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German Pages 312 [314] Year 2018
Michael Schwarzbach-Dobson Exemplarisches Erzählen im Kontext
Literatur | Theorie | Geschichte
Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten
Band 13
Michael Schwarzbach-Dobson
Exemplarisches Erzählen im Kontext
Mittelalterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT
ISBN 978-3-11-057740-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057940-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-057745-7 ISSN 2363-7978 Library of Congress has cataloged this record under LCCN: 2018017813. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Ulrich Boner: Edelstein (HAB Wolfenbüttel: A: 16.1 Eth. 2° (1), fol. 45v). Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Dissertation wurde im Februar 2017 an der Universität zu Köln eingereicht. Für den Druck wurde die Arbeit um einige Details und bibliographische Angaben ergänzt. Diese Studie hätte ohne die kontinuierliche, großzügige und umfassende Unterstützung durch meinen Erstbetreuer, Herrn Prof. Dr. Udo Friedrich, nie in ihrer jetzigen Form entstehen können. Ihm gebührt mein erster Dank für die in jeder Hinsicht vorzügliche Betreuung. Danken möchte ich für wichtige Impulse und Anregungen, durch die meine Dissertation sehr profitieren konnte, auch meinem Zweitbetreuer, Herrn Prof. Dr. Hartmut Bleumer. Den HerausgeberInnen der Reihe ‚Literatur – Theorie – Geschichte‘, Frau Prof. Dr. Schausten, Herrn Prof. Dr. Quast und Herrn Prof. Dr. Udo Friedrich, möchte ich für die freundliche Aufnahme meiner Arbeit herzlich danken. Für Unterstützung und das Aufzeigen neuer Perspektiven während meiner Studien- und Promotionszeit danke ich Dr. Mark Chinca, Prof. Dr. Christopher Young und Prof. Dr. Matthias Meyer. Etliches wäre während meiner Promotionszeit schwieriger gewesen, wenn ich mich nicht jederzeit auf meine KollegInnen hätte verlassen können, von denen viele inzwischen Freunde geworden sind. Besonders danken möchte ich an dieser Stelle: Susanne Bürkle, Daniel Eder, Christiane Krusenbaum-Verheugen, Andi Hammer, Lydia Merten, Fabian Scheidel, Julia Stiebritz, Franziska Wenzel und Lena Zudrell. Für ihre Geduld und Hilfsbereitschaft in den letzten Jahren danke ich sehr meiner Frau, Pippa Schwarzbach-Dobson. Vieles in meinem Leben hätte ohne die konstante und bedingungslose Unterstützung durch meine Eltern nicht geschehen können. Für all dies und mehr bin ich meinen Eltern sehr dankbar. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.
https://doi.org/10.1515/9783110579406-001
Inhalt I I. I.
1 Einführung 1 Einleitung Zu Quellenkorpus und Struktur der Arbeit
7
14 Theoretische Rahmenziehung 14 Exemplarisches Erzählen Zur exemplarischen Kurzerzählung 14 Einzelfall und Regel. Relationen von Besonderem und Allgemeinem in der exemplarischen Kurzerzählung 19 II.. Exemplarisches Erzählen als narratives Argumentieren: Ähnlichkeit 27 und Analogie II.. Narratives Argumentieren zwischen Rhetorik und 34 Hermeneutik II. Metapher und exemplarisches Erzählen 38 38 II.. Einleitung: Metapher und Erzählen 39 II... Metapher und Rhetorik. Die Metapher als Schlussverfahren II.. Metapher und Hermeneutik 45 48 II... Paul Ricœurs ‚lebendige Metapher‘ II. Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel 52 52 II.. Die rhetorische Perspektive: fabula, argumentum, historia II.. Exemplarische Kurzerzählungen und bîspel – Perspektiven der 61 Forschung II.. Metapher und exemplarische Kurzerzählung 64 II... Fabel, Gleichnis und historisches Exempel als ‚Metapher‘ 67 II II. II.. II..
III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext 77 III. Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext 77 III.. Historisches Geschehen und exemplarische Kurzerzählung 77 III... Herausforderungen des Exemplarischen: Rhetorische Substrate in der historia sacra 81 Funktionstypen des Exemplarischen im historischen Geschehen: III.. Ähnlichkeit und Analogie (Löwenhöhle und Hirschherz) 88 III.. historia als Fabel: Bild-Narrative im Teppich von Bayeux (Exkurs zur Fabel als visuelles Medium) 103 III. Exemplarische Kurzerzählungen im didaktischen Kontext 109 III.. Einzelfall und Regel: Parameter einer rhetorisch-didaktischen Beweisführung 109 III.. Die singuläre Kurzerzählung im didaktischen Kontext: Wernher von Elmendorf 115
VIII
III..
III.. III. III.. III.. III..
IV IV. IV. IV.. IV.. IV.. IV.. IV..
Inhalt
Spielräume von Funktionalisierung und Narrativierung: Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast und Hugo von Trimberg: Der Renner 119 Kasuistik und Exempelketten: Die Schachzabelbücher Heinrichs von Beringen und Konrads von Ammenhausen 131 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext 145 145 Einführung: Erzählen von der Ausnahme Darstellungstechniken exemplarischer Kurzerzählungen im christli151 chen Kontext Kontinuität und Transformation von Erzählmustern am Beispiel der Heiligen Regel für ein vollkommenes Leben und des Großen 156 Seelentrosts
168 Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen 168 Einleitung: Das Archiv als Kontext Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung 173 Einführung: Forschung und Überlieferung 173 Konzeption und Struktur des Edelstein 176 183 Topik im Edelstein Fallstudie: natûre und gewonheit im Edelstein 189 Rhetorisches Reservoir und narrative Argumentation im 197 Edelstein IV. Gesta Romanorum. Die offene Sammlung 207 Einführung: Forschung und Überlieferung 207 IV.. IV.. Die Lesbarkeit der historia. Die Gesta Romanorum zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit 211 Erzählen in den Gesta Romanorum 217 IV.. IV... Von der Beschreibung zur Erzählung 218 IV... Kombination von Erzähltraditionen 223 227 IV... Kontextualisierung und narrative Addition IV.. Einzelfall und Regel: Juristische Argumentation zwischen Epikie, List und Rhetorik 230 IV. Ausblick ins Spätmittelalter: Die Handschrift London, British Library, MS Add. 24946 238 238 IV.. Einführung IV.. Narration und Argumentation in der Handschrift Add. 24946 241 241 IV... Struktur und Inhalt der Handschrift IV... Der dritte Abschnitt der Handschrift: Fabeln und 246 Gleichnisse IV.... Anordnung der exemplarischen Kurzerzählungen 246 IV.... Techniken rhetorischer Argumentation 250
Inhalt
Der siebte Abschnitt der Handschrift: Historische Exempel 252 259 Common Sense als Wissensform in Add. 24946
IV... IV.. V
Fazit
VI
Literaturverzeichnis 273 Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen 273 Eingesehene Handschriften Quellen 274 Forschungsliteratur 280 301 Verwendete Internetquellen
267
Personen- und Werkregister
302
273
IX
I Einführung I.1 Einleitung Wenn Montaigne behauptet, dass alle Philosophie in Exempeln erzählt werden kann,¹ dann verweist er nicht nur auf grundlegende Relationen zwischen Wissen und Narration, sondern auch auf einen impliziten Zusammenhang von Rhetorik und Erzählung: Eine Erkenntnis bezieht ihre Wirkkraft nicht zwangsläufig aus systematischer, beweisender Darlegung, von ihr kann auch exemplarisch erzählt werden, um zu überzeugen. Indem die vorliegende Arbeit exemplarische Kurzerzählungen in diesem Rahmen von ‚erkennen‘ und ‚überzeugen‘ verortet, wird den Erzählungen ein rhetorischer Wirkungsraum zugewiesen, der sich von bisherigen Zugriffsformen auf Fabel, Gleichnis oder historisches Exempel unterscheidet. Gefragt wird nicht primär nach einer systematischen Zusammenstellung, nach gattungsgeschichtlicher Ausformung oder nach dem Überlieferungskontext.² Vielmehr interessieren generell die rhetorischen Möglichkeiten, per kurzer exemplarischer Erzählung eine Wirkungsleistung zu generieren. Im Detail wird somit verfolgt, an welchen Stellen nicht-narrative Texte des Mittelalters exemplarische Kurzerzählungen anführen,³ um eine Erkenntnis zu vermitteln, präskriptiv eine Regel zu illustrieren oder durch den narrativen Einzelfall reflexiv auf sich selbst zu verweisen, kurz: den breiten Wirkungsraum rhetorischer Argumentation auszuspielen. Exemplarische Kurzerzählungen werden damit jenseits streng logischer Beweisführung als Kleinstformen einer ‚narrativen Argumentation‘ verstanden, deren rhetorische Leistung je nach Kontext und Funktion neu zu bestimmen ist. Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübers. von Hans Stilett. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1998 (Die andere Bibliothek), I, 26: „Solche Beispiele kann man dem Zögling als Nutzanwendung aller für das menschliche Handeln maßgeblichen philosophischen Lehren nahebringen.“ Vgl. dazu auch Stephen G. Nichols: Example versus Historia. Montaigne, Eriugena, and Dante. In: Unruly Examples. On the Rhetoric of Exemplarity. Hrsg. von Alexander Gelley. Stanford 1995, S. 48 – 85, hier S. 52. Für grundlegende Arbeiten dazu vgl. etwa Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Untersuchungen zur Geschichte und Funktion der Fabel im Mittelalter. Zürich [u. a.] 1977 (MTU. 56); Helmut de Boor: Über Fabel und Bîspel. München 1966 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse. 1966,1); Exempel und Exempelsammlungen. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea. 2); vgl. auch den Versuch von Hans Robert Jauß, unter Rückgriff auf Jollesʼ Kategorie der ‚Einfachen Formen‘ eine mittelalterliche Typik kleiner Gattungen des Exemplarischen zu entwerfen: Hans Robert Jauß: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. In: Ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956 – 1976. München 1977, S. 9 – 47, hier S. 34– 47; André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 8., unveränd. Aufl. Tübingen 2006 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft. 15). Die Unterscheidung zwischen narrativen und nicht-narrativen (d. h. deskriptiven oder systematischen) Texten beruht auf den grundlegenden Beobachtungen von Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin [u. a.] 2005 (Narratologia. 8), S. 12– 31. https://doi.org/10.1515/9783110579406-002
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I Einführung
