiederum von der abgestiegenen Familie. Mithin erzählt Manns Erstlingsroman über den Verlust einer festgefügten Welt, in der die Familientradition den Weg für die nachkommende Generation bahnen konnte. Buddenbrooks ist also auch ein Buch über eine Lebenswelt, die der junge Autor mit dem Tod seines Vaters verloren hatte und auf paradigmatische Weise als eine Epoche im Umbruch zur Moderne in seinem Roman erst erschrieben hat.
Weiterentwicklungen der Künstlerthematik Mit dem letzten Erben Hanno hat Mann jedoch lediglich den Kaufmannssohn sterben lassen, der den Ansprüchen des Vaters nicht gerecht werden kann/will, nicht Kai, den schriftstellerisch begabten Zeugen von dessen Leiden und Ableben. Dass der Autor sich sträubte, den Untergang des künstlerisch begabten Kaufmannssohnes zu beglaubigen, zeigen seine über den Roman hinausgehenden Pläne. Denn schon vor Fertigstellung der Buddenbrooks sammelte er Ideen
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für seine Erzählung Tonio Kröger, in der sich die ‚Knabennovelle‘ zu einem Künstlerroman in nuce entwickelt. Tonio ist unschwer als ein Alter Ego Hannos zu erkennen, denn beide Figuren sind durch vergleichbare Merkmale gekennzeichnet. Auch Tonio entstammt einer traditionsreichen norddeutschen Kaufmannsfamilie, sein Vater ist Konsul, seine Mutter eine musisch begabte, fremdländische Schönheit. Er wird als ein ihr nachschlagender Typus mit „einem brünetten und ganz südlich scharfgeschnittenen Gesicht“ und durch „dunkle und zart umschattete Augen“38 beschrieben. Tonio entwickelt ebenfalls künstlerischen Impetus und eine schwärmerische Liebe zu einem Klassenkameraden und einer Tanzstundenpartnerin. Doch der Kaufmannssohn Hans Hansen, der als nordischer Typus und „in allen Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil“39 gezeichnet ist, wie auch die blonde und lebenslustige Inge Holm bringen seiner Neigung wenig Verständnis entgegen. So löst sich der künstlerisch veranlagte Protagonist aus dem bürgerlichen Elternhaus und überwindet sein unerfüllbares Begehren, geht auf Reisen in Italien und findet seinen Weg zur Literatur, den er mit der Malerin Lisaweta in einem Kunstgespräch in deren Münchner Atelier eingehend reflektiert. Wie kaum ein anderer Dichter des Fin de Siècle hat Mann seinen schriftstellerischen Werdegang und sein künstlerisches Selbstverständnis in seinen Werken reflektiert und zu einer ganz eigenen Konzeption des modernen Künstlers ausgeweitet. So wird etwa in der erstmals 1897 in der Literaturzeitschrift Neue Deutsche Rundschau publizierten Erzählung Der Bajazzo die selbstreflexiv angelegte Lebensgeschichte eines jungen Mannes erzählt, der in einer kleinen, alten Stadt in Norddeutschland in einem Patrizierhaus aufgewachsen ist, das „vier Generationen von vermögenden und angesehenen Kaufleuten überdauert“40 hat. Auch er setzt sich von der familiären Tradition ab, vermag seine musischen und literarischen Begabungen jedoch in kein produktives Künstlertum umzusetzen. Gibt Mann in der Figur des Bajazzo der Angst Gestalt, im künstlerischen Bestreben über dilettierende Anfänge nicht hinauskommen zu können und dadurch der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein, wird in anderen Texten aus dem Frühwerk der Umbruch zu einer künstlerischen Moderne geradezu emphatisch gefeiert. So beginnt die erstmals 1902 in der Zeitschrift Die Zeit publizierte Erzählung Gladius Dei mit den Worten „München leuchtete“41 und setzt mit einer impressionistischen Schilderung der um 1900 unangefochtenen Kunsthauptstadt Deutschlands ein, in der „[j]edes fünfte Haus [. . .] Atelierfensterscheiben in der Sonne blinken“42 lässt. Der Erzähler erläutert ausführlich, dass gerade hier die Auseinandersetzung mit den Künsten in all ihren Facetten geführt wird, dass das Lebensgefühl der Jugend mit einem neuen Kunstverständnis Hand in Hand geht und die Werke alter Meister lediglich ironisch gebrochen rezipiert werden. Von einer neuen Freizügigkeit in der Kunst zeugt, dass die nun portraitierten Frauen bekannte Stadtschönheiten sind, von „deren Liebesleben die Stadt spricht, – Königinnen der Künstlerfeste im Karneval“.43 Als besonders Aufsehen erregendes Ereignis erweist sich ausgerechnet die Zurschaustellung eines technisch reprodu-
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zierbaren Bildes, nämlich der Photographie eines modernen Kunstwerks, das der Erzähler als „eine durchaus modern empfundene, von jeder Konvention freie Arbeit“44 beurteilt. Auf dieser im Schaufenster einer Kunsthandlung ausgestellten Reproduktion ist eine unbekleidete Jungfrau Maria zu sehen, auf dem Arm einen „nackten Knaben [. . .], der mit ihrer Brust spielte und dabei seine Augen mit einem klugen Seitenblick auf den Beschauer“45 richtet. Kommentare der Umstehenden, dass es sich hier um „[e]in bedenkliches Weib!“46 oder gar „[e]in Weib zum Rasendwerden!“47 handelt, verstärken den Eindruck, dass die zahleichen Betrachter vor dem Schaufenster eine erotische Szene vor Augen haben. Die ausgestellte Photographie wird aber auch von einem Jüngling im schwarzen Kapuzenmantel betrachtet, der nicht nur Hieronymus heißt, sondern auch seinem Namensbruder, dem Bußprediger Girolamo Hieronymus Savonarola aus dem Florenz des 15. Jahrhunderts gleicht, der vehement gegen die bildlichen Darstellungen biblischer Geschichten vorging. Auch der Jüngling im München der künstlerischen Moderne um 1900 sieht sich zur Kunstkritik berufen und insistiert in einem Streitgespräch mit dem Kunsthändler darauf, dass Kunstwerke mit „erlösendem Mitleid“ vor allem „in alle scham- und gramvollen Abgründe des Daseins“48 hineinleuchten müssen. Zwar wird Hieronymus aus der Kunsthandlung hinaus eskamotiert, als sich der Streit zuspitzt, doch deutet er den Blitz aus einem sich zusammenziehenden Gewitter als strafendes Schwert Gottes (gladius dei). Deutlich geht es in dieser Erzählung um den ironisch gebrochenen Wechsel von einer an der Ikonographie der alten Meister orientierten Kunst zu einer modernen, die gängige Sujets auch formal neu interpretiert. Darüber hinaus feiert Mann aber auch seinen neuen Wohnort München als Hochburg der modernen Kunst und thematisiert deren befreiende Wirkung über den Streit um ein altes, in neuer Ausdeutung jedoch aufreizendes Sujet. Schreibt Mann in den Jahren nach Erscheinen seines ersten Romans vor allem zahlreiche Erzählungen zur Kunst- und Künstlerproblematik um 1900, so findet er nach der Heirat mit der aus reichem Hause stammenden Katja Pringsheim im Jahre 1905 wieder zu einem Stoff für ein größeres Erzählwerk, das 1909 unter dem Titel Königliche Hoheit erscheint. Auch wenn in einzelnen Episoden Reminiszenzen an erste Begegnungen mit seiner späteren Frau integriert sind, handelt es sich auch hier um einen Familienroman, in dem ein versehrter Protagonist im Zentrum steht, der in der Ehe Rettung findet. Klaus Heinrich, der zweite Sohn eines fiktiven Herzogs, der mit einer verkümmerten linken Hand und einem verkürzten Arm zur Welt kam, wird nach dem Tod des Vaters mit Repräsentationsaufgaben betraut. Der im Familienverband sorgsam erzogene Prinz lernt nun aber die Tochter eines amerikanischen Milliardärs namens Imma Spoelmann kennen, die durch ihre spöttische Art und ihr couragiertes Auftreten seine Aufmerksamkeit erregt. Nach dem Muster wechselseitiger Ergänzung finden der Prinz und die Mathematikstudentin zueinander. Der Adelige heiratet zwar die unstandesgemäße Bürgerliche, doch diese nimmt sich des körperlich Versehrten an und hilft ihm dank der Unterstützung des reichen Vaters obendrein aus der
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Staatsverschuldung. Dieser überaus märchenhaft versöhnliche Roman kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Furcht vor Beschämung und Entwürdigung zentrale Themen in Manns literarischem Schaffen bleiben, wie dies in seiner erstmals 1912 veröffentlichten Erzählung Der Tod in Venedig besonders evident wird. Hier geht es nicht mehr wie in den ersten Erzähltexten um die Befürchtung eines Jünglings, literarisch nicht reüssieren zu können. Vielmehr wird der über 50-jährige, äußerst erfolgreiche Schriftsteller Gustav von Aschenbach von einer Schaffensblockade heimgesucht und reist zur Erholung von München nach Venedig. Auf dem Lido fühlt er sich von einem schönen Knaben namens Tadzio so unwiderstehlich angezogen, dass er trotz Warnung vor einer grassierenden Cholera in der Lagunenstadt bleibt und sich um seinetwillen wie ein Geck zu verjüngen sucht, bis ihm der Begehrte in einer letzten Vision als Todesbote erscheint. Auch wenn in dieser Erzählung der Durchbruch eines abgewehrten Begehrens aus dem arrivierten Autor Aschenbach eine lächerliche Figur werden lässt, wird gerade hier ex negativo das literarische Schreiben erneut als notwendige Transformationsleistung hervorgehoben. Denn Mann verdeutlicht auch mit dieser meisterlichen Erzählung, dass er in der gesamten Bandbreite seiner frühen Werke für das, was nicht unmittelbar benannt werden kann, Narrative zu entwickeln vermag, in denen die Künstlerproblematik des Fin de Siècle ihren signifikanten Ausdruck findet. Nicht zuletzt dank dieser Leistung zählt Mann zu den großen Klassikern der literarischen Moderne. Wie Properzens Blick auf seine Vorgänger in der Elegie 2,34,85–92 zeigt, stand schon im Mittelpunkt von Gedichtbüchern der Neoterikergeneration und dann des ersten Elegikers Gallus die Gestalt einer bestimmten Geliebten.
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Thomas Mann, Brief an eine nicht namentlich bekannte Frau vom 21. Januar 1952, in: Ders.: Briefe, hg. v. Erika Mann, Bd. 3: 1948–1955 und Nachlese, Frankfurt/M. 1965, S. 242–243, hier S. 242. Thomas Mann, [On myself], in: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XIII: Nachträge, Frankfurt/M. 1974, S. 127–169, hier S. 141 (GW). Mann, On myself, S. 137. Thomas Mann, Vision, in: GW, Bd. VIII: Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen, Frankfurt/M. 2 1974, S. 9–10. Thomas Mann, Gefallen, in: Erzählungen, S. 11–42, hier S. 12. Mann, Erzählungen, S. 14. Ebd. Ebd. Thomas Mann, Der Wille zum Glück, in: Erzählungen, S. 43–61, hier S. 43. Mann, Erzählungen, S. 44. Ebd. Mann, Erzählungen, S. 61.
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Vgl. hierzu: Heinrich Detering, Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Göttingen 2002, S. 325f. Vgl. hierzu: Werner Böhm, Zwischen Selbstzucht und Verlangen. Thomas Mann und das Stigma der Homosexualität. Untersuchungen zu Frühwerk und Jugend, Würzburg 1991, S. 188. Thomas Mann, Der kleine Herr Friedemann, in: Erzählungen, S. 77–105, hier S. 78f. Mann, Erzählungen, S. 79. Mann, Erzählungen, S. 80. Ebd. Zitiert nach: Paul Scherrer, Bruchstücke der Buddenbrooks – Urhandschrift und Zeugnisse zu ihrer Entstehung: 1897–1901, in: Neue Rundschau 69 (1958), Nr. 2, S. 258–291, hier S. 258f. Thomas Mann, Brief an Otto Grautoff vom 20. August 1897, in: Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt/M. 1975, S. 98–101, hier S. 101. Mann, On Myself, S. 137. Viktor Mann, Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann, Konstanz 1949, S. 86. Vgl. hierzu: Ken Moulden, Die Genese des Werkes, in: Ken Moulden u. Gero von Wilpert (Hg.), Buddenbrooks-Handbuch, Stuttgart 1988, S. 1–9, hier S. 6f. Mann, On myself, S. 138. Thomas Mann: Lübeck als geistige Lebensform, in: GW, Bd. XI: Reden und Aufsätze 3, 2. Aufl. Frankfurt/M. 21974, S. 376–398, hier S. 382. Mann, Reden und Aufsätze, S. 380. Thomas Mann, Zu einem Kapitel aus „Buddenbrooks“, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hg. v. Heinrich Detering et al., Bd. 19.1: Essays VI 1945–1950, hg. u. textkritisch durchges. v. Herbert Lehnert, Frankfurt/M. 2009, S. 354–358, hier S. 356. Ebd. Vgl. hierzu: Hans Wysling, Buddenbrooks, in: Helmut Koopmann (Hg.), Thomas-MannHandbuch, Frankfurt/M. 32005, S. 363–384, hier S. 367. Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: GKFA, Bd. 1.1, hg. u. textkritisch durchgesehen v. Eckhard Heftrich, Frankfurt/M. 2002, S. 435 (fortan im Haupttext mit einfacher Seitenangabe nachgewiesen). Vgl. zu diesen Ausführungen meinen Aufsatz: Doppelte Buchhaltung in der Familien-Firma. Thomas Manns Buddenbrooks in der Bühnenfassung John von Düffels mit einem Blick auf Heinrich Breloers Verfilmung, in: Christine Bähr u. Franziska Schössler (Hg.), Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Provokation, Institution, Bielefeld 2009, S. 279–297. Vgl. hierzu Klaus Harpprecht, Thomas Mann: Eine Biographie, Reinbek b. Hamburg 1995, S. 113. Vgl. hierzu Manfred Eickhölter, Thomas Mann stellt seine Familie – Buddenbrooks. Literatur als Lebenspraxis? Eine methodische Annäherung, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 17 (2004), S. 105–125, hier S. 120. Vgl. hierzu Katrin Max, Niedergangsdiagnostik. Zur Funktion von Krankheitsmotiven in „Buddenbrooks“, Frankfurt/M. 2008, bes. S. 37–63. Vgl. hierzu Irmtraud M. Oskamp, Hanno Buddenbrooks Gedicht. Didaktische Anmerkungen zu einem lyrischen Text von Ludwig Uhland, in: Neue Sammlung 34 (1994), H. 4, S. 535–545, hier S. 537 u. 539. Zur Melancholie von Thomas und Hanno Buddenbrook vgl. Ulrike Prechtl-Fröhlich, Die Dinge sehen, wie sie sind: Melancholie im Werk Thomas Manns, Frankfurt/M. 2001, S. 118–161. Vgl. hierzu Ingeborg Robles, Unbewältigte Wirklichkeit. Familie, Sprache, Zeit als mythische Strukturen im Frühwerk Thomas Manns, Bielefeld 2003, S. 225.
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Thomas Mann, Tonio Kröger, in: Erzählungen, S. 271–338, hier S. 272. Mann, Erzählungen, S. 275. Thomas Mann, Der Bajazzo, in: Erzählungen, S. 106–140, hier S. 107. Thomas Mann, Gladius Dei, in: Erzählungen, S. 197–215, hier S. 197. Mann, Erzählungen, S. 198. Mann, Erzählungen, S. 199. Mann, Erzählungen, S. 202. Mann, Erzählungen, S. 202f. Mann, Erzählungen, S. 203. Ebd. Mann, Erzählungen, S. 212.
Elke Maria Clauß
Arthur Schnitzler: Frühe Erfolge Sein Beruf sei es „Menschen zu gestalten“, er habe „nichts zu beweisen als die Vielfältigkeit der Welt“1, unter dieser Prämisse lebte Arthur Schnitzler ein relativ langes und höchst produktives Künstlerleben: Zwei Romane, zahlreiche Erzählungen und Dramen, eine Autobiographie, fast lebenslange Tageseinträge in seinen Tagebüchern, dazu ein Band mit Aphorismen und schließlich literarische Korrespondenzen und private Briefwechsel legen über seine exzessiven Verschriftlichungen von erdachtem und erlebtem Leben ein beredtes Zeugnis ab. Die künstlerische Lebensleistung ist allein vom Umfang her beachtlich, nicht weniger überzeugend ihr inhaltliches und ästhetisches Profil. Die wichtigsten biographischen Daten sind rasch benannt. 1862 in Wien geboren, besuchte Arthur Schnitzler das Akademische Gymnasium, um nach der Matura 1879 das Medizinstudium aufzunehmen, das er 1885 mit der Promotion zum Dr. med. abschloss. Danach arbeitete er als Assistenzarzt im Wiener Allgemeinen Krankenhaus und in der Wiener Poliklinik. Das Jahr 1890 könnte als entscheidende Wendung hin zur Literatur gewertet werden, denn in diesem Jahr lernte er seine lebenslangen Freunde Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten und Richard Beer-Hofmann kennen, damit war ein erster Resonanzraum für seine literarische Arbeit gegeben. Der erste öffentliche Skandal erfolgte dann 1893 mit der Uraufführung von Das Märchen, zugleich ist es das Todesjahr seines Vaters. Schnitzler widmete sich nun hauptberuflich seiner Dichtung. 1903 heiratete er die Mutter seines Sohnes, Olga Gussmann, eine Tochter folgte 1909. Als diese sich 1928 das Leben nahm, hatte Schnitzler noch gut drei Jahre zu leben. Er starb in Wien an einer Gehirnblutung.2 Seine Autobiographie, die den Zeitraum von 1862–1889 umfasst und auf seinen Tagebuchaufzeichnungen basiert, wurde während der Kriegsjahre geschrieben und redigiert. Unter dem posthumen Titel Jugend in Wien herausgegeben, zeigt sie jenen Abschnitt von Schnitzlers Leben, in dem er noch kaum als Schriftsteller hervortrat, jedoch rückblickend seine Entwicklung zum Dichter zu dokumentieren versucht. Entsprechend akribisch werden literarische Versuche protokolliert, die die Entscheidung gegen die Medizin herbeiführen sollten. Für Scheible ist die Autobiographie „Parodie“ auf die Gattung und zugleich „AntiAutobiographie“, weil sie die „Möglichkeit und Unmöglichkeit der Ich-Analyse“3 demonstriere. Statt minutiösen Auslotungen des Ichs gebe es eine Episodenfülle,
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eine „vielleicht österreichische Mischung [. . .] von Desillusionierung und der Scheu, sie auszusprechen, von der Scham, private Ängste preiszugeben und der magischen Furcht, dass Ängste, beim Namen genannt, sich als berechtigt herausstellen“.4 Trotz solcher Verweigerung, das Innere nach außen zu kehren, zeigt diese eigene Lebensbeschreibung deutlich, was über das Episodische und Anekdotische hinaus an Grundkonstellationen für Schnitzlers Leben und Schreiben bedeutsam war. Da ist zum einen die Familiensituation. Arthur Schnitzler wurde als Sohn eines angesehenen Kehlkopfspezialisten und Gründers der Wiener Poliklinik geboren. Die damit einher gehende finanzielle Sicherheit sowie die Zugehörigkeit zur schmalen Schicht der Wiener Eliten entsprach jedoch keineswegs familiärer Tradition, sondern war vom Vater hart erarbeitet worden. Sein Lebensweg kann als Musterbeispiel sozialen Aufstiegs gelesen werden: Geboren in Groß-Kanizsa in Ungarn als Sohn eines des Lesens und Schreibens nicht mächtigen Tischlers, erlangte der Vater durch Fleiß, Intelligenz und persönliche sowie gesellschaftliche Zielstrebigkeit einen honorigen Abschluss als Mediziner, wissenschaftliche Anerkennung in Form einer Habilitation und schließlich die Heirat mit der Tochter eines renommierten Wiener Arztes. Damit gelang ihm der Weg aus der Handwerkerschicht ins Bürgertum, vom Land in die Stadt und im Rahmen der K.u.K.Monarchie der Weg von Ungarn nach Österreich. Als wollte Schnitzler dieser nach außen sehr gelungen wirkenden Familienaufstellung grundsätzlich nicht trauen, betont er schon auf den ersten Seiten seiner Autobiographie die quasi maroden Pfeiler der großbürgerlichen Familienbasis. Der Großvater väterlicherseits sei ein bei Juden eher selten vorkommender „Quartaltrinker“5 gewesen, die Großmutter von „krankhafte[m] Geiz“ ( JW, S. 13), der Großvater mütterlicherseits trotz Bildung und Begabung gar „der Leidenschaft des Spiels von Jahr zu Jahr rettungsloser anheimgefallen“ ( JW, S. 15). Nicht Respekt vor der individuellen Leistung des Vaters, sondern Angst vor einer eventuell unausweichlichen erblichen Belastung scheint sich hier Bahn zu brechen. Scheible betont allerdings, ein in dieser oder jener Weise vorhandener Determinismus bei Schnitzler sei immer zugleich die Frage nach der Gültigkeit der Autonomie des Subjekts, wie es die Aufklärung als Programm formuliert hatte. Insofern sei das determinierte Individuum für den analytischen Blick Schnitzlers nichts weiter als ein interessanter Fall, den es zu beobachten gelte.6 Zu konstatieren bleibt, dass Schnitzler als Mensch und Autor den bürgerlichen Institutionen Ehe und Kleinfamilie höchst skeptisch gegenüber stand. Doch der Sohn hatte mit seinem Vater darüber hinaus ganz grundsätzlich zu rechten: Ich selbst hatte früh die Empfindung, daß er weder als Gelehrter noch als Arzt [. . .] so weit gelangt war, als es ihm bei völliger Entfaltung seiner reichen Fähigkeiten wohl hätte beschieden sein können. Was ihn an einer solchen Entfaltung und damit an der Hervorbringung stärkster Leistungen und am Aufstieg zu wirklicher Größe hinderte, war der Mangel an jenem höchsten Ernst, des-
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sen Voraussetzungen Sachlichkeit, Unbeirrbarkeit und Geduld heißen. Von allen diesen Eigenschaften besaß er wohl etwas, aber nicht genug [. . .] nicht eingewurzelt als unveränderliche Bestandteile seiner Persönlichkeit. Daher haftete seiner Tätigkeit [. . .] zuweilen etwas Oberflächliches, seinem Wesen gelegentlich etwas Frivoles an. ( JW, S. 198) Als Schnitzler dies schrieb, hatten ihn genau jene beim Vater bemängelten Tugenden zum dichterischen Repräsentanten Österreichs gemacht. Und das, obwohl der Vater „immer dabei blieb, daß er dichterisch weit höher veranlagt gewesen wäre als ich“ ( JW, S. 106), ein „ungarische[r] Shakespeare“, „seinen Anlagen nach mindestens zu den gleichen poetischen Aspirationen berechtigt“ ( JW, S. 30). Das heißt also, der Vater war nicht nur im bürgerlichen Beruf des Mediziners hoch erfolgreich, sondern versuchte – wenn auch in Form eines rückwärts gerichteten Möglichkeitssinns – ebenso das poetische Terrain zu besetzen. Diese doppelte Konkurrenzsituation in Literatur und Medizin musste für Schnitzler umso schmerzhafter sein, als seine Entscheidung für die Literatur erst recht spät fiel und er sich in einem Zustand innerlicher Indifferenz nach der Matura zunächst für die Medizin entschied: Gewiß spielten auch rein praktische Erwägungen mit, wenn ich mich ohne Schwanken für die medizinische Laufbahn entschied, wenigstens insofern, als es mir nicht einfiel, gegen die vernünftigen Beweggründe meines Vaters Einwendungen zu erheben [. . .] ( JW, S. 91) Entsprechend lustlos und wenig engagiert verliefen Studium, Promotion und die ersten Berufsjahre. Einzig ein ausgeprägteres Interesse an Nerven- und Geisteskrankheiten war vorhanden, „da es nicht so sehr im eigentlich Medizinischen als im Poetischen oder doch Belletristischen wurzelte.“ ( JW, S. 187) Grundsätzlich jedoch dürfte das Studium Schnitzlers Fähigkeit zu nüchterner und genauer Beobachtung unterstützt haben. „Wirkliches, ‚positives‘ Wissen ließ sich in seinen Augen offenbar nur auf dem naturwissenschaftlichen Weg der Medizin erlangen“,7 nicht über andere Wissenschaften. Und so lieferte bei allem subjektiven Widerstreben die Medizin jene Grundkoordinaten, die später Schnitzlers berühmte literarische Versuchsanordnungen bestimmen sollten. Mit dem Tod des Vaters wendete sich der Sohn immer stärker der Literatur zu. Am Ende überragte der international berühmte Autor die typischen bürgerlichen Karriereverläufe. Neben der skeptischen Familienbeobachtung ist es Schnitzlers Verhältnis zum weiblichen Geschlecht und zum Leben in dieser Zeit insgesamt, das die autobiographischen Aufzeichnungen dominiert. Er studierte wenig, lebte amourös intensiv und führte zeitweise Beischlafstatistiken.8 In einer Zeit, in der die Syphilis zur Krankheit der Epoche reüssierte, geistert ein gewisser Adolf Weizmann durch die Jugend in Wien, Beispiel für die damals sprachlich mit Tabu belegte Geschlechtskrankheit:
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Seine Unersättlichkeit, ebenso wie seine Wahllosigkeit im Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht nahm immer zu [. . .]; doch endlich ereilte ihn sein Schicksal in den Armen eines Hotelstubenmädchens, wovon er mir, als ich ihn einmal auf seinen Wunsch hin von der Bahn abholte, verzweifelt Mitteilung machte. [. . .] Im Frühjahr 1896 trat er eines Tages mit den offenbaren Zeichen einer beginnenden Paralyse in mein Zimmer. [. . .] Am Tag drauf nahm ihn mein Bruder zur Behebung eines, gleichfalls von einem verflossenen Liebesabenteuer herrührenden Leidens auf seine chirurgische Spitalsabteilung auf, und ohne daß ich den Jugendfreund wiedergesehen hätte, ein halbes Jahr später, starb er im Irrenhaus. ( JW, S. 100f.) Leichtsinn – auch in Bezug auf Ansteckungsgefahren –, Verantwortungsscheu, Langeweile, Melancholie, Weltschmerz und ein eher unverbindlicher Charakter der Liebeshändel, das war die Gefühlsklaviatur, mit der die Generation der Söhne auf die absterbende Welt der Väter zu reagieren versuchte. Wobei die Modernitätsschübe in den Bereichen von Wissenschaft und Technik, von Ökonomie und Wirtschaft, von Politik und Gesellschaft eben auch „als individuelle psychische Irritationen spürbar“9 waren. In dieser Zeit des Nichtstuns und des Flanierens, des Kaffeehausgesprächs, des Billards und der Karten entdeckte Schnitzler sein Urmodell des süßen Mädels. Ein Begriff, den Ernst von Wolzogen prägte, den jedoch besonders Schnitzler in seinem Werk ausdifferenzierte und zum Leben erweckte:10 Prototyp einer Wienerin, reizende Gestalt, geschaffen zum Tanzen, ein Mündchen [. . .], geschaffen zum Küssen – ein Paar glänzende lebhafte Augen. Kleidung von einfachem Geschmack und dem gewissen Grisettentypus – der Gang hin und her wiegend – behend und unbefangen – die Stimme hell – die Sprache in natürlichem Dialekt vibrierend; was sie spricht – nur so, wie sie eben sprechen kann – ja muß, das heißt lebenslustig, mit einem leisen Anklang von Übereiligkeit. Man ist nur einmal jung, meint sie mit einem halb gleichgültigen Achselzucken. – Da gibt’s nichts zu versäumen, denkt sie sich . . . Das ist Vernunft in die lichten Farben des Südens getaucht. Leichtsinnig mit einem abwehrenden Anflug von Sprödigkeit. [. . .] Dabei dieses merkwürdig Häusliche [. . .]. Die obligaten Geschwister mit den Eltern zu Hause, die tratschenden Nachbarn in den Nebengassen, jeden Moment der erste Ton – und auch eine ganz volkstümliche Melodie. – ( JW, S. 111) Dieser Frauentypus entsprach in Persönlichkeit und Habitus genau jenen Regeln erotischer Ökonomie, wie sie die Bürgersöhne für sich benötigten. Die Beziehung zu einem süßen Mädel gestaltete sich weder als unpersönliche wie bei einer Prostituierten, noch entwickelte sich ein zu persönliches Gefühlverhältnis, wie es der künftigen Ehefrau – zumindest theoretisch – zukommen sollte. Die für Prostituierte geltenden Werte wie Unmoral, Warenwert, Unverbindlichkeit, Obszöni-
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tät und nicht zuletzt die Gefahr potentieller Krankheitsübertragung mussten bei der kleinbürgerlichen Geliebten höchstens als Halbwerte veranschlagt werden. Genau dieses Weder-Noch hält Schnitzler fest: Verdorben [. . .] ohne Sündhaftigkeit, unschuldsvoll ohne Jungfräulichkeit, ziemlich aufrichtig und ein bißchen verlogen, meistens sehr gut gelaunt und doch manchmal mit flüchtigen Sorgenschatten über der hellen Stirn, als Bürgertöchterchen immerhin nicht ganz wohl geraten, aber als Liebchen das bürgerlichste und uneigennützigste Geschöpf, das sich denken läßt. ( JW, S. 147) Durch diesen Typus Frau war die männliche Dominanz in keiner Weise gefährdet, dem Verlust männlicher Selbstkontrolle von vorne herein Einhalt geboten. Vielmehr versprach ein solcher Schattenriss von eingeschränkter Bürgerlichkeit der Person Schnitzler ein erotisch vergnügliches, aber maßvolles Verhältnis, dem Dichter Schnitzler jedoch bot die kleinbürgerliche Geliebte poetisch ein geradezu unbegrenztes Potential. Ein letzter, in den autobiographischen Aufzeichnungen wichtiger Aspekt ist die nicht häufige, aber nachdrückliche Notation antijüdischer Tendenzen. Schnitzler verzeichnet einen wachsenden Hochschulantisemitismus mit Beginn der 80er Jahre, „auch unter den militärärztlichen Eleven [. . .] fand eine [. . .] ‚reinliche Scheidung‘ zwischen christlichen und jüdischen oder, da das nationale Moment immer stärker betont wurde, zwischen arischen und semitischen Elementen statt“ ( JW, S. 155). Die zunehmend diskutierte Judenfrage muss in Verbindung mit der schwindenden Bedeutung des Liberalismus gesehen werden und dem immer mehr auseinander driftenden Bürgertum in „Besitzende und Nichtbesitzende“.11 Besonders der spätere Bürgermeister von Wien, Dr. Karl Lueger, stand für die „neue – rassische – Form des Antisemitismus“12, indem er sich im Gegensatz zur Ratlosigkeit der bürgerlich zerfallenen Parteien auf Kosten der Juden ein Profil gab. Felix Salten, ein Freund Schnitzlers, charakterisiert ihn: Die breite Masse der Kleinbürger aber irrt führerlos blökend wie eine verwaiste Herde durch die Versammlungslokale. [. . .] Da kommt dieser Mann und schlachtet – weil ihm sonst alle anderen Künste mißlangen – vor der aufheulenden Menge einen Juden. Auf der Rednertribüne schlachtet er ihn mit Worten, sticht ihn mit Worten tot, reißt ihn in Fetzen, schleudert ihn dem Volk als Opfer hin. Es ist seine erste monarchisch-klerikale Tat: Der allgemeinen Unzufriedenheit den Weg in die Judengassen weisen; dort mag sie sich austoben. Ein Gewitter muß diese verdorbene Luft von Wien reinigen. Er läßt das Donnerwetter über die Juden niedergehen. Und man atmet auf.13 Insgesamt also zeigt die Autobiographie genau jene Aspekte, die für das Werk Schnitzlers bedeutsam sind. Als Seismograph persönlicher und kollektiver Destabilisierungen – das Verhältnis der Geschlechter, Familie und Gesellschaft betref-
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fend –, spürt Schnitzler die zunehmende Isolierung und Vereinzelung des Individuums auf. Dabei geht es ihm vor allem um die inneren Wirklichkeiten einer bereits nachnaturalistischen Moderne. Indem er den Prozess fortschreitender Verunsicherung als Innenansicht des Subjekts zeigt, skizziert er zugleich das soziale Umfeld mit seinen entsprechenden Konventionen und Verkehrsformen. Insofern geht es Schnitzler bei aller Betonung psychischer Vorgänge auch um das Wechselverhältnis von innerem und äußerem Leben, je nach literarischem Fall deutlicher oder schwächer konturiert. Bei seiner ersten erfolgreichen Novelle Sterben (1892/94) steht der psychische Prozess im Vordergrund, komponiert als „Grundkonflikt in der Spannung zwischen Entindividualisierung der handelnden Personen und Psychologisierung der Handlung.“14 Der Titel signalisiert zunächst einmal die Nähe zum Geist der Zeit, er zeigt sich – neben vielen anderen – verwandt mit Hugo von Hofmannsthals Der Tor und der Tod oder auch Richard Beer-Hofmanns Tod Georgs. Allerdings verzichtet Schnitzler auf jedwede Ästhetisierung des Todes, der Tod ist weder sinnvoll noch schön. Auch der Vorstellung des Todes als Vollendung der Liebe, wie sie seit Wagners Oper Tristan und Isolde die europäischen Phantasien beflügelte, wird eine rigorose Absage erteilt. Schnitzler zeigt statt dem ideal überhöhten Liebestod den wenig spektakulären Tod der Liebe, wie er einem Liebespaar passiert, dessen männlicher Part krankheitsbedingt bald sterben muss. Im Rahmen einer klassischen Novellenstruktur entwirft er Ort, Zeit, Handlung und das Personal. Die Orte wechseln: Wien, ein Bergsee am Urlaubsort, Salzburg, wieder Wien, die letzte Station Meran. Die Zeit von einem halben Jahr wird durch den Wechsel der Jahreszeiten und des Wetters präsent. Der lichte Mai, der heiße August, zum Ende des Septembers und beginnenden Oktobers Regen. Die Handlung reduziert sich auf das Warten auf den Tod, ist also im Unterschied zu den Orten und der Zeitenabfolge zunächst ein statisches Moment. Als Chronik eines angekündigten Todes jedoch – von der Diagnose bis zum Sterben – erhält auch das Warten dynamisches, dem Wechsel verpflichtetes Potential. Denn nicht nur die Krankheit entwickelt sich auf ein finales Stadium hin, auch die Handlungsträger, ein Mann und eine Frau als Liebespaar, verändern sich durch den Krankheitsverlauf in ihren Gefühlen zueinander. Pietzcker ordnet den dreiundzwanzig Kurzkapiteln „fünf vorwärtsdrängende[n] Erzählphasen“15 zu, denen die klassische Novellenstruktur mit Exposition, steigender Handlung, Peripetie, fallender Handlung und Katastrophe entspricht.16 Zudem sei die Novelle eine nouvelle expérimentale insofern, als sich Schnitzler auf die „experimentell-physiologische[n] Schule der Universität Wien“17 mit ihrem wissenschaftlichen Objektivitätspostulat berufe, das er als junger Mediziner kennen gelernt habe. Nicht zufällig hieße der Professor der Novelle, der dem kranken Felix dessen begrenzte Lebenszeit verkündet habe, Bernhard, damit auf den berühmten französischen Physiologieprofessor Claude Bernard anspielend.18 Die Frage also, wie sich ein Liebespaar mit einer prognostizierten Perspektive von einem Jahr Lebenszeit verhält, ist ein literarischer Fall, durchgespielt am Krankheitsbeispiel der damals un-
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heilbaren Tuberkulose und durchgeführt vom Dichter Dr. med. Schnitzler, spezialisiert auf Medizin in ihrem Zusammenspiel mit der Psyche des Menschen. Die Versuchspersonen Felix und Marie sind jung, gehen keinem erkennbaren Beruf nach und leben zusammen, wahrscheinlich ein Besitzbürger und seine Geliebte, vielleicht ein süßes Mädel. Während er sie mit „Kind“, „mein liebes Kind“, „gutes Kind“, „Miez“ oder „Mizzel“ anredet, respektiert sie grundsätzlich männliche Autorität, ordnet sich ihr explizit zu – „deine Marie“, „dein Mädel“ – und spricht ihn in der Regel mit seinem korrekten Vornamen an, nur zum Ende hin zweimal mit „mein Schatz“. Leitmotiv der Novelle ist der Liebesschwur, die Liebe über den Tod hinaus, den Marie von sich aus anbietet, den Felix aber zunächst ablehnt. Dieser Liebes- und Treueschwur wird zur Matrix des sich verändernden Gefühls. Bei Felix dominiert nach dem ersten Schock der Diagnose zunächst ein Gefühl der Auserwähltheit, des Besonderen: „Weißt du, wie so mit einem Male die Grenze gezogen war, sah ich so scharf, so gut.“19 Dieses Auserwähltheitsgefühl steigert sich zu Größenphantasien: Das ist das Geheimnis der Lebensempfindung, auf das ich gekommen bin, daß man so ein gewaltiges Gefühl unendlichen Besitzes hat. Ich könnte mit allen diesen Dingen machen, was ich will. Auf dem kahlen Fels da drüben könnt’ ich Blumen sprießen lassen, und die weißen Wolken könnt’ ich vom Himmel vertreiben. Ich tu’s nicht, denn so gerade, wie alles ist, ist es schön. (S, S. 27) Die Größenphantasien schlagen um in das Wissen seiner Gesundung: „Er wußte, daß er zu jenen gehörte, die wieder gesund werden.“ (S, S. 29) Mit einem erneuten Krankheitsschub aus dem Paradies seiner Phantasien gerissen, beginnt er jedoch Marie an ihren Liebesschwur zu erinnern, ihn schließlich immer aggressiver einzufordern. Verzweiflung, Wut, Hass auf das Leben im Allgemeinen, auf Marie im Besonderen, entwickelt er Mordgedanken (Gift, Erwürgen) und entpersonalisiert Marie zunehmend: „Irgendeine andere wäre ihm nun vielleicht geradeso lieb gewesen. [. . .] Ihre Persönlichkeit war ihm beinahe gleichgültig“. (S., S. 51) Marie ist nur noch Stabilisierungsfaktor seines durch Krankheit eingeschränkten Lebens, funktional einzuordnen, da „dieses Weib verpflichtet sei, mit ihm zu leiden, mit ihm zu sterben. Sie ruiniert sich: nun ja, selbstverständlich“. (S., S. 71) Und er droht: „Denn, wenn ich davon muß, nehm’ ich dich mit“. (S, S. 99) Marie äußert ihren Liebes- und Treueschwur anfangs ungefragt und oft: „Ohne dich werde ich keinen Tag leben, keine Stunde“. (S, 11) Doch trotz aller Aufopferung für Felix’ Pflege und Wohlbefinden obsiegt mit dem Fortschreiten der Krankheit und seinem veränderten Benehmen der Wille zum Leben. Sie flieht, zunächst noch im Bewusstsein schuldigen Verhaltens, aus der Enge der Räume ins Freie, registriert die Männerblicke, und:
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Sie entdeckte, wie ihr die Gabe des Mitfühlens allmählich abhanden gekommen war. Ihr Mitleid war nervöse Überreizung und ihr Schmerz ein Gemisch von Angst und Gleichgültigkeit geworden. (S, 68) Zunehmende Angst um ihr Leben und körperliche Abscheu vor Felix lassen sie schließlich innerlich seinen Tod wünschen: Sie mußte wieder zum Fenster hin, um davon zu trinken; aus den feuchten Haaren des Kranken schien ein süßlich fader Duft zu strömen, der die Luft des Zimmers widerlich durchdrang. Was nun? Wenn’s nun vorüber wäre! Ja, vorüber! Sie schrak nicht mehr vor dem Gedanken zurück [. . .] (S, 101) Der Erzähler verstärkt bei allem Hin und Her der Gefühle die gegensätzliche Entwicklung des Paares durch eine Erzählperspektive, die „der zunehmenden Isolation der Figuren Rechnung“20 trägt. Die anfänglichen Dialoge verstummen zusehends, erlebte Rede betont die Zeichen der Einsamkeit. Das letzte Zusammensein des Liebespaares ist allerdings noch einmal von einem Dialog entschiedener Schärfe bestimmt: „Zusammen! Zusammen! Es war ja dein Wille! Ich hab’ auch Furcht, allein zu sterben. Willst du? Willst du?“ Sie hatte mit den Füßen den Sessel unter sich weggeschoben, und endlich, als müßte sie sich von einem eisernen Reif befreien, riß sie ihren Kopf aus der Umklammerung seiner beiden Hände. [. . .] „Nein, nein“, schrie sie auf. „Ich will nicht!“ und rannte zur Türe. (S, S. 106) Die Liebe hält dem Tod nicht Stand, das ist das Ergebnis dieser Versuchsanordnung. „Marie empfindet Felix als Agenten des Todes, der ihr Leben vernichten will, während Felix in ihr die Repräsentantin rücksichtslosen Lebens erblickt.“21 Zugleich distanziert sich der Autor von einem Dekadenzbewusstsein, dass seine frühere Figur Anatol prägte. Schnitzler lässt durch Felix sagen: Das Leben verachten, wenn man gesund ist wie ein Gott, und dem Tod ruhig ins Auge schauen, wenn man in Italien spazierenfährt und das Dasein in den buntesten Farben ringsum blüht, – das nenn’ ich ganz einfach Pose. (S, S. 65) Das Drama Liebelei gründete Schnitzlers Ruf als sozialkritischer Autor. Am 9. Oktober 1895 uraufgeführt, war es sein erster großer Bühnenerfolg. Auch hier stellt er in Frage, was Anatol noch bedingungslos goutierte: die Beziehung zu einem süßen Mädel. Zum Erfolg trug sicher auch das dem Publikum bekannte Muster des bürgerlichen Trauerspiels bei, mit dem Schnitzler gekonnt neue Inhalte im alten Gewand transportierte.22 Im Mittelpunkt steht die Liebesbeziehung zwischen dem jungen Herrn Fritz und Christine, dem „arme[n] Mädel“23 – so der ursprüngliche Titel –, kontrastiert von einem weiteren Paar, Theodor und seinem süßen Mädel Mizi. Der Gattung gemäß geht es um die soziale Konstellation der
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beiden Paare, um die Söhne der großbürgerlichen Schicht und die Töchter des Kleinbürgertums mit ihren entsprechenden Werten und Normen. Das sparsame Personal wird ergänzt durch den betrogenen Ehemann, der Fritz die Duellforderung übermittelt und dadurch dessen späteren Tod herbeiführt, und durch den Vater Christines und deren Nachbarin. Auf die intertextuellen Bezüge zu Schillers Kabale und Liebe und Goethes Faust hat bereits Martin hingewiesen. So finden wir die Musiker-Berufe der Väter Miller und Weiring, die Liebhaber Faust resp. Fritz, die das Zimmer der Geliebten bewundern, schließlich die prägende Vater-Tochter-Beziehung.24 Dies muss um Schillers Figur eines modernen Hofmarschall von Kalb namens Theodor Kaiser und um die moderne Variante von Goethes Marthe Schwerdtlein namens Katharina Binder ergänzt werden. Sowohl Schillers Hofmarschall wie Schnitzlers Theodor personifizieren eine bestimmte oberflächliche Lebenshaltung und einen damit verbundenen luxuriösen Lebensstil. Beide lieben Feste bzw. festliche Inszenierungen, auch wenn sie – wie im 1. Akt von Schnitzlers Liebelei – im privaten bürgerlichen Rahmen stattfinden. Theodor kann man geradezu als maître de plaisir bezeichnen, denn er organisiert das Treffen der beiden Paare, ohne Fritz zu fragen, in dessen Wohnung. Er arrangiert das Essen, die Blumen, das Licht, öffnet die Weinflaschen, ordert das Klavierspiel, bittet zu Tisch und organisiert das Brüderschaftstrinken. Im Unterschied zum Hofmarschall, der den Hoftratsch liebt und sich mit Leidenschaft als dessen Initiator versteht, ist Theodor von geradezu leidenschaftlicher Dezenz, zumindest wenn es um die Ausgrenzung der beiden Frauen aus den Lebenszusammenhängen der Männer geht. Beide aber, Hofmarschall von Kalb und sein bürgerlicher Nachfahre Theodor, verhalten sich äußerst loyal ihren Auftraggebern gegenüber. Der Hofmarschall führt umstandslos die der Intrige dienenden Aufträge seines Präsidenten aus. Auch Theodor hält sich strikt an die Weisungen seines Freundes, entsprechende Duell-Aufträge zu übernehmen und die Duell-Forderung mittels Ausflüchten und Lügen gegenüber Christine geheimzuhalten. Auch Goethes Frau Marthe Schwerdtlein und Schnitzlers Katharina Binder weisen große Gemeinsamkeiten auf. Beide betätigen sich als schwatzhafte Kupplerinnen. Die eine ist erfolgreich, bei Katharina Binder bleibt es beim Versuch, die feste Anstellung des Cousins ihres Mannes und dessen gegen jede üble Nachrede immune Anhänglichkeit an Christine – „Dem könnt man von Ihnen erzählen, was man will – der möcht kein Wort glauben . . .“25 – als Heiratskriterium zu etablieren. Beide sind sehr lebenspraktisch orientiert, Marthe Schwerdtlein liebt das Geld, Katharina Binder die Sicherheit der Ehe: „[. . .], wenn mein Mann auch ein Strumpfwirker ist, er ist ein honetter und ein braver Mann, über den ich mich nie zu beklagen gehabt hab . . .“. (L, S. 56) Beide verleugnen die eigene Vergangenheit. Marthe Schwerdtlein, indem sie ihren Mann als tot ausgibt; Katharina „weiß von der Zeit nichts mehr“ (L, S. 57) bzw. bereut sie. Und beide haben den Status einer Nachbarin, die als ältere Freundin der jeweiligen Protagonistin fungiert und diese immer falsch berät.
