Festpredigt am Protestantentag in Hildesheim, den 10. October 1878
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Festpredigt am Protestantentag in

Mdesheiin, den 10. October 1878,

Professor

Pfleiderer.

Berlin.

Druck von G. Reimer. 1878.

(Abgedruckt aus der Protestantischen Kirchen» zeitung, 1878. Nr. 41.)

Noch nie seit seinem Bestehen hat sich unser Verein unter so tiefernsten Zeitverhältnissen versammelt, wie sie jetzt auf unser Aller Herzen lasten und unsern Blick in die Zukunft unseres Volks verdüstern. Noch sind es erst wenige Monate, seit die Thaten von unerhörter Verruchtheit, die das geheiligte Haupt unserer Nation bedrohten, wie grelle Blitze uns in eine Tiefe des Abgrunds blicken ließen, vor der wir schaudernd zurückbeben. Das Aeußerste der Schmach zwar hat Gottes Gnade von unserer Nation abgewandt, indem sie uns das so schwer gefährdete theure Leben un­ seres Kaisers erhalten und den Heldengreis von schwerem Krankenlager zu neuer Rüstigkeit sich hat erheben lassen. In innigem Danke gegen die gütige Vorsehung feiert unser ganzes Volk die Genesung seines geliebten Kaisers, es fühlt mit seiner Wiederherstellung sich selbst auch wie erlöst von schwerem Druck, wie neuerstanden aus tiefer Niedergeschla­ genheit. Aber aus diesem Danke gegen die Vorsehung er­ wächst uns die doppelte Pflicht, den tiefen Schäden, welche in jenen Thaten ihren grellen Ausbruch gefunden haben, nachzuforschen und mit allen Mitteln jeder an seinem Theile zu ihrer Heilung mitzuwirken. Was durch Zucht und Zügel des bürgerlichen Gesetzes hiezu geschehen könne und solle, ist eben jetzt Gegenstand gewissenhafter Erwägung seitens der hiezu Berufenen und wir wollen zu Gott hoffen, daß das Resultat ihrer reiflichen Berathungen zum Wol

4 des ja

Gemeinwesens ausschlagen möge. wol

Alle

einig,

daß

Allein

darin

Gesetzes

Zucht,

wendig sie an ihrem Orte ist,

für sich

allein

nicht den

zu heilen

vermöge,

tieferen Schaden unseres Volkslebens

so

sind

des

not­

daß es hiezu vielmehr wesentlich auch geistiger Mittel, sitt­ licher Kräfte bedürfe, welche das erkrankte Geistesleben des Volks von innen heraus wirksamer als alle äußeren Zuchtmittel zu bessern vermöchten.

Unter diesen geistigen Heil­

mitteln aber steht obenan die Religion.

In dieser Ueber­

zeugung, welcher unser Kaiser selbst vor kurzem in schlichten edlen Worten Ausdruck gegeben hat,

wissen wir uns mit

ihm so völlig einig, daß wir wol sagen dürften, er habe damit eben nur dasjenige ausgesprochen,

was von Anfang

bis heute der Grundgedanke und das bestimmende Princip unseres Vereins gewesen, der ja eben nichts anderes will als die Neubelebung der Religion unseres Volks, die Entbin­ dung der heilsamen Kräfte, die im Christentum liegen, wenn es recht verstanden und verwertet wird. dies

Aber eben wie

zu geschehen habe, damit es wirklich für alle Kreise

des Volkes, neue segensreiche Frucht bringe, hochwichtige Frage, müter

beschäftigt,

das ist die

die jetzt mehr als seit lange die Ge­ die

Frage,

um

deren

richtige Lösung

auch die Verhandlungen dieses Protestantentags sich drehen und auf welche wir

auch in

dieser Stunde der Andacht

unsere Aufmerksamkeit lenken wollen. Wie aber werden wir sichten und

Meinungen,

aus dem Labyrinthe

mehr als je mit einander im Streite liegen, Ausweg finden? anvertrauen?

der An­

die auf religiösem Gebiete heute den rechten

Wem sollen wir uns als sicherem Führer

Ich denke,

wir werden am sichersten fahren

unter der Führung dessen, der von Allen in der Christen­ heit, wie sie auch im übrigen über ihn denken mögen, un­ bestritten als der höchste und beste Meister anerkannt ist:

5 unter der Führung unseres Herrn Jesu Christi.

