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German Pages [569] Year 2017
Seele, Existenz und Leben Band 27
Beatrix Vogel
Fühlen ist eine Wissensform Die Primärtherapie Arthur Janovs als Schlüssel für ein neues wissenschaftliches Grundlagenparadigma
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495818213
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Beatrix Vogel
Fühlen ist eine Wissensform
VERLAG KARL ALBER
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Arthur Janovs »Der Urschrei« (1970) und die von ihm entwickelte Primärtherapie erneuerten das bis heute ungelöste Grundlagenproblem der Psychologie: Wie ist deren Gegenstand, die Gegebenheitsweise des Menschseins, im Rahmen naturwissenschaftlich-empiristischer Methodologie angemessen zu repräsentieren? Vogels Untersuchung gewinnt aus den Texten Janovs die These, dass sich die Wissenschaftlichkeit der Primärtherapie erweisen lässt, wenn FÜHLEN (Janov), unter Anwendung der empiristischen Forschungslogik, als eine Wissensform expliziert wird. Dieser Paradigmenwechsel in der wissenschaftlichen Methodologie geht mit einer radikalen Umdeutung des Sinns menschlicher Erkenntnis und des Menschseins selbst einher.
Die Autorin: Beatrix Vogel, geb. 1945 in Limburg/Lahn, Dipl.-Psych., Dr. phil.; Studium der Philosophie und Wissenschaftstheorie, Psychologie, der katholischen und evangelischen Theologie. Promotion mit dem Haupttext der vorliegenden Studie unter dem Titel: Der primärtherapeutische Begriff der Erfahrung. Versuch einer erkenntnistheoretisch-forschungslogischen Begründung der Primärtherapie Arthur Janovs (tuduv 1987). Empirisch-wissenschaftliche und klinische Tätigkeiten als Diplompsychologin an verschiedenen klinischen und Forschungs-Institutionen. Von 2000 bis 2012 Vorsitzende des Nietzsche-Forums München e. V., zuvor, seit 1987, Vorsitzende des Nietzsche-Kreises München. Übersetzungen sowie zahlreiche Publikationen zu Psychologie, zum Wertewandel und zu Nietzsche. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen ist (Hg. und Beitrag): Umwertung der Menschenwürde. Kontroversen mit und nach Nietzsche (2014).
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Seele, Existenz und Leben Band 27:
Beatrix Vogel
Fühlen ist eine Wissensform Die Primärtherapie Arthur Janovs als Schlüssel für ein neues wissenschaftliches Grundlagenparadigma
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Seele, Existenz und Leben Herausgegeben von Günter Funke und Rolf Kühn in Zusammenarbeit mit dem Institut für Existenzanalyse und Lebensphänomenologie Berlin (www.guenterfunkeberlin.de) sowie dem Forschungskreis Lebensphänomenologie, Freiburg i. Br. (www.lebensphaenomenologie.de)
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48821-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81821-3
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Inhalt
Einleitung zur Neuausgabe
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Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. TEIL: Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft: Der Begriff der empiristischen Erfahrung und seine Crux für die Erfassung des Gegenstandes der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Probleme und Erfordernisse der wissenschaftstheoretischen Analyse einer »ganz neuen Erfahrung« . . . 1.1.1. Einleitende Begründung des fundamentalen Ansatzes der Aufgabenstellung . . . . . . . . . . 1.1.2. Erste Charakterisierungen der Janovschen Äußerungen im Hinblick auf eine wissenschaftstheoretische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.1. Die »Primal revolution«: Wissenschaftliche Alleinherrschaft des Fühlens? . . . . . . . . . . 1.1.2.1.1. Das Phänomen der totalen Kritik Janovs an allen bestehenden wissenschaftlichen Theorien. 1.1.2.1.2. FÜHLEN als Eingriff in die forschungslogische Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.1.3. Konsequenzen auf der Ebene der Wissenschaftssprache: Das Dahinfallen wissenschaftstheoretischer Differenzierungen als systematisches Merkmal der Janovschen Aussageweise .
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Inhalt
1.1.2.2. Ansatz zu einer ersten positiven Bestimmung des Neuen: Die Konstitution der »totalen Bedeutung« in der Janovschen Sprache . . . . . . . . . . . . 1.1.2.2.1. Die primärtherapeutischen Begriffsbedeutungen als Verbindung einer logischen Ebenendifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.2.2. Die Janovsche »Dialektik« der psychophysischen Verbindung: Die »sich bewegende« totale Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.3. Konsequenzen auf der Ebene des Wissenschaftsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.3.1. Exkurs: Bemerkungen zu einem logischen Aspekt bei der Herausbildung der Atomhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.3.2. Die primärtherapeutische Begriffsbedeutung und die primärtherapeutische »Methodologie« . 1.1.2.3.3. Erste vorläufige Charakterisierung der logischen Struktur der Primal hypothesis sowie der logischen Ebenen, die eine weitere Klärung derselben impliziert . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3. Einführung in die kategoriallogische Analyse als einem angemessenen Verfahren der Klärung und Präzisierung der Kohärenzform der Janovschen Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.1. Kategoriallogische Analyse als voraussetzungsarmes Verfahren der Kohärenzanalyse . . . . . 1.1.3.1.1. Der formal-materiale Ansatz der kategorialen Logik – die Kategorie als Beziehung von Denkform und Sprachform . . . . . . . . . . 1.1.3.1.2. Der implizit erkenntnistheoretische Charakter der kategorialen Logik – der Gesichtspunkt der Systematizität von Kategorien . . . . . . . . 1.1.3.2. Zweite vorläufige Charakterisierung der logischen Struktur der Primal hypothesis: Der formal-materiale Ansatz Janovs. Der Janovsche Ansatzpunkt: Die spezifische Quantität (die Einheit von Quantität und Qualität als Maß)
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Inhalt
1.2. Zur gegenwärtigen Theoriesituation der Psychologie . . . 1.2.1. Versuch einer Charakterisierung der Crux der empiristischen Wissensform für die Erfassung des psychologischen Gegenstandes . . . . . . . . . . 1.2.1.1. Allgemeine Charakterisierung des systematischen Zusammenhangs des erkenntnistheoretischen und des psychologischen Grundlagenproblems des empiristisch-wissenschaftlichen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.1.1. Überlegungen zu den logischen Implikationen des Begriffs der objektiven Erfahrung: Welche Sinn-Struktur setzt ein subjektiv konstituiertes, objektives Wissen voraus? . . . . . . . . 1.2.1.1.2. Die Aporie (der Begründungszirkel) des empiristischen Erfahrungsbegriffs als Repräsentation der Metastruktur in der Objektstruktur . 1.2.1.1.3. Der systematische Ort der Psychologie am »logischen Ausgangspunkt« der empiristischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.2. Versuch einer Rekonstruktion der dem empiristischen Erfahrungsbegriff impliziten Regel für eine Subjektivitätstheorie: Das Reflexionsverbot als Warnung vor einem Kategorienfehler . . . . . . 1.2.1.2.1. Versuch einer Beschreibung: Wie geht das Subjektive in die empiristische Erfahrungsform ein? – Gespaltensein als Ausdruck der Beziehung von Objekt- und Metaebene . . . . 1.2.1.2.2. Nähere Bestimmung der Crux des empiristischen Erfahrungsbegriffs für die Gegenstandserfassung der Psychologie: Positive Deutung des Reflexionsverbotes als die Aufforderung, eine »kategoriale Ebenendifferenz« zu denken . 1.2.1.2.3. Wissenschaftliche Psychotherapie als Instrument der Weiterführung der empiristischen Methode (mit besonderer Berücksichtigung der methodologischen Hypothese Freuds) . . . . .
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1.2.2. Versuch einer Charakterisierung, wie sich die Crux des empiristischen Erfahrungsbegriffs in der gegenwärtigen Theoriesituation der Psychologie zeigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.1. Globale Charakterisierung der antinomisch bestimmten Situation der psychologischen Gegenstandserfassung: Unlösbarkeit und zugleich Unabweisbarkeit des Problems, eine logische Ebenendifferenz zu denken . . . . . . . 1.2.2.2. Nähere Charakterisierung der MetatheorieProblematik in der gegenwärtigen psychologischen Theoriediskussion an einigen Beispielen . 1.2.2.2.1. Das Informationskonzept als Metatheorie: Die Ansätze von C. F. von Weizsäcker und W. H. König . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.2.2. Handlungstheorie als Metatheorie der Wissenschaften vom menschlichen Verhalten: Der Lösungsansatz von Ch. Kraiker . . . . . . . . 1.2.2.2.3. Das epistemologische Grundmodell psychologischer Theorien: Der Ansatz von N. Groeben 1.2.2.3. Zusammenfassende Bewertung des Problemstandes der gegenwärtigen psychologischen Theoriediskussion: Die Problematik des MetatheorieStatus der Psychologie . . . . . . . . . . . . .
II. TEIL: Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung. Versuch einer Darstellung der logischen Struktur der Primal hypothesis: »Fühlen ist eine Wissensform« . . . . 2.1. Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen: Identität als reflektierte Kohärenz . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Der »erste Pfeiler« des Janovschen Ansatzes: Die neue Weise, wie Janov die Kategorie der Negation denkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.1. Die Grundform des primären Zusammenhangs: »Connection« als Bewegung der Selbstvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.1.1. Der Zusammenhang von »need« und »feeling« 2.1.1.1.2. Der innere Ort der Bestimmtheit: »Connection« als »Man-selbst-sein« . . . . .
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2.1.1.1.3. »Primäre« und »sekundäre« Bedürfnisse und die Dialektik von Unmittelbarkeit und Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.2. Erste, vorläufige Bestimmung des Verhältnisses eines »klassisch« und eines »dialektisch« gedachten Aussageschemas . . . . . . . . . . . 2.1.1.2.1. Charakterisierung der Grundform des dialektisch gedachten Zusammenhangs . . . . . 2.1.1.2.2. Die »innere Negation« als Verbindung zweier kategoriallogischer Stufen von Bestimmtheit . 2.1.2. Der »zweite Pfeiler« des Janovschen Ansatzes: Die Weise, wie Janov von der Kategorie der Quantität Gebrauch macht . . . . . . . . . . . . 2.1.2.1. Die Stufen des primären Zusammenhangs und der Grund des Primären: Quantitative Vermittlung als Reflexionsmodell . . . . . . . . 2.1.2.1.1. Janovs »levels of consciousness« und Hegels »Reflexionskategorien« . . . . . . . . . . . . 2.1.2.1.2. Das Verhältnis von »Grundverhältnis« und »Bedingungsverhältnis«: Kategoriallogische Implikationen der »levels of consciousness« . . 2.1.2.2. Abstrakte und dialektisch konkrete Quantität. Weitere Bemerkungen zum Verhältnis eines klassischen und eines dialektischen Gegenstandsschemas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.2.1. Quantitative Gegenstandsbestimmung bei B. F. Skinner als Beispiel des quantitativen Schemas der Gegenstandsbestimmung . . . . 2.1.2.2.2. Die Wirksamkeit der Reflexionskategorien in der objektiven (äußeren) und in der subjektiven (reflektierten) Erkenntnisform . . . . . . . . 2.1.3. Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse der kategoriallogischen Analyse der Janovschen Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.1. Kategoriallogische Interpretation der »Bewegung« der primärtherapeutischen Begriffsbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.2. Kritische Bewertung der Janovschen Explikation des primärtherapeutischen Gegenstandes . . . .
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2.2. Psychologie als Primärwissenschaft: Forschungslogische Aspekte der Primal hypothesis . . . 2.2.1. Die Primal hypothesis als forschungslogische Grundlagentheorie . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1. Darstellung von Hegels »Theorie der Negation« als allgemeiner Rahmentheorie erfahrungswissenschaftlicher Wissensgewinnung . . . . 2.2.1.2. Deutung der Rahmentheorie durch das Schema der »Schwingung« als einem speziellen wissenschaftlichen Grundlagenkonzept . . . . . . . 2.2.2. Die Primal hypothesis als einzelwissenschaftliche Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1. Zur Dialektik der Primal hypothesis als Grundlagentheorie und als einzelwissenschaftliche Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2. Formen der Primal hypothesis als eine einzelwissenschaftliche Hypothese . . . . . . . . . 2.2.3. Zusammenfassende, abschließende Bemerkungen zur Dialektik von klassisch-empiristischem und primärtherapeutischem Begriff der Erfahrung . .
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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
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Considerate la vostra semenza! Fatti non foste a viver come bruti, Ma per seguir virtute e conoscenza. Dante, Divina Comedia, C.XXVI
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Fühlen ist eine Wissensform. Die Primal Hypothesis Arthur Janovs als Schlüssel für ein neues wissenschaftliches Grundlagenparadigma Einleitung zur Neuausgabe Eine erste wissenschaftliche Psychotherapie? Als die hier erneut und unverändert vorgelegte Arbeit zur Primärtherapie Arthur Janovs in den Jahren 1973 bis 1985 entstand, ging es um die Exploration einer Möglichkeit, die mit der Entdeckung des »Urschreis« auf dem Feld der Tiefenpsychologie eruptiv entstandene Therapieform wissenschaftlich zu verstehen. Janovs Beschreibungen seiner Erfahrungen und die kontroverse Rezeption seiner Äußerungen durch die Öffentlichkeit waren ein Paradebeispiel des fast verbissen anmutenden Ringens der Psychologie um ihren wissenschaftlichen Status, derart, dass Theorien, wie in besonderer Weise der Denkansatz der Janov-Therapie, von denen sich die Menschen in ihrem Leiden verstanden und aufgenommen fühlen, als unwissenschaftlich abgetan und dementsprechend in ihrer Vertrauenswürdigkeit herabgestuft werden, obwohl sie – im Unterschied zu Formen akademischer Psychologie, die geflissentlich bestrebt sind, sich an Methodenstandards objektiver Wissenschaft anzupassen – ihrem Namen als psychologische gerecht zu werden suchen. Ihrer weiteren wissenschaftlichen Reflexion war eine solche Herabstufung freilich nicht gerade förderlich. Im Falle Janovs spitzte sich diese Situation insofern noch zu, als der Entdecker der Primärtherapie dem Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit von Anfang an vehement entgegentrat – ein Widerspruch, der, als ein mehrdeutiger, bis heute fortbesteht: Nach 45 Jahren seit dem Erscheinen von »The Primal Scream« ist derzeit im Wikipedia-Eintrag zur »Primärtherapie« zu lesen, dass sie wissenschaftlich nicht anerkannt sei. 1 Hingegen findet 1 »Primärtherapie (engl. Primal Therapy) ist die deutschsprachige Bezeichnung für eine von dem US-amerikanischen Psychologen Arthur Janov entwickelte psychotherapeutische Behandlungsmethode. Sie beruht auf der von ihm entwickelten Primal
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sich auf der »Official Site of Primal Therapy« von »The Janov Primal Center for Treatment, Training and Research«, unter der Rubrik »What is Primal Therapy?« der Passus: »For the first time in the history of psychology there is a way to access feelings, hidden away, and thus to reduce human suffering. It is, in essence, the first science of psychotherapy.«
Der revolutionäre Charakter der Primärtherapie bezieht sich ihrem Urheber zufolge somit nicht allein auf die Entdeckung eines ungewöhnlichen Phänomens, des Urschreis, sondern auf die Primärtherapie als erste psychotherapeutische Methode mit naturwissenschaftlichem Geltungsanspruch. Dieser Anspruch seitens tiefenpsychologischer Therapieformen ist allerdings nicht neu: Bekanntlich insistierte Sigmund Freud darauf, dass das psychoanalytische Unternehmen den Status einer Naturwissenschaft habe, und zwar aufgrund der Erklärungskraft unbewusster Bewusstseinsprozesse (vgl. Freud 1938, S. 80; eine Diskussion hierzu findet sich in: Grünbaum 1984); wobei jedoch die Kontroverse um den Status der Psychoanalyse im Rahmen der unverändert ungeschlichteten Inkompatibilität oder fundamentalen wechselseitigen »Fremdheit methodologischer und ontologischer Kategorien« von Natur- und Humanwissenschaften (Habermas) bis heute unverändert fortbesteht: Ist sie, wie es einerseits heißt, eine bewusstseinsphilosophische Interpretationsmethode für psychische Akte und psychisches Erleben bzw., nach Jürgen Habermas, ein emanzipatorischer Prozess kritischer Selbstreflexion oder, wie andererseits geltend gemacht wird, eine naturwissenschaftliche Theorie, die überprüfbare empirische Aussagen über menschliches Erleben und Verhalten zulässt? Auch die Bemühungen Janovs um den Aufweis der Wissenschaftlichkeit der Primärtherapie 2 ändern nichts an dieser GrundTheory (»Primärtheorie«), deren Grundlagen er in seinem Buch Der Urschrei beschrieben hat. Die Primärtherapie basiert auf der Annahme, dass frühkindliche katastrophale schmerzhafte (traumatische) psychobiologische Erfahrungen und Erlebnisse die gesamte Entwicklung und das spätere Leben von Menschen nachhaltig negativ beeinflussen können und dass durch Wiedererleben dieser Erfahrungen und Erlebnisse ihre negativen Auswirkungen gemildert und verringert werden können. Sie ist wissenschaftlich nicht anerkannt.« (Eintrag »Primärtherapie« in Wikipedia, zuletzt aufgerufen am 15. 02. 2016; Hervorhebung des letzten Satzes, B. V.) 2 Diese Bemühungen setzen früh ein, unmittelbar nach dem Bestseller »The Primal Scream« (1970). In späteren Arbeiten bezieht sich Janov aber bereits auf die Erstpublikation als Ort der Darlegung der Primärtheorie.
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befindlichkeit genuin psychologischer Theorien: dass man sie als psychologische verlassen muss, um ihnen, die psychophysische Differenz überspringend, in ungeklärter Parallelität zu Ergebnissen naturwissenschaftlicher Forschung das Privileg der Wissenschaftlichkeit zukommen zu lassen. So kann die von Janov sehr früh begonnene und bis heute betriebene Verknüpfung von primärtherapeutischen Aussagen mit Befunden der Neurophysiologie und -biologie sowie insgesamt seine Versuche einer neurophysiologischen Beschreibung der Neurose sowie der Wirkungsweise der Primärtherapie, obzwar von Janov als »wissenschaftliche Basis« der Primärtherapie ins Spiel gebracht, genau diese Funktion einer »Fundierung« der Primärtherapie keinesfalls leisten; vielmehr sind sie in dieser Hinsicht, seinen eigenen Worten gemäß, als obsolet und invalid (s. u.) zu beurteilen; und dies in einem doppelten Sinn: zunächst – einzelwissenschaftlich, im Sinne eines neuen Paradigmas der Theorie der Neurose und ihrer Heilung – widerspricht ein solches Vorgehen offensichtlich den dezidierten Äußerungen Janovs zur wissenschaftlichen Alleinherrschaft des Erlebens/FÜHLENS, derart, dass jeder externe Zugang zur Primärtherapie, jede externe Evidenzquelle streng zurückzuweisen ist: »We have failed to understand, that experience validates a theory about human neurosis, and that the only person who can find a truth about himself is that person.« (Janov 1973a, S. 22) »Primal theory simply says, that the only validity is in experience. The only psychological truth is experienced truth.« (ebd.) »Primal therapy … claims to be the only cure. By implication, this renders all other psychologic theories obsolete and invalid. It means, that there can be only one valid approach top treating neurosis and psychosis … If we are ever to comprehend what a cure really means, we must rethink the entire base of our theories.« (Janov 1873a, S. 19 ff., Hervorhebung B. V.)
Janov ist davon überzeugt, mit seiner Entdeckung und im ihr Nachgeben und Nachgehen im Sinne der detaillierteren Entwicklung der Primärtherapie auf etwas völlig Neues gestoßen zu sein; er fasst es als das Verständnis der Neurose als einer Pathologie des FÜHLENS 3 , als etwas, das »tiefer« liegt als alles, worüber bisher psychologische Die Großschreibung soll anzeigen, dass dieses »Fühlen« in der Beschreibung durch Janov als etwas genuin Neues, zunächst nur im Kontext der Primärtherapie, als ihr Ergebnis, auftritt und zustande kommt und nicht mit dem umgangssprachlichen Term verwechselt werden darf. Die Großschreibung von »FÜHLEN« (oder »subjektives FÜHLEN« oder »das SUBJEKTIVE«, wie in der vorliegenden Arbeit als Anwärter einer neuen Wissensform entwickelt, konnotiert in diesem Kontext eine neue logische
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Theorien und Psychotherapien, ob Verhaltens-, Gesprächs-, Realitäts- oder auch Körpertherapien einschließlich Rebirthing und verschiedene psychoanalytische Methoden, gehandelt haben. Und dieses Andere, »Tiefere«, welches das primärtherapeutisch wirksame Reale konstituiert, muss als der die »physischen« und »psychischen« Zugangsweisen umfassenden Phänomen-Vielfalt der Oberfläche zugrunde liegend aufgefasst werden, derart, dass ein durchgängiges Verbundensein des Erlebens eines Menschen mit diesem zugrunde Liegenden im Zustand des FÜHLENS insgesamt »Gesundheit« bedeutet, während die Abwehr, Einschränkung und Blockade der Durchgängigkeit der Verbindung von »Oberfläche« und »zugrunde Liegendem« (als Abwehr, Einschränkung und Blockade des FÜHLENS) als die Ursache der Vielfalt der neurotischen Symptome geistiger, emotionaler und physischer Verirrungen, Fehlentwicklungen und Anomalien angesprochen werden muss. Mit dieser Art »ontologischer Tieferlegung« des Gegenstandes der Primärtherapie 4 gewinnt aber auch ihr Anspruch als erste wissenschaftliche Psychotherapieform eine tiefere, radikalere Bedeutung: Denn, Janov zufolge, sind die bestehenden Psychotherapieformen, insofern sie sich auf die Oberflächen-Symptome richten und nicht bis zur Ebene der Verursachung »durchtauchen« (»to get below the suface, plunge trough the symbols and get straight to what is real« 5 ), nicht nur unwirksam; sie verstärken die Neurose, sind Konstruktionen eines selbst »kranken Systems« – des »cultural mode, the very cultural ›Zeitgeist‹ [sic!] which produces neurosis in my opin-
Dimension. Der erste Patient, der den »Urschrei« erlebte, soll danach aufgestanden sein und gesagt haben: »I made it. I don’t know what – but I can feel.« 4 Dieser von Georg Misch stammende Begriff verweist auf den Umkreis hermeneutischer Neuansätze der Philosophie in der Nachfolge Diltheys, die sich um eine Logik und Kategorienlehre des »Lebens« bemühen; um eine Verankerung logischer Prinzipien im lebendigen Vollzug; um eine Annäherung der Wahrheit des Verstehens und jener der wissenschaftlichen Methode. Durch eine Erweiterung der logischen Fundamente sollte der unproduktive Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaft lebensphilosophisch überwunden werden. Vgl. Bollnow 1980. Die Auseinandersetzung mit dem Denken Georg Mischs, im größeren Umkreis der Arbeiten von Gadamer, Dilthey, Ricoeur, Lipps u. a. – insbesondere aber mit der radikalen Lebensphänomenologie Michel Henrys und Rolf Kühns (s. u.) –, erscheinen mir für eine erneute und weiterführende Erforschung des innovativen Potentials der Janov-Therapie unverzichtbar und vielversprechend. 5 Janov 1979, S. 208.
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ion«. 6 So sind, Janov zufolge, neben den (neurotischen) Leiden und Gebrechen der Menschen die Therapien der Krankheiten das größte Übel, da sie das kranke Wertesystem, die Abwertung und Blockade des FÜHLENS – als der fluiden Verbindung von Oberfläche und Tiefe – verstärken und den Menschen insgesamt noch tiefer in die Krankheit hineintreiben, ihn kränker machen. Hierdurch wird deutlich, dass der von Janov erhobene Anspruch erstmaliger Wissenschaftlichkeit für eine Psychotherapie nur so verstanden werden kann, dass sich in der Primärtherapie etwas Grundlegendes, ein »Urerleben« in zweifacher Bedeutung ereignet: als eine heilende Tiefenerfahrung und »Neugeburt« auf der Ebene des individuellen Bewusstseins und zugleich als die Entdeckung des Erlebens/ FÜHLENS als einer in einem neuen Sinn SUBJEKTIVEN Wissensmethode, die – und das ist das zunächst Rätselhafte – in völlig neuer Form als »wissenschaftlich« im klassisch-empiristischen Sinn Geltung beansprucht – mithin erstmals als eine psychotherapeutische Methode, deren Wissenschaftlichkeit darin besteht, dass sie eine Veränderung (»Heilung«) der wissenschaftlichen Methode im Ganzen hervorbringt. Die vorliegende Arbeit stellt sich der Aufgabe, den starken Anspruch der Wissenschaftlichkeit der Primärtherapie einzulösen, mit der leitenden Hypothese, dass ein Weg gefunden werden kann, FÜHLEN als eine der klassisch-empiristischen Gegenstandsstrukturierung forschungslogisch äquivalente Wissensform zu begreifen und zu explizieren und dies in Auseinandersetzung mit der (Forschungs-)Logik der empiristisch-wissenschaftlichen Methode: als eine Neuinterpretation und veränderte Anwendung des grundlegenden logischen Schemas der empiristisch-wissenschaftlichen Wissensform. Damit werden zugleich die erkenntnistheoretisch-wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen erarbeitet, die unfruchtbare und in erkenntnistheoretischer Perspektive unhaltbare Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden. Indessen ist Arthur Janov auch in diesem stärkeren, radikaleren Sinn der Charakterisierung der Primärtherapie als einer ersten wissenschaftlichen Psychotherapie durchaus nicht der einzige Rufer in der Wüste einer durch szientifische Verengungen gegenwärtiger Philosophie und Wissenschaft geprägten Psychotherapie. Sigmund Janov 1970, S. 217. Zu den Stichworten »establishment thinking«, »general neurotic philosophy« vergl. etwa Janov 1973a, S. 36; ders. 1973b, S. 194; S. 198; ders.1980, S. 226.
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Freud, der die Problematik der forschungslogischen Position des Subjekts und der Positionierung der vitalen Interessen des realempirischen Subjekts im Rahmen einer vom wissenschaftlichen Wirklichkeitsbezug geprägten Kultur – und die individuelle Neurose somit auch als ein Symptom des »Unbehagen(s) in der Kultur« (1930) – zur Sprache bringt, schlug zunächst einen Mittelweg ein, indem er die Heilung der Neurose als eine nachholende Entwicklungsarbeit konzipierte, welche eine Anpassung des individuellen Bewusstseins an die wissenschaftliche Bewusstseinsformation ohne krank machende Abwehrformen und Verdrängungen erlauben sollte. Obwohl also für die Psychoanalyse insgesamt der Denkrahmen einer naturwissenschaftlich dominierten Kultur leitend blieb, ringt Freud mit dem methodischen Problem, die unter seinem Entdeckergenius sich entfaltende Phänomenalität des psychoanalytischen Gegenstandes in einem klassisch-wissenschaftlichen Rahmen zu situieren. Denn das innovative Moment und die Heilkraft der »psychoanalytischen Kur« als Therapie besteht doch gerade in einer einzigartig erweiterten Wahrnehmung des Subjektiven, wie es sich als Gegenstand psychotherapeutischer Untersuchung und Behandlung zeigt und äußert: durch die Öffnung der Wahrnehmung für die Manifestationen der Phantasie, für die Sprache des Unbewussten, der Träume, die freie Assoziation, für fühlendes Erleben und Sichbefinden; und die psychotherapeutische Arbeit besteht gerade darin, diesem um seine verborgenen, verdrängten, abgespaltenen Anteile erweiterten Subjektiven einen Spielraum der Wahrnehmung und der erprobenden, integrierenden Hervorbringungen zur Verfügung zu stellen – wenn dieser Prozess auch wieder über spezifische Kanäle des Settings der Therapie letztlich der kulturellen Leitvorstellung unterworfen wird, derart, dass Bahnung und Hemmung von Triebenergie jeweils gleich gut ausgebildet sein müssen, damit die Person ihr Verhalten steuern und im Sinne der Erfordernisse eines wissenschaftlichen Machbarkeitskonzepts von Realität kontrollieren kann. Das psychoanalytische Geschehen bleibt so, zumindest zunächst, auf die Insel einer rein persönlichen Ausnahmeerfahrung beschränkt – deren Umsetzung, im Alltag wie im öffentlichen Raum, d. h. außerhalb des therapeutischen Settings, dem Einzelnen überlassen und aufgebürdet bleibt. So bedeutsam der innovative Erfassungsmodus des Gegenstandes der Psychoanalyse für den therapeutischen Prozess ist und so fruchtbar die Einblicke in das »Psychische« als der primär menschlichen Ge18 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Eine erste wissenschaftliche Psychotherapie?
gebenheitsweise auf verschiedene Disziplinen des Denkens, auf Philosophie und Kulturwissenschaft, auf die Künste und für das allgemeine Bewusstsein insgesamt geworden ist: zu einer metánoia – einem radikalen Umdenken – im Sinne einer Neukonzeption einer prima philosophia als einer neuen Grundlagentheorie des gesamtwissenschaftlichen Wissens ist es durch die Psychoanalyse Freuds nicht gekommen. Die Bewertungen ihres Wissenschaftscharakters – im Für und Wider ihrer Zuweisung zu einem naturwissenschaftlichen oder hermeneutischen Wissensmodell – blieben kontrovers, bis hin zu einer Teilung der Psychoanalyse, derart, dass der naturwissenschaftliche Charakter der Theorie anerkannt wurde, nicht aber deren klinische Validierung. Die ätiologischen Postulate sollten außerklinisch, etwa experimentell oder epidemiologisch, abgestützt werden (vgl. Grünbaum 1987 und Tress 1989). Das aber heißt ja, dass gerade das innovative Moment der klinischen Methode – die neue Wahrnehmung des Gegenstandes – in seiner Bedeutung für die beanspruchte Wissenschaftlichkeit des psychoanalytischen Unternehmens und genereller in Bezug auf die empiristisch-naturwissenschaftliche Methode überhaupt nicht reflektiert und ausgearbeitet wurde. Die radikale Lebensphänomenologie, wie sie insbesondere in den Arbeiten von Michel Henry und Rolf Kühn – durch dessen Übersetzungen das Werk Henrys in Deutschland bekannt wurde – niedergelegt ist (vgl. Henry 2014 und Kattelmann et al. 2012), macht hier einen Vorstoß und gelangt mit einer Neubestimmung des Wesens lebendiger Phänomenalität als »immanente Selbstaffektion des absolut subjektiven Lebens« zu einer Neubegründung einer phänomenologischen Philosophie, die eine reiche und fruchtbare Möglichkeit bietet für eine Auseinandersetzung mit dem Anliegen, zu dem meine Arbeit zur Primärtherapie Arthur Janovs betragen will: einem Verständnis der wissenschaftlichen Gegenstandserfassung – des objektiven Gegenstandsbezugsschemas – und dem Dilemma, welches eben dieses für Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie und weitere Disziplinen mit sich bringt, denen es um das Menschseins, das Existenzverständnis und die sich spezifisch dem Menschen stellende Entwicklungsnot zu tun ist. Michel Henry spricht von der »schweren Beeinträchtigung«, die »das Zum-Erscheinen-Kommen im ›AußerSich‹ der Welt« (Henry 2012, S. 32) im Zugang auf eine andere Wesensform der Phänomenalität bedeutet: jener so anderen Ur- und Selbstoffenbarung des Lebens, die zugleich die anfängliche Gegebenheit des Seelenlebens und schlechthin die primäre Gegebenheitsweise 19 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Fühlen ist eine Wissensform
des Menschseins ist, einer abgründigen Affektivität, in der der Phänomentyp einer unabdingbaren, grundlegenden Subjektivität, ein »Sich selbst erfahren«, zum Ausdruck gelangt, in die unser Existenzverständnis gewissermaßen eingetaucht ist. Diese neue Bestimmung des Wesens des Phänomens liegt im Erfassen eines tieferen Zugangs zur schlechthin primären Gegebenheitsweise des Menschseins, des Phänomentyps »der urimpressionalen Leiblichkeit oder Fleischlichkeit des Affekts in seinem absolut subjektiven Bedürfen« (Henry 2014, S. 183): Eine solcherart radikal phänomenologisch erfasste Psychologie und Psychotherapie ist dazu angetan, Psychologie und Psychotherapie als eine erste Philosophie und Grundlagentheorie zu explizieren. In diesem Sinne haben wesentliche Einzeluntersuchungen Michel Henrys zum Affektverständnis, die sich mit dem Denken Sigmund Freunds auseinandersetzen, die Anklänge einer – grundlagenphilosophisch relevanten – radikal gewendeten Affektenlehre im Werk Sigmund Freuds freigelegt. Eine Analyse der Rolle des Bedürfnis-FÜHLENS in der Primärtherapie Arthur Janovs als Anwärter eines forschungslogischen Grundlagenkonzepts kann hieran ohne weiteres anschließen. Das dem Gegenstandsbezug der Psychoanalyse innewohnende Potential, eine Grundlagendebatte anzustoßen, zumindest aber das herrschende, einseitig von einem wissenschaftlichen Machbarkeitsdenken geprägte Wirklichkeitsverständnis einer Kritik zu unterziehen, hat eine Reihe von Psychotherapeuten in der Nachfolge Freuds dazu ermutigt oder genötigt, die Neurose zunächst als eine Sackgasse im Kampf mit einer durchweg krankmachenden Lebenseinstellung einer einseitig an pausenloser Selbstkonstitution durch Leistung orientierten Gesellschaft zu verstehen und sich Heilung im Sinne von Entwicklung als zugleich einem Umdenken und Umschwenken zu einem neuen Lebensverständnis zur Aufgabe zu machen. 7 So vollzogen etwa Alfred Adler mit dem »Gemeinschaftsgefühl« als zentralem Begriff seiner zweiten Theoriestufe oder Melanie Klein mit dem Konzept einer originären Liebesbereitschaft oder der Psychoanalytiker Wilfried R. Bion durch die Erfassung einer mit dem Buchstaben »O« bezeichneten inneren Wirklichkeit als einem tiefen Sein (being) und einem Werden (becoming), welches sich unserer aufnehmenden Bezogenheit nur als Transformationen einer emotionalen Grunderfahrung erschließe, Wendungen zu einem positiv Heilenden im 7
Darin folge ich den eindrucksvollen Darlegungen von Karl Heinz Witte (2014).
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Eine erste wissenschaftliche Psychotherapie?
psychotherapeutischen Feld, indem sie eine wahr- und aufnehmendpassiv-bezogene Kapazität des Individuums als grundlegend gegenüber einer aktiv-wertend-manipulativ nach außen gerichteten Konstituiertheit des Individuellen herausstellten. 8 Nicht zufällig konnte sich der Janovsche »Urschrei« als ein Durchbruch der Erfahrung zu einer tieferen Seinsebene (»deep being«) gerade in jenen Jahren ereignen, da einerseits gesellschaftskritische Strömungen – etwa die aus der Frankfurter Schule hervorgegangene Studentenbewegung der späten sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts – und andererseits die esoterische New-Age-Bewegung, die vorübergehend für ein neues Denken aus der Verbindung von östlicher Mystik und westlicher Wissenschaft firmierte, sowie ein ganzes Bündel vielfältigster Strömungen und Initiativen alternative Denk- und Lebensweisen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Entscheidendes Merkmal der vielfältigen Angebote eines »irgendwie erneuerten Lebensentwurfs«, die eine Abkehr von dem beherrschenden Zeitgeist zum Ausdruck bringen, ist die Suche (und Sehnsucht) nach der eigenen »wahren Natur«, nach einer »letzten Wirklichkeit«, die einer »anderen Ordnung« angehört als die Welt der normalen Wahrnehmung; das Interesse an neuen Zugangsweisen tiefer Wahrnehmung des Selbst, des eigenen Seinsgrundes als grundsätzlich jedem erreichbar – sei es plötzlich, sei es in einem längeren Prozess übender Annäherung –, verbunden mit einem Bewusstsein der Einheit alles Lebendigen, von Selbst- und Mitwelt, jenseits einer dualistischen SubjektObjekt-Spaltung. Begriffe, die aus solchen Kontexten – oftmals, aber nicht nur, Rezeptionen und Adaptationen östlicher Philosophie und Meditationspraxis – quasi wie von selbst, bis in die Alltagssprache hinein, Bedeutung erlangten, wie z. B. der Begriff der »Achtsamkeit« (mindfulness), der eine offene, akzeptierende Haltung bezeichnet im SichEinlassen auf das, was im Hier und Jetzt »da« ist; die Bezeichnungen »Satori« oder »Kensho« aus dem Zen-Buddhismus, die in Richtung auf ein »Erschauen des eigenen Wesens«, »der eigenen wahren Natur« verstanden werden können; oder, in jüngerer Zeit, etwa der Ausdruck »mindless awareness« und »aliveness«, mit denen Eckhart TolHier folge ich den sehr erhellenden Ausführungen von Karl Heinz Witte (2014, S. 107 ff.) in seinen verschiedenen Kapiteln zu Alfred Adler, Melanie Klein, Wilfried R. Bion.
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Fühlen ist eine Wissensform
le – seinen Vornamen »Johannes« hat er in respektvoller Verehrung gegen jenen des Meisters der christlichen Mystik aus Hochheim ausgetauscht – den Tiefengrund des Seins, die Ebene der formlosen, wahren Natur jenseits des Denkens bezeichnet; aber auch die weiter oben genannten Begriffe, die sich als Erfahrungen einer »Ur-Passivität« (Witte 2014, S. 145) 9 beschreiben lassen, die »der individual-psychologischen Therapie einen unerschlossenen Grund öffnen« (a. a. O., S. 151): alle diese Begriffe berühren zweifellos auf die eine oder andere Weise das von Janov und seinen PatientInnen beschriebene FÜHLEN im Sinne der Primärtherapie als etwas »ganz Neues«, eine neue Ur-Erfahrung. So konstatiert Karl Heinz Witte – zu Recht, wie ich meine – eine »strukturelle Übereinstimmung der Individualpsychologie mit den Religionen, Weltanschauungen und Philosophien, die einen Riss und eine Konversion zwischen dem alltäglichen und einem irgendwie erneuerten Lebensentwurf kennen. Taoismus, Buddhismus, Hinduismus, Christentum, Neuplatonismus, aber auch philosophische Entwürfe […], z. B. Heideggers ›Kehre‹ und Lévinas ›Antlitz des Andern‹ sind dafür je verschiedene, aber signifikante Beispiele. Vor allem ist hier Michel Henrys ›Umsturz der Phänomenologie‹ […] zu nennen.« (ebd.)
Die Zeit scheint reif und es ist, als kreisten vielfältige, ja disparate Geschehnisse und Erscheinungen, die auf den ersten Blick nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben, um ein Neues, das zu erfassen und ins Leben zu bringen wäre: eine dringend gesuchte, notwendige, »radikale« – an die Wurzeln gehende – Veränderung, eine metánoia sehr tiefgreifender Art, die den Einzelnen wie auch die Gesellschaft, den Zusammenhalt der Menschen, betrifft – nichts geringeres als eine neue Weise, das Menschsein zu entziffern, zu verstehen, als ein Selbstbewusstsein, das sich in einer ganz neuen, tiefen Weise als ein MITTEL-Sein erfährt und begreift, eine Weise dienender Bezogenheit zu sich selbst, den Mitmenschen und allem, was ist, als eine Weise unendlich fühlend-erfüllten LEBENDIG-Seins; eine Weise, die sich – das ist in meiner Arbeit der entscheidende Punkt: nicht aus einer Religion, nicht aus einer Sollensethik oder irgendeiner Staatsraison herleitet, sondern die sich erschließt aus einem tieferen Verständnis der wissenschaftlichen Methode. Diese neue Erfassung und Sicht des Menschseins gründet also in einem gewachsenen Wirklichkeitsverständnis, tief verwurzelt in der Geschichte des kulturellen 9
ebd.
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Annäherung an einen »primärwissenschaftlichen Gegenstandsbezug«
Abendlandes, insbesondere der die neuzeitliche Epoche begründenden Renaissance-Erfahrung und der Idee und Konzeption einer mathesis universalis, einer Einheitswissenschaft, die sich sodann in der Forschungslogik der empiristischen Wissenschaft als einer privilegierten Form menschlicher Erkenntnis im Sinne einer strikt objektiven Erkenntnis ausprägte und verengte. Aus einem tieferen Verständnis der Forschungslogik dieser Verengungsgestalt der mathesis universalis im Sinne einer objektiven Wissenschaft als immerhin und trotz allem einem Projekt des Menschen soll eine Leitlinie für die Weiterentwicklung des Menschen gewonnen, ja diese Forschungslogik selbst als eine Darstellung des Prinzips der Höherentwicklung des Menschen als eines Erkenntnis-Instrumentes begriffen werden, in konkreter Einholung der grundlegenden Intuition der neuzeitlichen mathesis universalis: einer Verbundenheit von allem mit allem, aus der das Einzelsein hervorgegangen ist. Eine Korrektur der Fehler eines unzureichenden Verständnisses der wissenschaftlichen Methode, einer im Objektiven gleichsam stecken gebliebenen menschlichen Erkenntnis und Wissensgewinnung und Kultivierung einer einseitigen, einer »halbierten Vernunft«, ist damit ermöglicht und eröffnet.
Die Crux der Annäherung an einen »primärwissenschaftlichen Gegenstandsbezug« – als einer primären Gegebenheitsweise des Menschlichen – im Rahmen der Denkmethode objektiver Erfahrung Die Ausübung der wissenschaftlichen Methode – das »Betreiben von Wissenschaft« – hat in der neuzeitlich-westlichen Kultur eine so tiefe Prägung hinterlassen, die kaum noch als solche durchdringbar erscheint. Dies ist daraus ersichtlich, dass der wissenschaftliche Zugang zur Wirklichkeit und die Konzeption einer objektiven Erfahrung unwillkürlich und fast ungewollt als maßgebliche Grundlage und Rahmenkonzeption der Erfassung des Wirklichen schlechthin fungiert, die nicht wirksam hinterfragt, sondern weitgehend als »Tatsache« hingenommen wird – und dass der wissenschaftliche Modus der Strukturierung objektiver Wirklichkeit als »Tatsache«, als »unhinterfragbar« angewendet wird, wird nochmals, in merkwürdiger Lähmung der Erkenntniskraft, als eine »Tatsache« hingenommen, und zwar seitens Professioneller, denen doch völlig klar ist, dass es sich lediglich um eine SUBJEKTIV (i. S. der Tätigkeit eines forschungs23 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Fühlen ist eine Wissensform
logischen Subjekts) konstituierte Zugangsweise zur Wirklichkeit, d. h. um eine Gegenstandskategorie, um ein Erkenntnismodell handelt. Ein Verhängnis ist nicht, dass die Wissenschaft als ein paradigmengesteuertes Erkennen nur »ihre Gegenstände« erkennt und nichts als das; ein Verhängnis ist allerdings die Absolutsetzung dieser einen Gegenstandskategorie als der Wissensform schlechthin, die diesen Anspruch zu Recht erhebt, was zur Folge hat, dass dieser Typ von Gegenstandserkenntnis nicht auf andere Formen der Erfahrung, der Erkenntnis, des Wissens beziehbar ist; und, was damit zusammenhängend noch schlimmer ist: selber von einer Weiterentwicklung, von einem Fruchtbarwerden über sich hinaus ausgeschlossen bleibt. Denn da die wissenschaftliche Gegenstandserfassung und Strukturierung von Wirklichkeit ihr Prinzip, wodurch sie ein Wissen ist: nämlich ein Wissen des Menschen und für den Menschen, nicht offenlegen und kommunizieren kann, bleibt sie ein steriler Kanon, der sich selbst unbegriffen perpetuiert, und bleibt dies umso mehr, als dieser Kanon das unbegriffene Versprechen seiner Sinnhaftigkeit nur im Wiederholungszwang eines blind-nihilistischen Sich-Kontinuierens behaupten kann. In tragisch zu nennender Weise – und mit entsprechend drastisch tragischen Folgen – fungiert hier ein Instrument der Wissensgewinnung in Verkennung seiner Grenzen als Blockade seiner eigenen sinnvollen Anwendung und Weiterentwicklung. Ein besonderes Potential und eine Chance der Erschließung jener gesuchten »tieferen« Forschungslogik als der Fundierung einer neuen SUBJEKTIVEN Wissenschaft im Sinne einer grundlegenden Neuinterpretation der empiristischen Methode scheint mir in der Janovschen Sprache anzuklingen: in der Primärtherapie Arthur Janovs, wie sie in seinen Beschreibungen und den Äußerungen seiner PatientInnen zum Ausdruck kommt. Diese Janovschen Texte, 10 die durch die hier vorgelegten erkenntnistheoretisch-forschungslogischen Analysen befragt werden, beschreiben das »ganz Neue« der Erfahrung des FÜHLENS sehr unmittelbar, sehr authentisch, auch behaftet mit den »Fehlern« des Berichterstatters, dessen Aufmerksamkeit mehr auf die beobachtete Sache, unter dem Druck des Ereignisses, als auf den Prozess der Wiedergabe und die Korrektheit seiner Formulierungen konzentriert ist. Wie kommt dieser von Janov behauptete »besondere wissenschaftliche Charakter« der Primärtherapie sprachlich Hier beziehe ich mich vor allem auf die Publikationen Janovs zwischen 1970 und 1973.
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Annäherung an einen »primärwissenschaftlichen Gegenstandsbezug«
zum Ausdruck? Immerhin kann seine Redeweise, der durchaus etwas Sektiererisches anhaftet, 11 bei Fachkollegen wie Mitbürgern auch Anstoß erregen und Ablehnung bewirken. Und doch ist Janov, wie es scheint, in seinem Tun und Denken von einer feinfühligen Intuition geleitet, die viele Rezipienten seiner »message« offensichtlich wahrnehmen und die sie dazu bewegt, ihm Recht zu geben bzw. in dem, was ihn leitet und nun schon im 5. Jahrzehnt »bei der Stange hält«, etwas tatsächlich substantiell Bedeutsames zu vermuten, so dass es sich jedenfalls lohnt, dem Entdecker des Urschreis genau zuzuhören, um den Sinn, den seine Beobachtungen im Auge haben, zu erfassen und, jenseits der Wogen begeisterter Zustimmung und entrüsteter Ablehnung, darauf zu achten: Wie charakterisiert Janov das Neue? Wie geht er in Bezug darauf mit seiner Behauptung um, seine Entdeckung sei besonders wissenschaftlich? Wie lassen sich Charakteristika der Janovschen Sprache beschreiben und wissenschaftstheoretisch verstehen? Inspirieren sie vielleicht dazu, die empiristischwissenschaftliche Methode, ihre Forschungslogik auf neue Weise und wissenschaftstheoretisch voraussetzungsärmer zu beschreiben? In der vorliegenden Arbeit bin ich der Spur der neuen »Urerfahrung« vermittelst einer Analyse der Janovschen Sprache gefolgt, um eine Bedeutung des Radikalen der Entdeckung Janovs aufzunehmen, die m. E. für seinen Ansatz spezifisch ist und die er auch in seinen Texten beeindruckend und in erstaunlicher Deutlichkeit zum Ausdruck bringt, die er jedoch – trotz ihrer punktuell unmissverständlich klaren Artikulation – gegenüber konkurrierenden (normalwissenschaftlichen) Erfassungsweisen und Implikationen seiner Primärtherapie, die er ebenfalls ventiliert, nicht ausreichend als solche differenziert aufgreift, reflektiert und als hauptsächliche, eigentliche oder »primäre« Ebene der Primal hypothesis auszeichnet. Dies mag u. a. der Schwierigkeit geschuldet sein, dass diese Spur konsequent herauszuarbeiten, ohne sich von ihren Konsequenzen irritieren zu lassen, einige Mühe und Geduld und auch ein vorübergehendes Abstandnehmen von gewohnten Wahrnehmungsweisen, den eingeVgl. (hoch) problematische Charakteristika der in Los Angeles und New York institutionalisierten Primärtherapie – wie sie ansonsten aus dem »Verhalten von Leuten (bekannt ist), »die sich als Heilsbringer verstehen und nichts neben sich gelten lassen« und vielleicht als sektenähnliche Unterwerfung gegenüber den psychotherapeutischen Anweisungen, zu der sich der Patient während der Dauer der Therapie vertraglich verpflichtet, umschreiben lassen. Nachzulesen in einem »Interview mit Arthur Janov, dem Erfinder der Primärtherapie«, erschienen am 22. Februar 1980 in der ZEIT.
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Fühlen ist eine Wissensform
übten Bahnen der etablierten wissenschaftlichen Diskurse und dem Konformitätsdruck der scientific community erfordert, um die neue Wahrnehmung Gestalt annehmen zu lassen, auch die Gestalt einer neuen Denkmethode – ein Prozess, der nicht ganz willkürlich steuerbar ist –, während der Entdecker des Urschreis verständlicherweise eher dem Eindruck gefolgt sein mag, es sei »höchste Zeit« sowohl für die Anwendung und auch Bewährung der, wie es schien, sensationell hilfreichen Therapie in der Praxis als auch für eine auf diesem Weg der Veränderung der Menschen zu erhoffende tiefgreifende Veränderung der »Welt« qua der gesellschaftlichen Praxis und Bewusstseinslage. Vor allem aber macht sich hier das dargelegte Dilemma der empiristisch-wissenschaftlichen Methode geltend: die Unmöglichkeit, eine »wirklich« innovative Therapie- und Denkform auf den Rahmen der klassisch-empiristischen Methode zurückzubeziehen und in den Corpus der Wissenschaften zu integrieren. Um es erneut hervorzuheben: Solches erfordert, die wissenschaftliche Methode im Ganzen einer logischen Analyse zu unterziehen, um sie logisch-methodisch weiterzuentwickeln – eine Aufgabe, die, auch nur als Fragestellung, schwer vermittelbar ist. Doch wenn das Brückenglied gefunden und der Anfangsschritt gemacht ist: dass das die wissenschaftliche Methode tragende, sie ausmachende logische Procedere als nicht nur grundlegend dem fundamentalen lebendigen Wahrnehmen-Fühlen-Erkennen nicht fremd, sondern überhaupt allererst hier klar und mit überwältigender Deutlichkeit als ein LICHTVOLLES wirksam, gleichsam zu Hause ist: von diesem faszinierenden Anfang aus erschließt sich FÜHLEN als Gang- und Bewegungsart des Lebens und – ich wiederhole diesen entscheidenden Punkt –: nicht nur als »einer Logik« oder logischen Beschreibung zugänglich, sondern als ursprüngliches Medium des Logos’ selbst, mithin ursprünglich auch für eine wissenschaftliche Methodologie. Dies erscheint als eine bestürzende Umkehrung, eine metánoia des üblichen Verständnisses. Aber in Wirklichkeit ist es umkehrt: Die objektive Form der Wissensstrukturierung mit ihrer – letztlich – linear-formalen Logik ist eine Umkehrung (»Verschleierung«) dessen, wie es sich tatsächlich verhält. Woher haben die Gesetze der Mathematik ihre Würde, ihre Kraft, ihre Schönheit, ihre Unzerstörbarkeit? Als Ausdrucksformen des Lebens! Wie also sollte nicht das Leben selbst ebenfalls in einem Medium sich ausdrücken, dem Logoshaftigkeit eignet? Und ist daher nicht womöglich der Logos der objektiven Wissenschaft ein speziell 26 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Annäherung an einen »primärwissenschaftlichen Gegenstandsbezug«
abgezweigtes Sein vom schlechthin primären Logos des Lebens als des Ich-Bin-Erlebens – des FÜHLENS? Wenigstens also könnte man es doch auf einen Versuch ankommen lassen. Vielleicht zeigt es sich – lässt es sich zeigen! Und in diesem Sinne ist meine wissenschaftstheoretisch-erkenntnistheoretische Arbeit zur Primärtherapie Arthur Janovs ein Versuch. Dabei hat mir G. W. F. Hegels »Wissenschaft der Logik«, verstanden als eine universale Kategorienlehre, 12 für eine Erschließung der systematischen Besonderheiten der Janovschen Sprache in logischer Hinsicht Entscheidendes vermittelt. 13 Doch, wie im Gang der Dinge naheliegend und verständlich – und alle Erkenntnis braucht auch ihre Zeit –, hat Arthur Janov die »tiefere« Bedeutungslinie der Entdeckung des »Urschreis«: ihr revolutionär-innovatives Potential in Richtung auf einen Paradigmenwechsel auf der Ebene der wissenschaftlichen Methodologie – die Ausarbeitung des FÜHLENS als einer der empiristisch-wissenschaftlichen-Methode-als-ganzer äquivalenten Wissensform –, mehr und mehr in den Hintergrund gerückt und schließlich – soweit ich sehe – fallen gelassen. In seinen neueren Publikationen (Janov 1993; ders. 2012) geht es nicht mehr um die Primärtherapie als eine neue Begründungsform: FÜHLEN, als eine aus der Erweiterung der empiristischen Logik gewonnene, eigenständige wissenschaftliche Methode; Begründung geschieht hier ausschließlich – im Modus eines »Kurzschlusses« – in Form der Anbindung primärtherapeutischer Befunde an Ergebnisse objektiver Forschung. Damit vermittelt Janov die Wissenschaftlichkeit der Primärtherapie im Verständnisrahmen normaler Wissenschaft, d. h. im HoriDen Vorlesungen Bruno L. Puntels (WS 1973/74; SS 1974; WS 1974/1975; SS 1975) an der LMU München verdanke ich den Zugang zu diesem unschätzbar wertvollen, in den Dimensionen seiner Anwendungsmöglichkeiten m. E. weitgehend unerschlossen und ungenutzt gebliebenen Denkinstrument. 13 Die hier angesprochene Begründung der Wissensform des FÜHLENS als einer »Aufhebung« der empiristischen Form der Wissensgewinnung legt ein idealistischtranszendentales Verständnis dieses Ansatzes nahe – was ein Missverständnis wäre. Dem gegenüber gälte es verständlich zu machen, was es konkret bedeutet, dass die beiden Forschungslogiken – die objektive und SUBJEKTIVE Wissensform – die Verhältnisse eines spekulativen Satzes realisieren: die SUBJEKTIVE Begründung ist nur als die Umkehrung der zuerst praktizierten objektiven Wissensform möglich, da das empirisch-Subjektive erst durch die Verwirklichung der logischen Entwicklungsbedingungen eines objektiven Gegenstandes die Qualifizierung als »wissenschaftlich« gewinnen kann. – Und natürlich ist auch diese Zusammenfassung eines umfassenden Programms äußerst erläuterungsbedürftig! 12
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Fühlen ist eine Wissensform
zont der Neurose generierenden Philosophie und Sicht des Menschen, welche die primärtherapeutische Erfahrung nach Janovschem Anspruch gerade überwinden will – kurz gesagt: der Mensch wird, in objektiver Erkenntnishaltung, gedeutet als ein organismisches Lebewesen, das primär auf adäquate Bedürfnisbefriedigung angewiesen und auf sie ausgerichtet ist. Aus der Primärtherapie der Neurose ist Aufschluss darüber zu gewinnen, welches diese wichtigen Bedürfnisse sind, die für ein gesundes Fühlen des Kindes befriedigt sein müssen 14 , wobei aus primärtherapeutischer Sicht vor allem die Bedeutung der frühen Bedürfnisse und insgesamt die Bedingungen der ersten Lebensmonate bis zum 5. Monat neu bewertet werden müssen; in den neueren Publikationen (insbesondere Janov 2012) ist der überraschend hohe Stellenwert der intrauterinen Bedürfnisse des Fötus und Embryo ab dem Zeitpunkt der Empfängnis für die spätere Gesundheit und die Krankheitsrisiken des Kindes als gegenüber der genetischen Ausstattung gleichgewichtig hervorgehoben, was seitens des Verhaltens der Mutter, der Eltern und der Gesellschaft eine dementsprechende Berücksichtigung erfordert. 15 Angemessene Befriedigung der Bedürfnisse ermöglicht oder sorgt für den Zustand des FÜHLENS als dem richtigen Zusammenwirken aller Prozesse, Funktionen und Aspekte des Kindes, welches »einhergeht« mit den biologisch-physiologischen Parametern eines gesunden menschlichen Organismus’/Lebens bzw. dessen Störung im Krankheitsfall. Die Wahrnehmung wird also geleitet vom Ideal zu befriedigender und im (zu fordernden) Idealfall befriedigter Bedürfnisse als Grund und Ursache des Erlangens eines wünschenswerten Zustandes menschlicher »Gesundheit«. Gesundheit wird so erneut zu einem Resultat einer Leistung als dem Objekt eines wissenschaftlich aufgeklärten Anspruchs, die im Falle der frühen Bedürfnisbefriedigung von der Umwelt – in Abstimmung auf die Bedürfnisse des Kindes – zu erbrin-
Dass diese Bedürfnisse von Janov weit gefasst und die jeweiligen Konnotationen ihrer Bedeutungen offen gehalten werden, verdient freilich nähere Betrachtung, für die auf die vorliegende Arbeit verwiesen werden muss (vgl. in der vorliegenden Arbeit den Abschnitt 1.1.2.2.1.) – In dem bereits zitierten Interview mit »Arthur Janov, dem Erfinder der Primärtherapie« (vgl. Anm. 11), führt Janov alle primären Bedürfnisse auf das Bedürfnis, von seinen Eltern geliebt zu werden, zurück. 15 Wiederum findet sich hier die für den wissenschaftlichen Denkrahmen typische reduktive Transformation des Bezugs zu einem logisch Vorgeordneten in ein im Sinne eines linear quantitativen Kontinuums zeitlich Früheres. 14
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Annäherung an einen »primärwissenschaftlichen Gegenstandsbezug«
gen und von der Gesellschaft zu ermöglichen und zu gewährleisten ist. Zweifellos ist es wichtig und richtig, aufgrund der Erfahrungen der Primärtherapie auf eine Neubewertung der Bedeutung der frühen Bedürfnisbefriedigung zu drängen und dem Grundzug der Bedürftigkeit: dass Menschen darauf angewiesen sind, das außerhalb ihrer Erreichbarkeit liegende Lebensnotwendige im Modus des Empfangens zu erhalten – und dies nicht nur in der ersten Zeit prä- und postnatalen Lebens, sondern in unterschiedlicher Weise während des gesamten Lebens –, auch sozial, gesellschaftlich, rechtlich und politisch Rechnung zu tragen. Und doch wird mit dieser Weise der wissenschaftlichen Verarbeitung das ursprünglich Aufsehenerregende der primärtherapeutischen Erfahrung geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Denn die frühen Beschreibungen Janovs lassen den Menschen als ein Wesen erkennen, das im primärtherapeutischen Prozess FÜHLEN – welches sich als ein Schmerz-Fühlen und Urschmerz-FÜHLEN ereignet – als die Gabe manifestiert, das NICHT seiner selbst, die als das ureigenste ich-BIN begehrte, aber entbehrte, nicht erfolgte Bedürfnisbefriedigung, im Durchleben des Unterworfenseins unter das überwältigende, totale Bedürfnis-Fühlen als eine Initiation in das eigene Sein als ein vom materiellen Zwang der Bedürfnisbefriedigung befreites, unabhängiges, »geistiges«, ein Erfahrung-SEIN zu erfahren. Die Heilung von der Neurose im Urschmerz-Fühlen geschieht, weil es, indem es primär um Bedürfnisbefriedigung geht, nicht primär um Bedürfnisbefriedigung geht, sondern um die Wiederherstellung der primären Daseinsweise des FÜHLENS. Das emanzipatorisch-Befreiende der primärtherapeutischen Erfahrung ist doch gerade, dass die Suggestion, das Hypnotisiertsein vom Glauben an die alles überragende Abhängigkeit des lebendigen Ich-bin von der Bedürfnisbefriedigung, durchbrochen wird: diese durch primäre Bedürfnisse begehrte Verbindung mit der Ebene des Nicht-Ich als den äußeren Beziehungs-Instanzen ist wichtig, sie ist lebenswichtig; aber in dieser Not des zu rettenden Lebens tritt eine andere, tiefere Ebene des Lebens hervor, wird erfahrbar als mein eigentliches primäres LEBEN, als einer Lebens-Ebene, die auch im Tod der Erfahrung der verweigerten oder nicht zu ermöglichenden Befriedigung nicht untergeht, sondern als solche allererst wahrnehmbar wird und also »ersteht«.
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Fühlen ist eine Wissensform
FÜHLEN als eine neue »erste Wissenschaft« – Der Ansatz einer »kategoriallogischen Analyse« als forschungslogische Analyse Will man die Primal hypothesis Arthur Janovs wissenschaftlich verstehen und lässt man sich dabei von der Intuition Janovs leiten, dass FÜHLEN eine psychologische Theorie im Sinne oder auf der Linie des klassisch-empiristischen Wissenschaftsbegriffs validiert, dann muss – immer wieder komme ich auf diese Leithypothese meiner Arbeit zurück – ihre wissenschaftstheoretische Rekonstruktion als einzelwissenschaftliche Theorie zugleich eine neue »erste Wissenschaft«, ein neues Grundlagenmodell wissenschaftlicher Wissensgewinnung sein: eine in einer erst zu untersuchenden Weise und auf einem erst zu bahnenden Weg aus der Primärtherapie selbst zu gewinnende und zu entwickelnde neue primärwissenschaftliche Methode. FÜHLEN ist als eine neue SUBJEKTIVE Wissensform zu explizieren. Im Hinblick auf die Orientierung an der empiristischen Wissensform eines objektiven Wissens und der in ihrem Rahmen geltenden Unvereinbarkeit natur- und geistswissenschaftlicher Theorieformen 16 – als Bedeutungsexplikationen von »the mental« and »the physical« – ist die gesuchte SUBJEKTIVE Wissensform nur möglich als eine die Methode der empiristischen Wissensgewinnung als Ganze überschreitende erste oder Primär-Wissenschaft. Ein wissenschaftliches Verstehen der Primärtherapie ist nach dieser Sicht möglich als Verwirklichung eines Paradigmenwechsels auf der Ebene der Methodologie empiristisch-wissenschaftlicher Wissensgewinnung als Ganzer. Diese Blickrichtung weist auf die Möglichkeit hin, die empiristische Methode und Gewinnung eines objektiven Wissens unter SUBJEKTIVEM Gesichtspunkt zu verstehen als ein Unternehmen des Menschen für den Menschen, und sie zu deuten als ein erster, nur »zur Hälfte« erfolgter Schritt einer Theorie der Entwicklung des SUBJEKTIVEN – in Form der Herausbildung der forschungslogischen Subjektfunktionen als eines Probelaufs einer neuen Stufe des SUBJEKTIVEN im »Rahmen« eines realempirischen menschlichen Erlebens –, so dass nun das Unternehmen der objektiven Wissensgewinnung in einen umfassenderen Verständnisrahmen gestellt werden kann, ohne die logische Substanz ihrer Methode zu verlassen. So Bzw. deren Nichtunterscheidbarkeit, was ebenso eine Interaktion zweier eigenständiger, aber verbundener Wissensformen ausschließt.
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FÜHLEN als eine neue »erste Wissenschaft«
besteht der nächste Schritt darin, nach einer Möglichkeit zu fragen, die wissenschaftliche Methode der objektiven Wissensgewinnung mit einer basaleren, voraussetzungsärmeren Logik zu beschreiben, welche sich zugleich zur Beschreibung der SUBJEKTIVEN Methode des FÜHLENS eignet. Hegels Wissenschaft der Logik als eine Theorie der Systematizität des Zusammenhängens kategoriallogischer Bestimmtheiten und die Position der Negationskategorien innerhalb dieses Gesamtzusammenhangs ermöglicht hier einen Ansatz. FÜHLEN geschieht in der Primärtherapie am Lei(d)tfaden des Schmerz-Fühlens. Die gesuchte Möglichkeit eröffnet sich über die Deutung der Qualität des Schmerz-Fühlens als, logisch gesehen, eine Negation. Gefühlter Schmerz ist ein Differenzmaß; gefühlt wird eine Negation der Ausgangsbestimmtheit »Ich-bin«. Diese gefühlte Negation besitzt verschiedene Abstufungen, tritt in verschiedenen Qualitäten auf: Stärken, die ein Maß bedeuten; diese Negationsmaße sind: Unterschied, Verschiedenheit, Gegensatz und Widerspruch. Subjektives Fühlen verleiht der Negation als einer Differenzgröße ein Maß und ein Prinzip einer Reihenfolge der sinnvollen Entfaltung von Differenzmaßen. Kategorien, als Formen des Zusammenhangs oder der Strukturierung von »Daten« zu einem Gegenstand (einer Bestimmtheit) der Erfahrung, sind jeweils durch ein Differenzmaß der logischen Negation charakterisiert: dieses Differenzmaß bestimmt, bis zu welchem Grad diese Negation entwickelt ist und nach welcher Regel sie zum Einsatz gebracht wird. Mit diesem Ansatz einer kategoriallogischen Analyse als einfachster logischer Charakterisierung von Wissensformen lässt sich die empiristisch-wissenschaftliche Methode, kurz gefasst, als eine Vorschrift verstehen, unterschiedliche Differenzmaße (Qualitäten von Negation) zu synthetisieren, wobei die Identität des jeweiligen Gegenstandes der Erkenntnis: die Strukturierung des Explanandums sowie der als Explanans fungierenden Bestandteile, vermittelst der geringeren Negationsmaße, nämlich Unterschied und Verschiedenheit, expliziert wird, welche die theoretische Struktur des Gegenstandes »im positiven Sinn« – als eine behauptete Bestimmtheit – bedeuten. Durch Einbringung der Negationsqualität des Gegensatzes schließlich wird jene Präzisierung der Gegenstandsstruktur erreicht, welche sie im Sinne ihrer Differenz (Unterscheidbarkeit) gegenüber konkurrierenden Gegenstandsauffassungen (Hypothesen) präzisiert; während die Negation vom Ausmaß des Widerspruchs zuletzt den wissenschaftlichen Gegenstandsbezug reflektiert, d. h., die Gegenstandsstruktur insgesamt als durch 31 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Fühlen ist eine Wissensform
die Subjekt-Objekt-Spaltung konstituiert metabestimmt, derart, dass sich seine »Identität« als ein konstitutiv nicht-subjektives und insofern als ein objektives Wissen (oder Wissens-Anwärter) vollendet. Die Widerspruchsnegation ist für die objektive Wissensgewinnung insofern konstitutiv wirksam, als sie die Gegenstandsstruktur als Gegenstand der Erkenntnis auszeichnet: sie ist es, die den Gegenstand in seiner Positivität zugleich als »Erscheinung« qualifiziert, mithin – nicht als »Ding an sich« oder »die Sache selbst«, sondern – als Produkt des Wirklichkeitsbezugs einer anders gearteten Struktur, nämlich des forschungslogisch Subjektiven, welches die Gegenstände als »außerhalb seiner und in einem spezifischen Sinn als durch das, was sie nicht sind (mithin durch eine Negation vom Ausmaß des Widerspruchs) metabestimmt. Dieser Metabestimmung als »nicht sie selbst« und dem Erkenntnis-Subjekt äußerlich unterliegt auch das empirisch-Subjektive als einem Gegenstand objektiver Erkenntnis. Die Begründetheit der Wissensstrukturen liegt zwar in ihrer subjektiven Konstitution; diese kann aber nur wirksam sein, solange die Bestimmtheit der Gegenstände der Erkenntnis auf die objektive qua nicht-subjektive Bedeutung restringiert bleibt. 17 In dieser Voraussetzung des wissenschaftlichen Wissens kommt die Widerspruchsnegation zum Zuge; und es ist dieses geregelte Zusammenwirken der Stufenfolge der vier logischen Qualitäten der Negation als MetaCharakteristikum der Methode der wissenschaftlichen Wissensgewinnung im Ganzen, welches das Erfülltsein der Bedingungen eines objektiven als eines begründeten Wissens gewährleistet. 18 Bereits mit diesem Blitzlicht auf eine zu entwickelnde forschungslogische Analyse kann gezeigt werden, inwiefern FÜHLEN ein »x«, ein »wissenschaftlicher Gegenstand« ist, der die Gegenstände der objektiven Gegenstandsform – und damit das Verstandesdenken – kategoriallogisch überbietet: FÜHLEN ist der einzige uns bekannte Das forschungslogisch Subjektive ist hier nicht in Großbuchstaben gesetzt, denn dieses ist in der empiristischen Wissensform gerade nicht positiv, im Sinne einer neuen logischen Dimension, sondern nur negativ, als »nicht es selbst«, nicht in seiner eigenen »Bedeutung« wirksam. 18 Im Haupttext der vorliegenden Arbeit wird genauer ausgeführt, wie sich diese Analyse der logischen Struktur der empiristisch-wissenschaftlichen Methode – die hier nur angedeutet werden kann – aus Hegels »Wissenschaft der Logik« im Sinne einer universalen Kategorienlehre – unter besonderer Berücksichtigung der sog. Reflexionskategorien – herleiten lässt (So im gesamten Teil II der Arbeit; evtl. besonders 2.1.2.1.). 17
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FÜHLEN als eine neue »erste Wissenschaft«
Gegenstand, der über die Kapazität verfügt, eine Negation vom Ausmaß des Widerspruchs in die Gegenstandsstruktur zu integrieren und, durch den Zusammenfall von Gegenstand und Gegenstandsbezug im FÜHLEN, die Widerspruchsnegation durch Hervortreten einer neuen logischen Ebene: Ich- bin-FÜHLEN, zu einem positiven Ausdruck gelangen zu lassen und die durch die forschungslogische Spaltung gesetzte psychophysische Differenz aufzuheben bzw. als aufgehoben zu erweisen – wie es im primärtherapeutischen »UrSchrei« geschieht. FÜHLEN als Grunddatum der Primärtherapie ist sozusagen das primäre logische Medium schlechthin. Im FÜHLEN wird der Erkenntnisgegenstand »Ich-bin-Erleben« sukzessiv, in einer kontinuierlichen logischen Bewegung der Strukturierung einer Ausgangsbedeutung über die Integration (»Einarbeitung«) der verschiedenen Stufen der Negation bis hin zur Integration der Widerspruchsnegation zum bewussten Erleben der Übereinstimmung mit sich selbst geführt. Indem die Bestimmtheit, die eine »Erkenntnis« ist, grundsätzlich nicht das zu Erkennende selbst – als ein Unaussagbares – ist, es aber auch nicht schlechthin nur nicht ist; vielmehr ist sie die Sache selbst in der Weise, die Tatsache ihres Nichtseins dieser »Sache« in bestimmter Weise in sich und ihre Struktur integriert, sich als Erkenntnis (und nicht die Sache selbst) ausgewiesen zu haben, wodurch sie, als mit sich als Erkenntnis übereinstimmend, »verifiziert« ist, Wahrheit erlangt hat. Die von Hegel in den »Reflexionskategorien« implizit vermittelte Idee, eine »totale Negation« positiv auszudrücken – denn sonst wäre ja einfach nichts mehr vorhanden (nicht einmal mehr der Ausdruck, dass nichts vorhanden ist) –, und zwar einerseits durch die Methode der Summierung verschiedener Stufen, Grade oder Qualitäten der Negation, so dass ein positiv Bestimmtes vorhanden ist, an dem die logische Operation einer totalen Negation überhaupt erfolgen und ausgedrückt werden kann, und andererseits durch eine Gegebenheit: FÜHLEN, die als Erkenntnis eine bestimmte, aufgehobene Negation ist: diese Idee stellt das Rüstzeug zur Verfügung, das primärtherapeutische Urerlebnis als einen Kategorienwechsel der Erfahrung zu beschreiben. Das Erleben hat sich umstrukturiert und verwirklicht nun eine Struktur, in der die unterschiedlichen, verschiedenen, gegensätzlichen und widersprüchlichen Erfahrungen des Lebens als auf einen (neu als solcher hervortretenden) Grund bezogen, den Grund des Ich-bin bestimmend – nicht auslöschend –, erfahren werden. Indem solches erfahren – nicht vor33 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Fühlen ist eine Wissensform
gestellt oder gedacht – wird, ist der Gegenstand »(sich selbst) Erfahren« bei sich angelangt. Eine Bestimmtheit, die ihren Status als Erkenntnis in ihrer Struktur zum Ausdruck bringt, die Tatsache also, dass sie nicht »die Sache selbst« ist, sondern diese Sache lediglich »als Erkenntnis« zum Ausdruck bringt, und die in diesem Sinne eine ausgewiesene, gültige Gegebenheit ist, nennt Hegel eine vermittelte Erkenntnis: eine auf ihren Grund, ihr logisches Wesen: »Erkenntnis-(Mittel-)Sein«, bezogene Bestimmtheit. Erleben-Erfahren-FÜHLEN ist in wunderbarer Weise die Verwirklichung dieses Typs von Erkenntnis, ist Medium und Substanz der Selbsterkenntnis als Methode der Vermittlung einer auf ihren eigenen Grund, auf sich selbst zurückgeführten Erfahrung oder einer »reflektierten Kohärenz«. Schon mit diesen Andeutungen eines möglichen Analyseansatzes lässt sich erhellen, wie die subjektive Methode des FÜHLENS als eine neue erste Wissensform gedeutet werden kann, die sich nicht unabhängig-eigenständig ab ovo konstituiert, vielmehr sich aus der kategorialen Logik der empiristisch-objektiven Methode der Wissensgewinnung herleitet; und zwar mit einer gewissen notwendigen Konsequenz – wenn auch nicht zwingend und automatisch –, denn es verbindet sich damit ein Standpunkt- und Methodenwechsel, so dass die »Wendung«, die Deutung, die die zentralen wissenschaftstheoretischen Konzepte in der primärtherapeutischen Methodologie erhalten, die ursprünglichen Elemente oder Bestandteile der empiristischen Form der Wissensgewinnung interpretierbar, verstehbar machen: Das Konzept der Begründetheit, der Wahrheitsanspruch, der Wirklichkeitsbezug wissenschaftlicher Theorien; die (relative) Vollständigkeit naturwissenschaftlicher Theorien und die angestrebte Einheit der Wissenschaft (Suche nach der »Weltformel«): alle diese klassischen Heurismen der wissenschaftlichen Wissensgewinnung, die nach modernem Wissenschaftsverständnis längst der Auflösung preisgegeben und verabschiedet sind: in der subjektiven Methode gewinnen sie einen neuen, erkennbaren Sinn und verdeutlichen die Ausgangskonzeption als eine erste Stufe einer sich über zwei Stufen oder Phasen verwirklichenden Idee der Wissenschaft als einer Wissenschaft der Natur und des Menschen, in einer objektiven und einer SUBJEKTIVEN Methode. 19 Dem, der bereit ist, die im Hauptteil entwickelten Ausführungen zu FÜHLEN als einer neuen wissenschaftlichen Methode in veränderter Weiterentwicklung der em-
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Die bipolare Einheit von natur- und primärwissenschaftlicher Wissensform
Die bipolare Einheit von natur- und primärwissenschaftlicher Wissensform. Oder: Was motiviert mich, den »Versuch einer erkenntnistheoretisch-forschungslogischen Begründung der Primärtherapie Arthur Janovs« (Vogel 1985) erneut zu publizieren? Die Betrachtung der beiden Methoden wissenschaftlicher Wissensgewinnung – als ein Zusammenhang, ein Ganzes – ist vielfältig inspirierend. Einer der wichtigsten Gründe, warum ich die Ausarbeitung einer SUBJEKTIVEN Methode der Wissensgewinnung als eine der objektiven Wissenschaft gleichwertige für unbedingt wichtig erachte, besteht darin, dass in der gegenwärtigen Situation kaum etwas dringender notwendig erscheint als ein orientierender Verständnisrahmen, der es ermöglicht, die Anwendung des wissenschaftlichtechnisch Möglichen zu steuern. Obzwar Hypothesengenerierung zur Prognostizierung von zu erwartenden experimentellen Ergebnissen und ergebnisorientierte Lenkung wissenschaftlicher Praxis die wissenschaftliche Methodologie und damit die Wissensgesellschaft zentral charakterisieren, können Lenkung und Steuerung der Anwendung des wissenschaftlich Möglichen nicht vorrangig im Geiste eben dieser objektiven Wissenschaft erfolgen, da diese wissenschaftliche Methode sich im Modus des Absehens vom ihrem subjektiven Hervorbringensgrund konstituiert: Es ist der Mensch als Hervorbringungsgrund des wissenschaftlich-technisch Möglichen, der, anstatt das Steuer aus der Hand zu geben, klare und starke Gesichtspunkte piristischen Forschungslogik mitzuvollziehen und der sich in manchen Passagen und Kapiteln fragen mag: Ist es tatsächlich notwendig, den Gedanken konsequent durch Phasen hoher Abstraktheit hindurchzuführen? – dem möchte ich sagen: Ja, es ist notwendig, wenn es darum geht zu zeigen, dass es sich um »klassische Wissenschaft« in ihrer Erweiterung handelt, und d. h. zu zeigen, dass Rationalität als eine eigene Weise, universale Zusammenhangshaftigkeit nachvollziehbar zu machen, ein fähiges und brauchbares Darstellungsmittel ist – eines dieser Darstellungsmittel ist –, den Logos des Wirklichen zu erfassen und darzustellen. Dieser sich im sog. spekulativen Denken äußernde Typ von Abstraktheit – denn die mathematischen und physikalischen Formeln verwirklichen ja ihrerseits eine hohe Abstraktheit des Denkens! – ist eine legitime Erweiterung der Fähigkeit des Denkens (nicht etwa eine Kuriosität) – und daher eine Erweiterung einer menschlichen Fähigkeit, wie sich etwa das Laufen erweitert in der Kunst (dem Ideal) zu tanzen. Das neue Modell ist eine Denkbewegung oder der lebendige Anstoß eines sich bewegenden Denkens, eines Denkens-inSchwingung, und insofern, von der Ebene des Denkens her, eine größtmögliche Annäherung der großen Polaritäten des Theoretischen und des praktisch-Empirischen.
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Fühlen ist eine Wissensform
generieren und herausarbeiten und gemeinschaftlich klären und aushandeln muss, um Wissenschaft als ein Projekt des Menschen menschlich-verantwortungsvoll anzuwenden. Nochmals möchte ich hervorheben, dass (obwohl es sich augenscheinlich um zwei sehr unterschiedliche Methoden der Wissensgewinnung handelt, kurz: um eine objektive und eine subjektive Wissensform – was die Frage aufkommen lässt: »Was ist hier neu?«, einen derartigen Methodendualismus haben wir doch schon immer!) dieser Augenschein der Formulierung in die Irre führt: Denn der springende Punkt des Neuen besteht gerade in der Einsicht in das logisch-erkenntnistheoretische Aufbauprinzip der naturwissenschaftlich-empiristischen Methode, derart, dass diese aus logischen Gründen eine bipolare Explikation des sie leitenden logischen Prinzips fordert, derart, dass sie nicht »lesbar«, nicht »sinnvoll« ist, wenn sie die in ihr angelegte andere Polarität ihrer selbst nicht gleichfalls entwickelt und zum Zuge kommen lässt, um ihr volles erkenntnisgeneratives Potential freizusetzen und zur Anwendung kommen zu lassen. Es trifft nicht zu, dass diese Methode, nur »zur Hälfte« expliziert, unbedenklich einsatzfähig ist. Es trifft aber zu – und hier kommt die übergeordnete spekulative Erkenntnislogik zum Tragen –, dass sie sich in zwei in zeitlicher Sukzession zu verwirklichenden »Räumlichkeiten« qua dreifach logisch dimensionierten Gegenstandstypen, mithin als das Zusammenwirken zweier unterschiedlicher Gegenstandskategorien verwirklichen kann und sollte. Nur durch einen umfassenderen bipolaren Verwirklichungsmodus und Komplettierung des in der objektiven Wissensform nur zur Hälfte verwirklichten Erkenntnisschemas – indem sich das Schema der Strukturierung der Objekte vom transzendentalen Schema der Verwirklichung des Erkenntniskonstitutiven Gegenstandsbezugs kategorial nicht unterscheidet (beide: die Raum- und Zeitform der wissenschaftlichen Erkenntnis sind durch die Kategorie der Quantität bestimmt) – vollendet sich die Bedingung der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis als Erkenntnis des Wirklichen im Zusammenhang der neu hinzukommenden Erkenntnismethode (FÜHLEN), indem methodisches Fortfahren dann als Verwirklichung des Gleichen in höherer Form, mithin Gleiches als Nicht-Gleiches verwirklicht wird: eine Explikation von »Erkenntnis« qua Erfüllung des Erkenntnisimplikats (Identität von Differenz) auf der Ebene der Methodologie. Erst damit kann sich das SUBJEKTIVE als Hervorbringungsgrund jeglichen und auch des objektiven Wissens von den objektiven Wissensstrukturen unterscheiden. Erst dann validiert und 36 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Einige weitere Anmerkungen
komplettiert das Hinzukommen der SUBJEKTIVEN Methode die Gesamtform der wissenschaftlichen Erkenntnis als »wissenschaftlich«, d. h. als eigentliche Erkenntnis.
Einige weitere Anmerkungen zur bipolaren Einheit von (natur-)wissenschaftlicher und primärwissenschaftlicher Wissensform Woher kommt uns in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation eines erwünschtermaßen säkularen Bewusstseins das Licht einer Orientierung, um die kulturelle Vielfalt der Bürger dieser Gesellschaft so voraussetzungs- und vorschriftsarm und so wenig bevormundend wie möglich durch ein rationales und zugleich in Richtung der unterschiedlichen Qualitäten des Rationalen verständigungsfähiges Modell zu einem Austausch, einer Verbindung kommen zu lassen? Woher sollte es sonst kommen als aus jener tieferen Ebene des subjektiven Erlebens, aus der die Menschen ihre Visionen und Ideen schöpfen, eben jene Menschen, die mit ihrem Fühlen und Denken und mit ihren sichtbaren und unsichtbaren Werken und Taten jenes Empowerment des SUBJEKTIVEN als eine ausgezeichnete, beispiellose Verbindung von »subjektiver Erfahrung« und »Wissenschaft« (wissenschaftlicher Methode) in die Wege leiteten, wodurch sie in der als Renaissance bezeichneten Epoche die Grundlagen des kulturellen Paradigmas der Neuzeit schufen? Dieses bisher überwiegend in objektiver Ausrichtung verwirklichte Paradigma (derart, dass das SUBJEKTIVE als Hervorbringungsgrund den objektiven Hervorbringungen untergeordnet ist) wäre in einem nächsten kollektiven Schritt auf die hervorbringende rezeptive Dimension um- und anzuwenden und in seiner grundlegenden subjektiven Polarität aus der spezifischen Engführung der objektiven Erkenntniskonstitution zu befreien und in einer Weise zu kultivieren, die der objektiven Praxis der Wissensgewinnung ebenbürtig, d. h. kategoriallogisch äquivalent ist; um solcherart – mit einer durch das Zugeständnis der »Wissenschaftlichkeit« erreichten Höherbewertung des SUBJEKTIVEN – den subjektiv gefühlten Werten im Bewusstsein ein größeres Gewicht zu verschaffen. So würde der Überlegenheit des Menschen, seinem Erkenntnisvorsprung, der sich in der objektiven Wirkungsrichtung des herrschenden Paradigmas in
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Fühlen ist eine Wissensform
der unvergleichlichen Potenz des Tötens manifestiert, 20 die SUBJEKTIVE Kraft verantwortungsvollen FÜHLENS zur Seite gestellt sein und jene Kultivierung der gesamtmenschlichen Kräfte ermöglichen, die notwendig ist, um die dem Menschen gegebene unvergleichliche Macht konstruktiv auf Ziele zugunsten eines neu zu verstehenden und wertzuschätzenden LEBENS zu lenken. Wie der bisherigen Skizze zu entnehmen ist, steht die primärtherapeutische Methode für sich als eine primäre Methode der Wissensgewinnung und Wissenschaft, der Bewegung jener Art von Erkenntnis, die eine Rückführung auf sich selbst ist – auf das, was die Bewegung selbst IST – und die »Selbsterkenntnis« genannt wird. Im Sinne des Weges der Bewegung solcher menschlicher Erkenntnis und Wissenschaft kehrt sich mit dem Auftreten der Primärtherapie die Reihenfolge der Methoden um: die später entwickelte erweist sich als die primäre, dem Ursprung nähere, so dass das ursprüngliche Entstehens- und Hervorbringungsverhältnis nicht das Erste ist, was erkannt wird, sondern erst einem späteren Stadium des Erkenntnisweges entspringt. Und doch ist die Methode der objektiven Wissensgewinnung für die primärtherapeutische Methode als die ihr vorausgegangene konstitutiv, und so führt der primärtherapeutische Erkenntnisansatz die logischen Bestimmungen der objektiven Wissensgewinnung mit sich und verliert durchaus an Erhellungskraft, logischer Qualität und Dimension, wie ich meine, wenn solches Verhältnis unreflektiert bleibt. Das wird gerade durch die Primärtherapie Arthur Janovs gezeigt (ich brauche die Unverzichtbarkeit seines Beitrags, in der Weise, wie er ihn vorlegt, nicht erneut zu betonen: dass es sein Verdienst ist, diesen Fund gemacht und gehoben zu haben); denn in der Tat enthalten die Äußerungen Janovs sämtliche Hinweise, Merkmale und Voraussetzungen, um eine wissenschaftstheoretische Rekonstruktion der Primärtherapie sowohl als primärwissenschaftliche Methode sowie als grundlagenphilosophische prima philosophia zu entwickeln: die Sprache Janovs, die Art seiner Äußerungen ist – je genauer man sie nimmt – ungemein erschließend!
Mit den Drohnen wird solches Töten vollends vom ethischen Empfinden freigestellt. – Geradezu absurd scheint es mir angesichts der unablässig erlebten Manifestation jener unvergleichlichen Potenz des Tötens, die das menschliche Bewusstsein mehr und mehr wie ein Verhängnis umzingelt, eine Differenz zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Lebewesen anderer Art sowie Maschinen und »Dingen« zu leugnen.
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Einige weitere Anmerkungen
Der Versuch, die Primärtherapie Arthur Janovs als erste wissenschaftliche Therapie (»first science of psychotherapy«) zu verstehen und solcherart dem Entdecker des Urschreis gerecht zu werden, ist also auf die Äußerungen Janovs, d. h. auf seine Texte, in denen er seine Wahrnehmungen niedergelegt hat, als einem gültigen Dokument verwiesen. Diese Texte, zumal die Veröffentlichungen der ersten Jahre seines Praktizierens, scheinen derart durchdrungen vom unmittelbaren Erleben und dem Aufnehmen der Geschehnisse, für die ihm seine anfängliche Intuition sowohl die Augen geöffnet als auch die Fähigkeit des Hervorbringens des einmal Entdeckten und des Verbundenbleibens mit dessen Spur im Erleben und Verhalten seiner Patienten vermittelt hat, dass zahlreiche Leser dieser Bücher berichtet haben, im Verfolgen der Janovschen Texte vom unmittelbaren Erleben des Geschilderten überwältigt worden zu sein; diese Texte waren gewissermaßen für die Rezipienten der Entdeckung durchdrungen von der Aura und Dynamik des Geschilderten. Und in der Tat: Versucht man, sich den Janovschen Texten von der Vernunft her zu nähern, gewinnt der erste Eindruck deutliche Gestalt: indem in der Inkohärenz und Widersprüchlichkeit der Begriffsbedeutungen und Aussagen, die einer normalwissenschaftlichen Erfassung widerstreben, eine Ordnung erkennbar wird, die die in die Wiedergabe des Beobachteten gleichsam versunkene Schilderung verstehbar macht als ein Hinblicken, das einer sich bewegenden (Begriffs-)Bedeutung folgt, derart, dass es um die Explikation einer Gesamtbewegung geht, die die Widerspruchsdifferenz der Bedeutungen des »Physischen« und des »Psychischen« umspannt. 21 Dieser Gesamtzusammenhang x als Einheit eines Bewegtseins, welches sich (extern-verstandeslogisch) als Verbindung zweier ein »grundlegendes, maximales Differenzverhältnis« bildenden Bedeutungskomponenten beschreiben lässt, ist der neue erfahrungswissenschaftliche Gegenstand – eigentlich: Erfahrungsraum – »FÜHLEN«. 22 In einem Widerspruchsverhältnis stehen »das Psychische« und »das Physische«, wissenschaftstheoretisch gesehen, als nicht in einer Theorie verbindbare, unterschiedliche Theoriesprachen begründende Basisbegriffe. 22 Beide Bedeutungen: das »Physische« wie« das Psychische« sowie die sich jeweils daran knüpfenden Theorie- und Therapieformen, sind hinsichtlich ihrer Unfähigkeit, die primärtherapeutische Bedeutung auszudrücken, einander gleichwertig; sie können diese höchstens ein Stück weit tragen, aber wenn man sich auf sie als isolierte, für sich gegebene stützt, werden sie falsch. Insofern können hirnphysiologische oder neurobiologische Forschungen niemals als »Fundierung« der Primärtherapie fungieren; sie 21
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Fühlen ist eine Wissensform
Die Primärtherapie hat mit dem FÜHLEN als einer gänzlich neuen Weise, den menschlichen Gegenstand, mit dem es die Psychologie und Psychotherapie zu tun hat, zur Erscheinung kommen zu lassen und zu erfahren (von dem alle anderen psychologischen Theorien und psychotherapeutischen Ansätze gleich weit entfernt sind und die daher, in der Beurteilung Janovs, alle gleichermaßen nicht valide sind), ein Erkenntnisvermögen entdeckt und erschlossen, das basaler ist als jener Erkenntnis konstituierende Apparat – in welcher Weise: »klassisch«, auf der Grundlage transzendentalphilosophischer, psychologischer oder evolutionsbiologischer Begriffe oder wie auch immer konzipiert – und das sowohl die wissenschaftlichen Gegenstände (was jeweils als Gegenstand wissenschaftlicher Disziplinen erscheint) als auch die für diese vorauszusetzende forschungslogische Gegenstandskonstitution und somit das gesamte Feld der unterschiedlichen Theorien empiristisch-wissenschaftlicher Erkenntnis hervorbringt und strukturiert. Nur so ist es von der Vernunft her als möglich verstehbar, dass sich FÜHLEN – im Laufe des primärtherapeutischen Prozesses – als eine ganz andere und ganz neue Quelle der Evidenz und zugleich Möglichkeit der Einlösung von Wahrheitsansprüchen erweist, die alle bisherigen Formen der Begründung wissenschaftlicher Geltungsansprüchen von Aussagen übertrifft – wie Janov behauptet. Doch geht Janov, wie bereits gesagt wurde, noch weiter. Denn in seinem strikt vom einzelnen Menschen ausgehenden, im »Innern« des Menschen verankerten, sich auf das Strukturierungsprinzip und den Sinn des Gesamtzusammenhangs, als welcher sich der Einzelne artikuliert, richtenden und diesen Zusammenhang strukturierenden Prozess ist die Entwicklung des FÜHLENS nicht einfach ein sich im Abseits des Zwischenmenschlichen, des Sozialen, der Welt des Objektiven vollziehendes, monadisches Geschehen, kulminierend mit dem Urschrei eines Einzelnen »in cosmic loneliness«; mit der Entwicklung des FÜHLENS (als einer je individuell-subjektiven Formierung eines primären universalen Erkenntnis-Seins und Hervorbringungsgrundes der Gegenstände der Erkenntnis im Raum der Erfahrung) ereignet sich vielmehr zugleich eine Korrektur und Erneuerung qua Weiterentwicklung des kategorialen Hinter- und Untergrundes des in der Neurose wirksamen kulturanleitenden Paradigmas. Auch in diesem illustrieren primärtherapeutische Zusammenhänge in einem anderen Theorierahmen.
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Einige weitere Anmerkungen
kategorialen Sinne kann Janovs Äußerung: »Feeling of Primal Pain can undo history« verstanden werden. So erfordert eine vollständige Würdigung und Erwägung der Primal Hypothesis Arthur Janovs (außer ihrer Rekonstruktion als einzelwissenschaftliche Theorie sowie – auf der Ebene der wissenschaftlichen Methodologie – ihrer Formulierung als einer neuen, der empiristischen Methode gleichgestellten, ihr zugehörigen Methode SUBJEKTIVER Erkenntnis) die Reflexion ihrer Auswirkungen auf der Ebene des kulturanleitenden Paradigmas. Zweifellos führt die primärtherapeutische Methode des FÜHLENS: »FÜHLEN IST EINE WISSENSFORM«, zu einer Neueinschätzung des Menschen; sie vollzieht einen Neuanfang, eine möglich werdende neue Bewusstseinsform. 23 Die Besonderheit der Janov-Methode (dass sie im Sinne einer »Wendung« – einer von einer Deutung ausgehenden Um-Deutung – der Konzepte der klassisch-empiristischen Methode der Wissensgewinnung und also im Zusammenhang mit dieser interpretierbar ist) ermöglicht eine nächste, umfassendere Kontextdeutung: indem dieses duale Modell – als Abschnitt einer Theorie und Praxis des SUBJEKTIVEN – nun als Umschrift/Transformation der aus dem Renaissance-Humanismus hervorgegangenen kulturanleitenden Logosdeutung wahrgenommen werden kann, derart, dass sich der Vorstellung und dem Denken die neue Perspektive einer tieferen, weiteren, höheren Ordnung jenseits der europäisch-bürgerlichen Konventionen, mit denen das Erbe der Renaissance im sog. Kantisch-christlichen Paradigma eine Verengung erfahren hat, eröffnet. Damit fließen aber dem gegenwärtig dringendsten kollektiven Problem: Wie geht es weiter?, die schöpferisch-visionären Kräfte vorausgegangener Logosdeutungen, aus denen die abendländische Kultur erwachsen ist und über die sie sich entwickelt hat, zu, statt dass – wie vielfach zu erleben ist – die Formulierungsversuche eines neuen Grundlagenmodells und Paradigmaanwärters orientierungslos von den wertvollen Ressourcen einer traditionsgestützten Sukzession kulturanleitender Logosdeutungen abgekoppelt werden. Dieser letzte Gedanke: die hieraus erkenntlich werdende »Systematizität des Wirklichen« (und »Methodozität« der Erkenntnis), wirft ein Licht auf eine Grundintuition, die im westlichen Erkenntnisweg besondere Aufnahme und Ausarbeitung fand. So der Titel der bereits erwähnten zweiten Publikation Janovs (1975): »Primal Man: the New Consciousness«.
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Fühlen ist eine Wissensform
Diese Andeutungen mögen genügen, um die Handhabung der bipolaren Methode eines objektiven und subjektiven Wissens – im Sinne des Zusammenwirkens der beiden Pole einer objektiven und einer SUBJEKTIEN Wissensform (immer eingedenk, dass das SUBJKTIVE als Hervorbringensgrund fungiert) – zu skizzieren; einer Methode, die aus einer tieferen Energie-Sinn-Quelle schöpft: dem längst nicht in allen seinen Dimensionen gehobenen Logos abendländischer Tradition, den es in weiteren Dimensionen und doch in erkennbarer Beziehung zu den Ursprüngen zu entwickeln gilt, um in ihm die Elemente zu erkennen und zu nutzen, die zu einer Verwirklichung der Kultur des »Westens« zum universalen Weisheitsweg einer mehr und mehr global zusammenwachsenden Menschheit beitragen können – und müssen, um Menschsein letztlich als Erfahrungsaufgabe zu ergründen und einen Weg der Verwirklichung dieser Erfahrung im universalen Kontext zu beschreiten. So kann – von den Erwartungen vieler Menschen wie vom kollektiven Gewissen der westlichen Kultur gefordert – ein spezifischer Beitrag Europas zu einer Weltgesellschaft fassbar und furchtbar gemacht werden. Die Primärtherapie hat sich weiterentwickelt: während der letzten 40 bis 50 Jahre durch Janov und seine Mitarbeiter, zunächst im Primal Institute Los Angeles, später im The Janov Primal Center for Treatment, Training and Research (Santa Monica), wobei die Wissenschaftlichkeit der Primärtherapie inzwischen ausschließlich dahin gehend bestimmt ist, dass die psychologischen Befunde der Therapie, die Beobachtungen der TherapeutInnen und die Patientenberichte konsequent durch physiologische, neuro- und hirnphysiologische Begleitforschung gestützt werden. Ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der wissenschaftlichen Methode selbst wird nicht angedacht. 24 Dieser Typ von Weiterentwicklung schlägt sich auch in der Janovschen SpraSo besagt das »Manifest für eine neue Psychotherapie« am Ende des zuletzt publizierten Buches (Janov 2012) ausdrücklich unter Punkt 11: »Jegliche Messung des psychotherapeutischen Erfolgs muss eine objektive neurophysiologische Messung beinhalten und darf sich nicht mit der subjektiven Patientenmeinung begnügen« (a. a. O., S. 329). Damit annulliert Janov die anfangs proklamierte logisch-methodische Priorität des FÜHLENS. Ebenso betrifft der »Paradigmenwechsel«, den Teil 1 des Buches behandelt, lediglich die zeitliche Verlagerung bzw. Ausweitung der als pathogen wirksam eingestuften oder festgestellten Faktoren auf noch frühere Stadien menschlicher Entwicklung (die intrauterine Entwicklung, im Mutterleib, bis hin zum Zeitpunkt der Empfängnis).
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Einige weitere Anmerkungen
che nieder: Die in logischer Hinsicht komplexe, sich gegen eine normalwissenschaftliche Verarbeitung sperrende Sprache der ersten, gleichsam noch nicht überarbeiteten Protokolle eines erstaunten Entdeckers, der seinen Wahrnehmungen wie einem faszinierenden Traum folgt, wurde weitgehend geglättet und von einer ins Normalwissenschaftliche einschwenkenden professionellen Mitteilungsform überdeckt – wobei ein Prozess der »Kristallbildung«, ein Erstarren und eine Stereotypisierung der im anfänglichen Fluß wechselnden Bedeutungen der Termini einer (damals) insgesamt offenen, für das Anklingen einer Nichtaussagen-Ebene gleichsam »durchscheinenden« Sprache auffällt. Unvermeidlich erfährt die durch die Janovsche Entdeckung und Praxis der Urschreitherapie ins Rollen gebrachte Bewegung Einordnungen und Weiterentwicklungen auch von anderer Seite und in andere Richtungen. Zwei Ansätze möchte ich abschließend erwähnen. Sigrid Michel stellt in ihrer Dissertation ein zusammen mit Wolfgang Rosenberg entwickeltes Verfahren vor, welches PatientInnen mit psychischen und psychosomatischen Störungen dazu anleitet, »Primärtherapie selbstständig und ohne fremde Hilfe anzuwenden« (Michel 1988, S. 3). Ein solcher Schritt, der sich über die Janovsche Warnung vor eigenständigen Adaptationen seines Therapiemodells hinwegsetzt, kann sich darauf berufen, dass sich, wie u. a. auch von Janov selbst berichtet, solche Primärerlebnisse, angeregt durch die Lektüre Janovs, auch spontan einstellen und die Betroffenen dabei jene Tiefe des FÜHLENS erreichen, in welchem Erinnerungen und Körperempfindungen als ein integrales Ganzes aktiviert sind und die Urschmerzprägungen des psychophysischen Systems sich auflösen. Die Autorin erwägt »eine biologisch angelegte Möglichkeit zur Selbstkorrektur von psychischen Störungen«, etwas Generelleres, was durch unterschiedliche Theoriemodelle und Verfahren angesteuert und aktiviert werden könne – ein Ansatz also, der, ohne das Paradigma der empiristischen Wissenschaft zu verlassen, mit dem wichtigsten Merkmal der Primärtherapie: dem Empowerment des subjektiven Erlebens des einzelnen Patienten und seiner Privilegiertheit in Bezug auf die Einsicht in die Ätiologie seiner psychischen Störung, Ernst macht und damit die Primärtherapie sowohl der Janovschen Ausschließlichkeit enthebt als auch für interdiziplinäre empiristische Theoriekontexte, wie z. B. die Stresstheorie, anschlußfähig macht. Das führt zurück zu der weiter oben genannten Beobachtung, dass aus vielen unterschiedlichen Richtungen, in unterschiedlichen 43 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Fühlen ist eine Wissensform
Begrifflichkeiten eine »andere«, »tiefere« Ebene erahnt und angesteuert wird, welche, die Phänomenvielfalt »physischer« und »psychischer« Gegebenheiten umfassend, das Reale des primärtherapeutischen FÜHLENS ausmacht, das zu seiner angemessenen Erfassung jedoch letztlich ein radikales Umdenken erfordert, ein neues Erfassen der schlechthin primären Gegebenheitsweise des Menschseins. Auf dieser Linie, unterwegs zu einem solchen neuen integrativen Denken sehe ich etwa auch die Primärtherapie nach Hermann Munk (2009), der sein Unternehmen als einen durch (Wieder-)Erlangung der Fähigkeit des FÜHLENS zu gewinnenden Anschluß an die profunde Fähigkeit intuitiver Wahrnehmung der inneren und äußeren Realität sehr weit ausspannt und Fühlen (nach Munk) dabei mit Dichtung, Philosophie, naturwissenschaftlichen Denkmodellen und spirituellen Quellen in einen Diskurs bringt. Dabei inspirieren ihn auch Berichte der Wüsenväter sowie die in den Evangelien geschilderten Ereignisse und Berichte aus dem Leben von Jesus, Maria und den zwölf Aposteln, die ihn insbesondere zum Arbeiten in kleinen Gruppen anregen, als Modelle eines fühlenden Lebensbezugs. Angesichts einer nicht aufzuhaltenden Weiterentwicklung der Janovschen Anfänge halte ich es für nützlich und angemessen, meiner Würdigung dieser frühen Dokumente und der Mehrdimensionalität der Entdeckung, die sie beschreiben, sowie der erstaunlichen Fähigkeit der Janovschen Sprache im Hinblick auf die Übermittlung neuer logischer Strukturen eine Zugänglichkeit zu erhalten – da die Erstpublikation meiner Arbeit inzwischen weder im Handel noch antiquarisch zu bekommen ist –, in der Hoffnung, hierdurch eine weiterführende Verarbeitung wie auch weitere Erforschung der innovativen Dimension der Primärtherapie anzuregen sowie eine Bezugnahme auf meine Gedanken und eine Auseinandersetzung mit dem hier vorgelegten Ansatz einer Weiterentwicklung der empiristisch-wissenschaftlichen Erkenntnismethode als Beitrag zu einer Paradigmendebatte zu ermöglichen. Ausgehend von der hier vorgelegten ausführlicheren Ableitung und meinem Plädoyer für eine Anwendung der spekulativen Denkmethode Hegels, interpretiert als Instrument der Darstellung einer Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, visualisiere ich die inspirierenden Formulierungen Arthur Janovs als Anfang der Formulierung eines grundlagentheoretischen Modells dialektischer Systematizität als der inneren Struktur des Wirklichen, darstellbar als eine universale Schwingungslehre, begründet und her44 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Einige weitere Anmerkungen
vorgebracht durch die innerste Quelle des Lebens selbst, wie sie sich im menschlichen ICH-BIN-FÜHLEN manifestiert. Dies bedeutet und erfordert, dass der einzelne Mensch sein Bewusstsein als ein Erfahrungsbewusstsein weiterentwickelt – nach dem Modell der Genese einer vollständigen Schwingung –, wodurch seine individuelle Ganzheit gleich einem Mikrokosmos mehr und mehr mit dem universalen oder kosmischen Bewusstsein als Makrokosmos in Resonanz kommt und mit diesem die Zusammenhangsform einer reflektierten Kohärenz verwirklicht. Die vorliegende Analyse der Äußerungen Janovs möge hierzu einen Anfang machen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Lukas Trabert, der bereit war, die vorliegende Arbeit in sein Verlagsprogramm aufzunehmen und speziell eine Plazierung derselben in der Reihe »Seele, Existenz, Leben« des Karl Alber Verlages vorgeschlagen hat. Herrn PD Dr. Rolf Kühn, dem Herausgeber der Reihe, danke ich von Herzen dafür, dass er die vorliegende Arbeit in seine Reihe aufgenommen hat, in welcher ich mein Anliegen in einem Kontext lebendigen Denkens sehe, in dem es, wie ich hoffe, weiterhin verständnisvolle Kommunikationspartner finden kann. 25 Herrn Dr. Karl Heinz Witte, dem ich als Autor des Karl Alber Verlages durch das schon zitierte Buch »Zwischen Psychoanalyse und Mystik« (Freiburg 2014) sowie zuallererst seine Einführung zu »Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens« (Freiburg 2013) begegnet bin, danke ich für seine behutsame Hinführung zur Lebensphänomenologie, zum Werk Rolf Kühns und Michel Henrys sowie für Gespräche zu meinem Ansatz in diesem Kontext. Ohne die Ermutigung durch Stefan Grosser, der mit einer großen – für mich an ein Wunder grenzenden – Beharrlichkeit für die Notwendigkeit einsteht, die Gedanken der vorliegenden Arbeit in den öffentlichen Diskurs einzubringen, hätte ich mich zu einer erneuten Publikation vielleicht nicht (oder nicht in dieser Form) entschließen können. Nicht genug danken für unermüdliche Unterstützung bei der Durchführung des Entschlusses durch Rat und Tat – einschließlich der schwierigen Erstkorrektur des Manuskriptes nach seiner Digitalisierung sowie der Unterstützung bei der Fahnenkorrektur – Dankbar nehme ich die Worte auf, mit denen Rolf Kühn sein Einverständnis begründet hat: »Unsere Intention einer Grundlagendebatte zwischen den verschiedenen Therapierichtungen und den damit verbundenen philosophischen Fragen wird durch Ihre Arbeit im besten Sinne weitergeführt und erweitert.« (Email vom 23. 07. 2015)
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Fühlen ist eine Wissensform
kann ich meinem geistigen Weggefährten Dr. Nikolaus Gerdes. Eine große Freude und Ermutigung wurde mir zuletzt durch die Zusprache von Frau Njezna Pivac zuteil, die mich überdies auch bei der Erstkorrektur des Manuskripts unterstützt hat. Den aufmerksamen, einfühlsamen und geduldigen Korrekturen des Manuskripts durch Herrn Christian Lutz im Lektorat bei Karl Alber verdanke ich eine deutliche Verbeserung der Lesbakeit meines Textes. Otterfing, den 8. März 2016
Beatrix Vogel
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Vorbemerkung der Erstausgabe von 1987
Den Hintergrund für die Ausführungen der vorliegenden Arbeit bildet die Situation der Psychotherapie, die, obgleich dasjenige Organ im Korpus der Wissenschaften, durch das dem Menschen die Früchte jahrhundertelangen Bemühens um wissenschaftlichen Fortschritt zugetragen werden sollten, in ihrem noch immer durchaus umstrittenen wissenschaftlichen Status gewissermaßen ein Erinnerungssymbol dafür ist, dass die wissenschaftliche Methode insgesamt einer weiterführenden Klärung bedarf. Zwei konvergierende Gegebenheiten ermutigen dazu, in Richtung auf diese erforderliche Klärung einen Schritt zu wagen: Die Äußerungen Janovs zur Primärtherapie, in denen ein Moment von fortschrittlichem Denken lebendig ist – was im Kontext der dringenden Bedarfssituation einen besonderen Aufforderungscharakter entwickelt –, bieten sich für eine kategoriallogische Analyse an, die es, im Kontext einer dialektisch-spekulativen Erkenntnistheorie im Sinne Hegels, ermöglicht, den logisch-methodischen Gehalt der erfahrungswissenschaftlichen Wissensgewinnung begrifflich zugänglich zu machen, derart, dass die empiristische Methode als Spezialform einer umfassender verstandenen Methode erfahrungswissenschaftlicher Wissensgewinnung auf der Linie ihres eigenen Vorgehens weiterführbar wird. Das Problem von Psychologie und Psychotherapie als Wissenschaft stellt sich damit verändert, nämlich so dar, dass eine psychologische Theorie – wie die Primal hypothesis Arthur Janovs – als eine Theorie, die über den kategorialen Rahmen der normalwissenschaftlichen Wissensgewinnung hinausgeht, dann wissenschaftlich ist, wenn sie eine Weiterentwicklung der empiristischen Methode im Ganzen bedeutet. Diese Bedingung der Auffassung einer wissenschaftlichen psychologischen Theorie ist daran gebunden, dialektisches Denken als eine Weiterentwicklung des formallogischen Denkens – und dieses als konsequente Vollzugsform klassisch47 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Vorbemerkung der Erstausgabe von 1987
empiristischer Wissensgewinnung – zu bestimmen, so dass der Begriff der empiristischen Begründung – fundamental als Ausdruck der spezifischen Begründetheit der empiristischen Form der Wissensgewinnung genommen – als im Begriff der dialektischen Aufhebung aufhebbar und darin umfassender erfüllbar ausgewiesen wird. »Der Begriff der dialektischen Aufhebung erfüllt den Begriff der empiristischen Begründung« bedeutet, aufs Ganze und in Richtung der Vermittlungsfunktion der Psychologie im Zusammenhang der wissenschaftlichen Disziplinen gesehen, eine Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Methode, derart, dass das Betreiben von Wissenschaft, einerseits, noch entschiedener als die Ausübung des SUBJEKTSEINS des Einzelnen begriffen wird – indem »Aufhebung«, »Reflexion« oder »Selbsterfahrung« die die menschliche Bestimmtheit definierende logische Figur ist –, wobei sich jedoch die Ausübung des SUBJEKTSEINS, andererseits, entsprechend der für Wissenschaft konstitutiven Praxis der Negation der gegebenen Form realempirischer Subjektivität als eine erst einzuübende und zu erringende neue Form von Lebenspraxis darstellt. So können die Psychologie und ihr spezifisches Verwirklichungsorgan: die Psychotherapie, ihrem Gegenstand zurückgeben, was die Wissenschaft dem Menschen geben kann: Die Methode, die – vor allem in ihren destruktiven Dimensionen – überwältigend erscheinende »Wirklichkeit des Gegebenen« aktiv umzuformen, so dass sie schließlich einmal die Gesichtszüge der menschlichen Bestimmtheit reflektiert. Besonderen Dank schulde ich den Professoren Dr. Dr. Albert Görres und Dr. Dr. Bruno L. Puntel sowie Dr. Georg Volk, die mir vor allem, in je sehr verschiedener Weise, einen Zugang zu »Denken« als einem wirksamen Instrument des Umgangs mit der Wirklichkeit des Gegebenen vermittelt haben. Planegg, den 22. April 1985
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I. TEIL: 1. Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft: Der Begriff der empiristischen Erfahrung und seine Crux für die Erfassung des Gegenstandes der Psychologie 1.1. Probleme und Erfordernisse der wissenschaftstheoretischen Analyse einer »ganz neuen Erfahrung« 1.1.1. Einleitende Begründung des fundamentalen Ansatzes der Aufgabenstellung Der vorliegende Versuch einer wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung mit der Primärtherapie Arthur Janovs bringt drei Problemkreise in ihrem Zusammenhang ins Spiel: das Problem der Klärung und Präzisierung der wissenschaftlichen Struktur der Primal hypothesis Arthur Janovs wirft das alte Grundlagenproblem der Psychologie auf, die Frage also, ob und wie das spezifisch Menschliche Gegenstand des empiristischen Erfahrungswissens sei. Das Grundlagenproblem der Psychologie wiederum ist untrennbar verbunden mit dem ihm vorgelagerten Grundlagenproblem der empiristischen Wissensform, dem Problem, zu zeigen, wie die die wissenschaftliche Wissensgewinnung konstituierenden Momente zu explizieren und zu begründen, also in eine umfassendere Theoriestruktur zu integrieren seien, welche die verschiedenartigen Einzeldisziplinen wechselseitig zu verankern und ihre Wissenschaftlichkeit auszuweisen vermöchte. Der Entschluss, im Bemühen um eine wissenschaftliche Klärung der Primärtherapie so fundamental anzusetzen, stützt sich auf eine Reihe konvergierender Wahrnehmungen, Feststellungen und Überlegungen: (1) Seit der Etablierung der Psychologie als wissenschaftliche Disziplin ist die Frage, inwieweit innerhalb der empiristischen Methode das spezifisch Menschliche als Gegenstand angemessen repräsentiert werden könne, ein offenes Problem geblieben. Bis 49 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
heute ist die psychologische Forschung wie gefangen gehalten in der Crux der doppelten Bindung der Überzeugung einerseits an die Unverzichtbarkeit der strengen wissenschaftlichen Betrachtungsweise im Hinblick auf ihren Gegenstand – daran, dass es gelingen müsse und einen Wert darstelle, den Gegenstand der Psychologie dem kategorialen Rahmen der empiristischen Wissenschaft einzugliedern –, wie andererseits an die Fragwürdigkeit einer uneingeschränkten Anwendung der empiristischen Methoden auf denselben – entweder dahin gehend akzentuiert, die Psychologie sei insgesamt oder teilweise eine andere Art von Wissenschaft, oder dahin gehend, ihr Gegenstand könne oder dürfe zum Teil überhaupt nicht wissenschaftlich erfasst werden: Auf je verschiedene Weise kommt in der psychologischen Forschung zum Ausdruck, was man eine Gespaltenheit oder systematische Bruchstückhaftigkeit nennen könnte, ein Merkmal also, das in eigenartiger Weise dem Impetus des wissenschaftlichen Unternehmens als einem »sicheren Gang« zuwiderläuft. Das Unbehagen ob der Unsicherheit, inwieweit die wissenschaftliche Betrachtungsweise in Bezug auf den Menschen adäquat ist und dem spezifisch humanwissenschaftlichen Interesse gerecht zu werden vermag, ist gewiss nicht nur eine allen Studienanfängern der einschlägigen Disziplinen gemeinsame Erfahrung; unweigerlich erwächst daraus die beunruhigende Frage, wie sinnvoll das Betreiben von Wissenschaft für uns Menschen überhaupt ist, und die drohende Sinnlosigkeit, wenn sich nicht angeben lässt, ob und wie das wissenschaftliche Vorgehen für die menschliche Entwicklung und die Bewältigung unserer Lebensprobleme jene Hilfe bietet, die die unsäglichen Mühen, die der Wissenschaftsentwicklung geopfert wurden und werden, rechtfertigen kann, betrifft nicht nur die Psychologen samt den Naturwissenschaftlern, sondern alle Menschen unserer Kultur, die schließlich dieses Unternehmen tragen und zuletzt mit ihrem Leben dafür einstehen. Das Problem der Wissenschaftlichkeit der Psychologie ist daher, wie ich meine, ein Gegenstand von so allgemeinem Interesse, dass ihm gar nicht genug ausdrückliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit entgegengebracht werden kann. Erst in der besonderen forschungslogischen Situation der Psychologie – und vornehmlich der Psychotherapie –, deren Gegenstand grundsätzlich die forschungslogische Relation umspannt, indem es für ihn als Objekt spezifisch ist, zugleich Subjekt der Erkenntnis und fähig zu sein, Wissenschaft 50 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
zu betreiben, wird das Grundlagenproblem der empiristischen Wissensform selbst greifbar und unausweichlich akut; hier ist der Ort, wo sich die grundlegende Frage nach dem Gegenstandsbezug der wissenschaftlichen Tätigkeit und damit der Relevanz der Wissenschaft für das menschliche Leben überhaupt entscheiden muss. (2) Kommt diese Funktion der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Leben der Psychologie aufgrund ihres logisch-systematischen Ortes im Korpus der Wissenschaften unbestreitbar zu, so fällt doch auf, dass dieser grundlegende Tatbestand im Rahmen der klassisch-wissenschaftstheoretischen Diskussion 1 kaum berücksichtigt wurde und die rasante Entwicklung formalisierter Verfahren der logischen Strukturierung einzelwissenschaftlichen Materials im Großen und Ganzen ohne Bezugnahme auf die psychologische Grundlagenproblematik verlaufen ist. Dieses Phänomen der Vernachlässigung der besonderen forschungsDie Verwendung des Prädikats »klassisch«, etwa im Ausdruck: »klassisch-wissenschaftstheoretische Diskussion«, oder, weiter unten, »klassisch-empiristische Gegenstandsauffassung« oder »klassisch-empiristische Form der Wissensgewinnung«, bedarf einer Erläuterung. Zunächst konnotiert die Verwendung dieses Prädikats die überholte Auffassung einer »naiven Wissenschaftstheorie«, die einen »unwandelbaren Gesamtsinn von Wissenschaft« (Rombach 1979, S. 12) unterstellt, einen »stehenden Wissenschaftsbegriff, eine Grundform von Wissenschaftlichkeit überhaupt« (a. a. O., S. 14 f.), während ein fortschrittliches Wissenschaftsverständnis – in Verarbeitung einerseits der Kritik des positivistischen Empirismus (etwa: Schnädelbach 1971, Kolakowski 1971) und andererseits der Grundlagenkrise der Mathematik (Ströker 1973, S. 3) – sich gegenwärtig in der Auffassung der Wissenschaft als einem pluralistischen Unternehmen artikuliert (a. a. O., S. 16 ff.; Herrmann 1977, S. 62), mit einem Konsens dahin gehend, »dass es ›die‹ Wissenschaftstheorie als ein einheitliches und allgemein akzeptiertes Aussagensystem über die Produkte und die Tätigkeit von Wissenschaft nicht gibt« (Schneewind 1977, S. 23). – Dem gegenüber soll die bezeichnete Verwendung des Prädikats »klassisch« den grundlegenden Gedanken zum Ausdruck bringen, dass die Weiterentwicklung der bisher praktizierten Formen wissenschaftlicher Wissensgewinnung in Richtung auf eine qualitativ neue, höhere Erkenntnisstufe durch ein Weitertreiben ihrer vielfältigen Verzweigungen nur dann erfolgen kann, wenn dies schließlich den Sinn hat, den gemeinsamen Stamm, von dem diese Verzweigungen ausgehen, zu erfassen und diesen zu verändern. Die Verwendung des Prädikats »klassisch« repräsentiert also eine Beurteilung – der vielfältigen Formen von Wissenschaft als Ausdruck einer logisch-methodischen Qualität (vgl. Ströker 1973, S. 7) – und eine Richtung des weiteren Vorgehens: der Bezugnahme in dieser Auseinandersetzung mit dem Problem der Wissenschaftlichkeit der Primärtherapie auf den gemeinsamen Nenner von Wissenschaftlichkeit, um diesen Nenner allererst zu verdeutlichen.
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
logischen Situation der Psychologie in der wissenschaftstheoretischen Diskussion mag viele Gründe haben; nicht zu übersehen ist dabei jedenfalls auch eine gewisse Scheu diesem Punkt gegenüber, eine Scheu, die, wissenschaftlich gesehen, als ein Signal für den besonders schwierigen logischen Status dieses Problems gewertet und in diesem Sinn sicher beachtet werden muss. Die neuere Entwicklung in der Wissenschaftstheorie erleichtert indessen auch den Entschluss, das mit so weitreichenden Schwierigkeiten behaftete Grundlagenproblem der Psychologie neu aufzurollen und sich der Herausforderung durch Situationen der Wissenschaftspraxis zu stellen, für die bis jetzt noch kein logisches Modell existiert. Auf einer mehr allgemeinen Linie hat das vermehrte Interesse an der Wissenschaftsgeschichte dazu geführt, den Konsens der Forschergemeinschaft über »Wissenschaft« als Ausdruck einer Entwicklung und somit als grundsätzlich unabgeschlossen zu verstehen. Spezieller hat die stärkere Anerkennung der »Theorienbeladenheit der Beobachtungssprache«, genauer: des Einflusses der der Theoriebildung zugrunde liegenden intuitiven Gedanken auch auf die Form der empirischen Daten, dazu geführt, die explorierend-heuristische Funktion von Theorien und Hypothesen wieder höher zu bewerten. Dieser Interessenverlagerung entspricht ein größeres Zugeständnis dahin gehend, in der rationalen Rekonstruktion vorliegenden wissenschaftlichen Materials nicht mehr nur normativ und korrektiv vorzugehen (es also daraufhin zu prüfen, ob es einer bestimmten, geforderten mathematisch-funktionalen Theoriestruktur genügt), sondern, wo es angezeigt erscheint, neue Wege auch verstehend zu verfolgen und aus vorliegendem einzelwissenschaftlichem Material gegebenenfalls neue logische Strukturen zu entwickeln, was zumindest grundsätzlich immer auch zu einer Veränderung des Wissenschaftsverständnisses selbst bzw. dazu führen kann, die Gesamtstruktur der wissenschaftlichen Erfahrung um neue Momente zu ergänzen und zu erweitern. 2 (3) In dieser Konstellation der stets dringend akuten Grundlagenproblematik, belebt durch ein wissenschaftstheoretisches Klima, das insgesamt zu einem Experimentieren mit neuen logischen Möglichkeiten ermutigt, gewinnt der Anspruch Arthur Janovs Vgl. etwa: Krüger 1970, S. 13; Ströker 1973, S. 131; Herrmann 1977, S. 67 f.; Westmeyer 1977, S. 89.
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Probleme und Erfordernisse
an Bedeutung, mit seiner Primal hypothesis einen gegenüber allen bestehenden psychologischen Theorien neuen und eigenständigen Ansatz vorzulegen, der das spezifisch humanwissenschaftliche Interesse wissenschaftlich zu repräsentieren vermag, und damit den Wissenschaftsbegriff selbst zu revolutionieren. Dieser Anspruch Janovs zielt genau ins Schwarze des Dilemmas der bisherigen akademischen Psychologie: nicht zugleich in wissenschaftlicher wie in inhaltlich-psychologischer Hinsicht überzeugen zu können, und er kulminiert in der sicher ebenso kühnen wie logisch interessanten Pointe, die Psychologie werde, indem sie dasjenige Moment, an dem sich das Problem der Möglichkeit ihres wissenschaftlichen Status gerade entzündet (nämlich subjektives Fühlen und Erleben), in neuartiger Weise einbezieht, erstmals in den Stand gesetzt, den Kriterien des bisherigen Wissenschaftsbegriffs vollauf – wie sie sie sonst niemals in diesem Maße zu erfüllen in der Lage wäre – zu genügen. Jenseits von Begeisterung und Skepsis, die die Aufnahme einer neuen, erfolgversprechenden Therapieform durch die Öffentlichkeit gewöhnlich kennzeichnen, scheint es mir, angesichts des Ernstes und der Dringlichkeit der Situation und angesichts des forschungslogisch relevanten Charakters der Primal hypothesis, von der Vernunft geboten, die Kunde von der neuen Erfahrungsform des Fühlens grundsätzlich zu begrüßen und willkommen zu heißen. Wenn sich eine neue Qualität der Erfahrung im Experiment des psychotherapeutischen Prozesses aufgrund methodisch vermittelter Schritte mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederholt, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass hier auch wirklich etwas Neues entdeckt wurde, dass also hier eine im Zuge der Wissenschaftspraxis irgendwie kryptogen gewachsene intuitiv-theoretische Aufnahmebereitschaft dahin gelangen konnte, ihre neuen Daten zu finden. Immer wieder hat es in der Wissenschaftsgeschichte solche Vorfälle progressiver Datengewinnung gegeben, und die große Chance, durch sie zu einem Erkenntnisfortschritt zu gelangen, hängt nun davon ab, wie ein solches Phänomen oder Datum aufgenommen und von der Wissenschaft integriert werden kann, so dass das darin enthaltene fortschrittliche Potential dem Wissenschaftsverständnis selbst und damit den Menschen dauerhaft zugutekommen kann. In seinen Veröffentlichungen betont Janov stets explizit und implizit den Doppelcharakter der Primal hypothesis, so dass »Neurose« und »Fühlen« – etwa in dem Satz: »Neurose ist eine Krankheit des 53 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
Gefühls« – einerseits einzelwissenschaftliche Begriffe sind, deren Bedeutung jedoch nur im Kontext eines veränderten Wissenschaftsbegriffs erfasst werden kann, wenn nämlich andererseits ihr zugleich methodischer Status erkannt und FÜHLEN 3 als eine neue Wissensform erschlossen wird. »Fühlen« ist Objekt des Wissensanspruchs der Primärtheorie und fungiert gleichzeitig in der wissenschaftlich begriffenen Primärtherapie (FÜHLEN) als Methode der Einlösung eines wissenschaftlichen Wahrheitsanspruches und hat daher eine erkenntnistheoretisch-forschungslogische Bedeutung: »The only validity is in experience. The only psychologic truth is experienced truth« (Janov 1973, S. 27).
Trotz der zahlreichen Äußerungen Janovs, die seine Intention, mit der Primärtherapie zugleich eine ganz neue Sicht des Gegenstandes der Psychologie zur Diskussion zu stellen, deutlich zum Ausdruck bringen, wäre es doch sicher nicht realistisch, an die Janovschen Veröffentlichungen mit der Erwartung heranzugehen, hier werde mit einem Schlag eine in sich konsistente, neue Wissenschaftskonzeption vorgelegt. In den Jahren des Entdeckens und Herausförderns der neuen Erfahrung, wo es darum geht, einer neuen Erfahrungsqualität überhaupt zum Leben zu verhelfen, liegt der Akzent der Tätigkeit gewiss und berechtigterweise mehr auf dem Vollziehen, dem Tun, eben dem therapeutischen Vermitteln der neuen Erfahrung: FÜHLEN. Gerade deshalb erscheint es mir sinnvoll und angebracht, die Janovschen Versuche, die neue Erfahrungsqualität der Primärtherapie zu kommunizieren, wissenschaftstheoretisch zu unterstützen. Vorrangig stellt sich dabei die Aufgabe, eine Form zu finden, die völlig neue Weise Janovs, den Gegenstand der Psychologie zu sehen, zu beschreiben. Diese Arbeit des Beschreibens erfordert zunächst die Konstatierung jener Merkmale der Janovschen Sprache, in denen die neue Erfahrungsqualität logisch fassbar wird. Für diese neuen Merkmale der Janovschen Aussageweise sind sodann Begriffe und Denkmodelle zu finden, die eine forschungslogische Deutung der Primal hypothesis gestatten – um ihre Aufnahme zu erleichtern und den Anwendungsnutzen der Primärtherapie zu fördern.
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Zur Schreibweise von Begriffen in Großbuchstaben vgl. Anm. 3 der Einleitung
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Probleme und Erfordernisse
1.1.2. Erste Charakterisierungen der Janovschen Äußerungen im Hinblick auf eine wissenschaftstheoretische Analyse 1.1.2.1. Die »Primal revolution«: Wissenschaftliche Alleinherrschaft des Fühlens? 1.1.2.1.1. Das Phänomen der totalen Kritik Janovs an allen bestehenden wissenschaftlichen Theorien Die nun folgenden Abschnitte haben die Aufgabe, mit der Eigenart Janovs, sich wissenschaftlich zu äußern, vertraut zu machen, so dass, erstens, klar hervortritt, dass es sich bei dem von Janov zur Sprache gebrachten »total Neuen« tatsächlich um eine wissenschaftstheoretisch gewichtige, tiefgreifende Differenz gegenüber den bestehenden psychologischen Theorien handelt – um eine Differenz des Denkansatzes, derart, dass man genötigt ist Neuland zu betreten und das Neue auch neu zu denken versuchen muss, sofern dem Janovschen Anspruch Gerechtigkeit widerfahren soll. Mit der vollen Wahrnehmung der Schwierigkeiten, mit denen eine wissenschaftstheoretische Analyse der Äußerungen Janovs unvermeidlich konfrontiert ist, können, zweitens, jedoch auch die ersten positiven Anhaltspunkte für das Verständnis der Besonderheit der logischen Struktur der Primal hypothesis gewonnen werden, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit als Wegweiser aufgegriffen werden, um einen Standpunkt zu suchen, von dem aus der Gegenstand der Primärtherapie einer wissenschaftlichen Beschreibung zugänglich wird. Umgekehrt mag dabei deutlich werden, wie wichtig es gerade im Falle der Primärtherapie ist, den Fund, der hier im Vollzug der Wissenschaftspraxis gemacht wurde, denkend zu rekonstruieren, um ihm – als das von Janov intendierte Neue – eine Überlebenschance zu geben, die er, wie ich meine, nur in logisch ausgereifter Form vielleicht hat. Nähert man sich den Janovschen Äußerungen mit einem wissenschaftstheoretischen Interesse, so sieht man sich in eine durchaus neuartige Situation versetzt: Die Primärtherapie scheint sich auf den ersten Blick einer wie auch immer gearteten wissenschaftstheoretischen Erforschung zu entziehen, indem sie jeden von außen an sie herangetragenen Gesichtspunkt, jede ihr äußerliche Voraussetzung oder theoretische Voreingenommenheit streng zurückweist und nur das primärtherapeutisch vermittelte Fühlen: FÜHLEN, als Urheber und Vollstrecker, gemäßigter: als unverzichtbare, notwendige Vo-
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
raussetzung einer Beurteilung ihres Wahrheitswertes anerkennen will: »We have failed to understand that experience validates a theory about human neurosis, and that the only person who can find a truth about himself is that person.« (Janov 1973a, S. 22) »Primal theory simply says, that the only validity is in experience. The only psychologic truth is experienced truth.« (ebd.) »To be open to oneself allows one to know everything important about one’s behavior. No theory about human behavior can help anymore than that. If everyone were open to himself, there surely would be no psychologic theory business.« (Janov 1973a, S. 33) »We fail to understand that feelings validate – that feelings are not something to be shunted away as unrational and unreasoning; if something feels right to a feeling person, it is likely to be right, especially when we are talking about human endeavors.« (Janov 1973a, S. 37) »I wanted people to understand that feelings validate. […] I wanted people to trust their feelings and themselves and not to search for validation in the cerebral flummery of theoreticians.« (Janov 1971, S. 15) »And when a patient is able to feel, I am convinced that all the charting, testing, diagramming, and schematizing we have done in order to understand human behavior will be unnecessary, for these seem to be no more than symbolizing actions of people. I propose that we avoid analyzing and treating what is unreal and go straight to what is real.« (Janov 1970, S. 390)
Angesichts der neuen Erfahrung des FÜHLEN verblassen alle wissenschaftlichen Bemühungen als unwichtig und überflüssig. Wissenschaftler und Psychologen werden wieder zu Laien, die ihre wissenschaftliche Voreinstellung erst einmal als Hindernis für das Verstehen der neuen Qualität der Erfahrung abzulegen haben: »What is surprising is how similar the questions are both from lay and professional audiences.« (Janov 1973a, S. 11) »Perhaps we should not expect psychologists to be different from anyone else.« (Janov 1970, S. 390) »What I have discovered in patients who have been therapists is a tendency to use their old techniques for a time and their old psychological theories and notions; more than one of them has asked why he cannot combine his old ideas and techniques with the new, taking what is best from both. […] It is difficult for him to accept that what he knew before is no longer valid. After all his previous training he cannot imagine that he is as much a novice as someo-
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Probleme und Erfordernisse
ne with absolutely no training. Worse, he usually has to unlearn what he was taught.« (Janov 1974, S. 302 f.; vgl. ders. 1975, S. 440) »Of the thousands of people who seek entry into the Institute each month only the professionals want to know facts first. And no matter, how many facts we offer, there is always more they want to know, because they can never know enough to make them feel. Professionals have a right to know more […] but if they do not feel, facts won’t change their outlook or their clinical approach.« (Janov 1971, S. 15 f.)
Auch die drastischsten objektiven Daten besagen nichts – auf alle Fälle sind sie jedoch zweitrangig, solange man gegenüber der neuen Art der Erfahrung stumpf bleibt, denn sie ist maßgebend, und erst von ihr her gewinnen die Daten die richtige Bedeutung: »What Primal patients experience about their youth is primary. Any research is but an adjunct to what they learn about children through becoming the feeling children they never were.« (Janov 1973b, S. 11) »So long as the therapist himself has blocked consciousness (i. e., he doesn’t feel, B. V.), his interpretation must in some way be derivative of his own Pains, and his views about his patient must remain unobjective.« (Janov 1973a, S. 27) »[…] it seems clear to me that the validation of Primal Therapy will have to take a different route than the usual procedures for evaluating other therapeutic methods. We produce a different kind of human being, out of the cultural mode, so that culture-bound tests are not valid. Its central validity is in experience, which is the ultimate validity.« (Janov 1975, S. 52) »Even though I have discussed scientific, objective methods of understanding neurosis, the ultimate truth about neurosis lies on the level of experience and no amount of scientific evidence or statistical data is going to help scientists understand what feelings are. […] Those who cannot feel, need a great deal of cerebral, statistical proof. Yet, those who cannot feel need a proof they cannot accept because they still have no idea what a feeling is.« (Janov 1980, S. 173)
Ein von außen an die Primärtherapie herantretender wissenschaftlicher Betrachter sieht sich, wie Janov es beschreibt, in einem Zirkel gefangen: Er möchte das Neue der Primärtherapie wissenschaftlich, von dem her also, was ihm bekannt ist, verstehen; und als nicht in die Erfahrung des Fühlens eingeführt braucht er dazu Beweise als dasjenige, was ihm den gewünschten Zugang zu dem besonderen Charakter ihrer Wissenschaftlichkeit verschaffen kann. Um diese Beweise jedoch als einleuchtend zu erkennen, muss er von der neuen Erfahrung schon etwas erfasst haben, und so befindet er sich bereits auf 57 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
dem Boden der Primärtherapie, wo er solcher Beweise nicht mehr bedarf. Als ein erster Anhaltspunkt dafür, den verwirrend »totalen« Charakter des Janovschen Ansatzes zu verstehen und zu orten, bietet sich die von Toulmin, Hanson und Kuhn zur Diskussion gestellte Konzeption »wissenschaftlicher Revolutionen« an. So führt etwa Kuhn aus, dass der bei Janov festzustellende, wissenschaftstheoretisch so anstößige »totalitäre« Charakter seines Anspruchs ein »mit dem Auftauchen eines neuen Paradigma-Anwärters und […] dem darauffolgenden Kampf um seine Anerkennung« regelmäßig gegebenes Merkmal darstelle (Kuhn 1973, S. 119). Die Beobachtungstatsache, dass in der das Auftreten eines neuen Paradigma-Anwärters begleitenden Debatte um seine Anerkennung die Befürworter desselben einen vollständigen Gestaltwandel der Erfahrung nach der Art einer Konversion zu erwirken suchen, verstößt nach dieser Auffassung nicht gegen das Wesen der wissenschaftlichen Forschung, sondern muss als dessen Ausdruck angesehen werden (ders., S. 201). Die Äußerungen Janovs entsprechen mit frappierender Deutlichkeit der von Kuhn skizzierten Situation. Unermüdlich kennzeichnet Janov die Primal hypothesis im Sinne Kuhns als das neue Paradigma, d. h. als den wissenschaftlich einzig überzeugenden Ansatz, der sich nicht nur von allen anderen, konkurrierenden Theorien unterscheidet, sondern diese auch als überflüssig und ungültig verdrängen kann und muss: »The Primal approach is as different from conditioning methods as from almost any other approach.« (Janov 1970, S. 214) »Freudian theory and Primal theory are antithetical.« (Janov 1970, S. 209) »I believe that analysis of any kind is invalid.« (Janov 1970, S. 207) »If we can get below the idea of defenses we can do away with the need for those theories.« (Janov 1973a, S. 33) »Clearly, I believe, there is a truth – a reality. […] From all evidences, there is a set of laws governing human behavior and particular neurotic processes which is every bit as precise as the laws of physical sciences. There are neither numerous explanations for gravity, nor should there be myriad approaches to explain neurosis. I do not see how can there be any number of psychological theories, each equally valid, each contributing something important and true. If one theory is valid, and I believe the Primal notions are valid, then other approaches are invalid.« (Janov 1970, S. 394)
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Probleme und Erfordernisse
»If the laws governing the development of neurosis and psychosis are specific, then there can be no leeway, no false modesty or false democratic ideals, all of which would leave room for many approaches of the problem. There can be but one approach. One might cavil and question about my intolerance of others. But I am not the one who is intolerant; it is the Primal hypothesis. The truth is highly intolerant of untruth. Valid scientific hypotheses drive out invalid ones.« (Janov 1973a, S. 29) »They believe that every approach has something to offer. And I disagree. If we are talking of just changing behavior, then, yes, every approach can do that in some way. Conditioning therapy can do it and psychoanalysis can accomplish it. But if we are speaking about profound change it is another matter. Then none of the other ways is effecacious because they do not attack the Pain systematically.« (Janov 1974, S. 304 f.; vgl. ders. 1975, S. 440 f.)
Die neue Sicht lässt sich im bestehenden Rahmen nicht begreifen; vielmehr erfordert sie ein radikaleres Umdenken: »Primal Therapy purports to cure mental illness. […] Moreover, it claims to be the only cure. By implication, this renders all other psychologic theories obsolete and invalid. It means that there can be only one valid approach to treating neurosis and psychoses.« (Janov 1973a, S. 19) »›Cure‹ is an opprobrious term in the social sciences because it means that one holds ›the Truth‹ – the final answer. […] If we are ever to comprehend what a cure really means, we must rethink the entire base of our theories.« (Janov 1973a, S. 22)
Wie findet man nun zu Janov einen wissenschaftstheoretischen Zugang angesichts seiner totalen Kritik an allen bestehenden Ansätzen? Und wie kann die Deutung des Janovschen Absolutheitsanspruchs als ein im Zuge wissenschaftlicher Revolutionen »reguläres« Phänomen hier weiterhelfen? Versteht man das Phänomen des Janovschen Anspruchs im Sinne Kuhns als Auftauchen eines neuen Paradigmas in der wissenschaftlichen Szene, so wird zunächst der Blick dafür befreit, die profunde Interessenverlagerung wahrzunehmen, die hier stattgefunden hat; und unter Vergegenwärtigung der Theorieabhängigkeit empirischer Daten wird deutlicher, wie sehr es zutrifft, dass sich der Sinn einer wissenschaftlichen Fragestellung erst aus ihrem Zusammenhang mit bestimmten, fundamentalen Auffassungskategorien (dem mehr oder weniger expliziten, grundlegenden theoretischen Verständnis), die sich dann auch auf die Bevorzugung einer bestimmten Forschungs59 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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methode im engeren Sinn auswirken, eruieren lässt. Das macht verständlich, dass die Hinwendung zu einer neuen Fragestellung meist auch mit einer Abkehr von den alten Methoden einhergeht. Innerhalb der psychologischen Disziplin lässt sich diese Veränderung der als wissenschaftlich interessant bewerteten Fragestellungen sehr gut an der Kritik verfolgen, mit der sich der behavioristische Ansatz zu Anfang unseres Jahrhunderts gegen die Bewusstseinspsychologie allmählich durchsetzte. So betont etwa John B. Watson in seinem 1913 erschienenem programmatischen Aufsatz: »Psychology as the Behaviorist Views it« (Watson 1968, S. 13 ff.) immer wieder diesen Unterschied in der Formulierung von wissenschaftlichen Fragestellungen und misst seiner wissenschaftlichen Langeweile gegenüber den von seinem Standpunkt aus gesehen unergiebigen und uninteressanten und daher überflüssigen mentalistischen Problemen fast ein größeres Gewicht im Hinblick auf seine Ablehnung dieser Richtung bei als den mehr logisch-erkenntnistheoretischen Einwänden (wie etwa logische Undurchführbarkeit des mentalistischen Programms, Aporie des Solipsismus, Schwäche der Analogieinterpretation). Ähnlich wie vor ca. 70 Jahren Watson gegen die Bewusstseinspsychologie, so wendet sich heute Janov gegen die Behavioristen und lenkt das wissenschaftliche Interesse vom Verhalten auf das Fühlen: »Psychology is called a ›behavioral Science‹, and the accepted definition of its purpose is to study human behavior, not human feelings.« (Janov 1973a, S. 20) »Neurosis is a pathology of feeling.« (Janov 1970, S. 24)
Und wie damals für Watson mit der mentalistischen Fragestellung zugleich die Methode der Introspektion uninteressant wurde, so ist auch bei Janov die Kritik der inhaltlichen Definition der Psychologie eng an die Kritik der entsprechenden Forschungsmethode geknüpft: »The conditioning therapist (often called a Behaviorist) looks at behavior and makes conclusions from his observations […] The Behavioristic approach is superficial. It takes things at face value. It does not question the ›why‹ of behavior.« (Janov 1973a, S. 37) »Descriptions are doubtly deceptive because they frequently offer the illusion of clarification while enmeshing us deeper in the morass of the complexities of behavior. If we look only at behavior, the field of study is, indeed, overwhelming, because the possibilities of neurotic acting out are enormous. If we stand
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away for a moment from the neurotic entanglements and look deeper, we do not find such complexity. We find human need, similar in all of us; it is basic, profound and simple. And unfulfilled need (which has to be felt, B. V.) is the fount from which spring all the varieties of mental aberration.« (Janov 1973a, S. 21 f.; vgl. ders. 1970, S. 390)
Damit ist jedoch die Kritik Janovs an allen bestehenden Theorien noch nicht ausreichend charakterisiert: Sie betrifft die bestehenden Theorie- und Therapieformen nicht nur unspezifisch, so dass sie von seinem Standpunkt aus verschwinden, indem er eben alles mit den Augen eines Primärtherapeuten betrachtet und also etwa dort Primal pain oder need-feeling sieht, wo ein Psychoanalytiker vielleicht verdrängte Konflikte bzw. eine ödipale oder primärnarzißtische Fixierung und der Behaviorist eine Disposition annehmen würde, auf einen konditionierten Stimulus mit einem negativen emotionalen Response zu reagieren. Janov kritisiert die bestehenden Ansätze und Methoden spezifischer, indem er den Vorwurf gegen sie so zuspitzt: Sie seien, vom primärtherapeutischen Standpunkt aus gesehen, nicht nur uninteressant und daher überflüssig; sie seien vielmehr falsch, verschlimmerten die Neurose: »I believe, conditioning techniques will result in heightening tension (i. e. »neurosis«, vgl. Janov 1970, S. 49 ff., B. V.) and assure the later adoption of other more serious symptoms. I do not think that one treats the illness by dealing with the symptoms. To treat neurosis one must deal with needs.« (Janov 1970, S. 214) »I believe that conditioning methods enjoy such approval because they are part of the establishment thinking which believes that repression (as indicating neurosis, B. V.) is the best way to get rid of problems. Shocking patients so they no longer show unsociable behavior simply drives feelings deeper and makes the patient sicker in the long run. So the addict stays off drugs and dies from a heart attack at a young age. Meanwhile a conditioning therapist can point to therapeutic success, because the patient’s behavior was »good«, i. e., he stayed off drugs for a long time. […] The behavioristic approach is superficial. […] Addicts who are off drugs but who have not resolved their inner tension, are more sick, not less. They are just as repressed as they always were, without the outlets that would provide some relief.« (Janov 1973a, S. 36 f.; vergl. ders. 1975, S. 186 f.) »I think, therefore, that the explanatory process of conventional therapy may make the patient more neurotic. […] ›Understanding‹ in conventional therapy
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is but one more cover for the Pain. Next to mental illness, one of the major afflictions of humanity today is the treatment for it.« (Janov 1970, S. 241) »How could we possibly combine psychoanalysis with psychotherapy, for example, if we know, that the former strengthens defenses (i. e. neurosis, B. V.).« (Janov 1975, S. 441 f.; vgl. ders. 1980, S. 112)
Ja, gegen die bisherige Theoriebildung in der Psychologie muss insgesamt der Verdacht erhoben werden, selbst als ein Instrument der Neurose der Psychologie zu fungieren: »Perhaps we should not expect psychologists to be different from anyone else. The theories they adopt are simply sophisticated views of man and his world. These ideas must fit in with the rest of the psychologist’s ideas – that is, they must help bolster the defense system and stay the Pain (the truth).« (Janov 1970, S. 390) »Theorists need to hypothecate theories that exclude defenses because they themselves are defended. […] When one is blocking feeling, he needs defenses, and, if a psychologist, he needs to build them into a theoretical system.« (Janov 1973a, S. 33)
Und das ist, umgekehrt, der Grund dafür, dass die Begriffe und Methoden der Primärtherapie für einen normalen – und das heißt in der Regel: »neurotischen« – Wissenschaftler nicht verständlich und handhabbar sind: »To feel is to understand the prepotency of feeling in the psychological schemata.« (Janov 1971, S. 16) »There are specific Primal techniques, but those techniques are of no use in the hands of a neurotic, even if that person understands physiology, sociology, and psychological theories.« (Janov 1970, S. 392)
Diese Verschärfung des »normalen« Erfahrungsdefizits, das für das Bestehende dem Neuen gegenüber zweifellos vorliegt, im Sinne einer schwerer wiegenden, »totaleren« Insuffizienz, verdeutlicht sich unmissverständlich in der Kritik Janovs, die auf ein allen bestehenden Theorien gemeinsames, grundsätzliches Moment zielt, wodurch diese, in der bestehenden Form, alle ein Ausdruck jener neurotischen Gesamtverfassung sind, die, als Neurose allererst hervorbringend, mit der Primärtherapie gerade überwunden werden soll. M. a. W.: Die Kritik Janovs an allen bestehenden Theorien ist so zu verstehen, dass sie unvermeidlich auf den Wissenschaftsbegriff selbst sowie auf jene tiefen kulturgeprägten Voraussetzungen übergreift, in denen er verwurzelt ist. 62 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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»Aside from disagreeing on psychological grounds, I am concerned about the proliferation and acceptance of present conditioning techniques. This view of humans as units to be maneuvered in this way or that is part of an overall Zeitgeist, part of the dehumanization of man, in which feelings, purpose, and intellect are but secondary considerations in the push to produce and achieve results. I think that the mechanical treatment of human beings is part of the current disease and is what helped produce neurosis originally. The fear is, that psychology may become absorbed or co-opted into the general social mechanization in which symptomatic effects, both social (college protests, for example) and personal, are stamped out by punishing techniques without anyone asking the critical question: ›Why?‹«. (Janov 1970, S. 215) »Reality therapy has a wide acceptance today for two reasons. The first is that it is simplistic and therefore appealing to those who do not want to bother with probing depth. Second, and more important, it fits perfectly into the cultural mode – the very cultural Zeitgeist, which produces neurosis, in my opinion […]« (Janov 1970, S. 217) 4
In den zitierten Äußerungen vollzieht Janov einen Gedanken, dessen voller logischer Umfang jedoch nur – unter gleichzeitiger Vergegenwärtigung anderer (noch folgender) Textstellen – ganz deutlich werden kann. Die Tragweite der Kritik, die Janov im vorletzten Zitat (Janov 1970, S. 215) speziell an der behavioristischen Schule übt, indem er sie in den Zusammenhang mit einer umfassenderen, Neurose hervorbringenden, für unsere heutige Kultur charakteristischen Denkhaltung bringt, lässt sich erst ermessen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieser verhängnisvolle Zusammenhang für alle anderen Ansätze in gleicher Weise gilt, indem es ein und derselbe Punkt ist, aufgrund dessen er sie alle für unzureichend erklärt: Behaviorismus, klassische Psychoanalyse sowie die daraus abgeleiteten verstehenden Verfahren, Reichsche Körpertherapie, der rationale Ansatz, Realitätstherapie und viele andere: sie alle isolieren mehr oder weniger einen bestimmten Aspekt der Neurose (sei es in einer mehr mentalistischen, Verhaltens- oder i. e. S. körperlichen Akzentuierung), und damit überbewerten sie die Symptome der Neurose, das, was Janov das »abgeleitete, symbolische Material« nennt, und teilen allesamt die falsche Hoffnung, durch irgendeine Art von Arbeit an den Symptomen die Neurose selbst verändern zu können:
Zu den Stichworten »establishment thinking«, »general neurotic philosophy« vgl. etwa Janov 1973a, S. 36; ders. 1973b, S. 194; S. 198; ders.1980, S. 226
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»I want to make clear exactly what I mean by the Freudian analysis of derivative material. Let us think again of the Primal paradigm. There is a need or feeling which cannot or dare not be felt. It is blocked and what emerges is something symbolic – a substitute thought or act. Analysis of derivative material is an analysis of that symbolic realm and is bound to become detoured into a never-ending entanglement of symbols, such as dreams, hallucinations, false values, illusions, or whatever.« (Janov 1970, S. 207) »All these symbols derive from the need-feeling. […] I am suggesting, that to deal with any symbolic derivatives is useless, and this is what has made psychoanalysis such an agonizing, drawn-out affair. It is time to plunge through the symbols, get to the need […] and get people well. (Janov 1970, S. 208) »Manipulating the front, rearranging the symptoms, offering symbolic physical and mental trips, teaching him contrived roles in contrived situations do not deal with the sources of the problems. The reshuffeling of the defenses can go on forever and will not stop until the patient can feel himself. Until the Pain is felt, any one thing will be as ineffective as another – whether it be psychodrama, dream analysis, sensitivity training, meditation, or psychoanalysis.« (Janov 1970, S. 230) »The emphasis of Primal Therapy is that the reformist measures of the conventional therapies only help rechannel the front but leave the neurosis intact.« (a. a. O., S. 388)
Die logische Äquivalenz der Janovschen Kritik an allen bestehenden Theorien mit einer Kritik des diese leitenden Wissenschaftsbegriffs ergibt sich aus der besonderen Art seiner Kollision mit allen bestehenden Theorien, indem er sie alle, ungeachtet ihrer logischen Unterschiede, im Hinblick auf ein und dasselbe Merkmal und damit im Hinblick auf die ihnen allen gemeinsame Denkform, den ihnen gemeinsam zugrunde liegenden Wissenschaftsbegriff, in Frage stellt. Die bisher in dieser ersten Begegnung mit den Janovschen Äußerungen vollzogenen Schritte seien noch einmal rekapituliert. (1) Janov kennzeichnet das primärtherapeutische Fühlen als eine total neue Erfahrung von ausgeprägt wissenschaftlichem Charakter (vgl. dazu etwa Janov 1970, S. 394; ders. 1973a, S. 29; zu »Primal Therapy as a Science« vgl. Janov 1974, S. 306 f.). (2) Nun ist aber ein wissenschaftliches Verständnis des Janovschen Standpunkts sowohl in inhaltlicher Hinsicht durch die zentrale These: »FÜHLEN ist eine Wissensform« (»the only validity is in experience«, vgl. etwa Janov 1973a, S. 22), als auch formal durch die totale Kritik an allem Bestehenden (kulminierend in der Äu64 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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ßerung: »We produce a different kind of human being, out of the cultural mode, so that culture-bound tests are not valid«, Janov 1975, S. 52) vor die besondere Schwierigkeit gestellt, überhaupt einen Boden für die Auseinandersetzung mit der Primärtherapie und geeignete Mittel für die Darstellung ihres wissenschaftlichen Gehaltes zu finden. Wenn an der bestehenden Wissenschaft überhaupt etwas dran ist – und davon macht Janov ja gerade Gebrauch, wenn er seinen neuen Ansatz als aufgrund seiner Wissenschaftlichkeit ernst zu nehmenden vorstellt –, dann muss es vom Boden des Bestehenden, des »Alten« her irgendeinen Zugang zu der neuen Qualität der Erfahrung geben, und es ist gerade die Gemeinsamkeit von beiden, welche die wissenschaftstheoretische Analyse zu explizieren hat, derart, dass sowohl der Wissenschaftscharakter der Primärtherapie deutlich werden als auch, gegebenenfalls, die entsprechende Erneuerung der bestehenden Wissenschaftsauffassung geschehen kann. Die Anfangsschwierigkeit, einen wissenschaftstheoretischen Zugang zur Primärtherapie zu gewinnen, stellt sich also so dar: Die neue Erfahrung des FÜHLENS ist derart tiefgreifend und umfassend, sie betrifft den Menschen so total und in allen seinen Lebensäußerungen, dass gewissermaßen kein Rest zurückbleibt, der sich in seiner alten Form der neuen Verfassung anschließen könnte. Nach und nach bringt die totale Kritik Janovs jede Ebene einer Bezugnahme zum Verschwinden, indem sie deren logischen Status usurpiert: die Ebene der bestehenden psychologischen Ansätze; die Ebene der psychologischen Theoriebildung überhaupt; die Ebene der wissenschaftlichen Theoriebildung überhaupt. Wie ist es also möglich, der Aufforderung Janovs nachzukommen, unsere Theorien von Grund auf neu zu überdenken (»(to) rethink the entire basis of our theories«, vgl. Janov 1973a, S. 22), ohne dem erwähnten Zirkel zu verfallen, der darin bestünde, die bereits in Anspruch genommene Verbindung zum traditionellen Wissenschaftsbegriff einfach abzubrechen? (3) Ein erster positiver Anhaltspunkt dafür, aus diesem Zirkel herauszufinden – ohne der Primärtherapie einen ihr äußerlichen Standpunkt aufzuzwingen, den sie selbst nicht anerkennen könnte – liegt in der logisch stringenten Auffassung der totalen Kritik Janovs, der Einsicht also, dass die Primärtherapie mit den bestehenden Theorien offenbar nicht auf gleicher Ebene konkurriert, dass sie als eine bestimmte Form des Zusammenhangs der bestehenden Theorien, somit als eine Art Metatheorie aufzufas65 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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sen ist, die das allen anderen Ansätzen Gemeinsame in veränderter Form thematisiert und dadurch überhaupt erst fassbar werden lässt. Noch einmal: • Vom Standpunkt der Primärtherapie aus sind alle bestehenden psychologischen Ansätze zu kritisieren; die bestehenden psychologischen Theorien und Verfahren werden in ihrer Totalität, in Bezug auf das ihnen allen gemeinsame Merkmal, das sie als Varianten einer Denkform ausweist, kritisiert; • das bedeutet für den primärtherapeutischen Standpunkt selbst, dass er mit den bestehenden Ansätzen nicht auf gleicher Ebene konkurriert; vielmehr wird deren gemeinsamer Nenner überhaupt erst dadurch fassbar, dass Janov die Primärtherapie als den übergeordneten – totalen – Standpunkt einführt, der das Bestehende in dem bestimmten Sinn »überflüssig« macht, dass er es in veränderter Form inkorporiert, in sich »aufhebt«. Die Janovsche Kritik an den bestehenden Ansätzen impliziert einen Anhaltspunkt dafür, wie »total« das sog. Alte angesichts des Neuen zurücktritt: Es verschwindet nicht schlechthin total; vielmehr wird es in einer spezifischen Weise übergangen, derart, dass das Neue als das Neue des Alten, als jener umfassendere und logisch höhere Standpunkt auftauchen kann, der den Zusammenhang der das Alte ausmachenden verschiedenen Ansätze insgesamt sichtbar macht. Versteht man Janov so, dass er mit seinem Neuen eine neue Ebene eröffnet, von der her das Alte in seinem Zusammenhang sichtbar wird, so ist das Alte und ein Verständnis des Alten notwendig, um nicht über es hinweg, sondern durch es hindurch zur neuen Erfahrung zu gelangen, worauf die Janovschen Ausdrücke »to get below the surface«, »to look deeper«, »to plunge through the symbols«, hinzuweisen scheinen. Der positive Sinn der totalen Kritik Janovs steht und fällt dann damit, dass sie als eine Art Reisebeschreibung verstanden werden kann, wie man durch das Alte hindurch FÜHLEN als die neue logische Metaebene erreicht, so dass es schließlich möglich wird zu präzisieren, was es bedeutet, die Primärtherapie »hebe die bestehenden Ansätze in sich auf.«
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1.1.2.1.2. FÜHLEN als Eingriff in die forschungslogische Relation Die bisher vorgestellten Äußerungen Janovs sollten einen ersten Eindruck von dem besonderen Charakter der Veränderung vermitteln, die die Primärtherapie im Menschen bewirkt, sowie, infolgedessen, von der besonderen Schwierigkeit, dieser Situation wissenschaftstheoretisch zu begegnen. Bei aller Ähnlichkeit der Primal revolution mit früheren Fällen des Auftauchens eines neuen Paradigmas auf dem Gebiet der Psychologie ist doch der schwerwiegende Unterschied, das wirklich Neue im Falle der Primärtherapie, dabei nicht zu übersehen. So ist es etwa in Bezug auf die Psychoanalyse Freuds, um sie zu verstehen und zu schätzen, sicher auch notwendig, sich in irgendeiner Weise in das Freudsche Paradigma einführen zu lassen. Das kann aber schon beim Lesen etwa der »Psychopathologie des Alltagslebens« (Freud, GW IV) geschehen, und man wird sich durch Vergegenwärtigung einer entsprechenden eigenen Fehlleistung relativ leicht »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene« (Freud GW I) soweit überzeugen können, wie es notwendig ist, um einen ausreichenden Zugang zum Gegenstand seiner Äußerungen zu gewinnen. Ganz gewiss würde Freud jedoch nicht so weit gehen, eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Psychoanalyse für sinnlos zu halten, solange nicht eine intensive, länger dauernde praktische Einübung (unter der kompetenten Leitung von Freud selbst und der Stabmitglieder seines Instituts) erfolgt ist. Erst recht würde Freud nicht so weit gehen, die Ausübung wissenschaftlicher Rationalität im Sinne der Tradition unserer Kulturgemeinschaft in diesem Maße von der individuellen Neurose eines Wissenschaftlers oder Psychologen für korrumpierbar zu halten, noch würde er die Glaubwürdigkeit des tradierten Wissenschaftsbegriffs selbst im Sinne des Neurose-Vorwurfs belasten wollen. Die Primal revolution greift, wissenschaftstheoretisch gesehen, entschieden tiefer; mit ihr wird eine bestimmte Grenze durchlässig – welche normalerweise jene für die Wissenschaft charakteristische Abgehobenheit vom unmittelbaren Lebensprozess garantiert –, wie das in der Tradition, die sich als wissenschaftlich begreift, noch nicht vorgekommen ist. Janov konkurriert mit den bestehenden psychologischen Ansätzen nicht auf die gleiche Weise, wie Watson mit der Bewusstseinspsychologie oder spätere Lerntheoretiker mit der Psychoanalyse, denn diese Ansätze sind, einschließlich ihrer methodischen Unter67 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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schiede, Differenzierungen innerhalb einer gemeinsam anerkannten Wissenschaftskonzeption. Die Unterschiede betreffen in erster Linie die jeweils bevorzugte Form des empirischen Datenbezugs – also etwa, ob introspektiv gewonnene Daten oder nur solche Formen von Beobachtung zulässig seien, die sich in der physikalischen Dingsprache beschreiben lassen –, was einhergeht mit entsprechenden Differenzen in der jeweils bevorzugten Methode der Befunderhebung sowie in der Art der theoretischen Begriffe. Es verbleibt ihnen jedoch »irgendetwas« als Voraussetzung und gemeinsamer Boden ihres kritischen Dialogs, und dieses Gemeinsame ist das bestimmte, durch die forschungslogische Subjekt-Objekt-Differenz (d. h. die streng beachtete logische Differenz zwischen forschungslogischem Subjekt und Gegenstand der Forschung) konstituierte Grundschema wissenschaftlicher Wissensgewinnung. Es ist diese forschungslogische Differenz, die frühere wissenschaftliche Revolutionen unberührt gelassen haben, und dieses grundlegende Axiom wissenschaftlicher Wissensgewinnung ist der Hebel, der bewegt wird, wenn, wie es hier der Fall ist, ein einzelwissenschaftliches Ereignis den ihm vorgegebenen normativen Rahmen sprengt und sich selbst als einen diesen Rahmen kritisierenden Maßstab einsetzt. Die Primärtherapie bedeutet eine Strukturveränderung, bei der erstmalig die Tatsache zum Tragen kommt, dass die Wissenschaft im Menschen ein Objekt vor sich hat, in welchem jene Ebenen, die die forschungslogische Relation konstituieren und die in der klassischen Wissenschaftspraxis im Sinne der Subjekt-Objekt-Spaltung als unüberbrückbar gehandhabt werden, konkret vereinigt sind, so dass also eine bestimmte Reihe von Veränderungen auf der Objektebene (im Menschen, sofern er Patient, d. h. Objekt der Primärtherapie als einer wissenschaftlichen Methode ist) zu einer Veränderung dieses Objektes selbst führt, derart total, dass dies unmittelbar eine Veränderung des forschungslogischen Pols bewirkt, der so als mit diesem besonderen Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis genuin verbunden bemerkbar wird. Der eigentliche Experte ist der Mensch, der sich im Sinne des primärtherapeutischen FÜHLENS VERÄNDERT hat, wobei die Großschreibung ausdrückt, dass durch Veränderungen auf der Objektebene eine Veränderung der Gesamtverfassung dieses Objekts geschehen ist, die die für das Objekt »Mensch« spezifische forschungslogische Ebene: Subjekt der Erkenntnis zu sein, grundsätzlich mit einschließt. Indem der Prozess der Primärtherapie auch diese Ebene des for68 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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schungslogischen Subjekts im Menschen mitbetrifft und verändert – wie Janov dies behauptet –, setzt umgekehrt die Erfassung der primärtherapeutischen Entdeckung als ein wissenschaftliches Datum ein strukturell verändertes forschungslogisches Subjekt voraus. Wissenschaftler und Psychologen werden in Bezug auf die neue Erfahrung zu Laien, Anfängern und Patienten, die erst, indem sie durch die neue Erfahrung hindurchgegangen sind und dabei jene Voraussetzungen, die sie an das alte, dem Zustand der Neurose entsprechende Auffassungsschema gebunden hielten, überwunden haben, in die Lage versetzt werden, den neuen Sinn einer »Wissenschaft des Fühlens« zu verstehen. Dieser Eingriff in die Konstitutionsbasis der wissenschaftlichen Erkenntnis imponiert in der Janovschen Sprache konsequenterweise als ein Dahinfallen aller für eine wissenschaftstheoretische Analyse relevanter Differenzen: der Differenz zwischen Wissenschaftlern und Laien; der Differenz zwischen Therapeuten und Patienten; der Differenz zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis; der Differenz zwischen Wissenschafts- und Alltagssprache; der Differenz methodologisch zu unterscheidender Begriffstypen und der Differenz von Sprachstufen – alle diese Unterschiede schwinden dahin, werden in der neuen Erfahrung zunichte. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Janovschen Äußerungen zeigt – und das wird im weiteren Verlauf der Darlegung noch deutlicher werden –, dass es unmöglich ist, den vollen Sinn der Primal revolution mit den eingeführten logischen Verfahren wissenschaftlich zu integrieren. Mit der Primärtherapie tritt eine qualitativ neuartige Situation auf, die in der Wissenschaftsgeschichte bis jetzt kein Vorbild hat, und die uns, um sie wissenschaftlich zu verstehen, vor die paradoxe Aufgabe stellt, eine Empirieform, die offensichtlich einen Verstoß gegen das forschungslogische Axiom des wissenschaftlichen Wissens bedeutet, selbst noch einmal im tieferen Sinn als einen Ausdruck oder eine logisch vertretbare Konsequenz eben jener klassischen Form von Wissenschaftlichkeit zu verstehen. Diesen Verstoß gegen das forschungslogische Axiom (in der Form seiner Auswirkungen auf die Janovsche Sprache) als eine Realität der Wissenschaftspraxis ernst zu nehmen – und nicht einfach wegzukorrigieren – entspricht der empirischen Verpflichtetheit des wissenschaftlichen Wissens; in dieser empirischen Bezogenheit niemals die Eigenstän-
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digkeit logischer Denkgesetze preiszugeben, entspricht dem Wissenscharakter des wissenschaftlichen Wissens. Ein logisch-methodisches Verfahren, das imstande sein soll, den primärtherapeutischen Prozess mit dem für ihn grundlegenden Eingriff in die forschungslogische Relation als wahrhaft wissenschaftlich zu charakterisieren, muss sich demnach in folgender Weise bestimmen: Auf der einen Seite muss es dem Denken den notwendigen größeren Spielraum lassen, um sich weiter, als dies bisher geschehen ist, also »qualitativ«, vom Bekannten zu entfernen, um auf das Datum einer VERÄNDERUNG einzugehen, die das wissenschaftliche Denken auch in jenen Momenten betrifft (ob und inwiefern, das gilt es zu klären), die bisher als unveränderlich-apriorisch gegolten haben. Auf der anderen Seite muss ein solches Verfahren ausreichend, d. h. in noch tiefer reichenden logisch-apriorischen Momenten verankert sein, um der wissenschaftstheoretischen Aufgabe zu entsprechen, auf das vorliegende einzelwissenschaftliche Material so einzugehen, dass dabei das genuin wissenschaftliche Erkenntnisinteresse gewahrt bleibt, welches von jeher und ausdrücklich seit Kant an das Prinzip der Unantastbarkeit einer aller empirischer Erfahrung und Theoriebildung vorausgehenden und sie ermöglichenden apriorischen Erkenntnisbasis geknüpft ist und daher einen kurzschlüssigen Psychologismus in der Erkenntnistheorie zugunsten der Wissenschaftlichkeit der Erfahrung zurückweisen können muss. 1.1.2.1.3. Konsequenzen auf der Ebene der Wissenschaftssprache: Das Dahinfallen wissenschaftstheoretisch bedeutsamer Differenzierungen als systematisches Merkmal der Janovschen Aussageweise Geht man aufgrund der ersten Begegnung mit den Janovschen Äußerungen einmal probeweise davon aus, die primärtherapeutische Erfahrung sei nur durch ein Umdenken auf allen Ebenen des derzeit praktizierten expliziten Wissenschaftsverständnisses zu begreifen, so erwartet man ganz selbstverständlich, dass sich dieser tiefe Auffassungswandel auch im Stil, in der ganzen Aussageweise wiederfindet. Tatsächlich zeigt sich von der ersten bis zur letzten Veröffentlichung die ganz charakteristische Art Janovs, seine Sache zur Sprache zu bringen, und diese Art wirkt – was nun schon nicht mehr so sehr verwundern mag – zunächst als ein Hindernis für eine Analyse seiner Äußerungen, indem diese auf den ersten Blick vor allem durch ein Fehlen wissenschaftstheoretisch bedeutsamer Differenzie70 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
rungen gekennzeichnet sind. Die Schwierigkeit, in Bezug auf den Janovschen Zusammenhang Sprachstufen zu unterscheiden bzw. überhaupt zu einer logischen Hierarchie zu gelangen, sei kurz dargestellt, indem begonnen wird beim Verhältnis größerer Einheiten zueinander (wie es ganze Bücher oder Kapitel von Büchern sind), um dann zu einer Charakterisierung auf der Begriffsebene zu gelangen. Der negative Befund dieser – insgesamt recht global gehaltenen – empirischen Feststellung über die Janovsche Sprache soll erneut verdeutlichen, dass man, wenn man Janov, so wie er sich darstellt, wissenschaftstheoretisch verstehen will, nicht umhin kann, gerade aus den Verstößen der Textform gegen die normalen Spielregeln den Leitfaden für eine mögliche Explikation des Neuen zu entwickeln. Von den sechs (bisherigen) Buchveröffentlichungen Janovs trägt die 1971 erschienene, zweite Veröffentlichung: »The Anatomy of Mental Illness«, den Untertitel: »The Scientific Basis of Primal Therapy.« In der Einführung zu diesem Buch bezeichnet Janov seine Erstveröffentlichung: »The Primal Scream«, ausdrücklich als ein nichtwissenschaftliches Buch: »When The Primal Scream first appeared, there was an understandable skepticism among professionals. That book was never intended as a scientific document; rather, it was an attempt to share with the public what I believed to be a remarkable discovery […]« (Janov 1971, S. 13)
Hingegen will das zitierte vorliegende Werk der berechtigten Forderung der Wissenschaftler nach »mehr Information« nachkommen, obgleich es nicht ausschließlich ihrem Interesse gewidmet ist (Janov 1971, S. 14). Dieses Buch aber, das Janov von all seinen Veröffentlichungen als einziges als ein »wissenschaftliches« abhebt, zeigt hinsichtlich der Art der Darstellung durchaus keine besonderen Merkmale gegenüber den an »Menschen« allgemein adressierten Büchern: (1) Es trifft nicht zu, dass nur »The Anatomy of Mental Illness« eine Art von Verknüpfung primärtherapeutischer Aussagen mit vorliegenden Forschungsergebnissen zustande zu bringen versucht; die Verknüpfung mit einigen physiologischen Konzepten und Begriffen ist also kein nur dieses Buch charakterisierendes Merkmal. Neben zahlreichen Hinweisen auf verschiedenartige Ergebnisse experimenteller Forschung äußert sich Janov in seinem Erstwerk: »The Primal Scream« (das nach seiner Aussage den Sinn hatte »to reach the hearts of people before their heads«, vgl. Janov 1971, S. 15), an mehreren Stellen ganz ausdrücklich 71 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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zu seiner wissenschaftlichen Einstellung (vgl. etwa S. 19; S. 206; S. 394 f.), was in dem als »wissenschaftlich« bezeichneten Buch nicht erfolgt. (2) Janov scheint das auch zu wissen, denn er verweist an anderen Stellen (so auch in jenem Buch, in dessen Einleitung er das erste Buch als nicht-wissenschaftlich bezeichnet) auf eben dieses erste Buch in seiner Eigenschaft: (a) die Grundbegriffe der Theorie verbindlich darzustellen (Janov 1971, S. 17); (b) ja, sogar allein eine gründliche Kenntnis der Theorie zu vermitteln: »The Feeling Child can stand on its own, but the reader should understand that it is based upon Primal Theory, and a thorough knowledge of that theory, as detailed in The Primal Scream, would be helpful as preliminary reading.« (Janov 1973b, S. 11)
(3) Schließlich geht Janov in »The Primal Scream« – und in dieser direkten, zusammenhängenden Form nur hier – ausführlich auf die Unterschiede zu einer Reihe von bestehenden therapeutischen Ansätzen ein, er vollzieht also im Ansatz so etwas wie eine Paradigmendebatte (Janov 1970, S. 206–237). Ebenso trifft man in Bezug auf das Verhältnis verschiedener Kapitel eines Buches zueinander auf den Umstand der Nicht-Ausgezeichnetheit solcher Kapitel, deren Überschrift eine besondere »Wissenschaftlichkeit« der Ausführungen anzuzeigen scheint, vor anderen, nicht als spezifisch wissenschaftlich gekennzeichneten Buchkapiteln. Als ein Beispiel sei Kapitel IV: »A Science of Being Human«, in Janovs (bisher) letzter Veröffentlichung: »Prisoners of Pain« (ders. 1980), herangezogen. Ausgenommen die Aufführung subjektiver und objektiver Kriterien eines Primal, bilden die anderen Diskussionspunkte, etwa die Bezugnahme auf die Stressforschung und besonders auf die biochemischen und vital-signs-Veränderungen bei primärtherapeutischen Patienten Bestandteile auch anderer Kapitel dieses Buches (wie auch anderer Bücher Janovs), wo sich, in den Text gestreut, viele Hinweise auf naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse und Experimente finden. Noch wichtiger scheint mir jedoch in diesem Zusammenhang das Argument, dass der Sinn der Verwendung des Ausdrucks »science« in der Überschrift des Kapitels: »A Science of Being Human«, wohl eher umschrieben werden müsste mit: »Die Theorie und Thera72 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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pie des FÜHLENS im Lichte einiger Forschungsergebnisse und Messungen an Patienten«; denn gerade nach Janov kann die Bedeutung solcher objektiver Daten – als lediglich den Symptomen der Sache – nicht isoliert, sondern nur als ein integrierter Bestandteil jener Theorie und Praxis umfassende Konzeption begriffen werden, deren Struktur allererst zu eruieren ist; niemals können solche Daten für sich genommen als »die wissenschaftliche Basis der Primärtherapie« fungieren – auf diesen Punkt wird später noch näher einzugehen sein. Das Kapitel: »The Science of Being Human«, unterscheidet sich in der Art der Gedankenführung wie der verwendeten Begriffe nicht aufzeigbar von seinen Nachbarkapiteln; vielmehr findet sich hier wie andernorts die für die Janovschen Äußerungen charakteristische lockere »und-Verbindung« im Übergehen von einem Gesichtspunkt zum anderen, ohne nähere Bestimmung der genauen logischen Verknüpfung der wissenschaftlich sehr verschieden einzustufenden Bestandteile seiner Darlegung: Forschungsberichte, Patientenberichte sowie jene Teile, in denen man spezifischer die Janovsche »Primal formulation« vermutet. In diesem Zusammenhang sei auch die neuartige Einbeziehung von Patientenaussagen im Janovschen Kontext erwähnt. Neuartig ist es für eine Darstellung auf dem Gebiet der Psychotherapie sicher nicht, wenn sog. Falldarstellungen einen großen Raum einnehmen; neuartiger ist hingegen schon eher – wenn man etwa an die Werke Freuds denkt –, dass die meisten dieser Falldarstellungen von den Patienten selber geschrieben wurden und dass diese Schilderungen als »normale«, nicht besonders gekennzeichnete Buchkapitel, also »in einer Reihe« mit den Explikationen Janovs, auftreten (vgl. etwa die Kapitel 2, 3, 11 u. 22 in Janov 1973a). Das direkte Zu-Wort-Kommen der Patienten, die engere Einbeziehung ihrer Formulierungen in die theoretischen Ausführungen Janovs (an einer Stelle sagt er sinngemäß, ein Patient werde anschließend sein – Janovs – Kapitel zu Ende schreiben), gewinnt methodologische Relevanz im Zusammenhang einer Reihe von anderen Phänomenen, in denen die Janovsche Denkeigentümlichkeit der Gleichschaltung logisch sehr differenter Aussagenmomente hervortritt. Das Merkmal des Dahinfallens logischer Differenzierungen in der Janovschen Sprache, dem auch im Weiteren nachgegangen werden soll, ist hier thematisch, um aus der besonderen Art der totalen Kritik Janovs an den bestehenden Theorien erste Hinweise für die logische Struktur der Primal hypothesis zu gewinnen. 73 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Diese Kritik Janovs, so wurde gesagt, verdränge die bestehenden Theorien alle gleichermaßen und mache sie in dem bestimmten Sinn überflüssig, dass sie im primärtherapeutischen Ansatz »aufgehoben« würden. Die Kritik Janovs an den bestehenden Theorien ist also nicht so zu verstehen, dass diese vom primärtherapeutischen Standpunkt aus gänzlich zu verschwinden hätten; vielmehr tauchen sie in seinen Äußerungen in veränderter Form alle wieder auf. Umgekehrt ist festzustellen, dass der primärtherapeutische Kontext keineswegs auf die von den bestehenden Theorien geprägten Begriffe und damit auf die Verbindung zu den alten Bedeutungen verzichten kann; die Janovsche Sprache verwendet sie vielmehr allesamt in ihrem umfangreich gemischten Vokabular. So finden sich etwa neben Begriffen aus der Freudschen Psychoanalyse, wie »repression«, »defense«, »defense system«, »acting out«, »conscious-unconscious«, »memory«, »resistance«, typisch behavioristische Ausdrücke, wie »stimulus«, »response«, »generalized behavior«, »reinforcement«; und Ausdrücke der alten Bewusstseinsund Gedächtnispsychologie, wie »sensation«, »experience«, »state of consciousness«, gehen unmittelbar über in eine physiologische Terminologie; und es dürfte nicht leicht sein – ausgenommen die mit dem Präfix »primal« gebildeten Ausdrücke, wie »Primal Scream«, »Primal Pain«, »Primal pool«, »Primal scene«, »Primal needs«, »Primal memories«, »Primal experience«, »Primal feelings«, »Primal man« usw. –, in den Janovschen Äußerungen überhaupt ein neues Zeichenelement zu entdecken, welches die gänzlich neue Bedeutung der Primärtheorie repräsentieren würde und allein für diese spezifisch wäre. Die erwähnten verschiedenartigen wissenschaftlichen Begriffstypen findet man dann wiederum in enger Gemeinschaft mit Ausdrücken, die schwer einzuordnen sind und so zunächst an das umgangssprachliche Verständnis appellieren, wie »deep being«, »being completely oneself«, »being natural«, »the real and the unreal self«, »the inner«, und oft deutlich metaphorischen Charakter haben, wie etwa die Ausdrücke »struggle«, »fight« oder auch »hope«. Solche metaphorischen Formulierungen finden sich auch als Kapitelüberschriften, wie z. B.: »The House, That Pain Builts« (ein Kapitel, das wohl ebenso viel »Wissenschaftliches« enthält wie »The Science of Being Human«, nämlich physiologische Ausführungen und primärtherapeutisches Gedankengut) oder: »Long Night’s Journey«, beide in
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dem zuletzt erschienenen Buch Janovs: »Prisoners of Pain« – ein ebenfalls metaphorischer Titel. Die Komplexität der Janovschen Sprache, die auf den ersten Blick den Eindruck eines großen Konglomerats von Begriffstypen, Modellvorstellungen und Konzeptionen von ganz verschiedenartiger theoretischer Provenienz erweckt, sei im Folgenden anhand einer Reihe von Äußerungen Janovs zu dem, was »Neurose« im primärtherapeutischen Sinn sei – quer durch seine Veröffentlichungen – weiter illustriert: (1) »Neurosis is a disease of feeling.« (Janov 1970, S. 20) (2) »Neurosis is symbolic behavior in defense against excessive psychobiologic pain.« (Janov 1970, S. 23) (3) »Neurosis is no more than the unreal way we try to be real.« (Janov 1970, S. 35) (4) »To be neurotic means not to be totally real; thus, no part of us can function in a smooth and normal way. Neurosis is as infinite as normality; it is in everything one does.« (ebd.) (5) »Primal Theory regards neurosis as the synthesis of two selves, or systems, in conflict.« (Janov 1970, S. 35) (6) »[…] neurosis can be seen […] as a reflex: the instantaneous response of the entire organism to Pain.« (Janov 1970, S. 39) (7) »Because we are psychophysical entities, I believe that any approach that separates that unity cannot succeed. Diet clinics, speech clinics, and even psychotherapeutic clinics are examples of isolating symptoms and treating them as separate from the total system. Neurosis is neither an emotional nor a mental illness; it is both. To become whole again, it is necessary to feel and recognize the split and scream out the connection that will unify the person again.« (Janov 1970, S. 41) (8) »Neurosis is not synonymous with defenses. Neurosis is a broader term indicating the way one’s defenses are linked together.« (Janov 1970, S. 51) (9) »In this way, neurosis is viewed as part of the inherited adaptive equipment we all share. Because neurosis is adaptive, we cannot simply blast away neurosis with a shock machine.« (Janov 1970, S. 59) (10) »What we need is something total – a joining together at once of the body and mind […] Cure of neurosis must always deal with the total system.« (Janov 1970, S. 63 f.)