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Beratungsresistent ist Christine in umfassendem Sinn. Sie trägt die „Moral des Herzens“26 ins ausgehende 19. Jahrhundert und weigert sich, dem ihr von Mizi anempfohlenen Verhaltenskodex des süßen Mädels Rechnung zu tragen, der da lautet: Wenn ich nicht da bin und dir sag: Kind, er ist ein Mann wie die andern und alle zusammen sind’s nicht eine böse Stund wert, so setzt du dir weiß Gott was für Sachen in den Kopf. Ich sag’s aber immer: Den Männern soll man überhaupt kein Wort glauben. (L, S. 63) Christine ist nicht nur Opfer eines hedonistischen, männlichen Lebenskonzeptes, sie ist auch Opfer ihrer eigenen, romantisch geprägten Liebesillusion.27 In aller Unterwürfigkeit ist sie erstaunlich hartnäckig, wenn sie versucht, ihre Realität nach eben dieser Illusion zu modellieren. Egal, wie bestimmt sich Fritz ihr zu entziehen versucht, sie gibt trotz Regieanweisung „schüchtern“, „ängstlich“, „sehr schüchtern“ nicht auf, wenn es zum Beispiel um die Identität der ihr unbekannten Dame geht. Fritz versucht zwar, die Spielregeln zu bestimmen: Schau, das haben wir ja so ausdrücklich miteinander ausgemacht: Gefragt wird nichts. Das ist ja gerade das Schöne. Wenn ich mit dir zusammen bin, versinkt die Welt – punktum. Ich frag dich auch um nichts. (L, S. 27) Doch seine Doktrin verläuft ins Leere, denn sie ist allzeit für Auskunft bereit: „Mich kannst du um alles fragen“. (L, S. 27) Bei einer von ihr inszenierten Liebesprobe antwortet er zwar zunächst richtig, denn sie attestiert ihm: „Ja . . . du denkst doch manchmal an mich“. (L, S. 22) Fritz’ erleichterte Antwort: „Ziemlich häufig, mein Kind . . .“ (L, S. 22) erweist sich allerdings als vorschnell. Sie übertrumpft ihn sofort und mühelos: Nicht so oft, wie ich an dich. Ich denke immer an dich . . . den ganzen Tag . . . und froh kann ich doch nur sein, wenn ich dich seh! (L, S. 22f.) Im Liebesdiskurs ist sie die Meisterin, er ein tendenziell unwilliger und mitunter auch ungeschickter Eleve, der aufgrund einer zeittypischen Lebensmüdigkeit nur halbherzig versucht, seine hedonistischen Bedürfnisse, die nicht die ihren sind, durchzusetzen. Auch beim Austausch von Liebesformeln ist das der Fall, wenn er auf ihre Liebeserklärung mit der „Zwecksprache der Verführung“28 antwortet: „Ich hab dich ja auch sehr lieb“.(L, S. 23) Natürlich kann sie ihn übertrumpfen: Du bist aber mein Alles, Fritz, für dich könnt ich . . . (sie unterbricht sich). Nein, ich kann mir nicht denken, daß je eine Stunde kommt, wo ich dich nicht sehen wollte. Solang ich leb, Fritz –.(L, S. 23)
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Und selbst als er am Tag vor dem Duell laut Regie „leidenschaftlich“ seine Liebe gesteht, ist seine auf die Liebesworte folgende Verabschiedung Anlass genug für Christine, ihre Zweifel zu formulieren: Reut’s dich denn schon wieder, daß du mir’s gesagt hast? Du bist ja frei, du bist ja frei – du kannst mich ja sitzen lassen, wann du willst . . . du hast mir nichts versprochen – und ich hab nichts von dir verlangt . . . Was dann aus mir wird – es ist ja ganz einerlei – ich bin doch einmal glücklich gewesen, mehr will ich ja vom Leben nicht. Ich möchte nur, daß du das weißt und mir glaubst: daß ich keinen lieb gehabt vor dir, und daß ich keinen lieb haben werde – wenn du mich einmal nimmer willst – (L, S. 71f.) Solcher Unbedingtheit des Fühlens kann Fritz nur mit seinem Tod die Stirn bieten. Verzweifelt und fassungslos fragt Christine nach Erhalt der Todesnachricht: Hat er denn das nicht gewußt? [. . .] – daß er mein Herrgott gewesen ist und meine Seligkeit – hat er das gar nicht bemerkt? (L, S. 87.) Auch in solcher zur Religion gesteigerten Liebe folgt Christine ihrer Vorgängerin, Schillers Luise: Ich habe keine Andacht mehr [. . .] – der Himmel und Ferdinand reißen an meiner blutenden Seele [. . .]. Wenn meine Freude über sein Meisterstück mich ihn selbst übersehen macht [. . .], muss das Gott nicht ergötzen?29 Für Christine allerdings stellt sich solche Frage gar nicht mehr, bei ihr hat der Austausch reibungslos funktioniert, das Menschengeschöpf ist an die Stelle des Schöpfergottes getreten, auch dies ein Hinweis auf Schnitzlers Neuerungen der konventionellen Gattung. Der unversöhnliche Dramenschluss zeigt, dass nicht nur solche in der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts wurzelnde Liebe keine Überlebenschance mehr hat, sondern dass überhaupt alle im Stück aufgeführten Lebens- und Liebeskonzepte obsolet geworden sind, von der Kleinbürgerehe über den Ehebruch bis zur Prostitution oder bewahrter Jungfräulichkeit.30 Gerade in den Liebesreden zwischen Fritz und Christine zeigt das Drama aber auch, dass es ein Drama der mangelhaften Kommunikation ist, dem neben den Unterschieden des Geschlechts die gesellschaftlichen Unterschiede zugrunde liegen. Denn die fehlende Verständigung zwischen den Geschlechtern zeige, so Yates, das Vakuum der Kommunikation zwischen den sozialen Klassen.31 Bei dem 1900 erschienenen Lieutenant Gustl interessierte Schnitzler das Innenleben eines absolut durchschnittlichen Offiziers der K.u.K.-Monarchie. Wieder kann man von einer Versuchsanordnung sprechen: Wie reagiert ein dem militärischen Ehrenkodex verpflichteter Offizier auf eine an ihm begangene und nur ihm bekannte vermeintliche Ehrverletzung durch einen nicht satisfaktions-
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fähigen Zivilisten? Schnitzler liefert zur Beantwortung dieser Frage ein Sprachportrait ohne Erzählinstanz in Form des Inneren Monologs, der in assoziativer Reihung von Klischees, Gedankensprüngen, Interjektionen, halben und ganzen Sätzen gleich einem Echolot die Grenzsituation und „Erlebnisgegenwart“32 des Helden ausleuchtet. Die scheinbar planlosen Denk- und Sprechweisen in der erzählten Zeit zwischen 21.45 Uhr abends und 6.00 Uhr morgens verknüpft Schnitzler zu einem „Entwicklungsroman mit Störungen“33 ganz neuer Art. Mit diesem Sprachmodell der chaotischen inneren Gleichzeitigkeiten knüpfte Schnitzler, wie Aurnhammer herausstellte, vor allem auch intertextuelle Bezüge, „welche die eigentliche Modernität der Monolognovelle ausmachen“.34 So verweise Schnitzler auf Dujardins Monolognovelle Les Lauriers sont coupés [Geschnittener Lorbeer] von 1888, die in Form und Struktur zunächst einmal große Ähnlichkeit mit der Schnitzlers zeige, auch wenn dieser insgesamt die Vorlage an sprachlicher und psychologischer Ausdifferenzierung weit übertroffen habe.35 Des Weiteren dienten alle in der Novelle benannten Theater- und Lektüreerlebnisse Gustls als dessen Wunschbilder, die letztlich die fehlende Selbstreflexivität des Helden in teils ironischer, teils konterkarierender Weise unterstrichen.36 In der Forschung besteht inzwischen die eher einhellige Meinung, dass von einem Einfluss-Modell Freuds bei der Formulierung der Assoziationsreihen Gustls nicht die Rede sein kann.37 Statt dessen folge Schnitzler der Forderung seines Zeitgenossen Hermann Bahr nach einer Neue[n] Psychologie in auch literarisch neuer Darstellungsform, die Milieu und Gefühle zu erkunden habe.38 Und so offenbart Gustl in seiner Lebenskrise auch nicht sein Innerstes, sondern er zeigt das brüchige Stückwerk einer Persönlichkeit, die – vielfach verwundet – als Sozialcharakter der Zeit gesehen werden muss. Schon die Eingangssequenz der Novelle zeigt Gustl als falsche Person am falschen Ort, vom Zufall gleichsam in die ihm fremde, weil zivile und mit Bildungsansprüchen besetzte Umgebung geworfen: „Muss mir der Kopetzky die Karte schenken – und die Steffi muß mir absagen, das Mensch! – Von sowas hängt man ab“.39 Gustl weiß nicht, was ein Oratorium ist, mag sowieso lieber Opern – „In der Oper unterhalt’ ich mich immer, auch wenn’s langweilig ist.“ (LG, S. 8) –, langweilt sich und wünscht unentwegt das Ende der Aufführung herbei. Dabei ist er extrem verhaltensunsicher und fühlt sich durch fremde Blicke bedroht, denen er in kompensatorisch aggressiver Manier mit einer gehörigen Portion Allmachtsphantasie begegnet: Was guckt mich denn der Kerl dort immer an? Mir scheint, der merkt, daß ich mich langweil’ und nicht herg’hör . . . Ich möcht’ Ihnen raten, ein etwas weniger freches Gesicht zu machen, sonst stell’ ich Sie mir nachher im Foyer! – Schaut schon weg!. . . Dass sie alle vor meinem Blick so eine Angst hab’n . . . (LG, S. 8)
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Die Konfliktsituation mit dem Bäckermeister ist Ergebnis dieser vorher erfahrenen Verunsicherung. Sicherheit dagegen gewährt Gustl das Verhaltensreglement des Militärs, das sich als letzte Bastion des männlichen Geschlechtscharakters verstand. Je fraglicher die tradierten Geschlechterrollen in der modernen Gesellschaft wurden, desto unbedingter produzierte das Militär diverse Ausformungen der männlichen Spezies.40 Dabei sollten Disziplin in Worten, Taten und Gefühlen genau jene autonome Persönlichkeit formen, wie Gustl sie in der Konfliktsituation gerade nicht zum Vorschein brachte. Überprüft man den Monolog auf die von Gustl erinnerten militärischen Situationen, dann kommen dabei vor allem recht lapidare Episodensplitter heraus. So erinnert er sich gern an den Marsch, der ihn und seine Kompanie zum aktuellen Standort Kagran im Norden Wiens brachte. Ganz im Unterschied zu den galizischen Garnisonsstädten, in denen er vorher stationiert war und die er als „grässliche Zeit“ (LG, S. 23) in trostloser Umgebung charakterisiert. Allerdings verklärt sich dieser Zeitabschnitt rückblickend durch die damalige Anwesenheit des Kaisers: „Sehr leutselig war Seine Hoheit – ein echter Kamerad, mit allen auf Du und Du . . . War doch eine schöne Zeit“. (LG, S. 30) Ein Zeichen für Gustls Autoritätshörigkeit und hierarchische Fixierung zeigt sich zum Beispiel auch in der positiv gemeinten Charakterisierung eines militärischen Kollegen: „ein so verwendbarer Mensch“. (LG, S. 30) Dieser militärischen Verwendbarkeit wird er wohl auch in hohem Maße entsprochen haben, zumindest sehnt er sich nach verpassten Kriegen. Dabei sieht er sich selbst als durchaus jovialen Vorgesetzten: „außer Dienst war ich immer gemütlich.“ (LG. S. 39) Und so hilft ihm auch bei seinem gefühlten Todesgang durch das nächtliche Wien die Parole eines Majors: Ja: ob man zu einem Rendez-vous geht oder in den sichern Tod, am Gang und am G’sicht lasst sich das der richtige Offizier nicht anerkennen! – Also, Gustl – der Major Lederer hat’s g’sagt! ha! – (LG, S. 34) Auch in der Schwärze der Nacht und wahrscheinlich, weil Gustl sich unmittelbar davor den raren Luxus einer ansatzweisen Selbstreflexion erlaubte, muss sofort die militärisch geforderte Renommierfassade aktiviert werden. In diesem Zusammenhang müssen auch die über den ganzen Monolog verteilten Selbstappelle Gustls gesehen werden: Zeichen der unendlich mühevollen Affektkontrolle eines doch eher labilen Charakters, der den inhaltsleeren Postulaten Würde, Stolz und Ehre geradezu hinterher jagt. Die Selbstappelle verwenden in der Regel den Vornamen mit dem Anredepronomen du, seltener wird die objektivierende Anrede Herr Leutnant und die 3. Person Plural gewählt. Sie beginnen nach dem Konflikt auf dem Weg zum Prater. Zum einen und hauptsächlich dienen sie der Vergegenwärtigung seiner Situation als Todeskandidat („Gustl, Gustl, mir scheint, Du glaubst noch immer nicht recht dran?“ (LG, S. 22.), „langsamer, langsamer, Gustl, versäumst nichts“ (LG, S. 25)), mitunter markieren sie sogar einsichtsvolle Momente, etwa, wenn es um seine Angst vor dem Tod geht („Herr
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Lieutenant, Sie sind jetzt allein, brauchen niemandem einen Pflanz vorzumachen“ (LG, S. 25)), oder geben gar eine versteckte kritische Selbsteinschätzung: Aber Gustl, sei doch aufrichtig mit Dir selber: – Angst hast Du – Angst, weil Du’s noch nie probiert hast . . . Aber das hilft Dir ja nichts, die Angst hat noch keinem was geholfen, jeder muss es einmal durchmachen, der eine früher, der andere später, und Du kommst halt früher dran . . . Viel wert bist Du ja nie gewesen, so benimm Dich wenigstens anständig zu guter Letzt, das verlang’ ich von Dir! (LG, S. 36f.) Einmal erfolgt mit der Selbstanrede die Korrektur seines Wunsches nach einem leichten Tod („Nein, so bequem wird’s Ihnen nicht gemacht, Herr Lieutenant“ (LG, S. 26)), häufiger wird die praktische Orientierung als Realitätsprinzip eingefordert. Letzte Verfügungen werden so angemahnt, wiederholt wird die Flucht nach Amerika als abwegige Idee disqualifiziert: Schau, Gustl, Du bist doch extra da herunter in den Prater gegangen, mitten in der Nacht, wo Dich keine Menschenseele stört – jetzt kannst Du Dir alles ruhig überlegen . . . Das ist ja lauter Unsinn mit Amerika und quittieren, und Du bist ja viel zu dumm, um was anderes anzufangen“ (LG, S. 30f.) Mit dem Wiedereintritt in die Öffentlichkeit, konkret dem Betreten des Kaffeehauses, enden die Selbstermahnungen des Todeskandidaten: „Haha! jetzt wird’s ernst, Gustl, ja!“ (LG, S. 42) Neben solchen Vergegenwärtigungen haben die Selbstappelle einschränkenden, ja disziplinierenden Charakter als eher abschließender Gestus in Form eines Verbots und damit der Weigerung, sich mit bestimmten Themen weiter zu beschäftigen. Ein solches Thema ist der Ehrbegriff, als dessen Opfer sich zu sehen Gustl nicht bereit ist: „Also, hast’s gehört, Gustl: – aus, aus, abgeschlossen mit dem Leben! Punktum und Streusand drauf!“ (LG, S. 21) Besonders deutlich wird das Verbot, sich weiter mit etwas zu beschäftigen, am Thema Familie: Aber so ein Unsinn! der Papa und die Mama und die Klara . . . Ja, ich bin halt der Sohn, der Bruder . . . aber was ist denn weiter zwischen uns? gern haben sie mich ja – aber was wissen sie denn von mir? – Dass ich meinen Dienst mach’, dass ich Karten spiel’ und dass ich mit Menschern herumlauf ’. . . aber sonst? – Dass mich manchmal selber vor mir graust, das hab’ ich ihnen ja doch nicht geschrieben – na, mir scheint, ich hab’s auch selber gar nicht recht gewusst – Ah was, kommst Du jetzt mit solchen Sachen, Gustl? Fehlt nur noch, dass Du zum Weinen anfangst . . . pfui Teufel! (LG, S. 34) Schließlich verdeutlichen die Selbstappelle versäumte Lebenschancen, nicht zufällig dreht es sich dabei um Frauen. Geht es Gustl zunächst noch um verpasste
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Heiratschancen („Na Gustl, hätt’st schon noch warten können – war doch die einzige, die dich gern gehabt hat“ (LG, S. 33)) und ganz allgemein um das nicht vorhandene „Mädel aus guter Familie mit Kaution“ (LG, S. 41), so schwenkt er dann doch schnell wieder auf den ihm bestens bekannten Warencharakter der Frau ein: „der kleine Fratz mit den schwarzen Augen, den ich so oft in der Floriangasse treff ’! – was die sagen wird? – Aber die weiß ja gar nicht, wer ich bin – die wird sich nur wundern, dass sie mich nimmer sieht . . . Vorgestern hab’ ich mir vorgenommen, das nächste Mal sprech’ ich sie an. – Kokettiert hat sie genug . . . so jung war die – am End’ war die gar noch eine Unschuld!. . . Ja, Gustl! Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!“ (LG, S. 41f.) Nicht nur der Gang durch die Nacht, auch die Situationen in der zivilen Welt zeigen sehr genau die „palimpsestartig[en] Züge eines Charakters [. . .], die offenkundig von dem strengen Reglement des Ehrenkodex überschrieben wurden.“41 Die zivile Welt ist für Gustl Feindesland, das vor allem von Statushöheren, von Frauen, von Sozialisten und von Juden bevölkert ist. Alle bedrohen sie seine mühsam errungene Position und rufen bei Gustl Gefühle wie Minderwertigkeit, Aggression, sexuelle Phantasien und nicht zuletzt die Gefahr der Orientierungslosigkeit hervor. Dass der Gang durch die Nacht keinerlei kathartische Wirkung auslöste, sondern Gustl nach dem plötzlichen Tod des Bäckermeisters da weitermacht, wo er vor der Konfliktsituation im Theater stand und damit die Rede von der Ehre als hohle Ideologie entlarvt, ist Zeichen für den hohen Realitätsgehalt der Novelle. Das verstand niemand besser als das zeitgenössische Militär: Der militärische Ehrenrat warf Schnitzlers Novelle eine Verunglimpfung und Schädigung der Armee vor und entzog dem Autor das Offizierspatent. Endgültig zum Skandalautor avancierte Schnitzler dann mit seinem Reigen, 1903 als Buch erschienen, der präkoitale Werbestrategien der Geschlechter mit postkoitalen Ernüchterungszuständen koppelte und das dazwischen liegende Skandalon des Geschlechtsaktes dezent durch Gedankenstriche der voyeuristischen Phantasie der Zuschauer und Leser überantwortete. „Etwas Unaufführbareres hat es noch nie gegeben“,42 konstatierte Schnitzler nach Fertigstellung des aus zehn Einaktern bestehenden Zyklus. Fragt man nach der Stofftradition, so hat sie schon William Hogarth mit seinen Kupferstichen „Before and After“43 (1736) ins Bild gesetzt. Auch Choderlos de Laclos’ Briefroman Liaisons dangereuses könnte angeführt werden, der die sittlichen Verwerfungen der französischen RokokoGesellschaft aufzeigt.44 Schließlich wird auch auf eine Episode in Voltaires Roman Candide oder die beste aller Welten verwiesen, wo es um die Infizierung mit Geschlechtskrankheiten geht.45 Allein die Rezeptionsgeschichte des Stückes füllt Bände,46 hier sollen nur knapp die wichtigsten Stationen skizziert werden: 1900 erschien zunächst ein Privatdruck mit unverkäuflichen Exemplaren, 1903 erfolgte dann im Wiener Ver-
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lag die Publikation für die Öffentlichkeit. Das Interesse und die Verkaufszahlen waren enorm, die Reaktionen je nach politischer Couleur entweder diffamierend oder enthusiastisch. Beschlagnahmungen durch die Zensur und erneute Auflagen erfolgten wechselweise. Weit dramatischer gestaltete sich die Bühnenumsetzung. Der Uraufführung 1920 in Berlin und deren Verbot folgte der Freispruch im berühmten Reigen-Prozess, die Wiener Premiere 1921 endete in wüsten Störaktionen rechter Kreise, die bis zu Saalschlachten gingen. Die Maßlosigkeit solcher Reaktionen überstiegen selbst Schnitzlers Befürchtungen, sodass er alle weiteren Aufführungsanfragen strikt ablehnte. Erst 1982 (!) hob Schnitzlers Sohn Heinrich das Aufführungsverbot auf. Schon die zeitgenössischen Leser empfanden als Skandal, was Schnitzler als serielle Reihung paarungsbereiter Großstädter beiderlei Geschlechts inszeniert hatte. Nach dem Wechselprinzip AB, BC, CD etc. tritt jede Figur dieses promisken Spiels zweimal auf, durch die Wiederholung kommentieren sich die Szenen gegenseitig und zeigen insgesamt die Mechanismen des erotischen Rollenspiels. Nicht das factum brutum interessiert, sondern die „kulturelle Überformung im Vor- und Nachspiel“.47 Bei aller Wiederholbarkeit des Geschehens und aller Austauschbarkeit seiner Akteure auf das Prinzip des Immergleichen gelingen Schnitzler erstaunliche Differenzierungen. Dies gilt für die soziale Hierarchie der Gesellschaft und ihre entsprechenden Sprachprofile – vom einfachen Volk über Bürgertum und Bohème zur Aristokratie – ebenso wie für die Typisierung der unterschiedlichen Beziehungsmuster: gewerbliche Prostitution, Gelegenheitsprostitution, bezahlte und unbezahlte Verhältnisse, eheliche Liebe. Damit einher gehend entwirft Schnitzler ein Reglement „für jede Form sexuellen Kontakts“.48 Nach Sprengel besteht dies aus dem vorgeblichen weiblichen Desinteresse an Sexualität, aus moralischen Rechtfertigungen, der Angst vor Entdeckung oder Störungen, den Liebesbeteuerungen, der Frage nach der Identität und schließlich der Erfahrung der Vergänglichkeit.49 Doch auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel: Sowohl Dirne wie Schauspielerin sind sexuell aktiv und weder Dichter noch Schauspielerin noch Prostituierte sehen sich moralisch in der Pflicht. Dies trifft jedoch in besonderem Maße für die fünfte Szene zu, in der sich das Ehepaar im bürgerlichen Ehebett begegnet – sie nach, er vor den außerehelichen Erkundungsgängen. In der Forschung wird dieser Szene eine besondere Bedeutung zugemessen, nach Thomé kommentieren die übrigen Szenen die im Ehebett verhandelten Standards bürgerlicher Sexualmoral.50 Und dies in besonderer Weise, denn Schnitzler widerspreche Richard von Krafft-Ebing, dem damaligen Psychiater des Wiener Allgemeinen Krankenhauses und dessen stark rezipiertem Buch Psychopathia Sexualis (1886), indem er dessen Formel Sexualität plus Liebe plus Dauer gleich Sittlichkeit ad absurdum führe.51 Der Ehediskurs des Reigen zeige gerade, dass die Ehe eben nicht, wie von Krafft-Ebing vertreten, eine „Naturform des Sexus“52 ist, vielmehr stabilisiere die Sexualanthropologie mit ihren Thesen die Scheinheiligkeit offizieller bürgerlicher Moral.53 Und so zeigt das bürgerliche Schlafzimmer im Reigen natürlich keine erotisch aufwendige Verführungsstrate-
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gie – der Gatte betritt im Schlafrock das Zimmer, die Gattin liest im Bett –, sondern es dokumentiert im Schlafzimmergewisper die ideologisch notwendigen Rechtfertigungsstrategien der bürgerlichen Sexualökonomie. Dass Schnitzler geradezu lustvoll sezierte, wie sich der internalisierte bürgerliche Verhaltenskodex in Situationen ausnahm, die diesem moralisch diametral widersprachen, das zeigt sich in besonderer Weise in der Begegnung Junger Herr – Junge Frau. Schon die im Nebentext enthaltenen Bühnenanweisungen zur Schauplatzgestaltung sprengen in ihrer Ausführlichkeit und Detailgenauigkeit das sonst für das Stück übliche Maß. Die zu Zwecken des amourösen Vergnügens eingerichtete Zweitwohnung mit Salon und Schlafzimmer, mit Himmelbett, Nachtkästchen und Jalousien, mit Wandspiegel und Portièren, mit Fauteuil und Diwan, dazu Veilchenparfum, ist nur Spiegel der nicht weniger aufwendigen Verhaltensweise des Paares. In keiner anderen Szene gibt es so viele Bestimmungen außersprachlichen Verhaltens, Hinweis auf den praktizierten äußeren Schein, der über die Sprachfloskeln hinaus auch im gestischen und mimischen Verhalten die dringend benötigten Entlastungsstrategien bereitzustellen hat. Und so bleibt die junge Frau erst einmal lange an der Türe stehen – sie hätte gar nicht kommen dürfen –, legt dann widerstrebend ihre Garderobe ab – sie müsse gleich wieder weg –, setzt sich in den Sessel – jetzt aber müsse sie los –, es kommt zu den ersten Küssen – das sei gegen die Abmachung –, doch dann muss erst etwas getrunken werden – sie schäme sich –, endlich verspricht der Platz auf dem Diwan – dazu eine kleine kandierte Köstlichkeit – die Fortsetzung im Himmelbett, die dann erst im zweiten Anlauf himmlisch endet: „Ah, bei dir ist der Himmel.“54 Polt-Heinzl bewertet diese Szene als besonders gelungene Inszenierung, gerade weil jedes Wort und jede Geste von jeder Person im Zeichen der Lüge geäußert werde.55 Bürgerliche Strategien der Verführung brauchen ihre Zeit, das zeigt auch die Szene Stubenmädchen – Junger Herr. Viermal zitiert der junge Herr das Stubenmädchen aus unterschiedlichen Gründen zu sich, erst mit ihrem vierten Auftritt gelangt der Mann zu jener Eindeutigkeit, die dem Stubenmädchen als Ziel schon lange klar war. Konterkariert wird dieses bürgerliche Regelsystem mit seinen entsprechenden Handlungsmustern vor allem von den ersten beiden Szenen des Stücks. Wenn Dirne und Soldat sowie Soldat und Stubenmädchen sich begegnen, dann vermerkt der Nebentext kaum weitere Schattierungen von Rede und Situation. Denn die Situation ist klar definiert, die Rede zweckorientiert, die finalen Schritte vorhersehbar. Solche Umstandslosigkeit und Direktheit ist nicht nur, aber auch dem fehlenden bürgerlichen Interieur geschuldet, das sich bis in die seelischen Ziselierungen seiner bürgerlichen Akteure erstreckt. Die beiden Anfangsszenen hingegen finden im öffentlichen Raum statt, an der Donau und im Prater. Die anderen Szenen sind entweder im privaten Bereich angesiedelt oder es ist eine Privatheit auf Zeit, so das Chambre séparée, der Gasthof und das Zimmer der Dirne. Und so zeigt Schnitzlers Studie über das Sexualverhalten seiner Zeit den Funktionszusammenhang zwischen einem bestimmten Verhaltenskodex und der gesellschaftlichen Struktur. Er beweist eindrücklich, wie Phänomene sozialer Mi-
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mesis hohler Selbstvergewisserung geschuldet sind, die über soziale Normen zugleich soziale Machtverhältnisse festschreiben. Betrachtet man abschließend die künstlerische Gesamtentwicklung Schnitzlers, dann zeigte sich spätestens seit Liebelei und Sterben eine stetig aufstrebende Erfolgskurve, die mit Lieutenant Gustl und Reigen schon früh einen Höhepunkt erreicht hatte. Damit gelang Schnitzler bereits in seiner frühen Werkphase56 die Etablierung als Autor, spätestens mit seinem 50. Geburtstag 1912 galt er als einer der auch international erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller. Auch die mittlere Werkphase, zu der etwa die Dramen Das weite Land (1911) und Professor Bernhardi (1912), der Roman Der Weg ins Freie (1908) und die Novelle Frau Beate und ihr Sohn (1913) gehören, zeigen ihn als Diagnostiker der zeitgenössischen Lebenswelt. Diese Welt erlebte durch den Ersten. Weltkrieg eine entscheidende Zäsur. Das hielt Schnitzler jedoch nicht davon ab, sich auch in seiner späten Werkphase mit den ihm vertrauten Konflikten und den Ambivalenzen seiner Protagonisten zu beschäftigen. Beispiele dafür sind das Drama Die Schwestern oder Casanova in Spa (1920), die Komödie der Verführung (1924), die zweite große Monolognovelle Fräulein Else (1924) sowie die Traumnovelle (1926). Zeitgenössische Kritiker hielten ihm diese Verhaftetheit in der Welt von gestern vor und ordneten ihn als Dichter einer vergangenen Epoche ein, die große Differenziertheit negierend, die sein Werk bis heute auszeichnet. Allerdings wurde Schnitzlers Blick auf die Welt zunehmend pessimistischer, seine Prognosen hoffnungsloser. Geradezu prophetisch in persönlicher und gesellschaftlicher Beziehung mutet es an, dass seine letzte 1931 geschriebene Novelle den Titel Flucht in die Finsternis trägt. Der Finsternis, die sich mit dem Sieg Hitlers einstellte, kam Schnitzler zuvor: Er starb am 21. Oktober 1931.