Von

ihm lesen wir im Ev. Matthäi, Capitel 9, V. 36 ff.: „Und da er das Volk sahe, jammerte ihn desselbigen, denn fte

waren

verschmachtet und

Schafe, die keinen Hirten haben.

zerstreuet,

wie die

Da sprach er zu seinen

Jüngern: die Ernte ist groß, aber wenig sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte,

daß er Arbeiter in

seine Ernte sende." Der Zustand Jesus

des

jüdischen Volks

sein Heilandswerk

Aehnlichkeit mit unseren Jesus

das Volk sahe,

gegenwärtigen Zuständen.

nung?

„Als

denn sie

wie Schafe, die keinen

Wieso denn dies?

Zustand des Volkes,

als

hat manche

jammerte ihn desselben,

waren verschmachtet und zerstreuet, Hirten haben."

zu der Zeit,

unter ihm begann,

War denn nicht der

äußerlich betrachtet,

in bester Ord­

Das bürgerliche Gemeinwesen, unter Roms Ober­

herrschaft, doch mit verhältnismäßiger innerer Selbständig­ keit,

geschützter nach außen und geordneter nach innen als

je: das religiöse Gemeinwesen im Priestertum zu Jerusalem streng

centralisirt:

der Tempeldienst

im höchsten Ansehen

weit und breit; das Gesetz der Väter in peinlichster Buch­ stäblichkeit immer

allenthalben

beobachtet,

göttlicher verehrt,

die

heiligen

Schriften

von den Schriftgelehrten immer

wunderbarer ausgelegt und der Gemeinde in

den Schulen

und auf den Märkten ohne Unterlaß gepredigt: — und doch ein „verschmachtetes" Volk? und doch „zerstreuet wie Schafe, die keinen Hirten haben"?

und doch ein Gegen­

stand des „Bejammerns" für das Herz des reinsten Volks­ freundes? Volk

war

Ja allerdings, dies

ein verschmachtet

Volk Israel

zu Jesu

und zerstreut

Zeit

trotz

aller

strammen Zucht in Staat und Kirche; denn es hatte seinen inneren Halt verloren, irre

geworden,

es

es war an seinen heiligen Idealen

hatte Schiffbruch

gelitten

an

seinem

6 Glauben und Hoffen, und die, bei welchen es Führung und Leitung suchte, vermehrten nur sein Elend, statt ihm zu helfen. Da

waren die Pharisäer vor Allen, die Fanatiker des

Buchstabens,

die Eiferer für den Glauben der Väter, für

die teilte Lehre und die strenge Zucht.

Aber ach, die hei­

lige Glaubensbegeisterung der Väter, die in den Makka­ bäerzeiten Wunder gewirkt hatte, sie war in diesen Söhnen zu kaltem Verstandesfanatismus erstarrt,

der das kranke

Herz des Volkes nicht zu erwärmen und zu erquicken, son­ dern nur noch peinlicher zu quälen, und die Wunden der Zeit nicht zu heilen, sondern nur neue zu schlagen verstand; was einst in der Prophetenzeit der natürliche Ausdrück der tieswahren Ideale gewesen, an welchen das jugendliche Herz des Volks seine gesunde Nahrung gefunden,

das war jetzt

zur geistlos-pedantischen Schulsatzung und zur leeren Cere­ monie erstarrt,

die dem schmachtenden Gemüt des Volks

statt des Brotes einen Stein bot.

Freilich nicht alle Klaffen

des Volks fi'ihlten diesen Mangel gleich lebendig; die Ge­ bildeten in den Städten, in welchen der neuerschlossene Völkerverkehr den WolstaNd

erblühen ließ,

suchten ihren

Ersatz für die entschwundenen Glaubensideale in der römisch­ griechischen Cultur; Weltreiches

lockte

das Staatsleben des großen römischen die

Strebenden

mit seinen politischen

Lorbeeren und die Werke der Dichter und Denker Grie­ chenlands erschlossen eine neue Welt der Ideale, von deren Höhe

aus

der alte Glaube

der Väter Israels

und die

Hoffnung seiner Propheten als überwundenes Traumgebilde erschien; freilich ob das Volk sich zu diesen Cultur-Idealen erheben könne, und ob dieselben überhaupt je das religiöse Bedürfnis der Menschenbrust ausfüllen können, darnach fragte die Geistesaristokratie der damaligen „Weltkinder" so wenig wie die der heutigen;

sie sah weder noch bejammerte sie

das Volk, das „verschmachtet und zerstreuet" war.