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(11) »I see the neurotic process as totally psychophysical […]« (Janov 1970, S. 215) (12) »What, then, is neurosis? Neurosis is the symbolization of Primal Pain.« (Janov 1971, S. 26) (13) »Clearly, I view neurosis as the pathology of feeling.« (Janov 1971, S. 29) (14) »Neurosis means […] the disconnection of thought from feeling, of mind from body.« (ebd.) (15) »Neurosis is a sick system.« (ebd.) (16) »Neurosis is the disfunction of brain […]« (Janov 1971, S. 33) (17) »Neurosis is a literal brain disfunction, a split in the neurologic unity.« (Janov 1971, S. 36) (18) »Neurosis is the result of disconnection. It is the form by which the child, and later the adult, acts out (or in) the overload.« (ebd.) (19) »Neurosis is what occures when we cannot be natural.« (Janov 1971, S. 79) (20) »Overwhelmed by the complexity of neurosis, we have been driven to compartmentalize our studies, to isolate one from the other with the result that we never really deal with the whole man. Consequently, these fragmentations generate no cures for neurosis, meaning the pathology of whole man, physiologically and psychologically.« (Janov 1973a, S. 20 f.) (21) »Neurosis is not between people; it is an inner state.« (Janov 1973a, S. 32; vgl. auch S. 21) (22) »The causes of mental illness lie in one’s history. […] And no cure can exist which cannot in some way alter the internal reaction to those early events.« (Janov 1973a, S. 21) (23) »Neurosis is just a word which indicates the lack of proper integration of all physiologic systems.« (Janov 1973a, S. 23) (24) »Neurosis is a state of being, and its chief characteristic is tension.« (ebd.) (25) »What we now need is to stop communication and dialog with neurosis and create the only thing that is meaningful – an inner dialogue. (Janov 1973a, S. 40) (26) »Actually, there is no such thing as ›neurosis‹. Neurosis is a term, an interpretation we put on people who have split away from feeling many of their early experiences and who are therefore left with significant degrees of tension.« (Janov 1973b, S. 43) (27) »[…] neurosis is like having your motor turned on for the rest of your life and not ever being able to turn him off. […] That is, I 76 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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think the hormonostat gets set too high because it must continuously respond to an unresolved threat or event.« (Janov 1973b, S. 139) »We can define neurosis as the generalized reaction to unintegrated Primal Pain.« (Janov 1975, S. 8) »Many of us walk around with great Pain just under the surface and are unconscious of it. That is the essence of neurosis.« (Janov 1975, S. 106) »It would seem that for a brief few moments on this earth we pass through a normal ontogenetic period and then our brains accomodate themselves to the possibility of neurosis. Neurosis became a hereditary legacy to aid the species to survive.« (Janov 1975, S. 18) »Neurosis is indeed the generalized behavior in the present which derives from the repression of specific past experiences. The neurotic never knows that his behavior belongs to the past because the feeling attached to it has never reached his consciousness.« (Janov 1975, S. 192) »In this sense we can view neurosis as a series of buried reactions; where there were stimuli without the possibility of proper response.« (Janov 1975, S. 199) »[…] neurosis is the (symbolic) way we go about mastering old traumas and disruptions of normal functioning. The psychological name we give to this organic process is ›hope‹.« (Janov 1975, S. 214) »We see now that neurosis is very much an internal affair and is not something »between people«. It is not a specific kind of behavior. […] As neurotics they are in a continuous regressed state, so to speak; or better put, they are in a state of arrested development.« (Janov 1975, S. 221 f.) »Neurosis is internal, not between-people.« (Janov 1975, S. 441) »Consciousness […] (and) social institutions […] are in a constant dialectic state of interaction. […] That interaction maintains the neurotic structure.« (Janov 1975, S. 454) »The maladies conventionally grouped within the term »mental illness« are in fact one biologic desease –, a wound of the entire system with both psychologic and physical Pain at its core.« (Janov 1980, Introduction) »Primal Therapy is built around an understanding of the developmental process of neurosis, both neurophysiologically and 77 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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psychologically. Development must be considered in any theory about neurosis.« (Janov 1980, S. 46) (39) »One Pain does not usually make a neurosis. It is the accumulation of many Pains that finally overtakes the ordinary compensating mechanisms to produce permanent alterations of function – which is the chief way we know about the existence of neurosis […], for Pain is an organismically encoded event which changes the entire system, each subsystem in its own way.« (Janov 1980, S. 89 f.) (40) »Neurosis is a concert of reactions, a total biologic configuration of responses that ultimately drive a wide variety of behaviors and symptoms.« (Janov 1980, S. 172) Dieser Streifzug durch die Äußerungen Janovs soll einen Eindruck von der überraschenden begrifflichen Komplexität seiner Sprache vermitteln, der im Hinblick auf den Versuch einer geeigneten logischen Strukturierung zunächst etwas hilflos macht. Tatsächlich finden sich in den Janovschen Äußerungen über »Neurose« die Begriffe und das Gedankengut der gegenwärtigen Theoriediskussion der Psychologie versammelt: die Gesichtspunkte der Psychoanalyse (vgl. 2, 5, 8, 18, 22, 29, 31 u. ev. 26) und der behavioristischen Orientierung (vgl. 6, 28, 31, 32 u. ev. 40) ebenso wie die Gesichtspunkte der Physiologie (vgl. 16, 17, 23, 30 u. 39), der Biologie (vgl. 37, 40 u. ev. 19) und der Ethologie bzw. Evolutionstheorie (vgl 9, 30) sowie jener Gesichtspunkt, der in gewisser Weise mit der Primärtherapie neu hinzukommt: Neurose ist »innerlich«, eine Krankheit des Gefühls, durch keine äußeren Manipulationen aus der Welt zu schaffen (vgl. etwa 1, 13, 25, 34 u. 35). Die Konfliktkonzeption der Neurose (5) ist ebenso vertreten wie der Entwicklungsgedanke (22, 34, 38), die Traumatheorie (33), der Interaktionismus (36); und man findet interdisziplinär diskutierte Konzepte, wie in der Bezugnahme auf »inner states« (21), »functions« (33) und »systems« (15, 23, 37 u. 39). Dabei begegnet man immer wieder der Forderung Janovs, die Vielfalt der Gesichtspunkte als eine Einheit zu denken, die, wie immer wieder betont wird, jene Differenz (»Spaltung«) überwinden soll, von deren Anerkennung alle anderen Ansätze wesentlich gekennzeichnet sind, um sie in eine »das Psychische« wie »das Physische« umspannende Totalität aufzuheben, von der her die Wahrheit der Einzelbestimmungen erst richtig bewertet werden kann (vgl. 7, 10, 11, 20, 23 u. 37). In diesem Zusammenhang der Betonung der Notwendigkeit, 78 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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jene Differenz zu überwinden, die die anderen Ansätze in verschiedener Form als grundlegend respektieren, fällt eine Tendenz der Janovschen Sprache zu überraschenden Kombinationen zwischen verschiedenen Gesichtspunkten auf (z. B. in 28, 31 u. 34 die Verbindung lerntheoretischer Terme mit Primär- und psychoanalytischen Begriffen) sowie eine gewisse Unschärfe der Bedeutung einzelner Gesichtspunkte, also z. B. von »internal« (34) oder »internal reaction« (22), »sick system« (15), »inner state« (15), »state of being« (24) oder auch »natural« (19). Die »Totalität«, auf die Janov hinaus will, repräsentiert sich als eine fließende Reihe von Bedeutungsformen (Aspekten, Hinsichten), deren innere Einheit – jenes Merkmal, welches sie als einen Gegenstand der Erfahrung logisch ausweisen könnte – bislang nicht ersichtlich ist. Was auf dieser ersten Stufe der Begegnung mit den Janovschen Äußerungen ersichtlich ist, könnte man als ein sich ständig wiederholendes Abschreiten von Gesichtspunkten bezeichnen, über jene logische Grenze hinweg, die bisher den Aufbau verschiedener Ansätze in der Psychologie bedingt hat. Dieses Abschreiten von Gesichtspunkten erfolgt in den Janovschen Äußerungen meist allmählich, so dass man sich den faktisch vollzogenen Standpunktwechsel erst vergegenwärtigen muss; mitunter geschieht dies aber auch so abrupt, dass man sich vorkommt wie in einem kognitiven Karussell: »He (the depressed neurotic, B. V.) feels depressed, because his body is depressing the Primal sadness – the accumulated sadness resulting from numerous early experiences where there was neglect, deprivation, humiliation, and robbery of the self […] He feels the pressure against those feelings pushing down into his system. That pressure produces labored speech and movement and total exhaustion, so that the depressive has little energy and moves about in slow motion. […] Depression is not a feeling. It is what one does with feelings. It is the nonconceptualized accumulation of (and defense against) sadness. […] A normal person is never depressed; he has no backlog of sadness lying unresolved inside. He is open to feel and does not repress unpleasantness. […] One does not simply drop one’s misery. One does not ›decide‹ to get over it any more than one would drop any other aspect of his physiology. The misery has become an integrated physiological phenomenon.« (Janov 1973a, S. 166 f.)
Janov beschreibt die Depression als einen Zustand, der so zu verstehen ist, dass der »Körper« etwas unterdrückt. Der Ausdruck »Körper« weckt den Assoziationsbereich physiologischer Sachverhalte (im Sinne etwa der Ausführungen von Janov 1971, S. 33). Janov fährt fort: Was wird unterdrückt? – »Primal sadness«. Das ist zunächst ein neuer 79 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Ausdruck; immerhin überrascht doch die Kombination »body« und »sadness«, indem nach den Regeln des Aufbaus der Wissenschaftssprache »Traurigkeit« kein Gegenstand der Physiologie sein kann – man kann von Rezeptoren nicht sagen, sie sprechen auf »Traurigkeit« an. »Primal sadness« wird dann erläutert als »the accumulated sadness, resulting from numberless early experiences […]« Der Übergang von einem physikalistischen zu einem mentalistischen Standpunkt wird zunächst explizit gemacht: »sadness«, das sind »experiences«; und nun wiederholt sich die nämliche Figur innerhalb der Erläuterung des einen Terms »Primal sadness«: Janov beginnt mit einer Reihe von Ausdrücken, die sich im Rahmen einer Verhaltensanalyse objektiv bestimmen lassen: »neglect«, »deprivation«, »humilitiation«, und beendet diese Aufzählung mit dem unmittelbar angefügten Ausdruck: »robbery of the self« – ein Ausdruck, den wissenschaftlich zu definieren wohl außerordentlich schwierig sein dürfte. Er kennzeichnet jene besondere primärtherapeutische Erlebnisdimension, der man mit wissenschaftlichen Mitteln nicht mehr folgen zu können meint, die aber vom betroffenen Subjekt selbst sicher irgendwie verstanden wird. Janov bewegt sich dann auf einem schwer zu bestimmenden Niveau von allgemeinverständlicher Beschreibung, in deren Verlauf der Ausdruck »Körper«, den man anfangs im Sinne eines physiologischen Konstruktes aufgefasst haben mag, durch »system« ersetzt wird, einem Ausdruck, der indifferent ist gegenüber einem physikalistischen oder mentalistischen Begriffsaufbau. Im weiteren Verlauf tritt an die Stelle des Satzsubjekts, die zuerst durch den Ausdruck »body« und dann durch »system« besetzt war, das Personalpronomen »one« (»Depression is […] what one does with feelings«) – man könnte sagen: Hier schimmert durch den »Körper« und das »System« die »Person« hindurch. So fährt Janov ja auch fort: »A normal person is never depressed.« Mit dem (sinngemäß zusammengezogenen) Satz: »A person represses (or: doesn’t repress) unpleasantness« befindet man sich dann im Rahmen einer rein mentalistischen Ausdrucksweise. Indessen lässt Janov die physiologische Konnotation nicht los und gelangt am Ende wieder zu der anfänglichen unmittelbaren Zusammenstellung logisch inkompatibler Begriffsarten: »The misery has become an integrated physiologic phenomenon.« – Etwas weiter oben findet man, ebenso lapidar: »His body was accumulating sadness.« (Janov 1973a, S. 165). Und liest man noch ein Stück weiter, so stößt man auf folgende Stelle: 80 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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»Perhaps we can understand the notion of ›deep beeing‹ better in physiologic terms. Within our bodies are million of sensors that feed information to the brain. They tell us, inter alia, if we are in pain, where the pain is, and other specifics. When we block pain from consciousness, we are blocking sensation. We are reducing, in short, the sense of ourselves. That is why there is no way to ›be‹, no mental gymnastics that deepen experience when there is continuous blunting. We experience ourselves experiencing the world around us. Experince can be only of that self.« (Janov 1973a, S. 169)
»Deep being«, ein Begriff, der auf der Seite zuvor (Janov 1973a, S. 168) in einen Zusammenhang mit »experience« gebracht wurde, wird in physiologischen Termen erläutert. Im Anschluss daran ersetzt Janov den Term »brain« durch »consciousness« – er überschreitet also die logische Grenze zwischen physikalistischer und mentalistischer Perspektive – und vollzieht sodann jene typische Figur der »Zusammenfassung« (»in short […]«), die den mentalistischen Term »sensation« endgültig in den jeder Kontrolle durch präzise wissenschaftstheoretische Normen entzogenen Bereich der primärtherapeutischen Bedeutungen i. e. S. versetzt: Die eigentliche Bedeutung von »sensation« ist: »experiencing ourselves«; und »experience can be only of that self.« Hier ist schon andeutungsweise die m. E. typische Form der Bedeutungskonstitution der primärtherapeutischen Begriffe zu erkennen: Janov greift bestehende Bedeutungskomponenten auf, die er dann übergeht, hinter sich lässt, um auf jene Ebene zu gelangen, deren Evidenzcharakter, wie zu vermuten ist, in besonderer Weise durch die primärtherapeutische Erfahrung zugänglich wird. Darauf soll im folgenden Abschnitt ausführlicher eingegangen werden. – Ganz allgemein sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass der auffallend rasche Wechsel von einem Gesichtspunkt zum anderen, der die Äußerungsweise Janovs durchgehend charakterisiert, 5 das Zitieren wie natürlich in erster Linie das Analysieren seiner Gedanken grundsätzlich recht schwierig macht. Die Ausführungen dieses Abschnitts hatten lediglich die Funktion, auf besondere Merkmale der Janovschen Aussageweise im Ganzen aufmerksam zu machen, die m. E. als systematisch, d. h. für das VerDies gilt vor allem auch im Sinne des für die Janovschen Äußerungen typischen Wechsels einer einzelwissenschaftlichen und einer methodologischen Argumentation – um nur das Stichwort: »neurotische Theorien«, zu nennen –, in welchen der Wechsel einzelwissenschaftlich bedeutsamer Begriffstypen eingelagert ist.
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ständnis des von Janov in seinem Gedankenvollzug intendierten Sachverhalts relevant zu bewerten sind. In diesem Sinn wurde auf die eigentümliche Tendenz der Janovschen Sprache zur »logischen Vereinheitlichung« oder »Homogenisierung« hingewiesen. Ungewöhnlich ist bei Janov die Art, wie er einzelne Begriffe bzw. die mit ihnen konnotierten Denkansätze ungeachtet ihres verschiedenen methodologischen Status miteinander kombiniert oder kommentarlos aufeinander folgen lässt. Man ist überrascht angesichts der Mischung unterschiedlicher wissenschaftlicher Begriffstypen – wenn man bedenkt, wieviel Mühe schon auf den Versuch verwendet wurde, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen für einen Zusammenschluss von Aussagen auf der phänomenalen Evidenzbasis und solchen über physikalische Objekte bereitzustellen (vgl. Feigl 1958): Die Frage, wie ein solcher Zusammenschluss zu bewerkstelligen sei, bildet ja als sogenanntes Leib-Seele-Problem die strittig gebliebene Frage der psychologischen Grundlagenforschung. Umgekehrt scheint sich die Eigenständigkeit und gänzliche Neuartigkeit der Primärtheorie, auf die Janov so großen Wert legt, wenn er sich ausbittet: »I ask that it be examined on its own terms for what it is« (Janov 1970, S. 394), auf den ersten Blick in der bloßen Behauptung zu erschöpfen, dass alle diese durchweg aus anderen Zusammenhängen vertrauten Begriffe nun, da Janov sie verwendet, mit einer neuartigen Bedeutung ausgezeichnete, eben »Primärbegriffe«, seien, bzw. in der stillschweigend angenommenen Voraussetzung, die logische Möglichkeit eines Zusammenschlusses verschiedener Begriffstypen brauche nicht dargelegt zu werden, indem die primärtherapeutische Erfahrung eine solche Zusammengehörigkeit evident mache. Selbst wenn man einmal unterstellt, dass die primärtherapeutische Erfahrung den Leib-SeeleZusammenhang in bestimmter (neuer, stärkerer) Weise evident macht, so ist sie doch damit noch nicht der Forderung enthoben, ihren objektiven Geltungsanspruch auch diskursiv, d. h. in Übereinstimmung mit den logischen Denkgesetzen einzulösen; andernfalls klaffen Theorie und Praxis auseinander, was auf die primärtherapeutische Erfahrung selbst den Schatten einer Unglaubwürdigkeit zurückwerfen müsste, indem aus ihr ja gerade eine neue, bessere Einheit (qua Übereinstimmung) von Theorie und Praxis wie überhaupt die Überwindung der neurotischen Grundverfassung der »Gespaltenheit« resultieren soll. Wenn die Primärtherapie tatsächlich ein Prozess der Veränderung ist, der von einem bekannten Status einer bestehenden Verfasst82 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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heit – an der wir im Großen und Ganzen alle teilhaben – zur Verfasstheit des neuen Bewusstseins des postprimären Patienten (vgl. den entsprechenden Buchtitel: Janov 1975) hinführt, so muss diese Veränderung auch gedacht und dieser Übergang mithin als Zusammenhang der alten und der neuen Verfasstheit logisch angemessen zur Sprache gebracht werden können. In den Janovschen Äußerungen wird der durch die Primärtherapie hergestellte psycho-physische Zusammenhang jedoch in der logisch ärmsten Verbindungsform: »man kann übergehen zu …«, vollzogen, d. h. nicht wirklich expliziert, und kommt so, logisch gesehen, nicht über den Status der Behauptung hinaus, es gehöre doch letztlich »alles zusammen.« Aus dieser Gefahr des Trivialitätsverdachtes kann sich die Primärtheorie m. E. nur befreien, wenn sie in der positiven Explikation des Neuen konsequent vorgeht und der in der Forschungspraxis vermittelten neuen Erfahrung eine entsprechende neue Denkmethode zur Seite stellt, die in der Lage ist, die Art des in der Primärtherapie aktualisierten psycho-physischen Zusammenhangs logisch zu explizieren. Nach der Auffassung der vorliegenden Arbeit enthalten die Janovschen Äußerungen Ansatz und Grundelemente einer solchen neuen Denkmethode, die jedoch mit Hilfe eines geeigneten logischen Analyseverfahrens Schritt für Schritt aus ihrer ungünstigen, weil missverständlichen Vollzugsform eruiert werden muss. – Der Weg von einer bloß negativen Charakterisierung der Janovschen Sprache (»hier fehlen gewohnte logische Strukturierungen«) zu einer positiven Deutung dieses Merkmals erfordert zunächst ein weiteres Tolerieren ihrer Eigentümlichkeiten, die man gewissermaßen erst einmal zur vollen Entfaltung kommen lassen muss, um aus ihrer Spezifität noch mehr Information zu gewinnen. 1.1.2.2. Ansatz zu einer ersten positiven Bestimmung des Neuen: Die Konstitution der »totalen Bedeutung« in der Janovschen Sprache 1.1.2.2.1. Die primärtherapeutischen Begriffsbedeutungen als Verbindung einer logischen Ebenendifferenz Im Bemühen darum, das von Janov behauptete Neue, Revolutionäre, der Primärtherapie zu erfassen, trifft ein Vertreter des wissenschaftstheoretischen Interesses zunächst auf jene Merkmale seiner Äußerungen, die als ein Verstoß gegen die bestehenden Regeln des Aufbaus einer Wissenschaftssprache gewertet werden müssen: Die 83 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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freizügige Kombination verschiedenartiger Begriffstypen und die Unschärfe einzelner Begriffsbedeutungen machen die Janovschen Äußerungen für eine herkömmliche Art der logischen Strukturierung – also irgend eine Art der Axiomatisierung – ungeeignet, indem ein solches Verfahren den Umfang der Janovschen Begriffsbedeutungen willkürlich (durch von außen an sie herangetragene Gesichtspunkte) reduzieren müsste, wodurch die Primärtheorie trivialisiert würde, so dass sie ihren spezifischen Gehalt eingebüßt hätte. Um diesem spezifischen Gehalt nachzuspüren – da er sich nicht ohne weiteres wissenschaftstheoretisch erschließen lässt – ist eine Umorientierung erforderlich, derart, dass man diese Verstöße positiv als einen Hinweis auf das Neue zu verstehen sucht, nämlich, dass dieses von Janov so beharrlich verteidigte Neue eben gerade nicht die Entdeckung eines neuen »Etwas« (eines neuen, Neurose verursachenden Faktors), sondern vielmehr und in erster Linie eine ganz neue Weise ist, das bereits Vorliegende, Vorhandene, aufzugreifen und in einen Zusammenhang zu integrieren. Mit dieser Einstellung wird man es gewiss faszinierend finden, die grundsätzlich neue Weise zu verfolgen, wie Janov mit Begriffen arbeitet; d. h., man wird die Herausforderung des Denkens durch die Janovsche Sprache positiv als eine Aufforderung empfinden, Begriffe zu suchen, die beschreiben können, wie Janov es eigentlich macht, dass viele Menschen ihn doch intuitiv verstehen und sich vom Sinn seiner Worte angesprochen fühlen. Die grundsätzlich neue Weise, wie Janov mit Begriffen umgeht, so dass sie die spezifisch primärtherapeutische Bedeutung gewinnen, sei nun in Bezug auf eine Reihe einzelner Terme näher verfolgt. Als erstes Beispiel sei betrachtet, wie Janov den Term »need« erläutert: »We all are creatures of need. We are born needing, and the vast majority die after a lifetime of struggle with many of our needs unfulfilled. These needs are not excessive – to be fed, kept warm and dry, to grow and develop at our own pace, to be held and caressed, and to be stimulated.« (Janov 1970, S. 22)
Den Ausgangspunkt der zitierten Passage bildet eine allgemeine Feststellung, deren alltagssprachlicher Sinn so weit gefasst ist, dass er einer recht umfangreichen Zustimmung sicher sein dürfte: »We all are creatures of need.« – Der Beginn des nächsten Satzes: »We are born needing«, könnte als eine Anspielung an biologische, ethologische und psychologische Theorien aufgefasst werden, die sich mit angeborenen Trieben oder Verhaltensweisen befassen; »and the vast 84 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
majority of us die after a lifetime of struggle with many of our needs unfulfilled«: Der Term »need« wird hier wieder auf eine sehr weit gefasste common-sense-Bedeutung bezogen, etwa so, dass für das menschliche Leben zutrifft, dass nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Sodann wird die Bedeutung von »need« anhand einer Reihe von Beispielen spezifiziert, die von verschiedenen Induktionsphasen her zugänglich gemacht werden können: »to be fed« – Hunger und Durst lassen sich durch Angabe des entsprechenden Bedürfnisobjektes (in der physikalischen Dingsprache) sowie durch Bezugnahme auf physiologische Konstrukte bestimmen, denen messbare Observable zugeordnet werden, oder durch eine objektive Verhaltensanalyse; das gilt auch für: »kept warm and dry«, »to be held and caressed«, »to be stimulated«, sowie: »be picked up when he cries«, »not be weaned too early« (ebd.) und »the need to express oneself as a child« (Janov 1970, S. 23). Diesen Angaben können noch Observable zugeordnet werden; so ergäbe sich eine Feststellung von der Art: »Dieses Kind wird hinsichtlich seines Artikulationsbedürfnisses frustriert«, etwa aus einer objektiven Analyse der Kommunikationsstruktur. Dies wird aber immer schwieriger: »There must be constant mental and physical stimulation« (Janov 1970, S. 24). Für eine zuverlässige Verwendung dieses Ausdrucks lässt sich schlechthin keine Regel mehr ausfindig machen, gleichwohl hat er noch einen objektiven Bezug. – Dann aber entzieht sich auch das letzte Stück Boden unter den Füßen: »Whatever is natural is a real need« (Janov 1970, S. 23). Über diesen Satz öffnet sich die Bedeutung des Terms gewissermaßen ins Grenzenlose: »The need to be our natural selves«; »the intrinsic need to be whole« (Janov 1970, S. 40); »being treated as a unique human being by parents« (Janov 1970, S. 28); »the central demand of the body is to be felt« (Janov 1970, S. 67); »the need to be loved and to be real, in body and mind« (Janov 1970, S. 104). Wie lässt sich nun die Weise, wie Janov seinem Begriff »need« Bedeutung verleiht, charakterisieren? – Janov geht von einem vorhandenen Bestand an Begriffsbedeutungen aus; er greift die im Kontext der Alltagssprache bereitgestellten oder von vorhandenen Theorien ausgearbeiteten Sinnkomponenten auf – im Zusammenhang mit »the need to be stimulated« verweist er auf die Untersuchungen von Krech (Janov 1970, S. 24) –; er entwickelt eine Reihe von Bedeutungen, bei denen er sich eine Zeit lang aufhält, um dann einen Sprung zu tun, mit dem die Skala der entfalteten Komponenten über alle 85 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Grenzen hinaus erweitert wird: »Whatever is natural is a real need.« Verschiedenartige Bestimmtheiten werden aufgegriffen und schließlich übergangen, um in eine fundamentale wie »totale« Bedeutung einzumünden, die allen aufgezählten Sinnkomponenten als eine Art gemeinsamer Nenner zugrunde liegt und sie zugleich alle umfasst, indem es sich um dasjenige handelt, das sich in allem ausdrückt, aber an keiner Stelle wirklich festgemacht werden kann: »Perhaps the single underlying need which subsumes all of these is the need to feel. The human being is a feeling being; it is basic to the organism. The only way we can grow into relaxed, content individuals is to experience all of ourselves. Feeling is the essence of life.« (Janov 1980, S. 8)
Und umgekehrt, indem diese eine fundamentale Bedeutung alle aufzählbaren Sinnkomponenten umfasst, sind diese unmittelbar auf jene beziehbar und somit untereinander gleichwertig: »If we stand away for a moment from the neurotic entanglements and look deeper, we do not find such complexity. We find human need, similar in all of us; it is basic, profound and simple. And unfulfilled need is the fount from which spring all the varieties of mental aberration.« (Janov 1973a, S. 21 f.) »Most human feelings are pretty much the same. What gets complicated is how we defend against them. There is no need to deal with these complications, however, if we can get to what lies below.« (Janov 1970, S. 51)
Geht man die Texte durch und registriert, welche Formen von Bedürfnis auftreten können, dann kommt man dahin zu sehen, dass es nebensächlich, ja in einem bestimmten Sinn gleichgültig ist – »all things being equal« (Janov 1973b, S. 115), was als Bedürfnis im konkreten Fall angegeben wird (und auch: von welcher Art von Evidenz her es wissenschaftlich erschlossen und definiert wird): Deprivation der Bedürfnisbefriedigung bedeutet in jedem Fall, »nicht geliebt zu werden«: »Understimulation – another word is rejection.« (Janov 1973b, S. 116) »To be deprived of enough touch is not to be loved. […] Deprivation of love is not something psychologic, it is psychophysiologic.« (Janov 1973b, S. 118) »The emptied-out neurotic will also learn how few are the feelings of man. Stripped of shame, guilt, rejection, and all the other pseudofeelings, he will understand that the pseudofeelings are but synonyms for the covered great Primal feeling of being unloved.« (Janov 1970, S. 74 f.)
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Probleme und Erfordernisse
Die Vielfalt, in der »Bedürfnisse« in verschiedenen Kontexten auftreten, und die damit verbundene Notwendigkeit der Unterscheidung verschiedener Bedürfnisarten (Typen wissenschaftlicher Begriffe) fällt dahin, wird gleichgültig gegenüber jenem Einen, Neuen, das allen wie auch immer beschriebenen Bedürfnissen im primärtherpeutischen Sinn Bedeutung verleiht: Sie werden alle gefühlt: »to feel the great wanting« (Janov 1970, S. 195), und umgekehrt: »the need to feel«, sind dasselbe. Im Umgang Janovs mit Begriffsbedeutungen lassen sich zwei oder (je nach Gliederung) drei Schritte voneinander abheben, in deren Verlauf ein charakteristischer Standpunktwechsel vollzogen wird. In einem ersten Schritt entfaltet Janov eine Vielzahl bekannter Bedeutungskomponenten: Hier stellen sich die Dinge in einer verwirrenden Komplexität dar. In einem zweiten Schritt werden diese verschiedenartigen Einzelaspekte einander gleichgestellt (»all things being equal«) – darin kündigt sich der Standpunktwechsel an –, und in diesem Verblassen der charakteristischen Differenzen der Einzelaspekte der Ausgangsebene taucht, im Sinne des dritten Schritts, das »Tiefere« auf, um das es in der Primärtherapie eigentlich geht, dasjenige, was all dem zuvor Genannten zugrunde liegt (»which subsumes all of these […] if we stand away for a moment […] and look deeper« – dieses »to stand away«, das ist der Standpunktwechsel!). Nochmals sei der besondere Charakter, der diesen von Janov vollzogenen Standpunktwechsel m. E. auszeichnet, hervorgehoben: Das erreichte Neue taucht nicht auf der Ebene der Reihe der bisher entfalteten Gesichtspunkte als ein neuer, zusätzlicher Aspekt auf, den nun gerade Janov besonders betonen würde – etwa die wichtige Rolle der frühen Bedürfnisbefriedigung für das spätere Leben, mit »normalen« Augen gesehen –; vielmehr wird das Neue durch einen Standpunktwechsel erreicht, der, soll er überhaupt begriffen werden, eine logische Differenz bedeuten muss, die stärker ist als alle möglichen Differenzen, die auf der Ebene des Ausgangsstandpunktes auftreten können: seien es verschiedene Weisen, Bedürfnisse objektiv zu erschließen, seien es verschiedene mentalistisch-introspektiv zugänglich gemachte Bedürfnisarten; auf jeden Fall muss sich die Berechtigung der logischen Gleichsetzung der Gesichtspunkte der Ausgangsebene aus der besonderen Art ihrer logischer Differenz zur neu auftauchenden primärtherapeutischen Bedeutungsebene ergeben.
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Diese Figur der Bedeutungskonstitution der Begriffe im Janovschen Kontext sei weiter an dem Begriff »pain« veranschaulicht. Janov führt den Term ein, indem er zunächst auf die wissenschaftlichen Untersuchungen hinweist, die ihm die Formulierung der Theorie erleichtern (Janov 1970, S. 38). Er geht kurz auf die Experimente von E. H. Hess ein, der herausfand, dass sich die Pupille erweitert, wenn der Stimulus erfreulich ist, und sich zusammenzieht, wenn er unerfreulich ist. Auch bei der Erinnerung an unerfreuliche Szenen ziehen sich die Pupillen unwillkürlich zusammen. Unvermittelt, im selben Absatz, fährt er fort: »I believe, that the same thing happens, but in an overall manner, when a child faces unpleasent scenes. That is, withdrawal from pain is a total organismic response that involves sense organs, cerebral processes, muscle systems etc.« (Janov 1970, S. 38)
Janov fährt fort (weitere Erläuterung zu »etc.«): »I contend that turning away from great pain is a human reflexive activity that ranges from withdrawing fingers from a hot stove to averting the eyes at a particularly gruesome scene in a horror movie to hiding painful thoughts and feelings from the self.« (Janov 1970, S. 38)
Wiederum greift Janov einen vorhandenen Bestand an Bedeutungskomponenten auf. Er hat einen alltagssprachlichen Ansatz: das Zurückziehen der Hand von einem heißen Ofen, das wir alle kennen; er knüpft an wissenschaftliche Ergebnisse an und macht dann den für die primäre Position entscheidenden Schritt zu einer totalen Bedeutung, die wiederum bis zu einem gewissen Grad expliziert wird: sie enthält organismische, biologische, d. h. »physische« (also objektiv zugängliche) Sinnkomponenten – wobei das »ect.« ausdrückt: »Das ist nur bis zu einem gewissen Grad wichtig für die Primärtherapie« – und psychische oder mentale Sinnkomponenten (weitere Erläuterung zu »etc.«), die aufsummiert, übergangen und schließlich über alle angebbaren Grenzen hinaus erweitert werden: Alles, wovor sich der Mensch (als Gegenstand der Primärtherapie) zurückzieht, bedeutet für ihn Schmerz; wobei sowohl das, was den Menschen betrifft, sowie die Art und Weise seines Rückzuges (die Ebenen, auf denen die Rückzugsreaktionen beschrieben werden können) sehr verschieden sind, was für den primären Standpunkt schließlich (ab einem bestimmten Punkt) gleichgültig ist, denn dieser betrachtet die verschiedenartigen Schmerzereignisse nur insofern, als sie relevant sind für
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das Eine, qualitativ Neue, das alles subsumiert und damit vereinheitlicht: Alle Schmerzereignisse, psychische und physische, konvergieren im »Primal pool« zu jenem Neuen: dem Primal Pain; was besagt, dass der Mensch jene Veränderung erleidet, die Janov als den qualitativen Sprung in die Neurose beschreibt (»the qualitative leap into neurosis«, Janov 1970, S. 31 und S. 35): und zwar als Spaltung (»the split«, Janov 1970, S. 22; 1971, S. 23), als ein Aufhören, man-selbst zu sein (Janov 1971, S. 22), als ein Konvertieren der freien Äußerung des need-feeling in die Vielzahl der neurotischen Symptome: »In fact, Primal Pain can be either physical or emotional. Despite the popular belief that these are different kinds of hurts, they are actually all the same in terms of how they are processed in the system.« (Janov 1980, S. 10) »[…], and of course there is a hidden force behind what he does – Primal Pain. Because we can see the unity of symptoms and their causes, we must take care not to study symptoms as discrete and viable entities.« (Janov 1973b, S. 100)
Die Entfaltung der Bedeutung des Terms »pain« umfasst physische und psychische Komponenten, diese werden aber schließlich auf eine qualitativ neue Bedeutungsebene bezogen, die gegenüber allen diesen explizierten Komponenten in der Weise anders ist, dass sie diese gleichmacht: »The body does not differentiate […] What does happen is that the defense or outlet changes. It becomes more sophisticated – from thumb-sucking to smoking, from bed-wetting to masturbation, from boyish first-fighting to sophisticated tongue-lashing. Sometimes the defense remains unaltered for a lifetime. Recurrent dreams are a good example. Tics, asthma, ulcers, and poor skin are others. In any case, symptoms are the indication of the split […] Even though Primal Pains have different origins, some physical (circumcision) and some psychological (rejection), the bodily processes involved in handling the Pain are the same.« (Janov 1973b, S. 99) »Pains have many labels, but the inner processes mediating Pain are the same.« (Janov 1973a, S. 25) 6 Um mit dieser Weise des Zitierens etwas anfangen zu können, ist es erforderlich, von jener eingeübten Art der Auffassung, die immer schon wirksam ist, versuchsweise Abstand zu nehmen (»stand away for a moment […] and look deeper«; Janov 1973a, S. 21 f.), um in einer Art von Nachbild des ausgesagten Inhalts die darin zum Ausdruck gebrachte Form wahrzunehmen. – Indem vermutet werden muss, dass Janov im Gewande einer normalen Ausdrucksweise tatsächlich eine andere Methode der Bedeutungsexplikation vollzieht, geht es zunächst darum, sehr grundlegend zu fragen, »was Janov eigentlich macht, wenn er sagt […]«, um erste Anhaltspunkte für die Identifikation gewisser wiederkehrender gedanklicher Operationen zu gewinnen,
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Daher macht die neue, primärtherapeutische Bedeutungsebene die Vielzahl der Sinnkomponenten der Ausgangsebene in ihrer Zusammengehörigkeit, als eine Totalität, fassbar: Sie ist selbst der »totale Gesichtspunkt«, jener Gesichtspunkt, der die in viele Einzelansichten aufgespaltene Sache als eine Totalität fassbar macht: »[…] withdrawal from pain is a total organismic response […]; the instantaneous response of the entire organism to Pain.« (Janov 1970, S. 38 f.) »The concept of the blockage of Pain is important to my hypothesis, because I believe that feeling is unitary, a total process of the organism, and when we block off such large critical feelings such as Primal Pains, we prevent our ability to feel at all.« (Janov 1970, S. 39) »In Primal Therapy, one major Pain can lead to several hours of straight insights. Most important, Primal insights often convulse the entire system. They are organismic, producing total change.« (Janov 1970, S. 243) »Total response is a crucial concept.« (Janov 1970, S. 60) »What we need is something total – a joining together at once of the body and mind.« (Janov 1970, S. 63)
Bis jetzt sollte folgendes deutlich geworden sein: Primärtherapeutische Begriffsbedeutungen werden in einem Prozess gewonnen, der wesentlich einen Standpunktwechsel enthält: (1) Es geht um … (Einführung des Terms); dieses bedeutet das …, das … und das … (Erläuterung verschiedener Sinnkomponenten; »etc.«). (2) UND DABEI GEHT ES EIGENTLICH UM ETWAS ANDERES, das eine ganz andere, neue Form hat und, bezogen auf alles, was im Sinne von (1) genannt werden kann, einer qualitativ neuen Bedeutungsebene zugehört. Am Beispiel des Terms »need«: (1) Die Primärtherapie betrachtet den Menschen als von Grund auf von Bedürfnissen bestimmt. Diese Bedürfnisse sind … (»ect.«) (2) UND BEDÜRFNISSE (plus ihrer Befriedigung) HABEN DEN so dass man die selbstverständliche Bindung gewisser Ausdrücke zu bestimmten Theoriekontexten lockern und statt dessen »auf alles gefasst« sein muss. Die zu ermittelnde logische Figur der Bedeutungsexplikation ist also von grundsätzlicher Art und gilt ebenso für einen Satz (»the body does not differentiate«) wie für einen Einzelbegriff (»the body«) – wir wissen ja noch nicht, was »the body« im primärtherapeutischen Sinn ist.
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SINN, DASS DER MENSCH FÜHLT. Hier taucht die neue Bedeutungsebene auf, die alle genannten Bedeutungskomponenten in der Weise hinfällig macht, dass sie diese in sich integriert. Diese Bedeutungsebene ist es, zu der das konkrete, einzelne Subjekt jene intensive, einmalige, für die Primärtherapie spezifische Beziehung erreichen kann: »When needs are met, the child can feel.« (Janov 1970, S. 24) »The person is the feeling.« (Janov 1970, S. 99) »The pure feeling […] being that feeling […], finally being that feeling totally and experiencing his essence […] You are being you.« (Janov 1970, S. 98)
Ohne an dieser Stelle bereits die nähere inhaltliche Bedeutung der aufgeführten Begriffe im Einzelnen zu berücksichtigen, sollen sich die Überlegungen hier lediglich auf die grundlegende Figur konzentrieren, in der Janov die spezifisch primärtherapeutischen Bedeutungen entwickelt. Und zwar soll gezeigt werden, dass sich diese Begriffsbedeutungen – ganz entsprechend dem Ergebnis der ersten, globalen Charakterisierung der totalen Kritik Janovs an den bestehenden psychologischen Ansätzen (Janov 1970, S. 7 ff.) – aus einer bestimmten Art der Abhebung von den normalen, eingeführten Begriffsbedeutungen ergeben, derart, dass diese Abhebung bis zu einem gewissen Grad die Entfaltung der bekannten Bedeutungskomponenten voraussetzt. In Bezug auf diesen Abhebungsprozess kann man – es sei noch einmal wiederholt – bei einer näheren Betrachtung bestimmte Schritte oder Phasen unterscheiden: (1) Die Phase der Entfaltung der bekannten Bedeutungskomponenten: Die zu entwickelnden primärtherapeutischen Bedeutungen gehen hier ein Stück weit mit; die Reihe der entfalteten Bedeutungen umfasst »physische« und »psychische« Sinnkomponenten. (2) Die Abhebungsphase der primärtherapeutischen Bedeutung qua Negation der normalen Bedeutung. Erster Gesichtspunkt: Wenn die Primärtherapie diese bekannten Ausdrücke auch benutzt, so verwendet sie sie doch in einem anderen Sinn, nämlich so, dass diese Bedeutungskomponenten lediglich als ein Ausdruck von etwas anderem zu verstehen sind, so dass ihre Differenzen in Bezug auf dieses Eine, Zugrundeliegende, dahinfallen, gleichgültig werden. Diese Berechtigung, die verschiedenartigen Kom91 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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ponenten alle unterschiedslos in eine Reihe zu stellen, ergibt sich im Vollzug des Standpunktwechsels. Zweiter Gesichtspunkt: Das Gleichgültig werden der vielfältigen Bedeutungskomponenten im Auftauchen der eigentlichen primärtherapeutischen Bedeutung – jener Bedeutung, die man letztlich nur verstehen kann, wenn man durch die primärtherapeutische Erfahrung gegangen ist: wenn man FÜHLT – geschieht zunächst in der Form der schärfsten Entgegensetzung der primären und der normalen Bedeutungsebene, die hier, nach Art der »totalen Kritik«, ganz verschwindet, bis hin zu jener Zuspitzung, dass es dieses alles eigentlich gar nicht gibt; dann jedoch auch so, dass das »Alte« in neuer Form wieder auftaucht: Indem man das Falsche, das den normalen Bedeutungskomponenten in ihrer Isoliertheit anhaftet, überwunden hat, kann man sie im Lichte der neuen Erfahrung richtig gebrauchen. Diese grundlegende Figur der Konstitution der primärtherapeutischen Bedeutungen – dass diese nur über einen recht schwierig zu beschreibenden Standpunktwechsel zu erreichen sind – beschränkt sich nicht auf bestimmte Begriffe; sie ist gewissermaßen so allgegenwärtig, dass sie von jedem beliebigen Punkt des Janovschen Kontextes aus nachvollzogen werden und damit in der Tat als ein Schlüssel für die Eigenart des primärtherapeutischen Neuen gelten kann. Dies sei noch weiter veranschaulicht.- Wie geht Janov z. B. mit der Bedeutung des Terms »behavior« um? »Behavior« ist zunächst der Ausdruck für die zu überwindende, falsche Orientierung schlechthin; er bezeichnet eine Betrachtungsweise, die vom Standpunkt der Primärtherapie aus unergiebig und ein Irrweg, ja das ihrer Ordnung Entgegengesetzte ist. Die Bezugnahme auf Verhalten im Sinne der bestehenden Theorien ist, Janov zufolge, insofern problematisch, als hier das, was sich zeigt, das, was in irgendeiner Weise empirisch greifbar (durch eine der Arten äußerer Beobachtung zugänglich) gemacht werden kann, zu stark als »die Sache selbst« behandelt wird, was vom Standpunkt der Primärtherapie aus gerade verhindert, dass man die Sache, um die es geht, wirklich zu Gesicht bekommt bzw. gültig erfahren kann: »We need to differentiate acts from inner experience.« (Janov 1973b, S. 101)
Der Standpunktwechsel, durch den die normalen Differenzierungen verblassen, bedeutet, dass eine neue Qualität der logischen Differen92 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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zierung in Kraft tritt; und dieses vom Standpunkt der Primärtherapie aus Gültige ist so ganz anders als die bisher greifbar gemachten Bedeutungen: »I would like to suggest that there is something beyond improved functioning in socially acceptable ways, something beyond symptomatic relief and a more thorough understanding of one’s motivations. There is a state of being quite different form what we have conceived: a tensionless, defense-free life in which one is completely his own self and experiences deep feeling and internal units. This is the state of being that can be achieved through Primal Therapy. People become themselves and stay themselves.« (Janov 1970, S. 20 f.)
Die alte Bedeutung von »behavior« wird von der Primärtherapie als durchaus unzureichend kritisiert, und etwa überhaupt einen bestimmten Verhaltensbereich als ein »Problem« zu thematisieren, ist von ihrem Standpunkt als verfehlt anzusehen. So ist z. B. »Sexualität« im Sinne der Primärtherapie etwas ganz anderes als nur »sexuelles Verhalten«: »Sexual divergence is a reflection of a lifetime of warping events which simply do not warp the use of the penis and leave the rest of us intact. It is not a problem of where and into whom one inserts his penis. It is more that the penis is part of our total psychophysiology, and how it is used depends on the body in which it is encased and the history which gave it shape. It is no different than a stuttering or a stammering problem. We don’t call it a mouth problem and treat the tongue and lips (and if we do we usually stamp out the expression of the problem, not the problem itself).« (Janov 1975, S. 336; vgl. ders. 1975, S. 329) »No behavior is neurotic in and of itself. One can eat due to neurosis or not. We can only define a behavior as neurotic when it is taken in total context. Many inner processes are going on to produce such behavior. We are not just eating. It isn’t just a hand moving to the mouth. It is blood sugar levels, brain activation, adrenalin output, and so on. Excessive talking is not just a mouth moving and a tongue flapping. It is a need that pushes torrents of words out of a neurotic’s mouth. And need is a total psychophysiologic state.« (Janov 1973a, S. 24 f.)
In der Sicht der Primärtherapie sind die verschiedenen Arten von neurotischen Symptomen alle gleichgültig, »[…] such as compulsions and recurrent dreams and symptoms. They are all the same. (Janov 1973a, S. 199)
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Ob es sich um wiederkehrende Kopfschmerzen handelt oder um den Zwang zu exhibitionieren oder um ein anderes Symptom, es ist jeweils nur »again another aspect of the same phenomenon.« (ebd.) »Homosexuality, at any rate, is not a sexual deviation. It is what a human being does who was not allowed to be himself totally early in life. The homosexual has found a homosexual outlet in much the same way that the »clown« finds a comedic outlet and the intellectual finds his academic outlet.« (Janov 1973a, S. 86)
Die große Frage, deren Beantwortung jahrzehntelange Forschungsbemühungen gegolten haben: wie Verhalten überhaupt zu spezifizieren ist (die Frage nach der Verhaltenseinheit) und wie es determiniert ist (die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten, die sein Auftreten bestimmen), fällt durch die Maschen der primärtherapeutischen Fragestellung hindurch: Es interessiert Janov nicht im mindesten, wie es kommt, dass der eine Mensch Psychopath wird, ein anderer hingegen Schauspieler und wieder ein anderer Professor. Für das Verständnis der Primärtherapie ist es nicht wesentlich, auf ein bestimmtes Verhalten als solches einzugehen; es ist unnötig, es überhaupt zu klassifizieren: »The Primal therapist is not […] dealing with categories or theoretical types (Verhaltensformen oder auch Persönlichkeitstypen, B. V.). We know, that when a patient comes for therapy he is usually acting unrealistically. We see no need to classify those actions and make them something else – i. g. poor sexual identification. The Primal therapist doesn’t treat a convulsic or a hysteric (und auch nicht eine Person mit einer bestimmten Verhaltensstörung, B. V.); he treats a person who covers his feelings in a certain way. He is not after the cover except as an incidental factor; he is concerned only with the reality underneath.« (Janov 1970, S. 392)
Und hier eine weitere Äußerung Janovs zur Gegenüberstellung von Verhalten und Fühlen: »Neurosis is a desease of feeling. At its core is the suppression of feeling and its transmutation into a wide range of neurotic behavior.« (Janov 1970, S. 20) »But I believe that neurosis is not just a matter of what one does; it lies in what one is […] An act will not wash away that need […] A new act is always possible for the neurotic, but that scarcely will change his neurosis […] I do not believe that discussion can change his »being.« »Being« to me means feeling.« (Janov 1970, S. 225 f.)
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In all diesen Äußerungen Janovs ist die oben genannte Figur deutlich erkennbar: Janov setzt bei etwas Bekanntem an (etwa Homosexualität als einem Symptom von Neurose); er negiert dann die bekannte, »normale« Bedeutung: »homosexuality is not a sexual deviation«; »neurosis is not synonymous with defenses. Neurosis is a broaderterm […]« (1970, S. 51); »actually there is not such a thing as ›neurosis‹« (Janov 1973b, S. 43),
und gelangt zu etwas anderem, einer neuen Bedeutung: »The Primal therapist doesn’t treat a compulsic or hysteric; he treats a person who covers his feelings in a certain way […] he is concerned only with the reality underneath« (ebd.).
Wenn es auch vielleicht nicht gleich auf den ersten Blick ins Auge springt, so ist es doch, wie ich meine, deutlich spürbar, wie das Janovsche Denken auf zwei Ebenen verläuft; wie er unentwegt eine Art von Abwägen vollzieht: »It is blood sugar level, brain activation, adrenalin output, and so on. […] It is not just a mouth moving and a tongue flapping. It is a need that pushes torrents of words out of a neurotic’s mouth. And need is a total psychophysiologic state.« (Janov 1973 a, S. 24 f.)
Wenn man die eingefahrene Bedeutung der verwendeten Begriffe einmal zurückstellt (»stand away for a moment«), dann, meine ich, erlebt man diese innere Gewichtung als die fundamentale Strukturierung seiner Äußerungen: Man hat das eine (»blood sugar level«) oder das andere (»homosexuality«), es ist ganz gleichgültig, was es auch ist – ES IST ETWAS ANDERES (»it is a need«, »it is a person who covers his feelings in a certain way«), und dieses andere wiegt schwerer, es überwiegt die Vielzahl des zuvor Genannten: »An act will not wash away that need«; »if we stand away for a moment […] and look deeper […], we find human need […]; it is basic, profound and simple.« (Janov 1973 a, S. 21 f.)
Diese neue Bedeutung ist der Reihe der bekannten Bedeutungskomponenten logisch übergeordnet; sie fungiert diesen gegenüber als logische Metaebene, die einen neuen Einheitsgesichtspunkt stiftet, bezogen auf den die Differenzen der Bedeutungskomponenten der ersten Ebene belanglos, d. h. einander gleichwertig werden. Obwohl diese letzteren eine Differenz enthalten, die in der bisherigen Psychologie als unüberbrückbar gehandhabt wurde – nämlich die logische 95 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Differenz mentaler und physischer Bedeutungskomponenten –, wird auch diese Differenz aufgewogen von jener logischen Ebenendifferenz, die für die Primärtherapie spezifisch ist. Das Dahinfallen üblicher Differenzierungen (»we see no need to classify those actions […]«, s. o.) muss im Zusammenhang der tiefgreifenderen neuen logischen Differenzierung verstanden werden: »We need to differentiate acts from inner experience.« (Janov 1973b, S. 101).
Die primärtherapeutische Begriffsbedeutung ist gegenüber einer normalen Bedeutung insofern umfangreicher und »totaler«, als sie eine neue logische Ebenendifferenz ins Spiel bringt, die über den bisherigen Differenzierungen steht und ihnen gegenüber als Metaebene fungiert, welche aber nicht direkt, sondern nur auf dem Umweg über die alten Bedeutungskomponenten erreicht werden kann. Die bekannten Bedeutungskomponenten werden bis zu einem gewissen Grad entfaltet, wobei – über noch zu klärende Schritte – die neue, primäre Bedeutungsebene fassbar wird, indem die alten Bedeutungskomponenten zunächst verschwinden, um dann, auf dem Hintergrund der neu etablierten primären Bedeutungsebene, wieder aufzutauchen. Indem primärtherapeutische Bedeutungen sich unbedingt aus der Beziehung zu einer neuen logischen Metaebene herleiten, welche die gewohnte Art, sie zu bestimmen, erst einmal zunichte macht, wodurch einer Anwendung des Verhaltensbegriffs der Boden entzogen wird, muss doch umgekehrt das Missverständnis abgewehrt werden, dass das primärtherapeutische Interesse auf ihn verzichten könne: Neurose beginnt, »when responses are taken away from us« (Janov 1980, S. 136). So sind Bedürftigsein und Fühlen mit Verhaltensäußerungen untrennbar verbunden: »A newborn does not know that he should be picked up when he cries or that he should not be weaned too early, but when his needs go unattended, he hurts. At first, the infant will do everything in his power to fulfill his needs. He will reach up to be held, cry when he is hungry, kick his legs and trash about to have his needs recognized […] If his needs go unfulfilled. […] he will suffer continuous pain either until he can do something to get his parents to satisfy him or until he shuts off the pain by shutting off his needs.« (Janov 1970, S. 22) »The key point here is that whenever a Pain is triggered not only the hurt is activated, but also the exact early reaction to that hurt becomes reactivated. This is because one’s life experiences are registered in a sequential, matura-
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tion-dependent way. The response is part of the early memory circuit.« (Janov 1974a, S. 323; 335) »Furthermore it ensures that there is a reservoir of unacted reactions. A Primal is the final connection, the conscious experience of a previous unacted reaction. In this sense we can view neurosis as a series of buried reactions, where there were stimuli without the possibility of proper response.« (Janov 1975, S. 199)
Wenn man sein Augenmerk nicht nur auf die äußeren, erst kürzlich erworbenen Verhaltensmanifestationen richtet (»dealing only with the outward, more recently acquired manifestations of a long and deep Primal chain«, vgl. Janov 1975, S. 89), sondern alle Verhaltensaspekte in ihrem Zusammenhang berücksichtigt, dann kann der Verhaltensbegriff sogar die totale, primäre Bedeutungsebene vertreten, indem es in der Primärtherapie darum geht, das umfassende Verhaltensprofil wiederherzustellen: »[…] the overall pattern of behavior« (ebd.), »(the) overall characteristic way a person expresses his feelings.« (Janov 1975, S. 88). Und ist der neue Standpunkt erst einmal gewonnen, wird es wieder sinnvoll, sich auf die alten Verhaltenseinheiten zu beziehen: »Because symptoms are extensions of need, being the funnel through which need-Pain is poured, we can learn a lot about a child and his underlying problems through observations of his symptoms.« (Janov 1973b, S. 100)
Aber die Bedeutung von »Verhalten«, die sich in der Verbindung zur primären Bedeutungsebene erneuert hat, verweilt doch weiterhin in ihrer Abgehobenheit gegenüber der alten Auffassung von Verhalten: Wenn es um Verhalten geht, so geht es, indem es um Verhalten geht, um etwas anderes, nämlich um den freien Ausdruck von »FÜHLEN«: »I cannot stress enough the importance of free expression.« (Janov 1970, S. 274) »The crux of growth (of need, B. V.) is the need for expression. The infant needs to be allowed to crawl freely, to express his curiosity, to grasp and throw things and in general to use his body in its awkward way so that he becomes familiar to what it can do. It means to allow him full free physical expression […] Later, when the child reaches the emotional level, he needs to be allowed to express all his feelings […] Still later, the need for expression means a need to have and to express ideas […] They are more than simply »ours«; they are us.« (Janov 1980, S. 7 f.)
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So bedeutet Verhalten im primärtherapeutischen Sinn weiterhin nicht dasjenige, das festgestellt und kontrolliert werden kann, sondern: »feeling«; »free expression of feeling«: »The need for freedom is a basic biologic requirement […] The need for freedom and the need for expression are the same.« (Janov 1980, S. 6)
Nur wenn man Verhalten nicht als Verhalten, sondern als Äußerung von etwas anderem: als FÜHLEN, d. h. als »Manifestation von Freiheit« begreift, kann man die Bedeutung von Verhalten primärtherapeutisch richtig handhaben, und diese rechte Handhabe ergibt sich aus der primärtherapeutischen, »totalen« Orientierung, dem vorrangigen Interesse an demjenigen, das alles Vorliegende, was immer es sei, auf eine Einheit beziehbar macht: »It is all of a piece.« (Janov 1974a, S. 331) Die Vielzahl der Einzelheiten sind alle aus einem einzigen Stück und dieses »einzigartige Stück« ist FÜHLEN: »Feeling is a single phenomenon.« (Janov 1980, S. 204) »[…] and feelings are the end of the road.« (Janov 1974a, S. 331) FÜHLEN ist das Ziel der Ortsbestimmung aller primären Begriffsbedeutungen. 7 1.1.2.2.2. Die Janovsche »Dialektik« der psychophysischen Verbindung: Die »sich bewegende« totale Bedeutung Die gänzlich neue Qualität der primärtherapeutischen Erfahrung, die totale Kritik Janovs an den bestehenden psychologischen Theorien sowie die besondere Kollision seiner Aussageweise mit der normalen Form einer wissenschaftlichen Darstellung schaffen das Problem, für die Primärtherapie ein geeignetes Verfahren der Analyse und der Darstellung ihrer logischen Kohärenzform zu finden. Die Janovschen Äußerungen wirken zunächst – im Hinblick auf den Versuch, ihre logische Struktur zu verstehen – recht verwirrend; bei näherem Hinsehen ist in diesem »Wirrwar« jedoch Methode zu erkennen: Im voUm diese Einstiegsphase in das Verständnis der Janovschen Äußerungen nicht allzu sehr auszudehnen, wird hier auf eine entsprechende Dokumentation, etwa für die Begriffe: »personality«, »defense«, »memory« – und natürlich »feeling«, dessen Bedeutungsexplikation die ganze Arbeit unternimmt – u. a. verzichtet: Die Janovsche Form des Umgangs mit einzelnen Begriffen bestimmt durchgängig seine Handhabung von Begriffsbedeutungen überhaupt: Die Explikation ihres spezifischen (Einzel-) Sinns ist nur begrenzt wichtig.
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rangegangenen Abschnitt wurde beschrieben, wie Janov die Sinnkomponenten von aus der gegenwärtigen Theoriediskussion bekannten Begriffen über die logische Grenze einer psychischen (mentalen) und physischen Akzentuierung hinweg zusammenfasst, indem er sie alle auf eine neue Bedeutungsebene bezieht, die jene Einzelkomponenten aufgrund ihrer Metaqualität in sich vereinigt. Dieses Grundmerkmal der Janovschen Aussageweise spiegelt die durch den Prozess der Primärtherapie gestiftete Veränderung: die Rekonstruktion des FÜHLENS; – ein Prozess, der entsprechend den Janovschen Äußerungen als so fundamental gedacht werden muss, dass durch eine Reihe von Veränderungen, die in einem normalen Rahmen beschrieben werden können, schließlich eine VERÄNDERUNG erzielt wird, indem eine qualitativ neue Subjektebene ins Spiel kommt, die die einzelnen Erfahrungskomponenten zu integrieren und in eine neue Einheit zu verwandeln vermag. M. a. W.: Der Übergang von der Ebene der normal aufgefassten Begriffsbedeutungen – indem im Rahmen der praktizierten wissenschaftlichen Wissensform »psychische« und »physische« Sinnkomponenten getrennt gehandhabt werden müssen – zu der spezifisch neuen Ebene der primärtherapeutischen Begriffsbedeutung, welche diese Differenz in einer höheren Einheit aufzuheben vermag, ist nur durch die Einschaltung des primärtherapeutischen Prozesses als einer neuen Forschungsmethode denkbar: Es ist die Erfahrung der psychophysischen Einheit in der Therapie, aus der sich die Berechtigung herleitet, die normalerweise gültigen logischen Schranken zu missachten; die Aufhebung der Ebene, deren logische Verfasstheit durch die Notwendigkeit verschiedener Begriffstypen gekennzeichnet war, so dass sich die psychophysische Einheit als ein Problem darstellt, geschieht auf praktischem Wege: Indem die neue Verfassung, die durch den Prozess der Primärtherapie realempirisch zustande kommt, so aufzufassen ist, dass sie radikaler, als dies bisher geschehen ist, alles, was als zum menschlichen Subjekt gehörend aktualisiert werden kann (also auch die wissenschaftliche Denkfunktion), in einer neuen, einheitsstiftenden Qualität verbindet, ergibt sich die merkwürdige Doppeldeutigkeit der Janovschen Äußerungen: ihr zugleich inhaltlich-einzelwissenschaftlicher wie methodisch-wissenschaftstheoretischer Status. Genau dieser Umstand des faktisch vollzogenen Übergangs ist in der Janovschen Praxis des Umgangs mit Begriffsbedeutungen zu erkennen. Die Janovschen Begriffsbedeutungen sind umfassender; sie 99 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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umfassen die Ebene der bekannten Bedeutungskomponenten und eine neue Bedeutungsebene, die bisher noch nicht wissenschaftlich diskutiert wurde. Dieses eine logische Ebenendifferenz aufgrund eines Methodenwechsels überwindende »und« ist es, worum es bei diesem Versuch, Janov wissenschaftstheoretisch zu verstehen, geht. Dieses »und« repräsentiert, wodurch die Primärtheorie eine Zusammenhangsform darstellt, die logisch stärker ist als der in wissenschaftlichen Theorien bisher explizierte logische Kohärenztyp; dieses kleine, harmlos erscheinende »und« repräsentiert die neue Kohärenzform der Verbundenheit (»connectedness«), der gegenüber die bisher bekannte Zusammenhangsform als eine schwächere Form der Kohärenz, als eine Form von Unverbundenheit oder Gespaltenheit (»disconnectedness«) einzustufen ist. Aber dieses entscheidende »und« wird von Janov im Umgang mit Begriffsbedeutungen einfach vollzogen, eben in der logisch ärmsten Bestimmung eines Zusammenhangs: »man kann übergehen zu …« – »Wer mehr darüber (und über die Berechtigung, dies zu tun) erfahren will, möge selbst die primärtherapeutische Erfahrung vollziehen.« – Die Handhabung dieses Arguments ist ein schwieriger Punkt. Hier sei nur die weiter vorn angeführte Entgegnung wiederholt: Wenn die neue Verbindungsform Inhalt einer Erfahrung ist, die wissenschaftlich genannt werden kann, dann muss sie auch so beschrieben werden können, dass die logischen Aspekte dieser stärkeren Kohärenzform der »connection« fassbar werden; d. h., es muss möglich sein, jenen für den Sinn der primärtherapeutischen Aussageform konstitutiven Standpunktwechsel in der Weise denkend zu begleiten, dass die in der Therapie vollzogene Veränderung in ihren logischen Implikationen: als eine Veränderung der gesamten wissenschaftlichen Erkenntnismethode, begriffen werden kann. Und dies geschieht, indem man der primärtherapeutischen Erfahrung den einschlägigen Vorsprung einräumt, »connection« zu vollziehen, dann aber erst einmal die Beschreibung dessen, was in der Primärtherapie geschieht, in logischen Begriffen abbildet, um die hier fehlende erkenntnistheoretisch-forschungslogische Theorie des Zusammenhangs bereitzustellen, so dass die Kontamination von einzelwissenschaftlicher und methodisch-wissenschaftstheoretischer Ebene aufgelöst wird. Die Notwendigkeit einer sorgfältigen Auflösung dieser Kontamination, um den wissenschaftlichen Gehalt der Primärtherapie überhaupt aussagen zu können, wird am besten durch die Janovschen Texte selbst belegt. 100 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Die Mitteilung eines Sachverhalts, dessen Kenntnis sich einem Methodenwechsel verdankt, so tiefgreifend, dass dies den Übergang zu einem neuen Wissenschaftsbegriff bedeuten muss – und diese Hypothese eröffnet überhaupt erst den Zugang zu einem allerersten Verständnis des von Janov vorgetragenen Anspruchs –, impliziert notwendig eine profunde Veränderung des Aussagesinns, die nicht einfach spurlos zwischen den Zeilen verschwinden kann. Die zu erwartenden, gravierenden logischen Unterschiede gegenüber einer normalen Aussageweise werden indessen bei Janov nicht thematisiert; vielmehr äußern sie sich – wie der erste Schritt in der Untersuchung der Konstitution der Begriffsbedeutungen in der Janovschen Sprache gezeigt hat – indirekt als Fehlerbelastung einer zunächst normal erscheinenden Aussageform: Janov arbeitet mit der Kombination zweier logisch »sehr« differenter Ebenen, um »connection« auszudrücken, ohne sich um die Implikationen dieser logischen Ebenendifferenz zu kümmern. So muss die Aufgabe dieses Abschnittes darin bestehen, die grundlegenden Unterschiede der Janovschen gegenüber der normal zu nennenden wissenschaftlichen Aussageweise noch genauer zu markieren, um daraus Anhaltspunkte für die nähere Bestimmung der von Janov ins Spiel gebrachten logischen Ebenendifferenz zu gewinnen. Indem diese Unterschiede zunächst nur als Fehlerbelastetheit der Janovschen Sprache aufgefunden werden, bedeutet die nun folgende Betrachtung einen etwas strapaziösen Gang durch den sichtbar zu machenden logischen Wirrwarr der Janovschen Äußerungen, ein Wirrwarr, der schließlich aber doch, wie ich meine, eine durchaus ernstzunehmende innere Ordnung erkennen lässt. Zunächst sei die grundlegende Bedeutung von »connection« als jener Begriff belegt, der FÜHLEN logisch abbildet. Entsprechend der Redeweise Janovs, die überwiegend einzelwissenschaftlich verläuft, dabei jedoch den wissenschaftstheoretischen Status usurpiert, wird »connection« als dasjenige beschrieben, worum es – genau wie das Fühlen – in der Primärtherapie geht. Den zitierten Passagen sei außerdem entnommen, dass die durch »connection« erreichte Einheit die psychophysische Einheit ist: »Because we are psychophysical entities, I believe that any approach that separates that unity cannot succeed. Diet clinics, speech clinics, and even psychotherapeutic clinics are examples of isolating symptoms and treating them as separate from the total system. Neurosis is neither an emotional nor a mental illness; it is both. To become whole again, it is necessary to feel and
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recognize the split and scream out the connection that will unify the person again. The more intensely the split is felt, the more intense and intrinsic the unifying experience.« (Janov 1970, S. 41) »The point of Primal Therapy is to connect the body’s needs with the stored and unconscious memories and so unify the person. Dance therapy, yoga, body movement therapy, or exercises designed to free the body of tension would be of no avail because these tensions […] are woven inextricably with Primal memories into unitary organismic events. Encouraging insights splits the individual in one way, and body movement therapy splits him in another. What we need is something total – a joining at once of the body and mind.« (Janov 1970, S. 62 f.) »Connection is not only desirable but essential in the Primal scheme of things.« (Janov 1970, S. 212) »Primal Therapy attempts to produce the correct connection.« (Janov 1970, S. 214) »I do not think that we can love, punish or placate neurosis out of existence. What the neurotic needs is to connect with himsef – not to handle the self but to have unified and unifying experiences that mend the disconnection of thought from feeling, of mind from body. That is what is real – connection to oneself.« (Janov 1971, S. 29) »Connection is the key to Primal Therapy. By connection I mean access […] the precise link to an early event or feeling which I call a Primal. The connection produces insights based on the unconscious feeling. The insights become deeper as the access dips lower. Feeling the feeling is self explanatory and no one has to provide insights for a feeling person.« (Janov 1975, S. 263) »Connection is the key to unlocking the secrets of neurosis, and any method which neglects the split cannot succeed, in my opinion, just as any psychological theory which neglects need and Pain at its cornerstone is automatically led to reactionary method. If we overlook what it is that makes us human, how can we possibly find ways back to that humanity?« (Janov 1975, S. 45)
Indem es nun also um die Ermittlung der näheren logischen Charakterisierung der primärtherapeutischen »connection« geht, wie sie aus den inhaltlichen Inkonsistenzen der Janovschen Rede zu erschließen sind, sei zuvörderst noch auf eine andere »Technik« verwiesen, wie Janov relativ explizit darauf Bezug nimmt, dass seine Weise, die primärtherapeutische Form von »connection« darzustellen, ungenügend ist, indem er häufig betont, man müsse alle diese von ihm erläuterten (und, was ihre Einzelaspekte betrifft, aus dem bestehenden Theoriekontext bekannten) Sachverhalte noch viel vollständiger, innerlicher 102 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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strukturiert, intensiver zusammenhängend, durchgängiger verbunden, man müsse sie radikaler und totaler als eine Einheit denken. Um dies zu kennzeichnen, verwendet Janov eine Fülle von Ausdrücken: »total«, »deep«, »full«, »internal«, »integrated«, »connected«, »systemic«, »systematic«, »organismic«, »concrete«, »contextual«, »whole«, »global«, »complex«, »complicated«, »natural«, »real«, »personal«, »structural«, »historic«, »structural« u. a. Vergleicht man die Liste der Bestimmungen, mit deren Hilfe Janov das von der Primärtheorie zu explizierende Ganze charakterisiert, mit der Liste der Kriterien, die Feigl für die korrekte Verwendung des Terms »mental« vorgeschlagen hat (Feigl 1958, S. 396), wird man feststellen, dass alle die dort genannten Bestimmungen bei Janov wörtlich oder sinngemäß vertreten sind; ebenso finden sich bei Janov die von Feigl für die korrekte Verwendung des Ausdrucks »the physical« herausgestellten Sinnkomponenten: »objective«, »inseparably tied to cause« (wobei »cause« einen Typus von Verhältnissen markiert, wie er für die am Paradigma der Physik orientierten Naturwissenschaften charakteristisch ist), »lawful«, sowie »natural« (im biologischen oder physiologischen Sinn gewendet), »systemic« und »systematic«; und schließlich muss die Betonung der Bestimmung »scientific« als für den primärtherapeutischen Zusammenhang bezeichnend zumindest auch in dieser Richtung gelesen werden. Das alles zeigt: Janov intendiert mit seinen Äußerungen eine neue Form des Zusammenhangs, die er aber nicht in einer diesem Zusammenhang angemessenen Form artikuliert; denn, würde er genau den von ihm intendierten Typ von »connection« zur Sprache bringen, so brauchte er die von ihm verwendeten Begriffsbedeutungen nicht zusätzlich zu kommentieren und dabei zu betonen, man habe sie tiefer, vollständiger, komplizierter aufzufassen, um sie richtig zu verstehen. Und das Studium der Liste der zusätzlichen Denkanweisungen bestätigt noch einmal, dass man, um die Begriffsbedeutungen richtig zu verstehen, genau das tun muss, was erforderlich ist, um einen »psychophysischen« Zusammenhang zu denken. Unter der Arbeitshypothese, die Abweichung der Janovschen Aussageweise von einer normalen Darstellungsform zeige, dass hier ein logisch komplizierterer (»höherer«) Gedanke in einer unangemessenen (einfacheren) Form expliziert werde, sei nun der angekündigte weitere Schritt unternommen, um näher zu bestimmen, wie sich der neue Typ eines »totalen Zusammenhangs« in den Janovschen Äußerungen anzeigt. 103 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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In der Primärtherapie, so heißt es, werde durch »connection« die totale Zusammengehörigkeit wiederhergestellt, und viele Äußerungen Janovs spezifizieren die zur Einheit zu bringenden Komponenten. So kommt man etwa zu folgender Aufstellung: In der Therapie muss der Zusammenhang hergestellt werden zwischen: body and mind (Janov 1970, S. 63, S. 244; 1971 S. 29), body and feelings (Janov 1970, S. 354, S. 229, S. 388, S. 73; 1973a, S. 189), body and consciousness (Janov 1973a, S. 72), mental events and brain and body processes (Janov 1971, S. 16), behavior and consciousness (Janov 1970, S. 214), sensation and feeling (Janov 1970, S. 68), thought and feeling (Janov 1970, S. 68, S. 186, S. 242, S. 229; 1973a, S. 101, S. 228; 1971, S. 29, S. 33), events (Janov 1973a, S. 189), consciousness and systemic experience (Janov 1973a, S. 164), mental connections (Janov 1970, S. 40), the body’s needs with the unconscious memories (Janov 1970, S. 62), present and past (Janov 1970, S. 62; 1980, S. 71), cerebral and organismic states (Janov 1973a, S. 165), physiologic systems (Janov 1973a, S. 23), brain structures (higher and lower brain functions) (Janov 1971, S. 36, S. 79). »Connection« stellt sich so dar, dass jeweils zwei Komponenten (verschiedene Bestimmtheiten) vorhanden sind, deren Zusammentreten FÜHLEN bedeutet. Dabei ist zweierlei festzustellen. Erstens: Im Großen und Ganzen vertritt einer der beiden Partnerkomponenten den physischen und der andere den psychischen Aspekt, so dass der Satz: »FÜHLEN ist die Verbindung von Leib und Seele«, dabei stets als übergeordneter Satz fungiert. Alles, was Janov expliziert (the Primal scheme), ist: FÜHLEN. FÜHLEN ist dabei äquivalent mit »connection«, der primären Form des Zusammenhangs; und »connection« ist äquivalent mit »psychophysischer Zusammenhang« (jene Form von Zusammenhang, die die Einheit der Sinnkomponenten von »the mental« and »the physical« aktualisiert), entsprechend der grundlegenden Bestimmung: Psychologie ist eine Wissenschaft des Fühlens; die Primärtheorie ist eine Theorie des psychophysischen Zusammenhangs (Janov 1971, S. 16). – Zweitens: Stets trägt einer der 104 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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beiden Partner-Komponenten mehr bei zu der durch »connection« (FÜHLEN) zu erreichenden größeren Ganzheit; sein Hinzukommen bringt in besonderem Maße die Ganzheit zustande, die FÜHLEN bedeutet. Erwartet man indessen unter den von Janov entwickelten Sinnkomponenten eine feste logische Rollenverteilung in Bezug auf die Repräsentation der entweder physischen oder psychischen Akzentuierung, so erfährt man eine ziemliche Verunsicherung. Die Unschärfe der Begriffsbedeutungen im Janovschen Kontext wirkt sich dahin gehend aus, dass Prädikate, die an einigen Stellen deutlich die Seite des »Physischen« spezifizieren sollen, in einem anderen Zusammenhang offensichtlich die Stelle des »Psychischen« vertreten und umgekehrt. In einem ersten Schritt in der Demonstration der Unschärfe der Janovschen Begriffsbedeutungen in Bezug auf die psychische oder physische Akzentuierung seien einige Beispiele betrachtet, die zeigen, wie die primärtherapeutische »totale Bedeutung« von der einen zur anderen Akzentuierung überwechselt. Begonnen sei mit solchen Äußerungen Janovs, in denen FÜHLEN, die primärtherapeutische Bedeutung, ausgesagt wird als eine Verbindung zum Physisch-Körperlichen, zum »Organismus« im Sinne von Biologie und Physiologie; FÜHLEN kommt dadurch zustande, dass zu etwas Vorhandenem (das, entsprechend der wirksamen Grundunterscheidung, als »zu mental« eingestuft wird) mehr physisch bestimmte Momente hinzukommen, die im Sinne der Bedeutungskomponenten von »the physical« genommen werden: »[…] it is the feeling process, not simply knowing what those needs are, which changes someone. Knowledge of need, in my opinion, does not get rid of it […] to be rid of the tensions, the person is going to feel the needs at the nucleus of those tensions – in other words, organismically – which is exactly where those needs are. The needs are found in the musculature, organs, and blood system.« (Janov 1970, S. 62) »It is the biologic state that tells the truth, not only what a neurotic says or how he conforms. Our biology is our truth; it contains our real history. No lie of the mind can change it, just as no ›correct‹ behavior can alter it. If psychotherapy cannot change that biology, it fails.« (Janov 1973a, S. 35) »Thus, mentalistic statements about improvement (in therapy, B. V.) must be taken as just one factor in a ›cure‹. What we are after are psychobiologic truths, with an emphasis on the biologic. We want to document the integration of all physiologic systems.« (Janov 1973a, S. 36)
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Die normale Auffassung des Psychischen im Sinne der bisherigen Psychologie ist zu mentalistisch (vgl. auch Janov 1971, S. 33) – einschließlich der auf das »Verhalten« oder auf den »Körper« bezogenen Ansätze. Demgegenüber wird die Wahrheit des FÜHLENS durch eine stärkere Hinwendung zur biologisch-körperlichen Komponente des Menschen erreicht. FÜHLEN bedeutet, die »Biologie« des Menschen berücksichtigen. Bringt man die im normalen Sinn bewussten Überzeugungen und Einstellungen (»mental attitudes«) in Beziehung zu den physiologischen Daten des Körpers, so kann es sein, dass der »Körper« das »mehr« an Bedeutung repräsentiert, welches FÜHLEN besagt: »[…] the person has only convinced himself that he is doing better – that he has adopted mental attitudes which make him feel more comfortable even though his body contradicts him.« (Janov 1973a, S. 35)
Man erinnere sich auch an: »His body was accumulating sadness.« (Janov 1973a, S. 165) »Neurosis is just as physical as a cold.« (Janov 1973a, S. 36)
Neurose ist viel »körperlicher«, als man vermutet hatte, und so gelangt man, ausgehend von der anfangs noch mehr »Bewusstseins-« akzentuierten Aufforderung, die Bedürfnisse »organismisch« zu fühlen: »[…] to feel that early feeling physically.« (Janov 1980, S. 71), zur Physiologie (»needs are found in the musculature, organs, and blood system«) und schließlich zur Hirnphysiologie: »Any psychologic statement, therefore, is ultimately a neurologic one.« (Janov 1971, S. 33) »[…] neurosis is the dysfunction of brain.« (ebd.) »[…] it becomes clear that no other method than interneural connection can be resolving.« (Janov 1980, S. 71) »Insight and perceptiveness […] are functions of a normal brain […] An enriched and free early environment seems to help elaborate brain connections.« (Janov 1973b, S. 140)
FÜHLEN bedeutet, umgekehrt, jedoch ebenso die Ergänzung der »organismischen« Körperempfindungen um den Bewusstseins- oder Wissensaspekt (»knowledge«, »conceptualization«), und so findet man in anderen Zusammenhängen, dass FÜHLEN gerade dadurch zustande kommt, dass das »physische« Moment um die geistige oder Bewusstseinskomponente erweitert wird: 106 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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»Reich is pointing out that neurosis is not simply a psychic event but each psychic event is also a biophysical. What is important about his approach is that he believed that this biophysical structure could be approached physically […] Thus many current Reichian therapists are engaged mainly in certain physical manipulations which will ease bodily tensions. But because they were not accompanied with a mental connection, they did not seem to have a lasting effect.« (Janov 1970, S. 210) »I would suggest that any physical approach implicitly carries on the neurotic process by a »disembodied« technique, where mental connections are neglected […] where the body is dealt with as an entity apart from the mind.« (Janov 1970, S. 211)
Das normale Fühlen ist so lange kein FÜHLEN, als es nicht mit der richtigen Erkenntniskomponente verbunden ist; das neurotische Verhalten (»acting out«) wird überwunden, indem es als das Bedürfnis, das es ist, erkannt und in der richtigen Weise konzeptualisiert wird: »He was conceptualizing his real need and no longer acting it out symbolically. Thus, we see that feeling is sensation conceptualized. This means correctly conceptualized […] Neurosis masks painful bodily sensations from proper recognition (›They don’t love me‹), leaving the person to suffer constantly. He may try to relieve those sensations in one way or another […], but that sensation cannot be relieved until it is correctly connected – when it becomes a feeling. Primal Pains are the sensations of Pain. In Primal Therapy they become feeling through connection […] Only connection changes sensation of Pain into a true feeling. Conversely, the disconnection of the thought from its feelings content early in life produced continuous uncomfortable sensations – headaches, allergies, backaches. They persist because they were not connected. It is as though the painful feeling were cut off the knowledge (»I am all alone; there is no one who will understand«), and takes on a life of its own inside the body, alighting here and there in the form of aches and hurts.« (Janov 1970, S. 68 f.)
Die Empfindung eines isolierten, körperlichen Unwohlbefindens (»headaches, allergies, backaches«) wird durch das Fühlen um jene mentale Komponente – »knowledge«, »recognition« (»I am all alone; there is no one who will understand«) – erweitert, die ihren vollen Sinn ausmacht, und es ist jener um die Erkenntniskomponente erweiterte Sinn, der FÜHLEN bedeutet. »Conversely, the disconnection of the thought from its feeling content […]«: Hier ist der kognitive Aspekt (»thought«) wieder das Schwächere, das um die physische Komponente als dessen eigentlicher Inhalt ergänzt werden muss; der darauffolgende Ausdruck: »painful feelings« – das Fühlen der 107 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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schmerzhaften Körperempfindungen – ist, entsprechend der Ausgangssituation des Zitats, wieder so zu verstehen, dass er erst in der Verbindung mit dem Wissensaspekt zum FÜHLEN wird, so dass das Mentale mehr die Akzentuierung des Fühlens vertritt als das körperbezogene »painful feeling« (vgl. auch Janov 1970, S. 77). Im Verlauf der zuletzt zitierten Passage kann man auf engstem Raum verfolgen, wie die von der Primärtherapie intendierte, »eigentliche« Bedeutung des FÜHLENS übergeht von einer mentalen zu einer physischen und von hier wieder zurück zu einer mentalen Akzentuierung: FÜHLEN, das »Biologische«, ist durch die Wissenskomponente (»knowledge«, »recognition«) ausgezeichnet, indem erst die richtige Konzeptualisierung eine zu »dünne« körperliche Schmerzempfindung – obwohl diese ja bewusst zugänglich ist – in ein echtes FÜHLEN verwandelt, so dass durch den kognitiven Aspekt eine bloß »mentale Körperlichkeit« gewissermaßen Tiefgang, eine »biologischprofunde« Realität gewinnt. Nochmals sei dieser Übergang der primärtherapeutischen Bedeutung von der mentalen zur physischen Akzentuierung in der oben bereits zitierten Textstelle (Janov 1970, S. 68 f.) unter die Lupe genommen: FÜHLEN kommt zustande durch die korrekte Verbindung von den Körperempfindungen (»sensations«) mit der mental-begrifflichen Komponente (»feeling is sensation conzeptualized«). Dann aber ist, umgekehrt, der gedankliche Aspekt (»thought«) gerade dasjenige, was nicht ausreicht, sondern um den gefühlten Inhalt (»feeling content«) ergänzt werden muss, so dass eine isolierte Mentalität einer zu kurz gefassten Körperlichkeit entspricht: »Thought«, die mentale Komponente, und das körperbezogene Empfinden (das andernorts als das, um FÜHLEN zu erreichen, Hinzuzuziehende genannt ist), werden einander gleichgestellt, so dass es ohne weiteres möglich ist, die körperbezogene Empfindung als zu mental zurückzuweisen und als der Ergänzung durch die Wissenskomponente (»knowledge«) bedürftig zu charakterisieren, so dass es also das Hinzukommen des mentalen Moments ist, welches der als zu mental eingestuften Körperempfindung die wahre Körperlichkeit verleiht – jene Gewichtigkeit, die erforderlich ist, um den body-Aspekt als Ausdruck der eigentlichen primärtherapeutischen Bedeutung zu vertreten. Auf eine Textstelle so einzugehen, dass dabei jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird, mag auf den ersten Blick übertrieben erscheinen, indem doch jedem einleuchtet, dass es Janov in diesen Äußerun108 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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gen darum geht, dass in der Primärtherapie der mentale und der physische Aspekt, wie immer sie im Einzelnen bestimmt werden, zusammenkommen müssen. Dazu ist zu sagen, erstens, dass hier Informationen gesammelt werden sollen, wie dieses Zusammenkommen, wenn es geschieht, gedacht werden kann; und, zweitens, dass sich, wie ich meine, herausstellen wird, dass nur eine sehr eingehende Betrachtung der Feinstruktur seiner Redeweise – wenn überhaupt etwas – helfen kann, in den Janovschen Äußerungen eine kohärente, logische Ordnung zu erkennen, indem die Unschärfe der Wortbedeutungen, die Stelle um Stelle noch als erträglich toleriert werden kann (man bleibt im Kontext ungefähr orientiert, was gemeint ist), über größere Intervalle offene Widersprüche produziert. Um der hier anzutreffenden Komplexität der Fälle von Bedeutungsverschränkungen gewachsen zu sein, sei noch einmal das Miniaturschema der Bewegungsphasen der primärtherapeutischen Bedeutung vergegenwärtigt: (1) Eine der beiden (physischen oder psychischen) Bedeutungskomponenten wird in irgendeiner Ausprägung aufgegriffen, z. B. »thought«, »knowledge«, »recognition« als Repräsentanten der mentalen Akzentuierung; die primärtherapeutische Bedeutung benützt diese Komponente als das, was sie ist – als Vertretung etwa des mentalen Aspekts – und bejaht sie: In der Primärtherapie geht es um die Herstellung der richtigen Konzeptualisierung der Körperempfindungen. (2) Der mentale Aspekt (»thought«, »knowledge«) wird als Vertreter des mentalen Aspekts angesprochen, jedoch als Ausdruck dessen, worum es in der Primärtherapie geht, verneint (»feeling, not simply knowing«, »not simply making the unconscious conscious«, Janov 1970, S. 389). (3) Damit geht die primärtherapeutische Bedeutung an den physischen Aspekt irgendeiner Ausprägung über; dieser physische Aspekt wird von der Primärtherapie als physischer Aspekt gesehen und bejaht: In der Primärtherapie geht es darum, die Biologie des Menschen zu berücksichtigen, um das organismische Empfinden der unbefriedigt gebliebenen Bedürfnisse. (4) Der physische Aspekt gilt als physischer Aspekt und wird als Vertreter der primärtherapeutischen Bedeutung verneint: Ohne die richtige Erkenntnis der physisch bestimmten Sachverhalte und Ereignisse nützt der ganze körperbezogene Ansatz nichts. »Körperlich« oder »organismisch« fühlen, das heißt, »connec109 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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tion to the specific traumatic origins« (Janov 1970, S. 68): körperlich-organismisch gefühlte Schmerzen im Zusammenhang mit objektivierbaren, »physisch-konkreten« Szenen; dabei ist jedoch der springende Punkt dieser traumatischen Einwirkungen – die »im Körper« bestehen bleiben, bis sie organismisch gefühlt werden – ihre Bedeutung für den Betroffenen, also wiederum eine mental charakterisierte Komponente: »It is not the scene as such; it is the meaning to the child that makes it devasting.« (Janov 1970, S. 34 »Primal Pains are disconnected from consciousness because consciousness means intolerable pain.« (Janov 1970, S. 36)
Die primärtherapeutische Bedeutung bewegt sich über die durch die psychophysische Differenzierung charakterisierten bekannten Sinnkomponenten hinweg, mit Hilfe der Formel: • »Sie (die artikulierte Bestimmtheit einer Akzentuierung) ist es;« • »sie ist es nicht« – hier geht die primärtherapeutische Bedeutung über auf eine Komponente der entsprechend anderen Akzentuierung, und für diese gilt wiederum: • »Sie (die neue Bestimmtheit der anderen Akzentuierung) ist es;« • »sie ist es nicht«. Ausgehend von diesem zuletzt genannten Fall: Verneinung der anderen Akzentuierung für die primärtherapeutische Bedeutung, kann letztere sich wieder in die erste Akzentuierung einpendeln und diese bejahen: Die primär- therapeutische Bedeutung zirkuliert dann über die bestehenden psychischen und physischen Sinnkomponenten hinweg, indem ihr Umfang diese alle umfasst. Entsprechend dieser von der primärtherapeutischen Bedeutung zurückgelegten Route ergibt sich dann, dass bei einem Vergleich von Äußerungen, die jene in Momentaufnahmen verschiedener Bewegungsphasen charakterisieren, Widersprüche festzustellen sind, wenn etwa der von der Primärtherapie intendierte »total psychophysische« Zusammenhang auf eines seiner disparaten Momente reduziert wird: »Neurosis is as physical as a cold.« (Janov 1973a, S. 36) »No method other that interneural connection can be resolving […] Whether energy is bound into belief systems or muscle systems is of little consequence; beliefs and tensions are still effects. And they are both physical effects.« (Janov 1980, S. 75)
110 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Und so kommt man dazu, das, worum es in der Primärtherapie geht, als Herstellung hirnphysiologischer Verbindungen zu betrachten (vgl. dazu auch die Aufstellung S. 104.). Umgekehrt bedeuten die physisch-physiologisch bestimmten Komponenten nicht dasjenige, was eigentlich den Zustand der Krankheit der Neurose oder der Gesundheit ausmacht: »There are biochemical changes that take place with alterations in defense modes […] To concentrate on these biochemical factors is to avoid looking at the whole man. If we look at chemical mediating agents alone, I do not think we will ever understand the whole phenomenon. Not that it is not important to know what happens to our brains and bodies under certain states. It is. But chemistry beggs the question, ›cause or effect‹.« (Janov 1973a, S. 176) »It is my assumption that the roots of mental illness including most of the psychoses originate from Primal Pains. Since Primal Pains affect the physical system there are bound to be biochemical changes. I think it would be an error to assume by measuring these changes that the roots of mental illness, therefore, are biochemical. It is my belief, that most biochemical alterations are secondary to Primal Pain. We have reversed enough psychoses by now through natural means (Primal Therapy) to assume that many psychoses are not biochemical in origin […] our experience indicates, that if it exists it is not prevalent.« (Janov 1975, S. 206)
Der einzige Ausweg für die Heilung besteht in der Herstellung mentaler Verbindungen (»mental connections«), in der Herstellung des richtigen Bewusstseins: »We are born with a consciousness, not an unconsciousness in the Freudian, Jungian and Adlerian manner. Man is a truly conscious, potentially rational being to start with.« (Janov 1975, S. 235) »One can manipulate ideas and the muscles but one cannot manipulate stored memory. Consciousness is the only freedom.« (Janov 1980, S. 75)
Diese umrissene Schwierigkeit der zumindest gegensätzlichen Bestimmung dessen, was die primärtherapeutische Bedeutung eigentlich sei, mag – wenn man unbedingt will – immer noch im Toleranzspielraum der Unschärfe-Hypothese untergebracht werden. Indessen hat ein zweiter Schritt dieses Abschnitts nun die Aufgabe, die im ersten Schritt demonstrierte Unschärfe der primärtherapeutischen Bedeutung noch stärker auf das Widerspruchsmoment hin zu präzisieren, das sie, wie ich meine, unbestreitbar enthält. Als Überleitung zu diesem zweiten Schritt sei festgestellt, wie die primärtherapeutische Bedeutung sich mit einer Teilbedeutung 111 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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(aus der Skala der psychischen und physischen Sinnkomponenten) verbindet – als Beispiel wird der Term »cerebral« herangezogen –, so dass ein und dieselbe Sinnkomponente nun ebenfalls die Route über die psychische und die mentale Akzentuierung zurücklegt und die Herstellung der »totalen Einheit« innerhalb des von der Teilkomponente abgesteckten Rahmens abgewickelt wird, die mithin selbst die psychische und die physische Akzentuierung umfasst. Der Übersicht halber seien die oben charakterisierten »Situationen« der primärtherapeutischen Bedeutung, indem sie sich über die psychischen und physischen Akzentuierungen hinweg bewegt, in einer Vierfeldertafel dargestellt; die Auseinandersetzung des primärtherapeutischen Standpunkts mit dem Term »cerebral« umfasst vier Fälle: Der Term kann eine mentale oder eine physische Akzentuierung vertreten und diese kann als Repräsentant der primärtherapeutischen Bedeutung bejaht oder verneint werden: »cerebral«: primärtherapeuthischer Standp.
mental
physical
ja
1
2
nein
2
4
(1) Im ersten Fall, mit dem begonnen sei, wird der Term »cerebral« in der Bedeutung von »mental« verwendet, und diese Bedeutung wird als Repräsentant des primärtherapeutischen Standpunkts bejaht. Dieser Fall ist gegeben, wenn bestehende Therapieformen von Janov als nicht genug »cerebral« (im Sinne von »mental«) kritisiert werden, so dass der primärtherapeutische Standpunkt entsprechend als »cerebral« (mental) charakterisiert ist: »I think, however, that the modern-day Reichians may have erred in the opposite direction, that is, there is a tendency to neglect cerebral processes in the quest to ease physical tension.« (Janov 1970, S. 211)
Jedoch sieht man diesen Fall auch in folgenden Stellen repräsentiert: »Consciousness is both a vertical and horizontal (across hemispheres) process in the brain.« (Janov 1973a, S. 81) »One can »condition« the behavior […], but one cannot condition the brain […] What is necessary to be normal, or oneself, is a free brain […], so that being insightful is literally derived from a well-developed, liberated brain.« (Janov 1973b, S. 140)
112 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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(2) Im zweiten Fall wird der Term »cerebral« in der Bedeutung von »mental« verwendet, und diese Bedeutung wird als Repräsentant des primärtherapeutischen Standpunkts verneint: »The need for love is not just something cerebral which can be changed by changing ideas. That need pervades the entire system, distorting the body and the mind.« (Janov 1970, S. 60) »This is because needs do not reside in a capsule in the brain. They must be felt organismically, because needs permeate the entire body […] needs are systemic. Otherwise we would have to conclude that needs reside only in the pocket of the brain and that simply making the unconscious conscious would do the job.« (Janov 1970, S. 389).
Ebenso scheint dieser Fall an der folgenden Stelle gegeben, wo die behavioristisch orientierten Therapien, die sich auf »changing ideas« (als eine »cerebral« bezogene Praxis) konzentrieren, gewissermaßen als »zu cerebral« kritisiert werden: »I believe that psychotherapy has tended to neglect the body and its contribution to neurosis […] Thus we find the focus on association of ideas in the conditioning therapies or the substitution of ideas in rational therapy. I think, however, that the modern-day Reichians may have erred in the opposite direction – that is, there is a tendency to neglect cerebral processes in the quest to ease physical tension.« (Janov 1970, S. 211)
(Man sieht, wie diese Passage auf die Bedeutungskomponente »mental-cerebral« abgestimmt ist; im ersten Teil des letzten Zitats, auf den es hier ankommt, wird die primärtherapeutische Bedeutung »mentalcerebral« abgehoben.) (3) Im dritten Fall nimmt »cerebral« die Bedeutung von »physical« an, was vom primärtherapeutischen Standpunkt aus bejaht wird, wie etwa in der folgenden Stelle: »Ideas and concepts are very much an outgrowth of one’s total physiology, and it does not good to try to change someone’s mind about things unless you are prepared to change his physiology.« Dazu folgt die Fußnote: »This is precisely why the conditioning techniques and therapeutic methods, such as Reality Therapy, dealing with »changing the mind« do not work. The coded past still exist in the nerve cells of the brain.« (Janov 1973b, S. 135)
Die Berufung auf »the nerve cells of the brain« hat an dieser Stelle den Sinn, die Unausweichlichkeit des »Physischen« gegenüber den gewissermaßen an der »Realität des Gehirns« vorbeiarbeitenden 113 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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»conditioning techniques« zu behaupten. Deutlich hebt sich dieser Fall vom zweiten ab, wo die für die primärtherapeutische Bedeutung notwendig hinzuzuziehende »physische« Komponente gerade außerhalb des Bedeutungsumfangs von »cerebral« gesucht, so dass dieser Term als Vertreter der primärtherapeutischen Bedeutung abgelehnt wurde. (4) Der vierte Fall ist schließlich gegeben, wenn »cerebral« die Bedeutung von »physical« vertritt, jedoch als Ausdruck der primärtherapeutischen Bedeutung verneint wird. Dieser vierte Fall besagt nun, dass sich die primärtherapeutische Bedeutung von dem Term »cerebral« als dem ihr angemessenen Ausdruck in irgendeiner Weise ablöst. Bezogen auf den Bereich der Sinnkomponenten von »the physical« kann das bedeuten, dass nun die organisch-organismische Komponente als notwendige Ergänzung des zu isoliert-cerebralen Gesichtspunkts herangezogen wird, wie z. B. an jener Stelle: »I think that research investigators and philosophers alike have gone astray by trying to isolate consciousness in the brain. They failed to recognize that the brain is encased in a body; and the pattern of neuronal firing, the specific interconnections made, the frequency and amplitude of neuronal action, all are influenced by the state of organic consciousness, not just by the cells in the brain. It is the dialectic interchange of brain and body and effects of each on the other, a state of being, which produces a consciousness.« (Janov 1975, S. 225)
Hier, in der vierten Situation der primärtherapeutischen Bedeutung, gibt es für die Weiterbewegung eine Alternative: Entweder sie mündet, nach einer vorübergehenden Distanzierung von »cerebral« als geeignetem Ausdruck für die primärtherapeutische Bedeutung, erneut in den ersten Fall ein; »cerebral« würde dann wieder eine mentale Bedeutung annehmen und vom primärtherapeutischen Standpunkt bejaht, über die Brücke der Verbindung basaler Körperfunktionen zu bestimmten Hirnarealen: »A ›deep‹ insight means precisely ›deep in the brain‹.« (Janov 1975, S. 104)
In der einfacheren Version, wo sich Janov verschiedener Ausdrücke bedient, um die physische und psychische Akzentuierung der einen, totalen, primärtherapeutischen Bedeutung zu kennzeichnen, entspräche dies dem Fall, in welchem, nachdem der ausgeprägt körperlich114 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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physische Charakter dessen, worum es in der Primärtherapie geht, betont wurde, hinzugefügt wird, wie wichtig es doch ist, die mental zu fassende Bedeutung körperlich beeindruckender Ereignisse zu berücksichtigen (»It is not the scene as such; it is the meaning to the child, that makes it devasting«, Janov 1970, S. 34). Mit der Charakterisierung von Schmerzen als »Primal Pains« wird die Vorrangigkeit des psychischen Erlebens als konstitutives Moment bei der Bestimmung dessen, was physisch real ist, behauptet: Physische Ereignisse, das sind Ereignisse für einen bestimmten Menschen, und der Mensch ist vorrangig ein Bewusstsein: »Thus in a real sense, it is consciousness that is curative.« (Janov 1975, S. 98). Daher ist es ja auch möglich, biochemische Veränderungen sowie Veränderung der Hirnaktivität durch Primärtherapie (»through natural means«) zu erreichen. Je nachdem, wie logisch ausgeprägt dieser Übergang des vierten in den ersten Fall ist, wird in ihm die andere Möglichkeit der Alternative fassbar, die eine qualitativ neue Situation ins Spiel bringt, auf die dieser zweite Schritt des Kapitels vor allem hinweisen soll. In der vierten Situation wird die Verbindung der primärtherapeutischen Bedeutung mit einer Sinnkomponente der Akzentuierung von »the physical« verneint. Im Falle, dass diese jetzt verneinte, physische Akzentuierung von dem Term »cerebral« vertreten wird, äußert sich die Abhebung der bisherigen Bestimmung der primärtherapeutischen Bedeutung als ein noch tieferes Hineingehen in deren »wahrhaft physische« Dimension. Damit eröffnet sich zunächst innerhalb des Falls der physischen Akzentuierung nochmals die psychophysische Differenzierung: »cerebral«, obgleich »physisch« aufgefasst, ist noch zu »mental«; der »physische« Aspekt der primärtherapeutischen Sache ist noch viel physischer – er ist in einem ganz anderen Sinn »physisch«; er ist, indem er »physisch« (in einem »sehr erweiterten« Sinn) ist, in einem bisher ungeahnten, total neuen Sinn PSYCHISCH und bedeutet ein BEWUSSTSEIN. So ist dieser Fall etwa im folgenden Zitat deutlich: »Showing all of herself (her naked body, B. V.) made her feel the brunt of his rejection […] What she was showing of herself that day was not simply her body – she was showing her feelings, and that was the meaning of showing herself to Daddy.« (Janov 1973a, S. 106)
Diese Aussage ist nicht so zu verstehen, dass im beschriebenen Fall die Nacktheit des Körpers ergänzt oder begleitet wurde von einer entsprechenden Erlebniskomponente; vielmehr ist die Beziehung des 115 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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physischen und des psychischen Akzents aufs äußerste zugespitzt, derart, dass der Körperakzent, indem er sich radikaler von dem, was »Erleben« normalerweise ist, entfernt, dasjenige zustande kommen lässt, was in ihm steckt, obwohl er dieses nicht ist, indem es mehr ist als er. Und dieses »mehr« ist es, das Janov unentwegt zur Darstellung bringen will: Die primärtherapeutische Bedeutung ist mehr als dasjenige, was alle in normaler Form explizierten physischen und psychischen Sinnkomponenten zusammengenommen an Bedeutungskapazität aufbringen können. So treten, wenn gewisse Erlebnisinhalte mehr sind, als mit den bestehenden Mitteln bewältigt werden kann (was dem Bedeutungsumfang normal formulierter Sinnkomponenten entspricht) physische Symptome auf (biochemische Veränderungen und/oder Verhaltensstörungen); aber diese physischen Symptome haben den Sinn, eine HÖHERE FORM VON BEWUSSTSEIN zu repräsentieren, so dass das »Einschreiten des Körpers (im »physischen« Sinn expliziert)« die BEDEUTUNG einer »Intervention des BEWUSSTSEINS« (im Sinne einer logisch übergeordneten Bedeutungsebene) hat (Janov 1970, S. 214). Ebenso vertritt in Sätzen wie: »His body contradicts him« (Janov 1973a, S. 35) oder: »His body was accumulating sadness« (Janov 1973a, S. 165) der »Körper« nicht die normal gefasste mentale Komponente, sondern vielmehr jenen »höheren Geist« bzw. jenes höhere logische Gesetz, welches in all dem zum Ausdruck kommt, aber mehr ist als all das. Daher rückt die Abstoßung der primärtherapeutischen Bedeutung von »cerebral« im Sinne des weiter oben angeführten vierten Falls in die Nähe der Ablehnung von »cerebral« durch die primärtherapeutische Bedeutung im Sinne des zweiten Falls; und die von Janov kritisieren Therapieformen sind in ein und derselben Hinsicht zu »cerebral« im Sinne von »mental« wie sie zu »cerebral« im Sinne von »physical« sind (vgl. Janov 1970, S. 210 ff.): Beide Akzentuierungen, wie sie normalerweise gebraucht werden, sind in Bezug auf die Weise, wie sie unzureichend sind, die primärtherapeutische Bedeutung auszudrücken, einander gleichwertig, indem diese etwas von der normalen Weise, Bedeutungen zu artikulieren, insgesamt Abgehobenes (qua logisch Übergeordnetes) ist; wie immer man sich auch ausdrückt, wenn man die primärtherapeutische Bedeutung in normalen Begriffen wiedergibt: es ist ein Stück weit einigermaßen richtig, aber auf die Dauer gesehen wird es falsch (»sie ist es … sie ist es nicht …«, im Sinne der »Formel« von S. 110), und dann hört es auf, eine Rolle 116 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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zu spielen, wie man sich bisher ausgedrückt hat (die verschiedenen »Fälle« rücken zusammen, werden einander immer ähnlicher), denn die eigentliche primärtherapeutische Bedeutung ist etwas von all dem Abgehobenes, das in der Lage ist, die ansonsten gültigen logischen Differenzierungen einzuschmelzen. In der zur Situation des vierten Falls zuerst zitierten Passage kündigt sich die Wende in der Bewegung der Bestimmtheit der primärtherapeutischen Bedeutung an, wenn es heißt (Janov 1975, S. 225), der in dem Term »brain« zum Ausdruck gebrachte »physische« Gesichtspunkt könne nur dann richtig gebraucht werden, wenn man berücksichtige, dass das Gehirn ja in einen Körper eingebettet sei (»that the brain is encased in the body«); der Term »body« wird dann im Verlauf des weiteren Satzes als »state of organic consciousness« weiterbestimmt; und obwohl dieser Ausdruck im Umfeld dieser Stelle von Janov materiell akzentuiert wird (»the mind is but an aggregate of cells working in unison«, ebd.), ist hier doch schon der Umschwung in der primärtherapeutischen Bedeutung erkennbar, d. h. die Inanspruchnahme des dialektischen Moments (»dialectic interchange«), derart, dass durch ein gesteigertes Hineingehen in einen bestimmten Gesichtspunkt (durch eine Art von »zu Tode reiten«) der eigentlich an ihm interessante, springende Punkt im Sinne der ganz anderen, höheren Bedeutung herausgelöst wird. Und so fährt Janov fort: »It isn’t that consciousness is the psychological result of neuronal action – a ›leakage‹ of brain cells – it is a dynamic interactory state of neuronal activity being a function of a state of being.« (Janov 1975, S. 226)
Indem Janov den Schritt zu einer endgültigen Abhebung der eigentlichen primärtherapeutischen Bedeutung, als die Ebene der normal explizierten psychischen und physischen Bedeutungskomponenten fundierend – im Sinne der Inanspruchnahme eines höheren logischen Status für dieselbe –, nicht vollzieht, enthalten seine Äußerungen die gleichwohl intendierte logische Ebenendifferenz in der Form von Widersprüchen, die, wie ich meine, nicht mehr im Toleranzspielraum der »Unschärfe-Hypothese« hingenommen werden können: »There isn’t an insight in the world that can change neurosis because there is no mental activity that can alter a physiologically imprinted experience […] The only way to find the connection between present and past is to feel that early feeling physically.« (Janov 1980, S. 71)
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»To feel« ist ja nun unbestreitbar ein Ausdruck, der eine »mental activity« bezeichnet. Wiederum ist das unterschlagene logische Verbindungsglied zu ergänzen. Der Ausdruck »to feel« im zweiten Satz gehört nicht in die Klasse der »mental activities«, ebenso, wie auch das Adverb »physical«, welches das Prädikat »to feel« näher bestimmt, nicht in die Klasse der Sinnkomponenten von »the physical« einzuordnen ist; vielmehr findet innerhalb der Bestimmung »physically« ein logischer Ebenenwechsel statt (im Sinne der beschriebenen Alternative der Bewegung vom »vierten Fall« aus), so dass sich »Fühlen« (als »mentale Aktivität«) durch eine neue Weise des Eingehens ins »Physische« VERÄNDERT und als FÜHLEN nun über der Differenz von »the mental and the physical« steht. Der offene Widerspruch, den der zitierte Zusammenhang zweier Sätze ausspricht, kann so aufgelöst werden, dass der erste Satz das Äußerste ausdrückt, das von der normalen Ebene aus gesagt werden kann: Die Feststellung der psychophysischen Differenz – der zweite Satz – repräsentiert dann die Überwindung dieser Differenz durch den (nicht explizit gedachten) Vollzug des Ebenenwechsels. »Whether energy is bound into belief systems or muscle systems is of little consequence. Beliefs and tensions are still effects. And they are both physical effects. Beliefs don’t somehow hover above the brain. They are manifestations of the brain in action. One can manipulate ideas and muscles but one cannot manipulate stored memory. Consciousness is the only freedom.« (Janov 1980, S. 75)
Wiederum wird deutlich, wie sich der primärtherapeutische Standpunkt von der normalen Sicht so unterscheidet, dass die psychophysische Differenz dahinfällt; und so wird es möglich, beide Akzentuierungen auf eine der beiden als ihr gemeinsamer Nenner zu reduzieren (»belief systems and muscle systems […] they are both physical«). Dabei verwandelt sich jedoch die primärtherapeutische Bedeutung von »physical« über eine innere Umkehrung der Bedeutung in etwas GANZ ANDERES (was noch »mehr« anders ist als nur ihr eigenes Gegenteil); gewissermaßen klein beginnend, bei einer ersten Ausprägung der neuen Bedeutung: »memory« (das »Physische« als dasjenige, aus dem die primärtherapeutische Bedeutung entsteht) – in eine Bedeutung, die über der Ebene des Bekannten anzusiedeln ist: »CONSCIOUSNESS«, »FREEDOM«. Und hier, abschließend zur Demonstration des Widerspruchs, noch eine weitere Stelle: 118 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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»Everything we go through psychologically […] stays with us. The memory of the sixth grade classroom is physiologic. It is not something in space; it is part of our bodies, just like gill slits. The body becomes distorted through psychological events because those events belong to the body.« (Janov 1975, S. 234)
Hier ist nun nahezu in jedem Ausdruck die Ebenendifferenz in der Form der widersprüchlich ausgesagten primärtherapeutischen Bedeutung am Werke. Die Bewegung beginnt mit der Bestimmung »psychologically« und erreicht über die Doppeldeutigkeit von »memory« als Schaltstelle das Physiologische; dieses bedeutet jedoch sein Gegenteil: »not something in space«, indem es durch die von Feigl für die Verwendung des Terms »the mental« angegebenen Bestimmung charakterisiert wird (Feigl 1972, S. 396). – Zu dem Fall der unmittelbaren Bestimmung der Bedeutung einer Sinnkomponente durch ihr Gegenteil sei rasch noch der Hinweis auf folgende Äußerung gestattet: »[…] a disembodied technique, where mental connections are neglected, where the body is dealt with as an entity apart from the mind.« (Janov 1970, S. 211) »For the normal there is only one self – the real self. […] It is organismic and nondivisible.« (Janov 1973a, S. 168)
Im Zitat weiter oben (Janov 1975, S. 234) wird dasjenige, was als »mental« bestimmt wurde (»not something in space«), sofort als »body« interpretiert: »Body« bedeutet das Eigentliche der Bestimmung »the mental«: Das »Psychische« ist eine TIEFENdimension des primärtherapeutisch aufgefassten »Physischen«, was so zu verstehen ist, dass der Wechsel von der normalen zur primärtherapeutischen Auffassung als eine Umkehrung der Bedeutung von »the physical« vollzogen wird. 8
Die versuchten Demonstrationen sind, ihrer Art als Deutung nach, nicht schlechterdings beweiskräftig: Es ist immer möglich, die Einladung, einen neuen Standpunkt zu betreten, abzulehnen. Dagegen gilt es abzuwägen, ob nicht etwa der mögliche Gewinn im Erproben eines neuen Standpunkts mehr bedeutet als eine Ablehnung, mit der ganz gewiss nichts dazu gewonnen ist.
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1.1.2.3. Konsequenzen auf der Ebene des Wissenschaftsbegriffs 1.1.2.3.1. Exkurs: Bemerkungen zu einem logischen Aspekt bei der Herausbildung der Atomhypothese Das Neue der Primärtherapie wird in der Janovschen Sprache nicht in erster Linie dadurch fassbar, welche (und eventuell welche neuen) Begriffe auftauchen; vielmehr zeigt es sich in einer völlig neuen Weise des Umgangs mit Begriffsbedeutungen: Es gibt keinen von Janov gebrauchten Begriff, der außerhalb der skizzierten, merkwürdigen Bewegungsstruktur dastünde, bzw. im Sinne seiner normalen Verwendung weiterfunktionieren würde. Gemäß dem Anspruch der Primal hypothesis, eine neue, logisch höhere Form von »connection« – FÜHLEN als Überwindung der psychophysischen Differenz – zu repräsentieren, zeigt sich im Umgang Janovs mit Begriffsbedeutungen das Ringen darum, diese intensivere, logisch höhere Form der Einheit zu denken: Erkennbar will Janov die Einheit der vielen, im Sinne der psychophysischen Differenz normalerweise getrennt gehaltenen Sinnkomponenten darstellen, so dass alle Sinnkomponenten nur eine einzige, totale, umfassende Bedeutung zum Ausdruck bringen – wie es in seiner Sicht nur eine Krankheit, eine Therapie und ein Geschehen des FÜHLENS gibt. Wenn die verschiedenen Sinnkomponenten nur eine einzige Bedeutung zum Ausdruck bringen, so werden sie in Bezug auf dieses Neue, Eine, untereinander gleich; jeder Term muss dasjenige in sich enthalten, im Hinblick worauf er dem andern gleicht. Wie also wird die Einheit oder das Identischsein der Sinnkomponenten dargestellt? Das, was Janov tut, sei in zwei Punkten zusammengefasst: (1) Der erste Gesichtspunkt besteht in der Feststellung der Erweiterung des Bedeutungsumfangs der von Janov verwendeten Begriffe, derart, dass jeder einzelne der Tendenz nach alle Differenzierungen, die im primärtherapeutischen Kontext vorkommen, vertreten kann; jede Sinnkomponente, die als ein zu ergänzender Bestandteil der »totalen Bedeutung« eingeführt wurde, kann in einem bestimmten Redezusammenhang den gerade erforderlichen Akzent und damit diese selbst vertreten. Die Unschärfe der Begriffsbedeutungen, das Fließendwerden ihrer Grenzen, könnte nun zunächst als eine mehr oder weniger harmlose Verschärfung des Normalfalles gewertet werden, indem, um überhaupt eine Copula anwenden zu können und eine Prädikation zustande zu bringen, Ähnlichkeit als die Verbindungsfähigkeit von Diffe120 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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rentem vorausgesetzt werden muss. – Wie schon gesagt, führt dieses Argument im Falle Janovs in zweierlei Hinsicht nicht weiter; erstens, indem, da Janov Identität ja intensiver, als sie normalerweise gedacht wird, zum Ausdruck bringen will, die Ähnlichkeit der Sinnkomponenten folglich größer sein muss als im Normalfall, dergestalt, dass die im Sinne der größeren Ähnlichkeit gedachte intensivere Identität notwendig weniger vermitteln würde, als für einen wissenschaftlichen Zusammenhang gefordert werden muss – m. a. W., eine totale Sprachverwirrung wäre das unvermeidliche Ergebnis; zweitens steigert sich die Unschärfe einzelner Begriffsbedeutungen im Janovschen Redezusammenhang zu einer Widersprüchlichkeit von Aussagen, und es ist dieser größere Fehler, der auf die primärtherapeutische Aussageweise ein Licht zu werfen vermag, doch das leitet über zu einem weiteren Gesichtspunkt. (2) Ein zweiter Gesichtspunkt ergibt sich aus der näheren Charakterisierung der Unschärfe der Janovschen Begriffsbedeutungen: Die bloße Herausstellung der Unschärfe ist, für sich genommen, eigentlich unzutreffend, denn die Begriffsbedeutungen sind in der Janovschen Rede nicht einfach unscharf; vielmehr durchlaufen sie eine beschreibbare Veränderung von mental akzentuierten zu physisch akzentuierten Sinnkomponenten, bis hin zur schließlich festzustellenden Umkehrung der Bedeutungsfunktion – derart, dass »physical« nun »mental« bedeutet –, und dies ist der Punkt, an dem nur noch die Schlussfolgerung weiterhilft, dass das Eigentliche, um das es geht: die primärtherapeutische Bedeutung, als ein Identisches mit logisch übergeordnetem Status gedacht werden muss, welches sich über die Sinnkomponenten der Ebene, zu der jene in der Beziehung der logischen Metaebene steht, hinweg bewegt. Die Unschärfe der primärtherapeutischen Begriffsbedeutungen ist somit aufzufassen als eine andere Form von Genauigkeit; sie ist die Form, in der das grundlegende logische Charakteristikum der Janovschen Aussageweise fassbar wird, nämlich, eine Bedeutung darzustellen, die sich über die verschiedenen Sinnkomponenten hinweg bewegt, für die es somit keine feststehenden Relationen untereinander geben kann, indem dieselben, relativ zur Bewegung des primärtherapeutischen Standpunkts, jeweils neu zu bestimmen sind. Die primärtherapeutischen Begriffsbedeutungen bestimmen sich, erstens, als das, was sie normalerweise sind; zweitens – und das ist die konstitutive Bestimmung, die sich der ersten bedient – aus der 121 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Beziehung zu der ihnen im Sinne der Metaebene übergeordneten Bedeutung; welch letztere jene in der Weise einer bestimmten Negation darstellen, nämlich so, dass die Sinnkomponenten der Objektebene die Metaebenenbedeutung sind (und darstellen können), indem sie es sind und nicht sind. Dieser letzte Teil: »und nicht sind«, ist die Zusammenfassung eines Weges der schrittweise stärker werdenden Negation der Äquivalenzannahme des Ausgangspunktes, bis hin zur Ablösung der Bedeutung von allen Ausprägungen der Objektebene in der Widerspruchsbeziehung der primärtherapeutischen Bedeutung zur normal aufgefassten Bedeutung, wodurch jene als etwas von allem Abgehobenes und damit in ihrem logischen Metastatus erkennbar wird. Der Weg der Veränderung dessen, was zugänglich ist, so dass (indem es als die Bestimmung eines solchen, das nicht zugänglich ist, welches das Zugängliche jedoch im Sinne der diesem impliziten höheren logischen Bestimmung kennzeichnet, gefasst wird) eine ganz neue Dimension und ein ganz neues Arbeiten mit der Sache selbst möglich wird: Diese grundlegende, aus den Äußerungen Janovs zu gewinnende Figur einer geistigen Operation hat nun eine eigentümliche, erstaunliche Parallele in jenem Prozess, der in der Geschichte der Naturwissenschaft zur Herausbildung des Atombegriffs geführt hat. Unbestreitbar ist es die Atomhypothese, in der die Naturwissenschaften ihr Paradigma, ihre Gegenstandskonzeption, gefunden haben: »Am Anfang der Naturwissenschaft und Technik steht das Atom. Der Chemiker hat sich die Aufgabe gestellt, den stofflichen Aufbau der Natur zu erforschen, zu analysieren und zum Teil völlig neue Stoffe herzustellen: zu synthetisieren. Seine Arbeit beruht ausschließlich auf der Anwendung des Atombegriffs […] Mit Hilfe seiner Formeln überschaut er mit einem Blick die atomare Struktur des Stoffes. Die klassischen Unterteilungen der Physik beruhen letzten Endes alle auf dem Begriff des Atoms. Die Geschichte der Naturwissenschaft ist in der Tat die Geschichte des Atoms.« (Haber 1966, S. 12 f.)
Die Entwicklung des Atombegriffs setzte an bei einer Voraussetzung, und die Voraussetzung, die sich bot, war eine bestimmte Vorstellung vom Stoff, näherhin die Vorstellung eines »reinen Stoffes« als eines »chemischen Individuums« (Kadner et al. 1970, S. 25). Bei der Betrachtung von »reinen Stoffen« und »Gemischen« und des Umgangs mit ihnen befinden wir uns auf der physikalischen Ebene, was bedeu122 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
tet, dass keine Ereignisse im Sinne der Chemie stattfinden: Bei physikalischen Operationen mit Stoffen ändert sich nichts an den Stoffen im chemischen Sinn, während man die Elemente aus den reinen Stoffen nur durch chemische Veränderung herausbekommt. Die Bildung eines Gemisches aus mehreren reinen Substanzen ist ein physikalischer Vorgang. Viele Eigenschaften eines Gemisches setzen sich additiv aus den Eigenschaften der Komponenten zusammen (Christen 1974, S. 19). Die unspezifischere, »physikalisch« genannte Betrachtungsweise der Stoffe als »reine Stoffe« und »Gemenge« wird durch die Einführung der Konzepte: »Verbindung«, »Element«, »Atom«, zur chemischen Betrachtungsweise. Robert Boyle muss als Schöpfer des Begriffs »Element« angesehen werden. In seinem Hauptwerk: »The Sceptical Chymist« (1661), betrachtete er erstmals die Elemente nicht bloß als Namen oder Träger bestimmter Eigenschaften, sondern als nicht mehr weiter zerlegbare Grundstoffe (vgl. Christen 1974, S. 21). Die Alchimisten hatten den Begriff der »chemischen Verbindung« geschaffen im Sinne von Stoffen, die aus mehreren Elementen zusammengesetzt sind und Eigenschaften besitzen, die völlig verschieden sind von den Eigenschaften der Elemente, aus denen sie bestehen (vgl. Haber 1966, S. 26). Bei der Herausbildung der neuen Betrachtungsweise in der Anwendung des Elementbegriffs, des Begriffs der chemischen Verbindung und schließlich des Atombegriffs spielen u. a. folgende Gesichtspunkte eine Rolle: Ein erster, wichtiger Gesichtspunkt ergibt sich aus der Beobachtung qualitativer Unterschiede bei der Herstellung oder Fraktionierung von Gemengen (noch unspezifisch gegenüber der Differenz zwischen »Gemenge« und »Verbindung«): Einige zeichnen sich durch Merkmale aus, die so beschrieben werden, dass ein Energieumsatz stattfindet: Bei der Zerlegung von Quecksilberoxid oder Wasser muss dauernd Energie in Form von Wärme bzw. elektrischer Energie zugeführt werden, während bei der Bildung von Wasser, Kochsalz oder Eisensulfid Energie frei wird (Wärme, Licht, mechanische Energie der Knallexplosion, B. V.) (Christen 1974, S. 31). Ein zweiter Gesichtspunkt ist der von den Alchimisten bereitgestellte: Während in einem Gemenge beide Bestandteile unverändert nebeneinander vorliegen und daher in ihren charakteristischen Eigenschaften zu erkennen sind, besitzen die Verbindungen neue charakteristische Eigenschaften. Die physikalischen Eigenschaf123 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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ten einer Verbindung sind grundsätzlich andere als die Eigenschaften der Elemente, aus denen sie hervorgegangen sind (Kadner et al. 1970, S. 32). Obzwar die beiden genannten Gesichtspunkte als Ergebnis einer verfeinerten oder intensiv studierten Beobachtung anzusehen sind, muss doch festgestellt werden, dass diese Beobachtungen erst relevant werden im Zusammenhang mit einer veränderten begrifflichen Konzeption der Sache – wie sie in den Begriffen »Element« und »Verbindung im chemischen Sinn« zum Ausdruck kommt –, die sich weiter als bisher von dem in der Beobachtung unmittelbar Gegebenen entfernt: Man beachte, dass es nach der Definition von Boyle u. U. schwierig sein kann, einen Stoff als Element zu erkennen (Christen 1974, S. 22). Es scheint mir von großer Wichtigkeit, zu verfolgen, wie die für die Etablierung des naturwissenschaftlichen Paradigmas entscheidende Entwicklung des Stoffbegriffs zum Elementbegriff bedeutet, dass sich die wissenschaftliche Gegenstandsauffassung sowohl präzisiert als auch von einem vordergründigen Anschauungsding in Richtung einer ideellen Bestimmtheit verschoben hat. Wenn man sagt: Gegenstand der Forschung sind die »Stoffe« im Sinne der vorparadigmatischen Chemie, so arbeitet man mit recht handfesten Begriffen: Knapp ein Jahrhundert nach Demokrit hat Aristoteles die Atomistik verworfen. Aristoteles erläuterte die stoffliche Natur des Universums mit einer entwaffnend einfachen Idee, die das Denken der Menschheit zwei Jahrtausende lang beherrscht hat. Er hat den Begriff der vier Naturelemente propagiert: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Dies waren handfeste Begriffe, und jeder konnte sich im täglichen Leben mit seinem gesunden Menschenverstand davon überzeugen, dass die Vorstellungen des Aristoteles ganz offensichtlich der Wirklichkeit entsprachen. Die vier Elemente des Aristoteles beschreiben die Erscheinungsformen der Materie, wie wir sie vor uns sehen: Die festen Stoffe, die Steine, die Metalle und die Körper der Lebewesen waren Erde; das Wasser der Meere und Seen war flüssig, die Luft war gasförmig; dazu gesellte sich das Feuer, das durch seine Wärme und sein Leuchten faszinierte. Es bedurfte offenbar überhaupt nicht der Atome des Demokrit, um das Wesen des Stoffes zu begreifen (Haber 1966, S. 18). Haber fährt fort, indem er feststellt,
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»dass das späte Altertum und das Mittelalter sich nur wenig um die diesseitige Materie gekümmert haben […] Die Denker jener Zeit waren auf das Geistige, Jenseitige ausgerichtet […]; der Stoff der Schöpfung war eben während dieser langen Jahrhunderte gar nicht als ein Problem angesehen worden; die anschaulichen Vorstellungen des Aristoteles über die Natur der Materie waren durchaus im Einklang mit dem Denken dieser langen Zeit […]« (ebd.)
Die Atomistik des Demokrit war ein Gedankengebäude. Haber meint, dass für Demokrit, wenn er auch den Stoff der Schöpfung materialistisch zu deuten suchte, »das ideelle Prinzip doch das wichtige« gewesen sei, und so sei er uns, obwohl er »mit diesen Erkenntnissen das Wesen der Materie hervorragend beschrieben« habe (Haber 1966, S. 14), doch »den Beweis für die Existenz des Atoms schuldig geblieben«, so dass »der Begriff des Atoms recht schnell wieder aus der Mode kam« (Haber 1966, S. 18). Wie sich die Zusammenhänge zeigen, scheint es mir jedoch gerade umgekehrt zu sein, so dass die »Schwäche« der Konzeption des Demokrit und Leukipp gerade nicht, wie Haber sagt, darin liegt, dass für diese Denker »das ideelle Prinzip doch das wichtige« gewesen wäre: Vielmehr haben sie die atomistische Idee mit einer zu anschaulichen Vorstellung verbunden und die Atomidee nicht ideell genug gedacht, und das ist als der Grund anzusehen, warum sie uns »den Beweis für die Existenz des Atoms (bzw. die Gültigkeit des Atombegriffs und die Gültigkeit der Atomtheorie) schuldig geblieben« sind. Ein dritter Gesichtspunkt bildete, zusammen mit den beiden zuerst genannten, die Voraussetzung für die Formulierung der Atomhypothese durch Dalton. Dieser hängt zusammen mit der Einführung der Waage zu Messzwecken im 18. Jahrhundert, was sich besonders mit dem Namen Lavoisier verbindet: Lavoisier hat die große Bedeutung der Gewichtsverhältnisse bei chemischen Vorgängen erkannt und u. a. gezeigt, dass die Verbrennung nichts anderes ist als die schnelle Verbindung eines chemischen Stoffes mit Sauerstoff und dass Hitze und Licht nur Begleiterscheinungen dieses Vorganges sind. Er war der erste, der seine Versuche in abgeschlossenen Gefäßen auf der Waage durchführte (Quecksilber und Sauerstoff zu Quecksilberoxid, B. V.) und dabei feststellte, dass die Waage im Gleichgewicht blieb. (Kaufmann 1977, S. 7) Das Ergebnis vieler Messungen drückte Lavoisier in dem Satz aus:
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»Nichts wird erschaffen, weder in den Experimenten, noch in den Veränderungen der Natur, und man kann das Prinzip aufstellen: In jedem Vorgang hat sich die Menge Materie nicht geändert. […] Untersucht man die Zusammensetzung einer bestimmten Verbindung, so findet man immer dasselbe Massenverhältnis der Elemente (unabhängig von der Menge der Ausgangssubstanz, B. V.)«. (Christen 1974, S. 37)
Dieses von Lavoisier gefundene »Gesetz der konstanten Verhältnisse« (bzw. Proportionen, vgl. Christen 1974, S. 38) hat Dalton mit der Idee vom atomaren Aufbau der chemischen Elemente zu erklären versucht: »Daltons wesentliche Aussagen sind folgende: Die Materie besteht aus sehr kleinen Atomen, die nicht weiter zerlegbar sind und weder erschaffen noch zerstört werden können. Die Atome verschiedener Elemente besitzen verschiedene Eigenschaften und verschiedene Massen; alle Atome eines bestimmten Elements sind jedoch unter sich gleich. Bei chemischen Veränderungen ändert sich die Gesamtmasse der beteiligten Stoffe nicht, da die Atome unveränderlich sind. Aus der konstanten Zusammensetzung von Verbindungen schließt Dalton, dass sich die Atome bei der Bildung einer Verbindung in einem bestimmten Zahlenverhältnis vereinigen, ohne allerdings dafür eine Erklärung geben zu können.« (Christen 1974, S. 39) »Wenn sich, nach der Vorstellung von Dalton, zwei Elemente miteinander verbinden, dann finden sich in jedem ›Verbundatom‹ die Atome der einzelnen Elemente in einem bestimmten, einfachen Zahlenverhältnis zusammen […] Wenn man dem Atom eines jeden Elements ein bestimmtes Gewicht zuordnen kann, dann müssen sich die Elemente, wenn sie eine chemische Verbindung eingehen, in ganz bestimmten Gewichtsverhältnissen miteinander vereinigen.« (Haber 1966, S. 29)
Für das Verständnis der neuen Qualität der Primal hypothesis Janovs ist dieser kleine Exkurs zur Herausbildung des modernen Atombegriffs vor allem in zweierlei Hinsicht interessant: Im Sinne eines ersten Gesichtspunkts ist die Vorgehensweise, die sich in Bezug auf die Entwicklung der Wissenschaft als fruchtbar erweist, so zu charakterisieren, dass man das »Stoffliche«, d. h. den realempirischen Gegenstand (als die Ebene, von der man ausgeht) ernst nimmt als eine Wahrheitsmanifestation (das Mittelalter, so hieß es, »ging mehr den geistigen Dingen nach« und hatte nicht dieses besondere Interesse daran, die Natur der Materie zu klären), gleichzeitig aber den Mut hat, tief in die ideelle Bestimmtheit dieses Gegenstandes einzudringen und gerade darin das Haltbare zu suchen, das das Vordergründig-Einleuchtende nicht zu geben vermag. So lässt sich 126 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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der Weg zum modernen Atombegriff charakterisieren als ein Rückzug der Gegenstandskonzeption aus allen seinen Manifestationen. Der logisch erste, der entscheidende Schritt zur wissenschaftlichen Betrachtungsweise besteht in einer sehr radikalen Unterscheidung der »Sache selbst« – der Bedeutungsebene des Gegenstandes – von der Bedeutungsebene aller ihrer Manifestationen; er besteht in einer bestimmten Weise der Loslösung des abstrakter oder ideeller gedachten Sachverhalts von den Weisen, wie er anschaulich fassbar wird: Erst wenn ich aufhöre, mir die Atome oder Elemente (das, woraus Stoffe bestehen, als was Stoffe anzusehen sind) als »erdig« usw. vorzustellen, sondern diese Bestimmungen als Art des Gegenstandes, sich zu manifestieren, begreife, komme ich der modernen Atomauffassung näher. Die Sache selbst ist nicht »allzu identisch« mit ihren Manifestationen. Aber gerade mit dieser Loslösung beginnt sich die Tür zu öffnen, wie sich die »Sache selbst« aus der Art, sich zu manifestieren, begreifen lässt. Diese »Sache selbst« ist auf einer anderen logischen Bestimmtheitsstufe anzusiedeln als ihre Manifestationen, und so wird der »Stoff« der Ausgangssituation durch eine spezifische Methode seiner Negation auf eine neue Dimension hin erschlossen, die er als eine Art von Metaimplikat enthält: Die Idee vom Stoff im Sinne der Atomhypothese, und dieser neue Stoffbegriff, über oder hinter den stofflichen Manifestationen stehend, ist es, der »Materie« als das Gesetz des Zusammenhangs aller materieller Manifestationen erkennbar macht. 9 Die der Beobachtung zugänglichen Manifestationen der Sache selbst werden also im Sinne einer abstrakteren, ideelleren Struktur gedeutet. Hier beginnt der zweite Gesichtspunkt zu greifen, indem das Abstrakterwerden im Sinne der Negation des Gegebenen der Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle der sog. Modellvorstellungen in der Naturwissenschaft: Dass damit kein Rückfall auf die Vorstellungsebene gemeint sein kann, geht daraus hervor, dass jene Modelle, Paradigmen oder »Ideale der Naturordnung«, die sich nach Toulmin im Kern einer jeden erklärenden Theorie befinden und das »Herzstück der Naturwissenschaft« (Toulmin 1968, S. 47) ausmachen, wissenschaftlich umso effizienter sind, je weiter sie von der konkreten Vorstellung entfernt sind; diese leistungsfähigen Vorstellungen von der Naturordnung (z. B. das Ideal der natürlichen Bewegung, das den Kern der Newtonschen Theorie bildet) sind »völlig abstrakt: Kein wirklicher Körper befindet sich jemals in diesem Zustand. Für Newton ist diese Art von Bewegung – ein Körper, der sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit auf einer euklidischen Geraden bewegt – eine Bewegung, die selbstverständlich, einfach und keines Kommentars bedürftig wäre – wenn sie jemals vorkäme.« (a. a. O., S. 67 f., Hervorhebung B. V.)
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Ausgangsebene – nicht irgendwie, sondern in ganz bestimmter Weise, mit Hilfe einer charakteristischen Methode geschieht, nämlich der Anwendung des Zählens und Messens auf die Beobachtungsdaten. Boyle, Lavoisier, Dalton und Avogadro haben die Methode der Anwendung des Zahlenbegriffs auf die Beobachtungsdaten präzisiert. Die Operation »Rückzug der Gegenstandskonzeption aus allen Manifestationen des Gegenstandes« muss zusammengesehen werden mit dem Gesichtspunkt des »Hinzukommens einer neuen Methode.« Der Rückzug ist schließlich zu beschreiben als eine Methode, die Sache selbst zu verfolgen, ohne sie in einer ungeeigneten, vom wissenschaftlichen Weg wegführenden Weise mit einer ihrer Erscheinungsformen zu kontaminieren – was jedoch keineswegs bedeutet, auf diese Manifestationsweisen als unwesentlich zu verzichten: Vielmehr geht es gerade um das lückenlose Verfolgen der Verbindung der auf einer höheren logischen Ebene angesetzten »Sache selbst« mit ihren Manifestationen, d. h. um das Gesetz, wie die Sache – als von den Manifestationen losgelöst – sich in ihren vielen Manifestationsweisen gleich bleibt, erhält, so dass es notwendig immer dieselbe Sache ist, die in allen Manifestationen erscheint. Man hat also hier – wie bei Janov – einmal »die Sache« als nicht alles dieses (als Grund von allem); und was sich von der Sache fassen lässt (die Objektebene, insofern sie »wahr«, d. h. Ausdruck der Verbindung zu ihrer Metaebene ist), nämlich das Gesetz, das begründet, inwiefern es ein Identisches ist, das sich in den vielen Erscheinungsformen manifestiert. Die wissenschaftliche Methode – so könnte man, von der großen Erklärungskraft des Atombegriffs beeindruckt, einmal sagen – bedeutet demnach das Zustandebringen eines Dialogs mit der Sache selbst im Sinne der Metaebene im Umgang mit entsprechenden Gegebenheiten im Sinne der Objektebene – ein gut getroffenes In-Verbindung-Bringen des Sichtbaren mit genau jenem Unsichtbaren, mit dem es eine wirksame Einheit bildet. Die Herausbildung des Atombegriffs macht eine sehr fundamentale Struktur des wissenschaftlichen Wissens deutlich: Wissenschaftliches Wissen expliziert eine ausgezeichnete Einheit bzw. Identität, derart, dass eine Vielheit durch ein In-Beziehung-Bringen der Vielheit auf jene Einheit, die den entsprechend höheren logischen Status hat, als »viele von derselben Art von Einheit«, als »viele in der Form eines durchgehend gesetzmäßigen Zusammenhangs«, begreifbar wird (im Hintergrund ist die Kantsche Formulierung zu hören: 128 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
»Objekt ist aber das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.« Vgl. Kant, K.d.r.V., B 137). D. h., die neue Einheitsebene mit höherem logischem Status, die herangezogen werden muss, um Gegebenheiten im Sinne der entsprechend niedrigeren logischen Ebene als Ausdruck dieser Einheit deuten zu können, ist in der wissenschaftlichen Erfahrung die Ebene der Theorie (Kant: des Verstandes als Ort der Begriffe). So begreifen wir eben aufgrund des Atombegriffs die uns zugänglichen Manifestationen als die gesetzmäßig zusammenhängende Ausdrucksreihe eines Selben (wie, noch einmal auf der Ebene der Theorie, als Periodensystem der Elemente dargestellt). M. a. W.: Ihre große Kraft entfaltet die Atomtheorie, insofern sie als eine einzelwissenschaftliche Theorie zugleich als Paradigma der naturwissenschaftlichen Methodologie fungiert: Die Atomtheorie ist Ausdruck der grundlegenden Einheitsform der Physik, der Einheitsform der naturwissenschaftlichen Methodologie, der Einheitsform der empiristischen Erfahrung. Kann nun in der grundlegenden Figur der Bedeutungskonstitution der Janovschen Begriffe – als Ausdruck der primärtherapeutischen Gegenstandsauffassung – eine gewisse Übereinstimmung mit der grundlegenden Struktur der wissenschaftlichen Erfahrung festgestellt und eine etwa anfangs angesichts des Janovschen Standpunkts aufgetretene Befremdung gemildert werden, so bildet diese festgestellte Verwandtschaft doch auch gleichzeitig den Ausgangspunkt dafür, die profunde Differenz, die sich hier auftut, zu verdeutlichen und damit einen ersten Begriff davon zu gewinnen, was alles in Bewegung kommt, wenn konstatiert werden muss, dass sich die primärtherapeutische Bedeutung bewegt. Diese Differenz der primärtherapeutischen und der klassisch-naturwissenschaftlichen Weise, Erkenntnis als eine Form von Einheit durch das Zusammenwirken einer Objekt- und einer Metaebene zu explizieren, sei an dieser Stelle nur von zwei Gesichtspunkten her charakterisiert, die beide den besonders radikal umfassenden Charakter der Objektebenen-Metaebenen-Beziehung der primärtherapeutischen Konzeption betreffen: Erster Gesichtspunkt: Die klassisch-wissenschaftliche Metaebenen-Objektebenen-Beziehung ist nicht so zu denken, dass sie gewissermaßen »alles« erfasst und einbezieht, was für ihr Zustandekommen eine Rolle spielt; vielmehr kommt sie zustande im Rahmen von Verhältnissen, die mit ihrem Zustandekommen polarisiert und von 129 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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einer grundlegenden Gespaltenheit geprägt werden. Dieses allgemeine Charakteristikum der Spaltung als »durch die bloße Existenz der klassischen Wissenschaft« bedingt (vgl. Prigogine & Stegers 1980, S. 19), das etwa von Isaiah Berlin als »Schisma zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften« beschrieben wurde (vgl. dies. 1980, S. 20), tritt in der Psychologie als die grundlegende Spaltung zwischen mentalistischen und physikalistischen Theoriestrukturen auf. Wenn nun die durch die Primärtherapie hergestellte Metaebenen- Objektebenenbeziehung von der Art sein soll, dass sie die mit der klassisch-wissenschaftlichen Beziehung notwendig gesetzte logische Kluft zwischen mentalistischen und physikalistischen Theorieansätzen überwindet – wie Janov behauptet und in der Handhabung der Begriffsbedeutungen zum Ausdruck bringt –, dann wird in der primärtherapeutischen Erfahrung alles, das Ganze dessen, was für die klassisch-wissenschaftliche Metaebenen-Objektebenenbeziehung eine Rolle spielt, akut; (also auch jene Verhältnisse, die sie mitprägt, indem sie sich aus ihnen herauskristallisiert, die aber in die so funktionsfähig gemachte Erkenntnisbeziehung nicht eingehen und von der naturwissenschaftlichen Methodologie nicht berücksichtigt werden). M. a. W.: Es muss einleuchten, dass die Veränderung der logischen Situation durch die Primärtherapie nicht innerhalb der bestehenden Methodologie begriffen und dargestellt werden kann, dass diese, umgekehrt, nur begriffen werden kann als eine Veränderung der wissenschaftlichen Methode insgesamt. Zweiter Gesichtspunkt: Zum nämlichen Fazit führt die Bestandsaufnahme der logischen Besonderheiten der Janovschen Aussageweise: Die Janovschen Begriffsbedeutungen stellen einen Sachverhalt dar, der sich »bewegt«. Indem Erkenntnis ohne Bewegung nicht gedacht werden kann und Erkenntnisinhalte ohne eine Bewegung des Standpunkts nicht zum Ausdruck gebracht werden können – so dass der Standpunktwechsel zunächst wieder als ein »normales Phänomen« zu betrachten ist –, so bewegt sich der primärtherapeutische Standpunkt doch in einer Weise, die den Rahmen, in dem Bewegung normalerweise stattfindet, unwiderruflich sprengt. Bewegung, wie sie im Rahmen der wissenschaftlichen Erkenntnis gedacht wird, lässt sich ganz allgemein so charakterisieren, dass die Bewegung, wie man es auch wendet, der Sache, um die es geht, äußerlich bleibt. Anders ausgedrückt: Bewegung wird bezogen auf einen Rahmen, der selbst als unbeweglich gedacht wird. 130 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
Gesetzt den Fall, dass ein bewegter Gegenstand erfasst werden soll, wie etwa ein Wurf in der klassischen Mechanik, so wird dieser bestimmte Bewegungsablauf in beliebige Zeitabschnitte zerlegt und anhand dieser nach ihren Parametern erfasst (z. B. Geschwindigkeit, Erdanziehungskraft, Erhebungswinkel). Aus diesen Erhebungen entwirft man dann ein Modell dieses Vorgangs, so, dass – im Rahmen der Parameter – alle Möglichkeiten erfasst werden (also auch die über die tatsächlich beobachteten Bewegungen hinausgehenden Möglichkeiten). Bewegung wird gedacht als eine Reihe von verschiedenen Bestimmtheiten (errechneten Werten), die auf ein Ganzes bezogen werden, das in Bezug auf diese Wertereihe unverändert bleibt: die sich in der Beschreibung der Wurflinie gleichbleibende, gemäß dem Wurfmodell erfasste Sache. Bewegung wird im Rahmen einer Nicht-Bewegung als Beziehung einer Reihe von veränderten Bestimmungen auf eine unveränderte Bestimmung gedacht; die Erfassung der Bewegung geschieht relativ zu einer dabei sich gleichbleibenden Operation ihrer Erfassung: Bewegung spielt sich an einem Objekt ab, das sich in der Reihe veränderter Bestimmungen gleich bleibt, und das bedeutet, dass sich das (den speziellen Bewegungsmodellen zugrunde liegende) Objektschema gleich bleibt, so dass also dasjenige, was sich im wissenschaftlichen Erkenntnisakt (d. h. dem Erfassen von Bewegung) nicht verändert, als das Schema des Verhältnisses der beiden Pole der Erkenntnisbeziehung zu bestimmen ist. M. a. W.: Was sich nicht ändert, wenn »Bewegung« im Sinne der wissenschaftlichen Erkenntnis gedacht wird, ist die für sie charakteristische Objektebenen-Metaebenenbeziehung, so dass gesagt werden kann: Gleichgültig, ob der Gegenstand nun als »bewegt« oder als »nicht bewegt« gedacht wird: das spielt für die Art der explizierten Gegenständlichkeit – für die Art, wie die vielen Manifestationen durch Beziehung auf eine bestimmte, logische höhere Einheit als Ausdrucksformen einer Einheit gedacht werden – keine Rolle. Auf der Ebene der Wissenschaftssprache ist diese für die klassisch-wissenschaftliche Methode zu fordernde Konstanz des Objektebenen-Metaebenenverhältnisses im Postulat der Widerspruchsfreiheit ausgedrückt. Erst indem die Äußerungen Janovs gegen diese Grundregel verstoßen wird deutlich, dass man, um der Bewegung des primärtherapeutischen Prozesses als dem Gegenstand einer Wissenschaft der Primärtherapie denkend zu folgen, vor der Aufgabe steht, BEWEGUNG als VERÄNDERUNG des klassischen Objektebe131 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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nen-Metaebenen-Verhältnisses zu denken, welch letzteres auch für die Herausbildung des Atombegriffs und darin für die naturwissenschaftliche Methodologie bis heute – trotz der aufregenden Perspektiven der modernen Physik – maßgebend bleibt. Der Gegenstand der Primärtherapie bewegt sich mehr, als dies einem wissenschaftlichen Gegenstand normalerweise erlaubt ist. Diese Bewegung zu rechtfertigen, erfordert eine Theorie, die eine Veränderung der gesamten wissenschaftlichen Methodologie als eine rationale Implikation derselben darzustellen vermag. Wenn also das Problem der logischen Verbindung von aufgrund verschiedener Forschungsmethoden gewonnener Daten: der psychischen und physischen Sinnkomponenten, bei Janov entfällt – indem sie ja nicht in dem Sinn verbunden werden, in dem sie in der bisherigen Psychologie getrennt gehandhabt werden –, so entsteht damit das neue Problem, eine Theorie zu finden, die die logische Gesetzmäßigkeit der Bewegung der primärtherapeutischen »totalen Bedeutung« zu begreifen gestattet; und diese Theorie kann nur in einem größeren Rahmen funktionieren, der dieselbe als Ausdruck einer ganz neuen Form von wissenschaftlicher Methode, eines gegenüber dem traditionellen Wissenschaftsbegriff in allen Punkten charakteristisch veränderten, neuen Wissenschaftsbegriffs, explizierbar macht. Erst in Bezug auf ein solcherart verändertes Verständnis des gesamten forschungslogischen Rahmens kann aufgewiesen werden, wie die »psychophysische Verbundenheit« in der Primärtherapie empirisch zustande kommen kann, indem sie aufgrund des die Primärtheorie leitenden, erweiterten Verständnisses der wissenschaftlichen Methode logisch vorausgesetzt wird, so dass, bezogen auf eine solche neue forschungslogische Rahmentheorie, die These der psychophysischen Verbundenheit ein analytischer Satz ist – und das Problem besteht eben darin, die logische Möglichkeit einer solchen Voraussetzung zu klären, um etwas von dem ganz Neuen der Primärtherapie: der Entdeckung eines Sachverhaltes, der sich bewegt, von der Vernunft her mitvollziehen zu können. 10 Die Bestandsaufnahme sei durch die Feststellung ergänzt, dass in der neuen, durch die Primärtherapie korrigierten Form der Objektebene die Sinnkomponenten ihre Bezogenheit auf jene Metaebene dauerhaft beibehalten, indem sie sich verändern; sie verlieren ihre festen Umrisse und gewinnen, was Janov mit dem Ausdruck »Fluidität« beschreibt. Die Charakterisierung der neuen Verfassung der Verbundenheit als »fluide« ist in den Janovschen Äußerungen sehr komplex: Sie gilt als Beschreibung
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Probleme und Erfordernisse
1.1.2.3.2. Die primärtherapeutische Begriffsbedeutung und die primärtherapeutische »Methodologie« Die bisherige Darstellung der besonderen Kollision Janovs mit den bestehenden psychologischen Theorien in inhaltlicher und formaler Hinsicht sollte vor allem das Problem verdeutlichen, die Primärtherapie innerhalb des bestehenden Rahmens der wissenschaftlichen Psychologie zu begreifen: Die veränderte Aussageweise Janovs erfordert offensichtlich ein besonderes logisches Analyseverfahren, das jene Merkmale, die eine normale Form der logischen Strukturierung verhindern, auf ihre wissenschaftlich-methodologischen Implikationen hin zu prüfen imstande ist. Gleichzeitig sollte die Darstellung des wissenschaftlichen Problemstatus der Primärtherapie – als zunächst einem negativen Befund – dazu führen, die Suche nach neuen logischen Mitteln, um die in den Janovschen Äußerungen tatsächlich vollzogene logische Kohärenzform zu klären und auf die vom Konsens der Forschergemeinschaft getragene Wissenschaftsauffassung zu beziehen, als vernünftig zu befürworten. Zum Abschluss dieser ersten Befunderhebung soll die bisher (vor allem an der Art der Janovschen Bedeutungskonstitution der Begriffe) aufgezeigte Figur: wie die neue, primärtherapeutische Bedeutung in der Beziehung zu einer normalen Konzeption über einen spezifischen Prozess der Abhebung oder Negation entwickelt wird, derart, dass sich eine anfängliche Übereinstimmung bis zu einem Widerspruchsverhältnis steigert, noch einmal speziell an den Äußerungen Janovs zum Wissenschaftsbegriff demonstriert werden. Wie bei der Einführung und Erläuterung seiner Begriffe beginnt Janov die Kommunikation seiner Entdeckung in seinem Erstwerk: »The Primal Scream«, mit dem Paukenschlag folgender Eröffnung: »A theory is the meaning we give a certain observed sequence of reality. The closer the theory meets this reality, the more valid the theory. A valid theory
der postprimären Persönlichkeit: »There will be a fluidity in those personalities […]« (Janov 1980, S. 8); als Beschreibung des richtigen Verständnisses einzelner Begriffsbedeutungen: »Real needs flow from inside out« (Janov 1973b, S. 148); der richtigen Erlebnisweise: »Inner liberation, then, must always flow from inside out« (Janov 1973a, S. 105) sowie in der Betonung der Notwendigkeit dessen, was Janov mit »fluid access« bezeichnet (etwa Janov 1975, S. 18, 49, 98, 99), bis zur Charakterisierung der richtigen Art der Theoriebildung: »Theory should flow from observation« (Janov 1970, S. 394. Vgl. außerdem: Janov 1970, S. 24, S. 228 f.; 1973a, S. 158).
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is one that enables us to make predictions because it fits the nature of what is being observed.« (Janov 1970, S. 19) »Predictability, that cornerstone of a valid theoretical approach […]« (Janov 1970, S. 20) »All neuroses stem from the same specific cause and respond to the same specific treatment.« (ebd.) »When I say that neurosis is the symbolic acting out of covered feelings and that we can eliminate neurosis by uncovering feelings, and when we uncover feelings and consistently and predictably eliminate neurotic acting out, we are validating our hypothesis. I think that the reason that we have come to adopt so many psychological approaches to neurosis is that we have not set up predictive theories.« (Janov 1970, S. 394; vgl. ebenda die auf S. 58 zitierte Stelle.) »Science is the search for truth, which does not preclude finding it. Too often we in the social sciences have been content with statistical truth rather than human ones, piling up cases to ›prove‹ our point when, it seems to me, scientific truth ultimately rests on predictability – to make a cure happen, not simply to build theoretical rationales to explain later why someone improved in this therapy or that.« (Janov 1970, S. 395)
Hier dominiert die klassische Auffassung wissenschaftlicher Theorien – trotz leiser Vorbehalte, die sich aufgrund schwer bestimmbarer Bedeutungsnuancen von verwendeten Begriffen (z. B. in dem Ausdruck: »to make a cure happen«) sowie der Unbestimmtheit von Ausdrücken (z. B. der Angabe von »to uncover feelings« als Ausdruck für eine präzise, experimentelle Handlung) eingestellt haben mögen. Ebenso expliziert Janov in der folgenden Textstelle die Primärtherapie frappierend eindeutig in allen wesentlichen Punkten als eine klassische Wissenschaft: »There are two components of Primal theory that make it truly a science. The first is replicability, the crucial concept in any science. Primal Therapy methods are replicable in the hands of any competent Primal Therapist who can produce Primals and cures consistently. In the hands of a neurotic, these methods are useless and even dangerous to that patient. The second component is predictability. Prediction is what counts – predicting behavior and cure […] Prediction is the cornerstone of sciene, and it is only when we understand the laws of development of neurosis that we can predict. Perhaps, being humans, we like to think of ourselves as more intricate, less predictable than physical phenomena such as electricity. But we are, among other things, electrical and chemical matter and are subject to physical laws […] It should be no less true when a statement is made that feeling inner Pains dispels tension and its symptoms, and such occurs time after time in predictable order […] (Hier ist die entsprechende, auf S. 8 f. zitierte Stelle einzufügen, B. V.) Valid scientific hypotheses drive out invalid ones. Given two hypotheses, if one is more
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comprehensive, less symbolic, and can lay bare the fundamental structure of the phenomenon observed, than that hypothesis will be more powerful. That hypothesis must be testable. And it must be part of a theory that generates other testable hypotheses. This is a central point. A good theory is a simple one. It should explain a broad range of facts with a minimum number of hypotheses.« (Janov 1973a, S. 28 f.)
Die Primal hypothesis bringt beobachtete Daten in einen optimal kohärenten Zusammenhang; sie ist Teil einer Theorie, die die Beobachtungsdaten erklärt; Wiederholbarkeit und Voraussagbarkeit des primärtherapeutischen Experiments validieren die primärtherapeutische Hypothese; sie trägt dem Gesetz der Parsimonität Rechnung, indem sie eine sehr große Zahl von Fakten mit einer minimalen Anzahl von Annahmen integriert. Aber was erfährt man näherhin über das Gesetz, die universelle Aussage, die die spezifische Ursache der Neurose expliziert? »Psychotherapy, by and large has thus far dealt with interpretation. This suggests that psychologists are holders of some special body of truth about human existence. Not only I think no such universal truth exist, but I do not think there are special truths one person can bestow on another. Psychological problems, in my estimation, can be solved only from the inside out, not from the outside in. No one can tell another what the meanings of his acts are.« (Janov 1970, S. 390; vgl. dazu ebenso alle Zitate auf S. 56)
Der klassische Aufbau von Theorien stellt sich für die Primärtherapie dann heraus, wenn man die Janovsche Aussageweise hinnimmt, also etwa den Ausdruck: »to uncover feelings«, als Beschreibung einer experimentellen Operation und: »to eliminate neurotic acting out«, als Beschreibung eines beobachtbaren experimentellen Resultats. Diese Form, den primärtherapeutischen Gehalt darzubieten, hat jedoch etwas von der Qualität des trojanischen Pferdes: In der Tat hat man damit in den Bereich der wissenschaftlichen Wissensform genau dasjenige eingelassen, was den Sinn der klassischen Wissenschaftsauffassung – wenn nicht destruiert, so doch bis zu seiner Umkehrung verändert. »Because any theory which ignores Primal Pains ignores a basic truth in the patient – it ignores the causes for neurosis. One cannot ignore it and develop a valid theory. What is valid is the truth for the patient and no one else. Primal theory has validity because it does not attempt to imply what drives a specific neurosis. Only a person who experiences a Primal can say what it does. Primal theory simply says that the only validity is in experience. The only psychologic truth is experienced truth. Anything else is open to interpretation and
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therefore falsification and misinterpretation. Interpretation by a therapist about a patient’s thoughts and feelings is ideation about ideation. […] So long as a therapist himself has blocked consciousness, his interpretation must in some way be derivative of his own Pains, and his views about his patient must remain unobjective.« (Janov 1973a, S. 27) »Schisms can occur so easily in our field because thoughts have not been anchored into and derived from the inner reality of our patients. Even though we might all agree that it is the reality we are dealing with, we have somehow lost sight of the fact and have relied instead on our interpretations of the patient’s reality. We decide, what is real for him, what he might be feeling, why he behaves the way he does.« (Janov 1973a, S. 30) »People become homosexual for idiosyncratic reasons […] The reason for the homosexuality in a person will be discovered only by him. In the same way we can see how ridiculous it is to discuss the dynamics of the overeater […] Out of the welter of human experience, how can a therapist ever know what produced heroin addiction or homosexuality? The question is wrong. A therapist can’t. How can we measure the valence of a particular early experience in terms of its effect on later neurotic symptom? We can’t. But a patient who feels that experience will know how important it was.« (Janov 1973a, S. 31)
Zuerst sagte Janov: Es gibt ein universelles Gesetz, das für alles (neurotische) Verhalten gilt, das im naturwissenschaftlichen Sinne präzise und spezifisch, d. h. im Sinne der empiristischen Wissenschaft gehaltvoll ist (»there is a set of laws governing human behavior […] which is every bit as precise as the laws of physical sciences«) und das Verhalten voraussagbar macht (»predicting behavior«). Wenn Janov also davon spricht, dass die Gesetze der Neurose und Psychose und allgemein des menschlichen Verhaltens spezifisch sind, dann meint er an diesen Stellen gerade nicht, dass sie »idiosynkratisch«, »subjektiv« und »individuell« seien; »spezifisch« heißt hier: sie sind wissenschaftlich spezifizierbar, objektiv aufweisbar und daher allgemeingültig im Sinne einer naturwissenschaftlichen Gesetzeshypothese (Janov bezieht sich an diesen Stellen auf die Newtonsche Physik und auf die Elektrizitätslehre). Dann aber nennt Janov seine Theorie valide, weil sie gerade nicht versucht, die Ursache der Neurose im bisherigen Sinne wissenschaftlich festzustellen, indem ihrer Auffassung nach eine Fragestellung von der Art: »Was ist die Ursache dieser bestimmten Neurose (dieser sexuellen Perversion des Patienten X)?«, gerade sinnlos ist (»the question is wrong«). Es gibt so viele Ursachen für Neurose als es neurotische Menschen gibt. Hier sind also die Ur-
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sachen der Neurose »spezifisch« im Sinne von »individuell«, »subjektiv«, »idiosynkratisch«. Die nämliche Umkehrung der Bedeutung methodologischer Standards liegt vor, wenn Janov mahnt, wir sollten uns doch nicht gegen die Perspektive einer Regelhaftigkeit des Verhaltens im Sinne von »physical laws« stellen (Janov 1973a, S. 28 f., hier zitiert auf S. 134); wie auch an manchen anderen Stellen ist die Argumentation Janovs hier der von B. F. Skinner überraschend ähnlich) – um dann aber zu betonen, dass kein universelles Gesetz existiere (die Ursachen der Neurose also spezifisch individuell seien) und dass es, vor allem, keine »speziellen Wahrheiten« gebe, die eine Person einer anderen vermitteln könne (»I do not think there are special truths, one person can bestow on another«): Das Verb »to bestow« (auch übersetzbar als »anwenden auf«) ist dazu geeignet, gerade die naturwissenschaftliche Weise der Erklärung von Ereignissen durch universelle Gesetze zu vertreten, indem allgemeine Gesetze und Modelle auf einen konkreten Fall angewendet, d. h. von außen an ihn herangetragen werden; nach diesem Schema macht etwa (wie Janov die Struktur der konventionellen Therapien einschätzt) 11 ein Psychotherapeut einen Deutungsvorschlag für ein bestimmtes Verhalten; und es ist dieses Schema einer »physical-lawErklärung« (und dieses wiederum nur als der Ausdruck einer noch fundamentaleren Struktur der naturwissenschaftlichen Methodologie), das Janov ablehnt, wenn er sagt: »I do not think that there are special truths one person can bestow on another.«
Diese Diskordanz der Janovschen Verwendung der Konnotationen des Wissenschaftsbegriffs: dass er mit ihnen auf frappierende Weise übereinstimmt – nachdem er deren Bedeutung »total herumgedreht« hat –, prägt die gesamten Äußerungen Janovs und ist auch in solchen Äußerungen zu erspüren, die für sich genommen auf jeweils einer Seite der »subjektiven« oder der »objektiven« Methode zu stehen scheinen: Zum Thema der psychoanalytischen Deutung als Moment einer Theorieprüfung im Sinne des kritisch-rationalistischen Wissenschaftskonzeptes vgl. Thomae & Kächele 1973, S. 226 ff.; ebenso Lorenzers Diskussion der Möglichkeit einer Fassung der psychoanalytischen Erklärung im Sinne des deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells bzw. dem Hempel-Oppenheim-Schema der wissenschaftlichen Erklärung, Lorenzer 1974, S. 24 ff.; S. 85 ff.
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»The only psychologic truth is experienced truth.« (Janov 1973a, S. 27)
Man muss sich den Widerspruch, den diese Aussage impliziert, vor Augen führen: »Psychologic truth« heißt – aufgrund zahlreicher Äußerungen Janovs –: wissenschaftliche Wahrheit im Sinne des empiristischen Wahrheitsbegriffs der Naturwissenschaften; »subjektives Erleben« ist aber gerade dasjenige, was keinen bestimmbaren Platz innerhalb der geltenden wissenschaftlichen Methodologie hat; die Daten des subjektiven Erlebens müssen in ihrem Rahmen als Grundlage der Beantwortung der Geltungsfrage verworfen werden, und »Erleben« ist für eine empiristische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie das Unbestimmbare, das einen paradoxen Grenzstatus innehat. 12 So gesehen bedeutet der Satz: »The only psychologic truth is experienced truth«, eine contradictio in adjecto. Ebenso verharrt der Abschluss der genannten Textstelle (Janov 1973a, S. 27, zitiert auf S. 136) in dieser Diskordanz: »So long as the therapist himself has blocked consciousness […]« Diese einzelwissenschaftlich formulierte Wendung impliziert die primärtherapeutische Ergänzung der klassischen Wissenschaftsauffassung, die deren Ordnung jedoch in eigentümlicher Weise umkehrt; die Bemerkung wäre, ihrem wissenschaftstheoretischen Gewicht nach, etwa so zu paraphrasieren: Solange der Therapeut nicht FÜHLT und damit als psychologischer Forscher nicht angemessen begriffen und berücksichtigt hat, was »FÜHLEN« im Sinne der Primärtherapie heißt (so dass FÜHLEN eine Methode systematischer Wissensgewinnung darstellt), »his views about his patients remain unobjective.« – Solange es der Psychologie nicht gelingt: Subjektivität, subjektives Erleben, angemessen zu berücksichtigen und als relevant in die wissenschaftliche Methodologie zu integrieren, kann sie nicht zu objektiver Erkenntnis gelangen, kann sie sich nicht am Ideal des naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs orientieren und damit nicht sein, was sie sein muss: eine echte Wissenschaft. Indem sich das primärtherapeutische Konzept der Wissenschaftlichkeit – entsprechend der Situation der Begriffsbedeutungen – als recht verwickelt herausstellt, so dass eine Übereinstimmung mit dem geltenden Wissenschaftsbegriff festzustellen ist, die jedoch eine bis zum Widerspruch gesteigerte Differenz in sich aufgenommen hat, kann es Zum paradoxen Status der Daten des direkten Erlebens vgl. die Ausführungen weiter unten, Kap. 1.2.1.1.2.
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nicht verwundern, dass auch alle wesentlichen Teilkonzepte der wissenschaftlichen Methodologie: die Rolle von Beobachtung und Beschreibung; das Verhältnis von Theorie und Beobachtung; Probleme der wissenschaftlichen Erklärung und Voraussage; Fragen der Bestätigung bzw. kritischen Prüfung sowie schließlich der Wahrheitsbegriff, dieselbe Behandlung erfahren und von Janov sowohl in Annäherung an den grundlegenden Konsens – bis hin zu einer Äquivalenz – als auch in einer bis zur Widersprüchlichkeit gesteigerten Abhebung von diesem charakterisiert werden. Das sei nun in Bezug auf die einzelnen Punkte kurz dargestellt. (1) Indem einerseits die Rolle von Beobachtung und Beschreibung sowie das Verhältnis von Theorie und Beobachtung in Übereinstimmung mit der bestehenden Wissenschaftsauffassung expliziert wird (vgl. vor allem Janov 1970, S. 19 f.; 1973a, S. 29), wird andererseits die normale Auffassung von Beobachtung und Beschreibung von Janov angegriffen (vgl. Janov 1973a, S. 21 f., zitiert auf S. 60 f., sowie die dort nur genannte, nachfolgend angeführte Textstelle): »I find it unfortunate that psychologists have spent so much time refining their descriptions of human behavior […] in the belief that such refinement will lead to answers about human behavior. But descriptions are not answers. They do not explain why; no matter how detailed the description, it brings us not one step closer to an answer.« (Janov 1970, S. 390)
Zu dem, worum es in der Primärtherapie geht, hat direkte Beobachtung allein und für sich genommen keinen Zugang: »No behavior is neurotic in and of itself. One can eat due to neurosis or not. We can only define a behavior as neurotic when it is taken in total context.« (Janov 1973a, S. 24) »Clearly, neurotics and normals can behave exactly alike […] We could never tell by the behavior whether the efficiency was neurotic motivated.« (Janov 1973a, S. 37 f.) (vgl. ebenso die Beurteilung des Therapieerfolgs der konventionellen Therapien: Janov 1973a, S. 36 f.; 1975, S. 186 f.; die zuerst genannte Stelle ist hier zitiert auf S. 61 f.)
Zusammen mit der Ablehnung des an der äußeren Beobachtung orientierten behavioristischen Ansatzes (im Sinne der bereits zitierten Stelle: »The conditioning therapist […] looks at behavior and makes conlusions from his observations […]«, Janov 1973a, S. 37) wird 139 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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ebenso das klassische Wissenschaftsschema von Beobachtung und Schlussfolgerung verworfen 13 ; Schlussfolgerungen spielen im Zusammenhang der wissenschaftlichen Primärtherapie keine oder keine nennenswerte Rolle (vgl. Janov 1973a, S. 34; S. 257; ders.1975, S. 456). – Und im Rahmen der Zurückweisung von Beobachtung und Schlussfolgerung ist es nur konsequent, wenn ebenfalls der ganze wissenschaftliche Hilfsapparat der Datenerhebung: psychologische Testverfahren wie überhaupt diagnostische Klassifizierungen, als überflüssig und irreführend abgelehnt werden. 14 Das Geschäft der Datenerhebung durch die Formen wissenschaftlicher Beobachtung im klassischen Sinn entfällt; es wird im primärtherapeutischen Kontext ersetzt durch eine andere Tätigkeit, ausgedrückt durch die Forderung: »[…] to be open enough to allow the patient to tell him (the Primal Therapist, B. V.) what is real. (Janov 1970, S. 391) »[…] a patient who feels […] will know.« (Janov 1973a, S. 31) »This is no more than the position of Primals. Once the patient feels what is unconscious, there is nothing to figure out or infer.« (Janov 1973a, S. 28)
(2) Angesichts der aufgezeigten veränderten Einschätzung der Rolle von Beobachtung, Beschreibung und Schlussfolgerung stellt sich unvermeidlich die Frage, wie, bezogen auf die neue Perspektive, der andererseits von Janov herausgestellte Vorzug der Primärtheorie, Verhalten vorauszusagen (»predicting behavior and cure«, vgl. Janov 1973a, S. 29, hier zitiert auf S. 59 f.) dann noch im Sinne der Erfüllung des klassischen Wissenschaftsbegriffs aufgefasst werden kann. Dieser Schwierigkeit entsprechend sind folgende Äußerungen Janovs hinzunehmen, die die andernorts zu diesem Punkt getroffenen Stellungnahmen widerspruchsvoll beleuchten: »Neurosis is essentially stagnant, making behavior consistent in its miserable predictability […] Allowing feeling back into our lives […] brings back the
Auf das Schema: »facts and interference of facts«, als Grundschema eines empiristischen Vorgehens in der Psychologie verweist etwa Kimble 1967, S. 73 ff. 14 Zum Stichwort: »Überflüssigkeit psychologischer Testverfahren«, vgl. Janov 1970, S. 390, hier zitiert auf S. 56; ders. 1973a, S. 257; ders.1973b, S. 196; zum Stichwort: »Entbehrlichkeit diagnostischer Klassifizierungen«, vgl. Janov 1970, S. 392; ders. 1973a, S. 173. 13
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ability to change, to move, and, most importantly, to grow.« (Janov 1980, S. 72) »There is no rule about what patients become.« (Janov 1980, S. 73)
Vorhersagbarkeit, als ein neurotisches Ideal, ist nicht wünschenswert, und die durch Primärtherapie erreichten Veränderungen sind oft »total unerwartet und unvoraussagbar«: »One can see from their stories (written by patients, B. V.) how difficult it is to design a research project to predict and measure change in Primal Therapy. The kinds of changes are often totally unexpected and unpredictable.« (Janov 1973a, S. 12)
Wie kann »Vorhersage von Verhalten« auch der Eckstein einer Wissenschaft sein, die auf das Ziel ausgerichtet ist, dass der einzelne Mensch seine spezifische Wahrheit findet und darin seine Freiheit erlangt (vgl. Janov 1970, S. 395)? 15 (3) Die Fragen der kritischen Prüfung (»That hypothesis must be testable«, Janov 1973a, S. 29, hier zitiert auf S. 135 f.) verlagern sich auf den Akzent der Bestätigung (»to make a cure happen« (Janov 1970, S. 395); die Orientierung an der »Falsifikation« wird einem abzulehnenden Ansatz zugewiesen (»Anything else is open to interpretation and therefore falsification […]«, vgl. Janov 1973a, S. 27, hier zitiert auf S. 136); und das Problem der Bestätigung erübrigt sich im primärtherapeutischen Kontext: »How can we be sure we have a ›cure‹ ? How does one measure cure? Since cure involves making a person into himself, the question might well be phrased, ›How can you prove you are you?‹ No one should have to prove it, least of all Primal patients […]« (Janov 1973a, S. 35) »Deep personal experience, consciously connected, cannot be falsified. (Janov 1973a, S. 28) »Truth is the reality of experience […] No expert can contradict that feeling.« (Janov 1973a, S. 39)
In seiner charakteristischen Art geht Janov an der zuletzt angegebenen Stelle, unmittelbar nach der Erwähnung der »Freiheit« als dem Ziel der Überwindung der Neurose, wieder zur »Voraussagbarkeit« als demjenigen Merkmal über, das die Primärtherapie als wissenschaftlich auszeichnet. – Zum Stichwort: »Freiheit«, einige weitere Textstellen: 1973a, S. 229 ff., S. 270; 1973b, S. 111, S. 113, S. 140, S. 143, S. 194; 1975, S. 47 f., S. 97, 1980, S. 6, S. 66, S. 73 f., S. 243.
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(4) Und schließlich nehmen Äußerungen, in denen die Janovsche Theoriebewusstheit dominiert (etwa Janov 1970, S. 19, hier zitiert auf S. 133 f.) die bekannte Wendung dahin gehend, Theorie sei bestenfalls überflüssig – wir sollten der eigenen Erfahrung glauben (Janov 1973a, S. 28; S. 33; S. 35). Punkt um Punkt geht der alte Wissenschaftsbegriff unter, indem er einer neuen Bedeutung weicht: Nicht Beobachtung und Beschreibung sowie Erklärung und Vorhersage von Verhalten im Rahmen einer Theorie, die empirische Hypothesen kreiert, welche an der Erfahrung scheitern oder sich bewähren können, umreißen das Programm einer Wissenschaft der Primärtherapie; vielmehr bedeutet das Betreiben von Primärtherapie als Wissenschaft ein neues Unternehmen, welches die klassische Wissenschaft Schritt um Schritt kontrapunktiert – was in der folgenden Übersicht noch einmal zusammengestellt sei: Klassische Wissenschaft
Primärtherapie
Beobachtung
Der ganze normale wissenschaftliche Apparat ist überflüssig; der Wissenschaftler – Therapeut – lässt sich vom Objekt – Patient – sagen, was der Fall ist – »what is the truth«
Schlussfolgerung
Hypothesenbildung
Die durch Primärtherapie erreichte Veränderung ist unvoraussagbar; die Ergebnisse sind nicht falsifizierbar (»Deep personal experience […] cannot be falsified«, Janov 1973a, S. 28); die Theorie bedeutet, der eigenen Erfahrung zu glauben
Theoriebildung kritische Prüfung (bzw. Anwendung)
Bemühen, zu immer allgemeine- »No such universal truth exists« (Janov ren, mehr Wirklichkeit umfassen- 1970, S. 390) den Gesetzen zu gelangen Wissenschaft ist ein unabgeschlossener Prozess, dessen Resultate in einem zu bezeichnenden Rahmen Geltung haben, darüber hinaus jedoch hypothetisch bleiben; daher ist grundsätzlich ein Pluralismus von Ansätzen möglich
»To find the truth means to find the final answer […] To find the truth is to find freedom […] to eliminate neurotic choice« (Janov 1970, S. 395) »There can be but one approach […] only one cure« (Janov 1973a, S. 38)
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Probleme und Erfordernisse Der Wissenschaftler ist aktiv in der Erkenntnisbeziehung; seine Erkenntnis der Gesetze führt ihn zur Beherrschung seines Gegenstandes
Der Wissenschaftler lässt den Patienten »er selbst« sein; der Patient wird er selbst und bleibt er selbst; Kontrolle oder Manipulation sind abträglich (Janov 1973a, S. 202 f.)
Erzielung von Ergebnissen; Anwendung
»[…] feeling instead of producing goods« (Janov 1973a, S. 180) Umwertung gegenüber dem »establishment thinking«; neue Auffassung von »Normalität« (Janov 1973a, S. 98; S. 136)
Optimierung, Verbesserung, Fortschrittsidee
»There is no ›better‹ than ›you‹« (Janov 1973a, S. 38)
Fortgesetzter Wissenschaftsprozess
»But the goal of medicine should be to eliminate the doctor« (Janov 1973a, S. 40)
An die Stelle des durch die wissenschaftliche Methodologie bestimmten Verhältnisses des forschungslogischen Subjekts und des wissenschaftlichen Objekts tritt, wobei nun auch die passiv akzentuierte Mithilfe des primärtherapeutischen Forschers obsolet wird, die freie Selbstäußerung des zum Subjekt (in der einzig sinnvollen Bedeutung des Wortes) gewandelten Objekts. Damit ist eine Umkehrung der gesamten Methodologie erfolgt, die im Auftauchen des Freiheitsbegriffs ihren Ausdruck findet: »Primal Therapy is more than a new psychological theory. For in its ability to cure neurosis, it is that which men have been looking for since the beginning of time – freedom.« (Janov 1973a, S. 272) »To find the truth is to find freedom. It means to eliminate neurotic choice which is no more than rationalized anarchy. The neurotic who wants to be free to see all sides often (open?, B. V.) cannot believe that he may proceed directly to what is true – not my truth, but his. He has only to journey inside himself, which is a lot closer than India.« (Janov 1970, S. 395) 16
Die Erkenntnisbemühung der Wissenschaft um die Gesetzmäßigkeiten ihrer Gegenstände vollendet sich, indem diese völlig in das Objekt eingeht, welches sodann als Grund der zu erfassenden Gesetze – und damit in einer neuen Beziehung zu ihnen stehend – offenbar wird. Somit wäre es nicht richtig zu sagen: »Hier usurpiert das Subjekt die forschungslogische Metaebene«, denn das Subjekt, das hier an diese Stelle tritt, ist nicht das empirische Subjekt, das im Rahmen der nor16
Weitere Stellenangaben zum Stichwort »Freiheit« siehe Fußnote 15.
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malen Wissenschaftskonzeption die Objektrolle innehat. Vielmehr ist es ein Subjekt, das durch den Prozess der Primärtherapie in einem ganz neuen Sinn SUBJEKT geworden ist, sich qualitativ derart verändert hat, dass es die forschungslogische Subjekt-Objekt-Spaltung in sich aufgenommen hat. So sind im Sinne der Primärtherapie alle Beziehungen des Subjekts, welches als Patient in die Therapie eintritt – also auch diejenige, die es als Objekt zum Therapeuten als dem Vertreter des forschungslogischen Subjekts hat – als eigentlich innere Beziehungen zu erfahren: »[…] to stop communication and dialog with neurosis and create the only thing that is meaningful – an inner dialogue.« (Janov 1973a, S. 40)
Das Zugänglichwerden der »inneren Realität »in der Primärtherapie bringt die wissenschaftliche Methodologie zum Verschwinden, indem sie den Status jener logischen Metaebene hat, die in der klassischen Wissenschaft durch das forschungslogische Subjekt besetzt ist, d. h. eben genau durch die wissenschaftliche Methodologie (dazu: Janov 1973a, S. 30, hier zitiert auf S. 136). Dabei ist für die Verwendung des Terms »the inner« die nämliche Veränderung wie bei allen primärtherapeutischen Begriffen zu berücksichtigen – dass sie gewissermaßen in einer schwachen, zu korrigierenden, und in einer starken Form auftreten – wie etwa auch die »subjective data«, die als gültige Auskunft verworfen werden müssen, überholt und korrigiert werden durch jene »subjective reports«, die nicht falsifiziert werden können. Die primärtherapeutische Wissenschaftsauffassung endet jedoch nicht mit ihrer Bestimmung im Sinne des dargestellten Widerspruchsverhältnisses zur normalen Wissenschaftsauffassung; und wie sich jene in einem Prozess der Abhebung von dieser ergibt, um so etwas Neues zu erreichen, während die bekannten Strukturmomente der wissenschaftlichen Methodologie Punkt um Punkt verschwinden, so tauchen sie auch wieder auf: »And when a patient is able to feel […]« – das bedeutet auch, dass es in gewisser Weise wieder möglich wird, die alten Konzepte erneut zu verwenden: Eine Rückkehr zu dem »alten« Konzept der Beobachtung im Rahmen des primärtherapeutischen Standpunkts (Janov 1970, S. 391; 1973b, S. 100, S. 105, S. 196; 1980, S. 171) und, in einer der Veränderung angepassten Form, zum Zusammenhang von Theorie und Beobachtung (Janov 1970, S. 394; 1975, S. 438) sowie den zuvor als sinnlos abgelehnten diagnostischen Klassifizierungen (Janov 1975, S. 316) ist ebenso festzustellen wie eine verhaltene Anerkennung 144 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
der Notwendigkeit einer gewissen Trennung der Subjekt- und Objektfunktion in der Therapie: Obwohl die Therapie von selber geht und es eigentlich der Patient ist, der den Therapeuten führt und daran hindert, falsche Therapie zu machen (Janov 1975, S. 439), ist doch dazu ein »Primal expert« erforderlich, und die Durchführung der Therapie ist für den Therapeuten sehr anstrengend (Janov 1973a, S. 253). Insgesamt gehört eine »Wertschätzung der wissenschaftlichen Methodologie« zur Qualifikation eines Primärtherapeuten (Janov 1970, S. 391). Auch der recht enge Kontakt, den Janov zur Physiologie sowie zur experimentellen Forschung unterhält, ist an dieser Stelle zu nennen; wie schließlich ebenso das Phänomen der atemberaubenden Übergänge von Äußerungen, die eine extreme Entgegensetzung zur bestehenden Wissenschaftsauffassung bedeuten, zu wissenschaftskonkordanten Äußerungen – gerade so, als »wäre nichts gewesen« bzw. als sei das gute Einvernehmen mit der grundlegenden Konzeption der »Science« durch die bewegende Veränderung, die diese durch die Primärtherapie erfährt, in keiner Weise beeinträchtigt. Als Beispiel sei auf die Stelle verwiesen (Janov 1970, S. 395), wo Janov zuerst die Wahrheit der Primärtherapie im Erlangen der Freiheit erfüllt sieht (»The truth is to find freedom«), um dann, unmittelbar darauf folgend, die Wahrheit, welche die Primärtherapie als Wissenschaft sucht, als letztlich auf Vorhersagbarkeit beruhend zu charakterisieren (»Science is the search for truth […], scientific truth ultimately rests on predictability«); ferner auf jene Stelle (Janov 1973a, S. 28 f.), wo Janov, nachdem er das individuelle Erleben als gegenüber möglicher Falsifikation immun herausgestellt hat (»Deep personal experience […] cannot be falsified«), im darauf folgenden Abschnitt die Primärtherapie als eine Naturwissenschaft im klassischen Sinn einordnet (»we are, among other things, electrical and chemical matter, and are subject to physical laws«). Die Wissenschaftsauffassung Janovs unterliegt der nämlichen charakteristischen Bedeutungserweiterung, wie sie für die vom ihm verwendeten Begriffsbedeutungen festgestellt wurde: Sie entwickelt sich in der Beziehung zur bestehenden Wissenschaftsauffassung, in die sie schließlich ein ganz neues Moment einbringt, wodurch die Beziehung zur normalen Auffassung widersprüchlich akzentuiert wird. Dieses ganz neue Moment in der Janovschen Wissenschaftsauffassung bietet sich also nicht isoliert dar; es entsteht im Verlauf der Veränderung der 145 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
normalen Sinnkomponenten des geltenden Wissenschaftsbegriffs; und man kann – nachdem registriert wurde, dass die normalen Gesichtspunkte, nach ihrem Verschwinden im neuen Moment, als vom primärtherapeutischen Standpunkt aus bis zu einem gewissen Grade sinnvoll anwendbar wieder auftauchen – also sagen, dass die Verbindung zum Wissenschaftsbegriff des allgemeinen Konsens bei Janov niemals abreißt, wohl aber, entsprechend dem tiefgreifenden Auffassungswandel, der in der Widerspruchsakzentuierung zum Ausdruck kommt, neu zu bestimmen ist. Der einzige Zeuge dieses eigentümlichen Vorgangs der Veränderung und schließlich Aufhebung der normalen Wissenschaftskonzeption im primärtherapeutischen Neuen ist nun der primärtherapeutische Prozess selbst. Die Primärtherapie ist der Prozess, in welchen die normale wissenschaftliche Erkenntnisbeziehung einmündet, indem die bisherige Beziehung des in den Gesichtspunkten der methodologisch bestimmten Situation implizit fassbaren forschungslogischen Subjekts zum Patienten als dem Objekt des primärtherapeutischen Erkenntnisprozesses eine neue logische Ebene: »the inner reality of the patient«, zugänglich macht, so dass nun die Beziehung des Patienten als dem Objekt des Prozesses zu jener neuen logischen Ebene die bisherige forschungslogische Relation ablöst; die Beziehung des Subjekts im normalen Sinn zu jener (logisch höheren) SUBJEKTIVEN Ebene der »inner reality« ersetzt die forschungslogische Beziehung, und an die Stelle der bekannten Subjekt-Objekt-Relation tritt eine SUBJEKT-Subjekt-Relation (»the only thing that is meaningful – an inner dialogue«). Von dieser Beschreibung ausgehend gewinnt man vielleicht einen ersten Zugang dazu, dasjenige zu erahnen, was sich offenbar abgespielt haben muss, wenn Janov »guten wissenschaftlichen Gewissens« die wissenschaftliche Methodologie in den Selbstäußerungen seiner Patienten sowie in seinen eigenen spontan-alltagssprachlichen Äußerungen untergehen lässt. Durch den Prozess der Primärtherapie geht dieselbe ganz in das Forschungsobjekt ein, so dass hier die Äußerungen Janovs zum systematischen Charakter der Primärtherapie, ihrer Präzision und mathematisch abgezirkelten Folgerichtigkeit, in der sie den Menschen mit der Ebene der »inner reality« in Verbindung bringt, akut werden. Von den vielen Stellen, an denen sich Janov zu diesem Punkt äußert, seien hier nur einige wenige genannt:
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Probleme und Erfordernisse
»The Primal process takes patients into a realm rarely if ever seen, even in the offices of psychotherapists. It is more rarely understood. It is a systematic trip, not a random, hysterical flight, but a step-by-step, ordered journey of man into himself.« (Janov 1970, S. 97) »When we look at the Primal process, we see a sequence that is almost mathematical in its lack of variation.« (Janov 1970, S. 322) »In this way Primal Therapy is a completely natural and orderly process […] The proper sequence of the therapeutic process is all-important.« (Janov 1975, S. 195). (Vgl. ebenso Janov 1970, S. 40, S. 78, S. 94, S. 357; ders.1973a, S. 25, S. 165, S. 253; ders. 1974, S. 300, S. 303; ders.1975, S. 87 ff. – hier der Begriff »Primal chain« –, S. 438)
Durch den Prozess der Primärtherapie ist – so müsste man vermuten – die Essenz dieser wissenschaftlichen Methodologie dem Menschen derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass er nun selbst »total methodisch«, d. h. eine Art lebendige Methodologie wird und die »alte« Methodologie nunmehr folgerichtig als »human-life- in-process« weiterwirken würde. Die natürliche Weise des »processing« (»being completely oneself«, »being natural«) wären zum neuen Kompass, Wissenschaft und Leben, Theorie und Praxis im »Primal man« zu einer Einheit geworden: »I believe in the unity of theory and praxis.« (Janov 1971, S. 16)
Im primärwissenschaftlichen Sinnbegriff konvergieren dann der wissenschaftliche Sinn-Begriff und der konkrete Lebenssinn: »There is no meaning to life, only meaning: to experience, which is life in process.« (Janov 1973a, S. 177) »Meaning, in the Primal view, is articulated feeling.The more deeply one feels, the deeper the meaning of his life.« (Janov 1973a, S. 178) »Meaning is not something to be detected, not something to be discovered by wise men, not something that overrides life, but, instead, is something embedded in the life process of each of us.« (Janov 1973a, S. 179)
Der den Äußerungen Janovs zur primärtherapeutischen Wissenschaftsauffassung implizite Gedankengang sei noch einmal zusammenfassend vergegenwärtigt: Die für die Psychologie nach Janov zu fordernde Form von Wissenschaftlichkeit umfasst die bestehende Bedeutung und eine neue Bedeutung. Näherhin entsteht die neue Bedeutung in einem Prozess 147 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
der Veränderung der bestehenden Bedeutung im Sinne von deren Aufhebung. Dieser höhere Begriff von Wissenschaftlichkeit, der die bestehende Auffassung in sich zu integrieren vermag, geschieht in der Primärtherapie als ein Prozess der Hereinnahme dessen, was die Wissenschaft insgesamt ist, in den Objektpol der forschungslogischen Relation, dergestalt, dass innerhalb desselben eine neue logische Metaebene eröffnet wird, von der her nun alles, was die Wissenschaft insgesamt ist, vereinigt werden kann, also auch dasjenige, was die bisherige Wissenschaftskonzeption gerade ausschalten musste, um ihrer Definition zu genügen, so dass gesagt werden kann: Die Psychologie werde dadurch, dass sie einen Weg findet, das von der Wissenschaft normalerweise Auszuschaltende – subjektives Erleben – einzubeziehen, in den Stand gesetzt, die Kriterien einer klassischen Wissenschaft zu erfüllen. Diese Aufhebung der Wissenschaft in den Lebensvollzug des SUBJEKTIV gewordenen Subjekts impliziert so etwas wie eine Drehung der Bedeutungsachse des Sinns von Wissenschaftlichkeit um 90°, eine Art von Konversion oder Umkehrung – nicht nur des bisherigen Wissenschaftsverständnisses, sondern des Denkhintergrundes, aus dem dieses Wissenschaftsverständnis hervorgeht. Der wissenschaftstheoretisch entscheidende Punkt scheint mir dabei, dass der Übergang aller Gesichtspunkte der Wissenschaftlichkeit in den Objektpol der wissenschaftlichen Erkenntnisbeziehung geklärt werden kann: Wie ist dasjenige, was da übergeht, zu bestimmen? Wie ist die Ratio, die die strikte Einhaltung der forschungslogischen SubjektObjekt-Trennung als für die klassische Wissenschaft konstitutiv fordert, zu bestimmen, derart, dass dadurch das Wissenschaftliche an der wissenschaftlichen Methode ausdrückbar wird? Und wie kann es überhaupt als möglich dargestellt werden, dass genau dieser Ratio, dieser Wurzel der wissenschaftlichen Methode insgesamt, im primärtherapeutischen Prozess entsprochen wird? Wenn diese Ratio etwa – gemäß der vorangegangenen Erörterungen – auf den Nenner eines Objektebenen-Metaebenen-Verhältnisses gebracht wird, so müsste eine Theorie des FÜHLENS den Menschen selbst als die werdende Beziehung zu jener logischen Metaebene fassen, welche ihrerseits als so bestimmt gedacht werden müsste, dass das Objektebenen-Metaebenen-Verhältnis, das Wissenschaft im klassischen Sinn bereits bedeutet (wie die forschungslogische Subjekt-Objekt-Trennung verdeutlicht) insgesamt als ihre Objektebene fungieren würde. Diesen Fragen sei im weiteren Verlauf der Arbeit nachgegangen. 148 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
Auf alle Fälle – so viel ist bereits von der Umkehrung des Sinns von Wissenschaftlichkeit durch die Berücksichtigung der Primärtherapie ersichtlich – verlagert sich der Aufgabenschwerpunkt im Bemühen um ein wissenschaftstheoretisches Verständnis der Primal hypothesis auf das vorrangige Problem, die Bedingungen der Möglichkeit einer Hypothese wie der Janovschen darzutun. 1.1.2.3.3. Erste vorläufige Charakterisierung der logischen Struktur der Primal hypothesis sowie der logischen Ebenen, die eine weitere Klärung derselben impliziert Am Ende dieser Einführung in die Janovschen Äußerungen zur Primärtherapie sei noch einmal zusammenfassend rekapituliert, was sich also bis jetzt von der ganz neuen Qualität der primärtherapeutischen Erfahrung sowie, dementsprechend, der ganz anderen Art von wissenschaftlicher Hypothese, die in der Primal hypothesis vermutet werden muss, herausgestellt hat. (1) Der wichtigste Punkt, der sich aus der Art, wie sich Janov von allem Bestehenden abhebt – inhaltlich in seinem Anspruch und in seiner Kritik an allen bestehenden Theorieansätzen sowie an den Denkvoraussetzungen des geltenden Wissenschaftsbegriffs und formal in den besonderen Charakteristika seiner Sprache –, ergibt, scheint mir die Schlussfolgerung, dass die Primal hypothesis auf einer anderen logischen Ebene anzusiedeln ist als die bestehenden wissenschaftlichen Theorien. Die Janovsche Kritik am »Alten« bedeutet nicht eine Kritik an dieser oder jener Auffassung einer bestehenden Theorie (indem man sich dabei auf deren Standpunkt stellt), und sie bedeutet auch nicht die unsolide Behauptung, nun mit den nämlichen Mitteln dasjenige zuwege zu bringen, was jene nicht vermochten: die Überwindung der Kluft von »the mental and the physical« in einer wahrhaft wissenschaftlichen Psychologie; vielmehr bedeutet sie, positiv, den Hinweis auf die Möglichkeit, die Lösung des Grundlagenproblems der Psychologie auf einem anderen Wege zu erreichen, einem Weg, der ein radikales, »totales« Umdenken erfordert, das jedoch nicht schlagartig und sprunghaft, sondern in einem Prozess der Veränderung der bestehenden Situation in geordneten Schritten zu vollziehen ist. (Dies gilt sowohl formal-methodisch für das Umdenken in Bezug auf den Wissenschaftsbegriff wie inhaltlich-einzelwissenschaftlich als Beschreibung der Veränderung der menschlichen Verfassung in der Primärtherapie). 149 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
(2) Der wichtigste Schritt, um in die Logik dieses anderen Weges hineinzufinden, besteht, so scheint es mir, zunächst auf der ganzen Linie in einer Art von Rückschritt, einem Zurücktreten: einer vorübergehenden Loslösung (nicht einem Aufgeben) von bereits gesicherten Erfolgen, die die Psychologie in der Erfüllung klassisch-logischer Standards verbuchen konnte, ebenso wie, damit Hand in Hand, einer gewissen Lockerung jenes allzu festen Zugriffs, mit dem die psychologische Wissenschaft – nach Janovscher Auffassung – ihren Gegenstand gewissermaßen »zu Tode bestimmt« hat. Anders ausgedrückt: Im Sinne Janovs ist davon auszugehen, dass der Gegenstand der Psychologie in logischer Hinsicht noch auf eine andere Weise funktioniert, und diese neue Weise der Sache, logisch zu funktionieren, wird aktiviert durch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit von jener Ebene, die bisher im Vordergrund stand und auf die der psychologische Gegenstand durch die Art des erfolgten methodologischen Zugriffs festgelegt wurde – auf deren Metaebene; durch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit auf dasjenige, was in allen Komponenten der normalen Phänomenebene als ein-und-dasselbe verdeckt mitfunktioniert. Der Rückschritt, das vorübergehende Zurücktreten vom Standpunkt der Ausgangssituation, hat den Sinn, dem Gegenstand genau um so viel mehr Spielraum zu gewähren, wie nötig ist, damit die normale Weise des Gegenstandes zu funktionieren sich in dem Sinn verändern kann, dass ein In-Verbindung-Kommen mit der Metaebene des Funktionierens zustande kommt, derart, dass die Objektebene in ihrer Eigenschaft als Ausdruck einer Metaebene und diese als sowohl in jener wirksame als auch von jener abgehobene, gänzlich neue, eigenständige Funktionsweise hervortreten kann. Und dass dieses möglich ist: dasjenige, was zugänglich ist, als Ausdruck von etwas ganz anderem zu erfassen und so zu verwenden, dass dieses ganz andere, das bisher im Funktionieren der Objektebene völlig eingeschlossen gewesen war, nun als ein DATUM konkret erfahren wird; dies ist die neue Auskunft über die spezifische Beschaffenheit des humanwissenschaftlichen Gegenstandes, dessen Besonderheit, Janov zufolge, in der Fähigkeit zu FÜHLEN gesehen werden soll; dies ist die neue Auskunft, die zugleich das Denken über Daten, über das, was wissenschaftliche Erfahrung ist und sein kann, grundlegend verändert.