Die Arbeit orientiert sich hier an der in jüngster Zeit häufig gestellten Frage nach einer ‚Epistemologie des Exemplarischen‘.⁴ Das Exemplarische und seine narrative Ausformung, so die bisherige Bilanz der Forschung, lässt sich als epistemische Figur verstehen, die über das Beispiel-Geben eine ihr eigene Formen der Wissensvermittlung erzeugt. So scheint das Exemplarische vor allem dort zum Einsatz zu kommen, wo nicht direkt oder systematisch erklärt werden kann, sondern mithilfe einer Transferleistung ein einzelner Fall als paradigmatisch für weitere Fälle gesetzt werden muss.⁵ Gegenüber einem direkt auf Wahrheit ausgelegten, logischen Wissen argumentiert die exemplarische Kurzerzählung indirekt, indem sie ein Problem oder eine Erkenntnis in einen neuen, narrativen Kontext überträgt. Sie nähert sich so dem Enthymem, einem rhetorischen Schluss aus wahrscheinlichen Prämissen,⁶ an und unterscheidet sich von einer Beweisführung aus wahren Prämissen, dem Syllogismus. Ihre rhetorische Leistung bezieht die exemplarische Kurzerzählung dabei in erster Linie aus der Vermittlung zwischen Besonderem und Allgemeinem: Im Normalfall erzählt sie vom Besonderen (dem narrativen Einzelfall) und verweist dann auf eine Lehre, die zwar allgemein gehalten ist, aber keinen notwendigen (d. h. allgemeingültigen) Beweis erbringt.⁷ Elementar für das exemplarische Erzählen scheint damit der Kontext zu sein: Erst in der argumentativen Verbindung zwischen einzelner Erzählung und dem Wissensformat, in dem die Erzählung als Beispiel fungiert, kann ihre Funktionalität bestimmt werden. Dieser Kontext ist dabei nicht zwangsläufig als textexterner Bezugspunkt Vgl. die wegweisenden Sammelbände: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hrsg. von Nicolas Pethes, Jens Ruchatz, Stefan Willer. Berlin 2007 (LiteraturForschung. 4); Unruly Examples (Anm. 1); Archiv des Beispiels. Vorarbeiten und Überlegungen. Hrsg. von Christian Lück [u. a.]. Zürich [u. a.] 2013. Vgl. Nicolas Pethes, Jens Ruchatz, Stefan Willer: Zur Systematik des Beispiels. In: Das Beispiel (Anm. 4), S. 7– 59, hier S. 8. Vgl. Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 4: Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Darmstadt 2002, II, 20 (1393a 22– 27); vgl. auch ebd., II, 22 (1395b 20 – 1396a 3); zum Enthymem in der aristotelischen Rhetorik vgl. Jörg Villwock: Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blumenbergs. In: Philosophische Rundschau 32 (1985), S. 68 – 91, hier S. 81.Vgl. auch Boethius: De differentiis topicis. In: Migne, Patrologia Latina 64, Sp. 1173 – 1216, hier IV (1206C): Rhetorica enthymematum brevitate contenta est (‚Die Rhetorik ist mit der Kürze des Enthymems zufrieden.‘, Übersetzung M.S-D.). Zur Relation vom Besonderen und Allgemeinen im Exemplarischen vgl. Alexander Gelley: The Pragmatics of Exemplary Narrative. In: Unruly Examples (Anm. 1), S. 142– 161; Alexander Honold: Beispielgebend. Die Bibel und ihre Erzählformen. In: Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten. Hrsg. von Steffen Martus, Andrea Polaschegg. Bern [u. a.] 2006 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. 13), S. 395 – 414, hier S. 406; Gert Hübner: Erzählung und praktischer Sinn. Heinrich Wittenwilers Ring als Gegenstand einer praxeologischen Narratologie. In: Poetica 42 (2010), S. 215 – 245, hier S. 222. Zur Unterscheidung von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit vgl. Immanuel Kant: Theoretische Philosophie. Band 1: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Georg Mohr. Frankfurt am Main 2004 (stw. 1518), S. 55. Kant trennt hier die sich aus Erfahrung ergebende und Ausnahmen zulassende ‚Allgemeinheit‘ von der a priori gültigen und keine Ausnahmen zulassenden ‚Allgemeingültigkeit‘ (die Kant an dieser Stelle als „strenge Allgemeinheit“ bezeichnet).
I.1 Einleitung
3
oder als Gattungskontext zu verstehen:⁸ Es interessiert hier vielmehr der Stellenwert einer exemplarischen Kurzerzählung innerhalb eines Textzusammenhangs, der entweder als diskursiver, d. h. nicht-narrativer Kontext oder als Kontext einer Sammlung von exemplarischen Kurzerzählungen Geltung beanspruchen kann. Im ersten Fall (bspw. einer Fabel in einer Chronik, vgl. Kapitel III.1) bedingt der Kontext eine funktionale Einbindung des Exemplarischen – die im Beispielfall latent enthaltenen Auslegungsmöglichkeiten werden situationsadäquat auf eine spezifische Lehre verengt und argumentativ eingesetzt.⁹ Der Kontext einer Sammlung hingegen schafft ein modellierbares Reservoir an rhetorischen Techniken: Was eine exemplarische Kurzerzählung implizit an Argumentation enthält, wird nicht funktional ausgespielt, sondern als Speicher erfasst. Argument und Speicher erweisen sich jedoch nicht nur als zwei Formen von einmal direkter und einmal indirekter Funktionalität, sondern in rhetorischer Perspektive auch als Elemente der Topik und damit als Teil rhetorischer inventio. ¹⁰ Topik, so schreibt Roland Barthes in Bezug auf Aristoteles, ist sowohl die Kunst, Argumente
So in erster Linie die gegenwärtigen Theoriediskussionen, vgl. für einen luziden Überblick Jan Borkowski: Literatur und Kontext. Untersuchungen zum Text-Kontext-Problem aus textwissenschaftlicher Sicht. Münster 2015 (Explicatio). Aus seiner stark auf moderne Texte fokussierten und methodenorientiert argumentierenden Perspektive gibt Borkowski jedoch keine Hinweise auf das hier vorliegende, stärker historisch ausgerichtete Problem. Weiterführender erscheinen daher die Überlegungen Moritz Baßlers, der aus poststrukturalistischer Sicht dafür plädiert, einen Text stets in einen ihn bestimmenden Text-Text-Bezug zu lesen. Die Bedeutung eines Textes ergebe sich dann zuvorderst aus der Relation zu dem ihn umgebenden Textzusammenhang, der für Baßler den Kontext ausmacht, vgl. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005. Baßler schließt damit an Überlegungen Roman Jakobsons an, für den sich der Kontext – noch streng strukturalistisch und auf die Ebene des Satzes bezogen – aus den kontrastiv verlaufenden Operatoren ‚Kombination‘ (Verkettung) und ‚Selektion‘ (Ersetzung) bildet.Vgl. Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik. In: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983 (Wege der Forschung. 389), S. 163 – 174. Vgl. für eine Diskussion des Modells von Baßler auch Borkowski: Literatur und Kontext (Anm. 8), S. 111– 132. Zur Latenz des exemplarischen Reservoirs vgl. Anselm Haverkamp: Beispiel, Metapher, Äquivalenz. Poetik nach Aristoteles. In: Poetik. Historische Narrative und aktuelle Positionen. Hrsg. von Armen Avanessian, Jan Niklas Howe. Berlin 2014, S. 15 – 29, hier S. 22 f. Vgl. einführend zu Topik und inventio Manfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik. Eine Einführung. 4. Aufl. Zürich 1995; Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Franz.von Dieter Hornig. Frankfurt am Main 2007 (es. 1441), S. 15 – 101; Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im Policraticus Johanns von Salisbury. Hildesheim [u. a.] 1988 (Ordo. 2); Anja Hallacker,Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topik. Tradition und Erneuerung. In: Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Thomas Frank, Ursula Kocher, Ulrike Tarnow. Göttingen 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung. 1), S. 15 – 27; Udo Friedrich: Topik und Rhetorik. Zu Säkularisierungstendenzen in der Kleinepik des Strickers. In: Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Hrsg.von Susanne Köbele, Bruno Quast. Berlin 2014 (Literatur –Theorie – Geschichte. 4), S. 87– 104.
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I Einführung
zu finden, als auch der Speicher, in dem diese Argumente gesammelt werden.¹¹ Bezugspunkt der Topik ist dabei ein Erfahrungswissen, das auch exemplarische Kurzerzählungen in narrativer wie diskursiver Form konservieren.¹² Die in Dialogen und eingebauten Sprichworten vorgeführten rhetorischen Argumentationstechniken und enthymemischen Schlüsse verweisen auf kulturelle Grundüberzeugungen, die in konventionalisierten Lehren ausformuliert werden. Zielpunkt von Topik wie exemplarischer Kurzerzählung bleibt dabei die Überzeugung. Schon Aristoteles definiert die Rhetorik als einen Versuch, bei jeder Sache das ihr inhärente persuasive Potenzial auszuschöpfen.¹³ Die exemplarische Kurzerzählung zeigt, wie aus unterschiedlichen Reservoiren (die Tierwelt in der Fabel, die Gesellschaft im Gleichnis und die historia im historischen Exempel) je überzeugungsfähige kleine Narrative geformt werden können, die Regeln mittlerer Reichweite propagieren: Keine normative Ordnung und kein verbindlicher Weltentwurf wird geliefert, sondern topische Erfahrung, die nicht wahr, aber wahrscheinlich ist.¹⁴ Wirklichkeit, d. h. das Zielfeld der Rhetorik, lässt sich generell bevorzugt durch Erfahrung vermitteln.¹⁵ Die Erzählungen können so als ein topisches Archiv kultureller Über Vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 66 – 72. Vgl. Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey. München 1979 (Beiträge zur Historik. 3), S. 85 – 118, hier S. 90. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), I, 2 (1355b 26 – 27): „Die Rhetorik sei also als Fähigkeit definiert, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen.“ Vgl. auch Marcus Tullius Cicero: De inventione = Über die Auffindung des Stoffes. Lateinisch – Deutsch. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf [u. a.] 1998 (Sammlung Tusculum), I, 5, 6: Officium autem eius facultatis [gemeint ist die rednerische Fähigkeit, M.S-D.] videtur esse dicere apposite ad persuasionem; finis persuadere dictione (‚Aufgabe aber dieser Fähigkeit scheint es zu sein, geeignet zu sprechen, um zu überzeugen; das Ziel ist die Überredung durch den rednerischen Vortrag.‘). Vgl. auch Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. Teil 1: Buch I – VI. Darmstadt 1972 (Texte zur Forschung. 2); sowie Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. Teil 2: Buch VII – XII. Darmstadt 1975 (Texte zur Forschung. 3), II, 15, 3: est igitur frequentissimus finis ‚rhetoricen esse vim persuadendi‘ (‚Es ist also die häufigste Definition, „die Rhetorik sei die Fähigkeit zu überreden.“‘). Vgl. auch die Arbeiten Gert Hübners zur ‚praxeologischen Narratologie‘, die unter Rückgriff auf Bourdieus Habitusbegriff für ein spezifisches Handlungswissen im exemplarischen Erzählen argumentieren. Hübner: Erzählung und praktischer Sinn (Anm. 7); Gert Hübner: Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen. Plädoyer für eine praxeologische Narratologie. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 53 (2012), S. 175 – 206; Gert Hübner: Tugend und Habitus. Handlungswissen in exemplarischen Erzählungen. In: Artium conjunctio. Kulturwissenschaft und Frühneuzeit-Forschung. Aufsätze für Dieter Wuttke. Hrsg. von Petra Schöner, Gert Hübner. Baden-Baden 2013 (Saecula spiritalia. Sonderbd. 2), S. 131– 161. Vgl. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt am Main 2006 (stw. 3814), S. 31. Ähnlich auch die antike Rhetorik: omnis eloquentia circa opera vitae est, ad se refert quisque quae audit et id facillime accipiunt animi, quod agnoscunt. (‚Alle Beredsamkeit hat es mit Aufgaben zu tun, vor die uns das Leben stellt, auf sich [und die eigene Lebenserfahrung] bezieht jeder, was er hört, und der Geist nimmt das am leichtesten auf, was er aus eigener Erfahrung kennt.‘), Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), VIII, 3, 71.