7

Jesus aber „sahe das Volk und ihn jammerte desselben" : wie viel liegt in diesen schlichten Wortm! Wie zeigen sie uns auf Einen Blick den wahren Volksfreund! Wie lassen sie uns einen ahnenden Blick thun in die Ge­ burtsstätte des größten Heilandswerkes! Er sah das Volk, er verschloß nicht hochmütig, wie die Weltkinder, den Blick gegen dessen Leiden und Schäden, er zog sich auch nicht, wie die essenischen Ordensleute, in die Wüste und Einsam­ keit zurück, um in selbstischer Abgeschlossenheit nur der eigenen Seele Seligkeit zu suchen und die Welt im Argen liegen zu kaffen: sondern er wandte all' sein Denken und Sorgen seinem Volke zu: und er sahe daffelbe so wie es wirklich war, in all' seiner Erbarmungswürdigkeit und Hülflosigkeit; er machte sich nicht seine Illusionen, um nur die Wirklich­ keit nicht sehen zu müssen: er begnügte sich aber auch nicht blos mit dem äußern Anschein, mit der Oberfläche der staatlichen und kirchlichen Erscheinung, wo es ja so ziemlich glatt und hübsch zu stehen schien: nein, er sah seinem Volk ins innerste Herz, er hörte das Seufzen der Volksseele, die in der Wüste einer dürren Wirklichkeit verschmachtete, ihm gingen die Zuckungen dieses tiefkranken Volks mitten durchs eigene Herz: ihn jammerte deffelben! Das also war bar Volk, das vor allen andern von Gott begnadet gewesen, das einst auf den Flügeln begeisterten Schaums zu den höchsten Idealen sich emporgeschwungen, das zur Leuchte und zum Panier der Nationen bestimmt zu sein schien, und nun so arm und blind und blos, ohne Weide und ohne Hirte, verschmachtet und zerstreut, ein unglückselig Volk! Dies Gefühl tiefen Erbarmens begleitete unsern Herrn durch sein ganzes Heilandsleben; es war und blieb auch da noch der Grundton seiner göttlichen Seele, wo er zum Zürnen allen Grund gehabt hätte: als er vor Jerusalem stand und sein Schicksal daselbst ahnte, weinte er nicht über sich, son-

8 dern über sein unglücklich und verblendet Volk; und noch auf dem Wege nach Golgatha ruft er den Frauen, die um ihn klagten, zu: „Weinet nicht über mich! weinet über euch und eure Kinder": er vergaß alles eigene Wehe über dem tiefen Erbarmen mit seinem Volk, das er ins Verderben rennen sah. O Freunde, wie müssen wir vor diesem Vorbild so be­ schämt dastehen! Nicht zwar, als ob es uns am Mitgefühl mit den Schäden unseres Volkes ganz fehlen würde: ist ja doch einzig und allein dies Mitgefühl der Beweggrund, der uns hier zusammengeführt, der uns aus unserem friedlichen Heimwesen und Berufsleben heraus- und zu gemeinsamem Rathen hier angesichts der Welt, ihres Haffes und Spottes, dessen wir ja gewiß sind, angetrieben hat. Aber wie viel lebhafter und herzhafter, wie viel reiner und selbstloser, wie viel verständnisvoller und thatkräftiger könnte doch noch immer unser Mitgefühl mit unserem Volke sein! Seine Schäden und Bedürfnisse auch nur recht zu sehen und recht zu ver­ stehen, erfordert ja schon den reinen und scharfen Blick selbst­ loser Liebe, die aus dem eigenen engen Selbst herauszugehen und sich in das Denken und Fühlen der Anderen hinein­ zuversetzen vermag. Und wie leicht erkaltet unser Mitgefühl und erlahmt unser guter Wille, wo wir auf Stumpfsinn und Gleichgültigkeit, auf Herzenshärtigkeit und Roheit stoßen! Wie rasch fahren wir da zu mit Anklagen und Ver­ urteilen der Menge, statt daß wir uns besinnen sollten, ob diese Uebel nicht etwa doch die Folgen allgemeiner Ver­ schuldung der ganzen Gesellschaft seien. Oder ist's denn nicht in der That so, daß alle Klaffen der Gesellschaft die Mitschuld tragen an der erschrecklichen Verwilderung, der zunehmenden Religions- und Sittenlosigkeit der unteren Volksschichten? Dürfen wir uns denn über diese Früchte wundern, wenn wir die jahrelange Herrschaft des praktischen