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Probleme und Erfordernisse
Mit der Aktivierung dieser Metaebene – der Metafunktionsweise des Gegenstandes – gewinnt man zweierlei auf einen Schlag: • Man gewinnt die neue Dimension der Sache; die Metafunktionsweise als eine konkrete Gegebenheit: FÜHLEN als etwas von allem (auch von dem Weg, über das es erreicht wurde) Abgehobenes: »The pure feeling in that Primal really has no words. The feeling is my real self […] The many times that this feeling is associated with specific incidents will take the patient, I think, to finally being that feeling totally and experiencing his essence […] At this point there is nothing to say and no scenes to be connected to. You are being you.« (Janov 1970, S. 98)
•
Und man gewinnt, bezogen auf die Ausgangsebene der normalen Funktionsweise, eine neue Dimension: Tiefe – oder, auf Zweidimensionalität gebracht, gegenüber der Horizontalen die Vertikale – als Ergebnis der Ebenenverbindung:
1. Bedeutung von »neu«: Die neue Funktionsebene des FÜHLENS - - - - - - - - - - Ebenendifferenz - - - - - - - - - »alte« Bedeutungsebene (Ausgangsebene der normalen Funktionsweise)
2. Bedeutung von »neu«
(3) Die neue Funktionsweise des Gegenstandes der Psychologie, die durch ein gewisses Zurücktreten vom normalwissenschaftlichen Standpunkt aus – so dass die dem Gegenstand zugehörende Metaebene ins Gesichtsfeld rücken kann – freigelegt wurde, gibt Janov durch seine veränderte Aussageweise wider: Die Bedeutungen der Begriffe bilden im primärtherapeutischen Kontext stärker eine Einheit, und das erreichen sie so, dass sie ihre festen Abgrenzungen aufgeben, also mehr ein Kontinuum mit einem psychischen und einem physischen Bedeutungspol bilden, auf dem sich die eine Bedeutung über wechselnde Nuancierungen hin und her bewegt, derart, dass Begriffe, die normalerweise einen bestimmten logischen Ort in Bezug auf die psychophysische Dichotomie markieren, ihre Plätze wechseln, von geringfügigen Verschiebungen angefangen, bis zum Platztausch von Begriffsbedeutungen, deren Sinnkomponenten einander entgegengesetzt bzw. von einer normalerweise unvereinbar großen Differenz gekennzeichnet sind. Mit dieser »Methode« bringt Janov das Verhalten einer logisch übergeordneten Begriffsbedeu-
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
tung zum Ausdruck, die aufgrund ihres Metastatus die gesamte Objektebenen-Skala der bekannten Sinnkomponenten umfasst und konkret vereinigt. (4) Die Besonderheit der Janovschen Aussageweise: das durchgängige Phänomen des Dahinfallens logischer Differenzierungen, das »Fluide-werden« der Begriffsbedeutungen, derart, dass logisch inkompatible Begriffsbestimmungen auftreten, ist als Hinweis auf einen neuen Zugang zum Gegenstand der Psychologie verständlich: Die normal zugängliche Funktionsweise des Gegenstandes wird verändert, im Sinne eines auf seine Metaebene bezogenen Funktionierens einer Ausgangsebene aufgefasst; und zwar ist der einen neuen Zugang zur Sache eröffnende Standpunkt so zu verstehen, dass von ihm aus gesehen alle für die normale Betrachtungsweise konstitutiven Differenzen – a fortiori die forschungslogische Subjekt-Objekt-Differenz, die innerhalb der psychologischen Gegenstandsauffassung in der Form jener methodologischen Schwierigkeiten bekannt ist, die unter dem Stichwort des »Leib-Seele-Problems« zusammengefasst werden – zweitrangig sind; sie fallen gewissermaßen durch die Maschen einer globaleren Hinsicht auf den Gegenstand hindurch, der in dieser globaleren Hinsicht selbst in einem größeren Umfang, nämlich als der Zusammenhang einer logischen Ebenendifferenz, erkennbar wird. Der neue, logisch höhere Ort der Primal hypothesis lässt sich auf der Landkarte des Bestehenden, so wie es ist, nicht verzeichnen; er entsteht im Rahmen der Veränderung des psychologischen Gegenstandes in der Primärtherapie. Diese muss als eine Umstrukturierung gedacht werden, die eine Veränderung an der Konstitutionsbasis des empiristischen Wissenschaftsbegriffs bedeutet. Die Veränderung des psychologischen Gegenstandes in der Primärtherapie bedeutet ja, dass, im Maße des Fortschreitens dieser Veränderung, alle Befugnisse des forschungslogischen Subjekts an das im Sinne der Metaebenenverbundenheit (»connectedness«) veränderten Objekts übergehen, so dass die klassische Subjekt-ObjektRelation durch eine SUBJEKT-Subjekt-Relation ersetzt wird. Damit wird in der Primärtherapie etwas empirisch, was normalerweise aus logischen Gründen – als zur Konstitutionsbasis der wissenschaftlichen Erkenntnis gehörend – von der realempirischen Ebene streng
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Probleme und Erfordernisse
getrennt gehalten und – das ist wesentlich für die klassisch-empiristische Wissenschaftsauffassung – nicht thematisiert wird. Nach der hier vorgeschlagenen Deutung scheint in der Primärtherapie eine Empirie-Situation vorzuliegen, die es ernötigt, den erkenntnistheoretischen Hintergrund der empiristischen Methodologie sichtbar zu machen und eine Weise zu finden, die schwierige und schwerwiegende Frage zu bearbeiten, inwiefern gesagt werden kann, dass wissenschaftliche Erkenntnis insgesamt Erkenntnis eines Subjekts ist, so dass der empiristische Erfahrungsbegriff der Möglichkeit nach von einer Theorie der Subjektivität begründet werden könnte. Dieses scheint erforderlich, wenn die These, der primärtherapeutische Begriff der Erfahrung hebe den klassischen Wissenschaftsbegriff auf, mehr besagen soll als ein bloß dahingeworfenes Schlagwort. Das Akutwerden einer logischen Ebenendifferenz innerhalb der Wissenschaftspraxis, die die Struktur der wissenschaftlichen Erfahrung insgesamt konstitutiv charakterisiert, bedeutet jedenfalls eine tiefgreifende Veränderung des wissenschaftlichen Denkens, deren Verständnis einerseits eine Berücksichtigung der erkenntnistheoretischen Implikationen der empiristischen Methodologie und andererseits eine Berücksichtigung jener Denkweise – bis in ihre forschungslogischen Konsequenzen hinein – erfordert, die mit der Nennung des Prädikats »dialektisch« nur unzureichend charakterisiert ist. 17 Vom Anfang seiner ersten Veröffentlichung an betont Janov das dialektische Wesen der primärtherapeutischen Erfahrung: »Primal Therapy is essentially a dialectical process in which one matures as he feels his childish needs, in which a person becomes warm, when he feels his coldness, in which one becomes strong through feeling weak, in which feeling the past brings the wholly into the present, and in which feeling the death of the unreal system brings one back into life. It is the reverse of neurosis, in which one is afraid and acts brave, feels little and acts big, and continually acts out the past in the present« (1970, S. 385). – Über die einzige ausführlichere Bezugnahme auf »The Dialectic« (1975, S. 226 ff.) finden sich im Gesamtwerk Janovs immer wieder Bemerkungen von der Art: »The dialectic of (freedom) is …« (1973a, S. 230); »We can see the dialectic at work here« (1973b, S. 105); »Feelings is what makes us real. So the dialectic« (1973b, S. 185), »It is the dialectic interchange of brain and body and effects of each on the other« (1975, S. 225); »So again the dialectic« (1975, S. 452); »In this way the dialectic process channels both, personal and historic revolution« (1980, S. 118); »As the biologic indices become more homogenous within the Primal groups, patients are free to become more heterogenous psychologically. Thus, as they move toward the biologic mean, dialectically they diverge psychologically to become an individual Personality« (1980, S. 144). – In seiner letzten Veröffentlichung setzt Janov statt »dialectical« häufig »paradoxical« (1980, S. 192); »So here is the paradox« (1980, S. 202); »the dialectic paradoxes« (1980, S. 217); »a curious paradox« (1980, S. 245).
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
(5) In der Sicht dieser Arbeit erfordert eine weitere Klärung der Primal hypothesis – um den Anspruch Janovs, die Primärtherapie bedeute eine qualitativ neue Zugangsweise zum Gegenstand der Psychologie, eine neue wissenschaftliche Erfahrungsform, als zu begründen möglich darzustellen – folgende Schritte: Erster Schritt: Die schwer greifbaren und doch wirksam und einheitlich ganz verschiedene Forschungszweige anleitenden erkenntnistheoretisch-forschungslogischen Voraussetzungen der empiristischen Wissensform müssen auf ihre grundsätzlichen Momente hin analysiert und als eine zusammenhängende Metastruktur: den die empiristisch-wissenschaftliche Forschung praktisch anleitenden Begriff der Erfahrung, dargestellt werden. Ohne diese Arbeit kann die besondere Art, wie sich eine qualitativ neue psychologische Theorie von den bisherigen Theorien (wie sehr sich diese auch sonst voneinander unterscheiden mögen) grundsätzlich unterscheiden muss, nicht deutlich erkennen: Es muss sich ja auf jeden Fall um eine tiefgreifende Differenz im Hinblick auf diese erkenntnistheoretisch-forschungslogische Ebene handeln, die bisher in der Wissenschaftsgeschichte noch nicht in dieser Weise aufgetreten ist und diskutiert wurde. Im Rahmen dieses Aufgabenkomplexes ist es zunächst notwendig, besser zu verstehen, wie in den Sinnkomponenten des empiristisch geprägten Erfahrungsbegriffs die die Wissenschaft konstituierenden Momente mit jenen Momenten zusammen hängen, die für die psychologische Gegenstandserfassung ein so mächtiges Hindernis bilden. Die im Sinne des ersten Schritts gewonnene Beschreibung der Tiefenmerkmale der empiristischen Methode ist sodann für das Janovsche Anliegen fruchtbar zu machen, indem an der gegenwärtigen Theoriesituation der Psychologie gezeigt werden muss, wie die Crux der psychologischen Gegenstandserfassung in dieser erkenntnistheoretisch-forschungslogischen Metastruktur verankert ist, und der logisch-systematische Ort, auf den sich die Janov-Hypothese bezieht, somit deutlicher wird. Zweiter Schritt: Um den primärtherapeutischen Ansatz mit seinem Anspruch, sich im Hinblick auf diese grundlegenden Denkvoraussetzungen von der empiristisch geprägten Auffassung abzuheben und doch – über die gemeinsamen Tiefenmerkmale der Wissenschaftlich154 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
keit – auf diese bezogen zu bleiben, bewerten zu können, muss der Versuch gewagt werden, eine wissenschaftliche Wissensform relativ höherer Ordnung, eine umfassendere, forschungslogisch vertretbare Konzeption der Bedeutung von »wissenschaftlicher Methode«, zu entwerfen, von der ausgehend die primärtherapeutische wie auch die klassisch-empiristische Form der Erfahrung »abgeleitet«, d. h. rational nachvollzogen werden können. Diese Arbeit der Deutung der im ersten Schritt gewonnenen Beschreibung der Tiefenmerkmale der empiristischen Methode im Sinne eines umfassenderen, erkenntnistheoretisch-forschungslogischen Modells hat jene Ergänzung des Denkhintergrundes bereitzustellen, auf dem Differenz und Beziehung des empiristischen und des primärtherapeutischen Erfahrungsbegriffs darstellbar und diskutierbar werden. Näherhin besteht diese Deutungsarbeit aus zwei Schritten: Zunächst ist eine Erkenntnistheorie zu Rate zu ziehen, die genau um die von der empiristischen Methodologie implizierten, spezifischen Denkvoraussetzungen ärmer, d. h. allgemeiner ist. Diese Voraussetzung der Voraussetzungsarmut erfüllt die Denkmethode der kategorialen Logik Hegels. Darum ist die kategoriale Analyse, wie weiter unten ausgeführt werden wird, das in diesem Fall geeignete Verfahren der Analyse des primärtherapeutischen Zusammenhangs. Den letzten, wichtigsten Schritt im Rahmen des zweiten Schrittes stellt der Versuch der Deutung der spekulativen Erkenntnistheorie Hegels im Sinne einer Theorie – nicht der Erkenntnis allgemein, sondern der Erfahrungserkenntnis – dar, die mithin, im Ansatz, den Status einer forschungslogischen Grundlagentheorie hat. Im Zusammenhang dieses letzten Schrittes spielen die Janovschen Äußerungen zur Primärtherapie eine zentrale Rolle als »context of discovery«, der die höheren forschungslogischen Bestimmtheiten ansatzweise, in ein traditionelles Auffassungsschema eingebettet, enthält und daher einem konstruktiv-analytischen Suchen notwendige Anhaltspunkte zu geben vermag. Der lange Weg, den m. E. eine Klärung der wissenschaftlichen Struktur der Primal hypothesis beschreiten muss (eine Übersicht über die dabei implizierten logischen Ebenen der Betrachtung mag Abb.1 geben), beschreibt einen Prozess des wechselseitigen Begreifens und Begründens:
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Abb.1: Die logisch zu unterscheidenden Ebenen, die berücksichtigt werden müssen, um die Struktur der Primal hypothesis verstehen und klären zu können. Ebene eines logisch höheren (umfassenderen) Erkenntnismodells
zweite Deutung
höheres forschungslogisches Modell; umfassenderes Verständnis der wissenschaftlichen Methode
Erste Deutung Ebene der erkenntnistheorethisch-forschungslogischen Sinnkomponente des empirischen Erfahrungsbegriffs
Ebene der bestehenden psychologisch-einzelwissenschaftlichen Ansätze
Primärtherapie Arthur Janovs (problematischer Status
Die Primärtheorie kann empiristisch begründet werden (dem empiristischen Sinn von Wissenschaft genügen), indem sie selbst die empiristische Erfahrungsform als ganze begründet; dies kann ihr aber nur gelingen, indem sie die neue, umfassende Bedeutung von Wissenschaftlichkeit durch jene besondere Bedingung hindurchführt, kraft welcher die empiristische Erfahrung bisher die Idee des wissenschaftlichen Wissens bewahrt hat. Ohne eine solche grundsätzliche Klärungsarbeit – eine fortschrittliche Deutung des Sinns der empiristisch-wissenschaftlichen Methode – kann ein neuer Standpunkt nicht positiv expliziert werden, was gerade das Schicksal der Janov-Theorie so deutlich macht. Janov vermittelt in seinen Äußerungen zweifellos etwas von der bewegenden, neuen Erfahrung, die seine Primärtherapie bedeutet. Andererseits bleiben seine Äußerungen formal und damit letzten Endes auch inhaltlich an die unreflektiert übernommenen, traditionellen, klassisch- empiristischen Denkvoraussetzungen gebunden, was diesen Äußerungen jene charakteristische Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit verleiht, wodurch sie einer wissenschaftstheoretischen Analyse sehr schwer zugänglich werden und nicht zuletzt in die Gefahr eines schwerwiegenden Selbstmissverständnisses geraten. Janov sagt: Solange man nicht FÜHLT, kann man nicht begreifen, was Psychologie ist, sein müsste oder könnte. Der Akzent seiner 156 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Probleme und Erfordernisse
Tätigkeit liegt auf dem Vollziehen, dem therapeutischen Vermitteln des FÜHLENS. Im Sinne dieser Arbeit ist darauf zu erwidern: Solange man nicht sieht, wie groß die logische Ebenendifferenz ist, die prinzipiell bei einer Erfahrung ins Spiel kommt, die etwas gänzlich Neues beinhalten soll; solange man nicht sieht, was alles dazu erforderlich ist, um diese Ebenendifferenz korrekt, d. h. gemäß dem in der wissenschaftlichen Tradition waltenden logischen Gesetz zu vermitteln; solange man also keinen Begriff davon hat, was dazu erforderlich ist, die Primal hypothesis: »Fühlen ist eine Wissensform«, wissenschaftlich zu begründen, solange kann man die neue Praxis des FÜHLENS nicht voll verstehen und das, was man tut, im theoretischen wie im praktischen Sinn auf Dauer nicht ausreichend verantworten und rechtfertigen.
1.1.3. Einführung in die kategoriallogische Analyse als einem angemessenen Verfahren der Klärung und Präzisierung der Kohärenzform der Janovschen Äußerungen 1.1.3.1. Kategoriallogische Analyse als voraussetzungsarmes Verfahren der Kohärenzanalyse 1.1.3.1.1. Der formal-materiale Ansatz der kategorialen Logik – die Kategorie als Beziehung von Denkform und Sprachform Während die bisher erfolgte Einführung in das primärtherapeutische »Neue« die Kollision des Janovschen Ansatzes mit allen bestehenden wissenschaftlichen Theorien als einen ernstzunehmenden Tatbestand und zugleich eine schwierige Herausforderung an eine wissenschaftstheoretische Analyse verdeutlichen sollte, gilt es jetzt, in den nun folgenden Abschnitten des ersten Teils, Anhaltspunkte für eine Form zu gewinnen, das Janovsche Neue auf das Bekannte, von dem es sich abhebt: die empiristische Wissensform im Ganzen sowie die gegenwärtigen psychologischen Theorieansätze, bzw. auf einen allen beteiligten Kontrahenten gemeinsamen Boden zu beziehen. Dieser gemeinsame Boden ist mit einer Denkmethode zu gewinnen, die nicht an die von der Janovschen Kritik problematisierten spezifischen Voraussetzungen der klassisch-empiristischen Wissensform gebunden ist, die also einerseits der Primärtherapie jenen größeren Spielraum zugestehen kann, der ihr nötig ist, um überhaupt ins Blickfeld rücken 157 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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zu können, andererseits im Gewähren dieses größeren Spielraums den Halt einer logischen Orientierung zu bieten vermag, um so der wissenschaftstheoretischen Aufgabe verpflichtet zu bleiben. Wenn man im Falle Janovs die Feststellung macht, dass die von ihm verwendeten Begriffe nicht die Struktur haben, die man normalerweise erwarten würde, so bestätigt diese Feststellung den Umstand, dass mit dem Gebrauch von Begriffen unausweichlich zweierlei ins Spiel kommt: Und zwar repräsentiert ein Begriff – die Verknüpfung von Begriffen zu Sätzen – zunächst einen bestimmten Sachverhalt: »Das Licht leuchtet auf.« – Dieser in einem bestimmten Kontext verständliche Sachverhalt wird jedoch nicht irgendwie, sondern in einer bestimmten Form zum Ausdruck gebracht; im genannten Beispiel gemäß dem in den zum Satz zusammengeschlossenen Begriffen wirksamen Ding-Eigenschaft-Schema. Das Wirksamsein dieses dem Aussagesatz impliziten Schemas ist die Voraussetzung für die Verständigung über die genauere Bedeutung des Aussagesinns eines Satzes, denn ein Sachverhalt lässt sich, wie das Studium fremder Sprachen zeigt, 18 auf verschiedene Weise ausdrücken, und dieses spezifische »wie« des Ausdrucks: die den Begriffen und Sätzen implizite materiale Aussageform, ist es, die deren Verständnis kategorial vorstrukturiert, indem sie ihnen einen Meta-Sinn und damit grundsätzlich einen logischen Platz oder Bereich zuweist. Da dieser Meta-Sinn oder die einen Zusammenhang von Äußerungen leitende Kategorie meist durch den Kontext gegeben ist – und indem es gar nicht möglich ist, dass ein Begriff ohne einen solchen Kontext auftritt –, bleibt die Beziehung eines Begriffs bzw. Satzes zu einer bestimmenden kategorialen Denkvoraussetzung meist unthematisch. Wenn eine Person, von einem Vortrag, dem sie beigewohnt hatte, zurückkehrend, berichtet, es seien eine Menge Menschen anwesend gewesen, und wenn ein Student in einer Statistik-Lehrveranstaltung den Satz vernimmt: »Wir wählen eine bestimmte, repräsentative Menge von Versuchspersonen«, oder in einer Veranstaltung zur Schulmathematik: »Eine natürliche Zahl ist eine Äquivalenzklasse von Mengen« (Meschkowski 1973, S. 128), so ist der Begriff der
Marilyn Ferguson weist darauf hin, dass Sprachen, wie etwa Hopi und Chinesisch, anders strukturiert sind und nicht-lineare Gedankengänge müheloser zum Ausdruck bringen. Der Ausdruck: »Reh-pi!« – »Aufleuchten!«, in der Sprache der Hopi bringt die Einheit des Ereignisses zum Ausdruck, das in der uns geläufigen Ausdrucksweise nach dem Ding-Eigenschafts-Schema fragmentiert wird. Vgl. Ferguson 1982, S. 172.
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»Menge« in verschiedenem Maße (im ersten Beispiel nicht so ausgeprägt wie in den beiden anderen) auf die Kategorie der Quantität als einer Denkvoraussetzung dieses Begriffs bezogen. Während man im ersten Satz von dessen kategoriallogischer Bestimmtheit nicht so viel bemerkt, vor allem, weil bei einer Äußerung im alltagssprachlichen Kontext immer auch andere kategoriallogische Bestimmtheiten mitwirken (im Beispiel etwa die Kategorie der Qualität), erübrigt sich im zweiten und dritten Beispiel dieser Hinweis auf den kategoriallogischen Hintergrund; denn dass man es in der Mathematik mit quantitativ bestimmten Verhältnissen zu tun hat, ist so selbstverständlich, dass man sich sehr darüber wundern würde, von einem Mathematik-Dozenten zu hören, hier gehe es um die Explikation der logischen Bestimmtheiten der Kategorie der Quantität. Dies braucht nicht gesagt zu werden, weil man es erwartet, oder, umgekehrt ausgedrückt, bedeutet diese Erwartung eine unwillkürliche Abstimmung auf die Kategorie der Quantität. Dass man für wissenschaftliche Zusammenhänge eine bestimmte Struktur erwartet – nämlich eine Form von mathematischer Struktur – ist ein Hinweis darauf, dass die allgemeineren Denkvoraussetzungen dieser Begriffe nicht diskutiert zu werden brauchen, indem ein Konsens dahin gehend besteht, dass die Kategorie der Quantität hier angemessen ist. Umgekehrt lässt sich die Aufforderung zur logischen Präzisierung von Begriffsbedeutungen als »kategoriallogische Reinigung«, d. h. als die Aufforderung verstehen, etwa wirksame andere kategoriallogische Bestimmtheiten auszuschalten: Die Begriffe sollen der möglichst reine Ausdruck der Kategorie der Quantität sein. Für die Analyse der logischen Kohärenzform einer Theorie bieten sich somit zwei Ansatzpunkte oder Ebenen an: (1) Der Theoriezusammenhang kann im Sinne eines bestimmten mathematischen Strukturtyps präzisiert werden, etwa im Sinne eines informalen Systems der Mengenlehre durch Einführung eines mengentheoretischen Prädikats mit Angabe der Elemente dieses Systems sowie der Beziehungen zwischen diesen Elementen (vgl. Stegmüller 1973, S. 39). Dies bedeutet, die dabei implizit vorausgesetzte Rahmenkategorie als angemessen zu akzeptieren, so dass die Theorie also unter der Voraussetzung als wissenschaftlich interessant betrachtet wird, dass sie sich als Ausdrucksorgan der Kategorie der Quantität eignet. (2) Die unter (1) explizierte Struktur lässt sich jedoch auch hinsichtlich der grundsätzlichen Denkoperationen beschreiben, die sie 159 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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voraussetzt, und daraufhin befragen, welche Kategorien die Denktätigkeit organisieren, die sich in den sprachlichen und symbolischen Äußerungsformen manifestiert. Im Sinne dieser zweiten Ansatzebene wird man fragen: Was bedeutet es, eine Sachverhaltstruktur als ein System zu explizieren, indem man eine Anzahl von Elementen aufführt; wie denkt man, wenn man funktionale Abhängigkeiten zwischen Systemvariablen betrachtet, deren Werte oder Ausprägungsformen im Begriff der Menge zusammengefasst sind? Was setzt die Operation einer normalen Formalisierung von Aussagen an Gedankenschritten voraus? (»Was muss man denken, um … sagen zu können?« – eine solche Formulierung findet sich bei Janov, vgl. Janov 1971, S. 33.) – Indem man die genannten Begriffe verwendet, geht man in Bezug auf das, was man begreifen will, von einer zunächst noch recht unbestimmten Vielfalt aus, die durch den Begriff der »Zahl« näher bestimmt wird; das, was eine Vielheit auf eine Einheit beziehbar macht und damit zugleich das Verbindungsschema und die Form der so miteinander in Verbindung gebrachten Einheiten bestimmt, ist die Zahl. Man bringt eine Vielfalt in eine kohärente Zusammenhangsform, indem man »viele« als Ausprägungen ein und derselben Einheitsform (nämlich der »Eins«) und Einheit begreift, so wie auch der Zahlenbegriff alle Zahlen als quantitativ zu unterscheidende »Einsen« interpretiert: Viele – das sind viele Einsen. Die Gedankenoperation, eine Ausgangsvielfalt gemäß der Kategorie der Quantität weiterzustrukturieren, impliziert ferner, dass diese Vielfalt auch noch andere, noch weitere Bestimmtheiten enthält, von denen aber abgesehen werden kann. So ist die Möglichkeit der Abstraktion eine Implikation des Gebrauchs der Kategorie der Quantität – die Möglichkeit, in Bezug auf das zu begreifende Wirkliche eine Trennung vorzunehmen zwischen einer Hinsicht, auf die es ankommt (relevante Eigenschaften, die eine Klassenzugehörigkeit definieren), und einer, von der man absieht, also die Wählbarkeit von Gesichtspunkten, die, indem sich eine Bevorzugung aus der Weise der Kategorie der Quantität, Vielheit als Einheit darzustellen, nicht von selbst ergibt, von außen an den Gegenstand herangetragen werden müssen, woraus deutlich wird, dass der Gebrauch der Kategorie der Quantität bis zu einem gewissen Grade den Erkenntnischarakter des so strukturierten Sachverhalts miterfasst. Und so kann man die für das Betreiben von Wissenschaft grundlegenden Denkvoraussetzungen als Implikationen der Kategorie der Quantität herausfördern, so 160 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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dass die zentrale Rolle dieser Kategorie für das wissenschaftliche Denken besser verständlich wird. 19 Wenn man die Denkschritte, die eine wissenschaftliche Theorie grundsätzlich impliziert bzw. voraussetzt, auf die Weise hin untersucht, wie sie einen Zusammenhang als eine Einheit begreift, bewegt man sich auf der kategoriallogischen Analyseebene; man betrachtet das Schema, wie man Daten mit Hilfe von vorausgesetzten logischen Bestimmtheiten zu Sachverhalten strukturiert. So könnte man die Kategorie der Quantität eine Abbreviatur der mathematischen Denkmethoden nennen: Sie spezifiziert, was bei allen Ausführungen dieser bestimmten Kategorie grundsätzlich gedacht werden muss. 20 Die kategoriale Analyse, wie sie hier aufgefasst wird, unterscheidet sich somit erheblich von der symbolischen Logik und Sprachanalyse: Ihr Aufgabengebiet ist nicht die Ausarbeitung von Regeln für die korrekte Verwendung von Begriffen im Rahmen eines vorausgesetzten Denkschemas; ihre Perspektive ist, einerseits, formaler, indem ihre Arbeit fundamentaler ansetzt und auf die nächst allgemeineren Denkvoraussetzungen von sprachlichen Äußerungen gerichtet ist; andererseits bedeutet diese formalere Hinsicht, die materiale Bestimmtheit als den Gedankeninhalt einer bestimmten Form von Explikationen herauszustellen; der kategorialen Analyse geht es um die Metaform, die in den sprachlichen Äußerungen als der in ihnen grundsätzlich vollzogene Gedankeninhalt wirksam ist. 21 Damit ist das Inzitament der kategorialen Analyse die grundDie Struktur einer wissenschaftlichen Theorie ist grundsätzlich und in jedem Fall eine Kategorie, Theorien sind die Explikation einer kategoriallogischen Bestimmtheit. So kann etwa die Lerntheorie Skinners als die Explikation der Kategorie der »reinen Quantität« aufgefasst werden, so dass sich die methodologischen Probleme der funktionalen Verhaltensanalyse als die notwendigen Implikate jener kategoriallogischen Bestimmtheit, die den Gegenstand definiert, ergeben; vgl. dazu das Kapitel 2.1.2.2.1 über Skinner. 20 Das Werkzeug der kategoriallogischen Analyse verdanke ich L. Bruno Puntel, Vorlesungen und Seminare an der Ludwig-Maximilian-Universität München im WS 1974/1975; SS 1975. 21 Die Interessenverlagerung der formal-materialen Hinsicht der kategoriallogischen Analyse gegenüber jener der formallogischen Verfahren der Analyse sprachlicher Äußerungen mag an den zwei Weisen, das Fahrverhalten eines Verkehrsteilnehmers zu beurteilen, veranschaulicht werden: Während unter rein formalem Gesichtspunkt das Fahrverhalten als Verwirklichung der geltenden Verkehrsregeln in einer individuellen Situation thematisch ist, tritt unter formal-materialem Gesichtspunkt die Verwirklichung der Verkehrsregeln als Form der Verwirklichung einer Metaform: an 19
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legende Unterscheidung des Gedankens von allen seinen Äußerungen; ihr eigentliches Arbeitsgebiet ist das Spannungsfeld der Beziehung der Gedankenbestimmung und ihrem sprachlich-begrifflichen Ausdruck, der Beziehung von Denkform und Sprachform; es ist der Ort des Entstehens der Begriffe aus den fundamentalen Weisen, Einheit, Identität, als Vereinigung differenter Momente zu denken, oder der Ort des Entstehens der Begriffe aus den Denkparadigmen der logischen Strukturierung (Vereinigung) von Daten zu Sachverhalten (Gegenständen der Erkenntnis). Indem die kategoriale Analyse »früher«, d. h. in jenem Vorfeld ansetzt, wo die noch nicht ausdifferenzierten Bedeutungen auf den Gleisen gewisser Denkbestimmungen zu ihren Begriffen zu gelangen suchen, wo sich noch kein festes Denkmuster qua Einschmelzung einer bestimmten Kategorie in die Verwendung von Begriffen herausgebildet hat, wo es also um die Frage des Zueinander-Passens und Miteinander-Ringens von Denkform und Sprachform geht, ist sie ein vorzüglich geeignetes Instrument der Exploration und Explikation neuer, noch unausgereifter Denkansätze. Unter dem Eindruck der Begegnung mit den Janovschen Äußerungen wird sogleich eine überraschende Verwandtschaft des Janovschen Denkens mit der kategoriallogischen Denkmethode deutlich: Wie dieser geht es Janov nicht um eine Auseinandersetzung mit den Äußerungen einer Sache in allen Einzelheiten; der Standpunkt des Betrachters ist zurückgenommen, um eine Auseinandersetzung nicht mit diesen Einzelheiten, sondern dem in diesen wirksamen Gemeinsamen zu provozieren. Dieses Gemeinsame ist von logisch übergeordnetem Status, es ist selbst »ansprechbar«, eine interessante Bestimmtheit, mit der man verhandeln kann; es funktioniert als ein von allem Abgehobenes und macht selbst Veränderungen durch, so dass sich dadurch die Weise, wie es sich im Einzelnen ausdrückt, völlig ändern kann – ohne an den Details dieses Ausdruckes gearbeitet zu haben. Die Möglichkeit, dass sich die Sache selbst ändert, indem sich alles, wie sich die Sache äußert (also die Äußerungsform insgesamt), ändert und als der Bewegung fähig erweist: die Möglichkeit der »totalen« Veränderung« bzw. des Kategorienwechsels – das ist das zenein bestimmtes Ziel zu gelangen, hervor. Der zweite Gesichtspunkt ergibt sich nicht einfach aus dem ersten; er bedeutet eine neue, eigenständige Analyseebene.
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trale Einsatzsignal für das Inkrafttreten sowohl des primärtherapeutischen als auch des kategoriallogischen Standpunkts. 1.1.3.1.2. Der implizit erkenntnistheoretische Charakter der kategorialen Logik – der Gesichtspunkt der Systematizität von Kategorien Die kategoriallogische Analyse hat, relativ zu den bestehenden Analyseverfahren, insofern einen besonders voraussetzungsarmen, »formalen« Status, als es ihr nicht um die Explikation einer bestimmten vorausgesetzten Struktur, sondern darum geht, vorliegendes sprachlich-symbolisches Material auf seine nächst allgemeinere erkenntnisanleitende Aussageform hin zu befragen; aber diese formalere, fundamentalere Frageperspektive öffnet erst den Spielraum, um zu erkennen, dass und wie Kategorien den Gegenstand der Erkenntnis inhaltlich und material vorstrukturieren. Als Erkenntnis vorstrukturierende Schemen sind Kategorien »leer«; aber sie sind in einer ganz bestimmten Weise leer – das ist mit der Definition der Kategorien als »materiale Aussageformen« gemeint. Wird etwa die Kategorie der Quantität vorausgesetzt bzw. bewegen sich die Äußerungen in ihrem Rahmen, so ist deren logische Struktur in irgendeinem Sinn mathematisch charakterisierbar. Die Explikationen können jeweils mehr oder weniger vollständig, komplizierter oder einfacher ausgeführt sein: Ihnen allen ist eine bestimmte logische Qualität gemeinsam, und diese ist durch den materialen oder inhaltlichen Aspekt der Kategorie gekennzeichnet. Die moderne Logik umfasst ein höchst vielseitiges Instrumentarium von Verfahren und Denkmethoden; und doch macht sie von gewissen fundamentalen Denkoperationen Gebrauch, die sich als »materiallogische Aspekte« eruieren lassen, die in allen verschiedenen Ausführungen den Grundgedanken, die »logische Metaqualität« der Kategorie der Quantität, zum Ausdruck bringen. Die Bestimmung der Kategorien als »materiale Aussageformen« impliziert – wie weiter oben bereits angeführt – notwendig den Gesichtspunkt der möglichen Veränderung des kategorialen Denkhintergrundes sprachlicher Äußerungen, indem die Hinsicht auf das allen Äußerungen einer bestimmten Art Gemeinsame einen Standpunkt erfordert, der, um die Gesamtheit der entsprechenden Äußerungen als Äußerungen einer Art ins Auge fassen zu können, in der Lage sein muss, die spezifische Gesamtheit von Gesamtheiten von Äußerungen anderer Art zu unterscheiden. 163 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Die Definition der Kategorien als »materiale Aussageformen« impliziert somit den Gesichtspunkt verschiedener möglicher kategorial- logischer Aussage-Schemata und damit die Möglichkeit des Vergleichs von Kategorien. Kategoriallogische Bestimmtheiten lassen sich in ein Verhältnis bringen: Ganz gewiss ist die Kategorie des »Seins« ärmer an Bestimmtheit, also unbestimmter als etwa die Kategorie der Quantität; der Aufwand, der nötig ist, um die Denkschritte, die sie voraussetzen, zu explizieren, ist in beiden Fällen nicht derselbe. – Auch kann gesagt werden, dass die Kategorie der Quantität die Bestimmtheit der Kategorie des Seins einschließt; das Kategorienpaar »Wesen / Erscheinung« impliziert Bestimmtheiten, die über die Kategorie der reinen Quantität hinausgehen: Der materiallogische Ansatz impliziert also, entsprechend dem jeweiligen Mehr und Weniger an Bestimmtheit, eine systematische Perspektive; er macht erforderlich, Stufen kategoriallogischer Bestimmtheiten zu berücksichtigen. Indem die kategoriallogische Analyse die Beziehung der Bestimmtheit der Gegenstandsstruktur zur jeweils bestimmenden Aussageform in den Vordergrund rückt, wird in besonderer Weise der Erkenntnischarakter des explizierten Sachverhalts akzentuiert: Der Wechsel von Auffassungskategorien verweist auf die grundsätzliche Bezogenheit der Gegenstandsstruktur auf den Rahmen der Gegenstandsbeziehung, d. h. auf die Erkenntnisvoraussetzung. Wenn man alles nur in einer Weise erkennen könnte, so dass keine kategorialen Auffassungsdifferenzen vorkämen, dann könnte der Erkenntnischarakter eines explizierten Sachverhalts nicht klarwerden 22 . So gewährt etwa die Kategorie des »Seins« – wenn man nur »Sein« zu denken versucht, nichts sonst – nach Hegel noch keine Erkenntnis, indem die kategoriallogische Bestimmtheit des Seins »nichts Bestimmtes« und damit nicht genug an strukturierter Differenz besagt, dass deutlich werden könnte, dass es sich dabei um Erkenntnis handelt. Hingegen ist bei Äußerungen, die den Differenziertheitsgrad der Kategorie der »Qualität« zum Ausdruck bringen – »Der Verfassungsstaat ist eine Realität«; »Heute ist es schön« – bereits etwas mehr vom Erkenntnischarakter der Aussagen zu bemerken, indem Auffassungsunterschiede eine notwendige Voraussetzung derselben bilden. In diesem kategorialen Sinn: des Aufgehens des Erkenntnisimplikats erkannter Bestimmtheiten, ist es nachvollziehbar, wie in der Antike »das Staunen« und in der Neuzeit »das Zweifeln« an den Anfang jeglicher Erkenntnis gestellt ist.
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Kategorien haben grundsätzlich einen logischen Ort; sie bilden notwendig eine Hierarchie von Bestimmtheiten, angefangen bei solchen mit einer minimalen Bestimmtheit (bei Hegel »Sein« in der Bedeutung von »nichts Bestimmtes«), bis hin zu einer bestimmtesten Kategorie, die alle kategoriallogischen Bestimmtheiten in sich enthält (bei Hegel die Kategorie der »Freiheit«). Die Kategorienstufe ist danach zu bemessen, wie stark der Charakter einer erkannten Gegenstandsstruktur als eine Form von Erkenntnis deutlich wird, inwieweit die Form der Explikation einer bestimmten Gegenstandsstruktur ihre Metabestimmtheit als Erkenntnis mit umfasst. Mit dem zuletzt Gesagten wird es möglich und erforderlich, den Gesichtspunkt der Systematizität von Kategorien noch tiefer zu verstehen: Die Veränderung des kategoriallogischen Hintergrundes im Wechsel von Kategorien bringt eine weitere Metaebene ins Spiel: sie ist durch eine Metakategorie charakterisierbar. Wenn gesagt wird, Kategorien seien im Sinne einer zunehmenden Bestimmtheit geordnet, so ist dies ja ein quantitativer Gesichtspunkt; m. a. W.: Die Kategorie der Quantität würde, wenn man einmal bei dieser Charakterisierung bleibt, als Metakategorie angesetzt, welche die übergeordnete Bestimmtheit liefert, der gemäß der Zusammenhang der Kategorien gedacht wird. Um also zu verstehen, wie eine Kategorie als ein Erkenntnis anleitendes Aussageschema funktioniert und um einen sprachlichen Zusammenhang kategoriallogisch zu orten, bedarf man der Verbindung zweier Kategorien: gewissermaßen einer Vordergrundskategorie, die unmittelbar in den sprachlichen Äußerungen fassbar ist, und einer Hintergrunds- oder Metakategorie, die, indem sie den Zusammenhang der ersten Kategorie mit anderen Kategorien bestimmt, die Möglichkeiten des weiteren Verlaufs der Explikation der Sache vorzeichnet. Werden Zusammenhänge etwa, wie normalerweise in der Wissenschaft, entsprechend den Sinnkomponenten der Kategorie der Quantität expliziert und fungiert diese Kategorie gleichzeitig als Metakategorie, so ist der weitere Verlauf der Explikation von Gegenständen dieser Art im Sinne einer quantitativen »Vermehrung« vorprogrammiert. Die Struktur des wissenschaftlichen Wissens impliziert den Begriff des Erkenntnisfortschritts als eine »Akkumulation von Faktenwissen«, als eine stete Vermehrung der nämlichen Art von Wissen; sie impliziert, dass man versucht, immer mehr von der universalen Wirklichkeit im Sinne dieser Art von Wissen zu begreifen; sie impliziert ebenfalls, dass dieser Art des Fortschreitens prinzipiell 165 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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kein Ende gesetzt ist, dass sie nicht von sich selbst aus in andere Formen des Wissens und der Erfahrung übergehen kann, denn, da diese Kategorie notwendig der Sache äußerliche Faktoren impliziert, wäre qualitative Veränderung als Folge eines »Eingriffs von außen« zu verstehen. Was diese Wissensstruktur infolgedessen nicht impliziert, das ist ein Begriff der Veränderung der Art des Fortschritts als einer notwendigen Konsequenz seiner selbst; das ist ein Begriff der Bewegung, nicht im Sinne eines endlos weiteren Fortschreitens in immer derselben Art, sondern im Sinne einer Höherentwicklung; tatsächlich kann aber der Begriff etwa einer Höherentwicklung auf dem angedeuteten kategorialen Denkhintergrund nicht gebildet werden, denn dieser bedeutet eine größere Differenz, welche die Gleichförmigkeit der quantitativ gefassten Differenzen – Differenz, ausgedrückt im Verhältnis zur Nicht-Differenz einer sich gleichbleibenden Eins – durchbrechen würde. Der Gesichtspunkt des Bestimmtheitszuwachses allein kann also noch nicht ausreichend über das Prinzip der Systematisierung von Kategorien Auskunft geben. Im Hegelschen Denken ist der Metagesichtspunkt für die Systematisierung von Kategorien durch den Begriff der »Vermittlung« repräsentiert. Das »Mehr« an Bestimmtheit bedeutet eine logisch stärkere Form der Verbindung der Mannigfaltigkeit (der »Daten«), die, entsprechend dem in der Kategorie vorgeprägten Schema, zu einem Gegenstand der Erkenntnis vereinigt werden. Der übergeordnete Sinn einer jeden Sachverhaltsstruktur ist: Einheit, Identität, aber ausgedrückt mit Hilfe einer Differenz; d. h. ausgedrückt mit Hilfe von Verhältnissen, die nicht direkt diese Identität sind, die von dieser Einheit in spezifischer Weise wegführen, aber eben genau so, dass die Distanz von dem, worum es in der Erkenntnis geht, die Weise der Negation des unmittelbaren Wirksamseins von Identität, ein Mittel ist, wodurch Identität als etwas Bestimmtes erkannt werden kann – das ist in der Formel: »Erkenntnis ist vermittelte Unmittelbarkeit«, ausgedrückt: Erkenntnis ist Identität, dargestellt durch das Mittel dessen, was sie in einem bestimmten Sinne nicht ist, wodurch dieses Mittel als ein Anhaltspunkt, ein Begriff oder eine Methode fungiert, wie Identität als etwas Bestimmtes gedacht und in Beziehung zu dieser Bestimmtheit erkannt werden kann. Wenn nun der Begriff der »Vermittlung« Erkenntnis von Identität aus der Beziehung von Identität und Negation ausdrücken soll, so muss diese Beziehung von Identität und Negation grundsätzlich 166 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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im Sinne einer logischen Ebenendifferenz gedacht werden: Negation ist ja als ein Erkenntnismittel bestimmt, welches dasjenige, worum es in der Erkenntnis geht (nämlich Identität), in bestimmter Weise nicht ist; also kann sie, auch in der Form des bestimmtesten Begriffs, mit Identität als dem Inbegriff der Erkenntnis nicht einfach gleichgesetzt werden. Im Sinne des Vermittlungsgedankens wird Identität dargestellt in der Form von Verhältnissen, die eine Form von Negation, von Nicht-Identität, sind – dies impliziert notwendig eine andere, niedrigere logische Ebene für die Explikation der Negationsverhältnisse –, und diese Differenzierung ist, als eine Form negierter Identität, so zu verstehen, dass sie IDENTITÄT BEDEUTET. Der Vermittlungsbegriff besteht in dem Gedanken, Identität »intensiver« zu denken, und diese größere Intensität wird durch die Wendung erreicht, dass dasjenige, was als Identität expliziert wurde, noch einmal insgesamt als »Negativ« des Eigentlichen gedeutet wird, als eine bestimmte Negation dessen, was Identität wahrhaft bedeutet. Die Form von explizierter Einheit, von der man ausgeht, gewinnt eine zusätzliche Dimension durch die Berücksichtigung ihres Charakters als Negation; die Einheitsform, die man hat, bietet einen größeren Gewinn in Bezug auf Erkenntnis, indem man versteht, dass sie noch einmal als ein Mittel angewendet werden muss, um Identität in einem logisch höheren Sinn zu erreichen, und dass das erst den explizierten Einheitsbegriff als eine Methode des Erlangens von Einheitserkenntnis vollendet. Der Gedanke der Vermittlung präzisiert die Definition der Kategorien als »materiale Aussageformen« und damit das Verfahren der kategorialen Analyse als im Sinne der logischen Ebenendifferenz eine doppelte Sinn-Richtung enthaltend: Die aus einem Zusammenhang zu ermittelnde Kategorie bedeutet, erstens, eine Form der Differenzierung (die Sachverhaltsstruktur i. e. S.), die natürlich selbst nur als eine Form von Einheit, im Gebrauchmachen von Identität, formulierbar ist; und diese bedeutet, zweitens, eine Weise, dasjenige zu verkörpern, was sie nicht ist: »IDENTITÄT« (im tieferen, bzw. logisch höheren Sinn). Wenn man sagt: Kategorien sind als Formen zu verstehen, durch die Daten zu Sachverhaltsstrukturen verbunden werden, so kann man daraus allein noch keine nähere Vorstellung entwickeln, wie sich eine höhere Form von Einheit vor einer niedrigeren auszeichnet. Nimmt man jedoch den Vermittlungsgedanken zu Hilfe, der die Formen, Einheit darzustellen, grundsätzlich als Mittel und damit als in bestimmter Weise nicht das, worum es geht: 167 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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IDENTITÄT, charakterisiert, dann wird klarer, inwiefern die kategoriale Analyse zur Präzisierung explizierter Sachverhaltsstrukturen beiträgt: indem sie nämlich deren Form, Einheit zum Ausdruck zu bringen, in Beziehung setzt zu dem (logisch höheren) Inhalt von IDENTITÄT, der so erreicht wird, dass man alle erreichten Ausdrucksformen als Negation desselben und insofern als ein Mittel versteht, das in der Bestimmtheit, in der es nicht das Eigentliche ist, dieses selbst hervortreten lässt. Indem Kategorien im Hinblick auf den Vermittlungsgedanken als Beziehung zweier im Sinne einer logischen Ebenendifferenz zu unterscheidender Bedeutungen von Identität aufgefasst werden, ergibt sich das Verhältnis der beiden Bedeutungsebenen als Bezugspunkt für die Unterscheidung von Kategorien; und zwar lässt sich das jeweilige logische Niveau durch die folgende Frage bestimmen: Ist die Form von Einheit, die zunächst als Vordergrundskategorie aus einem sprachlichen Material eruiert wurde, entweder als das aufzufassen, was sie ist: eine Form von Einheit und sonst nichts weiter – dann handelt es sich um die Kategorienstufe der äußerlichen (unreflektierten) Kohärenz (sie orientiert sich gewissermaßen am Vorbild der Kategorie des Seins) –; oder bringt die Kategorie eine Einheit in der Form zum Ausdruck, dass die Einheitsform, die sie ist, als die Negation einer anderen Weise von Einheit aufgefasst werden kann, so dass sie, indem sie ihren eigenen Negationscharakter impliziert, transparent wird für dasjenige andere, das sie in der Form der bestimmten Negation ist – dann handelt es sich um die Kategorienstufe der reflektierten Kohärenz (diese akzentuieren also den Negationscharakter der explizierten Bestimmtheiten) –? Die Kategorienstufe der äußerlichen Kohärenz und jene der reflektierten Kohärenz unterscheiden sich in Bezug darauf, inwieweit der Charakter der Ebene der Negationsdifferenzierung als Negation und diese somit in ihrer Funktion als Erkenntnismittel deutlich wird; Kategorien unterscheiden sich also darin, inwieweit sie den Vermittlungscharakter der kategoriallogischen Bestimmtheiten zum Ausdruck bringen. Das Merkmal, in Bezug auf das sich Kategorien grundlegend unterscheiden, ist, inwieweit sie »Erkenntnis« als Metaimplikat, als den logischen Inhalt der Form einer explizierten Sachverhaltstruktur, erkennbar machen. Eine systematische Orientierung für die Veränderung von Kategorien in Richtung höherer kategoriallogischer Bestimmtheiten ist durch das Ziel einer Sachverhaltsstruktur gegeben, die, als gesamtsystematischer Inbegriff von Kategorien, als eine 168 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Methode zu verstehen ist, die logische Ebenendifferenz, die das Erkenntnisimplikat gemäß dem Vermittlungsgedanken besagt, aufzuheben, derart, dass sie, nachdem ihre Bestimmtheit als »seiend« affirmiert wurde, durch die Verdeutlichung des Negationscharakters ihres »Seins«, dieses Sein in der Weise auf den höheren Sinn verwendet und an ihn hingibt, wie es der Ausdruck der »Aufgehobenheit« verlangt. M. a. W.: Die Anfangskategorien von Hegels »Wissenschaft der Logik«: Sein, Nichts, Werden, können als eine Orientierung für eine systematische Veränderung von Kategorien aufgefasst werden, indem man sie auf den Metagesichtspunkt der Kategorien – das Verhältnis der beiden Bedeutungen von Identität, das sie enthalten – bezieht: Sein (Affirmation): Die explizierten kategoriallogischen Bestimmtheiten sind eine Form von Identität (in diesem Bereich ist eine kategoriallogische Analyse noch unthematisch). Nichts (Negation): Die explizierten kategoriallogischen Bestimmtheiten sind (eine Form von Identität, und indem sie das sind, sind sie) eigentlich eine Negation von IDENTITÄT; (dieser Bereich hat gegenüber dem ersten eine veränderte Bedeutung, aber man vermag den Bezugspunkt der Veränderung noch nicht zu verdeutlichen). Werden (Bewegung; Veränderung): Die im Vermittlungsgedanken gesetzte Konstellation, dass, was sich zunächst abspielt, als Form der bestimmten Negation einer anderen Bedeutung zu verstehen ist, impliziert eine Mehrzahl von in einer Reihenfolge zu vollziehenden, im Verhältnis zueinander veränderten Schritten: Eine Bestimmtheit, die erst dann Ausdruck von Wahrheit, d. h. mit sich selbst identisch ist, wenn sie das, was sie ist, in der Form der Aufgehobenheit verwirklicht, ist nicht auf Anhieb, sondern nur über zu unterscheidende Etappen darstellbar. Der Vermittlungsgedanke besagt, dass die Bestimmtheit zuerst in der erforderlichen Weise als Negation entwickelt werden muss: Diese Explikation des »Seins« der Negation ist die Voraussetzung für die Darstellung der Negation der Negation als Negation, was ja positiv nur als eine Form von Zurücknahme, von Negation einer Bestimmtheit, die »ist«, mithin als eine Veränderung dieser Art zu »sein« dargestellt werden kann, eine Veränderung, die so groß sein muss, dass sie als ein Ausdruck des Nicht-Seins dieses Seins (in der zuerst explizierten Bedeutung) und damit als Bezogenheit auf eine ganz andere Art von SEIN verstehbar wird. Der Vermittlungsgedanke, der den Charakter der kategoriallogischen Be169 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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stimmtheiten als eine »aufzuhebende Negation« metabestimmt, steuert die Bestimmtheiten im Sinne einer Bewegungsvorschrift, die sich als Veränderung einer Veränderung beschreiben lässt. Das Vermittlungsschema impliziert Bewegung als Veränderung auf zweierlei Weise: Eine »aufgehobene Bestimmtheit« entwickelt sich notwendig in mindestens zwei Schritten oder Phasen: eine Phase, in der der »Seinscharakter« und eine Phase, in der der Negationscharakter der Bestimmtheit akzentuiert ist; diese Bewegung geschieht im Nacheinander von mindestens zwei Schritten. Außer dieser ersten Weise, wie sich kategoriallogische Bestimmtheiten verändern müssen, um die Bestimmtheit der Negation als Negation zum Ausdruck zu bringen, muss nun die zweite Weise als qualitative Veränderung gegenüber dieser ersten Weise hinzukommen, derart, dass diese zweite Veränderung der Bestimmtheit im Verhältnis zur ersten Veränderung als positiver Hinweis auf einen Metasinn verwertbar wird: Die Bestimmtheit dieser Negation ist die Negation einer höheren logischen Ebene. Erst wenn eine Veränderung dargestellt ist (durch das Verhältnis der ersten Art von Veränderung zur zweiten Art), die so groß ist, dass die kategoriallogische Bestimmtheit dabei eine »Veränderung um ihren eigenen Betrag«, »um sie selbst«, mitmacht, kann sie als positiver Ausdruck für dasjenige erkennbar werden, dessen Negation sie ist: nämlich die höhere Ebene der IDENTITÄT, und hat damit ihre Vermittlungsaufgabe im Sinne ihrer Transformation in eine aufgehobene Bestimmtheit erfüllt. Die Implikationen des Vermittlungsbegriffs – als dem Schlüssel zum Verständnis einer systematischen Kategorienlehre – ergeben, dass die »Metakategorie« nicht als eine Kategorie, sondern als die Ratio der Bewegung kategoriallogischer Bestimmtheiten aufzufassen ist – eine Bewegung, die der Struktur des spekulativen Satzes bei Hegel entspricht.
1.1.3.2. Zweite vorläufige Charakterisierung der logischen Struktur der Primal hypothesis: Der formal-materiale Ansatz Janovs. Der Janovsche Ansatzpunkt: Die spezifische Quantität (die Einheit von Quantität und Qualität als Maß) Die bereits erwähnte Verwandtschaft der Weise, wie Janov seinen Gegenstand betrachtet, mit dem Standpunkt der kategorialen Ana170 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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lyse sei an dieser Stelle nur dahin gehend ausgeführt, dass der logische Ort des »kategorialen Anliegens« der Primärtherapie im Rahmen der systematischen Kategorienlehre deutlich wird. Inmitten der Vielzahl der Aspekte und Merkmale, die aus dem Zusammenhang der Janovschen Rede den unbefangenen Zuhörer ansprechen und abwechselnd Erstaunen, Interesse wie auch Befremden erregen, gilt es, den entscheidenden Ansatzpunkt herauszufinden, von dem aus sich gewissermaßen der innere Bauplan der Äußerungen Janovs erschließen lässt. Die Standpunktveränderung, die in Bezug auf die Primärtherapie im Verhältnis zu den bestehenden Theorieansätzen auffällt, wurde als ein »Zurücktreten« charakterisiert, das in der Janovschen Sprache zunächst durchaus als ein Rückschritt imponiert. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussionslage mutet die neue Weise, wie Janov seine Erfahrungen artikuliert, eher etwas naiv und veraltet an, so als wäre dabei die Entwicklung im Bewusstsein der wissenschaftlichen Methode, wie sie in der Psychologie vor allem durch die behavioristische Orientierung vorangetrieben wurde, völlig vernachlässigt, wenn nicht gar negiert. Wenn Janov etwa vom Sein, vom Selbst als einer Substanz, von der Ursache, der Rückkehr zum Grund, vom Wesen – in Abhebung von der Erscheinung – menschlicher Zustände, von der menschlichen Natur, der Realität, dem Erreichen endgültiger Heilung und endgültiger Wahrheit spricht, so könnte man dies als eine Aufzählung von Kategorien verstehen, die man heute eher vermeidet oder überwunden zu haben glaubt. Um zu versuchen, diese ansonsten sehr heterogenen Begriffe auf dasjenige Moment hin zu akzentuieren, das sie allesamt für einen wissenschaftlichen Zusammenhang ungeeignet macht, sei folgender Gesichtspunkt genannt: Alle diese Begriffe konnotieren in verschiedener Weise eine Einheit, die sich die wissenschaftliche Wissensform gerade aufzulösen genötigt sieht. Alle diese Begriffe kann man so verstehen, dass sie in verschiedener Weise Qualität zum Ausdruck bringen: »There is a way for the neurotic to get below the surface of his symbolic struggle and into those Pains that drive him. I call that way Primal Therapy. It is the systematic assault on the unreal self which eventually produces a new quality of being – normalty – just as the original assaults on the real self produced a new state of being – neurosis. Pain is both the way in and the way out.« (Janov 1970, S. 35; vgl. auch »the state of being in which one is completely oneself« als eine neue Qualität, Janov 1970, S. 21)
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»The major Primal scene is a qualitative leap into neurosis.« (Janov 1970, S. 31) »One hurt does not make a neurosis, and one Primal does not make a normal. It is the accretion of hurts and feeling the hurts that finally change quantity into new qualities of either sickness or health.« (Janov 1970, S. 103) »Psychosis, therefore, is a deepening of the neurotic split, producing a new quality of existence.« (Janov 1970, S. 377) »Statistics measure quantities, not qualities; and feelings are qualities of being.« (Janov 1873a, S. 37) »Normalcy is not a matter of an ›act‹ ; it is a matter of the nature and quality of internal experience.« (Janov 1973a, S. 98) »When the early effect is great (birth trauma), the force of its effect on later behavior will be great. Its effect is not only quantitative but qualitative as well. That is, it has a certain degree of effect on later behavior, but it also has a directive quality which determines the kind of behavior which occurs – nonfluid birth to nonfluid speech, is an example.« (Janov 1973b, S. 61)
Als erstes, kategoriallogisch bedeutsames Merkmal des Janovschen Ansatzes sei herausgestellt: Janov bestimmt seinen Gegenstand grundsätzlich so, dass es in Bezug auf ihn qualitative Unterschiede gibt; so sind etwa »Normalität« und »Neurose« Qualitäten des Seins (»qualities of being«), und die »große Primärszene« setzt eine qualitative Differenz gegenüber dem normalen Zustand. Die Frage, die den Schlüssel für die weitere Janov-Interpretation an die Hand gibt, lautet nun: Wie spricht Janov in Bezug auf seinen Gegenstand von Qualität oder von qualitativen Einheiten? – Mit der Beantwortung dieser Frage sind für das weitere Verständnis des Janovschen Ansatzes entscheidende Weichen gestellt: zum einen im Hinblick auf die Entscheidung darüber, ob der »Rückschritt« des Janovschen Standpunkts letztlich, wie Janov behauptet, die Möglichkeit eines Auswegs für das Problem der Psychologie oder doch nur eine Preisgabe von Wissenschaft bedeuten kann; zum andern insofern, als in diesem Punkt, wie ich meine, die ganze Originalität des Ansatzes von Janov begründet ist. Daher sei auf die Ermittlung und Herausstellung dieser Weise besondere Sorgfalt gelegt. An den Anfang seien zwei etwas längere Zitate gestellt, in denen der jeweilige Autor eine grundsätzliche Position markiert, jedesmal in kritischer Auseinandersetzung mit und in Abhebung von Freud. Das eine Zitat stammt von Skinner, das andere von Janov. 172 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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In seinem Essay: Critique of Psychoanalytic Concepts and Theories (in: Feigl & Scriven 1956, S. 77 ff.) äußert sich Skinner zu den Problemen und bedeutenden Nachteilen der Freudschen Konzeption eines »psychischen Lebens« (»mental life«): »The first of these is to explain how such a life is to be observed. […] But it was Freud himself who pointed out that not all of one’s mental life was accessible to direct observation – that many events of the mental apparatus were necessarily inferred. Great as his discovery was, it would have still been greater, if Freud had taken the next step, advocated a little later by the American movement called Behaviorism […] By arguing, that the individual organism simply reacts to its environment, rather than to some inner experience to that environment, the bifurcation of nature into physical and psychic can be avoided.« (a. a. O., S. 80)
Ein anderes Problem, das sich aus Freuds Konzeption des psychischen Erlebens ergibt, bezieht sich auf die primären Einheiten des psychischen Apparates; ob man sich nun auf psychische Ereignisse und deren Qualitäten und auf Zustände des Bewusstseins bezieht oder ob man sich auf angeblich weniger verfängliche Terme wie etwa Kräfte, Prozesse, Organisationen, Spannungen, Systeme und Mechanismen beruft: Die Frage ist, was sich verändert und in welcher Richtung es sich verändert, wenn wir etwa von einem »affektiven Prozess« sprechen: »These all imply arrangements or relationsships among things, but what are the things so related or arranged? Until this question has been answered that problem of the dimensions of the mental apparatus can scarcely be approached. It is not likely that the problem can be solved by working out independent units appropriate to the mental apparatus […]; it is worth asking whether there is not an alternative program, for a rapprochement with physical science, that would make such a task unnecessary […]; this would have brought him (Freud, B. V.) back to the observable, manipulable and pre-eminent physical variables, with which, in last analysis, he was dealing.« (a. a. O., S. 86 f.)
In kritischer Abhebung von Freud äußert sich Janov etwa in seinem Aufsatz: »The Dialectic« (Janov 1975, S. 226 ff.) folgendermaßen: »We are not looking for mystical events […]; we are seeking after concrete events, that happened to us in our lives at particular times which left concrete effects on our neurophysiology […] We are helping him (the patient, B. V.) make a journey to himself in a very real way […] to create new resolutions of the forces at work inside of him. Those forces are knowable, they are physical […] So long as any idealistic notion remains in a psychologic theory it will
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have that much of a weak link. Freud, despite of his brilliance and his perception still had an unknowable, unchangeable, almost nonmaterial force at work creating neurosis – the id. He was right about repression, but the question was what was being repressed. If he had said ›Pain‹, instead of incestious forces or libidinous impulses, then his treatment would have taken a much different turn […] His dream-theory would not have been about wishes which come out of an unconscious made up of mystical forces […] if Freud had kept in mind that all things are knowable then there would have been no unfathomable id creating all that havoc.« (Janov 1975, S. 228 f.)
Von den zahlreichen Anknüpfungspunkten, die einen Vergleich dieser beiden Zitate als interessant und gewinnbringend erscheinen lassen, seien nur die für den Fortgang wichtigsten zur Sprache gebracht. Zunächst zeigt sich hier in erstaunlichem Maße eine Übereinstimmung der Standpunkte von Janov und Skinner: • Beide wenden sich gegen die Freudsche Konzeption eines »psychischen Lebens« oder »psychischen Apparates« und deren Konsequenzen, da es unmöglich ist, etwas derartiges konkret zu bestimmen und sich in kontrollierbarer und zuverlässiger Weise darauf zu beziehen; • beide betonen, dass das, womit der Psychologe arbeitet, etwas Konkretes, letzlich »Physisches« sein müsse, nicht hingegen etwas Unerkennbares, »Mystisches«; • beide bestimmen diese erkennbaren Verhältnisse so, dass es sich dabei um Beziehungen des Organismus zu seiner Umwelt handelt, näherhin um Beziehungen des Organismus zu konkreten Ereignissen seiner Lebenshistorie (zur Bezugnahme Skinners auf die Bedeutung von Ereignissen speziell der frühen Lebensperiode vgl. Skinner 1956, S. 81); • beide nehmen eine Korrektur an der Freudschen Konzeption vor – deren Größe sie zuvor anerkennen – und beide beurteilen übereinstimmend die Einführung mentalistischer Begriffe von der Art, wie sie von Freud gebraucht werden (»wishes«, »impulses«, »forces«) – selbst hierin noch völlige Übereinstimmung von Skinner und Janov! – als ein unüberwindliches Hindernis auf dem Weg zu einer Lösung des Problems des Gegenstandes der Psychologie. Dennoch besteht in dem Erfassungsmodus dieses Ausgangspunktes, in dem sie beide übereinstimmen, eine zunächst äußert geringfügig
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erscheinende Differenz – die sich alsbald zu einer wahren Kluft entwickelt haben wird. Um diesem Punkt der Differenz in ihrer Übereinstimmung näher zu kommen, sei versucht, aus der jeweiligen Formulierung: »Wenn Freud … gesagt hätte«, einen Grund-Satz aufzustellen, in dem die jeweils gewählte Alternative zu Freud zum Ausdruck kommt. Für Skinner ergäbe sich als Grund-Satz: »Der Organismus reagiert auf die Umwelt« (»[…] if Freud had taken the next step […], that the individual simply reacts to its environment«, a. a. O., S. 80). – Der Janovsche Grund-Satz wäre der folgende: »Der Organismus zieht sich vor solchen Umwelteinflüssen zurück, die für ihn Schmerz bedeuten« (»[…] but the question was, what was being repressed. If he had said ›Pain‹, instead of incestious forces or libidinous impulses […] or wishes […]«, Janov 1975, S. 228 f.). Formal gesehen besteht die Differenz also darin, dass Skinner auf eine Bezugnahme auf das innere Erleben bzw. auf einen Ausdruck der Vermittlung der Umwelteinflüsse durch den Organismus als irrelevant verzichtet und Janov diese Bezugnahme auf eine organismische Vermittlung der Umweltvariablen modifiziert: Nicht Wünsche, Impulse oder unerkennbare Kräfte spielen eine Rolle, sondern Schmerz. Worin liegen nun, bezogen auf das Skinnersche Anliegen einer »physical science«, die logischen Vorteile dieser Korrektur Janovs an der Freudschen Weise der Bestimmung des psychischen Erlebens? – »Schmerz« drückt ein Verhältnis zweier quantitativ bestimmter Größen aus, derart, dass die eine in Bezug auf die andere als ein »Zuviel« zu charakterisieren ist; beide zueinander im Verhältnis stehenden Größen werden quantitativ bestimmt, aber das quantitative Verhältnis ist – unter dem Gesichtspunkt eines der beiden zueinander ins Verhältnis gesetzten Größen – als ein spezifisches aufgefasst; und so ist es ein Maßverhältnis. Indem das quantitative Verhältnis so gesehen wird, wird also eine der zueinander ins Verhältnis gesetzten Größen: der Organismus, auffassbar als ein bestimmtes Quantum, als eine qualitative Quantität oder eine Quantität, die eine bestimmte Qualität bedeutet. Der Organismus wird von Janov bestimmt als eine Quantität, für die es nicht gleichgültig ist, gerade diese spezifische Quantität zu sein, und die aufhört, diese spezifische Quantität (also »sie selbst«) zu sein, wenn ihr spezifisches Maß über ein bestimmtes Maß hinaus überschritten wird.
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Dieser für die Primal hypothesis entscheidende Schritt: wie Janov von der Kategorie der Quantität Gebrauch macht, sei im Folgenden nach zwei Gesichtspunkten näher beleuchtet: Der erste Gesichtspunkt betrifft das grundsätzliche Interesse Janovs an der inneren Tendenz der Kategorie der Quantität, auch als Qualität aufzutreten. Jede Zahl als Prototyp von Quantität impliziert den Zusammenhang beider Bestimmtheiten, je nachdem, ob man den Prozess ihrer Darstellung im Aufzählen der Einheiten von »Eins« – das bloße Übergehen von einer Eins zur nächsten – oder die bei jedem Schritt erreichte Einheit in der Anzahl der Einheiten von Eins akzentuiert, die für jede Zahl spezifisch ist, sodass die Zahl als eine bestimmte Quantität von vielen Einsen, als ein Quantum, auftritt oder eine Quantität, die Qualität bedeutet. Janov lässt der quantitativ bestimmten Gegebenheit den Spielraum, sich als eine Qualität erkennen zu geben; er gibt der Neigung der Quantität zur Qualität nach – aber er geht darin nicht so weit wie Freud, er geht nicht bis zu einer näheren inhaltlichen Bestimmung dieser Qualität, also etwa bis zum Inhalt der »Wünsche« oder »Impulse« oder »Gefühle«; er geht nicht einmal so weit, dass man davon sprechen könnte, dass es sich um »Gefühle« (im Sinne einer isolierten Existenzhypothese) handelt, denn Janov, indem er den formal-quantitativ bestimmten Sachverhalt material-qualitativ werden lässt, geht auf diesen materialen Aspekt formal ein: er hält die Qualität im Zaume der Kategorie der Quantität: nicht »Wünsche« oder »Impulse« und nicht einmal »Gefühle« im normalen Sinn, sondern »Schmerz« ist das Entscheidende für die Primärtherapie – jene Nahtstelle von Quantität und Qualität, wo die Quantität, als eine bestimmte genommen, Qualität bedeutet. Im Sinne dieses ersten Gesichtspunkts soll nun anhand einiger Textstellen demonstriert werden, mit welch intuitiver Treffsicherheit Janov genau jene Begrifflichkeit zur Darstellung seiner Sicht verwendet, die den Übergang von der Kategorie der reinen Quantität zu den dieselbe näher bestimmenden Kategorien des Maßes bezeichnet: »What then is trauma? Any amount of Pain that cannot be smoothly integrated into the system; a quantity of Pain that overloads our integrative capacities, causing fragmentations and disintegration. The surplus that cannot be integrated becomes stored tension. […] That is why we say that neurotics do not feel. What they feel is gradations of tension […] The degree of neurosis depends on the amount of real Pain repressed; and this is measured by the
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amount of residual tension in the body. The higher the tension level, the more repressed feelings there are.« (Janov 1973b, S. 43 f.) »The sum total of all traumas produced the overload […] He will need to relive that trauma in small measured doses under the guidance of a Primal expert.« (Janov 1973b, S. 56 f.) »The patient isn’t screaming in terror from that one event he is reliving; rather that event sums up and represents hundreds of similar events, all producing the same kind of hurt.« (Janov 1973b, S. 101) »I shall introduce only one new term, ›commensuration‹, to explain my thesis. All the term means is that symptoms are commensurate in quality and extent with the original Pain underlying them […] the amount of tension is commensurate with the amount of Pain experienced at the time.« (Janov 1975, S. 273; zum Term »commensurate« 23 vergl. auch 1973b, S. 59)
Bereits diese wenigen Stellen zeigen, wie jene Begriffe, die die Quantität als Qualität bestimmen, die Janovsche Rede durchwirken: »amount«, »overload«, »capacity«, »surplus«, »gradations«, »degree«, »the higher-the more«, »sum total«, »to sum up«, »commensuration« – alle diese Ausdrücke kümmern sich gewissermaßen um das, was geschieht, wenn Quantität so bemessen ist, dass dabei die Spezifität des Maßes eine Rolle spielt. – Die Äußerungen Janovs zeigen die innere Textur dessen, worum es geht, als durch ein permanentes, vielfältiges Abwägen, ein Ins-Verhältnis-Setzen von quantitativen Verhältnissen, bestimmt; der Gegenstand ist dieses Abwägen und Vergleichen, das Ins-Verhältnis-Setzen von Quantitätsverhältnissen (der Umwelt) zu Quantitäsverhältnissen (des OrganisDie Ungereimtheit, dass der Begriff »commensuration« hier (Janov 1975) »eingeführt« wird, obwohl er doch schon vorher aufgetreten ist (Janov 1973b), kann ich nicht aufklären. Zwar entstand das 10. Kapitel von »Primal Man« schon früher: »Further Implications of ›Levels of Consciousness‹« ist bereits 1974 erschienen (The Journal of Primal Therapy, Vol. I, No. 4, Spring 1974), jedoch fehlt in diesem Artikel gerade jener erste Teil des 10. Kapitels von »Primal Man«, und auch diese frühere Veröffentlichung erfolgte erst nach »The Feeling Child« (Janov 1973b). – Indessen sei anlässlich des Auftretens der Frage nach der Reihenfolge der Janovschen Veröffentlichungen erwähnt, dass eine ganze Reihe von Kapiteln aus »Primal Man« (Janov 1975) schon früher (1973; 1974) als Artikel des »Journal of Primal Therapy« erschienen sind. Da m. E. eine solche Feinheit – wie sie eine Bewertung des ersten Auftretens eines Begriffes bedeuten würde – für die hier unternommene Analyse der Janovschen Äußerungen nicht ins Gewicht fällt, wurden diese Artikel, der Einfachheit halber – wenn möglich, d. h. wenn nicht gerade ein Zitat herangezogen wird, das in die Buchveröffentlichung nicht aufgenommen wurde – nach ihrem Abdruck in »Primal Man« zitiert.
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mus), derart, dass dabei das charakteristische Maß-Verhältnis der Organismus-Größe als ein bestimmtes Quantum funktioniert; sowohl ein Zuviel wie ein Zuwenig stört den Rhythmus, die Harmonie des richtigen Maßverhältnisses und führt charakteristische Veränderungen herbei, die in entsprechender Weise zum Ausdruck kommen, so dass dieser Ausdruck eine quantitative und eine qualitative Akzentuierung hat. Indem Maß-Verhältnisse als ein primäres Datum des menschlichen Lebens angesetzt werden, wird verständlich, in welchem Sinn »Neurose« oder auch »Fühlen« – einfach »alles« – »physisch« ist: indem es auf die Unerbittlichkeit quantitativer Verhältnisse bezogen zu denken ist. Wenn nun die verschiedenen Maß-Verhältnisse miteinander harmonieren, so dass das Ganze als ein Gleichgewicht zu charakterisieren ist, so kann und muss man ein so bestimmtes Ganzes einen Zustand (state) nennen. Tatsächlich bestimmt Janov dieses Ganze, das sein Gegenstand ist, sehr gerne als »state«, »total state« oder auch »system«. Hier kommt spätestens der zweite Gesichtspunkt zum Thema der Frage, wie Janov von der Kategorie der Quantität Gebrauch macht, zum Tragen, dass nämlich – indem durch das quantitative Verhältnis zweier quantitativ bestimmter Größen: Organismus und Umwelt, eine der beiden ins Verhältnis gesetzten Größen näher im Sinne der Qualität bestimmt wird – gesagt werden muss, dass es hier die quantitativ bestimmte Sache selbst ist, die von sich aus die ihr implizite Qualität als die spezifische Bestimmtheit ihrer Quantität herausstellt. Dieser Umstand scheint nun zunächst, vom kategoriallogischen Standpunkt aus, nicht gerade bemerkenswert zu sein, indem, wie erwähnt, z. B. jede Zahl als diese bestimmte auch einen qualitativen Charakter hat. In der Tat ist es gar nicht möglich, im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie mit der Kategorie der reinen Quantität (unter völliger Abstraktion von deren qualitativem Aspekt) zurechtzukommen. Bei der Explikation wissenschaftlicher Zusammenhänge geht es ja um die Unterscheidung von quantitativen Größen – was die Identifikation ihrer spezifischen Bestimmtheit voraussetzt – so dass solche Größen herausgefunden werden, die zueinander in jenem besonderen Verhältnis stehen, das etwa »funktionale Abhängigkeit« genannt wird. Während nun eine gemäßigtere Wissenschaftsauffassung den zueinander ins Verhältnis gesetzten Größen selbst eine qualitative Bestimmtheit zugesteht, so dass »states« oder auch »inner states« 178 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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im Sinne von hypothetischen Konstrukten oder Existenzhypothesen wissenschaftlich durchaus anerkannte Konzeptionen darstellen (vgl. Kimble 1967, S. 73), kommt selbst ein so radikal quantitativ engagierter Theoretiker wie Skinner am Problem der notwendig auch qualitativen Bestimmtheit von Quantitäten nicht vorbei. Dieser Umstand zeigt sich, nachdem Skinner die wissenschaftliche Gegenstandskonzeption von allen qualitativen Bestimmtheiten gereinigt wissen will, auf der Ebene der Methodologie: als die Schwierigkeit, die Auswahl zusätzlicher Gesichtspunkte zu begründen, die herangezogen werden müssen, um etwa ein Response-Konzept zu formulieren (die ja, in der Skinnerschen Sicht, mit dem Gegenstand selbst nichts zu tun haben können), 24 oder zu bestimmen, worüber eine Lerntheorie überhaupt Auskunft gibt. Die Kategorie der Quantität kann nicht allein auftreten; sie tritt in einem Rahmen auf, der notwendig andere kategoriallogische Bestimmtheiten umfasst. Im Bereich wissenschaftlich-psychologischer Theoriebildung spielt die Kategorie der Quantität die dominierende Rolle, wobei deren Zusammenhang mit qualitativen Bestimmtheiten – so könnte man sagen – als unumgängliches Problem anwesend ist: Man braucht qualitative Gesichtspunkte, um mit Quantität umgehen zu können, aber, da sich von der wissenschaftlich erfassten Sache her ein solcher Zusammenhang im Einzelnen nicht zwingend ergibt, wird er von den verschiedenen Ansätzen 25 auf verschiedene Weise – kontrovers – bestimmt. Das Neue, Originelle des Janovschen Ansatzes ist also nicht darin zu sehen, dass Janov allein die Kategorie der Quantität in ihrem Charakter auch als eine Qualität berücksichtigen würde, sondern vielmehr in der einzigartigen Direktheit und Kompromisslosigkeit, mit der er – bei weitem radikaler als Skinner – dasjenige beim Schopfe packt, worum es in all den vielen Weisen wissenschaftlicher BemüZu der für eine Lerntheorie grundlegenden Problematik, ein Response-Konzept formulieren zu müssen, vgl. Mac Corquodale & Meehl in: Estes 1954, S. 218–231. – Auch die andere, große kontroverse Frage innerhalb einer lerntheoretischen Methodologie, nämlich die Frage: »What is learned«, kann in dem angedeuteten kategorialen Rahmen als so unabweisbar wie unlösbar begriffen werden. Vgl. dazu Mac Corquodale & Meehl, in: Estes 1954, S. 220 ff.; sowie Kendler 1952, S. 269 ff. 25 In derselben Weise erhellt sich also die Pluralität von lerntheoretischen Orientierungen als Ausdruck jener materiallogischen Grundbestimmtheit des Gegenstandes, in der sie alle übereinkommen: »There may be alternative and seemingly quite different ways of narrating the flux, all equally valid« (Mac Corquodale & Meehl, in: Estes 1954, S. 220); vgl. auch die Ausführungen weiter unten, Kap. 2.1.2.2.1. 24
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hung geht: nämlich um eine gesetzmäßig geregelte Beziehung von Quantität und Qualität: »Schmerz: Eine Quantität, die Qualität bedeutet – nichts weiter als das!« Man kann nicht ärmer beginnen, man kann sich nicht mit geringfügigerem methodischen Gepäck auf den wissenschaftlichen Weg begeben – und darin liegt der ganze Vorteil. Kein forschungslogisches Subjekt; keine Methodologie; kein DingEigenschafts-Schema, das dann mit Abstraktionsbemühungen in ein Relationsgefüge quantitativer Größen umgearbeitet werden muss; kein »Subjekt« gegenüber einem »Objekt« und, demnach, auch nicht eine »Innenansicht« gegenüber einer »Außenansicht« in Bezug auf die Sache, derart, dass man, auf dem »äußeren Standpunkt« stehend, einen »inneren Standpunkt« mehr oder weniger korrekt erschließt – oder das für überflüssig hält, was aber allein noch nicht aus der immerhin vorausgesetzten Unterscheidung herausführt –: nichts von all dem wird vorausgesetzt, nur: eine Quantität, die eine Qualität bedeutet, so dass man über »Qualitäten« wirklich gar nichts weiß, außer, dass sie dasjenige sind, als was sich eine bestimmte Quantität äußert. Damit kann die Geburtsstunde der Janovschen Methodologie, die in einem Ablegen aller bisher gültigeN Erkenntnisvoraussetzungen – mit Ausnahme des kategoriallogischen Extrakts der wissenschaftlichen Methode insgesamt – besteht, tatsächlich in der Äußerung des ersten Urschrei- Patienten »Danny« gesehen werden: »I made it! I don’t know what, but I can feel!« (Janov 1970, S. 10) Somit kann man eigentlich nicht – nicht an dieser Stelle – etwa davon sprechen, Janov vollziehe hier den Übergang von einer »objektiven« zu einer »subjektiven« Erkenntnismethode. Was Janov tut, ist gerade so zu verstehen, dass er die bekannten Unterscheidungen und Differenzierungen als die Weise, wie sich bestimmte kategoriallogische Voraussetzungen manifestieren, aufgibt, dahinfallen lässt und sich, statt an die Verzweigungen, an den Stamm, an das kategoriallogische Schema aller dieser Äußerungsformen hält, so dass er dann konsequenterweise sagen muss, dass er es nicht weiß, was es ist, außer, dass es »Quantität – Qualität« ist. Nachträglich kann man diesen intuitiven, unerschrockenen Akt Janovs so charakterisieren, dass er damit die wissenschaftliche Methode auf ihren Nenner gebracht hat, so dass man sagen kann: Bei Janov bedeutet die Weiterbestimmung der Quantität zur Qualität die Weiterbestimmung der Methode der Quantität (der naturwissenschaftlichen Disziplinen – indem diese in die Differenzierung der Kategorienstufe der Quantität hineingeht und von hier aus versucht, 180 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Qualität als Implikation von Quantität zu begreifen) zur Methode der Qualität, indem das kategoriallogische Schema von Quantität und Qualität der logische Inhalt der wissenschaftlichen Methode und derjenige Hintergrund ist, von wo aus eine Weiterentwicklung dieser Methode als eine Höherentwicklung des kategoriallogischen Hintergrundes im Sinne eines Kategorienwechsels geschehen kann. Wenn die Beschränkung auf den denkgesetzlich notwendigen Zusammenhang der Kategorie der Quantität mit jener der Qualität als alleinige methodologische Orientierung der Primärtherapie eine Bedeutung haben soll als ein Aufnehmen des logischen Gehalts der empiristisch wissenschaftlichen Methode, so dass die Begründung der Primal hypothesis eben in dem Erweis erfolgt, dass die Maßstäbe der wissenschaftlichen Methodologie tatsächlich durch die Weise des primärtherapeutischen Umgangs mit »Quantität, die Qualität bedeutet« erfüllt sind, so erfordert es die Fairness, die Rechtmäßigkeit eines solchen Aufweises nicht nur vom Standpunkt des kategorialen Denkens, sondern ebenso vom empiristisch-wissenschaftlichen Denkhorizont her anzunähern. Zwar ist ein gewisser Spielraum im Ansetzen einer Deutung jenes »Nenners« der empiristischen Methode mit einem solchen Versuch unumgänglich verbunden, indem ein Weg, der über den bisherigen Standpunkt hinausführen soll, diesen nicht hundertprozentig teilt – denn »hundertprozentig« auf einem Standpunkt zu stehen heißt, ihn einzunehmen, so dass er nicht, indem er besetzt gehalten wird, zugleich gewechselt werden kann. Dennoch ist, wie ich meine, der folgende Versuch im angedeuteten Sinne zu bewerten, das Problem der Veränderung der empiristischen Methode, wie es sich als Problem der Gegenstandsbestimmung der Psychologie äußert, aus der Perspektive der empiristischen Wissensform selbst und mit Begriffen, die ihrer Denktradition entnommen sind, einzugehen. So soll im folgenden Abschnitt vor allem ein besseres Verständnis dafür entwickelt werden, inwiefern die Nichtlösbarkeit des Leib-Seele-Problems ein notwendiges Charakteristikum aller bestehenden psychologischen Theorien ist, indem die Psychologie als der Ort gesehen werden muss, wo das Grundlagenproblem der empiristischen Wissensform in einer einzelwissenschaftlichen Disziplin zum Ausdruck kommt. Allein schon dieser Schritt: der Mitvollzug der Verlagerung des Grundlagenproblems der empiristischen Wissensform – das so alt ist wie sie selbst – auf das viel jüngere psychologische 181 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Gegenstandsproblem, ermöglicht das Verständnis der Entwicklung des empiristischen Gedankens; und dieses Verständnis erleichtert schließlich den Schritt, seine grundlegende Strukturierung – die als ein der wissenschaftlichen Methode implizites Verbot wirkt, den psychologischen Gegenstand zu sich selbst kommen zu lassen – positiv als eine Vorschrift gewendet zu sehen, wie die menschliche Subjektivität jene transzendentale Schranke, die sie gespalten und damit von ihrer eigentlichen Bedeutung getrennt hält, regelgerecht – im Sinne der Idee des wissenschaftlichen Wissens – überwinden kann.
1.2. Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie 1.2.1. Versuch einer Charakterisierung der Crux der empiristischen Wissensform für die Erfassung des psychologischen Gegenstandes 1.2.1.1. Allgemeine Charakterisierung des systematischen Zusammenhangs des erkenntnistheoretischen und des psychologischen Grundlagenproblems des empiristischwissenschaftlichen Denkens 1.2.1.1.1. Überlegungen zu den logischen Implikationen des Begriffs der objektiven Erfahrung: Welche Sinn-Struktur setzt ein subjektiv konstituiertes, objektives Wissen voraus? Bestimmt man das spezifisch Menschliche als die differentia specifica, durch die sich der Gegenstand der Psychologie von dem anderer wissenschaftlicher Einzeldisziplinen unterscheidet, so kann weiter gesagt werden, dass dieses spezifisch Menschliche gerade im Zuge der Herausbildung der wissenschaftlichen Methode als das Subjektive oder die Subjektivität begriffen wurde. Wissenschaft betreiben zu lernen – historisch oder ontogenetisch aufgefasst – heißt: zu lernen, in bestimmter Weise von der »Subjektivität« Gebrauch zu machen; d. h. zu lernen, bestimmte Funktionen einer zunächst vage und unspezifisch vorauszusetzenden Gesamtsubjektivität zu fordern und auszubilden, um sie im Wissenschaftsprozess einzusetzen, und andere Momente dieser Gesamtsubjektivität von der Mitwirkung auszuschließen bzw. zu kontrollieren. Das erfolgreiche Hineinfinden eines angehenden Forschers in die erfolgreiche Gangart der Naturwissenschaft fordert vom Betreffenden zu lernen, wie man zu wissen182 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
schaftsfähigen Wahrnehmungen und zu den weiteren konstruktiven Operationen gelangt, von der Handhabung der Wissenschaftssprache und der Herausbildung höher formalisierter Strukturen bis hin zur Mathematisierung des Gegenstandes – ein Training auf verschiedenen Subjektebenen also. Auf dieser fundamentalen Ebene der Explikation wissenschaftlichen Bewusstseins hat Kant den entscheidenden Umschwung vom »bloßen Herumtappen« zum »sicheren Weg der Wissenschaft« gültig charakterisiert als ein Dominantwerden, eine bestimmte Art des Überwiegens der Bestimmtheit des subjektiven Pols in der Erkenntnisbeziehung, derart, dass die grundlegenden Funktionen von Subjektivität (der beiden Grundkräfte des Gemüts: Verstand und Sinnlichkeit) die empirische Realität als die Gegenstände der objektiven Erfahrung konstituieren. So kann man sagen: Empirisch-wissenschaftliche Erkenntnis hebt mit einem bestimmten Grad der Strukturierung einer vorausgesetzten Struktur an, die als Subjekt oder die Subjektivität bezeichnet wird, und empiristisch-wissenschaftliches Wissen ist gegenüber dem nichtwissenschaftlich geprägten Erfahrungsbereich durch eine vermehrte, gesteigerte Differenzierung des subjektiven Anteils an der Inhaltsstruktur des Wissens charakterisiert. Die Kennzeichnung der wissenschaftlichen Erkenntnis als ein objektives Erfahrungswissen besagt zweierlei: • Überwiegen des Subjekts in der Erkenntnisbeziehung: Die Bedeutung der Sachverhaltsstruktur ist zu beziehen auf ein erkennendes Subjekt; d. h., der Objektbezug des Subjekts (die SubjektObjekt-Beziehung) ist ein konstitutives Moment (ein Metaimplikat) der explizierten Sachverhaltsstruktur. • Die Subjekt-Objekt-Beziehung geht so in die Sachverhaltstruktur ein, dass diese als objektive Erkenntnis bestimmt wird. Dieser letzte Schritt sei noch erläutert: Die Charakterisierung einer Sachverhaltstruktur als »objektiv« im Sinne der wissenschaftlichen Erfahrung bedeutet, dass eine Sachverhaltstruktur auf die SubjektObjekt-Beziehung bezogen werden muss. Aber das ist nicht nötig, denn es handelt sich um eine Weise des Wirksamseins der Subjektivität, die den Sinn erfüllt, Nicht-Subjektivität explizierbar zu machen. Durch die hier relevante Art des Wirksamseins von Subjektivität wird eine Differenz geschaffen, die Objektivität definiert. Der Begriff der »objektiven Erfahrung« impliziert also eine Struktur, die eine zweite Struktur impliziert, derart, dass diese zweite Struktur 183 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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so zu charakterisieren ist, dass sie, bezogen auf die erste Struktur, eine logische Differenz markiert, die gerade ausreicht, um sagen zu können, es handle sich bei der zweiten Struktur nicht um die erste Struktur. Die logischen Implikationen des Begriffs der objektiven Erfahrung kennzeichnen somit einen Strukturzusammenhang, der bekannt ist als das Verhältnis zweier Ebenen, so dass die erste Ebene gegenüber der zweiten die logische Funktion der Metaebene ausübt. Die wissenschaftliche Form der Wissensgewinnung, zusammengefasst im Begriff der objektiven Erfahrung, macht es notwendig, eine Struktur zu denken, die besagt: Subjektivität konstituiert nicht-subjektive, d. h. objektive Erfahrung. Ein Erkenntnis-Subjekt bezieht sich auf ein Objekt in der Weise, dass ein zweites Subjekt-Objekt-Verhältnis geschaffen wird, welches zu dem Ausgangsverhältnis eine solche Differenz besagt, dass das zweite Verhältnis als nicht-subjektiv bezeichnet werden muss. Also noch einmal: Erstens: Der Zusammenhang der zwei Strukturen ist als Verhältnis einer Metaebene zu ihrer Objektebene bestimmt. Zweitens: Die Objektebene ist eine Struktur, »der man nicht ansieht«, dass sie ein Subjekt-Objekt-Verhältnis als ihre innere Strukturierung impliziert. Zwar ist die Subjektstruktur – eigentlich das SUBJEKTOBJEKT-VERHÄLTNIS – der Metaebene als konstitutives Moment in der Objektebene wirksam, aber in einer veränderten Form, derart, dass mit gleichem Recht gesagt werden kann: »Sie ist wirksam«, und: »Sie ist nicht wirksam«. Ihre Wirksamkeit ist, im Hinblick auf die Objektebene, gleichgültig, und es ist, im Hinblick auf die Objektebene, infolgedessen sinnlos, darüber etwas auszusagen. Das Verhältnis der beiden Subjekt-Objekt-Verhältnisse, die der Begriff der objektiven Erfahrung impliziert, sei wie folgt dargestellt: S
S
Die Ebene der zweiten Struktur bildet zur Ebene der ersten einen rechten Winkel, wodurch die eigentümliche Veränderung des ersten Verhältnisses beim Übergang in das zweite angedeutet ist, welche die Konstitution objektiver qua nicht-subjektiver Erfahrung bedeutet. O
O
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1.2.1.1.2. Die Aporie (der Begründungszirkel) des empiristischen Erfahrungsbegriffs als Repräsentation der Metastruktur in der Objektstruktur Diese zunächst vielleicht etwas umständlich erscheinende Beschreibung der Grundstruktur der empiristischen Erkenntnis im Sinne des Begriffs der objektiven Erfahrung erspart doch Denkaufwand, indem sie die invarianten Charakteristika der empiristisch-methodologischen Diskussion mit einem Blick verständlich werden lässt. So wirft sie unmittelbar ein Licht, einerseits auf den Zusammenhang des einen Merkmals (nämlich der empiristischen Grundausrichtung), durch eine Abkehr von gewissen Fragen und Fragebereichen – der Metaphysik – und Beschränkung auf empirisch entscheidbare Fragen zu einem Erkenntnisfortschritt zu &,& gelangen, andererseits auf gewisse unlösbare Probleme, wie sie etwa im sog. Basisproblem zusammengefasst werden können. Dies sei nun noch etwas näher ausgeführt. Das Inzitament der empiristischen Orientierung der Erkenntnisgewinnung war von jeher und ist bis zum heutigen Tage das Bestreben, durch kritische Ausschaltung jener Bereiche und Fragen, hinsichtlich deren wir »nichts wissen können«, und durch Bindung an das sichere, solide empirisch-Gegebene (sei es in der Form der unbezweifelbaren Gewissheit von Sinnesdaten oder in der Form von Beobachtungs-, Protokoll- oder Basissätzen) wenn nicht ein absolut, so doch ein in einem ausgezeichneten Maße sicheres, fundiertes Wissen des Wirklichen zu erreichen. Diese Auszeichnung des Wissens als »besonders gesichert« impliziert also in gleicher Weise die Abkehr des Erkenntnisinteresses von gewissen Fragen – im Sinne von Scheinproblemen – und die neuartige Bindung an dasjenige, was »die empirische Basis des Gegebenen« oder einfach »die empirischen Daten« genannt werden kann. Auf dem Hintergrund der skizzierten Struktur des empiristischen Erfahrungsbegriffs wird sofort deutlich, inwiefern diese Abkehr von der philosophischen Frageebene, von Metaphysik und Erkenntnistheorie, für die empiristische Sinnebene nicht nur möglich ist, sondern sogar in eigentümlicher Weise dem logischen Modus entspricht, wie die Struktur der empiristischen Gegenstandsstruktur aus der für sie vorauszusetzenden konstituierenden Struktur hervorgeht: Ihre nicht-subjektive Bestimmung weist sie gewissermaßen von der Ausgangsstruktur weg. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese zunächst berechtigte Abkehr – gemäß der Richtung der Konstitutions185 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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leistung im Sinne einer Veränderung der Ausgangsstruktur in das, was sie nicht ist – nicht endgültig sein kann, indem jene fundamentale SUBJEKT-OBJEKT-BEZIEHUNG ja in die von ihr konstituierte »objektive« Sachverhaltstruktur in einer im Sinne des logischen Ebenenwechsels veränderten Weise eingegangen ist. Es ist also zu erwarten, dass das Ausgeschaltete im Rahmen der objektiven Sachverhaltstruktur in entsprechend veränderter Form (denn der logische Ebenenverlust muss ja ebenfalls zum Ausdruck kommen) wieder auftaucht. Entfällt also in der empiristischen Wissenschaftstheorie im Sinne der Abkehr von gewissen fundamentalen Fragestellungen, die für die empiristische Methodologie belanglos sind, etwa die erkenntnistheoretische Grundfrage aller Wissensformen, wie die Gegenstandsbezogenheit der Aussagen zu begründen sei – als Abkömmling der erkenntnistheoretischen Grundfrage nach dem Verhältnis von Denken und Sein – (indem es hier ja nur auf die Explikation objektiver Sachverhaltsstrukturen ankommt): so tauchen die Schwierigkeiten unweigerlich im Rahmen der Objektebenenstruktur wieder auf, nämlich in der Form des Methodologie-immanenten Problems der näheren Bestimmung der empirischen Basis der empiristischen Wissensstruktur. Das sog. Basisproblem ist die Form, wie der Gegenstandsbezug als Verhältnis der Metaebene zu der von ihr konstituierten Objektebene repräsentiert ist; damit ist es per definitionem ein auf dieser Ebene unlösbares Problem. – Anders ausgedrückt: Die empiristische Erkenntnisrichtung gestattet das Absehen von der für die objektive Erkenntnisstruktur konstitutiven SUBJEKT-OBJEKT-BEZIEHUNG. Die so über eine Leistung mit logischem Metastatus konstituierte Objektebene weist nun Strukturmomente auf, die den Gegenstandsbezugs-Charakter (abgekürzt: SUBJEKTIVEN Charakter) der objektiven Sachverhaltsstruktur repräsentiert – aber natürlich in der Form der Objektebene: Dasjenige Moment, im Hinblick worauf das erkenntnistheoretische Metaebenenproblern fallengelassen werden konnte, hat nun zwangsläufig einen Status, der das Metabezugsproblern in der Sprache der Objektebene verkörpert; dieses unterliegt notwendig einer Definition im Sinne einer logischen Antinomie. Noch einmal: Die empiristische Erkenntnishaltung konnte von der erkenntnistheoretischen Fragestellung absehen im Hinblick auf gewisse Strukturmomente der Objektebene, in die sich die logische Essenz der Metaebene korrekt hineintransformiert hat, so dass man 186 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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in ihnen eine für den Bedeutungsraum der Objektebene gemäße Form der Lösung des alten Gegenstandsbezugsproblems als bereits gelungen und vollzogen annehmen darf. Im älteren Positivismus sah man diese Strukturmomente in der »unbezweifelbaren Basis des sinnlich Gegebenen« (vgl. Schnädelbach 1971, S. 13), auf die die anderen, hierarchisch voneinander abgehobenen Ebenen des Netzwerks wissenschaftlicher Begriffe und Gesetze zurückzuführen waren. Ist nun diese Basis einerseits – letztlich – in der individuell besonderen Leistung empirischer Subjekte zu sehen (auch der deiktische Hinweis auf physisch Gegebenes bzw. entsprechend interpretierbare Beobachtungs- und Protokollsätze enthalten jenes beabsichtigte Moment der unabweisbaren, nicht hinterfragbaren Gegebenheit eines »Datums« für ein empirisches Subjekt); und sollen diese subjektiven Daten andererseits gerade das besondere Erfahrungsmoment im Unterschied, ja im Gegensatz zu dem stets bloß hypothetisch bleibenden, theoretischen Pol der Gesamtstruktur des objektiven Erfahrungswissens repräsentieren: so haben sie diese ausgezeichnete Funktion durchaus nicht im Sinne der empiristisch explizierten Bedeutungsstruktur (indem sie innerhalb des empiristischen Erfahrungsbegriffs als Konstrukte fungieren und ebenfalls theoretische Bedeutung haben), und so haben sie ihre empirische Fundierungskraft nicht, insofern sie empirisch sind, sondern vielmehr, insofern in ihnen das erkenntnistheoretische Problem des Sachbezugs als gelöst angesehen werden kann, d. h. aufgrund ihres (unerkannten) Metastatus. Dieser Tatbestand hatte im empiristischen Denken die Konsequenz einer fortgesetzten Erschütterung der ursprünglichen BasisKonzeption, die zu Formulierungen dahin gehend führte, dass dasjenige, was den subjektiven Daten die Funktion der Lösung des Basisproblems gibt, eigentlich von der Theorieebene des empiristischen Erfahrungswissens ausgeht: Der Metastatus der subjektiven Daten ist in der Sprache der Objektebene uminterpretiert als Theorieabhängigkeit der Beobachtungssprache. Die wie immer gearteten subjektiven Daten fungieren nicht als solche als Bestätigungsbasis des empiristischen Wissens, vielmehr üben sie diese Funktion aus aufgrund einer bestimmten Form, die als eine theoretische Leistung verstanden werden muss. So verstehe ich etwa auch das Fazit, das Stegmüller aus der Untersuchung der Argumente zieht, die von phänomenalistischer Seite dafür vorgebracht worden sind, dass (nicht physische Objekte, sondern) Sinnesdaten die Objekte unserer Wahrnehmungen seien:
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»Man kann den Begriff des Sinnesdatums nicht dadurch einführen, dass man es als dasjenige bestimmt, was unmittelbar gegeben ist; vielmehr kann man umgekehrt den vom alltäglichen Sinn abweichenden Gebrauch von »unmittelbar gegeben sein« nur dadurch festlegen, dass man dieses Verbum auf die bereits vorausgesetzten Sinnesdaten anwendet.« (Stegmüller 1969, S. 21)
Indem es für die Wissenschaft relevant wird, verwandelt sich das »unmittelbar Gegebene«, so dass es nun der wissenschaftlichen Theorieebene näher steht als der sog. Lebenswelt, der es entstammt: »Denn als Theorie hat nicht allein wissenschaftliche Theorie im Unterschied zu wissenschaftlicher Empirie zu gelten, sondern auch Theorie gegen lebensweltliche Praxis; und der Akt abstrahierenden Herauslösens von Erfahrungen aus dieser zwecks Untersuchung lediglich als Beobachtungstatsachen hat als solcher bereits theoretischen Charakter.« (Ströker 1973, S. 25)
Obwohl der Anknüpfungspunkt an die Alltagserfahrung – mindestens im Anfangsstadium einer wissenschaftlichen Disziplin – erforderlich ist, hat die Aufnahme eines Aspektes derselben in die wissenschaftliche Betrachtungsweise zur Voraussetzung, dass die vertraute Regelhaftigkeit aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst wird und dass sich damit der Sinn und die Art der Verknüpfung der Momente der Gegebenheit radikal verändert (vgl. Toulmin 1953, S. 19). Das unmittelbare, subjektive Erleben geht nicht als solches in die wissenschaftlich explizierte Sachverhaltstruktur ein: »Private, immediate experience as such is only the raw material, not the real subject matter of Science.« (Feigl, in: Feigl & Sellars 1949, S. 507)
Die vielfache Neufassung und Liberalisierung des empiristischen Sinnkriteriums in der Preisgabe zumindest einer statischen Fassung der Zweistufenkonzeption der Wissenschaftssprache, so dass die Bedeutung eines Begriffs sich nicht mehr nur in einer Richtung bestimmt – nämlich von seinem Ort im nomologischen Netz in Richtung auf die Beobachtungs- oder Verifikationsbasis –, sondern sich vielmehr zunehmend im Sinne eines Wechselwirkungsprozesses der Bedeutungskomponenten des gesamten nomologischen Netzes präzisiert, so dass die Basis in gewisser Weise Resultat eines komplexen Zusammenwirkens aller Ebenen des wissenschaftlichen Netzwerkes ist 26 : Alle diese Veränderungen in der Auffassung der Struktur der Diese »dynamische« Sicht des Fundaments der empiristischen Erkenntnis ist bereits bei Schlick angelegt. In seinem berühmten Aufsatz: »Über das Fundament der Erkenntnis« (Schlick in Krüger 1970, S. 41 ff.), schreibt er: »Endgültigkeit ist ein sehr
26
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wissenschaftlichen Erfahrung haben den logischen Kernpunkt des Problems, wie die besondere empirische Fundiertheit des wissenschaftlichen Wissens näherhin zu denken sei, unberührt gelassen; Die subjektiven Daten sollen ihre fundierende Funktion ausüben, insofern sie einen anderen, nicht-theoretischen Status haben; aber beim ersten Zugriff, sie als das »Gegebene«, »Sinnesdaten« oder wie auch immer zu bestimmen, wird ihr theoretischer Status deutlich – wie u. a. das Schicksal der Sinnesdatentheorie zeigt –, und damit stellen sie genau nicht das gegenüber der Theorie andere Moment dar, mit dem sie doch identifiziert werden müssen, um die geforderte Basisfunktion auszuüben. Der Status der subjektiven Daten ist somit durch eine logische Antinomie bestimmt: • Die subjektiven Daten genügen ihrer Funktion, wenn sie nichttheoretisch sind; • indem die subjektiven Daten ihrer nicht-theoretischen Definition genügen, sind sie theoretisch und genügen nicht ihrer Definition. Indem die Zirkelhaftigkeit oder, umgekehrt, Hinfälligkeit der ganzen empiristischen Begründungskonzeption in sehr merkwürdiger Weise zugleich offensichtlich wie auch wieder schwer zu fassen ist, taucht das Problem an verschiedenen Punkten des Wissensgefüges und in verschiedenen Blickrichtungen auf, und wenn man es an einer Stelle einigermaßen »neutralisiert« hat, fällt es an anderer Stelle ins Gewicht. Angenommen, man beginnt einmal beim empirisch Gegebenen, ausgezeichnet durch sinnliche Gewissheit, und betrachtet es als »jenes eine und unerlässliche Fundament, welches sichert, dass die Wissenschaften von der wirklichen Natur handeln« (Krüger 1970, S. 14): Auf welchen Sinn des empirisch Gegebenen soll man sich beziehen? – Zunächst mag man sich an das einmalige, individuelle Aufblitzen der sinnlichen Gewissheit halten und erfährt: »One’s own immediate experience, the actual lived-through stream of data, may therefore be conceived as the epistemological basis of all concept-formation and theoretical construction in the empirical sciences. In that sense, it is
passendes Wort, die Geltung der Beobachtungssätze zu kennzeichnen. […] Die Wissenschaft ruht nicht auf ihnen, sondern führt zu ihnen, und sie zeigen an, dass sie gut geführt hat […]; es befriedigt uns, sie zu erreichen, auch wenn wir nicht auf ihnen stehen können.« (a. a. O., S. 53).
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not a construct, but the small foothold in reality that any observer must have to get at all started in his business.« (Feigl, in: Feigl & Sellars 1949, S. 507)
Die mit der für die empiristische Erkenntnis so entscheidenden Qualität der unmittelbaren Gewissheit gekennzeichneten »raw feels« sind nun aber so zu denken, dass sie, streng genommen, gar nichts (nichts Bestimmbares) mit der zu explizierenden Sachverhaltstruktur zu tun haben (vgl. Feyerabend 1960, S. 72). Wie aber können sie dann als Konfirmationsgrundlage fungieren? – Bezieht man sich jedoch auf sie in ihrer bereits von der Theorie bestimmten Form, um ihnen den zu fordernden Sachbezug zu sichern, so können sie auch in dieser Form ihre Bestätigungsfunktion nur aufgrund ihres Zusammenhangs mit jenem unbedingt nicht-theoretischen Moment, für das ein Sachbezug nicht bestimmt werden kann, ausüben: und so können sie ihre Bestätigungsfunktion also ausüben, insofern sie sie nicht ausüben können. Dies bestätigt Feigl, wenn er aus der Analyse der Bedeutung der »raw feels« und der direkten Vertrautheit für die Inhaltsstruktur der Erkenntnis das Fazit zieht, dass diese Bedeutung praktisch auf null zusammengeschrumpft ist, um dann mit der Wendung fortzufahren: »[…] nevertheless, and this is philosophically even more important, the firstperson-data of direct experience are, in the ultimate epistemological analysis, the confirmation basis of all types of factual knowledge claims. This is simply the core of the empiricist thesis again.« (Feigl, in: Feigl & Sellars 1972, S. 437; Hervorhebung B. V.)
Die Daten des unmittelbaren Erlebens haben eine für das empiristische Wissen unerlässliche, konstitutive, Funktion – und doch haben sie eigentlich keine (bestimmbare) Funktion. Bei dieser Betrachtung der widersprüchlichen Bestimmung der Daten des direkten Erlebens in der empiristischen Methodologie geht es vor allem darum aufzuzeigen, wie sich das Problem, die besondere Fundiertheit des empiristischen Wissens aufzuweisen, »benimmt«: Ganz zu Anfang verhält es sich ruhig, denn das empiristische Wissen beginnt mit dem Eindruck einer unbezweifelbaren Gewissheit. Dann aber sorgt es für eine nicht zu beschwichtigende Unruhe, für eine Begründungsaktivität, wobei sich die Argumentation deutlich im Kreise bewegt, wobei der Begründungsschwerpunkt abwechselnd auf die Basis und, um deren Doppeldeutigkeit im ungeklärten Zusammenwirken von mehr theoriefreien und mehr theorieimprägnierten Momenten zu entgehen, auf die Theorie und von hier aus, um dem 190 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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empirischen Charakter gerecht zu werden, wieder zurück auf die Basis verlegt wird, so dass die besondere Überzeugungskraft dieser Wissensstruktur schließlich als in der Luft hängend bzw. kreisend akzeptiert werden muss, wenn es nur, relativ zu einem bestimmten Rahmen, punktuell zu relativ einleuchtenden Verbindungen kommt; – man erkennt hier mit einigem Erstaunen eine Figur wieder, die jener, die die primärtherapeutische Begriffsbedeutung vollzieht, recht nahe kommt; m. a. W. es zeigt sich eine Figur, die auf den logischen Metastatus der Bedeutung des empiristischen Sinnkriteriums hinweist: Das empiristisch Fundierende ist deshalb zugleich empirisch wie theoretisch wie keines von beidem, weil es dabei um ein der Theorie- wie der Empirieebene, d. h. allen Momenten der empiristischen Wissensform logisch übergeordnetes Moment geht: nämlich um das Meta-Implikat der für die empiristische Wissensform konstitutiven SUBJEKT-OBJEKT-BEZIEHUNG. Die empiristische Denkeinstellung hat jedoch die Tendenz, die Diskussion nicht bis zu dem Punkt kommen zu lassen, wo dieser Charakter des Problems ins Auge gefasst werden konnte; vielmehr wird das Problem, indem es auftaucht, als unlösbar definiert und, unter Berufung auf die logische Ausgangsposition des Empirismus, die ihn von einer Begründungspflicht entlastet, als für ihn unmöglich maßgebend zurückgestellt. Wenn Bertrand Russell seine Überlegungen zum logischen Positivismus in der Folgerung zusammenfasst, »dass ein kompromissloser Empirismus nicht haltbar ist«, und gleich darauf sagt, dass er trotz alledem davon überzeugt ist, »dass Naturwissenschaft im Großen und Ganzen wahr ist« (Russell, in: Krüger 1970, S. 292), so charakterisiert er damit die Tendenz des Empirismus, von dem Vorteil der Konstitutionsdynamik der wissenschaftlichen Wissensform, wie sie sich aus dem Weggehen von einer Ausgangsposition ergibt, Gebrauch zu machen, ohne diese Bewegung ernstzunehmen und zu verstehen, dass sich damit das Begründungsproblem an einen anderen logischen Ort verlagert, so dass als Preis dafür, dass es an der alten Stelle (als rein philosophisches Problem) tatsächlich nicht mehr besteht, eine neue Form, darauf einzugehen, gefunden werden muss. Entsprechend den Überlegungen Russells stellt Schulz beim Studium der späteren Arbeiten des Positivismus ein zweideutiges Bild fest: »Auf der einen Seite überrascht der ungeheure Aufwand an logischen, syntaktischen und semantischen Bestimmungen – auf der anderen Seite ist fest-
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zustellen, dass doch letzthin die Meinung des frühen Positivismus leitend bleibt, dass es eine wirkliche Welt gibt, die aus Tatsachen besteht und dass die Wissenschaft letzthin auf Tatsachen zu gründen sei.« (Schulz 1974, S. 62)
Die Begründungsaktivität des empiristischen Denkens zeigt die Virulenz des Problems; dass diese es noch nicht bewältigen konnte. Dass diese es noch nicht bewältigen konnte, muss m. E. zu der Schlussfolgerung führen – nicht, dass seine Lösung für den Empirismus eigentlich auch gar nicht so wichtig ist, sondern vielmehr –, dass dieses Grundlagenproblem noch nicht an der richtigen Stelle und in der richtigen Form angegangen wurde. 1.2.1.1.3. Der systematische Ort der Psychologie am »logischen Ausgangspunkt« der empiristischen Methode Indem die wissenschaftliche Wissensstruktur in irgendeiner Form artikuliert wird, entsteht, gegenüber einem schematisch anzusetzenden vorwissenschaftlichen Stadium, eine neue Gesamtsituation, und diese neue Gesamtsituation ist grundlegend geprägt durch das spannungsreiche Verhältnis zweier verschiedener Formen der Strukturierung: der wissenschaftlichen und der Alltagserfahrung. Wissenschaft setzt unmittelbar einen ihr gegenüber andersgearteten Sinnzusammenhang voraus, aus dem sie gewisse Momente im Sinne jenes Aktes, der ihre empirische Basis konstituiert, schöpft, wobei sich der Sinn jener Momente »gravierend« ändert. Der »Sinnes-Wandel« jener den empirischen Charakter des wissenschaftlichen Wissens konstituierenden Momente, wodurch sie einerseits in der für das empiristische Wissen erforderlichen Weise auf theoretisch-begriffliche Strukturen beziehbar werden, andererseits, in Bezug auf den Zusammenhang, dem sie entnommen sind, in einen als unüberbrückbar gehandhabten Gegensatz geraten – dieser »Sinnes-Wandel« ist der Punkt, an dem das eigentlich Neue der durch das Auftreten von Wissenschaft geschaffenen Situation fassbar wird. Die wissenschaftliche Erfahrungsform wird gewonnen in einer spezifischen Weise der Abhebung von einer anderen Struktur, die man »Alltagserfahrung« oder »Lebenswelt« nennt, von der sie zugleich abhängig ist und sich im Sinne einer unüberbrückbaren Kluft distanziert. Nicht nur haben die Alltagserfahrungen, aus denen die Sinnesdaten geschöpft werden, zur inhaltlichen Bestimmung der wissenschaftlichen Sachverhalte nichts beizutragen, sondern, umgekehrt, hat auch die Wissenschaft zur Bewältigung der Lebensprobleme nichts zu sagen: Außer einigen 192 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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notwendigen Berührungspunkten, die wiederum notwendig ungeklärt bleiben, haben Wissenschaft und Leben nichts miteinander zu tun. So beruhen nach Stegmüller »[…] die ewigen Rätsel, welche die Metaphysiker seit je in Atem hielten […] auf einer unklaren Verquickung von theoretischen Problemen und praktischen Lebensproblemen. Man darf nicht glauben, mit der Beantwortung theoretischer Fragen auch Probleme des Lebens gelöst zu haben […] So ist auch die Wissenschaft unbegrenzt erweiterungsfähig, ohne das Leben auszumachen. Selbst wenn alle sinnvollen Fragen beantwortet wären, hätten wir damit für die Meisterung des Lebens noch sehr wenig geleistet. Die Lebensprobleme müssen im Leben selbst, außerhalb der Wissenschaft, bewältigt werden. So z. B. existiert kein philosophisches ›Problem des Todes‹. Was es an wissenschaftlichen Aussagen über den Tod gibt, gehört zur Biologie und nicht zur Philosophie. Wenn daneben von einem »existentiellen« Problem des Todes gesprochen wird, so handelt es sich nicht mehr um theoretische Fragestellungen, sondern z. B. darum, dass ich durch den Tod meiner Mitmenschen und durch die Gewissheit um den eigenen Tod erschüttert werde. Mit diesem Problem fertigzuwerden, ist eine praktische Angelegenheit; keine wie immer geartete wissenschaftliche Theorie vermag hierfür etwas zu leisten.« (Stegmüller 1965, S. 386 f.; Vgl. zu diesem Tatbestand auch Kolakowski 1971, S. 247)
Die Weise, wie das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt bestimmt ist: die Wissenschaft ist von der Alltagserfahrung abhängig, und doch braucht diese Abhängigkeit von ihr nicht berücksichtigt zu werden; ist die erste Umschrift des Grundlagenproblems: ihres Verhältnisses zu der für sie vorauszusetzenden SUBJEKT-OBJEKT-Metabeziehung, in die Sprache der Objektebene. Erst mit dem Auftreten von Wissenschaft entsteht ja jene ausgeprägte Entgegensetzung von »wissenschaftlichem Kalkül« und »irrationalem Lebensgefühl«, von »theoretischen« und »existentiellen« Problemen. Ebenso muss jedoch auch das eigentliche Grundlagenproblem, nämlich die, wie Kant gezeigt hat, für wissenschaftliche Erfahrung als Bedingung ihrer Möglichkeit vorauszusetzende Idee einer SUBJEKTIVEN Fundiertheit derselben mit dem Charakter der Unerkennbarkeit dieser Voraussetzung vom Standpunkt der durch sie konstituierten Struktur, als ein Resultat des Auftretens von Wissenschaft bezeichnet werden. Das Auftreten von Wissenschaft präzisiert diese Problemkonstellation und konzentriert sie an einem bestimmten Ort: Die erkenntnistheoretische Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein im Grundlagenproblem der empiristischen Wissenschaft; das Grundlagenproblem im Problem des Verhältnisses von Wissenschaft und
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Lebenswelt; und dieses im Problem des Zusammenhangs jener subjektiven Momente, die in die Wissenschaft eingehen, mit einer anderen Art von subjektiven Momenten, die keinen Eingang in die Wissenschaft finden können, obwohl sie für wissenschaftliche Erkenntnis notwendig sind; und dieses letzte schließlich noch einmal im Problem des Zusammenhangs jener Momente, die den ganz spezifisch empirischen Charakter der empiristischen Wissensform repräsentieren, mit jenen, von denen sie zu diesem Zwecke abgetrennt werden. Der Versuch der Annäherung an das mit dem Auftreten von Wissenschaft notwendig verknüpften Zusammenhangsproblem (in seinen verschiedenen Äußerungsformen) hat nun mit der Schwierigkeit umzugehen: sowohl bei einem zu direkten Zugriff – über das Argument: eine Klärung der Frage sei unausweichlich, da für das empiristische Wissen konstitutiv – als auch unversehens die Notbremse des Gegenarguments auszulösen: dass eine empiristische Methodologie diese Frage nämlich trotz alledem nicht zu berücksichtigen brauche. Von den Argumenten, die zugunsten einer Annäherung an das empiristische Zusammenhangsproblem vorgebracht werden können, seien hier die folgenden genannt: Erstens, die verschiedenen Formen eines Selbstwiderspruches, in den sich die wissenschaftliche Wissensform bei konsequenter Nichtbeachtung dieses Problems verwickelt: einmal in Bezug auf ihre Idee eines besonders gesicherten Wissens; ferner in Bezug darauf, dass dies ja das erste Mal wäre, dass eine als solche beachtete, bedeutungsvolle Regelmäßigkeit (etwa die Regelmäßigkeit der Produktion von Sinnesdaten durch das lebensweltliche Subjekt, die auch bei der Konstruktion von Messgeräten herangezogen werden muss) von ihrer weiteren Erforschung ausgeschlossen wäre. Zweitens, der Umstand, dass eine Wissenschaft, die sich hier weigert weiterzufragen, ja nicht nur die vorhandenen Lebensprobleme der Menschen nicht löst, sondern auch neue, noch größere unlösbare Probleme schafft; und es ist nicht ganz einzusehen, wie nun auch diese neuen, mit der Lenkung des wissenschaftlichen Fortschritts entstandenen Probleme ausschließlich dem außerwissenschaftlichen Leben zur Last gelegt werden sollten, zumal ja dessen Befugnisse in Bezug auf die Grundfragen rationaler Entscheidung und Handlung von der Wissenschaft selbst in Zweifel gezogen werden. Drittens – und das ist m. E. das eigentlich zwingende Argument – kreiert die wissenschaftliche Methode in der Konsequenz ihres 194 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Fortschreitens und ihrer Anwendung auf alles, was nur ihr Gegenstand werden kann, eine Disziplin, die »ein Ding der Unmöglichkeit« ist – die Psychologie. Eine empirische Psychologie, deren Wissensresultate aufgrund von deren methodologischen Voraussetzungen so beschaffen sind, dass sie nichts für die Probleme des lebensweltlichen Subjekts besagen, ist in der Tat bereits im Ansatz ein »unmögliches«, auf eine Paradoxie hin angelegten Unternehmen. Es mag zutreffen, dass eine Methodologie der Naturwissenschaft auf die Klärung ihres erkenntnistheoretischen Grundlagenproblems in der Form eines philosophischen Problems verzichten kann, da dieses, indem sie es gewissermaßen hinter sich zurückgelassen hat, sie nicht direkt betrifft. Es trifft aber keineswegs auf das Grundlagenproblem auch in der Form des Grundlagenproblems der Psychologie zu; für den Gegenstand der Psychologie kann etwa die Frage des Zusammenhangs der beiden »Hälften« des Komplexes der subjektiven Daten unmöglich belanglos sein, denn das Objekt »Mensch« ist ja faktisch dieser Zusammenhang. Anders ausgedrückt: Konnten im Falle der Physik etwaige (im Anschluss an die bekannte Heisenbergsche Unschärferelation auftauchende) Zweifel an der Belanglosigkeit der konstituierenden Gegenstandsbeziehung für die Inhaltsstruktur des Wissens noch mit einer gewissen Berechtigung zurückgestellt werden, so gibt es im Falle der Psychologie für die »Belanglosigkeitshypothese« schlechthin kein Argument mehr: Wie sollte die Herstellung und Aufrechterhaltung der wissenschaftskonstitutiven Bedingungen für die inhaltliche Bestimmtheit jenes Gegenstandes keine Rolle spielen, der eben durch die Möglichkeit, diese Bedingungen herzustellen, definiert ist? Der Hinweis darauf, die Daten des direkten Erlebens könnten ja durchaus Ziel des Wissensanspruchs der Psychologie sein (vgl. Feigl, in: Feigl & Sellars 1972, S. 437), bzw. der Hinweis, die Psychologie (im Sinne einer normalen wissenschaftlichen Disziplin) könne ja das Gegebene oder die Weisen des unmittelbar in der Beobachtung Gegebenen weiter untersuchen, ist offensichtlich zirkelhaft, denn eine solche Untersuchung kann dem subjektiven Charakter und der Logik des gefragten Zusammenhangs nicht um ein Haar näherkommen, als es eine Methodologie zulässt, die gerade dies ausschließt. In der Tat wird das Argument ja umgekehrt dazu benutzt, um darzutun, dass die Psychologie nichts zur Methodologie der Naturwissenschaften beizutragen hat. So bemerkt Bergmann, dass die grundlegenden, undefinierten 195 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Beziehungen, von denen die Naturwissenschaft Gebrauch machen muss (in der Physik z. B. die an die Dingvorstellung gebundene »raumzeitliche Koinzidenz«), eigentlich ein näheres Eingehen darauf erforderlich machten, »wie sie gegeben sind und was ihr Gegebensein voraussetzt« (Bergmann, in Krüger 1970, S. 72). Nun wird aber »das ›Gegebene‹ oder ›unmittelbar Beobachtete‹ durch die Erfahrungswissenschaft Psychologie untersucht […] und nicht durch die Selbstbeobachtungen und Rationalisierungen des Mannes im Lehnstuhl« (a. a. O., S. 73). Bergmann fährt fort: »Eine solche Antwort ist jedoch nicht endgültig im philosophischen Sinn, denn sie ist entweder zirkelhaft oder die Psychologie – die, als eine Naturwissenschaft, selbst vom Gegebenen oder direkt Beobachtbaren ausgehen muss – bleibt wiederum ohne Grundlage.« (ebd.)
Und ebenso lautet die Auskunft weiter unten: »Empiristen verstehen unter Philosophie oder Methodologie der Naturwissenschaften nur ihre logische Analyse, nicht die sozio-psychologische Analyse der Entdeckungsvorgänge, die im Prinzip selbst eine Naturwissenschaft ist.« (a. a. O., S. 77).
Andere – wenige! – Autoren bedauern diese vertrackte Situation (vgl. Russell, in: Krüger 1970, S. 292; und Herrmann, in: Schneewind 1977, S. 69). Nicht berücksichtigt wird dabei – sofern dieser Punkt in der Diskussion überhaupt berührt wird – der doch entscheidende logische Umstand, dass das psychologische Gegenstandsproblem das Grundlagenproblem der empiristischen Wissensform ist, aber in veränderter Form; was bei der Bestimmung des Verhältnisses von Psychologie und empiristischer Methodologie nicht berücksichtigt wird, ist der Umstand, dass, indem in der Psychologie das ungelöste Grundlagenproblem der empiristischen Wissensform akut wird, die Anfangssituation der Wissenschaft auf neuer Stufe auftritt, so dass eine neue Beurteilung dieser Situation möglich wird (wie sie zuvor nicht möglich war), und zwar aufgrund der inzwischen erfolgten Entwicklung der wissenschaftlichen Methode. In ihrer Entwicklung hat die Wissenschaft einen großen Kreis ausgeschritten. Mit einer bestimmten Methode, die im Grundsätzlichen immer dieselbe blieb, hat sie die Wirklichkeit durchmessen und ist in der Psychologie an ihren Ausgangspunkt, zu sich selbst und ihrer Methode, zurückgekehrt. In der Psychologie nämlich tritt
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ihr als Gegenstand entgegen, was sie selbst ist. Sie hat sich von ihrer SUBJEKTIVEN Ausgangsmatrix wegbewegt, hat sich ganz entäußert und versucht, nichts (Subjektives) zu werden, um das Verfügbare so einzusetzen, dass nur alles dem Gegenstand zugutekommen soll; und weil sie ganz Objekt (objektive Wissensstruktur) geworden ist, tritt ihr nun in einem ihrer Objekte sie selbst entgegen. Dies kann geschehen, indem die ausschließlich ihrer Methode verpflichtete Wissenschaft, aufgrund der ihr immanenten Regel, alles auf die gleiche Weise zu erfassen, notwendig einmal an jenen Gegenstand geraten muss, der den ganzen wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, seine spezifischen Ermöglichungsgründe und noch viel mehr in sich enthält. Von der Psychologie sind erkenntnistheoretische Aufschlüsse in Bezug auf die empiristische Wissensgrundlage zu erwarten nur dann, wenn man die Psychologie nicht (nur) als eine normale naturwissenschaftliche Disziplin ansieht, sondern als jene Lösung des Grundlagenproblems, die möglich ist, nachdem man durch sie hindurchgegangen ist, d. h., indem man die jetzt ausgearbeitete, faktisch gehandhabte Methodologie anwendet auf den Gegenstand der Psychologie als dasjenige, das die Vergangenheit (die vorauszusetzende Ausgangsform) aufgrund der genutzten Gegenwart (dem Verständnis der jetzt gehandhabten empiristischen Methodologie) als die zu erringende Zukunft (die nächst höhere Entwicklungsstufe) der empiristischen Wissensform in sich birgt; das erfordert, die empiristische Methode in einem »zweiten Durchgang« als eine implizite Vorschrift für das methodische Vorgehen einer neuen, SUBJEKTIVEN Wissensform zu deuten. Die empiristische Methodologie als eine Theorie der objektiven Erkenntnis macht Gebrauch von SUBJEKTIVITÄT (als einer in diesem Stadium unerkannten Voraussetzung), in einer Weise, dass damit ein empirisches Subjekt auf den Plan tritt, dessen Beziehung zur Inhaltsstruktur des empiristischen Wissens genauso undurchsichtig ist, wie dessen Beziehung zu jener unerkannt vorauszusetzenden SUBJEKTIVITÄTSstruktur. Um diesen Sachverhalt fassbarer zu machen, könnte man einmal folgenden Vergleich anstellen: Mit der wissenschaftlichen Erfahrung verhält es sich wie mit einer Person, die in einen Spiegel schaut, derart, dass nur ein Gegenstand, der sich irgendwo im Hintergrund des Raumes – nicht im unmittelbaren Gesichtsfeld dieser Person – befindet, nicht jedoch diese 197 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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selbst darin zu sehen ist. Die Person schaut in den Spiegel, so dass sie nicht sich selbst, nur das Objekt zu sehen vermag. Aber es ist, als empfinde sie dieses Hineinschauen dumpf als einen Stachel und sinne daher auf eine List, ob es nicht möglich wäre, in den Spiegel zu schauen, ohne hineinzuschauen – d. h., sie frage sich, ob der Gegenstand auf die nämliche Weise im Spiegel erscheine, auch ohne dass sie ihn dort sehe. Das ist es, was die empiristische Methodologie von der Psychologie gerne erfahren möchte: ob nämlich die Sinneserlebnisse »wahr« seien; und dabei versteht man »wahr« im Sinne der Physik bzw. im Sinne der objektiven Erfahrung (so dass etwa Feyerabend eine Kausaltheorie der Wahrnehmung als Möglichkeit der Begründung der empiristischen Wissensform in Erwägung zieht; vgl. Feyerabend, in: Topitsch 1960); hingegen ist doch evident, dass sich der »Gegenstand an sich« in der Wahrnehmung verändert, d. h.: Man kann den Akt der Erkenntnis nicht rückgängig machen oder »neutralisieren«; man gelangt nicht zur Wahrheit der Erkenntnis, indem man die Tatsache der Erkenntnis in Abzug bringt (indem man so in den Spiegel schaut, dass man praktisch gar nicht in den Spiegel schaut und doch wissen will, was im Spiegel zu sehen ist). Man kann eine isolierte, objektive Wahrheitserkenntnis nur vertrauenswürdiger machen, indem man den vollen Sinn der Wahrheit der subjektiven Erkenntnis rekonstruiert und damit die an ein Mittel gebundene Erkenntnisform vollendet. Das Problem des empiristischen Wissensbegriffs (der, indem er nur eine Wahrheitshälfte, nur der erste Schritt zu einer vollständigen Wahrheit ist, zugleich mit seinem Entstehen eine Struktur von erst noch zu enthüllender Wahrheit schafft) besteht eigentlich erst für die Psychologie, d. h. für den Menschen – indem diese Wissenschaft eine Form von »Subjekt« produziert, die einfach ein »Unding« ist, wenn man sie so stehen lässt. Das doppelte Subjektive, das im Sinne der empiristischen Methodologie nicht erkannt werden kann, ist so nicht zu retten; aber in dieser unergiebigen Form, in der es nichts besagt, bleibt es dennoch ein nur durch Wissenschaft zu lösendes Rätsel. Die empiristische Wissensform gebietet dem Subjekt zu vermeiden, sich im Spiegel zu sehen; sie will etwas anderes sehen, das sie indessen nur sehen kann, wenn die Person in den Spiegel schaut. Das Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis ist nicht dadurch zu lösen, dass ein Trick gefunden würde, eine Akrobatik des Hineinschauens ohne hineinzuschauen. Die Lösung liegt vielmehr darin, dass die Person einen Weg findet, so in den Spiegel zu schauen, dass sie sich 198 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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selbst darin sieht und sich der Tatsache wie des Aktes des Hineinschauens BEWUSST wird, um den Zusammenhang von sich selbst und jenem Gegenstand als in einer Wahrnehmung vereint zu begreifen. Das Gegenstandsproblem der Psychologie ist somit zu verstehen als das Problem des Zusammenhangs von Naturwissenschaft und Psychologie, als das Problem der SUBJEKTIVEN Erkenntnis als der Einheit von objektiver und subjektiver Erkenntnis. In diesem Sinne ist die Naturwissenschaft Voraussetzung qua Bedingung der Psychologie; sie ist die Einübung jener Weise des In-den-Spiegel-Schauens, die dann so gewendet werden kann, dass SUBJEKTIVITÄT sich selbst und ihren Zusammenhang mit der objektiven Wahrnehmung umfassend wahrnehmen kann. So ist die Psychologie die Frucht und die Aufhebung einer richtig verstandenen Naturwissenschaft. 1.2.1.2. Versuch einer Rekonstruktion der dem empiristischen Erfahrungsbegriff impliziten Regel für eine Subjektivitätstheorie: Das Reflexionsverbot als Warnung vor einem Kategorienfehler 1.2.1.2.1. Versuch einer Beschreibung: Wie geht das Subjektive in die empiristische Erfahrungsform ein? – Gespaltensein als Ausdruck der Beziehung von Objekt- und Metaebene Die im empiristischen Erfahrungsbegriff waltende Erkenntnisdynamik führt notwendigerweise dazu, dass in Bezug auf das Basis- oder Begründungsproblem Hoffnungen an die Psychologie herangetragen werden, die diese aber gerade dann nicht erfüllen kann, wenn sie im normalen Sinn als eine empiristische Disziplin aufgefasst wird. In diesem Sinne können weder einzelwissenschaftliche Untersuchungen zur Weise, wie das empirisch Gegebene näherhin gegeben ist, noch etwa eine Kausaltheorie der Wahrnehmung den erhofften Beitrag zum empiristischen Grundlagenproblem liefern. Dennoch kann, ja muss im Sinne der Logik des empiristischen Erfahrungsbegriffs die notwendige epistemologische Aufklärung von Seiten der Psychologie kommen. Dies kann geschehen, wenn die Psychologie als eine zweite Phase oder Stufe der empiristischen Methode aufgefasst und eingesetzt wird, derart, dass sie deren verborgenen SUBJEKTIVEN Sinn erfüllt, so dass die erste Phase der klassisch-empiristischen Wissensform der objektiven Erfahrung als Voraussetzung einer neuen, subjektiven Erfahrungsform, d. h. als jene Bedingungen enthaltend be199 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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griffen wird, die eine neue, subjektive Wissensform erfüllen muss, um als ein Vollzugsorgan wissenschaftlichen Wissens gelten zu können. – Auf diese Bedingungen soll nun näher eingegangen werden. Wenn im Vorangegangenen dargelegt wurde, dass eine Methodologie der Psychologie nicht darum herumkommt, das erkenntnistheoretische Grundlagenproblem der empiristischen Wissensform wieder aufzugreifen, so war stets der Zusatz zu betonen: in veränderter Form. Die Psychologie ist genauso wenig einfach Erkenntnistheorie, wie sie als normal aufgefasste einzelwissenschaftliche Disziplin etwas zum Erkenntnisproblem der Naturwissenschaften beitragen kann: Irgendwelche Äußerungen von Subjektivität, expliziert als objektive Sachverhaltsstrukturen, bedeuten für sich genommen keine Bereicherung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisschemas. Dennoch wird mit dem Auftreten von Wissenschaft das erkenntnistheoretische Grundlagenproblem unwiderruflich an den Ort der Frage platziert: wie es möglich sei, objektiv bestimmte Daten auf Subjektivität zu beziehen – also an den Ort des Gegenstandsproblems der Psychologie. Der erste Schritt, um in der Grundlagenfrage weiterzukommen, besteht also m. E. darin, anzuerkennen, dass das Gegenstandsproblem der Psychologie das erkenntnistheoretische Grundlagenproblem der empiristischen Wissenschaft in veränderter Form ist, was impliziert, die Bedingungen der Objektebene für die Verhandlung des Problems der Beziehung zur Metaebene anzuerkennen. Anders ausgedrückt: Wenn der Akt, einmal dem wissenschaftlichen Erkenntnismodus zugestimmt zu haben, bedeutet, dass es kein Zurück, keine Zuflucht bei alten Lösungsformen mehr geben kann, so dass also dem Untergang des Metaebenenwissens zugleich mit dem Moment seines Aufleuchtens im Anheben von Wissenschaft in den Verhältnissen der Objektebenenstrukturierung, die nun als einzige zugänglich verbleiben, zugestimmt werden muss, so bedeutet diese Zustimmung doch nicht, das Problem des Bezugs zur Metaebene zu vergessen; vielmehr bedeutet sie, die Mittel der Objektebene als die für eine Lösung nun einzig korrekten anzuerkennen. Der zweite, für ein Weiterkommen in der Grundlagenfrage notwendige Schritt besteht also darin, dem Untergang der Grundlagenfrage im Empirismus in der Form zuzustimmen, dass sie nun nicht mehr außerhalb, sondern in den Verhältnissen der Objektebenenstrukturierung verhandelt werden muss. D. h., das Gegenstandspro200 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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blem der Psychologie: wie objektive Sachverhaltsstrukturen auf Subjektivität zu beziehen sind, ist die im Sinne der Objektebene verbindliche Umschrift des empiristischen Grundlagenproblems, und vor dem Problem in dieser Form darf die Wissenschaft nun nicht ausweichen, will sie nicht ihr eigenes Prinzip verraten und ihre logische Herkunft, der sie sich doch verdankt, verleugnen. In einem dritten Schritt soll nun die Objektebenenstrukturierung als die Form der Darstellung der für sie konstitutiven Beziehung zu ihrer Metaebene charakterisiert werden, um in der Grundlagenfrage zu einem Ansatz zu kommen. Das Aufleuchten von Subjektivität, das für Wissenschaft vorauszusetzen ist, ist im Sinne der Objektebene in der Form eines negierten empirischen Subjekts wirksam. Wissenschaft funktioniert wesentlich innerhalb einer Kohärenzform des Wirklichen – der Objektebenenstrukturierung –, die durch ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zweier Momente: nämlich einer wissenschaftlich-objektiven und einer lebensweltlich-subjektiven Erfahrungsform, gekennzeichnet ist. Wissenschaftliche, objektive Erkenntnis artikuliert sich notwendig im Zusammenhang mit einer anderen, für sie unmittelbar vorauszusetzenden subjektiven Erkenntnisweise, derart, dass dieser Zusammenhang charakterisiert werden muss (1) als eine Beziehung und (2) als eine Nicht-Beziehung (von Wissenschaft zu jener für sie vorauszusetzenden außerwissenschaftlichen Erkenntnisweise). Dementsprechend sind für die Objektebenenstruktur zwei Bedeutungen von Subjektivität zu unterscheiden: Subjektivität, wie sie in die Wissenschaft eingeht, so dass also zwischen den beiden Teilstrukturen der Objektebene eine Beziehung besteht; und sodann Subjektivität, wie sie nicht in die Wissenschaft eingeht, so dass also zwischen den beiden die Objektebene bildenden Teilstrukturen keine Beziehung besteht. Versucht man, die in den Forschungsprozess einzubringenden subjektiven Momente (der unmittelbar vorauszusetzenden empirischen Subjektivität) näher zu erfassen, so wären in Anlehnung an die klassische Beschreibung Kants die zwei für die empiristische Erkenntnis wesentlichen subjektiven Funktionen zu nennen: Das Subjekt als Ort der Explikation logischer Strukturen und das Subjekt als Empfangsorgan sinnlicher Affektionen. Die Subjektebene der Begriffe fungiert als Gegenpol zur Ebene des empirisch Wirklichen; das Subjekt als Ort sinnlicher Affektionen besagt jene konkret-unmittelbare Wirklichkeitsqualität, deren Hinzutreten zur logischen Struktur das Spezifikum des Erfahrungswis201 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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sens ausmacht. Diese verschiedenen subjektiven Funktionen wirken so zusammen, dass die Bedeutung der explizierten Sachverhaltstruktur objektiv, d. h. nicht-subjektiv bestimmt ist. Der objektive Sachverhalt als Gegenstand der empiristischen Erkenntnis ist nicht-subjektiv im Sinne der Subjektivitätsebene von Logik und Mathematik, denn er ist konkrete Erfahrungswirklichkeit; und er ist nicht-subjektiv im Hinblick auf die den empirischen Wirklichkeitsbezug stiftende Leistung der Sinnlichkeit, denn diese geht in den empiristischen Erkenntnisprozess gerade nicht als solche, sondern nur insofern ein, als ihre volle Eigenart Merkmale aufweist, durch die sie auf die hypothetisch vorausgesetzte Struktur formal beziehbar wird, so dass sie das Gegebensein oder Nichtgegebensein dieser logischen Struktur nur zu signalisieren hat. Als Ergebnis der Betrachtung, wie das Empirisch-Subjektive in die Wissenschaft eingeht, kann also festgehalten werden: Wissenschaftliches Erfahrungswissen (objektive Erkenntnis) ist eine Form von Nicht-Subjektivität. Objektive Erkenntnis besagt jene produktive Negation einer unmittelbar vorauszusetzenden realempirischen Subjektivität, wodurch diese im Sinne des forschungslogischen Subjekts transformiert wird. Damit geschieht jedoch eine Verlagerung der Bedeutung von Subjektivität, derart, dass nun das objektive Wissen als Ausdruck einer Leistung des forschungslogischen Subjekts mehr subjektiven Charakter hat (in einem neuen Sinn), demgegenüber das realempirische Subjekt der Alltagserfahrung als ein Nicht-Subjekt verblasst: es bedeutet nun dasjenige, was Wissenschaft nicht ist (ebenfalls in einem neuen Sinn); es besagt nun gewissermaßen den traurigen Rest jener Wirklichkeitsmomente, die gar nicht in die Wissenschaft eingehen können, so dass gilt: das forschungslogische Subjekt ist nicht das empirische Subjekt in dem starken Sinn einer totalen Negation, denn die Ausübung der forschungslogischen Subjektfunktion geht radikaler über das empirische Subjekt hinaus, derart, dass dabei der SUBJEKTsinn der Metaebene wirksam wird. Wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet eine tieferreichende Veränderung als jene, lediglich durch eine Umformung einer vorausgesetzten Alltagserfahrung erreicht werden könnte. Worauf aber soll die neue Bedeutung von Subjektivität zu beziehen sein? Wie kann die ganz neue Bedeutung von »Subjektivität« mit den Mitteln der zur Verfügung stehenden Ebene ausgedrückt wer202 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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den? – Nun, das einzige, was verbleibt, das sind jene subjektiven Momente der Alltagserfahrung, von denen sich die Wissenschaft im Sinne einer totalen Negation distanziert. Anders ausgedrückt: Die Erfahrungsweise des lebensweltlichen Subjekts bildet den konkreten Bezugspunkt für die Bestimmung der objektiven Wissensform, wenn das Verhältnis dieser beiden Strukturmomente der Objektebene im Sinne einer Negation gedacht wird, deren Bedeutung sich aus einer partiellen Negation ergibt, die sich im Sinne der Objektebene noch als eine Beziehung darstellt (Negation1), und einer totalen Negation, welche mit den Mitteln der Objektebene nicht mehr als Beziehung dargestellt werden kann, so dass sie die Objektebene transzendiert (Negation2). Somit gilt: Wissenschaftliches Erfahrungswissen (objektive Erkenntnis) ist eine Form von Nicht-Subjektivität (Negation1), die NICHT-SUBJEKTIVITÄT bedeutet (Negation2) Totale Negation als Bestimmung einer Verhältnisvariante von wissenschaftlich-objektiver und lebensweltlich-subjektiver Erfahrung ist keineswegs so zu verstehen, dass mit ihr bestimmte Momente des empirischen Subjekts als nicht zu berücksichtigend aus der Einheit der Objektebene einfach eliminiert wären; vielmehr kommt umgekehrt nur dadurch, dass die totale Negation, neben der partiellen Negation, ebenfalls als eine Beziehungsvariante funktioniert, die besondere, nicht-subjektive Bestimmung der objektiven Erkenntnis zum Tragen, nämlich jene ganz andere, SUBJEKTIVE Bedeutung der Metaebene – die mit den Mitteln der Objektebene eigentlich gar nicht dargestellt werden kann – positiv-empirisch zu repräsentieren: als eine Bestimmtheit, die ist, indem sie nicht ist. M. a. W.: Der springende Punkt der empiristische Erfahrung besteht in der hier dargelegten Sicht darin, eine Form der »Darstellung des Nicht-Darstellbaren« gefunden zu haben, indem sie die von der Objektebene aus unerreichbare Metaebenenbedeutung als das genaue Nicht der gegebenen Bedeutung bestimmt, die damit als ein konkreter Anhaltspunkt für jene fungieren kann; umgekehrt bedeutet das Auftreten der empiristischen Erfahrung das Inkrafttreten jener ausgezeichneten Köhärenzform des Wirklichen, das ihre Grundbestimmtheit als die Objektebene einer Metaebene impliziert. Insofern hängt die Beziehung von Wissenschaft und Leben im Sinne des gutmütigen Spannungsverhältnisses der partiellen Negation zusammen mit dem durch die totale Negation bestimmten Verhältnis not203 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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wendig, da erst die totale Negation die partielle Negation auf die Richtung der Metaebene hin festlegt, weshalb es ja auch der Zusammenhang der in die Wissenschaft eingehenden subjektiven Momente mit jener Matrix der empirischen Subjektivität – der sie ausschnitthaft entnommen sind und die als solche von der Wissenschaft ausgeschlossen bleibt – ist, der erst die spezifisch empiristische Begründung leistet. Wissenschaftliches Wissen bedeutet das Wirksamsein einer Kohärenzform, die sich so auszeichnet, dass das Verhältnis ihrer beiden Strukturmomente: nämlich wissenschaftliche und lebensweltliche Erfahrung, in zwei Weisen differenziert ist: nämlich das Verhältnis der partiellen und der totalen Negation, so dass das Verhältnis dieser Verhältnisse als die der Objektebene immanente Beschreibung der Metaebenenbedeutung verstanden werden kann. Das erste Verhältnis der partiellen Negation der lebensweltlichen durch die wissenschaftliche Erfahrung ist genau so gewählt, dass damit ein zweites Verhältnis der durch das erste Verhältnis gebildeten objektiven Erfahrung zu den Restmomenten der subjektiven Matrix, aus der jene heraustransformiert wurde, zustande kommt, das, im Sinne der totalen Negation, eine völlige Abkehr von der Ausgangsbasis der empirischen Subjektivität anzeigt und eben dadurch die in der Abkehr angekündigte Metaebenenbedeutung »empirisch fundiert«, ihr also einen Ort zuweist, wo ihr Zusammenhang mit der Objektebene fassbar wird. Noch einmal angesetzt: Das Verhältnis von Wissenschaft und Leben bedeutet das Verhältnis der Objektebene zur Metaebene, indem die erste Variante des Verhältnisses der partiellen Negation einen bestimmten Zusammenhang (von Objekt- und Metaebene) repräsentiert, dessen Bedeutung als dieser Zusammenhang von Objektund Metaebene durch die zweite Variante des Verhältnisses der totalen Negation befestigt wird, derart, dass die im Sinne der Objektebene mögliche Verhältnisbestimmung nur dann als eine gültige, empirisch-positive Bestimmung der Metaebenenbeziehung gewertet werden darf, wenn sie als das bestimmte Nicht der eigentlichen Bedeutung interpretiert wird. Die empiristische Erfahrung ist fundiert durch ihre spezifische Form, die Beziehung der Objektebene zur Metaebene empirisch fassbar zu machen. Da die Objektebene aus ihrer Beziehung zur Metaebene verstanden werden muss, muss diese Tatsache der Bezogenheit positiv durch die Beziehung der Momente der Objektebene repräsentiert sein; und gleichzeitig muss, damit diese Beziehung die Bedeu204 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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tung der Metaebenenbeziehung repräsentiert, eine Verwechslung ihrer fassbaren Objektebenenbedeutung mit der Metaebenenbedeutung ausgeschlossen werden; die so verstandene Beziehung der beiden Strukturmomente der Objektebene kann nur dann als Beziehung funktionieren, wenn zugleich verhindert wird, dass sie als Beziehung funktioniert (dass sich die Bedeutung ihrer Beziehung im Sinne der Objektebene abschließt), so dass in der Form ihrer Bezogenheit eine Spaltung wirksam werden muss. Die so verstandene Beziehung der beiden Strukturmomente der Objektebene kann nur bis zu einem bestimmten Punkt produktiv als Beziehung funktionieren – und im Sinne der Gestaltung der objektiven Erfahrung Zusammenwirken –; und von diesem Punkt ab muss, damit dieser produktive Sinn gesichert ist, diese Beziehung abbrechen bzw. in eine Nicht-Beziehung übergehen, damit die im Sinne der Objektebene artikulierte Bestimmtheit (nicht auf diese, sondern) auf das, was die Objektebene nicht ist (nämlich ihre Metaebene), bezogen und gerade so als empirisch bedeutungsvoll erhalten bleibt; denn der Sinn der Objektebene ist in der Beziehung zur Metaebene begründet; er kann aber positiv nicht anders fassbar gemacht werden als in der Bestimmtheit eines Objektebenenverhältnisses, das als Verhältnis einer Bezogenheitsform der Beziehung und einer der Nicht-Beziehung zu deuten ist. Die doppelte Bedeutung der Negation, von der die logische Struktur der empiristischen Wissensform grundsätzlich charakterisiert ist (im Sinne einer partiellen und einer totalen Komponente), hat die Tendenz, sich zu polarisieren, und zwar derart, dass das »gutmütige« Spannungsverhältnis der partiellen Negation auf die Strukturierung innerhalb der forschungslogischen Subjektivität zu beziehen ist (als Spannungsverhältnis von Theorie- und Beobachtungsebene, vereinigt in der explizierten objektiven Sachverhaltstruktur), während das Verhältnis der forschungslogischen Subjektivität zur empirischen Subjektivität überwiegend von der totalen Negation bestimmt ist, wie sie etwa in der antinomischen Definition der Daten des subjektiven Erlebens zum Ausdruck kommt. Die implizite Anwesenheit der totalen Negation im Verhältnis der wissenschaftlichen Subjektivität und der empirischen Subjektivität überschattet die entsprechenden Ausführungen in der empiristischen Methodologie, bei denen ein gewisser bitterer, ja sarkastischer Unterton in der Behandlung der entsprechenden Probleme (Gegenstandsproblem der Psychologie; Leib-Seele-Problem; Bestimmung des Status der Daten des direkten Erlebens) – die allererst durch eine 205 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Vernachlässigung überhaupt gekennzeichnet ist – sowie in der Art, diese zuvor als gegeben anerkannten Probleme mit demselben Atemzug als »dennoch nicht relevant« zurückzuweisen, kaum zu überhören ist. Dies kann, wenn überhaupt, als eine Art von Hilflosigkeit im Umgang mit der »totalen Negation« als einem Implikat des logischen Verhältnisses der beiden Strukturmomente der empiristischen Wissensform sowie, insbesondere, des Verhältnisses von forschungslogischer und empirischer Subjektivität (als den beiden großen Strukturmomenten der Objektebene) einigermaßen verstanden werden. Beide Strukturmomente jener Einheit, die beim Auftreten von Wissenschaft akut wird, sind sowohl von der ersten wie der zweiten Bedeutung der Negation (die gemeinsam das Implikat der Metaebenenbeziehung ausmachen, so dass die Objektebene im Sinne der wissenschaftlichen Wissensform gekennzeichnet wird) bestimmt; aber man kann dies so präzisieren: Die Seite der forschungslogischen Subjektivität (d. h. die empiristische Wissensstruktur im engeren Sinn) kann im Sinne der besprochenen fundamentalen Konstitutionsdynamik beanspruchen, in erster Linie von der Negation im 1. Sinn (der partiellen Negation) und erst in zweiter Linie von der Negation im 2. Sinn (der totalen Negation) bestimmt zu sein, während für die andere, lebensweltliche Seite der gesamten Objektebenenstruktur das umgekehrte gilt, so dass also die empirische Subjektivität in erster Linie durch die totale Negation und erst in zweiter Linie durch die partielle Bedeutung der Negation bestimmt wird. Jedoch ist eine Dynamik wirksam, so dass die totale Negation, wenn sie im Begriffe ist überhandzunehmen, dergestalt, dass die Bedeutung der empirischen Subjektivität für die Wissenschaft nahezu auf Null zusammenschrumpft und dementsprechend die Beziehung zur logischen Metaebene abzureißen droht – man vergleiche die entsprechenden Zitate aus der Sinnesdatendiskussion 27 – vom so gefährdeten empirischen Die destruktiven Resultate der empiristischen Erkenntniskritik – fassbar einmal am Scheitern des Reduktionsprogrammes, so dass physikalische Begriffe nicht als logische Konstruktionen aus phänomenalen Begriffen verstanden werden können; sodann an der konventionalistischen Kritik der Annahme theoriefreier Basissätze – erweisen sich mit den ursprünglichen Intentionen David Humes genauso inkompatibel, wie die »Ausschaltung des Erfahrungsbezugs«, die Carnaps Idee einer logischen Syntax – Bestimmung der Wissenschaftstheorie als Logik der Wissenschaftssprache – sowie die Position des späten Wittgenstein und Neurath charakterisieren, mit der ursprünglichen Funktion des empiristischen Sinnkriteriums (vgl. etwa: Schnädelbach 1970, S. 201 ff.; Kolakowski 1971, S. 51 f.; Schulz 1974, S. 59 f.).
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206 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Pol hinweg verlagert werden muss, um den Sinn des empiristischen Wissens zu retten (»this is simply the core of the empiricist thesis again« – vgl. Feigl 1972, S. 437). Die Bedeutung der außerwissenschaftlichen, empirischen Subjektivität enthält somit Bedeutungskomponenten, die ihnen sowohl einen geringeren Status zugesteht als dem Strukturmoment der wissenschaftlichen Erfahrung – indem der lebensweltliche Mensch Momente impliziert, in Bezug auf die fraglich ist, ob und inwieweit sie die formalen Merkmale aufweisen, wodurch sie auf die logische Ebene beziehbar werden, so dass man die Wissensstruktur vor Einbrüchen solcher lebensweltlicher Subjektanteile schützen muss – als auch einen höheren Status zuzuweisen ernötigt: sind sie doch Ausgangs- und Zielpunkt des gesamten wissenschaftlichen Unternehmens; sie sind es, die über den Wirklichkeitsbezug entscheiden, sind sie doch jene Berührungspunkte, durch die »das Blut der empirischen Realität durch die Verbindungslinien bis in die von der (Beobachtungs-, B. V.) Ebene am weitesten entfernten Knotenpunkte des Netzwerkes hinein (fließt, B. V.), welche die Grundbegriffe der Theorie repräsentieren.« (Stegmüller, in: Diemer & Frenzel 1967, S. 348)
Damit entscheiden sie aber, wie indirekt auch immer, über die objektive Geltung und über den Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Theorien, indem die Objektebene nur, indem sie als Ganze funktioniert, von ihrer höheren Bestimmtheit als Objektebene einer Metaebene Gebrauch macht – und das ist es, wodurch sich ein empirisches Wissen auszeichnet. Dennoch ist für die durch die empiristische Wissensstruktur dominierte Objektebene bezeichnend, dass eine Rückwirkung – wenn die empirische Subjektivität zu einseitig mit der totalen Variante der Negation belastet wird – auf die wissenschaftlichen Strukturmomente zwar stattfindet, diese jedoch die Last immer wieder sehr schnell von sich weisen, so dass eben doch die lebensweltliche Subjektivität der Ort bleibt, der die totale Bedeutung der Negation als einem logischen Implikat der gesamten Objektebenenstruktur überwiegend tragen muss. Im Sinne des Überwiegens der totalen Bedeutung der Negation in Bezug auf die empirische Subjektivität ist das Verhältnis der wissenschaftlichen Wissensstruktur zu den nicht-wissenschaftlichen Voraussetzungen des lebensweltlichen Subjekts insgesamt eher als eine Bezogenheitsform der Spaltung zu kennzeichnen. Der Lösungsansatz für das empiristische Grundlagenproblem, 207 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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der hier vorgeschlagen wird, besteht darin, bei der Analyse von der nächstgrößeren Funktionseinheit auszugehen, die die empiristische Wissensform zusammen mit der für sie unmittelbar vorauszusetzenden lebensweltlichen Erfahrungsform bildet, und diese beiden Erfahrungsformen als die Strukturmomente einer Kohärenzform des Wirklichen zu betrachten, die insgesamt als die Objektebene einer Metaebene ausgezeichnet ist. Dabei ist die wissenschaftliche Erfahrungsform selbst das Ergebnis des Zusammenwirkens zweier Strukturmomente des empirischen Subjekts als der unmittelbar vorauszusetzenden Matrix, aus der das objektive Erfahrungswissen durch bestimmte Negation im Sinne der methodologischen Subjektstruktur heraustransformiert wird; d. h., mit dem Anheben von Wissenschaft geschieht im lebensweltlichen Subjekt eine Spaltung: in das Subjekt, wie es in die Wissenschaft eingeht, und das Subjekt, wie es nicht in die Wissenschaft eingeht; und diese Spaltung hat einen doppelten Sinn, so dass die erste Sinnkomponente der Spaltung als Beziehung überwiegend durch das Verhältnis der Strukturmomente des forschungslogischen Subjekts repräsentiert ist, welches die Wissenschaftsfähigkeit des empirischen Subjekts zum Ausdruck bringt, während die Sinnkomponente der Spaltung als Nicht-Beziehung überwiegend die Verfasstheit der durch die Herstellung der Beziehungsform der Beziehung gespaltenen oder zersplitterten Restmomente der empirischen Subjektivität betrifft. Diese scheinen nun zunächst recht bedeutungslos für das Funktionieren der durch die objektive Erfahrungsform dominierten Objektebenenstruktur zu sein. Tatsächlich üben sie jedoch für die Begründung des objektiven Wissens eine entscheidende Funktion aus: Sie repräsentieren, indem das Subjekt, wie es in die Wissenschaft eingeht, mit jenen Subjektmomenten, die nicht in die Wissenschaft eingehen, faktisch zusammenhängt, den Fall einer Einwirkung, die in der Weise bedeutungsvoll ist, keine Bedeutung zu haben – also genau jene Form der Einwirkung, die für das Metaebenen-Objektebenen-Verhältnis vorauszusetzen ist. Die außerwissenschaftlichen Momente der empirischen Subjektivität sind gegenüber der wissenschaftlichen Struktur so zu sehen, dass sie einerseits einen niedrigeren Status haben, indem gegen sie der Verdacht erhoben werden muss, nicht wissenschaftsfähig zu sein, so dass sich die forschungslogische Subjektivität vor den Einbrüchen solcher lebensweltlicher Subjektanteile schützen muss; andererseits müssen sie auch einen höheren Status haben, als sie ausschlaggebend sind für die Begründung der empiristischen Wis208 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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sensstruktur; dementsprechend fungiert das strikt außerwissenschaftliche, empirische Subjekt auch einerseits als »(subjektloses) Objekt schlechthin« wie als »Subjekt schlechthin«. Aufgrund der bisherigen Ausführungen sollte klar geworden sein, dass die antinomische Bestimmung der außerwissenschaftlichen, lebensweltlichen Subjektmomente im Zusammenhang der wissenschaftlich dominierten Objektebenenstruktur – dass sie als von der Wissenschaft ausgeschlossene für diese konstitutiv sind – der Preis dafür ist, der Metaebene eine empirisch konkrete Repräsentation im Sinne der Objektebene zu verschaffen; und ferner, dass dieses eigentümliche Verhältnis, derart, dass, indem die Metaebene konkret und »empirisch fundiert« wird, zugleich die Objektebene des empirisch Wirklichen sich als in der Metaebene begründet auszeichnen kann, eben die spezifische Begründungsform der empiristischen Erfahrungsform ausmacht. Das ist die logische Stärke jener Kohärenzform des Wirklichen, wie sie sich in der Phase des Dominierens der objektiven Erfahrung zeigt, eine Position zu verwirklichen, so dass mit den Mitteln der Objektebene das Wirken der Metaebene und damit dasjenige an der Wirklichkeitsform der Objektebene, was in einem höheren Sinn wirkt, handgreiflich gemacht wird. Die Crux dieser klassischen Akzentuierung der Objektebenenstruktur stellt sich nun folgendermaßen dar: Die Objektebene erringt Bedeutung als Objektebene, indem sie insgesamt den Sinn erfüllt, die Negation ihrer selbst positiv darzustellen. Sie erreicht dies durch eine Strukturierung, ein Strukturmoment, mit dem sie doch eine Funktionseinheit bildet, von sich getrennt zu halten, um zu sein, was sie in einem höheren logischen Sinn ist. Der entscheidende Punkt dabei besteht darin, dass sie von dem entsprechenden Moment ja Gebrauch machen muss, um den NichtGebrauch zum Ausdruck zu bringen: Die subjektiven Momente, die von der wissenschaftlichen Erfahrungsstruktur getrennt gehalten werden, gehen – es kann nicht anders gedacht werden – unerkannt in die Wissenschaft ein, denn sie repräsentieren die Metaebene im Sinne der Objektebene und üben damit ihre Funktion bei der Begründung des empiristischen Wissens aus. M. a. W., wenn die Stärke der klassischen Akzentuierung der Objektebenenstruktur also darin besteht, den Gesamtsinn einer Objektebene als die Aufgabe zu bestimmen, die Negation ihrer selbst positiv darzustellen – womit eine Form gefunden ist, den Objektebenenstatus überhaupt konkret zu definieren –, so liegt die logische Schwäche dieser Position darin, diese Auf209 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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gabe in der Form des Selbstwiderspruches zu erfüllen, denn sie ist noch einmal eine negative Art, die Selbstnegation positiv darzustellen. Entsprechend dieser letztlich negativen Bestimmung des empiristischen Sinnkriteriums (der Art der Durchführung der Begründungsidee) hängt der Bezugspunkt des empiristischen Wissens in der Luft, er ist unbestimmt – was empiristischen Maßstäben widerspricht: Weder ist der Sinn des empiristischen Wissens auf die Objektebene zu beziehen (auf das konkrete Subjekt der Ausgangsmatrix), denn es ist so strukturiert, dass es als nicht-subjektiv von dieser weg weist; noch kann er wirklich auf die Metaebene bezogen werden, indem die Darstellung der Metaebenenbeziehung im Sinne des Gespaltenseins der Objektebenenstruktur das Äußerte ist, was erreicht werden kann; die Leistung der Objektebene, den Metasinn zu konstituieren, erschöpft sich mit der Herstellung und Aufrechterhaltung der durch den Selbstwiderspruch bestimmten Struktur: eine Beziehung, die den Sinn hat, eine Nichtbeziehung zum Ausdruck zu bringen. Der Sinn des objektiven Wissens ist dadurch garantiert, dass es die Weise ist zu verhindern, dass die Ausgangsmatrix der lebensweltlichen Subjektivität als sie selbst funktioniert. Indem die empiristische Wissensform die ausschnitthafte Wirksamkeit bestimmter Momente der empirischen Subjektivität verlangt, wird deren ursprüngliche Kohärenzform unterbunden; die neue Kohärenzform wird jedoch nur angedeutet in der Verhinderung der Wirksamkeit der alten Form, was bedeutet, dass die logische Struktur der alten Kohärenzform, obgleich durch bestimmte Negation verändert, für die Darstellung der neuen Form den Rahmen absteckt. 1.2.1.2.2. Nähere Bestimmung der Crux des empiristischen Erfahrungsbegriffs für die Gegenstandserfassung der Psychologie: Positive Deutung des Reflexionsverbotes als die Aufforderung, eine »kategoriale Ebenendifferenz« zu denken Die spezifische Form der Begründetheit des empiristischen Wissens, wie sie im vorangegangenen Abschnitt darzustellen versucht wurde, sei noch ein wenig ins Auge gefasst, damit die Bedeutung des hierbei vollzogenen Schrittes ganz klar werden kann. Sich auf den wissenschaftlichen Standpunkt zu stellen, so wurde gesagt, bedeutet, das Grundlagenproblem der menschlichen Erkenntnis in einer bestimmten – nämlich der rein philosophischen – Form 210 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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abzulehnen, um es in einer anderen Form nun als verbindlich anzuerkennen; diese Form sei, so hieß es weiter, das Grundlagenproblem der empiristischen Wissensform, wie es sich als Gegenstandsproblem der Psychologie stellt, so dass es also zunächst notwendig ist, einen Weg zu finden, die besondere Art der Begründetheit des empiristischen Wissens zu verstehen. Die hier vorgeschlagene Deutung versucht, dem empirischen Charakter der wissenschaftlichen Begründungskonzeption so nahe zu kommen, wie es im Sinne der Logik der Begründung, die einen schlechten Zirkel zu vermeiden gebietet, nur möglich ist und gerade darin dem einzigartigen Charakter der empiristischen Wissensidee zu entsprechen. Die empiristische Wissensform – um es zu wiederholen – imponiert durch eine außerordentliche, ja extreme Weise, Begründung zu vollbringen, indem sie als eine Weise zu verstehen ist, ein per definitionem Unfassbares, gegenüber ihrer eigenen Bedeutungsebene Jenseitiges, mit ihren Mitteln fassbar zu machen und dadurch sich selbst als in jenem begründet auszuweisen. Begründung wird nicht angenommen; sie wird nicht als denkmöglich und im Prinzip vorauszusetzen verstanden; sie wird als etwas ergriffen, das erreicht wird, wenn man das Ganze, das man zur Verfügung hat, einsetzt, um es auf dasjenige auszurichten, was in ihm, dem gegebenen Ausgangspunkt selbst, als der höhere Grund wirksam ist. Das empiristische Wissen ist indessen wie eine Leiter, angelegt, um ein hohes Ziel zu erreichen, das sich doch gerade von ihrer obersten Sprosse aus als noch um eine weitere Unerreichbarkeit entfernt erweist. In diesem Vergleich lässt sich die Entwicklung des empiristischen Denkens nachempfinden: Von der optimistischen Perspektive der Frühzeit (wie sie sich ja auch in der Namensgebung des »Positivismus« ausdrückt), über die Anfechtungen, die das sichere Wissen angesichts der ständigen Revisionsbedürftigkeit des empiristischen Sinnkriteriums getroffen haben, bis hin zur Ernüchterung in der gegenwärtigen Phase, deren pessimistische Färbung nicht zuletzt in der Zurücknahme »überhöhter Bedeutungsansprüche« von Wissenschaft für das menschliche Leben durchschlägt. Diese Reaktion der Spätphase scheint mir nun verständlich, jedoch nicht unbedingt folgerichtig, d. h., sie erscheint mir nicht als der richtige Schritt in der Verwaltung des Erbes unserer wissenschaftlich geprägten Kultur. Die besondere Schwierigkeit in dieser Situation scheint mir, herausfinden zu müssen, woran genau man festhalten und was, umgekehrt, preisgegeben werden muss, um der Essenz der 211 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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empiristischen Begründungsidee: nämlich dem, was wirkt, wenn Wissenschaft je erfolgreich war, auf den Grund zu kommen und der wissenschaftlichen Wissensform diejenige dauerhafte Bedeutung für den Vollzug des Menschseins zu geben, die der Prozess der Herausbildung von Wissenschaft als seine Rechtfertigung unbedingt fordert. Die Essenz der empiristischen Begründungsidee konzentriert sich, erstens, im Begriff der logischen Ebenendifferenz, d. h., dass die Strukturierung der Gesamtheit dessen, was in einer bestimmten Weise zugänglich ist, im Sinne der Objektebene verstanden werden muss als das genaue Nicht einer entsprechenden logischen Metaebene 28 ; zweitens, näherhin darin, dass es die Strukturierung der Objektebene selbst ist, die die höhere Kohärenzform der Metaebene als das in der Objektebene konkret wirksame Tiefenmoment und damit als den Schlüssel zu ihrem Verständnis herausstellt. Die wissenschaftliche Wissensform bringt zum Ausdruck, dass ihre Ausgangsmatrix (d. h. die lebensweltliche, subjektive Erfahrung) dann wahr ist (im Sinne des gegenüber der subjektiven Alltagserfahrung höheren objektiven Geltungsanspruchs), wenn sie daran gehindert wird, als sie selbst, im Sinne ihrer ursprünglichen Kohärenzform (der Ausgangsform der Objektebene) zu funktionieren. Wissenschaftliches Wissen setzt in der empirischen Subjektivität eine Spaltung, die die Ebenendifferenz bedeutet; d. h., die Einheit des empirischen Subjekts repräsentiert die eingeleitete, aber nicht vollendete Einheit von Objekt- und Metaebene dann, wenn sie nicht zustande kommt, denn käme sie zustande, so würde sich deren Bedeutung im Sinne der Kohärenzform der Objektebene vollenden, und damit würde der Metasinn in der Bedeutung der Objektebene verlöschen: Der Metasinn wäre vom Sinn der Objektebene vollends ununterscheidbar und damit für die Erkenntnis verloren. Wissenschaftlich objektives Wissen ist eine Form von NichtSubjektivität – eine bestimmte Negation der Ausgangsmatrix der empirischen Subjektivität), die nicht-SUBJEKTIVITÄT (die höhere Kohärenzform der Metaebene) bedeutet –, d. h., der springende Punkt der empiristischen Begründungskonzeption ist unbedingt, dass die Objektebene eine andere Form der Metaebene ist; dass die Kohärenzform der Metaebene die tiefere oder höhere logische Möglichkeit der Zu beachten ist, dass in dieser Sicht die Begründung des empiristischen Wissens allein in der Form der Negation der zugänglichen Strukturierung erreicht wird.
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Objektebene ist oder dass Objektebene und Metaebene als eine Einheit gedacht werden müssen; damit diese Einheit ersichtlich werden und sich auswirken kann, muss sich die Objektebene jedoch verändern und zwar – wie der erste Schritt der objektiven Wissensform ankündigt – im Sinne ihrer »totalen Negation«. Diese totale Negation der Objektebenenstruktur als Bedingung dafür, dass die empiristische Begründungsidee im Sinne der Einheit von Objekt- und Metaebene verwirklicht werden kann, ist nun die Hürde, an der die Versuche, das Rätsel, das die wissenschaftliche Wissensform dem Menschen aufgibt, zu lösen, scheitern können. Gerade im Sinne des empiristischen Denkens kann die Forderung der totalen Negation der Objektebenenstruktur nicht deren Auflösung oder völlige Vernichtung bedeuten; vielmehr akzentuiert die empiristische Begründungsidee ja gerade die Unverzichtbarkeit jener Struktur, die sie negiert, indem sie das empirische Subjekt auf zweierlei Weise spaltet, derart, dass in der Form einer partiellen Negation etwas von dem subjektiven Sinn der Ausgangsebene erhalten bleibt, so dass die neue Kohärenzform als eine Transformation der alten deutlich wird, wozu in anderer Weise jedoch auch die Form der totalen Negation beiträgt, indem sie so dargestellt ist, »dass sie gar nicht möglich ist«, und damit der im Sinne der Begründung geforderten Negation noch einmal einen empirischen, nur von der Objektebene her zugänglich zu machenden Sinn aufnötigt. – Hier wird, meine ich, deutlich, wie die empiristische Begründungsidee verwandt, ja letztlich identisch ist mit der Idee der »dialektischen Aufhebung«. 29 Die spezifische Form der Begründetheit des empiristischen Wissens in der hier vorgeschlagenen Beschreibung macht m. E. hinreichend klar, dass dieses sinnvoll nur den ersten Schritt in einer Unternehmung bedeuten kann, die noch einen zweiten Schritt erfordert, um sich vollenden zu können. Dieser zweite Schritt muss eine Form von Erfahrung bedeuten, die die in der Wissensform der objektiven Erfahrung partiell verwirklichte Vereinigung von Objekt- und MetaZu dieser im späteren Teil der Arbeit eingehender dargelegten Auffassung sei hier nur vermerkt, dass es sich dabei um ein Gebrauchmachen – und in diesem Sinne eine Umkehrung – der Sicht Kants handelt, derart, dass das volle Ausmaß des »Nicht«, welches den Status des Transzendentalen von jenem des Empirischen trennt, empirisch: als bestimmte Negation des Empirischen, verwirklicht und die in dem Kantschen Verbot – dass die Ebene des Transzendentalen und des Empirischen zwar zusammenhängen, aber nicht in wechselseitigem Austausch stehen dürfen – ausgedrückte Voraussetzung einer korrekten Verbindung damit positiv erfüllt wird.
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ebene endgültig zustande bringt und der im empiristischen Wissen angekündigten neuen Kohärenzform, die die logische Ebenendifferenz positiv zu integrieren vermag, zum Durchbruch verhilft. Die empiristische Begründungskonzeption stellt sich dar als ein Unternehmen, das über zwei Schritte, einen vorbereitenden und einen ausführenden, vollzogen, also selbst wie eine wissenschaftliche Theorie über die Phasen der Hypothesenbildung und des Experiments bzw. der Anwendung abgewickelt werden muss. Die empiristische Wissensform als Ganze stiftet den Begriff der kategorialen Ebenendifferenz (der Einheit einer Objektebenenstrukturierung mit der nächsthöheren logischen Kohärenzform), und dieser Begriff bildet – aufgrund des Resultats, dass, indem die Wissenschaft sich bewährt hat, die wissenschaftliche Begründungsidee als partiell bestätigt bzw. nichtfalsifiziert gelten kann – die Voraussetzung für den zweiten Schritt, der als eine Methode verstanden werden muss, die Differenz der Kohärenzformen von Objekt- und Metaebene in einer neuen Kohärenzform konkret zu vereinigen. Die Erfahrungsform des objektiven Wissens bringt die Einheit von Objekt- und Metaebene in der Weise zustande, dass die Strukturmomente der Kohärenzform der Ausgangsebene derart zusammenhängen, dass dies eine Spaltung oder Nichtbeziehung besagt. Die objektive Wissensstruktur signalisiert das Wirksamsein von SUBJEKTIVITÄT – des Metaebenenzusammenhangs –, indem keines der Strukturmomente der Objektebene, also weder das realempirische noch das forschungslogische Subjekt, mit dem SUBJEKT der Erfahrung verwechselt werden darf. Die Bedeutung der Metaebene ist nicht als sie selbst, sondern in der Form des Gespaltenseins der empirischen Subjektstruktur negativ-positiv repräsentiert. Die Spaltung signalisiert, umgekehrt, die in dieser Verfassung ständig drohende Gefahr einer Kategorienverwechslung. Mit dem in der Spaltung gesetzten Verbot, dass das Subjektive der Objektstruktur mit sich in Berührung komme: also dem Reflexionsverbot, wird die Unantastbarkeit der Metaebene als der Grund wissenschaftlicher Erfahrung gewahrt, während bei Eintreten eines Falles von Kategorienverwechslung der Verlust des eigentlichen Status der Metaebene in der Sprache der von ihr konstituierten Objektebene perfekt und damit jener Standpunkt, von dem her Wissenschaft möglich ist, verloren wäre. Dennoch – indem Wissenschaft bedeutet, den Kontakt mit der Metaebene zustande zubringen, und indem das empirische Subjekt, dessen Gespaltensein diesen Kontakt bedeutet, ja notwendig mit sich 214 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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in Berührung ist – findet also im Vollzug der wissenschaftlichen Erfahrung unvermeidlich eine harmlose Variante von Kategorienverwechslung statt – ohne sie wäre Wissenschaft ebenfalls unmöglich –, die aber durch jene Strategie kompensiert wird, die das gänzliche Dahinfallen des Metaebenenstatus in der Usurpation desselben durch das empirische Subjekt verhindert. Wissenschaftliches Wissen ist ein nicht-subjektives Wissen im Sinne der empirischen Subjektivität; und als forschungslogisches Subjekt ist der individuelle Forscher gleichfalls vor der Gefahr des Ebenenverlustes bewahrt, indem dessen realempirische Dimension einerseits durch den forschungslogischen Status negiert ist, andererseits das Schicksal des empirischen Subjekts der subjektiven Daten teilt, wenn es sich in der objektiven Sachverhaltsstruktur, in die diese als Sinnkomponenten integriert sind, nicht wiedererkennen kann. Die große Kantsche Frage: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?«, bezeichnet den Anfang der wissenschaftlichen Methode. Die Beantwortung dieser Frage durch Kant ist eine bis auf den heutigen Tag gültige Richtschnur für eine Interpretation der naturwissenschaftlichen Methodologie im Ganzen, denn sie expliziert die Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Erfahrung; diese Antwort setzt die Kohärenzform der Spaltung – die Notwendigkeit, die Unterscheidung der Ebenen aufgrund einer Kontamination zustande zubringen, und damit begründet sie, umgekehrt, die Einheit der objektiven Erfahrung in der Form der nicht zustande kommenden Einheit des empirischen Subjekts 30 , so dass dies den Kontakt mit der MetaIn diesem Zusammenhang lohnte sich eine eingehendere Analyse der Beweisstruktur der »Transzendentale(n) Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« in der »Kritik der reinen Vernunft« (B130-B1b9), in der Kant zu zeigen versucht, dass die anzunehmenden verschiedenen Erkenntnisprinzipien notwendig miteinander verbunden sind – so dass Kategorien für das sinnlich Angeschaute Geltung haben –, indem die Vorstellungen von Raum und Zeit eine synthesis a priori – und damit ein den Kategorien verwandtes Prinzip – darstellen, die alles in der Vorstellung Gegebene – alles, was »meine Vorstellung« werden kann – einschließt. Der Weg, um die Kantsche Regelung aufzuschließen, führt also, erstens, über ein Verstehen von Raum und Zeit als Spezialformen einer Kategorienverbindung und, zweitens, über die Explikation einer Methode – FÜHLEN –, die als konkrete, realempirische Artikulation des Kategoriallogischen begriffen werden muss, so dass sich die kategoriallogische Dimension tatsächlich als dasjenige erweist, das die differenten Erkenntnisprinzipien in einer kategoriallogisch höheren Form der Erkenntnis zu vereinigen vermag – was erst den Kantschen Beweis vollendet.