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Arthur Schnitzler, Briefe 1913–1931, hg. v. Peter Michael Braunwarth et al, Frankfurt/M. 1984, S. 2. Vgl. Hartmut Scheible, Schnitzler, Reinbek b. Hamburg 1990, S. 138–142. Hartmut Scheible, Liebe und Liberalismus. Über Arthur Schnitzler, Bielefeld 1996, S. 196, 197, 198. Scheible, Liebe und Liberalismus, S. 198. Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie, hg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler, Frankfurt/M. 2011, S. 13 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: JW). Vgl. Scheible, Liebe und Liberalismus, S. 82ff. Sicherheit ist nirgends. Das Tagebuch von Arthur Schnitzler, bearb. V. Ulrich von Bülow, in: Marbacher Magazin 93 (2001), S. 9. Sicherheit ist nirgends, S. 12. Konstanze Fliedl, Arthur Schnitzler, Stuttgart 2005, S. 9. Vgl. Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890–1933, Stuttgart 1998, S. 113. Scheible, Schnitzler, S. 27.
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Scheible, Schnitzler, S. 28. Felix Salten, zit. n.: Jugend in Wien. Literatur um 1900. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach, Katalog Nr. 24, hg. v. Bernhard Zeller, Marbach am Neckar 1987, S. 224f. Hee-Ju Kim, Nachwort, in: Arthur Schnitzler, Sterben, Stuttgart 2006, S. 121. Carl Pietzcker, Sterben. Eine nouvelle experimentale, in: Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Reihe Interpretationen, hg. v. Hee-Ju Kim u. Günter Sasse, Stuttgart 2007, S. 35. Vgl. Pietzcker, Sterben, S. 35–38. Pietzcker, Sterben, S. 33. Ebd. Arthur Schnitzler, Sterben, Stuttgart 2006, S. 11 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: S). Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 109. Kim, Nachwort, S. 126. Vgl. Rolf-Peter Janz u. Klaus Laermann, Arthur Schnitzler: Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle, Stuttgart 1977, S. 27–40. Vgl. Dieter Martin, Liebelei. Das Scheitern des arrangierten Lebens, in: Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Reihe Interpretationen, hg. von Hee-Ju Kim und Günter Saße, Stuttgart 2007, S. 46. Vgl. Kim u. Saße, Arthur Schnitzler, S. 50. Arthur Schnitzler, Liebelei, Stuttgart 2002, S. 51 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: L). Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 84. Vgl. Martin, Liebelei, S. 54. Konstanze Fliedl, Schnitzlers Sprachen der Liebe, in: Schnitzlers Sprachen der Liebe, hg. v. Konstanze Fliedl et al., Wien 2010, S. 31. Friedrich Schiller, Kabale und Liebe, in: Schillers Werke in fünf Bänden, hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur. Bd. 2, Berlin u. Weimar 1969, S. 299. Vgl. Martin, Liebelei, S. 52. Vgl. W. E. Yates, Schnitzler und die Sprachkrise: Wort, Wahrheit und Liebelei, in: Arthur Schnitzler im 20. Jahrhundert, hg. v. Konstanze Fliedl, Wien 2003, S. 218. Achim Aurnhammer, Lieutnant Gustl. Protokoll eines Unverbesserlichen, in: Kim u. Saße, Arthur Schnitzler, S. 73. Wendelin Schmidt-Dengler, Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl, in: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd. 1, Reihe Interpretationen, Stuttgart 1996, S. 25. Aurnhammer, Lieutnant Gustl, S. 70. Vgl. Aurnhammer, Lieutnant Gustl, S. 79–83. Vgl. Aurnhammer, Lieutnant Gustl, S. 83–87. Vgl. Michael Rohrwasser, Der Gemeinplatz von Psychoanalyse und Wiener Moderne. Eine Kritik des Einfluss-Modells, in: Fliedl, Arthur Schnitzler im 20. Jahrhundert, S. 67–90. Vgl. Rohrwasser, Der Gemeinplatz von Psychoanalyse, S. 71–78. Arthur Schnitzler, Lieutenant Gustl, Stuttgart 2002, S. 19 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: LG). Vgl. Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. Wendelin Schmidt-Dengler, Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl, S. 32. Schnitzler an Otto Brahm, 7. 1. 1897, in: Arthur Schnitzler, Briefe 1875–1912, hg. v. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler, Frankfurt/M. 1981, S. 309. Vgl. Arthur Schnitzler. Reigen. Reihe Erläuterungen und Dokumente, hg. v. Thomas Koebner, Stuttgart 1997, S. 140f. Vgl. Alfred Pfoser, in: Arthur Schnitzler. Reigen, S. 142.
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Vgl. Arthur Schnitzler. Reigen, S. 143. Vgl. Alfred Pfoser et al., Schnitzlers Reigen. Analysen und Dokumente. 2 Bde., Frankfurt/M. 1993. Peter Sprengel, Reigen. Zehn Dialoge, in: Kim u. Saße, Arthur Schnitzler, S. 105. Sprengel, Reigen, S. 109. Sprengel, Reigen, S. 109–115. Vgl. Horst Thomé, Arthur Schnitzlers ‚Reigen‘ und die Sexualanthropologie der Jahrhundertwende, in: Arthur Schnitzler, Text und Kritik IV/98, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 1998, S. 102. Vgl. Thomé, Arthur Schnitzlers ‚Reigen‘, S. 102–104. Thomé, Arthur Schnitzlers ‚Reigen‘, S. 104. Thomé, Arthur Schnitzlers ‚Reigen‘, S. 106. Arthur Schnitzler, Reigen, Stuttgart 2002, S. 39. Vgl. Evelyne Polt-Heinzl, Liebesrede und Machtfragen, in: Fliedl, Schnitzlers Sprachen der Liebe, S. 47. Einordnung nach Fliedl, Arthur Schnitzler, S. 73ff.
Hartmut Vinçon
Frank Wedekind – Aufbruch ins 20. Jahrhundert Öffentliche Aufmerksamkeit erregte – zumindest in Literatenkreisen – Frank Wedekind (1864–1918) erstmals mit der Veröffentlichung seiner Kindertragödie im Zürcher Verlag von Jean Groß unter dem Titel Frühlings Erwachen (1891). Die Herstellungskosten für das Buch musste er übernehmen. Dieses Drama sollte – wenn auch nicht unmittelbar – weitreichende literatur-, theater- und kulturgeschichtliche Wirkung erzielen. Wie schon der Titel andeutet, zeugt das Werk von einer literarisch-ästhetischen Position, die sich der Autor „im bewussten Gegensatz gegen den damals [. . .] in Deutschland auftauchenden Realismus“1 erworben hatte. Dieser erschien ihm „im Gegensatz zu seinen Vorbildern im Ausland“ als „ausgemachte Banalität, Spießbürgerlichkeit und Schulmeisterei“.2 Der Titel kündet von einem jugendlichen wie auch von einem ästhetischen Aufbruch. Erstmals sind Kinder im frühen Stadium der Adoleszenz die dramatischen Hauptpersonen in einem Stück, das von Rollenzwängen und sexuellen Orientierungsbedürfnissen Jugendlicher handelt. Wie reagiert die Welt der Erwachsenen auf das junge Leben? Mit dessen Regulierung nach ihren Normen und mit Repression! Lebenstragik ist, wie das Stück in der Darstellung beweist, weder von der Fallhöhe hochgestellter Personen noch von den Regeln einer klassischen Dramatik abhängig. Zwar ist das Drama in drei Akte gegliedert. Aber in meist raschem Wechsel ist Szene an Szene gereiht, die zusammen einen Bilderbogen ergeben, den aufzuführen auch nach einer modernen Bühnentechnik verlangt, die raschen Szenenwechsel erlaubt. Jede Szene besitzt Bildcharakter. Festgehalten sind flüchtige Augenblicke, stimmungsvolle und bedrohliche. Die dramatische Bewegung wird dadurch angehalten, blockiert und fragmentiert. Das Stück erzählt daher nicht nur die Geschichte eines von der Gefahr des Misslingens bedrohten Aufbruchs, sondern zugleich auch eine Geschichte von Bruch und Abbruch im Leben der Kinder und von lebensfeindlich eingestellten Erziehern. Missverstanden wäre Frühlings Erwachen, wenn es als ein literarisches Dokument über Pubertät auf der Bühne definiert würde. Es ist keine Dokumentation eines Jugenderlebnisses des Dichters, und die Dramenfiguren sind nicht nach Maßgabe authentischer individueller Biografien gestaltet. Es ist nicht bestimmt von der Vorschrift eines die Wirklichkeit kopierenden Realismus. Gelenkt wird der Blick auf das psychisch Unbewusste menschlicher Handlungen hinter der Kulisse realen Geschehens und der ihr zugehörigen Moral. Ausdrücklich hatte Wedekind
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bereits seinem zuvor als Privatdruck (München 1891) erschienenen Lustspiel Kinder und Narren das Motto vorangesetzt: „Der Realismus ist eine pedantische Gouvernante. Der Realismus hat dich den Menschen vergessen lassen. Kehr zur Natur zurück.“ Die Formulierung „Kehr zur Natur zurück“ weist auf Jean -Jacques Rousseau, einen Begründer bürgerlicher Pädagogik, zurück. Dabei ist zu bedenken, in Wedekinds Stück wird nicht einem „naturalistischen Optimismus“ das Wort geredet, welcher verkennt, dass „,Kultur‘ auf jeder Stufe ihrer Entwicklung [. . .] in erster Linie Bruch mit der Natur und Kampf mit ihr, der Überwindlichen“3 sei, aber dieser philosophische Standpunkt wird umgewertet: Denn der Bruch der Kultur mit der Natur geht zu Lasten einer Kultur, die schuldhaft am Leben sich versündigt. Im Namen des Lebens verheißt daher zum Schluss der „Kindertragödie“ ein „Vermummter Herr“ dem überlebenden Melchior, wenn er sich ihm anvertraut: „Ich mache dich ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet.“ Nicht Lebensverneinung, sondern Lebensbejahung heißt die Losung. Der philosophische Pessimismus findet seine Überwindung durch eine lebensphilosophisch orientierte Einstellung. Einer der Propagandisten der modernen Lebensphilosophie war Friedrich Nietzsche, und Wedekinds Lektüre von dessen Zarathustra ging Frühlings Erwachen voraus. Wie schwierig es für die Literaturkritik war, dieses Stück angesichts der modernen literarischen Strömungen in Europa zu verorten, bezeugt eine Rezension des mit Wedekind befreundeten Schriftstellers Oskar Panizza in der Münchner Zeitschrift Die Gesellschaft: Wedekind schaut nur die Natur an, er ist realistisch in der Zeichnung, drastisch in den Mitteln, bis zur Hässlichkeit aufrichtig; er ist dekadent, und muss dekadent sein, wenn er die Welt dekadent findet; und er ist fin-de-siècle-Dichter, wenn er die Welt als fin-de-siècle-Welt vorfindet.4 Falsch daran ist keineswegs, dass Frühlings Erwachen in der Zeichnung „realistisch“ ist. Aber dekadent – im Sinn von morbid? Über Maeterlinks Drama Princesse Maleine urteilte Wedekind: „Hätte er seinen Geistern etwas mehr Fleisch gegeben, sie wären wohl [. . .] länger am Leben geblieben.“ (STA 5/I, 2013, S. 249) Wedekinds Figuren sind dagegen wie aus dem Leben gegriffen. In der Tat ist sein dramatisches Werk in unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem deutschen Naturalismus entstanden. Dem auf das Leben angewandten naturalistischen Determinismus wird im Namen eines emphatischen Lebensbegriffs widersprochen. Entschieden setzt sich Wedekinds poetische Verfahrensweise von einem die Wirklichkeit positivistisch exakt nachahmen wollenden Realismus ab, ohne jedoch die reale Welt in reine Imaginationen aufzulösen. Die soziale Wirklichkeit ist in seinen kommenden Dramen (Der Erdgeist und Die Büchse der Pandora oder in Der Marquis von Keith. Münchner Szenen) durchaus präsent, wenn auch die dramatische Illusion permanent unterbrochen, gebrochen und aufgehoben wird.
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1889–1891 bewegte sich Wedekind im Kreis der Münchner Naturalisten. Er lernte Michael Georg Conrad, einen der Begründer der Münchner Moderne und Herausgeber der Gesellschaft. Realistische Zeitschrift für Litteratur, Kunst und öffentliches Leben, kennen und war 1891 der von Conrad, Otto Julius Bierbaum, Oskar Panizza u. a. begründeten Gesellschaft für modernes Leben (1890) beigetreten. Wie für die Naturalisten war für Wedekind die Absage an Epigonenklassizität und Goldschnitt-Lyrik selbstverständlich. Aber nicht die Großstadt München war der literarische Brennpunkt, von wo aus Wedekinds schriftstellerische Karriere begann. Vielmehr war dies Zürich gewesen, als er sich 1887–1888 dem Zürcher Zirkel Junges Deutschland um den naturalistischen Lyriker Karl Henckell anschloss. Woraufhin man sich im gemeinsamen Aufbruch hier bezog, ist deutlich: auf den literarischen Vormärz, einer einst jungen, politisch liberalen literarischen Bewegung. In Zürich verkehrte Wedekind mit den Brüdern Carl und Gerhart Hauptmann sowie mit dem anarchistisch gesinnten Schriftsteller Henry Mackay. Auch der wiederentdeckte Georg Büchner spielte für das literarische Interesse dieses Kreises eine wichtige Rolle. Vor allem das Dramenfragment Woyzeck beeindruckte durch seine skizzenhafte szenische Gestaltung und durch die Thematik sozial verursachter Psychopathie. Debattiert wurde über die jüngsten psychopathologischen Studien Jean-Martin Charcots, Krafft-Ebings und Paolo Mantegazzas. Auch Wedekinds Nietzsche-Lektüre reicht bis in die Jahre seines Zürcher Aufenthalts zurück. Aber Wedekind hielt es weder in Zürich noch in München. Es zog ihn nach Paris, für Literatur und Theater die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Wedekind wird lebenslänglich ein Roué, ein Lebens-Lüstling in des Wortes tiefster Bedeutung, bleiben; ein Nomade, in der schweizerischen Kleinstadt Lenzburg aufgewachsen, der, über ein ansehnliches Erbteil verfügend, zwei Jahre lang das moderne Babylon Paris mit seinen weltstädtischen Attraktionen genießt. Dort wird er mit vielfältigen modernen künstlerischen Strömungen konfrontiert: dem literarischen Impressionismus, der Décadence-, der L’art pour l’art-Literatur und dem Symbolismus, den Varieté- und Pantomimen-Theatern, den Cabarets und Cafés. Er liest dort die neuesten literarischen und satirischen Revuen wie z. B. die Zeitschrift Gil Blas Illustré (1879ff.), für die u. a. Autoren wie Jules Barbey d’Aurevilly, Paul Bourget, Guy de Maupassant, Catulle Mendès, Auguste de Villiers de L’Isle-Adam und Émile Zola schrieben. Einige Monate verbringt er 1894 auch in London, um dann ein Leben lang vor allem zwischen Berlin und München hin und her zu pendeln. Mit dem Aufbruch nach Paris war die Abgrenzung vom deutschen Naturalismus, gegen eine unter dem Begriff des sozialen Determinismus sich theoretisch begreifende und formierende realistische Tendenzliteratur nun auch örtlich definitiv vollzogen. Dem widerspricht nicht, dass den in den 1860er und 1870er Jahren in Deutschland geborenen Schriftstellern gemeinsam war, innerhalb einer selbst im Um- und Aufbruch sich befindenden, wirtschaftlich prosperierenden Nation zu neuen Ufern in literaricis aufbrechen und sich vom bürgerlichen literarischen Realismus absetzen zu wollen. Modern hieß
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die gemeinsame Losung der vor dem Jahrhundertende sich bildenden künstlerischen Avantgarde. Der junge Wedekind hatte jedoch nicht als Dramatiker, sondern als Gelegenheitslyriker zu schreiben begonnen. Die Anfänge seiner Poesie reichen bis in die letzten Jahre seiner Gymnasialzeit in Aarau zurück. Früh verstand er es, für seinen variationsreichen Umgang mit Metrum, Reim- und Strophenformen sich aus dem breiten Angebot lyrischer Formen und Stile zu bedienen, das ihm aus Anthologien und Lesebüchern zur Verfügung stand. Bürgerliche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts – als klassischer Bildungsschatz beliebt – wurde in Lenzburg und Aarau, im bildungsbürgerlichen Milieu kleinstädtischer Kultur, eifrig rezipiert und gepflegt. Von den als Sammlung erstmals im Sammelband Die Fürstin Russalka (1897) unter dem in Musik, Kunst und Literatur längst eingeführten Titel Die Jahreszeiten veröffentlichten Gedichten stammt – wenn auch in überarbeiteter Form – etwa ein Drittel aus diesen Jugendjahren. Zu Wedekinds Repertoire als Lyriker zählen in bunter Mischung klassische Formen wie Sonett und Ghasel, Ode und Distichon, das Schäfergedicht (Ekloge, Idylle, Bukolisches Lied, Romanze), Briefgedicht und Festprolog, aber auch volkstümliche wie Volkslied, Ballade und Bänkelsang, Knittel- und Klapphornverse. Breit gefächert ist von Beginn an die Themenwahl. Sie greift teils auf die Stoff- und Motivgeschichte der Antike zurück, teils bezieht sie ihre Themen aus aktuellem Tagesgeschehen. Teils werden Topoi aus der europäischen Liebeslyrik aufgegriffen und mit Blick auf das prosaische Liebesleben der Jetztzeit modernisiert, teils wird auf gerade modisch gewordene Philosophie wie den Pessimismus oder auf neueste medizinische Kenntnisse über die Psychopathologie des Alltagslebens und insbesondere der Psychopathia sexualis Bezug genommen. Wie in der Bearbeitung der Themen so enttäuscht auch der Rückgriff auf ein klassisches Formenrepertoire die Rezeptionserwartung. Wedekind verfasste keine Gedichte, die der historischen Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts nahe standen, sofern diese sich der Verkörperung des rein Lyrischen, dem naiven Erlebnis- und sentimentalischen Bekenntnisgedicht verschrieben hatte. Vielmehr muss von einer bewussten Ausblendung des lyrischen Ichs gesprochen werden. Schon allein der Kontrast von Genres hoher und niederer Kunst, macht darauf aufmerksam. In den Rollen- und Erzählgedichten Wedekinds wird zugunsten nüchterner Berichterstattung die Gefühlsebene meist kassiert. Wie die Rollenträger in den Gedichten in ihren Lebenserfahrungen und -erwartungen düpiert werden, so wird auch der nicht darauf vorbereitete, überlieferte Bildungsideale verehrende Zeitgenosse durch das Missverhältnis zwischen Form und problematisiertem Inhalt irritiert und schockiert. Die traditionelle Einheitlichkeit eines Stils wird zudem durch stilistische Vielfalt, auch durch deren parodistische ironische Nachahmung aufgebrochen. Kontrafaktur, Kontrastierung und Karikierung sind poetische Verfahrensweisen, durch die provokativ traditionelle Erwartungshorizonte desillusioniert werden. Traditionsbezogen z. B. Liebeslyrik zu schreiben, dies hatte Wedekind früh und rasch gelernt: das Handwerkliche, orientiert an Johann Wolfgang Goethes und vor allem an Hein-
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rich Heines Lyrik, womit beides inbegriffen ist, Identifikation und Bruch mit Thema und Form: Alice Ich war ein Kind von sechzehn Jahren, Ein reines unschuldsvolles Kind, Als ich zum ersten Mal erfahren, Wie süß der Liebe Freuden sind. Er nahm mich um den Leib und lachte Und flüsterte: Es thut nicht weh – Und dabei schob er sachte, sachte Mein Unterröckchen in die Höh. Seit jenem Tag lieb ich sie Alle, Des Lebens schönster Lenz ist mein. Und wenn ich Keinem mehr gefalle, Dann will ich gern begraben sein. (STA 1/II, 2007, S. 321) Mathias Claudius dichtete 1770 eine Romanze, die wie folgt anhebt: Ich war erst sechszehn Sommer alt, Unschuldig und nichts weiter, Und kannte nichts als unsern Wald, Als Blumen, Gras und Kräuter.5 und damit endet, dass ein junger hübscher Mann dem Mädchen weinend um den Hals fällt und im nächsten Augenblick, verwirrt, entflieht. Bereits 1891 wurden einige von Wedekinds Gedichten6 in Sommerfest, einem Modernen Musen-Almanach der Münchner Gesellschaft für modernes Leben, und in Modernes Leben. Ein Sammelbuch der Münchner Modernen erstmals veröffentlicht. Wie die Großstadt- und Elendspoesie der Münchner Naturalisten war auch Wedekinds Gedichtkunst antiidealistisch motiviert. So trug auch er von Anfang an zu einer Neubelebung der Lyrik vor der Jahrhundertwende bei. Durch einige wenige Gedichte erweitert, erschien Wedekinds Gedichtsammlung von 1897 als selbständiger Gedichtband 1905 im Verlag Albert Langen unter dem leicht veränderten Titel Die vier Jahreszeiten. Mit Albert Langen hatte der ‚verlagslose‘ Wedekind 1894 in Paris einen jungen reichen Verleger seiner Generation kennen gelernt, der sich zwar wegen befürchteter Schwierigkeiten mit den staatlichen Zensurbehörden in Deutschland scheute, Wedekinds Monstretragödie, Die Büchse der Pandora, zu verlegen, aber schließlich die Veröffentlichung von Der Erdgeist (1895) riskierte. Beide, Verleger und Autor, brachten aus Paris neueste Kenntnisse
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und Erfahrungen europäischer Kunst und Literatur nach München mit. Langen gründete 1896 zusammen mit dem Zeichner und Maler Thomas Theodor Heine, wie Langen Sohn der Familie eines wohlhabenden Industrieunternehmers, nach dem französischen Vorbild Gil Blas die illustrierte politisch-satirische Wochenschrift Simplicissimus. Sie gehörte neben der im selben Jahr in München erstmals erscheinenden Jugend zu den führenden neuen Wochenschriften für Kunst und Literatur, Magazine modernen Typs gegenüber den alten humoristisch-satirischen Witzblättern wie den Fliegenden Blättern (gegr. 1844) und dem Kladderadatsch (gegr. 1848). Im Simplicissimus fand Wedekind eine Plattform, um dort weiterhin Gedichte und neuerdings auch Erzählungen veröffentlichen zu können. Mit seinen Jahreszeiten-Sammlungen war jedoch keineswegs die lyrische Produktion des Überwinders des Naturalismus erschöpft. Für den Simplicissimus verfasste Wedekind unter wechselnden Pseudonymen satirische politische Gedichte, die sich gegen reaktionären Zeitgeist, vor allem aber auch gegen die imperiale Politik des seit der Reichsgründung zur europäischen Großmacht aufsteigenden Deutschlands richteten. Die politische Tendenz der Wochenschrift führte mehrfach zu Verboten, und einige seiner Mitarbeiter wurden (u. a. wegen Majestätsbeleidigung) zu Gefängnisstrafen verurteilt, darunter auch Wedekind. Mit satirischen Gedichten und Liedern, welche die interessengebundenen Motive ökonomischer, juristischer, politischer und sozialer Akteure bloßstellen, wird der Autor sich bis zu seinem Lebensende gegen Zensur, reaktionären Zeitgeist, Partei- und imperiale Nationalpolitik wehren und für Meinungs- und Pressefreiheit streiten. Tatsächlich verrät diese Polit-Lyrik, die wie die poetische Konventionen überschreitenden und durch libertinäre Konfessionen sich auszeichnenden Jahreszeiten-Gedichte provoziert, durchaus etwas über den politischen – den liberal-demokratischen – Standort ihres Verfassers. Eine weitere Bühne für seine Lyrik fand Wedekind neben dem Simplicissimus in der nach 1900 entstehenden Brettl-Bewegung. Als Chansonnier, der seine eigenen Gedichte sowie seine Lieder, sich selbst mit der Laute begleitend, erstmals bei den Elf Scharfrichtern 1901 vortrug, machte er sich in ganz Deutschland bekannt. Inspiriert von der Pariser Caféhaus-, Cabaret- und Varieté-Szene und von den Nummernrepertoires englischer Music-Halls hatte Wedekind bereits während seines Pariser und Londoner Aufenthalts Kompositionen zu seinen Gedichten entworfen oder ihnen auch fremde Melodien unterlegt. Vor allem dem französischen Chanson verdankte er viel, das formal wie inhaltlich provokant, sowohl triviale als auch höhere Unterhaltung desavouierte und ihre verworrene politischkulturelle Ideologie als Unsinn lächerlich zu machen verstand. Neben dem Chanson stand für das Kunstlied auf der Brettl-Bühne der stilisierte Bänkelsang, das Volkslied, insbesondere das erotische Volkslied und das anarchische Tanzlied auf dem Programm. Die Themen stammten häufig aus den Submilieus urbaner Gesellschaft: Schauergeschichten aller Art, Verbrechen, Verführung, Familien- und Liebestragödien, Prostitution und erotischer Libertinismus. Auch für Wedekinds
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Liedschaffen als Kleinkunst trifft zu: Den parodistisch, satirisch und grotesk überzeichneten Themen sind oft Melodien im musikalischen Parodieverfahren unterlegt, um die pastoralen, burlesken, komischen und tragischen Motive auch musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Die Themen sind als musikalische Nachrichten bearbeitet und an ein intellektuell geschultes Großstadtpublikum adressiert. Durch die Vielzahl der aus unterschiedlichen Lied-Traditionen geschöpften ästhetischen Mittel, die er in verblüffenden Konstellationen neu zusammenfügte, verlieh er seinen Liedern eine artistische Qualität, die auch der politischen Liederdichtung neue Wege wies. Die Darstellung auf dem Brettl lebte – trotz vorgegebener Rollentypen wie dem Pierrot, dem Clown, dem Bohemien – von der Kommunikation mit dem Publikum und von der Improvisation. Dem Zuhörer und Zuschauer wurde nicht ein hermetisches Werk dargeboten, sondern es nahm an einem Produktionsprozess teil. Auf der Kabarettbühne ließen sich die latenten theatralischen Möglichkeiten eines unmittelbar an das Publikum gerichteten Liederrepertoires entdecken und dramaturgisch erweitern. Im Fall Wedekinds kann text- und kabarettgeschichtlich exakt nachvollzogen werden, wie im Wechselverhältnis zwischen vorgeschriebenem Werk und offener improvisatorischer Form sich sein Liedschaffen entwickelte. Lieder schrieb und komponierte er fast drei Jahrzehnte lang. Auf seinen Vortragsreisen, die Wedekind auch unabhängig von der BrettlBühne organisierte, trug er neben Gedichten, Liedern und Szenen aus seinen Dramen auch Erzählungen vor. Schon Mitte der 1880er Jahre hatte er außer dem Dichten lyrischer Poemata mit dem Verfassen von Erzählungen begonnen. Seinen Eltern gegenüber hatte er selbstgewiss vorgetragen, „Ich trage mein Ziel in mir, und das ist mehr als Novellen schreiben“7, um Ihnen bald darauf zu versichern: „Novellen schreiben möchte ich mein Leben lang eben so wenig wie Steine klopfen. Aber man muss es können und verstehen, damit man sich nicht von jedem Gartenlaubenschmierax braucht über die Achsel ansehen zu lassen“.8 Im Oktober 1887 war es ihm erstmals gelungen, eine Erzählung, Gährung. Eine Charakterskizze (1887), im Feuilleton der Zürcher Zeitung unterzubringen. Die Publikation weiterer Erzählprosa scheiterte zunächst. Wie die brieflichen Mitteilungen erkennen lassen, teilte er zwar die noch im 19. Jahrhundert dominante dichtungsästhetisch geringere Einschätzung der Erzählung gegenüber Lyrik und Drama, aber es war ihm auch durchaus bewusst, dass mit kontinuierlicher Novellen-Produktion möglicherweise das tägliche Brot zu verdienen war. Was ihm für die Publikation weiterer erzählerischer Versuche wie z. B. die weit ausholende Erzählung aus dem Bauernleben mit dem Titel Marianne (1887) oder die psychologische Studie Ein böser Dämon (1887) fehlte, war jedoch eine Zeitschrift, deren redaktionelles Konzept so breit hätte sein müssen, dass sie sowohl eine Dorfgeschichte, ein Genre, das um 1850 sich großer Beliebtheit erfreut hatte, als auch eine soziale Verhaltensweisen psychologisch sezierende Erzählung akzeptiert hätte. Auflagenstarke Familienzeitschriften wie z. B. das Illustrirte Familienblatt Die Gartenlaube (gegr. 1853) oder Vom Fels zum Meer. Spemann’s Illustrirte Zeitschrift für das Deut-
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sche Haus (gegr. 1881), die damals den Markt beherrschten, kamen als konservative Unterhaltungsblätter für die ganze Familie nicht für Autoren in Frage, die wie Wedekind von Zolas oder Maupassants Prosa beeindruckt waren. Doch zeigen Wedekinds frühe Erzählungen, dass er sich an die Prosa des poetischen bzw. kritischen Realismus anzuschließen suchte. Wenige Jahre später griff er das Erzählen wieder auf und gewann Interesse an der Gattung Roman, speziell am Genre des utopischen Romans, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts z. B. durch Auguste Vil liers de L’Isle-Adams L’Ève future (1886) und Edward Bellamys Looking Backward (1887) eine Neubelebung erfuhr. Wedekinds Roman, dessen erstes Konzept Eden 1890 entstand und dessen konzeptuelle Erweiterung durch die Aufzeichnungen zu Die große Liebe 1906 fortgesetzt wurde, war als Alternativentwurf zur bürgerlichen Erziehung gedacht und wurde nicht abgeschlossen. Aus dem Eden-Exposé ging jedoch eine Fragment gebliebene große Erzählung Mine-Haha hervor, mit ihrem Nebentitel als Traktat Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen angekündigt. Das Konzept nimmt Bezug sowohl auf klassische utopische Werke wie Platons Staat, der erstmals eine Realutopie verfasste, auf Thomas Morus’ Utopia und Campanellas Sonnenstaat als auch auf Erziehungsentwürfe der Aufklärung, allen voran auf Jean-Jacques Rousseaus Émile und auf Schriften der pädagogischen Reformbewegung des Philanthropismus. Niedergelegt in der Erzählung ist ein Ausschnitt aus der Lebensgeschichte Hidallas, der Haupterzählerin, raffiniert mehrfach gerahmt und Wedekinds erzähltechnisch ausgefeiltestes Prosawerk. Die Handlung umfasst zeitlich die Kindheitsjahre bis zum Eintritt in die Pubertät junger Mädchen, deren Ausbildung hauptsächlich auf Gymnastik, Tanz und pantomimischer Darstellung beruht. Thematisiert wird der krisenhafte Übergang in eine Welt der Erwachsenen, die nach Aussage der Erzählerin, „weniger brutal eingerichtet sein könnte, als sie es in Wirklichkeit ist“.9 Die Niederschrift der Erzählung in vorerst drei abgeschlossenen Kapiteln lag bereits 1895 vor. Mit der Veröffentlichung 1903 meldete sich Wedekind zu den um die Jahrhundertwende inflationären lebensreformerischen und reformpädagogischen Debatten sowie zum Rassezüchtungsdiskurs der auf wissenschaftliche Erkenntnisse sich berufenden Eugenik-Bewegung zu Wort, auch mit dem 1904 veröffentlichten Schauspiel Hidalla oder Sein und Haben10. Es handelt vom Scheitern des hässlichen Rassezüchtungsideologen Hetmann, dessen Idee eines Schönheitsstaates durch die handfesten ökonomischen Interessen der Mitglieder seines Vereins zur Züchtung von schönen Menschen desillusioniert und dessen Doktrin als lebensfeindlich dekuvriert wird. In Mine-Haha wie in Hidalla ist thematisiert, wie im Verlauf der durch die moderne Industriegesellschaft ausgelösten sozialen und kulturellen Umbrüche die Sehnsucht nach einem neuen Menschen wuchs. Fraglich wurde: Wie wollen wir leben? Aber welches Potential verbirgt sich in dieser Frage und Forderung nach einem neuen Menschen: wahnhaftes oder visionäres? Erst acht Jahre später, 1896, kehrte Wedekind zum novellistischen Genre zurück und schrieb, da er sein väterliches Erbe in Paris verprasst hatte, „unter dem stärksten Druck ungünstiger Verhältnisse“11 Erzählungen, Kurzprosa und Novel-
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len, vor allem für das ihm als Autor des Verlages Albert Langen zugängliche moderne Magazin, den Simplicissimus. Das erste Heft wurde mit Wedekinds Erzählung Die Fürstin Russalka eingeleitet. Vorausgeschickt war ihr ein Gedicht des Simplicissimus, dessen erste Strophe programmatisch wie folgt anhebt: O Narrenspiel der bunten Wirklichkeiten, Was menschlich ist, versinkt in deinen Schoß, Die hellen und die düstern Bilder gleiten Vorüber, und das Kleine scheint euch groß. Ich aber, jauchzend will ich weiter schreiten, Hier bin ich frei und jung und ahnenlos [. . .]. Was an Erzählungen im Simplicissimus erschienen war, wurde bereits 1897 im Sammelband Die Fürstin Russalka unter dem Subtitel Seelenergüsse publiziert, um weitere wie z. B. Der Brand von Egliswyl ergänzt. Liebe (Erotik und Sexualität) in den Geschlechterbeziehungen sind ihr gemeinsames Thema. Stets werden individuelle Einstellungen zur Partnerwahl und zum sexuellen Verhalten problematisiert, wobei die unterschiedlichsten sozialen Milieus: ländliche, klein- und großstädtische, klein- und großbürgerliche, halbweltliche und hochadlige zur Illustration herangezogen werden – nicht jedoch proletarische. Realitätsfragmente, sei es wie in Die Fürstin Russalka, Bei den Hallen und Ich langweile mich aus Zeitungsberichten, biografischen oder autobiografischen Materialien stammend, sind durch eine Erzählweise12 miteinander verknüpft, die mit den Mitteln des Komischen, Ironischen, Grotesken, Bizarren und Schaurigen sowohl moralische als auch literarische Konventionen infrage stellt. Dadurch unterscheiden sich diese Erzählungen jetzt von Wedekinds früheren Versuchen, aber auch von einem platten, realitätsbezogenen naturalistischen Erzählen oder von der Erzählliteratur der Dekadenz, die in ihrer Präferenz für diffuse Seelenzustände selbstgewiss den Untergang einer morbiden Welt beschwor. Die erzählten Figuren werden in ihren sonderbaren Verhaltensweisen vorgestellt und oft in Dialogen (z. B. Rabbi Esra) oder Monologen (z. B. Der Brand von Egliswyl) zum Räsonnieren gebracht. Meist sind die Erzählungen gerahmt, sei es durch einen Er- oder einen Icherzähler, durch Figuren, die nur am Rande am erzählten Geschehen beteiligt sind. Durch ihre Beobachtungen und gelegentlichen Kommentare wird zum Bericht der Binnenerzählung einerseits Distanz geschaffen, andererseits aus verschiedenen Blickwinkeln heraus das Geschehene unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt. Auf diese Weise ermöglicht die Narration unterschiedliche Lebenseinstellungen, Erfahrungen oder gesellschaftlich vermitteltes Wissen nicht nur aufzurufen, sondern auch gegeneinander auszuspielen. Und innerhalb der Binnenerzählung, die meist ein Ich-Erzähler oder eine Ich-Erzählerin bestreiten, sind die in der Regel knappen Lebensausschnitte (Ereignisse oder Fallgeschichten) wiederum entsprechend den Lebensansichten des Ich-Erzählers oder der Ich-Erzählerin interpretiert. Eine solche Art des Erzählens lässt sich als konstruk-