I.1 Einleitung
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zeugungen gelesen werden, das neben pragmatischem Gebrauchswissen auch den Horizont sozialer Sinnvorstellungen abdeckt. Charakteristisch für die exemplarische Kurzerzählung ist dabei, dieses Gebrauchswissen in einer Rätselstruktur zu präsentieren, die vom Rezipienten in einer aktiven Transferleistung gedeutet werden muss, d. h. im Bezug von den Tieren der Fabel, von der Gesellschaftsform des Gleichnisses, vom geschichtlichen Fundus des historischen Exempels auf eine Lehre oder einen weiteren Fall.Was sich auf den ersten Blick als ein hermeneutischer Vorgang der Sinnzuschreibung präsentiert, lässt sich aber auch heuristisch als rhetorische Schlussfigur verstehen.¹⁶ So schreibt Aristoteles, man solle den Leuten kleine Rätsel oder Metaphern geben, wenn man sie überzeugen wolle, denn dann lösten die Leute die Rätsel, freuten sich darüber und dächten, sie seien selbst auf die Lösung gekommen¹⁷ – eine Form rhetorischer Argumentation, in der er von Augustinus bis zu Thomas S. Kuhn bestätigt wird.¹⁸ Die aristotelische Rhetorik verfolgt hier ein „wirkungsästhetische[s] Kalkül“¹⁹, das auf den Affekt des Staunens zielt – Aristoteles geht davon aus, dass eine Erzählung besonders wirkungsmächtig ist, wenn sie als „überraschend und zugleich folgerichtig“²⁰ erscheint. Die reflexive Spannung der exemplarischen Kurzerzählung, zwei nicht zusammengehörige Dinge zueinander in Beziehung zu setzen und auf diese Weise vom Bekannten auf das Unbekannte zu schließen, weist ihr eine Nähe zur Metapher zu. Auch die Metapher setzt die Fähigkeit voraus, Ähnliches zu erkennen,²¹ auch sie bezieht ihr persuasives Potenzial aus der Möglichkeit, Erkenntnis indirekt durch eine Übertragung zu gewährleisten. Wie das Exemplarische operiert die Metapher so jenseits des Bereiches logischer Gewissheiten: „Man spürt, daß etwas Suggestives in aller Metaphorik steckt, das sie zum bevorzugten Element der Rhetorik als der Einstimmung bei nicht erreichter oder nicht erreichbarer Eindeutigkeit qualifiziert.“²² Worauf
Auch Aristoteles schreibt, es brauche Scharfsinn, um in weit voneinander liegenden Dingen das Ähnliche zu erkennen, vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 11 (1412a 10 – 17). Vgl. ebd., III, 11 (1412a 18 – 1412b 35). Vgl. Aurelius Augustinus: De doctrina Christiana libri quattuor. Hrsg. von William McAllen Green. Wien 1963 (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum. 80), II.VI.7– 8; zu Augustinnus vgl. auch Ernst Hellgardt: Erkenntnistheoretisch-ontologische Probleme uneigentlicher Sprache in Rhetorik und Allegorese. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von Walter Haug. Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien-Berichtsbände. 3), S. 25 – 37, hier S. 29; Thomas S. Kuhn verortet das Rätsel-Lösen im Kontext wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung, vgl. das Kapitel ‚Normale Wissenschaft als das Lösen von Rätseln‘: Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. rev. und um das Postskriptum von 1969 erg. Aufl. Frankfurt am Main 1976 (stw. 25), S. 49 – 56. Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991 (Studien zur deutschen Literatur. 116), S. 32. Ebd., S. 35. Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 11 (1412a 10 – 1412b 35); vgl. auch Matuschek: Über das Staunen (Anm. 19), S. 38. Hans Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In: Ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main 1979 (stw. 289), S. 75 – 93, hier S. 81.
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I Einführung
Blumenberg hier implizit verweist, ist die Ebene der Erfahrung, des Common Sense,²³ der auch die Bildung von Metaphern zu bestimmen scheint.²⁴ Auf den Zusammenhang von Erzählung und Metapher, insbesondere exemplarischer Erzählung und Metapher, wurde bereits vielfach verwiesen.²⁵ Auch hier versucht die vorliegende Arbeit, bekannte Ergebnisse neu zu perspektivieren – ähnlich wie der Status der exemplarischen Kurzerzählung ist auch derjenige der Metapher im Spannungsfeld von Rhetorik und Hermeneutik auszuloten. Beide fordern eine Übertragungsleistung, die Identität und Differenz gleichermaßen suggeriert. Wird Achill als Löwe bezeichnet, so imaginiert ihn das Sprachspiel zwar als Löwen, markiert aber in der Verbindung zweier nicht kongruenter Entitäten gleichzeitig eine Differenz – der heroische Achill ist ein Löwe (in Bezug auf seinen Kampfesmut etc.) und gleichzeitig ist er kein Löwe (denn er ist immer noch der Mensch Achill).²⁶ Damit ist auch das Grundprinzip der exemplarischen Kurzerzählung offengelegt: Wenn etwa die Fabel einen narrativ als Figur agierenden Fuchs in der Lehre auf einen listigen Menschen bezieht, so inszeniert dies Identität wie Differenz. Der Fuchs verweist zwar auf den Hier verstanden in Anlehnung an die von Clifford Geertz beschriebene allgemeine Wissens- und Erfahrungsform, weniger in Bezug auf den sensus communis rhetorischer Prägung, wie ihn Gadamer aus hermeneutischer Perspektive beschreibt. Vgl. Clifford Geertz: Common sense als kulturelles System. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 6. Aufl. Frankfurt am Main 1999 (stw. 696), S. 261– 288; Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 3., erw. Aufl. Tübingen 1972, S. 16 – 27. Vgl. auch die Diskussion in Kapitel IV.4.3. Vgl. Udo Friedrich: Historische Metaphorologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg.von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin 2015, S. 169 – 211, hier S. 181– 184; Udo Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter. In: Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption. Hrsg. von Oliver Auge, Christiane Witthöft. Berlin [u. a.] 2016 (Trends in Medieval Philology. 30), S. 83 – 110, hier S. 85 f.; vgl. auch Jörg Jost: Topos und Metapher. Zur Pragmatik und Rhetorik des Verständlichmachens. Heidelberg 2007 (Sprache – Literatur und Geschichte. 34). Vgl. die in Kapitel II.2 besprochenen Arbeiten Paul Ricœurs; zu mhd. Kurzerzählungen und Metapher vgl. Jan Mohr: Verselbständigte Metaphorik. Zur semantischen Organisation des Bîspels ‚Die Gäuhühner‘ von dem Stricker. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 239 (2002), S. 366 – 375; Franz-Josef Holznagel: Inszenierte Vergleiche und metaphorisches Verstehen. Zur Poetik der mittelhochdeutschen Gleichnisrede. In: Metaphern in Wissenskulturen. Hrsg. von Matthias Junge. Wiesbaden 2010, S. 109 – 122; Franz-Josef Holznagel: Gezähmte Fiktionalität. Zur Poetik des Reimpaarbispels. In: Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme. Hrsg. von Emilio González, Victor Millet. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen. 199), S. 47– 78, hier S. 54– 58. Vgl. zu dem Beispiel Hannelore Schlaffer: Odds and Ends. Zur Theorie der Metapher. In: Prometheus. Mythos der Kultur. Hrsg. von Edgar Pankow. München 1999, S. 75 – 84, hier S. 76; Max Black: Die Metapher. In: Theorie der Metapher (Anm. 8), S. 55 – 79; David E. Wellbery: Übertragen. Metapher und Metonymie. In: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Hrsg. von Heinrich Bosse, Ursula Renner. Freiburg im Breisgau 1999 (Rombach Grundkurs. 3), S. 139 – 155; Friedrich: Historische Metaphorologie (Anm. 24), S. 190 f.; Hans Georg Coenen: Der Löwe Achilles. Überlegungen anläßlich der Metaphernlehre des Aristoteles. In: Vir bonus dicendi peritus. Festschrift für Alfons Weische zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Beate Czapla, Tomas Lehmann, Susanne Liell. Wiesbaden 1997, S. 39 – 48.