9 und theoretischen Materialismus bedenken? wenn wir uns erinnern, wie alsbald nach dem glorreichen Jahre 70/71 der tolle Tanz um das goldene Kalb begann, in dessen Rausch alle Stände sich hineinziehen ließen:

wie

gleichzeitig

eine

sich überstürzende Naturwisienschast an die Stelle des ewigen Gottesgeistes und seiner heiligen Ordnung und Regierung der Welt den todten Stoff und den sinnlosen Wirbeltanz seiner Atome setzte: wie unter solchen Einflüssen die alten Ideale frommer Gesittung, die Liebe und Demut, die Rein­ heit und Mäßigung als Thorheiten verlacht und der bru­ tale „Kampf ums Dasein" als das allgemeine Weltgesetz an ihre Stelle gesetzt wurde: ja wahrhaftig, wenn wir das alles, was wir in diesem Jahrzehnt schmerz- und scham­ erfüllt mitansehen mußten, uns vergegenwärtigen, da dürfen wir den Stab nicht brechen über die Klassen des Volks, die von solchem Taumelbecher trunken geworden den Bestand der Gesellschaft mit ihren verbrecherischen Phantasien be­ drohen.

Und fragen wir endlich, wo denn die erziehende

und heilende Macht der Religion und Kirche diesem wachsen­ den Verderben der Zeit gegenüber geblieben sei? so können wir das beschämende Urteil nicht zurückhalten, daß auch die Kirche ihr Licht unter den Scheffel gestellt und ihr Salz hat dumm werden lassen.

Aus dem Evangelium Jesu von

der heiligen und heilenden Liebe Gottes und von der herr­ lichen Freiheit und Freudigkeit der Gotteskinder hat sie eine starre,

geistlose Formel

und

ein drückendes Joch,

einen

tödtenden Buchstaben gemacht, und als das verschmachtende Volksgemüt diesen Stein nicht mehr für Brot annehmen wollte, da hat sie herzlos zur Ruthe gegriffen und hat ge­ glaubt, durch stramme Priesterherrschaft und harte Kirchen­ zucht die entfremdete, vertrauenslose, in ihre will die

Hürde wieder echte und

zerstreute Gemeinde

zwingen zu können.

alleinseligmachende Kirche

Und

das

des Herrn

10

fein, den seines verschmachteten und zerstreuten Volks jammerte, der den Mühseligen und Beladenen zurief: „Kommet her zu mir, ich will euch erquicken! lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen de­ mütig, mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht" ? Nicht pharisäischer Gesetzes- und Buchstabenfanatismus, sondern des Heilands erbarmende Menschenliebe und seliger Gottesfriede ist damals und ist heute die einzige Wunderkraft, die kranke Herzen heilen und todte Geister beleben kann. Aber auch das weitere: in welcher Art die erbarmende Liebe einer kranken Welt gegenüber sich zu bethätigen habe, können wir nirgends besser als von unserem Herrn und Meister lernen. Das kräftigste und vornehmste Mittel seines Heilandswerkes ist das Wort seiner Predigt gewesen. Ge­ predigt hatten wol auch schon vor ihm in Israel die Schriftgelehrten und Pharisäer in den Schulen und Gaffen, aber ohne allen Nutzen; warum dies? war es nicht etwa die reinste Lehre nach der Väter Satzung? gewiß, aber eben darum waren es für das Volk der Gegenwart leere Worte, aus denen der Geist entflohen war. Jesus dagegen „predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten" (Mtth. 7,29). Er fragte nicht nach den Formeln ihrer Schulweisheit, nach den Traditionen ihrer Schristerklärung, nach den Streit­ fragen ihrer Dogmatik: er überließ alles dies Todte den Todten und predigte aus dem Leben für die Lebenden. Aus dem Leben in Gott, das er selbst lebte, in dem er die Offenbarung des Vaters unmittelbar und ur­ sprünglich in sich trug, schöpfte er auch das Verständnis aller früheren Gottesoffenbarung in den Propheten; darum konnte er vor das Geschlecht seiner Tage hintreten mit dem gewaltigen Wort: „Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren!" O sehet da den Prediger von Gottes Gnaden, der Gewalt hat über die Herzen der Hörer: alle vergangene

11 Geschichte wird. ihm

zum

ewigen seligen

„Heute", zur

unmittelbaren Erfahrung der beseligenden Gegenwart Gottes und seines Reiches, in welcher aller Geschichte Er­ füllung und aller Zukunft Verheißung liegt.