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tivistisch-spielerische bezeichnen, welche die Figuren gleichsam wie in einem Drama in Szene setzt. Offenbar wird, was die Figuren über sich und über die anderen wissen oder nicht wissen bzw. angeblich wissen. So bleibt es dem Leser weitgehend überlassen, wie er das Geschehene auffasst. Ist etwa der Brandstifter in Der Brand von Egliswyl ein Triebtäter, weil er aus Wut über sexuelles Versagen oder aus Rache ein ganzes Dorf anzündete? Ist seine Tat dadurch verursacht, weil er die elementare Macht seines sexuellen Verlangens unterdrückte, sprich zu sublimieren suchte, um den moralischen Liebesgeboten höherer Liebe gerecht zu werden? Oder verkennt er nur, weil er zu wenig über sich und die Wahrheit des Sexus Bescheid weiß, dass nicht die im Dorf mit ihm sexuell verkehrenden Mädchen schuld daran sind, dass er gegenüber dem Stubenmädchen hoch oben im Schloss sexuell versagt hat? Wenn auch Wedekind seine Erzählungen gelegentlich als bloße Handwerksarbeit13 bezeichnete, ließ er sie doch später, ergänzt um die Erzählung Die Schutzimpfung (1903), als selbständigen Sammelband unter dem Titel Feuerwerk (1906) drucken. Damit war sein novellistisches Werkschaffen abgeschlossen. Der Auflage von 1911 fügte er nur noch das Vorwort Über Erotik hinzu. Die vom Autor gewählten Titel Seelenergüsse bzw. Feuerwerk geben verschiedene Fingerzeige. Der Begriff Seelenerguss meint in etwa Offenbarungen des Seelischen, jedoch nach Art des Enthüllungsjournalismus, adressiert an ein Massenpublikum und protokolliert von einem Beobachter psychischer und psychopathischer Prozesse. Feuerwerk erinnert einerseits an die zu Anfang stehende Novelle Der Brand von Egliswyl mit ihrem Feuer-Motiv. Andererseits spielen das Feuer-Thema und die Feuer-Metaphorik auch in den meisten der anderen Erzählungen eine Rolle. In Redewendungen ist diese Thematik vielfach im übertragenen Sinn tradiert: z. B. als Liebesfeuer, Feuer der Leidenschaft, Feuer fangen, legen und löschen usf.; auch vom LiebesFeuer verbrannt werden – wie eine Hexe. Dabei wurde und wird vielfach die verzehrende und zerstörende Kraft der Liebe angesprochen, biblischen Vorstellungen entsprechend als höllisches (Liebes-)Feuer im Gegensatz zur himmlischen Liebe. Als die Medizin des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Neuronentheorie entwickelte und sich zeitgleich eine naturwissenschaftlich begründete Psychiatrie etablierte, wurde versucht, der Liebe wissenschaftlich zu Leibe zu rücken. In der sich etablierenden Psychiatrie wurde von der Annahme ausgegangen, dass im Innern des Menschen psychische, insbesondere sexuelle Energien (vergleichbar der Elektrizität) erzeugt werden, die sich – bewusst wie unbewusst – abrupt konstruktiv oder destruktiv entladen. Die Erkenntnis, dass für Seelenergüsse keine unmittelbaren physiologischen Ursachen nachzuweisen seien und z. B. die Physiologie der Liebe zwingend durch eine Psychologie der Liebe zu ergänzen sei, bildete die Basis für die wissenschaftliche Entwicklung von Psychiatrie und Psychoanalyse. In der deutschen Literatur war Wedekind einer der ersten, der auf Aspekte sexueller Störungen aufmerksam machte. Noch vor Sigmund Freud hatte bereits Richard von Krafft-Ebing im Vorwort zu seiner Psychopathia sexualis (1886) notiert: „Vorläufig dürften die Dichter bessere Psychologen sein, als die Psycholo-
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gen und Philosophen von Fach.“14 Wissenschaftliche Veröffentlichungen der neuen Psychiatrie über Hypnose, Sexualpathologie, Hysterie, Traumdeutung etc. bildeten für Wedekinds literarisches Schaffen immer wieder eine wichtige Lektüre für sein literarisches Schaffen. Öffentlich trat er für eine „aufrichtige Erörterung sexueller Fragen“15 durch die Gesellschaft ein und warb z. B. in seinem Vorwort Über Erotik für die sexuelle Aufklärung der Jugend durch die Schule. Wedekinds Hauptwerk bilden jedoch seine Dramen. Obwohl er zeitnahe Themen aufgriff, die Komödie Kinder und Narren z. B. hat zum Inhalt die Frauenemanzipation, blieb ihm zunächst der Weg zur Bühne versperrt. Auch die Freie Bühne des gleichnamigen 1889 gegründeten Theatervereins, den u. a. Otto Brahm, Maximilian Harden und Samuel Fischer ins Leben gerufen hatten und der sich hauptsächlich für die Durchsetzung des naturalistischen Dramas einsetzte, lehnte Wedekinds Stücke ab. Die späte Anerkennung des dramatischen Frühwerks Wedekinds und die distanzierte Einstellung den späteren, ab 1908 erschienenen Stücken gegenüber haben daher maßgeblich deren Rezeptionsgeschichte geprägt und lassen sich nicht nur auf ihre oft als provokativ empfundene Thematik, sondern auch auf ihre unkonventionelle Form zurückführen. Erwartet wurde eine geschlossene bzw. in sich schlüssige Dramaturgie. Die dramatische Form seiner Stücke konstituiert sich jedoch durch eine Vielzahl konstruktiver, bewusst disparat montierter Formelemente. Mit der Technik der Montage und Collage werden die Architektonik des geschlossenen Dramas und die Realitätsgewissheit eines auf Empirie eingeschworenen Positivismus aufgebrochen. Zu den wichtigsten Formen des dramatischen Spiels seiner Werke zählen: der Prolog, die situative Dramatik, der Tanz, die Nummer, das Tableau und die musikalische Einlage. Daneben werden traditionelle Techniken der Charakter- und Situationskomödie, der klassischen Tragödie und des naturalistischen Dramas ebenso wie Versatzstücke und Figuren aus der Welt des Zirkus und des Varietés übernommen. Spuren lebendiger Realität nachzugehen, die Atome zersprengter empirischer und metaphysischer Realitäten zu benutzen, um Wirklichkeit ästhetisch zu rekonstruieren und zu entziffern, ist Motiv dieser Dramaturgie. Wedekinds Konstruktivismus ist eng allegorischem Ausdruck verbunden. Begrifflichkeit ist in bildliches Reden eingeschlossen, ins Sinnliche über- und versetzt, und das Bezeichnete ans Begriffliche gekettet. Traditionelle Bedeutungszusammenhänge zu stören und zu zerstören, geht der Neukomposition von Bild und Gedachtem voraus. Wedekinds allegorischer Stil ist durchsetzt von Sentenzen, weist auf Archaisches, Mythisches zurück und auf Traumhaftes, Surreales hin, bildet Sprachminiaturen aus und tendiert dazu, in ornamentalen Texturen aufzugehen. Nicht durch einen metaphysischen Himmel über sich legitimiert, sondern unter Berufung auf die Existentialität und Spiritualität des Lebens fungiert die allegorische Spielwirklichkeit seiner Dramen als kritische Instanz gegenüber empirischer Realität. Die Resultate seiner analytischen Auseinandersetzung mit den naturalistischen Gegenwarts- und Familientragödien – Wedekind hat Ehe-Dramen, aber
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nur ein einziges Familiendrama (Schloss Wetterstein, 1910/12) geschrieben – veröffentlichte er in seinem dramaturgischen Manifest Schriftsteller Ibsen (‚Baumeister Solneß‘) 1895. An Ibsens Dramen kritisierte er vor allem die abstraktidealistische Zeichnung der Figuren. Die angeblich dem wirklichen Leben entnommenen tragischen Gestalten seien blutleere Verkörperungen ideeller Missionen und entbehrten jeglicher Wirklichkeitsnähe. Im Zentrum von Wedekinds Dramen stehen dagegen tragikomische Figuren wie z. B. der Marquis von Keith oder Karl Hetmann, die versuchen, aufrecht durchs Leben zu gehen, ohne zu stürzen. Sie sind dabei mit unterschiedlichen ideellen oder materiellen Antriebskräften ausgestattet, denen sie zwanghaft, der Mechanik von Automaten entsprechend, folgen, um wenigstens einen Bruchteil vom Leben zu erhaschen. Gemessen und überprüft wird an ihnen die Dynamik und Haltbarkeit dieser Kräfte und Interessen. Gegeneinander abgewogen werden Altruismus und Egoismus, ideelle und kommerzielle Anteile der Kunst, Prostitution und bürgerliche Ehe, gesellschaftliche Rationalität gegen den Einspruch der Kunst. Die Metaphysik des Geistes wird durch eine Metaphysik des Fleisches ersetzt und auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Doch in der Niederlage der Helden und Heldinnen erweisen sich auch die Gegenwerte zur traditionellen Metaphysik als fragwürdig. Im vergeblichen Versuch, Identität zu bewahren, Lebensprinzipien treu zu bleiben, wird die endgültige Auflösung jeglicher metaphysischen Gewissheit greifbar. Wedekinds Dramen bilden diesen Auflösungsprozess konsequent ab: formal durch die stetig fortschreitende Auflösung der klassischen poetologischen Normen; inhaltlich durch die kontinuierliche Auflösung potentiell identitätsstiftender und handlungsleitender Ideen. Theaterautoren wie Strindberg und Wedekind antworteten mit einer neuen Dramaturgie auf die Ökonomisierung und Technifizierung des gesellschaftlichen Lebens, denn die Fortschritte in der technischen Kulturarbeit16 schufen den Künsten nicht nur einen neuen Gegenstand, die jetzt wirkliche Welt, sondern stellten durch ihre technischen Wunderwerke vor allem auch Mittel und Verfahren der traditionellen Künste infrage. Die Erschütterung der alten Welt durch die modernen Wissenschaften und Techniken verwandelte die gegenständliche Welt in reine Stofflichkeit. Die modernen Wissenschaften machten den überlieferten politischen, sozialen und religiösen Lehren und Systemen ihre geistige Begründung streitig. Dass alles nun in jener neuen wirklichen Welt verwertbarer Stoff werden soll, bedeutete Emanzipation sowohl von der äußeren sichtbaren als auch von der metaphysischen Welt. Diese radikale Erweiterung der Realität, die Universalität und Positivität des Stofflichen, führte zu ihrer Versachlichung und Verdinglichung, zur Erfahrung ihrer Entfremdung, zum Verlust ihrer Qualität. Alles wird bearbeitbar, wird unter dem Gesichtspunkt der Verwertung seiner selbst entäußert. Des Dichters Einspruch geschieht im Namen entfremdeten Lebens. Wenn und solang in seinen Werken sich noch ein ‚subjektiver Dramaturg‘ aktiv zeigt, der die unterschiedlichsten Stoffbereiche mischt, das rein Stoffliche zum Material verwandelt und am Unbewussten des Materials den Einfall, die
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Idee, die Konstruktionen des Bewusstseins festmacht, wird jegliche unmittelbare Beziehung zwischen dem Schein der wirklichen Welt und dem Scheinen der Kunst formal bestritten. Jener Dramaturg wird aktiv in der Organisation und Montage des Materials, wodurch spielerisch-experimentell ästhetische Wirkungsmöglichkeiten des Komischen, Tragischen, Grotesken und Absurden als Elemente der Form erzielbar werden. Er äußert sich in einer dichterischen Phantastik, welche mit dem Elementaren, das im Materiellen rumort und das auf Sprache und subjektive Vermittlung nicht angewiesen ist, korrespondiert. Inhaltlich wird im Kontext der in Wedekinds Dramen stofflich herbeizitierten Mythen sichtbar, was Geschichte der Moderne heißt. Mythos und Moderne miteinander kombinierend, wird gezeigt, wie sie das Leben entstellt. Dem Zeithorizont der Gegenwart korrespondieren Momente der Zeitlosigkeit. In ihm kehrt Wirkliches im Spiel wieder, das in seiner Wiederkehr Protest gegen einen Wirklichkeits- und Zeitbegriff einlegt, der keine andere Vorstellung als die des Fortschritts und der Berechenbarkeit kennt. Zur spezifischen Form der Wedekindschen Trauer und des Wedekindschen Humors gehört, die geschichtliche Differenz zwischen gesellschaftlichem Schein und sinnlichem Scheinen in ständig wechselnden Konfigurationen darzustellen und ihre zwischen Natur und Geschichte sich hin und her bewegende Widersprüchlichkeit in allegorischen Konstruktionen einzufangen. Vor der Gewalt gesellschaftlicher Praxis vermag – unabhängig in welcher Gestalt – weder Kunst das flüchtige Leben zu retten, noch das schwindende Leben sich in der Kunst. Unter dieser Signatur von Modernität, in widerspruchsvoller Konstellation von Aufbruch und Fin de Siècle, entwirft Wedekind sein dramatisches Werk. Schon im Titel mancher seiner Dramen kündigt sich in der Konstellation von Name und Sache, von Anschauung und Begriff das für Wedekinds Dramatik signifikante allegorische Verfahren an: Die Büchse der Pandora oder Erdgeist oder Lulu. Die Titel fungieren als Bildlegenden, in denen Namenloses mit Namhaftem sich mischt: Frühlings Erwachen, Elins Erweckung (1894), als Spruchband dem Text vorangestellt: So ist das Leben, oder mit Redensarten die in Bilder geteilten Stücke überschreibend: „Bei Nacht und Nebel“, „Hinter Schwedischen Gardinen“, „Vom Regen in die Traufe“, „Der Fluch der Lächerlichkeit“ (Musik, 1907). Die allegorischen Titel eröffnen ein allegorisches Sprechen. Es ist durchsetzt von Sentenzen, aber es bleibt offen, wie sie zu verstehen sind: als Spruchweisheit oder als ironische Formulierung? Musik endet, in ironischer Anspielung auf Gerhart Hauptmanns naturalistisches Finale zur Rose Bernd: „Das Mädel . . . was muss die gelitten han!“, mit: „Die kann ein Lied singen!“ Ziel allegorischen Sprechens ist Desillusionierung. Der sprachliche Bombast, die sentenziöse Gewissheit entlarvt die Sprechenden. Sie sprechen nicht, es spricht aus ihnen, es bricht aus ihnen heraus. Was begrifflich vorformuliert scheint, erstarrt in drastischem Sprachgestus: „diese Keulenschläge“, „Du bist ja nicht die Erste“ (Musik I/1). Es entstehen Sprachminiaturen, in welchen Sinn und Bild unauflöslich miteinander verknüpft sind: „Wer sich diesen blühenden, schwellenden Lippen, diesen gro-
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ßen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig-weißen strotzenden Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns.“ (STA 3/I, 1996, S. 529) Zeichen dafür, dass Kommunizieren von Trug und Selbsttäuschung angefressen ist, ist nicht nur das in der Dialogführung der Dramen Wedekinds bemerkte Aneinander-Vorbeireden der Protagonisten, sondern auch ihr Verstummen. Es bleibt ihnen, bewusst – bewusstlos, nur noch die Sprache der Körper, deren Verrenkungen, deren Akrobatik, Ausdruck der ihnen andressierten geglückt-missglückten Körperbeherrschung. Die Pantomime erscheint als Allegorie in Bewegung. Ihre höchste Form ist die des Tanzes. Nach diesem Schema ist die Lulu-Tragödie als Totentanz konstruiert. In Erdgeist (III) demonstriert Lulu in ihren Verkleidungen und Tänzen die Thematik der Kunstfigur, ihre Täuschungen, ihre allegorische Rollenhaftigkeit. Nur die Maske ist die Maske. Im Wechsel der Masken, im Kostümwechsel, im Namen- und Rollenwechsel kommen die alle Natürlichkeit transzendierende Künstlichkeit und das Moment ihrer Täuschung zum Vorschein. Drastisch zeigt Lulus unvergängliches Bild an, was Schicksal sämtlicher dramatischer Figuren schließlich sein wird: Zerfall, Untergang. An ihnen selbst ist präsent, was aus dem Leben ausgeschnitten wurde – Flüchtiges, Hinfälliges, Vergängliches. Diesem ausgesetzt zu sein, daher haftet ihnen allen noch Heroisches an; sie figurieren als – letzte – Helden. Neue Helden nach ihnen, die einer anderen Erfahrung mächtig wären, sind nicht mehr denkbar, es sei denn als deren Wiedergänger. Der Sehende ist wie Simson ein Heros, der, geblendet, erst die wirkliche Welt durchschaut. Das Sinnliche, zur Täuschung benutzt, enthält alle Facetten der Blendung und Verblendung. Darauf deutet das Allegorische am Kunstcharakter der dramatischen Figuren. Festgehalten ist an ihren Körpern, dass sie, wie es die Gräfin Geschwitz in der Büchse der Pandora auf sich bezieht, verstümmelt und künstlich zugleich sind. In ihrer künstlichen Gestalt erheben sie aber wie schon E.T.A. Hoffmanns Olympia im Namen ihrer Leiblichkeit Einspruch gegen die ihnen gewaltsam vorenthaltene Lebendigkeit. Die allegorischen Figuren wollen nicht etwas repräsentieren, sondern in ihnen will Leben präsent sein. Was an ihnen, mit vielerlei Attributen behangen, als Chiffre sichtbar wird, ist zugleich ganz dem Körperlichen verhaftet, und die durch Eingriffe am Körper hervorgerufenen Entstellungen klagen stumm dagegen an, alles Sinnliche auf Zeichenhaftes, Geistiges zu reduzieren. In ihrer negativsten, in grotesker Form verkörpern diese Gestalten Zwergriesen wie Hetmann aus Hidalla oder Casti Piani in Totentanz (Tod und Teufel). Falsch wäre es, Lulu etwa als realistisch entworfene Person zu interpretieren oder sie auf die Rolle einer Projektionsfläche für klassische Männerphantasien zu reduzieren. Sie ist keine sozialtypische Figur, einem naturalistischen Milieudrama entsprungen. Nicht selten wird Wedekinds Doppeltragödie, auch in ihrer Urfassung der Monstretragödie Die Büchse der Pandora, als ein Drama Ibsenscher Prägung verstanden. Wedekinds dramatisches Personal ist jedoch insgesamt ohne wirkliche Rücksicht auf individual- oder sozialpsychologische Wahrschein-
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lichkeit gestaltet. Handlungsträger sind montierte Typen ohne menschliches Antlitz. Ihre Gesamterscheinung stimmt nicht. Sie ergibt kein Bild einheitlicher Individualität, sondern ist synthetisch aus disparaten Teilen, widersprüchlichen Zuschreibungen geformt. Aus der verfremdenden Konstruktion, nicht aus der Echtheit der Zeichnung, beziehen diese Figuren ihre Wahrheit und ihre Wirklichkeitsnähe. Ihr heterogener und häufig widersprüchlicher Charakter entspricht der Subjekt-Vielfalt zersprengter, fragmentierter Ich-Identität: Die an Scholz beobachtete Subjektspaltung – „Seine eine Seele heißt Ernst Scholz und seine andere Graf Trautenau.“ (STA 4, 1994, S. 184) – wird auch in der Konstruktion Keiths sinnfällig. Er ist Verführer und Verführter, Liebhaber und Mörder, kaltschnäuziger Rechner und Don Quichote, tragischer Held und Dummer August in einer Person. Und in der widersprüchlichen und widersprüchlich verstandenen Gestalt Lulus ist die polymorphe Wahrheit diskursiv nicht festschreibbarer Weiblichkeitsdefinitionen aufgehoben: Weder als Übermensch noch als Hure, weder als Eva, Mignon oder Nellie; weder mythologisch noch historisch, weder philosophisch oder psychologisch ist Lulu fassbar.17
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An Georg Brandes. München, 10.I.1909, in: Klaus Bohnen (Hg.), Frank Wedekind und Georg Brandes. Unveröffentlichte Briefe, Euphorion 72 (1978), S. 106–119, hier S. 114. Ebd. So versuchte die Philosophin Olga Plümacher und Anhängerin des philosophischen Pessimismus Arthur Schopenhauers und Eduard von Hartmanns den jungen Wedekind zu belehren; Olga Plümacher, Frühlings Erwachen. Für Väter und Erzieher, in: Sphinx 8 (1893), Bd. 16, S. 76–80, hier S. 80 u. S. 76. Zit. in: Frank Wedekind. Kritische Studienausgabe (STA), hg. v. Elke Austermühl et al. 8 Bde. Darmstadt 1994–2012, Bd. 2 (2000), S. 865 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: STA m. Bandnr. u. Jahresangabe). Zit. n. STA 1/II, 2007, S. 1697. Selbstschau, Confession, Coralie, Mina’s Kochschule, Krisis, Gespenst, Christine, Pech u. Nemesis, s. STA 1/II, 2007, S. 1631 u. 2081. An die Mutter, Emilie Wedekind. München, 10.VI.1887, in: Gesammelte Briefe (GB), 2 Bde. München 1924, Bd. 1, S. 168. An den Vater, Friedrich Wilhelm Wedekind. München, 17.XI.1887, in: GB, Bd. 1, S. 182. Zit. n. STA 5/I, 2013, S. 878. 1910 unter dem neuen Titel Karl Hetmann der Zwergriese (Hidalla) in fünfter Auflage wieder aufgelegt. An Ludwig Jacobowski. (München), 26.IX.1898, in: Fred B. Stern, Auftakt zur Literatur des 20. Jahrhunderts. Briefe aus dem Nachlass von Ludwig Jacobowski, Bd. I. Die Briefe, Heidelberg 1974, S. 234. Zu Wedekinds unterschiedlichen Erzählweisen vgl. die ausführlichen Erörterungen von Jörg Schönert, Zum Stellenwert der Erzählprosa im Werk Wedekinds, in: STA 5/I, 2013, S. 811–836, bes. S. 830–836. Ebd.
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Richard von Krafft-Ebing. Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine klinisch-forensische Studie, 7. Aufl., Stuttgart 1892, S. III. STA 5/I, 2013, S. 203. Zur Kritik des Begriffs s. Matthias Luserke-Jaqui, „Technische Kulturarbeit“? Überlegungen zum Begriff der ‚Klassischen Moderne‘, in: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.), „Alle Welt ist medial geworden.“ Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der klassischen Moderne. Internationales Darmstädter Musil-Symposium, Tübingen 2005, S. 9–22. Vgl. Jutta Kolkenbrock-Netz, Interpretation, Diskursanalyse und/oder feministische Lektüre literarischer Texte von Frank Wedekind, in: Ursula A. J. Becher u. Jörn Rüsen (Hg.), Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung, Frankfurt/M. 1988, S. 412.
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„Wüthende Welten aus bohrender Prosa“: Hugo von Hofmannsthal als Autor des Fin de Siècle Die Idee, „einmal dieses ganze Lebenswerk [. . .] zusammenzufassen“, provoziert bei Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) erklärtermaßen ein Gefühl „als sollte man bei lebendem Leibe in den Sarg genagelt werden“.1 Und er schlägt vor, den „läppischen Biographismus“2 ebenfalls einzusargen, indem „man sich ganz an das Producierte hält“.3 Dieses von Hofmannsthal „Producierte“ kennzeichnet in besonderem Maße die Literatur der Wiener Jahrhundertwende. Er verfasst sein Werk über knapp 40 Jahre hinweg in seinem 55 Jahre währenden Leben – einem Leben als Dichter, das ihn, wie er meint, selbst ganz zur „literarischen Person“ (GW RA I 248)4 werden lässt.5 Diese ausgesprochen modern anmutenden Reflexionen zum Wechselverhältnis zwischen Autor und Werk, zwischen anthropologisch, biographisch, poetisch Individuellem und literarischer Ästhetik, die je damit spielen, im Ich das „Nicht-mehr-ich oder die Welt“6 zu finden, fordern eine methodisch wache Rezeption heraus, die Intertextualität wie Interikonizität und Intermedialität des Werkes, die Wissensdiskurse der Zeit und die hermeneutischen wie poetologischen Strategien der Texte selbst gleichermaßen im Auge behalten muss.
Dichtung und Jugend Die von Hofmannsthal proklamierte „literarische Person“ erscheint erstmals in gekonnter und geradezu epiphaner Manier 1890: Loris steigt als Stern am Wiener Lyrikhimmel auf und eröffnet als Pseudonym dem noch minderjährigen Maturanten Hofmannsthal eine steile Karriere als Poet. Arthur Schnitzler notiert anerkennend: „Bedeutendes Talent, ein 17j. Junge, Loris (v. Hofmannsthal). Wissen, Klarheit und, wie es scheint, auch echte Künstlerschaft, es ist unerhört in dem Alter.“7 Sein Frühstwerk (Frage 1890, Gestern 1891, Vorfrühling 1892) ebnet Hofmannsthal den Weg in den inneren Zirkel des Jung Wien, in dem das lyrische Talent fördernde Aufnahme, ebenso wie diskussionsfreudige Förderung durch die bewundernden, aber auch kritischen älteren Kollegen findet. Dieser zentralen
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Gruppierung von Schriftstellern der Jahrhundertwende, die ihren Austausch debattierend und nicht zuletzt inszenatorisch ausgesprochen öffentlichkeitswirksam im Wiener Café Griensteidl pflegen, gehören neben Arthur Schnitzler maßgeblich Richard Beer-Hofmann, Felix Salten sowie Hofmannsthals proteischer Förderer Hermann Bahr an. Dieser schlug später bezeichnenderweise einmal vor, um Hofmannsthals Werk zu charakterisieren könne man ihn in das „Kastl“ der „Moralisten“ stecken. Dieser ambivalente Versuch, Hofmannsthal von dem steten Vorwurf zu entlasten, ein „Dichter des art pour art“8 zu sein, formuliert zwei, für lange Zeit typische Rezeptionspositionen gegenüber Hofmannsthals Texten. Beide polarisierenden Einschätzungen allerdings, Hofmannsthal entweder als Ästhetizisten oder als Moralisten zu bewerten, treffen höchstens die Ränder seines Werkes, denn diese Kategorien verfehlen, selbst wenn sie je mit einiger hermeneutischer Großzügigkeit noch auf das lyrische Frühwerk und späte, eine konservative Revolution befürwortende Schriften bezogen werden können, die Komplexität der Ästhetik eines Autors, der vom Jahrhundertwendetalent zum poetologischen Großmeister der Fin de Siècle Literatur reift.9 Anders als Stefan George jedoch wird Hofmannsthal sich niemals als (männerbündischer) ‚Meister‘ kunstbiographisch inszenieren. Nicht zuletzt wegen der zunehmenden Abneigung Hofmannsthals gegen personenkultische Fixierung – er erlebt das in diesen frühen Schaffensjahren durchaus selbst – entwickeln sich nach anfänglicher Nähe schließlich unüberbrückbare Differenzen zwischen diesen beiden prominenten Repräsentanten der Fin de Siècle Literatur.10 Zunächst allerdings ist für Hofmannsthal die intellektuelle wie persönliche Nähe mit George frappant: Eine erste Begegnung im Griensteidl, in der noch „alles möglich, alles in Bewegung“ (SW XXXIII, S. 155) scheint, findet im Dezember 1891 statt. George macht Hofmannsthal literarisch mit dem französischen Symbolismus bekannt, umwirbt sein lyrisches Talent wie seine androgyn wirkende Jugendlichkeit, was Hofmannsthal schmeichelt und nachhaltig beschäftigt – er widmet George das in den für George typischen Minuskeln gehaltene Gedicht einem, der vorübergeht mit der berühmten ersten Strophe: du hast mich an dinge gemahnet die heimlich in mir sind du warst für die saiten der seele der nächtige flüsternde wind (SW II, S. 281) Umgekehrt wird diese Nähe identifikatorisch aufgeladen, wenn George ihn als „o mein zwillingsbruder“11 anschreibt. Hofmannsthal aber ist von der bedrängenden Mischung aus ästhetischer und homoerotischer Forderung zunehmend irritiert und befremdet.12 Trotz des schließlich unumgehbaren privaten Bruchs arbeitet Hofmannsthal weiter mit an Georges literarisch exklusiv auftretender Zeitschrift Blätter für die Kunst und veröffentlicht dort Gedichte (Wolken, Psyche,
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Erlebnis, Vorfrühling) und den vielbeachteten Tod des Tizian (1892), eines seiner ersten lyrischen Dramen. Die Form des lyrischen Dramas begründet neben seinen Gedichten Hofmannsthals spektakulären Ruf als poetisch begnadetes Jungtalent.13 Im Tod des Tizian nimmt er motivisch das Verhältnis eines Meisters zu seinen Schülern, das von Künstlertum und Dilettantismus, Kunst und Künstlichkeit auf. Bereits der Prolog, gleichermaßen dramatische Pagenfigur wie metapoetischer Text, thematisiert das facettenreiche Spiel von Kunst und Leben. Die Grundfrage, auf welcher Seite die wahre Kunst zu finden sei, ob im ästhetizistischen Imperativ oder in einer lebensoffenen, ja lebensprallen, ins Dionysische zielenden Kunst verweist auch textimmanent immer wieder auf George (ähnlich in späteren Texten wie Das Märchen der 672. Nacht, 1895 oder Das gerettete Venedig, 1902). Im Tod des Tizian findet sich diese Bezugnahme mal kritisch, mal affirmativ gespiegelt: Sei es in der Figur Desiderios, der klar für den elitären Ausschluss der profanen Welt plädiert, sei es in dem Dichter, der „beim Vorübergehen“ den Prologpagen gemeinschaftsstiftend mit dem George-Briefzitat an sich zu binden weiß: „Doch ich versteh dich, o mein Zwillingsbruder“ (SW III, S. 40). Das lyrische Drama kennzeichnet die um ihren sterbenden Meister Tizian trauernden Schüler durch ein Epigonentum, das sie lähmt und von originärem Schaffen trennt: Indessen wir zu schaffen nicht verstehen Und hilflos harren müssen der Enthüllung . . . Und unsre Gegenwart ist trüb und leer, Kommt uns die Weihe nicht von außen her (SW III, S. 51) Einzig der junge Gianino nimmt den bevorstehenden Tod des Lehrers als vitalistisch entgrenzenden Übergang wahr, der Teil eines Lebenszirkels voller „Rausch“, „Qual“, „Haß“, „Geist“ ist und gerade darin „das Leben, das lebendige, allmächtge –“ (SW, S. III 45) vervollständigt. Der Grundzug ins Dionysische erscheint im Text verknüpft mit einer dynamischen Kunstbewegung, die sich aus eigenem Erleben, Auflösung, Schönheit und Wollust, leidenschaftlichem Verwerfen und formalästhetischem Gelingen konstituiert. Hofmannsthal zitiert hier einmal mehr die Gedankenwelt Nietzsches, der in seiner Geburt der Tragödie eben dieses Kunstverständnis auch formal provokant als ästhetische Wissenschaft vertritt. Der während der gesamten Dramenhandlung niemals selbst die Szene betretende Titelheld wird nur einmal wörtlich und das mit dem symptomatischen Satz zitiert: „Es lebt der große Pan“ (SW III, S. 42).14 Nicht von ungefähr verhandelt Der Tod des Tizian den Konflikt von Leben und Kunst, von ästhetischer Dynamik und sklerotisierendem Historismus am Medium des Bildes. Auf der Szene des lyrischen Dramas erfolgt die „Überblendung der Bilder Tizians mit denen Böcklins“, um in der „Freiheit der reproduzierenden Phantasie, die Simultaneität“ zu „konstruieren, d. h. neue Perspektiven und Para-
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meter dem historischen Joch des chronologischen Nacheinander“ entgegenzustellen.15 Der Jüngste von allen, Gianino, befreit sich von der Manier des Meisters, ahmt nicht nach, sondern vertraut dem eigenen Erleben und ist gerade darin Tizians bester Schüler. Gianino weiß bereits, was Hofmannsthal über Die Malerei in Wien (1893) sagen wird: Dass „die Malerei eine Zauberschrift ist, die, mit farbigen Klecksen statt der Worte, eine innere Vision der Welt, der rätselhaften, wesenlosen, wundervollen Welt“ erschafft und darin stets „etwas mit Denken, Träumen und Dichten zu tun hat“ (GW RA I 526). Hofmannsthals Texte werden sich immer wieder mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Malerei in Vergleich und Konkurrenz zur Schrift beschäftigen (Sommerreise 1903, Die Briefe des Zurückgekehrten 1907/8) und über den Paragone der bildenden mit den literarischen Künsten einen Weg zu neuem Ausdruck in der Sprache suchen und gehen.16 So wie die lyrischen Dramen stets motivisch und situativ einen Übergang, eine Schwelle bespielen und auf den suspense der Zwischenräume setzen (Brücken/ Ufer, Innen/Außen, Traum/Realität, Tod/Leben, Wahnsinn/Maß, Kunst/Leben)17, bildet auch diese literarische Form für Hofmannsthal, die die Jahre 1891–97 in seinem Werk dominiert, den Übergang zu dramatischen Großformen: zur Tragödie, zur Oper und nicht zuletzt in den 1920er Jahren zur Komödie. Die trotz ihrer Nähe zu „läppischem Biographismus“ markante Entscheidung fällt kurz nach der Jahrhundertwende: Hofmannsthal verabschiedet sich von der philologischen Universitätskarriere, als er sein Habilitationsgesuch an der Universität Wien zurückzieht (1901) und sich ganz als Schriftsteller definiert. Es ist eine Entscheidung für die Kunst – und für das Leben in einer Kunst, die er zunehmend dynamisch, als vorgängiges Werden und Zerfallen und wieder Werden versteht, die er gerade gegen einen elitären Ästhetizismus wendet und stattdessen den „Weg zum Sozialen als Weg zum höheren Selbst“ (GW RA, III 602) in steten Variationen entwirft. Fast immer jedoch stolpern auf diesem Weg Hofmannsthals zerrissene Protagonisten, deren widerständige Devise: „Anstößig ist alles Produktive“ GW RA III 510) stets auch die eigene Defiguration transportiert. Hofmannsthals Poetik bewegt sich in der nicht still zu stellenden Dynamik von künstlerischer Manifestation und theorieästhetischer Iteration, die den Autor selbst oft in die Krise, doch ebenso zu enormer Produktivität führt.18 Es gilt „ungeheure gegen einander wüthende Welten aus bohrender Prosa aufzubauen“, die sich jeweils als „ein einziger schäumender Wellenkamm“ zu einem Text aufbauen, um dann in den „finstern Meeresabgrund“ (SW XVIII, S. 378) des Nicht-Producierten zurückzusinken – nur um erneut geformt zu werden. Hofmannsthals Werk reflektiert diese Spannung, was sich nicht zuletzt in dessen Variationsbreite spiegelt: Neben seiner Lyrik, den Erzählungen und Dramen entstehen unzählige Essays, Rezensionen, kulturpolitische Schriften, auch Ballettszenarien, Romanfragmente und Filmdrehbücher sind darunter. Die stete Überschreitung von Gattungsgrenzen kennzeichnet vor allem die Erfundenen Gespräche und Briefe, in denen systematisch die formalästhetische Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation einge-
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rissen wird, um eine beständige Selbstreflexion der Kunst voranzutreiben. Hofmannsthals Werk ist der Ort, an dem sich kulturtheoretische, editorische, poetologische und fiktionale Phänomene begegnen, sich amalgamieren und genuin produktiv werden.