I.2 Zu Quellenkorpus und Struktur der Arbeit
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klugen Menschen, doch ist der Fuchs mehr als nur Denotat (denn die Lehre deckt nie die gesamte Erzählung ab), und der Mensch ist mehr als nur Konnotat (da er nie der Fuchs der Erzählung sein wird).²⁷ Abschnitt II dieser Arbeit führt diese skizzenartigen Überlegungen weiter aus: Zu bestimmen ist das persuasive Wirkpotenzial des exemplarischen Erzählens, sein epistemologisches Format und seine Arten der Übertragung (Kapitel II.1). Spiegelbildlich dazu lassen sich Fragen an die Metapher formulieren: Welcher Status zwischen Rhetorik und Hermeneutik ist ihr einzuräumen, wo argumentiert sie analog zur exemplarischen Kurzerzählung (Kapitel II.2)? Abschließend wird sowohl das Feld der hier zu untersuchenden Erzählungen eingegrenzt, als auch eine Synthese der vorhergehenden Überlegungen versucht (Kapitel II.3): Welchen rhetorischen Stellenwert hat die exemplarische Kurzerzählung und inwiefern lässt sich dieser als ‚Metapher‘ bestimmen? Bilden die drei hier untersuchten genera narrationis (Fabel, Gleichnis, historisches Exempel) je eigene Formen der Metapher aus? Genau wie auch ihr Gegenstand selbst argumentiert die Arbeit in ihren Theoriekapiteln nicht streng systematisch. Vielmehr lehnt sie sich an das an, was Roland Barthes als ‚Netz der Rhetorik‘ beschrieben hat, d. h. eine Vielzahl an – auf den ersten Blick divergent erscheinenden – Einzelfäden, die sich nach und nach zusammensetzen und am Ende einen strukturierten Diskurs bilden.²⁸
I.2 Zu Quellenkorpus und Struktur der Arbeit Die als Gegenstand der Arbeit eingeführten ‚exemplarischen Kurzerzählungen‘ verlangen aufgrund der Uneindeutigkeit ihrer begrifflichen Reichweite einige klärende Vorbemerkungen. Der Fokus auf rhetorische Wirkungsräume narrativer Kleinformen legt nahe, diese selbst aus rhetorischer Kategorienlehre abzuleiten. Seit ihren Anfängen beschreiben Rhetoriklehren Möglichkeiten, bestimmte Erzählungen argumentativ zu instrumentalisieren; Aristoteles gibt zu diesem Zweck Fabel, Gleichnis und historisches Exempel an.²⁹ Damit verweist er bereits auf diejenigen Gattungen, die in den römischen Rhetorikbüchern als genera narrationis Karriere machen sollten, nämlich fabula, argumentum und historia: historia als wirklich geschehenes – und damit wahres – Ereignis, argumentum als erfundene Erzählung, die sich aber nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit hätte ereignen können, und fabula als weder
Zur Wirkungsweise der Fabel, inbesondere in Bezug auf die Metapher, vgl. auch Hans Georg Coenen: Die Gattung Fabel. Infrastrukturen einer Kommunikationsform. Göttingen 2000 (UTB für Wissenschaft). Vgl. generell zu Kurzerzählung und Metapher: Friedrich: Historische Metaphorologie (Anm. 24), S. 179. Vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 49 – 52. Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393a 22– 1394a 17). Vgl. auch Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), V, 11, 1– 21. Vgl. ausführlich dazu Kapitel II.3.
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wahre noch wahrscheinliche Dichtung.³⁰ In literarischer Kleinform lassen sich alle drei genera narrationis als Fabel, Gleichnis und historisches Exempel in volkssprachigen Texten des Mittelalters verfolgen, sie sollen im Folgenden die Analysegrundlage bilden.³¹ Die Arbeit perspektiviert in erster Linie mittelhochdeutsche Kurzerzählungen, der (hin und wieder vorgenommene) Blick auf die lateinische Erzähltradition dient im Wesentlichen der heuristischen Vorbereitung, weist die mittelalterliche Kurzerzählung doch eine „Herkunft aus der Exempeltradition“³² auf – nur punktuell rücken lateinische Kurzerzählungen in den Vordergrund.³³ Der Zeitraum der Untersuchung beginnt um 1150: Hier tritt die volkssprachige Kurzerzählung zum ersten Mal in rhetorischer Perspektive in Erscheinung, wie etwa in der Hirschherzerzählung der Kaiserchronik. ³⁴ Die Genese exemplarischer Kurzerzählungen wird dann über 200 Jahre verfolgt – eine breite Spanne, die sich notwendigerweise auf eine den Untersuchungsfragen angepasste Auswahl beschränken muss. Gegen Mitte des 14. Jahrhunderts beginnt sich die Produktion und Rezeption von Kurzerzählungen zu verschieben, teils entstehen neue Formen der Kompilation (Ulrich Boners Edelstein), teils werden die Erzählungen derart transformiert, dass kaum noch von exemplarischen Kurzerzählungen im engeren Sinne gesprochen werden kann (Boccaccios Decameron).³⁵ Dieser Umbruch wird anhand von Boners Edelstein kurz angerissen, während die ab 1350 zu beobachtende Neujustierung im Gebrauch und in der Sammlung von exemplarischen Kurzerzäh-
Vgl. Rhetorica ad Herennium. Lateinisch – Deutsch. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. 2. Aufl. Düsseldorf [u. a.] 1998 (Sammlung Tusculum), I, 8, 13; vgl. auch Cicero: De Inventione (Anm. 13), I, 19, 27; vgl. zur antiken Rezeption W. Martin Bloomer: Valerius Maximus & the Rhetoric of the New Nobility. London 1992, S. 1– 10; vgl. zur mittelalterlichen Rezeption Päivi Mehtonen: Old Concepts and New Poetics. Historia, Argumentum, and Fabula in the Twelfth- and Early Thirteenth-Century Latin Poetics of Fiction. Helsinki 1996 (Commentationes humanarum litterarum. 108); Gert Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 56 (2015), S. 11– 54, hier S. 28 – 34. Kapitel II.3 expliziert diese Auswahl ausführlicher. Udo Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider, Franziska Wenzel. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen. 190), S. 227– 249, hier S. 228. So etwa in der Analyse der lateinischen Gesta Romanorum (Kapitel IV.3), der wohl bedeutendsten spätmittelalterlichen Exempelsammlung. Vgl. die ausführliche Analyse in Kapitel III.1.2. Stellvertretend für ältere, terminologisch noch leicht unspezifische Ansätze vgl. Paul Geyer: Boccaccios Decameron als Schwellenwerk. Vom Karnevalesken zum Kasuistischen. In: Das 14. Jahrhundert. Krisenzeit. Hrsg. von Walter Buckl. Regensburg 1995 (Eichstätter Kolloquium. 1), S. 179 – 211; sowie stellvertretend für neuere, stärker narratologisch argumentierende Beiträge Caroline Emmelius: Kasus und Novelle. Beobachtungen zur Genese des Decameron (mit einem generischen Vorschlag zur mhd. Märendichtung). In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Bd. 51 (2010), S. 45 – 74.
I.2 Zu Quellenkorpus und Struktur der Arbeit
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lungen bereits umfassend durch die Forschung besprochen wurde und daher hier unberücksichtigt bleibt.³⁶ Stellt man das exemplarische Erzählen in eine zuvorderst funktionale Perspektive,³⁷ so bedeutet dies im Umkehrschluss, diejenigen Formen des Exemplarischen auszublenden, die sich in ihrer Disposition dem Funktionalen bereits per se sperren. Ausgeklammert wird damit die exemplarische Großform Märe, die nicht nur in ihrer Länge und Erzählkomplexität, sondern auch in ihrer zeitlichen Entstehung die Grenze des hier gewählten Zeit- und Untersuchungshorizontes oftmals überschreitet, so werden die Mären von Hans Folz, Hans Rosenplüt oder Heinrich Kaufringer erst im späten 14. bzw. 15. Jahrhundert verfasst.³⁸ Während das Märe als Großform auf dem argumentum basiert, kann das Tierepos als fabula verstanden werden, wird hier aber ebenfalls aufgrund seiner potenzierten erzählerischen Komplexität und Länge ausgeklammert. Auch Legenden, die kurz gehaltene Exempel narrativ weiter ausbauen und sich als historia präsentieren, liegen außerhalb des Untersuchungsradius, der sich auf funktionale Kurzerzählungen beschränkt. Ein nicht unbedeutender Teil der hier untersuchten exemplarischen Kurzerzählungen firmiert in der Forschung unter dem Begriff ‚bîspel‘.³⁹ Wie im weiteren Verlauf der Arbeit geklärt (Kapitel II.3.2), wird zwar im Folgenden auf die bîspel-Forschung zurückgegriffen, der Terminus bîspel jedoch bewusst vermieden. Die hier vorgenommene Analyse interessiert sich für das generelle rhetorische Potenzial exemplarischer Kurzerzählungen, zu denen auch die von der bîspel-Forschung ausgeklammer-
Vgl. bspw. A. E. Wright: Hie lert uns der meister. Latin Commentary and the German Fable, 1350 – 1500. Tempe, Arizona 2001 (Medieval and Renaissance Texts and Studies. 218); Ludger Lieb: Erzählen an den Grenzen der Fabel. Studien zum Esopus des Burkard Waldis. Frankfurt am Main [u. a.] 1996 (Mikrokosmos. 47); Hans-Jörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. 8). Vgl. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. In: Geschichte. Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 347– 375; vgl. grundlegend Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer (Anm. 10), S. 102– 143. Auch frühere Mären, wie etwa diejenigen des Strickers, bleiben ausgeklammert, wenn auch der Stricker selbst als Verfasser von Fabeln und Gleichnissen Eingang in die Arbeit findet. Zur MärenÜberlieferung generell vgl. Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau, Märe, Novelle. Tübingen 2006. Vgl. dazu v. a. die neueren Arbeiten Franz-Josef Holznagels, etwa Franz-Josef Holznagel: Verserzählung – Rede – Bîspel. Zur Typologie kleinerer Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200 – 1300. Cambridger Symposium 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst, Christopher Young. Tübingen 2003, S. 291– 306; Franz-Josef Holznagel: Der Weg vom Bekannten zum weniger Bekannten. Zur diskursiven Verortung der Minnebîspel aus dem Cod. Vindob. 2705. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Henrike Lähnemann, Sandra Linden. Berlin [u. a.] 2009, S. 239 – 252; Holznagel: Gezähmte Fiktionalität (Anm. 25).