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ebene bedeutet. Damit mündet die erste Frage in die zweite Frage: Wie ist es möglich, die differenten Kohärenzformen von Objektund Metaebene in einer Erfahrung zu vereinigen? Wie ist eine kategoriale Ebenendifferenz einschließende Erfahrung möglich? Wie ist SUBJEKTIVE Erfahrung möglich? Das ist das Gegenstandsproblem der Psychologie. 1.2.1.2.3. Wissenschaftliche Psychotherapie als Instrument der Weiterführung der empiristischen Methode (mit besonderer Berücksichtigung der methodologischen Hypothese Freuds) Während bisher die wissenschaftliche Wissensform vom empirischen Subjekt zwar in doppelter Weise Gebrauch macht (einmal, um aus dieser Matrix durch die Methode der bestimmten Negation jene forschungslogisch relevanten Subjektmomente herauszulösen, die im Sinne der objektiven Gegenstandserfassung zusammenwirken; sodann, um über den total negierten Zusammenhang dieser mit den verbliebenen außerwissenschaftlichen Subjektmomenten die objektiven Sachverhaltsstrukturen potentiell – im Ansatz – auf eine Metaebenenbedeutung zu beziehen), verlagert sich nun mit der Hinwendung zum Gegenstand der Psychologie der Akzent des Wissensanspruchs auf die Struktur dieses empirischen Subjektes selbst, d. h. auf jene Struktur, welche die Begründung des objektiven Wissens zu leisten hat, indem sie nicht als sie selbst, als eine Einheit, funktioniert, sondern durch die in der Gespaltenheit positiv dargestellte kategoriale Ebenendifferenz die Möglichkeit der Verbindung der Objektebene mit der höheren Kohärenzform der Metaebene – das empiristische Ideal der vollbrachten Begründung – anzeigt. Entsprechend der mit dem Gegenstand der Psychologie thematisch werdenden negativ-positiven Doppeldeutigkeit der empiristischen Begründungsstruktur lässt sich dieser Gegenstand auf zweierlei Weise auffassen: einmal als eine Struktur, deren wissenschaftlicher Wahrheitsgehalt nur negativ als Spaltung und Zersplitterung der ursprünglichen Kohärenzform ausgedrückt werden kann; dann aber auch als eine Struktur, die, indem sie in der Gespaltenheit noch als eine Einheit zu wirken vermag – so dass in der bestimmten Form, nicht als sie selbst zu wirken, die höhere Kohärenzform anklingt – als dieser höheren Kohärenzform fähig erachtet und so beurteilt werden muss, dass sich in ihr die in der Spaltung nur vorbereitend eingeleitete höhere Verbindung konkret ereignen und zur vollen Wirklichkeit gelangen kann. 216 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Als Vollzugsorgan der klassisch-empiristischen Methodologie wirkt die Psychologie unabänderlich dahin, die durch die objektive Wissensform im empirischen Subjekt bedingte Spaltung im Hinblick auf die empiristische Subjektstruktur selbst als richtig und deren Wahrheit gemäß durchzusetzen. Das Unternehmen einer empiristischen Psychologie bedeutet also nicht einfach eine normale Fortsetzung der Naturwissenschaft; es bedeutet vielmehr, aus der empiristischen Begründungskonzeption eine schwerwiegende Konsequenz zu ziehen, d. h. allererst mit dieser wirklich ernst zu machen. So wird die Wissenschaft erst durch die Psychologie mit der Tatsache konfrontiert, dass der Sinn des objektiven Wissens ja insgesamt subjektiv bestimmt ist; dass es aufgrund der empiristischen Wissensform einzig und allein das empirische Subjekt ist, von dem der nicht-subjektive Sinn des objektiven Wissens abhängt und das die in der Form der Spaltung eingeleitete Ebenenverbindung im Ansatz vollbringt und damit grundsätzlich auch zu vollenden imstande sein muss. Das Unternehmen der Psychologie ist somit das experimentum crucis der empiristischen Begründungshypothese. Eine erste Aufgabe der Psychologie ist also im klassischen Rahmen zu bestimmen als die Durchführung der Spaltung der empirischen Subjektstruktur in der Explikation der »objektiven Subjektivität« – der Nicht-Subjektivität, die Nicht-SUBJEKTIVITÄT bedeutet –, als der Voraussetzung dafür, der empiristischen Begründungshypothese auf den Grund zu kommen. Durch das klassisch-forschungslogische Schema der Gegenstandserfassung zeigt sich der psychologische Gegenstand als eine Pluralität objektiv begriffener Daten. In diesem klassisch empiristischen Sinn ist der Gegenstand der Psychologie positiv zu bestimmen als die potentiell unendliche Anzahl konkreter Versuche, im Sinne des forschungslogischen Subjektschemas mit der Realität des außerwissenschaftlichen Subjekts in Berührung zu kommen, so dass diese Kontakte jene Merkmale aufweisen, durch die sie auf die je hypothetisch vorausgesetzte logische Struktur formal beziehbar werden: Diese Möglichkeiten stecken die verschiedenen Varianten einzelwissenschaftlich-psychologischer Methoden ab. Wie verfeinert die empiristische Methode dabei auch angewendet wird, wie raffiniert die experimentelle Anordnung auch getroffen sein mag: die explizierte Sachverhaltstruktur kann sich nicht von irgendeiner anderen naturwissenschaftlichen Objektstruktur unter217 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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scheiden; und wie »geistig« die untersuchten Daten auch sein mögen: als objektive Sachverhalte unterscheiden sie sich per definitionem nicht von den anderen »materiellen« qua nicht-subjektiven Gegenständen. Dieses Fazit zieht Feigl in seiner These von der »Identität des Ununterscheidbaren«. Im Rahmen einer objektiven Wissensform bezeichnen »the mental« und »the physical« einen Unterschied in der Art des Zustandekommens der auf Theoriestrukturen zu beziehenden empirischen Daten; hingegen bedeuten sie keinen Unterschied in Bezug auf die grundsätzliche Forderung, die erfüllt sein muss, wenn es sich dabei um Bestimmungen eines Gegenstandes der empiristischen Wissensform handeln soll, der in jedem Fall so zustande kommt, dass das Ergebnis mit der Ausgangsmatrix einer empirischen Subjektivität nicht ersichtlich zusammenhängt, d. h. also, dass es sich von dieser ausreichend unterscheiden muss, um nicht mit ihr verwechselt zu werden. Mit der »Identität des Ununterscheidbaren« ist also in erster Linie die empiristisch korrekte Form der Gegenstandserfassung gewahrt: Nichtunterscheidbarkeit in Bezug auf den Typ der Gegenstandserfassung einerseits und Unterscheidung objektiver Gegenstandsstrukturen überhaupt von der subjektiven Ausgangsmatrix andererseits; und erst dadurch ist, in zweiter Linie, der Dimension des »Psychischen« (des gegenüber dem Objektebenensinn ganz Anderen) eine mögliche, von der Ebene des empirisch Wirklichen her anzuerkennende, höhere Wirklichkeitsform gesichert: In der Ununterscheidbarkeit objektiver Sachverhaltsstrukturen untereinander kündigt sich in deren gemeinsamer Differenz zur Objektebene der Ausgangsmatrix der Metaebenensinn an, ohne sich näherhin als er selbst auszeichnen zu können. M. a. W., die These Feigls von der Identität des Ununterscheidbaren markiert genau die Grenze zwischen den zwei Weisen, wie der Gegenstand der Psychologie gemäß der empiristischen Begründungskonzeption aufgefasst werden kann: In der klassischen Auffassungsweise besteht die einzige Aufgabe und Chance, das spezifisch Psychologische – nämlich die positive Erfüllung der empiristischen Begründungsidee – zum Ausdruck zu bringen, darin, die objektive Gegenstandserfassung und damit die Spaltung der empirischen Subjektivität durchzuführen und gerade damit an jenen Punkt zu gelangen, an dem sich das total gespaltene empirische Subjekt als der Ort bewährt, an dem sich der Metasinn als noch nicht verloren – da in der Unterscheidbarkeit der untereinander ununterschiedenen objektiven Sachverhaltsstrukturen gegenüber dem 218 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Objektebenensinn der Ausgangsmatrix der Möglichkeit nach unterscheidbar – erweist. In diesem Sinn ist der Gegenstand der klassischen Psychologie »das Physische« oder »der Leib«, d. h. die empirische Subjektivität, wie sie in der Form objektiver Sachverhaltsstrukturen erscheinen kann, so dass die damit in ihr gesetzte Spaltung – in der Weise, wie sie in die Wissenschaft eingeht (und zwar als das forschungslogische Subjekt und als das »Material« der Erfahrung) und in der Weise, wie sie nicht in die Wissenschaft eingehen kann – einen solchen Grad erreicht, derart, dass diese Differenzierung innerhalb der Subjektstruktur als ein Ausdruck der kategorialen Ebenendifferenz relevant wird. Das ist der Punkt, da das Moment des Aufleuchtens des SUBJEKTSINNS – wie es bisher der Ausübung der forschungslogischen Subjektfunktion vorbehalten war – im Einzelnen, realempirischen Subjekt zündet; das ist der Punkt des Auftretens einer neuen Konzeption des wissenschaftlichen Gegenstandes: nämlich des PSYCHISCHEN als der Möglichkeit, beide Funktionsweisen des gespaltenen empirischen Subjekts im Sinne einer neuen, höheren Kohärenzform durch Vollzug eines Kategorienwechsels zu vereinigen. Diese entscheidende Veränderung der Gesamtsituation: die Verlagerung einer bisher (in der Naturwissenschaft) auswärtig wirksamen Evidenz – so dass die Berührung von Objekt- und Metaebene im Modus einer in sich gespaltenen Subjektstruktur zustande kommt, deren Schicksal für die so fundierte Sachverhaltstruktur gleichgültig ist – in das als wissenschaftliches Objekt thematisierte empirische Subjekt, ist die logisch systematische Voraussetzung für einen zweiten, modernen Ansatz in der Psychologie. Dieser bestimmt seine Aufgabe gemäß der zweiten, negativ angedeuteten positiven Möglichkeit, die ursprüngliche Kohärenzform des empirischen Subjekts so weit zu verändern, wie es nötig ist, um ihre durch die wissenschaftliche Methode getrennt gehaltenen Strukturmomente im Sinne einer neuen, logisch höheren Kohärenzform zu vereinigen und damit das empiristische Begründungsunternehmen zu Ende zu führen. Die Bestimmung der Psychologie derart, dass sie ihre Aufgabe nur durch eine klassische und eine neue, »moderne« Weise der Auffassung ihres Gegenstandes erfüllen kann, macht noch einmal deutlich, dass »das Psychische« mit den Mitteln der Objektebene nicht ausgedrückt werden kann; indessen ist es gerade die klassisch-empiristische Wissensform, die einen gegenüber der Alltagserfahrung ab219 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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gehobenen, neuen Begriff des Psychischen schafft: er kündigt sich als die rückwärtige, positive Seite dessen an, was bloß negativ durch das Schema der forschungslogischen Gegenstandserfassung greifbar wird. Insofern ist die Naturwissenschaft eine Theorie der möglichen Bewusstseinsentwicklung, bezeugen die Gegenstände der objektiven Erfahrung die Wirksamkeit des Psychischen oder der Bewusstheit oder der Kohärenzform der Metaebene. Die Naturwissenschaft ist der Anfang dieses psychischen Selbstbewusstseins – wenn es nur einen Weg gäbe, dieses wirklich zustande kommen zu lassen. Die Naturwissenschaft nimmt das empirische Subjekt in einer Weise in Anspruch, die dieses genau in der Form fixiert, in der es dann als der mit der Wissenschaft gesetzten Anforderung nicht wirklich und ganz entsprechend zurückgewiesen werden muss; d. h., die Wissenschaft geht davon aus, dass das empirische Subjekt u. a. Momente enthält, die schlechthin ungeeignet sind, dafür herangezogen und eingesetzt zu werden, um mit der höheren Kohärenzform der Metaebene zu korrespondieren. Die Crux dieses Standpunkts ist, dass man von ihm aus überhaupt nicht an das Problem herankommt; d. h., selbst wenn der empiristische Standpunkt Recht hat, so dass also zutrifft, dass das menschliche empirische Subjekt diese in Bezug auf das wissenschaftliche Ziel kritischen Strukturmomente enthält, nützt diese Einsicht nichts, denn man müsste doch mit diesen Momenten in Berührung kommen, um feststellen zu können, worum es sich näherhin handelt und ob diese unpassenden Strukturmomente nicht etwa dahin gehend verändert werden könnten, auf dass sie sich der wissenschaftlichen Ausrichtung auf die Kohärenzform der Metaebene anschließen würden. Dafür: dasjenige, was am empirischen Subjekt der Wissenschaftlichkeit etwa widerstreitet, selbst einmal näher kennenzulernen, um ihm vielleicht auf den Grund zu kommen, spricht ferner, dass das mit der Verfasstheit des empirischen Subjekts so merkwürdig kontrastierende Ideal der Wissenschaft doch eben das von Menschen erahnte und im Ansatz verwirklichte Ideal, also ein Ideal ist, das nur in Bezug auf den Menschen überhaupt sinnvoll sein kann – wie könnte es dann diesem Menschsein letztlich fremd, feindlich oder unzugänglich sein, sofern es ein wirkliches Ideal ist; und sind nicht eben dies die notwendigen Sinnkomponenten eines wirklichen Ideals: das, was ist, so, wie es ist, in seine nächsthöhere Form, es selbst zu sein, zu überführen? So liegt es nur auf der Linie der logischen Implikate der empiristischen Begründungskonzeption, wenn die Psychologie in einem zweiten Ansatz einer positiv gewen220 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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deten Gegenstandsauffassung davon ausgeht, dass für alle Strukturmomente der empirischen Subjektivität grundsätzlich die Möglichkeit bestehen muss, sich im Sinne jenes qualitativ höheren Funktionsmodus der Kohärenzform der Metaebene auszurichten, der die Ausübung der forschungslogischen Subjektfunktion so wertvoll macht und der als Bedingung der Möglichkeit einer positiven Erfahrung des SUBJEKTSEINS gefordert werden muss; m. a. W., der Funktionsmodus des forschungslogischen Subjekts wird von einer positiv ausgerichteten Psychologie für das empirische Subjekt zunächst einmal mindestens als der Normalfall unterstellt werden, so dass eine größere Abweichung von dieser Norm als ein Zeichen von psychischer Krankheit zu gelten hat. In der Tat lassen sich solcherart die bisherigen Bemühungen um eine wissenschaftliche Psychotherapie umreißen. Es ist leicht zu erkennen, dass sich alle Formen von wissenschaftlicher Psychotherapie an einem Subjekt-Ideal orientieren, das dem Status des forschungslogischen Subjekts entspricht. Sowohl die psychoanalytisch-tiefenpsychologischen wie auch die lerntheoretisch orientierten Psychotherapieformen fassen den Tatbestand oder das Vorliegen einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit als eine Beeinträchtigung des Subjektseins auf, dergestalt, dass die Fähigkeit, nach vernunftgemäßen Gesichtspunkten gewählte Handlungsziele zu verwirklichen, über das normale (erträgliche bzw. zumutbare) Maß hinaus eingeschränkt sei. Dies impliziert eine wissenschaftliche Konzeption des Menschen, die, entsprechend der wissenschaftlichen Subjektivität, als Beziehung qualitativ verschiedener Strukturmomente gesehen wird: Strukturmomente, die »unabhängig«, »spontan«, »frei« und »produktiv« das Geschehen und die Bedeutung eines je relevanten Wirklichkeitskontextes bestimmen, einerseits; Strukturmomente, die einen Zusammenhang der Subjektivität mit einem Wirklichkeitskontext im Sinne des Gegebenseins repräsentieren, die durch die eigenen Handlungen nicht unmittelbar beeinflusst werden können, andererseits. Die unabhängigen Momente der Subjektstruktur und die abhängigen bilden im konkret empirischen Subjekt einen Zusammenhang, und dadurch fällt ins Gewicht, ob die Momente im Sinne des Gegebenen zu der Bestimmtheit der unabhängigen und spontanen Momente passen (wie im Sinne des Zusammenhangs einer wissenschaftlichen Theorie) oder, im Gegenteil, mit ihnen in einem Verhältnis der Unverträglichkeit stehen. Normalerweise treten Sub221 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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jekt-Objekt-Beziehungsmomente, die die Wirklichkeit in der Weise der Gegebenheit darstellen und über ein bestimmtes Maß hinaus mit den Bestimmtheiten der gewählten, unabhängigen Momente kontrastieren, zurück ins Unthematische, so dass sie auf jeden Fall für den Zusammenhang des empirischen Subjekts keine zentrale Rolle spielen können; ist das jedoch unter bestimmten Voraussetzungen nicht möglich, so kommen eigenartige Zusammenhangsformen der zueinander passenden mit jenen unpassenden Strukturmomenten zustande, die ebenso faktisch vorliegen, wie sie zugleich als »nicht gewollt«, d. h. tendenziell vom eigentlichen, das Subjekt bedeutenden Zusammenhang ausgeschlossen, gekennzeichnet sind – »neurotische Zusammenhangsformen«. Mit der Erfassung des empirischen Subjekts als ein lebendiges Forschungsunternehmen setzt die Psychotherapie bei dem Befund an, dass das empirische Subjekt die Einheit seiner wissenschaftsgemäßen Strukturmomente – wie dies auf einer systematischen Ebene im Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt vorgezeichnet ist – durch eine Spaltung erkauft, die im einzelnen Fall mehr oder weniger toleriert werden kann. Die Chance, durch Psychotherapie einen wirklichen Fortschritt in der Grundlagenfrage zu erzielen, bahnt sich mit der allen Therapieformen gemeinsamen Auffassung an: eine zu weit gehende Gespaltenheit der empirischen Subjektstruktur könne durch eine Bearbeitung jener Momente, die sich zunächst in eine subjektgemäße Struktur nicht integrieren lassen, überwunden bzw. auf das normale Maß ermäßigt werden; wissenschaftstheoretisch relevant ist dabei das Konzept der Verbesserung einer Kohärenzform durch eine durch Arbeit erzielte Veränderung gewisser, kritischer Strukturmomente, welche Zeit erfordert. Indessen enthält erst die methodologische Intuition des Freudschen Ansatzes jene Hinweise, die schließlich eine Hoffnung stützen können, derart, dass es möglich sein müsse, auch noch jenes im Normalbereich zu verzeichnende Maß an Gespaltenheit – welches selbst bei einer perfekten Repräsentation der klassischen Objektebenenstrukturierung innerhalb des Moments der empirischen Subjektstruktur ja notwendig verbleibt – endgültig zu überwinden und damit die in der Wissenschaft nur angedeutete, höhere Kohärenzform Wirklichkeit werden zu lassen. Und zwar liegt der erste, weiterführende Hinweis in der inhaltlichen Bestimmung der Psychotherapie durch Freud als eine »Bewusstmachung des Unbewussten.« Diese Charakterisierung der psychotherapeutischen Arbeit impliziert ein 222 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Zusammenwirken verschiedener logischer Kohärenzformen, derart, dass die höhere Kohärenzform (d. h. das »Bewusste«) die niedrigere (d. h. das »Unbewusste«) in sich aufzunehmen vermag. Damit wird erstmals der Punkt konkret verdeutlicht, dass es die gemäß einem niedrigeren Funktionsmodus strukturierten Momente selbst sind, die u. U. im Sinne der höheren Kohärenzform umstrukturiert werden. Anders ausgedrückt: Die höhere Kohärenzform ist die in der niedrigeren Kohärenzform immanent angelegte Möglichkeit; oder, noch stärker: Die niedrigere Kohärenzform ist ein Spezialfall, die »verdeckte« Form einer höheren Strukturierung. Die Ausrichtung der Psychotherapie, wie sie im Programm der »Bewusstmachung des Unbewussten« ausgedrückt ist, geht im Prinzip über die im Sinne der Wissenschaft normale Spaltung hinaus, indem sie das menschliche Leibsein – jene Strukturmomente, die die niedrigere Zusammenhangsform der funktionalen Abhängigkeit besagen – als eine Spezialform von SUBJEKTsein und daher in »Bewusstsein« verwandelbar deutet. Der Mensch ist hier nicht mehr nur »animal rationale«, so dass beide Strukturtypen im Modus der Gespaltenheit zusammenhängen, sondern, was darüber hinaus geht, eine dem Leibsein unterworfene psychisch-geistige Wesenheit – andernfalls wäre die psychoanalytische Kardinalfrage: was das Leibsein für die Seele bedeutet (was das SUBJEKT mit den unwillkürlichen Verhaltensweisen des empirischen Subjekts: den von ihm erlittenen traumatischen Schicksalsschlägen, der seinem Lebensvollzug vorgegebenen Konstellation, den in seiner Wahrnehmung vorliegenden Träumen, Vorstellungen, Phantasien ect., beabsichtigt), wirklich gegenstandslos. Der zweite Hinweis, mit dem der erste wissenschaftlich gehaltvoll wird, ist mit den zwei Hauptstützen der Freudschen Methode gegeben: der Methode der freien Assoziation und schließlich dem Konzept der Übertragung. Erst mit der Methode der freien Assoziation gewinnt der so kühne Hintergedanke Freuds bezüglich der Einheitsbefähigung der empirischen Subjektstruktur konkreten Boden. Diese Methode bedeutet eine Lockerung der Crux, wie das empirische Subjekt in das wissenschaftliche Lebensunternehmen eingespannt ist, so dass, indem gewisse Momente wissenschaftsgemäß funktionieren, gewisse andere Momente just auf jene andere Funktionsweise fixiert werden, die die Subjektstruktur als Ganze für die Wissenschaft ungeeignet macht. 223 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
Die freie Assoziation bedeutet eine Lockerung der normalerweise wirksamen Vorschrift, die Momente des empirischen Subjekts so weit wie irgend möglich im Sinne der wissensgemäßen Kohärenzform zusammenzufassen – was jene Spaltung hervorruft –, wodurch Momente einer niedrigeren (»primärprozesshaft« bestimmten) Kohärenzform hervortreten können. Indem niedrigere Strukturierungen solcherart hervortreten, kann nun, da die wissenschaftsgemäße Ichstruktur zwar anwesend, jedoch in ihrer die Kohärenzform der Subjektstruktur dominierenden Rolle zurückgetreten ist, ein neuer Austausch zwischen den verschiedenartigen Strukturmomenten zustande kommen, derart, dass sich auch die die Kohärenzform des »Bewusstseins« repräsentierende Ichstruktur ändert und damit jene Verhältnisse, die eine bestimmte Form der Spaltung notwendig machen. Der springende Punkt dabei ist, dass mit dieser Methode die Tatsache des Zusammenhangs der qualitativ verschiedenen Strukturmomente berücksichtigt und damit die differentia specifica des humanwissenschaftlichen Gegenstandes erstmals so gesehen wird, dass das empirische Subjekt nicht einfach »ein Zusammenhang« (ein gemäß der Dingvorstellung aufzufassender Sachverhalt) ist, sondern das Zusammenhängen selbst ist, d. h., dass er die Einheit ist, die ein Zusammenhängen in dieser oder einer andern Form ermöglicht – und es ist dieser Gesichtspunkt, der einen grundsätzlichen Zugang zum SUBJEKTSEIN des Menschen eröffnet. 31 Indem die Psychotherapie mit der freien Assoziation zulässt, dass ein Austausch von Strukturmomenten verschiedener Kohärenzform zustande kommt (und zwar derart, dass auch jener Strukturtyp, der die Kohärenzform der Objektebene insgesamt dominiert, prinzipiell auf dem Spiel steht und im Austauschgeschehen neu verhandelt wird), ist genau jener Punkt getroffen, um den das wissenschaftliche Denken offenbar besorgt ist – es sei erlaubt, die hier wirksamen Gradienten einmal mit dieser Ausdrucksweise greifbar zu machen –, wenn es »Reflexion« als eine wissenschaftliche Figur verbietet: dass nämlich das empirische Subjekt mit jenen Momenten, die den SUBJEKTsinn repräsentieren, so unmittelbar in Verbindung kommt, ohne jene methodologischen Vorkehrungen, die, zusammen mit der Spaltung, die Dominanz der höheren Kohärenzform für die ObjektebeDie Verhaltenstherapien sind nicht »subjektlos«; nur berühren sie die Strukturmomente der menschlichen Bestimmtheit nicht an jener Stelle, wo sie als SUBJEKTIV begründet fassbar werden.
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224 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
nenstruktur grundsätzlich garantieren. In der wissenschaftlichen Tradition hält das Vertrauen in die Einheitsbefähigung des empirischen Subjekts dem Misstrauen die Waage, ob dieses empirische Subjekt auch ohne den mit der aufgenötigten Spaltung gesetzten Zwang, von selbst, fähig sei, so zu funktionieren, dass ein offener Austausch unter den Strukturmomenten der Objektebene unbedingt zugunsten einer höheren Kohärenzform wirkt. Das Gebäude der Freudschen Psychoanalyse, repräsentiert im Grundgedanken der Bewusstmachung des Unbewussten, wie sie in der freien Assoziation zustande kommen kann, wäre wissenschaftlich nicht haltbar und heuristisch im Hinblick auf das Fernziel der Erfüllung der empiristischen Begründungsidee nicht belangvoll ohne jenen kostbaren Eckstein, den Freud durch die Entdeckung der Übertragung als das methodische Grundelement seines Verfahrens einführt. In der Psychoanalyse erfolgt die Bewusstmachung des Unbewussten im freien Zueinanderfinden und einander Gestalten qualitativ verschiedener Strukturmomente im Rahmen der Übertragung. Auf dem Hintergrund der vorangegangenen Beschreibung ist der springende Punkt dieser Übertragung offensichtlich; indem es nur der SUBJEKTsinn der Metaebene sein kann, welcher, vom Analysanden auf den Therapeuten übertragen, dem psychoanalytischen Prozess voranleuchtet. Die Übertragungsbeziehung zwischen Analysand und Therapeut ist die Weise, wie die Beziehung der forschungslogisch transformierten Subjektstruktur zu den außerwissenschaftlichen Momenten für das einzelne, lebensweltlich-empirische Subjekt verbindlich wird; ihr Zustandekommen im analytischen Arbeitsbündnis bedeutet daher die Einwilligung in die empiristische Begründungsidee als eine für den Menschen gute, therapeutisch wirksame Idee. In der Tat ist die analytische Übertragungsbeziehung, wie ich meine, genau durch die Merkmale jener Beziehung zwischen Wissenschaft und Leben gekennzeichnet, der sie logisch-systematisch entspricht. Wie diese ist sie zweifach bestimmt: Erstens als eine Beziehung, die eine Nicht-Beziehung bedeutet, und zweitens als eine Beziehung, die, als Nicht-Beziehung, das Nicht einer BEZIEHUNG (im Sinne der Kohärenzform einer Metaebene) bedeutet. Wie ihr Vorbild oszilliert der Sinn der analytischen Übertragungsbeziehung zwischen einer partiellen und einer totalen Negation des durch den Analysanden vertretenen, lebensweltlich-empirisch akzentuierten Beziehungspartners, wobei beide Varianten in einem doppelten Sinn 225 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
funktionieren. Die partielle Negation in der Kommunikation zwschen Therapeut und Analysand wirkt zunächst als das, was sie ist: als eine in bestimmter Weise eingeschränkte Form der Kommunikation – der Kenntnisnahme des Analysanden durch den Therapeuten; und das hat den Sinn, eine totale Negation spürbar zu machen, denn der Sinn der psychoanalytischen Übertragungsbeziehung ist nicht der einer Beziehung –, wie wenn Menschen in einem lebensweltlichen Kontext einander kennenlernen; und insofern ist die partielle Negation, die der Analysand durch den Therapeuten erfährt, das Mittel der Darstellung einer totalen Negation. Jedoch repräsentiert auch diese nicht den endgültigen Sinn der Übertragungsbeziehung und ist also ein Mittel, eine Sinnebene anzudeuten, die jenseits, d. h. logisch über der Objektebenenstrukturierung liegend gedacht werden muss. Dadurch hat nun andererseits die immerhin stattfindende Kommunikation nicht nur den Sinn, jene totale Negation darstellbar zu machen, sondern, ebenso, die in der totalen Negation eigentlich gemeinte Dimension der Metaebene als eine positive Möglichkeit des Menschen gegenwärtig zu setzen. M. a. W.: Die Funktion der Negation der empirischen Subjektstruktur in der psychoanalytischen Übertragungsbeziehung ist die in dieser Situation verbindlich spürbare Vergegenwärtigung der kategorialen Ebenendifferenz als die für den wahrheitsgemäßen Vollzug des Menschseins unentbehrliche Funktion; was aber nun an dieser Vergegenwärtigung der kategorialen Ebenendifferenz und damit an der Übertragungsbeziehung therapeutisch wirkt, ist m. E. so zu bestimmen, dass über die schmalbandige Kommunikation der partiellen Negation, die eine totale Negation bedeutet, gewisse hochselektive Wahrnehmungen zustande kommen, welche dem Menschen die kategoriale Ebenendifferenz als überwindbar anzeigen, so dass es wiederum, positiv, die höhere Einheitsform der Metaebene ist, welche einander konflikthaft widerstreitende Objektebenenmomente als vereinbar und eine Heilung der Neurose damit vorstellbar macht. 32 In der klassischen Übertragungssituation repräsentiert der Analytiker zunächst das als abwesend anwesend gesetzte Triebobjekt und damit die kategoriallogische Ebenendifferenz als die durch den »psychischen Apparat« zu bewältigende Arbeitsanforderung. Die Auseinandersetzung mit der Bedingung der Übertragungsbeziehung betrifft also die Frage nach der korrekten Form der Repräsentation einer höheren Kategorie in der niedereren – als Methode der Verwirklichung der höheren Form der Bestimmtheit durch die niederere. – Die Antwort darauf: »Heilung der Neurose durch Aufhebung der Übertragung«, vollzieht sich im psychoanalytischen Prozess – nach
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Die Psychoanalyse Freuds markiert einen Wendepunkt für das Unternehmen der empiristischen Wissenschaft insofern, als sie eine Verlagerung des Gewichtes der Begründungsfrage an den Ort des empirischen Subjekts bedeutet, und zwar in der Weise, dass die Entscheidungsbefugnisse diesem empirischen Subjekt überantwortet werden, indem die Hinwendung der Wissenschaft zur Psychotherapie grundsätzlich impliziert, dass es nun die Antwort dieses je einzelnen Subjektes ist (im Ansuchen um Therapie; im Einwilligen in das Arbeitsbündnis; im Ergreifen seiner selbst als der conditio sine qua non einer Veränderung), von der ein Weiterkommen in der Begründungsfrage abhängt. Die Psychoanalyse macht näherhin einen Ansatz zu einer Lösung des empiristischen Grundlagenproblems in Richtung auf die Überwindung der systematischen Gespaltenheit der empirischen Subjektstruktur durch ihren entscheidenden methodologischen Grundgedanken: »Das empirische Subjekt ist als Ganzes Grund der Kohärenzform des Wirklichen, wenn es selbst als die Weise erfasst wird, wie sich das Gesetz der Höherentwicklung des Wirklichen auswirkt.« – Der erste Teil des Satzes bezieht sich auf die Sinn-Voraussetzung der freien Assoziation und der tiefenpsychologischen Deutung als therapeutische Maßnahmen, so dass sie auf eine Änderung einer bestehenden Kohärenzform hinwirken können; der zweite Teil des Satzes bindet diese einschneidende Maßnahme, von der kategorial-methodischen Tiefendimension des empirischen Subjekts Gebrauch zu machen, an die Bedingung der Rechtmäßigkeit dieses Gebrauchs, und diese Bedingung ist in der Psychoanalyse durch die Metamethode der »Übertragung« repräsentiert. Das bleibende wissenschaftliche Verdienst Freuds liegt also, wie ich meine, im Ansetzen zu einer methodischen Gegenstandsauffassung. Jedoch ist die Freudsche Methode i. e. S. so angelegt, dass sie zwar einen bestimmten, gegenüber dem Normalfall erhöhten Ausprägungsgrad der Neurose qua Gespaltenheit auszugleichen, nicht aber
den Freudschen Stichworten: Traumarbeit, Trauerarbeit, Denkarbeit, im Modus des »Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens« – als Arbeit des Bestimmtmachens von Negation: als eine Ergänzung der niedereren Kategorie um ihre Metabestimmtheit der Negation, so dass schließlich die Übertragungsbeziehung mehr und mehr die Vollzugsgestalt eines Kategorienwechsels und also desto mehr die Möglichkeit einer BEZIEHUNG repräsentiert, je mehr sie als die Übertragungsbeziehung der Anfangssituation nicht mehr besteht.
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
die zur Neurose disponierende Grundsituation der Gespaltenheit selbst zu ändern vermag. Sie widmet sich zunächst einem »Nachholbedarf« des empirischen Subjekts in Bezug auf die durch die Wissenschaft gesetzte Funktionsnorm; ihr Nahziel ist eine so weitgehende Aussöhnung der Strukturmomente des empirischen Subjekts, dass dieses es sich nun überwiegend leisten kann, »Wissenschaftler« zu sein, d. h. eine Kohärenzform zu verwirklichen, die grundsätzlich auf eine höhere Kohärenzform beziehbar ist. Wie die Wissenschaft erreicht sie die der Funktionsnorm entsprechende Kohärenzform auf Kosten gewisser Strukturmomente der Objektebene, die im Sinne einer notwendig aufrechtzuerhaltenden Verdrängung keinen direkten Anschluss an die das empirische Subjekt bestimmenden Strukturmomente erhalten können, obwohl sie doch mit ihnen zusammenhängen, so dass die Vereinigung der Strukturmomente der Objektebene in einer höheren Einheitsform weiterhin ein unerreichtes Ideal bleibt, wie es der Kulturpessimismus der Spätschriften Freuds zum Ausdruck bringt. Mit der Befürwortung der seiner Methode impliziten Beschränkungen (der Beschränkung auf überwiegend verbale Ausdrucksmittel sowie, vor allem, der zeitlichen Beschränktheit der Sitzungen), die eine Totalaktivierung der Momente der empirischen Subjektstruktur verhindern, teilt Freud wohl jene profunde Skepsis des menschlichen Subjekts in Bezug auf sich selbst, wie sie in der Wissenschaft insgesamt zum Ausdruck kommt; er bezweifelt, ob tatsächlich alles, was zur Objektebene gehört, im Hinblick auf eine höhere Kohärenzform in Bewegung gesetzt werden kann. So wiederholt sich in der Psychoanalyse die aporetische Figur der Annäherung an die Grundlagenfrage, indem sie auf eine Weise gestellt wird, die einen möglichen positiven Ausgang dadurch sichert, dass dieser nicht zustande kommt, d. h., dass die Sache nicht wirklich aufs Spiel gesetzt wird. Dennoch meine ich, dass es gerade der Beschränktheit der psychoanalytischen Methode: dass mit ihr allein das mit der empiristischen Begründungshypothese gesteckte Ziel noch nicht erreicht werden kann, zu verdanken ist, dass sie als ein erster Schritt auf dem eingeschlagenen Lösungsweg wirkt, indem sie dem Doppelaspekt der Spaltung Rechnung trägt, einmal als dem Zielpunkt einer anzustrebenden Veränderung, zum andern aber auch als ein Schutz vor dem möglichen Verlust der durch Wissenschaft repräsentierten Orientierung, der zumindest so lange nicht aufgegeben werden sollte, als der Funktion dieser Sicherheitsvorkehrung nicht vorteilhafter entspro228 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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chen werden kann – was natürlich eine genauere Kenntnis der Gefahr voraussetzt, der hier begegnet werden muss. Diese Gefahr ist nun im Sinne der hier gegebenen Beschreibung zweifellos so zu bestimmen, dass die wissenschaftlich geprägte Funktionsnorm eine Kohärenzform bedeutet, die lediglich die Möglichkeit impliziert, ihre Strukturmomente im Sinne einer Objektebene auf die Metaebene zu beziehen. Anders ausgedrückt: Der positive Sinn der Spaltung ist die Negation der Kohärenzform der Ausgangsmatrix des empirischen Subjekts in dem besonderen Sinn der empiristischen Begründungshypothese, derart, dass eine höhere Kohärenzform über eine solche Negation aller Strukturmomente des empirischen Subjekts erreicht werden kann, die eine »totale« Veränderung, eine Veränderung »um sie selbst«, bedeutet. Die mit der Freudschen Methode erreichte Objektebenenstrukturierung befindet sich gewissermaßen genau auf der Hälfte des Weges einer »totalen« Veränderung der Kohärenzform, so dass deren Vollendung zugunsten der Metaebene möglich bleibt. Der Grundkonflikt zwischen den wissenschaftsgemäßen – auf eine höhere Ebene beziehbaren – und den außerwissenschaftlichen Strukturmomenten, die der alten Kohärenzform der Ausgangsmatrix verhaftet sind, ist nicht gelöst; man kann nicht sagen, dass erreicht würde, dass die wissenschaftsgemäßen Strukturmomente in der Gesamtsubjektivität eindeutig überwiegen; vielmehr bleibt es ein Ringen. (Und so bleibt auch die durch Therapie zu vergrößernde Freiheit ein doppeldeutiger Begriff: Frei, um vernunftgemäß zu handeln oder frei, dem Lustprinzip zu folgen.) Für eine noch weiter gehende Lockerung der das empirische Subjekt dominierenden und kontrollierenden Ichstruktur, so dass auch diejenigen Strukturmomente, die bei einer klassischen Analyse ausgeschaltet bleiben, am Austauschprozess beteiligt werden können, ist, vom wissenschaftlichen Standpunkt, eine Methode zu fordern, die das Auftreten jener kritischen Momente mit der Negation jener alten Kohärenzform, der sie entstammen, verbindet. Im Hinblick auf eine spätere Einschätzung der Wissenschaftlichkeit der Primärtherapie – die ja, nach Janov, auf die Konzepte der »Verdrängung« und »Übertragung«, die im Sinne einer unaufhebbaren Spaltung eine Art von »Negationssicherung« bedeuten, programmatisch verzichtet – ist also die Frage im Auge zu behalten, wie in seiner Methode die grundlegende Bedingung der Negation repräsentiert ist.
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
1.2.2. Versuch einer Charakterisierung, wie sich die Crux des empiristischen Erfahrungsbegriffs in der gegenwärtigen Theoriesituation der Psychologie zeigt 1.2.2.1. Globale Charakterisierung der antinomisch bestimmten Situation der psychologischen Gegenstandserfassung: Unlösbarkeit und zugleich Unabweisbarkeit des Problems, eine logische Ebenendifferenz zu denken Im Sinne der vorangegangenen Beschreibung spitzt sich im Unternehmen einer wissenschaftlichen Psychologie die Crux der empiristischen Wissensform: nämlich die Einheit ihrer objektiven Erfahrung durch eine Spaltung der empirischen Subjektstruktur zu erkaufen, zwangsläufig dahin gehend zu, dass das, was als Bestimmtheit ihres Gegenstandes erfasst werden kann, grundsätzlich nicht dasjenige ist, worum es eigentlich geht: Unmöglich kann für den humanwissenschaftlichen Gegenstand belanglos sein, wie die wissenschaftlich erfassbaren Momente mit denjenigen Momenten zusammenhängen, die zum Zwecke der Erfassung der wissenschaftsgemäßen Momente abgespalten werden müssen. Wenn der Mensch dieser Zusammenhang der wissenschaftsgemäßen und der außerwissenschaftlichen Subjektmomente ist, dann muss dieser Zusammenhang auch für die Bestimmtheit der in Bezug auf ihn eruierbaren objektiven Daten eine Rolle spielen, so dass man gerade dann, wenn man streng wissenschaftlich vorgeht – und damit entsprechend der Hypothese, dass dieser Zusammenhang vernachlässigt werden kann – Auskünfte erhält, die im Ansatz fragwürdig sind. So teilt der Gegenstand der Psychologie den antinomisch bestimmten Status der Daten des direkten Erlebens im Rahmen der klassisch-empiristischen Wissensform, indem er, wenn er seine Funktion als ein empiristischer Gegenstand erfüllt, seine Funktion gerade nicht erfüllt; d. h., eine positive Funktion im Sinne der empiristischen Wissensform kann er nur erfüllen, wenn er seine empiristische Bestimmtheit annimmt, dabei aber nicht stehenbleibt: Der Gegenstand der Psychologie ist eine Pluralität objektiv begriffener Daten und eine Methode, diese auf die im Zustandekommen wissenschaftlicher Erkenntnis konkret in Anspruch genommene Einheit des Subjekts zu beziehen. Der Gegenstand der Psychologie kann seine Funktion nur erfüllen, wenn er den Sinn der objektiven Wissensform als Ganze erfüllt: Der Gegenstand der Psychologie als Gegenstand der empiristischen Wissensform ist eine Form von 230 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
Nicht-Subjektivität, die Nicht-SUBJEKTIVITÄT bedeutet; er ist eine Form, das Ganze, was Wissenschaft impliziert: nämlich die Einheit der empirischen Subjektstruktur als der Objektebene einer Metaebene, erfassbar zu machen. Der erste Sinn dieser Nicht-Subjektivität ist durch die gegenwärtige Theorie-Situation der Psychologie repräsentiert: Verfügbare, formale Theoriestrukturen werden auf vorliegendes einzelwissenschaftliches Material qua subjektive Daten angewandt, um es, zusammen mit den Theoriestrukturen, zu Gegenständen der Erfahrung, zu objektivem Faktenwissen zu verarbeiten. Verschiedene wissenschaftliche Ansätze unterscheiden sich darin, wie die formalen Strukturen aussehen und wie das subjektive Datenmaterial aussieht. Obwohl sichtbar ist, dass der Gegenstand psychologischer Theorien noch einmal zusammengefasst das ist, was Wissenschaft insgesamt ist; und obwohl die subjektiven Daten psychologischer Theorien wiederum subjektive Daten zum Gegenstand haben – aber nicht in der Form subjektiver Daten, so dass ein Zirkel methodisch unschädlich gemacht ist 33 –, so ist doch das empiristische Reflexionsverbot beachtet, indem die im empiristischen Wissen wirksamen Strukturmomente niemals erkennen lassen, inwiefern und wo sie genau Schaltstellen für die Wirksamkeit von SUBJEKTIVITÄT sind. Das Dilemma setzt nun ein, indem es unmöglich ist, sich mit dieser Nichtunterscheidbarkeit des SUBJEKTIVEN Sinns der nichtsubjektiven Daten zufriedenzugeben: Zunächst ist es einfach unvorstellbar, dass geleugnet werden kann, dass das Interesse der Menschen an den objektiven Daten der Psychologie (seien es Testergebnisse, Verhaltensbeobachtungen oder auch psychoanalytische Deutungen) schließlich doch darauf gerichtet ist, etwas vom »subjektiven Sinn« dieser objektiven Daten zu erfassen; dass sie durch die objektiven Daten der Psychologie etwas über sich zu erfahren hoffen, und das heißt: objektive Daten zu erhalten und zu wissen, was das mit ihrem Subjektsein zu tun hat, d. h. wie sich aus dem, was objektiv feststellbar ist, ihr Subjektsein erkennen lässt, wie sie über eine Reihe von objektiv bestimmten Erfahrungen zu einer Selbst-Erfahrung gelangen können. M. a. W.: Eine Psychologie kann diese Pluralität objektiv Eine analoge Situation bildet im Bereich der physikalischen Forschung die Zirkelsituation, wenn metrische Größen durch Metrisierungsverfahren eingeführt werden; auch hier muss es genügen, den Zirkel »methodisch unschädlich« zu machen (vgl. Ströker 1973, S. 54 ff.; Carnap 1974, S. 103 ff.).
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begriffener Daten erst dann überzeugend darstellen, wenn diese im Rahmen einer Theorie verwendet werden, welche deren Beziehung zum SUBJEKTSEIN des Menschen zu deuten vermöchte. Dieses SUBJEKTSEIN aber kann definitionsgemäß niemals als ein empiristisch-wissenschaftlicher Gegenstand erscheinen. Die Unabweisbarkeit und zugleich Unlösbarkeit des Problems, mit dem Gegenstand der Psychologie etwas von dem Zusammenhang der Strukturen der objektiven Erkenntnis mit der für sie notwendig vorauszusetzenden SUBJEKTebene von uneinholbarem Metastatus in Erfahrung zu bringen, als in der Theoriesituation gegenwärtig und wirksam, sei im Folgenden durch zwei Gesichtspunkte verdeutlicht. Der erste Gesichtspunkt betrifft die in der psychologischen Theoriebildung wirksame Dynamik in Richtung darauf, das Ganze des psychologischen Gegenstandes zu erfassen; der zweite Gesichtspunkt stellt die Tendenz des Übergriffes auf das Apriori – den Metastatus der forschungslogischen SUBJEK-Dimension – als gemeinsames Charakteristikum moderner Theorieansätze in der Psychologie heraus. Im Sinne des ersten Gesichtspunktes sei verfolgt, wie die psychologische Theoriebildung durch eine ihr implizite Gedankenbewegung bestimmt ist, derart, dass notwendig immer wieder Versuche gemacht werden, das empiristisch nicht Darstellbare: also die Einheit oder Ganzheit des psychologischen Gegenstandes, in den Blick zu bekommen. Indem der Prozess der wissenschaftlichen Wissensgewinnung notwendig dazu führt, den Menschen zum Gegenstand des wissenschaftlichen Wissensanspruchs zu machen, ist eine erste Phase der Entfaltung der psychologischen Theorietätigkeit Ausdruck der positiven Überzeugung, dass es möglich sei, den Menschen adäquat als einen Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis heranzuziehen. Das Prädikat »adäquat«, obwohl zur Zeit der Etablierung der Psychologie als einer empiristischen Wissenschaft vor rund hundert Jahren sicher überwiegend auf die korrekt zur Anwendung zu bringende wissenschaftliche Methode bezogen, dürfte wohl von Anfang an eine gewisse Ambiguität enthalten haben, derart, dass die Erstellung psychologischer Forschungsprogramme immer auch eine Art von Herausforderung bedeutete, eine an den Gegenstand gerichtete »Frage«, wie er wohl auf die Anwendung der empiristischen Methode antworten würde; jedenfalls, so meine ich, ist dem autochthonen In232 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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teresse der Psychologen an ihrer wissenschaftlichen Legitimität und ihrer gesteigerten Empfindlichkeit für methodologische Fragen, die von jeher für ihre Arbeit kennzeichnend waren, zu entnehmen, dass die Errichtung einer wissenschaftlichen Psychologie eher als ein Kunststück denn als eine Selbstverständlichkeit des wissenschaftlichen Alltags zu erachten sei. Erste Erfolge der Bemühungen, den psychologischen Gegenstand als Anwendungsfall der empiristischen Methodologie zu demonstrieren, wurden bei der Ausarbeitung von formalen Hilfsdisziplinen erzielt, wie Messtheorie, Utilitätstheorie, Faktorenanalyse, Varianzanalyse, Experimentalpläne (und einige dieser Methoden sind auch von anderen Disziplinen übernommen worden), galten aber ebenso von Anfang an der inhaltlichen Bestimmung der »objektiven Subjektivität«. Mit der Entwicklung und Anwendung der experimentellen Methoden in der Psychologie beginnt die wissenschaftliche Arbeit der Psychologie gewissermaßen vorsichtig in peripheren Teilbereichen des Gegenstandes: Die auf Wahrnehmung und Gedächtnis orientierte Sinnesphysiologie und Psychophysik, die Elementenpsychologie und Assoziationspsychologie einerseits, die an Lernexperimenten bei Tieren orientierte Verhaltensforschung andererseits: sie alle zeigen, entsprechend der methodologischen Forderung der ausschnitthaften Wirksamkeit von Subjektmomenten bei der wissenschaftlichen Gegenstandserfassung, den Gegenstand der Psychologie als eine Pluralität objektiv begriffener Daten, die alle irgendwie für das lebensweltliche, konkrete Subjekt bedeutsam sind, ohne dass man diese Bedeutung näher bestimmen könnte; in diesem Stadium entspricht die Situation der psychologischen Forschung am ehesten jener der Naturwissenschaft, die auf eine Klärung dieser Frage vorderhand verzichten kann. Von Anfang an zeigt diese Pluralität jedoch eine Polarisierung in Ansätze, die, wie die »Bewusstseinspsychologie«, mit einer für den Menschen hinzukommenden spezifischen Qualität rechnen – auch wenn dies methodisch nicht besonders, ausgenommen die Wahl der Basis-Daten, berücksichtigt wird; man könnte dieses Vorgehen als von der impliziten Frage begleitet paraphrasieren: Kann man die empiristische Methode auf das »Bewusstsein« anwenden, obwohl es doch »von anderer Art« ist? –, und in die behavioristisch akzentuierten Ansätze, für die die Anwendung der empiristisch-experimentellen Methode den Sinn hat, die »auch andere« Qualität des humanwis233 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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senschaftlichen Gegenstandes als entweder nicht wirklich vorhanden (metaphysischer Behaviorismus) oder als zu betrachten nicht notwendig (methodologischer Behaviorismus) auszuschließen. Diese Polarisierung drückt sich in der bis auf den heutigen Tag gebräuchlichen Definition der Psychologie als »eine Mannigfaltigkeit von wissenschaftlichen Versuchen zur adäquaten Erfassung von Erleben und Verhalten« (Thomae u. Feger 1969, S. 3) aus. Im Verlauf der weiteren Entwicklung zeigt sich nun, in einer zweiten Phase, unabweisbar die den Theorien der Teilfragmente innewohnende Tendenz, auf den Gegenstand als Ganzen überzugreifen: Auf der Seite des »Bewusstseins« als Zugang zum psychologischen Gegenstand machen Ganzheits- und Gestaltpsychologie Vorstöße zur eigentlich psychisch bedeutsamen Dimension; auf der Seite der experimentellen Verhaltensforschung sind es die Entwürfe einer behavioristischen Psychologie, die auch dann, wenn die Bedeutung der den ganzen menschlichen Gegenstand erfassenden Erkenntnisabsicht als Vorstoß in jene qualitativ andere Dimension gerade geleugnet wird, eben den Sinn haben zu demonstrieren, inwiefern diese Ausschaltung einer zusätzlichen, qualitativ anderen Dimension des psychologischen Gegenstandes eine Aussage über den ganzen Menschen ist. (Ein wohl unüberbietbares Beispiel dafür wird Skinners »Jenseits von Freiheit und Würde« bleiben.) Die Entwicklung einseitiger Ansätze führt nun, in einer schematisch dritten Phase, einerseits zu ständigen Paradigma-internen Veränderungen – wie etwa die Aufnahme der kognitiven Dimension im Rahmen des Behaviorismus; und andererseits unterstützt der gesteigerte Druck der als unzureichend empfundenen einseitigen Ansätze die Entwicklung »ganz anderer« Ansätze: Die Position eines rigorosen Behaviorismus kann zwar eingenommen werden, ist aber in doppelter Hinsicht nicht haltbar: weder kann sie das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse dauerhaft zufriedenstellen – wie auch eine einseitig auf die Wahrnehmungsfunktion konzentrierte Psychologie dieses Interesse nicht dauerhaft einfangen kann –, noch entgeht sie gewissen internen Aporien. So bietet die Situation des gesteigerten Drucks ob der als unzureichend empfundenen einseitigen Ansätze erneut der am Ausgangspunkt der Psychologie stehenden Kontroverse Nahrung: Ist der psychologische Gegenstand überhaupt angemessen klassisch-empiristisch zu begreifen oder erfordert er, entsprechend dem Modell der Geschichtswissenschaft (und eventuell Gesellschaftswissenschaft) eine andere, verstehende Methode? Die 234 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Bedeutung des Prädikats »angemessen« bezieht sich nun mehr auf den Gegenstand, dessen Eigenbestimmtheit über das zu tolerierende Maß hinaus ignoriert scheint. Insofern andere, verstehende Methoden (hermeneutische oder phänomenologische Sinn-Rekonstruktion) mehr der logisch qualitativen Besonderheit des psychologischen Gegenstandes entsprechen sollen, ergibt sich die Frage nach der Vereinbarkeit der naturwissenschaftlich erklärenden und der verstehenden Methoden. Hier besteht die Möglichkeit einer erneuten Polarisierung: und zwar in Psychologien, die darauf bestehen, dass der Besonderheit des menschlichen Gegenstandes innerhalb der wissenschaftlichen Wissensform Rechnung getragen werden müsse, und in Psychologien, die das eigentliche psychologische Interesse außerhalb des klassischakademischen Rahmens platzieren (wie es z. B. im Großen und Ganzen auf die humanistische Psychologie zutreffen dürfte). In der Entwicklung einer Pluralität von irgendwie einseitigen Ansätzen, zu denen dann auch die verstehenden Methoden gehören, sofern sie sich innerhalb des wissenschaftlichen Rahmens anzusiedeln versuchen, wird dann, in einer schematisch vierten Phase, das Problem der Theorienverbindung akut. Die psychologische Gegenstandsauffassung im Sinne einer Theorienverbindung kann sich in verschiedenen Varianten von Eklektizismus äußern, der auch dann den Sinn eines Schrittes in die Richtung einer theoretischen Integration hat, wenn das Problem der Entwicklung einer Metatheorie oder überhaupt die wissenschaftstheoretischen Probleme der Theorienverbindung nicht thematisiert werden. Auch hier ist wieder eine Tendenz zur Polarisierung festzustellen, dergestalt, dass die Frage der Verwendung von zwei verschiedenen Ansätzen oder Paradigmen und damit die weitere Frage nach der Form ihrer Verknüpfung auftritt: Gibt man sich mit einer Koexistenz verschiedener Theorien zufrieden oder möchte man den Zusammenhang strenger als eine Überordnung eines der zu verbindenden Ansätze fassen? 34
Die Schwierigkeit dieser Frage kommt etwa in dem Versuch van Quekelberghes (1979) zum Ausdruck, eine »kognitive Psychologie« als »eine theoretische Grundlage für verschiedene Therapieformen, nicht nur für die sog. ›kognitiven Therapien‹« zu liefern, die dann aber doch noch vorläufig nur als eine »partielle Grundlegung« verstanden werden soll (a. a. O., S. 19).
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
Es sei noch einmal wiederholt: Wie immer die einseitigen Ansätze beschaffen sein mögen – je klarer sie eine bestimmte wissenschaftliche Theoriegestalt annehmen, umso stärker wird deutlich, dass sie offensichtlich einen Teilaspekt des Gegenstandes akzentuieren, so dass damit vermehrt das Interesse aufkommt, einseitige Teilaspekte zu ergänzen, um damit der Ganzheit des psychologischen Gegenstandes und damit diesem selbst besser gerecht zu werden. Einseitige Theorien fordern die Herausbildung anders akzentuierter Theorien oder, vom Einzelaspekt ausgehend, umfassendere Theorieansätze heraus: Die sich am Reflexgeschehen orientierenden Lerntheorien werden durch Lerntheorien ergänzt, die den kognitiven Aspekt des Verhaltens berücksichtigen; Einzeldaten aus Lernexperimenten werden zu einer behavioristischen Psychologie zusammengefasst; Daten aus Wahrnehmungsexperimente zu einer Gestaltpsychologie; Ergebnisse der Testpsychologie und Faktorenanalyse zu einer Persönlichkeitspsychologie ausgearbeitet; die szientistisch-experimentelle Psychologie insgesamt wird ergänzt durch eine verstehende (hermeneutische oder phänomenologische oder existentielle) Psychologie; diese Ansätze sind aber ebenfalls einseitig: stets bleibt ein Rest übrig, wird ein Mangel oder Konflikt laut. 35 Drückt sich dieser Mangel oder Konflikt in Bezug auf die szientistischen Theorievarianten einerseits in den nicht eliminierbaren, immanenten Aporien dieser Ansätze aus wie andererseits in einer mehr oder weniger offenen Kritik am Reduktionismus, dem der psychologische Gegenstand bei völliger Eingliederung in die empiristische Wissensform unterliegt, 36 so sind auch die verschiedenen Vorschläge und Strategien, diesen Reduktionismus zu überwinden, nicht frei davon; sie können den wissenschaftlichen Anspruch der Psychologie nicht endgültig befriedigen und lassen somit ebenfalls einen Rest übrig, der unberücksichtigt bleiben muss. Als Spezialfall exemplifiziert die Diskussion um das Wissenschaftsverständnis der Psychoanalyse, bereits zu Freuds Lebzeiten Stellvertretend für viele in diese Richtung ausgestoßene Seufzer: Görres 1978, S. 9 f.; Mischel 1981, S. 28. 36 Zur Kritik am Reduktionismus vgl. etwa Graumann 1977, S. 32 ff.; König 1977, S. 122; sodann der gesamte Problemkomplex der metapsychologischen Theoriebildung, etwa: Mertens 1981, S. 13 ff., sowie die vielerorts erhobene Forderung, die »Person« bzw. ein angemessenes »Aktormodell« ins Zentrum einer psychologischen Theorie zu stellen: König 1981, S. 105; Schönle 1981, S. 140 ff.; Mertens 1978, S. 142 ff.; ders.1981, S. 73; Groeben 1977, S. 63. 35
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Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
wie später, die Dynamik der psychologischen Theoriediskussion um das unausweichliche und doch letztlich nicht siegreiche Ringen um die wissenschaftliche Erfassung des psychologischen Gegenstandes als einer Ganzheit. Nach wie vor ist die Theoriediskussion der Psychoanalyse von den Fragen bestimmt: – Ist die Psychoanalyse ganz oder teilweise eine echte Wissenschaft? – Handelt es sich bei der Psychoanalyse um eine oder um zwei Theorien (klinische Psychologie; Metapsychologie)? – Wie ist das Verständnis von Metapsychologie und klinischer Psychologie zu fassen? – Oder, wenn sich die Metapsychologie in der Freudschen Konzeption erübrigt, ist die klinische Psychologie dann eine nomothetische oder idiographische Disziplin? 37 Das Schema der Bewegung in der Explikation psychologischer Theorien in einem längeren Zeitraum sei noch einmal zusammengefasst: Die Erfassung des psychologischen Gegenstandes beginnt in einer ersten Phase an dessen Peripherie mit einem anfänglich explizit fragmentarischen Charakter; dies führt zu einer Pluralität objektiv begriffener Daten, die sich aufgrund ihrer Induktionsbasis in physisch und psychisch akzentuierte Ansätze aufspalten. Im Sinne einer zweiten Phase fordern einseitige Ansätze andere einseitige Ansätze heraus (»Erleben« und »Verhalten«); sie suchen sich gegenseitig zu ergänzen oder sich einzeln als größere, umfassendere Zusammenhänge zu formulieren. Dies führt in einer dritten Phase zur vollen Ausprägung des Methodendualismus (»Erklären« und »Verstehen«) sowie zu einer Abspaltung außerakademischer Ansätze. In einer vierten Phase wird nun die erforderliche Integration vermehrt in einer Theorienverbindung gesehen, entweder im Sinne eines Nebeneinander verschiedener Theorieansätze oder, wenn das Problem der Theorienverbindung thematisiert wird, im Sinne des Programms der Ausarbeitung einer Metatheorie. Die Diskussion um das Wissenschaftsverständnis der Psychoanalyse verdeutlicht exemplarisch diese Fragen: Bedeuten Metapsychologie und klinische Psychologie Ansätze auf einer Ebene, so dass Mit diesen Fragen setzen sich der Aufsatz von Mertens (1981) sowie alle anderen Aufsätze des von ihm herausgegebenen Sammelbandes auseinander.
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
sie sich in eine Theorie zusammenfassen lassen und also eine Reduktion der Theorienduplizität auf eine der beiden oder auf eine neue Theorie durchgeführt werden kann; oder sind zwei qualitativ verschiedene Ansätze notwendig, also etwa irgendeine erklärend akzentuierte Alternativformulierung der Metapsychologie plus einer hermeneutischen Rekonstruktion der individuellen Sprach- und Handlungssymbole, wobei sich dann wiederum das Problem des Zusammenhangs dieser beiden Theorieebenen stellt. Das Problem der Einheit der in der problematischen Einheit der menschlichen Erkenntnisfunktionen begründeten Naturwissenschaften spitzt sich in der Psychologie zu als die Unabweisbarkeit des Problems, die Einheit des psychologischen Gegenstandes darstellbar zu machen. Man kann nicht wissenschaftliche Aussagen über das Objekt »Mensch« machen unter völliger Vernachlässigung dieses Punktes, denn man hätte dann keine Wissenschaft vom Menschen (im Unterschied zu anderen naturwissenschaftlichen Gegenständen) und damit keine Wissenschaft vom Menschen; man müsste daher auf Psychologie verzichten: Das aber ist unmöglich, denn ein systematisches Vermeiden dieses Problems der Psychologie würde in einen Selbstwiderspruch und damit letztlich zur Auflösung der wissenschaftlichen Erfahrungsform führen. 38 Das ist die – bezogen auf sein eigentliches Anliegen – tragische Konsequenz eine Position wie der von Hemminger (1980). Die Selbstbehauptung des Indeterminismus endet folgerichtig in der Verwerfung nicht nur der Tiefenpsychologie, sondern jeglicher Psychotherapie und in letzter Konsequenz auch Psychologie, ja Wissenschaft überhaupt. – »Wenn man die Psychotherapie aber weder als Technik, noch als Mittel der Seelenführung betreiben kann, kann man sie gar nicht betreiben. Dies ist mein Standpunkt« (a. a. O., S. 208). Wenn die Psychotherapie, um nicht deterministisch zu sein, auf strenge Kausalerklärungen verzichtet, sich aber Kompetenz auf dem Feld, wo die eigentlichen Ursachen der Neurose liegen – jenem Bereich nämlich, von dem abzusehen für wissenschaftliches Vorgehen konstitutiv ist –, nicht anmaßen darf (a. a. O., S. 203; S. 207; S. 209), bleibt ihr nur noch die Selbstvernichtung als Wissenschaft, bzw. die Regression auf das vorwissenschaftliche Niveau: »Man schlägt stattdessen richtigerweise Medikamente oder einen Kuraufenthalt vor« (a. a. O., S. 202); sie ist vernichtet, weil das, wovon die Wissenschaft absieht: die Verbindung des wesentlichen menschlichen Lebensinteresses mit dem Moment der Wissenschaftlichkeit, ihre Existenzberechtigung ausmacht. Diesen tödlichen Stoß wendet auch der Vorschlag der »Eheberatung, Erziehungsberatung, Ernährungsberatung« plus persönlicher Beziehung, wenn man will (a. a. O., S. 209) nicht ab, denn das psychotherapeutische Moment hat den Status der alltäglichen Lebenspraxis und zeichnet sich nicht therapeutisch aus. Ist die Psychotherapie Wissenschaft, wenn und indem sie Psychotherapie betreibt, so ist sie keine legitime Psychotherapie – denn sie vollzieht die
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Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
Sofern man jedoch nicht auf Psychologie verzichtet, ist deutlich eine Dynamik festzustellen, derart, dass es sich als undurchführbar erweist, die Erkenntnistätigkeit innerhalb jener Grenzen zu halten, die für die empiristische Wissensgewinnung zunächst als wegweisend gelten müssen. Diese Undurchführbarkeit der Beschränkung eines unaufhaltsam fortdrängenden Erkenntnisinteresses zeigt sich einerseits in einer ruhelosen Aktivität in der Formulierung neuer Ansätze – die das Gebiet der psychologischen Theoriebildung für einen Einzelnen längst unüberschaubar gemacht haben –, die deutlich erkennbar den Sinn haben, die logische Situation der Psychologie qualitativ zu verändern; andererseits – und damit ist der zweite Gesichtspunkt dieses Abschnitts angesprochen – darin, dass in der modernen Theoriediskussion die forschungslogische Subjektdimension direkt in den Bereich des Erkenntnisinteresses rückt. Entsprechend der Anerkennung der Tatsache, dass es ja gerade die Wissenschaft ist, die das Ausüben von Wissenschaft als die zentral belangvolle Dimension des empirischen Subjekts akzentuiert, findet einfach unvermeidlich eine Annäherung der epistemisch-apriorischen und der realempirischen Dimension des Menschen statt, die im konkreten Subjekt einander berühren und zusammenwirken, und damit bewegt man sich unmittelbar im Felde eines möglichen Übergriffs auf die Unantastbarkeit der logisch apriorischen Ebene, man bewegt sich dort, wo ein Verstoß gegen das Reflexionsverbot – oder, wie man in respektvoller Anlehnung an Kant sagen könnte: die »transzendentale Schranke« – akut wird. Es gibt heute eine ganze Reihe einzelwissenschaftlicher Ansätze mit implizitem Begründungsanspruch: Kybernetik, Handlungstheorie, evolutionäre Erkenntnistheorie (in diesem Zusammenhang ist auch Piagets Theorie der »operativen Strukturen« zu nennen), Gesellschaftstheorie und Theorien der intersubjektiven Kommunikation – wobei der Begründungsanspruch oft nur an den mit der Theorie verbundenen Hoffnungen und der Beschreibung der Funktionen, die sie übernehmen können soll, ablesbar ist. Wiederum, aufgrund ihres systematischen Ortes innerhalb der Grenzüberschreitung vom wissenschaftlichen Bereich zum außerwissenschaftlichen Lebensanliegen; als Psychotherapie ohne wissenschaftlichen Anspruch ist sie überflüssig, denn sie zeichnet sich vor der »normalmenschlichen Beziehung« (a. a. O., S. 200) nicht aus -: Eine »echte« Psychotherapie im Rahmen der empiristischen Wissensform ist eine unmögliche Struktur – das macht die Argumentation Hemmingers vollends deutlich.
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
Psychologie, ist es die Psychotherapie, in der sich diese Tendenzwende besonders deutlich zeigt. Auf der einen Seite sind behavioristische Theorie- und Therapieformen, bei denen die »transzendentale Schranke« durch die strikte Subjekt-Objekt-Trennung eingehalten ist, vermehrter Kritik ausgesetzt; 39 andererseits wird dieses Verbot auch in der Form, wie es durch das von Freud mit der Abstinenzregel verbundene klassische Übertragungskonzept berücksichtigt ist, in Frage gestellt. Die Kritik der modernen Psychologie an der Freudschen Psychoanalyse impliziert konsequenterweise auch eine Kritik des Übertragunskonzeptes, und der Fall Janov, der in der Weiterführung der tiefenpsychologischen Psychotherapie dieses methodische Moment der Übertragung gänzlich verabschieden will, ist nur ein Ausdruck für diesen die moderne Bewegung grundsätzlich charakterisierenden Trend. Umgekehrt kann dieses Merkmal m. E. als ein Kriterium herangezogen werden, welches es sinnvoll erscheinen lässt, von einer »modernen Psychologie« zu sprechen. Dies alles zeigt, dass es im Sinne der Implikationen des wissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs logisch unausweichlich ist, an dieser Stelle: d. h. bei der Gegenstandsbestimmung der Psychologie, das Problem der Verbindung zweier logisch differenter Ebenen, deren Differenz in der klassisch-empiristischen Erfahrungsform als unüberbrückbar gehandhabt wird, zu konfrontieren, da ein Übergriff auf das Apriori der erkenntnistheoretisch-forschungslogischen Subjektdimension, wenn Psychologie weiterhin betrieben wird, eines Tages unvermeidlich auf dem Programm steht. Wenn im folgenden Abschnitt versucht wird, die Gegenwart dieses Problems in der psychologischen Theoriediskussion und seine Schwierigkeiten an einigen Beispielen mehr ins Einzelne gehend zu verdeutlichen, so sollen dabei als Fazit der globalen Betrachtung in diesem Abschnitt folgende beiden Punkte leitend sein: • Zur Erfassung des humanwissenschaftlichen Gegenstandes benötigt man, zusätzlich zu den normalen, klassischen Ansätzen, die den Menschen als »normales Objekt« der empiristischen Wissensform behandeln, einen Ansatz, der der qualitativ anderen Dimension, die für ihn als Subjekt der Erkenntnis eine zentrale Rolle spielt, Rechnung trägt. gegenwärtig wohl vor allem durch die kognitiv orientierte (etwa: Groeben 1977; van Quekelberghe 1979) und die Sozialpsychologie (Mertens 1977; 1978; 1981).
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Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
•
Diese andere Theorie ist eine Metatheorie in dem Sinn, dass sie es ermöglichen muss, die normalen, klassischen Ansätze als eine Einheit zu verstehen. Dabei stellt sich die Schwierigkeit: Wie ist diese andere Dimension zu denken? Und wie bestimmt sich der andere Status der Metatheorie in Verbindung mit dem Status der klassischen Theorien? – Hier begegnet man dem eigentlichen Problem, eine logische Ebenendifferenz zu denken.
1.2.2.2. Nähere Charakterisierung der Metatheorie-Problematik in der gegenwärtigen psychologischen Theoriediskussion an einigen Beispielen 1.2.2.2.1. Das Informationskonzept als Metatheorie: Die Ansätze von C. F. von Weizsäcker und W. H. König Die nun folgenden drei Abschnitte haben den Sinn, die Beschreibung des Grundlagenproblems, die in der vorliegenden Arbeit zu geben versucht wird, noch näher an die die gegenwärtige Theoriesituation bestimmenden Gedanken heranzuführen und mit ihnen zu einem Austausch gelangen zu lassen: Wie wird in der heutigen Theoriediskussion das Grundlagenproblem der Wissenschaft und besonders der Psychologie gesehen? Welche Perspektiven kündigen sich in den jeweiligen Lösungsvorschlägen an und welche Denkschemata werden dabei angewendet? Die Darstellung hält sich dabei an folgende Einteilung: In einem ersten Punkt werden die jeweiligen Auffassungen, in enger Anlehnung an die Äußerungen der Autoren, referiert; in einem zweiten Punkt erfolgt dann die Besprechung dieser Auffassungen, wobei besonders diejenigen Punkte zu beleuchten sind, die nach der Auffassung der vorliegenden Arbeit eine noch der weiteren Klärung bedürftige Schwierigkeit enthalten. – In diesem Abschnitt werden die Äußerungen von Weizsäckers (von Weizsäcker 1971) zusammen mit denen von W. König betrachtet (König 1981), der, in Übereinstimmung mit den Gedanken von Weizsäckers, das Informationskonzept zu einer Neuformulierung der psychoanalytischen Metapsychologie heranzieht. Mit von Weizsäcker teilt König die an die Kybernetik gerichtete Hoffnung, diese könne allen Wissenschaften als ein Modell der Gegenstandserfassung dienen und damit als eine Art von Metatheorie aller Einzelwissenschaften fungieren, die es ermögliche, sowohl dem naturwissenschaftlichen Interesse an den materiellen Gegebenheiten wie dem humanwissenschaftlichen Interesse am »Geist« gerecht zu 241 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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werden, so dass allgemein die Einheit der Wissenschaften wie speziell der Anschluss der Psychologie und Psychotherapie an die interdisziplinäre Diskussion in greifbare Nähe gerückt wäre. Den Ansatz zu dieser integrierenden Leistung offeriert die Kybernetik mit dem Informationsbegriff. Gewisse Fortschritte in der Neurophysiologie und Biologie führten dazu, die zentrale Bedeutung von Transport, Speicherung und Verarbeitung von Signalen und Nachrichten (König 1981, S. 108), d. h. die Übertragbarkeit mathematisch begründeter Modelle, die der Entwicklung der Rechenmaschinen zu verdanken sind, auf die Lebensvorgänge zu erkennen. Mit der Entdeckung der »Information« rücken »nicht materielle« Zusammenhänge in doppelter Weise in die Nähe materieller Zusammenhänge: Wenn, einerseits, für die Leistungen der Lebensfunktionen von Organismen Steuerungsprozesse spezifisch sind, die sich als Operationen informationsverarbeitender Systeme auffassen lassen, die auch von Rechenmaschinen vollzogen werden können, so arbeiten damit organismische und materielle Gegebenheiten nach einem gemeinsamen »physikalistischen Schema«: »Die Kybernetik stellt den Versuch dar, Lebensvorgänge durch den Vergleich mit Regelkreisen durchsichtig zu machen […] Der Regelkreis ist ein Modell für den Lebensvorgang, und ein technischer Regelkreis wird von uns niemals mit einem Lebensvorgang verwechselt werden. Insofern ist der technische Regelkreis immer nur ein Vergleich. Er ist ein Modell […] Darüber hinaus schafft man sich ein gedankliches Modell von den Vorgängen im lebenden Wesen, indem man nun etwa Nervenleitungen, chemische Reaktionen und was immer im Organismus ablaufen mag, mit Begriffen der Physik und Chemie und derjenigen biologischen Wissenschaften beschreibt, die auf Physik und Chemie aufbauen und sich deren Begriffe bedienen. Nun versucht man, den funktionalen Zusammenhang dieser Vorgänge durch mathematische Hypothesen zu fassen […] und es ist die Frage […], inwieweit es (dieses mathematische Modell, B. V.) nun imstande ist zu erläutern, was im Organismus wirklich vorgeht […] Kybernetische Modelle, angewandt auf Leistungen des Organismus, bedeutet einen ›Physikalismus‹ in bezug auf das organische Leben.« (von Weizsäcker 1971, S. 281 f.)
Das Neue, Interessante an der »Information« besteht, andererseits, darin, dass sie zwar immer ein materielles Trägersystem benötigt, um manifest zu werden (König 1981, S. 108), und damit an materielle Gegebenheiten gebunden ist, in ihrer Bestimmtheit jedoch nicht von der Eigenart dieses Trägersystems abhängt:
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Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
»Wenn ich mit Bleistift bedeutungshaltige Zeichen auf ein Blatt Papier schreibe, so wird eine Information materiell manifest, ebenso wenn ich in irgendeiner anderen, beliebigen Weise Materie so umstrukturiere, dass die neu entstehenden Strukturen bzw. Formen Zeichencharakter haben. Ebenso kann Energie so ›strukturiert‹ werden, dass sie zum Informationsträger wird. Wenn ich mit einer Taschenlampe Blinksignale im Morsealphabet gebe, so strukturiere ich die abgestrahlte Energie. Nicht ihr quantitativer Aspekt ist dabei von Bedeutung, sondern die Art und Reihenfolge der beim Empfänger ankommenden Energiebeträge […] Materie, Energie und Information gehen hier also einerseits eine enge Verflechtung miteinander ein. Andererseits müssen wir nun, insbesondere im Hinblick auf Lebewesen, immer fragen, ist es die Materie oder die Energie, die im Zusammenhang mit gestellten Fragen wesentlich ist, oder ist es ihre Strukturiertheit, die in ihnen manifeste Information.« (König 1981, S. 108 f.)
Information ist als dasjenige aufzufassen, was durch verschiedenartige materielle Strukturen, die als Trägersysteme fungieren können, als Invariante übertragen wird (König 1981, S. 108); so bedeutet Information eine neue, eigenständige Ebene der Betrachtung: »Information ist Information, und nicht Materie oder Energie.« (ebd.)
Ob es sich bei den Trägersystemen um DNS-Strukturen im Zellkern oder um Strukturen des Zentralnervensystems handelt, um Druckerschwärze oder »Bewusstseinsakte«: »Die Information ist nicht die Druckerschwärze, nicht der seelische Akt des Denkens, sondern das, was dieses Denken denkt, der Gedanke, in dem Sinne, in dem ich sagen kann, dass zwei Menschen dasselbe denken.« (von Weizsäcker 1971, S. 52)
Aufgrund dieser Eigenständigkeit der Analyseebene der Information gegenüber dem materiellen Trägersystem, das sie für ihr Auftreten benötigt, sind kybernetische Modelle nicht auf einen bestimmten Bereich beschränkt: Kybernetik des sprachlichen Bewusstseins, der Begriffsbildung, der Reflexion, des Ich – dies alles scheint möglich (von Weizsäcker 1971, S. 321). Auch Erkenntnisgewinnung selbst lässt sich als Informationsaufnahme und Verarbeitung verstehen: »Zunächst scheint mir, dass wir bisher gar keine Grenze für die Tragweite kybernetischer Modelle absehen können.« (von Weizsäcker 1971, S. 282)
Auch die hermeneutisch orientierte klinische Theorie gewinnt diesen Anschluss an das interdisziplinäre Modell der naturwissenschaftlichen Kausalanalyse: Kognitive Prozesse lassen sich kybernetisch dar243 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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stellen, und die subjektive Bedeutung für den betreffenden Menschen ist ein Aspekt des formalen Vorgangs der Informationsverarbeitung (König 1981, S. 117), der zwar gesondert analysiert werden kann, aber vom materiellen Aspekt der Lebensprozesse nicht ablösbar ist. So können die Strukturen der Physik und die der Tiefenpsychologie als Teile durchlaufender Strukturen aufgefasst werden (König 1981, S. 121). Die Beschäftigung mit Kybernetik ist für von Weizsäcker und König – und viele andere Wissenschaftler – mit der Hoffnung verbunden, dass der kybernetische Ansatz aus dem Leib-Seele-Dualismus herausführt. Dafür spricht, dass man mit der Kybernetik Leistungen beider Bereiche kausalanalytisch klären kann (von den Leistungen der Zellaktivität über kognitive Leistungen bis hin zu den Leistungen wissenschaftlicher Erkenntnis), sowie die beeindruckende Tatsache, dass die Ergebnisse geistiger Leistungen (Rechenoperationen) auch von nicht lebendigen, materiellen Strukturen hervorgebracht werden können. Der Dualismus von Geist und Materie scheint im offensichtlichen Zusammenhang von Information und materiellem Trägersystem überwunden: »Information ist nämlich nicht ein dualistisch gemeinter Gegenbegriff zu Materie und Energie; ganz im Gegenteil ist er ja die Strukturiertheit von Materie bzw. Energie, in der sich Information erst darstellen, manifest werden kann. Der Träger Materie/Energie und der Inhalt, die Form, die Information lassen nicht zu, in einem dualistischen Sinn gegeneinandergestellt zu werden.« (König 1981, S. 111) »Materie ist, aristotelisch gesprochen, Möglichkeit von Form […] Sie ist vielmehr die Möglichkeit, dass Form gefunden wird. Was gefunden werden kann, ist eo ipso Form […] Materie ist Form. (von Weizsäcker 1971, S. 362)
Wird der Lebensprozess als Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Information im Zusammenhang mit materiellen und energetischen Trägersystemen beschrieben, so wird sie als eine »Form der Form« begriffen: Der semantische oder Zeichencharakter ist die Form, wie Materie strukturiert ist, und Materie als die entsprechende Möglichkeit, Form zu finden, ist selbst als dasjenige bestimmt, was den Gesetzen der Physik genügt, also als Form: »Was wir Atome nennen, sind selbst formal kaum mehr etwas anderes als gewisse sich durchhaltende Gesetzmäßigkeiten in der Entscheidung einfacher experimenteller Alternativen.« (von Weizsäcker 1971, S. 289)
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Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
»Physikalismus bedeutet Objektivieren, d. h. Reduzieren auf empirisch entscheidbare Alternativen; insofern unterliegen die Gegenstände der Objektivierung den Gesetzen der Physik« (ebd.). »Dort (in der Kybernetik, B. V.) nimmt man das Materielle […] als das Gegebene. Was eine Rechenmaschine ist, das versteht sich von selbst. Und dann stellt sich die Frage, ob vielleicht die seelischen Phänomene begriffen werden können als etwas, das letzten Endes produziert wird von einer verborgenen oder vielleicht nicht einmal so verborgenen, nämlich im Gehirn lokalisierten Rechenmaschine […] Die Frage ist, finden wir nicht psychische Mechanismen vor, deren Struktur den Verdacht nahelegt und vielleicht sogar letzten Endes beweisbar machen wird, dass sie Mechanismen von etwas Materiellem in ihrer letzten Essenz sind. Finden wir nicht vielleicht psychische Gesetzmäßigkeiten vor, die genau deshalb Gesetzmäßigkeiten sind, weil sie ein Aspekt der Naturgesetze sind?« (ebd.)
Während hier das als Form bestimmte Gemeinsame des Materiellen und des psychisch Geistigen auf die Definition der Materie im Sinne der »Gegenstände der Objektivierung« hin akzentuiert ist, so dass Geistiges mit Materiellem eine Einheit bildet, indem beides Form qua Materie ist, so kann die Sache doch auch umgekehrt aufgefasst werden; denn wenn man, unter Berücksichtigung der heutigen Elementarteilchenphysik die Atome als »gewisse sich durchhaltende Gesetzmäßigkeiten« bestimmt, dann ist es möglich, »dass die Materie, welche wir nur noch als dasjenige definieren können, was den Gesetzen der Physik genügt, vielleicht der Geist ist, insofern er sich der Objektivierung fügt, insofern er also auf empirisch entscheidbare Alternativen hin befragt werden kann und darauf antwortet,« (von Weizsäcker 1971, S. 289) »(sodass) also Materie Form und Form Geist ist.« (von Weizsäcker 1971, S. 366)
»Information« macht den Geist-Aspekt in einer Form erfassbar, in der dessen Verbindung mit dem Materiellen unproblematisch erscheint: Subjektive Bedeutungen sind eine Form von Form; Informationen, z. B. des Zellkerns, sind eine andere Form von Form, und schließlich muss Materie als eine Form von Form betrachtet werden. Damit ist Materie genau um denjenigen Geist erweitert aufgefasst, der notwendig ist, um Geist physikalistisch erfassen zu können. Die wissenschaftliche Sichtweise vollzieht eine materialistische Reduktion des Menschen – und eine Methode kann den zunächst als verschie-
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den angesetzten Dimensionen von Materie, Leben und Seele bzw. Geist Rechnung tragen –, die aber insofern »unschädlich« ist, als ja »die Begriffe der Naturwissenschaft, insbesondere also der Physik, ihrerseits vollkommen dunkel und erklärungsbedürftig sind.« (von Weizsäcker 1971, S. 287)
Nur wenn die Materie selbst im Sinne einer (obzwar dunklen und erklärungsbedürftigen) Materie-Geist- Einheit gedacht wird, ist die von der Kybernetik (von Weizsäcker 1971, S. 279) wie von der Naturwissenschaft insgesamt vollzogene Einordnung des Menschen in die Natur und damit die Möglichkeit einer Erklärung des Höheren durch das Niedrigere grundsätzlich nachvollziehbar. Die »Naturmuster« könnten nicht »Ursache der Denkmuster« sein, wenn nicht die Natur das Denken mit umfasste. Die Sicht, dass der Mensch die Natur, aus der er sich entwickelt hat, erkennt, führt nur dann nicht in einen schlechten Zirkel, wenn die höhere Leistung als irgendwie von der niedrigeren Voraussetzung impliziert gedacht wird. »Nach der hier vertretenen Ansicht liegt die grundsätzliche Wahrheit des Reduktionismus in der Einheit der Natur, seine Falschheit, wenn man ihn so nimmt, wie er sich selbst meist versteht, in einem zu engen Begriff dessen, worauf er reduziert. Der Begriff des Subjekts, der im Wort ›Subjektivismus‹ zugrundegelegt ist, ist ebenso ungeklärt wie der Begriff Materie im ›Materialismus‹. Jeder der beiden Begriffe wird dabei so genommen, als ob er das im andern der beiden Begriffe Gemeinte nicht zugleich mitbezeichnete.« (von Weizsäcker 1971, S. 279). »Die Natur ist älter als der Mensch, und der Mensch ist älter als die Naturwissenschaft. So müssen wir die Naturwissenschaft mit all ihren Begriffen von der Natur als Werk des Menschen, den Menschen aber mit all seinem Erkenntnisvermögen als Kind der Natur begreifen. Diese Forderungen schließen sich im Kreis, und bildlich gesprochen wäre der Mittelpunkt dieses Kreises, also das, was den Kreis überhaupt erst ermöglicht, die gesuchte Einheit von Mensch und Natur […] So studiert der zweite Teil (des Buches von von Weizsäcker, B. V.) die Einheit der Naturwissenschaften als Funktion einer menschlichen Leistung, der Erfahrung, die freilich nur möglich ist, insofern die Natur erfahren werden kann, also auf dem noch unanalysierten Grund der wesentlichen Zusammengehörigkeit des erfahrenden Menschen mit der erfahrenen Natur, eben der hier gesuchten Einheit.« (von Weizsäcker 1971, S. 14)
Die Frage, die bei den Gedanken von Weizsäckers und Königs im Hintergrund stets mitläuft, ist ja nicht, ob eine kybernetische und damit physikalistische Deutung der objektiven Zweckmäßigkeit über246 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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lebensfähiger Organismen und schließlich auch der höheren Zweckrationalität menschlicher Leistungen möglich ist, sondern vielmehr: ob die kybernetische Betrachtung derselben in der Weise adäquat ist, dass es keine logischen Gründe für die Entwicklung qualitativ anderer wissenschaftlicher Methoden gibt. Die Kybernetik imponiert als ein Versuch, »die Spannung zwischen den beiden Denkweisen, der menschlich-verstehenden und der naturwissenschaftlich-kausalen«, die in der Medizin (und Psychologie) nie überwunden und aufgelöst werden konnte, »wenigstens in der Theorie zugunsten der naturwissenschaftlich-kausalen Denkweise aufzulösen« (von Weizsäcker 1971, S. 290), ohne dadurch jene Eigenbestimmtheit von Geist zu verletzen, die die Naturwissenschaft als Erkenntnis in Anspruch nimmt. Indessen kommt es bei von Weizsäcker und König nicht zu einer Entscheidung zwischen der schwächeren Version, dass die physikalistische Denkweise nicht in einem unaufhebbaren Gegensatz zu einem Verstehen des Menschen steht, indem die Materie dem Geist nichts Fremdes sei (von Weizsäcker 1971, S. 201; S. 283), und der stärkeren Version, dass Kybernetik als wissenschaftliche Methode der Erfassung des geistigen Aspekts menschlicher Leistungen prinzipiell ausreiche (von Weizsäcker 1971, S. 27). »Auf der anderen Seite darf man sich nicht darüber täuschen, dass das methodische Verfahren der Wissenschaft, wenn es sich über seine eigene Fragwürdigkeit nicht mehr klar ist, etwas Mörderisches an sich hat […] (Dieses, B. V.) ›Sich-selbst-noch-einmal-in-Frage-Stellen‹ muss aber geleistet werden, wenn die Wissenschaft auch einmal zum lebendigen Menschen, der ein Partner im Leben und nicht nur Objekt ist, in ein Verhältnis gesetzt werden können soll.« (von Weizsäcker 1971, S. 288)
Und so bedeutet auch die Kybernetik keinen Ausweg aus dem Dilemma: »Werden wir, einerseits, der Naturwissenschaft gerecht, wenn wir versuchen, ihrem Erklärungsvermögen Grenzen zu setzen? Werden wir, andererseits, dem Menschen gerecht, wenn wir sein Leben auf kausal Erklärbares reduzieren? […] Darüber hinaus ist die Frage, wie es denn kommt, dass derselbe Geist auf zwei so verschiedene Weisen mit sich umgeht, wie es in der Medizin die naturwissenschaftlich-kausale und die menschlich-verstehende sind. Das ist eine große Frage, und ich will für den jetzigen Augenblick damit zufrieden sein, sie genannt zu haben.« (von Weizsäcker 1971, S. 290) »Der Kern des Problems ist wohl, dass unsere Zeit, deren zentrales moralisches Anliegen mit Recht unter dem Namen der Menschlichkeit formuliert wird, keine Antwort auf die Frage bietet: ›Was ist der Mensch?‹ Wissenschaft-
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lich gesagt, besitzen wir keinen integrierenden anthropologischen Ansatz. Vermutlich ist diese Lücke im Kern eine notwendige Folge der objektivierenden Methode der Wissenschaft.« (a. a. O., S. 28).
Die Reduktion des Geistes auf die Materie als »Geist, sofern er sich der Objektivierung fügt«, schafft das Problem, ob diese eine Weise, Geist-als-Materie-als-Geist zu erfassen, ausreicht, um Geist darzustellen. Trotz dieser prinzipiellen Beschränktheit, die doch zeigt, dass die Kybernetik die für die Humanwissenschaften untragbare Einseitigkeit der naturwissenschaftlichen Methode nicht überwinden und damit die Einheit der Wissenschaft nicht begründen kann, geben eigenartigerweise sowohl von Weizsäcker – was in seinen wiederholten Ermutigungen zu einer Erprobung der Leistungsfähigkeit der Kybernetik anklingt – als auch König ihre diesbezüglichen Hoffnungen nicht auf: »Es stellt sich die Frage, ob die Dialektik (von Hermeneutik und Energetik, B. V.) […] nicht mit Hilfe der Kybernetik in der Metapsychologie explizit gemacht, in klarer Form herausgearbeitet werden könnte.« (König 1981, S. 107) »Es ist mir wesentlich, am Ende dieses Kapitels klarzustellen: Eine kybernetische Metatheorie für die Psychoanalyse, und deren mögliche Integration in eine einheitliche Metatheorie der Wissenschaft, kann für die Psychoanalyse nur tragbar sein, wenn die Art einer solchen Synthese so ist, dass das Originäre der Psychoanalyse, bzw. der verstehende Zugang zum Menschen bzw. ihr besonderer Ansatz, (therapeutisch) an der Beziehung zwischen Menschen (z. B. in der Übertragung zu arbeiten), erhalten bleibt. Ein primitives, naturwissenschaftlich-reduktionistisches Vorgehen kann nicht mit dem Begriff Synthese gemeint sein; sie muss dem spezifischen Eigenwert aller integrierten Teile gerecht werden können (etwa im Sinne eines dialektischen Aufhebens). Meines Erachtens (und so verstehe ich auch v.Weizsäckers Ansatz) ist einem kybernetisch-systemtheoretischen Vorgehen eine solche Leistung (im Sinne eines gewissen Vertrauensvorschusses) zuzutrauen.« (a. a. O., S. 122) »Hier geht es eindeutig darum herauszufinden, was spezifisch für menschliches Verhalten ist; es geht […] um eine schöpferische Wissenschaft vom Menschen, um eine organismische Weitsicht. Nur wenn die Systemtheorie sich dazu als fähig erweist, kann sie oben skizziertem Ansatz dienlich sein.« (a. a. O., S. 123)
Das Interesse von Weizsäckers und Königs an der Kybernetik lässt sich so verstehen, dass diese Sichtweise eine Hilfe bieten soll bei der 248 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
Beantwortung der Frage: Reicht die Erkenntnisform der objektiven naturwissenschaftlichen Erkenntnis aus, um Manifestationen von der Art von Geist zu erkennen?; kann die auf Erkenntnis der Materie (im Unterschied zum Geistigen) akzentuierte naturwissenschaftliche Denkmethode auch solchen Leistungen gerecht werden, die wir gewohnt sind, als seelisch, geistig oder subjekthaft zu bezeichnen? Eine Quelle von Schwierigkeiten in der Beantwortung dieser Frage besteht darin, dass sie in gleicher Weise (ununterscheidbar) sowohl die Verschiedenheit von Geist und Materie als auch deren Einheit voraussetzt. Dass sich für die Wissenschaft bei der humanwissenschaftlichen Gegenstandserfassung das Problem des Dualismus stellt – hinsichtlich der Bestimmtheit des Gegenstandes sowie, dementsprechend, hinsichtlich der adäquaten Methode seiner Erfassung – kommt daher, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis als Bedingung ihrer Möglichkeit eine Voraussetzung impliziert, die sich logisch von dem, was ihr Gegenstand werden kann, unterscheiden muss; mit Naturwissenschaft geht also eine Art von Wissen um eine geistige Dimension einher, d. h. um eine von der Bedeutungsebene der Gegenstände der objektiven Erfahrung zu unterscheidende Dimension. Wissenschaft impliziert als ihre Voraussetzung das Zusammenkommen zweier ungleicher Größen, und das Problem der Erkenntnis ist, wie die Beziehung gedacht werden kann, deren Resultat die wissenschaftliche Erkenntnisform ist. Ganz deutlich ist nun, dass das Interesse an der naturwissenschaftlichen Erfassung des humanwissenschaftlichen Gegenstandes, welche diesen als ununterschieden von materiellen Gegenständen darstellen muss, davon lebt, diese Entdeckung der prinzipiellen Gleichheit von Mensch und Natur als einen Schlüssel zum Verständnis des Grundproblems der Erkenntnis zu verwenden, nämlich der Erkenntnis, wie Einheit von Differentem möglich ist. Wenn man die Wirklichkeit streng mit den Augen der naturwissenschaftlichen Methode betrachtet, so gibt es nur eine Art von Gegenständen: die Gegenstände der Naturwissenschaft. In dem Augenblick, da diese Einheit als Ausdruck des Zusammenhangs von zwei Ungleichen relevant wird, geht es nicht mehr um ein naturwissenschaftliches Problem, sondern um das den Naturwissenschaften zugrunde liegende Erkenntnisproblem. M. a. W.: Die Frage, ob die Kybernetik weiterhilft in dem Sinn, dass sie Auskunft gibt über das Problem der Einheit von Ungleichen, bzw. der Versuch, die freilich mit der naturwissenschaftlichen Methode gewonnene Gleichartigkeit aller ihrer Gegen249 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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stände als eine Bestätigung der Möglichkeit der Einheit von Ungleichem – als eine Bestätigung der Möglichkeit von Erkenntnis also – heranzuziehen, kann sinnvoll nur als die Frage verstanden werden: Gibt es eine Möglichkeit, durch Naturwissenschaft Näheres über die Möglichkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu erfahren? – Die durch Kybernetik »ermittelte« Gleichheit des Menschen mit der Natur ist doch nur darum interessant oder aufsehenerregend, weil man von einer Ungleichheit weiß und sie voraussetzt. Von Weizsäcker führt den Geist auf die Materie und diese auf den Geist zurück, d. h., er führt beides, obwohl es doch wissenschaftlich gar nicht unterschieden werden kann, auf eine »um Geist« erweiterte Einheit zurück, d. h. auf eine Einheit, die Geist und Materie wiederum ununterscheidbar enthält – so dass man also wirklich nicht weiß, was eigentlich auf was »reduziert« wird. Dieser Umstand wäre gänzlich unverständlich und unnötig, wenn diese Operation nicht offensichtlich den Sinn hätte, die Geist-Materie-Einheit als eine Einheit von zweien darzustellen, die unterschieden werden müssen. Die Fragen von Weizsäckers und Königs können nur weiterführend behandelt werden, wenn konsequent die zwei logischen Ebenen, die sie umfassen, unterschieden werden: Die Ebene der Gegenstände (der Erkenntnis) – traditionell als »aposteriorisch« gekennzeichnet – und die Ebene der Erkenntnis, die für Gegenstandserkenntnis vorauszusetzen ist – sie ist traditionell als »apriorisch« gekennzeichnet. Zunächst die Ebene der Gegenstände der wissenschaftlichen Erkenntnis. Hier gilt: Gegenstände von einer bestimmten Art (»Materie«; »das Objektivierbare«) implizieren irgendwie, dass es zwei sind, die bei der wissenschaftlichen Gegenstandserkenntnis als eins behandelt werden; d. h., diese Art von Gegenständlichkeit impliziert, dass es sich dabei nicht einfach um Gegenstände, sondern um Gegenstände der Erkenntnis handelt, so dass wissenschaftliche Gegenstände zwei logisch zu unterscheidende Arten von Bestimmtheit bedeuten: Ihre Bestimmtheit als Gegenstände und ihre Bestimmtheit als Gegenstände der Erkenntnis. Indem im Sinne der Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis Geist auf Materie reduziert werden kann – was sich auch in dem Erkenntnisresultat ausdrückt: »Der Mensch ist ein Kind der Natur«, oder: »Die Naturmuster sind Grundlage der Denkmuster« –, wird beides auf ein und dasselbe reduziert, nämlich auf Erkenntnis. »Geist und Materie bedeuten naturwissenschaftlich das gleiche« (und umgekehrt: eine Art von Gegenstandserkenntnis impliziert zwei Weisen 250 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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von Gegenständen, die aber nicht unterschieden werden können): Dies kann, in Anbetracht dessen, dass Naturwissenschaft grundsätzlich eine Art von Gegenständen erfasst, sinnvoll nur als ein Hinweis auf das mit dem Auftreten wissenschaftlicher Gegenstände gegebene Erkenntnisimplikat verstanden werden: dass nämlich Erkenntnis eine Art der Einheit von zweien voraussetzt, die sich unterscheidet von der Art der Einheit, die aus dieser ersten Art resultiert: Für Naturerkenntnis ist eine Geist-Materie-Einheit vorauszusetzen, die von anderer Art ist wie jene, die durch irgend eine einzelwissenschaftliche Methode – heiße sie nun Kybernetik oder evolutionäre Erkenntnistheorie 40 – zum Ausdruck kommen kann. Man kann die Unterscheidung zweier logischer Ebenen – traditionellerweise die Unterscheidung einer apriorischen und einer aposteriorischen Ebene, die bei der Erkenntnis zusammenwirken – nicht umgehen; diese Unterscheidung ist mit Erkenntnis untrennbar verbunden. Denn das, was wir erkennen, ist notwendig erkannte Natur (Natur als Gegenstand der Erkenntnis), die somit nicht die gesuchte Voraussetzung der menschlichen Erkenntnis sein kann. Wenn man aber auf der Ebene der erkannten Natur als Resultat einer vorauszusetzenden Erkenntnis sagen kann: »Natur ist Voraussetzung für Erkennen«, so ist man dahin gelangt, zwei Bedeutungen von Erkennen zu unterscheiden, deren Verhältnis durch eine logische Ebenendifferenz charakterisiert ist:
Die Unhaltbarkeit und, andererseits, Unfruchtbarkeit einer strikten Trennung der naturwissenschaftlichen und der erkenntnistheoretischen Analyseebene wird besonders deutlich, wenn unter der Voraussetzung der Getrenntheit beider Ebenen darangegangen wird, »mit naturwissenschaftlichen Methoden die Frage zu untersuchen, wie und unter welchen Bedingungen der Mensch zur Erkenntnis befähigt ist« (Wuketits 1983, S. 361). M. a. W.: Man kann die eigene zurückhaltende Einstellung betonen oder nicht: Das Verlockende einer Fragestellung wie die der »evolutionären Erkenntnistheorie« ist doch gerade, im beschränkten Rahmen eines einzelwissenschaftlichen Zugangs einem Thema näherzukommen, derart, dass dies ein Überschreiten der Grenzen des wissenschaftlichen Rahmens bedeutet. – Diese Strategie der Auflösung einer andernfalls stagnanten Forschungssituation durch Unbestimmtheit, durch Nicht-zu-Ende-Führen der Differenz der einzelwissenschaftlichen und der erkenntnistheoretischen Ebene, so dass sich epistemologische und psychologische Betrachtungen: apriorische Normen und empirische Fakten, auf halbem Wege treffen, kennzeichnet auch Piagets Versuch einer »genetischen Erkenntnistheorie« (Piaget 1973) bzw. seine Theorie der »operativen Strukturen« (ders. 1967; vgl. auch Cellerier 1976).
40
251 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft Erkenntnis: »Natur als Voraussetzung menschlicher Erkenntnis«
ERKENNTNIS (VORAUSSETZUNG FÜR ERKENNTNIS)
Wissenschaft ist Erkenntnis; und indem diese Erkenntnis stattfindet, müssen ERKENNTNISVORAUSSETZUNG und Erkanntes im Sinne einer logischen Ebenendifferenz unterschieden werden. »Natur ist Voraussetzung für menschliche Erkenntnis« ist ein Gegenstand von ERKENNTNIS. Die Frage von Weizsäckers, ob die Erkenntnisform der »materiellen, naturwissenschaftlichen Erkenntnis« ausreicht, um Geist zu erkennen, ist in diesem Zusammenhang dann aufzufassen als die Frage: Kann man – und wenn man kann: muss man nicht sogar – auf die in der wissenschaftlichen Erkenntnis indizierte logische Ebenendifferenz (die zwei Bedeutungsebenen von »Erkennen«) eingehen, oder ist das nicht nötig? – um der Wahrheit des naturwissenschaftlichen Erkennens willen? – um der Wahrheit des Erkenntnischarakters der naturwissenschaftlichen Erkenntnis willen? Kann die Ebene der wissenschaftlichen Erkenntnis, von ihrer Metaebene abgetrennt, auf die Dauer ihren wissenschaftlichen Erkenntnischarakter aufrechterhalten? Es sind also zwei im Sinne einer logischen Ebenendifferenz zu unterscheidende Weisen der Einheit von zweien erforderlich, um das grundsätzliche Implikat der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen: Einheit als Einheit zweier Weisen von Einheit:
s
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o
O
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Gegenstandserkenntnis beginnt mit einer Einheit (den Gegenständen der objektiven Erfahrung), die eine Einheit von zweien (»MaterieGeist«) bedeutet, die, erstens, nicht als Differenz berücksichtigt werden muss – auf der Ebene der wissenschaftlichen Gegenstandserkenntnis – und, zweitens, als Differenz berücksichtigt werden muss, indem die Einheit von zweien auf eine andere Weise der Einheit zurückzuführen ist, die sie als Bedingung der Möglichkeit voraussetzt. Die Differenzierung auf der Objektebene – in zwei gleiche »Typen« von Gegenständen, die jedoch, trotz ihrer Gleichheit, eine Dif252 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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ferenz bedeuten – bedeutet gleichzeitig das Verhältnis der Ebene der Gegenstände der wissenschaftlichen Erfahrung zu einer höheren logischen Ebene – die als apriorisch qua nicht-aposteriorisch, somit als Metaebene gekennzeichnet ist. Noch anders ausgedrückt: Davon zu sprechen, dass in der Naturwissenschaft vom Menschen Geist auf Materie reduziert werde, ist nur sinnvoll, wenn man es so versteht – indem die Naturwissenschaft ja nichts »reduziert«, sondern lediglich eine Weise der Gegenstandserfassung verwirklicht –, dass im Vollzug naturwissenschaftlicher Erkenntnis das Implikat deutlich wird, dass die Einheit der Gegenstände der Naturwissenschaft in einer sie ermöglichenden Einheit begründet ist, die von logisch anderer Art sein muss; also impliziert der Vollzug naturwissenschaftlicher Erkenntnis die Aufforderung, diese Form von Einheit irgendwie auf eine qualitativ andere Form von Einheit zu beziehen. Insofern kann sich die wissenschaftliche Gegenstandserkenntnis so lange nicht vollenden, bis sie, voraussetzungsgemäß, die GeistMaterie-Einheit in der Form von Materie (der Gegenstände der objektiven Erfahrung) und die Geist-Materie-Einheit in der Form von GEIST (der höheren Einheitsform der Metaebene) darzustellen vermag. – Oder: Der folgende Satz: »Objekt ist Voraussetzung für Subjekt« (Materie ist Voraussetzung für Geist), ist als Erkenntnisgegenstand nur dann wahr, wenn ein SUBJEKT Voraussetzung für das Objekt ist, wobei das SUBJEKT die logische Metaebene zu Subjekt und Objekt der Objektebene markiert. Damit das Erkenntnisobjekt dem Erkenntnissubjekt vorausgehen kann, muss ein in einem höheren Sinn aufzufassendes SUBJEKT dem Objekt und dem Subjekt vorausgehen. Die Kybernetik eignet sich dazu, die Funktion der Erkenntnistheorie zu übernehmen, indem sie den Spielraum einer gewissen Unbestimmtheit ermöglicht, die aber zugleich eine gewisse Unklarheit bedeutet: Information ist eine andere Form des Ausdrucks eines Trägersystems, an das sie gebunden und von dem sie aber doch abgehoben ist: Information ist nicht Materie, sondern deren Strukturiertheit. Wie lässt sich diese Differenz in einem Rahmen (als eine hinreichende Gleichartigkeit) verstehen? Von Weizsäcker antwortet: Es lässt sich verstehen, indem das materielle Trägersystem eine Form von Form und die Information eine andere Form von Form ist: denn beides sind Bestimmtheiten einer Art von naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Der eigentliche Gewinn dieser Antwort besteht jedoch in 253 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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der Bedeutungserweiterung, die Materie mit der Relativierung auf jenes bestimmte »mehr« erfährt, dass der Begriff der Materie als Ausdruck einer Erkenntnisform voraussetzt; die Verschiedenheiten der Gegenstände der Naturwissenschaft werden auf die ihnen implizite Erkenntnisvoraussetzung: als verschiedene Formen von Form, relativiert. Somit sind tatsächlich zwei Weisen der Anwendung von Kybernetik zu unterscheiden: Eine Anwendung der kybernetischen Kausalanalyse, die an dem speziellen Materiebegriff der Physik i. e. S. festhält (hier wären die materiellen Formen qua Trägersysteme für Information im Sinne des humanwissenschaftlichen Gegenstandes streng als neurophysiologisches Substrat zu verstehen); und eine erweiterte Anwendung, indem man die Trägerstruktur nicht mehr in einem engeren Sinn materiell aufweist, sondern, eine solche aufzeigbare Verbindung als möglich voraussetzend, die etwa in der Zellbiologie gefundene Verbindung von Trägersystem und Information im Sinne eines Modells oder Vergleichs (von Weizsäcker 1971, S. 282) auf Bereiche überträgt, die nicht dem Beispiel des Funktionierens der lebenden Zelle entsprechen. In dieser Version – von der man sich erst eine Beförderung des psychologischen Anliegens versprechen kann – wird das Materie-Form-Schema formalisiert; es wird nicht einzelwissenschaftlich, sondern in einem philosophischen Sinn, wie er insbesondere durch das »Aristotelische Paradigma« von Stoff und Form bzw. Möglichkeit und Verwirklichung vertreten ist (Kraiker 1980, S. 125 ff.), angewendet, so dass also die der Aristotelischen Philosophie implizite Lösung des Leib-Seele- Problems in Anspruch genommen wird. Da, wie ich es verstehe, von Weizsäcker überwiegend diese Bedeutung der Anwendung von Kybernetik im Auge hat, sei – damit teilweise auf die Ausführungen des folgenden Abschnitts vorgreifend – bereits an dieser Stelle auf die Aristotelische Lösung des Leib-SeeleProblems, wie sie von Kraiker diskutiert wird, eingegangen. – Wie präzisiert sich die im Sinne der Kybernetik mögliche Erweiterung eines »physikalistischen Schemas« auf geistige Leistungen, indem die physikalistische Reduktion von Geist auf Materie durchaus als Reduktion der Materie auf den Geist, mithin des Geistes auf sich selbst, verstanden werden kann, durch deren Interpretation als Repräsentation des Aristotelischen Paradigmas von Möglichkeit und Verwirklichung? Zunächst ist die innere Verwandtschaft der Auffassungen offen254 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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sichtlich. Das, was einen Organismus beseelt, so dass er sich von unbelebter Materie unterscheidet, sind nach Aristoteles bestimmte (von Kraiker als »Dispositionen« im Sinne der modernen analytischen Philosophie interpretierte) Möglichkeiten, so dass Seele kein »Ding« ist, sondern Verwirklichung bestimmter Möglichkeiten eines mit entsprechenden Organen ausgestatteten Körpers: »Dass der Körper so organisiert ist, wie er es ist, bewirkt, dass er die entsprechenden Dispositionen hat und damit als beseelt betrachtet werden kann. Seele ist also nichts im Körper und kann daher auch nicht von ihm abgetrennt werden, Seele ist einfach die Organisationsform des Körpers.« (Kraiker 1980, S. 133)
Damit steht »Seele« in einer Reihe mit anderen Verwirklichungsformen, denn Materie ist ebenso eine Form von Form, wie auch Beseeltes oder Wissen eine Verwirklichung von Möglichkeit (eine Form von Form) ist. »Nach Aristoteles müssen auch die letzten Teilchen der Materie Form oder Verwirklichung von etwas sein, und dieses etwas kann dann per definitionem selbst keine Form, Konfiguration, Gestalt, Verwirklichung oder wie man es auch nennen will, besitzen. Dieses etwas ist reine Möglichkeit, reine Disposition, und wird von Aristoteles ›erste Materie‹ (prôte hyle) genannt […], in der scholastischen Terminologie ›prima materia‹«. (Kraiker 1980, S. 130 f.)
Als zentral für das Verständnis und damit die richtige Anwendung des Aristotelischen Schemas ist festzuhalten: Materie oder Stoff (dynamis; hyle) tritt in zwei grundsätzlich zu unterscheidenden Bedeutungen auf: Erstens auf der Seite der »Form«: Materie in dieser Bedeutung ist relativ zu bestimmen als die je notwendige Voraussetzung einer bestimmten Verwirklichung, die selbst wieder ebenso als Verwirklichung der für sie spezifisch vorauszusetzenden, unmittelbaren Möglichkeit aufgefasst werden kann: »Man könnte demnach sagen, die Elementarteilchen sind die erste Verwirklichung (prôte entelecheia) der prima materia, die Eisenatome die zweite Verwirklichung, ein fester Aggregatzustand des Eisens die dritte, ein eisernes Beil die vierte, und ein Beil, das Holz spaltet (d. h. eine Disposition verwirklicht), die fünfte. Zu welcher Nummerierung man kommt, hängt natürlich davon ab, wo man anfängt zu zählen. Bei der Erörterung der Seele beginnt Aristoteles weiter oben, nämlich bei den natürlichen, mit Organen versehen Körpern. Nehmen wir an, dies sei Verwirklichungsstufe 0. Ein solcher Körper kann beseelt oder unbeseelt sein. Wenn er beseelt ist, erreicht er die Verwirklichungs-
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stufe 1, die erste Entelechie, und das bedeutet nichts anderes, als dass er, im Gegensatz zum unbeseelten Körper, bestimmte Dispositionen besitzt, deren Realisierung dann die Verwirklichungsstufe 2, die zweite Entelechie bedeutet.« (Kraiker 1980, S. 131 f.)
Diesen Gewinn einer gewissen Beliebigkeit in der »Nummerierung« kann das Aristotelische Schema bieten, indem die Reihe der Verhältnisse von Möglichkeit und Verwirklichung im Ganzen auf die erste Materie (proté hyle) als der »reinen Möglichkeit« zurückzuführen ist. Wenn alles, wovon im Sinne der Verhältnisse von Möglichkeit und Verwirklichung gesprochen werden kann, eine Einheit ist – und das wird für die Beliebigkeit der Nummerierung angenommen –, so kann dies nur so gedacht werden, dass die von Aristoteles genannte erste oder reine Möglichkeit die Einheit aller von ihr ermöglichten Formen von Möglichkeit und Verwirklichung ist; ohne diese Beziehung auf diese eine alle Verhältnisse von Möglichkeit und Verwirklichung einheitlich ermöglichende Möglichkeit wäre die Rede von der Einheit der Verwirklichungsform »Seele« oder »Wissen« mit jener der »Materie« qua Eisen oder Elementarteilchen gänzlich ohne jede Grundlage. Also muss Materie, zweitens, auf der Seite der reinen Möglichkeit verzeichnet werden. Die erste Materie oder reine Möglichkeit der prôte hyle, die per definitionem selbst nicht mehr als Verwirklichung einer für sie vorauszusetzenden Möglichkeit betrachtet werden kann, hat gegenüber der zuerst genannten Bedeutung (auf der Seite der Formen der Verwirklichung) einen anderen logischen Status. Die prôte hyle muss als Möglichkeit für Verwirklichung überhaupt angenommen werden, die als nicht mehr hinterschreitbare Möglichkeit die Verwirklichung aller Formen des Verhältnisses von Möglichkeit und Verwirklichung ermöglicht und somit selbst nicht in der Art der Formen der Verwirklichungsreihe, die sie ermöglicht, gedacht werden darf. So gelangt man also wiederum zu zwei durch eine logische Ebenendifferenz geschiedenen Bedeutungen von »Materie« als Möglichkeit von Verwirklichung: Prima materia als Möglichkeit für Verwirklichung überhaupt und Materie als selbst eine Verwirklichung und zugleich Möglichkeit weiterer Verwirklichung, wie es etwa auf das Aristotelische Beispiel des Eisens zutrifft. Nun verhält es sich wiederum – entsprechend den Ausführungen weiter oben – so: Die Erhellungskraft dieses Schemas ist darin zu
256 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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sehen, dass es eine Begründung dafür gibt, inwiefern die Reihe verschiedenartiger Verhältnisse von Möglichkeit und Verwirklichung – denn ein Beil, das Holz spaltet, ist eben auch etwas anderes als ein Stück magnetisiertes Eisen, das Eisenspäne anzieht – Ausdruck von Einheit ist. Über diese Einheit, wenn sie mehr sein soll als ein abstrakt-formaler Gedanke, erfährt man nun genau so viel, wie man über die Beschaffenheit der ersten Möglichkeit erfährt, auf die die entsprechende Reihe zurückzuführen ist; diese (erste Möglichkeit) ist das Explanans, das angibt, wie die verschiedenen Formen von Möglichkeit und Verwirklichung näher als eine Einheit aufzufassen sind. Darum wird ja auch von Kraiker (und ebenso von von Weizsäcker), um die Erhellungskraft des Schemas zu demonstrieren, der Begriff der »universellen Materie« als eine Erläuterung dafür angegeben, wie man sich denken soll, dass Verwirklichungen auf eine erste Möglichkeit zu beziehen sind. In der Tat ist der Zusammenhang folgender Paare von Möglichkeit und Verwirklichung schlüssig: »Dieses Stück Eisen zieht Eisenspäne an« bedeutet eine Verwirklichung der Möglichkeit, die der Satz: »Dieses Stück Eisen ist magnetisch« ausdrückt; die Organisationsform des Eisens, die das Prädikat: »ist magnetisch« ausdrückt, kann wiederum als die Verwirklichung der »Magnetisierbarkeit« als einer Möglichkeit höherer Ordnung betrachtet werden und diese wiederum als Verwirklichung der höheren Möglichkeit der »Verwandelbarkeit in Eisen« (Kraiker 1980, S. 129): Der Zusammenhang dieser Formen von Möglichkeit und Verwirklichung leuchtet ein, weil diese Bestimmtheiten alle aus dem Begriff der »universellen Materie«, wie er durch die moderne Physik explizierbar wird, ableitbar sind, weil dieser Begriff die Einheit dieser Bestimmungen enthält. Dies gilt aber nicht in gleicher Weise von allen Beispielen, auf die das Schema angewendet wird: Ein Beil etwa, das Holz spaltet, ist nicht in gleicher Weise (in allen für dieses Ereignis relevanten Bestimmtheiten) auf die universelle Materie als dem modernen Vertreter der Aristotelischen prôte hyle beziehbar wie die Eisenatome auf die »Verwandelbarkeit in Eisen« als einer möglichen Verwirklichung der Möglichkeit der universellen Materie. Deshalb beginnt ja Aristoteles bei der Erörterung der Seele »weiter oben, nämlich bei den natürlichen, mit Organen versehenen Körpern« (Kraiker 1980, S. 132). Man kann nicht dadurch, dass der Aristotelische Begriff der proté hyle viel weiter und unbestimmter gefasst ist – als Möglichkeit für 257 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Verwirklichungen überhaupt –, die Leuchtkraft der Schlüssigkeit, die dieser Begriff durch eine spezielle Interpretation im Sinne der »universellen Materie« der modernen Physik und damit die Anwendung dieses Schemas in Bezug auf bestimmte Beispiele erhält, auch jenen Fällen »zugute kommen lassen«, für die die Frage, in welcher Beziehung sie genau zur »universalen Materie« als dem Vertreter der prote hyle stehen, gerade das Problem ist. Damit bedeutet das Schema in dieser Interpretation, soweit ich sehe, noch keine Lösung des LeibSeele-Problems. Wohl aber kann diese Interpretation einen Ansatz für eine Lösung bedeuten; und dieser Ansatz besteht darin, dass der Begriff der universellen Materie grundsätzlich zeigt, dass man, um mit diesem Schema zu arbeiten, zwischen der reinen Möglichkeit als der Möglichkeit für Verwirklichung überhaupt und den Möglichkeiten, die selbst als Verwirklichungen von Möglichkeit zu betrachten sind, eine Art von Mittelbegriff platzieren muss: Die universelle Materie kann nicht mit der reinen Möglichkeit der prima materia identifiziert werden, denn sie ist, als Gegenstand der Erkenntnis, selbst Form oder Verwirklichung; jedoch ist sie auch nicht Form im selben Sinne wie die Elementarteilchen und die von ihnen ermöglichten Verwirklichungen; vielmehr bildet sie eine spezifische Ermöglichung einer bestimmten Reihe von Verwirklichungsformen, die also keineswegs als Möglichkeit für alle Formen von Verwirklichung verantwortlich sein muss. Anders ausgedrückt: Hat man den Begriff einer bestimmten ersten Möglichkeit – wie den Begriff der universellen Materie – als einer Vermittlungsstufe zwischen der reinen Möglichkeit und der Möglichkeit auf der Seite der Verwirklichungen einmal eingeführt, so hindert nichts mehr, darüber nachzudenken, wie etwa jene spezifische Möglichkeit aussehen könnte, die als jener »dunkle und unanalysierte« Einheitsgrund herangezogen werden muss, auf welchen der psychologische Gegenstand zurückzuführen ist. – Wie also unterscheidet sich denn die Verwirklichung von der Art »Seele« oder »Wissen« von den materiell bestimmten Arten von Verwirklichung? Die Verwirklichung wie Wissen ist bezogen auf eine spezielle erste Möglichkeit, die es ermöglichen muss, die gesamte logische Akt-Potenz-Differenz der auf die universelle Materie als Vertreter der prote hyle bezogenen Verwirklichungsreihe als eine Verwirklichung zu behandeln. Die erste Möglichkeit, auf die eine Verwirklichung wie Wissen bezogen werden muss, muss so gedacht werden, dass sie gegenüber dem bisher als Vertreter prima materia heran258 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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gezogenen ersten Möglichkeit die Metastufe einnimmt. Insofern beginnt mit der Verwirklichung wie Wissen eine neue Verwirklichungsreihe; d. h., gleichzeitig mit dem Begriff der universellen Materie als der Möglichkeit einer Verwirklichungsreihe, die insgesamt eine Verwirklichungsform von Wissen, von Erkenntnis bedeutet, tritt als dessen notwendiges Implikat eine neue erste Möglichkeit auf, die gegenüber der zuerst artikulierten »ersten Möglichkeit« den Metastatus einnimmt. Anders ausgedrückt: Der moderne Materiebegriff – die moderne Physik – charakterisiert naturwissenschaftliche Erkenntnis als Erkenntnis – das eben ist die Begründetheit des naturwissenschaftlichen Wissens, die Einheit der Gegenstände der Naturwissenschaft –, und indem Erkenntnis als Erkenntnis auftritt, bedeutet dies den Verweis auf eine nächsthöhere Metaebene: auf die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis, d. h. auf eine Voraussetzung, die der Erkenntnis notwendig logisch vorausgeht in der Weise, dass sie diese ermöglicht und mit den Mitteln der Erkenntnis genau nicht fassbar ist. Die Sicht von Erkenntnis als Resultat einer Voraussetzung im Sinne der Metaebene, ist die neuzeitliche Stufe des Erkenntnisbewusstseins, und es ist dieser neuzeitliche Erkenntnisbegriff, der als übergeordnete Möglichkeit in der Verwirklichungsform des wissenschaftlichen Wissens gegenwärtig ist. Die Gegenstände der Naturwissenschaft werden auf jene erste Möglichkeit zurückgeführt, die sie als eine Form von Erkenntnis ausweist. Damit aber geschieht eine Veränderung der Situation, die als eine Umkehrung zu charakterisieren ist: Im Sinne der wissenschaftlichen Gegenstände ist das Höhere auf das Niedrigere zu reduzieren (d. h., es kann alles nach einem Schema behandelt werden), weil jenes aus diesem hervorgegangen ist. Als Erkenntnis gekennzeichnet, hat diese Erkenntnis eine logisch höhere Voraussetzung, so dass sich, mit dem Explizitwerden des Erkenntnischarakters dieser Sicht, diese umkehrt: Nicht das Niedrigere (die Natur qua Nicht-Erkenntnis) geht dem Höheren, der Erkenntnis, voraus, sondern eine höhere, unerkannte Voraussetzung geht einer Erkenntnis voraus, die sich von einer geringeren Form zu einer höheren, wahrheitsgemäßen Form entwickelt. – Die Reduktion des Höheren auf das Niedrigere ist genau dann eine Form von Wissen, wenn sie so geschieht, dass damit die Notwendigkeit einer zweiten Reduktion ins Blickfeld rückt, nämlich der ersten Möglichkeit der Naturwissenschaft auf eine zweite Interpretation der ersten Möglichkeit, die gemäß dem in der wissenschaftlichen Erkenntnis wirksamen neuzeitlichen Erkenntnisimplikat ge259 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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genüber der ersten Interpretation die Metaebene bezeichnet; d. h., die zuletzt hervortretende Voraussetzung ist der zuerst erkannten logisch vorgeordnet, und diese im Zuge des Stattfindens von Erkenntnis gleichzeitig stattfindende Umkehrung, dergestalt, dass das an zweiter Stelle, später Erkannte dem zuerst Erkannten logisch vorausgeht: das ist das Kerncharakteristikum der wissenschaftlichen Erkenntnis als einer Erfahrungserkenntnis. Die Weise, wie Erkenntnis zuerst stattfindet, ist deshalb Erkenntnis, weil sie notwendig in ihrem Verlauf dazu führt, die von ihr dargestellte Ordnung als eigentlich eine Umkehrung der wahren Verhältnisse zu begreifen, die also im Fortschreiten der Erkenntnis in richtiger Weise wiederum umgekehrt werden muss, so dass jetzt das zuerst erkannte Zweite ein Weg ist, das an zweiter Stelle Erkannte als das in Wahrheit Erste zu erkennen. Es ist zwar mittlerweile klar, kann aber, weil ein Missverstehen dieses zentralen Punktes verheerende Folgen hätte, nicht oft genug wiederholt werden: dass die Aufforderung zu einer Umkehrung der von ihr dargestellten Ordnung, welche die wissenschaftliche Erfahrung als Erkenntnis fordert, gleichzeitig die Aufforderung zu einem logischen Ebenenwechsel bedeutet, so dass die Veränderung der wissenschaftlichen Methode (im Sinne der Umkehrung der klassischen Methode) eine Übersetzung der einzelwissenschaftlichen Verhältnisse in die Sprache der logischen Metaebene erfordert, d. h. auf die Erkenntnismethode selbst zu beziehen ist. Wenn man das Aristotelische Paradigma zur Lösung des wissenschaftlichen Grundlagenproblems heranzieht – und Kybernetik »hilft« in dieser Richtung als eine mögliche Vertretung des Schemas von Möglichkeit und Verwirklichung –, so muss man es entsprechend jener Form interpretieren, die für wissenschaftliche Erkenntnis grundlegend ist: nämlich dem neuzeitlichen Ansatz der Erkenntnistheorie. So gesehen ist es richtig, das eine Schema der naturwissenschaftlichen Gegenstandserkenntnis arbeiten zu lassen, und einer Anwendung der Kybernetik sind keine Grenzen gesetzt. Gleichzeitig kündigt sich in der unbegrenzten Anwendung von Kybernetik, indem diese ja als Problem gesehen wird, die Notwendigkeit an, die wissenschaftliche Erkenntnis auf ihre erste Möglichkeit zurückzuführen, um die Rechtmäßigkeit dieses Tuns zu begründen, d. h. aufzuzeigen, inwiefern die wissenschaftlichen Gegenstände tatsächlich alle eine Einheit sind: Die Einheit der Erkenntnis als Erfahrung. Mit diesem Schritt, der eigentlich die unbegrenzte Anwendung der Kybernetik rechtfertigen soll, die alle Differenzierungen des Wirklichen auf 260 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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einen quantitativen Unterschied des Komplexitätsgrades »reduziert«, wird deutlich, dass, um solches – auf dass Erkenntnis verwirklicht werde – tun zu können, der Wahrheit der wissenschaftlichen Erkenntnis als Erfahrung Rechnung getragen werden muss; d. h. aber: Eine Erkenntnis, die sich als Erfahrung verwirklichen soll, kann sich unmöglich in einem Schritt, mit einer Art von Erkenntnis vollenden, da »Erfahrung« bedeutet, dass Zeit qua Reihenfolge im Sinne der Verursachungslogik in der Erkenntnisform selbst zum Ausdruck kommen muss: Es muss die Grundbestimmtheit des wissenschaftlichen Wissens als Erfahrung: nämlich das notwendige Nacheinander von zwei Verschiedenen im Sinne eines ursächlichen Zusammenhangs (wenn-dann als Grundbestimmung der Ursachenlogik), auf der Ebene der wissenschaftlichen Erkenntnisform selbst zum Ausdruck gebracht werden. Also impliziert die wissenschaftliche Erfahrung – auf dass Erfahrung »Wissen« genannt werden könne –, dass zuerst eine Wissensform auftritt und diese als notwendige Voraussetzung einer zweiten, qualitativ anderen, wirkt, wobei die zweite Wissensform, die aus der ersten entsteht, der ersten logisch vorausgeht; wissenschaftliches Wissen als Erfahrungswissen erfordert zwei Wissensformen, derart, dass die zweite die erste aufhebt – es gibt kein anderes Denkmodell, das Verursachung (Begründung) und Umkehrung der Ordnung der Verursachung als den beiden Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass Erfahrung WISSEN genannt werden kann, zum Ausdruck bringen könnte. Die Frage von Weizsäckers und Königs, ob Kybernetik als Metatheorie, als Ausdruck der Einheit der wissenschaftlichen Erkenntnisbemühung, ausreiche, wurde in diesem Kapitel weiterinterpretiert im Sinne der Frage: Gibt es eine Möglichkeit, durch Naturwissenschaft (speziell: Kybernetik) Näheres über die Möglichkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu erfahren – kann die Möglichkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ERFAHREN werden? – Die Antwort ist: Ja, aber nicht durch unbegrenzte Anwendung der Kybernetik als einem Vollzugsorgan der naturwissenschaftlichen Erkenntnisform, sondern dadurch, dass der Kernpunkt der wissenschaftlichen Erkenntnisform – das, was das Erkennen durch Wissenschaft lernt, zusammenfassbar im Begriff der notwendigen Reihenfolge (zeitliches Nacheinander im Sinne der Ursache) – auf die Erkenntnismethode selbst angewendet wird, derart, dass die naturwissenschaftliche Erkenntnisform die notwendige Voraussetzung für eine andere Er261 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
kenntnisform ist (so dass gesagt werden kann, dass jene diese begründet), aber so, dass die andere, neue Erkenntnisform ihrerseits die wissenschaftliche Erkenntnis begründet, so dass sie sich nachträglich als der Wissenschaft vorausgehend erweist. Also vollendet sich die wissenschaftliche Erfahrungsform als Erkenntnis in einer zweiten Wissensform, welche die naturwissenschaftliche Wissensform aufhebt. Insofern der Wissenscharakter der Naturwissenschaft an die Erfüllung dieser Vorschrift gebunden ist – was, im Sinne der Verwirklichung der Zeitbestimmung der Erkenntnis eben irgendwann einmal erfolgen muss, so dass Wissenschaft nachträglich falsch wird, wenn diese Konsequenz nicht gezogen wird: insofern bringt eine unbeschränkte Anwendung der Kybernetik (und der Naturwissenschaft) keinen Erkenntniszuwachs, sondern, genau besehen, (auf die Dauer) einen Schaden: sie zerstört sich mit der Zeit als Erkenntnis, wenn sie sich nicht im Sinne der ihr inhärenten Aufforderung als der Bedingung ihrer Möglichkeit ändert. Zum Abschluss dieses Abschnittes sei das um die moderne Erkenntnisvoraussetzung erweiterte Aristotelische Schema von Möglichkeit und Verwirklichung skizziert: ERSTE MÖGLICHKEIT (streng unerkennbar)
- - - - - - - - VERWIRKLICHUNG
(Möglichkeiten für spezielle Verwirklichungen
Paradigma der Einheit von Geist u. Materie i. S. der »ersten Möglichkeit« für Erfahrungserkenntnis
Zweite »erste Möglichkeit«: Universelles SUBJEKT Umkehrung!
Erste »erste Möglichkeit«: Universelles Objekt
1.2.2.2.2. Handlungstheorie als Metatheorie der Wissenschaften vom menschlichen Verhalten: Der Lösungsansatz von Ch. Kraiker Wenn die Befürworter der Kybernetik-Lösung eine wissenschaftliche Metatheorie der Psychologie durch Anwendung einer wissenschaftlichen Theorie auf die spezifisch menschlichen Leistungen des Denkens und Erkennens zu erreichen hoffen, so dass die Verbindung dessen, was beim Menschen als Objekt der Wissenschaft neu hinzukommt, mit der bestehenden Wissenschaft durch eine wissenschaftliche Theorie dieser auf der Stufe des Menschen neu hinzukom262 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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menden Leistungen berücksichtigt sein soll, so ist in der modernen Theoriediskussion der Psychologie auch der andere Standpunkt vertreten, dieses Ziel könne nur durch eine neu hinzukommende Theorie erreicht werden, deren Grundbegriffe nicht innerhalb des kategorialen Rahmens des empiristischen Wissens voll erfassbar wären. Die Lösung des Gegenstandsproblems psychologischer Theorien, die Christoph Kraiker in seinem Buch: »Psychoanalyse, Behaviorismus, Handlungstheorie. Theorienkonflikte in der Psychologie« (Kraiker 1980) darlegt, setzt bei dem Problem der »teleologischen Erklärung« an. Das Neue, das bei der Erklärung menschlichen Verhaltens auftritt und das schon in den umgangssprachlich verwendeten Erklärungsmustern präformiert ist, das sind Erklärungen von Verhaltensweisen durch Wünsche, Absichten, Intentionen, Motive – also teleologische Erklärungen. Eine Psychologie, die diese Bestimmtheit ihres Gegenstandes berücksichtigen will, muss das Problem der teleologischen Erklärungsform und deren Zusammenhang mit der klassischen Kausalerklärung lösen. So lässt sich auch der Theorienkonflikt zwischen der Freudschen und der Skinnerschen Verhaltenstheorie so fassen, dass in der Freudschen Psychoanalyse teleologische Erklärungen eine zentrale Rolle spielen, während Skinner meint, seine Theorie des operanten Verhaltens ersetze die teleologische Erklärungsform, indem alles zielgerichtete Verhalten als operant verstärktes Verhalten aufzufassen sei. Kraiker trifft hinsichtlich der teleologischen Erklärungen eine grundlegende Unterscheidung: • Teleologische Erklärungen als Erklärungen von Verhalten werden als dispositionelle Erklärungen (Erklärungen durch Dispositionen) gedeutet. • Jene Formen menschlichen Verhaltens, die sich nicht auf diese Weise rekonstruieren lassen, nämlich absichtliches Verhalten, wird als Handeln vom Verhalten abgegrenzt. Sie sind Gegenstand »echter« teleologischer Erklärungen. Den Weg zu einer Versöhnung der Skinnerschen Psychologie (als dem Vertreter einer reinen Verhaltenstheorie) und der Freudschen Psychoanalyse, die die Unverzichtbarkeit der teleologischen Erklärungsform in der Psychologie vertritt und deren Gegenstand damit als durch die Verbindung von Verhalten und Handeln bestimmt sieht, bahnt Kraiker durch folgende grundlegende Schritte an: • Beschränkung des Anwendungsbereichs der Verhaltenstheorien (als dem Anwendungsbereich dispositioneller Erklärungen); 263 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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• •
Ablösung der teleologischen Erklärungsform vom »Platonischen Paradigma« – in dessen Rahmen erstere bei Freud auftritt – und Zuweisung der psychologischen Theorien als durch die Verbindung von dispositioneller und teleologischer Erklärungsform charakterisiert zum Aristotelischen Akt-Potenz-Paradigma.
Also muss zunächst kurz umrissen werden, was Kraiker als »Platonisches« und »Aristotelisches Paradigma« bezeichnet. Kraiker sieht in diesen beiden Paradigmen die große Kontroverse in den Auffassungen zum Leib-Seele-Problem angelegt, die bis heute die psychologische Theoriediskussion bestimmen: In Psychoanalyse und Behaviorismus, den großen Antipoden der gegenwärtigen Psychologie, lebt die alte Kontroverse des Platonischen und des Aristotelischen Paradigmas weiter. Im Platonischen Paradigma werden zwei Arten von Seiendem angenommen, die im Menschen zusammentreten: Die Seele als der unsichtbare, immaterielle Anteil oder die geistige Substanz, ist für die Bewegungen, das Verhalten der körperlichen Person, verantwortlich. Die Seele ist eine vom Körper unabhängige, geistige, unsterbliche Substanz und das Prinzip der Bewegungen der menschlichen Person (Kraiker 1980, S. 49); so ist die Seele eine Art innerer Doppelgänger, der den Körper dirigiert. Ein innerer Mensch dirigiert den äußeren Menschen. Gemäß diesem Platonischen Paradigma ist der Strukturkern der psychoanalytischen Theorie nach Kraiker: »[…] nämlich […] die Annahme, dass menschliches Verhalten, bzw. entscheidende Aspekte desselben, einschließlich neurotischen Verhaltens, teleologisch erklärt werden kann, derart, dass Wünsche, Absichten, Gedanken ect. dabei eine wesentliche Rolle spielen.« (Kraiker 1980, S. 99 f.)
so formuliert, »dass es zwangsläufig die Seele (ist, B. V.), die wünscht, beabsichtigt, denkt; und da die Seele – wie sie im einzelnen auch konzipiert sein mag – bewegt, indem sie ihre eigenen Bewegungen auf den Menschen überträgt, so sind wünschen, beabsichtigen, wollen, denken Bezeichnungen für seelische Ereignisse, Vorkommnisse, in diesem Fall für seelische Akte oder seelische Handlungen […] Falsch sind nicht teleologische Erklärungen, sondern ihre Deutung als Erklärungen von Verhaltensereignissen durch verursachende seelische Ereignisse.« (Kraiker 1980, S. 100)
Die Psychoanalyse Freuds nimmt, gemäß dem Platonischen Paradigma, an, dass für teleologische Erklärungen eine zweite Substanz he264 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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rangezogen werden muss, derart, dass es eine gegenüber der äußeren Instanz innere Instanz ist, die wünscht und denkt, und die Skinnersche Ablehnung der teleologischen Erklärungsform betrifft vor allem deren Verbindung mit einer Inanspruchnahme »innerer Menschen«, eine Annahme, die Skinner für logisch überflüssig und unwissenschaftlich hält. Skinner versteht seine Analyse des verstärkungskontingenten Verhaltens »als eine nicht-teleologische Analyse der gerichteten Auswirkungen von Verhalten, von Beziehungen also, die traditionell als Zweck beschrieben wurden.« (Kraiker 1980, S. 114) »Da teleologische Erklärungen eine zentrale Rolle sowohl in der Psychoanalyse wie in der Alltagstheorie des menschlichen Verhaltens spielen, gewinnt der Skinnersche Behaviorismus seine große Bedeutung eben durch die Behauptung, eine angemessene operationale Interpretation zweckbestimmten und zielgerichteten Verhaltens innerhalb des eigenen Systems geben zu können. Damit attackiert er das Idealbild vom Menschen als einer autonomen Person.« (Kraiker 1980, S. 119 f.)
Kraiker weist nun nach, dass Skinner selbst in außerordentlichem Maße mit Dispositionsbegriffen arbeitet: »Zunächst einmal sind die Zentralbegriffe seines Systems dispositionelle Ausdrücke: Ein Organismus […] (ein) Verstärker […] ein Operant […] Dies gilt übrigens auch für den respondenten Teil des Skinnerschen Systems, denn Begriffe wie auslösender Stimulus, konditionierter Stimulus, respondente und konditionierte Reaktion sind jeweils dispositionelle Ausdrücke. Der Vorgang der Deprivation […] erzeugt einen Organismus, der eine neue, weitere Disposition hat […]« (Kraiker 1980, S. 146 f.)
Aber auch die Verstärkungsprozedur wirkt nicht im Sinne einer kausalen Notwendigkeit für das häufigere Auftreten des verstärkten Verhaltens zu einem späteren Zeitpunkt: »Was tatsächlich geschieht, ist, dass durch die Verstärkungsprozedur zu T1 in dem Organismus bestimmte Dispositionen erzeugt werden, die sich unter Umständen später – bei dem Eintreffen bestimmter Bedingungen – so oder so auswirken.« (Kraiker 1980, S. 147) »Dass z. B. ein Verhalten eine hohe Auftrittswahrscheinlichkeit hat, bedeutet nicht, dass es notwendigerweise häufig auftritt, sondern dass der Organismus eine Disposition erworben hat, die sich darin manifestieren kann, dass ein Organismus das Verhalten häufig zeigt, aber keineswegs muss.« (ebd.)
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Die Position Skinners bezeichnet nach Kraiker eine gültige psychologische Gegenstandsauffassung, wenn man sie so versteht, dass er beschreibt, wie Verhaltensdispositionen zustande kommen, die sich dann, bei Gegebensein bestimmter Bedingungen, zwangsläufig (im Sinne eines deterministischen Gesetzes) verwirklichen. Die SkinnerThese, alles zielgerichtete Verhalten sei nichts anderes als operant verstärktes Verhalten, lässt sich wissenschaftlich mit dem Modell der dispositionellen Erklärung rekonstruieren und damit dem Aristotelischen Paradigma der Akt-Potenz-Ontologie zuordnen: Psychologische, dispositionelle Erklärungen sind dem Aristotelischen Paradigma der Akt-Potenz-Ontologie zuzuordnen. Dieses Schema interpretiert Kraiker in der Sprache der modernen analytischen Philosophie: Möglichkeiten im Aristotelischen Sinn werden in der modernen Terminologie durch dispositionelle Prädikate oder Dispositionsbegriffe gekennzeichnet – durch Ausdrücke, wie »wasserlöslich«, »dehnbar«, »zerbrechlich«, »trennbar« (Kraiker 1980, S. 128). Bezeichnungen für Verwirklichungen sind entweder Ereignisprädikate – »löst sich auf« – oder Zustandsprädikate – »ist in Wasser gelöst« (ebd.). »Dispositionen sind keine Ereignisse, also auch keine psychischen oder physiologischen, noch solche in der Umgebung, sie sind vielmehr Möglichkeiten oder Potenzen im Sinne von Aristoteles. Psychologische dispositionelle Erklärungen müssen also dem Aristotelischen Paradigma zugeschrieben werden.« (Kraiker 1980, S. 146)
Die Besonderheit der Skinner-These besteht nun darin, alles zielgerichtete Verhalten sei operant verstärktes Verhalten. Seine These muss also dahin gehend verstanden werden, dass er meint, eine Form von dispositioneller Erklärung reiche für eine Wissenschaft vom menschlichen Verhalten aus. Diesen universellen Anspruch der Theorie Skinners bestreitet Kraiker mit der These, dass es zwei zu unterscheidende Formen von teleologischen (dispositionellen) Erklärungen gibt: Erklärungen von Verhalten (deduktiv-nomologische Erklärungen) und Erklärungen von Handlungen (»echte« teleologische Erklärungen bzw. dispositionelle Erklärungen, die nicht dem deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell angeglichen werden können). Der universelle Anspruch der Skinnerschen Theorie, der sich – wie letztlich auf andere Weise auch Freud – zu einem durchgängigen Determinismus menschlichen Handelns und Verhaltens bekennt, ist dem Bild einer »vollständig determinierten Welt im Sinne von Laplace verpflichtet«. (Kraiker 266 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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1980, S. 172). Dieses Laplacesche Weltmodell oder die kontemplative Auffassung von Wissenschaft ist jedoch widersprüchlich, denn Wissenschaft besitzt neben dem kontemplativen auch einen aktiven Aspekt (Kraiker 1980, S. 171); so entwickeln beide, Freud und Skinner, ja – neben ihrer Explikation der Gesetze menschlichen Verhaltens – ebenso auch »Anleitungen zur Änderung des menschlichen Verhaltens, sie geben Anweisungen, wie durch bestimmte Maßnahmen Handeln und Verhalten modifiziert werden können.« (Kraiker 1980, S. 172)
Folgt man nun dieser klassischen Annahme darin, »dass auch dieses eingreifende Handeln selbst nur als ein determiniertes Ereignis in einer unendlichen Reihe von notwendigerweise aufeinander folgenden Ereignissen sei, d. h. Teil der Laplaceschen Welt« (Kraiker 1980, S. 173),
so bedeutet das: »Eine Handlung, eine Veränderung der Welt ist überhaupt nicht möglich, da man damit zu Beginn der Geschichte des Universums hätte anfangen müssen, vorausgesetzt, es gäbe einen solchen Beginn.« (Kraiker 1980, S. 173)
Handlungen unterscheiden sich von den normalerweise wissenschaftlich betrachteten Ereignissen; dies wird von Kraiker am Beispiel der Voraussage, der Herbeiführung und der Verhinderung von Handlungen (Kraiker 1980, S. 177 ff.) erläutert: »Ein Handelnder aber kann die ihm unmittelbar verfügbaren Handlungen voraussagen ohne Kenntnis der zureichenden Bedingungen für diese Handlungen, ohne Kenntnis entsprechender Gesetzmäßigkeiten vom Typ: ›Wenn p, dann q.‹ Er erschließt nicht, dass er die Handlung vollziehen wird […] Für einen Handelnden A ist der Begriff der ihm unmittelbar verfügbaren Handlung ein nicht weiter reduzierbarer Grundbegriff. Derartige Handlungen stehen am Anfang und am Ende empirischer Wissenschaft, sie sind die Bedingungen ihrer Möglichkeit und ihr Resultat, aber mit dem Kategoriensystem empirischer Wissenschaft nicht vollständig erfassbar.« (Kraiker 1980, S. 188) »Das Laplacesche Weltbild ist als universell gültiges Weltbild widersprüchlich. Fundamental sind nicht gesetzmäßig aufeinander folgende Ereignisse, sondern Handlungen, die weder herbeigeführt noch erschlossen werden können, sondern die einfach getan oder unterlassen werden.« (Kraiker 1980, S. 189)
Das Experiment der Befolgung einer Handlungsanweisung (Licht anmachen durch Knopfdrücken, vgl. Kraiker 1980, S. 173 f.) macht deutlich, dass in Bezug auf Handlungen unterschieden werden kann zwischen (sekundären) Handlungen, die man dadurch vollzieht, dass 267 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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man erst eine andere Handlung vollzieht (welches Verhältnis sich in Bezug auf diese wiederholen kann), und Handlungen, die man vollzieht, ohne dass man erst eine andere Handlung vollzieht. Einem Vorschlag von Danto folgend nennt Kraiker diese Handlungen BasisHandlungen (Kraiker 1980, S. 174). Obwohl sich nun Handlungen als Ereignisse nach Kraiker von den deterministisch aufzufassenden Ereignissen unterscheiden, stehen menschliche Handlungen doch immer schon in einem Zusammenhang mit den deterministisch charakterisierbaren Gesetzlichkeiten: »Handlungen, d. h. Veränderungen der Welt und der eigenen Dispositionen und Verhaltensweisen, sind möglich, weil in dieser Welt festgelegte funktionale Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Systemzuständen bestehen. Ohne Gesetzmäßigkeiten des Nervensystems, des Stimmapparats und der Luftschwingungen könnten wir nichts sagen, nichts mitteilen; ohne festgelegte Eigenschaften von Axt und Holz könnten wir keine Bäume fällen; ohne gesetzmäßige Abläufe im Gehirn könnten wir nicht einmal denken.« (Kraiker 1980, S. 245) »Die Menschen sind jedoch für ihre Handlungen auf die Existenz der dazu notwendigen materiellen Bedingungen angewiesen, und nur bestimmte Variablen des Systems Welt sind ihrem Handeln unmittelbar zugänglich. Durch die Beeinflussung dieser Variablen können sie indirekt andere Variablen beeinflussen, d. h. in der Welt handeln, sie verändern. Die dazu notwendigen funktionalen Abhängigkeiten sind jedoch von ihnen nicht gemacht, sondern vorgefunden, und insofern sie selbst Teil des Systems Welt sind, sind einige ihrer Eigenschaften wiederum abhängige Variablen, d. h. gar nicht oder nur indirekt kontrollierbar. Dieser Sachverhalt ist die Grundlage, die Voraussetzung für alle Verhaltenswissenschaften.« (Kraiker 1980, S. 245 f.)
Die Präzisierung der Verflechtung von Handlungs- und Verhaltensebene erfolgt bei Kraiker durch die Rekonstruktion der Skinnerschen Theorie des operanten Verhaltens im Sinne der strukturalistischen Auffassung wissenschaftlicher Theorien. Diese neue Auffassung gestattet, das Ineinandergreifen jener beiden für die Psychologie bedeutsamen Ereignisarten: nämlich Verhalten und Handeln, besser zu begreifen und zugleich gewisse Probleme und Aporien psychologischer Erklärungen im Rahmen der bestehenden Aussagenkonzeption wissenschaftlicher Theorien fruchtbar zu beleuchten. »Strukturalistische Auffassung wissenschaftlicher Theorien« nennt Kraiker mit Stegmüller eine Alternativkonzeption zur sog. Aussagenkonzeption (d. h. der Annahme, zentraler Bestandteil von 268 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Theorien seien universelle Aussagen, d. h. Gesetze), die von Sneed (auf Anregung des Paradigmenkonzeptes von Kuhn) entwickelt und von Stegmüller neu diskutiert und erweitert wurde (Kraiker 1980, S. 217). Während die Aussagenkonzeption Theorien und Hypothesen einander prinzipiell gleichsetzt (als Satzmengen unterschiedlichen Umfangs, zwischen denen ein Ableitungsverhältnis besteht), ist nach strukturalistischer Auffassung eine Theorie ein kompliziertes Gebilde im Sinne eines verschiedene Teile umfassenden Paradigmas, »wobei bestimmte Teile solcher Paradigmen eine zentrale Stelle einnehmen, derart, dass sie über alle Unterschiede hinweg unverändert bleiben und gewissermaßen als ein definierendes und abgrenzendes Merkmal gelten können.« (Kraiker 1980, S. 15)
Zu diesem Zentrum eines Paradigmas oder einer Theorie, das Stegmüller den Strukturkern einer Theorie nennt, als dem axiomatischen Aspekt – der axiomatischen Definition der Bedingungen der vollständigen, möglichen und partiell möglichen Realisierungen des definierten Systems – tritt ein heuristisch-pragmatischer Aspekt, der durch Deskriptionsanleitungen, Suchanleitungen und Handlungsanleitungen repräsentiert wird; und schließlich der empirische Aspekt – der die Tatsachenbehauptungen und empirischen Hypothesen umfasst –, der als die Peripherie der Theorie fungiert.« (Kraiker 1980, S. 229): »Die Peripherie der Theorie, die Tatsachenbehauptungen […] werden nicht aus dem Strukturkern logisch abgeleitet, sondern von den Wissenschaftlern geschaffen, und zwar durch die Anwendung der heuristisch-pragmatischen Regeln auf bestimmte Sachverhalte […] Der Strukturkern und die Heuristik können angesichts jeder Erfahrung beibehalten werden (C. I. Lewis) […] da sie selbst keine Tatsachenbehauptungen sind.« (Kraiker 1980, S. 230)
In dem hier diskutierten Zusammenhang sind vor allem zwei Vorzüge der neuen strukturalistischen Auffassung von Theorien zu nennen: Ausgehend davon, dass nach der neuen Auffassung die Tatsachenbehauptungen nicht aus dem Strukturkern der Theorie logisch abgeleitet, sondern von den Wissenschaftlern geschaffen werden, ergibt sich für Verhaltenstheorien, dass sie sich nicht mit Verhalten schlechthin, sondern mit Verhaltenssystemen befasst, d. h. mit Verhalten, das unter einer bestimmten Deskriptionsvorschrift sprachlich erfasst wird und insofern es in bestimmten Beziehungen zu bestimmten anderen Variablen steht (Kraiker 1980, S. 233):
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»Wenn eine Person Systeme mit bestimmten Elementen und bestimmten definierten Beziehungen zwischen diesen Elementen betrachtet, dann können sie keine logischen Zwänge davon abhalten, eigne dieser Elemente als Bestandteile anderer Systeme anzusehen und zu behandeln.« (Kraiker 1980, S. 239) »Die Angstreaktionen sind also Elemente sowohl von Pawlowschen […] wie auch von operanten, d. h. Skinnerschen Verhaltenssystemen. Möglicherweise sind sie aber gar nicht klassisch konditioniert, sondern Ergebnis einer – vielleicht unbewussten – Phantasietätigkeit und haben doch die gleiche operante Funktion.« (Kraiker 1980, S. 240)
Diese Auffassung wissenschaftlicher Theorien impliziert also, dass gleichzeitig verschiedene zutreffende Erklärungen ein und desselben Sachverhalts gegeben werden können (Kraiker 1980, S. 237); in Bezug auf ein und dasselbe Verhalten können mehrere Erklärungen korrekt sein, ohne sich zu widersprechen, so dass eine bestimmte Störung »sich damit als Anwendung sowohl der einen wie der andern Theorie auffassen lässt.« (Kraiker 1980, S. 238) Ein Verhalten kann also von verschiedenen Variablen funktional abhängig sein, und ebenso wird man es im Zusammenhang verschiedener Theorien mit verschiedenen Arten von funktionalen Abhängigkeiten zu tun haben. Aber für alle Arten von Variablen und funktionalen Abhängigkeiten zwischen ihnen gilt, »dass überall dort eine Eingriffsmöglichkeit gegeben ist, wo eine der unabhängigen Variablen dem Handeln einer intervenierenden Person zugänglich ist« (Kraiker 1980, S. 238 f.)
und dass die Nützlichkeit von Ansätzen eng damit verknüpft ist, Eingriffsmöglichkeiten für Handelnde in Bezug auf das System aufzuzeigen und zugänglich zu machen. Die strukturalistische Auffassung von Theorien bietet also neben dem Vorzug, »dass man ohne logische Inkonsistenz mit mehreren Theorien gleichzeitig arbeiten und gegenüber neuen Theorien offen bleiben kann, da es selbstverständlich ganz verschiedene Typen funktionaler Abhängigkeit gibt« (Kraiker 1980, S. 246)
den weiteren Vorzug, »dass die Gültigkeit solcher – vielleicht sogar deterministischer – Theorien in bestimmten Bereichen nicht im Widerspruch steht mit der Behauptung, dass der Mensch in anderen Bereichen frei ist. Selbst wenn man die für die Frei-
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heitsthese angeführten Argumente nicht für überzeugend hält, so denke ich doch, dass die logische Möglichkeit der Koexistenz von Freiheit und deterministischen Verhaltenstheorien demonstriert worden ist.« (ebd.)
Teleologische Erklärungen sind tatsächlich etwas anderes als deduktiv-nomologische: »Sie zeigen lediglich, dass es beim Vorliegen dieser Bedingungen vernünftig ist, auf diese Weise zu handeln, und der Begriff »vernünftig« impliziert ein Konzept vom Menschen als eines denkfähigen und argumentationszugänglichen Wesens.« (Kraiker 1980, S. 254) »Eine teleologische Erklärung lässt sich so interpretieren, dass sie ein Verstehen der tatsächlich vollzogenen Handlung als eine im Lichte der Umstände vernünftige Handlung ermöglicht.« (Kraiker 1980, S. 256)
Das bisher Referierte sei noch einmal auf die übergreifende Systematik, das von Kraiker dargestellte Grundlagenmodell für alle Verhaltenswissenschaften, hin zusammengefasst. Der entscheidende Punkt, von dem aus Kraiker seine Sicht entwickelt, ist jener, dass entsprechend der strukturalistischen Auffassung von wissenschaftlichen Theorien die Darstellung kausaler Gesetzeszusammenhänge: der »Welt« als ein Netzwerk von Systemen, als ein Geflecht von verschiedenen Typen von Variablenbeziehungen, im Unternehmen »Wissenschaft« notwendig so angesetzt ist, dass die betrachteten Zusammenhänge pragmatisch relevant sind. Dieser aktive oder Handlungsaspekt von Wissenschaft ist an der apriorischen Basis von Wissenschaft im Allgemeinen und von wissenschaftlichen Theorien im Besonderen anzusetzen, indem die wissenschaftlichen Gegenstände nicht in einem theoretisch-kontemplativen Sinn einfach vorhanden, sondern von den Wissenschaftlern mit geschaffen sind. So ist die strukturalistische Auffassung wissenschaftlicher Theorien eine Form, nicht nur das Erkenntnisvermögen, sondern ebenfalls das Handlungsvermögen des Erkenntnissubjekts als wissenschaftliche Gegenstandserkenntnis bestimmend zu berücksichtigen: Empirische Erkenntnis ist durch ihre Bindung nicht nur an die »Sinnlichkeit«, sondern auch an das praktische Handeln des Erkenntnissubjekts beschränkt. Indem dieser Eingriff des Handlungsgesichtspunkts – im Sinne einer Beschränkung des möglichen Gegenstandsbereichs wissenschaftlicher Erkenntnis – schon an der Basis der wissenschaftlichen Theoriebildung, noch bevor sie konkret wird, wirksam ist (in der Art, wie Forschung grundsätzlich funktioniert: als Anwendung eines 271 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Strukturkerns in Verbindung mit einer Heuristik auf empirische Sachverhalte), wird deutlicher und klarer, dass bei Anwendung einer bestimmten Theorie qua Schaffung eines bestimmten Typs von Tatsachen andere Arten von Tatsachen gewissermaßen gar keine Chance haben, womit zugleich ihre prinzipielle Möglichkeit zugestanden wird, so dass ein Theorienpluralismus ein notwendiger Ausdruck wissenschaftlicher Erkenntnis ist. Theorienpluralismus ist eine logische Notwendigkeit jener Sicht, die empirische Tatsachen als Resultat des Zusammenwirkens des Systems Welt und des Handelns einer intervenierenden Person begreift, so dass das von einer bestimmten Theorie Erkannte notwendig ein Ausschnitt ist, geschaffen durch je eine Verwirklichung der Vielzahl von möglichen Beziehungen von freiem Handeln und dem Gegenstandsfeld einer entsprechend unbegrenzten Anzahl möglicher Typen von funktionalen Abhängigkeitsbeziehungen. So bedeutet, Wissenschaft zu betreiben: • Erschließung, Bestimmung, Präzisierung verschiedener Typen von funktionalen Abhängigkeiten des Systems Welt • im Zusammenhang mit Handlung. Indem beide Aspekte von Wissenschaft für eine psychologische Theorie auf der Gegenstandsseite relevant ist, stellt sich das Objekt der Verhaltenswissenschaften dar als • handlungsfähig: fähig, in der Welt zu handeln und funktionale Abhängigkeiten des Systems Welt zu verändern (somit als »Welt-unabhängig«) • und als selbst ein Teil des Systems Welt und somit als »Weltabhängig« (wiederum im Sinne des Geflechts von abhängigen und unabhängigen Variablen). Das Grundmodell für alle Verhaltenswissenschaften nach Kraiker hat also folgende Form: Handeln welt-unabhängig
Verhalten Welt-abhängig: »Verhaltenssystem«
abhängige Variablen
unabhängige Variablen
Die Berücksichtigung des Handlungsgesichtspunkts an der Basis wissenschaftlicher Theorien begründet also
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• •
die Koexistenz (logische Vereinbarkeit) verschiedener Theorien (die Notwendigkeit eines Theorienpluralismus); die Koexistenz (logische Vereinbarkeit) von Freiheit und deterministischen Verhaltenstheorien.
Wie stellt sich nun nach Kraiker das Problem der Beziehung zwischen Handlungs- und Verhaltenssystem-Theorie(n) näherhin dar? Handeln ist – nach Kraiker – etwas anderes als Verhalten, und teleologische Erklärungen sind etwas anderes als deduktiv-nomologische. Wie ist dieser Unterschied zu fassen? – Weil Handeln an der Basis wissenschaftlicher Theorien ansetzt und damit den Typ funktionaler Abhängigkeiten bestimmt, die der Wissenschaftler ja in einer bestimmten Weise zugänglich machen und in diesem Sinne »schaffen« muss, sind wissenschaftliche Theorien auf mögliche andere wissenschaftliche Theorien und damit auf Wahlfreiheit, die sich in der Möglichkeit des Standpunktwechsels ausdrückt, verwiesen. Das ist so zu verstehen, dass der Standpunkt, von dem aus die Wahl einer bestimmten Deutung eines Variablenzusammenhangs in einem bestimmten Kontext erfolgt, und damit der Zusammenhang von Handeln und Verhalten nicht in gleicher Weise bestimmt werden muss, wie der Zusammenhang von Verhaltensweisen, die im Sinne eines bestimmten Verhaltenssystems gedeutet werden. Die Beliebigkeit der Unterstellung bestimmter Verhaltenssystem-Deutungen – bis zu einem gewissen Grade, denn zu irgend einer Deutung muss man im Rahmen des Betreibens von Wissenschaft schließlich kommen – bringt in Bezug auf den Zusammenhang von Verhalten und Handeln zum Ausdruck, dass eine nähere Bestimmung dieser Beziehung nicht erforderlich ist; es reicht aus festzustellen und als möglich auszuweisen, dass eine Beziehung, wie immer sie bestimmt sein mag, grundsätzlich besteht. In einem doppelten Sinne ist dem freien Handeln als etwas gegenüber der wissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung Anderes ein Platz in der Erkenntnislücke zugewiesen, die durch die Feststellung der grundsätzlichen Beschränktheit wissenschaftlicher Erkenntnis entsteht. Die Einführung der Freiheitsthese in der Perspektive der Handlungstheorie in dem Bereich der Verhaltenswissenschaft bedeutet
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»eine Einschränkung des Bereichs der Verhaltenswissenschaft […], und derart eingeschränkt sind die Verhaltenswissenschaften ohnehin […]« (Kraiker 1980, S. 234)
D. h., dass sich »Welt« – die Gesamtheit wissenschaftlicher Gegenstände – als ein Systemgeflecht funktionaler Abhängigkeitsbeziehungen darstellt, das nicht nur als Ganzes unüberschaubar bleibt (Kraiker 1980, S. 264), sondern, wie unbeschränkt Wissenschaft auch angewendet werden mag, von einer systematischen Lückenhaftigkeit gekennzeichnet ist, ist ja eine Folge davon, dass Handeln an der apriorischen Basis als Ermöglichung von wissenschaftlichem Wissen einzusetzen ist: Freies Handeln ist der Grund der Lücke, so dass die Lücke den logisch höheren Status des Handelns gegenüber Gegenständen der wissenschaftlichen Erfahrung anzeigt. Nun ist aber diese Konzeption wissenschaftlicher Theorien so angelegt, dass Handeln stattfindet, dass aber eine Bestimmung der freien Handlung als einer Bestimmung der Beziehung von Handeln und Verhalten nicht nötig ist: Die Lücke kennzeichnet also auch die Unbestimmtheit der freien Handlung, die zugleich als etwas gegenüber dem normalen wissenschaftlichen Gegenstand anderes anerkannt werden kann. Handeln ist einerseits bestimmt als das Eine, als der eine bestimmte Typ von Handlung, der alle die verschiedenen Typen von funktionalen Abhängigkeitsbeziehungen – unter Wahrung ihrer prinzipiell zu tolerierenden Lückenhaftigkeit – miteinander verbindet; der Handlungsbegriff ist allen normalen einzelwissenschaftlichen Gegenstandsauffassungen gemeinsam; er ist es, der diese Gemeinsamkeit schafft; er liefert den übergeordneten Gesichtspunkt, der die Auffassungen der verschiedenen Theorien auf einen Nenner bringt. Andererseits bringt er sie so auf einen Nenner, dass dieser Nenner selbst nicht mehr weiter bestimmt werden kann. Mit der strukturalistischen Auffassung wissenschaftlicher Theorien – in der Interpretation durch Kraiker – wird der Begriff einer freien Handlung ins Spiel gebracht, derart, dass diese nicht vollständig mit dem Kategoriensystem der empirischen Wissenschaft erfasst werden können (Kraiker 1980, S. 188) – sie ist etwas anderes; gleichzeitig muss die freie Handlung aber irgendwie bestimmt werden, denn sie spielt ja für die Handhabung wissenschaftlicher Gegenstände eine konstitutive Rolle (so ist sie den Kategorien der empirischen Wissenschaft auch nichts »Fremdes«). So bleibt die Bestimmtheit der freien Handlung, weil sie nicht in der Bestimmtheit wissenschaft274 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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licher Gegenstände aufgeht und doch bestimmt werden muss, an diese gebunden: Es ist ein Typ von Handlung, der für die einheitliche Form wissenschaftlicher Theorien, für die einheitliche Art der Gegenstandsauffassung verantwortlich ist, und da es immer ein und dieselbe Art von Handlung ist, bedeuten die anderen Theorien – denen gegenüber man im Sinne der zu fördernden Theorienpluralität aufgeschlossen sein muss – auch immer wieder nur die gleiche Art von Theorien: nämlich Typen von funktionalen Abhängigkeiten, die auf menschliches Verhalten beziehbar sind. Da es nur eine Art von Bestimmtheit gibt (die Bestimmtheit, die als Form funktionaler Abhängigkeiten präzisiert werden kann), befindet sich eine mögliche weitere Bestimmtheit: die Bestimmtheit der freien Handlung als nicht vollständig in diesem Sinne zu begreifen, in einer merkwürdigen Situation: Als Bestimmtheit unterscheidet sich die freie Handlung nicht von einer unabhängigen Variablen eines Zusammenhangs, der auch deterministisch interpretiert werden kann (das geht auch aus der von Kraiker diskutierten Gesetzeshypothese von Churchland hervor; vgl. Kraiker 1980, S. 247 f.); als dennoch davon unterschieden, kann sie sich nicht zeigen, weshalb die »Freiheit« auch eine zwar logisch mögliche, aber letztlich nicht beweisbare These bleibt. Die von Kraiker entwickelte Sicht löst, entsprechend der von ihm herangezogenen Aristotelischen Rahmenkonzeption, das Problem der psychologischen Gegenstandserfassung als der Frage, wie zwei kategorial verschiedene Momente als eine Einheit gedacht werden können, so, dass eine Form gefunden wird, die die zwei Momente aus verschieden und doch von einer Art darstellt. Diese Form wird durch die Berücksichtigung des Erkenntnischarakters des wissenschaftlichen Wissens gewonnen: Dadurch, dass die fundamentale Tatsache der Einwirkung eines Erkenntnissubjekts auf den Gegenstand, der für das Zustandekommen von Erkenntnis konstitutiv ist, berücksichtigt wird, derart, dass diese die Form der explizierten Gegenstandsstruktur grundsätzlich mitbestimmt – so dass sie also die einheitliche Form der wissenschaftlichen Gegenstände bestimmt –: dadurch wird die Struktur der Gegenstandserfassung genau um das für sie konstitutive Erkenntnismoment erweitert aufgefasst, ohne einen Kategorienfehler zu begehen, was der Fall wäre, wenn man die die Wissenschaft konstituierende Funktion ganz und gar im Sinne der so konstituierten Gegenstandserkenntnis auffassen würde. Diese Lösung kommt so zustande, dass die Gegenstandsstruktur um so viel 275 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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formaler bestimmt wird – indem die Spezifität etwa der Skinnerschen und der Freudschen Gegenstandserfassung auf deren gemeinsame, formale Grundstruktur zurückgeführt wird –, wie nötig ist, dass sich als ihr gemeinsamer Nenner jene andere, zugrundeliegende Dimension gerade eben formal ankündigt; Die Lücke, durch die die strukturalistische Auffassung wissenschaftlicher Theorien der Freiheitsthese eine Überlebenschance in einer deterministisch geprägten Wissenschaft gewährt, hält sie gleichzeitig in einer Unbestimmtheit gefangen. Der Vorteil, den die neue Art der Gegenstandsbestimmung durch ihre Beziehung auf die Erkenntnisdimension für die Verhaltenswissenschaften zweifellos hat, wird um den Preis der Beschränkung genau auf jenen Typ von Gegenstandserkenntnis erkauft, der zugleich ein weiteres Fruchtbarmachen der wissenschaftlichen Gegenstandserkenntnis als Erkenntnis beschränkt. Die von Kraiker vorgeschlagene Lösung steht damit einer Lösung auf der Linie der Kybernetik als einem wissenschaftlichen Grundlagenmodell im Sinne von Weizsäckers und Königs sehr nahe: Es macht fast keinen Unterschied, ob man das Spezifische des psychologischen Gegenstandes mit einer physikalistischen Theorie berücksichtigt, die weit, d. h. formal genug ist, um die Möglichkeit einzuräumen, die erfassten Phänomene näherhin als Ausdruck von »materiellen« oder »geistigen Gegebenheiten« zu deuten, oder ob man dieses Spezifische des psychologischen Gegenstandes zwar explizit als Verbindung von zwei zu unterscheidenden Bestimmtheiten erfasst, aber so, dass dabei letztlich doch nur eine Art von Bestimmtheit ausgewiesen werden kann, während die andere Bestimmtheit so gesehen wird, dass sie von der ersten Bestimmtheit teils abhängig (ohne funktionale Abhängigkeiten könnten wir nicht handeln), teils als mit ihr verwandt (vernünftiges Handeln ist als argumentationszugänglich ebenfalls Ausdruck von Gesetzlichkeit, aber in anderer Weise), teils von dieser jedoch unabhängig ist (denn sie wirkt ja noch einmal auf die unabhängigen Variablen des Systems Welt ein); und so ist sie in der Art, wie sie überhaupt bestimmt werden kann, dieser einzig wissenschaftlich bekannten Bestimmtheit so verpflichtet, dass ihr ganz anderer, welt-unabhängiger Charakter nicht ausreichend geklärt werden kann, nämlich, wie es (z. B. in der Psychotherapie) möglich ist, Dispositionen, die sich im Sinne eines deterministischen Gesetzes verwirklichen, in solche Dispositionen zu verwandeln, deren Verwirklichung als Ausdruck von Handeln gewertet werden muss, oder wie es möglich ist, eine Disposition für Handeln gemäß einer 276 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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höheren als im Betreffenden derzeit wirksamen Motivstruktur zu schaffen; damit bleibt aber auch etwas an der Bestimmtheit deterministisch erfassbarer Zusammenhänge ungeklärt: wodurch sie nämlich in Zusammenhänge nicht-deterministischer Art verwandelt werden können und wie sich erkennen lässt, dass eine solche Verwandlung stattgefunden hat. Was bei diesen Überlegungen in Frage gestellt wird, ist nicht, dass solche Dispositionsumwandlungen stattfinden, und auch nicht, dass im praktischen Kontext eine Handlungsanweisung intuitiv begriffen wird und dass also der Austausch von Handlung und Verhalten praktisch funktioniert; die Frage bei dieser Überlegung ist vielmehr, ob es nicht gute Gründe dafür gibt, das Anliegen vernünftig zu finden, auf die für das humanwissenschaftliche Interesse so entscheidend wichtige Beziehung der Bereiche des freien Handelns und der funktionalen Abhängigkeiten näher einzugehen, die doch unabweisbar als verschiedene in einer Verbindung miteinander stehen. Von hier aus wird, wie ich meine, die Platonische Konzeption des »inneren Doppelgängers« als Ausdruck eines berechtigten Anliegens verständlich: Die andere Dimension muss bestimmt werden, um in ihrer Wirksamkeit begriffen und ergriffen zu werden; und dass dies geschieht, ist nicht gleichgültig für die andere, die »materiell« fassbare Dimension des Weltgefüges. Wenn Kraiker die Funktionsweise eines Homöostaten als ein Verhalten bei gegebenen Werthierarchien und die Fähigkeit einer übergreifenden Änderung der Motivstruktur als Kennzeichen der menschlichen Handlungsfreiheit bestimmt (Kraiker 1980, S. 253), so bewegt er sich mit dieser Beschreibung doch nicht in unüberbrückbarer Entfernung von der Platonischen Unterscheidung zwischen dem, was von außen bewegt wird: nämlich der Leib (Verhalten im Sinne gegebener Werthierarchien), und dem, was die Bewegung aus sich selbst hervorbringt: die Seele (die menschliche Möglichkeit zu handeln). Und auf dem Hintergrund der Beschreibung Kraikers, dass es in der Verhaltenswissenschaft darum gehe, Variablenzusammenhänge zu präzisieren, so dass »bestimmte Variablen dem Handeln zugänglich […] und so Verhaltensmöglichkeiten sekundär verfügbar werden« (a. a. O., S. 243),
erscheint doch der Platonische Gedanke, dass sich der Körper bewegt (dass eine Änderung auf der Ebene der funktionalen Abhängigkeiten
277 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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erreicht wird), indem sich die Basis bewegt (durch intervenierendes Handeln), gar nicht so absurd. »Psychologie innerhalb der Aristotelischen Tradition« (a. a. O., S. 101) vertritt das Anliegen, die Einheit von Körper und Seele ohne einen Kategorienfehler zu explizieren; damit fungiert die Seele als die Form der Einheit der Körper (der Verwirklichungsreihe im Sinne einer Kategorie: der Gegenstände der Naturwissenschaft). Demgegenüber ist im Sinne des Platonischen Anliegens geltend zu machen, dass der Gedanke des Einen, das sich in Vielen verwirklicht, notwendig den Gedanken der Verbindung von zweien impliziert: das Eine in der Form des Einen und das Eine in der Form der Vielen und die Verbindung dieser beiden Formen des Einen. Um diesen unauslöschlichen Gedanken Platons zur vollen Zufriedenheit des Aristoteles zu Ende zu führen, ist die Aufgabe zu erfüllen, jene kategoriale Differenz, die die alte Dualität von Körper und Selle ausdrückt, zu bestimmen, derart, dass Körper und Seele als voneinander unterscheidbare Verwirklichungsformen in einer höheren Einheit aufgehoben werden können. Für die Explikation der Einheit einer Dualität, d. h. einer Einheit, deren Bestimmtheit gedacht werden muss als Verbindung von zweien, die sich wirklich unterscheiden, so dass man über das eine Moment hinausgehen muss, um zum andern zu gelangen, sind mindestens zwei Explikationsstufen erforderlich, die sich hinlänglich unterscheiden müssen. (Dieses ›hinlänglich‹ ist durch den neuzeitlichen Ansatz in der Erkenntnistheorie und durch die daraus hervorgegangene Naturwissenschaft als eine logische Ebenendifferenz im Sinne der Objekt- und der Metaebene bestimmt worden, so dass die Metaebene eine Entfernung von der Objektebene »um deren eigenen Betrag« bedeutet. Um zu einer bestimmten Einheit zu gelangen, geht man aus von einer Form von Einheit, die noch nicht die gesuchte Einheit als Verbindung von zwei unterschiedenen Bestimmtheiten ist, in der diese beiden erforderlichen Bestimmtheiten vielmehr ununterschieden eins sind. Diese erste Form von Einheit, die eine niedrigere Form von Einheit ist, muss nun, damit das Ziel der höheren Einheitsform erreicht werden kann, so gedeutet werden, dass sich eine höhere, aber noch nicht verwirklichbare Form einer niedrigeren Form unterwirft oder angleicht, so dass die niedrigere Verwirklichungsform von Einheit eine Form ist, wie sich die höhere Form als noch in dieser verborgenes Implikat andeutet. So ist gewährleistet, dass es bei dieser 278 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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ersten, ungenügenden Form von Einheit nicht bleibt, indem das in dieser sich ankündigende Implikat einer höheren Einheitsform vor die Aufgabe stellt, eine Form zu entwickeln, die entsprechend anders ist als die erste Form, doch nicht irgendwie ganz anders, sondern genau so anders, dass das Verhältnis der Andersartigkeit der zweiten Verwirklichungsform zur ersten deren Bestimmtheit noch einmal charakteristisch zum Ausdruck bringt. Gelingt dies und ist diese in richtiger Weise andere Form gefunden, so gibt es jetzt auch einen Beweis dafür: denn die höhere Form – indem sie die Bestimmtheit der niedrigeren in einer Weise zum Ausdruck bringt, so dass diese gerade durch jene neue, andere Weise zu einer »ausgezeichneten Interpretation« gelangt – muss die Kraft haben, die erste Verwirklichungsform in sich aufzunehmen. 1.2.2.2.3. Das epistemologische Grundmodell psychologischer Theorien: Der Ansatz von Norbert Groeben Ausgangspunkt der »Argumente für eine Psychologie des reflexiven Subjekts« (Groeben & Scheele 1977) bildet die Besonderheit des psychologischen Gegenstandes gegenüber den Gegenständen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, als Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis die Bestimmtheit des Erkenntnissubjekts mit zu umfassen: In Bezug auf den Menschen als Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis kann man nicht davon absehen, dass die Erkenntnisfunktion selbst – wie das Betreiben von Wissenschaft unterstreicht – für ihn von zentraler Bedeutung ist. Eine psychologische Theorie, die diese Bestimmtheit ihres Objektes ausklammert, kann entweder für das menschliche Leben praktisch keine große Bedeutsamkeit gewinnen oder sie gerät in den Selbstwiderspruch, für den Menschen als Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis eine Struktur zu unterstellen, die der Wissenschaftler als Erkenntnissubjekt auf sich selbst nicht anwenden kann. Entsprechend dem im Untertitel des Buches ausgedrückten Programm propagiert der von Groeben vorgestellte neue Ansatz einer psychologischen Theorie einen »Paradigmenwechsel vom behaviorialen zum epistemologischen Menschenbild«. In der Behauptung, jede psychologische Theorie sei die Explikation eines »Menschenbildes«, drückt sich bereits die für den Ansatz Groebens charakteristische Einstellung aus, nämlich die Forderung, eine psychologische Theorie müsse – weil sie nur als eine Theorie, die über die normale Gegenstandserfassung hinausgehe, denkbar sei – der ganzen Wirklichkeit des Menschen Rechnung tragen und insbesondere jener Bestimmt279 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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heit des psychologischen Erkenntnisgegenstandes, selbst als Subjekt der Erkenntnis aufzutreten. Damit steht die Überwindung der klassisch-wissenschaftlichen Gegenstandsauffassung, wie sie – nach Groeben – durch das behavioristische Paradigma vertreten wird, auf dem Programm einer Psychologie, die sich um eine angemessene humanwissenschaftliche Gegenstandsauffassung im Sinne eines Subjektmodells bemüht: »Das behaviorale Subjektmodell ist so durch eine spezifisch widersprüchliche Polarität gekennzeichnet: Auf der Seite des Erkenntnissubjekts (Forschers) setzt es eine hochgradig aktiv-realisierende Realitätskonstruktion […] voraus, für die Seite des Erkenntnisobjekts (qua ›behavioralen Subjekts‹) folgt jedoch gerade aus dieser Realisierungsorientierung der Erkenntnishaltung die Konstituierung als hochgradig (bis ausschließlich) von der Umwelt abhängiges/konstruiertes Individuum […] Diese dem behavioralen Subjektmodell notwendig inhärente Widersprüchlichkeit der Erkenntniskonstituierung zwischen wissenschaftlichem Erkenntnissubjekt (Forscher) und -Objekt […] ist der Grund dafür, dass Behaviorismuskritiker immer wieder über die Argumentationsfigur der Selbstanwendung (tu quoque) das Ungenügen des behavioristischen Forschungsentwurfs zu begründen suchten […]« (Groeben 1977, S. 15) »Die Möglichkeit der Selbstanwendung wird daher als zentraler Ausgangspunkt der Problemstellung/Gegenstandskonstituierung genommen, um den Anspruch auf Berücksichtigung von Reflexivität zu erfüllen, die für den Menschen als theoretisch-wissenschaftlich Erkennenden konstitutiv ist und deren Einbeziehung bei der Gegenstandskonstituierung der Psychologie als nichtnaturwissenschaftlicher Einzeldisziplin möglich ist. Folglich ist auch der Mensch als Gegenstand/Objekt der Psychologie analog dem Bild des Wissenschaftlers von sich selbst zu realisieren: als Hypothesen generierendes und prüfendes Subjekt. Damit wird der eigenen Selbsterfahrung, besonders dem subjektiven Gefühl der Verhaltensfreiheit […] und der Rückbezüglichkeit jeden psychologischen Theoretisierens […] Rechnung getragen.« (Groeben 1977, S. 22)
Groeben stellt also an psychologische Theorien die Forderung, die besondere Bestimmtheit ihres Erkenntnisobjekts als auch die Dimension des Erkenntnissubjekts umfassend zu berücksichtigen; und er erfüllt diese Forderung, in der Perspektive der kognitiven Psychologie ansetzend, mit »dem Ansatz, der Kognitionen des menschlichen Erkenntnisobjekts als Reflexionen analog zum Selbstbild des Wissenschaftlers auffasst: also als (subjektive) Theorien« (Groeben 1977, S. VII),
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so dass er also eine »Strukturparallelität zwischen Erkenntnisobjekt und -subjekt (Groeben 1977, S. 118) als Kernannahme seiner Theorie einführt, die daher von ihm als »epistemologisches Subjektmodell« bezeichnet wird: »Wir nennen das im potentiellen neuen Paradigma konstitutive Menschenbild daher epistemologisches Subjektmodell.« (Groeben 1977, S. VII) »Die Frage nach dem reflexiven Subjekt mit seinen die Umwelt erklärenden (subjektiven) Theorien bzw. durch Erklärungstheorien geleiteten Handeln […] ist notwendigerweise eine Frage nicht nur nach der Struktur von Denken, sondern nach den Inhalten (der Semantik) des Alltagsdenkens/ der Kognitionssysteme. Insofern es sich bei naiven Erklärungen (Hypothesengenerierung und -prüfung) notwendig um kognitive Prozesse/ Strukturen/Inhalte handelt, ist mit diesem Menschenbild bzw. Subjektmodell konsequent eine ›Kognitivierung‹ der Frageperspektive verbunden, die allerdings über klassische Kognitionspsychologie-Aspekte hinaus gerade die Charakteristika von Reflexion als Theorie/Erkenntnis akzentuiert. Die erkenntnistheoretische Dimension der Gegenstandskonstituierung lässt die Benennung ›epistemologisches Subjektmodell‹ als die geeignetste erscheinen: das Modell setzt […] als zentrale zu erschließende Subjektvariablen die theoretischen und Erfahrungssätze des Individuums an, in denen sich sein Wissen summiert, die sowohl planvoll-intentional Verhalten fundieren als auch durch Erfahrung erreicht/ verändert werden können (Hypothesenprüfung).« (Groeben 1977, S. 22 f.)