Dichtung und Wissen Deutlich noch spricht die jugendliche Fehldiagnose einer Zeit aus den zum 1. Mai 1890 verfassten Zeilen des jungen, eben erst sechzehnjährigen Hofmannsthal: Tobt der Pöbel in den Gassen, ei mein Kind so lass ihn schrei’n! [. . .] Lass den Pöbel in den Gassen: Phrasen, Taumel, Lügen, Schein, Sie verschwinden, sie verblassen schöne Wahrheit leb allein (SW, S. II 22) Die Künstlergeneration des Wiener Fin de Siècle empfindet – und stilisiert – sich in solchen Versen als nachschaffende Décadents im Vergleich zu ihren tätigen Gründerzeit-Vätern. Sie umspielen poetisch das Ende einer sukzessive untergehenden k.u.k. Monarchie: „Neu an der Kultur um 1900 ist vor allem, [. . .] dass sie im Sterben liegt.“19 Doch in dieser epigonalen Selbstbeschau wird in Teilen auch ästhetisch eine Realität verpasst, die (nicht nur in Kakanien) markiert ist durch Industrialisierung, wachsendes Proletariat, elektrifizierte Großstädte und damit technische wie ökonomische Geschwindigkeit. Die Wiener Literaten sind in dieser Hinsicht durchaus kritischer in Frage gestellt durch eine soziale Arbeiter- als durch eine immanente ästhetizistische Bewegung wie sie in prominent weltferner Weise George favorisiert. Zu den Autoren, die soziale und politische Phänomene in ihrer Kunst allerdings gekonnt mitverhandeln und darin nicht zuletzt den genuinen Charakter ihrer Texte gewinnen, gehören die Hofmannsthal zeitlebens nahe stehenden Leopold von Andrian und vor allem der Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler. Stärker als auf politisch-sozioökonomische Brennpunkte, wie sie beispielsweise in der Berliner Literatur dieser Jahre verhandelt werden,20 richten sich die poetischen Analysen Hofmannsthals auf das Individuelle, um von dort aus das Gesellschaftliche, die Kunst, die Sprache zu denken. Beispielhaft dafür lassen sich die ebenso intermedial wie wissenspoetologisch raffinierten Verse, auf eine Banknote geschrieben (1890) lesen, die dem „verfluchten“ Wechselspiel von poetisch flüchtigem Enthusiasmus und materiell ökonomischer Erbarmungslosigkeit den abgezirkelten Platz eines Geldscheins einräumen: „Feil! alles feil!“ (GW D, I 95). Die Texte Hofmannsthals umkreisen einen höchst verunsichernden und verunsicherten Subjektbegriff, der zeitgenössischer Philosophie und Psychologie zufolge kaum mehr ist als eine denkökonomische Einheit. Die symptomatische Formulierung für diesen Umstand findet Ernst Mach, Wiener Philosoph, bei
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dem auch Hofmannsthal studiert, mit dem „unrettbaren Ich“.21 Das „täglich ein anderer sein“22 stellt einerseits zwar die brutale Diagnose der Instabilität des eigenen Ich, eines ewig brüchigen Individuums und seiner unzuverlässigen sprachlichen Verfasstheit.23 Zugleich bietet sich hier aber auch die bunte Potenz eines frei flottierenden Schaffens, gerade in der Sprache – und damit für die Autoren wie ihre literarischen alter egos. Hofmannsthal thematisiert dieses Geflecht zwischen Ästhetik und Ontologie, Überindividuellem und Subjekt, fiktionaler Figurenrede und poetologischer Textproduktion in den verschiedensten Genres. In Die Wege und die Begegnungen (1907) reflektiert das schreibende Ich die Möglichkeit einer Gleichzeitigkeit von Einheit (Ich) und Zerfallen (Erinnerung) der Person anhand einiger Notizen, die der Ich-Erzähler zwar angefertigt hat, denn „ich sehe, daß diese Zeilen von meiner Schrift sind“, er kann sich jedoch in keinster Weise auf den Umstand des Aufschreibens noch den Inhalt des Geschriebenen besinnen: Ich weiß nichts davon. Wer ist Agur? Und wer ist der Redende, der sich Agurs entsinnt? Und dennoch habe ich dies geschrieben, und nun ist alles andere verloschen, und nur dies ragt herauf. Und irgendwo in mir, bei den Dingen, die ich erlebt habe, bevor ich drei Jahre alt war, und von denen mein waches Erinnern nie etwas gewußt hat, bei den Geheimnissen meiner dunkelsten Träume, bei den Gedanken, die ich hinter meinem eigenen Rücken je gedacht habe, wohnt nun dieser Agur – (SW XXXIII, S. 152) Gleich mehrere Schichten einer literarischen Epistemologie Hofmannsthals klingen hier an. Einmal sicher die im zeitgenössischen Wissenshorizont kaum zu überlesenden Hinweise auf das einer breiten Wiener Öffentlichkeit bekannte Vokabular („waches Erinnern“ – „dunkelste Träume“) der Psychoanalyse Freuds.24 Die „Anatomie des eigenen Seelenlebens“ GW RA I 176) als Vorstellung eines Unbewussten, das sich in unzugänglichen Bereichen, archäologischen Schichten gleich, in uns selbst verbirgt und eine ebenso unheimliche wie verführerische Gemengelage aus Ungewusstem und Verdrängtem, Vorbewußtem und Vergessenem enthält, spielt das derart bereits metapoetisch unterminierte Ich im Text an. Es sind dies jedoch nicht nur Termini Freuds, den Hofmannsthal zwar rezipierte – so hatte er natürlich das „merkwürdige Buch über Hysterie von den Doktoren Breuer und Freud“ (SW VII, S. 459) gelesen –, dessen Psychoanalyse Hofmannsthal jedoch hinsichtlich ihres eineinsinnigen Deutungsangebots stets mit einiger Skepsis literarkritisch kommentiert. Die im gesamten Werk Hofmannsthals immer wieder verarbeiteten psychodynamischen Episteme, die den (überwiegend französischen) Medizindiskursen um Nervenkrankheiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts entstammen (Charcot, Janet, Binet),25 bilden einen sehr gangbaren wissenspoetologischen Zugriff auf die literarisch virulent werdenden Phänomene von Dissoziation, Wahrnehmungs- und Ich-Konstitution: Gedanken, hinter dem „eigenen Rücken“ gedacht.
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Eine grundsätzliche Fragestellung eben dieser Diskurse richtet sich umgekehrt daher immer wieder auf die Sprache, nämlich inwiefern die (unbewussten) Begehrensströme in sprachliche und/oder körperliche Symptome übersetzbar und damit lesbar sind.26 Solche psychologischen und genealogischen Überführungsversuche von Ich und Welt in einen einheitlichen Erfahrungshorizont unterminiert bereits die frühe Lyrik Hofmannsthals in eleganter Aporie: Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, Herüberglitt aus einem kleinen Kind, Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd. [. . .] Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war Und meine Ahnen, die im Totenhemd, Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar, So eins mit mir als wie mein eignes Haar. (Über Vergänglichkeit 1894, SW, S. I 45) Auffällig an der Schlusswendung des Gedichts ist, dass sich die Dissoziationserfahrung, das eigene Ich als Fremdes (Kindheit vs. Jetzt), in eine, allerdings nicht minder befremdliche Einheitserfahrung dieses Ich mit dem Fremden, ja Toten verwandelt. Hier tritt zu den individualpsychischen Verhandlungen ein naturphilosophisches Konzept vom Unbewussten, das eine universale, transindividuelle Einheit des Unbewussten, sowie des (menschlichen, organischen wie anorganischen und göttlichen) Seins annimmt und darin, neben der überindividuellen, auch eine überzeitliche Komponente propagiert. Diese stark romantisch geprägten, mystischen Vorstellungen nimmt Hofmannsthal literarisch vermittelt, bspw. über Novalis oder Swinburne,27 auf und spielt sie in seine Texte ein. So nehmen die „Ahnen“ aus dem frühen Gedicht Über Vergänglichkeit diesen Zeit und Raum transzendierenden Platz erneut ein, wenn sie, diesmal als „Stimmen“ in der Eröffnungsszene von Ödipus und die Sphinx (1905), ebenso prophetisch wie rekapitulierend über das Schicksal des Königsohns orakeln: Unser Ringen und Raffen/hat ihn erschaffen. Herz und Gestalt, Begierden und Qualen – er muß uns bezahlen, daß wir mit Gaben beladen ihn haben. Er ist ein König und muß es leiden, und wär ein nackter Stein sein Thron: er ist unsres Blutes Sohn (GW D II, S. 408f.) Strukturanalog dazu fordern die Stimmen der ungeborenen Kinder in der Frau ohne Schatten (1915) ihr Zukunftsrecht von den schon Lebenden, die sich aus ego-
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maner oder erotomaner Selbstgenügsamkeit gegen diese Ungeborenen und damit das zukünftige Leben zu stellen drohen. Diese atopische und synchrone Gemengelage aus Vergangenem und Zukünftigem, Generationenentwurf und „Nichtmehr-ich“ durchzieht folgerichtig nicht allein anthropologische Gegebenheiten, die die Texte Hofmannsthals auf der Figurenebene verhandeln, sondern sie weitet sich als nichtidentische Differenzerfahrung auf dem ureigensten Gebiet der Literatur zu einer veritablen, doch stets virtuos formulierten Sprachkrise aus.
Beredtes Schweigen: Chandos und Nietzsche Die sprachliche Aporie der Jahrhundertwende, die Krise, die sich ergibt, wenn das ‚un-bedingt‘ zu Formulierende doch in den Bedingtheiten sprachlicher Konvention nicht mehr zu sagen ist, wird nirgends so eindringlich und gekonnt formuliert wie in Hofmannsthals Ein Brief (1902). Die Beobachtungen der Hofmannsthalforschung, die „rhetorische Geschliffenheit“ dieses Briefes, verfasst von dem fiktiven Lord Chandos und vermeintlich 1603 gerichtet an den Szientisten Francis Bacon, widerlege gerade in der vollendeten Sprachmächtigkeit das Debakel, das sie beklagt, folgen einem sprachkritischen Generalverdacht, der allzu oft die zerfallenden Sprachbilder des sublimen Textes mit dem Bade einer Einheitsthese ausschüttet.28 In der Unfähigkeit des Lord Chandos „über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“ (SW XXXI, S. 48) erkennt allerdings eine differenziertere Forschung, dass der „Text die Begriffssprache der Wissenschaft thematisiert sowie deren Konzept von Rationalität“ [Hervorh. AE] hinterfragt.29 Bereits 1895 formuliert Hofmannsthal in einer Rezension seinen prekären „Ekel vor den Worten“: Denn die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. [. . .] Die unendlich komplexen Lügen der Zeit, die dumpfen Lügen der Tradition, die Lügen der Ämter, die Lügen der einzelnen, die Lügen der Wissenschaften, alles das sitzt wie Myriaden tödlicher Fliegen auf unserem armen Leben. Wir sind im Besitz eines entsetzlichen Verfahrens, das Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken. (GW RA I 479) Ganz ähnliche Argumentationsfiguren lassen sich an Hofmannsthals Dramen zeigen, die zeitnah entstehen, wie die in „schweigen und tanzen“ GW D II, S. 233) endende Elektra (1903) oder der Fragment gebliebene, doch gerade dadurch Motive und Denkräume deutlicher zitierende Pentheus (1892–1918): Die Kritik an einer ratioiden und darin gewaltsam vereindeutigenden Weltformel betrifft im Pentheus nicht mehr nur die Sprachproduktion, sondern befällt das Leben selbst. König Pentheus ist bei Hofmannsthal ein ebenso machtbesessener wie paranoider „Skeptiker“, denn ihm bedeutet „das Logisch greifbar-fassbare“ (SW, S. XVIII 56), „das Sondern, das Auseinanderhalten alles“: Er ist stets „nur kramp-
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fig bestrebt“, alles „zu verstehen“ (SW XVIII, S. 51). In der körperlichen wie cerebralen Verkrampfung des rein empirisch rationalisierenden Pentheus entwirft Hofmannsthal ein Angstbild des Szientismus (hier: Angst vor der dionysischgynaikokratischen Entgrenzung), das in Analogie zu der im Chandos-Brief kondensierten Skepsis gegenüber einer ausschließlich methodisch-wissenschaftlichen Weltaneignung steht.30 Diese Motive findet Hofmannsthal bereits 1892 während seiner Lektüre von Nietzsches zweiter Unzeitgemässer Betrachtung – eine Schrift, die im Sinne der Décadence-Kritik Nietzsches ebenso wie die Geburt der Tragödie gegen den begrifflichen Rationalismus im Allgemeinen und den positivistischen Historismus im Besonderen wettert. Wurde das Mythische der antiken Tragödie durch „aesthetischen Sokratismus“31 zersetzt, findet sich das gleiche Paradigma von begrifflicher Entfremdung in der modernen Kultur als Degeneration. Immer wieder und immer noch verwechselt der Zeitgeist Bildung mit „der passiven Anhäufung von Wissen“32, wodurch das Leben „mit Begriffen wie Drachenzähnen“ „mechanisch zerlegt“ und „zerbröckelt“ wird: Für Nietzsche ist die „historische Krankheit“33 das symptomatische Leiden der Moderne: Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Uebermaasse von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen. Wo finden sich Thaten, die der Mensch zu thun vermöchte, ohne vorher in jene Dunstschicht des Unhistorischen eingegangen zu sein?34 In der Forderung nach dem konstitutiven Moment der Tat begegnen sich Nietzsche und Hofmannsthal erneut. Der sich zwischen einem bewahrenden Erinnern und tatkräftigem Verwandeln entspinnende Konflikt gerät in Hofmannsthals Texten immer wieder zur entscheidenden Frage nach Leben und Würde des Menschen. So schreibt er an Richard Strauß 1912 im sogenannten Ariadnebrief: Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinweg kommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen. Und dennoch ist ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft. Dies ist einer von den abgrundtiefen Widersprüchen, über denen das Dasein aufgebaut ist, wie der delphische Tempel über seinem bodenlosen Erdspalt. (GW D V 297)
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Nietzsche beschreibt den Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben als genau diese Gratwanderung zwischen Erinnern und Vergessen. Doch ergreift er mit berühmt berüchtigter Finesse Partei für die „Kunst und Kraft vergessen zu können“ – ein schmerzhaftes, aber dem „Historisch-Kranken“ dringend zu empfehlendes „Heilverfahren“.35 Hofmannsthal bleibt über diese Frage Zeit seines Lebens im Zweifel. Schon in dem frühen lyrischen Drama Der Tor und der Tod (1893) schwört Claudio: „Ich will die Treue lernen, die der Halt von allem Leben ist . . .“ (GW D I, S. 290). Und noch in der Ägyptischen Helena (1924) trinkt die Heldin einen Trank des Vergessens, der verspricht, sie wieder „unschuldig“ (GW D V 443) werden zu lassen. Die berühmteste Heldin, die in diesem Konflikt zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen Treue und Leben aufgerieben wird, ist wohl Hofmannsthals Elektra: Vergessen? Was! Bin ich ein Tier? Vergessen?/Das Vieh schläft ein, von halbgefreßner Beute/die Lefze noch behängt, das Vieh vergisst sich/und fängt zu käuen an, indes der Tod/schon würgend auf ihm sitzt, das Vieh vergißt,/was aus dem Leib ihm kroch, und stillt den Hunger/am eignen Kind – ich bin kein Vieh, ich kann nicht/vergessen! (GW D II 195). Elektra erscheint ausgerechnet in ihrem Beharren auf die genuin humane Erinnerungsleistung nahezu unmenschlich. So stürzen die Protagonisten in Hofmannsthals Texten immer wieder in den „bodenlosen“ Spalt zwischen der „Verwandlung im Tun“ und der „Identität von Treue und Schicksal“ (GW RA III 602f.).
Der theatrale Pakt mit dem Mythos Elektra, die 1903 in dichter Folge zum Chandos Brief entsteht, kann als endgültige Wende Hofmannsthals hin zur großen Form der Tragödie und damit zum Theater gelesen werden.36 Die theatrale Szene öffnet sich für Hofmannsthal von der Jahrhundertwende an bis in die spätere Komödienproduktion der 20er Jahre (Der Schwierige, Der Unbestechliche 1921) als Raum, der dominant auf Hofmannsthals Ästhetik wirkt – das unabschliessbare, immer wieder umgewendete Lebensprojekt Der Turm kann hier als Generalbass gelesen werden, der ästhetische, machtpolitische und mystische Phänomene antönt: „Gibt man sich mit dem Theater ab, es bleibt immer ein Politikum. Man handelt, indem man vor eine Menge tritt, denn man will auf sie wirken“ (Das Spiel vor der Menge, SW XXXIV, S. 25). Die Atridentochter Elektra führt eine ganze Reihe nun folgender Mythosadaptationen (u. a. Ödipus und die Sphinx, Ariadne auf Naxos, Pentheus, Die ägyptische Helena) an, die Hofmannsthals Anliegen dokumentieren, den antiken Mythos wiederzubeleben, aus ihm „wieder Schatten aufsteigen“ (GW RA III 443) zu lassen.37 Diese Schatten werden nun gerade nicht vom hohen Ton des gewohnten Tragödienpersonals geworfen, sondern entstehen, indem Hofmannsthal außer-
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sprachliche Elemente wie Schweigen, Tanz, unartikulierte Schreie, Pantomime und immer wieder Licht und Farben den nonverbalen Raum seiner Dramen formen lässt: „So ist eine verzweifelte Liebe zu allen Künsten erwacht, die schweigend ausgeübt werden: die Musik, das Tanzen und alle Künste der Akrobaten und Gaukler“ (GW RA I 479). In der ästhetisch deutlichen Abgrenzung von Klassizismus und Historismus lässt sich Hofmannsthals Faszination für einen irritierend archaischen und zugleich poetologisch beweglichen Mythos erkennen.
Moderne Archaik und mythische Avantgarde Variation als Strukturmerkmal des Mythos bedeutet immer auch Eklektizismus. Doch gilt Hofmannsthal gerade das als Herausforderung: „Nicht dass man etwas Neues zuerst sieht, sondern dass man das Alte, Altbekannte, von Jedermann Gesehene und Uebersehene wie neu sieht, zeichnet die eigentlich originalen Köpfe aus.“38 Auf der einen Seite handelt sich Hofmannsthal die geringe stoffliche Bewegungsfreiheit bekannter Mythen der Antike ein. Auf der anderen Seite ist es gerade diesem motivischen Korsett geschuldete, dass die Bewährung in der Variation um so spektakulärer ausfallen kann. Hofmannsthal gewinnt mit seiner Einlassung auf den Mythos dessen Gewicht. Denn poetisch arbeitet Hofmannsthal sich mit seinen Mythosadaptationen an Größen wie Aischylos, Sophokles und Euripides ab. Gleichzeitig stellt er sich unvermeidlich in eine Reihe mit den Tragikern, indem er denselben Weg betritt wie sie: Auch die attischen Dramatiker gestalteten bereits Variationen eines schon je bekannten Mythos, die sich im berühmten Agon der antiken Dionysien bewähren mussten. Hofmannsthal sieht sich 2400 Jahre später vergleichbaren Wettkampfbedingungen ausgesetzt – in Form von Theaterkritik, Zuschauerzahlen oder angesichts der Frage, wie viele und welche Theater seine Stücke im Repertoire führen. Für den modernen Dramatiker spielt nicht zuletzt aus diesen Gründen Wirkungsästhetik eine große Rolle. Im Namen der Wirksamkeit bedient Hofmannsthal bestimmte Schlüsselreize, die sich als Affektästhetik kategorisieren lassen. Dazu zählen beispielsweise die mit hohem Wiedererkennungseffekt ausgestatteten Symptome der Hysterie, ebenso wie die oft ausgesprochen strategischen Verstöße gegen den bürgerlich ‚guten Geschmack‘, wenn Hofmannsthal Motive wie Perversion, Notzucht, Inzest oder das Monströse in seinen Mythosvariationen betont. Entweder bietet der Mythos selbst diese intrikaten Motive (Atriden, Ödipus, Pentheus) oder Hofmannsthal zitiert intensiv mit seinem Werk verwobene Intertexte: Diese Diskurssteinbrüche rangieren auf hohem kanonischen Niveau, denn Hofmannsthal schreibt seine Antikestücke auf dem Fundament nietzscheanischer Kulturkritik und mit deutlichen u. a. von Bachofen, Rohde oder Freud entliehenen Motiven.39 So wenn er die Atridentochter Elektra irritierend moderne Qualen schildern lässt, in denen der eigene Vater Agamemnon ihr den „Haß“ als eifersüchtigen
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„Bräutigam“ (GW D II 225) schickt und sich ihr Leiden als sadistisch-inzestuöser Lustgewinn des toten Vaters gespiegelt findet. In dem Maße wie der Tochter die Genugtuung Agamemnons als Augenzeuge dieses Leidens sicher scheint, bejaht wiederum Elektra dieses Leiden: Weil der Vater als Zuschauer wiederkommt, „die beiden Augen weit offen“ GW D II 190), leidet sie „um seinetwillen“ (GW D II 227) durchaus masochistisch. Nicht zu unterschätzen ist zudem in dieser von Hofmannsthal psychodynamisch variierten Familienkonstellation der Lustgewinn, den Elektra selbst aus dem Zufügen von Leiden zieht: Nicht umsonst destruiert sie mit wortmächtiger Verve die utopische Zukunft der verzweifelten Schwester Chrysothemis und weidet sich an der Todesangst ihrer albträumenden, verheerten Mutter Klytämnestra. Die intrikate Zusammenstellungen von Motiven wie dem Masochismus mit denjenigen der antiken Tragödie wird zudem flankiert von der in Bachofens Mutterrecht (1861) anhand der Orestie diskutierten Möglichkeit einer antiken juridischen Hierarchisierung von Vater- respektive Muttermord. Damit wird hier dem psychologisch bereits aufgerufenen Hysteriediskurs zudem eine sozio-ethnologisch fundierte Genderfrage zur Seite gestellt. Zielführend wirkt diese Affektästhetik vor allem in der rauschhaften Wortgewalt und virilen Bildermacht eines archaischen Mythos abseits „jener antikisierenden Banalitäten, welche mehr geeignet sind, zu ernüchtern als suggestiv zu wirken“ (GW D II 240). Hofmannsthal bescheinigt dem Mythos per se eine Überzeitlichkeit, die sich gegen idealistische Harmonisierung genauso widerständig zeigt wie gegen teleologische oder dialektische Bewegungen. Diese „Zeitresistenz“40 verweist für Hofmannsthal auf eine dem Mythos eigene Gewalt: In der Absicht, die „Schauer des Mythos neu zu schaffen“ (GW RA III 443), tritt Hofmannsthal hinter die klassizistische Serenität zurück, die er Winckelmann und Goethe vorwirft: Diese hätten schließlich, wie er konstatiert, nie den „italischen Strand“ verlassen und nie „eine wirkliche Antike, nie ein Bildwerk des fünften Jahrhunderts gesehen“ (GW E 629). Hofmannsthal schwebt darum etwas Gegensätzliches zur „verteufelt humanen“ Iphigenie vor, er will die Antike „vom großen Orient aus neu an[blicken]“ (GW RA II 156). Mit seiner ganz eigenen Antikerezeption zielt Hofmannsthal also darauf, gemäß Nietzsches Diktum, dass die attische Tragödie selbst bereits apollinischer Schein sei, über die antiken Dramatiker hinaus- und zu den Ursprüngen des Mythos zurückzugehen. Diese Antikerezeption betont das kultische Wiederholungsmoment des Mythos: Strukturen, die in Opfer, Klage und Ritual konstitutive Ambivalenzen von Wirklichkeit, Gewalt und Ästhetik aufzeigen – und in dieser Konstruktion hochwirksam inszeniert werden. So beherrschen die moderne Szene der antiken Stoffe folgerichtig Gewalt, Rachsucht und Trostlosigkeit: Hofmannsthals Mythen spielen im „Hinterhof“ der Paläste, in „Zellen“, die „Enge, Unentfliehbarkeit, Abgeschlossenheit“ (GW D II 240) evozieren. In seinen Mythosbearbeitungen brechen radikale Elemente des Nichtsprachlichen wie Tanz oder Pantomime den Dramentext ab, favorisiert wird eine ausgesprochen mo-
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derne Intermedialität. Das Bühnenbild erhält mit Farb- und Lichtregie eine ganz eigene, in den Szenenanweisungen minutiös beschriebene, also kalkulierte, performative Wirkkraft. Eine expressive Körpersprache schreibt Hofmannsthal seinen Figuren auf den theatralen Leib – und nicht von ungefähr findet Richard Strauss in Hofmannsthal den kongenialen Librettisten für viele seiner Opern.
Große Oper Es ist die heißdiskutierte und sehr erfolgreiche Inszenierung Max Reinhardts (Berlin 1903), die Strauss in den Bann der Elektra schlägt. Die Aufführung gilt bis heute als Vorwegnahme des expressionistischen Theaters und führt in der Ausarbeitung zur Oper die drei späteren Begründer der Salzburger Festspiele (1920) Strauss, Hofmannsthal und Reinhardt erstmals zusammen. So hegt auch Strauss, von der Elektra beeindruckt, den Hofmannsthal völlig entsprechenden „Wunsch, dieses dämonische, ekstatische Griechentum des 6. Jahrhunderts Winkelmannschen Römerkopien und Goethescher Humanität entgegenzustellen“ (SW VII, S. 475). Er hatte in Hofmannsthals dramatischer Koalition von mythischer Archaik und moderner Avantgarde das Potential zu einer der erfolgreichsten Werke der jüngeren Operngeschichte erkannt. Hierin erweist sich Strauss als instinktsicher und getragen von der wirkungsästhetischen Grundstimmung der Jahrhundertwende, die ein formal durchkomponiertes und zugleich emotional aufgeladenes Affekttheater zu schätzen weiß. Die Insignien dieser Dramatik sind ekstatischer Rausch, mythische Gewalt und rachsüchtige Willkür. Ebenso wie die Berliner Theaterinszenierung Hofmannsthal zum gefragten Dramatiker gemacht hatte, lässt die Oper Elektra Strauss zum führenden Opernkomponisten der noch jungen Moderne werden. In der symptomatischen Mischung aus hysterischer Gebärde und dionysischer Entgrenzung überschreitet sie zudem tonal die „äussersten Grenzen der Harmonik“ sowie die „Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren“ (SW VII, S. 475) und provoziert damit Schock und Begeisterung gleichermaßen. Strauss empfindet die Begegnung mit Hofmannsthal fast als schicksalhaft, wenn er schon 1906 darum bittet, ihm „in allem Komponierbaren von Ihrer Hand das Vorrecht zu lassen. Ihre Art entspricht so sehr der meinen, wir sind füreinander geboren und werden sicher Schönes zusammen leisten, wenn Sie mir treu bleiben“41 – und das blieb Hofmannsthal, der diese Einschätzung teilt: „Wer immer alles, was da war, erkannte – und es mit voller Freude aufnahm, schöpferisch aufnahm und in ein noch höheres Leben hinüberführte, waren Sie.“ Der nie spannungsfreie, doch kongeniale Kulturbetrieb beider Künstler ruhte auf dem intermedialen Ideal einer „untrennbaren Verschmelzung dichterischer und musikalischer Bestandteile“.42 Der bis an die Grenzen der Tonalität gehenden Symphonieoper Elektra (1909) folgt 1911 ein musikalisch gemäßigterer, doch unschlagbarer Publikumsliebling: Der Rosenkavalier, anschließend die mit einer langwierigen und künstlerisch um-
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kämpften Entstehungsgeschichte belastete Gattungskreuzung aus Schauspiel und Oper, die Ariadne auf Naxos (1912). Unter den schweren äußeren Bedingungen des Ersten Weltkriegs entsteht dann die musikalisch und motivisch anspruchsvollste Zusammenarbeit Die Frau ohne Schatten (1919), die Hofmannsthal genretechnisch als Opernlibretto und als Erzählung variiert. Den oft mühsamen Zugang zu diesem Märchentext macht Rudolf Pannwitz daran fest, dass „eben garnichts von heutzutag“, wirklich „nicht eine spur moderne“ mehr darin sei (SW XXV, S. 1 624) – eine Erklärung, die sich bezweifeln lässt, nicht zuletzt da in der Frontstellung von biologistischer Paternaldynastie und weiblicher Emanzipationslogik, hier als sexuelle Verweigerung der Frau und (ein mit Freud psychoanalytisch noch völlig undenkbares) weibliches Begehren, das Konzept ‚bürgerliche Ehe‘ in höchst prekäre Schwingungen versetzt wird. Doch von nun an wendet sich die Kooperation zwischen Dichter und Musiker auch wieder leichteren Stoffen zu: Es entstehen Die ägyptische Helena (1928) und Arabella (1933) – den Schlussmonolog der Arabella sendet Hofmannsthal noch am 10. Juli 1929, fünf Tage vor seinem Tod, an Strauss. Der Rückgriff von Hofmannsthal und Strauss auf eine avantgardistische Archaik ist zugleich ein Vorgriff auf die moderne Wiederentdeckung des Performativen als zentrale Dimension des Ästhetischen und seiner Inszenierung/en. Diese Bewegung vollziehen die Werke der beiden Künstler nicht zuletzt im Zeichen theatraler, kompositorischer und poetologischer Radikalisierung.
Poetologie der De-Figuration Die Griechendramen Hofmannsthals sind je eigene Variationen und Umbildungen eines antiken, nicht unmittelbar zugänglichen Kernmythos. Dass jeder Text aber nur eine von vielen möglichen Verwandlungen repräsentiert, zeichnet nicht nur die transformatorische und transitorische, stets zu wiederholender Erneuerung drängende narrative Struktur des Mythos aus. Sondern diese nicht still zu stellende Eigentümlichkeit macht sich Hofmannsthal als umfassendes ästhetisches Konzept zu eigen: Sein Werk erzeugt und reflektiert diese textuelle Dynamik. Im Gegensatz zum Nach- oder Nebeneinander der Künste im traditionellen Ästhetikdiskurs verbinden sich für Hofmannsthal in seinen Werken Musik, Licht, bildnerische Kunst und Poetik zum spezifischen Wissensdiskurs der europäischen Moderne. Die poetologische Strategie des Jahrhundertwendeautors ergibt eine veränderte und vor allem veränderliche Situation: eine theatral neu gedachte zyklische Raum-Zeit. Hofmannsthals Texte sind von dieser Dynamik und der aus ihr resultierenden Instabilität geprägt, ja erheben sie zum Programm. Seine Dramen und Erzählungen sind keine von Wirklichkeit entlastenden Geschichten, sondern in ihnen werden Geschichten mit dem Einbruch eines Numinosen konfrontiert. Der Begriff des Numinosen dient der Benennung und Zurichtung dessen, was sich dem Zugriff menschlicher Erfahrungsgrößen eigent-
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lich entzieht und insofern ebenso angsteinflößend wie faszinierend wirkt. Als Ausweis ihrer Dynamik zeigen die Werke Hofmannsthals eine zugleich textgenerierende wie zerstörende Technik, die der Autor selbst als ein Vorgehen der „bohrenden Prosa“ (SW XVIII, S. 378) bezeichnet. Diese „bohrende Prosa“ stellt zunächst die poetisch gestaltete Form der Darstellungsvariante her (Figuration), verursacht aber im zwingenden Fortgang der bohrenden Bewegung auch deren Zerstörung (Defiguration). Hofmannsthal selbst bringt es auf den Punkt: Man müsse die „Formen beleben und töten“ (GW RA III 269). Dass dieser zweite Schritt, die De/Figuration, eigentlicher Fokus von Hofmannsthals Werken ist, erweist sich am Zusammenfall der formalästhetischen Auflösung, der Defiguration, und eines zuverlässig textimmanent erscheinenden ‚Unnennbaren‘ oder ‚Namenlosen‘ – dem Numinosen. Dieses Namenlose als das ebenso Unbegreifbare wie Ungreifbare ist besonders auffällig in Hofmannsthals Texten der Jahrhundertwende. Gerade diese Protagonisten weisen eine ungeheure Sensibilität für die eigene Repräsentationalität auf. Exemplarisch lässt sich diese Bewegung erneut an der Elektra verfolgen: Die Heldin zerfällt von Beginn des Stückes an in zwei dramatische Medien – in das Medium Wort und das Medium Körper. Das Wort dient der sprachgewaltigen, auf reines Zeichen-Sein festgelegten Elektra dazu, wechselseitig den begangenen Mord am Vater Agamemnon zu erinnern und den noch zu begehenden Rachemord an der Mutter Klytämnestra anzumahnen: „Es war mir alles/nur Merkzeichen, und jeder Tag war nur/ein Merkstein“ (GW D II 227) – darin ist sie lebendes Gedächtnis, Zeichen, Repräsentation. Ihr Körper hingegen ist ein der rationalen Sprachmacht zwar entgegenstehendes, allerdings nicht minder mächtiges Medium, in dem sich Elektras tierhaft anmutende, dionysische Rhetorik des Leibes manifestiert. Symptomatisch erliegt Elektra, nach Dialogen von luzider, apollinischer Klarheit, einem finalen dionysischen Hörrausch, der sie von der bis dahin so sprachmächtig beherrschten Kommunikation mit anderen Personen abschneidet. So fragt ihre Schwester Chrysothemis wiederholt: „Hörst du nicht, so hörst du denn nicht?“ (GW D II 233). In diesem Zustand nun bewegt sich Elektra „den Kopf zurückgeworfen wie eine Mänade“ und fordert nur mehr: „Schweig und tanze.“ Dieser Tanz gerät jedoch zu einem „namenlose[n] Tanz“ (GW D II 23) ausgerechnet derjenigen Figur, die nichts als Zeichen war. Das Namenlose ihres Tanzes verdeutlicht den Elektra nun unmöglichen Bezug zum semiologischen Raum der Repräsentation. In Elektra scheitern final zwei genuin verschiedene und doch beide über Repräsentation definierte Medien des Ausdrucks, das Wort und der Körper, an der hereinbrechenden Präsenz des Namenlosen: Sie „stürzt zusammen. [. . .] Elektra liegt starr“ (GW D II 234). Hofmannsthal schreitet mit seinen Texten den Weg narrativer Figuration in seiner Umkehrung ab und kehrt an ihrem Nullpunkt ein. Er dramatisiert ein per se ‚unnennbares‘ Phänomen: den Einbruch der numinosen Präsenz, die Agonie der bilderreichen Geschichte. Hofmannsthal nimmt das Numinose ernst, er lässt die Sprache Zug um Zug zurücktreten und gibt das zunächst narrativ bereitete Feld
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frei für präsentische Phänomene: Der defigurative Schlusspunkt korreliert dem „Namenlosen“ in Elektra wie dem „Namenlosen, das noch kommt und doch schon da ist“ (GW D II 485), in Ödipus und die Sphinx. Als vergleichbar finale Figur der Defiguration erscheint das „Nichts“ (GW D V 219) der Verausgabung in Ariadne auf Naxos und das „Unnennbare“ (GW D III 554) im Pentheus. Hofmannsthal stellt in der Instabilität, die das ebenso konstitutive wie konkurrenzielle Verhältnis von Figuration und Defiguration in seinen Texten bestimmt, ein stets zu wiederholendes Neuverhandeln von Wirklichkeit und Poesie zur Diskussion. Die Idee einer De/Figuration findet sich in Hofmannsthals Werk neben den Dramen ebenso in den christlich konnotierten Allegorien und Mysterienspielen (Das kleine Welttheater 1897, Jedermann 1905/10), in Essays, Reiseberichten und poetologischen Schriften (Gespräch über Gedichte 1903, Furcht 1907, Augenblicke in Griechenland 1907/8) sowie in Oper und Märchen (Die Frau ohne Schatten 1912/19). Hofmannsthals Texte suchen hier je in einem ersten Schritt den Dialog mit der bildenden Kunst, den antiken, philosophischen, soziologischen, mystischen, psychologischen sowie natürlich mit den literarischen Intertexten. Darüber hinaus demonstrieren sie aber in der Friktion von Theatralität, Intermedialität und Numinosem den iterativen Zerfall von poetischen Figurationen. Die sich in diesen Texten manifestierende Kultur der Defiguration nutzt damit gezielt das Verfahren der Intertextualität, um es noch einmal zu überbieten. Die Defiguration bildet die Tiefenstruktur von Hofmannsthals literarischen Texten: Es ist die Matrix seiner Textproduktion und die Reflexionsfigur seiner Poetologie.