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ten Kurzerzählungen in Prosa zählen.⁴⁰ Naturgemäß vergrößert diese Entscheidung das Quellenkorpus in nicht unbeträchtlichem Ausmaß. Um zu handhabbaren Ergebnissen zu kommen, muss damit Relevantes ausgewählt werden; das Exemplarische wird gewissermaßen selbst exemplarisch gelesen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit erhebt die Analyse nicht, sie versteht sich vielmehr als Hinweis auf die Möglichkeiten narrativer Argumentationsverfahren, die an symptomatischen Beispielen deutlich gemacht werden. Analysiert wird somit weder ein allgemeiner Exempelgebrauch, noch wird ein Kompendium zu Vorkommen und Häufigkeit exemplarischer Kurzerzählungen erstellt. Ausgangspunkt der Arbeit sind vielmehr Einzelfälle, an denen sich – ganz im Sinne des Gegenstands – je grundlegende rhetorische Techniken des Beispiel-Gebrauchs festmachen lassen. Aufgeteilt ist die Arbeit in zwei teils komplementäre, teils kontrastierende Bereiche: Abschnitt III untersucht den Funktionsraum exemplarischer Kurzerzählungen in nicht-narrativen Texten aus drei verschiedenen Kontexten (historisch, didaktisch, christlich). Es interessiert hier die rhetorische Einbindung der narrativen Kurzform einerseits wie auch der Status des Narrativen im nicht-narrativen Kontext andererseits: „Es läßt sich vermuten, daß gerade im Grenzbereich zwischen systematischen und narrativen Texten Aufschluß über die Konstitution von ‚Geschichten‘ als Texten zu finden ist.“⁴¹ Gegenüber der meist systematischen Wissenskompilation des Kontextes offerieren die exemplarischen Kurzerzählungen Argumente, die aus einem konsensuellen Erfahrungsschatz gewonnen werden. Die Analyse muss dabei idealtypisch trennen, was prinzipiell als interdependent anzusehen ist: Chroniken wie didaktische Texte sind von christlichen Leitgedanken durchzogen, religiöse Texte wiederum haben im Regelfall einen hohen didaktischen Anteil. Ein Text wie das Schachzabelbuch des Konrad von Ammenhausen ist nicht nur größtenteils im monastischen Kontext überliefert,⁴² er ist auch von einem Benediktiner verfasst. Dennoch wird er hier als didaktischer Text behandelt, denn Konrad gibt Auskunft über soziale Normen und gesellschaftliche Handlungserwartungen, nicht über religiöse Ordnungsvorstellungen. Die anachronistische (aber für die Analyse nötige) Trennung in ‚historisch‘, ‚didaktisch‘ und ‚christlich‘ wird in den Einzelanalysen reflektiert und – wo notwendig – problematisiert. Abschnitt IV verschiebt den Fokus vom nicht-narrativen Kontext auf denjenigen der Erzählsammlungen. Überlieferungsgeschichtlich gesehen bieten die oft umfangreichen Erzählsammlungen und Sammelhandschriften sicherlich den größten Ansatzpunkt für eine Untersuchung exemplarischer Kurzerzählungen, doch interessieren
Vgl. dazu auch die forschungsgeschichtlich einflussreichen Thesen von de Boor: Über Fabel und Bîspel (Anm. 2). Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 354. Vgl. Oliver Plessow unter Mitw. von Volker Honemann und Mareike Temmen: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung. Der Schachtraktat des Jacobus de Cessolis im Kontext seiner spätmittelalterlichen Rezeption. Münster 2007 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. 12), S. 96 – 140.
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sie auch in rhetorischer Perspektive. Dies jedoch weniger in unmittelbarer Funktionalität (wie im nicht-narrativen Kontext), denn als topisches Archiv, das die argumentativen Möglichkeiten seiner Kurzerzählungen je neu ordnet, ggf. mit Rahmungen versieht und über planvolles Auswählen und Anordnen spezifische Ordnungsvorstellungen inszeniert. Konkret untersucht wird damit Folgendes: Kapitel III.1 (‚Historischer Kontext‘) zieht verschiedene Chroniken heran, in denen Fabeln und Gleichnisse als Instrumentarien einer Machtpolitik fungieren, insofern sie exklusiv vom Herrscher erzählt werden und gegenüber den Untertanen der Konsolidierung eigener Interessen dienen – der historische Kontext zeigt die politische und damit genuin rhetorische Funktion des Exemplarischen auf. Das narrative Argumentieren avanciert hier zum Signum der Zukunftsgewissheit: Der Herrscher nimmt die Position eines Auguren ein, der die Konsequenzen etwaiger Handlungen in der exemplarischen Kurzerzählung vorführt. Auffällig bleibt dabei die große Zahl an Kurzerzählungen, die entweder selbst oder über den Kontext Fragen der Erkenntnis thematisieren. Häufig wird sowohl (von der Herrscherfigur selbst) eine Erkenntnis metaphorisch in der Kurzerzählung vermittelt, als auch die Kurzerzählung selbst noch gedeutet, d. h. richtig erkannt werden muss – Strukturen der Verrätselung, der Codierung prägen die Integration von Erzähleinheiten im historischen Geschehen. Als besonders aufschlussreich erweisen sich dabei Fabel und Gleichnis – das historische Exempel wird hier weniger herangezogen, stellt es doch im chronikalischen Kontext gewissermaßen die Normalform dar. In der Wissensstruktur der in Kapitel III.2 (‚Didaktischer Kontext‘) untersuchten lehrhaften Texte lässt sich hingegen ein argumentatives Spannungsfeld ausmachen: Während die im systematischen Kontext beschriebenen Regeln auf normative Grundsätze zielen, fokussieren die exemplarischen Kurzerzählungen einen narrativen Einzelfall, der die Allgemeingültigkeit normativen Wissens konterkarieren kann. Dies wird jedoch auch produktiv genutzt, etwa indem eine Kurzerzählung dort Einsatz findet, wo eine Form der Pragmatik gefordert ist, die über das reguläre Inventar an Lehren nicht gefüllt werden kann. Es interessieren somit insbesondere diejenigen Punkte, an denen eine exemplarische Kurzerzählung im didaktischen Kontext nicht mehr bloß eine Regel illustriert oder argumentativ unterstützt, sondern diese ersetzt. Damit kommt eine rhetorische Funktion zum Tragen, die vom Einzelfall direkt auf weitere Einzelfälle verweist, ohne dabei den Zwischenschritt des Allgemeinen in Anspruch nehmen zu müssen – von Aristoteles bis Agamben bezeichnet man dies in der Regel als ‚Paradigma‘.⁴³
Vgl. Giorgio Agamben: Was ist ein Paradigma?. In: Ders.: Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt am Main 2009 (es. 2585), S. 9 – 40; Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 3, Teil 1/2: Analytica priora. Buch 2. Übersetzt von Niko Strobach und Marko Malink. Erläutert von Niko Strobach. Berlin 2015, II, 24 (69a 14– 16): „Es ist demnach klar, dass ein Beispiel [parádeigma, M.S-D.] sich weder wie ein Teil zu einem Ganzen verhält, noch wie ein Ganzes zu einem Teil, sondern wie ein Teil zu einem Teil.“; vgl. auch Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), I, 2 (1357b 26 – 36).
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Der religiöse Text erfordert eine anders gewichtete Form der Rhetorik. Kapitel III.3 (‚Christlicher Kontext‘) skizziert das ambivalente Grundverhältnis des Christentums zur rhetorischen Argumentation: einerseits als Bindung und Vereinheitlichung der prinzipiell offen agierenden Rhetorik an die christlichen Wahrheitsvorgaben, andererseits als Bemühen um Klarheit und Affektrhetorik in der pastoralen Vortragssituation. An dieser Schnittstelle fungieren die exemplarischen Kurzerzählungen als Reservoir einer Erfahrungsverhandlung, die in der christlichen Paränese ansonsten nur marginalen Raum einnimmt, argumentationstheoretisch aber notwendige Ergänzungen bietet, etwa als Schnittstelle zwischen Offenbarung und Lebenswelt. Gleichzeitig scheint der Rückgriff auf antike Kurzerzählungen eine Verschiebung von Erzählinhalten zu fordern. Das Erzählen unter providentiellen Vorgaben ist nicht an Wahrscheinlichkeit, sondern an der Vermittlung notwendiger Wahrheit interessiert – was dies für das ‚Wieder-Erzählen‘ antiker Fabeln, Gleichnisse und historischer Exempel bedeutet, soll hier im Mittelpunkt stehen. Abschnitt IV der Arbeit setzt dann neue Schwerpunkte. Nicht mehr die einzelne exemplarische Kurzerzählung in nicht-narrativer Umgebung, sondern der Kontext einer Sammlung interessiert hier. Damit rücken Fragen nach Selektion und Katalogisierung in den Vordergrund: Nach welchen Kriterien wird das Archiv an Erzählungen ausgewählt und geordnet? Rhetorisch relevant ist nicht mehr die direkte Verwendung einer Erzählung als Argument, denn vielmehr rhetorische Techniken der Textproduktion: Die Konzeption einer Erzählsammlung beeinflusst Erzählinhalte und Epimythien ihrer Gegenstände. Genau wie in Abschnitt III muss auch hier ökonomisch verfahren werden, denn die schiere Masse an überlieferten Erzählsammlungen und Sammelhandschriften kann nicht quantitativ bewältigt werden. Vielmehr werden abermals symptomatische Strategien narrativer Argumentation an verschiedenen Sammlungstypen verfolgt: die geschlossene Sammlung, die offene Sammlung, und die heterogene Sammelhandschrift. Als Beispiel für eine geschlossene Erzählsammlung fungiert eine Fabelkompilation, Ulrich Boners Edelstein (Kapitel IV.2). Der Edelstein steht, wie bereits erwähnt, am Rand des hier untersuchten Zeitraums. Sich von einer (etwa für lateinische Exempelsammlungen typischen) strikt systematischen Moralphilosophie abhebend, zeigt er doch ebenfalls nicht die typischen Charakteristika der Moralistik, die sich bspw. an Montaigne festmachen lassen.⁴⁴ So offenbaren sich in Boners Text sowohl topische wie systematische Ordnungsmuster, die je unterschiedliche textuelle Bedingungen an ihren Erzählgegenstand, die Fabel, stellen. Über Pro- und Epilog sowie dezidiert ausgewählte Eingangsfabeln entwirft der Edelstein ein festes poetologisches Rahmenprogramm, reflektiert aber schon in der ersten Fabel (‚Hahn und Edelstein‘) über seinen eigenen rhetorischen Status. Vgl. zur Moralistik Karlheinz Stierle: Was heißt Moralistik?. In: Moralistik. Explorationen und Perspektiven. Hrsg. von Rudolf Behrens. München [u. a.] 2010, S. 1– 22; zu Montaigne vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 366 – 375; sowie Nichols: Example versus Historia (Anm. 1).