Alle Zeugnisse

der heiligen Bücher von vergangenen Gottesthaten sind ihm Zeichen nur und Vorbilder des Zeugnisses,

das Gottes

Geist seinem Geiste heute und alle Tage gibt: daß er Gottes Kind sei: in dieser unmittelbaren Sohnesgewißheit weiß er sich ebenso frei vom Knechtsdienst geheiligter Buchstaben wie treu dem heiligen Gottesgeist der Geschichte.

Und diesem

erleuchteten Auge des gottbegnadeten Geistes erschließen sich nicht blos die heiligen Bücher mit ihrer Kunde vergangener Gotteswerke, sondern auch aus dem alltäglichen Menschen­ leben, ja aus dem Leben und Weben der Natur sogar ver­ nimmt er klar und verständlich die Offenbarung der ewigen Weisheit und Liebe: aus des Kindes heiterem Auge lächelt ihm die Güte des Vaters aller Geister, an den Blumen des Feldes und Vögeln des Himmels erschauet er den uner­ schöpflichen Reichtum der allgemeinen Lebensquelle, und aus der Sterne unverrückten Bahnen liest er die ewigen Gesetze, welche die göttliche Vernunft dem Weltall eingeprägt hat. Wessen Sinn so offen ist, daß er allenthalben die Gegen­ wart Gottes gewahr wird, der vermag dann auch Andern Führer zu werden im Heiligtum der Religion, vermag die Augen der Blinden zu öffnen, daß sie das einförmige Grau der irdischen Alltäglichkeit im Lichte der Ewigkeit verklärt sehen, vermag erstorbene Herzen neu zu beleben, indem er ihnen die

verschüttete Quelle

Thatkraft neu erschließt: Treue und zu des

des Lebensmutes

Menschen

der

unzerstörbarem Geistesadel,

die Liebe zu Gott und Menschen. tiefinnerlichen Glückes,

und

das Vertrauen zu Gottes ewiger O diese Quellen eines

welches keine Menschenmacht und

kein Zritenwechsel rauben kann, sind ja in jedem Menschen-

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kind angelegt, sie sind nur bei der Mehrzahl verstopft durch den vielen Schutt der Weltlust und Weltsorge, der engher­ zigen Selbstsucht und der kleinlichen Klugheit, des betäubenden G enusses und der wechselnden Begierden, die doch alle nicht das schmachtende Dürsten der gottverwandten MenschenSeele nach wahrem Glück zu stillen vermögen. Aber gewiß, dem rechten Worte, das aus reinem gottinnigem Herzen kommt, vermögen auch die vertrockneten und verhärteten Herzen der Hörer nicht dauernd sich zu verschließen: und ist nur erst einmal die harte Rinde des Mistrauens und des Kleinmutes gesprengt, so werden die, die so lange ge­ schmachtet, nur um so begieriger das erquickende Lebenswasser der göttlichen Wahrheit in sich aufnehmen. Darum getrost, meine Brüder, wie dürr auch jetzt noch das Feld rings um uns erscheine: die Ernte ist doch groß, bitten wir nur, daß der Arbeiter viele werden! Vieler Arbeiter bedarf es, denn der Arbeit ist mancherlei: das Wort thut's ja nicht allein: auch bei Jesus war das Heilandswort stets begleitet von den Heilandswerken der helfenden rettenden Liebe: auch der leiblichen Not der Kranken und Armen hat er sich erbarmt und an die Armen vorzüglich die tröstende Botschaft vom Gottesreich gerichtet. Nicht zwar so, als ob er hätte unmittelbar durch äußere Vorschriften in die gesellschaftliche Ordnung eingreifen wollen; vielmehr hat er eine derartige Zumutung, als sie einmal an ihn gestellt wurde, rund und scharf zurückgewiesen mit den Worten: „Wer hat mich zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt?" (Luc. 12,14) — ein deutlicher Wink für seine Gemeinde, daß es nicht ihre Sache sei, in die Fragen der gesellschaftlichen Erwerbs- und Besitzverhältnisse direct sich einzumischen und diese Dinge, die nach den ver­ nünftigen und in der Natur der Sache selbst begründeten Rechtsgründen behandelt sein wollen, unter die völlig anders-