Aus der Besonderheit des psychologischen Gegenstandes wird der Anspruch an psychologische Theorien abgeleitet, »Reflexivität« als zentrale Bestimmtheit ihres Gegenstandes zu berücksichtigen. »Reflexion« bedeutet in der Darlegung Groebens: • »die Rückbezüglichkeit jeden psychologischen Theoretisierens« (Groeben 1977, S. 22), wie sie im Argument der Selbstanwendung ausgedrückt ist: Der psychologische Theorien aufstellende Wissenschaftler muss sich selbst in den Anwendungsbereich seiner Theorien einbeziehen; in diesem Sinne ist Erkenntnis psychologischer Theorien »Selbsterkenntnis«. • Reflexivität ist im Ausdruck »reflexives Subjekt« ferner zu beziehen auf das Bild des Wissenschaftlers von sich selbst als Hypothesen generierendes und -prüfendes Subjekt; daher wird ja auch das Menschenbild, das den Menschen als Objekt der Wissenschaft analog zum Wissenschaftler konzipiert, »epistemologisches Subjektmodell« genannt. In dieser Akzentuierung bezeichnet Reflexivität die Kenntnis der vom Wissenschaftler aufgestellten Theorien durch den Wissen281 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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schaftler; und zwar »nicht nur nach der Struktur des Denkens« (Groeben 1977, S. 23) – dem logischen Aufbau der Theoriegebilde, der explizit gemacht werden kann – »sondern nach den Inhalten […] der Kognitionssysteme« (Groeben 1977, S. 23). Psychologische Theorien, die Reflexion als Bestimmtheit des Gegenstandes berücksichtigen, sind so zu denken, dass sie »die Kenntnis ihrer selbst bei den ›Vpn‹ mit umgreifen« (Groeben 1977, S. 24). Reflexivität bedeutet also, drittens, eine Beziehung zwischen dem Wissenschaftler, der psychologische Theorien seines Gegenstandes entwirft, und diesem dem Bild des Wissenschaftlers analog gedachten Gegenstandes. »Unter diesem Anspruch sind wissenschaftliche Aussagensysteme auf der Grundlage des epistemologischen Subjektmodells notwendigerweise zum größten Teil als (objektive) Konstrukte über (subjektive) Konstrukte zu formulieren: als Metatheorien […] Im Metatheoriestatus manifestiert sich die wichtigste Kernannahme bezüglich der Wissenschaftskonzeptualisierung: damit ist eine direkte wissenschafts- und erkenntnistheoretische Kritik der Alltagstheorien möglich – durch Vergleich mit den metatheoretischen Kriterien wissenschaftlicher Aussagensysteme […]; gleichzeitig wird aber auch durch die empirische Erforschung des ›alltagspsychologischen‹ Theoretisierens eine Kritik am wissenschaftlichen Rationalitätsbegriff erreichbar, indem unrealistische (inhumane) Rationalitätsanforderungen […], die dem Brückenprinzip ›Sollen impliziert Können‹ […] zwischen Norm und Deskription nicht genügen, mit empirischer Begründung zurückgewiesen werden können. Das epistemologische Subjektmodell ersetzt so die in sich widerspruchsvolle Asymmetrie des behavioristisehen Paradigmas (zwischen wissenschaftlichem Erkenntnissubjekt und organismisch-reaktivem -Objekt) durch eine Subjekt-Objekt-Symmetrie, die eine beidseitige Aussage-/Kritikrichtung ermöglicht: Rationalitätskritik der Alltagstheorien wie Kritik der wissenschaftlichen Rationalitätskonzeption.« (Groeben 1977, S. 24 f.) Mit der im Groebenschen Ansatz eingeführten Subjekt-ObjektSymmetrie ist »die Vorordnung von Rationalitäts-/Präzisionsanforderungen gegenüber der Gegenstands-/Problemkonstituierung gefallen; die häufig erhobene Forderung nach Interdepen-
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denz zwischen Wissenschaftskonzeption und Gegenstand […] ist erfüllt […] Unter der Anwendungsperspektive der NichtAussagenkonzeption für die (psychologische) Problemkonstituierung wird deutlich, dass diese Interdependenz eine durch das Subjektmodell zu konstruierende/konstituierende ist: sie wird nicht nur unter dem Hinweis auf die – vorab gekannte – Gegenstandsstruktur erzwungen, sondern als Konsequenz aus den Kernannahmen der Problemdefinition, hier der Frageperspektive nach dem reflexiven Menschen, rational legitimiert. Andersherum gesehen: zur Erfüllung solcher (legitimen) Ansprüche der Wissenschaftskonzeptualisierung scheint das epistemologische Subjektmodell/Paradigma der optimale Weg: das – Zusammenfassung der Kernannahmen – nach der aktiven Reflexivität des menschlichen Subjekts fragt, indem es das Erkenntnisobjekt gemäß dem Bild des (hypothesengenerierenden/-prüfenden) Subjekts konstituiert und so über die (direkt-metatheoretische) Rationalitätskritik der Alltags-›theorien‹ und die Kritik des wissenschaftlichen Rationalitätsbegriffs […] die Interdependenz von Methode /Wissenschaftskonzeption und Gegenstand als konstitutive Implikation realisiert.« (Groeben 1977, S. 25) Indem der psychologische Gegenstand nach Groeben entsprechend der Subjektfunktion des Wissenschaftlers gedacht wird – Groeben verwendet die Bezeichnungen »Strukturparallelität« und »Analogie« – haben psychologische Theorien eine Doppelstruktur; sie sind eine Verbindung von zwei Arten von Theorien: subjektiver und objektiver Theorien psychologischer Sachverhalte. Damit ist innerhalb der psychologischen Theoriestruktur die grundlegendere Beziehung einer einzelwissenschaftlichen Theorie zur Wissenschaftstheorie abgebildet. Wie die einzelwissenschaftliche Theorie im Sinne wissenschaftstheoretisch ausgearbeiteter logischer Strukturen rekonstruiert wird, was zu einer Korrektur dieser Theorie, aber unter Umständen auch zu einer neuen wissenschaftstheoretischen Auffassung von Theorien selbst führen kann – wie es im Falle der Herausbildung der strukturalistischen Auffassung wissenschaftlicher Theorien geschehen ist –, ebenso geht die Arbeit im Sinne des epistemologischen Subjektmodells so vonstatten, dass zuerst die subjektiven Theorien anhand der grundlegenden wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkte (vor allem: Beschreibung und Erklärung) rekon283 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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struiert werden (Groeben 1977, S. 72 ff.). Die Struktur der subjektiven Kognitionen wird gemäß der Struktur wissenschaftlicher Theorien rekonstruiert (Groeben 1977, S. 48; S. 65 ff.), d. h., auf die subjektiven Kognitionen »lassen sich nun alle Kriterien anwenden, die zur Generierung und Beurteilung wissenschaftlicher Theorien von der Wissenschaftstheorie entwickelt worden sind: Also Kriterien hinsichtlich der Begriffsbildung über die (korrekte) Satz- und Argumentformulierung, in Bezug auf Erklärungs- und Überprüfungsprobleme bis hin zu den Fragen der Entwicklung von Theorien/ Theoriensystemen.« (Groeben 1977, S. 68)
Die klassischen Wissenschaftskriterien werden dabei heuristisch als eine Rahmenstruktur unterstellt (Groeben 1977, S. 70). Da die subjektiven Theorien nicht in dieser Form ausgearbeitet vorliegen, muss ein Stadium der Erhebung und der Rekonstruktion der Struktur der reflexiven Kognitionssysteme angesetzt werden, wobei eine hermeneutische Diskurs-Methode erforderlich ist (Groeben 1977, S. 51 ff.) und damit die Zulassung des konsenstheoretischen Wahrheitskriteriums für diese Phase des Forschungsprozesses (Groeben 1977, S. 56). Außerdem sind – in einem zweiten Schritt – die so rekonstruierten subjektiven Theorien dann zu überprüfen, d. h. anhand des klassischen, externe Beobachtung einschließenden Falsifikationskriteriums zu entscheiden (Groeben 1977, S. 57). Groeben bezeichnet diese beiden Phasen als »deskriptive« bzw. »explizite« Konstruktverwendung (Groeben 1977, S. 58). In dem Gesamtprozess der rationalen Erklärung im Sinne der epistemologischen Psychologie Groebens fungieren die im hermeneutischen Diskurs zwischen Wissenschaftler und Alltagswissenschaftler erhobenen und rekonstruierten subjektiven Theorien als Beschreibung und bilden damit den ersten, vorgeordneten Schritt im Prozess der epistemologisch-rationalen Erklärung. Sodann stellt sich die Frage nach der Realitätsangemessenheit der theoretischen Reflexionen des wissenschaftlichen Erkenntnisobjekts Mensch. Dieser zweite Schritt: »die empirische Überprüfung der Realgeltung von subjektiven Theorien (ist dem ersten Schritt. B. V.) zwar nach-, dafür aber auch übergeordnet.« (Groeben 1977, S. 58)
Mit dieser Verhältnisbestimmung der beiden Phasen: einerseits der Rekonstruktion subjektiver Theorien mit der vom Dialog-konsens284 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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theoretischen Wahrheitskriterium bestimmten hermeneutischen Methode und andererseits der Überprüfung dieser Theorien mit der vom falsifikationstheoretischen Beobachtungskriterium bestimmten klassisch-empiristischen Methode leistet das epistemologische Modell – nach Groeben – eine »Synthese von hermeneutischer und empirischer Tradition der Psychologie.« (Groeben 1977, S. 57)
Das Konstrukt »Rationalität« der epistemologischen Psychologie nimmt nun eine bewegliche Position ein zwischen der wissenschaftstheoretisch formulierten »Rationalität« und der Alltagsrationalität: Einerseits leitet es die von der Wissenschaftstheorie ausgearbeiteten Rationalitätskriterien weiter, indem die wissenschaftstheoretische Rationalität als heuristische Rahmenstruktur zur Erforschung der subjektiven Theoriesysteme angesetzt wird. Umgekehrt ergibt sich aus dem explizierten Schema aber auch eine grundsätzliche Unabgeschlossenheit des wissenschaftstheoretischen Rationalitätsbegriffs: »Von den empirischen Ergebnissen der konzipierten metatheoretisch psychologischen Rationalitätsforschung aus lassen sich direkte Konsequenzen und Rückwendungen auf die metatheoretische Rationalitätskonzeption der Wissenschaftstheorie ziehen. Das ›tu quoque‹-Prinzip der Selbstanwendung gilt durch den Metatheoriestatus der Psychologie des reflexiven Subjekts Mensch auch in der Relation empirische Psychologie und Wissenschaftstheorie […] Unter dem Aspekt, dass auch Wissenschaftler Menschen sind (und d. h. der Anwendung des schon erwähnten Brückenprinzips ›Sollen impliziert Können‹), kann die empirisch psychologische Rationalitätsforschung zu einer Kritik und Überprüfung wissenschaftstheoretischer Rationalitätsforderungen beitragen und benutzt werden. Das sollte zu einer Liberalisierung wissenschaftstheoretischer Rationalitätskonzeptionen führen, insofern als ›unmenschliche‹ Anforderungen […] vermieden werden bzw. abgelehnt werden können. Auf diese Weise kommt eine permanente Offenheit des Rationalitätskonzepts durch die interdependente Kritik der metatheoretischen Programme von psychologischer Rationalitätsforschung und wissenschaftstheoretischer Rationalitätsanalyse und -rekonstruktion zustande – eine Offenheit, die auch der rechtfertigungsfreien Begründung des Rationalismus […] gerecht wird.« (Groeben 1977, S. 71) »Der metatheoretische Status einer epistemologischen Psychologie hat den, wie wir meinen, enormen Vorteil, dass empirische Ergebnisse, die unter der Perspektive, dass Wissenschaftler auch (nur) Menschen sind, diese ebenfalls betreffen, nicht mehr einfach als irrelevant abgetan werden können.« (Groeben 1977, S. 110)
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»Das bedeutet […] eine konstruktive Erforschung der Möglichkeiten und Grenzen von Rationalität (auch in der Wissenschaft). Allerdings sieht man dann Wissenschaft auch nicht mehr als ›gottgleich‹ an, sondern als ›an extension of ordinary human question, as a formalization of sloppy human curiosity, as a Sunday best Version of man in an everyday mood.‹« (Bannister, nach Groeben 1977, S. 110).
Abschließend sei noch der Punkt beleuchtet, wo und wie der Austausch zwischen Alltagsrationalität und wissenschaftlicher Rationalität im epistemologischen Modell psychologischer Theorien genau stattfindet: Die zunächst nach wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten rekonstruierten subjektiven Theorien haben einen Doppelstatus: einerseits sind sie prinzipiell kritisierbare Theorien über psychologische Sachverhalte; andererseits repräsentieren sie empirisch gegebene Formen von Rationalität. Zwei Austauschrichtungen sind zu unterscheiden: Erstens: Der Austausch von der wissenschaftlichen Rationalität in Richtung auf das Objekt Mensch als Alltagswissenschaftler. Dabei ist durch die Methode der Rekonstruktion sowie unter Verweis auf die mit der Anwendung eines Forschungsmodells wirksamen »Realisierungsdynamik« (Groeben 1977, S. 113 f.) mit einer Erhöhung der Alltagsrationalität zu rechnen (Groeben 1977, S. 78). Dazu gehört auch das Verfahren der »Gründekritik« in der Phase der Überprüfung der subjektiven Theorien unter Verwendung eines empirischen Falsifikationskriteriums (Groeben 1977, S. 118). Zweitens: Der Austausch als Rückwirkung der auf der Objektseite ermittelten gegebenen Form von Rationalität auf die wissenschaftliche Rationalitätskonzeption. Hierzu ist grundsätzlich das Folgende zu sagen: • Der Wissenschaftler kann grundsätzlich vom Alltagstheoretiker lernen; er soll ihm gegenüber offen sein, • Aufgrund der Forderung nach Austausch im Sinne der SubjektObjekt-Symmetrie müssen wissenschaftliche Theorien so angelegt sein, dass der Alltagstheoretiker den Austausch auch vollziehen kann; d. h., sie müssen auf die kognitive Kapazität des Alltagsmenschen zugeschnitten sein (»Perspektive einer realistischen Berücksichtigung menschlicher Beschränkungen«, Groeben 1977, S. 109). • Dadurch, dass die Phase der Erhebung und Rekonstruktion subjektiver Theorien in einem hermeneutischen Diskurs erfolgt und an das dialog-konsenstheoretische Wahrheitskriterium gebun286 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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den ist, entscheidet die Zustimmung des Alltagswissenschaftlers über die Adäquatheit der Rekonstruktion. Speziell ist der Fall einer möglichen Akzeptierung der subjektiven Erklärung als objektiv gültige Erklärung zu beachten: »Dies wird prinzipiell denkbar, da im epistemologischen Paradigma ja die Subjekt-Objekt-Relation nicht mehr durch Vorordnung einer Wissenschaftskonzeption gegenüber der Gegenstandskonstituierung vorab irreversibel festgelegt ist. Vielmehr ist jetzt ›die Objekt- oder Subjekteigenschaft eines Systems […] eine variable Größe, die durch die Falsifizierbarkeit des jeweiligen Alterssystems mitbestimmt wird‹ (Knebel, vergl. Groeben, B. V.). Das bedeutet, dass die subjektive Erklärung eines reflexiven Subjekts bei entsprechender Falsifizierbarkeit und Validität durchaus als objektive akzeptierbar sein kann.« (Groeben 1977, S. 118)
Der Entwurf Groebens zur Struktur psychologischer Theorien setzt an bei dem Problem, dass die psychologische Gegenstandserfassung im Rahmen des empiristischen Erfahrungsbegriffs unfruchtbar bleibt, solange das für diesen Gegenstand spezifische Merkmal: auch Subjekt der Erkenntnis zu sein, unberücksichtigt bleibt. Groeben sieht das Problem: nämlich die Psychologie im Rahmen des empiristischen Erfahrungsbegriffs, in der Herrschaft des behavioristischen Paradigmas konzentriert, und erkennt die Lösung des Problems – mit einem Verweis auf die gegenüber der klassischen Auffassung liberalere Nicht-Aussagenkonzeption wissenschaftlicher Theorien (Groeben 1977, S. 1 ff., S. 25) – in einem Wechsel der Kernannahmen im Sinne des Wechsels vom behavioralen zum epistemologischen Subjektmodell: Die Frage nach dem Menschen unter der Kontrolle der Umgebung (Groeben 1977, S. 14) wird abgelöst von der Frage nach der aktiven Reflexivität des menschlichen Subjekts (Groeben 1977, S. 25). Diese Frage bedeutet bei Groeben die Frage nach der »Strukturparallelität« oder »Analogie« zwischen der Tätigkeit des Wissenschaftlers und des Menschen als dem Objekt der Wissenschaft, der, entsprechend dem epistemologischen Subjektmodell, nach dem Vorbild des Wissenschaftlers aufgefasst wird: als Hypothesen generierendes und prüfendes Subjekt. Die Ausführungen Groebens bezeugen die Lebendigkeit der in früheren Jahren nicht so explizit vorgetragenen und doch notwendigerweise an die Psychologie gerichteten Hoffnungen:
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
dass die Psychologie dem Menschen eine wirkliche Hilfe sei; dass die Psychologie Aufschlüsse geben könne über das ungelöste Grundlagenproblem der Wissenschaft, bei Groeben dahin gehend akzentuiert, dass durch einen Fortschritt der Psychologie ein Fortschritt im grundlegenden Verständnis wissenschaftlicher Rationalität zu erhoffen sei. In Bezug auf den ersten Punkt äußert sich Groeben:
• •
»Denn es wird u. E. dringend Zeit, dass die Psychologie auch einmal ein Menschenbild entwirft, dessen Verwirklichung eine soziale Zielideevorstellung darstellt; und dies ist mit der Idee/Vorstellung eines reflexiven und in der Reflexion (potentiell) rationalen Subjekts gegeben.« (Groeben 1977, S. 63)
Die Hilfe, die die Psychologie für die Menschen wie für die Wissenschaft leisten kann, besteht in der Vermittlung eines Austauschs zwischen beiden: Anhebung der Rationalität des Alltagsmenschen im Sinne des wissenschaftlichen Rationalitätskonzeptes einerseits; Berücksichtigung der Bestimmtheiten des Alltagsmenschen (wohl nicht nur im Sinne der Rücksichtnahme auf seine Beschränkungen, sondern auch der Aufgeschlossenheit für fruchtbare Anregungen, die das wissenschaftliche Rationalitätskonzept von ihm als einer Quelle von Rationalität erwarten kann). Mit der Rekonstruktion subjektiver Theorien durch die wissenschaftliche Psychologie – was der rationalen Rekonstruktion einzelwissenschaftlicher Zusammenhänge durch die Wissenschaftstheorie analog gedacht ist – gelangt die Tiefendimension der Alltagsrationalität des empirischen Subjekts in Kontakt mit der forschungslogischen Rationalität, so dass, aufgrund der Strukturparallelität von wissenschaftlichem und empirischem Subjekt, ein gegenseitiger Austausch stattfinden kann, der beiden Seiten förderlich ist. Die Möglichkeit einer Erweiterung der klassisch-empiristischen Rationalität um qualitativ neue logische Momente durch Austausch mit der nach eben diesem Rationalitätsmodell rekonstruierten empirisch-epistemischen Subjektstruktur soll dadurch zustande kommen, dass der Befund der im Alltagsmenschen vorgefundenen Rationalität hermeneutisch gewonnen wird. Für die Möglichkeit einer erweiterten Befunderhebung – wodurch gewissermaßen der context of discovery »wissenschaftlicher Alltagstheorien« zugänglich gemacht wird – ist die hermeneutische Methode zuständig. Was aber hermeneutisch eruiert wird, ist eine hypothetisch unterstellte, im Idealfall optimal rationale wissenschaftliche Rationalität des empirischen Subjekts. 288 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
Wie aber soll der Spielraum, der durch das vorübergehende Zurücktreten der empiristischen Rationalitätskonzeption entsteht, mit qualitativ neuen Momenten, die vom Standpunkt dieser Konzeption aus als für diese relevant erkannt werden können, erfüllt werden, wenn nicht die hermeneutische Methode selbst andere Metagesichtspunkte von Rationalität heuristisch akzentuiert? Und wäre dies so, warum wird dann die hermeneutische der empiristischen Methode nicht konsequent übergeordnet? – M. a. W.: Wenn die hermeneutische Methode der genuinen Rationalitätsäußerung des Alltagsmenschen mehr Spielraum geben soll, so kann sie dies sinnvoll nur so tun, dass sie nicht gar keine, sondern eine in bestimmter Weise veränderte Voraussetzung für Gegenstandserkenntnis setzt, und diese müsste dann zuerst mit der empiristischen Vorgabe in Beziehung gesetzt werden, um erkennen zu können, welche Möglichkeit für eine veränderte Rationalitätsäußerung besteht. So schnell kommen subjektive Theorien nicht aus ihrem empirischen Status heraus, vor allem dann nicht, wenn sie einen Beitrag zur wissenschaftlichen Rationalitätskonzeption leisten sollen, denn sie können diesen Beitrag der Ergänzung oder Erweiterung oder Entwicklung der wissenschaftlichen Rationalität nicht irgendwie (unbestimmt) leisten – so dass das einzige, was dann am Ende fassbar ist, eben die Gestalt der bekannten Rationalitätskonzeption hat – sondern nur, wenn sie sich so artikulieren, dass sie nicht als Alltagstheorien, sondern auf der Ebene der Methodologie: als neue Formen wissenschaftlicher Theorien, auftreten. Indem man am empirischen Subjekt als empirischem Subjekt festhält, um dem qualitativ Anderen eine Tür offen zu halten, versperrt man gerade diese Tür, indem auf der Ebene der Methodologie – des forschungslogischen Subjekts – nur wirksam sein kann, was im Sinne dieser logischen Ebene wirkt, was der Form dieser Ebene entspricht; und wenn das empirische Subjekt in dieser Form wirkt, verschwindet es als empirisches Subjekt. Im Sinne einer Zwischenbemerkung sei erwähnt, dass, in ähnlicher Weise wie Groeben, Jean Piagets Theorie der operativen Strukturen um den Status einer Grenzposition zwischen empirischer Psychologie und Epistemologie ringt, die in der Auffassung Piagets durchaus über lediglich eine Parallelisierung der Logik durch empirisch zugänglich gemachte Intelligenzfunktionen hinausgeht (Piaget 1950, S. 54), so dass empirische Ergebnisse eine epistemische Relevanz gewinnen können. Die metatheoretisch gewendete Theorie der operati289 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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ven Strukturen Piagets vollzieht, ebenso wie der Ansatz von Groeben, einen Übergriff seitens einer empirischen Disziplin auf die Logik, der als nötig empfunden wird, um den Sinn einer empirischen Psychologie zu erfüllen und beide Bereiche: nämlich die Logik und die empirische Psychologie, von einer Lähmung zu befreien, insofern die Psychologie für die Wissenschaft nur fruchtbar werden kann, wenn eine Möglichkeit gefunden wird, sie als einen Ort der Begegnung und Durchdringung der abstrakten logischen Strukturen einerseits mit dem Lebensmoment der empirischen Realität andererseits zu gestalten. Auf jeden Fall ist für eine Auseinandersetzung mit dem epistemologischen Subjektmodell Groebens darauf hinzuweisen, dass die These von der Strukturparallelität von Wissenschaftler und Alltagsmensch im Hinblick darauf, wie dieses Verhältnis in der wissenschaftlichen Tradition stets gesehen wurde, äußerst problematisch ist. Seit Kant in seiner Vorrede zur zweiten Auflage seiner »Kritik der reinen Vernunft« die Veränderung der als »bloßes Herumtappen« gekennzeichneten Gangart vorwissenschaftlicher Bemühungen zum »sicheren Gang der Wissenschaft« als eine Revolution bezeichnet hat, war die grundsätzliche Abgrenzung der wissenschaftlichen Wissensform im Ganzen mit anderen Arten der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit für das wissenschaftliche Selbstverständnis konstitutiv, auch wenn die Art, wie diese Abgrenzung näherhin zu bestimmen sei, stets ein kontroverser Diskussionsgegenstand gewesen ist. Diese für die wissenschaftliche Wissensform überhaupt grundlegende Unterscheidung besteht darin, dass »die Trennung zwischen Erleben (Kennen) und Erkennen mit aller Schärfe vollzogen wird.« (Stegmüller 1965, S. 362) Wissenschaft ist nicht Rationalisierung der Alltagserfahrung; wissenschaftliche Erkenntnis geht nicht in einem kontinuierlichen Prozess der Verfeinerung und Vertiefung aus Alltagserwägungen hervor. Obwohl die Regelhaftigkeiten der Alltagserfahrung im Sinne des context of discovery eine Bedeutung für wissenschaftliche Theorien haben, so hat doch die Aufnahme dieses Aspektes der Alltagserfahrung in die wissenschaftliche Betrachtungsweise zur Voraussetzung, dass diese Regelhaftigkeit aus dem vertrauten Kontext herausgelöst wird und dass sich damit der Sinn und die Art der Verknüpfung der Elemente der Gegebenheit radikal verändert (Toulmin 1953, S. 19). Wissenschaftliche Begriffe sind nicht verdeutlichte Alltagsvorstellungen; Gesetze nicht die präzise Fassung einer bekannten 290 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
Regelhaftigkeit. Vielmehr bedeutet wissenschaftliche Erkenntnis, ganz in Übereinstimmung mit der Sicht Kants, gerade dies: dass das Material der Vorstellung in eine andere Form gebracht wird, derart, dass der Sinn und die objektive Geltung der nun erst im Sinne des Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis bestimmten Gegebenheit relativ unabhängig von den Vorstellungen und in einer neuen Sprachform zur Darstellung gebracht wird (vgl. Toulmin 1953, S. 44 f.; Stegmüller 1965, S. 365). Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle der sogenannten Modellvorstellungen: Dass damit kein Rückgriff auf die Vorstellungsebene gemeint sein kann, geht daraus hervor, dass jene Modelle, Paradigmen oder »Ideale der Naturordnung«, die sich nach Toulmin im Kern einer jeden erklärenden Theorie befinden und das »Herzstück der Naturwissenschaft« ausmachen (Toulmin 1968, S. 47), wissenschaftlich umso effizienter sind, je weiter sie von der konkreten Vorstellung entfernt sind: Diese leistungsfähigen Vorstellungen von der Naturordnung sind »völlig abstrakt: Kein wirklicher Körper befindet sich jemals in diesem Zustand.« (Toulmin 1968, S. 68) Auf dieser Linie liegt m. E. auch die in der Nicht-Aussagenkonzeption wissenschaftlicher Theorien zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass der Kern einer wissenschaftlichen Theorie eine mathematische Struktur sei, die weit von der Anschaulichkeit einer Alltagsvorstellung entfernt ist. – Die von Bannister entwickelte Perspektive (vgl. Groeben 1977, S. 110) kollidiert also grundsätzlich mit dem wissenschaftlichen Selbstverständnis. Das unabdingbare Charakteristikum wissenschaftlicher Erkenntnis ist, dass ein Zusammenhang mit Alltagsvorstellungen und den Orientierungen der Lebenswirklichkeit in Anspruch genommen wird, aber in einer Weise, dass gleichzeitig eine nicht ohne weiteres zu überbrückende Kluft gesetzt ist zwischen Wissenschaft und Lebenswirklichkeit, und es ist diese Kluft, die in der forschungslogischen Subjekt-Objekt-Trennung wissenschaftliche Erkenntnis konstituiert. Diese kann nicht durch den bloßen Hinweis gemildert werden, dass es doch gewiss »derselbe Mensch« ist, der einmal als forschungslogisches Subjekt die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis wirksam werden lassen kann und zugleich, in anderer Weise, als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis erscheint. Die Umstellung vom Alltagsmenschen zum Wissenschaftler bedeutet eine bis jetzt noch nicht näher bestimmte Revolution solcherart, dass sie die naive Identität des ersteren zum Verschwinden bringt. Indem 291 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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dieser als forschungslogisches Subjekt wissenschaftliche Erkenntnis vollzieht, erkennt er gerade nicht »sich selbst«: • Er erkennt nicht »sich« als forschungslogisches Subjekt, denn dieses kann als Konstitutionsgrund wissenschaftlicher Erkenntnis nicht als Gegenstand derselben erscheinen; • er erkennt nicht »sich« als Alltagsmenschen, denn die Erfassung des empirischen Subjekts im Sinne eines Gegenstandes der wissenschaftlichen Erfahrung bedeutet eine Verwandlung in der Weise, dass es nicht wiederzuerkennen ist. Dieses Missverstehen der nicht-subjektiven Bedeutung des objektiven Wissens in den Ausführungen Groebens enthält eine gewisse Tragik, die sich so auswirkt, dass Groeben, indem er eine Lösung im Sinne der Ermäßigung der als unmenschlich empfundenen Negation des empirischen Subjekts durch die in der Wissenschaft waltende Rationalität – der Ermäßigung also der für wissenschaftliche Gegenstandserkenntnis konstitutiven logischen Differenz von Subjekt und Objekt – erreichen will, einen objektivistisch verkürzten Subjektbegriff übrigbehält und den eigentlichen Gewinn, den das wissenschaftliche Unternehmen als eine »verborgene« SUBJEKTIVITÄTSTheorie hat, preisgibt. Der zur Symmetrie gemilderte Widerspruch der logischen Asymmetrie von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt – indem diese Differenz durch die nicht bestimmbare Identität der zu unterscheidenden Bedeutungen von »empirischem Subjekt« und »forschungslogischem Subjekt« repräsentiert wird – bedeutet einen Verzicht auf den Hinweis der Unvollendetheit der empiristischen Erkenntnisform und damit auf den Schlüssel, dass die Vollendung dieser Wissensform durch Auflösung eines Paradoxes zu finden sei (das empirische Subjekt muss, um im Sinne der forschungslogischen Bedeutung von SUBJEKTIVITÄT fassbar zu werden, einen Weg finden, die nicht-subjektive Bedeutung der wissenschaftlichen Gegenstände positiv zum Ausdruck zu bringen). So bleibt der epistemisch aufgefasste Alltagswissenschaftler das Denkmal der empirischen Repräsentationsmöglichkeit der forschungslogischen SUBJEKT-Funktion (d. h. der Ausdruck einer unüberwindlichen Gespaltenheit), welche sich im epistemischen Subjektmodell – wegen der für wissenschaftliche Theorien verbindlichen Falsifikationsforderung – als notwendige Unverbundenheit (Verbundenheit nicht über einen gewissen Grad hinaus) der Subsysteme von Alltagstheorien zeigt (Groeben 1977, S. 87 ff.), ohne dass diese um ihren 292 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
Stachel ermäßigte Spaltung weiterhin jenen Druck ausüben kann, wodurch sie für das empirische Subjekt als heuristisch wertvoller Anreiz wirkt. Empiristisch wissenschaftliche Erkenntnis ist eine Wissensform der Nicht-REFLEXIVITÄT; eine Wissensform, die, indem sie Reflexion als Bestimmung von Identität, derart, dass ein Identisches sich selbst bestimmt, verhindert oder verbietet, einen Begriff von Reflexion im Sinne der Verbindung von zwei durch eine logische Ebenendifferenz getrennten Größen schafft. Die wissenschaftliche Wissensform stellt ein Negationsmaß, eine Differenzforderung, heraus, die überboten werden muss, um die Bestimmtheiten der im Sinne der logischen Ebenendifferenz getrennten Bedeutungen von Subjektivität wissenschaftlich korrekt zu verbinden. Auf der Stufe der Formulierung dieser bestimmten Differenzforderung ist wissenschaftliche Erkenntnis so konstituiert, dass es gerade nicht zu einer Berührung eines Identischen mit sich selbst kommt in der Form der Verbindung von zwei Differenten, die als eins zu begreifen sind, indem diese Differenz ja noch nicht bestimmt ist. Als Erkenntnis auf Reflexion angelegt zu sein, diese aus logischen Gründen jedoch nicht vollbringen zu können: das ist das ungelöste Grundlagenproblem wissenschaftlicher Erkenntnis. Dieses Grundlagenproblem auf die Dauer nicht so ungelöst weiter bestehen lassen zu können, indem sich das wissenschaftliche Grundlagenproblem auf der Ebene der psychologischen Gegenstandserkenntnis zu einem systematischen Selbstwiderspruch verschärft, indem der eigentliche Gegenstand der Psychologie, den Groeben zutreffend als das Zustandebringen der Reflektiertheit des empirischen Subjekts beschreibt, auf der Ebene der empiristischen Gegenstandserkenntnis nicht existiert: das ist das ungelöste Grundlagenproblem der Psychologie, das darüber hinaus noch durch die größere Verpflichtung belastet ist, die darin besteht, dass die Nicht-Lösung dieses Problems auf der Ebene der Psychologie mit der Zeit notwendig auf die Wissenschaft insgesamt zurückwirkt. Aufgrund dieses in der Psychologie akuten Problemstandes, wirkt, intuitiv beschrieben, in dieser Disziplin ein gewisser Druck, dergestalt, dass, verständlicherweise, in verschiedener Form Übergriffe auf die Metaebene von Logik und Mathematik sowie auf das für Wissenschaft konstitutive Rationalitätskonzept vollzogen werden, um die psychologische Erkenntnis aus dem dringenden Notstand zu befreien, in dem sie sich befindet, und um einen Weg zu finden für 293 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
eine Disziplin, die gezwungen ist, um der Wissenschaftlichkeit willen über die Grenzen des bisher verwirklichten empiristischen Erfahrungsbegriffs hinauszugehen, obwohl sie doch gleichzeitig von ihm abhängt. Welchen Gewinn aber kann die Konzeption eines epistemologischen Subjektmodells bringen, die genau dieses Problem: wie nämlich Reflexion im Sinne einer Disziplin, die Reflexion verbietet, möglich sei, ungeschlichtet übernimmt? – Als einzelwissenschaftliche Theorie gelangt sie über eine Kognitionspsychologie nicht hinaus; als Grundlagenmodell gewendet findet keine Befruchtung statt. – Der Ansatz Groebens scheint mir indessen heuristisch wertvoll: Allgemein, als Ausdruck des Problemstandes; und speziell durch die beiden zentralen Thesen: • Die Grundlagentheorie psychologischer Theorien sei notwendig eine Theorie der Subjektivität, sei ein »Subjektmodell«, und dieses sei aufzufassen als eine Theorie der Reflexion. • Die Grundlagentheorie psychologischer Theorien wirke zurück auf den wissenschaftlichen Rationalitätsbegriff, so dass eine psychologische Grundlagentheorie empiristisch begründet werden kann, indem sie selbst als eine Methode gedeutet wird, die Theorie der empiristischen Erfahrung zu begründen. 1.2.2.3. Zusammenfassende Bewertung des Problemstandes der gegenwärtigen psychologischen Theoriediskussion: Die Problematik des Metatheorie-Status der Psychologie In der gegenwärtigen Theoriediskussion der Psychologie ist ein Konsens dahin gehend lebendig, dass der Gegenstand der Psychologie in irgendeiner Weise eine grundsätzliche Erweiterung der klassisch-empiristischen Gegenstandserfassung erfordert. Die Übereinstimmung in diesem Punkt umfasst auch die Hoffnung, dass die Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf den psychologischen Gegenstand die Erkenntnis der Wissenschaftlichkeit der Erkenntnis bereichert, derart, dass Aufschlüsse in der Frage gewonnen werden, was wissenschaftliche Erkenntnis selbst sei. Näherhin ist die für die psychologische Gegenstandserfassung erforderliche grundsätzliche Erweiterung des klassischen Schemas der Gegenstandserfassung als eine Form zu verstehen, den aktiven Aspekt von Wissenschaft, die für das Betreiben von Wissenschaft konstitutiven Momente in die zu erfassende Struktur des Gegenstandes selbst einzubeziehen. So entsteht die folgende Konstellation: 294 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
Kann die Berücksichtigung der in die Erfassung des psychologischen Gegenstandes einzubeziehenden qualitativ neuen logischen Momente durch eine um die entsprechende Qualität erweiterte Theorie repräsentiert werden oder bedarf es dazu einer Theorienverbindung, so dass sich der psychologische Gegenstand als ein klassischer Gegenstand und etwas anderes darstellt? Die Betrachtung moderner psychologischer Theorien ergibt, dass beide Arten von Lösungen – wie sehr sich diese auch in den Einzelheiten voneinander unterscheiden – im Grundsätzlichen auf das Gleiche hinauslaufen: In allen Fällen findet nämlich eine Erweiterung einer Variante der klassischen psychologischen Gegenstandserfassung um etwas statt, das sich von dieser nicht wirklich unterscheidet. Bei von Weizsäcker führt etwa die Anwendung der Kybernetik, verstanden als naturwissenschaftliche Kausalanalyse, auch im Bereich des spezifisch Menschlichen – dort also, wo der humanwissenschaftliche Gegenstand über den klassisch-wissenschaftlichen Gegenstandsbereich hinaus geht – zu der Feststellung, dass der naturwissenschaftliche Erkenntnisgegenstand (d. h. Materie) eigentlich eine Form von Geist sei. M. a. W.: Wenn auf eine Methode als auch auf die den qualitativ neuen, beim humanwissenschaftlichen Gegenstand spezifisch hinzukommenden Bestimmtheiten gerecht werdend abgehoben wird, so geschieht dies, indem dieser Methode ein um eben diese Momente erweiterter Sinn beigelegt wird. Dies gilt für alle jene Ansätze, die versuchen, mit einer Theorie auszukommen, also etwa auch für eine Theorie, die eine solche erweiterte Bedeutung zu berücksichtigen ablehnt: denn lehnt sie die Notwendigkeit einer solchen Erweiterung im Hinblick auf den humanwissenschaftlichen Gegenstand strikt ab, so nimmt sie eben damit selbst dieses Moment in Anspruch (wie der metaphysische Behaviorismus) – sie widerspricht sich also; lehnt sie jedoch nicht diese Notwendigkeit, sondern nur die Notwendigkeit, dieser Notwendigkeit nachzukommen, ab (wie etwa eine sich kategorisch auf einen methodologischen Behaviorismus beschränkende Psychologie, wie übrigens auch jede Form von Psychologie, die eine Beschränkung auf das für den humanwissenschaftlichen Gegenstand Periphere, Unwesentliche, 41 zum Prinzip erhebt), so widerspricht sie sich damit ebenfalls. 41
Wiederum verdeutlicht die Argumentation von Hemminger (1980) das tragische
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Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
Wird die Lösung hingegen in einer Theorienverbindung gesehen, so dass die psychologische Gegenstandserfassung als eine Verbindung von irgendeiner Form von normaler empiristischer Gegenstandserfassung und irgendeiner Art der Bezugnahme auf die Subjekthaftigkeit des humanwissenschaftlichen Objekts zustande kommen soll, so führt der Versuch, die Subjekthaftigkeit wissenschaftlich zu erfassen, in die Schwierigkeit: (1) entweder man erhält nur ein weiteres Fragment »objektiver Subjektivität«; (2) oder es findet ein Übergriff auf das Apriori statt, was aber im Sinne von (1) misslingt bzw. mindestens fragwürdig bleibt. Über dieses Dilemma kann man nur hinausgelangen, wenn die Einheit des psychologischen Gegenstandes wirklich als Einheit einer Dualität, als Einheit von qualitativ differenten Momenten, derart, dass sie sich hinsichtlich ihrer Bestimmtheit unterscheiden lassen, begriffen werden kann. M. a. W.: Im Falle der Lösung im Sinne einer Theorienverbindung stellt sich unausweichlich die Frage nach dem Verhältnis der beiden Theorien, und dieses Verhältnis von zwei Theorien, die sich logisch voneinander unterscheiden, ist nur als Entscheidung der Frage der Über- bzw. Unterordnung der einen Theorie im Hinblick auf die andere möglich. Diese Frage ist, wie ich es sehe, in den besprochenen Ansätzen nicht gelöst: Bei König soll die Kybernetik als Metatheorie die hermeneutisch-klinische Theorie »kontrollieren« (König 1981, S. 106) und ihr einen Anschluss an das interdisziplinäre naturwissenschaftliche Forschungsprogramm verschaffen; damit wäre die Kybernetik einer Hermeneutik übergeordnet; gleichzeitig soll jedoch die Aufnahme der von der kybernetischen Metatheorie integrierten verschiedenen Momente – also auch jener, die nur hermeneutisch erschlossen werden können – so geschehen, dass die Wahrung ihres spezifischen Eigenwerts garantiert bleibt (König 1981, S. 122), so dass sich, ganz ähnlich wie im Falle der Methodenverbindung im Sinne des epistemologischen Subjektmodells, die Frage stellt: was wohl eine Hermeneutik nützen kann, um qualitativ andere, spezifische Sinnkom-
Paradox, wie eine systematische Beschränkung der Psychologie, um das wesentlich menschliche Moment vor einer kategorialen Einebnung zu retten, diesem vielmehr Schaden zufügt, indem sie das in der empiristischen Erkenntnis Wirksamste wirksam von jeder positiven Möglichkeit des Nachweises seines Hineinwirkens ins empirischWirkliche abschneidet.
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Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
ponenten des psychologischen Gegenstandes zu ermitteln, wenn die spezifische Eigenart dieser Momente von der kybernetischen Metatheorie doch nur in der Form berücksichtigt werden kann, in der sie als solche neutralisiert ist? M. a. W.: Die Hermeneutik erfährt in der Kybernetik notwendig eine ganz und gar undialektische Aufhebung, nämlich eine Nivellierung der Spezifität der von ihr eruierten Momente – die ja als höher bestimmt gedacht werden, indem sich, andernfalls, eine Hermeneutik im Ansatz erübrigen würde – auf ein abstrakteres, unbestimmteres, logisch ärmeres kategoriales Niveau. An den Lösungsvorschlag von Kraiker ist die Frage zu richten: Was unterscheidet denn eine dispositionelle Erklärung von einer echten teleologischen Erklärung? – Der äußeren, artikulierbaren Form nach sind sie kaum zu unterscheiden, wie Churchlands Gesetzeshypothese demonstriert. Handlungen sind nicht ohne weiteres vom zielgerichteten Verhalten eines Homöostaten zu unterscheiden. Diese Ununterscheidbarkeit von Handlung und Verhalten trifft paradoxerweise umso mehr zu, je mehr die Handlung ein Ausdruck von Vernunftbestimmtheit ist: Je stärker ein Mensch vernunftorientiert ist, umso zwingender werden für ihn logische Gründe; sie werden in dem Maße zwingend, als sich das Subjekt sinnvollerweise unbedingt als vernünftiges Subjekt erweisen und so mit seiner Definition übereinstimmen will, so dass die Vernunft sie selbst, also unbedingt vernünftig sein muss. Der Unterschied der Qualität des Handelns als Ausdruck von Freiheit und des Verhaltens als Ausdruck vorgegebener, deterministischer Zusammenhänge ist also weniger darin zu sehen, dass im ersten Fall weniger Zwang als im zweiten wäre, sondern vielmehr darin, wie dasjenige, wovon der Zwang ausgeht, bestimmt ist und inwieweit für das Subjekt die Möglichkeit besteht, mit demjenigen, wovon der Zwang ausgeht, eins zu sein oder eins sein zu wollen. Der deterministische Zwang ist ein Zwang im Sinne von Verhältnissen, von denen sich das Subjekt unterscheiden will. Das Fazit dieser Betrachtung ist m. E., dass die von Kraiker heraufbeschworene Kontroverse zwischen Platon und Aristoteles keineswegs entschieden, sondern in der gegenwärtigen Theoriesituation der Psychologie in einem sehr hohen Maße lebendig ist: Denn man findet für die qualitativ andersartige Ebene der Subjekthaftigkeit, von der her die klassisch-empiristische Gegenstandserfassung erst sinnvoll wird, entweder gar keine Bestimmtheit – und verfehlt sie so – oder eine Bestimmtheit im Sinne der einen (definitionsgemäß nied297 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
rigeren) Kategorie: Materie bzw. Leib – und verfehlt sie auf diese Weise ebenfalls. Das Aristotelische Ziel der Einheit von Seele und Körper lässt sich nicht verwirklichen, ohne diese Dualität als solche zu bestimmen. Gerade indem man sie nicht bestimmt, gelangt man zur Platonischen »Verdopplung«, die doch durch diese Unterlassung überwunden werden sollte, und gelangt somit dahin, diese als einen misslungenen, aber grundsätzlich unumgänglichen Versuch zu verstehen, die Dualität zu bestimmen. Diese schwierige Situation lässt sich nicht auf Anhieb überwinden. Folgende drei Gesichtspunkte sollten durch die bisherige Darlegung jedoch an Gewicht gewonnen haben: (1) Wenn der umfassendere Gegenstand das Alte und etwas Neues ist, wenn man in geordneter Weise zu qualitativ neuen Daten gelangen will, die sich auf angebbare Weise von der bekannten Sorte von Daten unterscheiden – und »angebbar« bedeutet, dass die Unterschiedenheit zu dem, wovon sie sich unterscheidet, in einem bestimmten Verhältnis steht –, so kann das nur durch eine Veränderung auf der Ebene der Methodologie geschehen; d. h., diese Veränderung kann nicht irgendeine Veränderung in der Methode – wie das Hinzukommen einer neuen Methode im Sinne des Methodenpluralismus –, sondern nur eine Veränderung der wissenschaftlichen Methode im Ganzen sein, eine Veränderung, die erst deutlich macht, inwiefern man trotz des Methodenpluralismus in der Psychologie und in der Naturwissenschaft von der empiristischen Methode sprechen kann. – Solange eine solche Veränderung auf der Ebene der Methodologie nicht geschieht, kann durch eine Veränderung nicht mehr erreicht werden als eine Verdopplung oder Parallelisierung von Methoden: Die Ebenenduplizität wird als eine Art von Verdopplung des Gleichen fassbar: Man hat eine Dimension, eine Erkenntnisform: nämlich »Materie« (objektive Sachverhaltsstrukturen), die irgendwie »Geist« (als etwas gegenüber der Materie anderes) bedeutet. (2) Um der erforderlichen Veränderung der wissenschaftlichen Methode überhaupt Gelegenheit zu geben, Gestalt anzunehmen, kann man nicht an der empiristischen Methode, so wie sie jetzt ist, festhalten (man muss also erst einmal von ihr Abstand nehmen), gleichzeitig jedoch dasjenige zu bestimmen suchen, was an der wissenschaftlichen Methode wesentlich ist. Die alte Methode soll ja auf neue Weise unter Wahrung ihres Prinzips wei298 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Zur gegenwärtigen Theorie-Situation der Psychologie
tergeführt werden, so dass nur die systematisch-aporetische Beschränkung derselben in der bisherigen Form aufgehoben werden kann. (3) Der Punkt, an dem die Änderung anzusetzen ist, wird in der Unterscheidung Kraikers zwischen einer strikt deterministischen Erklärung von Verhalten und der Erklärung einer Handlung im Sinne der (Kraikerschen Interpretation) der Gesetzeshypothese Churchlands (Kraiker 1980, S. 24 ff.; S. 250 f., S. 257) deutlich; denn worin sich diese beiden Erklärungsformen in der Tat unterscheiden, das ist, dass sie auf verschiedene Weise verstanden werden, so dass gesagt werden kann, die erste Art der Erklärung bedeutet wissenschaftliches Erklären und die andere Art lässt sich als Verstehen fassen. Damit, dass die qualitativ neuen Momente hermeneutisch, also verstehend zu erfassen seien, stimmen ja auch von Weizsäcker, König und Groeben überein, wie allgemein anerkannt ist, dass Erklären und Verstehen die größtmögliche methodische Polarisierung innerhalb der empiristischen Methode ausmacht. Nach Kraiker besteht der Unterschied einer strikt deterministischen Erklärung von Verhalten und der Erklärung einer Handlung darin, dass beim Erfülltsein der von Churchland aufgeführten Punkte der Gesetzeshypothese eine Handlung nicht zwangsläufig vollzogen wird (Kraiker 1980, S. 250), genauso wenig wie »Argumente in irgendeinem deterministischen Sinn dazu zwingen, bestimmte Handlungen zu vollziehen oder zu unterlassen« (Kraiker 1980, S. 255), und daraus kann man den Hinweis auf Erleben als dem Schlüsselpunkt der Unterscheidung entnehmen. Der Unterschied etwa in der Voraussage des Verhaltens anderer und des eigenen Verhaltens im Sinne der Handlung ist ein Unterschied im Erleben. Die Spezifität des Verstehens als Verstehen ist eine Spezifität, die nur erlebt werden kann; und ebenso ist der Unterschied eines Aktes des freiwilligen Gehorsams aus zwingenden Vernunftgründen und einer im Sinne eines deterministischen Gesetzes zwingend erfolgenden Verhaltensreaktion vorzüglich ein Unterschied im Erleben des Betreffenden. Wenn man – im Sinne der grundlegenden Dynamik der Wissenschaftsentwicklung – die Subjekthaftigkeit zum Gegenstand wissenschaftlicher Erfahrung gewinnen und der lebendigen Subjektkompetenz in der ausgearbeiteten Form wissenschaftlicher Rationalität Raum verschaffen und eine neue Form von Empirie zustande kommen lassen will, dann muss man das Problem lösen, Erleben als Erle299 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Psychologie im Rahmen der empiristischen Wissenschaft
ben zu erschließen –Erlebnisinhalte nicht quasi empirisch zu analysieren –, dann muss man Erleben selbst als wissenschaftliche Methode erschließen. So gelangt man, nach einem Gang durch die gegenwärtige Theoriesituation der Psychologie, zu einer neuen Einschätzung der grundsätzlichen Relevanz der These Janovs: »Fühlen ist eine Wissensform«. Die Aufgabe des zweiten Teils der Arbeit liegt darin, zu untersuchen, wie die Essenz der empiristischen Erkenntnis (d. h. quantitativ bestimmte Verhältnisse für die Gegenstandsstruktur auf ein den Gegenstand erkennendes Subjekt zu beziehen, derart, dass die Bestimmtheit des Gegenstandes in Verbindung mit der Struktur des Erkenntnissubjekts wirkt) in der Primärtherapie verwirklicht ist.
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II. TEIL: 2. Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung. Versuch einer Darstellung der logischen Struktur der Primal hypothesis: »Fühlen ist eine Wissensform« 2.1. Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen: Identität als reflektierte Kohärenz 2.1.1. Der »erste Pfeiler« des Janovschen Ansatzes: Die neue Weise, wie Janov die Kategorie der Negation denkt 2.1.1.1. Die Grundform des primären Zusammenhangs: »Connection« als Bewegung der Selbstvermittlung 2.1.1.1.1. Der Zusammenhang von »need« und »feeling« Anknüpfend an die im ersten Teil der Arbeit dargelegte Auffassung, die Janovschen Äußerungen würden eine völlig neue logische Kohärenzform zum Ausdruck bringen: nämlich die »Zusammenhangsweise der primären Verbundenheit«, seien diese Äußerungen nun eingehender auf ihre kategoriallogischen Implikationen hin untersucht, um der neuen logischen Kohärenzform auf die Spur zu kommen. Wie findet man gewissermaßen die Öse, durch die man das Denken führen muss, um die total andere Weise Janovs zu sehen und zu denken – in Abhebung von der normalen Weise – wahrnehmen und bestimmen zu können? Gleich zu Anfang sei gesagt, dass diese »Öse« als das Tor zum Verständnis der Janovschen Sicht, wie ich meine, von zwei den Janovschen Ansatz bestimmenden Komponenten gebildet wird, so dass man also, weiterhin, etwas Geduld aufbringen muss, bis die notwendigen Gesichtspunkte ins Blickfeld gerückt sind. Janov kommt es auf einen neuen Typus von Geschehen an: FÜHLEN, den er dem bekannten Bezugspunkt psychologischer Analyse (d. h. Verhalten) als etwas gänzlich anderes gegenüberstellt: Alle im normalen Sinn erfassbare Gegenständlichkeit (d. h. Verhalten) ist Ausdruck der ungenügenden Zusammenhangsweise des Nicht-FÜHLENS, der Gespaltenheit. Andererseits ist FÜHLEN nicht etwas, das 301 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
losgelöst von der normalen psychologischen Gegenstandserfassung gesehen werden könnte: Fühlen kann von seiner Äußerung in wahrnehmbaren »expression patterns« – auf die man sich auch im Sinne einer Verhaltensanalyse beziehen könnte – nicht losgelöst werden. FÜHLEN zu erfassen, bedeutet eine andere Weise, den Bezugspunkt einer Verhaltensanalyse überhaupt zu erfassen. Der erste Schritt, um Verhalten als Fühlen zu erfassen, ist getan, wenn Verhalten in einem notwendigen Zusammenhang mit »primären Bedürfnissen« gesehen wird: Verhalten ist dann Fühlen, wenn gilt, dass es ist die unmittelbare Äußerung eines primären Bedürfnisses ist. Umgekehrt ist ein echtes Bedürfnis im Sinne der Primärtherapie genau dasjenige, was gefühlt wird. Abgeleitete, pervertierte, irreale, symbolische oder neurotische Verhaltensweisen – kurz: das Material einer Verhaltensanalyse im konventionellen Sinn – sind Äußerungen eines entsprechenden primären Bedürfnisses, aber so, dass dieser Zusammenhang zwischen Verhalten und Bedürfnis abgeleitet, pervertiert, irreal, symbolisch, also eine Form von Nicht-Fühlen ist. Zunächst muss dieser Zusammenhang von »need« und »feeling« näher betrachtet werden. In der Primärtherapie geht es um das Fühlen der primären Bedürfnisse: »Need is what is basic. Children need. What they can relate to early in their lives is need. One can divert need, suppress it, ridicule it, ignore it, all to no avail, because it will not change the need a scintilla. Thus the frustrated basic need may later become transformed into a need to drink, to have sex or to eat, but the real need is always there making substitute needs so compulsive and importuning. This is what Primal Therapy is all about: feeling the need.« (Janov 1970, S. 387)
»Need« und »feeling the need« gehören nach Janov so eng zusammen, dass er oft das eine für das andere setzt. Das Fühlen des Bedürfnisses zu unterdrücken heißt auch, das Bedürfnis zu unterdrücken: »Primal needs become painful when unattended. Thus, when the organism shuts away the pain it also shuts off the need. The feelings and needs then become stored in the memory system […] Those pains remain for a lifetime as pristine, vivid and hurtful as the day they began.« (Janov 1971, S. 24 f.)
An anderen Stellen drückt sich Janov so aus, dass bei Nichtfühlen des Bedürfnisses die Bedürfnisse bestehen bleiben, der gefühlte Bedürfnis-Schmerz jedoch verschwindet:
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
»This separation of oneself from one’s needs and feelings is an instinctive maneuver in order to shut off excessive pain. We call it the split. The organism splits in order to protect its continuity. This does not mean that unfulfilled needs disappear, however. On the contrary, they continue throughout life exerting a force, channeling interests, and producing motivation toward the satisfaction of those needs. But because of their pain, the needs have been suppressed in the consciousness, and so the individual must persue substitute gratifications.« (Janov 1970, S. 22 f.)
Hier geht es zunächst darum zu zeigen, dass nach Janov »Bedürfnis« und »Fühlen des Bedürfnisses« als sehr eng zusammengehörig – wie sich herausstellen wird: als notwendig verbunden – gesehen werden: »Bedürfnis« wird so gesehen, dass es »Fühlen« impliziert; gleichermaßen wichtig, ja notwendig ist jedoch, beides zu unterscheiden, denn die Primärtherapie konzentriert sich ja gerade auf jenen Fall, wo die Bedürfnisse, unter der Bedingung einer länger dauernden Frustration derselben, nicht mehr gefühlt werden können, weil dies für den Organismus zu viel Schmerz bedeutet (Janov 1970, S. 36). Der Organismus spaltet sich, um übermäßigen Schmerz auszuschalten, aber gerade das ist die Form, den Zusammenhang von beidem: von Bedürfnis und Fühlen, aufrechtzuerhalten (Janov 1970, S. 22). In der Primärtherapie hat man es mit nichts anderem zu tun als mit den primären Bedürfnissen, und diese Bedürfnisse sind durch nichts anderes zu erreichen und zu verändern als dadurch, dass sie gefühlt werden. »Needs disappear, when they are felt.« (Janov 1971, S. 25 f.)
Diese starke Betonung der notwendigen Verbundenheit (bei gleichzeitiger Verschiedenheit) von »Bedürfnis« und »Fühlen des Bedürfnisses« ist bereits eine Besonderheit des Janovschen Ansatzes, die auf dem Hintergrund einer lerntheoretischen Orientierung etwas merkwürdig anmutet und leicht als eine »überflüssige Verdopplung« gewertet werden könnte. Aber Janov geht noch weiter: Er behauptet klar, dass Fühlen eine notwendige Phase eines Vorfalls von Bedürfnisbefriedigung darstellt. Er sagt: »In order for real needs to be satisfied, they must be felt and experienced. Unfortunately, pain has caused those needs to be buried.« (Janov 1970, S. 23) »[…] because real needs cannot be eradicated, the conflict is unending […] The real feelings which have become painful because they were not fulfilled must be suppressed so that the child is not overcome with pain. Yet, paradoxically, those needs cannot be fulfilled until they are felt. If we think of those
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
denied needs and feelings as energy which is driving the organism, we see that the neurotic is very much like someone who has his motor switched on for life. Nothing he can do will shut that motor off until those needs and feelings are felt […]« (Janov 1970, S. 35) »Once real needs have become perverted into sick ones, they cannot be fulfilled.« (Janov 1970, S. 36)
In der Sicht der Primärtherapie muss der menschliche Zusammenhang fundamental so gesehen werden, dass für ihn folgende Sequenz gilt: (1) Bedürfnisse müssen gefühlt werden, um befriedigt zu werden. (2) Wenn die Bedürfnisse befriedigt werden, kann der Mensch fühlen (»When needs are met, the child can feel«, Janov 1970, S. 24). (3) Wenn die Bedürfnisse nicht befriedigt werden, können sie nicht mehr gefühlt werden (weil das für den Organismus übermäßigen Schmerz bedeutet). (4) Wenn die Bedürfnisse nicht mehr gefühlt werden, können sie nicht mehr befriedigt werden. Im Zirkel von (3) und (4) ist die neurotische Zusammenhangsform der Gespaltenheit gefangen. Wie kann nun dieses begriffen werden? Was impliziert die Aussage, dass Bedürfnisse notwendig gefühlt werden müssen und dass Fühlen des Bedürfnisses ein notwendiges Moment im Zusammenhang von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung darstellt, so dass Bedürfnisbefriedigung als ein Prozess bestimmt werden muss, der notwendig drei Phasen impliziert: Bedürfnis – Fühlen des Bedürfnisses – Befriedigung des Bedürfnisses; und dass der ganze Vorgang, der insgesamt als Fühlen zu benennen ist, zusammenbricht, wenn eine Phase ausfällt? Wie denkt man, wenn man eine solche Aussage macht? Zunächst sei noch genauer betrachtet, wie Janov »Bedürfnis« bestimmt. Wenn es eine Besonderheit seiner Sicht ist zu betonen, dass Bedürfnisse (im Sinne der Primärtherapie) unbedingt gefühlt werden müssen, so mag ein Hinweis für das Verständnis der Notwendigkeit dieses Zusammenhangs vielleicht schon in der Weise liegen, wie Janov »Bedürfnis« denkt. Bedürfnisse oder das Bedürftigsein (need; needing) bestimmen bzw. bestimmt nach Janov den menschlichen Zusammenhang von Grund auf, durch und durch:
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
»We all are creatures of need. We are born needing […] These needs are the central reality of the infant.« (Janov 1970, S. 22) »Whatever is natural is a real need.« (Janov 1970, S. 23) »Needs are total tissue states. When we are not held early in life, that deprivation isn’t just a memory. It is a deprivation of our entire being. This is how it must be experienced – totally.« (Janov 1970, S. 26) »Needs permeate the entire body.« (Janov 1970, S. 388)
Der Zusammenhang, von dem hier die Rede ist, muss so gedacht werden, dass man in Bezug auf ihn nicht zutreffend von isoliert behandelbaren Teilen sprechen kann; was in Bezug auf diesen Zusammenhang zu sagen ist, gilt von ihm »total«: es gibt nichts an ihm, was davon ausgenommen werden könnte. Dieser Zusammenhang ist gewissermaßen eine »durchlässige« (permeable) Totalität, und was sich zunächst vielleicht auch in einem Punkt konzentrieren mag, »sickert« unweigerlich bis in ihre letzten Ausläufer, durchwandert (pervades) dieselbe in allen Stücken. Weiter sagt Janov: Das, was den Zusammenhang auf diese Weise durchdringt, ist ein Bedürfnis. Nach Janov muss man geradezu sagen: Der menschliche Zusammenhang ist durch und durch dies: ein Bedürfnis; nichts, was er ist, ist von diesem Bedürftigsein zu trennen (»Whatever is natural is a real need«). Alles, was der menschliche Zusammenhang von sich selbst her, natürlicherweise, ist, was primär von ihm ausgesagt werden kann, ist dieses Bedürftigsein. Nun heißt aber Bedürftigsein – dies ist die Einschaltstelle des neurotischen Prozesses, der Punkt, wo die richtige Ablaufsform von Zusammenhängen abgeleitet, von ihrer ursprünglichen Funktionsweise abgelenkt wird – unbedingt: nicht zu haben, was man braucht. »Since the infant cannot himself overcome the sensation of hunger […] or find substitute affection, he must seperate his sensations (hunger; wanting to be held) from consciousness.« (Janov 1970, S. 22)
Für einen Zusammenhang, der nicht ein Bedürfnis hat, sondern ein Bedürfnis ist, muss dann gelten, dass er genau dies und nur dies ist: zu sein, was er nicht ist; er ist eine bestimmte Form des Nichtseins; er ist die Weise, eine bestimmte Form des Nichtseins positiv aufrecht zu erhalten, zu verkörpern. Wie erhellt sich nun aus der besonderen Weise, wie Janov den menschlichen Zusammenhang als durch Bedürfnis oder Bedürftig-
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sein bestimmt sieht, die weitere Besonderheit seiner Sicht, dass es für Bedürfnisse notwendig ist, gefühlt zu werden? Nun, das Fühlen des Bedürftigseins kann und muss wohl zunächst als eine weitere Artikulation dessen, was Bedürftigsein besagt, betrachtet werden. Jenes Sein, jener Zusammenhang, der positiv als ein bestimmtes Nichtsein zu charakterisieren ist, wird intensiver, deutlicher, er wird thematisch als das, was er ist. Wenn man Hunger hat, ohne es zu merken, bleibt das Nichtsein, die Bestimmtheit eines Bedürfnisses, unthematisch; je intensiver der Hunger gefühlt wird oder wenn man gar unter dem Hunger leidet, so wird die Bestimmtheit des Nichtseins als solche thematisch und intensiv. Wenn also Bedürftigsein (kategoriallogisch gesehen) eine bestimmte, qualitative Negation besagt, derart, dass ein bestimmtes Sein als positiv existent (d. h. als real) gedacht wird, aber so, dass dieses bestimmte Sein ganz und gar dies ist: etwas Bestimmtes in der Form des Nichtseins, so wird diese logische Konstellation: also Realität und Negation (bestimmtes Sein in der Weise des Nichtseins), im Fühlen als solche thematisch. Die bereits der bestimmten Realität als immanent gedachte Negation tritt hier hervor, sie äußert sich, offenbart sich als das, was sie ist. Das, was jenes Sein-in-der-Formdes-Nichtseins ist, wird herausgestellt (es zeigt sich gewissermaßen »des Pudels Kern«). Das aber heißt: Im Fühlen geht jenes Sein, das als eine bestimmte Weise des Nichtseins begriffen werden muss, aus sich heraus und verlässt also damit den ursprünglichen Zustand, der so gekennzeichnet war, dass jenem merkwürdigen Sein das, was es ist: eine bestimmte Weise des Nichtseins, zwar immanent war, aber auch nicht mehr als das, so dass dieser Ausgangszustand sich selbst nicht genügt, denn: wenn dieses Sein, das ein bestimmtes Nichtsein ist, so verbleibt, so ist es gar nichts (keine Bestimmtheit) – was ja nicht zutrifft; denn ein Bedürfnis bedeutet ein bestimmtes Sein, derart, dass es seine Bestimmtheit nicht ist, dass es also seine Bestimmtheit als ihm gegenüber anderes: seine Negation, aus sich herausstellt – das Sein der Bestimmtheit in der Form des positiven Nichtseins –, wobei es wiederum nicht bleiben darf, denn eine Bestimmtheit, die aufs Schärfste das, was sie nicht ist, ist, ist so angelegt, dass sie sie selbst werden muss. M. a. W.: Ein bestimmtes Sein, das so bestimmt ist, dass es genau ein bestimmtes Nichtsein ist – ist! –, kann nur als eine Bewegung gedacht werden. Zunächst ist diese Bewegung kaum feststellbar; dieses merkwürdige Sein ist gewissermaßen durch und durch seine ei306 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
gene Grenze; aber es ruht in diesem Anfangsstadium der Betrachtung noch in sich mit seiner immanenten Grenze; diese ist unthematisch, »verborgen«. Aber, da man wirklich ernst nehmen muss, dass dieses Sein ist, was es nicht ist, fängt dieses, was das Sein ist, notwendig an zu arbeiten, es wird aktiv, es kann nicht als das, was es ist, verharren. Das Sein, das, indem es ist, ein bestimmtes Nichtsein ist, impliziert einen Verlauf, wie sich das Sein gemäß der ihm innewohnenden Bestimmtheit in voneinander abhebbaren Schritten bewegen muss, um zu dem, was es ist, zu werden. Vom Anfangsstadium her gesehen ist dieses In-Gang-Kommen der Bewegung gewissermaßen unangenehm, denn das Nicht, welches das betreffende Sein ist, wird immer schärfer konturiert, immer dringlicher, immer unversöhnlicher. Aber das Heraustreten aus sich, das In-Gang-Kommen der Bewegung, ist notwendig, um von jener Phase, in der sich das Sein im bloßen Nichtsein erschöpft (da die innere Bestimmtheit also relativ unwirksam ist), überhaupt wegzukommen; umgekehrt ist es für ein so bestimmtes Sein logisch notwendig, sich in einer bestimmten Weise zu verändern und zu bewegen. Indem nun das Sein, das ein bestimmtes Nicht ist, dieses Nicht artikuliert, wird es positiv diese Bestimmtheit; es wird positiv bestimmt, es wird das, was es zuvor in der unbestimmten Form des bestimmten Nicht war. So ist das Fühlen (to want what one needs) Grundlage der Befriedigung des Bedürfnisses und Bedürfnisbefriedigung die Grundlage des Fühlens, d. h., dies sind Phasen, die einen Prozess, eine Bewegung bilden, indem sie logisch notwendig in bestimmter Weise auseinander hervorgehen. Fühlen muss so als die notwendige Konsequenz von Bedürfnis begriffen werden – vorausgesetzt, man getraut sich, ernstzunehmen und nachzuvollziehen, wie Janov Bedürfnis denkt. Wenn man Bedürfnis so sieht, dann muss das Bedürfnis gefühlt werden, um befriedigt werden zu können, um die ihm immanente Bestimmung zu realisieren, die darin liegt, zu sagen: Dies muss begriffen werden als ein bestimmtes Sein (ein Dasein, ein Etwas, eine Realität) in der Form des Nichtseins. Eine solche Aussage kann nur als die zusammengefasste Charakterisierung einer Bewegung gedacht werden, welcher eine bestimmte Route vorgeschrieben ist, so dass sie sich nur erfüllen, nur sie selbst, nur wahr sein kann, indem ein Ausgangsstadium: Bedürftigsein, negiert wird: Fühlen. Dieses Heraussteigern der Negation ist nötig, um deren Bestimmtheit als Nicht eines bestimmten Positivums und damit dasselbe als die mit der Ausgangsnegation (Bedürfnis) tat307 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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sächlich verbundene Bestimmtheit zum Ziel kommen zu lassen. Befriedigung-Fühlen als Resultat einer solchen Bewegung ist somit – wie der Ausdruck, es handle sich um genau die Befriedigung des Bedürfnisses, anzeigt – Herausstellung der Bestimmtheit der Sache selbst. Es ist dieselbe Sache, die in der Form von »Bedürfnis-Fühlen« und »Befriedigung-Fühlen« auftritt, und diese wirkliche Identität ist Fühlen: nicht etwas, das hinzutritt, sondern die Form, wie eine Bestimmtheit als mit sich identisch gedacht wird. Es ist die Bestimmung des Ausgangsstadiums selbst, die nun, indem Befriedigung erreicht ist, in einem höheren Sinne das ist, was sie zuvor in der Weise des Nichtseins war. Das bestimmte Sein des Ausgangspunktes ist mehr geworden, hat einen solchen Zuwachs an Bestimmtheit gewonnen, der genau der der Ausgangsbestimmtheit immanenten Vorschrift entspricht; so ist es ein solches Sein, das in seine vollere Bestimmtheit hineinwächst und dabei die zunächst geringere Bestimmtheitsform in einer übergeordneten, »verstärkten« Form – wie es die Bezeichnungen »Befriedigung«, »Bekräftigung«, »Affirmation« ausdrücken – aufhebt. Indem nun diese Art der Interpretation der Janovschen Äußerungen doch einen gewissen Eingriff bedeutet in die normalerweise akzeptierte Form, sich auf (im weitesten Sinn) wissenschaftliche Begriffe und Aussagenzusammenhänge zu beziehen, muss dieses erste Zusammenhängen des Janovschen Denkens mit der spekulativen Denkform Hegels besonders sorgfältig geschehen. Janov denkt seinen Gegenstand auf völlig neue Weise, indem er den Zusammenhang von Sache und Äußerung der Sache auf völlig neue Weise denkt. Bei Janov ist die Äußerung nichts der Sache Äußerliches; sie ist von ihr nicht abtrennbar, indem sie es ganz, d. h. total ist, die in dieser Äußerung ein Stück weit sie selbst ist. Die Kunst der Sache, mit ihrer Totalität in einen »Teil« einzugehen, ist nur so denkbar, dass die Totalität in eine erste, veränderte Zustandsform ihrer selbst als der Voraussetzung weiterer solcher Veränderungen der Zustandsform eingeht, so dass das »Eingehen in einen Teil« Konsequenzen weiterer Teilschritte hat und also eine Bewegung bedeutet im Sinne des notwendigen Übergehens von einer Teiläußerung des Ganzen in die nächste, derart, dass jede Teiläußerung als eine Form der Sache selbst aufgefasst werden muss – dies ist FÜHLEN. Der Ansatzpunkt der Janovschen Gegenstandsauffassung ist also nicht, dass er irgendwelche Äußerungsformen des Gegenstandes ir308 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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gendwie bestimmt und diese irgendwie in Beziehung zueinander setzt und sich dann (vielleicht) fragt, was die so gewonnen Bestimmungen für den Gegenstand bedeuten könnten. Janov sucht »etwas Totales«, etwas, das den Gegenstand in seiner Totalität aktualisiert, und dieses nennt er »ein primäres Bedürfnis«. Die Entdeckung des »primären Moments« ist die Entdeckung, dass es für den Menschen spezifisch ist, sich als Totalität zu etwas in Beziehung zu setzen und damit die Totalität als Totalität zusammenzufassen und damit das Gesetz der Bewegung der Totalität auszulösen. Man muss sich klarmachen, ein wie anderer methodischer Ansatz das gegenüber einem normalwissenschaftlichen ist. Alles, was man im normalen Sinn von diesem Gegenstand, der ein Mensch ist, erfassen kann, ist unwichtig. In einer gewissen Weise, um es krass auszudrücken, braucht Janov gar nicht erst hinzusehen. Es bedarf nur der Aufforderung an den Gegenstand, (alles Bisherige zu lassen und) sich einzig und allein in die Beziehung mit demjenigen zu setzen, wozu er alles braucht, was er hat und was er ist, um sich dazu in Beziehung zu setzen. Wenn dieses etwas ist, worin er sich nicht total engagieren muss, um sich überhaupt darauf beziehen zu können, so ist es nicht das Gesuchte. »What we can relate to early in life is need.« (Janov 1970, S. 387)
Damit ist nicht irgendeine Beziehung gemeint und irgendein Bedürfnis – das wäre bereits ein Abgleiten in die neurotische Gespaltenheitsweise, wo dieses und jenes einander ersetzen zu können scheinten. »Beziehung« und »Bedürfnis« ist, primärtherapeutisch: jene Beziehung, die die Totalität, die der Gegenstand ist, als Totalität herstellt; und dasjenige, als was sich diese Beziehung der zur Ganzheit zusammengezogenen Totalität erweist, das ist: ein Bedürfnis. Das primäre Bedürfnis ist die Bestimmtheit des zur Totalität zusammengefassten Gegenstandes, und in der Zusammenfassung gewinnt die Totalität die Bestimmtheit von der Qualität der Negation: die Bestimmtheit, eine Bestimmtheit zu sein, die sie nicht ist. Dieses Nicht als die Form der jetzt deutlich werdenden Bestimmtheit zwingt diese in die Äußerung, d. h. in eine notwendige nächste Zustandsform, in der die Totalität zu der Bestimmtheit des Nicht, die sie (in der Form, sie nicht zu sein) ist, gelangt, so dass sie jetzt fähig ist, sich mit dieser zu vereinigen, was eine weitere Zustandsform der Totalität bedeutet. Die Spezifität des humanwissenschaftlichen Gegenstandes, in dieser Weise als Ganzer zu funktionieren, ist für diesen primär; d. h., es ist für ihn nicht beliebig, sich entweder zu bewegen oder auch nicht, 309 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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denn, auch wenn er sich nicht bewegt (im Sinne der Vollzugsform der Bewegung als Totalität), ist er diese Bewegung in der Form ihrer Verhinderung: Als ein Ganzes, eine Totalität, zu funktionieren, definiert den menschlichen Gegenstand, so dass er in jedem Fall ein Ausdruck dieser Grundbestimmtheit ist. Umgekehrt heißt, einen Gegenstand auf diese Weise zu denken, einen menschlichen Gegenstand zu denken: »It is feeling which makes us human.« (Janov 1973a, S. 20; auch S. 186)
Bedürfnis ist dasjenige, worin alles, was ein Mensch ist, zusammengefasst ist: »Need is the matrix which incorporates each event.« (Janov 1971, S. 28)
2.1.1.1.2. Der »innere« Ort der Bestimmtheit: »Connection« als »Man-selbst-sein« Gelangt man aufgrund der Janovschen Äußerungen zu der Feststellung: Die Primärtherapie akzentuiert sehr stark die Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung in der frühen Kindheit; diese Bedürfnisse sind … (Janov 1970, S. 22 ff.), so ist das in einer Hinsicht richtig, und in anderer Hinsicht hat man damit das eigentliche Anliegen der Primärtherapie verfehlt. Weiter oben (Kap. 1.1.2.2.1.) wurde das »Verfahren« Janovs herausgestellt, eingeführte Begriffsbedeutungen aufzugreifen, sie ein Stück weit gelten zu lassen, um die primäre Bedeutung dann von allen bekannten Bedeutungskomponenten – dieser Art des Umgangs mit Begriffsbedeutungen – abzuheben: Das mit den primärtherapeutischen Begriffen Gemeinte ist eigentlich etwas ganz anderes. Dieses merkwürdige Verfahren der lockeren Aneinanderreihung logisch differenter Begriffstypen qua Typen von Sachverhaltsstrukturierung – das »Abschreiten von Gesichtspunkten« – ist möglich, indem die primärtherapeutische Gegenstandserfassung auf einer höheren logischen Ebene, nämlich dort ansetzt, wo der Gegenstand als eine Totalität wirksam wird, und dies bedeutet den Übergang zu einer ganz neuen Weise des Denkens. Um »Bedürfnis« – normalerweise ein Einzelaspekt des Gegenstandes – im Sinne der Primärtherapie zu denken, muss man es in jener Weise denken, die Fühlen besagt. Bedürfnis im Sinne von Fühlen besagt, dass eine Sache auf dasjenige bezogen ist, was diese Sache in die Verbundenheit mit sich selbst, in die Form einer durchgängig verbundenen Einheit bringt, so dass ihre Bestimmtheit als insgesamt 310 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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die Negation einer höheren Bestimmtheit deutlich wird. Man beginnt bei einer Bestimmtheit, die total, durch und durch sie selbst und mit sich identisch ist in der Weise, nicht mit sich identisch zu sein. Die Identität der Sache mit sich – im Janovschen Term: das »Man-selbstsein« – wird, als Bedürfnis, fundamental so bestimmt, dass dasjenige, als was sich diese Sache zuerst darstellt: eine Sache, die genau so sie selbst ist, dass sie nicht sie selbst ist, nicht so stehenbleiben kann, sondern in eine neue Form übergehen muss, die nicht sie selbst ist, was aber, da sich ja das Ausgangsstadium in seiner näheren Artikulation als das genaue Nicht seiner Bestimmtheit zeigt, bedeutet, der Wahrheit der Sache nähergekommen zu sein: Indem eine Sache, die so bestimmt ist, dass sie nicht ist, was sie ist, in eine Form übergeht, die deutlicher nicht sie selbst ist, ist sie damit näher bei sich, indem sie ja Bestimmtheit in der Form des Nichtseins ist. So kommt man zu folgender Reihe notwendig verbundener Äußerungsmomente einer Sache, die als Totalität im Sinne eines primären Bedürfnisses auftritt: (1) Die Sache ist eine Bestimmtheit: »Bedürftigkeit«, ein Bedürfnis. (2) (Herausstellen dessen, was die Bestimmtheit von (1) impliziert: Was ist ein Bedürfnis?) Die Sache ist die Bestimmtheit, das zu sein, was sie nicht ist; Präzisierung des Nicht: Fühlen. (3) (Herausstellen der Bestimmtheit, die (2) impliziert: Was ist Fühlen?) Die Sache ist – drittens –, was sie in der Form des Nichtseins – zweitens – ist: Befriedigung als aufgehobenes Bedürfnis – erstens –. Die merkwürdige These Janovs: »Die Bedürfnisse müssen gefühlt werden, um befriedigt zu werden«, lässt sich sinnvoll nur vermittelst der von Hegel in der Wissenschaft der Logik behandelten fundamentalen Dialektik der Kategorien: Sein, Nichts, Werden, begreifen. Ganz unabhängig davon, welche Stufen der Bestimmtheit (im Sinne der von Hegel dargestellten Kategoriensystematik) für dasjenige Sein, auf das sich die Janovsche Primärtherapie bezieht, anzusetzen ist: entscheidend für das Verständnis der Janovschen Äußerungen ist in jedem Fall die gegenüber dem normalerweise formallogisch geprägten wissenschaftlichen Denken fundamental veränderte spekulativ-dialektische Denkform: jene neue Weise, Identität zu denken, die Hegel – gegenüber dem formallogischen Satzschema – als die spekulative Satzform eingeführt hat. Während im formallogisch aufgefassten Satz die Bestimmtheiten dem Gegenstand, nach Art der Klassenlogik, so zugeordnet wer311 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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den, dass man sich das Prädikat auf das Satzsubjekt bezogen denkt, wird der Inhalt des spekulativen Satzes als, alle Bestimmtheit in sich enthaltend, der konkrete Inbegriff seiner eigenen Bestimmtheit gedacht, was erfordert, dass die zur Erkenntnis notwendige Strukturierung auf völlig andere Weise erfolgt, nämlich so, dass sich der Sinn des Satzes über unterscheidbare Phasen bewegt: Die Sache, die der Satz ist, stellt die Bestimmtheit, die sie ist, dar, indem sie das bestimmte Nicht dieser Bestimmtheit überwindet. Also ist die Sache als der Inbegriff ihrer selbst so zu denken, dass die Weise, wie sie sie selbst ist, genau eine Weise ist, nicht sie selbst zu sein, und dies kann wahr, d. h. mit dem zuerst Gesagten übereinstimmend nur sein, wenn eine Reihenfolge von streng zusammenhängenden Explikationen der Sache selbst angenommen wird, die voneinander zu unterscheiden sind und doch auch wieder nicht zu unterscheiden (eins sind), also wieder nacheinander zu unterscheiden und nicht zu unterscheiden. So bedeutet die Sache, die der Inbegriff ihrer eigenen Bestimmtheit ist, ein Fortschreiten von Explikation zu Explikation, eine Bewegung, die als Auseinandersetzung einer Differenz zu verstehen ist: Position einer Bestimmtheit; Negation; somit die Notwendigkeit der Unterscheidung in Bezug auf die Sache, welche Unterscheidung (von zwei), indem sie eine Unterscheidung der Sache ist, notwendig in Nichtunterscheidung übergeht, so dass sie als Differenz in die Einheit der Sache zurückgeht, so dass es die eine Sache ist, die um diese Differenz bereichert wird. Damit ist dann etwas mehr von diesem Inbegriff: von der inneren Bestimmtheit der Sache, begriffen. Die fundamentale geistige Operation, in der sich das spekulativdialektische Denken von einem formallogischen Denken unterscheidet, besteht darin, die einen Erkenntnisgegenstand definierende Differenz als Bestimmtheit des Gegenstandes in diesen hineinzuverlegen. Ein Erkenntnisgegenstand bedeutet eine Form der Strukturierung des Wirklichen, d. h. eine für ihn spezifische Weise von Verhältnissen, also eine für ihn spezifische Weise, Differenz zum Ausdruck zu bringen. Die Einheit dieser Differenzen, die einen Gegenstand charakterisieren, wodurch er auf andere Gegenstände beziehbar wird, ist nun wiederum eine spezifische Differenz, derart, dass ihr Auftreten anzeigt, dass es sich nicht mehr um diesen, sondern um einen anderen Gegenstand handelt. Normalerweise ergibt sich die Einheit eines Gegenstandes also aus seiner Differenz zu anderen Gegenständen – wobei diese ihn als Gegenstand definierende Differenz sich von jenen 312 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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seine Strukturierung bedeutenden Differenzierungen unterscheiden muss, d. h., jene ist größer als diese –, wobei die Einheit, die als Bedingung der Möglichkeit der Darstellung der Differenz herangezogen werden muss, in die unerreichbare Höhe oder Tiefe des von der Sache getrennten Erkenntnissubjekts verlegt wird. Dialektisches Denken geht genau umgekehrt vor und versucht, die Differenz, die die Sache als Darstellung von Identität ist, aus der Beziehung dieser Darstellungsform zu ihrer nächsthöheren Darstellung von Bestimmtheit und damit aus der Beziehung zu der in dieser Differenz fassbar werdenden Identität zu begreifen. Dies ist nur möglich mit einem Denken, das nicht die Grenzen der Erkenntnis und der Erkenntnisgegenstände verwischt, das diese Grenzen jedoch als prinzipiell nicht endgültig verwirklicht, so dass diese Grenzen als eine Vorschrift, sie nach einer bestimmten Ordnung zu setzen und aufzuheben, eine Gültigkeit haben relativ zu jener ihre Wahrheit begründenden Einheit, in der sie dahinfallen. Janov fasst seinen Gegenstand, wenn er ihn als grundlegend im Sinne des primären Bedürftigseins bestimmt sieht, nach jenem Denkschema: als eine Bestimmtheit, die wird, was sie ist, in einer Bewegung, derart, dass ein Identisches sich selbst bestimmt, indem es seine Bestimmtheit entwickelt; und zwar muss diese Bewegung so gesehen werden, dass die Ausgangsbestimmtheit das andere ihrer selbst – jene Differenz also, die im formallogischen Denken einen anderen Gegenstand anzeigen würde – impliziert. Das Bedürftigsein wird von Janov nicht in erster Linie als etwas gesehen, wodurch der menschliche Zusammenhang auf das außerhalb seiner selbst liegende Andere verwiesen wäre; der vor allem im Hinblick auf das Neurose-Verständnis springende Punkt der Janovschen Sicht von »Bedürfnis« liegt gerade darin, dass die Notwendigkeit der positiven Verwiesenheit auf die Negation seiner selbst – indem die Ausgangsbestimmtheit das, was sie nicht ist, ist –: dass also dieses Verwiesensein auf das andere bedeutet, dass er auf sich selbst verwiesen ist; dieses Hingewiesensein auf die Negation dessen, was der menschliche Gegenstand ist (in das andere seiner selbst) ist die Weise seines Selbstbezugs. Ganz deutlich wird der Umstand, dass man nach Janov das »allgegenwärtige Bedürfnis« so aufzufassen hat, dass die im Bedürftigsein implizierte Verwiesenheit auf das gegenüber dem eigenen Zusammenhang Andere nicht unter dem Gesichtspunkt des Anderen – so dass diese Differenz als Differenz zweier zu unterschiedender Gegenstände in Betracht käme –, sondern ganz und gar unter dem Ge313 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
sichtspunkt des Selbstbezugs, als die Selbstbestimmung einer identischen, in sich zurückkehrenden Bewegung zu sehen ist, aus den Janovschen Äußerungen über »love«: »The Primal definition of love is letting someone be what they are. This can happen only when needs are fulfilled […] We must remember that to let someone really be himself means filling his needs. This is the job of loving parents.« (Janov 1970, S. 272) »Love early in life means meeting Primal needs.« (Janov 1970, S. 273) »Love is what enhances the self.« (Janov 1970, S. 274) »What the neurotic is looking for in love is the self that was never allowed to be […] Love is no more than the free expression of the self […] Because love involves feeling the self, we cannot transfer it to someone else.« (Janov 1970, S. 275)
Das Befriedigtwerden der Bedürfnisse, wodurch der im Bedürftigsein außer sich getretene Zusammenhang wieder – durch Zutat von außen – zu sich zurückkehrt, heißt so viel wie Geliebtwerden. Geliebtwerden muss ein Kind nach Janov von seinen Eltern, die die Bedürfnisse ihres Kindes befriedigen. Nun wird aber das Befriedigtwerden der Bedürfnisse so sehr als eine Angelegenheit dessen betrachtet, dessen Bedürfnisse befriedigt werden, dass »Geliebtwerden« – was doch auf eine Tat des gegenüber dem eigenen Zusammenhang Anderen verweist – als »Tat« des eigenen Selbst, das befriedigt wird, zu beurteilen ist. So kommt es in den Äußerungen Janovs über »love« unmerklich zu einem Standpunktwechsel: Lieben heißt zunächst, jemanden er selbst sein zu lassen (so dass er also mit dem eigenen Bedürfniszusammenhang nicht verwechselt wird); Liebe ist nichts anderes als das freie sich Äußern des (eigenen) Selbst; für einen Erwachsenen bedeutet dies: zu lieben, d. h. die Bedürfnisse, dessen, der geliebt wird, zu erfüllen; das Umgekehrte gilt für den durch das Bedürftigsein bestimmten kindlichen Zusammenhang; dieser impliziert »Liebe« in der Weise, dass es für ihn notwendig ist, geliebt zu werden, und das Geliebtwerden gehört für ihn ebenso selbstverständlich zum Ausdruck seines eigenen Selbst, wie dieser Ausdruck für den erwachsenen Zusammenhang selbstverständlich bedeutet zu lieben im Sinne der Bedürfnisbefriedigung anderer. »The neurotic often believes that love must lie somewhere else with someone else. He seldom understands that it lies inside himself.« (Janov 1970, S. 276)
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Die primären Bedürfnisse implizieren das gegenüber dem eigenen Zusammenhang Andere; das Nicht des eigenen Zusammenhangs ist ein positives Implikat des eigenen Zusammenhangs. Dazu einige weitere Textstellen: »Something else we are not born with is the need for attention. Attention means satisfying children (Einschub: hier ist bereits wieder ein Standpunktwechsel vollzogen vom Bedürfnis-Selbst zum Bedürfnis befriedigenden Anderen). A child doesn’t come into the world with a need for someone ›out there‹ to listen to him. He has an inner need to express himself and what is required is a listening person. Needs flow from inside out and not the reverse […] If we understand that personal needs are really personal and do not involve others, then we can understand that there can be no needs for superiority, for dominance, power, submission, prestige or esteem. The central Primal need is to be oneself, an individual, and we need parents early in life to help us do that.« (Janov 1973b, S. 148) »The infant has no psychologic need for someone to ›take an interest‹. He has a physical (»endogenous«, B. V.) need for touch – and interested parents do that.« (Janov 1973b, S. 149)
Ebenso ist Liebe als Befriedigung des Anderen ein Implikat des durch die Bewegung der Bedürfnisbefriedigung charakterisierten Manselbst-seins: »For straight, feeling people, parenthood is quite simple. They don’t try to give something of themselves, because there is nothing of oneself to give. But being oneself as a parent is what does the giving.« (Janov 1973b, S. 150) »Love is not a matter of giving something to someone so that his tank can register »full«. Nor can we be emptied of love any more than we can be emptied of feeling […] Because love involves feeling the self we cannot transfer it to someone else.« (Janov 1970, S. 275)
»Liebe« ist der natürliche Geschehensmodus, und wenn sich ein menschlicher Zusammenhang nicht in demselben befindet, wenn er nicht »er selbst« ist, kann er weder lieben, noch geliebt werden, d. h. (Liebe) fühlen: »Loving a child should be as natural as breathing air.« (Janov 1973b, S. 199)
Der für die Primärtherapie so zentrale Atemvorgang (Janov 1970, S. 166 ff.) verdeutlicht die Einheit einer Bewegung, deren »nach außen« (ins Nicht seiner jetzigen Bestimmtheit) gewendete Phase den Sinn hat, die Form einer dem Gegenstand innerlichen Beziehung zu sein. »Nach außen gewendet« bedeutet im Sinne der primären Be315 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
wegung, dass sich die Ausgangsbestimmtheit in der Weise verändert, die sie, unter normalem Gesichtspunkt, als diesen Gegenstand vernichten würde. Die neue Entdeckung der Primärtherapie besteht darin, dass diese »Vernichtung« (»to go into pieces«, Janov 1973a, S. 255) möglich ist, weil der Gegenstand genau dieses Nicht seiner selbst ist. Alles, was nach außen geht, ins Nicht dessen, wovon es ausgeht, kann nur richtig verstanden werden als notwendige Äußerung eines Innern – als ein Implikat der Ausgangsbestimmtheit –, mit welcher jene so zusammenhängt, dass sie nichts anderes ist als dasjenige, was die Ausgangsbestimmtheit ist, in der Form, es noch nicht zu sein; so bildet sie mit ihr den einen Zusammenhang der Sache selbst. Die gegenüber der Sache anderen, nicht zu ihr gehörenden Momente, sind nichts anderes als ein Ausdruck der inneren Struktur der Sache selbst. Der Standpunkt der Differenz ist nicht endgültig, und das ist bei Janov so ausgedrückt, dass, obwohl es zunächst so scheint, es in Wahrheit nichts gibt, was für die betrachtete Sache relevant und ihr äußerlich wäre; vielmehr sind jene Bestimmtheiten oder Verhältnisse, die für die Sache wichtig sind und außerhalb von ihr platziert erscheinen, eigentlich innere Bestimmtheiten der Sache selbst. Das der Sache Äußere und für sie Relevante ist mit ihr als ein Zusammenhang zu begreifen, derart, dass dieses das positive Nicht der Sache ist, welches diese in der Form des Nichtseins ist. »Everything is inside.« (Janov 1980, S. 70; S. 244) »Neurosis is internal, not between people.« (Janov 1975, S. 441) »Primal Therapy makes someone into himself, rather than tries to have a person »make something out of himself.« (Janov 1970, S. 136) »What we now need is to create the only thing that is meaningful – an inner dialogue.« (Janov 1973a, S. 40)
Die Nähe zu anderen ist eine innere Bestimmtheit dessen, der anderen nah ist: »The closer one is to oneself, the closer one can become to others.« (Janov 1970, S. 76)
Und schließlich ist folgende Stelle bemerkenswert: »For the neurotic to fully feel again, he must go back and feel what he wasn’t. Thus he may try hugging and physical touching in a special therapeutic encounter group and believe that he is breaking down the barriers between him-
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self and others or having a warm experience – a ›getting a feel of others‹. But there is no way for an unfeeling person to get a feel of anyone else, no matter how much hugging goes on. First we learn to feel ourselves; then we can feel ourselves feeling others.« (Janov 1970, S. 75) »The point is that feeling barriers are […] not between people […] the barriers are internal.« (Janov 1970, S. 76)
Alle eruierbaren Differenzen sind so aufzufassen, dass es sich dabei um die Vermitteltheit der Sache mit sich selbst handelt: »Feeling is what relating to anyone is all about.« (Janov 1973b, S. 202)
2.1.1.1.3. »Primäre« und »sekundäre« Bedürfnisse und die Dialektik von Unmittelbarkeit und Vermittlung In der Ordnung der Primärtherapie ist FÜHLEN primär. Die Explikation des Fühlens ist das, was das Prädikat: »ist ein primärer Zusammenhang«, besagt. Insofern ist Fühlen das Ganze dessen, worum es in der Primärtherapie geht: »Feeling is what Primal Therapy is all about.« (Janov 1970, S. 386)
Fühlen ist eine neuartige Weise des Zusammenhangs; eine neuartige Methode, differente Momente als eine Einheit wirken zu lassen; der Mensch muss als diese Art von Zusammenhang gedacht werden. Um nun diesen als Fühlen gekennzeichneten Zusammenhang zu beschreiben, beginnt Janov bei den Bedürfnissen: Das, was gefühlt wird, ist ein primäres Bedürfnis. D. h., Fühlen beginnt als eine Beziehung: Bedürfnis-Fühlen-Bedürfnisbefriedigung-Fühlen, und diese Beziehung richtig zu behandeln bedeutet, den Anlasser der primären Zusammenhangsform zu betätigen. Zunächst hat man sich dabei auf das (primärtherapeutisch aufgefasste) Bedürfnis zu konzentrieren: so dass die primäre Weise des Zusammenhangs in Gang gesetzt wird. Um Fühlen zu verstehen, beginnt man also bei etwas, das dem Fühlen vorausgeht: Man beginnt bei dem Bedürfnis, das seine innere Bestimmtheit – die Bestimmtheit, die es ist, in der Weise, es nicht zu sein – an das Fühlen hingegeben hat. Primäres Fühlen ist Verbindung zu sich selbst: Fühlen bedeutet einen Zusammenhang, so dass Fühlen das Ganze und die Momente ist, als deren Zusammenhang sich das Ganze darstellt: FÜHLENals Ganzes = Bedürfnisals Moment + Fühlenals Moment
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
»FÜHLEN als Ganzes« bedeutet, dass man Teilmomente hat: Bedürfnis; Fühlen; und dass man Fühlen als Moment nicht versteht, wenn man es nicht als innere Konsequenz eines anderen Momentes (d. h. eines Bedürfnisses) versteht, und umgekehrt nicht sagen kann, was ein Bedürfnis (für sich genommen) ist, es sei denn man verfolgt sein Hinaustreten in das Fühlen. Wenn es darum geht, die grundsätzlich neue Denkweise einzustudieren, muss »FÜHLEN als Ganzes« und »Fühlen als Moment« unterschieden werden. So gewinnt man eine erste Hilfe, gewisse Inkonsistenzen der Janovschen Aussageweise aufzuklären. Wenn Janov sagt: Die Bedürfnisse müssen gefühlt werden, um befriedigt zu werden, aber ebenso gelten soll: Erst wenn die Bedürfnisse befriedigt sind, kann das Kind fühlen, so ist dies auf zweierlei Weise interpretierbar. (1) »Die Bedürfnisse müssen gefühlt werden, um befriedigt zu werden«, das bedeutet einfach und fundamental: Man muss an die Bedürfnisse so herangehen, dass sie als Moment der primären Zusammenhangsweise »FÜHLEN« in Gang kommen. (2) Fühlen bezieht sich ferner auf ein Moment der primären Verbindungsbewegung, besagt also auch noch etwas Bestimmtes innerhalb der Bewegung des primären Zusammenhangs, das von FÜHLEN als Ganzes zu unterscheiden ist. Versteht man den Ausdruck »Fühlen« in dem Satz: »Die Bedürfnisse müssen gefühlt werden, um befriedigt zu werden«, als Moment und geht man von diesem Satz als dem Anfangssatz für die Explikation der primären Zusammenhangsform aus, so zeigt sich bei einer eingehenderen Betrachtung der Janovschen Äußerungen, dass diese Feststellung unter Umständen zu revidieren ist, dass also andere Sätze mit diesem ersten Satz in Bezug auf diese erste Position konkurrieren. Obwohl es also in gewisser Hinsicht legitim ist, von diesem Satz als einem Grund-Satz auszugehen, um daran einige Punkte zu klären, muss in anderer Hinsicht gesagt werden, dass dies nicht als der erste Satz oder der wirkliche Ausgangspunkt der Primärerfahrung anzunehmen ist, dass sich dieser Satz vielmehr erst nach der Kenntnisnahme anderer Sätze, die ihm vorausliegen, als erster Satz erweist. Dieser Umstand soll nun an einigen Äußerungen Janovs aufgewiesen werden. – In seinem Buch: »The Feeling Child«, bespricht Janov besonders eingehend die Bedeutung des intrauterinen Lebens für das menschliche Individuum. Er stellt fest:
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
»There is clear evidence, that the mother’s condition has an effect on her fetus. In other words, the seeds of neurosis begins with whatever one experience in life and life experience begins in the womb. By the second month of life in the uterus, the brain is already functioning and transmitting impulses which coordinate the organs in the tiny body. This is a rudimentary brain, which very soon can register its sensations from the uterine environment. I emphasize the term »register«, since that tiny nervous system lives in a world where there are outside influences which may eventually contribute to neurotic development long before those influences can be conceptualized.« (Janov 1973b, S. 22) »Just because the fetus cannot conceptualize the stress does not mean, that it isn’t hurt by it, or that the stress is not having a lasting effect on later behavior.« (Janov 1973b, S. 24) »Whether the human organism is inside or outside the uterus makes little difference in terms of its physiologic responses to noise stress.« (Janov 1973b, S. 24 f.) »What is happening during gestation is, that we are preparing to become feeling human beings. Sensations on the fetus become elaborated into total physiologic events, affecting secretions, hormone development, brain elaboration and so on. That is, sensations are becoming elaborated into the precursors of feelings.« (Janov 1973b, S. 25)
Der Punkt, auf den es Janov ankommt – hier drängt sich ein Vergleich mit Skinner auf, vgl. weiter unten – ist nicht der, dass der menschliche Organismus u. a. auch von solchen Einwirkungen betroffen wird, die er nicht bewusst wahrnimmt, so dass es also zwei Arten von Einwirkungen gäbe: solche, die bewusst wahrgenommen werden, und solche, die nicht bewusst wahrgenommen werden, und es letztlich unnötig sei, zwischen beiden zu unterscheiden, da, gleichgültig ob wahrgenommen oder nicht wahrgenommen, der Effekt stets der gleiche sei; vielmehr wird die Struktur, die alles, was vorkommt, als ein und dasselbe ausweist, bei Janov so gesehen: Die Einwirkungen, die nicht wahrgenommen werden, und die, die wahrgenommen werden, sind auf solche Weise identisch, dass man die Einwirkungen der einen Art als genau die Einwirkungen der andern Art begreift; näherhin so, dass man, was die Einwirkungen jeweils sind, von dem her versteht, »was zu werden sie sich vorbereiten«, als die genauen Vorläufer der nächsten Art der Einwirkungen, so dass man die Einwirkungen der einen Art als Resultat der Einwirkungen der andern Art begreift und vom Resultat her die andere Art der Einwirkung als dessen Voraussetzung einholt. 319 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Nur so kann Janov folgerichtig sagen: Das physiologische System registriert (Aufnehmen ohne erlebte Wahrnehmung) Schmerz (being hurt: Empfindung-Fühlen); man begreift die eine Art der Einwirkung in Termen der nächsten Stufe. Verbliebe man auf der Ebene: »Der Körper registriert«, so würde man das »Registrieren« nicht wirklich begreifen, denn, was registrieren ist, zeigt sich erst rückwirkend von dem her, was es dann wird: (Schmerz-) Empfinden. Erst von der Ausprägungsform des Fühlens (feeling) oder Begreifens (conceptualizing) her lässt sich das Registrieren als Voraussetzung und damit in gewisser Hinsicht als die erste Stufe bestimmen, obwohl in anderer Hinsicht gesagt werden kann, dass Empfinden die erste Stufe darstellt, weil sich hier erstmalig die Bedeutung von Registrieren zeigt. Man hat eben den Satz: »Der Körper registriert gewisse Umwelteinwirkungen« (oder einfach: Der Körper reagiert auf die Umwelt), nicht voll verstanden, wenn er nicht von dem her verstanden wird, in das er übergeht, nämlich etwa in den Satz: »The central demand of the body is to be felt«, und dieser notwendig zu vollziehende Übergang bedeutet eine Veränderung aller Teile des Satzes, ganz bestimmt eine Veränderung in der Bedeutung von Subjekt und Prädikat, denn »the body« ist vom Fühlen her zu verstehen, (nicht als physiologisches Substrat, sondern) als Bedürfnis. Und schließlich kann man diesen Satz nicht voll verstehen, wenn man nicht verfolgt, wie er mit innerer Notwendigkeit übergeht in den Satz: Das, worum es geht, ist das Fühlen zu fühlen, »the feeling of feeling«. Was Fühlen ist, artikuliert sich als ein Zusammenhang, der sich darstellt als ein Zusammenhang von Zusammenhängen derart, dass Fühlen als Ganzes immer fassbar ist als ein Verhältnis von zweien, wobei der eine Bezugspunkt »relativ Nicht-Fühlen« und der andere »relativ Fühlen« vertritt. Weiter ist zu sagen, dass dieser Zusammenhang als eine Bewegung zu denken ist, so dass es mit einem solchen Verhältnis nicht getan ist, sondern dass eine Reihe solcher Verhältnisse auftreten, die etwa so charakterisiert werden können: Spannungen - - - - - - registrieren Schmerz - - - - - - - - - empfinden Bedürfnisse - - - - - - - - - fühlen
Das FÜHLEN fühlen
das Selbst - - - - - - - - begreifen
Und alle diese Verhältnisse stehen untereinander: horizontal (als eine Art von Differenzierung) und vertikal (als verschiedene Stufen von 320 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Differenzierungen) in jener ausgezeichneten Beziehung, so dass die horizontalen und vertikalen Verhältnisse einander aufs innigste interpretieren und vertreten, indem sie ganz und gar der Ausdruck eines korrekt explizierten, gesetzlichen Zusammenhangs sind, der angenommen werden muss, wenn es wirklich Identität sein soll, die sich hier selbst vermittelt. Die Bewegung als die Durchführung des gesetzmäßigen Übergehens aller Verhältnisse ineinander – die Bewegung eines individuellen Lebens – ist so zu charakterisieren, dass die auftretenden Verhältnisse, wenn sie sukzessiv betrachtet werden, sich verändern vom relativ mehr Nicht-Fühlen (dem physisch-Leiblichen als dem je anzunehmenden relativen Weniger an Fühlen) zum mehr Fühlen (der Bewusstsein, experience-feeling, zu nennenden Qualität). So zeigt die gesamte Stufenfolge an Bewegungen noch einmal die Essenz der Einzelbewegung: Die Bestimmtheit ist etwas; dies bedeutet näherhin ein Nichtsein, welches näherhin, in die Bestimmtheit dieses Nicht gesteigert, die höhere Form der Ausgangsbestimmtheit ist. Je mehr sich die Verhältnisse in der Zone des Fühlens des Fühlens bewegen, umso mehr »connection« ist anzunehmen. »When needs are met, the child can feel. He can experience his body and his environment. When needs are not met, the child only experiences tension which is feeling disconnected from consciousness. Without that necessary connection the neurotic does not feel.« (Janov 1970, S. 24)
Spannungen registrieren ist eine ungenügende Form des Fühlens, nicht Verbindung genug, um Bewusstsein genannt zu werden; es ist »feeling disconnected from consciousness«, d. h., es ist nicht genug Verbindung – im Sinne der Vermittlungsbewegung über eine Reihe von Verhältnissen – vorhanden, um jene Art der Verbundenheit aufzuweisen, die Bewusstsein- Fühlen genannt werden kann. »Neurosis masks painful bodily sensations from proper recognition […] but that sensation cannot be relived until it is correctly connected – when it becomes a feeling. Primal Pains are the sensations of pain. In Primal Therapy they become feelings through connection […] Only connection changes a sensation of pain into a true feeling. (Janov 1970, S. 68)
Welche der verschiedenen Äußerungsformen von Fühlen ist nun im eigentlichen Sinne »primär«? Kann man sagen, dass »Empfinden« oder »Registrieren« »primärer« ist als »Fühlen« (als Moment)? Diese Frage betrifft ebenso die Bedürfnisse, d. h. den jeweils anderen »Partner« der Reihe der primären Verhältnisse, also jene Phase 321 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
der primären Verbindungsbewegung, die sich über das Fühlen (in welcher Äußerungsform auch immer) aus ihrer Anfänglichkeit herausstellt, um die so begreiflich gemachte Bestimmtheit über die Befriedigung auch als solche in sich aufzunehmen, durch welchen Prozess der Selbstbestimmung immer reicher bestimmte, »verbundenere«, immer artikuliertere und somit neue »Bedürfnisse« entstehen. Janov fragt nun, welche Bedürfnis-Gefühle als im Sinne der Primärtherapie eigentliche, primäre, und welche Bedürfnisse als »abgeleitete«, sekundäre angesehen werden müssen und wie man letztere zu beurteilen habe: »Having established that a feeling is awareness of sensation – a correct awareness – we are faced with the question as to how many feelings reside in man […] I think that the feelings basic in man are those which arise endogenously – without outside stimulation – hunger and thirst, for example. Each of the endogenous feelings revolves around need […] I would classify anger and fear as secondary feelings – those requiring outside stimulation. Secondary feelings overlie basic feelings and serve to block them […] The distinction between primary and secondary feelings is more than semantics. Rage is not something endogenous in the Primal context. It occurs when basic feelings are thwarted.« (Janov 1973a, S. 70; auch 1970, S. 72 ff.) »We find that some of these secondary feelings are really not feelings at all, in the Primal sense, but mental labels for hurt.« (Janov 1973a, S. 71) »Something else we are not born with is the need for attention […] Thus this so called psychologic need for attention or interest from others is really a physiologic need to feel save and protected in the world.« (Janov 1973b, S. 148)
Bisher wurde aus den Äußerungen Janovs ermittelt, dass der Ausdruck »primär« so zu verstehen ist, dass er eine bestimmte Weise des Zusammenhängens bezeichnet, derart, dass man, wenn man diese Zusammenhangsweise insgesamt als Fühlen bezeichnet, was Fühlen ist, im zweiten Abschnitt der Bewegungsphase (nach dem Schema: Bedürfnis – Fühlen) besser sagen kann als in der ersten Phase: was ein Bedürfnis ist, muss gefühlt werden. Eigentlich kann man aber die Spannung oder Schmerzempfindung des hungrigen Säuglings nicht im vollen Sinn »Fühlen« nennen, denn, was das erleidende Fühlen des Hungers bedeutet, stellt sich erst im Befriedigungserlebnis heraus; und das in die Empfindung von »total tissue states« hineingebundene Fühlen der Erfordernisse des Körpers kann nicht als die gültige Offenbarung des Fühlens angesehen werden: 322 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
»When needs are met, the child can feel.« (Janov 1970, S. 24) »We begin to feel when all our early needs are met.« (Janov 1970, S. 67)
Zum eigentlichen Fühlen gelangt der menschliche Zusammenhang, nachdem er durch eine Reihe von Befriedigungserfahrungen eine neue Stufe der identischen Bestimmtheit erreicht hat. Das Schmerzempfinden des Säuglings oder Kleinkindes ist schon mehr Fühlen als das bloße Registrieren von stressenden Einwirkungen durch das intrauterine menschliche Leben, obwohl man, was dieses Registrieren bedeutet, erst richtig einschätzt, wenn man versteht, dass das Registrieren der genaue Vorläufer von Empfinden ist: Es besteht hier ein direkter Zusammenhang, derart, dass es sich bei diesen zwei verschiedenen Formen um ein Identisches handelt, das sich bewegt. Und was Schmerz empfinden heißt, kann man erst von der später erreichten Stufe des Fühlens i. e. S. her verstehen; und für volles fühlendes Erleben ist unbedingt ein voll entwickeltes Bewusstsein erforderlich, das Begreifen, d. h. begriffliches Denken, einschließt: »Full consciousness is absolutely necessary for a full feeling experience.« (Janov 1970, S. 357)
Das volle Bewusstsein, das für ein Urerleben im Sinne der Primärtherapie nötig ist, bedeutet eine Ausprägungsstufe des primären Zusammenhangs, die, nach Janov, mindestens drei level einschließt: Empfinden, Fühlen und Begreifen, und diese sind noch um die Vorstufe des intrauterinen Registrierens zu ergänzen, so dass für ein volles Urerleben (d. h. für FÜHLEN): Registrieren, Empfinden, Fühlen und Begreifen als Momente, d. h. als Ausprägungsstufen der primären Zusammenhangsform vorauszusetzen sind. Die zu unterscheidenden Äußerungsformen des Fühlens: Registrieren, Empfinden, Fühlen und Begreifen, sind als notwendige Bestimmungen des Primären anzusehen. »The pain and its experience as tension cannot be undone by any single behavior, by meditation, yoga, pills, cigarettes, alcohol or even psychotherapy. The pains can be undone only when they are made into full human experiences; that is, when they are relived one by one until they are resolved and out of the system. Perhaps a more acurate way of stating this is that the experiences must be lived, not relived, since they were never entirely experienced in the first place; which is why they persisted. Living out these pains is to experience the self more and more fully until one simply becomes what he is – a completely experiencing human being.« (Janov 1971, S. 25)
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Als »primär« ist ein Zusammenhang dann anzusprechen, wenn er (1) ist, indem er eine Grundfigur der Bewegung ausführt: aus sich herauszugehen, seine Anfänglichkeit zu negieren; um über diese Negation der Negation (welche das Ausgangsstadium darstellt) zu sich zurückzukehren und so die Beschaffenheit des Ausgangsstadiums näher als das zu bestimmen, was sie ist: eine bestimmte Form des Nichtseins; und wenn er (2) nicht daran gehindert wird, seine Selbstbestimmung über diese eigentümliche Bewegung durchzuführen. Wenn dieser Zusammenhang hinsichtlich seiner Evolutionsbewegung gehindert wird, wenn sich die Bewegung nicht in der richtigen Weise entwickeln kann (wenn sie »abgeleitet«, »pervertiert«, »blockiert« wird), dann kann es nicht dazu kommen, dass das Anfangsstadium dieses Zusammenhangs durch »Rückkehr desselben in sich« bestimmter gemacht wird, als das, was er ist, intensiver herausgestellt wird, so dass die ihm innewohnende (»innate«, »endogenous«) Form näherhin zur Darstellung kommt. Aber auch im negativen Fall der Neurose bleibt die Ganzheit der Identität bestehen, nur nicht »als sie selbst« – dieser Zusammenhang ist niemals vom Gesetz seiner Identitätsbewegung abzubringen. Im ersten Fall muss jedoch die Rückkehr des Zusammenhangs in sich und somit das Ausgangsstadium in seiner sekundären Form als dem ursprünglichen Zustand näher beurteilt werden. Die Vielzahl der Ausführungen der Primärform der Bewegung ist also nicht nur so zu sehen, dass sie alle aus einer ursprünglichen Form hervorgegangen und somit auch auf sie zurückführbar sein müssen; vielmehr sind sie es, die die ursprüngliche Form allererst ihrer Bestimmung zuführen, d. h. sie zu dem machen, was sie »zutiefst« ist. Was der Zusammenhang ursprünglich, d. h. »primär« ist, kann somit nicht am Anfang, sondern angemessen erst am Ende der Bewegung gesagt werden, d. h. umso besser, je mehr solcher Bewegungseinheiten durchgeführt wurden. Nach Hegel ist diese größere Nähe der Sache zu sich, die dadurch erreicht wird, dass sie in einer für sie spezifischen Weise »von sich weggeht«, sich äußert, und dies in einer Form, die als ein »in sich Zurückkehren« – »sich Erinnern« – bezeichnet werden kann: »vermittelte Unmittelbarkeit«. Ein Urerlebnis im Sinne der Primärtherapie: die vollständige, totale Erinnerung an eine entscheidende Szene der frühen Kindheit als dem Schlüssel für die Wiedererringung der ursprünglichen Zusammenhangsform, ist erst mit den Mitteln des Erwachsenenlebens möglich, und das ist auch der Grund, sagt Janov, warum sie (die Szene), mit allen ihren Implikatio324 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
nen, als nötigender Ausdruck der Unvollständigkeit der vorliegenden Zusammenhangsform bestehen bleibt. Eine wichtige Szene der frühen Kindheit so zu erleben, wie sie zutiefst war, ist nicht zu dem Zeitpunkt, da sie geschah, möglich, sondern erst später, wenn man die neu hinzugewonnen Mittel darangibt, um die Sache, die mit den damaligen Mitteln nur äußerlich als eine Voraussetzung für das Kommende fassbar war, im vollen Sinne zu erinnern, so dass sie in die Zusammenhangsform ihrer eigentlichen Bestimmtheit gelangt. So ist das Primäre das am meisten Vermittelte; jene Bewegung, als die der menschliche Zusammenhang begriffen werden muss, wird desto innerlicher und mehr sie selbst, je mehr sie sich in Vermittlungsbewegungen geäußert hat. Je mehr Schmerz (als unvollkommene Zusammenhangsweise) gefühlt, in volles Erleben verinnerlicht wird, umso weniger Schmerz wird erlitten, indem Schmerz-Erleiden anzeigt, dass einem dasjenige, was einem zugehört, noch zu äußerlich ist: »What is significant about the Primal Pain experience is that it indicates that feeling […] does not hurt. Tensing up against the feeling is what seems to hurt. This doesn’t mean that there are no unpleasant feelings, but when they are felt for what they are, they will not become transmuted into Pains […] Feeling, then, is the Antithesis of Pain. The dialectic of the Primal Method is that the more Pain one feels, the less Pain one suffers.« (Janov 1970, S. 99)
Entsprechend der Unterscheidung: Fühlen als Ganzes, d. h. Fühlen als Bezugnahme auf einen gesetzlich bestimmten Zusammenhangstyp überhaupt, und Fühlen als Moment, sind zwei Bedeutungsformen von »not primary« zu unterscheiden: (1) Äußerungsformen, die nicht in direkter Verbindung zum Modus des Fühlens stehen: Das sind Pseudogefühle, die primäres Fühlen blockieren; d. h., hier liegt eine qualitative Veränderung der primären Bewegungsform vor, die Janov, im Unterschied zur normalen Bewegungsform, als die »neurotische Bewegungsform« kennzeichnet. (2) Sodann Äußerungen im Modus des Fühlens, aber »unterhalb« oder »oberhalb« von Fühlen als Moment, im Sinne der vertikal verschobenen Entsprechungsebene, auf der Fühlen i. e. S. eine mittlere Verhältnisstufe bezeichnet, zwischen Registrieren und Empfinden einerseits und Begreifen andererseits. Die Frage Janovs: »How many feelings reside in man?«, ist dann so zu verstehen: Wie viele Stufen solcher primärer Bewegungsformen sind sinnvollerweise zu unterscheiden? – Janov antwortet auf diese Frage 325 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
mit dem Konzept der drei »levels of consciousness« (Janov 1975, S. 79 ff. 1 ), mit entsprechend anzunehmenden »levels of need« (Janov 1980, S. 3 ff.; Hinweise auf den »timetable of need«, vgl. Janov 1980, S. 220). Der Frage nach der Anzahl »echter« primärer Bedürfnisse und Gefühle kann man einen Sinn nur abgewinnen, wenn man dabei an das Gesetz der primären Bewegungsform denkt, wobei die Herausstellung sekundärer und tertiärer Formen bedeutet, die der Sache innere, ursprüngliche Bestimmtheit herauszustellen. Die Entwicklung der Äußerungsformen der Sache bedeutet gerade kein immer weitergehendes Sich-Entfernen von ihr, sondern ein Eingehen in dieselbe, so dass diese Sache immer voller geäußert wird und schließlich vollständig bei sich selbst ist: »The normal has himself totally«: Der normale Erwachsene ist das Selbst, die Bestimmtheit, die er ist, in ihrer vollen Bestimmtheit; er hat die Zusammenhangsform der vollständig elaborierten Totalität, die vollständig vermittelte Unmittelbarkeit, das FÜHLEN des Fühlens erreicht. Die vollständige Erinnerung im primärtherapeutischen Urerleben bedeutet vollständiges Bewusstsein als vollständiges Gegenwärtigsein aller Bestimmtheiten der Sache selbst. Insofern hat der vollständig erinnerte Zusammenhang keine Vergangenheit; Vergangenheit als Nötigung zur qualitativen Weiterentwicklung der Stufen der primären Verbundenheitsform geht in der präsenten Bewegungsform auf, wenn diese voll entwickelt ist (Janov 1970, S. 102; S. 221), und zwar so, dass der »Anfang« – vom Gesichtspunkt der Vergangenheit her – in der Zukunft zu erringen ist. Wenn Janov die Bezeichnung »endogenous« erläutert als »without outside stimulation«, so ist dies in einer bestimmten Hinsicht im Janovschen Sinne geradezu falsch, wenn man etwa an das Schulbeispiel für die Zusammenhangsweise des Fühlens: die Bedürfnisbefriedigung, denkt: »Fulfillment has to be given to her (the infant, B. V.).« (Janov 1980, S. 23)
Und »outside stimulation« wird selbst von Janov als »fundamental need« bezeichnet (Janov 1973b, S. 116; 1980, S. 7). Die BezeichnunWie weiter oben (Fußnote 23) erwähnt, sind einige der in »Primal Man« (Janov 1975) abgedruckten Aufsätze – so auch jene, die das Konzept der »levels of consciousness« behandeln – schon früher, nämlich ab Herbst 1973, in »The Journal of Primal Therapy« erschienen; die Frage des genauen Datums des Erscheinens der Aufsätze fällt im Zusammenhang der hier unternommenen Darstellung nicht besonders ins Gewicht.
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
gen »endogenous« oder »innate« müssen nach Janov anders aufgefasst werden. Die Primärtherapie als die wahre Bewegungsform des Fühlens wiederherstellend ist »the way in«, der Weg nach »innen« – entsprechend dem Buch-Untertitel: »The inner revolution« (Janov 1973a) –, und das bedeutet eine Methode, ursprünglich zu werden dadurch, dass man niemals bei einer Bestimmtheit als solcher stehenbleibt, vielmehr das, was man hat, stets als Ausgangspunkt für das Hervorholen einer noch tieferen, tiefer innen in der Sache liegenden Bestimmtheit verwendet: »We do not get mired in symbols. We concentrate on their sources.« (Janov 1980, S. 59)
Das gilt sogar für die mit vollem Bewusstsein, in all ihren Aspekten wiedererlebte Primal scene, für das über alle levels korrekt vermittelte, in all seinen Momenten elaborierte Urerleben: »The scene is a means for unlocking a blocked feeling. It is not an end in itself.« (Janov 1980, S. 59, Anm. 2)
Es gibt im Sinne der Primärtherapie nichts, von dem man sagen könnte: »It is an end in itself«. Positiv ausgedrückt: Alles ist in bestimmter Weise nicht als für sich selbst stehend zu erfassen, sondern nur als der relative Ausgangspunkt, um noch tiefer in die Sache einzudringen: Die Methode der bestimmten Negation (d. h. Fühlen), das ist die Methode der Primärtherapie, das ist die als Methode der bestimmten Negation aufzufassende Sache der menschlichen Zusammenhangsweise selbst.
2.1.1.2. Erste, vorläufige Bestimmung des Verhältnisses eines »klassisch« und eines »dialektisch« gedachten Aussageschemas 2.1.1.2.1. Charakterisierung der Grundform des dialektisch gedachten Zusammenhangs Der Schritt, die Janovsche Denkfigur der »connection« im Sinne der Grundform eines dialektisch gedachten Zusammenhangs zu präzisieren, erfolgt im Kontext des Anliegens dieser Arbeit im Hinblick darauf, dass von hier aus weitere Schritte möglich werden, um die Beziehung der primärtherapeutischen und der normal zu nennenden Auffassungsweise wissenschaftlicher Sachverhalte weiter zu klären; denn wenn Janov alle bestehenden Theorieansätze im logischen 327 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Schema seiner Primal hypothesis integrierbar machen und so aufheben können will, so ist dies ja nur im Rahmen eines beide Aussageformen integrierenden Schemas der Gegenstandsauffassung möglich, so dass also das logisch höhere, umfassendere Modell den Zugang zu dem im erforderlichen Maße allgemeineren Schema liefern können muss. Anders ausgedrückt: Das neue, dialektische Schema der Gegenstandsauffassung ist im Kontext des hier verfolgten Anliegens nur sinnvoll, wenn sich daraus eine Möglichkeit ergibt, eben dieses allen bisherigen Theorien gemeinsame, »klassische« Schema der Gegenstandsauffassung überhaupt als solches fassbar zu machen und damit zugleich den Zusammenhang des klassischen und des primärtherapeutischen Schemas der Gegenstandsauffassung als verschiedene Ausprägungsformen (Stufen) eines gemeinsamen, umfassenden Grundschemas wissenschaftlicher Gegenstandsauffassung herauszustellen. Um den einschneidenden Wandel in der Gegenstandsauffassung, der den primärtherapeutischen Ansatz gegenüber einem normalwissenschaftlichen charakterisiert, genauer beschreibbar zu machen, soll damit begonnen werden, so einfach wie möglich darzustellen, was es bedeutet, im Sinne von Hegels »Wissenschaft der Logik« dialektisch zu denken; – ich halte diese und die folgenden Beschreibungen für zulässig, indem dieser bahnbrechende Schritt in der Denkentwicklung, den Hegel vollzogen hat, gewiss vielfältig interpretiert werden kann, und d. h., dass er eben, um angewendet werden zu können, erst interpretiert werden muss. Bereits die ersten, einfachen Darlegungen im Zusammenhang mit dem Janovschen Bedürfnisbegriff haben eine Reihe von Kategorien ins Spiel gebracht: Sein, Nichts, Werden; Bewegung; Negation; Negation der Negation; Vermittlung; Aufhebung, Affirmation – deren Nennung allein vielleicht eher stutzig macht als erhellend wirkt. So hat die Darstellung des Basis-Schemas oder der Keimzelle des dialektischen Denkansatzes zunächst vor allem die Aufgabe, die genannten fundamentalen Kategorien zu erläutern. Wie denkt man einen Zusammenhang »dialektisch«? Wann hat ein Zusammenhang die Form, die man – nach Hegel – »vermittelt« nennt? Der erste Schritt der »Wissenschaft der Logik« besagt: Sein (d. h. eine Identität) ist notwendig als ein Verhältnis zu denken: SeinNichts, das Identität bedeutet. 328 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Die einfachste Grundform der Prädikation A = A ist folgendermaßen aufzufassen: (1) A ist: Sein, dass (2) A in der Form eines Verhältnisses ist, was besagt, dass man, um A zu erfassen, nicht bei A stehen bleiben kann; dass es vielmehr notwendig ist, A zu verlassen, um A zu erfassen, dass sich A in einem gewissen Spielraum von A und Nicht-A (d. h. A und B) herausstellen muss: Sein – Sein-Nichts; und dass (3) aus dieser Differenz: A und Nicht-A (oder A und B), die A bedeutet, die Identität qua Bestimmtheit von A erkennbar wird. Dieses ist der kritische Punkt: Wie ist nun dieses A aufgrund der charakteristischen Ausprägung des Verhältnisses von A und B zu denken? Wie ist das Verhältnis: Sein-Nichts, das Sein zum Ausdruck bringen soll, auf Sein zu beziehen? – Die Bestimmtheit A, die selbst in der ärmsten Ausprägung der Kategorie des Seins nur als ein Verhältnis fassbar ist, das A und irgendeine Form von Nicht-A umfasst, ist erst dann vollständig (im Sinne eines »vermittelt« zu nennenden Zusammenhangs), wenn auch in minimalster Form, expliziert, wenn das Verhältnis, das A besagt, auf ein zweites Verhältnis bezogen ist, welches A »bedeutet«. Der springende Punkt dieses Verständnisses von Zusammenhang ist das primäre Zueinander-Passen zweier Verhältnisse, derart, dass das erste Verhältnis vom zweiten aufgenommen werden kann. Die Keimzelle des dialektischen Denkens ist also, dass man bei einem Verhältnis beginnt, das so zu denken ist, dass es genau das Objektebenenverhältnis zu einer zugehörigen Metaebene ist. Wenn man nicht umhin kann zuzugeben, dass menschliches Erkennen, von dem in wissenschaftlichen Zusammenhängen die Rede ist, niemals mit einem Schlage erfolgt, sondern stets über eine Auseinanderlegung (eine eingehende Dar-legung: dia-legere) dessen erfolgt, was eine Sache ist, so dass die einfache Äußerung: A = A nichts besagt (Sein – nichts weiter), so muss man sich also von A entfernen in Richtung der Negation der unmittelbaren Einheit mit der Sache des Ausgangspunktes, welches Hineingehen in die Negation jedoch den positiven Sinn hat, eine solche Differenz zu suchen und herauszufinden, die als ein erster charakteristischer Ausdruck der gesuchten Identität in Frage kommt: jene Beziehung von A und Nicht-A, die genau A bedeutet; und wenn man dies zugibt, so dass man also eine für die Identität der zu begreifenden Sache passende Differenz einer Anfangsgegebenheit als ein Verhältnis jener zu sich suchen muss, so 329 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
wird klar, dass man, um zu einem haltbaren Ausdruck für die Identität von A zu gelangen, eine übergeordnete Beziehung im Sinne einer Metaebene braucht, und dass es dieses Ins-Verhältnis-Kommen der Objektebenenbeziehung und der Metaebenenbeziehung ist, jenes plötzliche Zusammenklingen zweier Differenzen: der A-Differenz auf der Objektebene und, aufgrund der charakteristischen Differenz dieser Beziehung zur Metaebenenbeziehung, die entsprechende ADifferenz auf der Metaebene, wodurch die Suchbewegung im Sinne des Ausgangsverhältnisses plötzlich im Anklangfinden Halt gewinnt und »gut aufgehoben«, d. h. als ein Verhältnis, das stimmt, bestätigt oder, in der Terminologie Hegels, affirmiert ist. Eine Beziehung, die »Vermittlung« genannt werden kann – jenes dialektisch ausgezeichnete Verhältnis –, kann nur als ein Objektebenen-Metaebenen-Verhältnis gedacht werden. Vermittlung bedeutet eine »Darlegung«, und dies impliziert ein Verhältnis, das in ein zweites Verhältnis aufgenommen wird; das zweite Verhältnis muss also das Ganze des ersten Verhältnisses als solches fassbar machen; so kann man sagen: Das zweite Verhältnis ist die höhere Form desselben Verhältnisses; ist der Zusammenhang der beiden Verhältnisse »innig« (das zweite Verhältnis enthält das erste und macht es als Ganzes fassbar); so legt er Identität dar. Die Grundform eines dialektisch aufgefassten Zusammenhangs ist: Ein Verhältnis, das Identität BEDEUTET. Obwohl dies so einfach und, wie ich meine, einleuchtend ist, hat diese Sicht so viele erläuterungsbedürftige Implikationen. Wichtig ist: Man beginnt nicht mit dem Metaebenenverhältnis. Man beginnt mit der Differenzierung im Sinne der Objektebene. In den Begriffen der Anfangskategorien heißt dies: Mit »Sein« anfangen heißt gerade nicht, mit dem »großen ERSTEN« anzufangen, es ist gewissermaßen sehr unbedeutend: Es ist Nichts, es ist nicht die gesuchte Identität, sondern eine erste Unmittelbarkeit, die man verlassen muss, um das, was sie ist, durch eine geeignete Darlegung zu ermitteln. Man müsste diesen Objektebenenstatus durch arabische Buchstaben kennzeichnen: a – nicht-a (oder b, denn das nicht-a ist ganz unbestimmt, irgendeine tastende Differenzierung). Das Verhältnis a-b bedeutet einfach: Man hat einen Ausgangspunkt a und geht aufmerksam weiter, von a weg, aber von a geleitet; dieses Weggehen ist eine Weise, a zu erforschen, das, was a ist, darzulegen, eine Differenz zu bilden, die a bedeuten soll. Die dialektische Intuition 330 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
sagt nun: Eine Ebene der Differenz genügt nicht, um diese als Ausdruck der Identität von a zu erkennen; aber es existiert – als Grundimplikat von Sein überhaupt – zu jeder Differenz, die nicht in die Irre geht (so dass die Herausbildung von Negation entgleist, zu nichts führt), sondern, im Sinne der Vernunft, das Gesetz des Aufbaus des Wirklichen offenbart, gewissermaßen eine höhere Oktave, die in Resonanz kommt, wenn das charakteristische Verhältnis auf der Objektebene erreicht ist: Nun ist das a, das A bedeutet, gefunden und damit eine Demonstration des Identitätsgesetzes erreicht. Indem nun, durch das In-Resonanz-Kommen des Metaebenenverhältnisses, das Objektebenenverhältnis a – nicht-a als identitätsadäquat bestätigt ist, gewinnt umgekehrt das sogenannte Metaebenenverhältnis durch dieses Verhältnis Realität; es hat in a – nicht-a einen bestimmten Anhaltspunkt für sein Dasein gefunden. Das in dem höheren Verhältnis A aufgehobene Objektebenenverhältnis a – nicht-a, welches nun die innere Strukturierung, die Bestimmtheit von A ausmacht, ist um das entsprechende, hinzugezogene Metaebenenverhältnis bereichert, denn es handelt sich ja jetzt um das Verhältnis zweier Verhältnisse: Eine zu bestimmende Identität ist ein Verhältnis a, das ein Verhältnis A BEDEUTET. Jetzt erst, nachdem sich eine Demonstration von Identitätsvermittlung abgespielt hat, kann das Metaebenenverhältnis als wirkliche Voraussetzung des Objektebenenverhältnisses thematisiert werden; indem das Metaebenenverhältnis das Objektebenenverhältnis in sich aufgenommen hat – indem es auf dieses angesprochen hat –, machte es dessen Bestimmtheit als Form seiner selbst fassbar und trat somit selbst ins Dasein. Ein neuer Ausgangspunkt ist erreicht, der zuvor nicht da war: er ist geworden oder zustande gekommen. Dieses Grundschema eines dialektisch gedachten Zusammenhangs nach Hegel lässt die bekannten Eigentümlichkeiten der Janovschen Aussageweise klarer werden, und zwar sowohl formal – im Hinblick auf die Janovsche Figur der Bedeutungskonstitution der Begriffe – als auch inhaltlich – etwa das Konzept der Bedürfnisbefriedigung. So sei an dieser Stelle noch einmal die Keimzelle des Janovschen Ansatzes, seine Auffassung von Bedürfnisbefriedigung, beleuchtet. Was ist ein »echtes«, primäres Bedürfnis? – Das, was gefühlt werden kann und sogar, wenn sich die Dinge richtig entwickeln sollen, gefühlt werden muss. Was aber bedeutet Fühlen? – Fühlen bedeutet zunächst dasjenige, was Befriedigung ermöglicht, die unmit331 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
telbare Voraussetzung dafür, dass das Bedürfnis befriedigt werden kann. So ist ein Sein (ein Bedürfnis) eine Differenz (Bedürfnis-Fühlen) die Identität bedeutet: Befriedigung. In der Bedürfnisbefriedigung erweist sich Identität, indem sie die Weise ist, durch welche eine Differenz, die genau das Bedürfnis ist, bestimmt (im Sinne von: aufgehoben) wird. »Befriedigung« ist aufzufassen als Zusammenstimmen zweier Verhältnisse: Mit dem ersten Verhältnis, der im Fühlen deutlich werdenden Differenz, die das Bedürftigsein ist, kann man erst etwas anfangen, wenn eine zweite Differenz auftritt, derart, dass sie die erste Differenz als Ganze in sich aufnimmt, wodurch diese als eine Bestimmtheit der in dieser Bewegung neu auftretenden Verhältnisebene wirkt. Indem es das als Bedürfnis aufzufassende Verhältnis ist, das in der Befriedigung aufgehoben wird, so geschieht diese Aufhebung des Bedürfnisses in der Befriedigung doch in der Weise, dass gleichzeitig eine andere, neue Bedeutung auftaucht, so dass die Genugtuung des Bedürfnisses notwendig damit verbunden ist, dass die Verhältnisart Bedürfnis-Fühlen zurücktritt bzw. bestimmt ist als der Anfang des Bestimmtwerdens einer neuen Verhältnisart, eines neuen Inhalts. Das Zurücktreten des Bedürfnisses in der Befriedigung ist nicht so zu verstehen, dass ein Defizit ausgeglichen wird und nachher nicht mehr besteht, so dass das Nicht, dessen Ausdruck das Bedürfnis-Fühlen war, einfach rückgängig gemacht würde. Befriedigung drückt mehr aus als das blanke Nicht-mehr-sein einer negativ empfundenen Bestimmtheit. Befriedigung besagt vielmehr: Indem das Bedürfnis in der Bedeutung des ersten Verhältnisses (Bedürfnis-Fühlen) befriedigt wird, geschieht dies, indem noch etwas ganz anderes geschieht, nämlich die Befriedigung des GROSSEN BEDÜRFNISSES ZU FÜHLEN. Die Bedürfnisse müssen befriedigt werden (im Sinne der Ebene, auf der sich das Bedürfnis-Fühlen zuerst artikuliert) und das hat den Sinn, dass das Kind FÜHLT. Im Befriedigungsereignis finden zwei Typen von Verhältnissen zusammen. Bedürfnisbefriedigung bedeutet (1) Befriedigung der Bedürfnisse und (2) etwas anderes, dasjenige, worum es dabei eigentlich geht: Das Selbst fühlen, indem Fühlen (Objektebene) MAN-SELBST-SEIN (Metaebene) bedeutet, so dass der Zusammenhang dieser beiden Verhältnisse Identität darlegt. Auf den gröbsten Nenner gebracht, ist die Differenz eines nichtdialektischen und eines dialektischen Auffassungsschema so zu charakterisieren, dass es im Sinne des ersten genügt, ein Verhältnis bzw. ein Verhältnisgefüge als einen bestimmten Sachverhalt zu identifi332 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
zieren (A = A): »Bei der Bedürfnisbefriedigung geht es darum, einen Defizit auszugleichen« (wobei man auf der Ebene, auf der man »Bedürfnis« aufgefasst und formuliert hat, verbleibt), während das dialektische Denkschema vom Ansatz her so angelegt ist, dass ein Wechsel des Standpunkts oder der Auffassung der Sache erfolgt, so dass ein Sachverhalt umso ausdrücklicher dialektisch charakterisiert ist – d. h. zeigt, was Dialektik besagt, und daher angemessen im dialektischen Modus begriffen werden kann –, wenn er notwendig einen Ebenenwechsel impliziert: Ein Sachverhalt – wenn sich an ihm die Essenz des Dialektischen zeigen soll – ist aufzufassen als ein Sachverhalt im Verhältnis zu einem entsprechend höheren (und entsprechend verändert wirksamen) Sachverhalt. »Bedürfnisbefriedigung ist Bedürfnisbefriedigung«, und das bedeutet, dass man das Selbst FÜHLT. Diese einfache Differenz in der Auffassung eines Sachverhalts – deren Unabweisbarkeit auf den ersten Blick vielleicht noch nicht so deutlich zu erkennen ist – hat sehr schwerwiegende Konsequenzen, die im Folgenden weiterzuentwickeln und dadurch konkreter und besser verständlich zu machen sind, denn die Verdeutlichung dieser Differenz eines nicht-dialektischen und eines dialektischen Denkansatzes – so dass diese Differenz wissenschaftstheoretisch fruchtbar werden kann – ist der Punkt, an dem sich entscheidet, ob für die Janovsche Aussageweise insgesamt ein kohärenter Sinn aufgewiesen werden und es damit gelingen kann, das grundsätzlich Neue der Primal hypothesis wissenschaftstheoretisch-forschungslogisch integrierbar zu machen. Die Grundform des dialektischen Zusammenhangs durchzieht formal wie inhaltlich die gesamten Äußerungen Janovs: Irgendetwas, wovon er spricht, ist dies und das […]; und um zu verstehen, was es ist, muss man es als den Ausdruck von etwas ganz anderem auffassen. Man hat, was Bedürfnisbefriedigung im Sinne der Primärtherapie ist, einfach nicht begriffen, wenn man sagt: Bei der Bedürfnisbefriedigung geht es eben um die Befriedigung der Bedürfnisse (und dabei wäre es wirklich gleichgültig, ob man diese Bedürfnisse physiologisch oder »psychologisch« auffasst). Wie immer man die hier gebrauchten Begriffe bestimmen würde, physikalistisch oder mentalistisch: eine solche Feststellung entspräche einer formallogischen Prädikation: A = A; ein Sachverhalt ist ein Sachverhalt! Wenn man von einem anders gearteten Verhältnis redet, so artikuliert man eben die Strukturierung eines anderen Sachverhaltes. Die dialektische Aussageweise geht so vor: Das, womit begonnen wird, der unmittelbare Aus333 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
gangspunkt für die Sache, ist grundsätzlich nicht dasjenige, worum es in erster Linie dabei geht; man kann nicht mit Erkenntnis im vollen Sinn beginnen; aber es ist ein Anfang, aus dem sich mit logischer Notwendigkeit das entwickelt, was mehr und mehr ein begriffener Sachverhalt genannt werden kann. Janov sagt: »A blocked (not feeling, B. V.) person could conceivably touch someone else all day long and feel nothing. Not exactly ›nothing‹ – he will feel the old hurt, perhaps of not having any warmth early in his life; only he won’t know that is what he is feeling.« (Janov 1970, S. 75 f.)
Fühlen, der Gegenstand, für den sich Janov interessiert, beginnt – in der Primärtherapie wie, nach Janov, im menschlichen Leben – bei: »feeling nothing. Not exactly nothing […] hurt, perhaps of not having any warmth early in his life.« Das Ausgangssein ist: nichts, keine Bestimmtheit. Nicht rein gar nichts, sondern schließlich ein bestimmteres Nichts, so dass etwas Bestimmtes nicht ist (perhaps of not having any warmth). Dieses bestimmte Nichts ist anwesend, bevor man davon »weiß« (only not knowing what one is feeling). Und schließlich, in der richtigen Weise weiterentwickelt, wird es als das bestimmte Nichts, das es ist, deutlich. In dem Satz: »Es ist nichts« (feeling nothing) sind zwar Sein und Nichts dasselbe (nichts Bestimmtes), aber auch wieder nicht; das, was nichts (Bestimmtes) ist, ist der Anfang einer werdenden Bestimmtheit. Indem das Nichts an Deutlichkeit gewinnt, bedeutet es bereits eine Bestimmtheit: irgendetwas, das nicht ist. Die Bewegung verlagert sich von der Unmöglichkeit – dass etwas, das ist, nicht ist – notwendig wieder auf den positiven Pol des »Seins« von Nichts als ein durch eine Bewegung des verschiedenartigen Differierens vom Sein zum Nichts bestimmtes Sein: »[…] hurt, perhaps of not having any warmth early in his life«. Das schmerzlich Entbehrte wird, zur vollen Deutlichkeit entwickelt, erfassbar als eine positive Bestimmtheit dieses menschlichen Zusammenhanges selbst, welcher die entbehrte Qualität: Wärme, Nähe, eine von sich verströmender Identität erfüllte Atmosphäre, ist. So geht man also davon aus, was nicht der gesuchte, zu erkennende Gegenstand genannt werden kann, was aber doch in einer Beziehung zu ihm steht, indem man einen Ausdruck, ein Verhältnis sucht (etwa eine ganz bestimmte, konkrete Ausprägung des Bedürfnisses nach Wärme und Nähe), welches dann und nur dann als ein erster adäquater Ausdruck (Begriff, Bestimmtheit) der Sache gelten 334 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
kann, wenn es diesem Verhältnis gelingt, ein zweites Verhältnis zum Erklingen zu bringen (und erst dadurch würde etwa in der Primärtherapie ein solcher Anfang von Empfinden-Fühlen »of not having any warmth early in his life« zum eigentlichen Primärerleben), mit welchem das erste Verhältnis so harmoniert, dass dieser neu entstandene Klang eine Art von Offenbarung dessen genannt werden kann, was das erste Verhältnis eigentlich ist. Dialektisch zu denken bedeutet, vom Geheimnis des »Seins«, d. h. der Negation, Gebrauch zu machen, denn der Erkennende befindet sich ja immer auf der Seite des relativen Nichtseins, indem die Herausstellung der Bestimmtheit des SEINS immer weitergeht, so dass eine erreichte Bestimmtheit als der wahrheitsgemäße Ausdruck einer Stufe von »Sein« immer nur als die jeweilige Stufe des Nichtseins einer noch größeren Offenbarung dessen gewertet werden muss, was die Identität von »Sein« BEDEUTET. Mit dem »Sein« kann man nur umgehen in der Form der Negation: in der Form von Verhältnissen, die das Nicht einer Sache so darlegen, dass ein Verhältnis als das genaue Nicht eines entsprechenden anderen Verhältnisses – so dass also die Definition der Beziehung von Objekt- und Metaebene erfüllt ist – bestätigt wird, indem das neue Verhältnis das erste Verhältnis in sich aufnimmt. Das sogenannte Objektebenenverhältnis hat den Sinn – d. h., es ist nur dann Ausdruck der Identität seiner selbst –, eine Ausprägung zustandezubringen, die jenes andere Verhältnis hervorruft, durch welches es aufgehoben werden kann, so dass es »Moment« des Ausdrucks eines größeren (logisch höheren) Verhältnisses wird; und es ist diese Art von Zusammenhang: der im Übergehen eines Objektebenenverhältnisses in ein Metaebenenverhältnis einen logischen Ebenenwechsel impliziert, welcher ein Beispiel, eine Demonstration, ein Sich-Ereignen von Identität genannt wird; und dieses ist die »intensivere, kompliziertere« Art des Zusammenhängens gegenüber einer normalen Art von Zusammenhang, von der Janov spricht. Damit wird der vielzitierte doppelte Sinn des Hegelschen »Aufgehobenseins« besser verstehbar: »Das Objektebenenverhältnis ist im Metaebenenverhältnis aufgehoben«, bedeutet einmal: Mit dem Ereignis der Aufhebung wird deutlich, dass das Verhältnis, um das es zuerst ging, relativ unwichtig war – es ging eigentlich »um etwas ganz anderes«; der springende Punkt der Differenzierung im Sinne des Objektebenenverhältnisses war, das entsprechende höhere Verhältnis auszulösen, entstehen zu lassen, in Resonanz zu bringen. In335 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
sofern verliert das Objektebenenverhältnis an Bedeutung; es tritt zurück. Gleichzeitig gewinnt es aber im Eingehen in das höhere Verhältnis, an das es seine Realität abgibt, in einem anderen als dem normalen Sinn eine unverlierbare Bedeutung: es BEDEUTET Identität; d. h., es geht in jenes Geschehen ein, das nach Hegel schlechthin primär ist, indem es dasjenige ist, was sich in allem, was auch immer die Bezeichnung eines »Ereignisses« verdient, abspielt: das Übergehen einer zunächst entwickelten, vordergründigen Bedeutung in eine tiefere oder höhere Bedeutung, die einerseits auf der Voraussetzung der vordergründigen Bedeutung entstehen kann, andererseits aber, indem sie einmal im Vergehen jener entsteht, selbst als deren Voraussetzung fassbar wird, durch die das vordergründige Verhältnis als nur vorübergehendes und aufzuhebendes Mittel Bedeutung gewinnen konnte. Das einfache logische Grundgerüst der UND-Verbindung: Ein Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET – oder: es ist ein Verhältnis UND dieses Verhältnis bedeutet ein anderes Verhältnis –, enthält eine Entfaltungskapazität, die wirklich ungeheuerlich ist. Das Schema ist klar und einfach – UND eine Ungeheuerlichkeit an daraus hervorquellender Subtilität. Man kann mit dem Grundgewebe der ersten Kategorien der Hegelschen Logik (d. h. mit: Sein, Nichts, Werden, Entstehen, Vergehen) zu denken beginnen und wirklich an keine Grenze kommen – nur an die Grenze der eigenen Kraft, die Implikationen weiter zu verfolgen. Dieses Phänomen darf und muss wohl wirklich ein Geheimnis genannt werden und ist gerade darin ein Ausdruck, wie das Wirkliche zu begreifen ist – so dass tatsächlich die Sache klarer wird und somit in ihrem Charakter als ein Geheimnis klarer wird. Das Denkmittel der Hegelschen Logik: Die »Theorie der Negation«, funktioniert gerade so und nur dann richtig, wenn man es so benutzt, das man das, was man hat, grundsätzlich als ein Mittel einsetzt, um das nächsthöhere Mittel zu gewinnen (Bedürfnisbefriedigung), und zwar deshalb, weil Bedürfnisbefriedigung nur dann ist, was sie ist (ihre Bestimmtheit), wenn sie als die Bestimmtheit einer neuen Sache aufgefasst werden kann, die die alte aufhebt: FÜHLEN. Es geht um Befriedigung in der Weise, dass Befriedigung das genaue Nicht einer neuen Sache ist, die dieses Nicht als Ganzes, als die Bestimmtheit, die sie ist, aufweisen kann. Das in der Befriedigung verschwindende, aufgehobene Bedürfnis ist Teil (Hegel sagt »Moment«) einer neuen Stufe von Sachverhalt: Indem das Kind in der Stillung 336 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
seiner frühen Bedürfnisse Befriedigung erfährt, beginnt es, indem es diese Befriedigung fühlt, sich selbst zu FÜHLEN und erlangt damit eine ganz neue Qualität von Sein. Der Doppelcharakter der Bedürfnisbefriedigung, so dass sie zwei Bedeutungen enthält, die in der Beziehung einer logischen Ebenendifferenz stehen, ergibt sich unabweisbar auch aus der Janovschen Konzeption des Urschmerzes. Janov sagt: Wenn die Bedürfnisse nicht befriedigt werden, leidet das Kind, und diese Urschmerzen bleiben so lange bestehen, bis alle nicht erfolgten Befriedigungen erlebt und somit FÜHLEN als die für die Sache des Menschseins natürliche Zusammenhangsform wiederhergestellt ist. Nun ist aber der Sinn der frühen Bedürfnisbefriedigung zunächst, vordergründig gesehen, das Überleben des Kindes zu gewährleisten (»Since the infant cannot himself overcome the sensation of hunger (that is, he cannot go to the refrigerator«, Janov 1970, S. 22), bis es für dieses Überleben selbst sorgen kann. Dieser Gesichtspunkt ist bei Janov deutlich vertreten. Die Neurose ist aber gerade jene Verfassung, da dieser unmittelbarvordergründige Sinn der Bedürfnisbefriedigung ja erfüllt ist: Der Mensch hat die Kindheit überlebt und ist grundsätzlich in der Lage, für sich selbst zu sorgen. So offenbart die Neurose die duale Bedeutung der primären Bedürfnisse: Die frühe Bedürfnisbefriedigung hat zunächst den Sinn, dass die Bedürfnisse des Kindes befriedigt werden, so dass es überlebt. Nun sind zwei Fälle zu unterscheiden, die beide auf dieselbe Sachverhaltkonzeption hinauslaufen: Entweder die Bedürfnisbefriedigung ist von Anfang an bereits in der richtigen Weise – gemäß dem menschlichen Zusammenhang primär angemessenen dialektischen Zusammenhangsschema – erfolgt; dann wird die Bedürfnisbefriedigung die Konsequenz haben, dass das Kind FÜHLT, und damit wird die erste Form der Bedürfnisbefriedigung, indem sie als Voraussetzung dem Auftreten der zweiten Verhältnisform gedient hat, als nur sekundär und für ihre bloße Herausbildung auf die Voraussetzung des von Anfang an wirksamen Metaebenenverhältnisses angewiesen gekennzeichnet. Der zweite Fall, wo die Bedürfnisse »nicht befriedigt werden«, unterstreicht nun vollends die logische Priorität des sogenannten Metaebenenverhältnisses bzw. den Umstand, dass die Befriedigung der Bedürfnisse zwar zunächst den Sinn hatte, die Bedürfnisse zu befriedigen, eigentlich aber einen anderen Sinn hatte, indem der springende Punkt bei der Bedürfnisbefriedigung ist, dass sie die Weise ist, wie sich der menschliche Zusammenhang ursprüng337 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
lich darstellt: als ein Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET. Was geschädigt wird, wenn die frühe Bedürfnisbefriedigung nicht in ausreichendem Maße gelingt, das ist jene Figur, die der Schlüssel zur Erschließung der Sache des Menschseins ist, nämlich von dem, was ihm zugänglich ist (»need is what we can relate to early in life«, Vgl. Janov 1970, S. 387), einen solchen Gebrauch zu machen, dass er erlangt, was er nicht ist; in dem Sinn, dass er die zu dem, was er zunächst ist, genau entsprechende Metaebene, die er eigentlich ist (so dass er die Beziehung zu ihr herstellen muss) erreicht. FÜHLEN ist eine Sache des Alles-oder-Nichts (Janov 1970, S. 289): Entweder das erste Verhältnis gelangt zur Aufhebung oder nicht. Das Metaebenenverhältnis wird ja eben dadurch herangezogen, dass das Objektebenenverhältnis eine genaue Ausprägung erlangt, die bedeutet, dass es ganz es selbst ist; ist es nicht vollständig ausgeprägt und kommen Artikulationsformen von »Nicht« nicht zustande, kommt es nicht zum Ereignis der Aufhebung, nicht zum FÜHLEN, nicht zur Demonstration von Identität, nicht zum vollen Menschsein im Sinne dieser Definition. Was das unbefriedigt gebliebene Kind im Einzelnen entbehrt hat, ist nur insofern belangvoll, als dies ein Mittel ist, das zur Ausprägung jenes Verhältnisses beiträgt, welches die Form hat, aufgehoben werden zu können: »It is not the scene as such; it is the meaning to the child that makes it devasting. An apparently minor threat or mild spanking can be subjectively as traumatic as being sent away to an orphanage.« (Janov 1970, S. 34) »It is not an end in itself.« (Janov 1980, S. 59 Anm. 2)
Hier wird etwas vom Nadelöhr des Paradoxes deutlich, das wohl wirklich das Herzstück eines dialektischen Verständnisses von Wirklichkeit ausmacht: Die vordergründige Sachverhaltsstrukturierung, von der jeweils ausgegangen wird, ist wichtig und ernstzunehmen – vielleicht mehr ernstzunehmen als bei einer normalwissenschaftlichen Gegenstandsauffassung, die die Tatsache, dass ein erkannter Gegenstand notwendig immer mehr bedeutet, als die jeweils artikulierte Struktur, als die relative Beliebigkeit dieser bestimmten Deutung und daher die Möglichkeit des Übergangs zu einer anderen (logisch gleichwertigen) Deutung verarbeitet –, weil genau sie das Mittel ist, um aufgehoben werden zu können. Das Ziel ist, dass die vordergründige Strukturierung aufgehoben wird und damit als solche nicht mehr wichtig ist (das Klebenbleiben an irgendeiner Form ist »neurotisch«, ist undialektisch); aber dieses Ziel ist nicht so zu erreichen, 338 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
dass man über die Strukturmomente der Ausgangsform einfach hinweggeht, da sie ja nicht von endgültiger Wichtigkeit sind (»you cannot decide to get over it« Janov 1973a, S. 166). Jede Einzelheit eines nicht zustande gekommenen Nicht, jedes Nicht, von dem der Zusammenhang konkret betroffen war, das aber als solches auszubilden versäumt wurde, muss gefühlt werden – es ist wie bei einem Zahlenschlüssel: jede Zahl muss richtig eingestellt sein, damit jene Konstellation erreicht wird, die stimmt, so dass sich das Schloss öffnet, und an der Präzisionsforderung an diese Einstellung in allen relevanten Momenten ist nicht zu rütteln, auch wenn es ja darum geht, das Schloss und den Zustand des Verschlossenseins aufzuheben. Bleibt man jedoch bei der vordergründigen Strukturierung stehen, so wird sie falsch, obwohl es richtig war, sich auf ihre Verhältnisse einzulassen; so impliziert die dialektische Auffassung von Zusammenhängen eine notwendige Bewegung im Sinne einer Veränderung, die als Werden zu verstehen ist. Man kann bei nichts (Bestimmtem) stehenbleiben, sich an nichts auf die Dauer festhalten – außer am Gesetz der Negation, der Methode der bestimmten Negation selbst. Das, worum es geht, ist nicht auf der Ebene, auf der es zunächst beschrieben wird, zu erfassen – das bezieht sich auf die gesamte Bedürfnisbefriedigung. Es geht nicht um die Bedürfnisbefriedigung in dem Sinn, in dem sie zunächst fassbar wird: Bedürfnisbefriedigung. Es geht, indem es um Bedürfnisbefriedigung geht, um etwas anderes: um die subjektive Bedeutung, die Bedeutung im Hinblick auf SUBJEKTIVITÄT. Das ist aber nicht etwas Willkürliches, Obskures, nicht eine ärgerliche Verdopplung: Es ist genau die Stufe, die hinzugenommen werden muss, damit für diese größere Zusammenhangsform x gilt: »x ist ein menschlicher Zusammenhang«. Es ist der Mechanismus der Hinwegarbeitung von Bedeutungsebenen, die nur dann wahr sein können, indem sie einer ganz neuen Stufe von Sachverhalt Bestimmtheit geben und ihn so konkret werden lassen, wobei klar wird, dass der neue Sachverhalt als der eigentliche Grund für die Herausbildung schon jener Verhältnisse gelten muss, deren Verschwinden sein Hervortreten bedingte, der Identität vermittelt. Die härteste Frage in der Auseinandersetzung mit einem normalen, nicht-dialektischen Auffassungsschema wird sich wohl auf den Punkt konzentrieren: Warum sollte man »aus logischen Gründen« die Ebene der ersten Verhältnisse verlassen? Wie kann man das Modell der UND-Verbindung, das geradezu als eine Anweisung verstan339 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
den werden muss, immer neue Typen von Sachverhalten entstehen zu lassen, der Einwirkung des Ockhamschen Rasiermessers zu entreißen? – In einem gewissen Sinn kontrapunktiert die Hegelsche Theorie der Negation diese Handlungsanweisung, so dass die dialektische Auffassung des Funktionierens von Wirklichkeit den Ockhamschen Satz, mehr auf der Linie einer Sokratischen Maieutik, vielleicht so paraphrasieren würde: »Res sunt multiplicanda secundum necessitatem.« – Jedoch bedeutet die »dialektische Vermehrung« nicht einfach eine Vermehrung um irgendwelche neuen Gegenstände, sondern den gezielten Übergang zu einer neuen Erkenntnisstufe im Sinne eines Kategorienwechsels, einen Übergang, dessen Vernünftigkeit im Rahmen einer systematischen Kategorienlehre diskursiv dargelegt werden kann, was in den Abschnitten dieses zweiten Teils der Arbeit geschehen soll. 2.1.1.2.2. Die »innere Negation« als Verbindung zweier kategoriallogischer Stufen von Bestimmtheit Identität als Zusammenhang, als differente Bezogenheiten von Differenz-Verhältnissen: dies ist der von der kategorialen Analyse veranschlagte allgemeine Rahmen, aus dem jegliche sprachliche Äußerung gewiss nicht herausfallen kann. Janov aber – und diese Feststellung hat die bisherige Darlegung insgesamt begleitet – macht von diesem Schema der Beziehung von Differenzverhältnissen verschiedener logischer Stufe einen verblüffend neuen und, dem ersten Eindruck nach, verwirrenden Gebrauch; genauer gesagt, ändert er im Verlauf seiner Äußerungen die Aussageform für Begriffsbedeutungen. Diese eigentümliche Veränderung im sukzessiven Abheben von einem normalen Umgang mit Bedeutungen wissenschaftlicher Begriffe bis hin zum Widerspruch dazu und daraufhin erfolgender Wiederannäherung an den normalen Gebrauch (und dieses Sprachverhalten im Sinne einer systematisch wiederkehrenden Figur) wurde im ersten Teil dieser Arbeit ausführlicher dargestellt. Diese Figur sei, davon wurde ausgegangen, als ein authentischer Ausdruck des genuinen Moments der Janovschen Erfahrung zu werten, und eine wissenschaftliche Berücksichtigung derselben erfordere also eine geeignete logische und wissenschaftstheoretische Deutung dieser zentralen Besonderheit der Janovschen Sprache. Janov vollzieht im Verlauf seiner Äußerungen einen Standpunktwechsel, der, seinem eigenen Verständnis nach, einen Übergang von einer niedrigeren – der »normalen« – zu einer höheren Aussage340 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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form bedeutet, welche gegenüber der normalen als Metastandpunkt auftritt. Das Denkmittel, um den einschneidenden Standpunktwechsel, den die Primärtherapie thematisiert, logisch-begrifflich beschreiben und somit in den wissenschaftlichen Reflexionszusammenhang ziehen zu können, ist die Theorie der Negation als die fundamentale Perspektive der systematischen Kategorienlehre Hegels. Wie weiter oben ausgeführt, ist eine hierarchische Ordnung katagoriallogischer Bestimmtheiten und damit ein Wechsel des kategoriallogischen Hintergrundes von Aussagen in Richtung auf höhere Stufen so zu denken, dass zunächst Differenzverhältnisse expliziert werden, die alle insgesamt, um Erkenntnis genannt werden zu können, als Negation des Ideals der Wahrheitserkenntnis: nämlich der IDENTITÄT, gelten müssen, jedoch so, dass dieser Negationscharakter der explizierten Sachverhaltsstrukturen noch im Hintergrund bleibt – bis schließlich dieser Negationscharakter selbst hervortritt und mit dem Explizitwerden der Metabestimmtheit der bisher entfalteten Bestimmungen eine diesen gegenüber neue Stufe von Bestimmungen erreicht wird. Der Janovsche Ansatzpunkt ist im Rahmen einer systematischen Kategorienlehre genau an jener Stelle zu markieren, da die Bestimmtheiten der Kategorien der äußerlichen Kohärenz – indem die explizierten Verhältnisse bis zu einem gewissen Grade sind, was sie sind: vorläufige Formen von Identität – soweit entfaltet wurden, dass es nun möglich und sinnvoll ist, auf den Metastandpunkt überzuwechseln und die in der Entfaltung der Sachverhaltsstrukturen mitgesetzte Metabestimmtheit: dass diese unter dem Gesichtspunkt der Identität artikulierten Differenzverhältnisse (sind, was sie sind, aber eigentlich) etwas ganz anderes, nämlich Negation von IDENTITÄT, sind, zu akzentuieren. Der Übergang von einer ersten zu einer zweiten, höheren Kategorienstufe ist in der Perspektive der Kategorienlehre zu charakterisieren als ein Übergang vom »Sein« – dass die Äußerungen den Sinn haben, etwas Positives zu bedeuten – zum »Nichts« in dem doppelten Sinne, dass die eigentlichere Bedeutung gegenüber einer vorausgesetzten, vorläufigen, »etwas ganz anderes« ist und d. h., dass sie gegenüber der vorläufigen, die positiv etwas zu sein beansprucht, nichts (d. h. Negation) bedeutet, jedoch nicht schlechthin nichts, vielmehr eine Veränderung der anfänglichen Bedeutung von »Sein«, so dass dieses bestimmte Sein ein bestimmtes Nicht-Sein ist und in dieser Form der Wahrheit des SEINS näherkommt. Der ganz besondere, für seine Äußerungen charakteristische 341 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Umgang Janovs mit Begriffsbedeutungen wird in der Perspektive der Hegelschen Kategorienlehre beschreibbar als ein Übergehen von einer niedrigeren zu einer höheren Kategorienstufe. Dieser so wichtige Schritt zu einem möglichen Verständnis der logischen Struktur des Janovschen Denkens sei nun zunächst unter drei Gesichtspunkten verdeutlicht. Der erste Gesichtspunkt besteht darin, die weiter oben ausgeführte Beschreibung des Janovschen Sprachverhaltens noch einmal aufzugreifen und die dort hervorgehobenen, besonderen Merkmale im Hinblick auf den Ort zu verdeutlichen, den sie in der Perspektive einer systematischen Kategorienlehre einnehmen. – Janov setzt bei einem Thema an, das durchaus einer normalen wissenschaftlichen Behandlung zugänglich ist: die Bedürfnisse im Rahmen der menschlichen Entwicklung. Sehr schnell wird deutlich, dass die umfangreiche Skala der entfalteten Sinnkomponenten der Begriffe für den Gegenstand der Primärtherapie eine andere als die gewohnte Verwendung findet: Die normalen Bedeutungen werden aufgeführt, damit sich das Interesse in der richtigen, gezielten Weise davon abwenden kann, und zwar nicht einfach hin zu etwas ganz anderem – etwa dem unzugänglichen Bereich der menschlichen »Gefühle« –, vielmehr ganz präzise zu dem, was in all den psychischen und physischen Sinnkomponenten in gleicher Weise enthalten ist, zu dem, was sie alle miteinander verbindet und sie, wenn es nur erst hervortritt, logisch einander gleichstellt: Bedürfnisse, wie vielfältig und idiosynkratisch sie nach außen hin erscheinen mögen und wie strikt die Begriffe im Rahmen verschiedener Methoden, sie zugänglich zu machen, auch logisch zu unterscheiden sind, sind relevant in Bezug auf das Eine, in aller Vielfalt Wesentliche, denn Bedürfnisse sind dasjenige, was im Sinne der Primärtherapie FÜHLEN bedeutet. Janov eröffnet einen neuen Zugang zum wissenschaftlichen Gegenstand; dieser erschließt sich über einen Standpunktwechsel, der vom zunächst innerhalb des Rahmens der gewohnten Differenzierungen eingenommenen Standpunkt aus vollzogen wird, dergestalt, dass nun die alten Differenzierungen dahinfallen und ungültig werden, indem sie ihre Bedeutung jetzt (nicht mehr in der alten Weise, d. h. in Abhebung gegeneinander, sondern) aus der Beziehung zu einem neuen Einen mit logischem Metastatus herleiten, woraus ihre neue, ungewohnte Verwendungsart resultiert. Nur dann, wenn der primärtherapeutische Standpunktwechsel vom »Vielen« im Sinne 342 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
der alten Differenzierungen zum »Vielen als Erscheinungsform des Einen, Wesentlichen« einen Wechsel bedeutet, der die alten Komponenten in ihrer bisherigen Form aufhebt, indem tatsächlich die Beziehung zu deren logischer Metaebene zustande kommt, aus der sie sich neu bestimmen, ist es sinnvoll, die neuartige Verwendung von Begriffsbedeutungen im Janovschen Kontext überhaupt zu verstehen zu suchen. Aber die Rechtfertigung dafür, die physischen und psychischen Bedeutungsakzentuierungen in eine neuartige, »totale«, alles umfassende Bedeutung einzuschmelzen, so dass der erstaunte Beobachter lediglich das Zirkulieren dieser einen Bedeutung bzw. das sukzessive Abgerufenwerden der einzelnen, ihm bekannten Sinnkomponenten, wie vom primärtherapeutischen Standpunkt gerade erforderlich, wahrnimmt, kann ja nicht mit einem einfachen Hinweis auf dessen angeblichen Metastatus erledigt werden. Ebenso unwirksam als Rechtfertigung wäre der bloße Hinweis auf die Verwendung der Kategorien »Wesen und Erscheinung« durch Janov (etwa: Janov 1973a, S. 21 f.; 1975, S. 230), welche nach Hegel einer höheren Kategorienstufe angehören als die bei der Erfassung des wissenschaftlichen Gegenstandes üblicherweise dominierenden Kategorien der reinen Quantität. Für eine rationale Begründung des Janovschen Vorgehens ist entscheidend, dass dargelegt werden kann, was der Übergang zu einer neuen, logisch höheren Kohärenzform, was dieser »Wechsel auf die Metaebene« bedeutet; ferner, dass ein Denkhorizont beigebracht werden kann, vor dem die Konsequenzen eines solchen Standpunktwechsels zu ermessen sind, so dass auch geprüft werden kann, inwieweit die Konsequenzen dieses Schritts von Janov selbst erkannt und befolgt sind. Wenn der Übergang Janovs, von einer bestimmten Facette der normalwissenschaftlichen Gegenstandsauffassung ausgehend, zum Bedürfnis-Fühlen im Sinne der Primärtherapie tatsächlich den Status eines Wechsels zur Metaebene haben soll – so dass erst von hier aus das Ganze der bisherigen wissenschaftlichen Gegenstandsartikulierungen in seinem Objektebenencharakter fassbar wird –, dann verschwindet, wenn man nur an den Punkt gelangt ist, an dem der primärtherapeutische Gegenstand: Fühlen, entspringt, die normale wissenschaftliche Gegenstandsauffassung, wie immer man »Bedürfnis« und alle anderen Begriffsbedeutungen zuvor bestimmt hat. Das, was jetzt den Gegenstand des Interesses ausmacht, ist so ganz anders als alles, was wir bisher als die wissenschaftlichen Gegenstände kennengelernt haben; man muss also, um das Neue zu erfassen, 343 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
die Forderung nach dem Erfülltsein des alten Gegenstandsschemas loslassen, davon Abstand nehmen. Dadurch erst gewinnt man Raum für die Frage, woran man sich nun als an das grundlegende Charakteristikum der neuen, höheren Kategorienform halten soll, das als der wirkliche gemeinsame Nenner in allen alten Differenzierungen enthalten ist. Wenn der von der Primärtherapie vollzogene Standpunktwechsel tatsächlich ein Übergehen zu einem Metastandpunkt bedeuten soll, so geschieht dieser Wechsel zunächst als ein Bruch, als eine Art Untergang des gewohnten Denkhorizontes, denn der logische Ort der Metaebene kann ja nur erreicht werden, wenn sich alles, was den alten Standpunkt ausmacht, der Ausdruck der alten Weise der Strukturierung der Totalität, ändert. – Wohin also tritt man, wenn man den gewohnten Denkhorizont völlig verlässt, um die Metabestimmung der alten Weise der Strukturierung der Totalität zu erreichen? Damit beginnt die Aufgabe des zweiten Gesichtspunktes, noch einmal zu beleuchten, in welchem spezifischen Sinn der primärtherapeutische Gegenstand zu den normalwissenschaftlichen Gegenstandsformen ein »Metagegenstand« ist, indem er die Kategorie der Negation als die Essenz aller bisher entwickelten Bestimmtheiten und deren gemeinsame Tiefenbestimmtheit thematisiert. Wie ist der primärtherapeutische Gegenstand durch die Kategorie der Negation bestimmt? – Die bisherigen Abschnitte der kategorialen Analyse haben herauszustellen versucht, wie das Janovsche need-feeling eine Bestimmtheit bedeutet, die ist (Bedürfnis), was sie nicht ist (Fühlen) und damit das Nicht einer reicheren, höheren Bestimmtheit ist (Befriedigung). Aber dieses zunächst als ein einfacher Zusammenhang gefasste »Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET« ist noch nicht die richtige Darstellung des primären Zusammenhangs, denn der Ansatz der Primärtherapie ist nicht einfach die Bedürfnisbefriedigung, sondern: Fühlen von Primal pain. Das Bedürfnisfühlen hat den Sinn, Schmerz zu fühlen, und das Schmerzfühlen nimmt den primärtherapeutisch richtigen Weg, wenn es in Verbindung bringt mit dem Urschmerz. Wenn das Schmerzfühlen – das Fühlen unbefriedigt gebliebener Bedürfnisse – die Bestimmtheit eines Seins, das Negation ist – das durch »Bedürftigsein« bestimmte Verhältnis – als Negation ausdrückt, so ist das Urschmerz-Fühlen noch einmal eine Negation dieses »Seins«, jenes Seins, das Negation ist – wodurch erstmals die Möglichkeit einer neuen, ganz anderen Art zu SEIN ins Spiel kommt.
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Die elementare Form des primären Zusammenhangs ist also als ein Verhältnis von zwei Verhältnissen zu bestimmen: (1) Eine Bestimmtheit (ein »Sein«), die eine Negation bedeutet. (2) Eine Negation, die eine NEGATION bedeutet. Im Rahmen von (1) liegen die Voraussetzungen der Primärtherapie; hier erfolgt, allgemein wissenschaftlich betrachtet, der erste für die Primärtherapie konstitutive Standpunktwechsel, indem »Bedürfnisse« nicht im Sinne eines klassischen wissenschaftlichen Gegenstandes behandelt werden, sondern als dasjenige, was gefühlt wird. Unter dem Gesichtspunkt der Primärtherapie betrachtet, erfolgt hier der Übergang von einem nicht-Janov-spezifischen psychotherapeutischen Vorgehen (irgendeiner Form der Auseinandersetzungen mit den Lernerfahrungen eines Individuums) zu dem Schmerzfühlen als demjenigen, worauf es Janov ankommt, weil es der Knäuel ist, aus dem sich der Faden (»Primal chain«) der Beziehung zum Urschmerz entwickeln lässt. Ist das gelungen und ist eine vorauszusetzende Position, wie immer sie zunächst bestimmt gewesen sein mag, durch den primärtherapeutisch konstitutiven Standpunktwechsel so transformiert, dass nur noch eine Rolle spielt, dass sie Negation ist, so spielt sich das weitere Geschehen im Rahmen von (2) ab, und es geht um die Entwicklung der Negation, die eine NEGATION bedeutet (wobei aber die Beziehung zu der für sie vorauszusetzenden Bestimmtheit, die in ihrem Negationscharakter artikuliert wird, erhalten bleibt). Unter einem dritten Gesichtspunkt soll nun die Bedeutung des primärtherapeutischen Standpunktwechsels als dem Übergang zur Negationsbestimmtheit des psychologischen Gegenstandes noch weiter beleuchtet werden, um damit schließlich auch das Problem der Situation der Begriffsbedeutungen im Kontext der Janovschen Äußerungen einer Klärung zuzuführen. In der Perspektive der kategorialen Analyse kann dasjenige, was bei Janov an die Stelle normalwissenschaftlicher Strukturierungsformen tritt und sie total ersetzt, mit der Kategorie der Negation bezeichnet werden. Indem der wissenschaftliche Gegenstand primär als »eine Negation, die eine NEGATION bedeutet«, bestimmt wird, entfällt die Notwendigkeit – dem Janovschen Anspruch nach – nicht nur zusätzlicher anderer Bestimmungen, sondern auch der des ganzen Apparats der wissenschaftlichen Methodologie samt dem forschungslogischen Subjekt: In der Primärtherapie umfasst die Objektstruktur alles, was für die wissen345 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
schaftliche Gegenstandserkenntnis erforderlich ist, indem die Struktur der »Negation, die eine NEGATION bedeutet« just mit der für wissenschaftliche Erkenntnis konstitutiven logischen Ebenendifferenz identisch ist, jedoch auf eine neue, günstigere Weise, die eine mögliche Entscheidung des empiristischen Grundlagenkonflikts bereithält. Die Aufgabe des dritten Gesichtspunkts besteht also darin zu verdeutlichen, inwiefern es sinnvoll und richtig ist, unter Zuhilfenahme der Perspektive der Hegelschen Kategorienlehre die primärtherapeutische Gegenstandsbestimmung als der Struktur der empiristischen Wissensform im Ganzen logisch äquivalent anzuerkennen. Der Sinn der primärtherapeutischen Erfahrung, so wie Janov ihn zum Ausdruck bringt, lässt sich im Rahmen jener Denktradition, in der das wissenschaftliche Unternehmen beheimatet ist, nur verstehen, wenn man sich dazu aufschwingt, diesen Sinn, wenigstens probeweise, als die Hypothese zu erfassen: Die Lösung des empiristischen Grundlagenproblems kann nur erreicht werden durch eine systematische Weiterentwicklung der empiristischen Methode; und diese Weiterentwicklung wird erreicht über die Brücke einer Umformulierung des wissenschaftlichen Gegenstandes in eine qualitativ andere, logisch höhere Form von Gegenstand. Um nun den primärtherapeutischen Gegenstand als dasjenige vorzustellen, das genau die Forderungen erfüllt, welche den logisch höheren Gegenstand definieren, müssen eine Reihe von grundlegenden und einschneidenden Überlegungen herangezogen werden, um zusammenzuwirken. Diese Überlegungen, größtenteils in Wiederholung von bereits Gesagtem, seien, auf den zentralen Punkt zugeschnitten, um den es jetzt geht, noch einmal kurz aufgeführt: (1) Der logisch höhere Gegenstand, der Metagegenstand in Bezug auf die normalwissenschaftlichen Gegenstandsformulierungen, hat nicht die Form eines »Gegenstandes«, sondern die umfassendere Form einer Gegenstandsstruktur in Beziehung zu der sie konstituierenden Struktur der Gegenstandsbeziehung. Dasjenige, was in den vielen Formen von wissenschaftlichen Gegenstandsformulierungen gleich bleibt, dasjenige, was sie alle als einen Ausdruck des wissenschaftlichen Wissens prägt, ist das für alle Disziplinen gemeinsame Grundschema der Gegenstandsbeziehung. Alle Formen wissenschaftlicher Gegenstände haben gemeinsam, dass sie durch die forschungslogische Sub346 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
jekt-Objekt-Beziehung – durch das empiristische Schema der Gegenstandserfassung – metabestimmt sind. Um die die Explikation wissenschaftlicher Gegenstandsstrukturen grundsätzlich metabestimmende Subjekt-Objekt-Beziehung erweitert, hat die wissenschaftliche Gegenstandserkenntnis im Ganzen die Form eines Verhältnisses (die Gegenstandsstruktur im engeren Sinne) bezogen auf ein Verhältnis mit logischem Metacharakter, welch letzteres mit den Mitteln der Objektebene bestimmt werden muss als »eine Negation, die eine NEGATION bedeutet«. (2) In der Perspektive der systematischen Kategorienlehre ist das Hervortreten der Kategorie der Negation als Metaimplikat von im Rahmen der Kategorie der Quantität explizierten Bestimmtheiten als Ausdruck des Wirksamseins einer höheren Kategorienstufe zu werten. Aussagen, die wissenschaftliche Gegenstandsstrukturierungen bedeuten, sind wissenschaftliche Aussagen, erstens, indem sie eine bestimmte Form haben (die einen Bezug zur Kategorie der Quantität aufweist) und, zweitens, indem in dieses Verhältnis die Subjektbestimmtheit in der Weise eingeht, wie es die wissenschaftliche Methodologie vorschreibt; m. a. W. es ist die Beziehung der Gegenstandsstruktur auf ihre Voraussetzung: Form der Erkenntnis für ein Subjekt zu sein, welche die Begründetheit oder wenigstens Begründbarkeit wissenschaftlicher Aussagen ausmacht. Die Kategorie des »Grundes« ist der Kategorienstufe der reflektierten Kohärenz zuzuordnen, und die Beziehung der Kategorienstufe der äußerlichen Kohärenz – der Kategorien der »Qualität« und »Quantität« – zu der nächsthöheren Kategorienstufe der reflektierten Kohärenz verläuft über die Brücke der »Reflexionskategorien« (von denen noch die Rede sein wird) als einer Form, die Metabestimmtheit der Negation als Implikat einer ersten Kategorienstufe und mithin das Erkenntnisimplikat der einen (Erkenntnis-)Gegenstand bedeutenden Bestimmtheiten herauszustellen. Die Begründetheit wissenschaftlicher Sachverhaltsstrukturen liegt in der Beziehung des Verhältnisses, das den Sachverhalt bedeutet, zu einer Negationsbestimmtheit, so dass der Sachverhalt einen Gegenstand der Erkenntnis bedeutet. In diesem Sinn hat die empiristische Wissensstruktur im Ganzen die Form eines »Verhältnisses (die Gegenstandsstruktur i. e. S.), das ein VERHÄLTNIS bedeutet (die negationsbestimmte Gegenstandsbeziehung, die die Gegenstandsstruktur konstituiert)«, d. h., sie hat im Ganzen 347 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
die Form eines Verhältnisses, das eine logische Ebenendifferenz umspannt, einer Struktur, die zu interpretieren ist als eine Beziehung von kategoriallogischen Bestimmtheiten, die zwei verschiedenen Kategorienstufen angehören. (3) Nun ist jedoch das forschungslogische Schema der Gegenstandsbeziehung für die Formulierung empiristischer Gegenstandsstrukturen in der Weise konstitutiv, dass die Form der Gegenstandsbeziehung für die Form der durch sie erfassten Gegenstandsstruktur zwar einerseits eine konstituierende, die kategoriale Bestimmtheit des Gegenstandes metabestimmende Funktion ausübt, aber gerade so, dass diese Mitbestimmung andererseits für die artikulierte Gegenstandsstruktur direkt nicht relevant ist. Darauf bezieht sich Janov, wenn er die empiristische Wissensform im Ganzen als eine »Kohärenzform der Gespaltenheit« bezeichnet. »Gespaltenheit« bedeutet: systematische Nicht-Wirksamkeit der Beziehung des Gegenstandsbeziehungsschemas zur je artikulierten Gegenstandsstruktur. Indem sich das Gegenstandsbeziehungsschema grundsätzlich nicht ändert (indem es in dieser Form objektive Erkenntnis definiert), kann nicht deutlich werden, wie es eigentlich zur Gegenstandserkenntnis, für die es doch eine so wichtige Rolle spielt, beiträgt, und das ist schließlich ein Defizit der Gegenstandserkenntnis selbst. 2 Die empiristische Form der Gegenstandsstrukturierung impliziert grundsätzlich in doppelter Weise die Kategorie der Negation. Und zwar tritt eine Form der Negation auf, indem die Strukturierung ein Objekt-Individuum bedeutet, die für viele Gegenstände gleicher Art gelten soll: Die Bestimmung bezieht sich auf ein Individuum, insofern es nicht ein Individuum, sondern mit anderen Individuen gleich ist, und eine andere Form der Negation tritt auf, derart, dass die Gegenstandsstruktur durch dasjenige mitbestimmt ist, was überhaupt nicht Gegenstand sein kann. Objekt-Individuen werden somit als nicht sie selbst bestimmt im Sinne einer ersten, partiellen Negation als einer ersten Metabestimmung eines Gegenstandes zu einem Gegenstand objektiver Erkenntnis, derart, dass dies zusammenhängt mit einer Bestimmtheit, die sie überhaupt nicht sind im Sinne einer zwei-
Dies wird in der Diskussion der wissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung durch Skinner weiter verdeutlicht; vgl. Kap. 2.1.2.2.1.
2
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
ten, totalen Negation (als der zweiten Metabestimmung eines Gegenstandes zu einem Gegenstand objektiver Erkenntnis). Für das, was der wissenschaftliche Gegenstand ist: also eine Strukturierungsform der Kategorie der Quantität, spielt es in zweifacher Weise eine Rolle, was der Gegenstand nicht ist: er ist in bestimmter Weise nicht die anderen Objekt-Individuen – im Sinne der partiellen Negation, denn es besteht ja Beziehung zu dieser Form des Nicht-es-selbst-seins, das andere Objekt-Individuen als ihm gleichartige sind; und diese auf eine partielle Negation bezogene positive Gegenstandsbestimmung ist noch einmal bezogen auf diejenige Bestimmtheit, die sie NICHT ist im Sinne der Beziehung aller wissenschaftlichen Gegenstände auf die logische Metaebene des forschungslogischen Subjekts. Dasjenige, wodurch es so schwierig wird, überhaupt den Gedanken zu fassen, man könne die empiristische Wissensform systematisch weiterentwickeln, lässt sich so beschreiben, dass man mit der gegebenen kategoriallogischen Struktur der Gegenstandserfassung – dem schwierigen Zusammenhang beim Veranschlagen einer partiellen und totalen Negation im Hinblick auf den zu bestimmenden Gegenstand – nicht weiterkommt: Das Schema der Gegenstandserfassung ist für die Gegenstandsstruktur nicht fruchtbar zu machen; es ist, als sei man in eine Sackgasse geraten. Die empiristische Methodologie legt das Schema der Gegenstandserfassung mit dem Primat der äußeren Wahrnehmung so fest, dass die Negation dem Gegenstand äußerlich bleibt. Sie tritt nicht selbst in Erscheinung, bleibt eine von ihm getrennte, für ihn unfruchtbare, abstrakte Bestimmtheit; sie ist lediglich, was der Gegenstand nicht ist; sie imponiert als die systematische Lückenhaftigkeit in der Formulierung empiristischer Wissensstrukturen; sie stempelt die wissenschaftlichen Gegenstände zu einem Ausdruck der Kohärenzform der »Gespaltenheit«. Die Analyse der kategorialen Struktur des empiristischen Schemas der Gegenstandserfassung soll zeigen, dass der tote Punkt, die Stagnation in der Artikulation wissenschaftlicher Gegenstände, nur durch eine Umformulierung dieses Schemas in ein logisch äquivalentes Gegenstandsschema überwunden werden kann, derart, dass nun die faktisch wirksame Metabestimmtheit der Gegenstandsstruktur: d. h. die Negationsqualität des Erkenntnisgegenstandes, explizit als solche eine Rolle spielt. Genau diese Forderung wird von der Struktur des primärtherapeutischen Gegenstandes erfüllt, die sich als »ein Verhältnis zweier 349 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Verhältnisse« so darstellt, dass das erste Verhältnis einer (Seins-)Bestimmtheit, die Negation bedeutet (Bedürfnis-Fühlen), bezogen ist auf das zweite Verhältnis einer Negation (als Negation), die NEGATION bedeutet (Schmerzfühlen-Urschmerzfühlen). Die Festlegung auf »Bedürfnisse« oder »die Bedürftigkeit des Organismus« (die auch einer objektiv-quantitativen Strukturierung zugänglich ist), ist als Ansatzpunkt für die primärtherapeutische Gegenstandsbestimmung nur interessant in der Form, in der zunehmend die Konsequenzen der Negationsbestimmtheit der Gegenstandsbestimmung verfolgt werden können, in der Form des primärtherapeutischen Fühlens also, so dass unbefriedigte Bedürfnisse im Schmerzfühlen auf das Urschmerzfühlen, das sie bedeuten, bezogen sind. Der Übergang von einem klassisch-empiristischen zum primärtherapeutischen Gegenstand erfolgt über einen Standpunktwechsel, derart, dass nun die kategoriallogische Essenz der empiristischen Gegenstandsbeziehung: die Negation als Metabestimmtheit, in der Bestimmtheit des Gegenstandes dominiert. Aber dieser Übergang zu einem Metagegenstand, indem der neue Gegenstand jetzt vorrangig die kategoriallogische Essenz der die empiristische Gegenstandsstruktur konstituierenden Gegenstandsbeziehung ist, wird in der Primärtherapie erreicht über einen fundamentalen Methodenwechsel. Um die logische Äquivalenz des empiristischen Gegenstandsschemas mit dem primärtherapeutischen Gegenstand anzuerkennen, muss man anerkennen, dass die Methode der Gegenstandserfassung: also die gesamte empiristische Methodologie, in die subjektiv erlebte »Negation, die eine NEGATION bedeutet« im Urschmerzfühlen einmündet und in ihr verschwindet. Noch einmal gesagt: Der Übergang vom klassischen zum primärtherapeutischen Gegenstand erfolgt, erstens, als ein Standpunktwechsel von einem Gegenstand zu einem Metagegenstand: Gegenstand ist jetzt das im klassischen Schema zwar durch die methodologischen Regeln wirksame, jedoch als solches unthematisch gebliebene Schema der Gegenstandsbeziehung; und, zweitens, als ein Methodenwechsel, dergestalt, dass die klassische Trennung von in der Gegenstandserkenntnis zusammenwirkenden apriorischen und empirischen Momenten aufgegeben wird zugunsten einer Form von Gegenstandserkenntnis, die in einer neuen Weise als Ganze empirischkonkret ist: FÜHLEN ist nicht nur der Gegenstand, sondern auch der Modus der Einlösung des Wissensanspruchs der Primärtherapie.