I.2 Zu Quellenkorpus und Struktur der Arbeit
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Die lateinischen Gesta Romanorum hingegen werden als offene Erzählsammlung herangezogen, insofern der Text weder eine feste Rahmung noch einen festen Erzählbestand offeriert (Kapitel IV.3). Als eine der am breitesten überlieferten und rezipierten Erzählsammlungen bieten die Gesta Romanorum hier die Möglichkeit, gezielt rhetorische Muster herauszuarbeiten, die bei der Narrativierung diskursiver Kontexte zum Einsatz kommen: Ein nicht unerheblicher Teil der Erzählungen in den Gesta Romanorum ist auch in deskriptiver Form, als Teil von Naturlehren, Rechtsbüchern oder historiographischen Werken überliefert. Unter welchen Bedingungen hier der Wechsel in die narrative Form und die Zusammenstellung in der Sammlung vollführt wird, ist eine Kernfrage des Kapitels. Wenn sich auch für die Gesta Romanorum nur punktuell spezifische Ordnungsmuster oder Sammelprinzipien festmachen lassen, so scheint die Konzeption der Sammlung doch in einem bestimmten Spannungsverhältnis von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu stehen: Wahrheit durch die den Erzählungen angehängte moralisatio, die allegorisch wie figural auf das Heilsgeschehen verweist, Wahrscheinlichkeit jedoch in den Erzählungen selbst durch die Erfahrungsform des historischen Reservoirs (historia magistra vitae). Damit scheint ein Missverhältnis die Sammlung zu prägen, ist historische Erfahrung doch unabgeschlossen, da sie aus dem Archiv der Geschichte je neue situationsadäquate Schlüsse zieht,⁴⁵ während die religiöse Lesart bereits eine geschlossene Totalität impliziert. Kapitel IV.4 stellt abschließend eine Sammelhandschrift (MS Add. 24946 der British Library in London) in den Mittelpunkt. Die Auswahl gerade dieser Handschrift aus dem großen Fundus ähnlicher Sammlungen hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen lassen sich in der Konzeption und Zusammenstellung der in der Handschrift enthaltenen exemplarischen Kurzerzählungen bereits deutliche Ansätze eines gattungsordnenden Zugriffs identifizieren: Fabel, Gleichnis und historisches Exempel werden voneinander abgesetzt und erhalten je einen spezifischen rhetorischen Rahmen zugewiesen. Zum anderen interessiert hier, wie sich die Erzählsammlung innerhalb des Kontextes der Handschrift gegenüber anderen Inhalten verhält: Mit welchen anderen Texten (z. B. Sprichwortsammlungen u. ä.) kombiniert die Handschrift die Kurzerzählungen und welche Wissens- und Argumentationsformen werden dabei bedient? Gezeigt wird, wie sich der Common Sense in die Register der Handschrift Add. 24946 einschreibt und ihre unterschiedlichen Texte je auf eine Wissensform perspektiviert: ein Archiv kultureller Überzeugungsmuster, das sowohl deskriptive wie narrative Texte umfasst.
Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main 1981, S. 21.
II Theoretische Rahmenziehung II.1 Exemplarisches Erzählen II.1.1 Zur exemplarischen Kurzerzählung Nunc ubi Regulus aut ubi Romulus aut ubi Remus? / Stat Roma pristina nomine, nomina nuda tenemus. ⁴⁶ 1140 umreißt Bernhard von Cluny, rhetorisch forciert durch eine ubi sunt-Formel, in einer zeithistorisch nicht unüblichen Klage den Verfall ethischer und sozialer Gewissheiten. Inmitten der kulturellen Verlustgeschichte bleibt jedoch eines stehen: Das antike Reservoir an Taten und Worten ist noch in den Namen präsent. Die historische Figur selbst wird exemplarisch, sie wird zur imago. ⁴⁷ Und hinter jeder imago, so macht es Bernhard klar, steht eine Erzählung: Der Verlust der Vorbilder ist der Beginn ihrer Erzählung – Ähnliches hat man für Hartmanns von Aue Iwein-Prolog konstatiert.⁴⁸ Der Dreischritt historia – memoria – narratio, von der Geschichte über die Erinnerung zur Erzählung, weist aber auch darauf hin, dass es eine spezielle Form des Erzählens ist, die die kulturelle Leerstelle der verlorenen Vergangenheit füllt: das exemplarische Erzählen. Exemplarisch insofern, als das Erzählen ein externes Referenzsystem erzwingt. Es erschöpft sich nicht in der eigenen Erzählung, sondern weist notwendigerweise über sich selbst hinaus, so wie die Erzählungen über Romulus und Regulus bei Bernhard in die Geschichte einerseits und auf moralische Ordnungsvorstellungen andererseits verweisen – und somit nicht nur erzählen, sondern auch als Argument fungieren. Diese Arbeit fokussiert drei Kurzformen des exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel. Wenn diese drei Typen exemplarischer Kurzerzählungen sich auch nach ihrem Fiktionalitätsgrad unterscheiden und zudem in ontologischer Perspektive Differenzen aufweisen (vgl. Kapitel II.3), lassen sie sich doch auf eine grundlegende Prämisse zurückführen. Der Spielraum des Exemplarischen liegt im Spannungsfeld vom einzelnen Fall (dem Besonderen) und dessen Übertragbarkeit auf eine Erfahrungsregel, ein Allgemeines, einen weiteren Fall usw.⁴⁹ Unabdingbar ist
Bernardus Morlanensis (Bernhard von Cluny): Scorn for the World. Bernard of Clunyʼs De contemptu mundi. The Latin Text with English Translation and an Introduction. Hrsg. von Ronald E. Pepin. East Lansing 1991 (Medieval Texts and Studies. 8), V. 951 f. (‚Wo ist jetzt Regulus und wo ist Romulus und wo ist Remus? / Das frühere Rom steht nur noch dem Namen nach, wir behalten nur die nackten Namen.‘, Übersetzung M.S-D.). Vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 58 f. Vgl. Walter Haug: Programmatische Fiktionalität. Hartmanns von Aue Iwein-Prolog. In: Ders.: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2., überarb. und erw. Aufl. Darmstadt 1992, S. 119 – 133. Vgl. Gelley: The Pragmatics of Exemplary Narrative (Anm. 7); Honold: Beispielgebend (Anm. 7), S. 406; Bernd Engler, Kurt Müller: Einleitung. In: Exempla. Studien zur Bedeutung und Funktion exhttps://doi.org/10.1515/9783110579406-003
II.1 Exemplarisches Erzählen
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somit, dass dem narrativen Gehalt der Erzählung eine extensionale Bedeutungsdimension zukommt, die über das Erzählte hinausweist.⁵⁰ Das exemplarische Erzählen ist damit stets in einen je situativ-spezifischen Funktionszusammenhang eingebunden: Die exemplarische Kurzerzählung bezieht ihren Stellenwert aus einem argumentativen Kontext.⁵¹ Sie illustriert Regeln von Gesetz und Fall, vermittelt Relationen von Allgemeinem und Besonderem, reflektiert über Aporien usw. Der Kontext determiniert das exemplarische Erzählen ebenso, wie er selbst durch dessen Argumentationsverfahren beeinflusst wird – ein Zirkelschluss aus Wirkung und Rückwirkung. Aristoteles exemplifiziert diese Text-Kontext-Beziehung, indem er nicht nur verschiedene Erzähltypen aus der Argumentationsform parádeigma (dem Beispiel-Geben) extrapoliert, sondern diesen auch einen rhetorischen Wirkungsraum zuweist:⁵² Der „Bericht von geschehenen Dingen“ (d. h. das historische Exempel) sei nützlich für das (politische) Beraten, die Fabel aber für „die Rede vor der Menge“⁵³. Das Gleichnis hingegen, so könnte man überlieferungsgeschichtlich ergänzen, ist vor allem im religiösen Kontext prominent geworden. Aristotelesʼ Hinweis auf die Interdependenz von Kontext, exemplarischer Erzählung und rhetorischer Technik wird in dieser Arbeit
emplarischen Erzählens. Hrsg. von Dens. Berlin 1995 (Schriften zur Literaturwissenschaft. 10), S. 9 – 20; Hübner: Erzählung und praktischer Sinn (Anm. 7), S. 222. Vgl. Honold: Beispielgebend (Anm. 7), S. 406; Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlichfrühneuzeitliches Erzählen (Anm. 30), S. 20 f., der hier die Funktion des Exemplarischen, Kausalitäten zwischen Handlung und Folge im Sinne eines rhetorischen Wahrscheinlichkeitsdenkens kenntlich zu machen, betont. Vgl. von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. 44; Burghart Wachinger: pietas vel misericordia. Exempelsammlungen des späten Mittelalters und ihr Umgang mit einer antiken Erzählung. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Hrsg. von Klaus Grubmüller, Leslie Peter Johnson, Hans-Hugo Steinhoff. Paderborn 1988 (Schriften der Universität-Gesamthochschule-Paderborn. Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft. 10), S. 225 – 242, hier S. 230 (dort auch Verweise auf ältere Forschung); Peter von Moos: Das exemplum und die exempla der Prediger. In: Ders.: Gesammelte Studien zum Mittelalter. Bd. 2: Rhetorik, Kommunikation und Medialität. Berlin [u. a.] 2006 (Geschichte – Forschung und Wissenschaft. 15), S. 107– 126, hier S. 110; Walter Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen. Vom Pancatantra zum Dekameron. In: Exempel und Exempelsammlungen (Anm. 2), S. 264– 287, hier S. 264 f.; Christoph Daxelmüller: Exemplum und Fallbericht. Zur Gewichtung von Erzählstruktur und Kontext religiöser Beispielgeschichten und wissenschaftlicher Diskursmaterien. In: Jahrbuch für Volkskunde N.F. 5 (1982), S. 149 – 159, hier S. 154. Für die Fabel vgl. Klaus Grubmüller: Zur Pragmatik der Fabel. Der Situationsbezug als Gattungsmerkmal. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Hrsg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 473 – 488, hier S. 477. Quintilian bestätigt die Nähe von Exempel und parádeigma (Quintilian: Institutio oratoria [Anm. 13], V, 11, 2): nos, quo facilius propositum explicemus, utrumque παράδειγμα esse credamus et ipsi appellemus exemplum. (‚Wir wollen, um im Folgenden uns leichter verständlich machen zu können, annehmen, παράδειγμα enthalte beide Bedeutungen, und wollen es in diesem Sinn „exemplum“ nennen.‘). Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393a 22– 1394a 18). Ähnlich bei Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), V, 11, 1– 21. Vgl. von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. 49 f.