13 artigen Gesichtspunkte des religiösen Gemeindelebens

und

gar vollends des kirchlichen Parteilebens zu stellen, wodurch ja nur die

leichtfertigste und

heilloseste Verwirrung

von

Geistlichem und Weltlichem, die Verderbung der Religion durch das Recht und des Rechts durch die Religion ange­ richtet wird. unmittelbar

Aber wenn auch das Evangelium es nicht mit

den

gesellschaftlichen

Rechtsfragen

zu

thun haben kann und darf, so will es darum doch aller­ dings

seinen wolthätigen Einfluß

ausüben

auch

Veredlung der irdischen Gesellschaftszustände

auf

die

und auf die

Ausgleichung der natürlichen Klassenunterschiede.

Denn es

will den Geist pflanzen, der die Glieder der Gesellschaft einander innerlich verbindet, den Geist der selbstlosen Liebe, in welcher die Starken den Schwachen, die Glücklichen den Leidenden, die Besitzenden den Armen dienende Handreichung thun, und den Geist der gottergebenen Zufriedenheit, der nicht neidisch auf fremdes Glück sieht, sondern sich begnügen läßt an dem was Gott bescheert und dankbar ist auch für die kleinen, unscheinbaren Freuden, an denen das Leben doch auch unter den bescheidensten Verhältnissen noch immer reich genug ist für Jeden, der dafür einen offenen Sinn, ein inGott fröhliches Herz besitzt. lische Frömmigkeit

Wollen wir also die evange­

zur rechten Volkssache

und

wirksamen

Arzenei auch für die socialen Volksschäden machen, so werden wir vorzüglich auf diesem Gebiet der christlich-humanen Liebesthätigkeit eines der wichtigsten Arbeitsfelder suchen müssen, wie es unleugbar auch das dankbarste Erntefeld ist. Hier, in diesem ebenso echt christlichen wie rein menschlichen Zusammenwirken der verschiedensten Kräfte für das Beste der Gesellschaft, treten ja alle die Differenzen, die uns sonst entzweien, zurück:

die politischen, kirchlichen, theologischen

Meinungsverschiedenheiten

verschwinden in

ihr Nichts

vor

der all-einigenden Macht der Bruderliebe, wie die nächtlichen

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Nebel vor dem siegreich durchbrechenden Gestirn deß Tages. Hier ift’8, wo alle Zweifel an der Wahrheit und Kraft un­ serer Religion verstummen müssen vor dem Thatbeweis, den der lebendige Glaube in seinen Werken gibt. Hier ist's, wo auch die sonst so schwer zu überwindende Kluft zwischen Gelehrten und Ungelehrten, zwischen Modernen und Altgläubigen , zwischen Verstandes - und Phantasiemenschen, zwischen Aufgeklärten und Naiven, oder wie Ihr sie sonst noch nennen möget, wo diese Kluft überbrückt wird durch das einfachste und stärkste Bindeglied: durch ein gutes Herz, in welchem der Sinn Jesu, des guten Hirten, le­ bendig ist. In dieser thatkräftigen Vermenschlichung des Christen­ tums liegt der einzige Weg, um auch das Menschentum wieder zu verchristlichen, um die Gesellschaft in allen ihren Klaffen wieder zur Religion Christi zurückzuführen, auch die­ jenigen, welche für immer gebrochen haben mit dem confessionellen und hierarchischen Kirchentum, doch wieder mit Verständnis und Liebe für das echte evangelische Christen­ tum zu erfüllen. Die Religion Jesu aus ihren kirchlichen Verhüllungen, ihren dogmatischen und hierarchischen Ent­ stellungen loszumachen und wieder in ihrer echten mensch­ lichen Schönheit und göttlichen Erhabenheit in Leben und Lehre darzustellen: das, das allein ist das Mittel, um sie unserem an seinen Heiligtümern irre gewordenen Volk zu erhalten und aufs neue zur sittlichbelebenben Kraft zu machen. Aber freilich, eben dieses rettende Mittel ist'8, was uns als Verbrechen angerechnet wird, um deswillen wir die Zer­ störer der Religion genannt und mit den Feinden der Ge­ sellschaft zusammengestellt werden! Und doch, wie tief­ schmerzlich uns solche Verkennung auch sein mag, dürfen wir uns dadurch nimmermehr irremachen oder einschüchtern (offen, daß wir aus Menschenfurcht von dem abstehen sollten,