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Nun ist dem ohnehin schwierigen Gedankengang dieses Abschnittes noch ein weiterer Schritt hinzuzufügen, denn mit der Charakterisierung des primärtherapeutischen Gegenstandes im Sinne der Stichpunkte von »Standpunktwechsel« und »Methodenwechsel« ist die Grundform des primärtherapeutischen zum klassischen Gegenstand noch immer im Hinblick auf ein wesentliches logisches Moment unvollständig. In den vorangegangenen Überlegungen ging es um das Verständnis einer ersten Verlagerung des Sinns des primärtherapeutischen Gegenstandes gegenüber dem klassischen: der primärtherapeutische Gegenstand ist dem kategorialen Gerüst der klassischen Gegenstandsbeziehung äquivalent. Nun geht es noch um das Verständnis einer zweiten Verlagerung, die abstrakt so gefasst werden kann: Der primärtherapeutische Gegenstand ist nicht einfach die Aktualisierung (das Empirischwerden) des Gegenstandsbezugsschemas; er ist, der logischen Anlage nach, ein Wechsel, eine Veränderung des Gegenstandsbezugsschemas. Dies sei im Rahmen dieses Abschnitts wenigstens in grundsätzlicher Hinsicht erläutert, nämlich dahingehend, inwiefern durch die Umformulierung des empiristischen Schemas der Gegenstandserkenntnis in das primärtherapeutische – durch den Vollzug einer gewagten Wende im Verständnis des empiristischen Unternehmens also – eine Konstellation geschaffen ist, die den empiristischen Grundlagenkonflikt einer Klärung näherführen kann. Der primärtherapeutische Gegenstand wurde bestimmt als Bezogenheit eines Verhältnisses auf das ihm im Sinne der logischen Metaebene übergeordnete Verhältnis. Dieses Verhältnis zweier logisch differenter Verhältnistypen tritt nun in zwei Formen auf, deren Sinn-Differenz als eine Verlagerung des Akzents von der Bedürfnisbefriedigung zum Fühlen umschrieben werden kann, entsprechend der Sinn-Differenz der zwei Sätze: – Die Bedürfnisse werden aufgehoben (die »Bedürfnis« bedeutende Struktur erfüllt sich) durch Befriedigung. – Die Bedürfnisse werden aufgehoben durch Fühlen. Ansetzend bei der Struktur der »Bedürfnisbefriedigung« wird diese im Janovschen Kontext so gefasst, dass das Zustandekommen des Verhältnisses: Bedürfnisfühlen-Befriedigungfühlen, das Verhältnis zu einem Metaverhältnis: Das-Selbst-fühlen, impliziert, also die Beziehung der Gesamtstruktur der Bedürfnisbefriedigung zu einer ganz anderen Bestimmtheit; »FÜHLEN«, »DAS-SELBST-FÜHLEN«,
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
»MAN-SELBST-SEIN«, »LIEBEN«, »TIEFES SEIN«, dies alles ist als etwas ganz anderes als »Bedürfnisbefriedigung« für diese konstitutiv. Der springende Punkt in der Bestimmung des primären Zusammenhangs: dass das Verhältnis zur Metaebenenstruktur für die Objektebenenstruktur unmittelbar-direkt relevant ist und in die Erfassung der Objektebenenstruktur einbezogen werden muss, greift nun nicht beim ersten Schritt; (man kann nicht isoliert beweisen, dass zu einer adäquaten Bedürfnisbefriedigung erforderlich ist, dass mit ihr zugleich der Anschluss an die unfassliche Qualität der Beziehung zu einer Metabedeutung erfolgt). Der logische Kern der primärtherapeutischen Auffassung der Bedürfnisbefriedigung erweist sich erst im Verlauf eines zweiten Ansetzens, im Prozess der Primärtherapie i. e. S.: Erst mit der Veränderung der Form der primären Beziehung von Objekt- und Metabestimmtheit, indem in der Primärtherapie unerfüllte Bedürfnisstrukturen nicht durch Befriedigung, sondern durch Fühlen aufgehoben werden, erweist sich rückwirkend die Beziehung zur Metaebene nicht als die fragwürdige Extrapolation einer Folge der Bedürfnisstruktur, sondern als die sie von Grund auf bestimmende Voraussetzung. Das Verhältnis zweier Verhältnisse des primärtherapeutischen Gegenstandes stellt sich nun so dar, dass zuerst gilt: Die Bedürfnisse müssen gefühlt werden, um befriedigt zu werden (das logisch übergeordnete FÜHLEN im Modus des Objektebenenverhältnisses als »fühlen«), so dass schließlich die Struktur der Bedürfnisbefriedigung mehr und mehr als die untergeordnete Form des Vollzugs der alles Geschehen eigentlich bestimmenden Metastruktur: des BEDÜRFNISSES ZU FÜHLEN, hervortritt. FÜHLEN
9 = ;
|fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl {zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl } Fühlen
Es ist diese Veränderung in der Form der Beziehung von Objekt- und Metaebene: einmal »Fühlen« im Sinne der Bedürfnisbefriedigung – so dass der Metasinn ein verborgenes, ihrer Form untergeordnetes Implikat der Objektebenenstruktur ist – zum FÜHLEN, derart, dass der Metasinn sowohl in der in die niedrigere Form eingebundenen als auch in seiner eigenen und von der Objektebenenform abgehobenen Form hervortritt, welche den primärtherapeutischen Gegenstand in
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Vollendung charakterisiert und welche in der vorliegenden Arbeit als ein Kategorienwechsel begriffen wird. Der primärtherapeutische Gegenstand ist immer »Fühlen« als die Verbindung zweier, eine logische Ebenendifferenz bildender Verhältnisse; aber dieses Verhältnis zweier logisch differenter Verhältnisse verändert sich: indem es zunächst mehr in der Form der niedrigeren Kategorie, dann jedoch in der Form der Metakategorie bestimmt ist. Während die niedrigere Kategorienform bedeutet, dass das Verhältnis von zwei Verhältnissen mit den Mitteln nur eines Verhältnisses ausgedrückt ist, so dass die höhere Dimension in der niedrigeren verschwindet oder untergeht und mit ihr kontaminiert ist, verfügt die höhere Kategorienform über die Mittel, ihre logische Einheit als den Zusammenhang von zwei unterscheidbaren Verhältnissen zum Ausdruck zu bringen; so gelangt man in der Perspektive der Kategorienlehre von der Ebene der Kategorie der Quantität ausgehend zur Produktion lediglich von immer gleichartigen Verhältnissen, während im Sinne einer zweiten Kategorienstufe die Kategorien paarweise auftreten (Wesen und Erscheinung; Form und Inhalt): Das für jeden artikulierbaren Zusammenhang erforderliche Zusammenwirken zweier logisch differenter Ebenen kann nunmehr ausgedrückt werden als die Einheit zweier unterscheidbarer Weisen dieses Zusammenwirkens, wodurch überhaupt erstmals ein Licht auf die logische Dualität als der fundamentalen Voraussetzung für jede Äußerung von Wahrheit fällt. Die niedrigere Kategorienform: d. h. die Bedürfnisbefriedigungsstruktur, ist das, was sie ist, als eine überwiegend positive Bestimmtheit: Bei der Bedürfnisbefriedigung geht es überwiegend um das »Sein« eines Verhältnisses, dem zwar die Beziehung zu seiner Metabestimmtheit als Negation innewohnt – indem die Bedürfnisse so gedacht werden, dass sie »gefühlt« werden müssen, und »Fühlen« artikuliert den Negationscharakter der Bedürfnisbestimmtheit –, aber doch so, dass diese Negation des Seins der Bestimmtheit als untergeordnetes Strukturmoment zum Aufbau eben dieser Bestimmtheit beiträgt. »Fühlen« dient dem Aufnehmen der Befriedigung. Insofern die Struktur der Bedürfnisbefriedigung die primäre Zusammenhangsform repräsentiert, muss sie aufgefasst werden als die unvollständige, auf Werden angelegte Form eines höheren Verhältnisses in einer niedrigeren Form, mithin als eine aporetische Struktur. Die Aporie der Abhängigkeit der logisch höheren Bestimmtheit 353 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
von der niedrigeren Bestimmtheit zeigt sich u. a. so, dass Bedürfnisbefriedigung im Sinne der Primärtherapie (auf dieser Ebene der Formulierung) impliziert, dass die Befriedigung bedeutende Beziehung durch einen Eingriff von außen zustande kommt. Die Bedürfnisstruktur hat zwar von Anfang an ein »inneres« Kriterium dafür, was Befriedigung sei – indem das Fühlen das Verhältnis des Gegenstandes zu sich im Sinne der logischen Ebenendifferenz impliziert –, aber diese Verbindung impliziert noch einmal eine für ihr Zustandekommen notwendige äußere Bestimmtheit, und dies ist eine widersprüchliche Situation: Einerseits soll für den Gegenstand gelten, dass er die Bestimmtheit ist, die er nicht ist – so dass alles, was für ihn erforderlich ist, mit ihm immanenten Mitteln entwickelt werden kann –, andererseits fordert die Bedürfnisbefriedigung, dass ihm, was er ist, von außen zugetragen werde. Mit der methodischen Wende, dass die Bedürfnisse so bestimmt sind, dass sie gefühlt werden müssen, ist eine Form von Gegenstand erreicht, der grundsätzlich diesen Zugang zur Metaqualität der Negationsbestimmtheit seines Seins hat. Der methodische Übergang zum Fühlen bedeutet kategoriallogisch den Übergang von der äußeren zur inneren Negation als der Brücke zu einer höheren Kategorienstufe. Aber die Metaqualität der Negation lehnt sich zunächst an die Seinsqualität der Objektebenenbedeutung an, und so besteht die Gefahr, dass die für die empiristische Gegenstandsform im Ganzen charakteristische Widersprüchlichkeit – die Aporie der Begründungsfigur – nun im Produkt seiner Umformulierung wiederkehrt: So, wie die Struktur der Bedürfnisbefriedigung zunächst formuliert ist, macht sie das Ziel einer Gegenstandsstruktur, die ihre Begründung impliziert, in einer Weise greifbar, in der es zugleich unerreichbar bleibt. So ist, um in dieser Situation weiterzukommen, innerhalb der primärtherapeutischen Gegenstandsbestimmung ebenfalls eine Umformulierung, ein Neuansetzen in der Gegenstandsbestimmung erforderlich, der gleichfalls auch eine methodische Akzentverschiebung bedeutet. Und zwar muss, nachdem mit der Struktur der Bedürfnisbefriedigung grundsätzlich ein Zugang zur Metaqualität der Negationsbestimmtheit des Gegenstandes eröffnet ist und nachdem die erste Form der Herausstellung des Seins der Struktur, die Negation bedeutet, in angemessener Weise erfolgt ist, auf die Negationsqualität der Negationsbestimmtheit noch einmal auf andere Weise eingegangen werden: Mit dem Ansatz beim »Schmerz« – indem erwachsene Menschen den Schmerz unbefriedigt gebliebener Kind354 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
heitsbedürfnisse fühlen – verfolgt der primärtherapeutische Prozess ganz entschieden die Richtung, in die der Negationscharakter der durch Bedürfnisbefriedigung entwickelten Bestimmtheit verweist. Erst indem die Metabestimmtheit jenes Seins, das Negation ist, als Negation vertieft wird, so dass schließlich die Negationsqualität überwiegt, kann es geschehen, dass aus der tragischen Bedeutung einer zunächst im Urschmerzerleben total negierten Bedürfnisstruktur – in der horizontalen Richtung, in der Bedürfnisfühlen auf die Notwendigkeit einer das Bedürfnissein affirmierenden, äußeren Befriedigung verweist – eine völlig neue Bedeutung ersteht: FÜHLEN als die vertikal gewendete totale Negation des Sinns der Bedürfnisbefriedigung, und mithin die Überwindung der Dominanz des Themas der Bedürfnisbefriedigung, mithin der Schmerzen unbefriedigt gebliebener Bedürfnisse und also Heilung der Neurose durch Kategorienwechsel. Der Übergang vom klassischen zum primärtherapeutischen Gegenstand als der Übergang von einer niedrigeren zu einer höheren Kategorienstufe bedeutet eine Verlagerung des Sinns des Gegenstandes vom »Sein« zum »Nichts«. Einmal wird jetzt Gegenstand, was bisher das »Nicht« des Gegenstandes war, in dem doppelten Sinn, dass die für die Gegenstandserfassung konstitutive Gegenstandsbeziehung im klassischen Schema nicht thematisiert werden kann und dass diese Nichtthematisierung über die Befolgung spezifischer methodologischer Regeln zusammengefasst als eine der Gegenstandsbestimmung implizite Negation ihres »Seinsanspruchs« wirkt. Zum andern ist dieser Übergang vom »Sein« zum »Nichts« gleichfalls das bestimmende Merkmal der neuen Gegenstandsform als jenem »Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET.« Die Beziehung zweier Verhältnisse einer Ausgangsstruktur: Bedürfnis-Fühlen, differenziert sich in zwei Weisen von Verhältnis. Ein Ausgangsverhältnis zweier differenter Bestimmtheiten im Sinne der Bedürfnisbefriedigung wird systematisch verändert, bis ein gegenüber dem Ausgangsverhältnis »total« verändertes Verhältnis: Fühlen, entsteht und sich im Werden der Beziehung zu jenem Verhältnis, das das Ausgangsverhältnis nicht ist, gerade das, was das Ausgangsverhältnis ist: eine Beziehung von »Sein« und »Nichts«, wiederholt. Indem die Beziehung des Ausgangsverhältnisses zu dem aus ihm entwickelten ganz anderen Verhältnis in spezifischer Weise entfaltet, was die Bedeutung des Ausgangsverhältnisses ist, kann man sagen, dass bei die-
355 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
ser Art der Veränderung des Ausgangsverhältnisses dieses sich selbst ändert: das Verhältnis der beiden Verhältnisse ist vermittelt. Abschließend sei das »Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET« noch einmal schematisch zusammengefasst: (1) Erste, für den Janovschen Kontext vorauszusetzende Grundform des primären Zusammenhangs (die »Bedürfnisbefriedigungsstruktur«): Bedürfnis
Fühlen
Sein
Negation
Affirmation d. Seinsbestimmheit
Negation der Negation
Befriedigung durch Zutat von außen
(2) Umformulierung der Grundform des primären Zusammenhangs als eigentlicher Ansatzpunkt der Primärtherapie: Bedürfnis - - - Fühlen
- - - - - - - - - Schmerzfühlen - - - Urschmerzfühlen
Sein - - - - - Negation
- - - - - - - - - Negation a l s Neg.
Neg. als NEG.' eines SEINS
|fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} Bedürfnis Fühlen Sein 1. Verhältnisart Negation |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl {zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl } Bedürfnisfühlen 2. Verhältnisart |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl {zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl } FÜHLEN »Kategorienwechsel«
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
2.1.2. Der »zweite Pfeiler« des Janovschen Ansatzes: Die Weise, wie Janov von der Kategorie der Quantität Gebrauch macht 2.1.2.1. Die Stufen des primären Zusammenhangs und der Grund des Primären: Quantitative Vermittlung als Reflexionsmodell 2.1.2.1.1. Janovs »levels of consciousness« und Hegels »Reflexionskategorien« Der logische Vorteil des primärtherapeutischen Gegenstandes als eine gegenüber dem empiristischen Gegenstandsschema potentiell höhere Kohärenzform wurde bisher so erläutert, dass es die direkte Beziehung des Gegenstandes selbst zu seiner Metabestimmtheit als Negation: die innere Negation als Kennzeichen der Grundverfassung der primären Zusammenhangsform, ist, wodurch der Gegenstand das Verhältnis zu seinem Metaverhältnis in geregelter Weise aus sich selbst zu entwickeln vermag, worauf die Janovsche Betonung der »connectedness« abhebt. Die Beziehung des Gegenstandes zu der ihm innewohnenden Metabestimmtheit, d. h. die Herausbildung und Entwicklung dieser Beziehung im primärtherapeutischen Fühlen, ist in seiner logischen Qualität dem Unternehmen der empiristischen Wissensgewinnung äquivalent, denn wissenschaftliche Gegenstandserkenntnis lässt sich so charakterisieren, dass das Verhältnis einer Negation, die eine NEGATION bedeutet, die Artikulation quantitativ bestimmter Strukturierungen implizit metabestimmt. Umgekehrt wird mit dem Fühlen die wissenschaftliche Methode qualitativ: Es findet eine Akzentverlagerung auf die Metakategorie der Quantität statt, und die Qualität der Kategorie der Quantität im Ganzen ist Negation. Der empiristische Gegenstand ist (im Rahmen der Kategorie der Quantität): Quantität-Qualität – wobei die spezifische Weise der Weiterbestimmung der quantitativen Verhältnisse zu diskreten Einheiten den Metagesichtspunkt der Negation wirksam werden lässt; und der Übergang zum primärtherapeutischen Gegenstand erfolgt im Ansetzen bei der QUALITÄT von Quantität-Qualität des klassischen Schemas; das aber heißt: Die Bedeutung von Quantität ändert sich beim Ansetzen auf der Metaebene grundlegend. Wie weiter oben ausgeführt, spielen Begriffe, die Quantität zum Ausdruck bringen, im Janovschen Kontext eine große Rolle; sie haben
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jedoch hier, wie alle primärtherapeutischen Begriffe, eine gegenüber ihrer normalen Verwendung veränderte Bedeutung. Immer wieder aufs Neue muss man sich in den primärtherapeutischen Gegenstand vertiefen. Wie bewältigt Janov den Weg von der Objektebenenbedeutung zur Metaebenenbedeutung? Und wie erweist sich, umgekehrt, dass Fühlen im Sinne des primärtherapeutischen URERLEBENS die Metaebene gegenüber der Objektebene des anfänglichen Fühlens ist, in dem Sinn, in dem die forschungslogische Subjektbestimmtheit die Gegenstände der empiristischen Erfahrung metabestimmt? Wiederum sei begonnen bei der Ausgangsform des primärtherapeutischen Gegenstandes, jener ersten Formulierung, in der der Übergang vom klassischen zum primärtherapeutischen Standpunkt erfolgt: d. h. bei einer Form von normalem subjektivem Erleben, das mit dem Grundmerkmal der Gespaltenheit in eine Innen- und Außenwelt der niedrigeren Kategorienstufe der Quantität zuzuordnen ist. Das Originelle des Janovschen Ansatzes liegt nun, wie weiter oben schon gesagt, in der Weise, wie er auf die qualitative Seite der quantitativ bestimmten Ausgangsstruktur Bezug nimmt: Direkter und kompromissloser als andere Versuche, den psychologischen Gegenstand vom Erleben her zu erschließen, orientiert sich Janov am vertikalen Stamm des Metacharakters der Qualität als Negation; ihn interessiert nicht die pseudoquantitativ ausgebreitete Pluralität erlebter Szenen, so dass deren horizontale Verknüpfungen untereinander im Vordergrund stehen, vielmehr interessiert ihn direkt die (eine ganze Reihe von Ereignissen einer bestimmten Art miteinander verbindende) Metaqualität: Erlebniseinheiten, die so zusammengefasst sind, dass sie einen spezifischen Schmerz bedeuten: ein bestimmtes Maß an Negation. Negation als die Metakategorie der Kategorie der Quantität tritt selbst qualitativ auf – daher ist für diese kategoriale Stufe Erleben als Zugangsweise adäquat. Aber die eigentliche Metabedeutung zur Bedeutungsebene der Kategorie der Quantität tritt nicht mit einem Schlage auf; sie tritt auf unter Anwendung der logischen Mittel der niedrigeren Ebene; sie wird schrittweise aufgebaut; die höhere Stufe wird erreicht, indem Quantität auf neue Weise zum Ausdruck gebracht wird: als der Zusammenhang einer Reihe von verschiedenen Weisen des Ausdrucks der Negation der niedrigeren Kategorienstufe. Also tritt nicht einfach Negation als Metaqualität auf, sondern eine Reihe von verschiedenen Formen der Negation der Ausgangsebene, 358 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
deren Zusammenhang gegeneinander so bestimmt ist, dass jede folgende Negationsform gegenüber der vorhergehenden »mehr Negation« besagt. Der kategoriale Hintergrund der Kategorienstufe der Quantität stellt sich also nicht einfach als eine Metakategorie dar, sondern als ein Zusammenhang von verschiedenen Negationskategorien, die die Quantitätsstufe negieren, indem sie einen Negationsbetrag aus verschiedenen Qualitäten von Negation zusammensetzen, die in zunehmendem Maße Negation bedeuten. Das Verhältnis der Negationskategorien untereinander hat einerseits einen quantitativen Sinn (weniger Schmerz – mehr Schmerz); gleichzeitig wird aber dieser quantitative Sinn jeweils wieder in die qualitative Richtung gelenkt, indem »mehr« Schmerz im Sinne der Primärtherapie nicht bedeutet: immer mehr Schmerz von derselben Art (also nicht eine rein quantitative Zunahme einer festgelegten Qualität), sondern, im Übergehen zu verschiedenen Qualitäten von Schmerzerfahrung, eine als »mehr« interpretierbare Veränderung der erlebten Negation – die sich immer mehr von der Quantitätsbedeutung der Objektebene unterscheidet, bis sie sich so weit von ihr entfernt hat, dass diese im Einmünden in die höhere QUALITÄT überwunden ist. Der Zusammenhang von Kategorien, die in fortschreitender Reihenfolge den Gesamtbetrag oder die Gesamtqualität (hier konvergieren »Quantität« und »Qualität« der Objektebene in der höheren QUALITÄT der Metaebene) der Metakategorie der Kategorie der Quantität konstituieren, bringt notwendig zugleich »Werden« als Metakategorie ins Spiel, denn die Metaqualität entsteht in einem Prozess, derart, dass wiederholt Resultate vorausgegangener Schritte als Voraussetzung der je nächsten Schritte angewendet werden (in der Zusammensetzung der verschiedenen Negationsqualitäten). Das Werden der höheren Bedeutung im Sinne des Zusammenhangs der Hegelschen Reflexionskategorien wendet quantitative Begriffe, wie etwa »Summierung« oder »Akkumulation«, in dem Sinne, dass Begriffe wie »Prozess«, »Entwicklung« und »Höherentwicklung« kategoriallogisch interpretierbar werden – Bestimmtheiten, die für das Verständnis des Aufbaus der Janovschen Begriffsbedeutungen ganz unverzichtbar sind, wie im Verlauf der weiteren Darlegung deutlich werden soll. Zunächst soll betrachtet werden, wie nach Janov jene drei oder vier subjektiven Funktionen oder »levels of consciousness« – jene Erfahrungsformen, die für das Zustandekommen eines vollen Ur359 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
erlebnisses zusammenwirken müssen – tatsächlich, entsprechend den Hegelschen Reflexionskategorien: »Identität«, »Unterschied«, »Verschiedenheit«, »Gegensatz« und »Widerspruch«, als jene Ausprägungsstufen der Gesamtqualität der Negation zu begreifen sind, welche die logische Differenz zwischen der Kategorienstufe der äußerlichen und jener der reflektierten Kohärenz überbrücken. In einer einfachen, ersten Annäherung stellt sich das Verständnis der Grundformen des primären Zusammenhangs im Sinne der Hegelschen Reflexionskategorien folgendermaßen dar: Begonnen sei wieder bei der Ausgangsform des primären Zusammenhangs, der Bedürfnisbefriedigungsstruktur. Die Struktur der Bedürfnisbefriedigung ist weder im Janovschen Sinn noch in der Perspektive der systematischen Kategorienlehre so zu verstehen, dass mit ihr die Entwicklung der Verhältnisse, von denen gesprochen werden kann, ab ovo beginnt; sie setzt eine mindestens partiell der Kategorienstufe der Quantität entsprechende Verhältnisstruktur voraus – worin auch die Möglichkeit eines normalwissenschaftlichen Zugangs zum Janovschen Gegenstand ihren Anhaltspunkt hat. Diese Quantitätsstruktur im Janovschen Sinne funktioniert so, dass sie in Abhebung von der unthematisch bleibenden Voraussetzung weiterbestimmt wird: Sie ist ein Verhältnis im Sinne der Kategorienstufe der Quantität und etwas anderes, eine andere Art von Bestimmtheit. Sie ist ein Verhältnis (eine Quantität), und dieses Verhältnis BEDEUTET ein anderes Verhältnis (QUALITÄT). Es ist dieses im »und« ausgedrückte Verhältnis, das sich bei der Bedürfnisbefriedigung entwickelt. Die Bedürfnisbefriedigung bedeutet grundsätzlich das Verhältnis zweier quantitativ aufzufassender Strukturierungen: nämlich »Bedürfnis« und »Befriedigung« als zwei in einem bestimmten Verhältnis stehende quantitative Verhältnisse; und dieses Verhältnis bedeutet ein ganz anderes VERHÄLTNIS: Die Bedürfnisbefriedigung ist die Methode, dieses Verhältnis von Verhältnis und VERHÄLTNIS (das Verhältnis der Verhältnisformen zweier kategoriallogischer Stufen) zunehmend zu bestimmen. Zunächst gilt: »When needs are met, the child can feel.« D. h., zunächst sind die Formen der Herausbildung des genannten Verhältnisses ein Resultat der Bedürfnisbefriedigung: Die Quantitätsverhältnisse werden im Sinne der primären Form des Zusammenhangs so aufeinander bezogen, dass man von mehreren Stufen dieses Verhältnisses sprechen kann – die weiter oben genannten Ausprägungsformen des Fühlens: Registrieren, Empfinden, Fühlen und Begreifen. 360 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Die Bedeutung der Stufen des Fühlens differenziert sich zunehmend in eine doppelte Richtung: horizontal und vertikal. Zunächst überwiegt der horizontale Bezug im Sinne der Vermittlung der Bestimmtheit des Bedürftigseins – des Seins jener Bestimmtheit, die Negation bedeutet –: Registrieren, Empfinden, Fühlen und Begreifen sind Stufen der Artikulation der dem Bedürfnissein immanenten Bestimmtheit als Negation, um so jeweils in der Befriedigung die Negation des Negationseins der Bedürfnisbestimmtheit und somit dessen Aufhebung in ein jeweils reicher bestimmtes Sein-in-der-Form-desNichtseins einzuleiten. Die Negationsstufen: Registrieren, Empfinden, Fühlen und Begreifen sind also ein Maß der Bestimmtheit der jeweiligen Ausgangsbestimmtheit der Bedürfnisstruktur; sie fassen die Quantität der Bestimmtheit der quantitativen Bestimmtheit: deren Qualität im Sinne des jeweiligen Bestimmtheitsmaßes oder deren logischer »Kapazität«, zusammen. Die Aufhebung einer jeden bestimmteren Negation der entsprechenden Ausgangsbestimmtheit fügt der letzteren eine neue Bestimmtheit hinzu, so dass diese wiederum eine intensivere, größere, wirksamere Negation aus sich herauszustellen genötigt ist, die ihrer neuen logischen Kapazität entspricht. So bedeuten die Ausprägungsformen des Fühlens eine sukzessive Vergrößerung der Negationskapazität, entsprechend der durch Bedürfnisbefriedigung mehr und mehr logisch bereicherten Ausgangsbestimmtheit des Bedürfnisseins. Die Stufen des Fühlens drücken Qualität aus als ein Maß für charakteristische Grade des Bestimmtheitszuwachses – man sieht hier, dass sich in horizontaler Richtung die Metabestimmtheit der Negationsqualität quantitativ orientiert –; und als Quantitäten von Qualität bringen sie zum Ausdruck, wie sehr sich die je erreichte Stufe an Bestimmtheit von der Ausgangsbestimmtheit unterscheidet. Hier kann man selbst wieder einen winzigen Unterschied in der Bezugsrichtung, gewissermaßen die Keimzelle der Ausdifferenzierung einer vertikalen von der horizontalen Bedeutungsorientierung feststellen: das feine Oszillieren der Metabedeutung von Quantität: Qualität als das noch quantitativ gewendete Maß des auf die Art der Ausgangsbestimmtheit bezogenen Vielfachen von Bestimmtheit – im Unterschied zu einer Art von feiner Metabedeutung der Metabedeutung: Qualität als Maß für die qualitative Differenz einer erreichten höheren Bestimmtheit und einer Ausgangsbestimmtheit, als ein Maß für eine zunehmende Distanz von der Sinnqualität der Ausgangsbestimmtheit, worin bereits die Möglichkeit angelegt ist, dass eine 361 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
ganz andere Bedeutung von ihr Besitz ergreift und die ursprüngliche Bedeutungsqualität QUALITATIV verändert. Die Janovschen Stufen des Fühlens bedeuten eine eigentümliche »Quantifizierung« der QUALITATIVEN Metabestimmtheit der (jeweils gemäß der Kategorienstufe der Quantität gefassten) Strukturmomente der Bedürfnisbefriedigung. Die QUALITÄT der Verhältnisstufen der quantitativen Strukturmomente der Bedürfnisbefriedigung akzentuiert zunächst das quantitative Maß des gewonnenen Bestimmtheitszuwachses; sodann wird der quantitative Ausdruck der QUALITÄT zunehmend auch ein Maß für die qualitative Veränderung der reicheren Bestimmtheiten im Vergleich zur Ausgangsbestimmtheit. So bezeichnet »Registrieren« ein Verhältnis im Sinne der Differenz in der Bestimmtheitsstufe zweier Bestimmtheiten, die als ein Unterschied charakterisiert werden kann: Die erreichte Bestimmtheitsstufe hebt sich um so viel von der Stufe der Ausgangsbestimmtheit ab, dass die Differenz in der Bestimmtheitsqualität, verstanden als das quantitative Maß der Bestimmtheit, die QUALITÄT eines Unterschiedes hat. Etwas mehr Unterschied gegenüber einer Ausgangsbestimmtheit weist eine Bestimmtheitsstufe auf, die durch »Registrieren + Empfinden« repräsentiert ist, derart, dass die Differenz in der logischen Kapazität die QUALITÄT einer Verschiedenheit bedeutet: Der jetzige Zustand hat um so viel mehr an logischer Bestimmtheit, dass er von der des Ausgangszustandes verschieden ist. Der Bestimmtheitszuwachs, der jene Stufe, die das Sein-alsNichtsein im Sinne von »Registrieren + Empfinden + Fühlen« artikuliert, erbringt, ist nun so zu charakterisieren, dass sein »mehr« an Bestimmtheit, bezogen auf das »mehr«, das die vorangegangene gegenüber der ersten Stufe erbrachte – und zwar jeweils in ihrem Verhältnis zur Ausgangsbestimmtheit – die QUALITÄT der Differenz eines Gegensatzes zum Ausdruck bringt. Diese Art der quantitativ gefassten QUALITÄT der Metabestimmtheit: d. h. die Darstellung des qualitativen Zuwachses eines Bestimmtheitszuwachses, bringt die Quantität, die QUALITÄT bedeutet, in eine reichere Bezogenheit: Die Strukturierung des Verhältnisses der Verhältnisse von »Bedürfnis« und »Befriedigung«, welche einen Gegensatz besagt, ist komplizierter geworden: sie bedeutet ein bestimmtes Verhältnis, das in einem charakteristischen Verhältnis steht zu den Verhältnissen der vorangegangenen Verhältnisse. – Damit beginnt eine neue Situation, indem nun die logische Qualität der 362 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Bestimmtheit der Bedürfnisbefriedigungsstruktur erstmals deutlich in der besagten zweifachen Weise funktionieren kann: horizontal, als Beziehung des logischen Niveaus einer Strukturierung; und vertikal, indem die Differenz der erreichten Bestimmtheit zur Ausgangsbestimmtheit im Sinne des Gegensatzes erstmals von dieser so viel entfernt und dermaßen abgehoben ist, dass sich darin die Möglichkeit des Umschlagens des Bezugspunktes der Bedeutung ankündigt: Die als Gegensatz bestimmte Negationsqualität beginnt, den Negationscharakter der Differenz als solchen zur Geltung zu bringen: Ein Verhältnis, das von einem andern im Sinne des Gegensatzes abgehoben ist, kann ebenso zu dessen deutlicherer Konturierung wie dazu beitragen, in der Ankündigung möglicher ganz anderer Verhältnisse von ihm überhaupt abzulenken. Eine letzte Stufe, die die Ausprägung des Fühlens im Sinne der Primärtherapie vollendet: »Registrieren + Empfinden + Fühlen + Begreifen«, indem sie jenes Maß an Differenz erfüllt, welches den primärtherapeutischen Gegenstand definiert, muss also seine Unterschiedenheit von der Ausgangsbestimmtheit, die größer sein soll als jene der vorausgegangenen Stufen, wiederum in einer neuen Weise darstellen; sie muss sich von der Weise der anderen Stufen, den Bestimmtheitszuwachs zu erreichen, insgesamt abheben: So muss sie ein Moment hinzubringen, dessen Differenz zu den bereits entwickelten Formen der Darstellung von Differenz diese als solche bestimmt macht; deshalb sagt Hegel, dass das Verhältnis im Sinne dieser Differenz als Widerspruch zu bestimmen ist. »Widerspruch« bezeichnet einmal die weitere Verschärfung eines Gegensatzverhältnisses: also ist die erreichte Bestimmtheit in einer Weise angereichert, dass sie sich noch mehr von der logischen Qualität der Ausgangsbestimmtheit unterscheidet. Gleichzeitig bedeutet der Bestimmtheitszuwachs, der die vierte Ausprägungsstufe des Fühlens kennzeichnet, eine qualitative Veränderung derart, dass die größere Bestimmtheit materiallogisch deren Charakter als Negation offenbart: Um zur Verhältnisstruktur im Sinne der vierten Stufe zu gelangen, muss der entsprechenden Ausgangsstruktur ein neues Moment hinzugefügt werden, das sich von den Strukturen der vorausgegangenen Verhältnisarten so unterscheidet, dass die neue Differenz die Qualität der kategoriallogischen Ebenendifferenz bestimmt zu machen vermag. Die als »Widerspruch« charakterisierte Verhältnisstruktur erfüllt diese Forderung, denn sie bezieht sich auf die logi363 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
sche Qualität einer Ausgangsstruktur derart, dass nicht deren Bedeutung im bestimmten Sinn des NICHT dieser Bedeutung und damit jene ganz andere Bedeutung gemeint ist, die im Sinne der Ebenen-Differenz eine »totale« Veränderung einer Ausgangsbestimmtheit, eine Veränderung »um sie selbst«, um ihren eigenen Betrag, besagt: Fühlen im Sinne der Bedürfnisbefriedigung bedeutet eigentlich FÜHLEN. (Hier ist also wieder der Kernpunkt des Verständnisses des primärtherapeutischen Gegenstandes zusammengefasst: (1) Standpunktwechsel in der Umformulierung einer normalquantitativ aufgefassten Bedürfnisstruktur im Sinne der methodisch durch »Fühlen« konstituierten »Bedürfnisbefriedigungsstruktur; und (2) Entwicklung dieser primären Form des Zusammenhangs im Sinne des Kategorienwechsels.) Dieser näheren Bestimmung des Übergangs von einer niedrigeren zu einer höheren Kategorienstufe durch eine eigentümliche Art der »Quantifizierung« der Negationsqualität als der Metabestimmung der Kategorien der Quantität sei noch ein wenig weitere Aufmerksamkeit gewidmet. – Der primärtherapeutische Gegenstand soll im Vergleich zu einem normalwissenschaftlichen als eine Kohärenzform größerer Verbundenheit aufgefasst werden. Das für ihn charakteristische Verhältnis muss also eine größere logische Differenz bezeichnen, als dies für den normalwissenschaftlichen Gegenstand gilt, aber – entsprechend dem Wissenschaftsanspruch der Primärtherapie – so, dass das neue, größere Differenzverhältnis zum normalen Differenzverhältnis in einem Verhältnis steht; es integriert die logischen Tiefenimplikationen des klassischen Gegenstandes – jene Differenzverhältnisse, von denen er, um ein wissenschaftlicher Gegenstand zu sein, Gebrauch macht, ohne dass diesem Gebrauch explizit Rechnung getragen wird – in der neu artikulierten Gegenstandsstruktur. Nach der hier dargelegten Auffassung entspricht das den primärtherapeutischen Gegenstand definierende Differenzverhältnis genau der logischen Differenz der Kategorienstufe der äußerlichen und der der reflektierten Kohärenz im Sinne der Hegelschen Kategorienlehre. Diese kategoriallogische Kohärenz ist so zu verstehen, dass man nicht einfach plötzlich (»unvermittelt«) von einem höheren Standpunkt aus neu zu denken beginnt. Vielmehr bedeutet der höhere Standpunkt, in der alten Weise zu denken und in einer neuen – in einer neuen Weise, die auf die alte bezogen ist, und das heißt, dass die neue Weise durch eine solche Veränderung der alten Weise entsteht, die durch intensive
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Variation ihres Verhältnisses das Wesen beider so darlegt, wie es der Hegelschen Konzeption der Vermittlung entspricht. Daher ist das erste, wie man den neuen Standpunkt kennenlernt, der Übergang von der niedrigeren zur höheren Kategorienstufe. Entsprechend ist der primärtherapeutische Gegenstand nicht einfach eine Artikulation im Sinne der Kategorienstufe der reflektierten Kohärenz; tatsächlich ist er das Übergehen von der niedrigeren zur höheren Stufe und, der logischen Anlage der primären Zusammenhangsform nach, der Anfang der Aufhebung der niedrigeren Kategorienstufe im Begriff der kategoriallogischen Ebenendifferenz. – Anders gesagt: Die kategoriallogische Differenz, indem sie zunächst als der Übergang von einer niedrigeren zu einer höheren Kategorienstufe zu fassen ist, muss die (niedrigere Bestimmtheit der) Quantität selbst in ihrer höheren logischen Form darstellen; sie muss also den Sinn von Quantität verändern, so dass Nicht-Quantität zum Ausdruck kommt, aber in einer Weise, die den gemeinsamen Nenner quantitativ artikulierter Strukturen und damit den »Grund« oder das »Wesen« von Quantität offenlegt. Noch einmal sei das Augenmerk auf die kategoriallogische Vermittlung der Quantität gerichtet, auf das Verständnis jener methodischen Variation des Verhältnisses von Quantität und NICHT-Quantität in Richtung auf jenes ausgezeichnete Verhältnis, das im Begriff (der bestimmt gemachten Bestimmtheit) der QUALITÄT einer kategoriallogischen Differenz Quantität in höherer Form zum Ausdruck bringt. Was bedeutet »Vermittlung von Quantität«? Wie wird Quantität durch Vermittlung zum Ausdruck gebracht? In der Darstellung weiter oben wurde für den Übergang von der niedrigeren zur höheren Kategorienstufe vier Verhältnisformen von Quantität und Nicht-Quantität berücksichtigt: Registrieren; Registrieren + Empfinden; Registrieren + Empfinden + Fühlen; Registrieren + Empfinden + Fühlen + Begreifen; entsprechend den Hegelschen Reflexionskategorien: Unterschied, Verschiedenheit, Gegensatz und Widerspruch. »Registrieren« charakterisiert das Verhältnis zweier Verhältnisse als eine logische Differenz, die »Unterschied« besagt; man kann über die Verhältnisse sonst nichts aussagen, als dass sie sich voneinander unterscheiden; dies impliziert also, dass sie nicht ganz dasselbe sind; man kann aber mit dem Mittel eines Verhältnisses zweier Verhältnisse die Verhältnisdifferenz selbst nicht näher charakterisieren. 365 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Wenn a das Verhältnis einer Bestimmtheit zu einer im Sinne einer unbestimmten Identität vorauszusetzenden Ausgangsbestimmtheit besagt (Registrieren), so sei b ein zweites Verhältnis zu jener Ausgangsbestimmtheit (Empfinden), welches sich vom ersten Verhältnis a einfach nur unterscheidet; man kann noch nicht bestimmen, wie b sich auf a bezieht. Die erste Veränderung des Ausgangsverständnisses von Quantität ist im Verhältnis b:a (Registrieren + Empfinden) rein qualitativ: das Neue ist gegenüber b zfflfflfflfflffl}|fflfflfflfflffl{ dem Alten etwas anderes; man ist einfach überge|fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} gangen zu einer anderen Form. Es ist nicht zu sehen, inwiefern die neue Qualität logisch »mehr« ist a gegenüber der alten. Dies bringt die indifferente Differenzqualität der »Verschiedenheit« zum Ausdruck.
Eine zweite Veränderung kommt zustande, indem ein drittes Verhältnis c zur vorausgesetzten unbestimmten Identität der Ausgangsbestimmtheit so gewählt ist, dass mit seinem Auftreten das Verhältnis b:a näher charakterisiert wird. Das Verhältnis c steht zum Verhältnis b und zum Verhältnis a in einem Verhältnis, so dass dies einen Aufschluss gibt, das Verhältnis b:a besser zu verc zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl}|fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{ stehen; erst mit dem Hinzukommen des dritten b zfflfflfflfflffl}|fflfflfflfflffl{ Verhältnisses, also der zweiten Veränderung im |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} Auftreten des Verhältnisses a:b:c, wird der Sinn der ersten Veränderung als eine Vermehrung, eine a Bereicherung der logischen Qualität der Ausgangsbestimmtheit, deutlich.
Jetzt wird klar, dass der Sinn der Veränderung Verhältnisbildung ist; und der logische Gehalt der Verhältnisbildung kann nach dem Modell der Zahlenverhältnisse erläutert werden als die Beziehung differenter Bestimmtheiten im Sinne der Vergleichbarkeit verschiedener Vielfacher einer gemeinsamen »Eins«; jedenfalls gibt die Verhältnisbildung einen Bezugspunkt für den Vergleich von Bestimmtheiten, womit sich der Ansatz einer bestimmten Bestimmtheit herauszubilden beginnt. Im Sinne des dritten Schrittes, der die zweite Veränderung bringt, geschieht eine weitere qualitative Veränderung, so dass der Charakter der qualitativen Veränderung schon deutlich wird: Es geht bei der Herausbildung der Stufen des Fühlens um ein mehr von der 366 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Qualität der Negation. Die Bestimmtheit eines Verhältnisses im Sinne der Negationsqualität des »Gegensatzes« macht die QUALITÄT beider Veränderungen deutlicher und kennzeichnet auch den vorangegangenen Schritt rückwirkend quantitativ als die Herausstellung von mehr Negationsqualität. »Gegensatz« als logischer Gehalt der Verhältnisbildung bringt zum Ausdruck: Beziehung und Negation. Die Verhältnisstufen a, b und c bedeuten Beziehungen; und die Differenz der beiden Verhältnisformen b:a und c:b:a deutet noch unbestimmt die Möglichkeit einer bestimmten Bestimmtheit an. Gegenüber der Negationsqualität des Gegensatzes, die mit dem Auftreten der dritten Verhältnisform a:b:c (Registrieren + Empfinden + Fühlen) fassbar wird, verblasst die unbestimmte Differenzqualität der beiden ersten Verhältnisse. Weiter oben hieß es: Erst die Stufe des »Fühlens« (Registrieren + Empfinden + Fühlen) zeigt, was »Fühlen« ist, obwohl in anderer Hinsicht die vorausgegangenen Stufen »primärer« sind. – Etwas weiter vorn wurde auch der Ausdruck der »methodischen« Veränderung (Variation) gebraucht: Im Zusammenhang der Reflexionskategorien – auf der Stufe des Gegensatzes – wird erstmals etwas fassbar vom logischen Gehalt des »Methodischen«: Er impliziert, dass Veränderungen aufeinander bezogen werden, aber so, dass die ersten Schritte wegführen vom Bekannten, ins qualitativ Andere; dass aber dann weitere Schritte, auf einmal, die innere Logik, welche die Richtung der Veränderungen gelenkt hat, erkennen lassen, so dass nachträglich auch die ersten Schritte als ein Vorgehen deutlich werden. Der nächste Schritt der Veränderung einer Ausgangsbestimmtheit im Sinne der Vermittlungsmethode hat nun seine Schwierigkeiten: Um das Maß an qualitativer Veränderung zu steigern, muss die bisherige Form der Veränderung insgesamt verändert werden, und dies stellt im Hinblick auf das bereits erreichte prägnante Qualitätsmaß besondere Anforderungen. Die Schwierigkeit für das Ansetzen des nächsten Schrittes ergibt sich, metaphorisch gesprochen, aus einer gewissen Genugtuung und Beruhigung in Bezug auf die Erledigung des Vermittlungspensums im sanften Sich-Wiederfinden der Wegbewegung, welches im Gegensatzverhältnis stattfindet: Es wird etwas deutlich vom Sinn der Veränderung – darin liegt ein Stück Fortschritt – ohne dass der alte Bedeutungshorizont wirklich angefochten, geschweige denn überwunden wäre. Der Gegensatz kommentiert den Sinn der Weiterbewegung zwar als ein Weggehen von einer Ausgangsform, dennoch ist dieses Maß an Differenz immer 367 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
noch gut als eine Bereicherung der Ausgangsbestimmtheit interpretierbar; die Qualität der Negation einer Ausgangsbestimmtheit im Sinne des Gegensatzverhältnisses affirmiert zugleich noch einmal deren Bedeutung. Diese Phase der Artikulation des primärtherapeutischen Gegenstandes – entsprechend seiner kategoriallogischen Äquivalenz mit dem Unternehmen der empiristischen Wissensgewinnung im Ganzen – repräsentiert genau die Schwierigkeiten, vom empiristischen Standpunkt aus weiterzugehen: die Schwierigkeiten der Einführung einer dritten, einen radikalen Standpunkt- und Methodenwechsel bedeutenden Veränderung, die, bezogen auf die bisher ausgeübte Methode der Veränderung einer Ausgangsmatrix (die selbst wieder eine methodische Differenz impliziert) die Differenzqualität eines Widerspruches zur Darstellung bringt, so dass aufgrund der Bestimmtheit einer ganz bestimmten Differenz – die den Begriff der kategoriallogischen Ebenendifferenz definiert – das Umschlagen des Bezugspunkts der Bedeutungsvermittlung zugunsten der Metaebene im Sinne des Kategorienwechsels erfolgen kann. Das Verhältnis d : [(b : a) :
(c : b : a)] 8 > > > > > > > > > > > > > > > > > > > < e
> > > > > > > > > > > > > > > > > > d > zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl}|fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl: fflffl{
c zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl }|fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl { b zfflfflfflffl }|fflfflfflffl { |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} a
ist so zu charakterisieren, dass es die logische Qualität von a bestimmt macht, dass e also das »begriffene Verhältnis a« bedeutet; und damit hat a genau die logische Qualität eines bestimmten Verhältnisses, das ein VERHÄLTNIS bedeutet, indem es nun die Beschaffenheit hat, das Metaverhältnis e auszulösen. Damit erreicht die durch die Hegelschen Reflexionskategorien bezeichnete Methode der Veränderung
368 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
einer Ausgangsbestimmtheit das vorläufige Ergebnis, diese primär als eine logische Dualität erwiesen zu haben. Janov betont immer wieder, Ergebnis des durch Primärtherapie erreichten FÜHLENS sei die Einheitsverfassung im Sinne des harmonischen Zusammenwirkens zweier Weisen einer Einheit – nicht nur einer –, die ausgewogene Verfasstheit einer dual wirksamen Einheit, jedoch derart, dass stets eine der Ausdrucksweisen die andere überwiegt. Die nähere Betrachtung seiner – missverständlich an hirnphysiologische Überlegungen zur Funktionsdifferenz der beiden Hemisphären angelehnte – Darlegungen führt jedoch zu den kategoriallogischen Implikationen der »levels of consciousness«, die im Gedankengang dieser Arbeit den nächsten Abschnitt bilden. 2.1.2.1.2. Das Verhältnis von »Grundverhältnis« und »Bedingungsverhältnis«: Kategoriallogische Implikationen der »levels of consciousness« Der springende Punkt der hier (im Sinne nur eines kleinen Abschnittes von Hegels »Wissenschaft der Logik«) beschriebenen Auffassung der logischen Struktur eines Kategorienwechsels (im Sinne des Wechsels einer Objektebenenbedeutung zur entsprechenden Metaebenenbedeutung) als dem Versuch einer rationalen Nachkonstruktion der Janovschen Darstellung des primärtherapeutischen Gegenstandes – nämlich: dass Kohärenz als primäre Einheit einer logischen Dualität gedacht wird – soll nun in ihren weiteren Implikationen und dabei stets unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, wie Quantität zum Ausdruck gebracht wird. Wie stellt sich die Kohärenzform des primärtherapeutischen Gegenstandes dar, so dass er nur begriffen werden kann nicht als der mehr oder weniger hoch differenzierte Ausdruck »einer Einheit«, sondern als die Weise der Darstellung der Beziehung zweier (als solcher: im Begriff der logischen Ebenendifferenz) zu unterscheidender logischer Bestimmtheiten? Was muss noch berücksichtigt werden, um das Verständnis der logischen Spezifität des primärtherapeutischen Gegenstandes im Sinne der grundlegenden Prädikate »fully connected« oder »complete (total) consciousness« zu vervollständigen? So soll jetzt also noch näher betrachtet werden, wie sich zeigt, dass der primärtherapeutische Gegenstand tatsächlich von Anfang an primär, d. h. als eine logische Dualität bestimmt ist – wie sich also zeigt, dass Janov seinen Gegenstand tatsächlich so bestimmt, dass 369 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
dieser seine eigene Begründung (das Gegenstandserfahrung begründende Verhältnis desselben zu seiner Metaebene) impliziert, indem die Sinnkomponenten der Objektebenenausgangsform nicht getrennt von der Metaebenenbedeutung, vielmehr nur als selbst eine niedrigere Ausdrucksform derselben begriffen werden können; der Gegenstand impliziert seinen Grund, indem er als die Veränderung definiert ist, in der er aus den Bedingungen seiner Anfangsform zu ihm aufsteigt. »Bedürfnisbefriedigung« und »FÜHLEN« bedeuten zwei im Sinne der kategoriallogischen Ebenendifferenz geschiedene Formen des primären Zusammenhangs. Im Sinne der hier verwendeten Definition des Objektebenen-Metaebenenverhältnisses gilt: »Bedürfnisbefriedigung ist NICHT FÜHLEN.«
Dies ist zunächst einfach so zu verstehen, dass man, beginnend bei der Bedürfnisbefriedigung, gar nichts vom »FÜHLEN« weiß. Am Ende der den primärtherapeutischen Gegenstand entwickelnden Primärtherapie hingegen hat der Satz die bestimmte Bedeutung: »Bedürfnisbefriedigung ist NICHT FÜHLEN.«
Bedürfnisbefriedigung ist eine Reihe von Erfahrungen, die zusammengenommen das NICHT bestimmen und so die Anfangsbedeutung der Bedürfnisbefriedigung vollenden durch die Herstellung der inneren Verbindung zu der ganz anderen Bedeutung, so dass jetzt, nachträglich, die Ausgangsbestimmtheit erst richtig verstanden wird als: »Eine Bestimmtheit und das NICHT einer BESTIMMTHEIT.«
Und so ist jetzt, nachträglich, der Gegenstand schon immer Ausdruck der Verbindung von zwei kategoriallogisch geschiedenen Bestimmtheiten; aber die Verbindung wird als solche nicht am Anfang, sondern erst am Ende der Herausbildung des primären Gegenstandes deutlich, nachdem die zunächst nicht als Zusammenwirken von zwei logisch zu unterscheidenden Bestimmtheiten erkannte Veränderung der Ausgangsform schließlich zur Herausbildung des Begriffs der Differenz geführt hat, aus welchem rückwirkend das Verständnis der primären Verbundenheit einer logischen Dualität als der Voraussetzung des primärtherapeutischen Gegenstandes resultiert. Der primärtherapeutische Gegenstand als »primäre Verbundenheit einer kategoriallogischen Differenz« kann nicht so artikuliert 370 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
werden, dass man eben diese »Verbundenheit« darlegt; die primäre Verbundenheitsweise ist nicht einfach »ein Verhältnis«, dessen Bedeutung man artikuliert; das gilt auch für die bereits neue Formulierung des Gegenstandes im Sinne einer Veränderung, indem man sagt: »Bedürfnis = Bedürfnis und FÜHLEN.«
Die einzige Möglichkeit, einen solchen Gegenstand darzustellen, ist, ihn als Veränderung einer Verhältnisform, als eine Veränderung im »wie« einer Verbundenheit, darzustellen; und zwar ist dies so zu verstehen, dass ein Neuansetzen, das Nacheinander zweier Darstellungsformen desselben, zur primären Gegenstandsform selbst gehört. Man braucht also zwei notwendig miteinander verbundene Darstellungen desselben Verhältnisses zweier Verhältnisse: 9 (1) Bedürfnisbefriedigung = > > > > Bedürfnisbefriedigung + FÜHLEN = Verhältnis > > (2) FÜHLEN = > > ; Bedürfnisbefriedigung + FÜHLEN Die Darstellung der ersten Verhältnisform bedeutet das Verhältnis der Bedürfnisbefriedigung und die Veränderung dieses Ausgangsverhältnisses bis zu dessen voller Ausdifferenzierung in das erste Verhältnis und eine ganz andere Form von Verhältnis, so dass jetzt zwei zueinander im Verhältnis stehende Verhältnisformen unterschieden werden. Damit ist jedoch eine Umkehrung im Verständnis dieses Verhältnisses zweier Verhältnisse gegeben: Zunächst scheint es so, dass das erste Verhältnis die Herausbildung des zweiten bedingt (indem dieses aus jenem resultiert). Wenn aber das erste das zweite Verhältnis bedingt hat, dann wird klar – indem das zweite Verhältnis die Qualität des Metaverhältnisses aufweist –, dass es eigentlich umgekehrt ist, sodass im Sinne von (2) das höhere Verhältnis dem ersten zugrunde liegt, derart, dass dieses jenes bedingen kann. Und diese Umkehrung der logischen Ordnung des Zusammenhängens im Verhältnis der beiden Verhältnisse ist es, die als für die Form des primärtherapeutischen Gegenstandes wesentlich in die Darstellung desselben einbezogen werden muss. – Eine dargestellte Struktur kann noch so exklusiv sein: sie ist und bleibt immer nur »ein Zusammenhang«; auch »ein Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET« (als eine erste Formulierung des primärtherapeutischen Gegenstandes) ist lediglich 371 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
»ein Zusammenhang«. »Ein Gegenstand, der seine Begründung impliziert«; »ein Gegenstand, dessen Erkenntnisimplikat in die Gegenstandsstruktur integriert ist«; »eine Gegenstandsstruktur im Sinne einer kategoriallogischen Differenz«: Alle diese Kennzeichnungen der logischen Spezifität des primärtherapeutischen Gegenstandes bedeuten erst dann eine wirklich neue Gegenstandsstruktur, wenn begriffen wird, dass die Umkehrung der logischen Ordnung im Verhältnis der Strukturmomente des Gegenstandsverhältnisses, welche im Rahmen dieser Arbeit ein Kategorienwechsel genannt wird, das entscheidende logische Moment der primärtherapeutischen Kohärenzform der Verbundenheit ist. Dies ist als Begründung dafür anzusehen, dass, um einen Gegenstand »höherer Art« – kategoriallogisch höher als der empiristische – zur Darstellung gelangen zu lassen, dialektisches Denken erforderlich ist, denn genau dies: die Umkehrung der Ordnung im Verhältnis der Strukturmomente des Gegenstandsverhältnisses – im »wie« des Zusammenwirkens von Subjekt und Prädikat zu einem Aussagesinn –, ist der Kernpunkt der Hegelschen spekulativen Satzform. Entsprechend dieser Form muss die Darstellung des primärtherapeutischen Gegenstandes zweimal ansetzen: Im ersten Ansatz bildet die niedrigere Form des primären Zusammenhangs, die Bedürfnisbefriedigungsstruktur, den logischen Rahmen für die Herausbildung der höheren Kategorienstufe des FÜHLENS. Dieser Ansatz ist so zu verstehen, dass er dann richtig beginnt, wenn er am Ende zu dem Ergebnis führt, dass diese Form der Artikulation – sofern man bei ihr stehenbleibt – falsch ist: Die höhere Kategorie des FÜHLENS, ausgedrückt mit den logischen Mitteln der niedrigeren Kategorienform der Bedürfnisbefriedigung, äußert sich zunächst als die allmähliche, über Stufen erfolgende Ausprägung eines logisch unhaltbaren Zustandes. Der erste Ansatz erfüllt seinen Sinn darin, einen Fehler erkennbar zu machen, so dass die logischen Mittel zu einem zweiten Ansetzen in der Artikulation der Sache verfügbar werden. Dieser zweite Ansatz vollzieht dann dasselbe wie der erste Ansatz, nur unter der Voraussetzung der Umkehrung der logischen Ordnung, so dass das Resultat der ersten Formulierung: der Begriff der Objektebenen-Metaebenendifferenz im Widerspruchsverhältnis der Strukturmomente des Gegenstandsverhältnisses, nun der Formulierung der Bedeutung der Sache zugrunde gelegt wird und das niedrigere Strukturmoment von Anfang an primär, d. h. aus der Bezie372 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
hung zu jener kategorial höheren Bedeutung, die sich aus ihm entwickeln soll, gedacht wird, so dass man nun nicht eine höhere Kategorie hat, die aus einer niedrigeren hervorgeht, sondern eine kategorial höhere Bedeutung in der Form der niedrigeren Kategorie und im Element ihrer eigenen Form. Im Janovschen Kontext umfasst daher die Darstellung des primärtherapeutischen Gegenstandes die zwei Abschnitte: »Entstehung der Neurose« und »Heilung der Neurose«, beziehungsweise sie umfasst den Gegenstand im Sinn der »kranken«, »gespaltenen« Form des Zusammenhängens und im Sinne der durch Primärtherapie erreichen »gesunden« Zusammenhangsform der Verbundenheit. Der primärtherapeutische Gegenstand bezeichnet diejenige Art von Bestimmtheit, die man aus logischen Gründen – das ist die Definition der Ebenendifferenz – nicht auf einmal erreichen kann. Die Einheit einer Struktur, die eine kategoriallogische Ebenendifferenz impliziert, funktioniert so, dass das Zusammenwirken zunächst so funktioniert, indem es in bestimmter Weise nicht funktioniert, dass aber der Modus des Nichtfunktionierens dieser Art von Zusammenhang zum Begriff des Getrenntseins ihrer Strukturmomente führt und der Mangel im Zusammenwirken der durch eine logische Ebenendifferenz getrennten Bestimmtheiten zu beheben ist, indem durch die Anwendung des gewonnenen Wissens um die logische Natur der Geschiedenheit die richtige, höhere Form des Zusammenwirkens der logisch differenten Momente – die sich aus der Berücksichtigung der Ebenendifferenz ergibt – herausgefunden werden kann. So kann die anfängliche Gespaltenheit zweier nur in einem höheren Sinn als verbunden aufweisbarer Momente gerade durch das Austragen ihrer besonderen Differenz überwunden werden. Vom Janovschen Standpunkt aus wird normalerweise, noch vor dem Inkrafttreten der Primärtherapie und im Sinne des ersten Ansetzens des primärtherapeutischen Gegenstandes, die niedrigere Bedürfniskategorie zugrunde gelegt, was notwendig zur Ausbildung der Neurose führt: Die Neurose ist der Ausdruck der logisch unhaltbaren Situation, in der wir uns in den Augen Janovs alle befinden. Die Heilung der Neurose durch Primärtherapie im Sinne des zweiten Ansatzes ist nun zu verstehen als die zweite, unter Zugrundelegung der höheren Kategorie (als Voraussetzung der Herausbildung der Bedürfnisbefriedigungsstruktur) korrigierte Formulierung einer »heilbaren Neurose«, so dass sich die der Ausgangsstruktur nachträglich zugrunde gelegte höhere Kohärenzform im Zustandekommen der Ver373 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
bindung der beiden logisch differenten Strukturmomente des Gegenstandes auswirken kann. Die zweite, um das Resultat der ersten verbesserte Voraussetzung ist also die Durchführung der logischen Ergänzung der Bedürfnisstruktur um jene Momente, durch welche deren Verbindung mit der höheren Form des FÜHLENS zustande kommt. Notwendig tritt also in der Primärtherapie als dem zweiten Ansetzen in der Gegenstandsformulierung eine »früher«, »zuvor« geschehene Herausbildung der Bedürfnisstruktur in der Form von »primären Erinnerungen« auf; umgekehrt ist es wichtig festzuhalten, dass die primären Erinnerungen einschließlich der Urerlebnisse, in die sie münden, nur dann echte Erinnerungen sind, wenn sie die Dinge gerade nicht genau so abbilden, wie sie »damals« waren, sondern wenn sie, dialektisch, eine der Vorlage des ersten Ansatzes getreue Neuschöpfung der Sache, unter Anwendung des gerade durch die erste Formulierung, indem sie von der zweiten abweicht, erreichten Ergebnisses. Im zweiten Ansatz ist der primärtherapeutische Gegenstand mehr als das, was er im Sinne der ersten Formulierung war, und gerade dadurch wird er in der Erinnerung, was er damals schon in einem tieferen oder höheren oder eigentlichen Sinne war. Diese Art, einen Gegenstand auszudrücken, kann insgesamt eine Artikulation von »Bewusstsein« genannt werden: Bewusstsein als Form der Artikulation von Erkenntnisinhalten stellt sich so dar. So ist jener in der Form von »Bewusstsein« artikulierte Gegenstand – im Sinne des genannten Grundmerkmals der Umkehrung der logischen Ordnung des Zusammenhängens der Strukturmomente der Gegenstandsstruktur – dadurch konstituiert, dass von ihm Gebrauch gemacht wird – in der Anwendung des durch seine erste Form errungenen Resultats auf ihn selbst –, so dass hier ein erster Schimmer bemerkbar wird, dahin gehend, dass der psychologische Gegenstand eine verwickelte Form ist, letztlich durch die höchste Kategorie: d. h. die Kategorie der Freiheit, konstituiert zu sein. Nachdem nun ein grobes Gerüst für das Verständnis jener Kohärenzform, welche Janov nach der hier vertretenen Auffassung für den primärtherapeutischen Gegenstand intendiert, errichtet ist, soll dieses dem Verständnis der Janovschen Äußerungen zugrunde gelegte Schema, dabei noch mehr ins einzelne gehend und auch wieder mehr Janov selbst zu Wort kommen lassend, erläutert werden. Die Konzeption der »levels of consciousness«, die Janov seit Herbst 1973 in mehreren Artikeln des »Journal of Primal Therapy« 374 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
veröffentlichte (hier zitiert nach Janov 1975) stellt eine Präzisierung in der Formulierung seines Gegenstandes und auch eine Ergänzung und Abrundung jener besonderen Art dar, von der Kategorie der Quantität Gebrauch zu machen; gleichzeitig verschärft sich aber auch im Zuge der Formulierung dieses Konzeptes mit der zunehmenden Anlehnung von logischen Vorstellungen an physiologische Modelle die Gefahr des Missverstehens seiner Theorie. Zunächst sind die levels of consciousness eine etwas anders akzentuierte Darstellung der von ihm schon früher erwähnten Ausprägungsstufen des Fühlens: Registrieren, Empfinden, Fühlen und Begreifen. Und zwar umfasst in der Terminologie der levels – mit der sich Janov ausdrücklich auf eine physiologische Beschreibung der Hirnentwicklung bezieht (Janov 1975, S. 79 ff.) – die Gesamtkapazität des Bewusstseins eine »first line«, »second line« und »third line capacity«, wobei diese Kapazität durch ein in den aufeinanderfolgenden frühkindlichen Lebensphasen – entsprechend der Hirnreifung – jeweils dominantes, einsatzfähiges Ensemble von Reaktionen gekennzeichnet ist, welches die Beziehungen des Kindes zu seiner Umwelt bestimmen. So sind körperliche Reaktionen – entsprechend der Dominanz der für Atmung, Herzfunktion und lebenserhaltende Prozesse verantwortlichen Funktionen des Rhombencephalons – für das first-line-consciousness spezifisch (vom intrauterinen Stadium bis gegen Ende des ersten Lebensjahres); die Funktionen des Gefühlsausdrucks – entsprechend der funktionalen Dominanz des limbischen Systems – bestimmen die Stufe des second-line-consciousness (in einem Alter von einigen Monaten bis etwa zwei Jahren); während third-line-consciousness – entsprechend der funktionalen Dominanz des Neokortex – meist später im Leben hervortritt, wenn logisch-begriffliches Denken, Rationalisieren und Symbolisieren in der Beziehung zur Umwelt dominieren. – Nun soll also versucht werden, die unverwechselbar eigentümliche Zusammenhangsweise des primärtherapeutischen Gegenstandes noch einmal in der Sprache der levels zu beleuchten. Was also ist ein level of consciousness? – Entsprechend der Besonderheit des primärtherapeutischen Gegenstandes lässt sich das nur über mehrere Anläufe sagen. Zu Beginn, unter dem Gesichtspunkt der Herausbildung der levels, ist er als das zu bestimmen, was der Organismus tun kann, um sich zu dem, was auf ihn einwirkt (d. h. seine Realität), in ein wirkungsvolles Verhältnis zu setzen; ein Organismus kann nur so gedacht werden, dass er auf Bestimmtheiten, die 375 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
er nicht ist: nämlich auf spezifische Einwirkungen der Umwelt, bezogen ist, derart, dass er auf sie reagieren muss: »The properties of reactivity and sensitivity are the elements of consciousness; those elements exist on every level of consciousness, whether there is awareness or not.« (Janov 1975, S. 214) »The key point here is that whenever a Pain is triggered not only the hurt (e. g. the sensitive element, B. V.) is triggered, but also the exact early reaction to that hurt becomes reactivated. This is because one’s life experiences are registered in a sequential, orderly, maturation-dependent way. The response is part of the early memory circuit.« (a. a. O., S. 84)
Ein level bezeichnet die »behavioral possibilities« einer Entwicklungsphase des Organismus, »the way he articulates his early hurts.« (a. a. O., S. 108);
er bezeichnet, dass der »input«, die Energie, die auf den Organismus einwirkt, gelenkt werden muss: »to direct«, »to mediate« (a. a. O., S. 86), »to handle the load« (a. a. O., S. 166), »to handle the charge value« (a. a. O., S. 167), »correctly symbolize« (a. a. O., S. 189). Bei seiner Darlegung der levels macht Janov auch recht ausgiebig Gebrauch von einer verhaltenstheoretisch anmutenden Terminologie (»reaction«, »response«, »pattern of behavior«), jedoch mit jener schon bekannten, deutlichen Akzentverschiebung, dass damit u. a. auch beobachtbares Verhalten nicht als solches, vielmehr als ein Mittel angesprochen ist, das dem Organismus in bestimmten Phasen seiner Entwicklung zur Verfügung steht, um die ihn charakterisierende Wahrnehmung seiner Umwelt auszudrücken. Verhalten ist nicht selbst »etwas«, es ist Mittel der Darstellung des Verhältnisses des Organismus zu seiner Realität, und das ist die grundlegende, »primäre« Bestimmung von »Organismus« (a. a. O., S. 169). »Behavioral possibilities« bedeuten eine Kapazität »to represent a feeling« (a. a. O., S. 100); sie bedeuten »expression patterns«, »to give an overall characteristic way a person expresses his feelings.« (a. a. O., S. 88)
Das, was ist: d. h. das je reale Organismus-Umwelt-Verhältnis des Organismus, wird dargestellt mit den je dem Organismus verfügbaren Mitteln: mit dem, was er kann. Der Organismus ist dies: dasjenige, was er aufbringen kann, um sich zu dem von ihm wahrgenommenen Umweltverhältnis ins Verhältnis zu setzen: Diese beiden 376 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Verhältnisse in das adäquate, stimmende Verhältnis zu bringen – in das harmonische Verhältnis, das ist die den Organismus bestimmende, grundlegende Notwendigkeit; sie ist es, die den Zwang ausübt (exerts a force; impells), welcher »need« besagt; sie hat er im Auge, wenn er sagt: »The need and its energy never change. All that changes is the ways (zu verstehen auch im Sinne der »levels«, B. V.) the child and then the adult goes about trying to fulfill it.« (a. a. O., S. 325)
Und nur in diesem Sinn kann er an anderer Stelle sagen: »You do not overcome need.« (Janov 1980, S. 66)
Es steht dem Organismus im Sinne des primärtherapeutischen Gegenstandes nicht frei, das grundlegende Verhältnis zu dem, was er in der Weise ist, es nicht zu sein (das Verhältnis zu seiner Umwelt) abzubilden oder nicht oder so oder so abzubilden; er ist definiert als das Herstellen des Verhältnisses des ihn konstituierenden Verhältnisses zu seiner Umwelt und des Verhältnisses seiner ihm je verfügbaren Ausdrucksmöglichkeiten. Das einzige Bedürfnis, das in der Tat befriedigt werden muss (wie Janov sagt: »There is only one way […] to have your needs fulfilled«, Janov 1980, S. 230) und das eine lebenslänglich wirksame Kraft auf den Organismus ausübt (wie Janov sich öfters ausdrückt): das ist das Bedürfnis, das den Organismus konstituierende Verhältnis verhältnismäßig richtig zum Ausdruck zu bringen. »Verhältnismäßig richtig« bedeutet jedoch nicht: so gut er eben kann, mit den Mitteln, die er eben hat; denn das Entscheidende der Janovschen Gegenstandsbestimmung ist, dass er überbeanspruchbar ist und in der Tat von Anfang an durch seine Aufgabe überbeansprucht, »überlastet« ist. Dieses Gesetz der Überlastbarkeit gilt für den Organismus wie für eine biologische Zelle: »Cells can be overloaded and their functioning be permanently disrupted.« (Janov 1975, S. 214)
Die hochgradige Traumatisierbarkeit, die den kindlichen Organismus nach Janovscher Auffassung kennzeichnet, ergibt sich daraus, dass offenbar im Verhältnis des Organismus zu seiner Umwelt von Anfang an alles eine Rolle spielt und wahrgenommen wird, zu dem jemals ins Verhältnis zu setzen für ihn charakteristisch ist; die Mittel, um das für den Organismus relevante Verhältnis zu seiner Umwelt 377 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
auszudrücken – seine Vermittlungskapazität also – sind jedoch keineswegs von Anfang an voll ausgebildet; daher benötigt er ein »Entgegenkommen« von Seiten dieser Umwelt. Im Hinblick auf dieses den menschlichen Zusammenhang charakterisierende merkwürdige Missverhältnis: einerseits dem Druck der vollen Vermittlungsanforderung ausgesetzt zu sein und andererseits über die Mittel der Erfüllung dieses Solls zu Anfang nur in geringem Maße zu verfügen, sagt Janov an einer Stelle, es gebe nichts Monströseres, Unmöglicheres als ein ungeliebtes Baby. Aufgrund dieser schwierigen Situation kann das BEDÜRFNIS des Organismus, vermittelst seiner effektiven Verhaltensmöglichkeiten zu dem ihn definierenden Gesamtverhältnis unter Mithilfe einer bedürfnisbefriedigenden Zutat von außen ein stimmendes, die Wahrheit des Organismus ausdrückendes Verhältnis herzustellen (to find the proper connection), unausweichlich nur mangelhaft befriedigt werden. Phylogenetisch wie ontogenetisch gilt: »Man grew around his inevitable Pain.« (Janov 1975, S. 233)
Aus der Differenz der tatsächlich aufgebrachten Vermittlung – einschließlich einer mehr oder weniger adäquaten, aber aus logischen Gründen niemals ganz adäquaten bedürfnisbefriedigenden Hilfestellung – und dem erforderlichen Maß an Vermittlung entwickelt sich die unentrinnbare Systematik der Veränderungen der Verhältnisse des Gegenstandsverhältnisses – jene Demonstration der »Dialektik«, welche das das Leben bestimmende Gesetz ist: »It is the basis of life and is […] the key law of motion of living things […] This dialectic is how life comes into being […] for the dialectic is the very basis of life.« (a. a. O., S. 226, Hervorhebung B. V.)
Dialektisch bestimmt ist ein Gegenstand, wenn er als eine Gesamtdifferenz gefasst ist, derart, dass er zunächst diese Gesamtdifferenz ist, indem er sie überwiegend nicht ist; oder: ein Gegenstand, der ein bestimmtes Nicht dessen ist, was er ist. Um einen solchen Gegenstand richtig zu verstehen, muss man ihn in seiner Entwicklung verfolgen, deren Resultate erst deutlich machen, was er von Anfang an war, so dass er sich so entwickeln musste; diese Figur einer notwendigen Veränderung in der Auffassung der Ausgangsstruktur eines Gegenstandes, für dessen Verständnis die Berücksichtigung seiner Entwicklung erforderlich ist – so dass man genötigt ist, im Rahmen seiner Darstellung noch einmal von vorn anzufangen –, beansprucht 378 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
und erläutert Janov implizit bei seiner Diskussion der »levels of consciousness«. Wie die Konzeption der levels die dialektische Zusammenhangsform des Gegenstandes zum Ausdruck bringt, sei unter zwei Gesichtspunkten gefasst: Der Organismus muss, erstens, immer auf das für ihn spezifische Gesamtverhältnis reagieren (obwohl er die für die Beziehung zu jenem Gesamtverhältnis erforderliche Vermittlungskapazität erst über verschiedene Stufen entwickeln muss), und zwar muss er, zweitens, die Mittel der Beziehung zu dem für ihn spezifischen Gesamtverhältnis in einer bestimmten Reihenfolge ausbilden, die durch die Entwicklung der levels vorgezeichnet ist. Zum ersten Gesichtspunkt: dass nämlich der Janovsche Organismus als ein Gegenstand gedacht wird, der von Anfang an das Ganze dessen ist, was sich aus ihm entwickeln wird, zeigt sich an drei Gedankengruppen der Janovschen Äußerungen zu diesem Thema: (1) Äußerungen dahin gehend, dass die Herausbildung eines levels nicht für sich isoliert, sondern von Anfang an in Beziehung zu den späteren Entwicklungsstufen erfolgt: »Though there is (at the first level of consciousness, B. V.) a second and third line capacity for consciousness, it is not fully developed at that time and firstline consciousness predominates.« (Janov 1975, S. 162) »It should be noted that first-line Pain not only affects the first line. Because from the beginning there is an incipient second and third line interrelated with the first, they may be distorted in one way or another by that Pain.« (ebd.) »In the maturation of the brain each new trauma is represented and then rerepresented holographically on higher and higher levels of the brain neuraxis. In this way a Primal chain is developed, with later trauma reactivating related first-line Pains […] This fusion and representation continues to occur and becomes more elaborate and complex as maturation goes on […] The net result of separate traumas […] All of this is because of the holographic pattern of brain development. Each new trauma adds a piece of the total imprint; as one descends the chain in Primal Therapy, each reexperiencing of the traumas clarifies a particular aspect of the overall pattern of behavior.« (a. a. O., S. 88 f.)
Die noch nicht ausgebildeten, späteren Entwicklungsstufen sind bei der Herausbildung des ersten levels in der Weise anwesend, dass sie in demjenigen, was sie für sich selbst und insofern sie etwas anderes, neues, gegenüber dem ersten level sind, durch das Geschehen von level one mitbetroffen sind; so ist der später ausgebildete level als 379 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
etwas Neues eine neue Form des vorangegangenen: So ist etwa das Stottern auf einer zweiten Entwicklungsstufe nicht eine neue Krankheit, sondern eine neue Facette der auf level one im Modus der Atemverkrampfung ausgedrückten Erfahrung: »It is not a new feeling which is occurring. The first-line Pain is being compounded.« (Janov 1975, S. 199) »What is happening is that the same feeling relived on a third line level is later experienced on second- and first-line levels with broader implications, deeper insights; in a more all-encompassingly systemic way […]« (a. a. O., S. 98)
(2) (Weitere Belege für die genannte Besonderheit der Janovschen Auffassung des Organismus bilden) Äußerungen, aus denen hervorgeht, dass der Organismus seine Situation von Anfang an so »wahrnimmt«, dass er, um adäquat darauf zu reagieren, über alle jene Mittel verfügen müsste, die seine abgeschlossene Entwicklung voraussetzen, welche jedoch ihrerseits zunächst die Absolvierung des ersten levels voraussetzt. – Das Konzept der Traumatisierung und der ganz besonders verheerenden Traumatisierbarkeit auf level one besagt: »experiencing of overwhelming Pain« (a. a. O., S. 86). »Overwhelming Pain« bedeutet für einen level-one-Organismus eine katastrophale Situation (»confusion«, »panic«, »chaos«; vgl. a. a. O., S. 84, S. 216 f.), denn es bedarf der voll entwickelten Kapazität des Fühlens, um diese Situation wirksam zu bewältigen. Diese im Sinne der Janovschen Definition des Organismus richtige Beantwortung der Situation kann nur erfolgen, indem die erlittene Einwirkung voll und bewusst erlebt wird. »The experiencing of Pain« als ein vollständig und korrekt verbundenes (a. a. O., S. 218), die Kapazität aller drei levels voll beanspruchendes, bewusstes Fühlen, »the bringing of Pain into full consciousness« (a. a. O., S. 164), welches sich ergibt aus der »participation of all three levels of consciousness«, wie dies nur einem voll entwickelten, ausgereiften menschlichen Wesen möglich ist (ebd.). »Catastrophic Primal Pains« bedeuten für einen Säugling den drohenden Tod; hingegen gilt: »The adult, he can resolve the Pain by feeling it, something the infant could not do.« (a. a. O., S. 216) »[…] that neocortex (third line, B. V.) is the precise mechanism by which Pain is resolved.« (a. a. O., S. 234)
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
In diesem Zusammenhang und im Hinblick auf das Verständnis der besonderen Einheitsform des Janovschen Organismus sollen ergänzend betrachtet werden: (3) Äußerungen dahin gehend, dass ein first-level Organismus etwa mit »shutdown« auf die Wahrnehmung eines Missverhältnisses reagiert, so dass diese Reaktion den Sinn hat zu verhindern, dass »Pain« erlebt wird, obwohl »Pain« (im Unterschied zu »to registrate being hurt« oder »to suffer«) doch erst im Zuge der Herausbildung des vollen Erlebens und als dessen Folge auftritt: »It is the experience that makes for the great Primal Pain, not simply its registration.« (a. a. O., S. 329) »It is consciousness which makes for Pain – the experience of Pain.« (a. a. O., S. 218) »›Experience‹ means to bring a Pain registered on a lower level of consciousness into connection with the third line. It is that consciousness which completes the circuit and alters a registered event into a totally experienced one.« (a. a. O., S. 328 f.)
Das Registrieren (to registrate hurt) der ersten Stufe ist ein Erleben in der Form des noch-nicht-vollen Erlebens; es ist ein Bewusstsein in der Form des Un-bewusstseins im Sinne des noch nicht entwickelten Bewusstseins. Daher muss, nachem das menschliche Wesen eine volle Entwicklung durchgemacht hat, eine Art von ergänzender Neuformulierung erfolgen (to complete the circuit), um das in seiner Entwicklung errungene Resultat, welches der Gegenstand voraussetzt, für all seine Ausprägungsstufen in der vollen Form, wie er es voraussetzt, zu berücksichtigen; die vorläufigen Entwicklungsresultate müssen, um zu einer vollständigen Formulierung des Gegenstandes zu gelangen, auf die bis jetzt herausgebildeten Momente der Gegenstandsstruktur angewendet werden. »Because consciousness brings Pain with it, defenses must ultimately be seen as defenses against consciousness. The experience must therefore be consciousness-expanding […] so that full (and true) consciousness can occur.« (a. a. O., S. 86) »It is that connection (with the third line, B. V.) which completes the circuit and alters a registered event into a totally experienced one […] And it is experience that makes the unconsciousness (lower levels of consciousness) conscious.« (a. a. O., S. 329)
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Der Gegenstand ist BEWUSSTSEIN als Verbindung einer Form von Bewusstsein in der Form des (Noch-)Nicht-Bewusstseins und einer seinem Bewusstsein-Sein adäquaten Form. Zum zweiten Gesichtspunkt kommend sei jetzt also betrachtet, wie die Weise der Anfangsform des Gegenstandes, bereits das Ganze zu sein, das er werden wird, in jene unentrinnbare Systematik der Entwicklung des Gegenstandsverhältnisses einmündet, welche Janov in seiner Diskussion der levels of consciousness unentwegt zum Ausdruck zu bringen bemüht ist. Der Organismus IST ein Gesamtverhältnis, indem er ein Verhältnis ist, das er realisieren kann, und ein Verhältnis, das er nicht realisieren kann. Das den Organismus definierende Gesamtverhältnis muss also irgendwie von ihm aufgenommen werden – es muss eine Weise geben, wie er es von Anfang an zum Ausdruck zu bringen angetrieben ist – was zum Teil mit adäquaten Mitteln geschieht – die das Gesamtverhältnis in einem gewissen Maße stimmig zum Ausdruck bringen – und, da er die Beziehung zum Ganzen ist und sie doch noch nicht voll darstellen kann, zum Teil auf inadäquate Weise. Das zu vermittelnde Gesamtverhältnis, das der Organismus ist, in der Weise, es noch nicht zu sein, wirkt nun als das zu befriedigende BEDÜRFNIS, so dass der Organismus zuerst alles in seinen Kräften Stehende tun und alle ihm erreichbaren Verhaltensmöglichkeiten entwickeln wird, um jenes Bedürfnis zu erfüllen (vgl. Janov 1970, S. 22). Zuerst werden also unter dem Negationsdruck der geforderten Vermittlung eine Reihe von dem Organismus zugänglichen »Ressourcen« entwickelt: die für level one charakteristischen Ausdrucksmöglichkeiten. Nun gibt es nach Janov die folgende Alternative, je nachdem, wie gut die bedürfnisbefriedigende Hilfestellung in der Erfüllung der unmittelbaren first-level Erfordernisse die prinzipielle Vermittelbarkeit der den Organismus definierenden Gesamtdifferenz in Bezug auf die derzeit aktualisierten Vermittlungsmöglichkeiten vermittelt: Entweder wird die Last seines Werdens für den Gegenstand so weit ermäßigt, dass die Negation des noch nicht erreichten Vermittlungsmaßes lediglich die Ausbildung eines weiteren levels mit einer spezifischen Reihe neuer Ausdrucksmöglichkeiten herausfordert und, über diese hinaus, der Notwendigkeit der Vermittlung des Gesamtverhältnisses entsprechend, wiederum eine neue Qualität von Ausdrucksmöglichkeiten, bis an die Grenze der Darstellungskapazität dieser Art von Verhältnissen. 382 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Hier ist es angezeigt – noch vor der Vervollständigung der angekündigten Alternative im »oder« – die Aufmerksamkeit für einen Augenblick darauf zu lenken, dass nach Janov der Ganzausdruck des Fühlens nur über das Zusammenwirken qualitativ differenter Momente – im Sinne der drei levels – erreicht werden kann. Die Herausbildung der für den Organismus insgesamt erforderlichen Vermittlungskapazität im Sinne der levels impliziert, dass sie nur über das Zusammenwirken qualitativ verschiedener Vermittlungsoperationen aufgebracht werden kann. Jeder level bedeutet eine bestimmte Anzahl von charakteristischen Operationen – ein charakteristisches Repertoire von Ausdrucksmöglichkeiten – und eine bestimmte Anzahl von Anwendungen desselben – im Sinne des Begriffs der »Phase«; und jetzt fährt die Sache fort im Sinne des oben angeführten Satzes: »Der Organismus wird alles in seinen Kräften Stehende tun, um zur Befriedigung seines Bedürfnisses zu gelangen«; und das heißt, wenn das Repertoire der ersten Stufe am Ende, das Ziel jedoch noch nicht erreicht ist, so erfolgt eine Veränderung in der Methode: d. h. ein qualitativer Wandel im Sinne der Herausbildung einer neuen Kategorie von Vermittlungsoperationen; die Quantität einer bestimmten Anzahl von Anwendungen einer bestimmten Anzahl von Operationen führt zu einer neuen Qualität, einer neuen Stufe von Operationen: »Each level of consciousness contributes something different in order to make up a completely represented feeling. The first line offers the ›energy‹ of the feeling, the force or charge value of it: The second line produces the quality of feeling and expresses it with emotional responses. The third line evolves the full comprehension of what is being felt […] Thus, energy, quality, and comprehension are the necessary elements that go to make a full feeling.« (a. a. O., S. 100) »The three systems working together form an integrated feeling.« (a. a. O., S. 164) »These three levels process Pain, each in their specific ways. This means, that there are three key Pain-processing systems associated with specific levels of consciousness.« (a. a. O., S. 163) »I want to reiterate one key point: namely, that each feeling we have has components from all three levels of consciousness. Each system adds its dimension.« (a. a. O., S. 199)
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
»For our purposes Pain is the uniquely human experience; it takes all the levels of consciousness to make Pain but only one level may produce suffering. The experience of Pain is an interconnected event.« (a. a. O., S. 218)
Die Ausdrucksmöglichkeiten eines levels bedeuten so etwas wie eine eigene Sprachform; und es sind diese verschiedenen Sprachformen, in die das primäre Problem übersetzt werden muss: »In Primal Therapy what we try to do is reactivate an old feeling on its own terms; this means that if it is a preverbal trauma we use nonverbal means.« (a. a. O., S. 195) »Each feeling must be integrated in its own terms. The lack of integration is precisely how symbolic behavior got its start, for when a certain feeling was blocked, its energy had to take devious routes.« (a. a. O., S. 424) »That is, each Pain must be integrated on the level where it resides.« (ebd.) »The importance of all this is that no level of consciousness can do another level’s work.« (a. a. O., S. 215)
Indem die Ausprägung der Gesamtvermittlungskapazität des Organismus von Anfang an das Zusammenwirken verschiedener Stufen von Vermittlungsoperationen impliziert – in diesem Sinn spricht Janov auch von der »Primal anlage« (etwa: a. a. O., S. 90) – ist die Herausbildung der Stufenfolge der levels als der Grundachse der Systematik auf alle Fälle obligatorisch. Entweder verläuft also die Entwicklung des Organismus mehr oder weniger unproblematisch entlang dieser vertikalen Grundachse: Oder – und dieser Fall ist schon aus logischen Gründen bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich, damit die Verhältnisse des Gegenstandes Wahrheit repräsentieren – das Negationsmaß der noch unvermittelt gebliebenen Vermittlung muss, ihrem jeweils »registrierten« Ausmaß entsprechend – hier greift der Janovsche Begriff der »commensuration« (etwa: a. a. O., S. 273) – noch einmal mit den schwachen Mitteln des gerade aktualisierten levels repräsentiert werden, und zwar, indem die positiven Ausdrucksmöglichkeiten ja bereits erschöpfend angewandt sind, in der Form einer dem verbliebenen Rest-Maß entsprechenden Beeinträchtigung des aktualisierten Vermittlungsmodus. Dies erfüllt dann den zweiten Teil der Janovschen Beschreibung: »If his needs go unfulfilled for a length of time […] he will suffer continuous pain either until he can do something (Entwicklung neuer levels; B. V.) […] or until he shuts off the pain by shutting off his need.« (Janov 1970, S. 22)
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Um die Entwicklung der levels einschließlich der gegebenenfalls notwendigen Repräsentation des Rest-Maßes des zu vermittelnden Gesamtverhältnisses zu verfolgen, sei noch einmal an der grundsätzlichen Systematik von Quantität-Qualität angesetzt: Die Zunahme an Vermittlungskapazität durch Herausbildung von Ausdrucksmitteln ist einmal quantitativ zu verstehen: Die Entwicklung der Mittel bedeutet die Entwicklung von mehr Vermittlungskapazität. Der Anfang dieser Entwicklung folgt ebenfalls dem quantitativen Denkschema: Es geht um die Herausbildung vieler von derselben Art, die alle zusammen ein Vermittlungsmaß bedeuten, welches zum Gesamtmaß in einem charakteristischen Verhältnis steht. Diese Herausbildung des »mehr« an Vermittlung im Sinne von »viele von der gleichen Art« expliziert sich als eine Summation von Quantität, derart, dass jedes neue Moment dem vorangegangenen gleicht und nicht ganz gleicht, indem es ihm gegenüber etwas mehr Vermittlung bedeutet, derart, dass diese quantitative Zunahme ab einem bestimmten Grad ein zum Gesamtmaß in einem charakteristischen Verhältnis stehendes Maß herausgebildet hat und eine weitere quantitative Zunahme nun eine Differenz im Sinne des Verhältnisses zweier Qualitäten von quantitativer Zunahme und schließlich das Verhältnis dreier solcher Verhältnisse impliziert. Levels als Stufen von Vermittlungsmitteln sind kontinuierlich und »fluide« miteinander verbunden, indem die richtige Herausbildung einer Art von quantitativer Zunahme als schrittweise Herausbildung einer Differenz gedacht werden muss, die bis zu einem gewissen Maß (vertreten durch eine bestimmte Anzahl) noch überwiegend als Gleichheit funktioniert, bis sie so groß geworden ist, dass man im weiteren Fortfahren besser daran tut, andere Begriffe (»terms«) zu verwenden und Differenzbildung auf neue Art zum Ausdruck zu bringen, deren Methode der Vergrößerung wiederum eine charakteristische Anzahl von Schritten definiert, die das Maß einer gleichen Qualität erfüllen. In diesem Rahmen einer systematischen Beziehung von Quantität und Qualität erfolgt nun die »Verrechnung« des Restbetrags der noch nicht vermittelten Vermittlung als ein »process of commensuration« (a. a. O., S. 275). Unter allgemeinem Gesichtspunkt seien zwei Arten von Maßnahmen aufgeführt: (1) Die Vorprägung höherer levels im Sinne der Stichworte »prototypic reaction« und »Primal anlage«. Diese besagen eine Vorbelastung bestimmter »related areas« höherer Niveaus (a. a. O., 385 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
S. 170). »Vorbelastung« bedeutet, dass eine Funktionsminderung auf dem vorbelasteten level unter dem Zusammenwirken der ursprünglichen und der neu wahrgenommenen Belastung entsprechend rascher eintritt. Das Ausmaß der ursprünglich erlittenen Schmerzeinwirkung bestimmt das Maß an Generalisierung: d. h. wie viele der Operationen eines levels und den damit systematisch verbundenen Operationen höherer levels in Mitleidenschaft gezogen werden (a. a. O., S. 192; auch: Janov 1973b, S. 146, – Ein »Verrechnungsbeispiel« findet sich in Janov 1980, S. 166). (2) Die Veränderung der Ausdrucksmittel eines levels ist wiederum nach dem Schema: Quantität-Qualität, so anzuordnen, dass zunächst kleinere Veränderungen der Vermittlungsoperationen eines levels noch in jenem Differenzspielraum liegen, welche ihre Qualität unangetastet lässt: zu viel von derselben Sorte oder Überanwendung eines Modus (»overreaction«; »compulsiv responses«); und sodann größere Veränderungen – entsprechend dem kombinierten Betrag des zu repräsentierenden Vermittlungsdefizits –, welche die Qualität der Operationen eines levels betrifft. Zu dieser Art von Veränderungen ist vielleicht das »rerouting« zu zählen, d. h. die »Umleitung« qualitativ höherer Vermittlungsoperationen in die Ausdrucksmittel eines niedrigeren levels – oder einfach eine entsprechend vermehrte Benutzung des »falschen« qua niedrigeren Repertoires. Vor allen Dingen jedoch gehört zu den größeren Veränderungen jene Maßnahmen, die Janov als »gating«, »blocking« oder »shut off« beschreibt, was wohl so zu verstehen ist, dass auf Anwendung der Ausdrucksmittel eines levels in dem Maße verzichtet wird, als sie dazu eingesetzt werden müssen, Ausdruck von Vermittlung zu verhindern. Vermittlungsoperationen werden, anstatt zur Vermittlung, dazu verwendet, »connection« zu unterbinden: Die Systematik der verschieden hohen Zweige der die Qualität eines levels ausmachenden Vermittlungsoperationen am vertikalen Stamm der die Entwicklungsrichtung bezeichnenden Grundachse wird lückenhaft und kann nicht mehr als eine Ganzheit funktionieren. So entsteht »false consciousness – a consciousness which collects the overload, distributes and reroutes it, and generally is utilized as a defense structure rather than
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
something which has a direct mediating relationship between biologic energy and living.« (a. a. O., S. 86)
Als ein spezieller Gesichtspunkt, um die dialektische Kohärenzform des primärtherapeutischen Gegenstandes zu beleuchten, sei nun noch jenes »Umkippen« der Gesamtbedeutung des Vermittlungszusammenhangs näher betrachtet, den Janov bereits in seinem Erstwerk (1970) als den »critical shift« (a. a. O., S. 24) oder den »qualitative leap into neurosis« beschreibt. Immer wieder muss die Ausführung des Verständnisses der logischen Struktur des Janovschen Gegenstandes an die zu erneuernde geistige Geduld appellieren, indem das vernunftgemäße Begreifen von Entstehung und Heilung der Neurose ganz gewiss ein Punkt ist, der jede nur mögliche Sorgfalt erfordert. Wie ist der Zusammenhang der levels im Sinne der Reflexionskategorien zu verstehen, wenn gesagt wird: Die levels bedeuten ein quantitatives Anwachsen der Vermittlungskapazität, derart, dass Qualitäten oder Stufen dieses Anwachsens im Sinne von Unterschied, Verschiedenheit, Gegensatz und Widerspruch unterschieden werden müssen? Der »Organismus« wird von Janov als eine Systematik der Herausbildung von Vermittlungsoperationen gesehen, derart, dass über verschiedene Stufen jenes GESAMTVERHÄLTNIS dargestellt wird, welches der Organismus von Anfang an BEDEUTET. Der Organismus IST – als die für ihn vorauszusetzende Wahrheit – ein noch unbestimmt-bestimmtes und daher zu vermittelndes VERHÄLTNIS. Und was dieses VERHÄLTNIS IST, das wird über das Zusammenwirken verschiedener Stufen des Darstellens dargestellt, indem sich Quantität, als die Herausbildung spezifischer Vielheiten, qualitativ metabestimmt und damit in Richtung auf Herausbildung eines »mehr« an Negationsqualität zusteuert. Der eigentliche Gegenstand der Primärtherapie oder der Janovsche »Organismus« beginnt mit der zweiten Version eines vorauszusetzenden Gegenstandes, indem die levels eine Bedeutung qua realisiertes Verhältnis zeigen, welches das GESAMTVERHÄLTNIS BEDEUTET. Nun impliziert aber »Vermittlung«, indem ein werdendes Verhältnis von Anfang an ein VERHÄLTNIS darstellen soll, dessen adäquate Darstellungsform doch erst erworben werden muss, eine Umkehrung der Bedeutung, dergestalt, dass die ersten Stufen der Herausbildung der Darstellungsmittel das eigentliche VERHÄLT387 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
NIS, um das es geht, nur darstellen, indem sie es überwiegend nicht darstellen; die anfänglichen Verhältnisse sind etwas Wahres, indem sie es überwiegend nicht sind: Ihre wachsende Vermittlungsqualität bringt wahrheitsgemäß mehr und mehr Negation zum Ausdruck. Die Darstellungsmittel der levels bilden eine Bedeutung heraus, die, je bestimmter sie wird, desto mehr als Negation hervortritt, was sich etwa ab der Stufe des Gegensatzverhältnisses zeigt: Ab der Stufe mit der Darstellungsmöglichkeit einer Verhältniskategorie von der Qualität eines Gegensatzes ist eine Ambivalenz oder Zweideutigkeit bemerkbar dahin gehend, was die vermittelte Bedeutung nun bedeuten soll: Ist mit dieser Bedeutung eine Identitätsstruktur entsprechend der dargestellten Struktur oder ist, im Gegenteil, das (auf dieser Stufe noch nicht positiv bestimmbare) NICHT dieser Struktur gemeint? – Die Phase der Herausbildung des dritten levels (etwa zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr) ist ja nach Janov in vielen Fällen die Zeit der großen qualitativen Veränderung des Organismus im Sinne der Neurose, da eine Vielzahl übermäßiger Schmerzeinwirkungen – die im Einzelnen dem jeweiligen level entsprechend repräsentiert sind – eine Quantität der beeinträchtigenden Veränderung der Vermittlungsqualität der levels bedeutet, derart, dass das Maß der Beeinträchtigung größer ist als das Maß der im ursprünglichen Sinne arbeitenden Vermittlungskapazität, so dass sich die Gesamtqualität des Vermittlungsorgans ändert: es ist jetzt mehr Beeinträchtigung in der Vermittlung einer Bedeutung als deren positive Vermittlung; der Sinn der Bedeutungsvermittlung ist jetzt gespalten: Er ist nicht mehr überwiegend Darstellung einer zu vermittelnden Bedeutung, sondern teils diese Darstellung und teils (bis hin zum »überwiegend«) die Verhinderung oder Negation der Darstellung einer vermittelten Bedeutung: »From that time on, he will operate on a system of dual selves; the unreal and real selves.« (Janov 1970, S. 24)
Es wurde gesagt: Die Herausbildung der Vermittlungsstufen der Bedeutung eines Gesamtverhältnisses geschieht so, dass auf den höheren Stufen zunehmend der Negationscharakter des vermittelten Verhältnisses hervortritt. Nun ist evident, dass die erforderlichen Mittel, um ein Verhältnis darzustellen, welches das »Sein einer Negation« zum Ausdruck bringt, nicht ausreichen, um eine Bestimmtheit (die Negation ist) als Negation darzustellen; dies erfordert, wie weiter oben angedeutet, eine kompliziertere Struktur: 388 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Man muss noch einmal ganz neu ansetzen – was innerhalb der Entwicklung der Ausprägungsformen des Fühlens einem »Methodenwechsel« entspricht –, um eine Verhältniskategorie im Sinne der Widerspruchsbestimmtheit anwenden zu können, weshalb man eigentlich einen vierten level ansetzen müsste; bei Janov ist jedoch die Pubertät nicht als eigenständige Entwicklungsphase berücksichtigt. 3 Ihn interessiert ja der Fall, dass die Negationsbedeutung der entwickelten Darstellungsmittel als Negation gerade nicht »zu ihrer Zeit«, sondern verfrüht, in der Form der Überlastung und Beeinträchtigung der Organe jener niedrigeren Vermittlungsstufen zur Darstellung kommt, welche – im Sinne der Vermittlungskapazitäten von Unterschied, Verschiedenheit und (bis zu einem gewissen Grade) Freud hat der Pubertät als einer eigenständigen Entwicklungsphase, aus deren Hinzutreten zur infantilen Libidoorganisation eine merkwürdige und für die menschliche Bestimmtheit spezifische Konstellation resultiert, ausgiebig Beachtung geschenkt. Von seinen zahlreichen Äußerungen zum »zweizeitigen Ansatz der Sexualentwicklung« seien hier nur folgende Stellen zitiert: »Die Objektwahl der Pubertätszeit muss auf die infantilen Objekte verzichten und als sinnliche Strömung von neuem beginnen. Das Nichtzusammentreffen der beiden Strömungen hat oft genug die Folge, dass eines der Ideale des Sexuallebens, die Vereinigung aller Begehrungen in einem Objekt, nicht erreicht werden kann« (GW, V, S. 101). – »Die Tatsache des zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung beim Menschen, also die Unterbrechung dieser Entwicklung durch die Latenzzeit, erscheint uns besonderer Beachtung würdig. Sie scheint eine der Bedingungen für die Eignung des Menschen zur Entwicklung einer höheren Kultur, aber auch für seine Eignung zur Neurose zu enthalten. Bei der tierischen Verwandtschaft des Menschen ist unseres Wissens etwas Analoges nicht nachweisbar. Die Ableitung der Herkunft dieser menschlichen Eigenschaft müsste man in der Urgeschichte der Menschenart suchen« (GW, V, S. 135). – Im Kontext der »levels« wäre die von Freud beschriebene Problematik des zweizeitigen Ansatzes etwa so zu interpretieren: Der »zweite Ansatz« bedeutet eine Verhältnisform – entsprechend der Ausbildung des dritten levels als der Voraussetzung des Eintritts in einen psychotherapeutischen Prozess –, derart, dass (phasenspezifisch) die vermittelte Bedeutung ansatzweise in ihrem Charakter als Negation verstehbar wird. Diese Verhältnisform im Sinne der Widerspruchskategorie, im Verhältnis zu den niederen Verhältnisformen – entsprechend dem Ideal der Vereinigung aller Partialtriebe in einer Objektbesetzung –, besagt: entweder die Entscheidung für die niedrigere Kategorie (wenn die im ersten Ansatz vermittelte »Seins«-Bedeutung überwiegt, d. h. relativ gut vermittelt wurde) und damit Gespaltenheit durch Befangenbleiben im Gegensatzverhältnis oder (meist auf Grund der Traumatisierung, d. h. einer bereits bestehenden Negationsüberlastung der Positionsbedeutung) eine Entscheidung für die höhere Kategorie und damit manifeste Neurose als einer anders gelagerten Spaltung. – Religionskritik und Pessimismus Freuds werden hier durchsichtig, vor allem auch seine Einschätzung der Neurose als einer Stufe von Moralität, die sich der Betreffende noch nicht ganz leisten kann. 3
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Gegensatz – überwiegend das Sein des Negationsverhältnisses vermitteln. An dieser Stelle sei nun nicht ausführlich auf die Frage eingegangen, inwieweit die Neurose im Gang der Dinge unvermeidlich ist. Jedoch erfordert der primärtherapeutische Gegenstand, zum Verständnis seiner dialektischen Struktur, bis zu einem gewissen Grade das feine Zusammenspiel von Vordergrunds- und Hintergrundsbedeutung – und das Anwachsen dieser in jener, bis hin zum Wechsel – wahrzunehmen; d. h., die Herausbildung des Seins jener Identität, die Negation von IDENTITÄT ist, kann, wie schon mehrfach erwähnt, aus logischen Gründen nicht hundertprozentig makellos geschehen, indem die Richtungsbestimmung der Weiterentwicklung der vermittelten Bedeutung im Sinne des Bestimmtwerdens ihres Negationscharakters – im Neuansetzen eines weiteren levels – sich bis zu einem gewissen Grade auf die bereits in der Herausbildung des Seins der Bedeutung implizit angewachsene – und daher schließlich auch einmal partiell repräsentierte – Metabedeutung als seine Voraussetzung stützen muss. Die Stufe des ersten Entwicklungsabschnitts im Sinne der Herausbildung der levels, welche überwiegend das Sein der Bedeutung, welche Negation ist, vermitteln, endet auf jeden Fall in einer Art von Aporie: Verläuft der Modus der Bedürfnisbefriedigung nicht sehr ideal, so dass die anhaltende Überlastung der Vermittlungsorgane durch verfrüht erzwungene Repräsentation der Metabedeutung mit den dafür ungeeigneten Mitteln der entwickelten niedrigeren Kohärenzform zu einer Veränderung der Qualität der Vermittlungssystematik insgesamt im Sinne der Neurose führt, so ist das Ergebnis zweifellos eine sehr schwierig gelagerte Aporie, nicht einfach im Sinne eines jetzt hervortretenden und eine nächste Entwicklungsstufe ernötigenden Missverhältnisses: Die Systematik arbeitet so, dass sie Vermittlung blockiert, indem eine vollständige Darstellung dessen, was IST (des Negationscharakters des Seins der Bedeutung), mit den bestehenden (im wesentlichen nur »Sein« ausdrückenden) Mitteln nämlich die Katastrophe des Verfehlens von Wahrheit bedeuten würde. Das Ziel der Entwicklung: d. h. die höhere Kohärenzform, die imstande ist, den vollen Negationscharakter des Seins einer Bedeutung zu repräsentieren – im Sinne der positiven Hegelschen Aufhebung dieser Bedeutung –, muss, wenn die Repräsentation zu früh 390 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
erzwungen wird, mit den Mitteln der niedrigeren Kohärenzform dargestellt werden: die logische Situation des falschen Widerspruchs im Sinne des Kategorienfehlers. Es ist daher die einzig richtige logische Operation, das Perfektwerden des Kategorienfehlers zu verhindern, bzw. ihn darzustellen, aber so, dass er nicht dargestellt ist, indem die Arbeitsweise der levels nicht mehr »Vermittlung« bedeutet. Die Neurose macht (gezwungenermaßen) das Ziel der Entwicklung verfrüht und damit auf eine Weise explizit, die es unerreichbar macht, indem die vorhandenen Darstellungsmittel, um Nichtvermittlung eines Kategorienfehlers zu repräsentieren, so in Anspruch genommen sind, dass die Entwicklung der Mittel, die allein die drohende Gefahr dieses Fehlers abzuwenden vermögen, nicht mehr erfolgen kann: »[…] neurotics […] are in a state of arrested development.« (Janov 1975, S. 222)
Umgekehrt ist jedoch anzumerken, dass eine ideal gute Bedürfnisbefriedigung, die die Herausbildung des Seins der Bedeutung vor jeder nennenswerten Infragestellung verschont, so dass deren Negationscharakter völlig implizit bleibt und die dem erreichten level entsprechende Wahrnehmung des Missverhältnisses im repräsentierten Verhältnis als richtunggebender Anreiz für die Weiterentwicklung fehlt – wie in einer stagnanten Ausprägung des Gegensatzverhältnisses –, ebenfalls eine Verletzung von Wahrheit wäre, die dann in irgendeiner anderen Form (etwa durch eine von außen kommende Bedrohung) zur Darstellung gelangen müsste: 4 »There is no escape« (a. a. O., S. 264);
aber man müsste, wie Janov fortfährt, dahin gehend ergänzen: Ist Identität einmal in der Form der notwendigen Entwicklung ihrer Bedeutung gegeben und ist die Dialektik ihrer Herausbildung einmal in Gang gekommen, »[…] the Pain is there (and once the Pain is there, B. V.) it must be dealt with.« (a. a. O., S. 264)
Und selbst für einen unter »natürlichem Gesichtspunkt« (im Janovschen Sinne) übernormal befriedigenden Entwicklungsverlauf verbleibt ja immer noch die Präsenz des Todes für alle individuellen Lebewesen, welche mit der Herausbildung der Mittel des dritten levels begriffen wird, um den Druck einer totalen Negation des Seins der Bedürfnisbefriedigungsstruktur unausweichlich auszuüben. Die Formulierung: »behavior as a primary datum«, findet sich in Skinner 1968, S. 36.
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Die Darstellung eines Gegenstandes, der ein Verhältnis im Sinne der kategoriallogischen Ebenendifferenz bedeutet, kann nur – um es erneut zu wiederholen – über ein zweifaches Ansetzen erfolgen: Um eine im Sinne der Ebenendifferenz »höhere« Bedeutung zu vermitteln, muss zuerst jene Bedeutungsebene vermittelt werden, von der sich die endgültige Bedeutung qua Herausbildung der Beziehung zur Metaebene unterscheidet. Die Verfassung der Neurose ist so zu verstehen, dass die Darstellungsmittel der höheren Kategorie, welche die Negationsbestimmtheit derselben als solche zum Ausdruck bringt, mit den Mitteln der selbst noch nicht vollständig entwickelten niedrigeren (»Objektebenen-«) Kategorie zum Ausdruck gebracht werden, dergestalt, dass deren »Nichtseinsollen« dargestellt wird (indem das Verhältnis nicht »es selbst« ist), was aber noch einmal – richtig – als falsch markiert ist, da diese Mittel ja eingesetzt werden müssen, um ihr »Nichtgemeintsein« darzustellen. Man kann diesen Knoten von Verwechslungen der Sinnkomponenten der Negationskategorie nur lösen durch Abstandnehmen und Neuansetzen in der Gegenstandsformulierung im Sinne eines Methodenwechsels, der eine radikale Umkehrung der grundlegenden Bedeutung des Gegenstandes impliziert: Ist Neurose eine Kategorienverwechslung, indem die Mittel einer höheren Kategorie durch die Mittel der niedrigeren vertreten werden, so verlangt der nächste Schritt, um den Gegenstand aus dieser Aporie herauszuführen, dass die Bedeutung der höheren Kategorie der niedrigeren zugrunde gelegt wird: Dies ist der Kernpunkt der produktiven Hypothese Janovs, wenn er sich zum Zwecke der primärtherapeutischen Neuerschließung des Gegenstandes in schwindelerregender Weise auf den Standpunkt der Negation stellt und das durch zu viel Negation bedrohte Sein in der Artikulation des Negationsseins dieses Seins durchaus wiederzufinden gewiss ist. Die zweite Darstellung des Gegenstandes im primärtherapeutischen Prozess komplettiert die niedrigere Bedeutungskategorie des Bedürftigseins – jene Stufen von Differenzverhältnissen im Sinne der Herausbildung der levels, derart, dass diese Differenzen überwiegend eine Identität bedeuten – insgesamt um das Differenzverhältnis der Widerspruchskategorie, welche durch die methodische Hypothese der Primärtherapie an den Gegenstand herangetragen wird, derart, dass aus dem Zuviel an Negation der Bedeutungsvermittlung des ersten Durchgangs zunehmend das Negationssein dieser Identität vermittelt wird. Und zwar beginnt diese Vermittlung des Negationsseins 392 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
der bis jetzt vermittelten Bedeutung, entsprechend der erfolgten Umkehrung der zu vermittelnden Grundbedeutung vom »Sein« zum »Nichts« dort, wo der Anfang einer positiven Darstellung des Negationscharakters der bisher entwickelten Bedeutung im Sinne des Prinzips des Fortfahrens auf der Linie des geringsten Vermittlungszuwachses am leichtesten ist, nämlich bei der zuletzt erreichten Stufe des Gegensatzverhältnisses des dritten levels: Die Negationsqualität des Gegensatzverhältnisses steht zur Negationsqualität des Widerspruchverhältnisses in einem Verhältnis, das am ehesten vermittelbar, d. h. als Beziehung wahrnehmbar ist. Diese vom dritten level aus ansatzweise verstehbar gewordene Negationsbedeutung – und dieser Ansatz einer Beziehung zur totalen Negation der bisher überwiegend vermittelten Bedeutung im Sinne der Wiederspruchskategorie bildet ja die Voraussetzung für den Eintritt in den primärtherapeutischen Prozess: Heilung der Defizite der Bedürfnisbefriedigung nicht durch Bedürfnisbefriedigung, sondern durch Fühlen – wird nun, wie bei der Herausbildung der vorangegangenen levels, unter Berücksichtigung einer korrekten Verhältnisbildung mehr und mehr vergrößert; und zwar in der Weise, dass, nach der Herausbildung des ersten Verhältnisses des levels des Gegensatzverhältnisses zur Verhältnisform im Sinne der Widerspruchskategorie, ein zweites Verhältnis zu letzterer, vom zweiten level aus, herauszubilden möglich wird, welches zum ersten Verhältnis (der neuen Art) in einem charakteristischen Verhältnis steht, indem es, wieder über die bestimmte Anzahl der es aufbauenden Operationen, jenes »mehr« an Vermittlung besagt, welches einen qualitativen Zuwachs ausmacht; und ebenso, schließlich, vom ersten level aus. In der Primärtherapie geht es also, wie Janov immer wieder betont, nicht darum, einfach niedrigere Vermittlungsmodi als solche zu reaktivieren: »Primal Therapy is not simply a matter of thrashing, writhing and screaming, or punching pillows or yelling one’s rage. It is a matter of integration; that is the key term. Each and every feeling must be connected and integrated or else the person is not Primalling […] Further, it is not just a matter of thirdline connections, for that is not true integration. It is a matter of a systematic integration of the Pains on each level of consciousness. That is, each Pain must be integrated on the level, where it resides […] The lack of integration is precisely how symbolic behavior got its start, for when a certain feeling was blocked its energy had to take devious routes.« (a. a. O., S. 424)
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Vielmehr geht es um »Integration«: das Programm der systematischen Komplettierung der Vermittlungsoperationen, und zwar der Quantität nach: dass eine Gesamtvermittlungskapazität im Sinne der Wiederspruchskategorie erreicht wird, unter Berücksichtigung der qualitativen Bestimmtheit der Quantität, derart, dass diese Gesamtquantität von jedem der drei level auf spezifische Weise erreicht wird, der für das Zustandekommen eines voll erlebten Fühlens erforderlich ist. Dieses Programm bedeutet, die richtige Reihenfolge in der Verhältnisbildung herzustellen, so dass jeder level mit einer entsprechenden Anzahl der für ihn charakteristischen Vermittlungsoperationen aktiviert wird, wobei letztere auf die Metakategorie des Widerspruchsverhältnisses beziehbar gemacht werden, indem sie, eine nach der andern, um den ihr jeweils zum vollen Bewusstsein noch fehlenden Vermittlungsbetrag, nämlich deren jeweils durchgängig-systemistische Beziehung zu allen Operationen aller höheren Vermittlungsmodi, ergänzt und somit auf das Ziel einer vollen Vermittlung oder der Vermittlung eines bewussten Bewusstseins ausgerichtet werden: »(It is, B. V.) the connection to higher levels which makes the Pain a potentially overwhelming experience. It is connection which completes the experience of feeling and produces fully conscious Pain.« (a. a. O., S. 166) »Consciousness, then, is what completes the circuit and produces the experience of Pain. Because consciousness brings Pain with it, defenses must ultimately be seen as defenses against consciousness. The experience of Pain must therefore be consciousness-expanding. The process of Primal Therapy is one of uncovering layers of imprints so that full (and true) consciousness can occur.« (a. a. O., S. 87) »[…] The Therapy (means, B. V.) there is a fully integrated three-level consciousness […] But there a levels of that feeling and levels of Pain associated with the feeling. The more we descend down the chain of Pain, the more we experience the Pain of that feeling. One day we can descend the entire chain and back up again and it is then that we have a fully Primal consciousness.« (a. a. O., S. 435)
In der Primärtherapie wird eine Vermittlungskapazität (im Sinne der Widerspruchskategorie), welche das Ziel des voll entwickelten Gegenstandes ist, der Herausbildung eben dieses Gegenstandes explizit zugrunde gelegt; und zwar indem Heilung bedeutet, dass die vom zunächst höchsten (dritten) level aus vermittelbare Kapazität der Widerspruchsbeziehung zunehmend dorthin vermittelt wird, wo sie am 394 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
meisten benötigt wird: nämlich auf den ersten level, indem gerade hier die Unfähigkeit, ein Widerspruchsverhältnis zu realisieren, den Gegenstand in den krassesten Widerspruch zu sich bringt, so dass sich eben hier erweist, wie der Gegenstand eine Identität ist, indem er von Anfang an das Ziel seiner Entwicklung ist: nämlich das zunehmende Bestimmtwerden einer Bedeutung (Herausbildung der drei Verhältnisformen: Unterschied, Verschiedenheit und Gegensatz) als insgesamt (durch Herstellung der Beziehung zum Widerspruchsverhältnis im primärtherapeutischen Neuansetzen mit Umkehrung der Bedeutung) der Negation einer BEDEUTUNG, so dass die Widerspruchsbelastung des ersten Ausgangsverhältnisses aufgehoben ist. »It is first-line feelings that are […] ultimately resolving.« (a. a. O., S. 86 f.) – »but only for the adult!« (B. V., nach: a. a. O., S. 216)
Die Logik qua Kohärenzform des primärtherapeutischen Gegenstandes ist so, dass ein konsequentes Fortfahren und Weitermachen in der Veränderung seiner Ausgangsbestimmtheit – wie in einer Einbahnstraße (a. a. O., S. 434) – zu seiner vom erreichten Resultat her neu und vollständig reformulierten anfänglichen Bestimmung zurückführt. 2.1.2.2. Abstrakte und dialektisch konkrete Quantität. Weitere Bemerkungen zum Verhältnis eines klassischen und eines dialektischen Gegenstandsschemas 2.1.2.2.1. Quantitative Gegenstandsbestimmung bei B. F. Skinner als Beispiel des quantitativen Schemas der Gegenstandsbestimmung Bevor der Abschnitt der kategoriallogischen Analyse der Janovschen Äußerungen zum Abschluss gelangt, sei noch einmal auf die besondere Präzision der Primärtherapie (Janov 1975, S. 438) – »a set of laws […] every bit as precise as the laws of physical sciences« (Janov 1970, S. 394) im Vergleich zu einer normalwissenschaftlichen Weise, die quantitative Dimension ihres Gegenstandes zu erschließen, eingegangen, um so das Verständnis der neuen Gegenstandsform zu vertiefen. – In welchem Sinn kann gesagt werden, die Janovsche qualitative Quantifizierung des psychologischen Gegenstandes entspreche den Anforderungen der wissenschaftlichen Methode? 395 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
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Wie beleuchtet die Janovsche Auffassung des primärtherapeutischen Gegenstandes das Grundproblem psychologischer Theoriebildung: die quantitative Bestimmung des psychologischen Gegenstandes – ob und wie der psychologische Gegenstand messbar ist? – Was besagt die quantitative Erfassung für die wissenschaftliche Gegenstandserkenntnis? Dies sei zunächst ein Stück weit anhand jenes Beispiels verfolgt, das wohl als Musterbeispiel eines kompromisslosen Versuches, den psychologischen Gegenstand rein im Sinne der empiristischen Quantität aufzufassen, gelten muss: die Bestimmung des psychologischen Gegenstandes durch B. F. Skinner. Als eine notwendige Konsequenz des Versuchs einer wissenschaftlichen Formulierung des Gegenstandes der Psychologie vertritt Skinner die Festlegung auf Verhalten als jener Grundgegebenheit, hinsichtlich derer der Forscher wissenschaftliches Wissen zu gewinnen hat (Skinner 1965, S. 14 f., S. 45). 5 Von den meisten seiner behavioristisch orientierten Kollegen unterscheidet sich sein Ansatz durch die Schärfe und Konsequenz, mit der er seinen Gegenstand als durch einen Grundzug bestimmt sieht, nämlich den Grundzug der Kontinuität. Dies sei in einigen Schritten belegt und erläutert. Zunächst wendet sich Skinner ganz entschieden gegen die Bestimmung des Gegenstandes der Psychologie als ein Ding und betont, er sei vielmehr angemessen nur als ein Prozess zu beschreiben, der sich ständig verändert, stets im Fluss ist, niemals anhält und somit in unendlich kleine Teile zerlegbar und damit für den Außenstehenden sehr schwer zu erfassen ist: »Behavior is a difficult subject matter, not because it is inaccessible, but because it is extremely complex. Since it is a process, rather than a thing, it can not easily held still for observation. It is changing, fluid, and evanescent, and for this reason it makes great technical demands upon the ingenuity and energy of the scientist.« (a. a. O., S. 15)
So lässt sich dieser Gegenstand gut vergleichen mit dem Prozess, wie der Bildhauer eine Skulptur aus einem Klumpen Gips herausformt: »Although at some point the scuptor seems to have produced an entirely novel object, we can always follow the process back to the original undifferentiated lump, and we can make the successive stages as small as we wish: At no 5
Die Formulierung »behavior as a primary datum« findet sich in Skinner 1968, S. 86.
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
point does anything emerge which is very different from what proceeded it. The final product seems to have a special unity or integrity of design, but we cannot find a point at which this suddenly appears. In the same sense, an operant is not something which appears full grown in the behavior of the organism. It is the result of a continuous shaping process.« (a. a. O., S. 91)
Und schließlich definiert Skinner seinen Gegenstand explizit folgendermaßen: »Behavior is the coherent continuous activity of an integral organism. Although it may be analyzed into parts for theoretical or practical purposes, we need to recognize its continuous nature.« (a. a. O., S. 116) 6
Bereits diese kurzen Auszüge aus »Science and Human Behavior« umreißen die grundsätzliche Schwierigkeit, von der der Skinnersche Denkansatz geprägt ist: wie nämlich ein als »Prozess«, »Fluss« oder »reine Kontinuität« bestimmter Gegenstand erkannt, ja, wie er überhaupt gedacht werden kann. – Kontinuität bedeutet eine Einheit in der Form einer Vielheit, derart, dass es für sie spezifisch ist, von einer Einheit als Äußerungsform ihrer Bestimmtheit zu einer nächsten solchen Äußerungsform überzugehen. Will man nun diese Kontinuität so erfassen, dass man die Einheiten betrachtet, in welchen sie sich äußert, so findet sich vom Gegenstand her kein Gesichtspunkt, um zu Abgrenzungen solcher Einheiten zu gelangen: Dasjenige, was man gerade herauszugreifen versucht, hat sich jeweils bereits in ein anderes hinein kontinuiert, und seine individuelle Besonderheit ist in ein anderes Moment hinein »entwischt« (»evanescent«). Will man also den Gegenstand über die Besonderheiten seiner Bestimmtheit erfassen, so entschwindet diese gewissermaßen in das Nichts einer »absoluten Individualität in jedem Augenblick«: In keinem Augenblick gleicht sie sich völlig, in jedem Moment setzt sie mit ihrer Bestimmtheit neu an. – Umgekehrt hemmt eben diese potentiell unendliche Differenziertheit dieser Bestimmtheit das Erkennen durch eine Art von »allumfassender Ähnlichkeit mit sich«. Identität wird so gesehen, dass kein Unterschied für sie angegeben werden kann, als eine Identität ununterscheidbarer Momente. Man kann die Intervalle, die der Strom durchmisst, immer kleiner wählen und wird feststellen: an keinem Punkt entsteht etwas, das »sehr unterschiedlich« ist (»is very Diese ausgezeichnete Definition scheint Scriven bei seiner Auseinandersetzung mit Skinner entgangen zu sein, wenn er sagt: »It is significant, that Skinner never attempts to define »behavior« in his book »Science and Human Behavior« (Scriven 1968, S. 109).
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
different«), das sich hinreichend unterscheidet von dem, was voranging. Diese Eigenart einer Bestimmtheit einer »Kontinuität«, jene Bestimmtheit, die sich unentwegt ins Nicht einer nächsten Bestimmtheit verflüchtigt; jene im ständigen Neuansetzen und mit sich Fortfahren unendlich unterteilte und zugleich in der allumfassenden Gleichwertigkeit ihrer Glieder unteilbare, zäh aneinanderhängende Einheit einer Vielheit: diese Eigenart der Bestimmtheit des Gegenstandes einer Verhaltenswissenschaft lässt die methodologischen Schwierigkeiten lerntheoretischer Ansätze in der Psychologie verständlich werden; so etwa die grundlegende Problematik, ein bestimmtes Response-Konzept formulieren zu müssen (vgl. etwa: Mac Corquodale & Meehl, in: Edward C. Tolman, in: Estes et al. 1954, S. 218–231). Um wieder Skinner zu Wort kommen zu lassen: »To record the beginning and end of learning or a few discrete steps will not suffice, since a series of cross-sections will not give complete coverage of a continuous process. The dimensions of the change must spring from the behavior itself; they must not be imposed by an external judgement of success or failure or an external criterion of completeness.« (Skinner 1950, S. 196)
Hier wird ganz deutlich, dass die einzige Bestimmtheit, die Skinner dem Gegenstand selbst zuschreibt, die des »kontinuierlichen Prozesses« ist, während die anderen Bestimmtheiten von außen an ihn herangetragen werden, so dass sie mit seiner Natur eigentlich nichts zu tun haben. So sagt er an einer anderen Stelle: »We divide behavior into hard and fast units and are then surprised to find that the organism disregards the boundaries we have set. It is difficult to conceive of two responses which do not have something in common.« (Skinner 1965, S. 94)
Gerade das zuletzt von Skinner Gesagte verdeutlicht eindringlich die grundlegende Sicht, die er von seinem Gegenstand hat: Es handelt sich um eine Identität, um ein identisches Substrat, das seine Identität so entfaltet, dass sie sich unaufhörlich verändert, so dass sich für diese Veränderung keine Bestimmtheit und kein Maß angeben lässt. Schließlich kommt man dahin zu sagen, dass es sich um eine Identität von Punkten handelt, d. h., man versucht, die kontinuierliche Kohärenz in Bezug auf einen punktuellen Ursprung – dessen Eigenbestimmtheit also in ein Nichts hinein verschwunden ist – zu verstehen:
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
»If we wish to specify the smallest possible unit of correspondence between stimulus and response, we use the dimensions, in which the two fields are described. The correspondence is between points.« (a. a. O., S. 117)
Auch die andere große kontroverse Frage innerhalb einer lerntheoretischen Methodologie, nämlich die Frage »What is learned?«, kann im Rahmen der angedeuteten kategoriallogischen Bestimmtheit ihres Gegenstandes als für die Lerntheorie ebenso notwendig wie unlösbar begriffen werden (vgl. Mac Corquodale & Meehl 1954, S. 220). In derselben Weise erhellt sich die Pluralität lerntheoretischer Orientierungen als Ausdruck und Konsequenz jener logischen Grundbestimmtheit des Gegenstandes, in der sie alle übereinkommen: »There may be alternative and seemingly quite different ways of narrating the flux, all equally ›valid‹.« (Mac Corquodale & Meehl 1954, S. 220; vgl. auch: Kendler 1952, S. 269 ff.)
Und schließlich wird die grundlegende Orientierung aller behavioristischen Richtungen: d. h. das Interesse an Verhaltenskontrolle oder Manipulation, als Konsequenz der kategoriallogischen Bestimmtheit, in der der Gegenstand gesehen wird, begreiflich: Wenn es unmöglich ist, die zur Gegenstandserkenntnis notwendigen einheitsstiftenden Gesichtspunkte nach Maßgabe dieses Gegenstandes hervorzubringen – so dass man seiner inneren Struktur gerade so gerecht wird, dass man sie ihm als äußerliche aufprägt –, so ist in der Tat Verhaltenskontrolle nicht nur das legitime, sondern auch notwendige und hinreichende Programm einer wissenschaftlichen Psychologie. Doch sehen wir weiter. – Wie nimmt Skinner die immerhin vollzogene Bestimmung der Einheiten der Kohärenzform der reinen Kontinuität zum Zwecke des Aufbaus einer Verhaltenswissenschaft vor? Skinner interessiert sich ja bekanntlich für jene Umstände der Veränderung der Verhaltenskontinuität, die – indem der Gegenstand selbst keine Gesichtspunkte zum Verständnis der Veränderungen liefern kann – in Abhängigkeit einer anderen, ebenfalls kontinuierlichen Bestimmtheit (d. h. der Umwelt) stattfinden; also für »Lernen«. Wie werden nun die Art dieser Einwirkung sowie die Art der so herbeigeführten Veränderung des Verhaltens gesehen? – Diese Frage beantwortet Skinner mit der Einführung des Begriffs der response-rate als dem »basic datum in learning« (Skinner 1950, S. 195 ff., besonders S. 197). Der Effekt der anderen Bestimmtheit, der Umwelt, auf das Verhalten des Organismus wird so bestimmt, dass die Rate von etwas 399 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Identischem ansteigt oder abfällt. Tatsächlich passt der Begriff der Rate zu den Anforderungen, die mit der Charakterisierung des Gegenstandes als einer Kontinuität gestellt sind: Man bezieht sich auf bestimmte Einheiten, die zum Zwecke der Feststellung von Veränderungen im Verhaltensstrom zwar fixiert werden, aber doch so, dass die einzige Bestimmung dieser Einheiten darin liegt, die Veränderung – als Veränderung der Anzahl – konstatierbar zu machen, ohne dass weitere Bestimmtheiten ins Spiel kämen; die Besonderheit dieser Einheiten sind für den Gegenstand gleichgültig; lediglich für uns als den Beobachtern ist sie eine Hilfe, die ansonsten rein kontinuierliche Natur des Gegenstandes zu erfassen. Genau dies besagt die Information, dass sich die Anzahl oder Rate einer bestimmten Klasse von – in ihrer Eigenbestimmtheit unwichtigen – identischen Einheiten verändert habe, größer oder kleiner geworden sei. Die Bestimmung der Einheiten der Verhaltenskontinuität im Sinne der operants impliziert eine eigenartige Strategie: Die Definition der operants ernötigt zwar zusätzliche, dem Gegenstand äußerliche qualitative Gesichtspunkte – Angaben von sie definierenden Eigenschaften in Beobachtungstermen –, aber das macht nichts (wird dem Gegenstand gerecht), da diese qualitativen Bestimmungen ja nur verwendet werden, um ein stets abstrakt bleibendes Identisches zählbar zu machen. Interessant ist dabei, dass Skinner schwankend bleibt, ob und wie die an den Gegenstand von außen herangetragene Bestimmtheit doch auch auf ihn selbst zu beziehen sei. In diesem Zusammenhang fällt etwa eine Bemerkung Skinners auf, in der er sich mit dem Problem auseinandersetzt, zu gewissen Verhaltensatomen zu kommen (Skinner 1965, S. 94). Er bedauert, dass uns die angemessenen Werkzeuge fehlen, mit der Verhaltenskontinuität umzugehen bzw. mit solchen operants, die solchen atomaren Einheiten zugeordnet werden können. Aber er fährt dann unvermittelt fort: »The operant represents a valid level of analysis, however, because the properties, which define a response, are observable data.« (Skinner 1965, S. 95)
Mit derselben Unvermitteltheit nehmen seine Ausführungen etwas weiter unten (a. a. O., S. 117) diese Wende: »But in many repertoires the minimal units fall considerably short of points in continuous fields. The stimuli and responses may not compose fields. The repertoire remains a collection of discrete units.« (ebd.)
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Hier scheint Skinner zu schwanken, ob sich diese Trennung: Bestimmung des Gegenstandes als reine Kontinuität einerseits; das dem Gegenstand äußerliche Hinzubringen von Einheitsgesichtspunkten (levels der Molarität), die mit dem Gegenstand nichts zu tun haben, aber doch benötigt werden, um seine kontinuierliche Natur überhaupt registrieren zu können, andererseits, aufrechterhalten lässt. Anders ausgedrückt: Hier scheint Skinner flüchtig zu erwägen, ob die Bestimmungen der wissenschaftlichen Beobachtung, um zu einer Gegenstandserkenntnis zu gelangen, nicht auch anders als im Sinne einer Voraussetzung, die dem Gegenstand äußerlich ist und bleibt, gefasst werden könnten. Aber diese Frage wird von Skinner nicht mehr thematisiert, und so bleibt es bei dieser Art von Kompromiss: Einerseits ist der Gegenstand zwar so und so zu bestimmen – andererseits können wir nicht umhin, so und so mit ihm zu verfahren … Ein erster Schritt, um im Verständnis der Skinnerschen Gegenstandsbestimmung voranzukommen – im Dienste des Interesses, die Funktion des Quantifizierens: d. h. weshalb »messen« für die empiristische Gegenstandsbestimmung so wichtig ist, profunder zu verstehen –, ist getan, wenn gezeigt wird: Quantitative Gegenstandserfassung bedeutet, ein Gleichgewicht zu schaffen von »Position« und »Negation«. Wie wird dieses Gleichgewicht in der Gegenstandsbestimmung durch Skinner hergestellt? Wenn Skinner seinen Gegenstand als einen Prozess bestimmt, der sich unaufhörlich verändert, stets im Fluss ist, niemals zum Stillstand kommt, so bringt er damit den Gegenstand als in charakteristischer Weise durch Negation bestimmt zum Ausdruck: Die Bestimmtheit des Gegenstandes wird gedacht als das Nicht (mehr) einer anderen Bestimmtheit. Ein als eine reine Kontinuität, ein als ein Potential unendlicher Veränderungen bestimmtes Sein, wie Skinner es intendiert, muss als eine Einheit gedacht werden, so dass sich nur feststellen lässt, dass sie das Nicht einer anderen Einheit ist, dass diese andere Einheit in sie übergegangen ist. Die erste Einheit tritt auf, um negiert, zum Verschwinden gebracht und in die nächste überführt zu werden, damit die nächste in die übernächste überführt wird usw. M. a. W.: Im Entstehen und Vergehen als den einzig relevanten Momenten, in welchen die Bestimmtheit zum Ausdruck gelangt, sind »Bestimmtheit überhaupt« und »Negation von Bestimmtheit überhaupt« einander gleichgestellt; beide: Position und Negation, sind gleichermaßen so allgegenwärtig wie unfassbar, dass dieses Mittel in 401 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
der Tat keine Erkenntnis, vielmehr nur den »Stoff«, die abstrakteste Voraussetzung für Erkenntnis überhaupt, abgibt. Betrachtet man die grundlegende Maßnahme einer Verhaltenswissenschaft, die Definition von operants, so erscheint sie in der Form der Beliebigkeit der Interpunktion des Flusses der Bestimmtheiten, indem es grundsätzlich, abgesehen von gewissen »technischen« Schwierigkeiten, vollkommen einerlei ist, was als »operant« definiert wird; jeder beliebige Punkt des Flusses kann herausgegriffen und in jeden beliebigen anderen Punkt überführt werden; d. h., jeder Punkt kann beliebig – wie wenn ein Bildhauer eine x-beliebige Figur aus einem Klumpen Gips herausformt – die Rolle der »Position«: dasjenige, was zählt, oder der »Negation«: dasjenige, wovon man gerade absieht, um das Auftreten eines positiv definierten Punktes zählen zu können, einnehmen: Position und Negation sind einander gleich; man kann sie nicht unterscheiden. Was ist aus dem Verhältnis von Position und Negation geworden? – Wenn Position und Negation einander in der Weise gleichgestellt sind, dass sie einander vertreten können – etwa wie in dem Skinnerschen Beispiel einer Übersetzung von: »Er ist hungrig«, in: »Er ißt« (Skinner 1965, S. 31) –, so ist das Ergebnis offensichtlich gerade nicht ihre »Gleichberechtigung«, vielmehr, zunächst einmal, dies: dass die Negation zugunsten der Position in den Hintergrund tritt und als solche keine Rolle zu spielen scheint: Stets ist der Gegenstand ein bestimmtes Verhalten, bzw. eine Zahl, die den reellen Wert der Ausprägung einer Verhaltensvariablen bedeutet. Der Zusammenhang der Verhaltensbestimmtheit mit der Negation braucht nicht berücksichtigt zu werden, wenn Verhaltensänderung so gedacht wird, dass eine Bestimmtheit einfach an die Stelle einer anderen tritt; das Nicht ist eine dem ansonsten positiv gedachten Gegenstand äußerliche Grenze. Dennoch repräsentiert die quantitative Gegenstandsbestimmtheit ein spezifisches Gleichgewicht von Position und Negation, denn die Form der gewonnenen positiven Bestimmtheit ist genau so zu verstehen, dass sie ebenso sehr die Bestimmtheit des Gegenstandes ist wie nicht ist. So lässt Skinner keinen Zweifel darüber aufkommen, dass in seinem Ansatz alle ermittelten Bestimmungen des Organismus-Umwelt-Verhältnisses (»Lernen«, ausgedrückt in Kurven und Zahlenverhältnissen) letztlich gerade nicht als Bestimmungen des Organismus und nicht als Bestimmungen der Umwelt, also nicht als 402 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
nähere Bestimmungen einer der ins Verhältnis gesetzten Größen gelten kann. Stimuli sind nicht »Objekte«, vielmehr erzeugen Objekte ganz verschiedene Arten von Stimuli (Skinner 1965, S. 139) – Objekte sind Stimuli-Potentialitäten, Reservoires von Stimuli. Was ein Stimulus ist, zeigt sich erst an der Funktion, einen Effekt auf Verhalten auszuüben, also in seiner Beziehung zu Verhalten. Wenn man wissen will, was ein Stimulus ist, so wird man also auf Verhalten verwiesen (a. a. O., S. 133). Wird aber durch diese Beziehung Verhalten näher bestimmt? – Bei der Diskussion der Stimulus-Funktionen (a. a. O., S. 130 ff.) ist Skinner bemüht zu zeigen, dass dieselben oft fälschlich als eine Form der Aktion auf einen Teil des Organismus bezeichnet werden; das gilt etwa für die Diskrimination; aber: »Abstraction, too, is not a part of the organism. It is simply a narrowing of the control exercised by the properties of Stimuli […]« (a. a. O., S. 135)
Induktion, Diskrimination, Abstraktion sagen uns nichts über die Art der Umweltgegebenheit, auf die sie sich beziehen; genauso wenig dürfen sie indessen als Aktionen – Ausdruck der Bestimmtheit – des Individuums aufgefasst werden. »The individual is said to discriminate, remember, infer, repress, decide and so on […] but discriminating is not itself behavior […] repression is not action […] there is no act of deciding. (Skinner 1968, S. 84)
Skinner ist konsequent darum bemüht, die durch seine funktionale Analyse gewonnenen Bestimmungen weder als Fortbestimmung der Verhaltens- noch der Umweltgröße zu verwenden; vielmehr will er beide der zueinander ins Verhältnis gesetzten Größen stets von allen weiteren Bestimmungen reinigen, indem er sie auf lediglich die Bezogenheit zweier zu abstrakten Punkten zusammenschrumpfenden Größen reduziert (ebd.); strenggenommen gibt es bei ihm nur diese Bezogenheit. Was mit diesen kurzen Ausführungen lediglich angedeutet sein soll, ist dies: Die Bestimmung des Gegenstandes im Sinne der reinen Quantität, wie Skinner sie – in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der empiristischen Form der Gegenstandserkenntnis 7 – intenDie kategoriallogisch gesehen ausgereifteste Explikation des empiristischen Gegenstandsschemas und damit der eigentliche theoretische Bezugspunkt einer Weiterentwicklung im Sinne der primärtherapeutischen Gegenstandsbestimmung stellt jedoch m. E. das Periodensystem der Elemente dar: als Modell der Systematik der sich entwickelnden »materiellen Bestimmtheit« qua nicht als solcher reflektierter Ausdruck
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
diert, kommt nicht darum herum, von anderen Bestimmungen, die nicht für den Gegenstand gelten sollen, Gebrauch zu machen und dabei diesen Gebrauch als unangemessen zu verwerfen. (Dabei macht es keinen Unterschied, ob Skinner meint, etwa gewisse mentalistische – im angeführten Beispiel: Freudsche – Bestimmungen entbehren und durch günstigere Bezeichnungen ersetzen zu können, denn durch die Forderung der Beobachtbarkeit der operants findet zwangsläufig eine Überlagerung der quantitativen Bestimmung mit irgendwelchen, später zu neutralisierenden qualitativen Bestimmungen statt.) Dennoch lebt aber die Bestimmtheit – das ist der springende Punkt! – als Gegenstand eines Erkenntnisinteresses von diesen weiteren Bestimmungen (wie mentalistisch oder physikalistisch sie im Einzelnen nuanciert sind), die ihr fälschlich beigelegt werden, um über deren Negation zur Gegenstandsbestimmung gelangen zu können. D. h.: Wenn die Beschreibung der Verhaltensänderung als Veränderung der Häufigkeit der Aktualisierung bestimmter Punkte im Koordinatensystem des objektiven Raumes den Intentionen der Skinnerschen Gegenstandsbestimmung am ehesten entspricht, so deshalb, weil diese Grenzform einer qualitativen Bestimmung eines rein quantitativen Gegenstandes genau bedeutet, von allen möglichen qualitativen Bestimmungen gleich weit entfernt zu sein; anders ausgedrückt: Die rein quantitative Bestimmung des Gegenstandes ist die Methode, verschiedenartige vorausgesetzte qualitative Bestimmtheiten so zu negieren, dass sie, indem sie vergleichbar weit von sich weggebracht werden, miteinander in Verbindung kommen; und die Bestimmtheiten von Raum (operants als diskrete Punkte im objektiven Koordinatensystem) und Zeit (Verwirklichung des Raumes in der konkreten Ausprägung bestimmter operants) bezeichnen diese Nahtstelle des Zusammenfindens dieser für die Gegenstandserkenntnis relevanten, qualitativ verschiedenen Bestimmtheiten in der Form der Negation ihrer qualitativen Differenzen, derart, dass die Bestimmtheit von zwei möglichen Bezugspunkten vergleichbar weit entfernt ist. Eine quantitative Gegenstandsbestimmung ist erreicht, wenn qualitativ verschiedene Momente so negiert werden, dass die gewonnene Bestimmtheit die Mitte zweier qualitativer Bezugspunkte der Bedeutung der Gegenstandserkenntnis bildet, die sie gleichereiner möglichen reflektierten Bestimmtheit (und damit die Erkenntnisbestimmtheit einer niedereren Kategorienstufe).
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
maßen negiert, so dass also die Entfernungen, gemessen in den entgegengesetzten Richtungen zweier möglicher Bezugspunkte der Bedeutung der Gegenstandserkenntnis, einander die Waage halten: Die Bestimmtheit ist unbestimmt-bestimmt: d. h. genauso wenig das eine wie das andere. »Quantität« als Gegenstandsbestimmtheit ist erreicht, wenn die der Gegenstandsbestimmung logisch übergeordnete Gegenstandsbeziehung zu der durch sie artikulierten Gegenstandsbestimmtheit in einem Verhältnis steht; die Form der Strukturierung des Gegenstandes ist eins mit der Form der forschungslogischen Subjekt-Objekt- Beziehung; die Kohärenzform der Gegenstandsbeziehung und die für den Gegenstand veranschlagte Kohärenzform sind ununterscheidbar eins; sie werden, was sie sind, indem sie in dieses Verhältnis zueinander treten, indem ihre verschiedenartigen Qualitäten von Einheit nur so darstellbar sind, dass sie im Absehen von ihrer spezifischen Differenz an einer gemeinsamen »Eins« einen Anhaltspunkt finden. Der Gegenstand ist eine Pluralität verschiedener (qua verschieden vieler) Ausprägungen einer »Eins«, und die Differenz (schematisch gesehen) je zweier zu vergleichender Ausprägungen der Einheitsform, die für den Gegenstand angenommen wird, entspricht der Differenz der Einheitsform des erkennenden Subjekts und des erkannten Objekts. So hat man eine wissenschaftliche, eine bestimmte Art von Differenz: einen quantifizierbaren Gegenstand, welcher so zu verstehen ist, dass er eine logische Dualität von Differenzverhältnissen beherbergt: gleichartige Verhältnisse auf der Ebene des Gegenstandes, jeweils in einem gleichartigen Verhältnis zur forschungslogischen Differenz. Der entscheidende Gesichtspunkt, um den es hier geht, ist der, dass die zähl- oder messbaren Gegenstandseinheiten nicht für sich, als positive Beschreibungen von etwas, das »so ist«, existieren: sie werden vielmehr, was sie sind (messbare Einheiten), indem sie zugleich dasjenige sind, in dem das forschungslogische Gegenstandsverhältnis zum Ausdruck kommt. Der Skinnersche Gegenstand ist ja nicht einfach ein Potential operanter Konditionierungen; er wird es in einer Skinner-Box und in der Interaktion mit all den anderen, die Gegenstandsbestimmung konstituierenden Maßnahmen, vermittels derer sich die logisch übergeordnete Beziehung zum Gegenstand – zuerst tastend, schließlich gekonnt – genau auf jene Differenz einstellt, die mit den genau von diesem Standpunkt aus wahrnehmbaren 405 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
gegenstandsspezifischen Differenzen auf charakteristische Weise übereinstimmt. Die forschungslogische Gegenstandsbeziehung ist genau so auf den Gegenstand bezogen, dass, wie von diesem Standpunkt aus die Gegenstandsstruktur in der erkennenden Wahrnehmung erscheint, genauso viel und genauso wenig über den Gegenstand wie über die Gegenstandsbeziehung aussagt. Dies ist gemeint, wenn gesagt wird: das Ergebnis der empiristischen Gegenstandserkenntnis sei nicht eindeutig beziehbar; man kann mit demselben Recht jeweils Folgendes bejahen oder verneinen: In der objektiven Erkenntnis geht es um die Erkenntnis der Objekte, ebenso wie: In der objektiven Gegenstandserkenntnis geht es um die Verwirklichung des forschungslogischen Verhältnisses – als der Ausbalancierung verschiedener Negationsverhältnisse, derart, dass zwei qualitativ verschiedene Bedeutungsstufen von Subjektivität in der Form auftauchen, dass sie beide gleich stark negiert sind. Messen, d. h. quantitative Gegenstandsbestimmung, ist nur möglich als Form des Ausdrucks des quantitativen Schemas der Gegenstandsbestimmung. Noch einmal sei das grundsätzliche Vorgehen, welches »Messen« bedeutet, in seinen Hauptschritten am Beispiel der Skinnerschen Gegenstandsbestimmung charakterisiert: Skinner geht von einem als »reine Kontinuität« bestimmten Gegenstand aus; damit weist er – wie weiter oben ausgeführt – dem Gegenstand eine Grundbestimmtheit zu, so dass nur ausgesagt werden kann: was immer sie ist, sie ist gleichermaßen »Position« und »Negation«; sie ist eine Quelle, ein fließendes Werden als Auftreten und Zurücktreten von Bestimmtheiten. – Von dieser Aussage als einer ersten Position distanziert sich Skinner im Neuansetzen der Gegenstandsbestimmung vermittelst jener Maßnahmen, durch die der Gegenstand jetzt etwas anderes wird: Eine Verwirklichungsreihe verschiedener operants, aufzufassen als verschieden viele Vielfache einer Einheit. Dies geschieht über zwei Schritte: Zuerst erfindet er Bedingungen – die Konstruktion der Skinner-Box; die Maßnahme der Deprivation – als eine Art Gegenbewegung zu der Grundbewegung des Gegenstandes, wodurch dieser herausgefordert wird, sich in einer bestimmten, eingeschränkten Weise zu zeigen (was sich in diesem Beispiel allein schon durch die Bewegungseinschränkung eines Organismus im Rahmen der Skinner-Box ausdrückt). Man hat also jetzt zwei Arten von Bestimmtheiten: Eine Bestimmtheit eines Organismus im Sinne einer Voraussetzung für die Verhaltenswissenschaft als Position und eine Hilfskonstruktion, eine 406 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Apparatur von Maßnahmen als eine auf die Ausgangsposition bezogene Negation. Aber ein deprivierter Organismus und eine Skinner-Box sind noch keine Verhaltenswissenschaft; was noch hinzukommen muss, ist eine Negation der Negation als eine die beiden ersten Bestimmtheiten aufeinander beziehende Bestimmtheit. Negation der Negation
Position - - - - - - - - - - - Negation
Als diejenige Bestimmtheit, die die beiden ersten Bestimmtheiten als deren gemeinsamer Nenner zu verbinden vermag, stiftet die Negation der Negation das Maß durch Beziehung des Verhältnisses der beiden ersten Bestimmtheiten auf eine logisch höhere Bestimmtheitsstufe, die selbst jedoch auch nur als negierte ins Spiel kommt: Der Organismus als eine operant konditionierbare Bestimmtheit hat gewiss nur für ein Subjekt Bedeutung, wenn und insofern es für dieses bedeutungsvoll ist, sich selbst im Sinne einer Differenz (empirisches-forschungslogisches Subjekt) zu strukturieren, welche der Differenz von wissenschaftlicher und vorwissenschaftlicher Gegenstandsbestimmung entspricht. Noch einmal anders ausgedrückt: Skinner-Box und Deprivation sind Hilfsmittel, die den Organismus als eine operant konditionierbare Bestimmtheit einem Subjekt zugänglich machen, so dass es die Veränderungen in der Ausprägung von dessen Einheitsform zählen kann, wenn dieses Subjekt sich solcherart von einer ursprünglich für es anzunehmenden Bewegung wegbewegt, dass es sich auf den Gegenstand genau in der Weise beziehen kann, um Bestimmtheiten solcher Art wahrzunehmen. Stets geht man, um zum Messen zu gelangen, von zwei verschiedenen Bestimmtheiten aus: Einmal von einer zunächst noch unbestimmten Position – dem potentiellen Objekt – und sodann von einer »negativen Kopie«, einer geeigneten »Gegendarstellung« der Bestimmtheit des Objekts, die in Verbindung mit dem potentiellen Objekt dieses im Sinne der höheren, quantitativen Kohärenzform zeigen soll. Diese auf das potentielle Objekt zu beziehende Negationsbestimmtheit muss erst herausgefunden werden, sie muss gesucht werden, »bis es klappt« – das ist der im weitesten Sinne experimentierende Aspekt der wissenschaftlichen Gegenstandserkenntnis; und dieses: »bis es klappt«, so dass es zur Erscheinung im Sinne eines 407 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Gegenstandes der Erfahrung bzw. einer objektiven Bestimmtheit kommt, bedeutet das Wirksamsein eines dritten Schritts, der hier, nach Hegel, Negation der Negation genannt wird. Die Zusammenführung von Position und Negation ist dann richtig, wenn dabei ein bestimmtes Verhältnismaß zustande kommt, indem diese (Zusammenführung) zugleich in einem Verhältnis steht zu einer Negation einer Größe logisch höherer Stufe. So hat man z. B. einen Bach, der bergab fließt. Das ist ein Phänomen, das man für sich nicht bestimmen kann; die Erfahrung des fließenden Wassers ergibt nur einen unbestimmten Anhaltspunkt für eine mögliche Bestimmtheit (Bewegung als »Energie« oder »Kraft«), eine unbestimmte Position. – Wenn nun ein Holzrad gebaut, das Wasser über das Holzrad geleitet, so dass ein Mühlstein angetrieben und Korn gemahlen wird, dann befindet man sich auf dem Wege der Herausbildung einer objektiven Erfahrung: Über die Konstruktion des Holzrades, verbunden mit der Maßnahme, die Wasserbewegung über das Holzrad zu leiten, so dass sie in die andere Bewegung des Mühlsteins übersetzt wird und es zur Zustandsveränderung des Korns kommt, werden verschiedene Bewegungen zueinander ins Verhältnis gesetzt: Wasserbewegung, Mühlraddrehung und Zustandsveränderung des Korns: das alles ist »gleich viel«, d. h. das Einheitsmaß für den Vergleich der verschiedenen Vielheitsmaße im Urteil: »es ist gleich viel« – und damit erst der Anfang von Quantität –, also die Negation der Negation, ist die Gegenstandsbeziehung des Subjekts, die, um diese Objektform zu ermöglichen, eine entsprechende Differenz von Position und Negation ausbilden muss: Wenn man die Hand oder den ganzen Körper ins fließende Wasser eintaucht, spürt man die Strömung (»Energie« oder »Kraft« als vorwissenschaftliche Erfahrung); wenn man selbst mit der Hand das Korn mahlt, weiß man, was das für eine Arbeit ist; aber diese Erfahrungen werden noch nicht füreinander fruchtbar; daraus, dass man eine bestimmte Arbeit verrichtet, ergibt sich allein noch keine Beziehung etwa zum Fließen eines Wassers. Eine mechanische Vorrichtung, die diese Arbeit mit Hilfe des Wassers (vielleicht in einem Bruchteil der Zeit) tut, macht beide Bewegungsarten als »dasselbe« erkennbar. (Ein Beispiel mit der Temperatur als einem objektiven Identitätsmaß bringt Carnap: 1974, S. 69 ff.) Das Ergebnis: d. h. der Begriff von »es ist dasselbe«, kommt zustande in der Beziehung zu einer ursprünglichen subjektiven Erfahrung, die im Zustandekommen des Entsprechungsverhältnisses ebenso affirmiert wie negiert 408 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
wird: Das Ergebnis besagt etwas für sie (z. B. als Arbeitserleichterung), führt aber auch von ihr weg, indem sie dazu dient, verschiedene ihr äußerliche Größen zueinander ins Verhältnis zu bringen: Aus dem Subjekt wird eine in ein »empirisches« und ein »transzendentales Subjekt« gespaltene Kohärenzform. 2.1.2.2.2. Die Wirksamkeit der Reflexionskategorien in der objektiven (äußeren) und in der subjektiven (reflektierten) Erkenntnisform Wissenschaftliche Gegenstandserkenntnis ist eine Form, zu einer zählbaren Identität zu gelangen (z. B. »operants«), so dass diese, um so gesehen werden zu können, ein Übereinkommen (»Gleichwerden«) verschiedener Stufen von Ungleichheiten impliziert. Differenz im Sinne der Nichtidentität ist wirksam: in der Abgehobenheit der Form der operants von der ursprünglichen Bewegungsform des Organismus; in der Abhebung verschiedener operants gegeneinander und in der Differenz dieser beiden Bestimmtheitsformen des Organismus und jener anderen, zu ihm in einem charakteristischen Verhältnis stehenden Bestimmtheit, ohne die die Bestimmtheit des Organismus als eines Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis – und damit quantitative Identität – unmöglich wäre. Das, was Differenzen im Sinne zählbarer Einheiten vergleichbar macht, ist, dass diese Einheiten die Form haben, welche bedeutet: (1) Differenzverhältnisse einer bestimmten Art und (2) Differenzverhältnisse anderer Art, die zu jenen im Sinne von (1) in einem charakteristischen Verhältnis stehen. Die Kategorie der Qualität ist in zweifacher Weise Voraussetzung für das Auftreten quantitativer Bestimmtheiten: Einmal setzt Quantität etwas Quantifizierbares voraus, sie ist immer die Veränderung einer anders bestimmten Ausgangsbestimmtheit; sodann bedarf es, um Quantitäten als Vielfache einer »Eins« zu erreichen, eines Maßes, und dieses kann nur im Sinne einer logisch differenten, höheren Verhältnisform gedacht werden, deren Verhältnis das potentiell quantitative Verhältnis bestimmt, derart, dass in der quantitativen Einheitsform eine partielle Identität zweier Identitätsstufen: ein Spezialfall der »Gleichheit von Ungleichem«, zum Ausdruck gelangt. Man kann nun aus der Gegenstandsbestimmung diese Voraussetzung ihres Zustandekommens nicht eliminieren: Die quantitativen Gegenstände implizieren, dass ihre Art, eine Einheit zu sein, die Spezialform ist, wie in einer Form von Einheit (Verhältnisse auf der Ge409 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
genstandsebene) eine Form der Einheit von zweien (forschungslogisches Verhältnis im Verhältnis zu den Verhältnissen der Gegenstandsebene) repräsentiert ist. Von verschiedenen Seiten kommend – über die Janovschen Äußerungen; über die Theoriesituation der gegenwärtigen Psychologie; über kategoriallogisch-erkenntnistheoretische Erwägungen zur Struktur des empiristischen Wissens – stößt man immer auf das eine Kernproblem: Was bedeutet empiristische Wissensgewinnung, und wie kann – über eine solche Darlegung von deren Struktur, die einen Gestaltwandel der Wahrnehmung ermöglicht – sichtbar gemacht werden, inwiefern es aufgrund der Logik der wissenschaftlichen Wissensgewinnung erforderlich ist, über deren bisherige Form im Sinne der Höherentwicklung ihrer Methode hinauszugehen? Die Schlüsselelemente des Gedankengangs dieser Arbeit sind: • Der Gedanke der logischen Dualität: Die empiristische Gegenstandsform repräsentiere eine logische Dualität, derart, dass ein Verhältnis ein Verhältnis zweier logisch differenter Arten von Verhältnissen BEDEUTET – oder, anders ausgedrückt: dass ein Objektebenenverhältnis ein Objektebenen-Metaebenenverhältnis BEDEUTET; • Der Gedanke der Transformierbarkeit der empiristischen, quantitativen Gegenstandsform, also die Explikation der logischen Dualität durch die Metamethode der Quantifizierung der Qualitäten von Differenz. Dies ist die Perspektive der Hegelschen Kategorienlehre, aufgefasst als eine »Systematik der Differenzverhältnisse, die Identität bedeuten«, oder als die Hegelsche »Theorie der Negation.« So sei also zunächst wieder zu dem der wissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung impliziten Problem der logischen Dualität zurückgekehrt. Der quantitativ bestimmte Gegenstand (die Gegenstandsstruktur) beherbergt, mit dieser ununterscheidbar eins, eine besondere Form der Gegenstandserfassung (die Gegenstandsbeziehung), so dass er allein durch seine Form implizit als Gegenstand der Erkenntnis ausgezeichnet ist; es ist dieser wissenschaftliche Formalismus, der den Nährboden für die vielfältigen Versuche abgibt – worauf weiter oben etwas näher eingegangen wurde –, das Erkenntnisproblem der Naturwissenschaft auf naturwissenschaftliche Weise zu lösen durch eine erkenntnistheoretische Wendung der wissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung. Diese Versuche werden hier in 410 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
ihrem Anliegen verstanden: Das, wodurch das empiristische Wissen ein wirksames Wissen ist, ist, dass es ein Ausdruck der Wirksamkeit der logischen Dualität ist; jedoch wird die Art der Durchführung als dem Anliegen nicht genügend beurteilt. Die empiristische Gegenstandsbestimmung ist etwas (eine Errungenschaft, ein Fortschritt auf dem Wege der Wahrheitserkenntnis), indem sie noch etwas anderes ist; so kann sie auf die Dauer nur am Leben bleiben, wenn sie die Geburt jenes anderen, dem sie ihr Leben doch verdankt, indem sie es als ihren übergeordneten Sinn-Maßstab impliziert, auch zustande kommen lässt; d. h., die die empiristische Identitätsform begründende logische Dualität muss auch als Dualität dargestellt werden. Wie ist nun diese Aufgabe zu bewältigen? – Es wurde bereits gesagt: Der wissenschaftliche, quantitativ bestimmte Gegenstand bedeute eine Differenz, derart, dass Position und Negation einander die Waage halten. In welcher Weise ist also dieses Gleichgewicht in der wissenschaftlichen Gegenstandserkenntnis wirksam? (1) Im Hinblick auf die Ebene des Gegenstandes ist folgendes festzustellen: Der gemäß der quantitativen Einheitsform gefasste Gegenstand – hier denke man wieder an die Skinnerschen operants – ist so bestimmt, dass dasjenige, was verschiedene Einheiten aufeinander beziehbar macht, genau dasjenige ist, was sie voneinander unterscheidet und somit trennt, dass sie nämlich verschiedene Vielfache einer »Eins« sind. Und dieses Charakteristikum der Kohärenzform des Gegenstandes bedeutet insgesamt eine Position in Bezug auf den Gegenstand, indem ja etwas Bestimmtes von ihm ausgesagt wird, die jedoch ebenso eine Negation genannt werden muss, indem die Bestimmtheit den Gegenstand bestimmt, indem sie sich als unaufhebbare Differenz zu ihm verhält: Sie verbindet sich nicht endgültig mit dem Gegenstand; sie denotiert ihn als etwas von ihr Verschiedenes. Position und Negation sind einander auf der Ebene des Gegenstandes im Sinne der Kategorie der Verschiedenheit gleichwertig. (2) Im Hinblick auf die Ebene der Gegenstandsbeziehung ist ein Gleichgewicht von Position und Negation festzustellen, derart, dass – wie schon gesagt – die Bedeutung der wissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung mit gleichem Recht auf das Erkenntnisobjekt (»in der objektiven Erkenntnis geht es um die Erkenntnis der Objekte«) wie auf das Erkenntnissubjekt (»in der objektiven Erkenntnis geht es um die Einübung des wissenschaftlich 411 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
ausgezeichneten Objektbezugs«) bezogen werden kann. Das Gleichgewicht von Position und Negation wird hier qualitativ wirksam: Die Akzentuierung auf der Erkenntnis der Objekte affirmiert das »Sein« des Gegenstandes; die Akzentuierung der Gegenstandsbeziehung negiert es: Die Wissenschaft geschieht eigentlich nicht im Interesse der Natur, sondern der Naturwissenschaftler. – Das Qualitativwerden von Position und Negation auf der Ebene der Gegenstandsbeziehung besagt nun ein Gleichgewicht derart, dass eine logische Dualität angekündigt ist, so dass die Differenz ebenso, wie sie auf einen abgehobenen Ausdruck zweier differenter Bedeutungen hinwirkt, diesen noch einmal dem Modus einer einfachen, quantitativen Verschiedenheit angleicht. Dieses Oszillieren des Gleichgewichts von Position und Negation auf der Ebene der Gegenstandsbeziehung von einer quantitativen Bedeutung: nämlich dass der Einheitsgesichtspunkt just der Gesichtspunkt der Trennung verschiedener Einheiten ist und Verbindung und Distanz just die zwei Seiten einer Medaille, zu der qualitativen Bedeutung zweier differenter Bedeutungen, und zwar derart, dass diese ebenso sehr, wie sie sich von der quantitativen Bedeutung entfernt, auf dieselbe bezogen bleibt, charakterisiert die größeren Darstellungsmöglichkeiten eines Differenzverhältnisses im Sinne der Gegensatzkategorie. (3) Eine logische Dualität, wie sie im Gegensatzverhältnis der forschungslogischen Beziehung als maßgebendes Implikat der quantitativen Verschiedenheiten der Gegenstandsstruktur ebenso angekündigt wie, gewissermaßen, bei der Ankündigung schon abgemeldet ist, lässt sich jedoch, indem empiristische Erkenntnis gerade deren Wirksamkeit zum Ausdruck bringt, nicht einfach abweisen; und so hat die empiristische Erkenntnis eine Nachwirkung, derart, dass das für die quantitative Gegenstandsbestimmung charakteristische Gleichgewicht von Position und Negation in Frage gestellt und – indem es die Differenzform der »Position« nicht wirklich verlässt, so dass es zur Darstellung eines andern gelangen würde – insgesamt als Position negiert wird. Erst jetzt greift die Negation als Negation an, indem sie ein Verhältnis anzeigt, welches über das im Rahmen der empiristischen Wissensform Darstellbare hinaus geht und also etwas ist, das, vom empiristischen Standpunkt aus, nicht sein darf: ein Widerspruch. Das Gleichgewicht von Position und Negation bedeutet nun: Ebenso sehr, wie das empiristische Wissen wahr ist, 412 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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ist es nicht wahr; ebenso sehr, wie es empirisch begründet und also als konkrete Wirklichkeit ausgewiesen ist, bleibt es stets bloß hypothetisch; und das ist die Stelle, wo der Stachel des Zweifels unabwendbar in das ausbalancierte Gleichgewicht quantitativer Verhältnisse störend eindringt, indem letztlich nicht gesagt werden kann, inwiefern das Geschäft der empiristischen Gegenstandsbestimmung: also die Methode des Quantifizierens und Messens, überhaupt sinnvoll ist. Quantitative Gegenstandsauffassung bedeutet die Herstellung eines Gleichgewichts von »Position« und »Negation«, die Darstellung von Identität, indem zwei Ungleiche einander gleich sind: sie sind gleich viel. Der Gedanke der empiristischen Gegenstandsbestimmung ist es: »Identität als Gleichheit von zweien« darzustellen. So wie es logisch unmöglich ist, »eine Gleichheit« festzustellen (ein Verhältnis, das Identität bedeuten soll), ist es nun aber ebenfalls logisch unmöglich, zwei genau Gleiche festzustellen und nichts als das. 8 Die empiristische Wissensgewinnung »weiß das« und bestimmt Ungleiches (den Gegenstand als Produktionsquelle unterschiedlicher Identitätsformen) als Gleiches (gleich verschiedene Differenzverhältnisse einer Art) vermittelst einer übergeordneten Ungleichheit: nämlich vermittelst dem forschungslogischen Gegensatzverhältnis als einer stärkeren, logisch höheren Kohärenzform. In der wissenschaftlichen Identitätsbestimmung wird Einheit als Gleichheit von Ungleichen dargestellt als Gleichheit (als ein charakteristisches Verhältnis) zweier differenter Weisen von Differenzverhältnissen: Differenzen, die den Gegenstand bedeuten als eine Position, und Differenzen, die ihn in bestimmtem Maße nicht bedeuten, um ihn zu bedeuten und mithin als Negation fungieren. In der wissenschaftlichen Identitätsbestimmung werden zwei verschieden ungleiche Ungleiche: nämlich Differenzen im Sinne von »Position« und »Negation«, so aufeinander bezogen, dass • Differenzen, die durch Negation im Sinne von »Unterschied« und »Verschiedenheit« strukturiert sind und den Gegenstand bedeuten, durch • eine durch Negation im Sinne der Gegensatzkategorie strukturierte Differenz
Darauf beruht das Argument der Undurchführbarkeit der Wiedergutmachungsforderung Shylocks in Shakespeares »Kaufmann von Venedig«.