Anmerkungen 1
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Hugo von Hofmannsthal und Josef Nadler in Briefen, mitgeteilt v.Werner Volke, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XVIII (1974), S. 37–88, hier S. 82. Brief von Hofmannsthal an Ruth Sieber Rilke, Rodaun 24. 4. 1927, in: Hugo von Hofmannsthal – Rainer Maria Rilke. Briefwechsel 1899–1925, hg. v. Rudolf Hirsch u. Ingeborg Schnack, Frankfurt/M. 1978, S. 149. Hugo von Hofmannsthal und Stefan Gruss. Zeugnisse und Briefe, Mitgeteilt v. Rudolf Hirsch, in: Karl K. Polheim (Hg.), Literatur aus Österreich – Österreichische Literatur, Bonn 1981, S. 190–241, hier 233. Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. v. Bernd Schoeller in Beratung m. Rudolf Hirsch, Frankfurt/M. 1979 (Zitate fortan im Haupttext belegt als:. GW D = Dramen, GW E = Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, GW RA = Reden und Aufsätze mit römischer Band- u. arabischer Seitenzahl) sowie: Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet v. Freien Deutschen Hochstift, hg. v. Rudolf Hirsch et al..a., Frankfurt/M. als: SW m. römischer Band- u. arabischer Seitenzahl. Überblicksdarstellungen zu Hofmannsthal: Elsbeth Dangel-Pelloquin, Hugo von Hofmannsthal. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2007; Hans-Albrecht Koch, Hugo von Hofmannsthal, München 2004; Werner Volke, Hugo von Hofmannsthal in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1997; Mathias Meyer, Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart 1993.
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Brief Hofmannsthals an Hermann Bahr: Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1900–1909, Wien 1937, S. 155. Aufzeichnung vom 27. März 1891, Arthur Schnitzler, Tagebuch 1879–1892, Wien 1987, S. 321. Hermann Bahr, Bildung. Essays, hg. v. Gottfried Schnödel, Weimar 2010, S. 68. Ursula Renner u. G. Bärbel Schmid (Hg.), Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen, Würzburg 1991. Vgl. Richard Alewyn, Hofmannsthals Wandlung, in: Über Hugo von Hofmannsthal, Göttingen 1967, v. a. S. 168–186. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, hg. v. Robert Boehringer, München u. Düsseldorf 1953, S. 13. Vgl. zum schwierigen Verhältnis zwischen George und Hofmannsthal: Leopold von Andrian, Erinnerungen an meinen Freund Hugo von Hofmannsthal, in: Ursula Prutsch u. Klaus Zehringer (Hg.), Leopold von Andrian. Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte, Wien 2003, S. 784–797; Ulrich Weinzierl, Hofmannsthal. Skizzen zu seinem Bild, Wien 2005, S. 108–119; Jens Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen u. Basel 1997. Peter Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, hg. v. Henriette Beese, Frankfurt/M. 11975. Jürgen Wertheimer, „Es lebt der große Pan“. Literarische Wandlungen eines mythologischen Themas, in: Neohelicon IV (1976), S. 315–329; Antonia Eder, „Das masslose Wühlen im Schmerz“. Nietzscherezeption in Hofmannsthals Elektra, in: Andreas Urs Sommer (Hg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin, New York 2008, S. 467–476. Ursula Renner, „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten, Freiburg i. Br. 2000, S. 152. Jaques Le Rider, Vom Museum der Bilder zur reinen Farbe, in: Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende, Köln u. Weimar 1997, S. 199–228. Angelika Jacobs, Den ‚Geist der Nacht‘ sehen. Stimmungskunst in Hofmannsthals lyrischen Dramen. In: HvH online. URL: http://www.navigare.de/hofmannsthal/Jac1.pdf[30/09/ 2006], 06. 05. 2012; Erstveröffentlichung in: Joachim Grage (Hg.): Literatur und Musik in der klassischen Moderne. Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien, Würzburg 2006, S. 107–134. Vgl. Christoph König, Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, Göttingen 2001. Hans Richard Brittnacher, Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de siècle, Köln 2001, S. 12. Jürgen Schutte u. Peter Sprengel (Hg.), Die Berliner Moderne 1885–1914, Stuttgart 1986. Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1922). Mit einem Vorwort zum Neudruck v. Gereon Wolters, Darmstadt 1987, S. 20. Hermann Bahr, Das kritische Wohlbehagen, in: Magazin für Literatur/Dramatische Blätter, 4. 7. 1891, S. 423. Goethes „individuum est ineffabile“, das Individuum ist unaussprechlich, ist für Hofmannsthals Denken ein ebenso zentraler wie neuralgischer Punkt, vgl. GW RA III, S. 449, 560, SW XVIII 51 u.ö. Die psychologische Lektüre Hofmannsthals rekonstruiert über die Nachlassbibliothek Michael Hamburger, Hofmannsthals Bibliothek. Ein Bericht, in: Euphorion 55 (1961), S. 15–76. Vgl. dazu Maximilian Bergengruen, Mystik der Nerven. Hugo von Hofmannsthals literarische Epistemologie des „Nicht-mehr-Ich“, Freiburg 2010; Antonia Eder, „L’amour et la haine“. Hysterie als poetologische Re-Mythisierung in Hofmannsthals Elektra, in: Marion George et al.
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(Hg.), Die Atriden. Literarische Präsenz eines Mythos, Dettelbach 2009, S. 125–142; Michael Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt/ M.1983; Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, Zürich 1985; Bernd Urban, Hofmannsthal, Freud und die Psychoanalyse. Quellenkundliche Untersuchungen, Frankfurt/M. 1978; Gotthart Wunberg, Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur, Stuttgart 1965. Vgl. Jean-Martin Charcot, Neue Vorlesungen über die Krankheit des Nervensystems, insbesondere über Hysterie, übers. von Sigmund Freud, Leipzig u. Wien 1886. Dieser Annahme zur ‚Lesbarkeit‘ v. a. hysterischer Symptome folgt auch Charcots deutscher Übersetzer Sigmund Freud. Bernhard Böschenstein, Hofmannsthal und die Kunstreligion um 1900, in: Wolfgang Braungart et al. (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. II. Um 1900, Paderborn 1998, S. 111–122. Einen Überblick der in diese Richtung argumentierenden Forschung zu Ein Brief gibt HansAlbrecht Koch, Hugo von Hofmannsthal, Darmstadt 1989, S. 131–134. Timo Günther, Hofmannsthal: Ein Brief, München 2002, S. 21, ähnlich argumentieren Walter Müller-Seidel, Wissenschaftskritik. Zur Entstehung der literarischen Moderne und zur Trennung der Kulturen um 1900, in: Christoph Jamme (Hg.), Grundlinien der Vernunftkritik, Frankfurt/M. 1997, S. 355–420, hier S. 371f., Wolfgang Riedel, Homo natura. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin; New York 1996. Antonia Eder, Pentheus’ Labyrinth. Autorität als Raum- und Textmodell in Hofmannsthals Pentheus-Fragment, in: Colloquium Helveticum 41 (2010), S. 87–105. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, 1, hg. v. Colli, Montinari, München 1999 (im Folgenden zit. Als KSA), hier S. 85. Gregor Streim, Das ‚Leben‘ in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal, Würzburg 1996, S. 57. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. II. Unzeitgemässe Betrachtung, KSA 1, S. 329. Nietzsche, Nutzen und Nachtheil, S. 252f. Nietzsche, Nutzen und Nachtheil, S. 331. Von neueren Interpretationen des Dramas seien genannt: Mathias Mayer, Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart, Weimar, 1993, S. 60; Karl Heinz Bohrer, „Die Wiederholung des Mythos als Ästhetik des Schreckens. Hugo von Hofmannsthals Nachdichtung von Sophokles‘ ‚Elektra‘“, in: ders., Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt/M.1994, S. 63–91; Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/M. 1995; Juliane Vogel, „Priesterin künstlicher Kulte. Ekstasen und Lektüren in Hofmannsthals ‚Elektra‘“, in: Hellmut Flashar (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation, Stuttgart; Leipzig 1997, S. 287–306; Michael Worbs, Mythos und Psychoanalyse in Hugo von Hofmannsthals ‚Elektra‘, in: Anz, Thomas (Hg.), Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz. Würzburg 1999, S. 3–16; Monika Meister, Die Szene der ‚Elektra‘ und die Wiener Moderne. Zu Hugo von Hofmannsthals Umdeutung der griechischen Antike, in: Henry Thoreau, Hartmut Köhler (Hg.), Inszenierte Antike – Die Antike, Frankreich und wir, Frankfurt/M. u. Bern 2000, S. 59–86; besonders instruktiv Timo Günther, Vom Tod der Tragödie zur Geburt des Tragischen. Hugo von Hofmannsthals ‚Elektra‘, in: DVJS 79 (2005), S. 96–130. Werner Frick, Die mythische Methode. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne, Tübingen 1998. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, KSA, Bd. 2, S. 465.
„Wüthende Welten aus bohrender Prosa“: Hofmannsthal als Autor des Fin de Siècle 39
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Antonia Eder, Der Pakt mit dem Mythos. Hugo von Hofmannsthals ‚zerstörendes Zitieren‘ von Bachofen, Freud, Nietzsche, Freiburg i. Br. 2013. Hans Ulrich Gumbrecht, Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos, in: Udo Friedrich u. Bruno Quast (Hg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin u. New York 2004, S. 1–19. Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal. Briefwechsel, hg. v. Willi Schuh, Zürich 1964, S. 18. Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal. Briefwechsel, S. 517.
Fred Lönker
Der frühe Musil Robert Musil, geboren am 6. November als Sohn des Ingenieurs und späteren Professors Alfred Musil und seiner Frau Hermine Bergauer in Klagenfurt, studierte nach dem Besuch der militärischen Bildungseinrichtungen in Eisenstadt und Mährisch-Weißkirchen Maschinenbau an der Technischen Hochschule in Brünn und machte dort 1901 sein Ingenieurexamen. Nach einem Pflichtjahr als Einjährig-Freiwilliger in Brünn (Oktober 1901 bis Ende September 1902) ging er als Diplom-Ingenieur nach Stuttgart. Der angehende Assistent war mit seiner Arbeit nicht ganz zufrieden, langweilte sich1 und begann die Arbeit an dem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Im Herbst 1903 zog Musil nach Berlin, um dort vor allem Philosophie und Psychologie zu studieren. Im März 1908 wurde er mit seiner Dissertation Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs zum Dr. phil. promoviert. Das Angebot einer Assistentenstelle an der Universität Graz schlug er 1908 ebenso aus wie eine Habilitationsmöglichkeit in Stuttgart. Ende 1910 erfolgte der Umzug nach Wien, wo Musil schließlich eine Stelle als Bibliothekar an der Technischen Hochschule antrat. Spätestens zu diesem Zeitpunkt stand für ihn fest, dass er als Schriftsteller leben wollte. Ende Oktober 1906 erschien der Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß.2 Er machte den Autor mit einem Schlage einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Zu verdanken hatte er diesen Erfolg vor allem Alfred Kerr, der in literarischen Dingen als höchste Instanz nicht nur Berlins galt. Musil habe „ein Buch geschrieben, das bleiben wird“,3 mit diesen Worten begann Kerr seine Besprechung, die am 21. 12. 1906 in der Berliner Zeitschrift Ta‘ erschien. Der Zögling Törleß, Sohn wohlhabender Eltern, wird im angesehenen Konvikt zu W. unterrichtet. Schon von Anfang an wird deutlich, dass es sich bei dem Protagonisten um eine hochsensible Natur handelt, die nicht so recht in das harte Leben des Instituts hineinpasst. Mit den beiden Mitzöglingen Beineberg und Reiting verbindet ihn eine eigentümliche Freundschaft. Heimlich treffen sich die drei in der sogenannten ,Roten Kammer‘ des Internats, einem abgelegenen Raum, in dem sie über ihre Phantasien und Zukunftswünsche sprechen. Mit Törleß´ Erlebnissen können die Freunde wenig anfangen: Immer wieder erscheinen ihm Dinge oder Ereignisse in einer ihn irritierenden Mischung aus Nähe und Ferne, in eins „unverständlich“ und „zum Greifen verständlich (GW II, S. 25).
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Der triste Alltag des Schullebens wird mit einem Schlage durchbrochen. Basini, ein Mitzögling, hatte Reiting Geld gestohlen und war von diesem überführt worden. Für den Bestohlenen wie auch für Beineberg ist dies eine willkommene Möglichkeit, ihre Phantasien von Macht und übernatürlichen Fähigkeiten in die Tat umzusetzen und Basini zu misshandeln und sexuell zu missbrauchen. Törleß ist von dem Geschehen zugleich fasziniert und abgestoßen. Zunächst noch fest davon überzeugt, dass ihn mit Basini nichts verbindet, lässt er sich eines Nachts von ihm verführen. Als schließlich die Schulleitung von den sich immer weiter steigernden Quälereien Beinebergs und Reitings erfährt, erhalten diese einen Verweis, Basini wird relegiert, Törleß verlässt das Internat. Im Zentrum des Romans steht zunächst die Törleß prägende Erfahrung zweier Welten, von denen die eine den vertrauten Ordnungen, die andere dagegen dem Bereich eines rohen ungezügelten Lebens anzugehören scheint. Dass der Protagonist aus einer in hohem Maße von Kultur und Konventionen bestimmten sozialen Schicht kommt, macht der Erzähler schon zu Beginn des Romans in einer fast ans Manierierte grenzenden Passage deutlich. Nach dem Besuch ihres Sohnes verabschieden sich die Eltern am Bahnsteig des kleinen Ortes: Frau Hofrat Törleß, dies war die Dame von vielleicht vierzig Jahren, verbarg hinter ihrem dichten Schleier traurige, vom Weinen ein wenig gerötete Augen. Es galt Abschied zu nehmen. Und es fiel ihr schwer, ihr einziges Kind nun wieder auf so lange Zeit unter fremden Leuten lassen zu müssen, ohne Möglichkeit, selbst schützend über ihren Liebling zu wachen. (GW II, S. 8) In kaum zu überbietendem Gegensatz dazu steht die andere Welt, die der Leser nur wenig später kennenlernt. Auf dem Rückweg zum Institut folgt Törleß seinen beiden Freunden Beineberg und Reiting zu der Prostituierten Božena. Eine Welt des Schmutzes und der dumpfen Sinnlichkeit tut sich auf: Fast nackte Kinder wälzten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab der Rock eines arbeitenden Weibes die Kniekehlen frei oder drückte sich eine schwere Brust straff in die Falten der Leinwand. Und als ob all dies sogar unter einer ganz anderen, tierischen, drückenden Atmosphäre sich abspielte, floß aus dem Flur der Häuser eine träge, schwere Luft, die Törleß begierig einatmete. (GW II, S. 17) Aber gerade diese Sphäre übt eine unwiderstehliche Verlockung auf den Protagonisten aus, Vorstellungen bedrängen ihn, in denen er selbst in diese Welt hineingezogen wird. Wenn sich dann bei Božena das Bild der Prostituierten wie von selbst mit dem seiner Mutter verbindet,4 dann ahnt Törleß plötzlich, dass es womöglich nur eine Welt gibt, eine Welt, die sich – ohne dass sich ein übergreifendes Gemeinsame angeben ließe – als verfeinerter Kultur ebenso darstellen kann wie als aller Kultur und Zivilisation vorausliegendes bloßes Leben.
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Die Basini-Handlung führt dieses Thema fort. Hier erfährt Törleß, wie schnell sich der Übergang zwischen beiden Wirklichkeiten vollziehen kann. Ihn interessiert die Frage, ob der Diebstahl und die sexuellen Erniedrigungen Basinis Selbstbild zerstört hätten und er dadurch ein Anderer geworden sei.5 Als Basini ihn nicht versteht und behauptet, Törleß würde in einer solchen ausweglosen Situation genau so handeln wie er, da weiß dieser plötzlich, daß ich, wenn ich einmal wirklich so handelte wie Basini, ebensowenig Außergewöhnliches dabei empfinden würde wie er. Dies ist das Eigentliche: mein Gefühl meiner selbst würde genau so einfach und von allem Fragwürdigen entfernt sein wie das seine . . . (GW II, S. 104f.) Damit ist eine der Fragen berührt, die Musil auch in seinen späteren Werken bis zum Mann ohne Eigenschaften beschäftigen werden: die Frage, ob es so etwas wie eine kontinuierliche Identität der Person gibt, eine Identität also, die sich auch dann noch durchhält, wenn die Person gegen für sie konstitutive Überzeugungen verstößt. Musil erweist sich hier als kritischer Schüler Ernst Machs. Der hatte in seinem 1886 erschienenen Werk Beiträge zur Analyse der Empfindungen die wirkungsmächtige These vertreten, es gebe keine sich durchhaltende Identität der Person. Das Ich – so die durch den Wiener Literaten und Literaturkritiker Hermann Bahr berühmt gewordene Formel – sei vielmehr „unrettbar“.6 Der Eindruck eines stabilen Ichs komme nur durch die Langsamkeit seiner kontinuierlichen Veränderung zustande.7 Die Verwirrungen des Zöglings Törleß lassen ein anderes Konzept erkennen. Sie zeigen auf der einen Seite am Beispiel Basinis einen nicht kontinuierlichen, sondern abrupten Wechsel der Person, auf der anderen Seite deuten sie aber eine Identität an, die völlig unabhängig von solchen Veränderungen ist. Diese Identität meint nicht die Konstanz eines Grundbestands irgendwelcher Anschauungen oder Überzeugungen, sondern die eines ursprünglichen ‚Gefühls meiner selbst‘. Musil lässt seinen Protagonisten den plötzlichen Wechsel seiner personalen Identität buchstäblich am eigenen Leibe erfahren. Dabei verbindet er dieses Geschehen mit dem schon zu Beginn eingeführten Thema der doppelten Wirklichkeit. Glaubt Törleß in der Verführungsszene noch, sein Selbstbild durch den Gedanken „Das bin nicht ich!“ (GW II, S. 108) ‚retten‘ zu müssen, so konstatiert er später, dass ihn dieses Erlebnis kaum berührt habe.8 Zugleich aber wird ihm bewusst, dass er nun auf der Ebene der Wirklichkeit mit jener anderen Welt in Berührung gekommen war, der er sich bei Božena nur phantasierend überlassen hatte.9 Es sind diese rational nicht rekonstruierbaren Übergänge, die Musil interessieren, also die Frage nach dem übergreifenden Ganzen, das Kontinuität und Einheit auch dort noch garantiert, wo die Ordnungen der Wirklichkeit zerbrochen sind. Dabei ist es ganz gleich, ob es um die Gegensätze zweier Welten geht oder um verschiedene Zuständen einer Person. Die prägnanteste Formulierung für dieses Problem findet Törleß ausgerechnet in einem Bereich, der doch eigentlich
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unberührt sein sollte von allem Irrationalen: in der Mathematik. Im Zusammenhang der Rechnungen mit imaginären Zahlen formuliert er gegenüber Beineberg sein Problem so: In solch einer Rechnung sind am Anfang ganz solide Zahlen, die Meter oder Gewichte oder irgend etwas anderes Greifbares darstellen können und wenigstens wirkliche Zahlen sind. Am Ende der Rechnung stehen ebensolche. Aber diese beiden hängen miteinander durch etwas zusammen, das es gar nicht gibt. Ist das nicht wie eine Brücke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind und die man dennoch so sicher überschreitet, als ob sie ganz dastünde? Für mich hat so eine Rechnung etwas Schwindliges; als ob es ein Stück des Weges weiß Gott wohin ginge. Das eigentlich Unheimliche ist mir aber die Kraft, die in solch einer Rechnung steckt und einen so festhält, daß man doch wieder richtig landet. (GW II, S. 74). Die Probleme, die Törleß hier mit der Mathematik hat, waren sicher nicht die des Diplom-Ingenieurs Robert Musil. Sie bieten vielmehr eine Art naive Fassung eines in Wahrheit zugleich wissenschaftstheoretischen und anthropologischen Problems, das Musil einige Jahre später in seinem Aufsatz Der mathematische Mensch (1913) erörtert.10 Dort heißt es im Zusammenhang der zeitgenössischen Grundlagenkrise der Mathematik: [. . .] die Pioniere der Mathematik hatten sich von gewissen Grundlagen brauchbare Vorstellungen gemacht, aus denen sich Schlüsse, Rechnungsarten, Resultate ergaben, deren bemächtigten sich die Physiker, um neue Ergebnisse zu erhalten, und endlich kamen die Techniker, nahmen oft bloß die Resultate, setzten neue Rechnungen darauf und es entstanden die Maschinen. Und plötzlich, nachdem alles in schönste Existenz gebracht war, kamen die Mathematiker – jene, die ganz innen herumgrübeln, – darauf, daß etwas in den Grundlagen der ganzen Sache absolut nicht in Ordnung zu bringen sei; tatsächlich, sie sahen zuunterst nach und fanden, daß das ganze Gebäude in der Luft stehe. Aber die Maschinen liefen! (GW II, S. 1006) Als Törleß gegen Ende des Romans vor dem versammelten Lehrerkollegium zu den skandalösen Vorfällen im Institut Stellung nehmen soll, da versucht er auch die Eigentümlichkeiten seines Erlebens in Worte zu fassen. Auf den Hinweis des Mathematiklehrers, Törleß habe sich gerade mit solchen Dingen beschäftigt, „welche gewissermaßen eine Lücke in der Kausalität unseres Denkens [. . .] zu bedeuten schienen“, da antwortet dieser, er habe „an diesen Stellen“ den Eindruck gehabt, wir könnten mit unserem Denken allein nicht hinüberkommen, sondern bedürften einer anderen, innerlicheren Gewißheit, die uns gewissermaßen hin-
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überträgt. Daß wir mit dem Denken allein nicht auskommen, fühlte ich auch an Basini. (GW II, S. 135.) Damit wird die Bedeutung von Rationalität reduziert. Das bewusste Dasein bewegt sich vielmehr immer wieder in Bereichen, die ihm nicht rational zugänglich sind und in denen es in schwer beschreibbarer Weise von Annahmen ausgeht, für die es gar keine einsichtige Begründung gibt. Das mag zunächst nur wie eine triviale Einsicht wirken. Die entscheidende Wendung besteht denn auch erst darin, dass diesem ‚Irrationalen‘ eine geradezu konstitutive Bedeutung für die Möglichkeit des bewussten Daseins zugesprochen wird: Es ist in seinem Bestand auf eine Wirklichkeit angewiesen, die sich nur in bestimmten Zuständen des Erlebens offenbart, die aber keiner rationalen Einsicht zugänglich ist. Diese Überlegungen führen Törleß auch zu einer Neuformulierung früherer Gedanken. Was in den Gesprächen mit seinen Freunden als unüberbrückbarer Gegensatz von unmittelbarem Erleben und begrifflichem Bestimmen auftauchte, das überführt er nun in die Unterscheidung zwischen lebenden und toten Gedanken.11 Während es sich bei toten Gedanken um gesichertes Wissen handelt, das aus dem Erleben isoliert und allein nach seinem Wahrheitsgehalt bewertet wird, erfassen lebende Gedanken in eins die Sache und das Erleben dessen, der diese Gedanken hat.12 Musil wird diesen Gegensatz später in immer neuen Modifikationen etwa als Unterschied zwischen ratioïdem und nicht-ratioïdem Bereich beschreiben oder – in wieder anderer Wendung – im Rahmen der Unterscheidung von Abhandlung und Essay behandeln.13 Musil hat in der Einschätzung seines Romans verschiedene Positionen eingenommen. Zwar weist er immer wieder auf die Bedeutung des Psychologischen hin,14 auf der anderen Seite aber hat er sich immer wieder entschieden dagegen gewehrt, den Gehalt seiner Schriften auf Psychologisches reduziert zu sehen.15 Am deutlichsten geschieht dies in seinem Essay ‚Über Robert Musils Bücher‘. Zu den ‚Verwirrungen des Zöglings Törleß‘ heißt es dort: Der Sechzehnjährige [. . .] ist eine List. Verhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel andres kompliziert sind, was hier ausgeschaltet bleibt. [. . .] die Darstellung eines Unfertigen, Versuchenden und Versuchten ist natürlich nicht selbst das Problem, sondern bloß Mittel, um das zu gestalten oder anzudeuten, was in diesem Unfertigen unfertig ist. Sie und alle Psychologie in der Kunst ist nur der Wagen, in dem man fährt; wenn Sie von den Absichten dieses Dichters nur die Psychologie sehen, haben Sie also die Landschaft im Wagen gesucht. (GW II, S. 996f.)16 Die Antwort auf die Frage, was denn in diesem Vergleich unter der Landschaft zu verstehen sei, geben die im Mai 1911 unter dem Titel Vereinigungen erschienenen Erzählungen Die Vollendung der Liebe und Die Versuchung der stillen Veronika. Sie
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zeigen, dass es dem Autor um eine literarische Anthropologie geht, d. h. um den Versuch, essentielle Merkmale eines anthropologischen Konzepts literarisch zu vergegenwärtigen. Das bedeutet nicht (oder allenfalls zu Teilen), dass Literatur Anthropologisches eigens thematisch macht, es sollte vielmehr in der poetischen Sprache selbst gegenwärtig werden. Die Konsequenz war eine Schreibweise, deren Komplexität nicht nur in der deutschen Literatur ihresgleichen sucht. Musil selbst kommentiert seine beiden Erzählungen so: „Was schließlich entstand: Eine sorgfältig ausgeführte Schrift, die unter dem Vergrößerungsglas (aufmerksamer, bedachtsamer, jedes Wort prüfender Aufnahme) das Mehrfache ihres scheinbaren Inhalts enthielt.“17 Es ist diese Schreibweise, die dem Verstehen immer wieder kaum überwindbare Schwierigkeiten entgegensetzt. Sie scheint sich so in Vergleichen und Bildern zu verlieren, dass das möglicherweise Gemeinte immer wieder aus den Augen gerät.18 Dem entsprach die öffentliche Reaktion, die mit wenigen Ausnahmen in entschiedener Ablehnung bestand.19 Die Handlung der Erzählungen lässt sich in wenigen Sätzen wiedergeben. In der Vollendung der Liebe macht sich Claudine, die – nach einem wahllos promiskuitiven Leben – in ihrer Ehe ein Höchstmaß an Glück und Verstehen erfährt, auf den Weg zu ihrer Tochter Lilli, die in einem Internat untergebracht ist. Während der Bahnfahrt lernt sie einen namenlos bleibenden „Ministerialrat“ kennen, mit dem sie ihren Mann betrügt und darin zugleich die Vollendung der Liebe erlebt. Musil geht es natürlich nicht um eine triviale Ehebruchsgeschichte, in der die ‚Schuldige‘ sich in eine abwegigen Rechtfertigung ihres Tuns verirrt. Sein Ziel ist es vielmehr, die inneren Zustände und Veränderungen der Protagonistin so zu konstruieren, dass das zunächst völlig Abwegige eine interne Plausibilität gewinnt. Dies geschieht weder durch die Konstruktion eines labilen Charakter noch dadurch, dass zwingende psychische Kausalitäten erzeugt werden. Vielmehr will Musil zeigen, wie Handlungsmotive durch eine stetige Änderung ihrer werthaften Besetzung schließlich in ihr Gegenteil umschlagen.20 Das bedeutet in der ‚Vollendung‘, dass etwa der Wert der Treue abhängig ist von einem nie vollständig gegenwärtigen Ganzen von anderen Motiven, Werten, Einsichten oder etwa gefühlsbedingten Erlebensperspektiven. Es geht Musil dabei vor allem um die Formen, in denen sich solche inneren Zustände (die allenfalls zu Teilen dem Bewusstsein zugänglich sind) zeigen und wie sie erlebt werden. Im Mann ohne Eigenschaften lässt Musils seinen Helden Ulrich einen solchen Zusammenhang auf der Ebene des ausdrücklichen Wissens formulieren: Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur erschienen ihm [Ulrich] abhängig von den Umständen, die sie umgaben [. . .], mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten. (GW I, S. 250).