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II Theoretische Rahmenziehung
maßgeblich im Fokus stehen – allerdings nicht explizit in der von Aristoteles skizzierten textexternen Einbindung oder der (damit lose zusammenhängenden) Bindung von ‚Einfachen Formen‘ an eine ‚Geisteshaltung‘, wie sie André Jolles vorgeschlagen hat.⁵⁴ Vielmehr geht es hier um eine Form der Textpragmatik und -funktionalität, die sich für Beziehungen zwischen der exemplarischen Kurzerzählung und dem sie bestimmenden Textzusammenhang interessiert.⁵⁵ Um Typen und Formen des Exemplarischen zu explizieren, hat die Forschung verschiedene Richtungen eingeschlagen. Historisierende Begriffsanalysen des exemplum (d. h. der genaue Blick auf die in lateinischen Texten des Mittelalters präferierte Bezeichnung – exemplum – von exemplarischen Kurzerzählungen)⁵⁶ wurden in jüngerer Zeit ergänzt durch Bemühungen um systematische Begriffsbestimmung.⁵⁷ Bezüglich der Ausdifferenzierung exemplarischer Erzählformen hat man sowohl versucht, aus verschiedenen Funktionen der exemplarischen Kurzerzählung Rückschlüsse auf etwaige Gattungsmuster zu ziehen,⁵⁸ als auch durch Blick auf literarische Konventionen Aufschluss über Formen eines Gattungswandels zu erlangen, innerhalb dessen sich das Exempel als narrative Form profiliert.⁵⁹ Die vorliegende Arbeit greift auf Ansätze einer pragmatischen Exempelforschung, d. h. auf Fragen nach der konkreten Funktion einer exemplarischen Kurzerzählung, zurück, stellt diese Funktion jedoch in eine direkte Relation zum narrativen Status der Kurzerzählung – es interessiert die Verbindung von Erzählen und Rhetorik, also narrative Argumentation.⁶⁰ Im Fokus stehen somit weniger generische Fragestellungen nach der Ausformung einzelner Gattungen (ohne die Relevanz dieser Fragen in Abrede stellen zu wollen), als aus Sicht der Rhetorik die Perspektive auf die Textfunktion in der direkten Einbindung im Kontext mit erzähltheoretischen Fragen verbunden wird. Bereits Hugo Kuhn stellt in Bezug auf literarische Kurzformen fest, dass jede Erzählung „in der Kultur multifunktional“ verwendet wird und „fast jede Funktion“
Vgl. Jolles: Einfache Formen (Anm. 2), S. 1– 22. Zur Textpragmatik vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37). Vgl. Markus Schürer: Das Beispiel im Begriff. Aspekte einer begriffsgeschichtlichen Erschließung exemplarischen Erzählens im Mittelalter. In: Mittellateinisches Jahrbuch 38 (2003), H. 1, S. 199 – 237. So etwa Klaus Grubmüller: Exemplarisches Erzählen – im exemplum, im Märe, im Fabliau? In: Tradition des proverbes et des exempla dans lʼOccident médiéval. Hrsg. von Hugo Oscar Bizzarri. Berlin [u. a.] 2009 (Scrinium Friburgense. 24), S. 67– 80. Vgl. auch die Zusammenfassung und kritische Revision der Debatte bei Emmelius: Kasus und Novelle (Anm. 35), hier S. 48 – 60. Vgl. von Moos: Das exemplum und die exempla der Prediger (Anm. 51), S. 110. Vgl. etwa Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Hrsg. von Nigel F. Palmer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 193 – 210, hier S. 203 – 210; Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle (Anm. 36). Caroline Emmelius bezeichnet treffend das Erste als „pragmatische Exempelforschung“, das Zweite als „texttypologische Exempelforschung“, vgl. Emmelius: Kasus und Novelle (Anm. 35), S. 48. Ebendies vernachlässigt die pragmatische Exempelforschung in der Regel, wie auch schon von Emmelius hervorgehoben, vgl. ebd., S. 50 f.
II.1 Exemplarisches Erzählen
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polymorphe Züge besitzt.⁶¹ Kuhn weist damit implizit auf ein generelles Problem eines häufig nur einsinnig verstandenen Strukturfunktionalismus hin, nämlich dass sich die Relation von Erzählung und Funktion selten in einer offen zutage liegenden Aufgabe erschöpft, sondern vielmehr von rhetorischer Polyfunktionalität ausgegangen werden muss, d. h. der Möglichkeit, dass eine Erzählung verschiedene Funktionen übernehmen kann. Alois Hahn hat dies symptomatisch für den Zusammenhang von Wissen und Funktion formuliert: Man wird „damit rechnen müssen, daß vielfach eine Wissensform mehrere Funktionen abdeckt und daß, umgekehrt, oft dieselbe Wissensfunktion in einer gegebenen Gesellschaft auf verschiedene Wissensformen oder kognitive Institutionen aufgeteilt erscheint.“⁶² Wenn – um Hahns These in eine Epistemologie des Exemplarischen zu stellen – eine Erzählung verschiedene Funktionen annehmen kann, wie auch eine Funktion sich in unterschiedlichen Erzählungen manifestiert, so muss sowohl der Zugriff auf diese Erzählungen als auch ihre klassifikatorische Einteilung notwendigerweise pragmatisch gehandhabt werden. Wie Klaus Grubmüller gezeigt hat, entspricht es auch der historischen Textverwendung, keine allzu dichten Grenzen zwischen Exempel, Fabel und anderen kleineren Erzählformen zu ziehen,⁶³ ähnlich gestehen die Rhetoriken von Aristoteles bis Quintilian allen drei genera narrationis (fabula, argumentum, historia) zu, als rhetorische Argumentation zu fungieren. Im Folgenden wird somit in einem ersten Schritt von den generellen Möglichkeiten und Funktionen der exemplarischen Kurzerzählung ausgegangen, die in ihren Realisierungen und Bedingungen vorgestellt wird. Was in Kapitel II.3 näher in einzelne Erzählformen (Fabel, Gleichnis, historisches Exempel) ausdifferenziert ist, wird hier noch unter dem gemeinsamen Oberbegriff der exemplarischen Kurzerzählung gefasst. Ihren Geltungsanspruch behauptet die exemplarische Kurzerzählung einerseits im Kontext von deskriptiven, paränetisch oder pragmatisch ausgerichteten Texten (Chroniken, moralische Summen, christliche Lehrtexte usw.), in denen sie als einzelne Erzähleinheit auftritt, sie wird aber auch in geschlossenen Korpora umfassend angelegter Erzählsammlungen überliefert. Im ersten Fall nimmt die Kurzerzählung als funktional-narrative Form im Nicht-Narrativen des historischen, didaktischen oder christlichen Textzusammenhanges eine Sonderstellung ein. Karlheinz Stierle hat
Hugo Kuhn: Zur Typologie mündlicher Sprachdenkmäler. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 2: Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 10 – 27, hier S. 21. Kuhn nutzt die These, um Gattungstypologien, wie sie etwa Jolles vorgelegt hat, als zu starr und unflexibel zu markieren. Auch Grubmüller führt das Zitat von Kuhn an, bindet es aber nur bedingt in seine Argumentation ein, siehe Klaus Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese. Über Sinnbildungsverfahren und Verwendungszusammenhänge. In: Exempel und Exempelsammlungen (Anm. 2), S. 58 – 76, hier S. 63. Auf die Multifunktionalität der Fabel verweist aber auch Grubmüller selbst: „ein- und dieselbe Fabel kann bekanntlich als Beleg für die unterschiedlichsten ‚Lehren‘ verwendet werden.“, Grubmüller: Zur Pragmatik der Fabel (Anm. 51), S. 476. Alois Hahn: Zur Soziologie der Weisheit. In: Weisheit. Hrsg. von Aleida Assmann. München 1991 (Archäologie der literarischen Kommunikation. 3), S. 47– 57, hier S. 47. Vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (Anm. 59), S. 201; Grubmüller: Exemplarisches Erzählen – im exemplum, im Märe, im Fabliau? (Anm. 57), S. 72.
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II Theoretische Rahmenziehung
dies an den Polen Wissen und Erfahrung verdeutlicht.⁶⁴ Während der enzyklopädische Diskurs Wissen systematisch aufbereitet und qua kategorialen Ordnungsrastern kompiliert, präsentiert die exemplarische Kurzerzählung aus einem konsensuellen Erfahrungsschatz gewonnene Beispiele in narrativer Form. Das Narrative bildet im Nicht-Narrativen jedoch keine Fremdeinheit, sondern ergänzt die Postulate normativen Expertenwissens durch eine mehrheitlich-kollektiv rückversicherte Form von Wirklichkeitsbewältigung.⁶⁵ Die exemplarische Kurzerzählung fungiert so als einzelner Fall, der als Argument für oder gegen eine im Kontext entworfene Regel dienen kann. Wo Kurzerzählungen hingegen gesammelt werden (wie in Exempelsammlungen oder Promptuarien), stehen sie weniger in direkter Funktionalität, denn als latentes Reservoir eines Speichers möglicher Argumente, wie es das Beispiel der im Mittelalter breit rezipierten Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus zeigt. Nach topischen Gesichtspunkten geordnet,⁶⁶ offerieren Valeriusʼ historische Exempel ebenso Auskunft über pragmatische Regeln ethischen Handelns wie über Ausnahmen von diesen Regeln und verdeutlichen damit den Spielraum rhetorischer Kontextualisierungen. Reservoir der Exempel ist hier die historia, die aber nicht unter chronologischer Perspektive durchlaufen wird, sondern als kultureller Speicher fungiert: Das Feld der Topik erstreckt sich damit vom einzelnen Argument bis hin zum Archiv an Regel-Fall-Vorstellungen.⁶⁷ Was einerseits als loci communes seinen festen Platz im kollektiven Gedächtnis hat und andererseits übertragbare Eigenschaften aufweist, wird narrativ aufbereitet. Geschichte erschließt sich in Relationen, Analogien und Ähnlichkeiten – Michel de Certeau schreibt: „Die Erzählung […] entwirft Aussagemodelle […] und nicht etwa Inhalte.“⁶⁸ Wenn der Inhalt zugunsten einer argumentativen Modellfunktion zurücktritt, avancieren die Figuren der Erzählung zu Synekdochen,⁶⁹ zu Kristallisationspunkten kultureller Überzeugungen, die sich als pars-pro Er greift dabei im Wesentlichen auf Walter Benjamin zurück: „Wenn der narrative Diskurs der Ort der Erfahrung ist, so ist der deskriptive Ort einerseits, der systematische Ort andererseits der Ort des Wissens.“, Stierle: Erfahrung und narrative Form (Anm. 12), S. 90; vgl. dazu auch Udo Friedrich: Naturgeschichte zwischen artes liberales und frühneuzeitlicher Wissenschaft. Conrad Gessners Historia animalium und ihre volkssprachliche Rezeption. Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit. 21), S. 136 f. Dies wird in Abschnitt III dieser Arbeit anhand verschiedener Texte und Kontexte gezeigt. Zum Ordnungsprinzip bei Valerius vgl. Franz Römer: Zum Aufbau der Exemplasammlung des Valerius Maximus. In: Wiener Studien 103 (1990), S. 99 – 107, hier S. 106 f.: „Die literarischen Ambitionen des Valerius Maximus beschränken sich nicht auf eine Gestaltungsebene. Sie lassen sich auch an der Reihung und Verbindung der einzelnen Exempla innerhalb von Kapiteln nachweisen […].“ Vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 66 – 72. Vgl. dazu auch die Ausführungen in der Einleitung (Kapitel I.1). Vgl. zur latenten Potenz des Beispiels, je verschieden zu argumentieren Haverkamp: Beispiel, Metapher, Äquivalenz (Anm. 9), S. 22 f. Michel de Certeau: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Berlin 2010, S. 75 (de Certeau bezieht sich hier auf mystische Erzählungen, weist aber auf übertragbare Strukturen hin). Vgl. Peter von Moos: Das argumentative Exemplum und die „wächserne Nase“ der Autorität im Mittelalter. In: Exemplum et similitudo. Alexander the Great and Other Heroes as Points of Reference in Medieval Literature. Hrsg. von W. J. Aerts. Groningen 1988 (Mediaevalia Groningana. 8), S. 55 – 84.