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bestimmt werden. Und dies bedeutet – da die Gegensatzdifferenz von der Differenzform der Verschiedenheit nur verschieden ist, indem sie genau in dem Maße differiert, als sie auf jene bezogen bleibt – dass nun gerade nicht gilt, dass von Position und Negation gleich viel Gebrauch gemacht wird. Und das ist auch der Grund, warum sich auf die Dauer das zur Begründung quantitativer Verhältnisse in Anspruch genommene Gleichgewicht von Position und Negation im Bemerkbarwerden der Widerspruchsdifferenz auswirken muss, welche, indem sie die empiristische Wissensform als Ganze belastet, eben signalisiert, dass die empiristische Wissensgewinnung ein noch nicht zu Ende geführtes Programm ist, indem sie ihre Vorschrift, von Position und Negation gleich viel Gebrauch zu machen, noch nicht vollständig befolgt hat. Der quantitative Gegenstand ist genau erst die Hälfte der Durchführung des Programms der empiristischen Erkenntnisgewinnung. Er bedeutet den ersten Schritt: nämlich die Formulierung von Differenzverhältnissen als einer Gegenstandserkenntnis (d. h. einer Position) bis zum äußersten auszuschöpfen. Wenn laut Hegel die Darstellung von Identität – und, da Identität nur vermittelst von Differenzverhältnissen dargestellt werden kann: eines Verhältnisses, das Identität bedeutet – im Sinne der Stufe, die mit einem »begründeten«, »wissenschaftlichen« Wissen angesprochen ist, einen Zusammenhang von Differenzverhältnissen der Kategorien: Unterschied, Verschiedenheit, Gegensatz und Widerspruch erfordert (indem dies kategoriallogisch dem Objektebenen-Metaebenenverhältnis der wissenschaftlichen Wissensform im Ganzen entspricht), so stellt sich die Hälfte des Pensums, welches die quantitative Gegenstandsbestimmung im engeren Sinne absolviert, folgendermaßen dar: (1) Die empiristische Wissensform bezieht die Bedeutung aller vier Kategorien von Differenzverhältnissen auf die Verhältnisform der Verschiedenheit. Das Differenzverhältnis der Verschiedenheit bezeichnet jenes Gleichgewicht, das in der Lage ist, das Gegensatzverhältnis und gerade eben noch das Widerspruchsverhältnis in der Schwebe einer möglichen Verrechnung der Bedeutung des Verhältnisganzen in Richtung auf Position zu halten; und so ist in der empiristischen Erkenntnis doch bis zu einem gewissen Grade ein Gleichgewicht von Position und Negation wirksam, so dass es ihr bisher gelungen ist, ihre Form – in
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einer knappen Behauptung der Position gegenüber der Negation – zu kontinuieren. Das in der quantitativen Gegenstandsbestimmung zum Ausdruck gebrachte Differenzverhältnis von der Negationskategorie der Verschiedenheit bedeutet, dass von der Ungleichheit von Position und Negation Gebrauch gemacht wird, derart, dass die zwei Ungleichen eines – Position – bedeuten. Die Negationsverhältnisse sind als der Verhältnisform der Position gleich und ungleich dieser gleich. Mit der empiristischen Methode im engeren Sinne kommt man hier nicht weiter: Die formulierte Position ist bis zum äußersten negationsbeladen; jedes Quäntchen mehr Negation kann sie nur noch selbst destruieren. Da dies aber nicht dem Sinn der Erkenntnisvorschrift, wie zur Darstellung von Identität gleichermaßen von Position und Negation Gebrauch gemacht werden soll, entspricht, kann sich die empiristische Wissensform kontinuieren. Daher ist, um die das empiristische Wissen definierende Vorschrift ihrer Erfüllung zuzuführen, aus logischen Gründen ein zweiter Schritt erforderlich, der die Negation gegenüber der Position gleichgewichtig zum Zuge kommen lässt. Dies kann vernünftig nur über einen Wechsel des Gegenstandes erreicht werden, so dass Einheit als Verhältnis von zweien als ungleichen Gleichen darstellbar wird. Dieser Gegenstand muss als eine Verbindung zweier differenter Verhältnisformen: nämlich Position und Negation, gedacht werden, die in der Weise gleich sind, dass Negation, erstens, weniger ist als Position (wie beim empiristischen Gegenstand oder dem »ersten Ansatz« des primärtherapeutischen Gegenstandes, da die Negation der Position unter- bis gleichgeordnet ist), entsprechend den Negationsverhältnissen: Unterschied, Verschiedenheit (und, bis zu einem gewissen Grade: Gegensatz), und also »Position« bedeutet und, zweitens, mehr ist als diese: nämlich entsprechend den Negationsstufen Gegensatz und Widerspruch, derart, dass die jetzt als solche bestimmte Differenz von Position und Negation als Objektebenenverhältnis das entsprechende Metaebenenverhältnis BEDEUTET. Indem zwei Ungleiche als ungleiche bestimmt werden, wird zugleich ihre Verbindung als die Beziehung beider zu dem ihnen übergeordneten Verhältnis bestimmt: Wenn das Verhältnis zweier ungleicher Verhältnisformen eine dritte Verhältnisstufe bestimmt macht, so ist damit auch das Verhältnis der beiden ersten Verhältnisformen untereinander bestimmt. Es ist jene Einheitsform, dass ein als Differenz bestimmtes Verhältnis von zweien: Position und Negation, ein 415 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
bestimmter Ausdruck ist für »sein höheres Verhältnis« – und zwar über die sorgfältige Darlegung der Differenz: dass ein Zusammenhang von Negationsverhältnissen diese als ein bestimmtes weniger und mehr als der Zusammenhang der Positionsverhältnisse bestimmt und damit beide und ihren Zusammenhang greifbar macht –, welche eine reflektierte Kohärenz genannt wird: Die Einheit der Objektebene als selber eine schwächere Art von Objektebenen-Metaebenenstruktur reflektiert das Metaebenenverhältnis. (2) Die kategoriallogische Interpretation: der quantitative Gegenstand bedeute erst die Hälfte des in ihm angelegten und wirksamen Erkenntnispensums, sei nun unter dem Gesichtspunkt von Quantität-Qualität weiter beleuchtet: Wie stellt die empiristische Gegenstandsbestimmung – nicht einfach »eine Quantität«, sondern – eine Qualität von Quantität dar? – Mit dieser Frage ist zweierlei ausgedrückt: Einmal: Auch eine Quantität bedeutet eine Qualität von Quantität, was grundsätzlich auf die Möglichkeit anderer Qualitäten von Quantität hinweist. Sodann: Die empiristische Quantität ist eine Spezialform einer Qualität von Quantität, genauer: eine als der »logische Mittelwert« zweier Qualitäten aufzufassende Qualität von Quantität, was im Folgenden erläutert werden soll. Qualität von Quantität: Das bedeutet einmal die Einheitsform oder Metabestimmtheit der quantitativen Bestimmtheit; die quantitative Bestimmtheit der Gegenstandsstruktur und die ihre Einheitsform ermöglichende logische Metaqualität der Gegenstandsbeziehung. Sodann bedeutet das Verhältnis von Quantität-Qualität, dass die logisch höhere Bestimmtheit, welche die quantitative Bestimmtheit metabestimmt, Negation ist, d. h., dass die Differenzverhältnisse, die vom Standpunkt der Gegenstandsstruktur eine Position bedeuten, vom Standpunkt der Gegenstandsbeziehung aus die Qualität der Negation erhalten; und dies bedeutet, entsprechend der Kategorie des Gegensatzverhältnisses, welche die Gegenstandsbeziehung charakterisiert, eine doppelte Möglichkeit: Die Negationsqualität kann entweder die Position oder die Negation der Position akzentuieren. Genauer: Die Metaform der quantitativen Gegenstandsbestimmtheit bedeutet in gleichem Maße Position wie Negation – wie es für die Ebene der Gegenstandsbestimmung gezeigt wurde, aber nun qualitativ gewendet, als eine Metaform, die zwei Deutungen gleichberechtigt zulässt: »Er (der quantitativ bestimmte Gegenstand) ist eine Form von Materie bzw. Leib«, und: »Er ist eine Form von Geist bzw. Seele«. 416 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Damit wird wieder auf den weiter vorn diskutierten Formalismus des empiristischen Erkenntnisschemas abgehoben: Man sieht es den Gegenständen nicht an, ob sie eine Form von Materie oder eine Form von Geist bedeuten; Leib und Seele bedeuten eine Identität des Ununterscheidbaren. So ist der empiristische Gegenstand eine Form, in der drei logisch differente Bedeutungen zusammenkommen: eine Objektebenenbedeutung BEDEUTET eine Verbindung zweier logisch differenter Metaebenenbedeutungen. Die hier dargelegte Auffassung jener einen gemeinsamen Form, derart, dass in ihr die Differenzqualität der Gegenstandsstruktur und die ihrer logischen Qualität nach duale Differenzqualität der Gegenstandsbeziehung übereinkommen, bedeutet nun nichts anderes als eine kategoriallogische Interpretation von Raum und Zeit als der Form der klassischen wissenschaftlichen Erkenntnis. Im Sinne der formalistischen Reduktion der Qualität auf Quantität spielt sich die qualitative Differenz der Verhältnisse der Gegenstandsstruktur und jener der Gegenstandsbeziehung »im Gegenstand« ab als lediglich eine kaum und doch eben merkliche Verschiebung der Qualität der quantitativen Bestimmtheit, in einer Art von qualitativem Ausschwingen des quantitativ bestimmten Gegenstandes. Zunächst bezeichnen Raum und Zeit also die allgemeine Form der Gegenstandsbestimmtheit, entsprechend dem Schema von Möglichkeit und Verwirklichung. Raum und Zeit bezeichnen, wie die Einheiten des Gegenstandes gedacht werden. Die Einheiten des quantitativen Gegenstandes – wiederum seien als Vorstellungshintergrund die operants herbeizitiert – sind grundsätzlich Möglichkeiten der Verwirklichungen von im Koordinatensystem des dreidimensionalen Raumes bestimmbaren Punkten. Das einzelne Gegenstandsindividuum ist eine bestimmte, konkrete Verwirklichung der räumlichen, d. h. dreidimensional bestimmten Zusammenhangsform, derart, dass dieser Zusammenhang als Reihe bzw. Abfolge einzelner, einander gleichwertiger Verwirklichungen von Raumpunkten (dreidimensional bestimmten Bestimmtheiten), also zeitlich verwirklicht wird. Die Zeit kommt nicht zum Raum hinzu; sie ist die Form der Darlegung, der Verwirklichung dreidimensionaler Bestimmtheiten. Erst diese Darlegungsform vollendet den quantitativen Charakter einer dreidimensional bestimmten Bedeutung: Raum als Einheitsform bedeutet einerseits die Möglichkeit vieler dreidimensional bestimmter Einheiten und andererseits, dass eine Einheit mit der 417 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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anderen so zusammenhängt, dass sie genau dann dieselbe Einheitsform wie diese artikuliert und so auf sie bezogen ist, wenn sie da beginnt, wo die andere aufhört und also von ihr getrennt ist. Diese Bestimmung kommt erst in der Zeit als Form der Verwirklichung quantitativer Zusammenhänge voll zum Ausdruck: Die räumliche Bedeutung verwirklicht sich als ein Kontinuum dreidimensionaler Bestimmtheiten. Sodann entfaltet sich in der raum-zeitlichen Bestimmtheit als dem Charakteristikum quantitativer Gegenstände eine qualitativ nuancierte Bedeutung, so dass die Form der Gegenstandsbestimmung mehr von der Ebene der Gegenstandsbeziehung her akzentuiert wird. Jetzt ist: »Der quantitative Gegenstand ist dreidimensional bestimmt«, so zu verstehen: Die drei Dimensionen des Raumes bedeuten die Ausschöpfung der Möglichkeit, Qualität quantitativ zu fassen. Jede Dimension ist etwas Eigenständiges und gegenüber der anderen Neues: Die erste Dimension ermöglicht die Darstellung von Unterschieden und ist damit Voraussetzung für differente Qualitäten überhaupt; die zweite Dimension macht Verschiedenheit von Differenzen bestimmbar; und die dritte Dimension, welche die Verschiedenheit weiter bestimmt, repräsentiert die Gegensatzspannung bestimmt-bestimmter Raumpunkte. Dennoch richtet sich das Neue der Qualität einer weiteren Dimension auch wieder sehr nach dem Vorbild ihrer Vorgängerin; sie reproduziert eine gleiche Art von »etwas Neues«: d. h. sie wiederholt, was die andere ist, und diese Art der quantitativen Entfaltung von Qualität kann man nicht mehr als dreimal vollziehen – man denke hier an die drei levels: damit erschöpft sich eine Möglichkeit »einer Bedeutung«. Diese Deutung der Raumbestimmtheit des quantitativen Gegenstandes bezieht sich also auf seine logische Qualität im Ganzen: Eine quantitative Gegenstandsbestimmtheit kommt zustande, indem drei qualitativ verschiedene Typen von Differenzverhältnissen zusammenwirken, derart, dass sie gerade noch eine, nämlich die »quantitative« Bedeutung, konstituieren: Differenzverhältnisse im Sinne der Kategorien Unterschied und Verschiedenheit für die Gegenstandsstruktur und eine dieser Differenz gegenüber stärkere und doch noch mit ihr vergleichbare Differenzqualität im Sinne der Gegensatzkategorie für die die Gegenstandsstruktur im Ganzen bestimmende Gegenstandsbeziehung. Die Deutung der Raumbestimmtheit als Ausdruck der quantitativen Gegenstandsbestimmtheit im Ganzen – also vom Standpunkt 418 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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der Gegenstandsbeziehung her gesehen – akzentuiert nun innerhalb dieser Metaebenenakzentuierung noch einmal eine stärker der Gegenstandsebene zugeneigte, »quantitativ« nuancierte Version. – Qualitativ nuanciert bedeutet diese Form, den Gegenstand zu denken, eine Spezialform von Gegenstandsbeziehung, derart, dass die logische Kontamination zweier möglicher, differenter Metabedeutungen das Verhältnis von Gegenstandsstruktur und Gegenstandsbeziehung sowohl als Beziehung wie als Nichtbeziehung metabestimmt; umgekehrt ausgedrückt: Dieser ganz besondere Charakter (dass nämlich die Gegenstandsbeziehung in gleicher Weise eine Beziehung wie eine Nichtbeziehung ist – und das ist das innere Qualitativwerden der quantitativen Gegenstandsform –) kommt daher, dass auf der Metaebene zwei logisch differente Bedeutungen in gleicher Weise als ununterscheidbare repräsentiert sind, so dass die für die quantitative Gegenstandsbestimmung wirksame Metabestimmung als eine Kontamination zweier logisch differenter Metabedeutungen aufzufassen ist. Dieser zuletzt genannte, qualitative Akzent rundet die kategoriallogische Deutung der Raum-Zeit-Bestimmtheit des quantitativen Gegenstandes ab, im Sinne der drei Ebenen der Bestimmtheit der empiristischen Erkenntnis – indem diese eine Form bedeutet (im Sinne der Gegenstandsebene), die eine Form bedeutet (erste, mehr quantitativ nuancierte Metaebenenform), die eine Form bedeutet (zweite, qualitativ nuancierte Metaebenenform) –, derart, dass die RaumZeit-Form als der logische Vollzug der Implikationen des Dingschemas begriffen wird; und zwar wird die Raum-Zeit-Form der Erkenntnis in diesem Sinne als Vollzug der Implikationen des Dingschemas gesehen und als die Implikationen der Äußerlichkeit und der Beliebigkeit erläutert: (1) Die Implikationen der Äußerlichkeit stellen sich für die drei Integrations- oder Form-Stufen der quantitativen Gegenstandsbestimmung folgendermaßen dar: Für die Objektebenenverhältnisse stellt sich diese Implikation dar als die Weise der Verwirklichung der Raumbedeutung, indem der Gegenstand eine Gesamtheit von Einheiten bedeutet, die sich im Sinne eines Kontinuums verwirklicht, so dass die Einheiten so zusammenhängen und jede eine allen andern gleichgestellte Verwirklichung des Gegenstandes bedeutet, indem, wo die eine Einheit beginnt, die andere gerade aufhört; so muss die Form, wie der Gegenstand als Verwirklichung vieler, seine Einheit bedeuten419 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
den Einheiten dargelegt ist, als äußerlich bezeichnet werden: Der Gegenstand ist eine Vielheit von Einheiten, die so zusammenhängen, dass der Gegenstand fortlaufend in eine Einheit nach der andern eintritt, die jeweils vorangegangene hinter sich lassend. Für das Objektebenen-Metaebenen-Verhältnis stellt sich die Implikation der Äußerlichkeit in der Weise dar, dass Objekt- und Metaebene einander äußerlich bleiben: Der Gegenstand ist genau nicht die Metaebene, er fängt da an, wo die Metaebene aufhört. Objektive Erkenntnis bedeutet einen Zusammenhang von Subjekt und Objekt – indem Erkenntnis ja heißt, in der Gegenstandsbestimmung erfolgreich zu sein –, der zugleich eine bestimmte Art ihres Nicht-Zusammenhängens bedeutet, so dass der Gegenstand, vom Standpunkt der Metaebene, indem er erreicht wird, unerreichbar bleibt, so dass also auch die Gegenstandsbestimmung den konnotierten Gegenstand nicht endgültig erreicht. Diese in der quantitativen Gegenstandsbestimmung wirksamen Implikationen der Äußerlichkeit bedeuten einen Gegenstand, der sowohl als endlich und begrenzt (nämlich in bestimmter Weise quantitativ bestimmt) als auch als unendlich (nämlich in der Perspektive der unendlichen Möglichkeit seiner Kontinuierung) bestimmt gesehen wird; d. h., die Bedeutung des empiristischen Gegenstandes im Ganzen ist durch ein eigenartiges Ineinanderwirken der Kategorien der Endlichkeit und Unendlichkeit metabestimmt. ??o1??(2) In gleicher Weise sei die Wirksamkeit der Implikationen der Beliebigkeit auf den drei Form-Stufen der empiristischen Erkenntnis verfolgt. Jedoch sei gleichfalls auf eine leichte logische Differenz zwischen beiden Deutungsaspekten hingewiesen, denn auch innerhalb dieses obersten, qualitativen Gesichtspunktes gilt noch einmal jene leichte Verschiebung in der Akzentuierung, so dass die Raum-Zeit-Komponenten im Sinne der Implikationen der Äußerlichkeit eine etwas niedrigere, quantitativräumlich akzentuierte Nuance bedeuten gegenüber der höheren, qualitativen, mehr zeitlich akzentuierten Integrationsebene der Implikationen der Beliebigkeit. Und zwar äußert sich die Implikation der Beliebigkeit in Bezug auf die Objektebenenverhältnisse sowohl in der räumlichen Dimension: als die Beliebigkeit verschiedener, einander gleichgestellter Definitionen der Einheiten der Quantität – »all equally valid« –, als auch in der
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
zeitlichen Dimension: als die Beliebigkeit des Gebrauchmachens von der Möglichkeit ihrer Verwirklichung im Experiment. In Bezug auf das Objektebenen-Metaebenen-Verhältnis ergibt die Implikation der Beliebigkeit, als die oberste Charakterisierung der quantitativen Gegenstandsbestimmung, den paradoxen Gesichtspunkt: dass in der empiristischen Erkenntnis Gegebenes geschaffen wird (wiederum die räumliche Akzentuierung) und dass sie (als schließlich die zeitliche Akzentuierung) ein Verfügen, d. h. ein freies Handhaben und Umgehen mit Gesetzeszusammenhängen bedeutet. Und so zeigt die Orientierung des empiristischen Erkenntnisinteresses an Manipulation und Kontrolle, als einem Ausdruck der Implikationen der Äußerlichkeit und Beliebigkeit, die Wirksamkeit einer merkwürdigen Interferenz der Kategorie der Abhängigkeit und Bedingtheit (Endlichkeit) mit der Kategorie der Freiheit (Unendlichkeit). Damit soll gezeigt sein, inwiefern die Implikationen der Äußerlichkeit und Beliebigkeit als Vollstreckung des die empiristische Gegenstandserkenntnis leitenden Ding-Schemas aufgefasst werden können, wobei sich das Dingschema als Ausdruck des Zusammenwirkens zweier verschiedener Kategorienstufen –nämlich Endlichkeit und Bedingtheit (als Ausdruck der Kategorien der äußerlichen Kohärenz) und Unendlichkeit und Freiheit (als dem Ausdruck der Kategorien der reflektierten Kohärenz) – erweist, so dass nun besser zu verstehen ist, was es heißen soll, wenn gesagt wird: die quantitative Gegenstandsbestimmung impliziere eine dual (durch zwei verschiedene Kategorienstufen) bestimmte Metabestimmtheit. Dieses Zusammenwirken zweier ununterscheidbarer, doch logisch differenter Bestimmtheiten, welches die empiristische Erkenntnis im Ganzen, unter Einbeziehung der Objektebenenbestimmung im engeren Sinn, kennzeichnet, gipfelt in dem Phänomen, dass die empiristische Wissenschaft am Dingschema festhält, obwohl ihre Erkenntnisse (in Physik und Psychologie) ergeben haben, dass es unhaltbar ist. Raum und Zeit als Form der quantitativen Gegenstandsbestimmung bezeichnen jene Verfasstheit, die sich auch in dem für die Wissenschaft charakteristischen Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis äußert: eine der Unbestimmtheit und Unentschiedenheit in zwei Richtungen, d. h. also derart, dass die Bedeutung – auf jeder Analyseebene in einer spezifischen Weise – als entweder so, im Sinne der niedrigeren Kategorie, oder so, mithin im Sinne der höheren Kategorie, bestimmt gesehen werden kann (vorausgesetzt, dass die Wahrnehmung der Bedeutung diesen Spielraum lässt, sich so zu zei421 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
gen): Die Raum-Zeit-Form des quantitativen Gegenstandes bedeutet, dass die Form der höheren Kategorie dominiert, indem gleichermaßen die Form der niedrigeren Kategorie dominiert. Die hier verfolgte Deutung, die quantitative Gegenstandserkenntnis qua die empiristische Methode bedeute erst »die Hälfte« des in ihr angelegten Erkenntnispensums, lässt sich dann, zufolge des Dargelegten, so präzisieren: Der quantitative Gegenstand der empiristischen Erkenntnis bedeutet, die höhere Metaebenenbedeutung »zur Hälfte« vermittelt zu haben. Positiv gewendet kann die empiristische Gegenstandserkenntnis als jene Form des Gesamtpensums interpretiert werden, die dieses in dem bestimmten Sinne nicht ist, dass sie es der Möglichkeit nach als dessen logische Voraussetzung ist. Die empiristische Gegenstandserkenntnis bedeutet, dass die Wendung ihrer Gesamtstruktur, derart, dass sie eindeutig und entschieden die Metaebenenbedeutung vermittelt, von dem von ihr verwirklichten Status aus möglich ist. Dies impliziert bereits, dass man einen Akzentwechsel vollzogen und einen neuen Blickwinkel angesetzt hat: In der empiristischen Gegenstandserkenntnis geht es, indem es um die adäquate Bestimmung objektiver Gegenstände geht, eigentlich nicht um die Objektbestimmtheit; vielmehr ist die Objektbestimmtheit das Mittel der Bestimmung der Metaebenenbedeutung; so hat die Bestimmung der Objekte der Erkenntnis den Sinn, die SUBJEKTIVE Metabedeutung: das »Die-ObjekteERKENNEN«, zu vermitteln. Wie beschreibt also – in der Perspektive der Akzentverschiebung – die empiristische Erkenntnisform ihr Pensum? – Zwei Stufen kategoriallogischer Bestimmtheiten (im Sinne der dual strukturierten Metaebene) werden einander bis zur Berührung – wodurch sie eben im Begriffe sind, als solche greifbar zu werden – angenähert durch die Formulierung eines Mittels: die quantitativ bestimmte Gegenstandsstruktur; diese ist die »Mittelform« als der Ausdruck, welcher die zwei Metaebenenbedeutungen so zueinander in Beziehung setzt, dass es zu einer Berührung zwischen ihnen kommt, die aber ebenso gut als Verbindung wie als Trennung interpretiert werden kann. Mehr kann mit dem Mittel der objektiven Erkenntnis – dem quantitativen Gegenstand – nicht erreicht werden! Der oberste Begriff der empiristischen Erfahrung als die äußerste Implikation der Einheitsform des quantitativ bestimmten Gegenstandes ist somit die Definition des Objektebenen-Metaebenenverhältnisses: nämlich die Definition der 422 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
kategoriallogischen Ebenendifferenz im Sinne von Raum und Zeit, entsprechend dem Schema von Möglichkeit und Verwirklichung. Die Einheitsform der objektiven Erkenntnis definiert die kategoriallogische Ebenendifferenz in der Form von Raum und Zeit als Möglichkeit: als die Vorschrift, die erfüllt sein muss, wenn es sich um die definierte Bedeutung handeln soll – gefordert ist das Verhältnis zweier als ungleicher »gleicher« Verhältnisse, derart, dass die Nichtbeziehung genau die Bestimmung der Beziehung bedeutet (in der spezifisch empiristischen Einebnung der doppelten Doppeldeutigkeit dieser Definition: »Nichtbeziehung als Bestimmung der Beziehung« im Sinne des Hin- und Herschwankens des Bedeutungsakzents auf der nämlichen Ebene und im Sinne der besprochenen Nichtbeziehung als Bestimmung der BEZIEHUNG) –, verwirklicht in der Form der Vermittlung; d. h., dass das Objektebenen-Metaebenen-Verhältnis nicht »durch sich selbst« (auf einfachem Wege) – was im Sinne der geltenden Definition unmöglich wäre –, sondern vermittelst einer weiteren, zweiten Objektebene (in Bezug auf das gesuchte Objektebenen-Metaebenen-Verhältnis) dargestellt wird, so dass man also die Ebene der eigentlich intendierten Bedeutung verlassen, aus ihr heraustreten und »etwas ganz anderes« machen muss, um auf dieser noch tieferen Objektebene zu einer Struktur zu gelangen, welche das gesuchte Objektebenen-Metaebenen-Verhältnis BEDEUTET. So genügt die klassisch-empiristische Erkenntnis ihrer Definition, indem sie grundsätzlich nicht einen Erkenntnisgegenstand, sondern deren zwei bedeutet: die Gegenstände der objektiven Erfahrung und den Gegenstand: SUBJEKTIVES ERFAHREN oder ERLEBEN; diese beiden Gegenstände sind getrennte; die objektiven Gegenstände sind genau das andere, das NICHT dessen, was SUBJEKTIVES ERLEBEN bedeutet. Die Struktur dieses anderen (die Form der objektiv bestimmten Gegenstände) hat den Sinn, schließlich die zwei kategorial differenten Bedeutungen des SUBJEKTIVEN ERLEBENS zu vermitteln; das geht aber nicht, und zwar aufgrund der Weise, auf welche die zwei Gegenstände der empiristischen Erfahrung zwei getrennte sind. Das ist wieder der springende Punkt: Die klassisch-empiristische Erkenntnis akzentuiert ihr Pensum so, dass Objekt- und Metaebene als zwei Gegenstände angesetzt sind (das Erkenntnissubjekt ist nicht das Objekt), die aber als »ein Gegenstand«, eine Form, erkannt werden. Das ist die Situation der chronisch unvollendet bleibenden Vermittlung einer kategoriallogischen Ebenendifferenz. 423 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Ein Zu-Ende-Führen des Pensums ist möglich, wenn man bei einem Gegenstand ansetzt, derart, dass es ein Gegenstand ist, dazu befähigt, seinen anderen Gegenstand als anderen und als anderen mit sich eins zu vermitteln. Ein Zu-Ende-Führen des Erkenntnispensums der empiristischen Methode ist nur einem Gegenstand möglich, der selber die Vermittlung der Ebenendifferenz ist, so dass also nicht zwei Gegenstände »eine Identität« bedeuten, sondern ein Gegenstand als mit sich im Sinne der Ebenendifferenz different – was klassisch durch zwei getrennt zu haltende Gegenstände repräsentiert ist – eine Identität bedeutet. Der Begriff des empiristischen Wissens behauptet also die Möglichkeit einer Struktur, die sich in der Entfaltung der logischen Struktur eines neuen – des primärtherapeutischen – Gegenstandes als verwirklichbar erweisen muss. Als die beiden Eckpfeiler der möglichen Verwirklichung eines solchen Gegenstandes – der logischen Struktur der Primal hypothesis – wurde im Rahmen der hier durchgeführten kategoriallogischen Analyse herausgearbeitet: • Die »innere Negation« und: • Die Ausdifferenzierung der Qualitäten von Quantität. Dies sei abschließend noch einmal erläutert. Die Gesamtstruktur des gesuchten neuen Gegenstandes ist als ein Verhältnis zweier logisch differenter Verhältnisse zu denken, derart, dass sich diese Verhältnisse als differente, d. h. als »gleiche« erweisen. Die Grundbestimmung dieses Verhältnisses ist die des Objektebenen-Metaebenenverhältnisses, so dass die Differenz des zweiten Verhältnisses um so viel »größer« – qua beziehbar different – ist als die das erste Verhältnis charakterisierende Differenz, dass sich die Differenz des zweiten Verhältnisses, bezogen auf die Bedeutung des ersten Verhältnisses, gerade nicht mehr als Beziehung zur Bedeutung der Position und diese affirmierend, sondern als Nicht-Beziehung und, da die Nicht-Beziehung als Weise der Bezogenheit fungieren muss, als Negation derselben auswirkt. Nun ist das Problem zu lösen, wie sich die beiden qualitativ differenten Differenzverhältnisse näherhin als Differenzen im Hinblick auf ein »Gleiches«, das sie beide bedeuten, erweisen können; dies kann nur so zustande kommen, dass die beiden qualitativ differenten Differenzverhältnisse jeweils eine differente Qualität des Zusammenwirkens zweier logisch differenter Momente, die sie beide aufbauen, darstellen. Die differente Qualität der beiden Differenzver424 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
hältnisse – auf dass sich IDENTITÄT auswirke – kann nur so zustande kommen, indem sich die verschiedenen Qualitäten als jeweils verschieden große Anteile der beiden logisch differenten Momente ergeben, so dass in jedem der beiden Verhältnisse jeweils diejenige Qualität in einem charakteristischen Maße überwiegt, welche in dem anderen Verhältnis nicht überwiegt, dort also in charakteristischem Maße weniger vertreten ist. So gilt, wenn Position und Negation als die beiden grundlegenden, logisch differenten Qualitäten angenommen werden – so dass die Position das logisch niedrigere Moment und die Negation das logisch höhere Moment darstellt –, dass Position und Negation in dem ersten Verhältnistyp so zusammenwirken, dass dieser im Sinne der Qualität einer »Position« bestimmt ist, und im anderen, umgekehrt, im Sinne der Qualität der Negation. Die Forderung der »inneren Negation« für den neuen Gegenstandstyp bedeutet nun, dass die Negationsmomente, die zum Aufbau der Differenzverhältnisse von der Art der Position beitragen, »dieselben« sind wie jene, deren Überwiegen im Aufbau des anderen Verhältnisses eben dieses im Sinne der Qualität der Negation bestimmen; d. h. das, was der Gegenstand genau nicht ist – sein ihm angemessenem Nicht-Sein –, ist durch das, was er im engeren Sinne der Position ist, vermittelbar: Die als Position und Negation charakterisierten, differenten Differenzverhältnisse können jene innige Verbindung eingehen, die das vermittelte oder reflektierte Verhältnis als eine Darlegung im Sinne des Identitätsbeweises vor der Zusammenhangsform der äußeren, objektiven Begründung auszeichnet. Was unterscheidet nun die Weise, wie sich quantitative Einheiten eines Gegenstandes beliebiger Definition sowie quantitative Gegenstände verschiedener Definitionen voneinander unterscheiden, von der Weise, wie sich die primären Erinnerungen von ihren Vorformen, auf die sie sich beziehen, unterscheiden? Wie kommt es dazu, dass die Ergänzung des Negationsmaßes, welches jene Vorformen im Sinne der Verhältnisqualität der Position bestimmt, um das das Metaverhältnis kennzeichnende Negationsmaß der Widerspruchskategorie die Sache, welche die als Position bestimmte Verhältnisform bedeutet, um das, was sie selbst ist, ergänzt, während die die Verbindungsform klassisch-quantitativer Gegenstände vollendende Struktur der wissenschaftlichen Erklärung den Gegenstand stets bloß um eine ihm äußerlich verbundene und daher hypothetisch gültige Struktur ergänzt? 425 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Der entscheidende Unterschied, wodurch sich im Falle des primärtherapeutischen Gegenstandes die »innere Negation« als die Verbindungsfähigkeit des Objektebenen- und des Metaebenenverhältnisses auswirken kann, ist, wie gesagt, die qualitative Ausdifferenzierung der Differenzverhältnisse; nur dadurch können jene feinen Entsprechungen zustande kommen, die als volles Evidenzerlebnis (»Urerlebnis«) einen Identitätsbeweis kennzeichnen: Gegenüber dem klassischen hat der primärtherapeutische Gegenstand den Vorzug einer qualitativen Ausdifferenzierung der »drei Dimensionen«, also dreifach ausgefächerter, qualitativ differenzierter quantitativer Verhältnisse, welche eine Bedeutung oder den »ersten Ansatz« des als logische Dualität gekennzeichneten Gesamtgegenstandes formulieren. Die kleinere Bedeutung der dreifachen Differenzverhältnisstruktur von der geringeren Qualität der Position muss so ausgeführt und intensiv differenziert dargelegt sein, dass die Qualität der Negation, die ja auf der Objektebene des ersten Ansatzes in entsprechend geringerem Maße vertreten ist, in ausreichend vielen und entsprechend der levels qualitativ differenzierten Verhältnissen repräsentiert ist, um für den höheren Verhältnistyp der Negation ausreichend viele Anhaltspunkte zu schaffen, damit sich dann im Sinne des zweiten Ansatzes des Gegenstandes das höhere Verhältnis mit dem geringeren verbinden kann. (Janov betont die Notwendigkeit von »free expression« auf jedem level; d. h., dass diese Struktur die sie definierende Eignung für die Auswirkung von Identität verliert, wenn die qualitativ differenzierte Ausformung der Momente der Phase der Position über ein bestimmtes Maß hinaus eingeschränkt wird.) Man beachte, dass es also die qualitative Ausdifferenzierung ist – indem das Objektebenenverhältnis nur dann in der für die Verbindung erforderlichen Weise dem Metaebenenverhältnis gewachsen ist, wenn es seine Negationsmomente ausreichend quantitativ-qualitativ repräsentiert: d. h., von jeder der drei Qualitäten von Quantität sind ausreichend viele Ausdrücke erforderlich; durch welche die Quantität – im Beweis der »Gleichheit« der logischen Qualität von Objekt- und Metaebene im konkreten Ereignis ihrer Verbindung – zum Zuge kommt. Vermittlung bedeutet immer: Verbindung von Ungleichem – im Sinne logisch höherer und niedrigerer Verhältnisse –, was grundsätzlich nur über zwei Ansätze oder Phasen der Entwicklung der dualen Gesamtbedeutung des Gegenstandes verwirklicht werden kann: Zuerst wird das niedrigere Verhältnis, entsprechend dem höheren und 426 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
gewissermaßen im stillen Hinblick auf dasselbe entwickelt; so kann man sagen: Hier dominiert das niedrigere Verhältnis – indem die Phase der Entwicklung der Gegenstandsbedeutung im Sinne der Position durch die geringere Kraft des logischen Moments der Position, sich mit dem logischen Moment der Negation zu verbinden, gekennzeichnet ist –, obwohl implizit das höhere Maß für die Entwicklung richtunggebend ist. Sodann wird die in der Artikulation des niedrigeren Verhältnisses gewonnene Voraussetzung der Verbindung desselben mit dem höheren Negationsverhältnis angewendet, und es dominiert nun das Verbindungsgesetz des höheren Verhältnisses; d. h., über eine Reihe von Verbindungen der Ausdrücke der niedrigeren Verbindungsform von Position und Negation mit der höheren – in der Ordnung der levels von oben nach unten, also beim dritten beginnend und in Richtung des ersten fortfahrend – kommt es zur Ausbildung einer neuen zweiten Stufe von Ausdrücken, die – indem sich die niedrigen Positions-Negations-Verbindungen mit jeweils entsprechend verhältnismäßig mehr von der höheren logischen Qualität der Negation verbinden – schließlich alle zusammen die durch die Kategorien: Unterschied, Verschiedenheit und Gegensatz bestimmte Negationskapazität der Position um die entsprechend größere Negationskapazität der Widerspruchskategorie ergänzen, so dass nun ein Verhältnistyp geschaffen ist, der aufgrund seines Negationsmaßes – entsprechend der Verbindung aller vier Reflexionskategorien – mit der durch das höhere Negationsmaß bestimmten METAKATEGORIE korrespondiert. Zuerst werden also die niedrigeren Verhältnismomente so formuliert, dass es dann möglich wird, durch Verbindung derselben mit der Widerspruchskategorie auf die Positionsbedeutung des ersten Ansatzes in einem zweiten Ansatz insgesamt so viel zusätzliche Negationsqualität zu verteilen, dass die Differenz der Negationsqualität des zweiten Ansatzes und jener des ersten Ansatzes als ein Ausdruck der METAEBENENQUALITÄT funktioniert. Die zweite Verhältnisreihe bedeutet, dass die im ersten Ansatz formulierte Bedeutung durch eine dem Aufbau der jeweiligen Ausdrücke auf den jeweiligen levels entsprechende, zusätzliche Annahme von Negation schrittweise von sich weggebracht wird, bis schließlich diese zweite, negationsbestimmte Verhältnisreihe komplett ist und nun das Verhältnis dessen, was die Bedeutung des Gegenstandes ist, zu dem, was sie, indem sie es nicht ist, ist, als das vollendete Objektebenenverhältnis das bestimmte NICHT dessen, was sie ist: d. h. ihre Metabedeutung zu SEIN, zum Ausdruck bringt. 427 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Die qualitativ-quantitative Ausdifferenzierung der drei Qualitäten von Quantität, sodass die innere Negation mit der Herausbildung einer zweiten Bedeutung qua Herstellung eines Verhältnistyps im Sinne der Widerspruchskategorie zum Zuge kommt, derart, dass die dual entfaltete Objektebenenbedeutung die METABEDEUTUNG als ihre Grundbestimmtheit reflektiert: Dies ist insgesamt der zweite, notwendigerweise den ersten Schritt der empiristischen Erkenntnis ergänzende Schritt zur Erfüllung des in ihr angelegten Erkenntnispensums, indem die neue Gegenstandsstruktur den der empiristischen Erkenntnisform im Ganzen impliziten Begriff einer kategoriallogischen Ebenendifferenz expliziert. Die Form, wie die Raum-Zeit-Bestimmtheit die quantitative Gegenstandsstruktur im Sinne der Implikationen der Äußerlichkeit und Beliebigkeit metabestimmt, hält das Erkenntnissubjekt einerseits und die Objekte der Erkenntnis andererseits – als jene großen Strukturmomente, die in der umfassenderen, primärtherapeutischen Gegenstandsformulierung insgesamt die dual entfaltete Objektebenenstruktur bedeuten – voneinander getrennt, so dass ihre Verbindung als entweder im Sinne der niedrigeren Kategorie der Positionsverhältnisse oder im Sinne der höheren Kategorie der Negationsverhältnisse zu vollziehen möglich offen bleibt. Um zum primärtherapeutischen Gegenstand zu gelangen, ist diese Form der Raum-Zeit-Bestimmtheit verändert angewandt, indem Zeit als (zuvor) beliebige Möglichkeit der Verwirklichung dreidimensional bestimmter Verhältnisse nun umgesetzt ist in die Verbindlichkeit der Reihenfolge der Explikation zweier differenter Verhältnistypen – der zwei Phasen der Gegenstandsstruktur –, und diese Vollendung der Objektebenenbedeutung fungiert als Bedingung dafür, dass sich deren METABEDEUTUNG als eine neue Dimension – gewissermaßen ein »vierdimensionaler Raum« – und als der Grund der Objektebenenstruktur verwirklicht. Die Raum-Zeit-Bestimmtheit der empiristischen Gegenstandserkenntnis ist in der Explikation des primärtherapeutischen Gegenstandes folgendermaßen umgesetzt: Einmal, entsprechend der Raumakzentuierung, in eine vierfach bestimmte, quantitativ-qualitative Differenzierung der Bedeutungsstruktur des Gegenstandes, wobei eine dreifache Bestimmtheit dessen eine Bedeutung im Sinne der Position und die vierte Bestimmtheit die zweite im Sinne der Negation erfüllt, so dass die vierfache Bestimmtheit also die dual differenzierte Gegenstandsstruktur entfaltet. Sodann, entsprechend der Zeitakzen428 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
tuierung, dahin gehend, dass diese besondere Raum-Struktur der Gegenstandsbedeutung konkret-systematisch verwirklicht wird; das heißt, dass die Gegenstandsbedeutung nur über die Verwirklichung der Explikation ihrer Momente in einer bestimmten Reihenfolge erreicht werden kann. Dies resultiert daraus, dass jedes Moment der Gesamtbedeutung auf allen levels im Sinne des ersten und zweiten Ansatzes eine ganz spezifische Verbindung von Position und Negation bedeutet: keines gleicht dem andern ganz. Und indem diese jedes einzelne Moment auszeichnende Spezifität für den Gegenstand relevant ist, so dass eine gewisse Anzahl von charakteristischen Repräsentationen aktualisiert sein muss, damit sich der Gegenstand als eine IDENTITÄT erweisen kann; und indem, ferner, jede einzelne Differenzierung ja aus der Beziehung zu allen bisher entwickelten Differenzierungen gewonnen werden muss und also nicht als eine AprioriVokabel zur Verfügung steht, ist also die Zeit qua verbindliche Reihenfolge der Verwirklichung in die Gegenstandsbedeutung integriert. Der empiristische Formalismus ist hier übersetzt in die Form der Systematik, so dass also die »Räumlichkeit« qua Dimensioniertheit der Gegenstandsbestimmtheit nur in der Form der Verwirklichung einer bestimmten Reihenfolge von in ihrer qualitativ-quantitativen Differenzierung systematisch aufeinander abgestimmten Verhältnissen existiert. So vereinigen sich Raum und Zeit in der Form der Bestimmung des primärtherapeutischen Gegenstandes, was Janov als die stärkere Einheit von Theorie und Praxis im Kontext der Primärtherapie beschreibt. Zum Abschluss dieser Ausführungen sei die Struktur des primärtherapeutischen Gegenstandes noch einmal schematisch veranschaulicht (vgl. S. 430). Die Einheit des Gegenstandes macht die Differenz von »Leib« und »Seele« als Differenz im Zusammenwirken der beiden grundlegenden logischen Qualitäten darstellbar. Im Sinne des zweiten Ansatzes der Verbundenheit der Strukturmomente des primärtherapeutischen Gegenstandes reflektiert die Zusammenhangsweise »Position« das Überwiegen der logisch höheren Qualität der Negation in der Form der Position – oder: das Überwiegen der spirituellen Qualität in der Form der materiellen Qualität, oder: das Überwiegen von Geist in der Form von Leib – und die Zusammenhangsweise »Negation« das Überwiegen der logisch höheren Qualität der Negation in der Form der Negation – oder: das Überwiegen der spirituellen Qua-
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Unterschied
»physis«: Speziellere, unerkannte Vorraussetzung des primärtherapeutischen Gegenstandes: Quantitative Strukturierungen (= Physiologie!)
Gegensatz
VERBINDUNG
»LEIB« »SEELE« |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl}
Verschiedenheit
»Position«
Primärtherapeutischer Gegenstand
Widerspruch
»Negation«
»GEIST«
»MATERIE«
(Zusammenwirkung zweier logisch differenter Qualitäten als unerkannte Voraussetzung für Erkenntnis)
»NEGATION«
»POSITION«
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
430
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
lität in der Form der spirituellen Qualität, oder: das Überwiegen von Geist in der Form von Geist.
2.1.3. Zusammenfassung und Bewertung der Ergebnisse der kategoriallogischen Analyse der Janovschen Äußerungen 2.1.3.1. Kategoriallogische Interpretation der »Bewegung« der primärtherapeutischen Begriffsbedeutung Die Aufgabe der hier vorgelegten kategoriallogischen Analyse der Janovschen Äußerungen besteht darin, über das Mittel der Janovschen Sprache die logische Besonderheit der primärtherapeutischen Gegenstandserkenntnis in einer Weise darstellbar zu machen, die sowohl deren Differenz als auch deren Beziehung zur klassisch-wissenschaftlichen Gegenstandserkenntnis Rechnung zu tragen und also beide Formen der Wissensgewinnung in einem umfassenden Zusammenhang zu begreifen gestattet. Dabei stützt sich die hier vorgelegte Analyse auf die im ersten Teil der Arbeit gegebene Beschreibung des Janovschen Sprachverhaltens, deren Ergebnis sich in folgenden zwei Punkten zusammenfassen lässt: (1) Der erweiterte Bedeutungsumfang der Sinnkomponenten der von Janov verwendeten Begriffe lässt sich entschieden nicht mehr im Spielraum einer normalerweise als tolerabel erachteten Unschärfe unterbringen. Vielmehr kann die die Janovschen Äußerungen durchgängig charakterisierende Eigenart im Umgang mit Begriffsbedeutung (derart, dass die – prinzipiell in Bezug auf jeden Begriff mögliche – schrittweise Erweiterung seines Bedeutungsumfangs über die in der psychologischen Theoriebildung vorfindbaren physischen und psychischen Akzentuierungen hinweg schließlich immer wieder darin kulminiert, dass die primärtherapeutische Begriffsbedeutung widersprüchlich ausgesagt wird) produktiv nur so ausgelegt werden, dass hier eine neue Denkmethode in einer der konventionellen Denkform angepassten Sprache bzw. dass eine intendierte höhere Kohärenzform in der Sprache einer niedrigeren Kohärenzform zum Ausdruck gebracht wird. Dies konvergiert mit der wiederholten Betonung Janovs, dass sein Gegenstand dialektisch gedacht werden müsse.
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
(2) Mit der doppelten Feststellung: Widersprüchlichkeit der Begriffsbedeutung und Inanspruchnahme von dialektischem Denken, als den beiden die Janovsche Sprache systematisch charakterisierenden Merkmalen, stellt sich für die weitere Analyse der Janovschen Äußerungen die Aufgabe, die dialektische Denkmethode als konsequente Weiterentwicklung der – formallogisch orientierten – empiristischen Denkmethode zu begreifen. M. a. W.: Der Wissenschaftsanspruch der mit dem Merkmal einer systematischen Widersprüchlichkeit belasteten Janovschen Aussageform kann mit dem Hinweis auf die notwendige Inanspruchnahme dialektischen Denkens nur dann einer möglichen Bestätigung zugeführt werden, wenn sie selbst als die Methode der Veränderung des klassisch-empiristischen Aussageschemas dargestellt werden kann. Diese Aufgabe kann so umrissen werden, dass, erstens, begreiflich zu machen ist, was die Bewegung oder die Bewegtheit des primärtherapeutischen Gegenstandes im Zusammenhang mit der relativen Unbewegtheit des empiristischen Gegenstandes besagt, wodurch dann, zweitens, der systematische Ort einzelner, von Janov verwendeter Begriffe klarer ersichtlich und die Ordnung des primärtherapeutischen Kontextes insgesamt grundsätzlich rational durchschaubar wird. So seien also, damit die bisherigen Ausführungen zusammenfassend, die für ein rationales Verstehen der primärtherapeutischen Erfahrung erforderlichen neuen logischen Gesichtspunkte noch einmal hervorgehoben, als Erläuterung der für die vorliegenden Ausführungen verbindlichen Arbeitshypothese: • Die Besonderheiten des Janovschen Sprachverhaltens sind der Ausdruck dafür, dass zur Erfassung des primärtherapeutischen Gegenstandes dialektisches Denken als eine gegenüber dem klassisch-formallogischen Denken höhere Denkform erforderlich ist. Die erste, grundlegende Konsequenz, die sich in der hier dargelegten Sicht notwendig an die Hypothese knüpft, dass zur Erfassung des primärtherapeutischen Gegenstandes dialektisches Denken erforderlich sei, ist: • Der primärtherapeutische Gegenstand ist kein klassisch-empiristischer Gegenstand; er ist eine total neue Gegenstandsform im Sinne einer gegenüber dem klassischen Gegenstand kategoriallogisch höheren Gegenstandsstufe. 432 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Als erster Schritt der Darlegung dieses Kapitels sei also dieser grundlegende Gesichtspunkt in seinen wichtigsten Implikationen verfolgt. Im Sinne der vordringlichsten, allgemeinsten Implikation muss zunächst einmal folgendes klargestellt sein: Dialektisches Denken als Form, etwas völlig Neues – im Sinne einer höheren Stufe der Gegenstandserkenntnis – zu begreifen, bedeutet ein Neuansetzen, das nicht von vornherein und ohne weiteres von der normalen Form wissenschaftlicher Gegenstandserkenntnis her zugänglich gemacht und begründet werden kann; dialektisches Denken als Form wissenschaftlicher Gegenstandserkenntnis einzuführen und zu erproben erfordert daher die Entscheidung, die Einwilligung, dies zu versuchen, in der Explikation der wissenschaftlichen Methode weiterzugehen; m. a. W., das Neuansetzen geschieht in der Situation einer nicht sofort zu beschwichtigenden Kluft oder Spannung zu einem normalen wissenschaftlichen Denken und Handeln; man muss das gewohnte Denkschema verlassen und der neuen Auffassung einen gewissen Vorsprung einräumen, sich zu entfalten, um dann rückwirkend festzustellen, ob sich die neue Weise mit der alten, bewährten Weise vereinbaren lässt, derart, dass die Verbindung von der bestehenden Weise her akzeptiert werden kann, so dass sich die alte Weise von der neuen Weise aufnehmen und von ihr tragen lässt […] Das muss man ausprobieren, und in diesem Sinne ist das Erproben der Primal hypothesis ein Experiment auf der Ebene der wissenschaftlichen Methodologie. Dialektisches Denken bedeutet das Anheben einer neuen Stufe der Explikation von Gegenstandserkenntnis, und das mit einem solchen Neuansetzen verbundene Risiko des Misslingens muss in Kauf genommen werden: Man kann dialektisches Denken nicht dadurch wissenschaftsfähig machen, dass man es in ein »günstiges Mischungsverhältnis« mit normalwissenschaftlichem Denken bringt, um auf diese Weise zusätzlich einigen Besonderheiten des humanwissenschaftlichen Gegenstandes Rechnung zu tragen. Zu diesem Punkt sei wiederholt, was in der Diskussion der gegenwärtigen Theoriesituation der Psychologie herausgestellt wurde: Wenn für die Erfassung des humanwissenschaftlichen Gegenstandes eine neue Methode hinzugenommen werden muss, so muss sich diese neue Methode, um ihre Funktion zu erfüllen, von der klassisch-empiristischen unterscheiden, und dann gilt: Entweder entspricht die neue Methode nicht den Anforderungen der wissenschaftlichen Erkenntnisform, indem sie logisch schwächer ist – dann ist nichts Neues er433 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
reicht, da ein solches Neues wissenschaftlich nicht repräsentiert werden kann; oder die neue Methode ist logisch stärker als die wissenschaftliche Erkenntnisform, und das kann, unter Berücksichtigung der Beziehungsforderung, nur heißen: sie ist ihr als die nächsthöhere Erkenntnisstufe logisch übergeordnet – dann muss die Formulierung der neuen Methode die schwere Beweislast auf sich nehmen, die empiristische Form der Gegenstandserfassung zu begründen und also in erster Linie als eine neue Rahmentheorie wissenschaftlicher Erkenntnis auftreten; anders ist eine total neue, wissenschaftliche Gegenstandsauffassung nicht zu denken. Eine unklare Kombination von Fragmenten der klassischen, bewährten Denkform mit »höheren, dialektischen Denkmomenten« bedeutet noch keinen Fortschritt in der Explikation wissenschaftlicher Rationalität; vielmehr ist die Verbindung zweier Wissensformen und das Herausstellen der logischen Operationen, die die entsprechende Brückenfunktion ausüben sollen, gerade das zentrale Problem, welches die Entfaltung einer völlig neuen Gegenstandsbedeutung bestimmt. Gerade dieser Gesichtspunkt: dass die Explikation eines neuen Gegenstandes ein Neuansetzen in der Denkmethode und, um das zu erreichen, ein Abrücken, eine gewisse Distanzierung von »allem Bestehenden« erfordert, schafft einen Zugang zu den Äußerungen Janovs: formal, indem man frei wird, die Besonderheiten seines Sprachverhaltens auch positiv – nicht nur als Störungen – wahrzunehmen; inhaltlich, indem vor diesem Hintergrund seine doch recht krassen Zurückweisungen aller von außerhalb der Primärtherapie an seinen Standpunkt unternommenen Annäherungen verständlicher und also weniger abschreckend wirken – wenn er etwa sagt: »Beware the tendency to try to incorporate Primal Theory into theories therapists have to come familiar with over the years. Bringing in past terminology to explain Primals, linkening it to something someone said decades before, is to engage in the neurotic struggle to make old sense out of something new. Although Primal Theory does have similarities to many differing approaches, I ask that it be examined on its own terms for what it is.« (Janov 1970, S. 394)
Logisch nachvollziehbar ist auf jeden Fall, dass eine Formulierung des spezifisch und eigenständig Neuen der Primärtherapie – und diese bedeutet in erster Linie die Explikation einer neuen Denkmethode, weil anders das Verständnis eines völlig neuen Denkinhalts nicht vermittelbar ist – dem Versuch, sie mit der bestehenden wissenschaftli434 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
chen Denk- und Handlungspraxis in Verbindung zu bringen, vorausgehen muss. »Feeling is all-or-non-principle.« (Janov 1970, S. 72; S. 289) »Feeling is a single phenomenon.« (Janov 1980, S. 204)
Auf der Ebene des genannten, ersten, grundsätzlichen Gesichtspunktes bedeutet das: Die primärtherapeutische Gegenstandsauffassung – die dialektisches Denken erforderlich macht – lässt sich mit der klassischen Auffassung – und der entsprechenden Denkmethode – nicht einfach »mischen«; sie ist nicht teilbar; man kann sie nur im Ganzen, als eine neue Form der Gegenstandserkenntnis, entwickeln – oder sie bedeutet eben auch nichts gegenüber der bestehenden Auffassung Neues. Nach dieser ersten, formalen Implikation von »der primärtherapeutische Gegenstand ist kein klassisch-empiristischer Gegenstand« folgt nun dazu ein erster, spezieller Gesichtspunkt, das »wie« des Umdenkens in Richtung auf Erfassung des neuen Gegenstandes mehr inhaltlich zu bestimmen. Die allgemeinste, inhaltliche Bestimmung des primärtherapeutischen als eines nicht-klassischen Gegenstandes ist: In der primärtherapeutischen Erkenntnis geht es nicht um Aussagen über Sachverhalte. Der eigentliche Inhalt der primärtherapeutischen Erkenntnis sind nicht-aussagbare Sachverhalte; Ziel der primärtherapeutischen Erkenntnis ist, als Erkenntnis-Subjekt auf die Nicht-Aussagen-Ebene zu gelangen. Das, worum es in der Primärtherapie geht: FÜHLEN, hat keine Worte: »For example: If I am having a Primal about my mother’s pushing me away, I will probably say, ›Don’t push me away, Mommy‹. The pure feeling in that Primal really has no words. The feeling is my real self, and the words are really saying, ›I feel bad, Mommy, please take my pain away,‹ and this is a defense against being that feeling. The many times that this feeling is associated with specific incidents will take the patient, I think, to finally being that feeling totally and experiencing his essence […] At this point there is nothing to say and no scenes to be connected to. You are being you. For me it was, what total deprivation did to me. I cannot hope to communicate in words what that experience actually feels like for me, and that I can’t is further testimony to the fact that there are no words […]« (Janov 1970, S. 98) »There is nothing to figure out.« (Janov 1970, S. 394)
435 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Die Nicht-Aussagbarkeit oder der Nicht-Sachverhalt-Charakter des eigentlichen, in der primärtherapeutischen Erkenntnis realisierten Inhalts bedeutet entsprechend dessen Nicht-Raum-Zeit-Bestimmtheit: Die Raumbestimmtheit wird negiert durch die »Innerlichkeit« des FÜHLENS: »Everything is inside.« (Janov 1980, S. 70; S. 244) »It is not something in space.« (Janov 1975, S. 234)
Aber für das angestrebte, tiefe Fühlen im Sinne des Urerlebens ist auch der Zeitbegriff hinfällig: »Time, after all, is a concept […] Feelings, then, become the total reality.« (Janov 1975, S. 301) »Pure feeling has no notion of time.« (Janov 1975, S. 318)
Nun würde sich ein wissenschaftliches Zur-Kenntnis-Nehmen der Primärtherapie ja erübrigen, stünde diese Bestimmung: »In der primärtherapeutischen Erkenntnis geht es nicht darum, zu Aussagen über Sachverhalte zu gelangen«, isoliert da. Indessen ist sie das oberste bestimmende Moment im größeren Zusammenhang seiner Verwirklichung: d. h. seiner methodischen Annäherung qua Vermittlung durch eine Reihe von Momenten, die jenes in bestimmter Weise nicht sind: also durch Aussagbares. Die Nicht-Aussagbarkeit als Pointe der primärtherapeutischen Erkenntnis, welche die gesamte Methode der Erkenntnisgewinnung ins rechte Licht rückt, bedeutet die Entdeckung der Herauslösbarkeit des Inhalts aus den gegenständlichen Formen, in die hineingebunden er normalerweise erscheint. Und genau dies ist das durch das Janovsche Sprachverhalten zum Ausdruck gebrachte Hauptphänomen: Die Sprache ist nicht die SACHE SELBST; die Sprache ist ein Mittel, um die SACHE SELBST zum Ausdruck zu bringen, und das bedeutet: sie bringt sie zum Ausdruck und nicht zum Ausdruck. Dies gilt ebenso für den auf dieser Ebene von der Sprachform noch einmal zu differenzierenden Inhalt der Janovschen Äußerungen, also für die im sprachlichen und nichtsprachlichen Verhalten partiell objektivierbaren Sachverhalte der subjektiven Erfahrung: Sie sind das, worum es geht, indem sie es sind (»in each piece of acting out is the feeling«) und nicht sind (»the pure feeling has no words«). Um die Janovsche Sprache wissenschaftstheoretisch interessant zu finden und aus der Beschäftigung mit ihr Freude und kognitiven 436 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Gewinn zu haben, muss man in einer gewissen Weise das Verhältnis zu Äußerungen überhaupt lockern, durchaus ohne damit zuzugestehen, dass nun etwa einfach »alles« behauptet werden könnte, weil ja nun alles sowieso nicht mehr so genau genommen würde. Die Janovschen Äußerungen werden transparent für ihre Bedeutung in einem bestimmten »mehr« an Spielraum – wie er zum Verständnis einer jeden Äußerung nötig ist – wenngleich sich der Punkt für die richtige Einstellung nicht leicht angeben lässt. Mit einer entsprechenden Einstellung jedoch, die den Sinn ausreichend gewähren lässt, ist, meine ich, wahrzunehmen, wie Janov die eine Bedeutung (»the single feeling«) durch alle Formen hindurchtreibt, die sie aufnehmen können – nach dem beschriebenen »Vierfelderschema«: physische Sinnkomponenten: ja – nein; psychische Sinnkomponenten: ja – nein –, bis kein Schlupfwinkel mehr übrig ist und die zugespitzte widersprüchliche Aussage sie aus der Ebene des Aussagbaren hinaustreibt. Dieser Stil ist gewiss einmalig bei Janov, und er erreicht damit tatsächlich punktuell eine flüchtige Präsenz des Nicht-Aussagbaren – ein Phänomen, das sich schwer demonstrieren lässt, da diese Ausdruckstechnik charakteristischerweise besser wirkt, wenn man längere Passagen liest: Die SACHE, um die es eigentlich geht, erscheint durch das Mittel gewisser Manifestationsformen, wenn man sich nicht zu stark an diese Formen fixiert: »The Primal approach is as different from conditioning methods as from almost any other approach. Rather than view a person’s fears as entities, Primal Therapy believes that it is the person who is fearful.« (Janov 1970, S. 214) »I should hasten to add that there is a problem in the other direction; namely, that neurological research has not had a frame of reference which includes the psychologic dimension. The result is unidimensional theories and the accumulation of facts unrelated to theoretical matrices […] Melzack’s approach does not relate to levels of consciousness per se; he wants to control pain. He does not see the necessity of reliving and thereby resolving it. It is a most important step to understand that Pain exists as an unresolved memory which must be reexperienced. Even though Melzack discusses »phantom limb« pain of amputees […], he does not relate that phenomenon to psychological (Primal) Pain. The problem in pain research, as with any other investigation in medicine, is that it is people who are in pain, not neurons, and it is people who must be studied in a holistic way.« (Janov 1975, S. 182) »Here again, we find that physical pains are the result of early mental pain, and when those hurts are felt, the physical afflictions drop away. […] because
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
feelings are real, physical things […], he had to go back and feel each separate element of the contradiction.« (Janov 1970, S. 92 f.) »We can only define a behavior as neurotic when it is taken on total context. Many inner processes are going on to produce such behavior. We are not just eating. It isn’t just a hand moving to the mouth. It is blood sugar levels, brain activation, adrenalin output, and so on. Excessive talking is not just a mouth moving and a tongue flapping. It is a need that pushes torrents of words out of a neurotic’s mouth. And need is a total psychophysiologic state.« (Janov 1973a, S. 25)
Die Veränderung der Gegenstandsauffassung im Auftauchen der logischen Differenz des Zusammenhangs der Weisen der Manifestation der Sache – wie sich die Sache äußert – und der SACHE SELBST, sodass der Gegenstand die Beziehung der Äußerungsformen der Sache und der nicht in dieser Art fassbaren Metaebene der SACHE SELBST bedeutet, entspricht der Veränderung der Gegenstandsauffassung, die sich mit der Herausbildung der Atomhypothese vollzogen hat und weiter oben charakterisiert wurde als: »Rückzug des Gegenstandes aus allen seinen Manifestationen plus Hinzukommen einer neuen Methode«: Die für die wissenschaftliche Erkenntnis grundlegende Operation der Zurücknahme des eigentlichen Gegenstandes aus den Weisen, wie er sich äußert, ist nicht so zu verstehen, dass diese Äußerungsformen, an die man sich bisher gehalten hatte, nun ganz unwichtig würden; sie werden anders aufgenommen – was eine »Lockerung« des Verhältnisses zu ihnen voraussetzt –, so dass ein Zusammenhang von stärkerer Stringenz zustande kommt, derart, dass es, indem die vielen Ausdrucksformen streng als der Ausdruck einer Sache behandelt werden, zu einer Demonstration von IDENTITÄT kommt. Wissen hebt an mit dem Wirksamwerden der logischen Ebenendifferenz, mit einer Strukturierung, die ein Objektebenen-Metaebenenverhältnis bedeutet. Die klassisch-empiristische Erkenntnis bedeutet ein Objektebenen-Metaebenenverhältnis, das sich »außerhalb« der Erkenntnisbeziehung abspielt; dies impliziert eine Umkehrung, derart, dass die für die Erkenntnis relevante Beziehung im Sinne der logischen Ebenendifferenz nicht die Gegenstandsbeziehung, sondern die Struktur des Gegenstandes »außerhalb der Beziehung« bedeutet. Dies kann als eine »Halbierung« gedeutet werden, derart, dass nicht alles, sondern nur »die Hälfte« eines vorauszusetzenden Ganzen – der Objektebe438 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
nenmatrix – eine Strukturierung im Sinne der wissenschaftlichen Gegenstandsbeziehung vollzieht, so dass also die Frage, ob eine solche Strukturierung dem für die wissenschaftliche Gegenstandsbeziehung vorauszusetzenden Ganzen zu verwirklichen möglich ist, unentschieden bleibt, was als die Veräußerung des Erkenntnisresultates im Sinne eines objektiven Gegenstandes repräsentiert ist. Die Operation der Gegenstandsbeziehung ist damit »versiegelt«: Von der Objektebenen-Metaebenenbeziehung soll nur im Sinne der Konstituierung objektiver Gegenstände Gebrauch gemacht werden, entsprechend der Kantschen Regel – die weiter oben die »transzendentale Schranke« genannt wurde: »Dass also der Verstand von allen seinen Grundsätzen a priori, ja von allen seinen Begriffen keinen anderen als empirischen, niemals aber einen transzendentalen Gebrauch machen könne […]« (B 297)
Von der Objektebenen-Metaebenen-Beziehung darf nur Gebrauch gemacht werden, wenn das Resultat, die Bedeutung, nicht auf das Ganze der Beziehung, sondern auf die Beziehung, sofern sie den objektiven Gegenstand als etwas »außerhalb von ihr« konstituiert, bezogen wird. So ist der objektive Gegenstand die Gegenstandsbeziehung, von der kein Gebrauch als Beziehung gemacht wird, und das heißt, dass die forschungslogisch relevante Operation der Gegenstandsbeziehung keine Verbindung eingeht mit dem Ganzen, aus dessen Spaltung sie sich konstituiert. Da auf diese Weise unklar bleibt und bleiben muss, ob der eigentliche Gegenstand qua Nicht-Subjektivität eine Dimension des »Objektiven« oder des »Subjektiven« ist, tritt die Kantsche Regel: »Keine Aussage über die Metaebenenbedeutung« (als Definition der logischen Ebenendifferenz, die für die wissenschaftliche Wissensgewinnung konstitutiv ist) in zwei Versionen auf: – den Gegenstand akzentuierend: Die oberste Bestimmung der Gegenstandsbestimmtheit ist selbst keine Aussage (wie von der Nicht-Aussagen-Konzeption wissenschaftlicher Theorien hervorgehoben), sondern »etwas anderes« – eine begriffliche oder mathematische Struktur; – die Gegenstandsbeziehung akzentuierend: Erkenntnistheorien – Theorien über den Grund wissenschaftlicher Erkenntnis – sind nicht möglich und/oder nicht nötig; die die wissenschaftliche Gegenstandserkenntnis konstituierende Gegenstandsbeziehung kann weder empirisch noch theoretisch »ausgesagt« werden. 439 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Dies bedeutet jedoch insgesamt die widersprüchliche Situation, dass die oberste, die empiristische Gegenstandserkenntnis bestimmende Bestimmtheit ein abstraktes »Nichts« ist und damit in gewisser Weise weniger als die empirische Wirklichkeit. Das Oberste, das zu fassen, wenn auch nicht auszusagen ist, ist eine abstrakt-begriffliche Struktur: der Begriff der Sache; doch bedeutet er nichts für sich: er ist bloß von empirischem Gebrauch, und die empirische oder Aussagen-Ebene gibt ihm etwas, ohne das er kein Leben hätte. Gerade umgekehrt verhält es sich mit der primärtherapeutischen Erkenntnis. Der »Begriff der Erfahrung« ist nicht über der Erfahrung; er vertritt keineswegs die Metaebene; vielmehr vollendet er als begriffene Erfahrung die Wahrheit der Objektebene: die Bestimmtheit der Negation als Negation. Während also im klassischen Rahmen der Begriff das Oberste und die Vertretung der Metaebene ist, die ansonsten außerhalb der Erkenntnis verbleibt, ist er im primärtherapeutischen Rahmen die Vollendung der Bestimmtheitsstufe der Erfahrung als der Objektebene, wodurch diese als eine Form des Erscheinens der SACHE SELBST erfahren wird. Deswegen sagt Hegel, dass die höchste Kategorie die Kategorie der Freiheit ist; denn die Kategorie der Freiheit ist kein intellektueller Begriff im klassischen Sinn. Freiheit bedeutet: DIE SACHE ZEIGT SICH. IDENTITÄT EREIGNET SICH. DIES KANN NICHT AUSGESAGT WERDEN. ES »IST«; es ist kein Gegenstand der Erkenntnis, es ist grundlegendes und begründendes ERKENNEN, die Erfahrung der IDENTITÄT von Objekt- und Metaebene. Insofern diese ausgesagt werden muss, damit das Nicht-Aussagbare sich ereignen kann, wird es vielfältig und schließlich als Begriff ausgesagt, d. h. als eine Stufe der Strukturierung von Erfahrung als der Verwirklichung der Bedingung der Möglichkeit des Auftretens der SACHE SELBST. Bewegtheit als Form der Janovschen Äußerungen ist, im Sinne des hier Dargelegten, zunächst so zu verstehen, dass die als Bestimmtheit objektiver Gegenstände versiegelte Gegenstandsbeziehung aufgebrochen wird, so dass es jetzt darum geht, dass sich das Ganze, das für die Konstitution der wissenschaftlichen Gegenstandsbeziehung relevant ist, strukturiert, plus – und daran hängt die ganze Frage der Wissenschaftlichkeit der primärtherapeutischen Erkenntnis – eine andere Weise des Umgangs mit den Momenten der Objektebenenstrukturierung. Gegenstand der primärtherapeutischen Erkenntnis ist die Objektebenen-Metaebenenbeziehung in ihrer Totalität; auf die Ebene der Analyse der Janovschen Sprache bezogen: die 440 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Beziehung des Nicht-Aussagbaren zum empirisch-sinnvoll Aussagbaren, so dass das im Sinne der empirischen Erfahrung partiell Greifbare sukzessiv umformuliert und verändert wird, derart, dass sein Charakter als Negation der darin zum Ausdruck gebrachten Bestimmtheit ausreichend präzisiert ist, um seinen Sinn als Ausdrucksmittel zu erfüllen und die Form seines Seins im SEIN des Ausgedrückten aufgehen zu lassen. Die Bewegung »einer Begriffsbedeutung«, die Bewegung des »Begriffs der Sache« als die Ratio des Übergehens von Ausdrucksform zu Ausdrucksform als Phänomen einer wissenschaftlichen Sprache, ist nur so denkbar, dass nun die Verwirklichung der Objektebenenstrukturierung in ihrer Totalität auf dem Spiel steht, so dass es also um die Verwirklichung derselben insgesamt als Objektebene geht, und dies ist nur als Entfaltung und eine Form von Zurücknahme der entfalteten Momente der Objektebenenstrukturierung möglich. Feststehende Bedeutungen im Sinne von Aussagen haben somit nur eine vorübergehende, »flüchtige« Bedeutung, vor allem dadurch, dass Aussagen und allgemein die Formulierung von »Positionen« die Voraussetzung dafür bilden, dass man etwas hat, an dem sich eine Zurücknahme ausdrücken lässt. Bewegung als eine Bedeutungsexplikation mit Überschreitung der Grenzen einer normalwissenschaftlichen Kohärenzform ist nur dann wissenschaftlich verantwortbar – und nicht einfach »unwissenschaftliche Ideenflucht« –, wenn das Weiterschreiten in einer Form geschieht, welche zugleich eine Zurücknahme der Positivität der Ausdrucksform und damit die Vollendung ihrer Bestimmtheit als lediglich eines Mittels bedeutet. Die Wissenschaftlichkeit einer Bedeutungsexplikation in der Form der Bewegtheit steht und fällt mit dem Gedanken der Vermittlungsfunktion der Objektebene, d. h., dass die »Totalverwirklichung« der Objektebenenstrukturierung im Sinne der Erfüllung ihrer Vermittlungsfunktion geschieht. Das Phänomen der Bewegtheit der explizierten Bedeutung, so dass die verwendeten sprachlichen Formen den Status eines Ausdrucksmittels für eine ihnen logisch übergeordnete Bedeutung haben, signalisiert eine gegenüber der gewohnten Erkenntnissituation sehr veränderte Situation. Im Sinne eines zweiten, speziellen Gesichtspunktes dazu, wie der primärtherapeutische Gegenstand nicht der klassische Gegenstand ist, sollen die weiteren Implikationen dieser Hypothese zusammengefasst und damit zugleich noch näher er-
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läutert sein, inwiefern für eine Darstellung des primärtherapeutischen Gegenstandes dialektisches Denken erforderlich ist. Die neue Gegenstandauffassung, derart, dass in der Sachverhaltstruktur das Erkenntnisimplikat derselben repräsentiert ist, bedeutet, wie gesagt, in erster Linie das Thematischwerden der kategoriallogischen Ebenendifferenz. Die Bewegtheit der sprachlichen Ausdrucksformen ist zu verstehen als ein Merkmal der Auflösung der objektiven Orientierung in der Relativierung empirisch konstatierbarer Sachverhalte auf die entsprechende, grundlegende kategoriale Operation der Gegenstandsbeziehung. »Bewegung« bezeichnet die Akzentverlagerung auf die kategoriale Dimension der Erkenntnissituation bzw. auf den Ort der Wirksamkeit der Ebenendifferenz selbst als dem gemeinsamen Nenner aller wie immer ausgeprägter Erkenntnissituationen. – Kategoriallogisch gesehen hebt dialektisches Denken an mit dem Auftreten des Vermittlungsgedankens im Begriff der kategoriallogischen Ebenendifferenz: also mit einer Situation, deren Grundstruktur sich in die Formel fassen lässt: »Es (das Dargestellte) ist ein Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET.« Wenn die neue Erkenntnissituation heißt: Erkenntnis nicht innerhalb eines im Konsens der Kulturgemeinschaft feststehenden Rahmens, sondern Erkennen als Thematischwerden dieses Erkenntnis konstituierenden Rahmens selbst, so ist leicht zu sehen, dass sich etwas Derartiges nicht mit einem Schlag oder als »ein Akt« vollbringen lässt: Die kategoriallogische Ebenendifferenz als »Erkenntnisgegenstand« ist nur möglich, indem eine neue Zugangsweise zur klassischen Gegenstandsstruktur das Wirksam- und Lebendigwerden der Erkenntnis konstituierenden Rahmenbeziehung bedeutet, derart, dass sich dies im Erreichen einer Veränderung der konstituierenden Beziehung erweist; dass eine neue Zugangsform zur Struktur des Erkenntnisgegenstandes kein klassischer Gegenstand ist, sondern das Lebendigwerden der Gegenstandserkenntnis konstituierenden Erkenntnisbeziehung BEDEUTET, lässt sich nur erweisen im Übergang von einer Form zu einer ganz anderen, kategoriallogisch höheren Form einer formulierten Erkenntnis. Das Lebendigwerden der Erkenntnis konstituierenden Erkenntnisbeziehung kann sich nur als Veränderung der Erkenntnisbeziehung im Übergang von der einen zu einer ganz anderen Form von Erkenntnis zeigen. Die »Bewegung« in der Explikation der primärtherapeutischen Bedeutung ist also der Ausdruck dafür, dass von dem Erkenntnis kon442 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
stituierenden Verhältnis ein bestimmter Gebrauch gemacht wird. Die primärtherapeutische Bedeutung: FÜHLEN lässt sich nicht auf Anhieb, isoliert für sich genommen, explizieren; vielmehr erweist sich FÜHLEN als das unaussagbare KONKRETUM in der Form, dass das empirisch sinnvoll Aussagbare anders genommen wird, und dieser andere Umgang mit dem empirisch Aussagbaren BEDEUTET die Beziehung desselben zu seiner Metaebenenbedeutung, indem die neue Umgangsform mit dem empirisch Zugänglichen eine Veränderung desselben kausiert. Das ist der voll explizierte logische Sinn der Janovschen Äußerung: »Changes of behavior depend on changes in feelings.« (Janov 1975, S. 429)
Eine Veränderung der Verhältnisse auf der Aussagenebene – die größer ist, als sie im klassischen Rahmen vorkommen kann – ist begründet im Sinne einer wissenschaftlichen Kohärenzform, indem sie eine Beziehung der Aussagenebene zur Metaebene des Nichtaussagbaren bedeutet; oder: indem die Objektebenenstruktur die Bedingung einer Beziehung im Sinne der kategoriallogischen Ebenendifferenz erfüllt; oder: indem die Objektebenenstruktur der Metaebenenstruktur (im erforderlichen Maße) entspricht. Die entwickelte, neue Gegenstandsstruktur ist so gedacht, dass zwei verschiedene Formen von empirisch zugänglichen Daten zusammenhängen, derart, dass der ausgedrückte Gesamtzusammenhang sein Zusammenhängen mit der Metaebenenbedeutung als einem unaussagbaren Konkretum »beweist« – d. h.: das eben ist die Explikation des Schemas der wissenschaftlichen Begründetheit der Kohärenzform des primärtherapeutischen Gegenstandes: Ein Zusammenhang im Sinne einer Objektebene ist so bestimmt, dass er das Zusammenhängen von Objekt- und Metaebene BEDEUTET. Das Grundschema einer neuen Gegenstandsform, zu deren Erfassung dialektisches Denken notwendig ist: »ein Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET«, ist vollständig so zu explizieren: (1) Die Explikation des Strukturmoments: »ein Verhältnis«, erfolgt im Sinne der Gesamtstruktur als Entwicklung der Bedeutung der »Bedürfnisbefriedigung« als Entfaltung dreier Strukturmomente (dreier levels), die erforderlich sind, um die zwei Verhältnisakzentuierungen der Bedürfnisbefriedigung darzustellen: Bedürfnisbefriedigung – Fühlen, welches Verhältnis FÜHLEN bedeutet: einen vierten level qua Herausbildung einer Strukturierung, die die Differenz einer »Bedürfnisbefriedigung, die 443 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Fühlen bedeutet«, auf den Begriff bringt in der Herausbildung von FÜHLEN gegenüber Bedürfnisbefriedigung-Fühlen. (2) UND DIESES VERHÄLTNIS: Bedürfnisbefriedigung-Fühlen – FÜHLEN BEDEUTET ein Objektebenen-Metaebenenverhältnis im Sinne der Verbindung zweier Formen des Sich-Ausdrückens der Objektebenenstrukturierung, nämlich: • klassisch, aber verändert – indem die Gegenstandsstruktur das Wirksamsein der Gegenstandsbeziehung bedeutet –, d. h. der klassischen Gegenstandserkenntnis in Bezug auf ihre wesentlichen logischen Momente hin äquivalent, • und nicht-klassisch, d. h. als Ausdruck der Beziehung von Objektebene und Metaebene im engeren und positiven Sinn. Damit ist also nicht das Stadium der Beziehung von Objekt- und Metaebene im Sinne des Urerlebens gemeint – hier gilt: »no words!« –, sondern die primäre, authentische Äußerung dieser Erfahrung in der Artikulation von Einsicht und Verstehen; dies sind keine Aussagen im empiristischen Sinn; dennoch sind diese Äußerungen empirisch zugänglich und – das ist der springende Punkt – durch die der klassisch-empiristischen Methode äquivalente Methode ihres Zustandekommens empiristisch vermittelt, also in dem spezifischen Sinn der Wissenschaftlichkeit der primärtherapeutischen Gegenstandserkenntnis empiristisch legitimiert. Es ist das Wiederaufleben der von der Erfahrung der IDENTITÄT als einem unaussagbaren KONKRETUM im Urerleben durchströmten Objektebene in jenen Äußerungen, von denen Janov sagt, dass sie nicht falsifiziert werden können, indem sie dasjenige sind, das Falsifikation oder Bestätigung begründet; es sind die Äußerungen der durch die logischen Bedingungen der objektiven Erkenntnis hindurchgeführten subjektiven Erfahrung. Vollständig ist also »ein Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET« vierfach zu entfalten als: »ein Verhältnis, das ein Verhältnis bedeutet« (Bedürfnisbefriedigung-Fühlen), »das ein VERHÄLTNIS bedeutet« (Herausbildung von FÜHLEN im primärtherapeutischen Prozess), »DAS EIN VERHÄLTNIS BEDEUTET« (das Verhältnis von »klassischer« und »nicht-klassischer« Gegenstandsform nach erfolgtem Kategorienwechsel, d. h. also insgesamt in der neuen, nichtklassischen Form als die Auswirkung der Objektebenen-Metaebenen-Verbindung in der Aussagenform und Nichtaussagenform). 444 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Um mit dieser Formel etwas anzufangen, muss sie an die richtige Stelle gebracht, d. h. als eine spezifische Zugangsweise zur Analyse des Wirklichen, das sich damit in einer neuen Weise – als in dieser speziellen Proportion und Größenordnung analysierbar – zu erkennen gibt, erfasst werden. Die grundlegende Einstellung, auf die es dabei ankommt, das Inzitament dieser Art von SACHE, ist, zu begreifen, zu studieren und einzuüben, was als »die Ebenendifferenz« bezeichnet wird: eine Bestimmtheit und – damit die Bestimmtheit sie selbst, also im Hinblick auf Identität richtig erkannt sei – das Nicht der Bestimmtheit als dasjenige, was genau nicht die Bestimmtheit ist, im Sinne ihrer höheren Stufe: Bedürfnis-Fühlen. Diese Struktur ist zunächst recht einfach demonstrierbar und vielseitig anwendbar; sie bedeutet, sich etwa auf Folgendes zu beziehen: Ein Ablauf, ein diskreter Zusammenhang hat zwei Phasen: Ein Vollzug im weitesten Sinne bedeutet zuerst eine Differenzstruktur derart, dass dasjenige, worum es geht, zustande kommen soll; das, was zustande kommen soll, ist nicht der Zustand, von dem aus es zustande kommen soll, obwohl er es impliziert oder »verlangt«. Das entsprechende Eingehen in diese Verfassung oder Konstellation hat automatisch irgendwann zur Folge, dass man sich nicht mehr in der Ausgangssituation, sondern dort befindet, wo sich diese mit der von ihr verlangten Konsequenz verbunden hat, so dass die von der Ausgangssituation verlangte Zielsituation als Negation derselben (der Ausgangssituation) bezeichnet werden kann: die zweite Form ist das »Nicht« der ersten Form; d. h., indem von der zweiten Form her die erste als Negation, als das Nicht einer von ihr aus zu verwirklichenden zweiten Form erscheint, als Negation dieser Negation und somit als die Aufhebung der schwächeren Form der Voraussetzung in der stärkeren Form ihres Resultats, als der intensive Zusammenhang oder das Übergehen – im Sinne des Erweisens von Identität – der schwächeren Form der Voraussetzung in die ihr implizite Form des Resultats. Nach diesem Schema der spekulativ-dialektischen Satzform könnte man etwa den Zusammenhang: Befolgung der Handlungsanweisung: »Drücke auf diesen Knopf!« (Kraiker 1980, S. 173 f.), analysieren, d. h. jeden Zusammenhang, für den Einheit als Auswirkung von Ganzheit – sinnvolles Handhaben von Grenzen oder Begrenztheiten als Ausdruck des Zusammenwirkens von Endlichkeit und Unendlichkeit – eine Rolle spielt. Aber, wie im Abschnitt weiter oben 445 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
über »die Grundform des dialektischen Zusammenhangs«, muss man sich hier die Frage gefallen lassen: wozu das; wozu die Vermehrung und Komplizierung der Beschreibungsarbeit? – Dazu ist zu sagen: Man kann an jedem noch so unbedeutenden Detail mit dieser Art der Analyse beginnen: ihre eigentliche Kraft der Demonstration kann sie nicht entfalten, wenn man sie auf ein Detail oder willkürlich festgesetzte Ausschnitte von Zusammenhängen beschränkt; ihre Kraft der Demonstration kann sich nur auswirken in einer bestimmten Art ihres Fortfahrens, derart, dass sich mit dieser erst herausstellt, was als »ein Zusammenhang« im Sinne der veranschlagten Methode der Analyse gelten muss. Dialektisch zu denken, so dass dialektisches Denken erforderlich ist, bedeutet, dass man davon ausgeht, dass es (für den intendierten Vollzug) erforderlich ist, eine neue Art von »ein Zusammenhang« kennenzulernen, der vorher nicht da war – in einem entsprechend stärkeren Sinn, als dies selbstverständlich für jeden Routinevollzug gilt: Wäre dies nicht so, könnte dialektisches Denken nicht funktionieren und müsste als abwegig-phantastisch abgelehnt werden. Bei diesem Versuch, dialektisches Denken als eine Weiterentwicklung von klassisch-empiristischem Denken einzuführen – und dies als ein Eingehen auf das Verlangen der Situation, die durch die Janovsche Primärtherapie im Kontext der wissenschaftlich geprägten menschlichen Realität gegeben ist –, wird unterstellt, dass die hier vorgetragene Deutung des Hegelschen Denkens eine echte Deutung, d. h. ein Herausstellen dessen ist, was die »Wissenschaft der Logik« impliziert. Andererseits kann man im Hinblick auf das dialektische Denken durch das normal zu nennende Denken – sowie durch das Denken im Zusammenhang mit demjenigen, worin es eingebettet ist: die gelebte Praxis im weitesten Sinne, die sich in einer Denkform artikuliert – lernen: d. h., gewissermaßen als »Nicht-Hegel« gelangt man auf einem anderen Wege zu dem, was man dann als DIESELBE SACHE erfasst, und das sollte, vom dialektischen Standpunkt gesehen, eine Bereicherung der SACHE sein. Die hier vorgetragene Deutung des dialektischen Denkens, die im Hinblick auf die Situation – die ein wissenschaftliches Verstehen des Neuen der Primärtherapie verlangt – erforderlich und angezeigt scheint, veranschlagt zwei Gesichtspunkte zur Regelung der Handhabung von dialektischem Denken in Verbindung mit der Praxis des normalwissenschaftlichen Denkens: Der erste Gesichtspunkt bedeu446 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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tet einen festen Ansatzpunkt für die dialektische Analyse; der zweite Gesichtspunkt bedeutet den unbedingt-verbindlichen Kompass der Entwicklung qua Durchführung der dialektischen Analyse. Ganz unmissverständlich erteilt das primärtherapeutische Experiment die Anweisung: Der Ansatzpunkt, um eine dialektische Zusammenhangsform zu entwickeln – in der Weise, dass dialektisches Denken erforderlich und umgekehrt, dass damit das Paradigma einer primär dialektischen Zusammenhangsform gegeben ist –, ist das eigene Erleben; der Ansatzpunkt – bin ich selbst. Das hier dargelegte Verständnis besagt: Dialektisches Denken als Methode der Gegenstandserkenntnis ist nur dann erforderlich und wirklich sinnvoll, wenn das Anliegen des Vollzugs, wenn das, worum es geht, wirklich und wahrhaftig ist: nämlich eine Einführung zu erfahren und die Tiefe dessen zu erproben, was »Ich-Selbst« bedeutet (und sich in diesem Sinn auf das Verfahren einzulassen: »How can you prove you are you?« (vgl. Janov 1973a, S. 35). Und der Ansatzpunkt eines Vollzuges von der Art: »Ich-Selbst«, ist: Fühlen, das dem Einzelnen zugängliche, eigene Erleben, und zwar das dem Einzelnen in der Weise der Grundform des primären Zusammenhangs: FÜHLEN zugängliche, eigene Erleben qua Bedürfnis-Schmerz-Fühlen, welches im Janovschen Ansatz einen »menschlichen Zusammenhang« definiert: Es gibt, nach Janov, keine Wirklichkeitsverfassung »x«, auf die das Prädikat »Mensch« zutrifft und die nicht versteht und vollziehen kann und nicht immer schon implizit vollzogen hat, was das ist: Schmerz(Bedürfnis-)Fühlen im Sinne der Primärtherapie. Von diesem Ansatzpunkt beim konkreten Erleben des einzelnen Subjektes aus wird die primäre Zusammenhangsform entfaltet, indem eine erste Phase von: »ein Zusammenhang, der ein Zusammenhang BEDEUTET«, im Sinne des dann als gültig angenommenen Schemas eines Gesamtzusammenhangs von der Art der kategoriallogischen Ebenendifferenz entwickelt wird, der so zustande kommt, dass, wie weiter oben beschrieben, der betreffende Einzelne sich auf denjenigen Vollzug ausrichtet, zu dem er alles, was zu ihm gehört, aktivieren und zusammenfassen muss, um sich dazu als dem Inbegriff alles dessen, was ihm von ihm selbst zugänglich ist, als das bestimmte NICHT alles dessen, was ihm von ihm selbst zugänglich ist, in Beziehung zu setzen. Damit zeigt sich der erste Gesichtspunkt der Regelung der Handhabung von dialektischem Denken: dass die zu begreifende inhaltliche Bestimmtheit einen Vollzug von Selbsterkenntnis eines 447 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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konkreten Subjekts bedeuten muss, in seinem inneren Zusammenhang mit dem zweiten Gesichtspunkt: dass der Kompass der Entfaltung einer dialektisch zu denkenden Zusammenhangsform die Negationskategorie ist, und zwar die in der Form des subjektiven Erlebens des Einzelnen als solche erfasste, also die subjektiv verwirklichte Negation. Erst damit gewinnt dialektisches Denken jene spezifische Verbindlichkeit, von der m. E. abhängt, ob es als Form der Explikation einer wissenschaftlich zu nennenden Erfahrung ernstgenommen werden kann, womit umgekehrt auf dem Spiel steht, ob die in der empiristischen Begründungsidee angelegte Idee einer reflexiven oder Selbst-Erkenntnis als einer höheren Stufe der wissenschaftlichen Erfahrung als der Möglichkeit nach verwirklichbar akzeptiert werden kann. Dieser Punkt, da sich die Kategorie der Negation als – um es paradox auszudrücken – die »Substanz« einer dialektischen Logik mit dem konkreten subjektiven Erleben des einzelnen Menschen als dem adäquaten Mittel ihrer Verwirklichung schlechthin verbindet, so dass hier eine logische Dimension, um ihre Bestimmtheit zu sein, realempirisch wird, bezeichnet in der Tat einen entscheidenden Wendepunkt der Entwicklung des in der abendländischen Geistesgeschichte zum Ausdruck gebrachten grundlegenden INHALTS. 9 Derjenige Philosoph, der die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Sache des abendländischen Denkens in Richtung auf ein Empirischwerden des Übergangs der Welt der Erscheinungen zum »Ding an sich« – durch die Einführung des »Willens« als dasjenige, was sich uns als Ding an sich darstellt – m. E. richtig erkannt hat, war – nicht Marx, sondern, vielfach übergangen – Schopenhauer: »Ich setze also erstlich den Willen, als Ding an sich, völlig Ursprüngliches; zweitens, seine bloße Sichtbarkeit, Objektivation, den Leib; und drittens die Erkenntniß, als bloße Funktion des Theils dieses Leibes. Dieser Theil selbst ist das objektivirte (Vorstellung gewordene) Erkennenwollen, indem der Wille, zu seinen Zwecken, der Erkenntniß bedarf. Diese Funktion nun aber bedingt wieder die ganze Welt als Vorstellung, mithin auch den Leib selbst, sofern er anschauliches Objekt ist, ja, die Materie überhaupt, als welche nur in der Vorstellung vorhanden ist. Denn eine objektive Welt, ohne ein Subjekt, in dessen Bewusstseyn sie dasteht, ist, wohlerwogen, etwas schlechthin Undenkbares. Die Erkenntniß und die Materie (Subjekt und Objekt) sind also nur relativ für einander da und machen die Erscheinung aus. Mithin steht, durch meine Fundamentalveränderung, die Sache so, wie sie noch nie gestanden hat« (Schopenhauer 1984, S. 147). – Es sei auch erwähnt, dass dieser Übergang zum Ding an sich, von der Welt der Erscheinung her gesehen – nach Schopenhauer –, sich »als ein Uebergang ins Nichts […], ein relatives Nichts« (a. a. O., S. 103) darstellt. Die hier versuchte Interpretation von Hegels »Theorie der Negation« könnte vielleicht als eine dialektische Interpretation der 9
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Man sieht hier, wie mit dem In-Gang-Kommen des dialektischen Denkens »alles in Bewegung kommt«: man hat, um ernsthaft dialektisch zu denken, von einer implizit unterstellten, höheren Dialektik DER SACHE SELBST Gebrauch zu machen; d. h., entsprechend dem Fall der Primärtherapie ereignet sich auf der ganzen Linie der Erfassung des Wirklichen ein riskantes Vorauseilen der Praxis gegenüber der sie in ihrer Vernünftigkeit und logischen Richtigkeit ausreichend erhellenden begründenden Argumentation. Dieser Konstellation ist mit so viel Sorgfalt und auch Vorsicht zu begegnen, wie es in Anbetracht der folgenschweren Konsequenzen eines – vom derzeit entwickelten Verständnis her gesehen – Übergriffs der empirischen Dimension auf das logische Apriori unbedingt geboten ist. Die Explikation der Vernünftigkeit eines solchen Schrittes: des Wechsels von einer insgesamt – die Explikation von Wissenspraxis und Logik umfassenden – objektiv orientierten Denkmethode zu einer subjektiven Denkmethode als ein Fortschritt im Begreifen des Universal-Logischen, kann nur nachträglich, d. h. vom bereits vollzogenen Standpunktwechsel aus erfolgen. Sie besteht hauptsächlich in dem Aufweis, dass das Unternehmen der klassischen Wissenschaft selbst bereits der erste Schritt und Ausdruck dieses Vollzuges ist: indem die im empiristischen Wissen angelegte Begründungsidee nach ihrer vollendeten Verwirklichung verlangt; indem Wissenschaft bedeutet, in bestimmter Weise von dem mit ihrer Herausbildung so spezifisch bestimmten empirischen Subjekt als einer Form von NichtSUBJEKTIVITÄT Gebrauch zu machen, und indem diese Grundfigur des wissenschaftlichen Wissens sich insbesondere mit dem Auftreten der wissenschaftlichen Psychologie und Psychotherapie zu einer konkreten Paradoxie zuspitzt – wobei diese Sicht der empiristischen Wissensform eben bereits ein Über-sie-Hinausgegangensein und also bedeutet, einen neuen Standpunkt eingenommen zu haben. Darüber hinaus bietet die Explikation der Vernünftigkeit des Vollzugs des folgenschweren Methodenwechsels ein Kriterium der Prüfung an, welches selbstverständlich ebenfalls nur im Rahmen der vorgeschlagenen Deutung die Funktion eines Kriteriums ausüben kann – nämlich im Rahmen der Deutung der »transzendentalen Schranke« – dem klassischen Reflexionsverbot oder dem Verbot, dass spezieller auf das Anliegen der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis hin akzentuierten Perspektive Schopenhauers (und dieser wieder in Beziehung auf Kant und letztlich Platon) verstanden werden.
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
sich die Dimension des Realempirisch- Subjektiven und jene des Logisch-Apriorischen empirisch verbinden – als die Bedingung, dass diese Verbindung, gemäß der in der Herausbildung der wissenschaftlichen Wissensform waltenden logischen Intuition, korrekt nur als eine Struktur im Sinne der kategoriallogischen Ebenendifferenz empirisch verwirklicht werden darf. Die in der Herausbildung des von Hegel artikulierten dialektischen Denkens waltende logische Intuition besagt nun, dass die Verwirklichung einer solcherart differenzierten Zusammenhangsform eine Struktur bedeutet, die entwickelt werden muss; und zwar derart, dass eine erste, zusammenhängende Phase des Gesamtzusammenhangs so gedacht werden muss, dass dieser insgesamt eine Negation bedeutet, deren Artikulation als Negation die Verbindung mit der durch die Negationsstruktur negierten POSITION – im Sinne eines kategoriallogischen Ebenenwechsels der explizierten Bedeutung – bedeutet. M. a. W.: Eine Struktur von der Art der kategoriallogischen Ebenendifferenz kann nur von einer Zusammenhangsform verwirklicht werden, die ihre Bestimmtheit, die Negation ist, als insgesamt von der logischen Qualität der Negation verwirklichen kann. Und Janov sagt, dass dies in der geforderten Weise nur auf den menschlichen Zusammenhang zutrifft, der im primärtherapeutischen Bedürfnis-Schmerz-Fühlen die Struktur einer Bestimmtheit als das Nicht einer BESTIMMTHEIT verwirklicht. Was also erwogen werden muss, um in der Frage der Wissenschaftlichkeit der primärtherapeutischen Selbsterkenntnis Stellung zu nehmen, ist, ob das primärtherapeutische Urschmerzerleben die Differenzforderung, wie sie durch das Objektebenen-MetaebenenVerhältnis definiert ist, erfüllt. Die Objektebenenstrukturierung muss eine Differenz als Differenz bestimmt machen, derart, dass eine zweite Form gegenüber der ersten eine Veränderung der ersten Form »um sie selbst«, »um ihren eigenen Betrag«, um ihre logische Qualität bedeutet. Der Gegenstand impliziert, um er selbst zu sein, das, was er nicht ist, im Sinne einer logischen Differenzqualität, die normalerweise den Übergang zu einem anderen Gegenstand gleicher Art bedeuten würde. Genau diese Bedingung erfüllt die Janovsche Definition des menschlichen Zusammenhangs, indem der Kern des Bedürfnis-Schmerz-Fühlens ist: dass Befriedigung eines Bedürftigseins – als Vollzug einer logisch richtigen Figur im Sinne einer Ausprägungsstufe der primären Zusammenhangsform – als von außen kommend – und also nicht die Bestimmtheit des Bedürftigseins sei450 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
end – den Sinn hat, von innen zu kommen und also die Bestimmtheit des Bedürftigseins bedeutet. Bedürfnis-Schmerz-Fühlen im Sinne der Primärtherapie kann also verstanden werden als die Verwirklichung einer Differenzstruktur, derart, dass der Gegenstand ist, was er selbst ist und was er nicht ist, indem der Schmerz der Nichtbefriedigung erlebt wird als Nichtbefriedigung durch einen anderen Menschen, welche Nichtbefriedigung sich aber als Störung der eigenen Bestimmtheitsstruktur auswirkt. Nach Janov ist der menschliche Zusammenhang so bestimmt, dass die Explikation seiner Bestimmtheit eine Bestimmtheit und die Beziehung derselben zu einer Negation impliziert, die dieser Bestimmtheit logisch äquivalent ist. Die Verbindung einer Bestimmtheit mit einer gleich großen, ihr gleichwertigen Negation vollendet den Gegenstand im Sinne einer Objektebenenstruktur und macht ihn beziehungsfähig zu seiner Metaebenenbedeutung: »He was not relating to her; he was relating to his need, which was denied in early life […]« (Janov 1970, S. 282) »First we learn to feel ourselves; then we can feel ourselves feeling others.« (Janov 1970, S. 75)
Uns-selbst-Fühlen durch die Hilfe anderer: durch das Hinzukommen einer Bestimmtheit, die nicht wir selbst sind, impliziert das Unsselbst-Fühlen im Andere-Fühlen, so dass wir positiv dieses Nichtwir-selbst sind, was in der bereits weiter oben zitierten eigenartigreflexiven, d. h. die Aufhebung einer dennoch gesetzten Differenz zwischen Personen implizierenden, Janovschen Definition von »love« zum Ausdruck kommt: »The Primal definition of love is letting someone be what they are. This can happen only when needs are fulfilled […] We must remember that to let someone really be himself means filling his needs […] Love early in life means meeting Primal needs.« (Janov 1970, S. 272 f.)
Der Gesichtspunkt: »Ein Gegenstand, der als Verwirklichung von dialektischem Denken gedacht werden muss, ist am Leitfaden der Negationskategorie zu entfalten«, impliziert wiederum zwei Aspekte. Der erste Aspekt ist: Der Gegenstand ist als eine Verbindung von im Sinne der kategoriallogischen Ebenendifferenz differenzierten Strukturmomenten zu denken. Dieser Aspekt der Negation als eines Kriteriums für die korrekte Entfaltung einer dialektisch zu denkenden Struktur bezeichnet also ein Pensum, eine zu erfüllende Mindestfor451 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
derung: Der Gegenstand ist eine Bestimmtheit und eine entsprechende Negation dieser Bestimmtheit im Sinne der Verbindung einer Bestimmtheit mit einer Bestimmtheit, die in ihrer Qualität als Nicht, als die Negation der ersten Bestimmtheit, mit dieser verbunden werden muss. Fragt man nun weiter, wie der Gegenstand gedacht werden muss, um eine solche Bedingung zu erfüllen, dann hat man, als den zweiten Aspekt des genannten Gesichtspunktes, die folgende, für dieses Problem einzig denkbare Lösung anzugeben: Der Gegenstand ist primär als eine logische Dualität als die Verbindung zweier differenter (qua: logisch höher – logisch niedriger) logischer Bestimmtheiten zu denken – das ist die Voraussetzung auf der Ebene der Möglichkeit: Bedingung der Möglichkeit für Verwirklichung (Nichtmanifestation) und Verwirklichung (Manifestation) als logisch zu trennende Ebenen –, so dass eine erste Verwirklichung eine zweite, höhere ist, indem sie sie nicht ist: Dominieren der höheren Form in der Form der niedrigeren Form im »Sein« der drei levels, was einen zu korrigierenden »Fehler« impliziert, so dass sie jene höhere Form, indem sie sie nicht ist: vierter level als Verwirklichung des Nichtseins der logisch höheren Verwirklichungsform in der niedrigeren, IST: indem durch die Veränderung der ersten Struktur im Herausstellen von deren eigentlicher Qualität als Negation im Urschmerzerleben die höhere Form des Gegenstandes qua Metaebenenbedeutung im Urerleben »ohne Worte« zustande kommt, womit rückwirkend beleuchtet wird, inwiefern schon die erste Form der Entwicklung der Bestimmtheit, die Negation ist, ein Verhältnis im Sinne der Objektebene und damit der anfängliche Ausdruck der Metaebenenbedeutung und damit »ein Verhältnis« ist, »das ein Verhältnis BEDEUTET«. »Der Gegenstand ist am Leitfaden der Negationskategorie zu entwickeln«, besagt also im Sinne der vielzitierten Formel: »ein Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET«, dass man nicht beim vorauszusetzenden ersten Verhältnis als der ersten Verwirklichungsform der Objektebenenstrukturierung beginnt, sondern bei jener Veränderung, die, indem sie den Negationscharakter der ersten Struktur verwirklicht, eine neue, dieser im Sinne der Metaebene übergeordneten Bedeutung erreicht: das Verhältnis, das ein VERHÄLTNIS bedeutet, was eine Umkehrung in der VERHÄLTNISORDNUNG bedeutet, indem sich mit der genannten Veränderung die Ordnung im Verhältnis von Voraussetzung und Resultat umkehrt und also das später Er452 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
reichte und daher aus der niedrigeren Form Hervorgegangene als das eigentlich demselben zugrunde Liegende begriffen wird. Erst rückwirkend wird die vorauszusetzende Entwicklung der ersten Form der Objektebenenstrukturierung als »ein Verhältnis, das ein Verhältnis BEDEUTET« (wie etwa in dem Satz: »Die Bedürfnisse müssen gefühlt werden, um befriedigt zu werden«, zum Ausdruck gebracht ist) und damit als ein eine bestimmte zu verwirklichende Veränderung der Möglichkeit implizierender Ausdruck deutbar. Das heißt: Diese in der Objektebenenordnung feststellbare Veränderung einer, um überhaupt zustandezukommen, von ihrem zu erreichenden Entwicklungsresultat her rückwirkenden Deutung einer ersten Form der Objektebenenstrukturierung, mithin die Umkehrung des Verhältnisses der beiden logisch differenten Momente der Objektebenenstrukturierung, BEDEUTET EINE VERÄNDERUNG DES OBJEKTEBENEN-METAEBENEN-VERHÄLTNISSES AUF DER EBENE DER ERKENNTNISVORAUSSETZUNG, derart, dass eine veränderte Bedingung der Möglichkeit der Gegenstandserfassung – eine höhere MÖGLICHKEIT als Schema des Verhältnisses von Möglichkeit und Verwirklichung – durch ihre Verwirklichung, d. h. logisch durch eine Objektebenenoperation entsteht; d. h., sie zeigt sich, sie stellt sich dar, was eine neue, intensivere Form der Einheit, der IDENTITÄT von Objekt- und Metaebene bedeutet gegenüber dem klassischen Verhältnisschema der Gespaltenheit: Eine Möglichkeit, die »reine Möglichkeit« bleibt und nichts als das, kann nicht als Möglichkeit einer entsprechenden Verwirklichungsreihe erfasst werden, und so bleiben die beiden Ebenen, die doch ein so inniges Verhältnis haben, nämlich in dem hervorragenden Sinn, der »eine Begründung« genannt wird, zusammenzuwirken, einander fremd. Eine Veränderung der Verwirklichung in dem Sinne, dass sie »dialektisch gedacht« werden muss, ist so zu verstehen, dass die Veränderung der Objektebene diese insgesamt der für sie vorauszusetzenden, differenten, höheren logischen Qualität, mit der sie in Wahrheit IDENTISCH ist, näherbringt, was bedeutet, die Ebene der Verwirklichung im Sinne der Voraussetzung einer Spaltung von Möglichkeit und Verwirklichung zu verlassen, was jedoch als Ausdruck der Erfüllung des wesentlichen logischen Gehaltes der Verwirklichung begriffen werden muss. Dies ist nur einem menschlichen, subjektiven Erleben, einem menschlichen Bewusstsein möglich und ist daher die Explikation einer Form von Zusammenhang, die »Bewusstsein« definiert – wie Janov es äußert: 453 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
»There is only one kind of knowledge: self-knowledge.« (Janov 1970, S. 190) »Experiencing can be only of that self.« (Janov1973a, S. 169) »Consciousness is a necessary condition for change […] Consciousness is revolutionary […]; revolutionary consciousness is Primal consciousness.« (Janov 1973a, S. 275) »There is only one freedom – consciousness.« (Janov 1980, S. 97)
Die Explikation der neuen Gegenstandsform bedeutet eine Explikation von »Bewusstsein«. Der springende Punkt dieser neuen Kohärenzform ist, dass sie dialektisch gedacht werden muss, nämlich derart, dass die Veränderung einer Struktur eine Veränderung, wie die Struktur gedacht werden muss, bedeutet, so dass sich die zu begreifende Struktur aufgrund der Veränderung in ihrem Charakter als Erscheinung des Wesens qua primäre Verbindung einer logischen Dualität erweist. Die Verwirklichung des zu explizierenden Gegenstandes in seinem Charakter als Erscheinung kann nur als eine Veränderung der Weise des Erscheinens erfolgen, die etwas von dem, was »erscheinen« bedeutet – nämlich ein Mittel der Äußerung der SACHE SELBST zu sein – und damit eine Form darstellbar macht, die etwas von der Implikation, eine Bestimmtheit von der Art »endliche Erkenntnis« zu sein, repräsentiert. Und diese Veränderung, um »Erscheinen überhaupt« als einen Ausdruck endlicher Erkenntnis erkennbar zu machen, muss die Bedeutung einer Zurücknahme oder Rückführung verwirklichen, gewissermaßen die Form der Korrektur eines Fehlers, die Entwicklung der Sache nicht richtig vollzogen zu haben, »zu weit in eine Richtung gegangen zu sein« – was eine Negation von Wahrheit ist –, so dass nun die Artikulation des Fehlers als solchen: der Negation von Wahrheit als Negation – indem dies ja gerade die Relativierung des »objektiven Sachverhalts« auf seine Funktion als lediglich ein bestimmtes Darstellungsmittel, d. h. als Darstellungsmittel einer wesentlich ideellen Bedeutung, besagt –, denselben als nicht endgültig geschehen und damit als aufhebbar erweist. So gibt: »Heilung der Neurose« – welche eine zurückwirkende Sicht ihrer Entstehung impliziert – ein »Paradigma«, eine Einführung in die Kohärenzform von »Bewusstsein«; und Bewusstsein als der Gegenstand, der dialektisch gedacht werden muss, erweist sich in der Figur der Aufhebung: »The most important thing that Primal Therapy has to offer is a chance to redo (and undo) history.« (Janov 1973a, S. 280)
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
2.1.3.2. Kritische Bewertung der Janovschen Explikation des primärtherapeutischen Gegenstandes Dialektisches Denken wird eingeführt im Rahmen einer umfassenden, »totalen« Veränderung, die zunächst als eine vollendete Tatsache auftritt und die nachträglich begriffen und somit in Verbindung mit der klassischen Form des Denkens, als deren Veränderung sich die neue Denkform artikuliert, gebracht werden kann durch ihre Deutung als eine Veränderung auf der Ebene der Erkenntnisvoraussetzung von klassischem Denken. Eine Veränderung dieser Art kann nur zustande kommen durch ein riskantes Vorauseilen der Praxis der Verwirklichung vor der sie durch Aufweis ihrer logischen Möglichkeit begründenden Argumentation, d. h. als eine fehlerhafte Figur, die im Sinne ihrer schließlichen Korrektur verläuft: in jener Figur, die Vermittlung qua Anwendung eines Mittels demonstriert, was eben die Korrektur des Fehlers des Vorauseilens von dialektischem Denken als eine »vollendete Tatsache« bedeutet – indem nun gesagt werden kann, dass klassisches Denken gleichfalls einen solchen Fehler bedeute, nur in der Form, dass dieser nicht als solcher zum Ausdruck kommt. 10 Dialektisches Denken bedeutet ein verändertes Fortfahren in grundsätzlich derselben Methode; ein Fortfahren derart, dass durch die Beziehung der verändernden Form zu der von ihr veränderten Voraussetzung das, was die Methode IST, intensiver dargelegt wird: eine Entwicklung von Denken in der Weise, dass etwas davon, was »Denken überhaupt« – bezogen auf die von der menschlichen Kulturgemeinschaft artikulierte Stufe des Denkens – bedeutet, erkennbar wird: »Denken« ist »eine Deutung«, »ein Mittel der Darstellung des Wirklichen«, »eine Reaktion« als Konsequenz einer implizit erfahrenen Einwirkung als der Voraussetzung einer Äußerung oder »eine Erinnerung« daran als Rückverbindung von logischen Bestimmtheiten verschiedener Stufen, die, eines Ursprungs, sich im Sinne einer
Auf die eine solche »Invasion des dialektischen Denkens« abwehrende Frage: »Was beweist das? (Wozu soll das gut sein?)«, mag ein Vergleich des empiristischen Denkens mit dem Anschlagen zweier ein Quint-Verhältnis verwirklichenden Töne angeführt werden, das durch Hinzukommen des dialektischen Denkens im Sinne einer Kadenz ergänzt wird als einer legitimen Weiterführung der Weise, wie das Quintverhältnis die Schwingung des Grundtons expliziert. Dabei darf angenommen werden, dass, wer zwei Töne anschlägt, sich für Töne und Tonschwingungsverhältnisse überhaupt interessiert.
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
kategoriallogischen Ebenendifferenz differenziert haben: Nun befindet man sich inmitten der Janovschen Äußerungen, einer Aussageform, derart, dass jeder verwendete Begriff die Gesamtbedeutung dessen, was expliziert werden kann: eine Verbindung im Sinne der kategoriallogischen Ebenendifferenz, zum Ausdruck bringt, habe dieser Begriff normalerweise nun eine physische (reaction; behavior) oder eine psychische (memory; experience; consciousness) Akzentuierung: alle diese Sinnkomponenten BEDEUTEN ein bestimmtes Ausdrucksmoment der normalen Rede – der Objektebenenstrukturierung – und sie sind transparent als ein Ausdruck der Beziehung von Objekt- und Metaebene. Um diese Beziehung auszusagen, muss man viele Momente aussagen, so dass sie eine Identität BEDEUTEN, indem die ganze Bedeutung, zu deren Explikation alle die vielen Momente erforderlich sind – ein bestimmtes Ausmaß qualitativ entfalteter Quantität – in einer bestimmten Reihenfolge entfaltet werden muss, welche Notwendigkeit einer bestimmten Reihenfolge formal nur so zum Ausdruck gebracht werden kann, dass nacheinander zwei differente logische Stufen: eine »physische« und eine »psychische«, expliziert werden mit anschließend erfolgender Umkehrung der logischen Ordnung der Reihenfolge, wodurch die Explikation der Bedeutung zu einem Abschluss gelangt, indem eine Form dargelegt ist, die ernötigt, die eigentliche Bedeutung als ein dem Explizierten und Explizierbaren logisch Übergeordnetes, Ideelles, zu begreifen. Dass die Janovschen Äußerungen diese Form der Bedeutungsexplikation zum Ausdruck bringen, wurde bereits darzustellen versucht; diese Auffassung liegt der vorliegenden Arbeit zugrunde, indem die Janovschen Äußerungen dieses Verständnis so weit vermitteln, dass sie dessen ausführlichere Darlegung veranlassen. Was stellt Janov dar? – Die Auflösung der Grenzen normal verwendeter Begriffsbedeutungen, um die Verbindung der Ebene normal verwendeter Begriffsbedeutungen überhaupt mit einer neuen, »primären« Bedeutungsebene zum Ausdruck zu bringen, so dass die normale Aussageform in einem Spannungsverhältnis expliziert wird, das sich nur lösen kann, indem es ein Umdenken über die Form des Aussagens auslöst. – Somit kann schwerlich für die einzelnen Begriffe der Primärtheorie ein fester Ort angegeben werden. 11 Man kann nicht 11
Was bedeutet eine normal verwendete »physisch« akzentuierte Bedeutung eines
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
einzelne mit anderen, einzeln genommenen Begriffen in Beziehung bringen (wie etwa am Beispiel des Knopf-Licht-Systems veranschaulicht, vgl. Kraiker 1980, S. 175); dies gilt ebenso für den hier paradigmatisch behandelten Zusammenhang von »need« und »feeling«; »ein Bedürfnis« existiert als die Figur eines bestimmten Vollzugs, die zu orten einen bereits vollzogenen Standpunktwechsel voraussetzt, die ja gerade die Auflösung der Kohärenzform einer Ausgangsebene und also bedeutet, dass man die vertrauten Anhaltspunkte aufgegeben, verloren hat und sich erst wieder zurechtzufinden beginnt, »wenn man fühlt«, wenn man dem neuen Ansatz: sich zu dem, was man in der Weise, es nicht zu sein, ist, in Beziehung zu setzen, konkret etwas abgewinnen kann. Die Explikation der Gegenstandsbedeutung hat den Sinn der Explikation einer neuen, kategorialen Denkmethode, so dass man nicht verschiedene, einzeln genommene Begriffsbedeutungen, vielmehr verschiedene Qualitäten von Äußerungszusammenhängen des Gesamtzusammenhanges der Janovschen Äußerungen unterscheiden kann. Diese Äußerungsformen sind so eins, dass doch ein Wechsel von Passagen von verschiedener Qualität der Äußerungsform festzustellen ist, so dass dann auch eine gewisse Bevorzugung bestimmter Begriffe in bestimmten Arten von Zusammenhängen auffällt, was aber nicht heißt, dass diese Begriffe nicht auch an anderer Stelle eine andere Bedeutungsvariante repräsentieren könnten. psychologischen Begriffs? – Es bedeutet, dass ein Begriff, wie der des »operants« – oder auch der physiologische Begriff des »Neurons« oder der »Nervenerregung« – in bestimmter Weise zugänglich gemacht wird, also im Rahmen einer empiristischen Theorie funktioniert. Wenn nun im Zusammenhang des primärtherapeutischen Gegenstandes davon gesprochen wird, die Bedeutung werde über »physische« und »psychische« Akzentuierungen entfaltet, so ist damit gemeint: (1) Janov verwendet Begriffe sowohl aus mentalistisch wie physikalistisch aufgebauten empiristischen Theoriestrukturen. (2) Diese Begriffe bedeuten die alte Bedeutung – indem Janov von der inneren Verbindungsfähigkeit der klassischen und nicht-klassischen Bedeutungsexplikation ausgeht – und eine neue Bedeutung, nämlich (Standpunktwechsel; Methodenwechsel, »große Dialektik«): Die Verbindung von »the mental and the physical« ist ein analytischer Satz, entsprechend der durch Verwirklichung veränderten Erkenntnisvoraussetzung oder neuen ERSTEN MÖGLICHKEIT: (1) Das Dominieren der kategoriallogisch höheren Bedeutung (der höheren Kategorie oder Metaebene) in der niedrigeren: Die Leib-Seele-Verbindung in der Form von »Leib«. (2) Die LeibSeele-Verbindung in der Form von »Seele«: Dominieren der höheren Kategorie (der Metaebene) in der Form der höheren Kategorie. – Wie finde ich diese Strukturmomente oder Akzentuierungen? – Nicht auf Anhieb; es sind Vollzugsräume; kategoriallogisch erläuterbare »Örter«.
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
THE PERSON, THE SELF, FEELING THE SELF, FEELING, DEEP BEING, BEING TOTALLY ONESELF, FREEDOM, LOVE u. a. sind Ausdrücke, die das im Urerleben ohne Worte erfahrene, eigentlich unausdrückbare Wesen der explizierten Bedeutung markieren. So ist es in gewisser Weise richtiger, diesen logisch-systematischen Ort durch viele Ausdrücke zu markieren, da sie ja Unausdrückbares bedeuten, so dass die genannten Ausdrücke dieses besonders ausdrücklich lediglich bedeuten; sie SIND nicht die Sache selbst. Also ist es richtiger, nicht allzu lange auf dieser Quasi-Metaebene zu bleiben, sondern ausdrücklich auf die Ebene der Vermittlung zu gehen, die nicht die Metaebene und so das rechte Feld des Ausdrückens ist: »[…] a special meaning […] doesn’t exist […] Meaning is not something to be detected, not something to be discovered by wise men, not something that overrides life, but, instead, is something embedded in the life processes of each of us.« (Janov 1973a., S. 178 f.)
Dies: nämlich auf die Ebene der Vermittlung als der eigentlichen Domäne der Sinn-Explikation zurückzugehen, bedeutet zweierlei: nämlich zwei Qualitäten von Äußerungszusammenhängen. Erstens die Form des Sprechens aus der Einsicht der Erfahrung: in einer subjektiven Weise der Äußerung, die objektiv, d. h., wenn man diese Zugangsweise zur Sache nicht teilen kann, als eine recht lockere Aneinanderreihung von Meinungsäußerungen imponiert. Entsprechend leitet Janov seine Sätze – etwa in dem Kapitel, dem das letzte Zitat entstammt – ein mit: »I do not believe«; »Nor would I say«; »I would suggest« (Janov 1973a, S. 179). Wichtig scheint mir dabei, dass diese Qualität von Äußerungen vom Janovschen Standpunkt aus nicht »bloße Meinungsäußerungen« bedeuten, sondern das Gewicht wissenschaftlicher Äußerungen im Sinne der Primärwissenschaft haben: »We fail to understand that feelings validate […]; if something feels right to a feeling person, it is likely to be right, especially when we are talking about human endeavors.« (Janov 1973a, S. 37)
Zweitens erscheint das Zurückgehen auf die Ebene der Bedeutungsvermittlung in der Form der Anwendung klassischer Begriffe, d. h. einer quasi normalwissenschaftlichen Diskussion, wobei, durch die in der Verwirklichung der Berührung von Objekt- und Metaebene im Urerleben erfolgte VERÄNDERUNG der Bedeutung, diese neue Bedeutung mit der zu ihrer Verwirklichung vorauszusetzenden klas458 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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sisch artikulierten Bedeutung – indem deren innere Einheit auf der Ebene der Erkenntnisvoraussetzung erfahren wurde – vermischt wird, woraus sich jene ganz eigenartige, Janov-spezifische Form von Äußerungen ergibt: »Because there is no core to break into – no single entity or moment called the ›self‹. All we can ever do is open up our systems to feel our selves as much as possible, so that whatever happens in life we can fully experience as a self. The real self is no more than an open psychophysiologic system, undivided, and funcioning wholly.« (Janov 1973a, S. 229)
An diesem Textbeispiel kann man, wie ich meine, die Bewegung der Bedeutungsexplikation sehr gut erkennen: »Because there is no core«: Ohne die ausgezeichnete, abgehobene Bedeutung von »FEELING THE SELF« (im Urerleben »ohne Worte«) wäre die Janovsche Explikation insgesamt unmöglich; aber sie ist per definitionem nicht die Aussagenebene, und also ist es richtiger, sich der Metaebenenbedeutung in der Form der Objektebenenartikulation zuzuwenden: »All we can ever do«: Alles, worüber man sich vermittelst von Aussagen verständigen kann, ist … – jetzt erfolgt also der Wechsel im Sinne einer ausdrücklichen Objektebenenformulierung –: »is open up our systems«: Der System-Begriff signalisiert die Ebene einer klassisch artikulierten Bedeutung, »to feel ourselves as much as possible […]«, und nun wird die klassische Bedeutungsartikulation mit einer primärtherapeutisch veränderten Form vermischt in dem Stil der »subjektiven Redeweise«, deren Verbindungsfähigkeit mit der klassischen Form aufgrund der primärtherapeutischen Erfahrung unterstellt wird, und sodann in der Form der quasi-normalwissenschaftlichen Redeweise selbst: »The real self is no more than an open psychophysiologic system« – das klingt »fast klassisch«, aber man kann immer noch die beiden ungeschlichtet differenten Bedeutungsdimensionen nebeneinander hören, und sie arbeiten auch tatsächlich nebeneinander, wodurch jene »Ausdrucksbomben« zustande kommen, die nun endgültig den Rahmen, den sie unbedingt bewahren wollen, sprengen: »an open psychophysiologic system, undivided (ein metaphysisches Prädikat, das auf eine Objektebenenstrukturierung durchaus nicht anwendbar ist), and functioning (ein Kardinalausdruck der klassischen Artikulationsform) wholly« (ein Versuch, das metaphysische »undivided« mit einer der Objektebene angemessenen Prädikat zu versöhnen). Hier sei auch an die weiter oben (auf S. 118 f.) zitierten Passagen erinnert, wo etwa die Bedeutungskomponenten von »me459 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
mory«, »physiologic« und »not something in space« zu einem Satz zusammengezogen werden, oder auch, in Bezug auf das »real self«, die Prädikate: »organismic« und: »nondivisible«. Das soeben analysierte Beispiel zeigt, dass die Bezeichnung für die Metaebenenbedeutung: THE SELF, FEELING THE SELF, auch auf den beiden Ebenen – »physisch« und »psychisch« akzentuiert – der Objektebenenstrukturierung auftritt: »The real self is no more than […]«: Die Bedeutung von »ourselves« ist hier nicht abgehoben, sondern völlig hineingebettet in die Objektebenenartikulierung (»not something that overrides life, but, instead, is something embedded in the life processes of each of us«, Janov 1973a, S. 179). Und umgekehrt erhebt sich die Bedeutung im Sinne der Artikulation eines Objektebenen-Strukturmoments plötzlich zum Status der unmittelbaren Repräsentation der Metaebenenbedeutung, die eigentlich nicht ausgesagt werden kann, wie in den folgenden Wendungen: »because feelings are real, physical things.« (Janov 1970, S. 93)
Indem die diskrete Dingqualität einerseits für die Metaebenen- und die Objektebenen-Bedeutung abgelehnt werden muss (in der zuvor analysierten Passage), steht sie gewissermaßen so außerhalb der Ordnung, dass sie die Objektebenenbedeutung in ihrer physischen Akzentuierung – aufgrund der Erfahrung der möglichen Einheit der logischen Dualität – unmittelbar über die Objektebene hinaus und auf das oberste Stockwerk einer überhaupt möglichen Artikulation zu befördern vermag – die für Janov charakteristische Figur. Ebenso in folgenden Sätzen: »Our biology is our truth.« (Janov 1973a, S. 35) »Neurosis is as physical as a cold.« (Janov 1973a, S. 36) »Psychologic processes are biologic.« (Janov 1980, S. 139) »Freedom is a biologic necessity.« (Janov 1973b, S. 111)
Es gibt einen Faden, der da hindurchführt, so dass man den auf diese Weise zum Ausdruck gebrachten Sinn verstehen kann; d. h., die Widersprüche bedeuten nicht das Abbrechen einer kohärenten Gegenstandsexplikation; man findet hindurch; die angegebene Bewegung ist nicht logisch unmöglich, sie ist vollziehbar. Bis jetzt bestand die Evaluation der Janovschen Äußerungen in der zugrunde gelegten Anerkennung und dem Aufweis, dass es ihnen 460 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
gelingt, einen bestimmten, gegenüber dem in der traditionellen Form explizierten, neuen Sinn zum Ausdruck zu bringen. Im Hinblick auf die hohe Wertschätzung der in der Darstellung sichtbar werdenden Sache muss jedoch zugleich festgestellt werden, dass die Form der Darstellung recht riskant ist und nur sehr knapp das Ziel erreicht, ja, dass, wenn man es genau nimmt – was im Hinblick auf den Wert des logischen Gehalts unbedingt erforderlich ist –, das Erreichen des Zieles der Vermittlung der Sache in dieser Form nicht ausreichend sicher gewährleistet ist, so dass mit dem Hindurchkommen (»es ist denkbar«) die Gefahr des Steckenbleibens des Vollzugs in einem schwerwiegenden Widerspruch – gegen den dann wissenschaftstheoretisch Einspruch erhoben werden müsste – nicht abgewendet ist. Dies muss nun noch eingehender betrachtet werden. Wenn sich die hier versuchte Deutung des Janovschen Sprachverhaltens auch auf – wie ich meine – ausreichend empirisch beschreibbare Anhaltspunkte stützen kann, so ist sie, als eine Deutung, doch auch von dem, was Janov tatsächlich expliziert, verschieden – anders ausgedrückt: Wenn die hier vorgelegte Deutung dem von Janov intendierten Sinn entspricht und diesen explizit macht, so impliziert diese Entsprechung eine Differenz derart, dass Janov ihn nicht selbst in dieser oder einer ähnlichen Weise explizit macht; d. h., Janov expliziert diesen vermittelst der Deutung unterstellten Sinn mit einem Maß an Unbestimmtheit, die einerseits als harmlos bewertet werden kann: nämlich im Sinne der »gutartigen« Widersprüche als einer Form, das Gemeinte erkennbar zum Ausdruck zu bringen, die andererseits jedoch eine Doppeldeutigkeit im Sinne der Möglichkeit eines systematischen Selbstwiderspruchs des Aussagesinns der Janovschen Äußerungen im Ganzen aufbaut. Diese Art des Selbstwiderspruches ist sichtbar, jedoch nicht endgültig (als eine vollendete Tatsache), da die primärtherapeutische Bedeutung primär die Form eines Vollzugs hat, der sich entwickeln muss, so dass es darauf ankommt, wie die Sache weitergeht und zu Ende gebracht wird – dennoch bedeutet sie ein ernsthaftes, zu kennzeichnendes Risiko. Der springende Punkt der veranschlagten Deutung – und der einzige, dem Janov expressis verbis entgegenkommt – ist: dass die Entfaltung der primärtherapeutischen Bedeutung im Sinne von dialektischem Denken erfolgen muss. Dialektisches Denken, derart, dass der gedachte logische Inhalt nur auf diese Weise erfasst werden kann, ist die Explikation einer Bestimmtheit, deren Form ihre Metabestimmtheit als eine Form endlicher (nicht-absoluter) Erkenntnis 461 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
mitberücksichtigt. Dies bedeutet die Verwirklichung der MÖGLICHKEIT der primären Verbindung einer logischen Dualität im Sinne eines Vollzugs, der eine »Vermittlung einer kategoriallogischen Ebenendifferenz« genannt werden kann. Eine Gegenstandsstruktur von der Form der Vermittlung besagt: Verwirklichung des logischen Charakters einer Bestimmtheit als Negation, und dies erfordert, dass die Bestimmtheit in der Form einer Umkehrung verwirklicht wird, so dass sie über die Explikation von zwei Teilstrukturen zu entwickeln ist, die sich so unterscheiden, dass die zuletzt entwickelte der ersten als logisch vorausgehend zugrunde gelegt werden kann, was eine innige Verbindung von zwei Differenten zeigt von der Art, dass das niedrige, zuerst entwickelte logische Moment das höhere derart impliziert, dass es eine verdeckte, verborgene Form des höheren IST. Die niedrigere Teilstruktur der dialektisch zu denkenden Bestimmtheit ist im primärtherapeutischen Kontext die Vollzugsfigur: Bedürfnisbefriedigung-Fühlen im Modus der Bedürfnisbefriedigung. Die Primal hypothesis besagt: Diese Struktur ist eigentlich, ihrem logischen Wesen nach, eine andere Struktur: nämlich FÜHLEN, so dass Bedürfnisbefriedigung-Fühlen, um in den primärtherapeutischen Prozess einzutreten, gedeutet wird als VERBUNDEN mit etwas ganz anderem: FÜHLEN als NEGATION des Fühlens im Modus der Bedürfnisbefriedigung, von wo aus der Modus der Bedürfnisbefriedigung selbst als von der logischen Qualität dieses anderen und doch davon verschieden und mithin als »eine Negation, die eine NEGATION bedeutet« verstanden werden muss. Dies bedeutet eine Konstellation, die nur durch dialektisches Denken bewältigt werden kann – ja sie ist selbst das Anheben, das Wirksamwerden von dialektischem Denken. Die Primärtherapie setzt an als Veränderung einer Voraussetzung; d. h., die für das Einsetzen des primärtherapeutischen Prozesses vorauszusetzende erste Phase kann im Sinne der primärtherapeutischen Gegenstandsentfaltung nicht in der Form der Voraussetzung als existent aufgewiesen werden, sondern nur in der veränderten Form der primärtherapeutischen Verwirklichung, was aber eine davon zu unterscheidende Form der Voraussetzung – mit anderem logischen Status – impliziert. Die Veränderung, die das Anheben des primärtherapeutischen Gegenstandes bedeutet, geschieht aufgrund einer hypothetisch angenommenen, neuen ERSTEN MÖGLICHKEIT, nämlich der Identitätshypothese von Objekt- und Metaebene: »Der Aufweis der primären logischen Identität zweier logisch diffe462 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
renter Qualitäten ist möglich«, was durch das Experiment der Verwirklichung – auf der Objektebene – als eine wirkliche Möglichkeit zu erweisen ist: Die Verbindung von Objekt- und Metaebene im Sinne der Identitätshypothese, d. h., dass die Objektebenenbedeutung und die Metaebenenbedeutung »eines logischen Wesens« sind, zeigt sich, indem sich erweist, dass die Objektebenenbedeutung im Sinne ihrer kategoriallogisch höheren Ausprägung: FÜHLEN, der Ausdruck der Metaebenenbedeutung (als das Dominieren der Metaebenenbedeutung im Zusammenwirken der Metaebenenbedeutung und der kategoriallogisch höheren Ausprägung der Objektebenenbedeutung) IST; und das zeigt sich, indem sich erweist, dass die kategoriallogisch höhere Ausprägung der Objektebenenbedeutung der logische Nenner der kategoriallogisch niedrigere Ausprägung derselben ist (dass im Zusammenwirken der beiden Momente der Objektebenenstrukturierung die höherere Bedeutung die niedrigere dominiert), was bedeutet, dass letztere der Ausdruck der Metaebenenbedeutung qua Dominieren der Metaebenenbedeutung in der niedrigeren kategoriallogischen Ausprägung der Objektebenenbedeutung ist. In Erinnerung an die – wie weiter oben beschrieben – vierfach, in vier Phasen differenziert zu entfaltende primärtherapeutische Bedeutung nach der Formel: (Der Gegenstand ist) »ein Verhältnis (Bedürfnis), das ein Verhältnis bedeutet (Bedürfnis-Fühlen), das ein VERHÄLTNIS bedeutet (FÜHLEN), DAS EIN VERHÄLTNIS BEDEUTET (FÜHLEN)«: ist die logische Form der Darlegung des primärtherapeutischen Gegenstandes diese: »FÜHLEN« [4]
Fühlen [2]
FÜHLEN [3]
Bedürfnis [1]
FÜHLEN (3), als Resultat der VERÄNDERUNG (4) der im Sinne der Bedürfnisbefriedigung vorauszusetzenden Bedeutung (1) – was eine als möglich angesetzte Veränderung der Erkenntnisvoraussetzung bedeutet: Theorie von Neurose und Heilung von Neurose als einzelwissenschaftliche Hypothese mit forschungslogischem Status, zu be463 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
weisen durch Verwirklichung im Experiment –, erweist sich als tatsächlich zu verwirklichende Veränderung der im Sinne der Bedürfnisbefriedigung vorausgesetzten Bedeutungsphase des Gegenstandes durch Vervollständigung dieser ersten Phase (»Bedürfnis«) um eine zweite Phase (»Bedürfnis-Fühlen«), so dass jetzt, über die logische Einheit von Fühlen-FÜHLEN die erste Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung – die vom Standpunkt der Primärtheorie nur als Hypothese existiert – als der Ausdruck der zu überwindenden Erkenntnisvoraussetzung der Leib-Seele-Gespaltenheit und damit diese Erkenntnisvoraussetzung selbst verändert und damit die Möglichkeit der Identitätshypothese verwirklicht werden kann. Folgendes ist zu unterstreichen: Das Arbeiten mit zwei differenten Bedeutungsphasen in der Primärtherapie: nämlich »Fühlen« (als verändernde Vervollständigung von »Bedürfnis«) und FÜHLEN (die Verwirklichung der erweiterten Auffassung der Bedürfnisbedeutung im Sinne des In-Gang-Kommens einer »kleinen Dialektik« innerhalb der Objektebene) IST NUR SINNVOLL in Bezug auf die Auslösung der »großen Dialektik« qua Veränderung einer klassisch zu nennenden Form des Aussagens überhaupt im Sinne der Verwirklichung einer hypothetisch als möglich vorausgesetzten Veränderung auf der Ebene der Erkenntnisvoraussetzung. Das genuin Dialektische dabei ist die Demonstration des Ineinandergreifens differenter logischer Ebenen als Demonstration von Identität im Modus der Differenz durch eine bestimmte, als »Bewusstsein« zu bezeichnende Handhabung: Das Beginnen bei der Bedürfnisphase im Bedürfnis-Fühlen ist zunächst eine harmlose Erweiterung einer normalen Bedeutungsexplikation, wodurch eine Bedeutung entsteht (bzw. die alte Bedeutung in einer Form erscheint), die als eine logische Unmöglichkeit nicht zustande kommen, sich nicht als eine vollendete Form verfestigen darf: das Paradox einer undialektisch gehandhabten Bedürfnisbedeutung – was aber gar nicht passieren kann, da dieser Begriff ja bereits als das Resultat eines dialektischen Ansatzes auftritt, mithin bereits der Ansatz der Verwirklichung der veränderten ERSTEN MÖGLICHKEIT ist und damit das In-Kraft-treten der »großen Dialektik«. Die primärtherapeutische Bedeutung ist etwas: eine (geringfügig) veränderte Explikation einer empiristischen Bedeutung, was sie nicht ist, so dass sie, da der Fehler ja nur durch den Umstand, dass sie es nicht ist, zustande kommt – dass nämlich eine Bedeutung grob verdinglicht und damit der in der empiristisch explizierten Bedeu464 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
tung angelegte Fehler in einem Ausmaß vergrößert würde, das ganz unempiristisch wäre –, indem sie es nicht ist und der Fehler also nicht in vollendeter Verwirklichung, sondern in der Spezialform einer zu überwindenden MÖGLICHKEIT existiert, dies ist: sie selbst: also eine dialektisch zu denkende Bedeutung, die die Bestimmtheit von Identität in der Form einer aufgehobenen Differenz qua Negation von Identität verwirklicht. In diesem dialektischen Satz ist noch einmal eine Dialektik des Abhebens einer dialektischen Analyse der Janovschen Äußerungen von einer normal zu nennenden Form der Sprachanalyse wirksam, indem der ganze Satz wie von selbst auf seine Wiederholung und die Durchführung des Ansatzwechsels im Sinne der Akzentuierung des logisch-erkenntnistheoretischen Moments der Explikation tendiert; d. h., der genaue dialektische Sinn des Satzes kann auf die »kleine« und auf die »große Dialektik« hin akzentuiert aufgefasst werden; also: Empiristisch angesetzt, endet die Analyse der Janovschen Äußerungen mit der enttäuschten Feststellung: Sie ist nicht die Explikation einer empiristischen Bedeutung. Dabei beruhigt sich der Gedanke aber nicht; es arbeitet in ihm weiter, und er fährt fort: Wenn sie nun nicht ist, was sie ist (impliziter Hypothesenwechsel), so ist sie vielleicht, was sie nicht ist – ja, sie ist das Nicht einer anderen Form der Explikation, in der Form, einen Fehler nicht zu machen, sondern sichtbar zu machen, so dass er durch die Form, wie er (»bewusst«) gemacht wird, überwindbar gemacht (»bewusst gemacht«) wird, so dass das Sichtbarwerden des Fehlers in dieser Form bereits den Anfang seiner Überwindung und eine Demonstration von der Form von »Bewusstsein« bedeutet. 12 – Hier zeigt sich der Ansatzpunkt für die dialektische Deutung der von Freud für die psychoanalytische Methode der Heilung der Neurose gewählten Formel der »Bewusstmachung des Unbewussten« (vgl. Görres 1978, S. 179) im Sinne der Explikation einer dialektischen Verwirklichung einer Veränderung der Denkvoraussetzung, mithin der Deutung der tiefenpsychologischen Kausalitätsthese als primär einer Hypothese auf der Ebene der wissenschaftlichen Methodologie. Das Freudsche Unbewusste ist ja kein »Gegebenes«, kein »a given«, wie Janov unterstellt: Es hat den Status einer dialektischen Voraussetzung, einer für den Vollzug einer Veränderung vorauszusetzenden Anfangsbestimmtheit, die primär – indem sie durch die psychoanalytische Methode erst zugänglich gemacht wird und daher nur im Rahmen ihrer Methode existiert – als veränderte, mithin als »nicht sie selbst«, nämlich als ein erinnerter Traum bzw. in der Form von Phantasien und zu dem Zwecke artikuliert wird, die von der primären Artikulationsform erst rückwirkend entstehende Scheinform einer »ursprünglich gegebenen Bedeutung« als einen zu überwindenden Fehler aufzuheben. So
12
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Dialektik ist primär dual, sie bedeutet die Verwirklichung einer Form, die mindestens (denn man könnte die Sache noch weiterführen), als eine »doppelte Dialektik« interpretierbar ist, da sie diejenige Form ist, die eine Explikationsstufe stärker in der Form artikuliert wird, die auch in einer anderen Explikationsstufe zum Ausdruck gelangt. Dieses unmittelbare, durch die Identitätsform gegebene Transparentwerden logisch differenter Explikationsstufen füreinander macht sich in den Janovschen Äußerungen als die schon anfangs aufgewiesene Vermischung einzelwissenschaftlicher, wissenschaftstheoretischer und erkenntnisphilosophischer Argumentation bemerkbar. In der Tat ist der Umstand, dass so weit auseinander liegende Bedeutungen differenter Explikationsstufen mit all den für ihre spezifische Verwirklichung erforderlichen, differenten methodisch-praktischen Voraussetzungen als für einander transparent und als in der ihr logisches Wesen ausmachenden Form identisch erfasst werden, höchst beeindruckend. Dennoch mag gerade dies den Grund für die immerhin weit verbreiteten Vorbehalte gegen das dialektische Denken abgeben: dass es nämlich, unter dem Eindruck des Identitätserkennens, das den Betreffenden gewissermaßen mit Hochgeschwindigkeit zu disparat zu entwickelnden logischen Örtern befördert und ihn sich zwischen diesen bewegen lässt, sehr schwer ist, auf den Eindruck der Identität konzentriert zu bleiben in der Form, sich zugleich steht das Freudsche – und mit ihm das Janovsche – Denken in der Linie der Entwicklung eines Gedankens: dessen vorbereitender und vorausleuchtender Explikation durch die Antike und das Mittelalter, über die Herausbildung des materiallogischen Begriffs der Ebenendifferenz bei Kant – dem neuzeitlichen Ansatz in der Erkenntnistheorie – und damit der Herausbildung der Bedeutung des empirischen Subjekts, dem individuell-Einzelnen, bis zur erfahrungswissenschaftlichen – von Schopenhauer her erfolgenden Deutung Hegels, der über Kant hinausgeht, so dass Kant und der erfahrungswissenschaftliche Ansatz in die »Wissenschaft der Logik« integriert werden, so dass es also die Berührungsstelle gibt, geben muss, zwischen dem Unendlichen, Absoluten, und dem endlichen, kontingenten Sein: den »Willen«, als ein der Möglichkeit nach »freier Wille« – das ist die zu kritisierende Ausgangsidee als die Voraussetzung, die nur als veränderte existiert, indem der vorausgesetzte freie Wille durch die Erfahrung der totalen Unterworfenheit – seine totale Negation – hindurchgeführt werden muss: Abhängigkeit, also Begehren – die höhere Kategorienstufe in der Form der niedereren Kategorienstufe – und damit schließlich Herausbildung eines Begriffes eines als abhängigen freien, d. h. eines mit der Wahrheit verbundenen (mit ihr übereinstimmenden) Willens – eine Idee, die im heutigen Denken vielfach zum Ausdruck gelangt: ein die Ebenendifferenz berücksichtigender, über die Notwendigkeit der freiwilligen Berücksichtigung seiner Abhängigkeit belehrter Wille.
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
ausreichend auf die angemessene Artikulation der dennoch bestehenden Differenz einzulassen, wodurch der Eindruck einer Gefahr entsteht, derart, dass man mit dialektischem Denken »alles machen« könnte – was ein Verstoß gegen das Denkprinzip selbst und damit eine Entgleisung wäre; bzw. einer Gefahr, derart, dass man u. U. nicht mehr absehen kann, wohin einen dieser »Hochgeschwindigkeitstrip« trägt, d. h., ob das eigene Denken dem Identitätserleben gewachsen ist, so dass es im Identitätserleben den für es selbst als einer Wahrheitsverwirklichung erforderlichen Erfordernissen der Differenz gerecht zu werden vermag. Dies ist die Gefahr, mit der Janov ringt, und mit der die hier versuchte dialektische Analyse der Janovschen Äußerungen zu ringen hat: Die Schwierigkeit, eine verfestigende Aussagenform der relativen Un-Bewegtheit aufgrund eines Identitätserlebens aufzulösen in eine neue Aussageform der Bewegtheit – als einem stärkeren Ausdruck der Identität von Ausdruck überhaupt und ausgedrückter Bedeutung –, und doch zu ausreichend in ihrer logischen Qualität als different gekennzeichneten Darstellungseinheiten und darin wieder zur Kennzeichnung von Bedeutungsstufen zu gelangen, die sich »feststellen« lassen. Diese ganze Schwierigkeit der Auflösung einer in Differenz erstarrenden Ausdrucksform, im Schmelztiegel des Identitätserlebens dennoch ein Differenzbewusstsein zu bewahren, ist u. a. an der Janovschen Verwendung der Bedeutung des Prädikats »single« ablesbar: »Because there is […] no single entity or moment called the ›self‹.« (Janov 1973a, S. 229)
Janov weist hier das Prädikat »single« für die primärtherapeutische Explikation ab, sogar in Verbindung mit einer dialektischen Konnotation (»a single moment«), um die Gefahr der verdinglichenden Verfestigung des primärtherapeutischen Aussagesinns abzuwenden, wie in seiner Ablehnung des Freudschen Begriffs des »Unbewussten«: »[…] the Primal unconscious is different from almost every major previous concept of the unconscious; it is not a ›given‹.« (Janov 1975, S. 235)
Das hindert ihn jedoch nicht, das nämliche Prädikat zur Auszeichnung der primärtherapeutischen Zusammenhangsform zu verwenden: »Feeling is a single phänomenon.« (Janov1980, S. 204)
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
»We are developing a frame of reference for the study of psyche and biology as a single entity.« (Janov 1980, S. 171) »Neurosis […], is only one desease, manifested in different ways.« (Janov 1980, S. 57)
Die »kleine Dialektik« funktioniert nur aufgrund der »großen Dialektik« – dem Wechsel auf der Ebene der Erkenntnisvoraussetzung zugunsten der Identitätshypothese – indem die kleine Dialektik – die Durchführung der Veränderung der Bedeutungsexplikation zu Gunsten der Bedeutung: Fühlen-FÜHLEN – die Form ist, die eine Bedeutung (the single meaning) beider Explikationsstufen herauszustellen. Dennoch sind sie nicht unmittelbar eins, sondern eins unter der Bedingung der Vermittlung (manifested in different ways). Hier liegen die Schwierigkeiten der durch ein Dahinfallen der Differenzen gekennzeichneten Janovschen Sprachform – als gewissermaßen dem ersten Ausdruck, der aus der Begegnung mit dem primärtherapeutischen Identitätserleben herausgeschöpft ist: Noch unter dem Eindruck dieses Erlebens stehend geht alles zu schnell: die Abhebung und die Wiederverbindung. Entsprechend der großen Dialektik, im umfassenden Rahmen gesehen, geschieht die Beförderung der SACHE der Entwicklung auf der Ebene der MÖGLICHKEIT an dem systematischen Punkt, an dem wir uns in der Entwicklung der Wissenschaft – des Schicksals der empiristischen Begründungsidee – befinden, durch eine Akzentverlagerung zugunsten der Verwirklichung; d. h., die neue MÖGLICHKEIT entsteht, und zwar in der Form einer Veränderung einer Objektebenenbedeutung, auf dem riskanten Wege eines Vorauseilens der Praxis vor ihrer Legitimation. Unter dem Druck, das Neue als etwas von der alten Explikationsform Abgehobenes und doch mit dieser Verbindungsfähiges auszuweisen, geschieht in den Janovschen Äußerungen alles zu schnell und zu wenig ausgeprägt: die Abhebung qua Artikulation einer neuen Denkmethode und eines neuen Wissenschaftsbegriffs und die Wiederverbindung mit der klassischen Orientierung. Die Grenzen fallen dahin, aber die Begriffe als die Ruinen der alten Bedeutungsexplikation sollen schon wieder herhalten, um der neuen Explikation den Rest einer festen, klassischen Fundierung zu verschaffen. Die bewegte Bedeutung Janovs ist nicht ausgeprägt dialektisch expliziert, sonst könnte es nicht immer wieder zu einem so grob verdinglichenden Umgang mit Begriffen wie z. B. »need« kommen (»how many needs/feelings reside in man?«), wie insgesamt zu 468 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
dem widersprüchlichen Phänomen, dass sich die Denkform zu isolierten Inhalten verfestigt, so dass es zu Aussagen über »need«, über Neurose und Hirnentwicklung und darüber kommt-, was für eine gesunde Entwicklung ratsam ist oder nicht – wo doch die Stärke des primärtherapeutischen Ansatzes darin liegt, methodisch-kategorial zu sein, also zu sagen, wie der Einzelne zu Aussagen kommt, über die man dann nichts mehr sagen kann. Daher unterscheidet die hier versuchte dialektische Analyse in dieser Phase nicht zwischen Form und Inhalt; d. h., ihre Aufgabe besteht darin, Inhalte konsequent formal-methodisch, d. h. als fehlerhafter Ausdruck der intendierten Form der Bedeutungsexplikation zu deuten. Für die dialektische Analyse stellt sich die Differenzierung von Form und Inhalt so dar, dass zuerst beide Akzentuierungen der Janovschen Äußerungen – also sein Stil und was er sagt – ausschließlich im Hinblick auf die Darstellung einer neuen Explikationsform: auf die Darstellung der zu begreifenden Sache als Darstellung einer Denkmethode, ausgewertet wird. Anschließend wird dann, in beschränktem Umfang, im nächsten Kapitel noch auf die inhaltliche Akzentuierung der neuen Explikationsform: auf Aspekte ihrer Verwirklichung als eine erfahrungswissenschaftliche Hypothese, eingegangen. Der entscheidende Umstand für die Bewertung der Janovschen Äußerungen knüpft sich an den springenden Punkt der dialektischen Explikationsform: Dasjenige Moment der Objektebenenbedeutung, um das es geht, das also im Vordergrund steht, indem es die ganze Beweislast trägt (die Bedeutung im Sinne der Bedürfnisbefriedigungsstruktur), tritt nur und ausschließlich in der Form des überwiegenden Nicht ihrer selbst auf; d. h., der Beweis funktioniert, indem Bedürfnisbefriedigung-Fühlen-FÜHLEN: also die VERBINDUNGSFÄHIGE Form der Objektebenenstrukturierung, als von der vorauszusetzenden Form der Bedürfnisbefriedigung different angesetzt wird: Der Beweis besteht in der Herausbildung der neuen Form der Bedürfnisbefriedigung als Bedürfnisbefriedigung-Fühlen-FÜHLEN, so dass sich der Kategorienwechsel auswirkt: dass die Objektebenenbedeutung ihrem logischen Wesen nach das NICHT ihrer selbst ist und als nicht ihrer gerade dies: SIE SELBST; aber der wirkliche Witz dieser dialektischen Figur, der das Problem der Neurose löst, ist doch: dass das veränderte Moment in der vorauszusetzenden Anfangsform gar nicht existiert!, d. h., die Form seiner Existenz enthüllt sich als bloßer, hinfälliger Schein, nämlich als logisch falsch, wenn sie expliziert würde, indem, vom primärtherapeutischen Standpunkt aus, die 469 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Bedürfnisbefriedigung keine logisch korrekte Objektebenenexplikation ist, vielmehr nur die Vorstufe dazu und somit vom logischen Charakter einer MÖGLICHKEIT, UND ZWAR IM SINNE DER MÖGLICHKEIT, DASS DAS INDIVIDUELLE SUBJEKT EINE WAHL VOLLZIEHT: entweder bei der klassischen Erkenntnisvoraussetzung der Gespaltenheit von Objekt- und Metaebene zu bleiben, was bedeutet, den primärtherapeutischen Ansatz fahren zu lassen (die Struktur der Bedürfnisbefriedigung ist dann zu transferieren in eine der möglichen korrekten Formen klassisch-empiristischer Gegenstandsformulierung), oder sich für eine neue ERSTE MÖGLICHKEIT im Sinne der Identitätshypothese (der Primal hypothesis) zu entscheiden: und dann existiert die Form der Bedürfnisbefriedigung als logisch fehlerhafte Figur, die durch die Veränderung im Sinne von FühlenFÜHLEN zu korrigieren ist – was eben bedeutet, den Beweis der ERSTEN MÖGLICHKEIT im Sinne der logischen Wesensidentität von Objekt- und Metaebene durchzuführen. »Need« wird artikuliert, um eine Fehlerkorrektur zu vollziehen: um »need« zu überwinden, nicht also, weil es etwa an sich selbst überhaupt ein gültiges Gegenstandsmoment wäre (»it is not an end in itself«); wäre es dies, so wäre die Primärtherapie hinfällig, d. h., sie wäre mit sofortiger Geltung ein Konzept der klassisch orientierten, empiristischen Psychologie – und need-feeling degenerierte etwa zu einem Konzept des »Abreagierens«. »Need-feeling«, der Eckstein der dialektisch zu formulierenden primärtherapeutischen Gegenstandsauffassung und zugleich der für Missverständnisse und, von daher, für die Gefahr der Entgleisung des gesamten Gedankengangs anfälligste, neuralgische Punkt, ist genau in dem Maße als es selbst zu artikulieren sinnvoll, als die Artikulation des in der Form von need-feeling repräsentierten falschen Standpunkts (»need« als Repräsentant der scheinbaren Unausweichlichkeit der Erkenntnisvoraussetzung der Spaltung) dessen Explikation als falsch und damit im Ansatz die Überwindung des Fehlers bedeutet. Die Dialektik besagt: Der Fehler muss begangen werden, um korrigiert zu werden: Das aber ist nur möglich, wenn er nicht wirklich, d. h. nur der MÖGLICHKEIT nach und nicht in Vollendung, begangen wird, so dass die Form seiner Artikulation zugleich seine mögliche Aufhebung bedeutet, was beweist, dass er niemals in der Form, die durch die nicht in ihre Konsequenz hinein ausgereifte Voraussetzung irrtümlich gesetzt ist, geschehen ist, was nochmals, indem die wie falsch auch immer formulierte Objektebenenstruktur für
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die Prozedur der Aufhebung niemals gänzlich unerreichbar verbleiben kann, den Gehalt der Identitätshypothese bekräftigt. Und genau diese entscheidende Differenz: einer Artikulation von »need« mit zu viel Akzentuierung auf »need« – was schließlich eine Frage des Gleichgewichts ist: ob der Akzent das Übergewicht hat, das ein dialektisches Fortfahren zunächst verdirbt –, so dass die Verbindung zu »feeling« (»die Bedürfnisse müssen gefühlt werden, um befriedigt zu werden«) dann allerdings als eine unverständliche, überflüssige Verdoppelung erscheinen muss; und, andererseits, eine Artikulation von »need«, derart, dass es dabei um den Aufweis der ganz anderen Natur der Sache im Sinne von feeling-FEELING geht: diese entscheidende Differenz ist in den Janovschen Äußerungen nicht ausreichend präzisiert: »We therapists have spent decades talking to the unreal front of our patients, thinking we could convince that front to give up the needs and Pains that produced it. There is no power on earth that can do that.« (Janov 1970, S. 64) »[…] a lifetime of experience of the people […] which has a concrete basis in their physiology; we do not overcome our physiology.« (Janov 1975, S. 229) »But you cannot, by mental tricks, overcome something that is in your physiology […] You do not overcome need.« (Janov 1980, S. 66) »There is only one way: to have your needs fulfilled.« (Janov 1980, S. 230)
Aus diesen Zitaten ist auch zu ersehen, dass sich an der Unentschiedenheit Janovs hinsichtlich einer Stellungnahme zu »need« im Verlauf der Jahre nichts geändert hat. – Gewiss bedeutet diese Artikulation der Unausweichlichkeit von »need« noch nicht das endgültige Scheitern der primärtherapeutischen Bedeutung; man findet aus diesem schlechten Widerspruch wieder heraus und in den Modus der dialektischen Aufhebung hinein, indem man diese Formulierungen eingeschränkter und als lediglich dem Akzent Gewicht gebend fasst, dass man paradoxerweise den Fehler erst formulieren muss, um ihn zu überwinden, so dass man um eine Explikation der Bedeutungsposition von »need« nicht herumkommt, und zwar unter Berücksichtigung der dem logischen Wesen dieser Struktur entsprechenden quantitativ-qualitativen Ausführlichkeit, so dass also eine »mentale Kurzfassung« nicht genügt, um eine der Aufhebung fähige Formulierung zu erreichen. Jedoch muss im Hinblick auf die Korrektheit der dialektischen Form der Explikation auf der Differenz von: »Formulierung eines Fehlers«, und: »Formulierung eines Fehlers in der Form 471 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
als Fehler, die seine Aufhebung ermöglicht«, bestanden werden; d. h., die Artikulation der need-Voraussetzung als einer fehlerhaften Form kann dann und nur dann so widersprüchlich sein, wie sie will, ohne dass dies logisch bedenklich wäre, wenn dies die Verwirklichung einer eindeutigen Entscheidung auf der Metaebene der Erkenntnisvoraussetzung zugunsten der Identitätshypothese bedeutet. Dialektische Bedeutungsexplikation ist korrekt nur als Verwirklichung eines Kategorienwechsels denkbar; sie ist somit an das »Kriterium der Negation« gebunden, d. h. an die Bedingung, dass mit der Entfaltung einer Bedeutung begonnen wird, derart, dass sie als nicht die logisch erste, mithin als nicht in der für die Veränderung vorauszusetzenden Form geltend entfaltet wird, sondern nur in der Form der Veränderung als der korrigierten Voraussetzung mit dem Resultat einer zweiten, der ersten logisch übergeordneten Form. So wird sie nur dann richtig entfaltet, wenn die Ausgangsbestimmtheit im Sinne von Verhältnissen gesteigerter Differenz, bis hin zu jenem ausgezeichneten, ein Objektebenen-Metaebenenverhältnis BEDEUTENDEN Verhältnis entwickelt wird, so dass sich die logische Essenz der Ausgangsbedeutung als deren totale Negation, d. h. das ihrer Bestimmtheit genau entsprechende NICHT und damit als eine im Modus des Kategorienwechsels verwirklichte Bestimmtheit kategoriallogisch höherer Stufe erweist: Bedürfnis ist FÜHLEN qua NICHTBedürfnis, und das heißt: was »need« seinem logischen Wesen nach IST, eröffnet sich aufgrund der Überwindung der Bedeutungsposition von »need«. Das »Ideal« der Teilstruktur: Bedürfnisbefriedigung-Fühlen als FÜHLEN im Rahmen der Bedeutungsposition der Bedürfnisbefriedigung ist eine dialektisch-logisch unmögliche Figur; es erscheint als Resultat des primärtherapeutischen Standpunktes und somit als etwas, das nicht war, woran sein korrekter Sinn gebunden bleibt. Der Sinn der primärtherapeutischen Entfaltung der Bedeutung von needfeeling ist an das Gesetz einer dialektischen Entfaltung einer Bedeutung – in Richtung der Entwicklung eines Verhältnisse im Sinne der totalen Negation einer vorausgesetzten Bedeutung – gebunden und existiert nur vom Standpunkt des Schmerzfühlens unbefriedigter Bedürfnisse aus. Die Vision einer Entwicklung zur Höhe des Menschseins im erfreulichen Fortschreiten auf der Einbahnstraße der Bedürfnisbefriedigung (There is only one way: to have your needs fulfilled) ist dialektischer Schein, d. h. der Ausdruck eines nicht richtig gehandhabten dialektischen Denkens. 472 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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Dies ist logisch einwandfrei klar und sollte nicht dieser kolossalen Hervorhebung bedürfen; indessen zeigt die Geschichte des dialektischen Denkens sowie – worauf es hier ankommt – die Janovsche Explikation, dass es offenbar sehr schwer ist, in der Entwicklung der Sache die logisch richtige Linie nicht nur zu finden, sondern durchzuhalten. So beherbergt die Janovsche Sprachform die Möglichkeit eines schwerwiegenden logischen Fehlers, der, mehr als in den offenen Widersprüchen, in der Unbestimmtheit der Janovschen Äußerungen anwesend ist: Dialektik funktioniert nur, indem die artikulierten verschiedenen Bedeutungsphasen einander logisch nicht gleichwertig sind, so dass die Weise des Fortfahrens der Explikation jene genuin dialektische Umkehrung der logischen Plätze bedingt – das Richtigmachen der Sache als Ausdruck der Wirksamkeit von Wahrheitsbewusstsein –, was als wissenschaftliche Explikation, die ausreichend davor gesichert sein muss, die Linie der logisch richtigen Entfaltung der Sache etwa zu verlieren, voraussetzt, dass die logisch richtige Reihenfolge im Voraus bekannt und der Entfaltung der Sache – da sie nun schon, ihrer Eigenart entsprechend, falsch beginnt und so mit einem besonderen Risiko belastet ist – zugrunde gelegt werden muss. Als Methode der Verwirklichung einer neuen Form wissenschaftlicher Bedeutungsexplikation bleibt die Primärtherapie so lange nur Anwärter und eine Möglichkeit, bis ihre Vertretung der Möglichkeit einer konkret-individuell zu verwirklichenden, forschungslogischen SUBJEKTIVEN BEDEUTUNG als eine legitime Weiterentwicklung der empiristischen Erkenntnisvoraussetzung anerkannt werden kann, und das ist der Fall und Primärtherapie eine wissenschaftlich vertretbare mögliche Form der Wissensgewinnung, wenn klargestellt ist, dass die Objektebenenbedeutung nur in ihrer kategoriallogisch höheren Ausprägung die logische Qualität der Metaebene und damit die MÖGLICHKEIT der Verbindung von Objekt- und Metaebene im Sinne der durch Kategorienwechsel veränderten Erkenntnisvoraussetzung der primären Verbindung repräsentiert. Mit dieser Stellungnahme erfüllt die dialektische Analyse ihre wissenschaftstheoretische Funktion des Aufweises der logischen Struktur einer in einer erfahrungswissenschaftlich problematischen Form verwirklichten Sache: Sie trägt dazu bei, eine schwierige Situation zu erkennen und die Lösung in die Richtung ihrer günstigsten Möglichkeit zu lenken; wäre es nicht so, dass das logisch Richtige auch die 473 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
wirklich günstigste Form der Sache des Wirklichen ist, so wäre eine erfahrungswissenschaftliche Wahrheit unmöglich; dies aber wird jeder ernsthafte Liebhaber des erfahrungswissenschaftlichen Weges unbedingt bestreiten. Janov behandelt die als logisch different angesetzten Phasen der primärtherapeutischen Bedeutungsexplikation als gleich – und genau dies ist das Grundmerkmal der nicht-dialektisch explizierten Gegenstandsform der Identität des Ununterscheidbaren, was das Signal setzt, welches die klassischen Kriterien der Wissenschaftlichkeit in Kraft treten lässt. Noch einmal: In seinen Äußerungen ist zu spüren, wie Janov die Einheit des Psychophysischen als eine Einheit von im Sinne einer logischen Differenz zu entfaltenden Momenten meint, und wie er dann, gewissermaßen dem Eindruck des Identitätserlebens zu früh nachgebend, versäumt, den erforderlichen Akt der Entscheidung für die richtige logische Reihenfolge im Sinne der richtigen Über- und Unterordnung im Verhältnis der logisch differenten Momente zu vollziehen. Und so gibt es – wie inzwischen ausreichend repräsentiert – ebenso viele Stellen, die, richtigerweise, die psychische Bedeutungskomponente der physischen überordnen (etwa: Janov 1973a, S. 176; S. 277; S. 278; 1975, S. 97; S. 98, S. 206; 1980, S. 173; S. 175; S. 244), sowie solche Stellen, die einen umgekehrten Vollzug voraussetzen (vgl. zu den Zitaten weiter oben Janov 1975, S. 253), sowie auch solche Stellen, die sich hinsichtlich der logischen Ordnung »neutral« verhalten (etwa: Janov 1975, S. 225 f.; S. 234), was im dialektischen Denken einen Fehler bedeutet. 13 Dieser entscheidende Punkt: das Janovsche Paradox, sei noch für einen Augenblick betrachtet. – Janov sagt: »Primal Therapy reverses the evolutionary trend where the gap between thinking and feeling is widening. In healing the split we may well be restoring human being. If evolution goes on as it has been, we shall die from our own survival mechanism.« (Janov 1980, S. 240) Der springende Punkt ist nun die Bedeutung von »reverse« (Primal Therapy reverses the evolutionary trend). Im Abschlusskapitel seiner letzten Veröffentlichung fasst Janov seinen Gedanken folgendermaßen zusammen: 1. Schritt: Die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins (hier akzentuiert auf die Entwicklung des Gehirns) hat den Sinn der Bedürfnisbefriedigung: »The brain developed in order to direct an organism toward the fulfillment of need. It developed for survival reasons. It is a simple extension of the body and its needs« (a. a. O., S. 237). 2. Schritt: Um zu überleben, ja, um als menschliche Bestimmtheit überhaupt zustandezukommen, waren Unbewusstwerden und Abwehr des Schmerzes unbefriedigt gebliebener Bedürfnisse notwendig: »Paradoxically, neurosis is not only a perversion of
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Am Aufschlussreichsten und Positivsten für die Repräsentation der primärtherapeutischen Bedeutung erscheinen mir am Ende jene Stellen, in denen das Ringen um die richtige Repräsentation selbst mankind; it is also what produced us. To be unreal and self-deceptive, to lie and mislead oneself are in themselves adaptive mechanisms. If we could not do all this we would all be lying in dark pools of misery for most of our lives. Society, politics and religion have simply developed ways to gather up all of our necessary unreality and put it into various systems. These systems are designed to maintain unreality, to keep ourselves deceived, repressed and mislead. It is how we go on« (a. a. O., S. 237). 3. Schritt: So entwickelte sich eine höhere Organisation und deren höchster level: »inhibition«: »The highest level of nervous organization is inhibition. That is truly what makes humans human« (a. a. O., S. 238). Dieser hinzutretende höhere level entwickelt sich neben der anderen, auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten Organisation, so dass Bewusstsein als ein duales System, überwiegend als eine gespaltene Organisation, zu charakterisieren ist (ebd.). – Die Frage: was nun? impliziert, da »inhibition« eine Strukturierung bedeutet, die diese Frage ermöglicht, zwei mögliche Antworten, also eine Alternative in der Interpretation der Bedeutung von »reverse« im Sinne der Überwindung der Spaltung: Soll die Umkehrung qua Aufhebung der Spaltung so geschehen, dass sich die höhere Organisation (that is truly what makes us human) der niedereren »fulfillment of need« unterordnet, so dass dasjenige Maß an strukturiertem Triebaufschub zu erwerben gutgeheißen wird, das nötig ist, um die Gesamtstruktur im Sinne der Erledigung qua Abfuhr der Triebspannung zu verwirklichen, oder führt die Herausbildung der höheren Organisation – indem von höheren Momenten Gebrauch gemacht werden muss, um Bedürfnisbefriedigung zu verwirklichen – zum Begriff einer höheren Verwirklichungsmöglichkeit der Gesamtheit der die Bedürfnisbefriedigungsstruktur i. e. S. einschließenden, menschlichen Bestimmtheit? – Dies entspricht eher den Implikationen des Begriffes einer »Evolution«. – Auf alle Fälle ist eine wissenschaftliche Explikation verpflichtet, die Schlussfolgerung Janovs aus den von ihm dargelegten Prämissen dahin gehend zu präzisieren, dass die Situation unseres »dualen Bewusstseins« im Modus der Spaltung als jenem Modus, in dem sich die Dualität als Problem stellt, eine Situation bedeutet, derart, dass eine Wahl erfolgen muss. Die durch Evolution zustande gekommene Situation – wie von Janov dargelegt – besagt: Du kannst wählen, welche Kategorie (die höhere oder die niedere) welche Kategorie (die höhere oder die niedere) dominieren soll. Welche Wahl man trifft, hängt m. E. davon ab, wie eindringlich man sich die logische Struktur der von Freud und Janov ausreichend beschriebenen Situation vor Augen führt. Die Differenz der Strukturmomente in Anspruch zu nehmen, um im Nebelfeld einer unbestimmten Gleichberechtigtheit (»we have a dual system of needs, the physical and the emotional«, a. a. O., S. 241) in Wirklichkeit die unbestreitbare Dominanz des Bedürfnisbefriedigungsprinzips – der niederen Kategorie – zu predigen: das ist wirklich der schwächste Punkt in der Janovschen Explikation. Schließlich ist auch noch darauf hinzuweisen, dass im Sinne der primärtherapeutisch korrekten Explikationsform – so dass die Bestimmtheiten nur dialektisch zugänglich gemacht werden können – eine Rede über die »Tatsachen der Evolution« nicht sehr sinnvoll ist. Wenn Janov z. B. schreibt: »[…] human development itself depended on
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
zum Ausdruck kommt und der »Fehler« so offensichtlich ist, dass er sich fast von selbst berichtigt – wie etwa in dieser, schon weiter oben zitierten Passage: »Whether energy is bound into belief systems or muscle systems is of little consequence; beliefs and tensions are still effects. And they are both physical effects. Beliefs don’t somehow hover above the brain. They are manifestations of the brain in action. One can manipulate ideas and the muscles but one cannot manipulate stored memory. Consciousness is the only freedom.«
2.2. Psychologie als Primärwissenschaft: Forschungslogische Aspekte der Primal hypothesis 2.2.1. Die Primal hypothesis als forschungslogische 0Grundlagentheorie 2.2.1.1. Darstellung von Hegels »Theorie der Negation« als allgemeiner Rahmen-theorie erfahrungswissenschaftlicher Wissensgewinnung Die positive primärtherapeutische Bedeutung ist zu entfalten als die Explikation eines völlig neuen Standpunktes. Mit der bisherigen, gegenüber der Ausführung einer wissenschaftstheoretischen Analyse, wie sie derzeit als normal akzeptiert ist, veränderten Ausführung, um den neuen Standpunkt als eine Veränderung des klassischen Standpunktes zu entwickeln, gelangt die Darstellung nun an den Punkt, da eine zweite Phase ihrer Durchführung beginnt, derart, dass sie sich in einer zweiten Form ausdrückt, die insofern die Umkehrung the ability to become unconscious. If this were not true in evolution we would all be little more than writhing, thrashing concentrations of agony« (a. a. O., S. 236), so ist eine solche Aussage im strengen primärtherapeutischen Sinne einfach falsch, indem das primärtherapeutische Schmerzerleben die Herausbildung des höheren levels der »inhibition« zur Voraussetzung hat – es bildet nicht getreu die Verhältnisse vor der Herausbildung jenes levels ab. – Das primärtherapeutische Fühlen bedeutet eine Bestimmtheit im Sinne der Bestimmtheit zweier logisch differenter Momente, derart, dass ein höheres auf ein niedrigeres Strukturmoment im Sinne der Spaltung bezogen ist, das vom Standpunkt des höheren aus als die niedrigere bestimmte Voraussetzung einer endgültigen Verwirklichung fungiert. Der höhere Standpunkt bedeutet somit die Möglichkeit zweier Formen der Verwirklichung einer dual differenzierten Gesamtstruktur (qua Verbindung zweier logisch differenter Momente zu einem Ganzen) entweder im Sinne der niedrigeren oder der kategoriallogisch höheren Bestimmtheit.
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
der Ordnung der ersten bedeutet, als jetzt, indem durch eine veränderte Praxis die prinzipielle Möglichkeit des neuen Standpunktes als ausreichend erwiesen erachtet wird, diese veränderte MÖGLICHKEIT als erwiesen seiner Explikation ausdrücklich zugrunde gelegt wird und mithin in der Darstellung ein neuer Anfang erreicht ist. Die Primal hypothesis bedeutet eine Gegenstandsform, die adäquat nur im Modus der dialektischen Denkmethode expliziert werden kann –: sie bedeutet also die dialektische Denkmethode, expliziert als eine Methode der Gegenstandserkenntnis, als eine wissenschaftliche Wissensform. Anders ausgedrückt: Wenn, wie es hier versucht wird, das genuin Dialektische der systematischen Kategorienlehre Hegels als Form der Explikation einer »Verhältnis- oder Relativitätslogik« aufgefasst wird, so dass die Explikation des logischen Inhaltes von »ein Verhältnis« die Vermittlung einer logischen Dualität besagt, und wenn ferner in der »Vermittlung einer logischen Dualität« genau die differentia specifica erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis gegenüber einer »reinen Erkenntnis« zu fassen ist, dann ist das Grundschema des dialektischen Denkens eben jenes gesuchte Schema, das klassisch-empiristische und primärtherapeutische Erkenntnis als in einer MÖGLICHKEIT erfahrungswissenschaftlichen Wissens begründet und als differente Wissensformen miteinander verbunden zu begreifen gestattet. So ist noch einmal zu fragen: Wie hebt dialektisches Denken an und wie ist dialektisches Denken die Entfaltung der FORM – MÖGLICHKEIT – des Inhalts des Denkens: Wahrheitserkenntnis? Fundamental für Denken überhaupt ist Beziehung. »Sein«, die ärmste Kategorie bzw. die mindeste Bestimmtheit, ist nicht denkbar, es sei denn als Beziehung. 14 Wer nur »Sein« denkt, denkt notwendig »Nichts« (nichts Bestimmtes). Nichts ist fast dasselbe wie Sein, doch bedeutet es den Vollzug einer minimalen Differenz: eine Bewegung, und damit eine Entfernung von »Sein«; so ist es dasselbe wie Sein, doch in anderer Weise. Um die Ausgangsform: nämlich Sein als die ärmste Bestimmtheit, zu denken, bedarf es eines Verhältnisses von
Diese Form des Anhebens von Denken-als-Erkennen entspricht der bekannten Formel des Descartes: Cogito, ergo sum: Denken – mindestens »Sein«. – Mir erscheint es wichtig festzuhalten, dass Hegel, in dem hier vertretenen Verständnis, konsequent den neuzeitlichen Ansatz in der Erkenntnistheorie expliziert, also vom »ich-denke« als einer beschränkten, endlichen Form des Denkens, diese berücksichtigend, ausgeht.
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
zweien: Sein und Nichts; und dieses Verhältnis tritt sogleich zweimal auf: Das Verhältnis von Sein und Nichts als ein Identitätsverhältnis: »Sein und Nichts sind dasselbe«, und Sein und Nichts als Differenz aufgefasst: »Sein und Nichts sind nicht (ganz) dasselbe.« So ergibt sich, wenn man überhaupt zu denken anfängt und also »Sein« denkt – indem man sich ganz einfach auf »Nichts (Bestimmtes)« konzentriert – folgende Reihe: Sein. Sein und Nichts. Sein und Nichts sind dasselbe: Sein. Sein und Nichts sind dasselbe und nicht dasselbe: Sein und Nichts. Grundsätzlich, um überhaupt zu denken, denkt man automatisch »etwas«, eine Bestimmtheit; und eine Bestimmtheit zu denken bedeutet mindestens ein Verhältnis zweier Verhältnisse. Dieser schlichte Anfang als der Keimzelle der gesamten »Wissenschaft der Logik« sei nun noch näher betrachtet. Das Erste, bei dem man immer beginnt und beginnen muss, ist Sein. Es ist nicht möglich, anders zu beginnen, denn begänne man anders, ist das Nichts schon da: Negation von Sein. Ich muss ausgehen von »Sein«. Bereits mit diesem Anfang, wenn ich nur »Sein« sage, ist gesetzt, dass ich weitergehen muss, dass also implizit Bewegung gedacht wird, indem es sinnlos und unmöglich ist, bei »Sein« stehenzubleiben, weil sich nichts daraus ergibt, wo ich doch Sein behauptet habe, etwas Positives also. Sein impliziert unweigerlich Nichts. Sein ist Bewegung, und diese kann nur von Sein wegführen – sonst würde man ja bei Sein stehenbleiben, was nicht geht –, also zu Nichts. Sein impliziert also folgendes Paradox: Bleibe ich bei Sein stehen, so geht es nicht, weil nichts erfolgt – also bin ich schon bei Nichts; und wenn ich auch nur versuche, die Bewegung, die Sein automatisch ist, für einen Augenblick aufzuhalten: das ist bereits Negation. Und bleibt man nicht dabei stehen, nun, so ist man eben im Nichts. Wenn ich nun Nichts näher fassen will, so kann es logischerweise nur dasselbe sein wie Sein, es kann sich nur bezogen auf Sein bestimmen, denn sonst wäre es eine absolute Sinnlosigkeit; das aber ist nicht möglich, denn es ist ja aus der Position Sein hervorgegangen – als absolutes Nichts wäre es nicht Nichts, sondern Sein, und der Versuch, ins richtige Verständnis zu finden, müsste von vorn beginnen. So komme ich also notwendig vom Sein auf Negation als auf Sein 478 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
bezogenes Nichts; zu einer zweiten Form der Identität des Seins, die mit der ersten Form in Beziehung steht, die wahrheitsgemäß Gleichheit, Selbigkeit besagt. So darf und muss man das, was dieses Verhältnis besagt, auf den ersten Ausdruck (Sein als Gleichheit von Sein und Nichts) und auf den zweiten Ausdruck (Sein als Nicht-Gleichheit von Sein und Nichts) beziehen: Das Nichts ist ja zum Sein als eine zweite Form hinzugekommen – so muss man es gegenüber dem Sein neu benennen: Nichts –, und diese Nicht-Gleichheit muss wahrheitsgemäß ebenfalls als Gleichheit gewertet werden, aber als eine gegenüber der ersten Form der Gleichheit VERÄNDERTE Gleichheit des Seins mit sich: Werden, Sein und Nichts können nur dann wahrheitsgemäß nicht dasselbe sein, wenn dies eine gegenüber der Identität des reinen Seins veränderte Form ist, wie sie dasselbe sind. So ist durch das bloße Auftreten von Nichts als einer notwendigen Konsequenz von Sein die Situation des logischen Ebenenwechsels geschaffen. Die weitere Bewegung kann nicht in einem einfachen Sinn auf dem Vorangegangenen aufbauen; vielmehr muss das Weitere expliziert werden – gegenüber der ersten, ursprünglichen Metaform – im Sinne einer neuen, durch die ERSTE, GROSSE METAEBENE geschaffene, zweite Ebene als einer neuen Bewegungsform, wie Sein und Nichts auf der Ebene des Werdens, indem sie nicht dasselbe sind, dasselbe sind. Nichts als Implikation von Sein fordert, um richtig gedacht werden zu können, einen logischen Ebenenwechsel, denn, im fundamentalsten Sinn gedacht: Wenn Sein fordert, dass Nichts ist, so kann dies nur so gedacht werden, dass es (1) ist (als verschieden von Sein) in einer Form, nicht zu SEIN: Diese Konstellation bedeutet den logischen Ebenenwechsel; (2) nicht ist, d. h. diese niedrige Ebene des Werdens wieder verlässt (im Sinne der Aufhebung der Implikation der Ebenensetzung), um die Wahrheit seines Seins als Aufgehen im ursprünglichen SEIN zu erfüllen. So impliziert das Nichts, das mit Sein identisch ist, »Entstehen« und »Vergehen« als Entstehen und Aufheben der eigens zur Entwicklung des Nichts geschaffenen, niedrigen Ebene; Um das, was logisch geschehen ist, indem das Nichts auftritt, wahrheitsgemäß abzuwickeln, muss eine Form gedacht werden, die gestattet, dass etwas gesetzt wird in einer Weise, so dass diese Setzung als ein Fehler wieder zurückgenommen bzw. in ihrer nur relativen Wahrheit verwirklicht werden kann. Nur so kann das Nichts wahrheitsgemäß sein. 479 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Der Grundvollzug des Denkens: Sein – das ist das Erste, was man antrifft, man kann nicht anders beginnen! –, entlässt aus sich die Konsequenz: Nichts. Und indem das Nichts einmal da ist – und dies kann nicht verhindert werden, nicht von da aus, wo wir beginnen – kommt ein atemberaubender Prozess in Gang, ein Kunststück sozusagen, das mit dieser Situation geschaffene, unmögliche Paradox auszugleichen und Negation als wahrheitsgemäß, als mit der Wahrheit, die »Sein« besagt, vereinbar, auszuweisen. Dieser Prozess, auf das Paradox sinnvoll, d. h. in Richtung auf Ausgleich einzugehen, ist die LOGISCHE METHODE: Sie bewegt sich entlang dem Abgrund, den Negation, indem sie einmal ist, dem Sein gegenüber bedeutet. Indem Negation einmal ist, gibt es vom Standpunkt der Beziehung zur Wahrheit nur eine Frage: Wo kann und muss ich Negation platzieren, damit sie nicht in noch größere Wahrheitsverletzung entgleist, sondern sich im Dienst der Wahrheit bewahrheitet. Jeder Beweis ist das Aufzeigen eines Rückweges einer gefährlich platzierten Negation zum hellen Ort ihrer offensichtlichen Beziehung zum Sein, dessen Wahrheit sie dient, indem dieses Verhältnis stimmt, d. h. vom Sein her unterstützt (affirmiert) wird, indem es der Wahrheit des Seins entspricht (im Sinne der »adaequatio« 15 ). Die Bewegung, die die Negation durchmacht, um in das Verhältnis der Entsprechung zum Sein zu gelangen, ist notwendig eine Bewegung in zwei Richtungen. Zuerst weg von der Gleichheit mit dem Sein (Sein und Nichts sind dasselbe: Sein – was ja nicht stimmt, so sind sie nicht dasselbe: Negation ist von Sein verschieden): In der Differenz wird die Negation sie selbst, was jedoch erst dann stimmt, wenn die weitere Bewegung in die zweite Richtung gelangt, indem dieses durch die Negation auf der Ebene des Nichtseins erworbene Sein dem eigentlichen Sein (auf der Ebene des Seins) wieder zugeführt wird, was durch die Negation der Negation qua Aufhebung der Relativität des Seins des Nichts durch Erfüllung der Relation zum Sein geschieht. Diese zweite Negation: also die Negation der Negation, ist nicht genau die gleiche wie die erste Negation, denn sie kommt zur ersten hinzu: sie ist mehr als die erste; und dieses Verhältnis, diese Differenz der ersten und der zweiten Negation, ist dasIn diesem Sinne wären in einer »integralen Struktur der Wahrheit« (vgl. Puntel 1974, S. 165) »adaequatio« und »consensus« einander nicht ebenbürtig: das Strukturmoment des consensus ist letztlich der adaequatio – wie die Negation dem SEIN – nur als untergeordnetes ebenbürtig.
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
jenige, was mit dem Sein korrespondiert und wahr ist im Sinne der Wiederannäherung an das Sein: die Äußerung der Bestimmtheit des Seins. Ist diese das Sein? Hier gilt wieder: Ja! Als wahrheitsgemäße Bestimmtheit ist es die Äußerung des Seins. Und nein! Diese Bestimmtheit ist nicht das Sein. Sie ist eine Form, wie jenes Unerhörte (die Negation von Sein) wahr sein kann, indem dasjenige, was die Negation vom Sein unterscheidet (da sie eins ist, indem sie unterschieden ist), in der Form jener Differenz wiederkehrt, mit der die Negation ihre Verschiedenheit vom Sein in bestimmter Weise negiert. Die Negation, die einmal ist, schafft das Problem ihrer Aufhebung – als eine neue Bewegungsform. Durch die Negation entsteht also die neue Aufgabe der Darstellung einer Differenz, für die gilt, dass sie wahr nur dann ist, wenn sie nicht mehr besteht. Dieser dritte Schritt der ERSTEN PHASE bedeutet den Übergang zur ZWEITEN PHASE, nämlich der Aufgabe der Darstellung einer Differenz, die wahr ist, wenn sie nicht mehr besteht. Es wird also eine neue, niedrigere Ebene geschaffen, wo Negation als ein Sein ist, das Nichtsein ist – ein endgültiges Entgleisen also nicht vorkommen kann, höchstens ein Zurückgleiten an den Anfang im Sinne einer neuen Chance, die Bewegung zu versuchen. Wie stellt sich nun Wahrheit auf der Ebene des Nichtseins, des Werdens, dar? – Auf der Voraussetzung eines Seins, das Nichtsein ist, wird: »Sein und Nichts sind nicht dasselbe«, darstellbar ohne Entgleisung. Das Nichtsein, die Negation, rückt auf die Ebene des Seins, und das bedeutet den Ebenenverlust. Nun beginnt die Bewegung – in der Ordnung der niedrigeren Ebene – wie sie nicht anders kann, beim Sein. Auf der neuen Ebene, wo die Negation verhandelt werden kann, auf einer Voraussetzung also, die bedeutet: »Sein und Nichts sind nicht dasselbe«, beginnt die Bewegung, wie sie nicht anders kann, beim Sein. Das bedeutet Differenzen, die besagen: Sein und Nichts sind dasselbe, und dies bedeutet eine Form von: Sein und Nichts sind nicht dasselbe. Man sieht: Je stärker sich dieses Stadium ausprägt, präzisiert es sich im Sinne eines systematischen Selbstwiderspruchs. Das ist der kritische Punkt, der in der vorliegenden Arbeit behandelt ist. Dieses Stadium lässt sich aber auf die Dauer nicht halten, es bleibt nicht dabei, denn, wie gezeigt wurde, geht diese Bewegung unaufhaltsam weiter zum Nichts: 481 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Sein und Nichts sind nicht dasselbe. Damit stimmen diese Verhältnisse zunehmend mit sich überein; es wird die Negation der Negation erreicht, was einfach heißt, dass die Negation als Negation präzisiert wird, wodurch sie in den Hintergrund tritt, Hintergrund wird für das, was sie negiert und was jetzt als der Bezugspunkt der Negation erscheint: Bestimmtes Sein. Aber auch die Negation der Negation hat noch einmal diese Entwicklung: Sie wird im Sinne des Seins akzentuiert und imponiert so als Bestimmtheit des Seins; sie steht also immer noch relativ im Vordergrund. Schließlich dominiert aber der Negationscharakter auch in Bezug auf die Negation der Negation – indem es nicht möglich ist, die Bewegung nur im Sinne einer Wiederholung des Gleichen in immer derselben Weise des Gleichen zu halten –, und das erst bedeutet die Aufhebung der Negation, die Erfüllung der Negation der Negation in der Aufhebung ins Sein – die mehr und mehr überwiegende Nähe des Seins. Noch einmal eine Bemerkung dazu, dass im zuletzt genannten Stadium der Bewegung die doppelte Negation nicht genügt zur Aufhebung, vielmehr auch auf das Stadium der Negation der Negation noch einmal das Schema: Position – Negation, angewendet werden muss – denn dies scheint mir ein entscheidender Punkt: Die Negation der Negation auf der Ebene des Seins, das Nichtsein bedeutet – Sein in der Form von Nicht-Sein, so dass also dieses Sein aus einer bestimmten Weise des Nichtseins hervorgehen muss –, bedeutet also zunächst Nichtsein, Negation. Die Negation der Negation, die die Wahrheit der Negation präzisiert, indem es stimmt, dass Sein und Nichts nicht dasselbe sind auf dieser Ebene, die ja eigens zu diesem Zweck eingerichtet wurde, präzisiert die Negation als Negation, also als Bestimmtheit. Was dabei aber bestimmt wird, ist ja nicht das Sein, sondern das Sein der Negation als Negation. Die Aufgehobenheit bezieht sich zunächst auf diese Bestimmtheit: Sie hebt die Reihe der Bestimmtheiten der Negation in sich auf und ist damit zunächst einmal. D. h., diese Phase der Bewegung vollzieht sich immer noch auf der Ebene des Nichtseins, und das heißt: Die Bestimmtheit kommt, wahrheitsgemäß, nicht heran an das Sein. Es ist die Negation selbst, die in der Negation der Negation bestimmt wird, und so ist sie wahr, indem sie gerade nicht das Sein ist, dessen Negation sie ist. So wird sie in sehr merkwürdiger Weise der Partner
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
des Seins und ist ihm, als ihm nicht gleich, gleich, entspricht ihm, ist ein fassbarer Ausdruck seiner Identität. Und jetzt erst beginnt die eigentliche Dynamik im Sinne der großen Ebenendifferenz: Wo ist die Affirmation, was bedeutet das Verhältnis im Sinne der Bestimmtheit (die ausgebildete Negation) im Verhältnis zu jenem, dessen Bestimmtheit sie ist? Bedeutet sie »Sein« oder »Nichts«? – Doch wohl Nichts, denn das ist es, was die Negation ist. Und daher muss die Bestimmtheit das Sein, das sie ist: sich selbst, an das Sein weitergeben, muss die Positivität seines Bestehens negieren und sich damit als Negation erfüllen. Indem sie sich als Negation ganz negiert und so an das Sein hingibt, hebt sie sich in das Sein hinein auf. Dann erst ist die mit ihrem Entstehen gesetzte Vorschrift, ihre Wahrheitsbedingung, erfüllt: erst dann wahr zu sein, wenn sie nicht mehr besteht. Die LOGISCHE METHODE ist der Weg des Platzierens von Negation als einer wahrheitsgemäßen Bestimmtheit (Prädikation) von Sein. Ziel des Weges ist diejenige Bestimmtheit, die ist, als sei sie nicht. Im Hinblick auf die Zielsetzung dieser Arbeit, die Struktur der Primal hypothesis zu verstehen und im Hinblick auf ihre Wissenschaftlichkeit zu bewerten, wurden aus den Anfangskategorien von Hegels »Wissenschaft der Logik« eine Reihe von Schritten expliziert, die nach der hier dargelegten Auffassung genau jenen logisch notwendigen Zusammenhang bilden, der erforderlich ist, um die primärtherapeutische Gegenstandsauffassung im Zusammenhang mit der klassisch-wissenschaftlichen Gegenstandsauffassung zu begreifen. Es ist der Versuch, die grundsätzliche logische Qualität des Denkaufwandes zu repräsentieren, der erforderlich ist, die Verbindung beider Gegenstandsauffassungen aufgrund ihrer Beziehung zu einem gemeinsamen SCHEMA DER MÖGLICHKEIT verstehbar zu machen. Dieser Denkzusammenhang, in den einbezogen die primärtherapeutische und die klassisch-empiristische Methode als zwei notwendig zusammenhängende Formen erfahrungswissenschaftlicher Wissensgewinnung begriffen werden können, sei nun noch deutlicher auf sein logisches Gerüst hin schematisiert. Im Sinne eines allgemeinsten Schemas – noch vor aller Deutung und Anwendung – wird mit den Anfangskategorien: Sein, Nichts, Werden, die Zusammenhangsform des spekulativen Satzes eingeführt: 483 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
SEIN-NICHTS:
Identität als aufgehobene Differenz, wird entwickelt:
POSITION:
Sein und Nichts sind dasselbe.
NEGATION:
Sein und Nichts sind dasselbe, indem sie nicht dasselbe sind
NEGATION DER NEGATION: Sein und Nichts sind dasselbe, indem sie in der Weise, nicht dasselbe zu sein, dasselbe sind. Die Grundform des dialektischen Denkens wird – im Sinne der hier vorgenommenen Deutung der Hegelschen Explikation – zum Schema durch eine vierfache Anwendung dieser Grundform, derart, dass der Zusammenhang dieser Anwendungen wiederum die Zusammenhangsform des spekulativen Satzes verwirklicht. Die erste Anwendung besteht in der Deutung der Grundform des dialektischen Denkens als einer Darlegung der obersten MÖGLICHKEIT VON DENKEN ALS ERKENNTNIS ÜBERHAUPT im Anheben an der obersten Grenze des Denkmöglichen: Denken bedeutet Identität, also Identität und Differenz, also Identität vom Standpunkt der Differenz, also das Problem der Aufhebung des Standpunktes der Differenz. Die Frage nach der obersten, prinzipiellen Möglichkeit von Denken als Erkennen (WIE IST: »SEIN UND NICHTS SIND DASSELBE«, MÖGLICH?) ist – da Denken als Erkennen primär eine duale Struktur besagt, d. h. so beginnt, dass sich Denken grundsätzlich als auf dem zweiten, untergeordneten Platz befindlich begreift – die Frage nach der MÖGLICHKEIT DES SEINS DER NEGATION. Alles Denken als Erkennen im Sinne des dialektischen Ansatzes bedeutet Verwirklichung der Möglichkeit des Seins von Denken als der Möglichkeit der richtigen Form des Seins der Negation. Die Antwort auf diese Frage nach der Möglichkeit von Denken als Erkennen als Formulierung einer MÖGLICHKEIT ZWEITER ORDNUNG (d. h. hier: Formulierung der obersten, für alles weitere in Anspruch zu nehmenden METAEBENE oder ERSTEN MÖGLICHKEIT) – WIE IST DAS SEIN DER NEGATION MÖGLICH? – ist: DURCH »WERDEN«; d. h. durch Ausprägung einer zweiten, kategoriallogisch niedrigeren Ebene – besser: durch Begreifen, dass Beginnen von Denken als Erkennen grundsätzlich der Ausdruck der 484 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Voraussetzung ist, dass ein großer, kategoriallogischer Ebenenverlust mit Umkehrung der logischen Ordnung stattgefunden hat. Denken, als notwendig immer das Sein der Negation formulierend, kann nur richtig vorgehen, wenn der große, kategoriallogische Ebenenverlust als die oberste Voraussetzung des Denkens berücksichtigt wird. Denken kann nur Ausdruck von Wahrheit und mit sich in Übereinstimmung sein (SEIN UND NICHTS IST DASSELBE), wenn die Umkehrung der logischen Ordnung, welche der kategoriallogische Ebenenwechsel bedeutet, berücksichtigt wird: Denn das Sein, das jetzt expliziert wird, ist nicht das SEIN, sondern das Sein der Negation von SEIN. Die richtige Metaform des Denkens als Erkennen ist die Form, die ein deutlich-WERDEN dessen zustande bringt, dass SEIN UND NICHTS NICHT DASSELBE sind – so dass ihre Beziehung gewahrt bleibt, indem sie in der Weise, nicht dasselbe zu sein, dasselbe sind. So führt die erste Anwendung der Grundform des dialektischen Denkens zu einer zweiten Anwendung auf der Grundlage des Resultates der ersten Anwendung – der Notwendigkeit der Verwirklichung von Negation als Verwirklichung der Form von WERDEN ALS: SEIN UND NICHTS SIND NICHT DASSELBE. Die Antwort auf die Frage: WIE IST: »SEIN UND NICHTS SIND NICHT DASSELBE«, MÖGLICH?, ist die Formulierung einer MÖGLICHKEIT ERSTER ORDNUNG (qua Formulierung der ersten als der für alles weitere unmittelbar zuständigen Metaebene) und lautet: DURCH WERDEN QUA SCHAFFUNG EINES AUSDRUCKS, DER DIE VERBINDUNG EINER KATEGORIALLOGISCHEN EBENENDIFFERENZ BEDEUTET; d. h., das Anheben von Denken als Erkennen bedeutet das Begreifen einer zweiten, unmittelbar wirksamen Voraussetzung für Denken, derart, dass ein zweiter Ebenenverlust mit Umkehrung der logischen Ordnung als ein aufhebbarer gesetzt wird. So bedeutet das Anheben von Denken als Erkennen zweierlei: das Deutlichwerden zweier logischer Metaebenen von differentem logischen Status (zweier Stufen von »erster Möglichkeit«), zweier differenter Typen von logischer Dualität: Denken bedeutet Begreifen einer Beziehung im Sinne der ontologischen Differenz von Denken und SEIN; und Begreifen einer Beziehung im Sinne der ontischen Differenz von Denken und Nicht-Denken als Beziehung der durch Nicht-Denken in Denken aufhebbaren, von Denken differenten Ebene, also eine Beziehung qua Verbindung einer Differenz von Möglichkeit und Verwirklichung i. e. S. – So besteht zwischen den beiden ERSTEN MÖGLICHKEITEN ein Umkehrungsverhältnis: Die Explikation der 485 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Möglichkeit zweiter Ordnung bedeutet vom Standpunkt des Resultats aus eine Beziehung zur Ebene der VORAUSSETZUNG, während die Explikation der Möglichkeit erster Ordnung den Status einer weitere Verwirklichungen (Resultate) ermöglichenden, der Möglichkeit nach verwirklichten, also verwirklichbaren Voraussetzung hat. Die Formulierung der ERSTEN MÖGLICHKEIT erster Ordnung bedeutet die Möglichkeit der Darstellung der Beziehung von Objektund Metaebene im Sinne der aufhebbaren kategoriallogischen Differenz als insgesamt einem Objektebenengeschehen im Sinne der Formulierung der Möglichkeit des richtigen Seins der Negation. Die Formulierung einer aufhebbaren kategoriallogischen Ebenendifferenz – insgesamt begriffen als Objektebenengeschehen – bedeutet: »Werden« als Entstehen und Vergehen eines Seins, das Negation ist, derart, dass »Vergehen« nicht Vergehen, sondern, als Negation der Negation, die Darstellung der richtigen Form des Seins der Negation, mithin, als aufgehobene Negation, NEGATION qua NICHT-SEIN (»SEIN« eigentlich in noch größerer Schreibweise) bedeutet. Die auf dem Resultat der ERSTEN MÖGLICHKEIT zweiter Ordnung: Sein und Nichts sind nicht dasselbe – kategoriallogischer Ebenenwechsel mit Umkehrung –, aufbauende ERSTE MÖGLICHKEIT erster Ordnung: NEGATION: WERDEN, als Entstehen und Vergehen von Negation, derart, dass sie NEGATION bedeutet, stellt in ihrer Beziehung zur ersten Möglichkeit zweiter Ordnung die unmittelbare Voraussetzung erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis als der Verbindung der klassischen und der primärtherapeutischen Erkenntnisform dar. Die Möglichkeit des Seins der NEGATION bedeutet das Pensum ihrer Aufhebung qua Vermittlung der logischen Ebenendifferenz, was durch Setzung einer vom (in seiner Möglichkeit verwirklichten) Standpunkt der ersten Möglichkeit erster Ordnung aus aufhebbaren Differenz geschieht: durch Verwirklichung einer Negation, die, als aufgehobene, NEGATION bedeutet; durch die Verwirklichung der Veränderung der Form von Negation im Sinne von »Entstehen« und »Vergehen« und damit das ENTSTEHEN einer neuen Bedeutung als der Verwirklichung der ersten Möglichkeit erster Ordnung: das aufgehobene Sein der Negation der Negation als die korrekte Form der NEGATION, die NICHT-SEIN (letzterer Ausdruck wäre wieder noch größer zu schreiben) bedeutet. Man muss vier Ebenen ansetzen – wobei die höchste Ebene NICHT ERSCHEINT –, um die logische Implikation des erfahrungswissenschaftlichen Wissens abzuwickeln. 486 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Die unmittelbare Möglichkeit erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis erster Ordnung setzt also nicht eine Ebenendifferenz, sondern die Möglichkeit einer aufgehobenen Ebenendifferenz voraus. Wie ist das zu verstehen? Wenn die Voraussetzung heißt: Verwirklichbarkeit der Aufhebung einer Ebenendifferenz, so geht das nur in der Form des Vollzuges eines zweiten Ebenenverlustes mit Umkehrung der logischen Ordnung, jedoch in veränderter Weise, derart, dass nun eine Bedeutungebene als logisch schwächer und in Beziehung zu einer logisch stärkeren Ebene gesetzt wird; die niedrigere Ebene wird als Negation und Negation der Negation gesetzt, so dass »Sein« hier ein Werden der Negation der Negation bedeutet. Die Umkehrung wirkt sich jetzt so aus, dass Wissensgewinnung den Sinn des Bestimmtwerdens eines relativen Wissens, d. h. eines Wissens als Ausdruck der Unwissenheit hat, und das heißt, dass es als Negation der Negation definiert ist, die sich in zwei Etappen herausstellen muss: einer Etappe der relativen Unwissenheit – der Herausbildung des Seins der Negation der Negation als Bestimmtheit – und einer Etappe, auf der vorausgehenden aufbauend und diese daher rückwirkend korrigierend, in der, indem die Bestimmtheit der Negation der Negation vergeht, in der Tat die Unwissenheit bezüglich des Seins der Bestimmtheit in seinem Charakter als Negation der Negation vergeht, wodurch ihre wahrere Bedeutung als NEGATION von SEIN (letzteres noch größer geschrieben) ENTSTEHT, so dass eine Form verwirklicht ist, derart, dass man durch Erfahrung die Voraussetzungen der Erfahrungserkenntnis »erkannt«, d. h. denselben erkennbar entsprochen hat. Die MÖGLICHKEIT erster Ordnung bedeutet den Vollzug einer äquivalenten Umformulierung des logischen Gehaltes der Negation – als der MÖGLICHKEIT zweiter Ordnung – in die Form einer »aufhebbaren Negation«; d. h., die verwirklichbare MÖGLICHKEIT erster Ordnung soll sich, unter Voraussetzung eines erneuten Ebenenverlustes – die als Beziehung einer apriorischen zu einer aposteriorischen Ebene ausgedrückt ist, durch welche die Erkenntnisgegenstände der Erfahrungswissenschaft zustande kommen –, als Werden einer höheren aus einer niedrigeren Bedeutungsform verwirklichen. Die Umkehrung der logischen Ordnung besagt, dass die höhere Bedeutungsform der niedrigeren zugrunde gelegt ist, obwohl sich dies erst erweisen muss, so dass man diese Form als ein Erscheinen der richtigen Ordnung erst durch Rückgängigmachung der Umkehrung versteht. – Es soll also verstanden werden: dass das Pensum, eine aufgehobene Ebenendifferenz darzustellen, nur so denkbar ist, dass eine 487 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
höhere Möglichkeit in der Form, nicht als solche zu erscheinen, vielmehr sich erst als solche zu erweisen, gesetzt wird: denn die Negation der Negation besagt die höhere Möglichkeit gegenüber der Negation. Aufhebbar ist die Negation, wenn sie als Negation der Negation (höhere Möglichkeit) in der Form der Negation (niedrigere Möglichkeit) gesetzt ist, jedoch als höhere Form in der niedrigeren Form, so dass es MÖGLICH ist, dass sie sich als Negation der Negation erweisen kann, was eben den aufhebbaren Ebenenverlust bedeutet. – Die Dialektik der MÖGLICHKEIT erster Ordnung und der Objektebene als der Ebene »Null« besagt: dass eine MÖGLICHKEIT durch Verwirklichung als bereits vor ihrer Verwirklichung VERWIRKLICHT bestätigt wird, so dass das Resultat der Verwirklichung die Verwirklichung ihrer eigenen MÖGLICHKEIT – und damit die Bestätigung der Richtigkeit der Verwirklichung, indem der Fehler des Ebenenverlustes als korrigierbar bestätigt wird – bedeutet. 16 Die dritte und vierte Anwendung bedeutet schließlich die Grundform des dialektischen Denkens im Sinne der Beschreibung der beiden erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisformen i. e. S.: Sein und Nichts sind, indem sie nicht dasselbe sind, dasselbe-DASSELBE, im Sinne des Programms der Verwirklichung der Negation der Negation als Entstehen und Vergehen des Seins der Negation der Negation. Entstehen und Vergehen sind die Verwirklichung der Voraussetzung der MÖGLICHKEIT erster Ordnung: SEIN UND NICHTS SIND NICHT DASSELBE, also die Verwirklichung einer bestimmten Differenz, die nur VERBUNDEN werden kann, indem sie verbunden werden muss – was die Situation logisch impliziert: als empiristisches Begründungsproblem und als das Problem der Begründung der primärtherapeutischen Erkenntnis, indem das zweite Strukturmoment der Differenz eine Form verwirklicht, die die Form der Voraussetzung für beide verdeutlicht: Verwirklichung von Vergehen als ENTSTEHEN (Deutlichwerden) der NEUEN BEDEUTUNG: Sein als Negation, die NEGATION bedeutet, was, vom Standpunkt der verlassenen (»vergangenen«) Bedeutungsebene einen Kategorienwechsel im Sin-
In diesem Sinne kann gesagt werden, dass sich die psychophysische Identität empirisch erweisen müsse – wie ich die Auffassung Feigls verstehe –; d. h., durch die Verwirklichung eines Methodenwechsels, welche den Status der Verwirklichung einer MÖGLICHKEIT hat, die erst nach ihrer Verwirklichung als ihr zugrunde liegend begriffen werden kann.