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Musil stellt die Entwicklung seiner Protagonistin Claudine deshalb so dar, dass ihr konkretes Erlebnis fast permanent von inneren Vorgängen begleitet wird, über die sie nicht verfügt. Diese Prozesse werden vor allem durch ein immer erneut variiertes Leitmotiv zur Anschauung gebracht. Bereits die Anfangsszene steht in seinem Zeichen: Der Moment höchster Nähe und höchsten Glücks, den Claudine und ihr Mann hier erleben, wird im Bild des Kristalls vergegenwärtigt: Es war jenes Stillstehen und dann leise Senken, wie wenn sich plötzlich Flächen ordnen und ein Kristall sich bildet . . . Um diese beiden Menschen, durch die seine Mitte lief und die sich mit einemmal durch dieses Atemanhalten und Wölben und Um-sie-lehnen wie durch Tausende spiegelnder Flächen ansahen und wieder so ansahen, als ob sie einander zum erstenmal erblickten . . . (GW II, S. 157 8) An den Varianten dieses Motivs lassen sich die seelischen Veränderungen Claudines ablesen. Erscheint der Kristall in der Anfangsszene als Inbegriff einer die Liebenden verbindenden Einheit, so als (kristalline) Schneeluft oder als tauender Schnee dort, wo sich jene Einheit aufzulösen beginnt.21 Es sind gerade diese Claudine zum großen Teil verborgenen Veränderungen ihres Erlebenshorizonts, die für ihre Verwandlung verantwortlich sind. Sie erscheint so über große Strecken nicht als Subjekt ihres Tuns, sondern als eine Gestalt, die sich dem, was mit ihr geschieht, mehr oder weniger widerstandslos überlässt. Die damit verbundenen Veränderungen ihres Selbstgefühls sind wesentlich durch Körpererfahrungen bestimmt. Deutlich wird dies schon in der Bahnhofsszene, die Musil fast unmittelbar an ein inniges, von großem Vertrauen geprägtes Gespräch der Protagonistin mit ihrem Mann anschließt. Dieses Gespräch handelte von einer vor allem für Claudine schmerzlichen Erfahrung. Trotz aller Nähe und Vertrautheit hatte sie ein Gefühl der Fremdheit zwischen sich und ihrem Mann gespürt, ein Gefühl, das trotz aller Versuche, den Anderen zu verstehen, geblieben sei: Und ich traute mich nicht, dich zu bitten, daß du mich lassen solltest, denn in Wirklichkeit war es ja nichts, ich war dir ja nah in Wirklichkeit, und doch war es, wie ein undeutlicher Schatten war es zugleich, als könnte ich fern von dir und ohne dich sein. (GW 2, S. 159) Was hier wie ein typisches, wenn auch auf höchstem Niveau entfaltetes Thema eines Eheromans erscheint, formuliert in Wahrheit den Ausgangspunkt beider Novellen: die Erfahrung einer unüberwindbaren Fremdheit des geliebten Anderen. Sie hat ihren Grund nicht einer besonderen Ehekonstellation, sondern in der Verfassung des bewussten Daseins. Dieses Dasein ist durch eine Struktur bestimmt, die für Musil geradezu den Charakter eines anthropologischen Verhängnisses hat: die Struktur der Subjektivität. Subjektsein impliziert die Unterscheidung zwischen ihm selbst und dem, was ihm begegnet. Auch die Liebenden sind dazu verurteilt,
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einander Andere zu bleiben. Die Struktur der Subjektivität führt so zur „absolute [n] Einsamkeit des Menschen“22. Aus solcher anthropologischen Deutung dieses subjektivitätstheoretischen Sachverhalts ergibt sich das Thema der beiden Erzählungen: Ihre Protagonistinnen sehnen sich danach, die Trennung vom Anderen zu überwinden. Bei Claudine führt dies zu einer paradoxen Bewegung, die gerade über die Trennung von ihrem Mann zur Vereinigung mit ihm führt. Ihre Verwandlung beginnt, als sie am Bahnsteig auf den Zug wartet. Dort wird sie „plötzlich leise von einem Gefühl berührt [. . .], das sie, wie es so halb und verschwindend vorbeitrieb, dunkel und fern und doch in fast leibhafter Gleichheit an jenen beinahe vergessenen Lebensabschnitt erinnerte.“ (GW II, S. 160) Dieses Körpergefühl löst einen Prozess aus, dessen ,Logik‘ das weitere Geschehen bestimmt. Aus der Claudine, die der Leser zu Beginn der Erzählung als liebende Ehefrau kennen gelernt hat, wird jene ,alte‘ Claudine, deren Leben vom Begehren ihres Körpers bestimmt war. Dieses Begehren ergreift nun erneut von Claudine Besitz. Der Prozess, in dem in dem dies geschieht, bestimmt große Teile der Erzählung. Seine Darstellung wird unterbrochen von Erinnerungen Claudines an Spaziergänge mit ihrem Mann, an gemeinsame Erfahrungen des Glücks, aber auch solche der Fremdheit. Auch diese Erinnerungen haben den Sinn, die leitenden anthropologischen Vorstellungen der Vereinigungen zu vergegenwärtigen. Zu ihnen gehört neben der Subjektivitätsstruktur vor allem die Überzeugung von der Kontingenz jedes individuellen Daseins. Als Claudine sich in ihrer Pension auf den Besuch des Internats vorbereitet, heißt es: [. . .] da befiel es sie im geheimen: irgendwo unter diesen [den Lehrern, denen Claudine in der Schule begegnet] lebt ein Mensch, ein unpassender, ein anderer, aber man hätte sich ihm noch anpassen können und man würde nie etwas von dem Ich wissen, das man heute ist. [. . .]. Und da durchfuhr sie zum erstenmal seit ihrer Liebe der Gedanke: es ist Zufall; durch irgendeinen Zufall wurde es wirklich und dann hält man es fest. (GW II, S. 187f.) In dem anthropologischen Konzept, das im Hintergrund der Vollendung der Liebe steht, gibt es kein Subjekt, das sich selbst zu seinem Handeln bestimmt und in ihm wirklich wird. Die Kontinuität des Lebens ist nicht Ausdruck eines mehr oder weniger selbstbestimmten Daseins, sondern bloßer Schein, Produkt permanenter Sinnproduktion, die nur eine Aufgabe hat: die bloße Zufälligkeit des Daseins zu verdrängen. Das Leben „irgendeine bloß zusammenhängende Linie [. . .]; etwa wie wenn man ohne Aufhören spricht und sich vortäuscht, dass jedes Wort zum vorherigen gehört und das nächste fordert [. . .].“(GW II, S. 185) Unverkennbar steht hier Friedrich Nietzsche im Hintergrund. So entspricht seine etwa in der Götzen-Dämmerung formulierte Kritik an Vorstellungen wie Ich, Subjekt, Wille etc. genau dem Erleben Claudines. Das Ich oder Subjekt ist eine bloße Fiktion, entstanden aus der Kausalitätsvorstellung, die jedem Geschehen eine Ursache oder einen Täter unterschiebt. Das Handeln ist nicht Folge von
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Entscheidungen und Motiven, die der inneren Einsicht zugänglich sind, sondern in Wahrheit sind beide, Entscheidung und Motiv, nichts anderes als das Ergebnis einer nachträglichen ‚Logifizierung‘.23 Der nur scheinbaren Identität des Ich und der Kontingenz des bewussten Daseins wird die Identität des Körpers gegenübergestellt. Das mag auf den ersten Blick überraschen, ist doch der Körper in der Vollendung gerade dadurch definiert, dass sein Begehren nicht an eine bestimmte Person gebunden, sondern völlig apersonal ist. Dieses Begehren wird aber in der Vollendung mit einem Gefühl verbunden, das erneut die anthropologische Intention der Erzählung deutlich macht. Als Claudine angesichts des Ministerialrats die „Angst [. . .] vor der schrecklich auseinanderklaffenden Zufälligkeit alles dessen, was man tut“ (GW II, S. 185) spürt, erlebt sie wenig später in ihrem Körper eine Art Gegenbewegung: „Sie spürte sein Gefühl von sich, das, näher als alles andere, um sie geschlossen war [. . .]“, und „starrte“ „in die Möglichkeit [. . .], daß sie sich, noch wenn sie in ihrem Körper das sie Zerstörende erlitte, durch ihn als sie selbst empfinden würde [. . .].“(GW II, S. 186) Wie schon im Fall Ernst Machs greift Musil auch hier auf ein philosophisches Modell zurück, um ihm eine andere Wendung zu geben. Er überträgt das seit Kant immer wieder thematisierte Modell des Selbstbewusstseins, in dem sich das Subjekt reflektierend auf sich selbst zurückwendet, auf den Körper. Dies geschieht so, dass an die Stelle eines ausdrücklichen Wissens, das ein Subjekt von sich gewinnt, nun ein Gefühl tritt, das der Körper von sich hat (gemeint ist also nicht das Gefühl, das Claudine von ihrem Körper hat!). Wenn es aber der Körper ist, durch den Claudine sich „als sie selbst empfinden“ würde, dann wird er zu einer letzten Identitätsinstanz, die vollständig unabhängig von allen Veränderungen der Person ist. Damit wird auch deutlicher, was es mit Claudines promiskuitiver Vergangenheit auf sich hat. Die Rede von „irgendwelche[n] Männer[n]“, denen sie sich bedingungslos ausgeliefert hatte, verweist auf ein sexuelles Erleben, das gerade wegen seiner gänzliche Unpersönlichkeit dem Körper – und dadurch vermittelt auch Claudine – die Möglichkeit einer alle Subjektivität überschreitenden Entgrenzung gibt. Dieser Rückgang in den Bereich des bloß Lebendigen ist in ihrer Ehe nicht möglich, weil sie gerade durch ein Höchstmaß an personaler Liebe bestimmt ist. Zugleich aber vermittelt das anonyme sexuelle Erleben das Gefühl einer ursprünglichen Einheit mit sich, die nicht mehr von den Bedingungen und Kontingenzen der Wirklichkeit abhängt. Diese durch den Körper vermittelte Erfahrung wird in der Schlussszene in einen vorher nur angedeuteten Zusammenhang eingeordnet. Erst durch ihn wird die Vorstellung einer Vollendung der Liebe in der Untreue verständlich. Als sich Claudine dem Ministerialrat hingibt, ist ihr als ob sie an etwas dächte, das sie einmal im Frühling empfunden hatte: dieses wie für alle da sein können und doch nur wie für einen. Und ganz fern, wie Kinder von Gott sagen, er ist groß, hatte sie eine Vorstellung von ihrer Liebe. (GW II, S. 193f )
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Im Hintergrund steht hier eine pantheistische Vorstellung. Dadurch, dass Musil seine Protagonistin immer mehr ihr Subjektsein verlieren lässt, wird sie empfänglich für ein Erleben, in dem sie die Welt nicht mehr als Anderes ihrer selbst erfährt, sondern umgekehrt als ein auch sie Übergreifendes. Dieses Ganze hat die Gestalt eines Liebeszusammenhangs, der alles Lebendige miteinander verbindet und so auch Claudine und ihre Liebe in sich begreift. Der Versuchung der stillen Veronika waren mehrere Versuche und Fassungen vorausgegangen, von denen eine unter dem Titel Das verzauberte Haus Ende 1908 in Franz Bleis Zweimonatsschrift Hyperion veröffentlicht wurde.24 Sie enthält eine ganze Reihe von Partien, die mehr oder weniger wörtlich in die endgültige Fassung übernommen wurden, zeigt aber auch deutliche Unterschiede in Schreibweise und Inhalt. So dominiert zwar schon hier eine personale Perspektive, die hochkomplexe Bewusstseinsprozesse zu vergegenwärtigen vermag, am Anfang und am Ende findet sich aber noch eine deutlich auktorial markierte Erzählhaltung. Die Erzählung beginnt – aus der Erinnerung berichtet vom Oberleutnant Demeter Nagy – mit dem Abschied eines von Viktorias (so der Name von Veronikas ‚Vorgängerin‘) Zurückweisung enttäuschten namenlosen Mannes und endet mit einer sexuellen Begegnung der Protagonistin mit Demeter. Diese Szene entfällt in der Endfassung auch deshalb, weil in ihr Veronikas Ablehnung der Sexualität noch radikaler gefasst und zudem – mindestens ebenso wichtig – ausführlich hergeleitet wird. Diese zweite Erzählung der Vereinigungen setzt das Thema der Vollendung fort. Allerdings geschieht dies gleichsam unter umgekehrtem Vorzeichen. Zwar geht es auch hier um die Frage, wie die mit dem Ich-Bewusstsein verbundene Einsamkeit des Menschen überwunden werden kann. Während aber die Vollendung der Liebe die paradoxe Form einer Sexualität erprobt, die in ihrer gänzlich anonymen Entgrenzung gleichwohl eine personale Beziehung in sich einschließt, ist es in der Versuchung gerade die Sexualität, die jegliche wirkliche Nähe verhindert. Auch hier ist das äußere Geschehen gegenüber der Darstellung innerer Vorgänge auf das Notwendigste reduziert. Veronika und Johannes, so viel lässt sich festhalten, leben zusammen mit Demeter und einer Tante auf einem offenbar abgelegenen Gutshof. Auf eine Art Prolog, in dem eine männliche und eine weibliche Stimme sich noch vergeblich „ineinander verschlingen“ (GW II, S. 194) wollen, folgt ein Gespräch zwischen den beiden Protagonisten. Johannes ist auf der Suche nach einer Erfahrung, in der die Fremdheit der Welt durch eine Offenbarung sinnhafter Transzendenz aufgehoben wäre. Veronika lehnt diese offenkundig religiös inspirierte Vorstellung ab. Sie sieht den Grund für die auch von ihr erfahrene Fremdheit zwischen sich und dem Geliebten vielmehr in der Unmöglichkeit, das alles Erleben begleitende Ichbewusstsein aufzuheben. Sie möchte einen Zustand, „wo man sich ganz in dem auflöst, was man einander ist, und nicht außerdem noch fremd dabeisteht und zuhört . . .“. (GW II, S. 201) Eine solche Vereinigung scheint ihr mit Johannes möglich zu sein, allerdings dürfte er ihr darin nicht als Mann begegnen. Die Faszination, die der Geliebte auf sie ausübt, hat ge-
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rade ihren Grund darin, dass sie in ihm etwas Unmännliches und Weiches fühlt. Immer wieder versucht sie, diese für ihren Geliebten wie für sie selbst ganz im Vagen bleibende Vorstellung zu erklären, bis sie sich endlich – nach der endgültigen Trennung von Johannes – an ein Jugenderlebnis erinnert. Sie hatte als junges Mädchen die weichen Haare ihres Bernhardinerhundes geliebt. Als sie eines Tages im Wachtraum eine naturhafte Einheit mit dem neben ihr liegenden Tier gespürt hatte, wurde diese für sie beglückende Erfahrung plötzlich zerstört, als sie den Phallus des Hundes bemerkte. Dieses lange vergessene Erlebnis strukturiert Veronikas Vereinigungsphantasien. Hat die Vorstellung des Weichen, Widerstandslosen und Unpersönlichen ihr ‚Vorbild‘ im Fell des Hundes, so das Harte und Aggressive, das sie damals aus ihrer Selbstvergessenheit herausgerissen hatte, in dessen sexueller Erregung. Der sexuelle Akt wird für Veronika damit zum Ausdruck einer gewaltsamen, äußersten Entgegensetzung des Männlichen und Weiblichen. Eine Vereinigung wäre für sie nur dann möglich, wenn sie mit Johannes in einen Erfahrungsraum gelangen könnte, in dem nicht nur alle Sexualität, sondern auch alle Formen des Selbstseins aufgehoben sind. Als Johannes diese Vorstellungen nicht versteht und sein sexuelles Begehren zeigt, kommt es zum Abschied. In der folgenden Nacht imaginiert Veronika eine Begegnung mit dem tot geglaubten Geliebten, in der sich ihre Vorstellungen zu erfüllen scheinen: eine „geheimnisvolle geistige Vereinigung“ (GW II, S. 220), die verbunden ist mit einer ihren ganzen Körper ergreifenden sinnlich-sinnhaften Erfahrung.25 Als Veronika jedoch die Nachricht erhält, dass der Totgeglaubte am Leben ist und seinen Weg selbst finden will, verfällt sie in einen psychotischen Zustand, in dem ihr die Welt von einer entfesselten Sexualität erfüllt zu sein scheint. Wie in der Vollendung der Liebe wählt Musil auch hier eine Schreibweise, die durch eine Fülle von Bildern und Vergleichen für eine Präzisierung des inneren Geschehens sorgen soll, und auch hier findet sich eine (nun in sich gedoppelte) Leitmotivik, die in vielfach variierten Bildern des Weichen und Harten sowohl die inneren Erfahrungen Veronikas als auch ihr Erleben der Außenwelt strukturiert. Die Bedeutung dieser Motive ist keineswegs auf den Bereich des Sexuellen beschränkt. Zwar ist etwa das Harte auch mit dem Phallischen assoziiert, es taucht aber im Zusammenhang des Aggressiven ebenso auf wie in dem der Fremdheit26 oder allgemein in dem des Subjektseins oder der Selbstbehauptung. Dem entspricht, dass das Weiche umgekehrt einem Bereich zugeordnet ist, der durch Merkmale wie Widerstands- und Subjektlosigkeit bestimmt ist. So erlebt Veronika Johannes etwa in seiner demütigen Reaktion auf den Faustschlag Demeters „ganz unpersönlich, ganz bis auf irgendeine nackte, warme Weichheit ausgekleidet“ (GW II, S. 199), ein Erleben, das sich in ihren nächtlichen Vereinigungsphantasien in der Vorstellung einer „wollüstige[n] Weichheit und ein[em] ungeheure[n] Nahesein“27 wiederholt. Dass sich Funktion und Bedeutung dieses Motivs und seiner Varianten hier ebenso wenig ins Begriffliche übersetzen lassen wie die Kristallmotivik in der Vollendung der Liebe ist kein Zufall.28 Es ist vielmehr gerade diese nicht ‚übersetz-
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bare‘, sich in einer Fülle von Bildern und Vergleichen bewegende Schreibweise, die für Musils poetische Anthropologie von entscheidender Bedeutung ist. Sie ermöglicht die Darstellung von inneren Zuständen, deren Gehalt größer ist als das, was die Protagonisten von ihnen wissen könnten. Das bedeutet näher: Sie verfügen auch deshalb nicht über die Interpretamente, die ihrem Welt- und Selbsterleben zugrunde liegen, weil diese vorbegrifflich sind. Über sie zu verfügen, würde überdies einen Standpunkt voraussetzen, in dem die Protagonisten die Perspektivität ihres Bewusstseins überschritten hätten. In dem 1918 veröffentlichen Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters findet sich die Formulierung, Aufgabe des Dichters sei es, den „inneren Menschen zu erfinden“ (GW II, S. 1029). Musil hatte Ähnliches schon in seinen frühere Arbeiten wie etwa Das Unanständige und Kranke in der Kunst29, Penthesileade,30 oder Analyse und Synthese (GW II, S. 1008) formuliert. Das bedeutete sowohl Abkehr vom Programm eines gesellschaftskritischen Realismus als auch vom psychologischen Schreiben. Es ging Musil nie um die Konzeption von Figuren, deren psychologische Verfassung um ihrer selbst interessant sein könnte. Ihn interessierten nicht konkrete Individuen, sondern gleichsam abstrakt die Mannigfaltigkeit der Merkmale und die Möglichkeit, aus ihnen Ganzheiten zu bilden. Dazu gehören mögliche Handlungsmotive (genauer: Typen solcher Motive) ebenso wie wertbesetzte Vorstellungen oder Varianten des Erlebens. All dies konnte zu unendlichen Varianten zusammentreten; was davon Wirklichkeit werden würde, war Sache des Zufalls. In dem Entwurf eines Briefes an Franz Blei heißt es: wichtig sei für ihn nicht „das Schicksal eines Individuums, sondern die charakterisierte Möglichkeit einer Art“.31 Für den Mann ohne Eigenschaften wird dieses künstlerische Verfahren zu einer Lebenshaltung. Im vierten Kapitel, das den bezeichnenden Titel „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben“ trägt, heißt es dazu: Wer ihn [den Möglichkeitssinn] besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.32
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Vgl. Robert Musil, Gesammelte Werke, hg. v. Adolf Frisé. Bd. 2: Prosa und Stücke, Kleinere Prosa, phorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, Reinbek b. Hamburg 1978, S. 954 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: GW). Zu den biographischen Details vgl. Karl Corino, Robert Musil. Eine Biographie, Reinbek b. Hamburg 2003, hier S. 265. Alfred Kerr, Robert Musil, in: Werke in Einzelbänden,.hg. v. Hermann Haarmann und Günther Rühle. Bd. IV: Sucher und Selige, Moralisten und Büßer. Literarische Ermittlungen, hg. v. Margret Rühle und Deborah Vietor-Engländer, Frankfurt/M. 2009, S. 150–157, hier S. 150. „Törleß sättigte sich mit den Augen an Božena und konnte dabei seiner Mutter nicht vergessen; durch ihn hindurch verkettete die beiden ein Zusammenhang [. . .].“ (GW II, S. 33) Vgl. GW II, S. 104. Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Nachdr. der 9. Aufl. m. e. Vorw. zum Neudr. v. Gereon Wolters, Darmstadt 1991, S. 20; vgl. Hermann Bahr, Dialog vom Tragischen. Dialog vom Marsyas. Josef Kainz, hg. v. Gottfried Schnödl, Weimar 2010, S. 45. Vgl. Ernst Mach, Analyse der Empfindungen, S. 3. Vgl. GW II, S. 111f. Vgl. die folgende Passage: „Durch eine Überraschung, ein Mißverständnis, ein Verkennen des Eindruckes wurden die verschwiegenen Verstecke, in denen sich alles Heimliche, Verbotene, Schwüle, Ungewisse und Einsame von Törleß‘ Seele gesammelt hatte, aufgestoßen und diesen dunklen Regungen die Richtung gegen Basini erteilt. [. . .] Das riß ihnen mit einem Schlage ein Tor zum Leben auf [. . .].“ (GW II, S. 109f.) Im Mann ohne Eigenschaften wird es unter Stichworten ‚hypothetisches Leben‘ und ‚Essay‘ behandelt (vgl. GW I, S. 249f.). Vgl. GW II, S. 136f. Vgl. auch die Überlegungen zur Fortsetzung des Mann ohne Eigenschaften GW II, S. 1919f. Vgl. Olav Kremer, Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry, Berlin 2009, S. 119–133. Vgl. etwa den 1918 erschienenen Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (GW II, S. 1025– 1030, hier S. 1026–1029). Vgl. GW II, S. 950 Mit psychologischen Aspekten des Romans beschäftigen sich z. B. die Arbeiten von Jaqueline Magnou. Vgl. etwa: ‚Törleß‘ – Eine Variation über den Ödipus-Komplex?. Eine Bemerkung zur Struktur des Romans, in: Robert Musil, hg. v. Renate von Heydebrand, Darmstadt 1982, S. 296–318 [= Wege der Forschung Bd. 588] u. Zwischen Mach und Freud: Ich-Problematik in den Frühwerken Robert Musils., in: Musil-Forum 7 ( 1981), S. 69–76. Zu psychoanalytischen Deutungen der Musilschen Werke allgemein vgl. Oliver Pfohlmann, ‚Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht‘? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil, München 2003. Vgl. auch die Entwürfe zu einem Vorwort zum Nachlass zu Lebzeiten (GW II, S. 966f.). Robert Musil, Gesammelte Werke, hg. v. Adolf Frisée. Bd. 1: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek b. Hamburg 1978 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: GW). Vgl. dazu Jürgen Schröder, Am Grenzwert der Sprache. Zu Robert Musils ‚Vereinigungen‘. in: Heydebrand., Robert Musil, S. 380–411 [= Wege der Forschung Bd. 588]. Vgl. dazu Karl Corino, Robert Musil, S. 396ff. Vgl. dazu vor allem GW II, S. 972: „Das hat einen moralischen Wert: Die Demonstration des moralischen Spektrums mit den stetigen Übergängen von etwas zu seinem Gegenteil. [. . .]
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Seine Regel [des Prinzips der „motivirten Schritte“] ist: Lasse nichts geschehen (oder: tue nichts), was nicht seelisch von Wert ist. D. h. auch: Tue nichts Kausales, tue nichts Mechanisches.“ Vgl. Fred Lönker, Poetische Anthropologie. Robert Musils Erzählungen Vereinigungen, München 2002, S. 21–32. Musil, Briefe I, S. 369. Vgl. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Nachgelassene Schriften (August 1888 – Anfang Januar 1889): Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. In: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Mazzino Montinari. Sechste Abteilung. Dritter Band. Berlin 1969, S. 82–91. Vgl. zu den verschiedenen Fassungen Karl Corino, Robert Musils ‚Vereinigungen‘. Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe, München 1974. Vgl. Fred Lönker, „Sie spürte ihren Körper von überall zugleich“. Über die Beschreibung von Körpererfahrungen in Robert Musils’ Vereinigungen, in: Körper – Verkörperung – Entkörperung. Beiträge des 10. Internationalen Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) vom 19.–21. Juli 2002, hg. v. Winfried Nöth u. Guido Ipsen, Freiburg i. Br 2005. S. 904–917. Vgl. Veronikas Äußerung über Johannes: „manchmal wenn du sprichst, [bist du] so hart und fest wie ein Stein“ (GW II, S. 201) Vgl. nur Veronikas nächtliche Phantasien von einer Vereinigung mit dem toten Johannes, die von einer „wollüstige[n] Weichheit und ein[em] ungeheure[n] Nahesein“ (GW II, S. 220) begleitet werden. Vgl. Lönker, Poetische Anthropologie, S. 197ff. Vgl. GW II, S. 977–982, hier S. 980. GW II, S. 985–987, hier S. 986. Robert Musil, Briefe I, S. 83. GW I, S. 16.
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„Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.“ Grenze und Übergang bei Rainer Maria Rilke Fin de Siècle – Der Dichter verwendet in seinem Werk und in seinen Briefen diesen Terminus nicht,1 der in der französischen Literatur die Endphase der ‚Décadence‘ bezeichnet und der, bezogen auf die deutschsprachige Literatur, Tendenzen der Literaturgeschichte zwischen 1890 und 1900 umfasst. In frühen theoretischen Äußerungen gerät die französische Dichtung kaum in den Blick des Dichters, eher – wie im Feuilleton Böhmische Schlendertage (1895) – werden beiläufige Bemerkungen zur südböhmischen Burgenromantik, zur lokalen Geschichte gestreut, sichtlich ironisch mit einem Blick auf die wie Fossile einer alten Zeit noch lebenden ‚Epigonen‘. Der reisende Korrespondent verspricht im beinahe unbemerkt herbstlich gewordenen Ambiente: Ruhig sah ich hinaus in das bunte Blättergetriebe. Ich fühle, es wird wieder ein Sommer voll Licht und Lust kommen, ich werde die trauten Stätten durchträumter Stunden wieder aufsuchen, und – was mich am meisten freuen würde – vielleicht Dir dort begegnen, lieber, freundlicher Leser. (SW 5, S. 299f.) Plauderton, Wechsel der Stimmungen und literarischen Register sind ganz konventionelles Feuilleton der Zeit, wie es sich auch in den liberalen Journalen der österreichischen Großstädte ausdrückte – ohne einen Anflug von Fin de Siècle. Rilkes literarische Anfänge in Prag fallen in die Epoche, deren Abschluss mit dem Erscheinen des Stunden-Buchs (1905) des Buchs der Bilder (1902) und der Neuen Gedichte (1907/8) rein äußerlich zusammenfällt. Angesichts der dreifachen Konstellation von Rilkes Anfängen, den Endjahren des 19. Jahrhunderts und Ende der Décadence-Epoche ist eine kurze Rückbesinnung auf Wort und Gegenstand von ‚Fin de Siècle‘ erforderlich. Der antike saeculum bzw. aetas-Begriff geht auf die Vorstellung von der Abfolge der Weltalter zurück, wie sie bei markanten Autoren wie Hesiod, Ovid2 und Vergil kanonische Ausgestaltung3 erhalten hat. Bei Rilke ist häufig die Anlehnung an die Modelle der Weltaltalter als Abfolge von Tages- und Jahreszeiten4 oder Lebensstadien zu erkennen. In einer lyrischen Skizze mit dem Titel In herbstlichen Alleen (Herbst 1898) spricht ein junger Mann zum Mädchen:
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Fühlst Du, meine klare, sanftbeklagte schwarze Schwester, daß die Gärten gilben? Und wir sagen uns dieselben Silben, die, um welche uns der Frühling fragte. Die Ineinssetzung von kosmologischen und naturhaften Abläufen mit der Tendenz des Verfalls ist die Sicht des jungen Manns, der sich als „Fremder“ und „Feind“, der „viele verlassene Städte“ und „viele vergessene Gärten“ vorhersieht „mitten im Wind.“ Die große Zeit liegt schon zurück, der Glanz in der Vergangenheit: Aber alles Schicksal ist geschehn, welches groß und farbig sich entfaltet; alles ist zur Stille um-gestaltet.5 Diesem reduzierten äußeren Verlauf entspricht eine gesteigerte Sensibilität für die leisen Töne, ein Gespür, das allerdings auch einen Umschlag kennt, der in der Lage ist, die Situation zu verändern, ohne die Erfahrungen zu verleugnen. Darin ist Rilkes Wechsel von Prag nach München im Jahr 1896 zu sehen, eine Veränderung nicht nur des literarischen Umfelds, sondern auch der Einflüsse. Jakob Wassermann hatte ihn dort auf das Werk des 1885 verstorbenen Dichters Jens Peter Jacobsen aufmerksam gemacht, der zwar zu seinen Lebzeiten zum Umfeld der dänischen Naturalisten Edward und Georg Brandes zählte, die den ‚Modernen Durchbruch‘ in der Literatur forderten. In den neunziger Jahren wurde Jacobsen in Deutschland aber als dem Fin de Siècle nahestehender Dichter übersetzt und wahrgenommen. Als solcher wurde er nun auch – wie Herman Bang – für Rilke zum Leitbild. Damit endete für den 21jährigen Dichter das „lyrische Ungefähr“6, das die Prager Jahre noch bestimmt hatte. Nicht die französischen Autoren waren für ihn maßgebend, sondern die des ‚Nordischen Durchbruchs‘,7 zu dem auch die junge Generation von Autoren und Autorinnen zählte, die Rilke in Rezensionen dem deutschen Publikum bekannt machte.8 Neu und für ihn relevant waren die Themen: Kindheit, Frauenschicksal, Leben in der Peripherie, nicht in der Großstadt. Rilke empfahl seiner Mutter: „Wenn du Dänen lesen willst lese Jens Peter Jakobsen, der längst verstorben immer noch moderner und ganz herrlich ist, ein Klassiker von dem wir alle lernen“9. Programmatisch ist dies in dem von Jens Peter Jacobsen inspirierten Gedicht Die vor uns und – wir (1897) formuliert. Eine kulturgeschichtliche Zäsur sieht Rilke im Erscheinen des Epochenbuchs der schwedischen Autorin Ellen Key Das Jahrhundert des Kindes (1900), das er enthusiastisch als gesellschaftlichen Aufbruch begrüßt.10 Ähnlich positiv nimmt er auch Buch- und Gebrauchskunst des Jugendstils wahr, wenn er einen Vortrag (Prag 1898) mit den Worten schließt: „Und ihr werdet erschrocken auch eure Seelen schmücken zu dem festlichen Empfang der neuen Zeit, deren bescheidener, unbeholfener Verkünder ich sein will in diesen Worten!“ (SW 5, S. 394)
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Diese Position zu gestalten, empfand nach seinen Prager Anfängen, Rilke als seine dichterische Aufgabe. Unabhängig von der vorgegebenen Rolle des malenden Klosterbruders als Grundfigur im ersten Teil des Stunden-Buchs wird die Position ‚zwischen den Zeiten‘ mit programmatischen Setzungen unterstrichen:11 Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.12 Das Bewusstsein, an einer Epochengrenze zu sein, ist in mehrfacher Metaphorik ausgebildet in den Mustern: – des Kommens und Gehens (Werden und Vergehen) als eines scheinbar natürlichen Vorgangs, – der [Buch]-Seite. Dem Rollen-Ich des mönchischen Buchmalers ist dieses Muster sowohl handwerklich vertraut, als auch aus dem biblischen Kontext, – in der Vorstellung vom beschriebenen und unbeschriebenen Blatt. Gott und Menschen sind die ‚Schreiber‘ der Epoche, die im Atem des Fin de Siècle als „großes Blatt“ verstanden wird, das von „fremden Händen“ gewendet wird. Diese Mächte sind unbenannt, die Geschichtsmächtigen wirken weiter nicht ein. Für das Mönchs-Ich ist die Erwartungshaltung bestimmend, umgeben von Vorzeichen. In der ersten Version des Stunden-Buchs ist es ein Gang durch einen winddurchbrausten abendlichen Wald mit seltsam neuen Farben am Himmel, Lichtspielen, die den Eindruck des Neubeginns erzwingen. Markant ist bei den meist zyklischen Geschichtsmodellen13 der Umschlag ins aetas aureas oder das Ende des goldenen Zeitalters als Periode von kultureller Blüte, politischem Frieden und Sicherheit sowie der Prosperität. Die Spekulation auf den Anbruch dieses Saeculums – die chronologische Rechnung in ‚Jahrhunderten‘ war in diesem Kontext obsolet – führte auch historisch zur Markierung der Epochenschwelle im Sinne einer Abfolge von ‚Weltaltern‘ durch offizielle staatliche Festivitäten,14 die als ‚Säkularfeiern‘ den zu erwartenden Glanz auch auf dem Gebiet der Kunst vorwegnahmen. In der Zeit des Augustus wurde das aureum saeculum begrifflich geschaffen, nicht so sehr zu einer chronologischen Orientierung, vielmehr zu einer Charakterisierung der Weltalter.15 Diese Orientierung an Weltaltern (Welten) ist im Brief an Julie Freifrau von Nordeck zur Rabenau zu erkennen, denn Rilke habe sich der Abende [. . .] erinnert [. . .] Ach, Sie glauben nicht, wie es mir dann gefehlt hat, nicht [. . .] von jener, Ihrer Welt Beweise zu haben; denn sie darf (diese frühere takt- und sentimentvolle Welt) durchaus nicht so vergangen und veraltet sein, wie sie aussieht und wie sie sich schön und rührend erhält, da gilt es, sie auf das zärtlichste zu pflegen. Eines ist nur wahr neben dem anderen, und ich denke immer, die Welt ist geräumig genug vorgesehen, um alles zu erfassen: das, was war, muß nicht von der Stelle geräumt, nur langsam verwandelt werden, so wie das, was sein wird, nicht von den Himmeln fällt im letzten
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Augenblick, sondern immer schon neben uns, um uns und in unseren Herzen sich aufhält, auf den Wink wartend, der es ins Sichtbare ruft. – 16 Hier ist es nicht so sehr der chronologische Aspekt, der Rilkes Argumentation bestimmt, sondern der qualitative Unterschied der ‚Welten‘, die nebeneinander existierend, sich überlappend oder auch allmählich ablösend sein können.17 Es ist keine bloße Verklärung der Vergangenheit und keine ungestüme Erwartung an die Gegenwart, sondern das Erfassen eines Kontinuums beider Welten, die ein ‚Dichter‘ gleichzeitig wahrnimmt, freilich im ersehnten Status der literarischen Metamorphose. Angedeutet bleibt freilich die Präferenz der vergangenen Welt, deren Ausläufer ihn – wie hier in der Gestalt der verehrten Gräfin – noch streifen. In der antiken Zeitenwende ist die Markierung des Übergangs von einem Weltalter zum nächsten durchaus positiv besetzt. Der Wandel wird zum Anlass für hochgespannte, freudige Feste, durchaus mit frohem Ausblick auf die Zukunft. Auch dieser Hintergrund der Begrifflichkeit ist nicht verschwunden. Mit dem Konzept des ‚Ver Sacrum‘18 wird in der Wiener Sezessionszeitschrift – in der auch Rilke publizierte – dieses Bewusstsein wieder aufgenommen.19 Während in der spätantiken Prägung des Augustinus20 das ‚finis saeculi‘ einen endzeitlichen Charakter annahm, ganz in der Erwartung einer nahen Parusie. Dieser Gedanke liegt Rilke fern.21 Auch nicht der historische ‚Verfall‘ und der ‚Zerfall‘ von kulturellen, gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern das Bewusstsein des Verfügens über eine volle Tradition und die Position, die die Wahl unter vielen Möglichkeiten zulässt. Dem entspricht auch in der Realität keineswegs ein ökonomischer oder staatlicher Zerfall, sondern ein Aufstieg in weiten Teilen Europas. Das Bewusstsein des Verfalls und des ‚Endes‘ ist demgegenüber eine Möglichkeit der Literatur, alte (klassische) Konzepte mit neueren Akzentuierungen zu versehen und bisher als marginal gewertete Phänomene zu neuen (zusätzlichen) Elementen zu wählen. Fin de Siècle in der Literatur bewegt sich auch bei Rilke nach einem Plan, der in analoger Weise von der ‚Décadence‘-Strömung mit Bildern und Mythen erfüllt war: das Zeitalter des Hellenismus, das spätantike Rom, das Spätlatein, das Spätmittelalter, der Manierismus des 16. Jahrhunderts,22 die Kunst des Rokokos, das untergehende Venedig, die Agonie des Adels.23 Für die verspäteten deutschen Autoren wirkt das Vorbild der französischsprachigen Décadents wie Charles Baudelaire, Paul Verlaine, aber auch Désiré Nisard, Paul Bourget, JorisKarl Huysmans, Maurice Maeterlinck und ihrer Schriften. Im Falle Rilkes kommen auch die dänischen Vorbilder Jens Peter Jacobsen und Herman Bang in Betracht.24 Damit kommt auch ein Fundus literarischer Formen zu neuer Geltung wie das Sonett, das Quatrain, das lyrische Drama, das Feuilleton und eine neue Spielart des Romans. Jens Malte Fischers Katalogisierung des Gefühls des Fin de Siècle in Deutschland verweist auf die verfeinerte Apperzeption und den Kunstgenuss, verbunden mit der Distanz zur Gesellschaft.25 Wolfdietrich Raschs Unter-
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suchung des konkurrierenden ‚Décadence‘-Begriffs liefert für die Erfassung des Fin de Siècle kaum neue Aspekte,26 während J. A. Schmoll gen. Eisenwerth eine instruktive kontrastierende Gegenüberstellung der Merkmale bringt, um „das Janusköpfige des Fin-de-siècle-Phänomens“27 zu verdeutlichen.
Rilkes poetische Anfänge Trotz eines unorthodoxen Bildungsgangs hat Rilke mit der staatlichen Matura teil an der bildungsbürgerlichen Welt von Prag. Freilich ist seine Affektation von der Literatur ganz unterschiedlich. Die Werke Goethes und Lessings sind lange nicht mehr als Schulstoff, die Balladen Schillers kennt er von der Mutter, die sie beim Abstauben der Möbel rezitiert. Heine bleibt eine Marginalie. Von den Schriftstellern der Zeit erhält Viktor von Scheffel eine gewisse Aufmerksamkeit. Das Bewusstsein, selbst ein Dichter zu sein, das sich früh einstellt, wird genährt von wenigen Vorbildern. Detlev von Liliencrons impressionistische Verse werden geschätzt, daneben auch naturalistische Schriftsteller, v. a. Gerhart Hauptmann, aber wohl auch Bohemiens wie Wilhelm Arent, mit dem er in Kontakt tritt. Rilkes frühe Dramen sind deutlich naturalistisch gefärbt, ebenso die ersten Publikationen in kostenlos verteilten Heften der Wegwarten (1895) mit Prosa, Monodramen und Gedichten, die in naturalistischem Gestus Volksnähe anstreben, aber doch eher spät- und nachromantische Züge tragen.28 In der persönlichen Haltung Rilkes ist aber bald eine gewisse Blasiertheit unverkennbar, auch ein Ennui gegenüber der etablierten Kunst und Literatur als Pose. Sie ist auch in einem Gedicht von einem Dresden-Besuch (1896) ausgedrückt: Wieder einmal Dresden. Galerie, die ich aufzusuchen nie vergesse. Denn ich werde müd zu schauen nie des Teniers bizarre Schenkenspäße und Ostades bunte Bauernmesse und dann Rubens, der den Farben lieh jene Liebeshymnenmelodie. Raphaels verzückte – Madonnie, Rembrandts halblichtschwere, braune Blässe, dran manch Kritikus sich glühend schrie. Cranach auch, dem ich die bunten Pässe in das Fegefeuer nie verzieh. (SW 3, S. 543–544) Es ist ein Kaffeehausgedicht, das die Kunstschätze der Vergangenheit gekonnt aufzählt und die Spannung zum gegenwärtigen Leben mit seiner – gespielt konventionellen – Verehrung für die hohe Dame motiviert. Neben solchen eher burlesken Impromptus eines Dandys zeigt Rilke in einer Art Gang durch die Stadt
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den Abschied von seiner Kindheit mit der Sammlung Larenopfer (1895/96), durchaus noch mit impressionistischen Anklängen, aber schon in der Eröffnung des Zyklus mit einer markanten Ansage des ‚Endes‘, hier noch mit dem Anbruch der Nachtstimmung.29 Gedichte wie Abend und König Abend vertiefen das Kolorit, aber auch Ausflüge Auf den Wolschan-Friedhof verbreiten diese Atmosphäre über große Teile der Stadt, die mit der Wahrnehmung der vielen mittelalterlichen Bauten auch eine seit Huysmans À rebours wieder aktuell gewordene Epoche in die Literatur aufnimmt. Gegenwart wird nicht ausgeblendet, nur reduziert, gelegentlich auch auf das Fremde, ‚Böhmische‘ verlagert, das seine Anziehungskraft in der ‚Volksweise‘ zeigt.
Lyrik des Fin de Siècle Daneben öffnet sich Rilke mit einer Reihe von kleinen Gedichtbüchern deutlich stärker den Aspekten des Fin de Siècle. Sein erster Band Leben und Lieder (1894) spielt mit romantischen Motiven, tief in eine – oft sentimentale – Abschiedsstimmung getaucht, Märchen, Sagen und Naturmagie aufrufend. Variable Strophenformen, isolierte Zeilen und unterschiedliche Zeilenlängen sowie häufige Enjambements und eingestreute Zäsuren verwischen die Konturen, geben mit Reihungen, Häufungen von rhetorischen Fragen, Gedankenstrichen und und Satzabbrüchen den Assoziationen des Lesers weithin freien Raum, während relativ konventionelle Überschriften wie Abendgedanken, Nebelbilder und Lautenlieder nur vage Andeutungen geben. Exotische Erotik wie Die Bajadere wird vielversprechend eingeleitet, um dann doch wieder in der konventionellen Rettung durch eine „Gottheit“ zu münden: Entlegene und gesuchte Reime finden sich auch schon in Strophen der Wegwarten, etwa wenn der Maler seine ‚Zukunft‘ beschreibt: Da mal’ ich die Zukunft, so wie ich sie seh, gar prächtig in Farbe und Linie; – fromm, zitternd, wie einstens Frau Fiesole Madonnen gemalt und Bambini. (SW 3, S. 124) Traumgekrönt (1896) verzichtet weitgehend auf Ansagen durch Überschriften. Ein programmatisches Königslied gibt die Stimmung vor, in der aus der Alltagswelt in eine erträumte Gegenwart gewechselt wird: Tage weben aus leuchtender Sonne dir deinen Purpur und Hermelin, und, in den Händen Wehmut und Wonne, liegen die Nächte vor dir auf den Knien . . . (SW 1, S. 73)
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Folgen von kurzen Vierzeilern, häufig auch symbolistischen Quatrains verbinden erträumte Kindheits- und Liebeswelten voll Kostbarkeiten und Sehnsucht nach Wiederholung und Abschied, gefüllt mit naiven Neuprägungen („Riesenwunderblume“) und kostbaren künstlichen Welten („Silberfühler“, SW 1, S. 85.). Motivwelten um Abend, Abschied, Traum und Herbst werden aufgerufen, Vergangenheiten zelebriert: Es ist lang, – es ist lang . . . wann – weiß ich gar nimmer zu sagen . . . (SW 1, S. 97) Der Wechsel zwischen der kleinen, armen, oft kindlichen Welt hin zur metaphernüberhöhten, aber auch Konventionelles aufrufenden Natur, der Verzicht auf Erzählendes, Begründendes, die Wiedergabe von Einzeleindrücken, Dialogansätzen lassen die Nähe an Impressionismus, aber auch an gemäßigt naturalistische Arrangements erkennen, die Welt, aus der heraus Rilke seine Fin de SiècleGebilde entwickelt. In den Widmungsversen an den Vater wird diese Ablösung deutlich, sie geht vom Alltag in eine erträumte poetische Märchenwelt hinein: ich fühl die Zeit in meiner Seele reifen, die neue Zeit, die wir noch nicht begreifen! (SW 3, S. 550) Es ist das jubelnde Gefühl für eine Zeitenwende, die eine prosaische Zwischenzeit der Gegenwart überwindet und hin zu einer neuen poetischen Zeit führt. Hier ist von Verfall nicht die Rede, freilich auch deshalb nicht, weil der Dichter für sich den Triumph in der Zukunft reklamiert.30 In diesem Moment ist Fin de Siècle keine persönliche Stimmung, sondern ein poetisches Register, das eher in den Hintergrund gedrängt (oder prosaisch gewendet: den Philistern zugeteilt) wird. Vertrauter mit diesen neuen Welten zeigt sich die Sammlung Advent (1897), die unter dem Stichwort ‚Venedig‘ zu den bekannten Bildern („fremdes Rufen“, „Gondel“, „Pfähle“, „Marmorstadt“). Die Zeit steht still, die Verhältnisse sind armselig geworden, nur die Sehnsucht evoziert die vergangene Pracht: Lange harren die Paläste auf die Herren, auf die Gäste, und das Volk will Kronen sehn. Auf dem Markusplatze stehn möcht ich oft und irgendwen fragen nach dem fernen Feste. (SW 1, S. 116–117) Venedig ist nur die Manifestation dieses Zustands. Poetisch ist es durchaus auch ohne Staffage verfügbar.31 Nicht reale Wiederkehr ist das Ziel, das Erinnern an das Vergangene, macht auch die Möglichkeiten der Zukunft bewusst, also den Umschlag:
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Wir werden wund im Zwange dieser Zeiten. Schau, hinterm Wald, in dem wir schauernd schreiten, harrt schon der Abend wie ein helles Schloß. [. . .] DU: ein Schloß an wellenschweren, atlasblassen Abendmeeren – und in seinen säulenhehren Sälen warten Preis und Prunk uns zu ehren: Weil wir beide wiederkehren – ohne Kronen und mit leeren Händen – aber jung. (SW 1, S. 127–128) Zwischen „Tag“ und „Traum“ besteht Spannung. Pagen und Priesterinnen, Mädchen, Knaben und Mütter entfalten ihre Welt, die durchaus in „hohen Lichthofmauern“ ihren Ursprung hat und nur einen „blassen Kindheitsraum“ (SW 1, S. 132). sich entwickeln lässt. Dies ist die Welt, in der thematische Banalitäten, Hilflosigkeiten in kostbare Bilder gesetzt werden, konventionelle Strophen und Reime souverän mit erlesenen Lässigkeiten der Form verbunden werden. Die lyrische Tradition ist präsent, verfügbar, aber auch jederzeit dehnbar und zu durchbrechen. Das lyrische Ich verortet sich in dieser Welt: „Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.“ (SW 1, S. 152–153) Diese Situation zieht die Welt der Kinder, der Alten, der Müden nach sich, nicht immer klar angesiedelt, aber in eine gelegentlich bukolische Landschaft mit Herden, Pinien, Meereswogen und Winden auslaufend. Es sind künstliche, arkadische Welten wie bei den Bildern von Arnold Böcklin, die in die Gegenwart hereinragen, manchmal auch in eine noch vom Naturalismus her besetzte.32 Die Sammlung Dir zur Feier (1897/98) trägt die Widmung an Lou AndreasSalomé und enthält durchaus Verse nah an der Erlebnislyrik, allerdings auf einen hohen Ton gestimmt, in dem sich das lyrische Ich selbst neu setzt, oft an den Beginn eines Gedichts. Das Ambiente unterscheidet sich kaum von früheren Zyklen, doch ist der Aufbruch erkennbar, der mit der Feier der Geliebten verbunden ist,33 oft mit einer markanten Rollenverteilung: Mit der Hinwendung zur Geliebten wird die Welt mit Kostbarkeitsmetaphern34 ausstaffiert: Das Leben ist gut und licht. Das Leben hat goldene Gassen. Fester wollen wirs fassen, wir fürchten das Leben nicht.