15 was die Liebe zur Wahrheit ebenso wie die Liebe zu un­ serem Volke uns zur Pflicht macht. Ein Philosoph hat vor einigen Jahren den schönen Satz ausgesprochen: „Ideen und Opfer find das Einzige, was unsere Gesellschaft noch retten kann." Dasielbe sagen auch wir protestantischen Christen, nur mit andern Worten, denn „Ideen und Opfer" — was heißt dies anders als: Wahrheit und Liebe, tiefere Erkenntnis der fteimachenden Wahrheit und lebendiger Gottesdienst in der opferwilligen Liebe, im thätigen und leidenden Gehorsam. Denn nicht das Thun blos gehört zum rechten Gottes­ dienst, sondern auch das Leiden. Wie könnten wir uns das LebenSwerk des Erlösers ohne sein Leiden denken? Gleichviel, wie wir uns auch dessen Bedeutung erklären mögen: daß es zum Ganzen notwendig mitgehörte, erkennen wir klar. Wollte er dem verschmachteten und zerstreuten Volke das Heil bringen auf einem Wege, der gleichweit ablag vom Fanatismus der Pharisäer wie vom Skepticis­ mus der Sadducäer oder des Pilatus, so mußte er dessen gewärtig sein, daß diese entgegengesetzten Parteien sich in Haß und Kampf gegen ihn verbünden würden. Was galt ihnen jene einzige Vollmacht, die Jesus für sein Wirken aufzuweisen hatte: der göttliche Drang des erleuchteten Geistes und des erbarmenden Herzens? Das war ja zu allen Zeiten den Juden ein Aergernis und den Heiden eine Thorheit. Darum dürfen auch wir, meine Freunde, uns die Trübsal, die uns jetzt allenthalben widerfährt, nicht bestem den lassen, als widerführe uns etwas Seltsames und Un­ erhörtes. „Der Jünger ist nicht über den Meister, haben sie den Hausvater Beelzebub geheißen, werden sie die Hausgenossen auch also heißen." Haben sie ihn bald als Gotteslästerer gehaßt und verurtheilt, bald als Narren ver­ lacht und verhöhnt, beim Volk ihn als Schwärmer und bei der Obrigkeit als Aufwiegler und Revolutionär verschrieen,

16 sodaß zuletzt alle Theile in das „Kreuzige, kreuzige ihn!" ein­ stimmten : nun, so mögen w ir in ähnlichenErfahrungen, die wir heutzutage zu machen haben, nur die Bestätigung dessen er­ kennen, daß wir in Wahrheit ihm auf seinem Wege nachfolgen. Und mögen wir dabei auch von ihm lernen,

„sanftmütig

und von Herzen demütig" zu sein, sanftmütig: daß wir nicht wiederfluchen denen, die uns fluchen; demütig: daß wir in all der Anfechtung, die uns widerfährt, ergebungsvoll den ewigen und heiligen Willen Gottes verehren, nach welchem eben alles neue Leben in Natur und Geschichte nur unter bitteren Schmerzen geboren werden kann.

So werden wir

dann auch mit dem Apostel „uns in allen Dingen beweisen als die Diener Gottes: in großer Geduld, im Worte der Wahrheit, in der Kraft Gottes, durch Waffen der Gerech­ tigkeit zur Rechten und zur Linken, durch Ehre und Schande, durch böse Gerüchte und gute Gerüchte, als die Verführer, und doch wahrhaftig, kannt,

als die Unbekannten und doch be­

als die Sterbenden und siehe

Gezüchtigten

und doch nicht

aber allezeit fröhlich!"

ertödtet,

wir leben,

als die

als die Traurigen»

(2 Cor. 6, 4—10.)

Amen.