16
488 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
ne der Vollendung der zweiten Umkehrung in der ersten UMKEHRUNG genannt werden muss. Hier die Übersicht über das bis jetzt artikulierte Schema: POSITION: SEIN SEIN UND NICHTS SIND DASSELBE
I.
MÖGLICHKEIT 2. Ordnung: SEIN-NICHTS-WERDEN (Imp. d. log. Dualität) ERSTE UM KEHRUNG »NEGA TION«
NEGATION: NICHTS SEIN UND NICHTS SIND DASSELBE, INDEM SIE NICHT DASSELBE SIND
II.
MÖGLICHKEIT 1. Ordnung SEIN-NICHTS-WERDEN: ENTSTEHEN u. VERGEHEN (Vermittlung einer log. Dual. als Verwirklichung d. empirist. Begründung)
zweite Umkehrung »Negation« NEGATION der NEGATION: SEIN UND NICHTS: SEIN U. NICHTS SIND, INDEM SIE NICHT DASSELBE SIND, als nicht dasselbe, dasselbeDASSELBE
III. klassisch empirist. Erfahrung ENTSTEHEN der Neg. als Sein der Negation der Negation: 1. Entstehen der Neg. 2. Entstehen der Neg. als Negation
DAS LÄSST SICH ZWEIFACH AUSDRÜCKEN: METHODENWECHSEL: »ZWEI WISSENSCHAFTEN«
IV. primärtherapeut. Erfahrung: VERGEHEN als Aufhebung der Neg. der Negation 1. Entstehen des aufhebbaren Seins (Neg. d. Neg. als Neg.) 2. Vergehen/Aufheben als Neg. d. Neg. d. Neg.: KATEGORIENWECHSEL
(Anm. zur Nummerierung: Vier Anwendungen auf drei ausgedrückten logischen Ebenen)
Von den vielfältigen Implikationen, die zu verfolgen sich in der Perspektive dieses Schemas interessant und lohnend darstellt, seien, um auf die Aufgabenstellung dieser Arbeit konzentriert zu bleiben, nur die zwei vorrangig relevanten Gesichtspunkte diskutiert, nämlich erstens, wie in der Perspektive des Schemas die Grundmerkmale der 489 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
klassisch-empiristischen Wissensform im Ganzen als Äußerungen der logischen Struktur des Schemas verstehbar werden, so dass dieses Schema also die Struktur des empiristischen Wissens tatsächlich interpretiert; und zweitens, wie das Verstehbarwerden der Charakteristika der empiristischen Wissensform im Ganzen bedeutet, den Methodenwechsel als eine Notwendigkeit zu verstehen, also zu verstehen, inwiefern die klassisch-empiristische Methode, um logisch konsequent zu sein, eine Ergänzung oder Weiterentwicklung durch eine ganz andere Methode bedarf, um sich zu vollenden. Der in dem Schema ausgedrückte, für beides – das Verständnis der empiristischen Methode wie das Verständnis der Notwendigkeit der Weiterentwicklung derselben durch Methodenwechsel – entscheidende Gedanke ist: erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis impliziere einen doppelten logischen Bruch, eine doppelte Umkehrung, so dass die Abwicklung des Erkenntnisanliegens eine Richtigstellung qua Rückgängigmachung derselben erfordere durch eine Verwirklichung von der Art eines Kategorienwechsels. Das grundlegende Implikat von als Erkenntnis gekennzeichneten Bestimmtheiten ist die kategoriallogische Ebenendifferenz. Denken, auf der Ebene seiner dialektischen Explikation, bedeutet eine Verwirklichung von Negation qua Nicht-SEIN, woraus zwingend folgt, dass die mit dem Anheben von Denken als Erkennen deutlich werdende logische Aufgabe: das Sein von Nicht-Sein zu verwirklichen, auf einer »zweiten Ebene« und also in einer Form abgewickelt werden muss, die den Ebenenverlust darstellt. Der Anfang des Denkens bedeutet, ausreichend viel vom kategoriallogischen Ebenenverlust als der Voraussetzung des Denkens erfasst zu haben, um das damit gesetzte Pensum zu erfassen: Wissen als Begriff der Ebenendifferenz und damit den Anfang von deren Überbrückung und so der Verbindung mit dem SEIN zu erlangen. Die durch das Auftreten von Denken gesetzte Anforderung ist die Verwirklichung einer Bestimmtheit (die Negation ist) als Negation. – Der als Schema zusammengefasste Gedankengang besagt: Diese Aufgabe ist nur unter der Bedingung eines zweiten Ebenenverlustes: auf dem Wege der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis, zu erfüllen. Die im Anheben von Denken verwirklichte Form der Voraussetzung reicht nicht aus für eine wahrheitsgemäße Prädikation, da, was immer expliziert wird, die Bedeutung von »Sein« hat – als gewissermaßen das unverlierbare Erbe der Seinsbezogenheit der Negation des SEINS –, so dass die Bestimmtheit, auf ihre Voraussetzung 490 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
bezogen, lediglich ganz allgemein und abstrakt Negation »bedeutet«, was nicht eine Verwirklichung der Bestimmtheit der Ebenendifferenz genannt werden kann. Wie also ist es möglich, in der Explikation die Form eines Seins als Negation zu verwirklichen? – Offenbar muss dazu auch die zweite Form der Voraussetzung noch einmal verändert werden, sodass eine Struktur von der Art der Ebenendifferenz selbst: ein durch Vermittlung herauszubildender Begriff der Ebenendifferenz, vorausgesetzt wird. Eine solche Voraussetzung, derart, dass das Vermittlungsresultat seiner Form nach als Negation gekennzeichnet ist, kann nur bedeuten, dass, von der Ebene der nächst höheren Voraussetzung aus, im Sinne eines zweiten Ebenenverlustes, nicht mehr als die Hälfte zum Zwecke der Explikation eingesetzt wird, so dass also, wenn nun die Hälfte vermittelt ist und die erreichte Strukturierung mit der Voraussetzung im Sinne einer neuen Bedeutung zusammenwirkt, dieses Ergebnis selbstverständlich konnotiert, nicht die ganze Bedeutung des Seins (der Voraussetzung) zu vertreten; die Form des Ergebnisses impliziert, nicht das Ganze zu sein. »Vermittlung« bedeutet die Ausbalancierung des durch den zweiten Ebenenverlust gesetzten Fehlers des Entstehens des Seins der Negation in einer Weiterbewegung, so dass, was in die Explikation eingeht, dual, im Sinne der logisch differenten Strukturmomente »Negation« und »Negation der Negation« differenziert wird, derart, dass das gewonnene Verhältnis der beiden Strukturmomente mit den zwei dafür vorauszusetzenden Verhältnissen ein solches Verhältnis bildet, dass dessen Bestimmtheit zugleich als »seiend« und »nichtseiend« ausgezeichnet ist: Die empirische und die Theorie-Ebene der wissenschaftlichen Wissensform harmonieren und explizieren eine bestimmte Bedeutung im Verhältnis zu den zwei Formen ihrer Voraussetzung: der unmittelbar-nächsten Voraussetzung, im Sinne der Matrix der Ausdifferenzierung der beiden Strukturmomente der wissenschaftlichen Erkenntnis – die Position als die Ermöglichung des »Seins der Negation« –, und der Voraussetzung als dem Ganzen des der Möglichkeit nach Verwirklichbaren, dem die spezifische Ausgangsposition der empiristischen Erkenntnis entnommen ist, d. h. also die Metaposition als die Ermöglichung der Kennzeichnung des Negationsseins der vermittelten Bestimmtheit. Die Operation der Beschränkung der Verwirklichung auf die Hälfte des der Möglichkeit nach Verwirklichbaren, um vermitteltes Sein in seinem Charakter als Negation darstellbar zu machen, macht, 491 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
wie ich meine, den Grundzug des empiristischen Wissens verständlich: als ein Wissen, das in besonders ernstzunehmender Weise ein Wissen des Wirklichen zu sein beansprucht, um doch stets hypothetisch bleiben zu müssen und seinen Bezugspunkt grundsätzlich nicht erreichen zu können. Die »empiristische Erkenntnis« bedeutende Strukturierung ist dem, was IST, nähergekommen – das ist der Impetus des Unternehmens – und kann es doch grundsätzlich nicht erreichen. Nun wäre aber Unwissenheit gerade dies: dass man überhaupt nichts von der Negation, die die Objektebene besagt, weiß: die naive Gleichsetzung dessen, was gegeben ist: Negation, mit SEIN. Wissenschaftliches Wissen kommt der Wahrheit näher durch Negation dieser naiven Beziehung: Das Gegebene (der Alltagserfahrung) wird negiert, um auf SEIN beziehbar zu sein. Die Anstrengung und Disziplin der Enthaltsamkeit in der Aufrechterhaltung der Distanz zum SEIN – indem die Bestimmtheiten der wissenschaftlichen Erfahrung als grundsätzlich nur hypothetisch gültig platziert werden –; die Zurückhaltung der naiven Neigung, das Gegebene für »Sein schlechthin« zu halten, jene Negation, die das naive sich selbst Überlassensein des Seins, das Negation ist, negiert; all das bedeutet einen Fortschritt in Richtung auf ein Wahrheitswissen. Wissenschaftliches Wissen bedeutet eine Strukturierung, derart, dass die Objektebene anfängt, als das, was sie ist, deutlich zu werden. Dies drückt sich aus in dem Verbot, die Gegenstände wissenschaftlicher Erfahrung auf SEIN (an sich) zu beziehen oder, umgekehrt, in der Grundregel für wissenschaftliche Erkenntnis, zu solchen Bestimmtheiten zu gelangen, für die die Distanz zum SEIN ein erkennbares Implikat ihres Seins ist. Gleichzeitig macht die Deutung der Voraussetzung für wissenschaftliches Wissen im Sinne der Operation der Halbierung des der Möglichkeit nach Verwirklichbaren verstehbar, dass Wissenschaft eine Verwirklichung von Quantität bedeutet. Die Bestimmtheiten wissenschaftlicher Erfahrung verwirklichen stets ein Verhältnis, das zu zwei Metaverhältnissen in einem Verhältnis steht – wobei das erste das Sein der Bestimmtheiten affirmiert und das zweite dasselbe negiert, so dass sie sich einander genau die Waage halten:
492 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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8 > > > > > > > > > > > > > > > > > > > < A > > > > > > > > > > > > > > > > > > > :
c Neg. d. Neg zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl }|fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl { b Neg. zfflfflfflffl }|fflfflfflffl { |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} a »Position«
Das Verhältnis c : b harmoniert sowohl mit a als auch mit einem Vielfachen von a : A.
Die für die empiristische Wissensform erforderliche Strukturierung macht eine Bedeutung bestimmt, so dass die Objektebene anfängt, als das, was sie ist, deutlich zu werden. Die Bestimmtheit ist in gleicher Weise nach zwei Seiten hin ausgewogen: nach der Objektebenen- und der Metaebenenbedeutung, und affirmiert sowohl die Position – als die Voraussetzung: »Sein und Nichts sind dasselbe« – wie die mit dieser zusammenhängende, als solche noch unbestimmte Hälfte der Voraussetzung: »Sein und Nichts sind nicht dasselbe«. – Aus dem hier zugrunde gelegten Schema ergibt sich, wie ich meine, als notwendiger Grundzug des empiristischen Wissens, in diesem Punkt nicht eindeutig sein zu können. Bedeutet die Bestimmtheit im Anklingen des Negationscharakters derselben die Objektebene oder, was sich dahinter ankündigt: die höheren Oktaven der Metaebene? Betrifft die Erkenntnis die Ausbildung des Seins der Negation (als noch nicht vollständig) oder betrifft sie die Ebenendifferenz, die diese Bestimmtheit genau aufwiegt? Das lässt sich in dieser Phase der Explikation nicht entscheiden, weil nicht unterscheiden. Worauf bezieht sich die gewonnene Bestimmtheit? Sagt sie etwas über das »Sein«, über die Wirklichkeit, oder ist sie eine Art »Antiwirklichkeit« – wenn man die Negation auf die Objektebene bezieht –, wie der eigenartige Antagonismus von Wissenschaft und Alltagswirklichkeit nahelegt? Ist Objektivität mehr ein Ausdruck für Nicht-Subjektivität, für die außermenschliche Welt: Stoff, Materie – oder für das andere der Materie: Subjektivität, und was wäre Subjektivität als etwas anderes als die objektiven Gegenstände? – Die Konstellation ist durch und durch geprägt vom Merkmal der Ununter493 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
scheidbarkeit. – So kann man also in dieser Konstellation eigentlich noch nicht vom »Auftauchen der Metaebene« sprechen: Das Metaebenen-Objektebenenverhältnis ist vom Objektebenenverhältnis ununterscheidbar; d. h., die erreichte Objektebenendifferenzierung reicht nicht aus als Maß für die kategoriallogische Ebenendifferenz. In dieser Konstellation gilt: »Verbindung qua Reflexion ist verboten.« – Dies kann nur als eine Definition oder die Explikation eines Schemas verstanden werden: Die empiristische Bestimmtheit bedeutet nicht die Verwirklichung ihrer Gesamtvoraussetzung; oder: »Die Bestimmtheit der empiristischen Erkenntnis« und »die Verwirklichung der Gesamtvoraussetzung der empiristischen Erkenntnis« ist eine logisch unmögliche Figur. In keiner Weise besagt dies, dass Reflexion qua korrekte Verbindung von Objekt- und Metaebene eine in der Logik der wissenschaftlichen Wissensgewinnung unmögliche Figur sei. Die Voraussetzung der empiristischen Erkenntnis, wie sie hier dargelegt wird, impliziert Nicht-Reflektiertheit für die empiristische Erkenntnis als Vorschrift dafür, wie man in der Explikation der Voraussetzung weiter vorzugehen hat. Dies sei jetzt näher betrachtet. Zwei Gedanken im Sinne des Schemas führen hier weiter. Wenn der systematische Ort der Explikation von Erkenntnis – als Explikation der Bestimmtheit der Negation von SEIN – die Objektebene ist; und wenn die logischen Implikationen der Objektebene eine Differenzierung fordern, die einen doppelten logischen Ebenenverlust rückgängig macht, derart, dass sie eine Differenz von Objekt- und Metaebene als Werden qua Höherentwicklung einer Differenzstruktur als Nacheinander der logisch differenten Strukturformen »Entstehen« und »Vergehen« verwirklicht, so ergibt sich aus diesem Zusammenhang zwingend, dass eine einzige Art der Objektebenenstrukturierung nicht genügt, um eine »Ebenendifferenz« darzustellen; das Objektebenenverhältnis muss sich grundsätzlich aus zwei Arten von Verhältnissen qua Objektebenenstrukturierung zusammensetzen, die nacheinander abzuwickeln sind, so dass das Verhältnis dieser beiden Arten der Objektebenenstrukturierung eine andere, höhere Bedeutung und somit den Begriff einer Metaebenenbedeutung vermittelt. Außerdem ergibt sich aus dem Grundgedanken, dass alles Ausgedrückte Nicht-SEIN ist, dass die wissenschaftliche Wissensform, wenn sie bei einer Art der Objektebenenstrukturierung bleibt, falsch wird und einer sich immer mehr zusammenziehenden Antinomie anheimfällt: »Werden« als immerwährende Wiederholung eines glei494 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
chen Verhältnisses, das Entstehen des Seins der Negation als Negation bedeutet, wird zunehmend unwahr im Sinne eines systematischen Selbstwiderspruchs, der sich von einer anfänglichen Spannung – wenn: »Sein und Nichts sind nicht dasselbe« in der Verhältnisform der Spaltung fortdauert, so dass die Negation des SEINS affirmiert wird – bis hin zu einer Absurdität steigert, wenn durch ein immer weiteres Fortfahren in der gleichen Art die volle Objektebenenbedeutung – als insgesamt einer Form von Nicht-SEIN, die sich selbst überwinden muss – verdeckt bleibt, obwohl es doch um die Explikation dieser Bedeutung geht. Die Objektebenenstrukturierung kann nicht im Entstehen als der positiven Version des Werdens verharren; denn die Bestätigung der Negation der Wahrheit von SEIN, die die Objektebene in dieser ersten Phase der Strukturierung insgesamt bedeutet, kann nur als Voraussetzung, Vergehen zu realisieren, sinnvoll sein, um die Ebene des Werdens als Negation von SEIN ihrer Wahrheit näherzubringen. Auf den Einwand: »Vergehen« sei eben dadurch verwirklicht, dass wissenschaftliches Wissen zugegebenermaßen nicht alles (Wissbare) bedeute, so dass wissenschaftliches Wissen am Zugeben seiner Begrenztheit vergehe, ist zu erwidern, dass dies nicht genügt, denn: Dieser Vollzug lässt die Form des wissenschaftlichen Wissens unberührt, wo es doch diese Form selbst ist, die um ihrer eigenen Wahrheit willen einer Ergänzung durch eine Form bedarf – die mithin als eine Form der Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Wissens ausgezeichnet sein muss –, die die erste Form aufzuheben und deren Wahrheit durch vermehrte Annäherung an das SEIN – so dass diese Annäherung als Annäherung der ersten Form erkennbar ist – zu bestätigen vermag. Die Theorie der Negation besagt: Um die Vermittlung der gesuchten höheren Bestimmtheit zu erreichen, muss die Objektebenenstrukturierung mehr Negation repräsentieren. Das Negationsmaß der Objektebenenstrukturierung, welches das »Reflexionsverbot« als für empiristische Erkenntnis unbedingt erforderlich aufstellt, muss überboten werden. Das geht nicht nahtlos, auf derselben Voraussetzung fortfahrend; denn ein einfaches »mehr« an Negation würde die gewonnene Bestimmtheit destruieren – Wissenschaft würde einfach aufhören – und also nicht mehr Negation als positiv die Form einer höheren, SEINS-näheren Bestimmtheit verwirklichen. So ist die Explikation einer Objektebenenstrukturierung, die, als die höhere Form der bisher erreichten Objektebenenstrukturierung, mehr Negation 495 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
repräsentiert, nur als ein Methodenwechsel möglich, d. h. als Veränderung der bisherigen Voraussetzung der Explikation der Bestimmtheit. Die Aufhebung des Reflexionsverbotes im Sinne der Freigabe der Verwirklichung der Gesamtvoraussetzung der wissenschaftlichen Objektebenenstrukturierung ist möglich als eine Weiterentwicklung der erreichten Verhältnisform, so dass eine zweite Verhältnisform – nicht die Bestimmtheit von Negation auf der Grundlage der Position des Seins der Negation, sondern – auf der Grundlage der Position des Nichtseins der Negation, die Bestimmtheit der Negation als Negation vermittelt. Wie ist nun die Voraussetzung im Sinne dieser zweiten Position näher zu denken? Die Freigabe der Verwirklichung der Gesamtvoraussetzung der empiristischen Wissensform ist möglich als eine Veränderung der Form der Gesamtvoraussetzung, unter Anwendung des durch die empiristische Objektebenenstrukturierung Gewonnenen in Richtung auf Repräsentation von mehr Negation. – Wie geschieht die erste Voraussetzung als der für die Strukturierung der empiristischen Erfahrung: Negation und Negation der Negation, unmittelbar vorauszusetzenden Position? Eine Position, die »das Sein der Negation (als Negation)« bedeutet, ist nur so zu denken, dass mehr zugrunde gelegt wird, als vermittelt wird: das Verhältnis von »Negation der Negation« zu »Negation« ist »nicht so groß« wie das im Sinne der Position vorausgesetzte Verhältnis (es bedeutet noch keine angemessene Differenzierung desselben): Die Strecke »a«, die das »Sein der Negation« darstellt, ist nicht vollständig vermittelt; die Strecke »c«, die das Verhältnis im Sinne der Negation der Negation darstellt, ist »die Hälfte« der als Position zugrunde gelegten Bestimmtheit – und diese wiederum die Hälfte der Gesamtvoraussetzung erster Ordnung. – Das »Sein von Nichts« bedeutet: nicht vermitteltes Nichts; die Vermittlung der gesamten Strecke bedeutet »Reflexion«, d. h., die Verwirklichung einer Struktur »Negation der Negation« von diesem Ausmaß würde der Anforderung der Gesamtvoraussetzung erster Ordnung entsprechen. Bisher konnten »Sein« und »Nichts« nicht unterschieden werden, denn nicht vermitteltes Sein (der Negation) war die Grundlage des Nichts (der Bestimmtheit der Negation). Die Operation, die die Position in der geforderten Weise als Voraussetzung der weiteren Explikation im Sinne der Strukturmomente Negation und Negation der 496 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Negation verändert, ist so zu denken, dass der Bezugspunkt der vermittelten Bedeutung schrittweise auf dasjenige verlegt wird, was im Sinne der bisher entwickelten Bedeutung: Nichts, d. h. Negation ist. Nur so gelangt man zu einer höheren Strukturierung, die mehr Negation repräsentiert.
Neg. d. Neg. d. Neg. zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl}|fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{ Neg. d. Neg. zfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl}|fflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{ Neg. zfflfflffl}|fflfflffl{ |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} erste Position |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} zweite Position (1) |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} zweite Position (2) |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} zweite Position (3)
Deutlich ist, dass die zweite Position nur als Weiterentwicklung der zuerst vorgenommenen, empiristischen Objektebenenstrukturierung denkbar ist, so dass diese für eine Vermittlung im Sinne der zweiten Position notwendig ist: Die zweite Position entsteht als Beziehung der auf die erste Position bezogenen Bedeutung auf die zweite, noch nicht verwirklichte Hälfte der VORAUSSETZUNG erster Ordnung, so dass sie nicht wie die erste verwirklicht wird, sondern, unter Beachtung der Bedingung des Reflexionsverbots, als Nichtsein, indem eine im Sinne der ersten Position vorausgesetzte Bedeutung als nicht verwirklicht verwirklicht wird: Man denke an die Strukturmomente der »levels«, die (Entwicklung der zweiten Position als Voraussetzung der Vermittlung einer Bestimmtheit: Negation als Negation) nicht klassisch, sondern primärtherapeutisch, nämlich in der Form der Erinnerung und »als nicht
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
in der für sie vorauszusetzenden Form verwirklicht« verwirklicht werden. Wenn auf diese Weise eine Strukturierung im Sinne der Negation der Negation erreicht ist, die um ein charakteristisches Maß größer ist als die Negation der Negation der empiristischen Strukturierung, so dass sie quantitativ-qualitativ der ersten Position entspricht, so hat die vermittelte Bestimmtheit die ausdrückliche Bedeutung des Seins einer Negation als Negation. – Das in der empiristischen Wissensform im Ganzen zum Ausdruck gebrachte Problem ist: Wie ist das Sein einer Negation als Negation möglich? Die empiristische Wissensform löst dieses Problem durch Teilung: Einerseits wird eine Bestimmtheit verwirklicht, andererseits ist der Status dieser Bestimmtheit stets in Frage gestellt. Ein Weitergehen in der Lösung erfordert ein verändertes Aufgreifen des Problems: »Sein«: vermittelte Bestimmtheit, ist eine nicht zu Ende vermittelte Negation; »Nichtsein von Sein« bedeutet dann keine unmögliche Forderung, wenn dies – indem »Sein« stets »Negation von SEIN« bedeutet – als die Forderung verstanden wird, das »Sein der Negation« als Voraussetzung der Explikation des Nichtseins der Negation (als eine Veränderung ihrer Weise zu sein) anzuwenden und also die begonnene Strukturierung weiterzuführen, um eine vermittelte Bestimmtheit als Negation zu repräsentieren. So entsteht in einer Weiterführung der bisher erreichten Objektebenenstrukturierung eine Bestimmtheit in der Form des Vergehens der zuvor vermittelten Bestimmtheit, indem diese jetzt in einer neuen Bedeutung genommen wird, nämlich in Bezug auf ihre frühere Voraussetzung (erste Position) als nicht-seiend (zweite Position). Die neue Bedeutung tritt nur als vermittelte, als Aufhebung der Position der alten, auf: Sie bedeutet das Nichtsein des Seins der alten Bedeutung, also Negation als Negation. Indem sich aber das Sein der Bestimmtheit, die Negation ist, und das Nichtsein der Bestimmtheit: Negation als Negation, im Sinne zweier Stufen der Strukturierung unterscheiden, erweisen sie sich als dasselbe: als Weisen, wie Negation, die sich als Negation bestimmt, ist, so dass die neue Weise, wie sich Negation als Negation bestimmt (»zu Grunde negiert«), das Sein von Negation als Negation in einer neuen Bedeutung zeigt: als Negation von SEIN. So erfüllt die weitere Explikation die logische Form des empiristischen Wissens, derart, dass sie deren Implikation des doppelten logischen Bruches
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
durch zwei Gegenumkehrungen: den Methodenwechsel und den Kategorienwechsel, aufwiegt. 2.2.1.2. Deutung der Rahmentheorie durch das Schemas der »Schwingung« als einem speziellen, wissenschaftlichen Grundlagenkonzept Der Sinn der Deutung der primärtherapeutischen Erfahrung durch den dialektischen Begriff der Vermittlung sowie der Deutung des Zusammenhangs von empiristischer und primärtherapeutischer Erfahrung durch die spekulative Erkenntnistheorie, die »Theorie der Negation«, besteht darin, das Gegebene: die derzeit verwirklichten Verhältnisse, zu begreifen, und zwar als ihrem logischen Wesen nach eine Aufforderung zum Weitergehen in der Verwirklichung, und zwar im Sinne der Höherentwicklung. Der Nutzen der Deutung liegt darin, dass sie ein Mittel ist, eine Richtung für die Weiterentwicklung zu gewinnen, indem diese Richtung im Sinne der Höherentwicklung die Weise ist, das Gegebene in einer umfassenderen Perspektive wahrzunehmen, so dass es gerade dieses Gegebene ist – die derzeit verwirklichte Form der Praxis, von deren Wert und Wahrheitsgemäßheit man ja bis zu einem gewissen Grad überzeugt sein muss, um sie auszuüben –, das, indem man es verlässt, dem, worauf hin man es verlässt, seine Glaubwürdigkeit mitteilt. Die Kraft der Deutung hängt davon ab, wie weit man sich auf das Experiment des neuen Standpunkts einzulassen gewillt ist; denn man kann eine neue Sicht, mit der Begründung, sie eigne sich als eine Rahmentheorie der derzeit verwirklichten Form der wissenschaftlichen Praxis – und diese wieder aufgefasst als ein charakteristisches Moment der derzeit verwirklichten Form der Lebenspraxis –, doch nur interessant und sinnvoll finden, wenn man sich für eine Rahmentheorie interessiert, d. h., dass man sie für erforderlich hält. Das Verstehen des logischen Gehaltes der Primärtherapie als, in voller Konsequenz, eine Veränderung des Verständnisses der wissenschaftlichen Methode erfordert zunächst das Vertrautwerden mit der neuen Perspektive einer umfassender verstandenen wissenschaftlichen Methode, um schließlich deutlicher sehen zu können, was die Primal hypothesis als eine einzelwissenschaftliche Hypothese besagen kann. Der Ansatzpunkt im Verstehen der Essenz der wissenschaftlichen Methode ist, dass diese Essenz oder logische Qualität nur als 499 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
das, was sie ist, erfasst werden kann, wenn sie als etwas, wozu der einzelne Mensch Zugang hat, erfasst wird, derart, dass dieser Zugang für die menschliche Bestimmtheit spezifisch ist. Diese Essenz oder logische Qualität ist nichts im bekannten Sinne: weder ist sie Sinneserfahrung noch logisches Denken in dem Sinne, in dem diese Ausdrücke etwas bezeichnen, auf das eine empiristische Wissenschaftstheorie Bezug nimmt – und viel weniger noch in dem Sinn, in dem etwa einzelwissenschaftliche Disziplinen auf diese Ausdrücke Bezug nehmen. Dennoch lässt sich, wie die Janovschen Äußerungen zeigen, das Neue nicht ausdrücken, es sei denn in den alten Begriffen: weil diese bis zu einem gewissen Grade zutreffend sind. Das Neue ist weder eine Art von empirischem Datum noch Logik im Sinne einer klassischen Explikation; es ist eine durch Vermittlung entstandene, neue Art von »Empirie mit Metastatus«; d. h., es bedeutet die Eröffnung einer neuen Ebene, so dass die Bezeichnungen für Erfahrung und Denken aufgrund eines Prozesses ihrer Vermittlung einander näher gekommen sind und sich dabei verwandelt haben; eine zunächst nicht-empirische Bedeutung, an die eine empirische Bedeutung ihr Sein im Zuge einer Veränderung abgegeben hat. Wenn gesagt wird: Der neue Gegenstand ist: »Bewusstsein«, oder genauer: eine Form der Explikation von Bestimmtheit, die Bewusstsein bedeutet; und wenn weiter gesagt wird: Diese Form und die Veränderung der Bestimmtheit, die Bewusstsein genannt wird, ist ein DATUM der inneren Erfahrung, ist der inneren Erfahrung direkt zugänglich – ab einem bestimmten Punkt der inneren Erfahrung –; so ist also das Missverständnis abzuwehren, der Ansatz bedeute, in einem empiristischen Sinn »Bewusstseinszustände« zu analysieren und das Betreiben von Wissenschaft auf diese zurückzuführen. Der neue Gegenstand ist zu verstehen wie dialektisches Denken – welches, umgekehrt, hier so interpretiert wird: sein eigentliches Metier sei die Explikation der »Bewusstsein« zu nennenden Erkenntnisform: Wissen als Negation von WISSEN, also Wissen in der Form des Wissens durch Erfahrung –, welches charakteristischerweise zweifach anhebt: Es hebt an, bevor es anhebt, so dass, wenn es anhebt, klar ist, dass es schon zuvor angefangen hat. Gewiss ist vom hier vertretenen Standpunkt aus objektives Wissen – die Gegenstände der objektiven Erfahrung – »eigentlich ein Ausdruck von Bewusstsein«; aber der Sinn, in dem dies als gültig ausgesagt wird, ist vom Standpunkt der empiristischen Erkenntnis aus nicht sichtbar; er wird erst sichtbar, wenn durch Veränderung 500 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
der empiristischen Erkenntnisform eine Einführung in die neue Bedeutung von »Bewusstsein« erfolgt ist. – Um also die gröbsten Missverständnisse abzuwenden, kann nicht oft genug betont werden, dass man, um die neue Bedeutung zu verstehen, den alten Standpunkt verlassen muss, im Vertrauen darauf, ihn später, von einem neuen Standpunkt aus, wiederzufinden. Die jetzige Darstellung geht vom Gegebensein der Form von Bestimmtheit, die Bewusstsein bedeutet, aus, wie in den vorangegangenen Abschnitten vom Gegebensein des dialektischen Denkens ausgegangen wurde. Die Explikation der grundsätzlichen Merkmale der Explikationsform »Bewusstsein« soll dann nachträglich verständlich machen, inwiefern die klassisch-wissenschaftliche Methode eine Form der Explikationsform »Bewusstsein« ist. Dazu werden die logischen Charakteristika dieser Explikationsform durch Begriffe interpretiert, die deren besonderen Qualität von »realempirischer Wirklichkeit« Rechnung tragen, so dass diese Explikationsform in ihrem Status als »forschungslogische Praxis«: eine die Forschungspraxis fundierende Praxis, deutlich wird. Zunächst sei allgemein dargestellt, wie der Gegenstand, der als Verwirklichung von dialektischem Denken gedacht wird, den logischen Implikationen des Begriffs der Schwingung genügt. So sei im Folgenden erläutert, wie sich das Schema einer Schwingung als eine Verwirklichung des Grundschemas des dialektischen Denkens auffassen lässt. NEGATION ++
Neg.
a
b
Neg. d. Neg.
A
Neg. c
Neg. d d. Neg.
-NEGATION D. NEGATION
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
»Eine Schwingung« legt Einheit, Identität dar im Sinne der Differenzierung eines Selben. An einem Punkt beginnend, fährt die Darlegung fort, bis, bezogen auf die unbekannte Voraussetzung: die anfangs noch unbestimmte Bestimmtheit dessen, was dargestellt wird, ein charakteristisches Verhältnis ›a‹ erreicht ist. Dieses Verhältnis genügt aber den Anforderungen des Darzustellenden nicht; das Fortfahren muss sich verändern; so stellt es dasselbe in einer Weise dar, die als veränderte der ersten Darstellungsphase doch so ähnlich ist, dass beide Phasen »dasselbe« explizieren. So bedeutet das Zustandekommen der Linie ›a‹ : »Sein« – das erste Strukturmoment: »Negation« –; am Punkt der Vollendung der Linie ›a‹ : »Sein und Nichts«, also ›b‹ – das zweite Strukturmoment: »Negation der Negation« –, und als Ergebnis des Fortfahrens im Sinne von ›a‹ und ›b‹ : »Sein und Nichts sind dasselbe.« Jedoch beruhigt sich das, was zu dieser Darstellung den Anlass gibt, dabei noch nicht; die Darstellung entspricht noch nicht der auszudrückenden Sache; also muss die Darstellung fortfahren, und zwar in einer neuen Weise: Dasselbe muss auf eine Weise expliziert werden, wie es bisher noch nicht geschah und wie es doch der Forderung, dasselbe fortfahrend darzulegen, genügt: »Sein und Nichts sind, indem sie nicht dasselbe sind, dasselbe«. So entsteht zunächst ›c‹, derart, dass die Darstellung stärker als bisher das Fortfahren in nicht derselben Weise zum Ausdruck bringt: Die darzustellende Sache zeigt hier das stärkste, für sie charakteristische Differenzverhältnis. Indem jedoch auch diese Maßnahme des Fortfahrens im Sinne von ›c‹ allein nicht genug besagt, so dass ihre Bedeutung doppelt, also ebenfalls durch ein verändertes und doch als gleichwertig erkennbares Fortfahren dargelegt werden muss – im Sinne der Strukturmomente Negation und Negation der Negation –, kommt es im Sinne der Maßnahme ›d‹ zu dem Ergebnis, dass die differente Weise des Fortfahrens (›c – a‹) als in differenter Weise eigentlich dieselbe Weise des Fortfahrens vollziehend erwiesen wird, so dass eine (im Sinne der hier explizierten Definition) vollständige Auslegung einer vorauszusetzenden, nicht-dargestellten Bedeutung erreicht ist, die in der vermittelst der Durchführung entstandenen Strecke ›A‹ ihren Begriff – als die Repräsentation ihrer Bestimmtheit – findet. Für diese einfachste Interpretation des Schwingungsschemas im Sinne der Grundform des dialektischen Denkens gilt – wie für die erste Einführung der dialektischen Zusammenhangsform als »ein Verhältnis, das ein Verhältnis bedeutet« –, dass sie nur eine Voraus502 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
setzung für eine weitere Interpretation sein kann, die dieses Explikationsschema an seinen richtigen Ort bringt: Was sollte man mit »einer Schwingung« anfangen; was kann es bedeuten, den Gegenstand der Weiterentwicklung klassisch-erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis im Sinne der primärtherapeutischen Erkenntnis als »eine Schwingung« zu begreifen? – Die folgende Überlegung soll den spezifischen Ansatzpunkt für die hier intendierte Anwendung des Schwingungsschemas kenntlich machen. Dialektisches Denken ist die Denkform der Wahl, wenn es eine Voraussetzung, einen Gegenstand von der Art von »Bewusstsein« auszudrücken gilt. Umgekehrt ist dialektisches Denken an seinem Platz und hebt eigentlich erst an, wenn die Darstellung einer reflektierten Kohärenz erforderlich ist. So soll das Schema der Schwingung angewendet werden, um Bewusstsein, und zwar als Anheben der Fähigkeit zu Fühlen, mit einem Grundbegriff naturwissenschaftlicher Theorien zu interpretieren und diesen dadurch rückwirkend in einer veränderten Perspektive zu zeigen. Der erste, weiterführende Gesichtspunkt im Hinblick auf die intendierte, spezielle Anwendung des Schwingungsschemas ist die Interpretation einer Schwingung als »Ausdruck des Zusammenwirkens von zweien.« Der Unterschied der Sicht: »Es ist eine Schwingung« und: »Es ist eine Schwingung als Ausdruck des Zusammenwirkens von zweien«, wiederholt den Unterschied der Darstellung einer Sache durch ein Verhältnis – wie kompliziert auch immer –, welches ohne weiteres die Sache bedeutet, und der Darstellung einer Sache, die sich besondere Umstände macht, indem sie die Sache durch zwei charakteristisch differente Weisen, von einer intendierten Bedeutung abzuweichen – im Sinne der Ausführungsphasen Negation und Negation der Negation – darstellt, was den Sinn hat, die dargestellte Sache selbst: den Begriff der Sache, als nicht die SACHE SELBST, sondern lediglich eine Negation, eine Abweichung von ihr, die als nicht sie selbst diese bedeutet, kenntlich zu machen. Der Unterschied einer normalen Darstellung, so dass eine gewisse Struktur die Sache bedeutet, und einer Darstellung von der besonderen Art der Vermittlung liegt in einer Veränderung der Bedeutung des Darstellens selbst, derart, dass die Form der Darstellung zum Ausdruck bringt, dass das durch das Mittel der Darstellung erreichte Ziel selbst nur Mittel ist. Darstellung als Vermittlung bedeutet eine gänzlich veränderte Situation; sie besagt: Was man überhaupt begrei503 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
fen kann, ist nicht die Sache, sondern das Mittel, die Methode des Begreifens der Sache. Wenn man das begreift, begreift man etwas von der Sache. So verhält es sich mit der dialektischen Interpretation der Schwingung als einem Ausdruck des Zusammenwirkens von zweien: Die umständliche Art der Interpretation einer als Strecke abgebildeten Bedeutung durch zwei differente Weisen, je eine doppelte Abweichung zu vollziehen und rückgängig zu machen, ist sinnvoll, weil es die einzig denkbare Art ist zu zeigen, dass die als Strecke abgebildete Bedeutung nicht als sie selbst, sondern im Hinblick auf etwas anderes genommen werden soll. – Die erste Interpretation dieses anderen, in Bezug worauf sie gedeutet werden soll, ist: Die im Modus der Vermittlung dargestellte Bestimmtheit soll das Zusammenwirken von zweien, die nicht in die Erscheinung treten, zum Ausdruck bringen: Die Strecke ›A‹ kommt zustande als der Mittelwert einer Verwirklichung, derart, dass zwei differente Möglichkeiten der Verwirklichung als differente in gleicher Weise wirksam sind. Die Figur der Schwingung legt die Bedeutung der Strecke ›A‹ dar und zeigt, dass diese nicht eine einfache Identität, sondern eine Verbindung zweier Formen von Verwirklichung – zweier Bewegungsrichtungen – darstellt, deren Differenz in der Weise Rechnung getragen wird, dass die Verwirklichung zuerst mehr im Sinne der einen, diese bejahend und verneinend, sodann mehr im Sinne der anderen, diese bejahend und verneinend, durchgeführt wird, so dass die Form der Durchführung, obwohl beide Verwirklichungsformen gleich stark vertreten sind und einander die Waage halten, so dass sie also verbunden sind, anzeigt, dass sie überwiegend getrennt auftreten – obwohl dieses überwiegende Getrenntsein auch wieder als Form des überwiegenden Verbundenseins gedeutet werden kann. Bis zu welchem Grad von Detailliertheit die eben angedeutete Analyse auch fortgeführt werden mag: der springende Punkt der dialektischen Interpretation des Schwingungsschemas ist, weitere Veränderungen von Bezugspunkten als Veränderungen der Weichenstellungen des Verständnisses, worum es bei der ganzen Sache geht, auszulösen: Wenn eine Verwirklichung im Sinne des Schwingungsschemas eine unbestimmt vorausgesetzte Bedeutung ›A‹ als: Verwirklichung der Form von ›A‹ oder der Form ›B‹ darstellt, so erheben sich weitere Fragen: Wie ist ›A‹ bzw. die Schwingung selbst zu denken? Ist sie von der Art von ›A‹ oder ›B‹ ? – Doch wohl weder von der Art von ›A‹ noch von ›B‹, sondern von einer dritten Art, die mit ›A‹ 504 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
und mit ›B‹ verwandt ist, so dass sie beide zum Ausdruck zu bringen vermag. Wie aber ist dann diese dritte Art zu denken? – Dieser Anlauf, Schwingung als Ausdruck des Zusammenwirkens von zweien zu verstehen, führt in Schwierigkeiten, die sich an diesem Punkt der Entwicklung des Schwingungskonzeptes nicht lösen lassen. Wenn die Vermittlung weitergeht und die zwei Verwirklichungsformen als differente ausführt, so dass sie, im Sinne der Aufhebung der einen Art in der andern, beide als ihrem Wesen nach eins erweist, verändert Vermittlung ihren Sinn: Sie ist nicht mehr das Mittel mit dem Ziel der Darstellung von »zwei«; vielmehr erweist sich die Voraussetzung nicht als das darzustellende andere – die vorauszusetzenden zwei, die nicht in die Erscheinung treten –, sondern als selbst von der Art des Mittels zu dem Zwecke, Vermittlung als Vermittlung darzustellen, so dass drei wieder zwei und, indem die zwei wieder eins, zwei ganz neue sind: Vermittlung als Vermittlung – DER SACHE SELBST. Dialektisches Denken und Begreifen des Erkenntnisgegenstandes: Sich-seiner-selbst-bewusst-sein, nach dem Schema der Schwingung ist sinnvoll als Verwirklichung eines Kategorienwechsels. Dies aber muss noch ausführlicher erläutert werden. Ein zweiter Gesichtspunkt muss herangezogen werden, um in der Interpretation des Schwingungsschemas im Sinne der Darstellung von Vermittlung als Vermittlung weiterzukommen. Die bisherige Interpretation einer Schwingung als »Ausdruck des Zusammenwirkens von zweien« genügt noch nicht; sie führt zu dem Ergebnis, dass in der Interpretation noch einmal neu angesetzt werden muss: Das, was im Hinblick auf die in der Form der Schwingung dargestellte Bedeutung vorausgesetzt werden muss, ist mindestens eine Schwingungsdualität. Eine Bewegung, die eine Dualität zum Ausdruck bringen soll, muss selbst als das Ergebnis des Zusammenwirkens einer Dualität gedacht werden. Erst auf dieser Grundlage kommt die Interpretation »ins Laufen«. Diesem Neuansetzen entspricht die bei der Einführung des dialektischen Denkens zu machende Angabe, dass das Anheben des dialektischen Denkens impliziert, eine Wende der bisher entwickelten Darstellungsform, also höchst voraussetzungsreich zu sein und keineswegs eine Explikation der Verhältnisse ab ovo. Das Anheben des dialektischen Denkens bedeutet, von den Ergebnissen der bisherigen Entwicklung der Verhältnisse Gebrauch zu machen, so dass es zu einer qualitativen Weiterentwicklung kommt. 505 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Das Anheben der dialektischen Interpretation der Verhältnisse des Wirklichen impliziert einen neuen Standpunkt, von dem aus die bisherige Entfaltung der Verhältnisse als eine Form der dialektischen Vermittlung aufgefasst wird, der man diese Form nicht ansieht. Der neue Standpunkt besagt: Das, was expliziert wird, ist dualen Wesens; das, was expliziert wird, ist der Ausdruck, dass Explizieren selbst ein Arbeiten als Dualität bedeutet. – So anzusetzen verlagert den Akzent der explizierten Bedeutung auf die Bedeutung des Explizierens. Es wird nicht gefragt: Wo ist die explizierte Dualität außerhalb des Explizierens; was mögen diese zwei Gegenstände und wie mögen sie beschaffen sein?, sondern: Was immer diese dual differenzierten Bestimmtheiten, deren Wirksamkeit in der explizierten Bewegung zum Ausdruck kommt, von einem anderen Standpunkt aus gesehen sein mögen; vom hier verwirklichten Standpunkt aus sind sie auf alle Fälle der Ausdruck der dualen Fähigkeit der ausdrückenden Bestimmtheit: Diese ist es, die zweifellos zwei Möglichkeiten der Verwirklichung impliziert und also primär als eine Verbindung beider Qualitäten gedacht werden muss. Und es ist diese Bestimmtheit der primären Verbindung zweier Qualitäten, die, indem: »primäre Verbindung von zweien« nur besagen kann: »Identität von Differentem, das als Differentes identisch ist«, grundsätzlich als die Form: »Darlegung von Differentem als Differentem und als Differentem Identischem« definiert sein muss. Die spezifische Form einer solchen Bestimmtheit – und mit einem Interesse an einer solchen Bestimmtheit hebt dialektisches Denken an – lässt sich nach dem Schema der Schwingung abbilden, wenn man dieses Schema, etwas komplizierter, um den Begriff der polarisierten Schwingung erweitert auffasst. Die Bewegung der Schwingung als Ausdruck einer polarisierten Schwingung bedeutet: Die manifeste Schwingung ergibt sich als Resultat der Verbindung zweier differenter Schwingungsformen. Die polarisierte Schwingung ist der Ausdruck zweier Schwingungen, die, als differente, im Resultat nicht gleich repräsentiert sind. »Polarisiert« heißt: In der resultierenden Schwingungsform kommt das Moment der einen Schwingungsform mehr zum Ausdruck als das der anderen Schwingungsform. Wenn nun, im Sinne der hier interessierenden Bestimmtheit, eine Schwingungsform angenommen werden muss, derart, dass der Umstand des Resultatseins der Momente zweier Schwingungsformen als solcher dargestellt wird, so ist also eine ganze Schwingung so zu denken, dass zuerst das Moment der einen 506 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Schwingungsform überwiegend zum Ausdruck gebracht wird, während das andere Moment nur verdeckt beteiligt, also nur schwach und nicht als solches ausgedrückt ist; und dass sodann das Moment der anderen Schwingungsform die Form der resultierenden Bewegung überwiegend bestimmt, während dabei das Moment der ersten Form nicht ausgeprägt erscheint. Der Begriff des »Überwiegens« je einer Schwingungsform in der resultierenden Schwingung ist notwendig, um anzuzeigen, dass diese stets der Ausdruck der Verbindung zweier Schwingungsformen ist. Mit einer solchen Deutung lässt sich mehr anfangen. Zunächst ergibt sich daraus die Möglichkeit einer Vervollständigung des Interpretationsschemas, wie es bisher besprochen wurde, so dass die Schwingungsbewegung am bisherigen Schlusspunkt fortgesetzt wird, um die ganz andere Qualität, die in der bisherigen Form nur implizit, nicht als solche, zum Ausdruck gelangte, zum Zuge kommen zu lassen. Die Schwingung, die an ihrem bisherigen Schlusspunkt noch nicht ihre vollständige Ausprägung erreicht hat, muss eine Form finden, noch stärker als bisher anders fortzufahren als die Form der Fortsetzung ihrer bisherigen Art fortzufahren. Diese Forderung ist erfüllt in einer dritten Bewegungsphase als der Umkehrung der zwei bisherigen Phasen, die also das Ganze des bisherigen, zweifach gegliederten Verlaufs neu darstellt (vgl. S. 508). Die Form dieser Schwingung entspricht der Form der Vermittlung einer Dualität im Sinne der empiristischen Erkenntnisform. Sie lässt sich, etwa nach der Kantschen Formel, interpretieren: Die zweifach (im Sinne der Phasen: Negation und Negation der Negation) strukturierte Phase der Sinnlichkeit erlangt durch die von beiden differente und doch auf sie bezogene Phase der Verstandeskategorien insgesamt die Qualität der Bestimmtheit der Gegenstände der Erfahrung; oder, mehr auf das psychologische Erkenntnisinteresse akzentuiert: Die im Hinblick auf die Bestimmtheit der wissenschaftlichen Erkenntnis selektiv verwirklichten Phasen empirischer Subjektivität: psychische und physische Sinnkomponenten, gewinnen im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie die Bestimmtheit: »objektive Subjektivität«. Wenn die dritte Phase auch die Einheit der ersten und zweiten Phase als eine Dualität zum Ausdruck bringt – indem sie als etwas von der ersten und zweiten Phase Abgehobenes das ist, was diese zusammen sind, so wird Dualität in dieser Form doch noch nicht so
507 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung EBENENNEGATION 1
3
»psychisch«
»physisch«
3
2
Neg. d. Neg. d. Neg.
Negation d. Neg. DIFFERENZ
vollständig dargelegt, wie es der Begriff der Vermittlung einer Dualität verlangt. So muss noch einmal angesetzt werden, um die Darstellungsmöglichkeit einer polarisierten Schwingung auszuschöpfen. Dies ist die Explikation der primärtherapeutischen Bestimmtheit: Die primärtherapeutische Explikation beginnt mit der dritten Phase: Fühlen, als die veränderte Verwirklichung einer zuvor verwirklichten ersten und zweiten Phase, derart, dass diese rückwirkende Verwirklichung, da sie ja eine Verwirklichung von einem neuen Standpunkt aus bedeutet, der aus dem von der jetzigen Verwirklichungsphase her als geschehen nur Vorausgesetzten entstanden ist, diese Voraussetzung in einer entwickelteren Form, nämlich unter dem Gesichtspunkt der damals nicht ausgeprägten Polarität verwirklicht; und dies bedeutet eine Form der Explikation, derart, dass die Phasen des Überwiegens der geringeren Polarität vom Standpunkt des Überwiegens der höheren Polarität her verwirklicht wird, so dass also die Phase des Überwiegens der einen Verwirklichungsform nur in der Form des Überwundenseins derselben: in der Form des Überwiegens der anderen Verwirklichungsform, verwirklicht wird, welche 508 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen PSY-
4
1
3
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FÜ
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Fü
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sisch befriedigung 3
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CHISCH
sich damit als die stärkere Form erweist, die die schwächere in sich aufzunehmen vermag. 17 – Die gepunktete Linie zeigt an, wie die im Sinne der Verwirklichung der dritten Phase rückwirkend verwirklichte zweite und erste Phase in veränderter Form: nämlich als Ausdruck eigentlich der höheren Verwirklichungsform – und damit nur in der Form der Voraussetzung der vierten Schwingungsphase –, verwirklicht wird. Die primärtherapeutische – dialektische – Form der Explikation »einer Schwingung« zeigt wesentlich zwei differente Verfassungen des nach dem Schwingungsschema erfassten Gegenstandes: die Schwingung in der Form der Schwingungsform der Bedürfnisbefriedigung und in der Form von FÜHLEN, vermittelt durch die die erste Schwingungsform vollendende, dritte Schwingungsphase des Füh-
Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass die Abbildung nicht eine normale Schwingung darstellt. Mit der Linie (4) als einer »höheren Schwingungsform« ist keine kürzer frequentige gemeint – Linie (4) hat ja lediglich eine größere Amplitude –, sondern eine schematisch veranschaulichte, ihrer logischen Qualität nach »höhere Schwingung«.
17
509 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
lens. Fühlen zeigt Bedürfnisbefriedigung als eine Form des FÜHLENS: als die höhere Schwingungsform, in der Form von BedürfnisBefriedigung-Fühlen: der niedrigeren Schwingungsform; während FÜHLEN die höhere Schwingungsform in der Form der höheren Schwingungsform ausführt, was jedoch ihr Zustandegkommensein durch die niedrigere Schwingungsform impliziert, so dass diese als niedrigere Form der höheren erhalten und in der höheren aufgehoben bleibt. Damit sind zwei mal zwei Verfassungen der einen Schwingung zu unterscheiden: Einmal: Das Werden der Schwingung in der Form von Bedürfnis-Befriedigung-Fühlen – was die Phase der BedürfnisBefriedigung voraussetzt – qua Vergehen ihrer alten Bedeutung in der Erlangung der FÄHIGKEIT ZU FÜHLEN; und das bedeutet sodann zwei neue Verfassungen der Schwingung: Die neue Schwingungsform als Vollendung der alten: die Schwingungsform der Bedürfnisbefriedigung im Sinne der Schwingungsform FÜHLEN – als die Fähigkeit, auf die Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung adäquat einzugehen –; UND FÜHLEN ALS ETWAS GANZ NEUES, indem, nachdem das Ziel der bisherigen Bewegung: die Herstellung einer »Vermittlung« zu nennenden Bewegungsform, erreicht ist, das Vermitteln als Ganzes Mittel der Beziehung zur Metabedeutung eines Unmittelbaren wird, so dass sich Vermittlung als Vermittlung verwirklicht. Dieser springende Punkt: Das Verständnis des Kategorienwechsels als »Umpolarisierung einer polarisierten Schwingung«, soll nun noch näher betrachtet werden. Die zwei Verfassungen der einen Schwingung ermöglichen ein weiterführendes Verstehen der Bedingungen der Möglichkeit erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis. – Der Gegenstand der Betrachtung ist: Die Darstellung der Schwingung im Verhältnis zu dem in dieser Form Dargestellten. Am Anfangspunkt der Darstellung besagt dies: Verwirklichung – als Anfang einer Bestimmtheit, einer konkreten Form der Linie – einer Möglichkeit, einer jetzt noch abstrakten, nicht näher angebbaren Voraussetzung. »Verwirklichung« besagt: »Bewegung«: das Entstehen der konkreten Linie. Bewegung besagt: »Bestimmtheit«; erstens, räumlich, indem sich das Wie der Bewegung als Abweichungen vom Nullpunkt eines Koordinatensystems: als eine Reihe von diskreten horizontalen und vertikalen Abweichungswerten angeben lässt; und, zweitens, zeitlich: in der Form des Werdens, derart, dass angegeben wird, welche Reihe von Raum-Wer510 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
ten als »eine Einheit« oder »ein Zusammenhang des Fortfahrens« betrachtet werden soll: Raumwerte als Abweichungen vom Nullpunkt links oben
rechts oben
-+
++
A
--
+-
links unten
rechts unten
»Eine Bewegung« als Einheit zweier Reihen von Abweichungswerten, die als »zwei Qualitäten« von Abweichungen zusammengefasst sind. Die Bewegung im Sinne des Schemas bedeutet nicht eine Verwirklichung in der Zeit; sie bedeutet das Werden einer Zeitform als eine Stufe zeitlich bestimmter Bestimmtheiten: Eine charakteristische Ausprägung einer werdenden Bestimmtheit ist als »eine Einheit« verwirklicht und somit konkrete Voraussetzung für das Zustandekommen der Verwirklichung einer weiteren Stufe von Einheit, was insgesamt der Figur einer werdenden Bestimmtheit entspricht; eine bereits verwirklichte Einheitsform muss als Möglichkeit der Verwirklichung einer Stufe des Erfassens von Einheit vorausgesetzt werden – das gilt auch für das Erfassen von Einheiten im Sinne der quantitativen Zeitform. Je nachdem, wie die Schwingung ausgeführt wird, mit »weniger Zeit« oder »mehr Zeit«: wie viele Phasen »eine Einheit bedeuten«, entsteht ein »kleinerer« oder »größerer« Gegenstand. »Weniger Zeit« bedeutet eine geringere Einheitsform, die nur einen Teil der insgesamt zu verwirklichen möglichen Einheitsverfassung verwirk511 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
licht. So stellt sich anfangs die im Mittelpunkt ›A‹ angedeutete zu verwirklichende Möglichkeit – die zu vermittelnde Bedeutung – mehr als die Strecke ›A‹ dar – und der Rest der zu verwirklichenden Möglichkeit bleibt offen: die große Schwingung, die jetzt noch unbestimmt nach dem Vorbild der verwirklichten Schwingungsphasen aufgefasst wird –, indem nämlich das Verhältnis der Länge der Schwingungslinie zur Strecke ›A‹ so ist, dass die Strecke als der vorläufige Ausdruck dessen, was die Schwingung ist, gelten kann. Die Werte der Bewegung werden in einer Einheitsform zusammengefasst, die auf eine der beiden Richtungen als den Momenten, aus denen sich die Bestimmtheit der Bewegung zusammensetzt: die »Horizontale«, bezogen werden kann – das Wesensmerkmal der Vermittlungsform der Spaltung, derart, dass die Bestimmtheit als »Position« auftritt, während die »Negation« im Hintergrund verbleibt. Die »große Schwingung« bedeutet nun, dass ein größerer Ablauf zusammengefasst, also »mehr Zeit« als Einheit verwirklicht und damit ein größerer Gegenstand vermittelt ist: eine höhere Stufe der verwirklichten Einheitsverfassung. Damit verlagert sich der Bedeutungsakzent; der lange Weg der großen Schwingung steht zu der Länge einer Strecke, ob horizontal oder vertikal, in keinem sinnvollen Verhältnis mehr: Verwirklichung bedeutet nicht mehr »Position«, sondern »Negation«; d. h., man kann das Resultat der Bewegung nicht mehr sinnvoll auf ein Moment der Bestimmtheit derselben, bzw. auf etwas im Sinne ihrer eigenen Kategorie, beziehen; das Resultat kann vielmehr nur die Verwirklichung selbst sein: die lange Abwicklung als Einheit verwirklicht zu haben; so ist jetzt Resultat, was sich nicht im Sinne der vollzogenen Bewegung gesondert manifestiert; das Eigentliche der Verwirklichung ist, dass die verwirklichte Bestimmtheit jetzt als Ganze verwirklicht ist: »das Erfahren von Erfahrung« oder »die innere Erfahrung« (no words, no time); während das, was sich im Sinne der Position manifestiert, den Status der Möglichkeit als der Voraussetzung der Verwirklichung der Negationsbedeutung hat; d. h.: Alles ist jetzt Verwirklichung, nämlich eine geringere oder Teilverwirklichung als konkrete Möglichkeit der nächsthöheren Stufe der Verwirklichung. Die Verwirklichung der langen Strecke der großen Schwingung als Einheit ergibt eine neue Kategorie von Gegenstand. Der neue Bedeutungsbezug ist weder horizontal noch vertikal, sondern VERTIKAL als Aufhebung dieser Art von Gegenstand im Sinne der »Position«. 512 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Der Punkt ›A‹ als abstrakte Möglichkeit der Verwirklichung verwandelt sich in die Form der Verwirklichung selbst: die erste, horizontale Verwirklichungsform, als konkrete Möglichkeit einer neuen, umfassenderen Verwirklichung. Die Verwirklichung ist schließlich, was nur angedeutet sein kann, so umfassend, dass Zeit qua Trennung von Differentem aufgehoben wird; sie ist in die Bestimmtheit der Erfahrung als Qualität integriert, aber nicht mehr als solche gültig, während auf einer niedrigeren Integrationsstufe des Nicht-FÜHLENS Bewegung die Form der Zeitbestimmtheit hat, d. h., dass sie mehr oder weniger auf die Bedeutungskategorie der Position akzentuiert ist, so dass die Bedeutung durch das Vermitteln mitbestimmt ist, was heißt, dass das Vermitteln selbst sich noch im Die-Bedeutung-vermitteln verwirklichen muss; so zeigt die Zeitbestimmtheit der vermittelten Bedeutung an, dass das Sein der Negation noch nicht vollständig ist und also noch für sich selbst sorgen muss. Indem die Vermittlung als Vermittlung vollständig verwirklicht ist, verschwindet die Zeitbestimmtheit, so dass die Bedeutung reiner als sie selbst vermittelt wird. Nach Janov bedeutet das Merkmal der Bedürftigkeit das Bedürfnis, DAS SELBST ZU FÜHLEN, d. h. das Bedürfnis, den Vermittlungsmodus zu vervollständigen; dies ist die Phase, wo die Vermittlungsbewegung selbst thematisch ist: sie ist jener Anteil der vermittelten Bedeutung, um den es überwiegend geht – d. h., den man nach Janov berücksichtigen sollte, um die Bewegung qualitativ weiterzuführen. In dieser Phase, da es um die Vervollständigung der Bewegungsform geht, stehen »to achieve« und »to produce results« im Vordergrund – eine Orientierung an der »Position«, die durch das FÜHLEN überwunden wird. Das Ziel der FÄHIGKEIT ZU FÜHLEN bedeutet nun aber nicht den Verlust jeglichen Antriebs zur Weiterbewegung, jedoch eine Veränderung dahin gehend, dass die Notwendigkeit, die Bewegung auf eine bestimmte Weise fortzusetzen, aufgehoben ist, so dass die FÄHIGKEIT ZU FÜHLEN als die verwirklichte FÄHIGKEIT ZU VERMITTELN – genauer: zwei Bedeutungskategorien zu vermitteln – als solche angewendet und eingesetzt werden kann. Dies ist eine qualitativ neue Situation. Vom Standpunkt der dialektisch – primärtherapeutisch – ausgeführten Schwingung erweist sich alles, was ausgedrückt werden kann, schließlich als von der Art des Ausdrückens selbst: verwirklichte Bewegung. – So zeigt sich der Gegenstand der naturwissenschaft513 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
lichen Erkenntnis: Energie als verwirklichte Bewegung, in neuer Weise, nämlich als ενεργεια: Verwirklichung. D. h., die Möglichkeit, die sich verwirklicht, manifestiert oder ausdrückt, ist »Energie«, verwirklichte Bewegung – in Abhebung von dem UNAUSSPRECHLICHEN, DEM »UNBEWEGTEN BEWEGER«, welches alles Mögliche ermöglicht, ohne je in die Verwirklichung zu treten. Wie äußert sich Energie als verwirklichte Bewegung? – Sie äußert sich als Verbindung, d. h. dual, in zwei differenten Akzentuierungen – »horizontal« und »vertikal«, »physisch« und »psychisch«, wie immer diese Phasen auf den verschiedenen Analyseebenen genannt werden mögen. Sie äußert sich als Verwirklichung des Punktes – der noch abstrakten Voraussetzung, die man erst durch Verwirklichung kennenlernen muss – im Sinne einer Linie – der Einheit einer Verwirklichungsreihe – als einer ersten Bedeutungsdimension von der Art der »Position«. Die Verbindung der beiden Bewegungsphasen durch Fortsetzung der Bewegung auf charakteristisch neue Weise geschieht so, dass etwas anderes dabei herauskommt: die VERTIKALE Bedeutungsdimension als der Überwindung der ersten, horizontal und vertikal akzentuierten Bedeutungsdimension, in eine zweite: die Negation als die der Position übergeordnete Bedeutungsdimension. So verwirklicht sich der Punkt der abstrakten Möglichkeit der Ausgangssituation als Linie, diese aber ist als Verwirklichung die erste Phase einer Verwirklichung höherer Stufe als Kreisumfang, wodurch sich die Ausgangsmöglichkeit ›A‹ in neuer Weise: als Mittelpunkt des Kreises, verwirklicht. So erhält man – um noch einmal das zur Analyse der Verhältnisse des Wirklichen universal anwendbare Schema zu wiederholen: Eins: Eins als Dualität: eins-zwei; und dasselbe noch einmal, um es anders zu machen: drei – das, WODURCH SICH DIE SACHE GANZ ANDERS DARSTELLT: nämlich vier; bzw. (bei drei mit eins erneut ansetzend) wieder eins (drei) und vier, zweifach genommen als zwei und drei. Diese Struktur, die auf alles zu Analysierende angewendet werden kann, ist schließlich die Struktur des Analysierens selbst, des Analysierens als verstehendes Begreifen. Diese Struktur vermitteln die Äußerungen Janovs, inhaltlich wie formal, wie z. B. in dem schon mehrfach herangezogenen Zitat (Janov 1980, S. 75): »Whether the energy is bound into belief systems or muscle systems« – eins: einszwei – »is of little consequence« – Ansatz zu drei –; »beliefs and tensions are still effects. And they are both physical effects«: Das ist die 514 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Nummer drei als eins eines neuen, PSYCHISCHEN Ansatzes als der Negation des ersten Ansatzes: »One can manipulate ideas and the muscles but one cannot manipulate stored memory. Consciousness is the only freedom«: Auf das eins des neuen Ansatzes folgt: zweidrei, nämlich die zwei Weisen der neuen Form: »consciousness qua stored memory« und: »consciousness qua freedom.« Das ist die für die Janovsche Weise der Äußerung so charakteristische Form des »Schwungholens«, damit sich die Bedeutung zum Ort ihrer eigentlichen Bedeutung aufschwingt und so sie selbst ist.
POSI-
TION
Die Bewegung ist an einem neuen Punkt angekommen: der Verwirklichung einer Kreislinie um die Schwingung, die eine Einheit, »einen Punkt« bedeutet. Die Bewegung ist nun nicht mehr in gleicher Weise vorgeschrieben wie bisher, als es noch für die Schwingung, um sie selbst zu sein, erforderlich war, in bestimmter Weise zu werden und sich zu diesem Punkte »aufzuschwingen.« Nun ist sie frei für eine zweifache Anwendung: nicht »für sich« – um die Schwingungsform dieser Vermittlungsstufe herauszubilden –, sondern »für das andere ihrer selbst«: für ihre Anwendung im Dienste der beiden entwickelten Bedeutungsformen. 515 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
2.2.2. Die Primal hypothesis als einzelwissenschaftliche Hypothese 2.2.2.1. Zur Dialektik der Primal hypothesis als Grundlagentheorie und als einzelwissenschaftliche Hypothese Die Primal hypothesis als Rahmentheorie erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis bedeutet das Angebot eines Denkzusammenhangs, der einen Wechsel der Methode wissenschaftlicher Wissensgewinnung als Ausdruck der Entwicklung der empiristischen Methode als von der logischen Struktur derselben her möglich darstellt: Ein Wechsel von der objektiven zur subjektiven Methode erfahrungswissenschaftlicher Wissensgewinnung ist möglich, weil die SUBJEKTIVE Explikationsform ein in allem, was expliziert werden kann, implizit wirksames Moment ist. Hier zögert der Gedankengang: Wird nun doch eine Form, ein Universalschema für alle Formen wissenschaftlicher Gegenstände, angenommen – nachdem die Notwendigkeit, den primärtherapeutischen, SUBJEKTIVEN Gegenstand in seiner gegenüber dem klassisch-empiristischen Gegenstand differenten logischen Qualität different zu explizieren, doch das Inzitament dieser gesamten Darlegung ausmacht? – Diese Frage fordert die Darstellung zu weiterer Präzisierung des angebotenen Denkzusammenhanges auf, um ein ausreichendes Verständnis der dargelegten Sache zu ermöglichen. Zunächst ist an diesem Punkt vorrangig folgender Umstand zu beleuchten: Die Primal hypothesis ist eine forschungslogische Hypothese aufgrund von Erfahrung. Dies besagt: Die Primal hypothesis als Rahmentheorie wissenschaftlicher Wissensgewinnung – oder wie immer man ihre Funktion auf dieser Ebene benennen will – tritt nicht als »Metaphysik« und nicht als »Transzendentalphilosophie« und nicht einmal als eine »Erkenntnistheorie« auf; sie ist etwas Neues, in dieser Form noch nicht Dagewesenes: eine empirische Hypothese mit Metastatus, d. h. mit »forschungslogischem«, Forschung qua wissenschaftliche Wissensgewinnung ermöglichendem Status. In vollendeter Gestalt verdiente sie vielleicht den Namen einer »Transzendentalphysik« – eine Bezeichnung, die sich der Verfasserin in Form eines lapsus linguae im Schreiben aufdrängte –; jedoch befindet sich diese Rahmentheorie noch nicht im Zustand einer »Theorie«; vielmehr befindet sie sich ganz am Anfang ihrer Entwicklung als eine Explikation einer neuen Einheitsform einer »primärwissenschaftlichen Erfahrung« und hat somit – entsprechend dem Geschehen der Herausbil516 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
dung der heutigen Atomtheorie als dem Paradigma naturwissenschaftlicher Wissensgewinnung – den Status einer Hypothese. Aber das ist, wie gesagt, nur der untergeordnete Bedeutungsaspekt von: »Die Primal hypothesis als Rahmentheorie wissenschaftlicher Wissensgewinnung ist eine Hypothese.« Das Prädikat: »Hypothese auf der Ebene einer Theorie der Forschung«, bedeutet das Eingeschaltetsein der dialektischen Perspektive: die Vertauschung der logischen Plätze als Resultat einer verwirklichten Vermittlung. Vereinfacht gesagt: Die Entwicklung der Naturwissenschaft als der Manifestation einer überwiegend abstrakt gebliebenen Voraussetzung hat zur Herausbildung von Psychologie und Psychotherapie als wissenschaftlichen Disziplinen geführt, die also bis zu einem gewissen Grad die Richtlinien empiristischer Wissensgewinnung repräsentieren und an die menschliche Bestimmtheit vermitteln, die sich jetzt umfassender zu ihnen in Beziehung setzt. Die Ergebnisse dieses Prozesses sind auf jeden Fall bemerkenswert, indem die menschliche Bestimmtheit ja das ursprüngliche Labor der Herstellung von Wissen und Erfahrung ist. – Indem sich die menschliche Bestimmtheit durchgängiger im Sinne der empiristischen Erfahrung strukturiert, verändert sie sich und gelangt durch empiristische Erfahrung zu einer empiristisch vermittelten, neuen Erfahrungsstufe. Die Notwendigkeit des Durchgängigmachens dieser Erfahrung – von realempirischem, aber noch nicht einzelwissenschaftlichem Status, da sie ja überhaupt noch nicht eingeordnet wurde – durch umfassende, also auch theoretisch-begriffliche Verarbeitung führt nun zu einer ersten praktischen Deutung der bisher abstrakt und auf lediglich die Explikation der – vom Konsens der Forscher- und Kulturgemeinschaft zwar getragenen, jedoch – auf letztlich nicht begründbaren Regeln beschränkt gebliebenen empiristischen Begründungsidee, derart, dass diese erste praktische Deutung der empiristischen Begründungsidee der Anfang einer neuen Form von Forschungspraxis ist. Die Aussage: »Die Primal hypothesis ist eine forschungslogische Hypothese aufgrund von Erfahrung«, besagt also, dass diese neue, empiristisch vermittelte, realempirische Erfahrung anfängt, wissenschaftlich zu werden, in der Form der Explikation einer neuen Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung. Diese neue Weise des Möglichgewordenseins einer neuen Form wissenschaftlicher Erfahrung ist gekennzeichnet als »Hypothese«, als eine erst noch zu verwirklichende Möglichkeit: Erst ab einem bestimmten Grad der Verwirklichung 517 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
der bisher vereinzelt auftretenden und noch nicht wissenschaftlich repräsentierbaren realempirischen Erfahrung kann ein Konsens dahin gehend zustande kommen, die neue Möglichkeit als verwirklichbar anzuerkennen, was rückwirkend die realempirischen Einzelerfahrungen als Verwirklichung einer neuen Form erfahrungswissenschaftlichen Wissens und damit als mögliche einzelwissenschaftliche Verwirklichung bestätigt. Als Hypothese im Sinne einer forschungslogischen Theorie mit hypothetischer Geltung 18 greift die Primal hypothesis über die einzelne realempirische Erfahrung hinaus; nur auf diese Weise: durch deren Mittelsein, um die MÖGLICHKEIT der Hypothese auf umfassenderer Ebene darzutun, kann die Einzelerfahrung einzelwissenschaftlich werden. Das Beschreiten dieses »Umweges« für die Erlangung ihrer Wissenschaftlichkeit bringt die empiristische Vermitteltheit der primärtherapeutischen Einzelerfahrung zum Ausdruck. So ergibt sich für die Aussage: »Die Primal hypothesis ist eine forschungslogische Hypothese aufgrund von Erfahrung«, ein zweifacher Sinn. Erstens: Sie ist der Versuch, durch praktische Verwirklichung diese Form von Verwirklichung als NEUE MÖGLICHKEIT erfahrungswissenschaftlicher Wissensgewinnung einzuführen, derart, dass im Prozess der Entwicklung der Wissenschaft deren Bedingung der Möglichkeit in der Form der Möglichkeit einer neuen Praxis EMPIRISCH wird. – Zweitens: Dieser Versuch bedeutet außerdem, dass die praktische Verwirklichung, um die neue MÖGLICHKEIT Während die sog. Nicht-Aussagen-Konzeption wissenschaftlicher Theorien einerseits den Theorien zwar einen größeren logischen Spielraum zuzugestehen scheint, bedeutet sie andererseits gerade diejenige Art von Liberalisierung (und Ermäßigung des Innovationsdrucks) – indem es etwa nicht mehr die Theorien sind, die falsifiziert bzw. der Prüfung unterworfen werden –, die die Form der wissenschaftlichen Wissensgewinnung weiterhin klassisch orientiert hält und damit einer qualitativ neuen Formulierung von vorneherein die Luft ablässt. Im hier dargelegten Sinne einer Weiterentwicklung der empiristischen Wissensform werden Theorien wieder bestätigt, derart, dass man die Geschichte der vielen verworfenen oder partiell bestätigten oder bewährten Hypothesen – und damit auch die verlustreichen Phasen empiristischer Hypothesenprüfung – in einer qualitativ veränderten HYPOTHESE zusammengefasst sieht, so dass der Erfahrungswissenschaft die zusammengefasste Geschichte ihrer Erfahrung nicht äußerlich bleibt, vielmehr in jener Gestalt ihrer Geschichte repräsentiert ist, die die Essenz erfahrungswissenschaftlichen Wissens: Wissen unter Berücksichtigung des Gesetzes der »ZEIT« (Wissen als »vermitteltes Wissen« oder »in der Form von Bewusstsein«) zum Ausdruck bringt.
18
518 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
der Wissensgewinnung einzuführen, selbst erst ein Anfang, also nicht die vollendete Verwirklichung ist, so dass also auch die praktische Verwirklichung qua realempirischer, primärtherapeutischer Einzelerfahrung noch überwiegend »hypothetisch« und eher als die »Eröffnung ihrer eigenen Möglichkeit« zu bezeichnen ist: »What you will read here in The Anatomy of Mental Illness is just a beginning. But I feel it is a good start.« (Janov1971, S. 17)
Gerade diese letzte Feststellung, die sich sowohl aus der Form der Janovschen Äußerungen – die eine logisch vertretbare Form nur der Möglichkeit nach enthält – als auch aus der (vertretbaren) logischen Struktur der Primal hypothesis selbst ergibt, ist notwendig, um die Primärtherapie als einen ernsthaften Versuch, in eine neue MÖGLICHKEIT wissenschaftlicher Erfahrung einzuführen, aufnehmen, und das heißt, in ihrem Charakter als eine einzelwissenschaftliche Hypothese berücksichtigen zu können. Diese Feststellung sei daher nach den genannten zwei Gesichtspunkten noch näher ausgeführt. Die Primal hypothesis als »eine forschungslogische Hypothese aufgrund von Erfahrung« bedeutet nach der hier dargelegten Auffassung eine Deutung der empiristischen Begründungsidee durch die praktische Hypothese der AUFHEBBARKEIT DER OBJEKTIVEN GEGENSTÄNDE. – Die Diskussion der Bedeutung dieser Hypothese geht Hand in Hand mit der Beantwortung der zu Anfang des Kapitels gestellten Frage, wie das Einheitsparadigma der Dualität als ein Universalschema für alles, was expliziert werden kann, der logischen Anforderung der Dualität gerecht wird, die für seine Formulierung ausschlaggebend ist. Einerseits bedeuten die neuen Verhältnisse im Sinne der primärtherapeutischen Verwirklichung eine neue Art von Gegenstand, der, vom normalen Standpunkt aus gesehen, »größer« ist, mehr Geschehen umfasst, als normalerweise zu einem Gegenstand zusammengefasst ist, so dass er, nach dem Maßstab der normalen Auffassungskategorie, so langsam auftritt, dass man ihn deswegen nur schwer zu Gesicht bekommt. Andererseits ist es für ihn charakteristisch, dass er, wenn er als eine Dualität ermöglichend eine Einheit ermöglichen soll, zunächst überwiegend als eine Aufgabe und eher als die Richtung einer Entwicklung deutlich wird – denn wie sollte eine Einheit, die schlagartig verwirklicht würde, einer mit ihrem Auftreten erst als
519 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
solche fassbar werdenden Differenz gebührend gerecht werden können? Im Sinne des ersten Gesichtspunktes mildert also diese dialektische Berücksichtigung der Situation der Primal hypothesis die als Ergebnis der kategoriallogischen Analyse getroffene Feststellung, dass die Janovschen Äußerungen das Ziel der Repräsentation der logischen Struktur der primärtherapeutischen Erfahrung nur knapp erreichen, nämlich unter der Voraussetzung, dass dies zugegeben wird. Die Berücksichtigung der dialektischen Struktur der Primal hypothesis ergibt, dass eine Hypothese dieser Art sinnvoll nur in der Situation der Dualität, also in der Situation der noch nicht vollendeten Verwirklichung der neuen Einheitsstufe, anheben kann, da in der vollendeten Verwirklichung von Einheit im Sinne der höchsten Kategorienstufe der Freiheit eine primärwissenschaftliche Hypothese gänzlich dahinfällt. – So gilt: Die Primal hypothesis hat eine logische Existenzberechtigung überhaupt nur im Stadium ihrer Verwirklichung als Hypothese mit dem Resultat ihres schließlichen Dahinfallens im Stadium ihrer Bestätigung: »But the goal of medicine should be to eliminate the doctor.« (Janov 1973a, S. 40)
Aufgrund ihres logischen Charakters als Negation der Phase der Bedeutungsvermittlung im Sinne der Position eliminiert sich die Primal hypothesis, wenn sie das Ziel der Aufhebung des Seins der Negation in die NEGATION des SEINS erreicht hat, von selbst, was das Vollendetsein ihrer Verwirklichung bestätigt. Die Notwendigkeit ihres Bestehens kann also nur die Notwendigkeit des Zu-Ende-Führens der Arbeit ihrer Verwirklichung im Vergehen bedeuten. Von der Primal hypothesis als dem Anfang der Verwirklichung des ihre logische Wahrheit begründenden Moments – und damit der Weise, wie das Paradigma der Dualität ein Einheitsparadigma ist – zu sprechen, bedeutet, die gegebene Situation der Dualität als solche zu sehen, derart, dass eine niedrigere Kategorie der Erfahrung – für die die Spaltung in eine objektive und subjektive Gegenstandsform verbindlich ist – als in eine höhere Kategorie der Einheitserfahrung aufhebbar genommen wird, und zwar während noch die Situation der Dualität qua Gespaltenheit von objektiver und subjektiver Erfahrungsform als ein Widerspruch, als eine unmöglich zu vereinigende Dualität erscheint. In einer mehr normal genommenen Bedeutung liegt die Bestätigung der Primal hypothesis mehr darin, sie als mög520 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
lich anzunehmen, denn das ist die ganze Schwierigkeit, das eigentliche experimentum crucis: in der Situation des Dominierens der niedrigeren Kategorie und also überwiegend vom Standpunkt der Gültigkeit der objektiven Wirklichkeit hypothetisch die höhere Kategorie zugrunde zu legen, derart, dass man den Entschluss fasst zu versuchen, die Erfahrungsdimension »objektive Wirklichkeit« als solche für in eine höhere Erfahrungsdimension aufhebbar zu halten, was besagt, die objektiven Gegenstände als die im stärksten Sinne nichtsubjektive Dimension der objektiven Erfahrung als dem innersten Wesen nach doch von der Qualität der subjektiven Erfahrung anzunehmen, jedoch im Sinne einer kategorial niedrigeren Ebene subjektiver Erfahrung und also nicht durch subjektive Erfahrung, sondern nur von einer kategorial höheren Ebene: der Ebene der SUBJEKTIVEN ERFAHRUNG her, zu verändern und schließlich aufzuheben. Das Zustandekommen dieses Entschlusses – nicht als das einmalige Aufblitzen eines interessanten Gedankens, sondern als praktische Hypothese ins Auge gefasst – ist das eigentlich entscheidende Experiment, welches im positiven Fall in den Prozess einer langen Verwirklichung übergeht, der eher eine beharrliche Einübung denn ein Experiment genannt werden kann. Im Sinne des Einheitsparadigmas, das Dualität als Dualität berücksichtigt, ist davon auszugehen, dass »Manifestation überhaupt« bedeutet: Identität manifestiert sich dual, und zwar zunächst »wenig«, so dass Dualität als Identität erscheint; dann mehr, so dass diese Identität als Dualität erscheint und schließlich, immer weiter als Dualität differenziert, als insgesamt das Andere: der manifeste Ausdruck einer nicht manifestierten IDENTITÄT. Das ist nun leicht gesagt und schwer richtig auf Wirklichkeit bezogen, aber dieser richtige Bezug ist eine dem Satz implizite und durch ihn wirksame Forderung. Der richtige Bezug wird erleichtert durch die Angabe eines Ansatzpunktes und einer Richtung des Fortfahrens. Der Kontext dieser Arbeit gibt als Ansatzpunkt an: Dialektisches Denken beginnt nicht ab ovo, sondern »nach« empiristischem Denken als der gegebenen Voraussetzung; also wird die Strukturierung der objektiven Erkenntnis mit ihren logischen Implikationen als gegeben vorausgesetzt. Von hier aus stellt sich durch vermehrtes Eingehen auf das Gegebene die Situation der objektiven Erkenntnis neu dar als doch eigentlich der Ausdruck des Paradigmas der SUBJEKTIVEN Begründetheit der objektiven Erfahrung.
521 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Damit spannt sich ein großer Bogen von der seiner Zeit vorauseilenden Formulierung Kants zu der erfahrungswissenschaftlichen Verwirklichung der darin ausgedrückten Intuition in der modernen Psychotherapie. Gegenüber der für wissenschaftliche Wissensgewinnung vorauszusetzenden, einfachen Explikation »gegebener Bedeutungen« (»how can you prove you are you?« – »how can you prove a certain thing is a certain thing?«), drückt gerade das überwiegende Interesse an den objektiven Bestimmtheiten außerhalb und unabhängig von der subjektiven Bestimmtheit der Erfahrung, so dass beide als eine Dualität auseinandertreten, das Überwiegen des subjektiven Pols der Erkenntnisbeziehung aus, obwohl dieser Anteil im Resultat der Erkenntnis eliminiert – oder als konstante Abweichung neutralisiert – erscheint. Das intensive Vorantreiben dieser Orientierung führt schließlich zu der Erkenntnis – etwa in der Psychotherapie, wodurch die Kantsche Einsicht praktisch wird –: Was »das andere des Subjekts« ist, ist abhängig von eben diesem Subjekt; d. h., die Form des Anderen des Subjekts: der objektiven Erfahrung, macht die Weise des Subjekts, sich auf das andere als anderes zu beziehen, deutlich, so dass erstmals die Verbindung von Subjekt und Objekt und damit die Möglichkeit thematisch wird, die Form der objektiven Erfahrung insgesamt zu verändern, um mehr Einheit zu verwirklichen und, anstatt dass diese in der objektiven Gegenstandsform eines gespaltenen Subjekts zunichte wird, den Negationscharakter des SUBJEKT-SEINS zu entwickeln und damit den empiristischen Impetus zu erfüllen. Damit ist der Gedankengang beim zweiten angekündigten Gesichtspunkt angelangt: Denn, wenn die Psychotherapie allgemein und besonders die Primärtherapie grundsätzlich bedeutet, dem Einzelnen zu einer Erfahrung dahin gehend zu verhelfen, dass die objektive Realität nicht so objektiv gegeben ist, wie es für den Betroffenen der Fall zu sein schien, so dass die objektiven Gegebenheiten als nicht metaphysisch, sondern in der Tat nur empirisch wirklich und als die in einem bestimmten Kontext für ein Subjekt verbindliche Form der Erfahrung erfasst werden, so bedeutet dieser Schritt ja noch keineswegs die Aufhebung der Ebene der objektiven Erfahrung –: So schnell sind die objektiven Gegenstände nicht zum Verschwinden zu bringen, denn, auf diesem Standpunkt zu stehen, von dem aus objektive Gegenstände wirklich sind, ist deswegen immer noch die überwiegende Verwirklichungsform der subjektiven Bestimmtheit. – Aber die Erfahrung, dass die Gesetze des objektiv Wirklichen nicht 522 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
starr und unabänderlich, sondern der Ausdruck einer umfassenderen Gesetzlichkeit sind, die noch tiefer erfasst werden kann, und dass die Tür, um auf die Möglichkeit des tieferen Erfassens einzugehen, DAS INNERE der Subjektivität ist, bedeutet doch einen Eindruck, der nicht vergessen werden kann. Die Primärtherapie macht einen weiteren Vorstoß in diese Richtung, indem sie noch eindrucksvollere Erweise der SUBJEKTIVEN Begründetheit der objektiven Erfahrungsform vermittelt: »It is the biologic state that tells the truth, not only what a neurotic says or how he conforms. Our biology is our truth; it contains our real history. No lie of the mind can change it, just as no »correct« behavior can alter it. If psychotherapy cannot change that biology, it fails.« (Janov 1973a, S. 35)
So gelangt Janov zu der Formulierung der Primal hypothesis als der Hypothese der Aufhebbarkeit der objektiven Bestimmtheit durch FÜHLEN, ERLEBEN oder BEWUSSTSEIN: »I think it would be an error to assume by measuring these (biochemical, B. V.) changes that the roots of mental illness, therefore, are biochemical. It is my belief that most biochemical alterations are secondary to Primal Pain. We have reversed enough psychoses by now by natural means (Primal Therapy) to assume that many psychoses are not biochemical in origin […] our experience indicates that if it exists it is not prevalent.« (Janov 1975, S. 206; vgl. auch Janov 1973a, S. 176)
»Erleben« ist »natürliche Ursache« für biochemisch beschreibbare Bestimmtheiten; d. h., Objektivität ist eine Form SUBJEKTIVER Erfahrung. Dennoch muss auch in Bezug auf den inhaltlichen Aspekt – die Beurteilung dessen, was durch Primärtherapie erreicht wird – wie für den formalen Aspekt – was die Janovsche Aussageform erreicht – die Frage gestellt werden: Bedeutet die Primärtherapie tatsächlich, dass »Aufhebung« erreicht wird? – Behauptet die Primal hypothesis inhaltlich – nach Janov – die Möglichkeit der Aufhebung der Gegenstände der objektiven Erfahrung in die ERFAHRUNG? – Der hier dargestellte Standpunkt besagt: Ja – aber knapp, mit einem Minimum dessen, was zu einer Bejahung dieser Frage vorliegen muss; aber nicht in einem Maße, dass diese Bejahung jedem Zweifel entrückt wäre. Janov selbst bleibt unentschieden; er gibt nicht an, wie weit er die Konsequenzen seiner Erfahrung verfolgt haben will. Die sehr starke Akzentuierung der Bedürfnisperspektive; das häufige, niemals als solches korrigierte Zurückgleiten in die einfache, undialektisch-fun523 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
damentalistische Bedeutungsexplikation – ein Beispiel von vielen: als könne etwa Neurose durch ein der Bedürfnisbefriedigung günstigeres Klima »von Anfang an« verhindert und der Umweg der Vermittlung der primären Bedeutung durch das Schmerzerleben erspart bleiben –; die kurzschlüssige Rückverbindung der primärtherapeutischen Bedeutung mit nur im Rahmen der empiristischen Explikation sinnvollen Bestimmtheiten – z. B. der Biologie und Physiologie – und insgesamt das Sprechen in der Weise von Aussagen über Sachverhalte: alle diese Merkmale belasten die Janovsche Explikation mit einem schlechten Selbstwiderspruch in einem Ausmaß, so dass es gerade noch möglich ist zu sagen: Die Janovsche Primärtherapie arbeitet im Sinne der Hypothese der Aufhebung, derart, dass sie noch nicht eindeutig zu dieser vorgedrungen ist. 19 Wiederum mildert sich dieses Urteil durch die Berücksichtigung der dialektischen Umstände, derart, dass dies zugunsten der Bejahung der zuvor gestellten Frage zu Buche schlägt; indem, pointiert gesagt, das Noch-nicht-Verwirklichtsein der Aufhebung, so dass die Situation äußerlich relativ unverändert dual differenziert erscheint, dialektisch gesehen eher bedeutet, dass die primärtherapeutische Erfahrung als der Anfang des Prozesses der Aufhebung ernstgenommen werden kann, da es nicht mit rechten dialektischen Dingen zuginge, wenn die profunde Differenz der objektiven und der SUBJEKTIVEN Erfahrung so rasch überwunden werden könnte. Und wiederum muss hinzugefügt werden: Die mildernden Umstände zugunsten der Janovschen Primal hypothesis gelten nur dann, wenn die soeben getroffene Feststellung anerkannt wird, so dass die Primärtherapie in ihrer jetzigen Vielleicht kann man diesen Befund der Analyse der Janovschen Äußerungen so verstehen und weiterführen, dass er noch einmal ein Licht wirft auf den einem künstlich beschleunigten Laborverfahren der Herstellung eines Resultats vergleichbaren praktischen Prozess der Primärtherapie. Wenn man bedenkt, als ein wie langwieriger Prozess die qualitativ-quantitative Entfaltung der drei Ausdruckskategorien der menschlichen Bestimmtheit im Sinne der »levels« vorausgesetzt werden muss, müsste die schwere Aufgabe der Veränderung der gesamten bisherigen Strukturierung im Sinne des vierten levels eine entsprechend quantitativ-qualitative Ausführlichkeit – also auch eine entsprechende Zeit – erfordern, um entsprechend viele Momente der gegebenen Struktur neu, im Sinne der höheren Kategorie, zu strukturieren. FÜHLEN im Sinne der Primärtherapie Janovs ist mehr so zu verstehen, dass gerade eben ausreichend viele Umstrukturierungen erfolgt sind, um grundsätzlich eine qualitativ veränderte Form der Strukturierung einzuführen, nicht aber, um die neue Weise in allen ihren Konsequenzen durchzuführen, was vor allem die Konsequenz der Durchführung der Wahl der dominierenden Kategorie bedeuten würde.
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Form das In-Beziehung-Treten zum vollen Pensum der Primal hypothesis als der Hypothese der Aufhebung bedeutet, derart, dass es ausreichend vernünftig erscheint, es für möglich zu halten, die Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Erfahrung zu verändern, so dass die objektiven Gegebenheiten in der Tat hinweggearbeitet werden – als der einzig möglichen Weise, wie schließlich eine Lösung der so dringenden objektiven Probleme des menschlichen Lebens zu erhoffen und zu erreichen ist. 2.2.2.2. Formen der Primal hypothesis als eine einzelwissenschaftliche Hypothese »Aufhebung der objektiven Erfahrungsform durch Veränderung der Bedingungen ihrer Möglichkeit« als methodologische Hypothese, kann, indem ihr Auftreten als Deutlichwerden des dialektischen Modus der Explikation des Wirklichen geschieht, nur auf dem Wege des Vorauseilens vereinzelter praktischer Verwirklichungen zustande kommen, deren methodologische Relevanz einzelwissenschaftlich repräsentiert ist: Die lange, korrekte Ausführung der Weiterentwicklung der erfahrungswissenschaftlichen Wissensform im Sinne der Vermittlung, d. h. derart, dass die bisherige Strukturierung von der neuen Form nicht übergangen, sondern in allen ihren Implikationen berücksichtigt wird – d. h. in einem charakteristischen Maß mehr Implikationen im Verhältnis zu jenen, die sie selbst zu berücksichtigen in der Lage ist –; dieser langwierige, dialektisch korrekte Modus der Weiterführung der empiristischen Wissensform fordert also eine fortschrittliche Einzelpraxis, deren mögliche methodologische Relevanz sich durch Bewährung in einer methodologisch vermittelten Situation herausstellen muss, also im Rahmen einer einzelwissenschaftlichen Disziplin. Damit wird die in die Momente: Beobachtung – Hypothese – Experiment – Theorie – Beobachtung usw. gegliederte Zusammenhangsform der wissenschaftlichen Wissensgewinnung auf das Feld des context of discovery angewandt, derart, dass dieses nicht im wissenschaftlichen Denkzusammenhang berücksichtigte, jedoch für die wissenschaftliche Wissensgewinnung nächst relevante Strukturmoment der Voraussetzung des wissenschaftlichen Wissens jetzt konkrete Form annimmt: es bedeudet genau die bisher berücksichtigte Struktur der wissenschaftlichen Wissensgewinnung im Ganzen in
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
neuer FORM im Sinne des Dialektischwerdens dieser Zusammenhangsform. Damit die Primal hypothesis eine Hypothese auf der Ebene der wissenschaftlichen Methodologie im Sinne der hypothetisch gesetzten MÖGLICHKEIT der Verwirklichung einer neuen erfahrungswissenschaftlichen Wissensform werden kann, muss sich ihre diesbezügliche Eignung im erforderlichen Maße zuerst praktisch bewähren, um ein Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung zu werden. Die zuständige, individuelle Instanz, um eine solche Eignung zu beobachten und diese Beobachtung als eine mögliche methodologische Hypothese zu repräsentieren, ist die einzelwissenschaftliche Disziplin als das ausreichend empiristisch anerkannte Vermittlungsorgan der derzeit praktizierten Wissenschaftsform. Seit ihrem Bestehen üben die wissenschaftliche Psychologie und insbesondere die Psychotherapie diese doppelte Funktion aus, einerseits der Vermittlung der derzeit ausgeübten Methode der erfahrungswissenschaftlichen Wissensgewinnung an den Gegenstand der menschlichen Bestimmtheit – als im Ganzen die Ebene der Voraussetzung der wissenschaftlichen Erkenntnis implizierend –, verbunden mit, andererseits, der »Frage« an diesen Gegenstand, ob diese Methodologie ausreichend und ihm angemessen sei; d. h., die Frage tritt in der chronischen wissenschaftlichen Fragwürdigkeit von Psychologie und Psychotherapie auf, in der doppelten Richtung: ob diese Disziplinen als Wissenschaften ernstzunehmen seien und, umgekehrt, ob die Wissenschaft eines solchen Gegenstandes als ein ernstzunehmendes Unternehmen gelten könne. Von dem hier dargelegten Standpunkt aus lautet die Antwort auf diese Frage: Nachdem die Psychologie in den vergangenen hundert Jahren recht und schlecht die Möglichkeiten ihrer empiristischen Form entfaltet hat und damit die empiristische Strukturierung einigermaßen repräsentiert – so dass, indem überwiegend die Voraussetzung: »Sie ist eine empiristische Disziplin«, praktiziert wurde, das Moment der Unrichtigkeit dieser Voraussetzung mehr als eine interne Unausgeglichenheit, als ihr leidiges Problem wirksam war –, sollte sie jetzt, zusätzlich, auf der bisher entwickelten Voraussetzung aufbauend, ihre Funktion als Matrix der Herausbildung einer neuen MÖGLICHKEIT wissenschaftlicher Erfahrung ausdrücklich vertreten, so dass die Rechtmäßigkeit der Ausübung dieser Funktion als das überwiegende Moment in der Rechtfertigung ihrer Existenz als wissenschaftliche Disziplin offiziell anerkannt wird. 526 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
In dieser Perspektive hat die Herausbildung der Psychologie als empiristische Disziplin zunächst den Sinn der Bejahung der Voraussetzung: »sie ist eine empiristische Disziplin«, wobei der Akzent der Verneinung dieser Voraussetzung eine untergeordnete Rolle spielt, was sich aber im Zuge der Entwicklung, die den Akzent der Verneinung irgendwann einmal thematisch werden lässt, ändert, so dass sich aus ihrer ersten Form als klassisch-wissenschaftlicher Disziplin das Verständnis einer zweiten Form als ihrer eigentlichen Aufgabe ergibt und sich rückwirkend die erste Form verändert darstellt, nämlich »umpolarisiert«, mit der Bejahung der Voraussetzung: »sie ist eine empiristische Disziplin«, als untergeordnetem, aber manifestem Aspekt und dem vormals untergeordneten, nicht-manifesten Aspekt der Verneinung dieser Voraussetzung, in der umgekehrt positiven Form der Negation einer neuen Bestimmtheit: als Vorbereitung, als Werden der konkreten Voraussetzung für die Verwirklichung der zweiten FORM als ihrer eigentlichen Aufgabe. Vom Standpunkt des dialektischen Denkens zeigt sich die Psychologie primär in dieser Qualität als (einerseits positiv eine empiristische Disziplin, aber andererseits eigentlich) das Werden der Voraussetzung ihrer anderen Form: das Werden-WERDEN der Möglichkeit einer neuen Wissensform: als produktive Negation der Bedeutungsvermittlung der Position der empiristischen Wissensform in Richtung auf die Veränderung dieser Weise der Bedeutungsvermittlung im Sinne einer eine NEGATION einer Bedeutung vermittelnden BEDEUTUNG – der primärtherapeutischen Erfahrungsform. Nachdem der systematisch-dialektische Ort des anfänglichen Wirkens der Primal hypothesis näher bestimmt ist: als das Anheben einer zweiten Form der Psychologie qua Veränderung ihrer ersten Form im Rahmen dieser ersten Form, d. h. einer solchen klassischeinzelwissenschaftlichen Disziplin, die hypothetisch das Manifestwerden der bisher untergeordnet gebliebenen Verneinung der empiristischen Qualität der Psychologie in der Form von deren produktiver Negation bejaht –, ist dieser Ort immer noch ein weites Feld, so dass auf den Anfang der Primal hypothesis als einzelwissenschaftliche Hypothese noch weiter eingegangen werden muss. Das manifeste, nachweisbare Wirken der Primal hypothesis hebt näherhin – und doch noch recht global gesehen –in einer empiristischen Disziplin an, deren Wissenschaftscharakter besonders problematisch ist, und zwar im Hinblick auf ihren Gegenstand, der andererseits wegen seiner großen Relevanz für das menschliche Leben nicht 527 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
aus dem Blickwinkel des wissenschaftlichen Interesses gerückt werden kann – was für den Fall der Psychotherapie als einer speziellen Variante der allgemeineren klinischen Psychologie zutrifft. In den Umrissen dieses Feldes vollzieht sich die feinere Dialektik von empiristisch begriffener Praxis, qualitativ neuer Einzelerfahrung, neuartig begriffener Einzelerfahrung und empiristisch vermittelter Form des neuartigen Begreifens der Einzelerfahrung; hier ereignet sich das riskante Vorauseilen der Praxis im konkreten Vorfall des »Urschreis« einer ersten Primärerfahrung und sodann, indem die empiristisch vermittelte psychotherapeutische Praxis einen entsprechenden Rahmen zur Verfügung stellt: viele Vorfälle erster Primärerfahrungen – bereits das Resultat einer ersten, äußerlichen Form der Verbindung der neuen Erfahrung mit einer eingeführten Form der Gewinnung von Erfahrung: nämlich der Einstellung, derart, dass man nach systematischer Reproduktion eines bestimmten Ereignistyps sucht –, also viele Vorfälle von Primärerfahrungen einzelner Patienten in der psychotherapeutischen Praxis, die sich allmählich als Primärtherapie begreift: und das ist die erste Form, wie sich die Primal hypothesis als eine einzelwissenschaftliche Hypothese manifestiert. Diese, isoliert gesehen, trivial erscheinende Feststellung: »Die Primal hypothesis als einzelwissenschaftliche Hypothese tritt zunächst in der Form der Primärtherapie auf«, soll im Rahmen der angeführten Überlegungen eine grundlegend veränderte Einschätzung des logischen Status der Primärtherapie als eine empirische Hypothese zum Ausdruck bringen und ist, gewissermaßen in umgekehrter Akzentuierung, folgendermaßen zu verstehen: Entscheidend für die Möglichkeit, die Primärtherapie in ihrer Bedeutung als eine empiristische Erscheinung zu erfassen (als die sie ja zuerst greifbar wird), ist, sie als ein empiristisch bedeutsames, empirisches Phänomen zu erfassen im Rahmen ihrer Erfassung als eigentlich nicht die Verwirklichung einer empiristischen Hypothesenform, sondern das Möglichwerden einer neuen MÖGLICHKEIT erfahrungswissenschaftlicher Erfahrung. D. h., die Explikation der Primal hypothesis als eine empiristisch interessante Hypothese – und damit die Verwirklichung der Primärtherapie i. e. S. als konkretindividuelle Gestalt psychotherapeutischer Praxis – ist als Explikation der primärtherapeutischen Bedeutung nur sinnvoll als eine duale Hypothese: als Formulierung der Verbindung einer empiristisch akzentuierten Form der Primal hypothesis mit einer primärwissenschaftlichen Form, welche den empiristischen Bedeutungsakzent als 528 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Verwirklichung der empiristisch vermittelten Methode des Herauswachsens aus der Voraussetzung ihrer empiristischen Form erkennbar macht. Als Explikation der primärtherapeutischen Bedeutung tritt die Primal hypothesis als empirische Hypothese in der Form der Primärtherapie notwendig dual auf: als Verbindung zweier differenter Hypothesen, einer mehr empiristisch und einer mehr nicht-empiristisch akzentuierten, derart, dass diese horizontale Verbindung, die insgesamt gerade noch empiristisch verstehbar ist, der Ausdruck der vertikalen Verbindung von empiristischer und primärwissenschaftlicher Hypothesenform ist, auf der Grundlage der Möglichkeit eines methodologischen Kategorienwechsels als dem Ziel des Heranwachsens der Primärtherapie zu einer PRIMAL HYPOTHESIS. PRIMAL HYPOTHESIS
PRIMAL HYPOTHESIS
4 3 1
2
4 4 3 3
oder: mehr primärth. 2 explizierte Hypoth.
EMPIRISTISCHE HYPOTHESENFORM
2 1
1
EMPIRISTISCHE HYPOTHESENFORM
Da, entsprechend der dialektischen Vermittlung, die doppelte Dualität in diesem Stadium einfach, d. h. als Verhältnis zweier horizontalempiristisch akzentuierter Hypothesen repräsentiert ist: im Sinne des Werdens der Voraussetzung der Möglichkeit einer neuen Erfahrungsform – indem die empirische Primal hypothesis im Sinne bloß eines Anwärters auf den Status als HYPOTHESE sich faktisch erst im Status eines Gegenstandes empiristischer Beobachtung und Beschreibung befindet, so dass also die große Dualität des HYPOTHESENVERHÄLTNISSES noch gar nicht repräsentiert ist –, kann die doppelte Dualität wahrheitsgemäß nur in der Form der Bewegung dieses Verhältnisses, d. h. so verwirklicht werden, dass nacheinander mehrere solcher »horizontaler« Verhältnisse auftreten, so dass die Veränderung dieser Hypothesenpaare eine Veränderung in Richtung auf das vertikale VERHÄLTNIS von primärtherapeutischer und empiristischer Hypothesenform verwirklicht. 529 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Alle diese Verhältnisse, die, bezogen auf das horizontale Ausgangsverhältnis einer korrekt empiristisch explizierten Hypothese einen »Unterschied«, eine »Verschiedenheit«, einen »Gegensatz« und schließlich einen »Widerspruch« bedeuten, woraus, im günstigsten Fall, dann die PRIMAL HYPOTHESIS als methodologische Hypothese und als die Begründung der Möglichkeit dieser Verhältnisse als erfahrungswissenschaftlich korrekt hervorgeht, sind die Formen der Primal hypothesis als eine empirische Hypothese: also im vorbereitenden Stadium des Werdens einer Voraussetzung einer neuen MÖGLICHKEIT. 20 Die Situation der Primärtherapie als einer empirischen Hypothese mit hypothetisch-hypothetischem Charakter stellt sich als höchst implikationsreich und in dieser Komplexität schwer zu bewältigen dar. – Im vorliegenden Rahmen soll auf diese Situation im Sinne von zwei Gesichtspunkten eingegangen werden, wobei der erste einen speziellen Ansatzpunkt, einen konkreten Einstieg in ein erstes solches »Hypothesenverhältnis, das ein Hypothesenverhältnis BEDEUTET«, und der zweite eine Richtung anzugehen versucht, ein allgemeines Verständnis für die Weise einer entsprechenden Veränderung des Ausgangsverhältnisses als das praktische Möglichwerden der Voraussetzung für das Entstehen der PRIMAL HYPOTHESIS als eine methodologische Hypothese. So soll also jetzt – im Sinne des ersten Gesichtspunktes – auf ein erstes »Hypothesenverhältnis, das ein Hypothesenverhältnis BEDEUTET« als dem Anheben der Primal hypothesis als eine empirische Hypothese und insgesamt einem Beobachtungsgegenstand im Hinblick auf das Möglichwerden einer PRIMAL HYPOTHESIS näher eingegangen werden. Das erste, was von der Primal hypothesis als empirische Hypothese – im Sinne des ersten Strukturmoments des zu betrachtenden Hypothesenverhältnisses – zu sehen ist, ist das Datum der Primärerfahrung selbst, in irgendeiner Form. Doch in welcher dual struktuNur durch die Integration immer weiterer praktischer Formen der Verwirklichung der einen Figur des methodologischen Kategorienwechsels kann der Begriff oder die logische Essenz der Janovschen Primärtherapie ein Leben haben; in dem Moment, wo sie sich auf nur einen Zugang fixiert, so dass sie dieser ist und sonst nichts, ist sie schon »gestorben« – entsprechend dem logischen Sinn des »Verweile doch, du bist so schön!«, das die dialektische Wachstumsmöglichkeit des Goetheschen Faust (Zweiter Teil, fünfter Akt) und damit sein Leben beendet.
20
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
rierten Form bildet es den Anfang des gesuchten Hypothesenverhältnisses? Als das Datum einer einzelnen Primärerfahrung, wie sie der betroffene Einzelne sieht?, wie Janov sie sieht?, wie die Patienten sie gemeinsam, in der Kommunikation der Belegschaft des Primal Institute, sehen bzw. wie auf dieser Konsensebene die Primärtherapie überhaupt gesehen wird?, wie sich viele Jahre der Erfahrung mit der Primärtherapie in den Janovschen Äußerungen niederschlagen? Und was heißt »sehen«: in welchem Maße umfasst es das Reagieren – als Patient; als Therapeut; das sprachlich-begrifflich vermittelte Reagieren, enger gefasst als »Technik«, weiter gefasst als »Praxis« der Primärtherapie? – Das ist nicht leicht zu entscheiden. Jedoch erscheint mir eine forcierte Bemühung, bei dem ganz gewiss Richtigen zu beginnen, wodurch sich diese Schwierigkeit immer unüberwindlicher zeigt, nicht angebracht, da es ja in erster Linie darum geht, eine Form zu finden, die ein Weitergehen ermöglicht, und nicht um ein Stehenbleiben bei dieser besonderen Form. – In diesem Sinn ist der gesuchte Ansatzpunkt auf jeden Fall so beschaffen, dass ein mehr realempirisch, als ein »Datum« gegebenes Moment ins Verhältnis tritt mit einem anderen Moment, derart, dass diese Verbindung mit dem anderen Moment das erste Moment in seiner Bestimmtheit fassbar macht, so dass also anfangs die duale Struktur des ersten Moments des Hypothesenverhältnisses – wie auch dieses insgesamt – relativ empiristisch nach dem Schema der Beziehung von Beobachtungs- und Theorieebene funktioniert. Dieses im Lichte eines weiteren Moments gesehene realempirische Moment als das erste Strukturmoment des Hypothesenverhältnisses ist also irgendeine Verarbeitungsform der Janovschen Primärerfahrung, also am besten seine eigene, in der Verarbeitungsform seiner Veröffentlichungen. Zu diesem ersten Strukturmoment muss nun ein zweites treten, das jenes als bis zu einem gewissen Grade empiristisch sinnvoll bestimmt, indem es als in einem neuen primärtherapeutischen Sinn und damit als eigentlich nicht-empiristisch bestimmt wird. Dieses zweite Moment entsteht aus dem ersten – wie die vorliegende Arbeit aus der Janovschen – als dessen Veränderung, so dass das zweite Moment nicht einfach ein zweites, sondern das Resultat der Verbindung beider Momente – einer ersten Verarbeitungsform der Primärerfahrung durch Janov als dem ersten Strukturmoment und einer zweiten Verarbeitungsform als Voraussetzung des Prozesses der Verarbeitung der Form des ersten Strukturmoments als dem zweiten Strukturmo531 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
ment – und so die Veränderung des ersten Momentes im Sinne des zweiten ist. Den nächsten Schritt bildet also die Frage: Wie ist die Verarbeitung der Primärerfahrung Janovs (in Form seiner Veröffentlichungen) in der Verarbeitungsform der vorliegenden Darstellung als eine empirische Hypothese zu bestimmen? – Die Janovsche Verarbeitung der Primärerfahrung (in der Form seiner Veröffentlichungen) als Voraussetzung (Material) des ersten Strukturmoments und die vorliegende Verarbeitungsform der Primärerfahrung als Voraussetzung (Material) des zweiten Strukturmoments angenommen, kommt es nun, von der Voraussetzung der zweiten Verarbeitungsform aus, zu folgendem Vorschlag für ein erstes Hypothesenverhältnis: Als erstes, vom Ansatz her relativ empiristisch genommenes Strukturmoment gelten die Janovschen Äußerungen, insofern sie eine Hypothese der Heilung der Neurose als der »Wiedererlangung der Fähigkeit zu Fühlen« bedeuten. Das zweite Strukturmoment ergibt sich aus der vorliegenden Darstellung, die auf eine einfachste Form einer solchen empirischen Hypothese der Heilung der Neurose durch »Wiedererlangung der Fähigkeit zu Fühlen« hin akzentuiert werden muss, derart, dass sie empiristisch vertretbarer wird, indem ihr nicht-empiristischer Charakter (für den Anfang) ausreichend zum Ausdruck gebracht ist. Diese sei also nun entwickelt. Die erste Form der Primal hypothesis als eine empirische Hypothese – die hier, im Sinne des zweiten Strukturmomentes des ersten Hypothesenverhältnisses, in zwei Formen entwickelt werden soll – entfaltet sich ihrerseits zweigliedrig: Erstens, als ein Wort, ein Satz, eine Reihe von Sätzen als jener Form des Ausdrucks der Primärerfahrung, die dann in die Explikation der Methode der Primärtherapie – im Sinne der hier darzustellenden empirischen Hypothese – übergeht. Und so bedeutet die erste Form, zweitens, eine Anwendung des Satzes, die, als aus ihm hervorgehend, diesen zuerst, grundsätzlich, als einen praktischen Satz interpretiert, dessen Sinn die Notwendigkeit seiner Anwendung impliziert, so dass sich dann die weitere Art seiner spezifischen Entfaltung als die Explikation einer praktischen Bedeutung: einer Methode, bestimmt: als die Explikation jener logischen Methode, die nur als eine praktisch verwirklichte Bedeutung hat. So sei jetzt mit dem ersten Moment der ersten Form begonnen. 532 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Das erste Wort, die Anfangsform des Ganzen dessen, wie sich das Wort als Satz, Sätze usw. äußert, ist ein Ausdruck für das hic et nunc zugängliche eigene SELBSTSEIN; dieses sei zu Anfang als »ich bin« (»sum«) übersetzt, um auszudrücken, dass die primärtherapeutische Weise des Beginnens bedeutet, bei einer kleinen, sekundären Form zu beginnen. Dieser erste Ausdruck ist zu verstehen als Voraussetzung einer ersten Formulierung des logischen Wesens der primärtherapeutischen Einsicht als dem Beginnen des begreifenden Vollzugs der primärtherapeutischen Erfahrung: »ich bin, was (der) ich nicht bin.«
Diesen Satz kann man nicht so stehenlassen; er wird ausgesprochen, um ihn weiter zu artikulieren: »ich-bin« (»sum«) ist eine Bestimmtheit, die sich nicht direkt, einmalig, unmittelbar gültig aussprechen lässt; sie bedeutet eine besondere Weise, wie sie ausgesprochen werden muss, nämlich als Beziehung zu dem, was sie nicht ist im Sinne eines für sie spezifischen ganz Anderen, derart, dass, was sie selbst ist, nichts ist als die Methode des In-Beziehung-Kommens zu dieser ganz anderen Bestimmtheit. Die Bestimmtheit: »ich-bin« bedeutet eine Bestimmtheit in der Form des Mittels der Beziehung zu einer bestimmten ganz anderen Bestimmtheit als dem NICHT, das ich, indem ich es nicht bin, BIN. Diese Sätze, als der anfängliche Ausdruck einer Bedeutung, die nur als spekulative Satzform ausdrückbar ist, sind der Anfang des Erlangens der »Fähigkeit zu Fühlen« qua praktische Methode der Primärtherapie. Der Satz-Ausdruck kann so nicht stehen bleiben; seine Bedeutung äußert sich weiter, was zugleich immer mehr die praktische Seite der Äußerung: das spezifischer Primärtherapeutisch-Werden der Methode, die Bestimmtheit: »ich-bin« zu äußern, bedeutet: der Satz entfaltet sich als seine eigene Anwendung, im Gebrauchmachen von der Form seiner Bestimmtheit, so dass man jetzt in die Zone des zweiten Moments der ersten Form gelangt. Der Satz entfaltet sich als ein Prozess, ein Werden, und zwar, als weiterführender Ausdruck seiner Anfangsform, als eine spezifische Weise des Werdens, nämlich die Weise, das ganz Andere der Ausgangsform von »ich-bin« zu erreichen, nicht durch ein Verlassen, ein Aufhören der Form von »ich-bin«, sondern ganz und gar durch die Artikulation des »ich-bin« als dem Mittel, dem gegebenen Nicht der ganz anderen Bestimmtheit. – Diese Form der Verwirklichung 533 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
einer bestimmten Bestimmtheit: als Form der Verwirklichung einer Bedeutungsumkehrung, ist die differentia specifica der primärtherapeutischen Methode, so dass die vorbereitende Darstellung der Primal hypothesis als empirische Hypothese nun in das Stadium ihrer näheren Verdeutlichung eintritt. Die Verwirklichungsform einer Bedeutung durch Umkehrung der Bedeutung der Verwirklichung ist das entscheidende, die primärtherapeutische Methode auszeichnende Moment, und das Begreifen dieses Spezifikums des weiteren Vorgehens der Verwirklichung der Anfangsform des Satzes entscheidet über die Möglichkeit einer bewussten Handhabung der Primärtherapie: Der Satz: »ich bin, was (der) ich nicht bin«, kann durchaus anders verwirklicht werden und wird gewöhnlich anders verwirklicht – als in spezifisch primärtherapeutischer Weise –, und beide Weisen: die primärtherapeutische und die normale Weise, sind ein gutes Stück weit kaum voneinander zu unterscheiden. Jede Artikulation einer Bedeutung führt zu einer Reihe von anderen Ausdrucksformen, die durchaus als andere und doch die Ausgangsbedeutung wahrgenommen werden. Ganz besonders ist die Psychotherapie eine Form der Artikulation der Bedeutung von »ich-bin«, darauf gerichtet, einen veränderten – und oftmals, um Heilung zu erreichen, einen sehr veränderten – Ausdruck einer anfangs gegebenen Form zustande zu bringen. Von anderen Methoden, um eine solche Veränderung im Ausdruck der Bedeutung von »ich-bin« durchzuführen, unterscheidet sich die Primärtherpie dadurch, dass sie die Beziehung des gegebenen Ausdrucks zu einem erstrebten anderen Ausdruck von »ich-bin« nicht auf direktem Wege – auch nicht im Sinne einer langsamen, sukzessiven Steigerung einer direkten Annäherung – zu erreichen versucht – dieser Ansatz führt vom primärtherapeutischen Standpunkt genau nicht zum Ziel –, sondern total indirekt, derart, dass das erstrebte Ziel des ganz anderen Ausdrucks untergeht, völlig unbestimmt wird, so dass einzig und allein das Nicht des erstrebten anderen Ausdrucks und dessen Artikulation als die Weise (»Geschichte«) des Zunichte-geworden-Seins jenes anderen Ausdrucks als das Gegebene, worauf sich eine Artikulation von »ich-bin« konsequent beschränkt hält, verbleibt. Die Primärtherapie beginnt nicht direkt, als der Versuch eines nicht fühlenden Wesens, zuerst ein bisschen und dann immer mehr zu fühlen; sie beginnt als die Artikulation von »Schmerz«, als die Äußerung der Weise des Nicht-Fühlens als Nicht-Fühlen.
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Die Entwicklung des zweiten Moments der ersten Form der Primal hypothesis als empirische Hypothese – insgesamt im Rahmen des zweiten Strukturmoments der ersten Hypothesenbeziehung – führt zu einem dritten Moment: einer zweiten, die erste präzisierenden Formulierung dieser ersten Form: Wie stellt sich die Verwirklichung einer Bestimmtheit – als wesentlich der Beziehung zu einer ganz anderen Bestimmtheit – vermittelst der Umkehrung der Methode der Verwirklichung einer Bestimmtheit – qua Methode der Negation oder Methode der dialektischen Analyse – näherhin dar? Das weitere Zum-Ausdruck-Bringen der gegebenen Ausdrucksform von »ich-bin« geschieht, in der Form der Hypothese: »sie ist das bestimmte Nicht ihrer ganz anderen BEDEUTUNG«, als ein »Eingehen« in sie im charakteristisch dualisierenden Dreierrhythmus der dialektischen Gangart, als eine Veränderung des anfänglichen Ausdrucks im Sinne dreier kategorial (»quantitativ-qualitativ«) differenzierter Artikulationsformen: Die methodisch gelenkte Veränderung der gegebenen Ausdrucksform von »ich-bin« bedeutet die Ergänzung einer jeweils vorherrschenden Qualität von Äußerungen im Sinne ihrer Negationsqualität, wobei eine Ausdruckskategorie durch eine Reihe von qualitativ gleichartigen Äußerungen repräsentiert wird, derart, dass eine je entsprechende Anzahl von Äußerungen notwendig ist, um eine bestimmte kategoriale Ausdrucksqualität zu repräsentieren. Der primärtherapeutische Verlauf der Veränderung der Ausdrucksformen im Sinne einer dreifachen kategorialen Differenzierung derselben ist als Reihenfolge von Reihenfolgen von Ausdrucksmomenten zu bestimmen, so dass zweimal ein Wechsel zu einer veränderten Qualität von Ausdrucksform stattfindet, derart, dass bei der zweiten und erst recht bei der dritten Ausdruckskategorie mehr Ausdrucksmomente verwirklicht werden müssen, um die entsprechende Ausdrucksqualität zu verwirklichen. In der Sprache der »levels« bedeutet das eine Richtung der Veränderung der Artikulationsformen von »oben« nach »unten« (vom dritten level ausgehend, zum ersten level fortschreitend), was im Sinne der primärtherapeutischen Verwirklichungsmethode der Bedeutungsumkehrung so zu verstehen ist, dass die Ausdrucksergänzung, um jeweils das für den dritten level charakteristische Negationsmaß zu repräsentieren, auf den je niedrigeren levels einen größeren Zeitaufwand bedeutet. Umgekehrt verdeutlicht diese Methode des Fortfahrens im Verändern einer anfangs gegebenen Ausdrucksform: Erstens, dass die 535 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
ausgedrückte Bedeutung dual – als Beziehung einer Bedeutungsqualität zu einer ganz anderen Bedeutungsqualität – angelegt ist; und, zweitens, dass ein Ausdruck grundsätzlich stets das Zum-AusdruckBringen einer Dualität bedeutet, derart, dass immer eine der beiden differenten Bedeutungsqualitäten im Gesamtausdruck überwiegt: Wenn die Ausdrucksform des dritten levels mehr Negationsqualität zum Ausdruck bringt als der erste level, obwohl ersterer aus letzterem durch fortlaufende Strukturierung hervorgegangen ist, so bringt auch die erste Ausdruckskategorie die Negationsqualität zum Ausdruck, jedoch als ein einer anderen Qualität untergeordnetes Moment. – So zeigt sich im Verlauf der Veränderung der anfangs gegebenen Ausdrucksform diese zunehmend als die Möglichkeit des Überwiegens der zweiten Qualität in der Form des Überwiegens der ersten Qualität im Gesamtausdruck, mithin als eine »falsche«, also dahin gehend zu verändernde Form, derart, dass die zweite Qualität im Gesamtausdruck überwiegt, der als die Überwindung des Überwiegens der ersten Qualität erkennbar ist. Die Veränderung einer »positiv« gegebenen Ausgangsform des Ausdrucks der Bedeutung von »ich-bin«, so dass eine erste Qualität – »Position« – eine zweite Qualität – »Negation« – im Gesamtausdruck überwiegt, geschieht grundsätzlich in einer dualen Ausprägung, so, dass eine erste Veränderungsform den anfänglich verwirklichten Bedeutungsausdruck im Sinne einer vermehrten Repräsentation der Negationsqualität ergänzt, derart, dass die Negationsqualität gegenüber der Qualität der Position im Gesamtausdruck jedoch noch in geringerem Maße vertreten ist. Eine zweite Veränderungsform setzt diese Verstärkung der Repräsentation der Negationsqualität fort, so dass auch dann noch die Qualität der Position im Gesamtausdruck überwiegt. So fortfahrend kommt es zu einer dritten Kategorie von in Richtung auf vermehrte Repräsentation der Negationsqualität veränderten Ausdrucksformen: und dies derart, dass nun die beiden ersten Veränderungen der Anfangsform die Stelle der ersten Veränderungsform einnehmen (die trotz ihrer vermehrten Negationsqualität das Überwiegen der Qualität der Position repräsentiert), und zwar gegenüber einer insgesamt dritten, in der neuen dualen Gruppierung aber zweiten Veränderungsform, die zusammen mit den beiden ersten, jetzt die erste Veränderung ausmachenden Veränderungen zu einer Erhöhung der Repräsentation der Negationsqualität führt; und zwar derart, dass diese Negationsqualität jetzt in der Form des Gesamtausdruckes überwiegt, was gegenüber der Ausgangsform eine 536 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Veränderung der kategorialen Qualität bedeutet, indem das Verhältnis zweier Verhältnisse – d. h. zweier Verhältinispaare (die erste und die zweite Veränderungsform, jeweils im Verhältnis zur Ausgangsform), erweitert um ein neues Verhältnispaar (so dass jetzt dieses das zweite und die vorhergehenden das erste bedeuten) und umgekehrt wie bisher – das Verhältnis zweier Kategorienstufen (nämlich der niedrigeren Stufe des Überwiegens der Negationsqualität in der Form des Überwiegens der Qualität der Position und der höheren Stufe des Überwiegens der Negationsqualität in der Form des Überwiegens der Negationsqualität: also zwei kategorial verschiedene Formen des Gesamtausdrucks) und damit die Möglichkeit der Beziehung der bisherigen Gesamtbedeutung zu einer ganz neuen Bedeutung BEDEUTET. Das Schema einer fortschreitenden Veränderung eines vorliegenden Bedeutungsausdruckes von »ich-bin« im Sinne der dialektischen Bedeutungsumkehrung: die drei Phasen des in-GangKommens der Fähigkeit zu Fühlen durch Zunahme des im Gesamtausdruck repräsentierten Negationscharakters, lässt sich in zwei »Sprachen« oder Formen fassen: in der Sprache der Kategorienlehre als das Schema eines Kategorienwechsels – als der Vollendung der ersten Form des zweiten Strukturmoments des Hypothesenverhältnisses – und in der Sprache der Schwingungslehre als das Schema der Umpolarisierung – als der weiter oben angekündigten zweiten Form dieses Strukturmoments. In der Sprache der Kategorienlehre wird das In-Gang-Kommen der Fähigkeit zu Fühlen als das Entstehen einer reflektierten Kohärenz aus der Veränderung einer einfachen, äußerlichen Kohärenz erfasst, was, schematisch auf seine einfachste Form gebracht, so dargestellt sei: Die Bestimmtheit von ich-bin (sum) wird, unter Zugrundelegung der Hypothese: »ich bin, was ich nicht bin« (eine Bestimmtheit als Beziehung qua Vermittlung einer kategorial höheren Bestimmtheit), in folgender Weise umformuliert: Eine gegebene, verwirklichte Ausdrucksform von »ich-bin« oder »ich-selbst« wird dreifach verändert (Aktivierung dreier Ausdruckskategorien oder »levels« in der Primärtherapie): Zwei Veränderungsformen (im Sinne des zweiten und dritten levels) bedeuten überwiegend einen Ausdruck, der positiv auf die vorliegende Ausgangsform der Artikulation von »ich-selbst« bezogen ist – obwohl untereinander als »mehr wie ich selbst« und »mehr nicht wie ich selbst« differenziert –; sodann werden diese zwei Verände537 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
rungsformen zusammengenommen als Varianten einer ersten Veränderungsform auf eine neue zweite Veränderungform (dritter level) bezogen, die »mehr nicht ich-selbst als ich-selbst« und also die Möglichkeit der Beziehung zu ich-SELBST bedeutet: Ich bin, indem ich das Nicht dessen bin, was ich BIN, eben dies: eine Beziehung: ichSELBST. Schematische Darstellung der drei Veränderungsformen:
- + (2) mehr nicht ich-selbst
UMKEHRUNG
++ als Nicht ich-selbst: ich-SELBST
mehr ich-selbst (1) +-
(3) mehr nicht ich-selbst --
Oder in der Sprache der »levels«: Dritter Level - - - - - - - - - - - - - zweiter level - - - - - - - - - - - - erster level +-+ |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl}
-|fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl}
I II |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl} ++
Der dritte und der zweite level sind verschiedene Formen einer dualen Ausdrucksqualität; im Zusammenhang mit der nächsten Ausdrucksqualität des ersten levels ergibt sich (im Sinne der primärtherapeutischen Form der Aktivierung der drei Ausdruckskategorien) ein Überwiegen der Negationsqualität des insgesamt verwirklichten Bedeutungsausdrucks und damit die Umkehrung von dessen Bedeutung im Sinne einer neuen Bedeutungskategorie. Entsprechend stellen sich die drei Phasen des in-Gang-Kommens einer fühlenden bzw. schwingenden Bestimmtheit dar:
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Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen ++
große »vertikale« Differenz
kleine »horizontale« Differenz
kleine »horizontale« Differenz
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Auf das Schwingungsschema wird weiter unten noch einmal eingegangen werden. Die hier dargestellte Form der Primal hypothesis als eine empirische Hypothese der Heilung der Neurose als »Wiedererlangung der Fähigkeit zu Fühlen« sei im Folgenden erläutert, und zwar im Sinne zweier Themen: Das erste Thema behandelt – damit den oben genannten ersten Gesichtspunkt vollendend – die Frage des Wissenschaftscharakters dieser empirischen Hypothese, wobei sich die Erläuterung hauptsächlich auf die bereits erwähnte Argumentationsfigur bezieht: dass die primärtherapeutische Hypothese in derjenigen Form, die ihren nicht-empiristischen Charakter verdeutlicht, empiristisch akzeptabler wird. – Das zweite Thema: die Perspektive der Weiterentwicklung der primärtherapeutischen Hypothese über die erste Hypothesenbeziehung hinaus, soll die Erläuterung der hier dargestellten Hypothesenform im Sinne des weiter oben angekündigten zweiten Gesichtspunktes abrunden. Zunächst, im Rahmen der Frage des Wissenschaftscharakters dieser Form der Primal hypothesis als eine empirische Hypothese, sei noch einmal beleuchtet, wie die primärtherapeutische Hypothese eine normale Hypothesenform kontrapunktiert – wie sie »das Nicht 539 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
ihrer selbst« – bezogen auf das Anliegen einer empiristischen Ausdrucksform – ist: Der primärtherapeutische Gegenstand ist nicht die eigentlich primärtherapeutisch interessante Sache: FÜHLEN, sondern lediglich das In-Gang-Kommen des FÜHLENS; die Primal hypothesis in der ersten Form einer empirischen Hypothese hört auf, wenn der Anfang von FÜHLEN erreicht ist; sie ist nur sinnvoll als Methode der Veränderung der Verfassung des Nicht-FÜHLENS; der Inhalt des primärtherapeutischen Gegenstandes ist diese Methode der Veränderung: die Primärtherapie. Die Berücksichtigung dieses Punktes ist wichtig, um grobe und sehr zum Nachteil der Primärtherapie ausfallende Fehleinschätzungen der von ihr gemachten »Aussage« zu vermeiden. Dieser Punkt von sehr weitverzweigten Implikationen kann u. a. in einer kurzen Diskussion der hier vorgeschlagenen zweiten Form der primärtherapeutischen Hypothese – als insgesamt dem zweiten Strukturmoment des ersten Hypothesenverhältnisses –: in der Sprache einer »Schwingungslehre« gefasst, verdeutlicht werden: Heilung der Neurose durch Primärtherapie als die Wiedererlangung der Fähigkeit zu Fühlen, kann, was gerade vom empiristischen Standpunkt aus naheliegt, beschrieben werden als Hineingelangen in »eine Schwingung« oder in einen Zustand des »Schwingens«, während Neurose dann einen Zustand des Festgefahrenseins und daher des Nicht-mehr-Schwingens bedeuten würde. Von hier aus liegt es dann sehr nahe, den humanwissenschaftlichen Gegenstand als ein Ensemble von Schwingungen, als eine schwingende Ganzheit zu interpretieren, was bereits eine objektive Gegenstandsform bedeuten würde, derart, dass physische und psychische Energien als Schwingungen verschiedener Frequenz aufgefasst werden, was u. U. den subjektiven Ansatz einschließen könnte, Bewusstseinszustände als Schwingungszustände zu bestimmen, die subjektiv identifiziert, klassifiziert usw. werden können. Wie interessant eine solche Hypothese auch sein mag: sie entspricht – nach der hier dargelegten Auffassung – nicht dem Ansatz der primärtherapeutischen Hypothese. Diese fragt nicht, ob man, was Bewusstsein sei, vielleicht mit Hilfe des Schwingungsbegriffs empiristisch deuten könne; vielmehr führt sie eine neue Weise ein, »Schwingung« zu denken, derart, dass man – zunächst – nicht von vielen Schwingungen, aus denen sich die menschliche Bestimmtheit etwa zusammensetzt, sprechen kann, sondern nur von einem sehr umfassenden, u. U. sehr langsam vonstattengehenden Geschehen, 540 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
das als Schema des Zum-Ausdruck-Gelangens einer Bestimmtheit im Sinne der »Schwingung« aufgefasst werden kann. Das Zustandekommen dieser einen, besonderen Schwingung als Resultat der Veränderung der menschlichen Bestimmtheit im Ganzen – so dass sie erstmals als Ganzes und so auf einen neuen Gegenstand, bezogen auf dieses neue Ganze, reagiert –: nur diese eine, primärtherapeutisch-spezifische Bewegung wird hier das In-GangKommen der »Schwingung« bzw. die Verwirklichung des Schwingungscharakters des Ganzen der menschlichen Bestimmtheit genannt, was natürlich die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem empiristischen Schwingungskonzept einschließt – im Hinblick auf die Möglichkeit dieses Kontaktes ist es ja so formuliert worden –, jedoch als ein zu lösendes Problem bzw. die Aufgabe, von der neuen und relativ eigenständigen und daher zunächst für sich zu bestimmenden primärtherapeutischen Analyseebene die dialektisch korrekte Rückverbindung zur Ebene der empiristischen Begriffe zu entwickeln. Die primärtherapeutische Explikation bedeutet einen neuen, kategoriallogisch höheren Ansatz; sie bedeutet das Paradigma einer – gegenüber dem empiristischen, als Atomhypothese ausgedrückten Paradigma – neuen, primären Einheitsebene, jedoch, als Paradigma (nicht der Spaltung, sondern) der primären Verbundenheit einer logischen Dualität, mit der Implikation eines Anfangs nicht ab ovo, sondern eines Ansatzes als einer Weiterentwicklung bestimmter, gegebener Voraussetzungen, die sich im Gegebensein der empiristischen Wissensform konzentrieren, so dass der empiristische Begriff der Schwingung die Voraussetzung eines entsprechenden primärtherapeutischen Begriffs ist: als ein solcherart bestimmter Anfang beginnt die primärtherapeutische Explikation faktisch auf ihrer neuen Ebene, abgehoben von der Ebene der empiristischen Explikation, als Verwirklichung der Hypothese der Verbundenheit beider Explikationsstufen als Verbundenheit einer höheren und einer niedrigeren Kategorie im Sinne der Hypothese der Aufhebbarkeit der niedrigeren in die höhere Kategorie und also des Kategorienwechsels für die niedrigere Kategorie. Was also zu Anfang der primärtherapeutischen Explikation im Sinne der Artikulation ihrer neuen, eigenständigen Ebene von der Verbindung mit der empiristischen Ebene zuerst zu erkennen ist, kann so beschrieben werden, dass die Explikation der primärtherapeutischen Hypothese die Explikation einer Rahmenerfahrung als einer Erklärung bedeutet, warum die Deutung der objektiven Erfah541 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
rung im Sinne einer Theorie der Schwingungen als sinnvoll erlebt wird. An dieser Stelle soll damit folgendes gesagt sein: Die primärtherapeutische Hypothese ist nicht nur die Hypothese lediglich des In-Gang-Kommens des FÜHLENS; noch fundamentaler ist sie eine Hypothese lediglich des In-Gang- Kommens einer HYPOTHESE; d. h., sie ist die Voraussetzung oder das Möglichwerden einer Hypothese, dies stärker gefasst als in dem normalen Sinn, wenn eine empiristische Hypothese logisch-methodisch noch nicht ausgereift ist: Sie ist das Heranwachsen der Bedingung der Möglichkeit einer neuen Stufe erfahrungswissenschaftlicher Wissensgewinnung. Um die primärtherapeutische Hypothese zu verstehen, muss vorrangig der Hiatus zwischen dem empiristischen und dem primärtherapeutischen Ansatz betont werden; diese bedeutet nicht nur einen Ansatz einfach auf neuer, höherer Ebene, alles Vorausgegangene hinter sich lassend. Sie bedeutet im stärkeren Sinn etwas ganz Neues: das Fassbarwerden von etwas, das qualitativ noch gar nicht da ist; das Wirksamsein von etwas, das es noch gar nicht gibt – und daher einen ganz neuen logischen Status, der nur in den alten Begriffen ausgedrückt werden kann (»die primärtherapeutische Hypothese ist eine Erklärung der empiristischen Theorie der Schwingung als dem fassbaren Ausdruck des Einheitsparadigmas empiristischer Wissensgewinnung«), indem diese Begriffe nicht die eingeführte Bedeutung haben, sondern die neue Bedeutung des Empirischwerdens dessen, was bisher per definitionem nicht-empirisch war: der Bedingung der Möglichkeit empirischer Erfahrung als das WERDEN einer neuen Stufe derselben. Dies ist so wichtig zu betonen, weil das Gesetz des Stadiums dieses WERDENS verletzt und das WERDEN damit unterbrochen, gehemmt, wenn nicht gar verdorben wird, wenn dieser Keim einer HYPOTHESE zu verfrühter Äußerung gezwungen wird, um die Verbindungsfähigkeit derselben zu beweisen. Dieses verfrühte Unter-Beweis-Stellen der Verbindungsfähigkeit als tatsächlich eine Kurzschluss-Gefährdung bei der Installierung jener Leitungen, über die der Sinn der primärtherapeutischen Hypothese zum Aufleuchten gebracht werden soll, wird in der Janovschen Explikation vielfältig deutlich; vor allem jedoch in seinen Bemühungen in Richtung der Verbindung der Primärtherapie mit der empiristischen Einzeldisziplin der Physiologie als der wissenschaftlichen »Grundlage« der Primärtherapie. 542 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Die primärtherapeutische, dialektische Explikation beginnt als das Anheben einer neuen Verwirklichungsform, derart, dass von dieser Ebene aus alles neu entdeckt und formuliert werden muss, und die Formulierung der korrekten Beziehung von primärtherapeutischen und klassischen Begriffen bzw. der primärtherapeutischen Hypothese und einzelwissenschaftlichen, klassisch-empiristischen Konzepten dürfte zu jenen Problemen gehören, die erst in einer viel späteren Phase der Entwicklung der primärtherapeutischen Hypothese zur PRIMAL HYPOTHESIS gelöst werden können. Das Konzept schwingender Energien ist das wissenschaftliche Grundlagenkonzept. Das Schwingungsschema wurde hier verwendet, um auf die tiefe Angemessenheit des dialektischen Denkens im Hinblick auf den Ausdruck jener Ideen hinzuweisen, die dem menschlichen Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis zugrunde liegen. Das Schwingungsschema deutet daher die Richtung an, in die sich die Primal hypothesis als empirische Hypothese im Sinne des Heranreifens einer Grundlagentheorie erfahrungswissenschaftlicher Wissensgewinnung weiterentwickeln muss: Der voll entwickelte Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung als Reihe sukzessiver Veränderungen der gegebenen Anfangsform der empiristischen Wissensgewinnung muss als eine Schwingungstheorie als der Verbindung der empiristisch und der primärtherapeutisch gefassten Schwingung im Sinne der Begründung jener durch diese – »Begründung« als Beginn der HYPOTHESE der Aufhebbarkeit verstanden – dargestellt werden. Zunächst muss die primärtherapeutische Schwingung jedoch in ihrer eigenen Bedeutung gesehen werden, so dass nur ein erster Anfang davon gesehen werden kann, wie diese Bedeutung der Schwingung die Richtigkeit und Sinnhaftigkeit objektiver Aussagen über Energieschwingungen begründet. Von dem hier diskutierten Anfangsstadium der primärtherapeutischen Hypothese aus bedeutet die objektiv gedachte Schwingung – grundsätzlich, damit einen großen Bogen, ohne die nötige Feinvermittlung, schlagend –, erstens, eine nicht zu Ende geführte SCHWINGUNG: Objektiv erfasste Schwingungen, ebenso wie objektive Gegenstände überhaupt, sind gültig, weil die im primärtherapeutischen Prozess als möglich erfahrene Aufhebung derselben (als die Einbeziehung einer niedrigeren Schwingungsordnung in die höhere Ordnung der SCHWINGUNG) ein langwieriges Werk und nicht so einfach zu vollenden ist; zweitens, 543 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
die Möglichkeit des begreifenden Sich-zur-Erfahrung-Bringens, wie die klassisch-empiristischen Begriffe durch die primärtherapeutischen Begriffe verstehbar werden: Die empiristische Methode und damit auch der empiristische Begriff der Schwingung bedeutet insgesamt: Wissen auf der Basis des Gegebenen; Wissen als Methode des Eingehens auf das Gegebene als dem in dieser Weise methodisch aufgegriffenen gegebenen Grund wissenschaftlicher Erfahrung. Die primärtherapeutische Methode bedeutet eine Weiterführung der Methode der Wissensgewinnung durch Eingehen auf das Gegebene, was jetzt einen Methodenwechsel impliziert: eine neue Deutung von »das Gegebene«; sie beginnt bei der für sie vorauszusetzenden Anfangsform, die von der neuen Explikationsstufe aus zunächst global als die Möglichkeit genommen wird, das Gegebene als eine Bestimmtheit im Sinne der Schwingung aufzufassen – in dem anfänglich noch unbestimmten Sinn, wie die primärtherapeutische Erfahrung die empiristische voraussetzt –, als einer Form von Nicht-SCHWINGUNG und somit als die Veränderung der als Nicht-SCHWINGUNG vorausgesetzten Schwingungen im Sinne des In-Gang-Kommens der großen SCHWINGUNG. So lässt gerade die Berücksichtigung ihres im doppelten Sinne nicht-empiristischen Charakters: als das Werden der Bedingung der Möglichkeit der Weiterentwicklung der empiristischen Hypothesenform in Richtung auf die PRIMAL HYPOTHESIS (als der Hypothese der Aufhebung der empiristischen Hypothesenform), so dass sich die dialektisch korrekte Verbindung herausbilden kann, die primärtherapeutische Hypothese zunehmend in ihrem zutiefst empiristischen Wesen sichtbar werden. Die weiteren Erläuterungen zum Verständnis der dargelegten einfachsten Form der Primal hypothesis als eine empirische Hypothese mündet somit in das zweite Thema – und damit zugleich in den Zuständigkeitsbereich des oben angekündigten zweiten Gesichtspunkts – der Perspektive der Richtung der Weiterentwicklung durch Veränderung des ersten Hypothesenverhältnisses als das praktische Möglichwerden der Voraussetzung für das Entstehen der PRIMAL HYPOTHESIS als eine ›methodologische Hypothese‹. – Auch dieser Abschnitt gliedert sich in zwei Teile: in einen Teil der Erläuterung eines mehr grundsätzlichen Verständnisses dafür, wie eine entsprechende Veränderung der Ausgangsform der Primal hypothesis als empirische Hypothese zu denken ist; dieser mehr auf das nähere Ver544 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
ständnis der hier dargestellten Ausgangsform der primärtherapeutischen Hypothese hin akzentuierte Teil der weiteren Erläuterungen bildet den Abschluss dieses Kapitels. Der zweite Teil des Kommentars zum Verständnis der Primal hypothesis als eine empirische Hypothese, der das Verständnis ihres Charakters als WERDEN der PRIMAL HYPOTHESIS als methodologische Hypothese abrundet, wodurch ihr Verhältnis zur empiristischen Hypothesenform noch klarer hervortritt, bildet dann den Gegenstand des die Darstellung der SACHE SELBST im Sinne des Darstellungsabschnittes der hier vorliegenden Arbeit abschließenden Kapitels. Als Ansatzpunkt für eine nähere Erläuterung der Primal hypothesis als empirische Hypothese, so dass dies zugleich die Form ihrer Weiterentwicklung in Richtung auf die PRIMAL HYPOTHESIS deutlich zu machen beginnt, diene die folgende Feststellung: Die Ausgangsform der primärtherapeutischen Hypothese ist eine Form der Beschreibung der praktischen Methode der Primärtherapie, derart, dass sie das Spezifische der primärtherapeutischen Methode so wiedergibt, dass diese Form nicht nur im engeren Sinne auf die Primärtherapie, sondern auch auf andere Therapieformen anwendbar ist. Man vergegenwärtige sich: Die Beschreibung der Methode als eine Verwirklichung, derart, dass, was ich als ich-selbst zum Ausdruck bringen kann, als die Negation, das Nicht einer ganz anderen BEDEUTUNG genommen wird, so dass ich – nicht einfach auch »etwas ganz anderes« bin, etwas, »das ich mir nicht einmal im Traum hätte einfallen lassen«, und das Nicht meiner selbst eine mögliche weitere Verwirklichung neben und außerhalb meiner jetzigen Verwirklichung wäre, sondern – finde, was ich bin, indem ich das, was ich bin, als eine Art von Widerstand, eine Gegenbesetzung gegen eine ANDERE BEDEUTUNG handhabe –: Man sieht in dieser empirischen Beschreibung des Zu-einer-Primärerfahrung-Hingelangens die Gesichtszüge der Psychoanalyse Freuds. Die gegebene Form des ich-bin als Voraussetzung der psychoanalytischen Veränderung wird als ein »Widerstand«, eine »Gegenbesetzung« gegen eine umfassend andere Form gedeutet, was jedoch nicht so zu verstehen ist, dass man durch einen technischen Trick oder heroischen Entschluss zu der umfassenderen, eigentlichen Form einfach übergehen könnte – das wäre auf jeden Fall nicht psychoanalytisch und nicht primärtherapeutisch –; vielmehr kann man die andere Form nur durch eine Methode des Eingehens, der eingehenden Veränderung der gegebenen Form erreichen – wie ja auch einzelne Inhalte des Unbewussten: Phanta545 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
sien, Erinnerungen, Träume etc., nur »zu haben« sind, indem sich die jetzige Form des ich-bin darauf bezieht, mithin durch eine Veränderung der Strukturierung der gegebenen Form des ich-bin in dieser Beziehung. – So ist die Veränderung der gegebenen Form des ichbin als einer Gegenbesetzung gegen die eigentliche Form der Weg der Ermöglichung des Wirklichwerdens der ganz anderen Form, so dass die Ichstruktur als Gegenbesetzung eine noch unvollständige Vermittlungsform anzeigt, so dass, was vermittelt ist: ich-selbst im Sinne der Ichstruktur, einesteils ein positiver Ausdruck der eigentlichen Bedeutung von ich-selbst ist, andernteils eine »Abwehr« gegen die in dieser Form unvermittelt gebliebenen »Es-Impulse« oder »Gehalte des Unbewussten« als den Repräsentanten des Gesamtmaßes der Arbeitsanforderung an die Vermittlungsleistung einer Bestimmtheit, die wesentlich die Bestimmtheit der Vermittlung ist, und der Prozess der Veränderung dieser Ichstruktur – qua Heilung der Neurose – vollendet ist im Erreichen einer Struktur von der Art der »reinen Vermittlung« – von der Art einer Bestimmtheit eines MittelSeins, das nichts sonst mehr ist als Gewahrwerden und Wahrmachen von Wahrheit – dessen, was IST. Wiederum führt sich der Prozess der Veränderung – nach der individuellen Kontaktaufnahme mit dem Paradigma der Methode der Veränderung: irgend einem ausreichend einleuchtenden Beispiel dafür, was mit der Hypothese: »ich bin, was ich nicht bin«, gemeint sein könnte –, einmal eingefädelt, wie von selbst und nach dem für ihn charakteristischen Schema durch: Die Form des Zur-ErfahrungBringens des Gegebenen in der Psychoanalyse bedeutet zuerst »mehr ich-selbst« – man beginnt bei ich-näheren Artikulationen –, dann »mehr nicht-ich-selbst« als insgesamt zwei Formen von »mehr ichselbst«, bezogen auf eine stärkere Form von »mehr nicht-ich-selbst als ich-selbst und daher als nicht-ich-selbst eben dies: ich-SELBST«: Die Methode des Erreichens der Heilung bringenden, gegenüber der »Neurose« bedeutenden Ausgangsbedeutung ganz anderen BEDEUTUNG von ich-selbst verläuft als Methode der Gegenumkehrung einer als Umkehrung einer wahren BEDEUTUNG gedeuteten Bedeutung. Diese logisch-methodische Hypothese hat viel für sich, wenn man sie an den Ort bringt, wo sie anfängt, einem etwas zu sagen, so dass man beginnt, sie für möglich zu halten. Mit einer solcherart veränderten Grundeinstellung läuft der Prozess, einmal eingefädelt, wie von selbst ab – er hat eine Eigendynamik: Die menschliche Bestimmtheit stellt sich so dar. Görres verweist in diesem 546 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Zusammenhang auf die »Ordnung […] (des) frei sich selbst überlassenen Geschehen(s)« (Görres 1965, S. 41). So sieht man in der hier versuchten Form der Beschreibung der Primal hypothesis als empirische Hypothese in gebührendem Maße deutlicher die Psychoanalyse Freuds als den wirklichen Vater der Janovschen Primärtherapie, der die von Görres zitierte »Ordnung« durch Methodenwechsel um eine Stufe weiter verfolgt: um jene Stufe der Verwirklichung der Bedeutung von Ich-selbst-als-nicht-ichselbst, welche, gemäß der Ordnung einer nunmehr dialektisch verfassten Methode, die spekulative Satzform als Struktur der Sache selbst zutage treten lässt: POS.
Pos.
Neg.
Neg. d. Neg.
Damit ist die Betrachtung an einem für die Eröffnung der Perspektive der Weiterentwicklung der Primal hypothesis als empirische Hypothese entscheidenden Punkt angelangt. Die Beschreibung der praktischen Methode der Primärtherapie nach dem Modell der spekulativdialektischen Satzform ist im Ansatz eine Form, den logisch-methodischen Gehalt der Primal hypothesis dadurch für eine Entwicklung in Richtung auf die PRIMAL HYPOTHESIS zu bewahren, dass er als von jener individuellen Einzelgestalt ablösbar dargestellt wird. Obwohl das logische Wesen der Primärtherapie ein solches Vorgehen impliziert: dieses wendet ja nur die logische Figur des Vorgehens der Primärtherapie auf sie selbst an, würde es doch vermutlich schwierig sein, dieses Vorgehen Janov selbst gegenüber zu vertreten, und sicher ist es auch schwierig, diesen Punkt richtig zu handhaben. Ganz zu Recht wehrt sich Janov entschieden dagegen, dass man seine Entdeckung »verdünnt« verallgemeinert oder Teile isoliert herausgreift (das wäre allerdings in Bezug auf die Psychoanalyse Freuds genauso bedenklich). In diesem Fall handelt es sich jedoch nicht um eine abstrahierende Verallgemeinerung, so dass der wesentliche logisch-methodische Gehalt dabei unbestimmter würde, sondern um das Extrahieren dieses Gehaltes im Hinblick auf eine und zugunsten einer Verwirklichung seiner Bestimmtheit. 547 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Wenn es nur einen Zugang zum Gehalt der primärtherapeutischen Methode gäbe: die Janovsche Primärtherapie (als eine Primärtherapie bei Janov) und sonst nichts – dann würde und könnte dieser Gehalt (und damit die Primärtherapie) nicht existent sein. Genau dies ist die Form, die die Janovsche Primärtherapie als der Inbegriff einer »neurotischen Verwirklichungsform« überwinden will: diejenige Form als Ausdruck einer Sache, derart, dass die Sache an einer und nur an dieser einen Form klebt und auf diese festgenagelt ist; denn dies bedeutet, dass die Form ihre Qualität als Ausdruck von Identität und damit ihr Leben als eine Wahrheitsform einbüßt, insofern sie, indem sie nichts weiter ist als das, was sie ist, zu dem merkwürdig irrealen Symbol eines Wahrheitsausdrucks herabsinkt: »If one can only be one way, something is wrong.« (Janov 1975, S. 437)
Das gilt auch für die Primärtherapie insgesamt. Der Gehalt der primärtherapeutischen Methode gewinnt Leben, entsprechend dem Lebendigwerden der Janovschen Ausdrucksweise, im Annehmen der Bewegtheit der primärtherapeutischen Bedeutung: Es ist … das und das, und indem es das und das … ist, ist es eigentlich etwas ganz anderes … usw. Nur in dieser Gestalt der Wandlung hat die Primärtherapie Bestand, erstens in dem Sinn, dass, was an ihr zunächst negativ als Verstoß gegen eingeführte Regeln ins Gewicht fällt, als ein universales, über sie hinaus gültiges Moment, wie Wahrheit sich verwirklicht, offenbar wird, so dass sie, zweitens, dann und nur dann eine wirkliche Chance hat, sich als Werden einer PRIMAL HYPOTHESIS zu verwirklichen. Das Dahinfallen der logischen Grenzen im neuen Einheitsparadigma der Dualität ist nur möglich im Sinne eines Universalschemas, welches, indem es auf neue Weise Differenz berücksichtigt, sukzessiv die Brücke zurück schlägt zu dem vorerst »ruckartig« verlassenen, anderen Ufer des Einheitsparadigmas empiristischer Gespaltenheit. Sich über die Regeln der empiristischen Wissenschaft hinwegsetzen kann die Primärtherapie nur, indem sie anfängt, glaubhaft zu machen, dass die empiristische Erfahrung von einem zu verwirklichenden neuen Standpunkt aus aufhebbar ist. Gerade um dieses zu erweisen, muss sich ihr logischmethodischer Gehalt different artikulieren, und zwar in einer Stufenfolge von Formen, die die zunichte gewordenen Differenzen auf andere Weise verwirklichen, in solchen Formen, in denen diese Differenzen aufhebbarer und zuletzt aufhebbar werden. 548 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Dies bedeutet für die Primal hypothesis als empirische Hypothese, dass sie sich in charakteristisch differenten Ausprägungen verwirklichen muss, derart, dass es zu den nun schon bekannten differenten Kategorien von Ausprägungen kommt. Wenn nun die erste Ausprägungskategorie – so dass hier die Primärtherapie überwiegend »sie selbst« ist – die durch die Janovsche Primärtherapie i. e. S. vermittelte Primärerfahrung ist, wie ist dann eine zweite Ausprägungskategorie zu denken? In welcher Weise muss sich die Primärtherapie verändern, um »sie selbst« zu bleiben, indem sie »nicht sie-selbst und also sie-SELBST« wird? – Unzweifelhaft ist die Richtung der Veränderung so bestimmt, dass die Formen der Praxis universaler werden, und zwar in jenem dialektischen Modus des Universalerwerdens, der ein Bestimmterwerden, eine Höherentwicklung des Bestimmtseins der Bestimmtheit bedeutet, bis die Formen so entwickelt werden wie das Leben selbst: wie eine lebende menschliche Bestimmtheit. Als Ausdrucksindividuum eines logisch-methodischen Gehaltes verwirklicht sich die Primärtherapie: (1) als Primärtherapie, (2) als andere Formen von Psychotherapie als Primärtherapie und (3) als andere Formen von Lebenspraxis als Primärtherapie. Die eigentliche Verwirklichungsform der Primärtherapie – jene Form der Verwirklichung, von der aus sich der Schritt zur Artikulation als PRIMAL HYPOTHESIS mühelos und wie von selbst ergibt – ist die Verwirklichung als begriffene, BEWUSSTE Lebenspraxis der vielen Verwirklichungen menschlicher Bestimmtheit. Psychologie als Primärwissenschaft wird lebendig ab einem bestimmten Grad der Universalität der Form eines entsprechend universal kommunizierten Inhalts. Psychologie als Primärwissenschaft ist die Ausarbeitung des logischen Schemas, welches das menschliche LEBEN SELBST zum Ausdruck bringt, indem es BEWUSST-FÜHLEND gelebt wird. Die Weisen der Verwirklichungen des logischen Schemas sind so vielfältig wie die unendliche Zahl der Verwirklichungen menschlicher Bestimmtheit – insofern ist jede Verwirklichung des logischen Schemas idiosynkratisch ausgezeichnet: »People become homosexual for idiosyncratic reasons […] The reason for the homosexuality in a person will be discovered only by him […] Out of the welter of human experience, how can a therapist ever know what produced heroin addiction or homosexuality? The question is wrong. A therapist can’t. […] We can’t. But a patient who feels […] will know […]« (Janov 1973a, S. 31)
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
»Primal theory simply says that the only validity is in experience. The only psychologic truth is experienced truth.« (Janov 1973a, S. 27) »Primal Therapy believes that everyone of us is different; therefore techniques must be applied differently.« (Janov 1975, S. 443)
So entwickelt sich die praktische Form der Primärtherapie in Richtung auf größere Universalität und Individualität; und so muss zugestanden werden, dass es verschiedene Weisen gibt, sich auf FÜHLEN hinzubewegen. Für jeden Einzelnen muss es – und das gilt auch innerhalb der Vermittlung von FÜHLEN durch eine Therapieform wie auch innerhalb der Primärtherapie, wo ebenfalls jeder einen eigenen »Primal style« herauszufinden hat (Janov 1975, S. 433) – ein Paradigma geben, derart, dass er sich selbst in Beziehung setzt zu der primärtherapeutischen Hypothese. Für einige mag es die Primärtherapie i. e. S. sein, für andere die Psychoanalyse Freuds oder eine andere Therapieform oder etwas »ganz anderes« – um wieder die entsprechende Einstellung Janovs zu Wort kommen zu lassen: »Crying is not necessarily feeling […] Screaming is hardly Primal Therapy […] The scream is what some people do when in Pain; others react differently to Pain.« (a. a. O., S. 439)
So gibt es für jeden eine eigene, für ihn beste Verwirklichung der spekulativen Satzform – dazu noch einmal Janov: »I believe that there is one reality, a single, precise set of truth about each of us that is not open to interpretation.« (Janov 1970, S. 245)
Und wenn einer sein Paradigma jetzt nicht findet, so ist es vielleicht für ihn richtiger, es vorläufig nicht zu finden, als verfrüht eine daher für ihn falsche Form zu verwirklichen – auch diese gewagte Äußerung wird vom logischen Gehalt her von Janovs Worten begleitet, wenn er sagt, dass das primärtherapeutische Ins-Fühlen-Kommen bedeutet: »to experience a Primal feeling whose time has come.« (Janov 1975, S. 429)
Und so mag es für manch einen mehr FÜHLEN bedeuten, vorerst nicht zu fühlen und in Gottes Namen neurotisch zu sein, um so die Voraussetzungen für die für ihn richtige Weise des In-Gang-Kommens des FÜHLENS zu schaffen. Irgendwann einmal, so ist im Sinne des universalen logisch-methodischen Gehalts der Primal hypothesis anzunehmen, macht ein jeder seine Entdeckung der Form, wie er das, was er nicht ist, unleugbar ist, in der für den Betreffenden faszinie550 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
rendsten und den Sinn seines Ganzseins erweckenden Weise, und das ist für ihn das Beginnen des Gespürs dafür, was dies: das Nicht seiner selbst zu SEIN, bedeuten könnte und bedeutet, weil es bereits angefangen hat, in ihm zu wirken, und das ist der Anfang seiner Primärtherapie – der Anfang der Primal hypothesis als einzelwissenschaftliche Hypothese qua hypothetisches Wissenschaftlichwerden der Erfahrung des Einzelnen. Das In-Gang-Kommen der Fähigkeit zu Fühlen ist nicht in einem zu engen Sinn unter äußere Regeln zu bringen; hier ist und bleibt um einen charakteristischen Betrag mehr Spielraum für die Anwendung des logisch-methodischen Kerns der Hypothese, jener größere Spielraum, der »Freiheit« als Voraussetzung dafür, dass eine Manifestationsform als Ausdruck von SUBJEKTIVITÄT wirksam ist, anzeigt. Und die Richtigkeit der Anwendung muss man FÜHLEN, und wenn sie gefühlt wird, wird der Betreffende auch eine Form finden, die für ihn als Beweis ausreicht – für den Betreffenden und für diejenigen, die diese individuelle Ausformung der Sache etwas angeht. (Diese Konstellation bildet durchaus die Situation der empiristischen Wissenschaft ab: Auch hier sind bestimmte Experimente oder Resultate derselben beeindruckend vor allem für diejenigen, die etwas davon verstehen.) Indem der Beweis eine spezifische Verwirklichungsform des FÜHLENS bedeutet, wirkt er auch spezifischer: Er erreicht diejenigen, die für ihn aufgeschlossen sind – eine höhere Stufe von Beweis. Denn wie sollte man es auch auf dem Hintergrund einer Theorie, die vor der Hypothese der SUBJEKTIVEN Begründetheit der objektiven Gegenstände nicht zurückschreckt, sinnvoll finden können, jemandem gewaltsam etwas beweisen zu wollen, was der Betreffende durchaus nicht wissen WILL? Die Primal hypothesis als eine wissenschaftliche Hypothese beginnt, auf der Voraussetzung einer nicht wissenschaftlich dokumentierbaren, konkret-individuellen Primärerfahrung, als eine Explikation der logisch-methodischen Form dieser Erfahrung; näherhin als das Verhältnis zweier Formen dieser Erfahrung: einmal der Explikation der vorläufig in ein erstes Schema fixierten Form einer bestimmten, diese Erfahrung vermittelnden Praxis, mithin zunächst der Janovschen Beschreibung dieser Praxis in Form seiner Äußerungen, sodann einer ersten Form der Explikation des logisch-methodischen Gehalts dieses Schemas der Praxis der Primärtherapie, etwa im Sinne der hier vorliegenden Äußerungen. Die weitere Entwicklung ist, global gesehen, so zu verstehen, 551 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
dass auf der einen Seite immer mehr Formen der Beschreibung dieser die Primärerfahrung vermittelnden Praxis dokumentiert sind – jedoch nicht nur in einem rein quantitativen Sinne »viele Beschreibungen von derselben Art«, vielmehr im Sinne kategorial differenzierter Ausdrucksformen dieser Praxis. Solche Stufen von Beschreibungen sind: Die Stufe der Primärtherapie i. e. S., die Stufe der Psychotherapie und die Stufe der »Psychologie des Alltagslebens«, wobei jede Stufe eine charakteristische Einheit einer bestimmten Anzahl qualitativ einander entsprechender Beschreibungen und damit eine Ausdruckskategorie bedeutet. Auf der anderen Seite ergeben diese Beschreibungen im Sinne des je zweiten Strukturmoments der Hypothesenbeziehung – gleichzeitig als Orientierungslinie dafür, dass sich diese Beschreibungsformen in Richtung auf eine kategorial höhere, bestimmtere Bestimmtheit zubewegt – jeweils eine Stufe der Präzisierung des einen logisch-methodischen Schemas, so dass die vielen Formen verwirklichter Praxis schließlich wie von selbst in eine als Transzendentalphysik bestimmbare Form als dem Ausdruck ihrer logisch-methodischen Einheit einmünden: in den Anfang der PRIMAL HYPOTHESIS als methodologische Hypothese.
2.2.3. Zusammenfassende, abschließende Bemerkungen zur Dialektik von klassisch-empiristischem und primärtherapeutischem Begriff der Erfahrung Die Ausführungen dieses letzten Abschnittes konzentrieren sich auf die Erläuterung des Satzes, für den ein Verständnis zu erwecken das Anliegen aller bisherigen Ausführungen bildete: »Die Primärtherapie ist empiristisch zu begründen – und damit als eine wissenschaftliche Disziplin auszuweisen, indem sie die empiristische Wissenschaft begründet.« – Das schwierigste Problem dabei, solches darzulegen, besteht darin, für eine nicht-empiristische, jedoch empiristisch relevante Darlegung überhaupt einen Platz zu schaffen, so dass die Darlegung ihre Funktion ausüben kann. Der logisch-systematische Ort der Ausübung dieser Funktion gewinnt Konturen im Zusammenwirken der Aktivitäten von zwei Seiten aus: von der Seite der empiristischen Wissensform aus, durch betrachtendes Sich-Hineinvertiefen in die Charakteristika der empiristischen Wissensform; und von der »Seite« eines noch nicht existenten Standpunkts aus, als Sehen oder In-Kontakt-kommen-Wollen 552 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
mit dem umfassenderen Ganzen, als dessen Teil (Moment) die empiristische Erfahrung begriffen werden muss, denn dies: Teil oder Moment eines umfassenderen Ganzen, muss sie als das beschränkte Wissen, als das sie sich selbst versteht, sein. Wie ist ein Schritt auf das größere Ganze zu möglich als eine Weiterentwicklung des ihm untergeordneten Strukturmoments? – Der Schlüssel und Ansatzpunkt einer solchen Weiterentwicklung ist: das zu repräsentieren, was die untergeordnete Teilform ist, indem sie es nicht ist; d. h.: Jenes Nicht muss artikuliert werden, das für die (Beschränktheit und damit) Bestimmtheit der Bestimmtheit notwendig – »konstitutiv« – ist, um diese beschränkte Bestimmtheit zu sein. Damit wird die Weise des Aufhörens einer Bestimmtheit: ihr Verhältnis zur Negation, ein Schlüssel zum Verständnis ihres logischen Charakters. Die Bestimmtheit der empiristischen Erfahrung kann eine Zusammenhangsform der »Spaltung« genannt werden, indem ihr Verhältnis zur Negation sich nicht, d. h. nur als ein Abbrechen der Formulierung der Bestimmtheit, die den Erkenntnisgegenstand bedeutet, zeigt: Die Aufmerksamkeit wird dahin gehend trainiert, nur diese eine Art von »empirisch realen« Gegenständen wahrzunehmen – und sonst nichts. Die Intuition, wie es weitergehen könnte, weist also in die Richtung zu versuchen, dieses für die Bestimmtheit grundlegend Wichtige: ihr Aufhören an einem ganz bestimmten Punkt, noch einmal zur Sprache zu bringen: die Beziehung der Bestimmtheit zu der sie definierenden Negation in der Weise zu repräsentieren, dass diese in den für sie (die Bestimmtheit) selbst relevanten Momenten in sie aufgenommen wird, wodurch sich der Charakter des positiv ausgesagten Moments tiefer erschließt. Eine höhere Bestimmtheit zeigt sich in dieser Überlegung als eine Bestimmtheit, die mehr Momente von dem, was sie nicht ist: der sie als diese Bestimmtheit konstituierenden Negation, als für sich, als für ihre positiv ausgesagte Bestimmtheit relevant in sich aufnehmen kann – bis sie das volle Maß der »sie umgebenden« und ihre Bestimmtheit in der Tat definierenden Negation in sich aufgenommen hat und somit mehr Negation als Position ist, so dass sie sich in ihrem logischen Charakter als bestimmte Negation, d. h. als Methode der Erlangung einer höheren Stufe des Bestimmtseins, verwirklicht. Eine Möglichkeit der Weiterentwicklung der empiristischen Wissensform ist in der Richtung zu suchen, ihr spezifisches Negation-Sein zu repräsentieren – dasjenige, was diese Wissensform, um sie 553 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
selbst zu sein, nicht ist –, und dies im Zusammenhang mit der als Position gemeinten Bedeutung, nicht irgendwie losgelöst davon und im Abseits der wissenschaftlichen Formulierung; denn der springende Punkt einer Weiterentwicklung ist ja das Besondere, das erreicht werden kann durch eine Ergänzung des positiven Moments einer Bestimmtheit um die für sie relevanten Negationsmomente, derart, dass diese Verbindung ihr die Verwirklichung als Strukturmoment einer Objektebenenstrukturierung ermöglicht, was ihr zugleich die Möglichkeit ihrer höheren Verwirklichung in der BEZIEHUNG zu ihrer Metaebenenbedeutung eröffnet. Die klassische Art der Repräsentation des für eine Gegenstandsbestimmtheit konstitutiven Nicht – als ein Abbrechen der Artikulation derselben – führt ab einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter, ja sie wird falsch, indem das, was für die Bestimmtheit doch von größerer Wichtigkeit ist als sie selbst – nämlich das, was sie konstituiert –, ihr konsequent äußerlich und nichtssagend bleibt: kein Zusammenhang – Gespaltensein –, wo doch ein Zusammenhang IST. D. h., sowohl die Kantsche als auch die Wittgensteinsche Trennung von Metaphysik und Naturwissenschaft – im Sinne des berühmten Satzes: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« (Wittgenstein 1966, S. 115) – genügt auf die Dauer nicht; vielmehr schafft sie, auf die Dauer, eine unhaltbare Situation: Irgendwann einmal muss das Nicht, in seinem Nicht-Aussagen-Charakter, schließlich einen Weg finden, in die Aussagen-Ebene hineingenommen und als dasjenige, was deren Sinn als Mittel der Wahrheitserkenntnis maßgebend bestimmt, berücksichtigt werden. Die hier vorliegende Arbeit ist zu verstehen als das Bemühen, den Gedanken zum Ausdruck zu bringen, dass ein wissenschaftliches Begreifen der neuen Qualität der primärtherapeutischen Erfahrung nur in dem Sinn geschehen kann, dass das gegenüber der empiristischen Wissensform insgesamt Neue zum Ausdruck gebracht wird, nämlich die Bedingungen ihrer Möglichkeit als seiner Form nach dasjenige, was empiristisch nicht ausgesagt werden kann. Wenn dieses Zur-Sprache-Bringen der Voraussetzungen empiristischer Erkenntnis – dessen, worüber im empiristischen Sprachraum nicht gesprochen, nur geschwiegen werden kann – als Voraussetzung der empiristischen Wissensform erkennbar sein soll, so muss die logische Qualität des Nicht (-Empirischseins) der Weise, wie die primärtherapeutische Bedeutung ausgesagt wird, erkennbar sein. 554 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
Dies ist logisch möglich nur in der Weise, wie Negation zum Ausdruck gebracht werden kann, nämlich – nicht einfach als eine neue Ausdrucksweise, sondern – doppelt: mit einer eine doppelte Wirkung zeitigenden Ausdrucksform, derart, dass eine neue, gegenüber der empiristischen veränderte Ausdrucksform so zu verstehen ist, dass sie dasselbe »anders«, nämlich auf kategoriallogisch höhere Weise zum Ausdruck bringt, so dass sie also mit der empiristischen Ausdrucksform ein Verhältnis verwirklicht, das ein VERHÄLTNIS BEDEUTET. Die erste Wirkung der neuen Ausdrucksform auf das empiristische Bewusstsein: dass sie sich als anders und insgesamt eine Negation einer empiristisch korrekten Ausdrucksform zeigt, präzisiert sich bei näherem (und längerem) Hinsehen zu einer zweiten, einer NachWirkung, so dass die neue Ausdrucksform als eine veränderte Wiederholung der empiristischen Ausdrucksgestalt wahrgenommen werden kann. Im Sinne der ersten Wirkung wird die primärtherapeutische Explikation eine Umkehrung der empiristischen Form genannt – wobei »Umkehrung« jedoch nicht so zu verstehen ist, dass einfach nichts mehr stimmt und alles auf den Kopf gestellt wird, sondern – derart, dass sich der Sinn der Umkehrung unter der Voraussetzung erschließt, dass sie das Werden einer neuen Form von Wahrheitsausdruck mit einer ganz anderen, gegenüber der empiristischen Bedeutung UMGEKEHRTEN BEDEUTUNG ist. Diese formal-allgemeine Erläuterung des Einstiegs in den besonderen logischen Status der primärtherapeutischen Explikation mündet in die Feststellung, dass die Weiterentwicklung der empiristischen Methode nur durch dialektisches Denken – jenem Denken, das sich am Begreifenwollen der logischen Implikationen der Negationskategorie entzündet –: als die Form des Dialektischwerdens der empiristischen Zusammenhangsform selbst, zu begreifen ist. Die Charakterisierung der neuen, primärtherapeutischen Explikationsform als im Zusammenhang mit der empiristischen Form – als mithin der für die primärtherapeutische Form notwendigen Voraussetzung – die Verwirklichung einer doppelten Umkehrung, bedeutet den logischen Kompass, so dass eine Form, die eine andere, neue Bedeutung auszudrücken sucht, auf jener Linie der Prädikation des Wirklichen gehalten ist, die durch die Konsens-Tradition der Kulturgemeinschaft als bewährt bezeichnet ist. So sei der logisch-forschungslogische Charakter der primärtherapeutischen Explikation als »eine Veränderung (Umkehrung), die eine UMKEHRUNG BEDEUTET«, noch einmal übersichtlich gekennzeichnet. 555 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Entsprechend der für die neue Explikationsform anzusetzenden Akzentverlagerung der logischen Qualität der ausgesagten Bedeutung von der »Position« – demjenigen, was im empiristischen Rahmen ausgesagt werden kann – zur »Negation« – demjenigen, was in einem bestimmten Sinn in diesem Rahmen nicht ausgesagt werden kann: die Rahmenvoraussetzung selbst – wiederholt die primärtherapeutische Hypothese erkennbar die empiristische Erfahrungsform, wenn sie den Vollzug eines Methodenwechsels beobachtend ins Auge fasst, derart, dass die Artikulation den Sinn der Vorbereitung einer »totalen Bedeutungsumkehrung« der empiristisch explizierten Bedeutung hat. Die quasi-empiristische Ausdrucksweise Janovs – das gilt ebenso für Freud (vgl. Kraiker 1980, S. 38) – birgt eine wirksame, wissenschaftlich ernstzunehmende Pointe, wenn sie als die Weise aufgefasst wird, den Rückzug des Aussagensinns von der gewohnten Ebene auf eine Sinnebene darzustellen, die zuvor nicht existent war: Das, was als empirisch wirklich ausgesagt wird, ist nicht mehr eine bestimmte Form empirischer Verwirklichung der abstrakt als unexplizierbar vorausgesetzten objektiven Gegenstandsform, sondern diese abstrakte Voraussetzung selbst als empirisch werdende Möglichkeit einer neuen EMPIRIE als der praktischen Methode der Veränderung der als solche nicht explizierbaren Bedingung der Möglichkeit empiristischen Wissens. Wie bei der praktischen Explikation der primärtherapeutischen Bestimmtheit in der Primärtherapie trifft es nicht zu, dass sich jetzt das zeigt, was der empiristischen Wissensform im Sinne der empiristischen Wissensform immer zugrunde lag: die Voraussetzung der empiristischen Erfahrung tritt nur in der Form ihrer Veränderung auf, so dass die die empiristische Wissensgewinnung konstituierende Regel – »das Gesetz des Schweigens« – nicht verletzt oder umgangen, sondern positiv erfüllt wird. Die Akzentverlagerung besagt also: Die als Erkenntnis explizierte Bedeutung zieht sich auf ihren logisch-methodischen Gehalt zurück; sie kümmert sich nicht mehr um die vielfältigen empirischen Erscheinungsformen ihrer Verwirklichungen, solange es sich nur um eine Verwirklichung der einen, von ihr explizierten Weise des Zustandekommens empirischer Erscheinungen handelt, während unter normalen wissenschaftlichen Verhältnissen, umgekehrt, viele Theorien eine gewisse Anzahl – verschiedene Typen – von in ihrer Erscheinungsform theoretisch vorstrukturierten empirischen Befunden kontrollieren. Im Sinne der veränderten Struktur der Primal hypothesis 556 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
ist es hingegen völlig egal, wie eine Verwirklichung aussieht, wenn sie nur FÜHLEN: die Verwirklichung der einen Metamethode, bedeutet. Wie FÜHLEN in die Erscheinung tritt und als welche Erfahrungen es für jenen konkret fassbar wird, der anfängt zu FÜHLEN, ist völlig unvorhersagbar (Janov 1973a, S. 12), liegt also außerhalb des von der Primärtherapie als empirische Hypothese Erfassbaren. Der erste Schritt, die primärtherapeutische Explikationsform als wissenschaftlich zu verstehen, ist die Feststellung, dass sich in ihrem Rahmen die Strukturmomente empiristischer Wissensgewinnung – jene Bestimmtheiten, wodurch diese ein Vollstreckungsorgan empiristischer Methodologie ist – auf dasjenige hin verschieben, was empiristisch nicht greifbar ist: die Verwirklichung der Methode selbst. Die Ergänzung der Ausdrucksmomente von »ich-bin« im Sinne ihres logischen Charakters als Negation ist kein klassisch-empirisches Datum und kann es nie werden, da, wie die Verwirklichung der Methode empirisch zum Ausdruck kommt, in keiner Weise festlegbar ist. Was hingegen gewisse Merkmale empiristischer Wissensgewinnung – etwa die Forderung, bestimmte Daten regelmäßig und vorhersagbar zugänglich zu machen – erfüllt, ist das Auftreten und die Veränderung im Auftreten der Form des Erfahrens selbst, so dass deutlich wird, wie in der primärtherapeutischen Erfahrungsform das bisher Unsichtbare und Ungreifbare an die Stelle des empirisch Gegebenen rückt, während die bisher im Vordergrund stehenden theoretisch vorstrukturierten Gestalten der Erscheinung des empirisch Gegebenen jetzt wissenschaftlich belanglos werden; diese sind es, die jetzt in den Bereich rücken, worüber wissenschaftlich nichts ausgesagt werden kann, was aber nun, umgekehrt wie bisher, positiv bedeutet, dass alles darüber gesagt und gültig gesagt werden kann, was einer menschlichen Bestimmtheit, die die Methode zu FÜHLEN verwirklicht, als gültig erscheint; m. a. W.: Der Bereich, über den wissenschaftlich nichts gesagt werden kann, ist jetzt als trans-wissenschaftlicher Bereich, als eine korrekte Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Wissensform über diese hinaus von dieser akzeptiert. Wissenschaftlich interessant ist ausschließlich die kategoriale Praxisanleitung für die Gewinnung wissenschaftlicher Erfahrung: der Vermittlungstyp als die Bedingung der Möglichkeit verschiedener Stufen erfahrungswissenschaftlicher Erfahrung, welcher dem nach dem Gesetz der Vermittlung in die Erscheinung tretenden Gegebenen die Freiheit lässt, um so zu erscheinen, wie es erscheint. 557 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
Die schwierige Frage des im Verhältnis zum empiristischen Erfahrungsbegriff übereinstimmend, unterschiedlich, gegensätzlich und widersprüchlich ausgesagten Wissenschaftscharakters der Primal hypothesis (vgl. oben, Kap. 1.1.2.3.2.) klärt sich im Sinne des ersten Schritts, indem die mehr wissenschaftsgemäßen Bestimmungen – die Rolle von Beobachtung, Beschreibung, Erklärung, Theorie, Voraussage sowie die Bedeutung des Wissenschaftsprozesses im Ganzen betreffend – auf die logisch-methodische Hypothese: die innere Systematik der Erfahrungsformen, bezogen werden, während die zunehmend dem klassischen Begriff widersprechenden Bestimmungen der primärtherapeutischen Erfahrungsform den aus der wissenschaftlichen Methode der Bedeutungsvermittlung hervorgehenden transwissenschaftlichen Bedeutungsraum charakterisieren: die dann der wissenschaftlichen Regulation enthobenen, weil diese in sich aufgenommen habenden Erscheinungen. Diese Bewegung qua Verlängerung der Bedeutung der empiristisch explizierten Erfahrung im Sinne der primärtherapeutischen Explikation kann nicht für sich bestehen; sie ist rational nur in der Konsequenz der Vollendung der »kleinen Umkehrung« der Bedeutung des wissenschaftlichen Vorgehens in jener UMKEHRUNG, die das Eingehen der Primal hypothesis als eine empirische Hypothese in die PRIMAL HYPOTHESIS als eine methodologische Hypothese bedeutet. D. h., der veränderte, entsprechend den Reflexionskategorien in zunehmender Differenz zur empiristischen Hypothesenform zu bestimmende Sinn der Primal hypothesis als empirische Hypothese ist sinnvoll als ein Übergang der primärtherapeutischen Hypothese als dem empiristisch beobachtbaren Werden einer neuen Hypothesenform bis zu jenem experimentum crucis, welches im positiven Fall ihrer Bewährung ihr neues Werden als PRIMAL HYPOTHESIS im Sinne einer methodologischen Hypothese bedeutet. War also die Primal hypothesis im Stadium ihres Werdens als ein Gegenstand empiristischer Beobachtung zuerst mehr ein empiristisch kritisch zu beurteilendes Stück wissenschaftlicher Empirie, so ist sie dann, in ihrer von ›falschen‹ empiristischen Ansprüchen befreiten Form einer methodologischen Hypothese eine konkrete, empiristisch akzeptierte Möglichkeit der Verwirklichung des Gesetzes der Vermittlung einer neuen EMPIRIE. Erst mit diesem zweiten Schritt wird der Charakter der Primal hypothesis als Umkehrung der empiristischen Hypothesenform vollends deutlich: als Mittel, die SUBJEKTIVE Bedingung der Möglich558 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
Neg.
Neg. d. Neg.
Theorie: Neg. d. Neg. d. Neg. als 2. Voraussetzung
Beob. Hyp. Experiment |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl {zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl }
Pos.
1. Vorraussetzung: »klassische Erfahrung«
VORRAUSSETZUNG ODER BEDINGUNG DER MÖGLICHKEIT DER ERFAHRUNG
INNERE ERFAHRUNG:
-
Neg.
Neg. d. Neg.
2. UMKEHRUNG Hypothese - Experiment
HYPOTHESE
2. UMKEHRUNG
»Beobachtung« »Hypothese« »Experiment« |fflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl{zfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflfflffl}
1. Umkehrung: Neg. d. Neg. d. Neg. a l s Neg.
2. Vorraussetzung:
NEUE EMPIRIE
Kategoriallogische Analyse der Janovschen Äußerungen
559
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Der Begriff der primärtherapeutischen Erfahrung
keit der Erfahrung, nachdem sie die empiristische Verwirklichung als Bedingung der Möglichkeit ihrer Verwirklichung in sich aufgenommen hat, zu verwirklichen. Die Ausführungen der vorliegenden Arbeit haben versucht, in die Gangart der Explikation einer neuen Bedeutung einzuführen. Das Ergebnis der Ausführungen: das Verständnis der Primal hypothesis Arthur Janovs, sei abschließend zusammengefasst – damit die Erfahrung dieses Versuches selbst zusammenfassend –, die Worte Janovs: »What you will read here in The Anatomy of Mental Illness is just a beginning. But I feel it is a good start.« (Janov 1971, S. 17)
dahin gehend verändernd: Das Erreichte macht vielleicht einen Anfang erkennbar. Die Weiterführung des Erreichten, bis hin zur Verwirklichung dieses Anfangs, derart, dass er sich im Hinblick auf das Wesentliche der menschlichen Bemühungen: der Erlangung WAHREN LEBENS als dem Inbegriff der Verwirklichung der Idee des GUTEN und des SCHÖNEN, als vernünftig, förderlich und hilfreich bestätigt, bedeutet jedoch auf alle Fälle eine schwierige und langwierige Aufgabe!
560 https://doi.org/10.5771/9783495818213 .
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