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Wir lieben Stille und Sturm, die bauen und bilden uns beide: Dich – kleidet die Stille wie Seide, mich – machen die Stürme zum Turm . . . (SW 3, S. 182) Die Metaphorik des Fin de Siècle bleibt, der Wille zum Ausgriff nach einer neuen Lebensform ist erkennbar. Im Schlussbild des Paars sind beide Komponenten des Gefühls der Saeculum-Wende vereint. Mir zur Feier (1899) vereinigt im Motto schon Elemente der Sehnsucht und der Erwartung des Lebens „aus einem Gestern.“ (SW 3, S. 203). Was sich wie ein Seitenstück zur vorhergehenden Sammlung ausnimmt, vertieft die Suche nach einem Standort des Dichters. Das Ziel ist ein Leben als Feier35 – vergleichbar der kindlichen Unbekümmertheit: Du mußt das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest. (SW 3, S. 211) und: Ich möchte werden wie die ganz Geheimen: Nicht auf der Stirne die Gedanken denken, nur eine Sehnsucht reichen in den Reimen, mit allen Blicken nur ein leises Keimen, mit meinem Schweigen nur ein Schauern schenken. (SW 3, S. 211–212) Abkehr von der nur „lauten Menge“, als die das ‚Volk‘ nun begriffen wird,36 freiwillig gewählte Einsamkeit37 mit quasi priesterlichem Amt, wird nun ein Konzept, das sich an Stefan Georges symbolistisches Dichtertum anlehnt.38 Zumutungen und Ansprüche des Tages werden entrüstet abgelehnt. Rilke bietet kein ‚Bildnis‘ und reagiert nicht auf die Forderungen zu reden, enthebt sich der Zeit: „Ich bin so alt, daß ich nicht älter werde“ erklärt der Ritter mit Rilkes Wappenbild.39 Die Wendung nach Innen geht zunächst ins Private, das seine markante Zeit in der ‚Dämmerstunde‘ hat: Ich möchte einmal wieder lehnen bei dir, im purpurnen Salon. In deines Saitenspieles Sehnen versiegt der letzte Liederton. (SW 3, S. 446) Die Auflösung der Wände im gedämpften farbigen Lampenlicht, die weißen Mädchenhände, Lilien eines Mainachttraums, ragen aus dem Kleidsaum und Sternenaugen blinken, „drin eine blaue, märchenferne, selige Wunderzeit versank.“ (SW 3, S. 446) Der Untergang ist eine metaphorische Wendung, die glanzvolle Vergangenheit nur noch der Reflex auf den Augen.
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Eine ähnliche, aber unabgeschlossene Wendung nach Innen40 findet ihren Gegenstand in dem unregelmäßigen, dreistrophigen Gedicht Intérieur, das Rilke bei einer Revision (1909) ausgesondert hat. Es knüpft im Titel an Paul Verlaine, aber auch an den Wiener Décadent Felix Dörmann an, auch an den Dänen Jens Peter Jacobsen. Das geheime Zimmer ist ein Hort der subtilen Wahrnehmung.41 Dass diese sich locker arrangierenden Phantasmagorien – angesiedelt in einem imaginären Orient – buchstäblich erlesene sind, verrät die Applikation vergleichbarer Preziosen in die äußere und innere Welt der Dichtung. In zwei symbolistischen Quatrains schreibt sich ein lyrisches Ich in diese Welt: Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen die Deckel purpurn in Damast; ich löse seine goldnen Spangen mit kühlen Händen, ohne Hast. Und lese seine erste Seite, beglückt durch den vertrauten Ton, – und lese leiser seine zweite, und seine dritte träum ich schon . . . . (SW 3, S. 228) Die Initiation über kostbare Materialien, geöffnete Metallschließen, Schmuckstücken gleich, die Zugang zum beglückenden Inhalt geben, der dem Leser schon vertraut ist, führt zum poetischen Träumen, dessen nicht absehbares Ergebnis das Gedicht ist. Trotz dieser Zuversicht bleibt in dieser kunstreich-künstlichen Welt der Zweifel. Rilke formuliert ihn einem Gedicht das den Charakter eines Mottos hat: Wir sind immer in Einem Ermatten, ob wir rüstig sind oder ruhn, aber wir haben strahlende Schatten, welche die ewigen Gesten tun. (SW 3, S. 252) 42 Der Wortlaut geht hier deutlich über die in Dir zur Feier intendierte Gemeinsamkeit mit der Geliebten hinaus. Als Motto-Gedicht in Mir zur Feier ist es ein programmatisches Gedicht eines Dichters, der sich als Teil einer Strömung fühlt (wie bei Jens Peter Jacobsen). Dichtung als antikisierende Kunst-Religion, diese Anstrengung führt zur Ermattung, weil sie auch gegen die anderen Götter stehen, die der Gegenwart und die „anderer“ Welten. Das Selbstbewusstsein der Dichter beruht in der ewigen Gültigkeit der Formen und im Glanz der Dichtung. Es ist die Stellung des ‚Fin de Siècle‘, das sich der vollen Möglichkeiten der Tradition bewusst ist, aber auch weiß, dass ein neues Zeitalter schon angebrochen ist. Manchmal ist es nur andeutungsweise präsent:
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Noch ahnst du nichts vom Herbst des Haines, drin lichte Mädchen lachend gehn; (SW 3, S. 238) Aber diese neue Welt ruft mit ihrer Drohung im Dichter die Gefahr des Verstummens43 hervor. Er will an seiner Welt festhalten: Ich fürchte mich vor der Menschen Wort, Sie sprechen alles so deutlich aus (SW 3, S. 257) Das Geständnis führt zum Tod der poetischen Sprache: Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um. (SW 3, S. 257) Abend- und Nachtmotive sind unter diesen Auspizien nicht mehr Stimmung, sondern Bedrohung wie das Wachstum der anonymen Agglomerationen von Gassen, Städten und Türmen, das zur „schwarzen Stadt führt“ (SW 3, S. 260). Diese Situation ist anders als die modische schwarze Romantik, die vereinzelt auch in Rilkes Gedichten aus der Prager Zeit ihren Auftritt hatte.44 Gleichwohl sind direkte Einflüsse der französischen Autoren des Fin de Siècle vor 1900 kaum nachweisbar. Während des ersten Studienjahrs in München (1896/97) übersetzte Rilke die vier Strophen von La brise en larmes aus dem Erstlingswerk von Fernand Gregh (1873–1960),45 eines eher unbedeutenden Lyrikers, der aber mit diesem Gedicht graue Naturbilder mit melancholischen Seeleneindrücken verband. Die Übersetzung baut die kurzen vierzeiligen Strophen zu opulenten, mit Enjambements überquellenden Stimmungsbildern aus.46 Ob Rilke die Bibel des Fin de Siècle, Joris Karl Huysmans À rebours,47 schon früh wahrgenommen hat, ist nicht eruierbar. Zumindest seit der Münchner Zeit waren ihn einige Autoren der Strömung geläufig, wie eine Empfehlung an seine Mutter zeigt: Lesen solltest [Du] doch mal die hyperkatholischen franz. Dekadents, welche die Kirche als Gedicht mit dem Refrain Gegrüßest seist du, Marie empfinden und den tiefsten spitzfindigen Symbolismus des Mittelalters mit modernerem Geist weiter ausbauen, so daß Alles bis auf die Glieder in den 3 oder 4 Ketten des Weihrauchfasses, seine grundlegende Bedeutung erhält. Ich meine da zunächst das letzte Werk des Aestheten K.J. Huysmans La cathédrale, welches in diesem Sinn interessant und bezeichnend ist. Für ein gläubiges Gemüth, muß dieser hyperkatholische Hymnus, welcher eine Verherrlichung der Maria im Sinne hat, sehr viel Anklänge haben und einen großen Reichthum im intimen Bewußtsein erwecken. Zudem ist Huysmans Sprache unvergleichlich reich und plastisch.48
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Huysmans 1898 erschienener Roman war zwar ein Dokument seiner katholischen Konversion, hatte aber in seiner atmosphärischen und stilistischen Ausrichtung nichts von À rebours49 und Là bas verloren, Werken, die Rilke in diesem Kontext begreiflicherweise nicht nennt.
Die Wende zu den ‚Dingen‘ Eine deutlich wahrnehmbarere Rolle nahm der belgische Autor Georges Rodenbach ein. Rilke schätzte zwar seine übertriebenen Psychologismen in den Handlungen seiner Romane nicht,50 hielt sich aber an Topographie und Atmosphäre des alten Flandern, wie es in Bruges-la Morte (1892), einem bedeutenden Werk des Fin de Siècle, sich entfaltete. Rilke, der den Ort auf einer Reise (1906) besuchte, rekurrierte auf die literarische Komponente, wenn er schrieb: Brügge übertrifft nichts; es enttäuscht die meisten. Seine Zurückhaltung ist es, die ihm den Ruf des ‚toten Brügge‘ eingetragen hat, und man begnügt sich, sie zu konstatieren. Das Brügge Rodenbachs ist bekannt geworden; man vergißt, das es ein Gleichnis war, von einem Dichter erfunden für seine Seele, und man besteht auf dem Wortlaut. Aber diese Stadt ist nicht nur schlafbefangen und wehleidig und traumhaft lautlos, sie ist auch stark und hart und voller Widerstand, und man muß nur an das verblichen gespiegelte Venedig denken, um zu merken, wie wach und ausgeschlafen hier die Spiegelbilder sind.51 Mit der Erfahrung Brügges löst sich die rein literarische Fixierung, der reale Eindruck wird zu einem Substrat für neue Sensationen – nur sehr bedingt an Rodenbach anknüpfende.52 Die Formen der Rezeption der Stadt sind die des Fin de Siècle, wie sie auch bislang bei Rilke zu finden waren. Doch die literarische Schärfung geht weg vom rein Stimmungshaften, dem gewohnten, disparat angelegten Metaphern- und Stilrepertoire hin zu einer Erfassung konkreter Orte, Eindrücke und Vorgänge, die auch an der Realität identifizierbar bleiben. Rilke hat dies sehr wohl bemerkt: „Ich hatte, dessen entsinne ich mich, in meiner Seele eine Stelle, wo Brügge fehlte: da paßte es, als es nun kam, genau hinein, Bild für Bild.“53 Neun Gedichte der Flandernreise fanden Eingang in die Sammlung der Neuen Gedichte (1907). Damit wird erkennbar, dass Rilke mit seinem Werk einerseits nicht in einen konventionellen Realismus zurück wollte, andererseits die symbolistische Ästhetik verändert fortsetzen wollte. Biografisch fällt dieser Einschnitt mit seiner Ankunft in Paris und seinem Zusammentreffen mit dem Bildhauer Auguste Rodin (Herbst 1902) zusammen, werkgeschichtlich nicht ganz so deutlich mit den Sammlungen des Stunden-Buchs, des Buchs der Bilder und der Neuen Gedichte. Eine „anti-dekadente Weltsicht“ mit „Weltzuwendung und Lebensbejahung“ und in Verbindung mit einer „modifizierten „symbolistischen Ästhetik“ sind als
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Problemstellung erkennbar.54 Fin de Siècle-Elemente sind in der Lyrik deshalb nur noch begrenzt wirksam. Das Buch der Bilder (1902, erweitert 1906) zeigt in den Motiven55 die deutliche Zuwendung zum Thema ‚Paris‘, allerdings in der Wahl der Sujets den poetischen Spagat. Die beiden ungleichen Strophen von Pont du Carrousel (SW 1, S. 395) (1902/03) benennen nur noch im Titel die bekannte Bogenbrücke über die Seine, die an den Enden mit den repräsentativen allegorischen Gestalten des Überflusses, der Industrie, des Flusses und der Stadt ausgestattet ist. Im Mittelpunkt steht der anonyme blinde Bettler auf der Brücke, der „vielleicht“ als geheimer Mittelpunkt des Kosmos dem „oberflächlichen Geschlechte“ in den Weg gestellt ist, als der „dunkle Eingang in die Unterwelt“. Der außer vom lyrischen Ich unbeachtete Einsame, als Repräsentant einer Gegenwelt zur Weltstadt Paris und ihrem Getriebe ist der „Markstein namenloser Reiche“, die nicht fassbar werden außerhalb des Textes und der Literatur, die wiederum auf die noch (?) andauernde Präsenz des antiken Saeculums verweist. Allerdings ist es nur marginal, im aus dem Gegenwartsleben ausgegrenzten Zusammenhang sichtbar und nur als Bild der Literatur präsent. Der heimatlose Erbe56 eines alten Besitzes hält in Der Letzte (1900) am Wappen eines einst blühenden Geschlechts fest, bis er stirbt:57 Denn was ich fortstelle, hinein in die Welt, fällt, ist wie auf eine Welle gestellt. Das Ende eines alten Saeculums verbindet sich mit der Gefahr des Fallens in die Herrschaft einer schon neuen Welt. Wer an der Zäsur des Zeitalters steht, ist hier immer der Letzte aus der alten Epoche, der ein Vermächtnis zu erfüllen hat, das ihn überfordert. Nur die Künstler haben in dieser Situation noch die Möglichkeit der Erfüllung.58 Die Neuen Gedichte erweitern diese neue Erfassung von Bildwelten auf unterschiedliche ‚Dinge‘59 und Texte, antike Mythologie, Themen aus Altem und Neuem Testament, Heiligenviten, Architekturteile, Blumen, Zootiere usw. Es sind Gestaltungen verschiedener Welten und Wirklichkeiten.60 Dabei erhalten die bloßen Sujets der Gedichte und ihre sprachliche Darstellung Gleichrangigkeit.61 Die manifesten Objekte der Vergangenheit sind Anlass, z. B. barocke ‚Parke‘, deren Suggestivkraft noch weiter wirkt, aber schon bei ihrer Entstehung als Staffage erkannt sind.62 Nur das jährliche Aufblühen verleiht den steinernen Skulpturen den einstigen, sie lebendig und – dann und wann – wirksam erscheinen lassenden Glanz, doch ihre Versprechen waren und sind „alle unbegrenzt und unbestimmt.“ Es ist ein Spiel des Kunstfundus in einer mit den Epochen wechselnden Wirklichkeit.63 Nur dort, wo sie – wie die gepflegten Boskette – als reale oder nur imaginierte
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Relikte der Vergangenheit noch vorhanden sind, lässt sich das Spiel wiederfinden, das kaum eine darüber hinaus gehende Wirksamkeit hat. Zur Evokation der Schauplätze der ‚fêtes galantes‘ gesellt sich Der Pavillon. Auch er ist verlassen und vergessen in der Zeit, ein Relikt – ausgewiesen durch aufwendige Stein-Girlanden, Wappen, Flügeltüren und Spiegelglas – aber angesiedelt in abgelegenen ParkEcken in Wind und Regen der Gegenwart. Selbst für Liebes-Heimlichkeiten ist er ein Ort der Vergangenheit längst ohne Kontur, da selbst die Gedichtzeilen und Strophen in willkürlich erscheinenden Enjambements und Zäsuren dahinfließen, nur gelegentlich durch preziöse Reime („Türen“ – „Allüren“, „Guirlanden“-„vorhanden“) in ihrer alten Pracht erinnert. Doch in dem Bild des Pavillons sind die ‚Geschichten‘ der Vergangenheit aufgehoben und für den Kundigen lesbar. Das Zeitalter ist noch nicht ganz und gar vergangen, als Passant fühlt man lang noch auf dem Rand des Dachs jene Urnen stehen, kalt, zerspalten: doch entschlossen, noch zusammzuhalten um die Asche alter Achs. (SW 1, S. 632) Die (reduzierte) Gegenwart des alten Saeculums ist auch in den Venedig-Gedichten (SW 1, S. 609–611.) spürbar, sie ist gestaltbar in glanzvoll evozierten Bauten, großen historischen Namen und überaus kostbaren Objekten, in denen sich das Bild der Stadt in Erinnerung bringt. Die Sammlung beschränkt sich nicht auf große Zeiten und Menschen, auch abgelegene, intime Bilder einer nahezu vergangenen Zeit werden also solche – Abschied nehmend – gezeigt, so im Damen-Bildnis aus den Achtziger-Jahren64 und im Jugend-Bildnis meines Vaters mit dem Schlusszeilenpaar: Du schnell vergehendes Daguerreotyp in meinen langsamer vergehenden Händen. (SW 1, S. 522) Die Distanz des lyrischen Ichs zum Zeitalter des Fin de Siècle ist formuliert, aber auch das Bewusstsein der eigenen transitorischen Existenz. In dem, den Duineser Elegien schon sehr nahe kommenden, langen titellosen Fragment (Ende Januar 1912 auf Duino) zeigt sich der Aufbruch zum reimlosen Langgedicht, aber auch zu einer neuen Einstellung: Soll ich die Städte rühmen, die überlebenden (die ich anstaunte) großen Sternbilder der Erde. Denn nur zum Rühmen noch steht mir das Herz, so gewaltig weiß ich die Welt. Und selbst meine Klage wird mir zur Preisung dicht vor dem stöhnenden Herzen.
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Der heroische Entschluss zum Rühmen ist da (forciert durch die bekannten harten Fügungen, deren Muster Pindar und Hölderlin geben), aber wer soll in diesem neuen Saeculum gerühmt werden? Der Gegenstand des Dichtens ist dubios geworden, die Gegenwart bedarf offensichtlich des Dichters nicht. Die neuen Themen – die Stadt,65 die metallene Technik – sie übertönen ihn, sind auch nicht mehr sein ‚Beruf‘. Rilkes Antwort definiert die eigene Position: [. . .] So laßt mich solange vor Vergehendem stehn; anklagend nicht, aber noch einmal bewundernd. Und wo mich eines das mir vor Augen versinkt, etwa zur Klage bewegt sei es kein Vorwurf für euch. Das große Vergehende erscheint hier als der angemessene Gegenstand für die Dichtung. Im Gestus des Propheten bestimmt dieser Dichter die Aufgabe und grenzt die dafür Berufenen ab: die Dichter des Großen Vergehenden von den Dichtern des Tagwerks: Sehet, es wäre arg um das Große bestellt, wenn es irgend der Schonung bedürfte. Wem die Paläste oder Gärten Kühnheit nicht mehr, wem Aufstieg und Rückfall alter Fontänen nicht mehr, wem das Verhaltene in den Bildern oder der Statuen ewiges Dastehn nicht mehr die Seele erschreckt und verwandelt, der gehe diesem hinaus und tue sein Tagwerk; wo anders lauert das Große auf ihn und wird ihn wo anders anfalln, daß er sich wehrt. (SW 2, S. 385–386) Was dem Dichter des ‚Vergehenden‘ bleibt, ist das Schauen der ruinösen Monumente und Gestalten der Vergangenheit, nicht in Nostalgie, sondern im Bewusstsein ihrer Endlichkeit; durch ihr bloßes noch Vorhandensein werden sie zum Gegenstand und Vorwurf des Dichters für die Verwandlung, die Metamorphose ins Gedicht. Damit ist ein Programm gegeben, das zunächst noch sehr schmal und begrenzt aussieht. Denn die täglichen Dinge, die Gegenstände der Stadt, der Technik, deren Klang und Lärm stehen nun ausklammert da. Sie bilden den möglichen Urgrund für das Zukünftige Große, das aus dem Tagwerk kommt. Anderen ‚Orten‘ wird es zugeordnet und deren aggressivem Zugriff. Legitimiert ist dieser Bereich nur als Aufgabe für „jüngere Völker“, die sich den Aufgaben der Gegenwart zuwenden. Ziel ist nicht die Sammlung der Einzeldinge in einer „vollzähligen Multiplizität“66 von der Pluralität bis zur Zerstreuung der vehement präsenten Phänomene einer Großstadt wie Paris, sondern das Rühmen der großen Chiffren, die ein
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Grundgedanke verbindet. Der Blick auf die bevorzugten Gegenstände des Dichtens war sehr verengt: Gärten, Paläste, Fontänen, Statuen in ihrem großen Verfall. Es war offensichtlich noch ein weiterer poetischer und poetologischer Schritt nötig, um zum Programm für eine neue lyrische Sammlung zu gelangen. Nicht die großen Monumente von Palast, Park und Garten gaben die neue Idee dafür, sondern die Monumente seines eigenen dichterischen Werks, die nun wiederkehren – nicht als zu beschreibende Gegenstände (das wären Reprisen) – sondern als Chiffren aus einem großen Arsenal von Bildern gewonnen, darunter auch solche des Fin de Siècle, für deren Verwandlung mit einer anderen – an Hölderlin und Pindar orientierten – Dichtersprache schon der Rahmen einer Sammlung bereitstand.67 Rilkes Weg zum Fin de Siècle ist ein Umweg, da seine Prager literarischen Anfänge kaum einen direkten Zugriff erlaubten. Vergehen und Neuanfang sind zwar durchaus präsent, aber doch vor allem in Naturmetaphern und historischen Reminiszenzen. Erst in der Münchner Zeit (1897) kommt es zu einer weiteren Sensibilisierung des Ende-Gedankens, aber auch in der Abgrenzung zur Erwartung einer neuen literarischen Epoche. Die Ankunft in Paris (1902) lässt ihn auf die dort zugänglichen Fin de Siècle-Stimmungen und Szenarien zugehen, die sich im Malte-Roman und in den Neuen Gedichten zeigen und auch im späteren Werk noch Spuren hinterlassen.
Anmerkungen 1
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Rilkes Prager Vortrag (1898) über zeitgenössische Literatur trägt den Titel ‚Moderne Lyrik‘. Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, hg. v. Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 5 Worpswede, Rodin, Aufsätze, Frankfurt/M. 1965, S. 370 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: SW 5). Vgl. ausführlicher Friedbert Roser, Die vier Weltalter in Ovids ‚Metamorphosen‘ (Met. I, 89– 150), in: Der altsprachliche Unterricht. Reihe XIII, Heft 5 (1970) S. 54–74. Vgl. auch Bodo Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen, Hildesheim 1967, S. 70–76. Vgl. die römische Auffassungen bei Klaus Kubusch, Aurea Saecula: Mythos und Geschichte, Frankfurt/M. 1986, bes. S. 247–255. Vgl. SW 5, S. 431. Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, hg.v. Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth SieberRilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 3 Jugendgedichte, Wiesbaden 1959, S. 394–395 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: SW 3). Rainer Maria Rilke an Hermann Pongs, 17. August 1924. Rainer Maria Rilke, Briefe in zwei Bänden. Bd. 2, hg. v.. Horst Nalewski, Frankfurt/M. u. Leipzig 1991, S. 341. Zur Jacobsen-Rezeption vgl. Bengt Algot Sørensen, Tyskland, in: F.J. Billeskov Jansen (Hg.), J.P. Jacobsens spor i ord, billeder og toner, Kopenhagen 1985, S. 117–120 (Fin de siècle og dekadence) u. S. 139–143 (Rilke). Vgl. auch Carl S. Petersen u. Vilhelm Andersen, Illustreret dansk Litteraturhistorie. Bd. 4, Kopenhagen 1925, S. 555 u. S. 773. Vgl. Rainer Maria Rilke, Zwei nordische Frauenbücher, SW 5, S. 604–611. Rainer Maria Rilke an Phia Rilke, München Herbst 1897. Rainer Maria Rilke, Briefe an die Mutter 1896 bis 1926, hg. v. Hella Sieber-Rilke. Bd. 1, Frankfurt/M. u. Leipzig 2009, S. 34.
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Vgl. Rilkes Rezension (1902), SW 5, S. 584–592. Vgl. auch Wolfdietrich Rasch, Fin de siècle als Ende und Neubeginn, in: Roger Bauer et al. (Hg.), Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1977, S. 30–31. Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, hg. v. Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth SieberRilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 1, Frankfurt/M. 1955, S. 256–257 (Zitate fortan im Haupttext belegt als: SW 1). (fortan: SW 1). Datierung: 22. September 1899. Vergil verheißt in der Vierten Ekloge die Wiederkunft des Goldenen Zeitalters, das die Eiserne Zeit der Gegenwart ablösen wird. Vgl. Gatz, Weltalter, S. 90–91. Vgl. Dictionnaire des antiquités grecques et romaines. Bd. 4, Paris [1911], S. 987–989. Vgl. Gatz, Weltalter, S. 104–105. Paris, Sonntag, 8. August 1909. Rainer Maria Rilke, Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914, hg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber, Leipzig 1939, S. 66–67. Die Gräfin war eine Generation älter als Rilke. Vgl. Erich Unglaub, Zu Rilkes Konzepten von Welt und Umwelt, in: Andrea Hübener et al. (Hg.), Rilkes Welt. Festschrift für August Stahl zum 75. Geburtstag, Frankfurt/M. 2009, S. 65–75. Vgl. das Motiv bei Ovid. Anja Wolkenhauer, Dehnung der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit: Entwürfe des guten Alterns im griechisch-römischen Zeitaltermythos, in: Thorsten Fitzon, et al. (Hg.), Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte, Berlin u. Boston 2012, S. 230–233. Vgl. auch Rasch, Fin de siècle, S. 44. Augustinus: Sermo 267. Vgl. auch Therese Fuhrer, Erneuerung im Alter: Augustins aetatesLehre, in: Fitzon, Alterszäsuren, S. 260–287. Rilke las erst 1911 die Confessiones des Augustinus. W. Rasch vermutet, dass die Augustinische Formel um 1890 zwar eine gewisse Aura hatte, aber „der Beiklang von Weltuntergang“ nicht ernst gemeint war. Rasch, Fin de siècle, S. 32 u. S. 33. Vgl auch Hans Richard Brittnacher, Die Erfindung und Verabschiedung eines Zeitalters. Zur Renaissance bei Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Heinrich Mann, in: Zagreber Germanistische Beiträge 20 (2011) S. 12. Vgl. Roger Bauer, „Décadence“: histoire d’un mot et d’une idée, in: Cahiers roumains d’études littéraires 1 (1978), S. 64; Richard Hamann u. Jost Hermand, Impressionismus, München 1972, S. 164–166. Dazu Hamann u. Hermand, Impressionismus, S. 151 mit Hinweis auf Rilke. Vgl. Wunberg, Historismus, S. 48. Jens Malte Fischer, Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche, München 1978, S. 86–87. Wolfdietrich Rasch, Die literarische Décadence um 1900, München 1986. J.A. Schmoll gen. Eisenwerth, Vorwort, in: Bauer, Fin de siècle, S. X–XI Vgl. Das Volkslied, SW 1, S. 40. Vgl. Im alten Hause, SW 1, S. 9. Diese Zukunftszuversicht in die „neue Zeit“ findet sich auch in den Zeilen ‚Ich kam aus blassen Fernen‘, SW 3, S. 556. Vgl. SW 1, S. 111–112. Vgl. Das ist dort, wo die letzten Hütten sind, SW 3, S. 226. Vgl. SW 3, S. 181. Vgl. auch Heide Eilert, Die Vorliebe für kostbar-erlesene Materialien und ihre Funktion in der Lyrik des Fin de siècle, in: Bauer, Fin de siècle, S. 423–424 und S. 432. Vgl auch Sprengel, Geschichte, S. 603. Vgl. auch das Gedicht Weißes Glück, SW3, S. 454 und Entfremden mußt du den Gepflogenheiten, SW 3, S. 680.
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Rilkes ‚Zarathustra‘-Lektüre ist erst 1901 nachweisbar. Vgl. Katja Brunkhorst, ‚VerwandtVerwandelt‘. Nietzsche’s Presence in Rilke, München 2006, S. 4, S. 142 u. S. 54 zu ‚fin de siècle‘. Rilke wies in seinen Brief an Hermann Pongs (17. August 1924) darauf hin, dass ihm seine Position als ‚Einsamer‘ schon in den Erfahrungen aus der Zeit der Militärschule (1886– 1891) bewusst war. Vgl. dazu George C. Schoolfield, Young Rilke and His Time, Rochester u. New York 2009, S. 297 u. S. 301 sowie Rilkes eher abgrenzendes Gedicht An Stephan George, SW 3, S. 596–597. Vgl. auch Sascha Löwenstein, Poetik und dichterisches Selbstverständnis. Eine Einführung in Rainer Maria Rilkes frühe Dichtungen (1884–1906), Würzburg 2004, S. 172–180. Vgl. SW 3, S. 702–703. Vgl. Sabine Haupt, Themen und Motive. Das nach außen gestülpte, ausgestellte ‚Intérieur‘, in: Sabine Haupt u. Stefan Bode Würffel (Hg.), Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart 2008, S. 154–158. Vgl. SW 3, S. 227. Ähnlich in Dir zur Feier, SW 3, S. 191, auch in Mein Leben ist ein Opferrauchen, SW 3, S. 540. Zu Rilkes Sprachskepsis vgl. Sascha Löwenstein, Rainer Maria Rilkes Stunden-Buch. Theologie und Ästhetik, Berlin 2005, S. 109–116. Vgl. das an die Malerin Hermione von Preuschen gerichtete ‚Asrael‘, SW 3, S. 544–545. Vgl. Sabine Haupt, Frankreich, in: Haupt u. Würffel, Handbuch Fin de Siècle, S. 75. Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, Bd. 7 Übertragungen, Frankfurt/M. u. Leipzig 1997, S. 8–9. Vgl. Fritz Schalk, Fin de siècle, in: Bauer, Fin de siècle, S. 5–6. Schmargendorf, 10. Oktober 1898. Rilke, Briefe an die Mutter 1, S. 66. Albert Steffens berichtet, Rilke habe gegen Ende des Ersten Weltkriegs ausführlich über die Symphonie der Gerüche in Joris-Karl Huysmans À rebours gesprochen. Vgl. Albert Steffen, Buch der Rückschau, Dornach 1938, S. 173 und Gotthart Wunberg, Historismus, Lexemautonomie und Fin de siècle. Zum Décadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende, in: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft, 30 (1995) Heft 1, S. 38. Vgl. dazu Rilke an Georg Brandes. 28. November 1909. Rainer Maria Rilke, Briefe in zwei Bänden, Erster Band 1896 bis 1919, hg. v. Horst Nalewski, Frankfurt/M. u. Leipzig 1991, S. 337. Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, Herausgegeben vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 6, Frankfurt/M. 1966, S. 1006. Rilke an Mathilde Vollmoeller, 20. August 1906. Erich Unglaub (Hg.), Rilke Tagung 2004, Antwerpen, Gernsbach 2004, S. 31–32. Rilke an Sidonie Nádherný von Borutin, 21. März 1907. Unglaub, Rilke Tagung 2004, S. 36. Vgl. Manfred Engel, Vier Werkphasen, in: Manfred Engel (Hg.), Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2004, S. 177. Vgl. auch Helmut Koopmann, Entgrenzung. Zu einem literarischen Phänomen um 1900, in: Bauer, Fin de siècle, S. 81. Zur „ererbten Fülle“ bei Rilke vgl. Hamann u. Hermand, Impressionismus, S. 143. Vgl. SW 1, S. 396; vgl. auch Der Junggeselle, SW 1, S. 635. Vgl. den „verträumten Geiger“, SW 1, S. 427. Vgl. Maria-Christina Boerner u. Harald Fricke, Lyrik, in: Haupt u. Würffel, Handbuch Fin de Siècle, S. 311–315. Vgl. das Gedicht Todes-Erfahrung, SW 1, S. 518–519. Vgl. Wunberg, Historismus, S. 45–46 über die „Gleichrangigkeit aller Fakten“ bis hin zum enzyklopädischen Erfassen als Ausdruck des Wertrelativismus der Epoche. Vgl. SW 1, S. 605–606.
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Vgl. auch Rüdiger Hamner, Symbol, Allegorie, Mythos, in: Haupt u. Würffel, Handbuch Fin de Siècle, S. 287–288. Vgl. SW 1, S. 623–624. Vgl. auch Sabine Haupt, Themen und Motive. ‚Moloch‘ Stadt, in: Haupt u. Würffel, Handbuch Fin de Siècle, S. 152 auch in Hinblick auf Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910). Rainer Maria Rilke an Norbert von Hellingrath, 13. Februar 1912, Duino. Rainer Maria Rilke – Norbert von Hellingrath, Briefe und Dokumente, hg. v. Klaus E. Bohnenkamp, Göttingen 2008, S. 69. Wolfdietrich Rasch sieht in den ‚Duineser Elegien‘ eine „Dichtung des Untergangs“. Vgl. Rasch, Die literarische Décadence um 1900, bes. S. 247–255. Klagen und Rühmen, beides Aufgabe des Dichters, bleiben gleichermaßen präsent, freilich ist für Rilke der Tod in der „Zeitwelt“ nicht als Untergang, sondern als Übergang in andere ‚Welten‘ zu verstehen. Ein Fin de Siècle verliert damit seine angestammte literarische Funktion. Vgl. auch Rasch. Fin de siècle, S. 41–42.
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Informationen Zum Buch Die Literatur des Fin de Siècle reflektiert die fundamentalen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen der Zeit um 1900, indem sie aktuelle Themen künstlerisch verarbeitet und neue ästhetische Ausdrucksformen entwickelt. Die Beiträge dieses Bandes beschreiben die heterogenen Strömungen der literarischen Jahrhundertwende und entfalten ihre wesentlichen Aspekte. Die Literatur von und über Frauen, die Psychoanalyse, die Zentren der Bohème, die technischen Medien und die Unterhaltungskultur werden gleichermaßen behandelt. Ausgewählte Autoren, die auch heute noch präsent sind, finden sich ausführlich porträtiert, so Stefan George, Heinrich und Thomas Mann, Robert Musil, Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke, Frank Wedekind. Die Verbindung von Biographie und Werkanalyse ermöglicht Einsichten in die zentralen Themen und Schreibformen der Jahrhundertwende.
Informationen Zum Autor ((Herausgeber)) Johannes G. Pankau, Prof. Dr., lehrt Germanistik und Rhetorik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und an der Universität Bremen.