II.1 Exemplarisches Erzählen
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toto in den Figuren spiegeln. Strukturell gesehen liegt dann die Funktion der Figuren und ihrer Axiologie darin, als imagines im syntagmatischen Verlauf der Handlung paradigmatisch Wertekonstellationen abzubilden.⁷⁰ Der funktionale Spielraum des exemplarischen Erzählens erschöpft sich somit weder in der Wissensakkumulation noch darin, in stets neuen Variationen Belehrung und Unterhaltung zu verbinden: „Exemplarisches Erzählen einfach für ‚moraldidaktisch‘ zu halten ist ein trivialisierendes modernes Missverständnis.“⁷¹ Vielmehr offeriert die exemplarische Kurzerzählung eine Breite an Anwendungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die sich systematisch schwer einfangen lassen. Peter von Moos trägt in Bezug auf das exemplum folgende zusammen: [Das] Exemplum ist ein in pragmatischer, strategischer oder theoretischer Absicht zur Veranschaulichung, Bestätigung, Problemdarlegung und Problemlösung, zur Reflexion und Orientierung aus dem ursprünglichen Kontext ad hoc isolierter, meist (in einer historia) erzählter oder nur anspielend erwähnter (commemoratio) Ereigniszusammenhang aus dem wirklichen oder vorgestellten menschlichen Leben naher oder ferner Vergangenheit.⁷²
Von Moosʼ Kategorien treffen den Charakter des exemplum, das aus einer rhetorischen Perspektive den Umgang mit Wirklichkeit reguliert, anstatt sich durchweg Wahrheitspostulaten hinzugeben.⁷³ Dennoch bedürfen sie der Differenzierung, bezeichnen sie doch teils gegensätzliche Funktionsmodelle (argumentationstheoretisch verlaufen die Prozesse ‚Bestätigung‘ und ‚Reflexion‘ konträr).Was in der Forschung oftmals über einen gattungstheoretischen Zugriff systematisiert wurde (homiletisches exemplum vs. rhetorisches exemplum usw.), soll hier mit Blick auf das Verhältnis von exemplarischer Kurzerzählung und Regel expliziert werden.
II.1.2 Einzelfall und Regel. Relationen von Besonderem und Allgemeinem in der exemplarischen Kurzerzählung Die basalen Verwendungstechniken und Funktionstypen der exemplarischen Kurzerzählung gewinnen ihre Relevanz sowohl im Hinblick auf die pragmatische Situati-
Vgl. Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen (Anm. 32), S. 227; Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 58 f. Gert Hübner: evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen. In: Historische Narratologie, mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin [u. a.] 2010 (Trends in Medieval Philology. 19), S. 119 – 148, hier S. 144 f. Hübner betont hier ebenfalls die Notwendigkeit des exemplarischen Erzählens, anhand von Kategorien der Wahrscheinlichkeit zu argumentieren, s. dazu auch Kapitel II.3. Von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. XI. (Hervorhebungen dort) Vgl. Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981 (RUB. 7715), S. 104– 136, hier bes. S. 105 – 119.
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II Theoretische Rahmenziehung
onsgebundenheit der Erzählungen⁷⁴ als auch bezüglich unterschiedlich ausgeformter Relationen von Allgemeinem und Besonderem: Die exemplarische Kurzerzählung erzählt von einem besonderen Fall, der entweder bereits inhärent mit dem Allgemeinen, also etwa einer Regel, verbunden ist (Teil-Ganzes) oder direkt auf einen weiteren besonderen Fall verweist (Teil-Teil). Die Gestaltung dieser Relation bedingt somit unterschiedliche Funktionen der Erzählung. Eine vorwiegend illustrativ eingesetzte exemplarische Kurzerzählung verbindet das Allgemeine und Besondere anders als eine reflexiv argumentierende. Konnex aller Funktionstypen ist die Persuasionsleistung der (stets auf Wirkung zielenden) exemplarischen Kurzerzählung, die jedoch über je unterschiedliche Strategien anvisiert wird.⁷⁵ „Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer praktischen Regel.“⁷⁶ Immanuel Kants Versuch, die exemplarische Kurzerzählung vor dem Hintergrund eines normativen Systems zu re-formulieren, zeigt sowohl die überzeitliche Geltung des Exemplarischen wie auch seine Einbindung in den zeitgenössischen Verständnishorizont. Das Exemplarische kann illustrative Funktionen einnehmen, es kann für Wissenszuwachs sorgen oder aber von einer Ausnahme und damit gegen die Regel erzählen. Es steht somit, wie auch von Kant diskutiert, zwischen den Positionen der imitatio (sofern es sich als nachahmenswertes Beispiel versteht)⁷⁷ und der Reflexion (sofern es sich dem Kasus nähert). Im einfachsten Fall bestätigt die exemplarische Kurzerzählung eine bereits bestehende Menge an Erkenntnissen, Lehren oder Erfahrungen, die im besonderen (d. h. dem narrativ aufbereiteten) Fall demonstriert werden. Dieser einzelne Fall ist vom Allgemeinen determiniert, welches er nicht argumentativ herbeiführt, sondern ins Bild setzt – er dient weniger der fallspezifischen rhetorischen Argumentation als der allgemeinen Evidenzproduktion, d. h. er illustriert.⁷⁸ In der Illustration kann sowohl
Dazu auch Peter von Moos: Die Kunst der Antwort. Exempla und dicta im lateinischen Mittelalter. In: Exempel und Exempelsammlungen (Anm. 2), S. 23 – 57, hier S. 36; vgl. zur Situationsgebundenheit exemplarischen Erzählens auch Gert Hübners Ansatz einer ‚praxeologischen Narratologie‘, auf den unten näher eingegangen wird. Die Begriffe ‚Allgemeines‘ und ‚Besonderes‘ werden hier vor diesem rhetorischen Hintergrund verwendet. Davon abzusetzen ist – gerade in Bezug auf das Mittelalter – der scholastische Zugriff auf die Termini, vgl. dazu Günther Mensching: Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter. Stuttgart 1992. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe. Bd. 8. Frankfurt am Main 1977 (stw. 190), S. 620; vgl. dazu auch Günther Buck: Kants Lehre vom Exempel. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 148 – 183, hier S. 151. Nicht nur im Zuge der imitatio christi sollte es hier Karriere machen, vgl. Jolles: Einfache Formen (Anm. 2), S. 23 – 61; Buck: Kants Lehre vom Exempel (Anm. 76), S. 154. Vgl. Pethes, Ruchatz, Willer: Zur Systematik des Beispiels (Anm. 5), S. 8; von Moos nennt dies ein „semantisches, kein argumentativ-rhetorisches Verfahren“, von Moos: Das exemplum und die exempla der Prediger (Anm. 51), S. 115. Grubmüller hingegen geht davon aus, dass alle Exempel notwendig illustrativ seien, die Illustration also eine Mindestfunktion des Exempels sei: Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese (Anm. 61), S. 63; Grubmüller: Exemplarisches Erzählen – im exemplum, im Märe, im Fabliau? (Anm. 57), S. 73. Hier muss sich allerdings die Frage anschließen, ob eine auf reflexive
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vom Besonderen zum Allgemeinen hin erzählt werden als auch vom Allgemeinen zum Besonderen, denn ob eine exemplarische Kurzerzählung auf die Anwendung einer Regel hinausläuft oder eine Regel in der Kurzerzählung veranschaulicht wird, bedingt nicht deren argumentativen Status. Als Schlussverfahren fungiert die exemplarische Kurzerzählung hier somit nicht zwangsläufig – die o.g. Relationen ließen sich zwar als logische Operationen von Induktion und Deduktion verstehen,⁷⁹ doch liegt der Kerngedanke der Illustration nicht im Beweis, sondern in der Veranschaulichung. Da das von der exemplarischen Kurzerzählung illustrierte Wissen bereits als gesetzt bzw. natürlich gilt, muss es nicht argumentativ erarbeitet, jedoch gegebenenfalls anschaulich bzw. intelligibel gemacht werden. Der Versuch, Normen und Abstrakta in einer Erzählung zu veranschaulichen, weist die illustrierende Funktion der exemplarischen Kurzerzählung als eine Form der Komplexitätsreduktion aus. Was Kant als Prozess des ‚Verständlich-Machens‘ umreißt,⁸⁰ kann so auch als narrative Umsetzung von verbindlicher Begrifflichkeit in die Pragmatik der Lebenswelt definiert werden. Ein an Persuasion interessierter Redner, so bestätigt Augustinus diesen Befund auch aus christlicher Perspektive, kann manchmal die komplexe Rede zugunsten dessen ersetzen quid bene indicet atque intimet quod ostendere intendit. ⁸¹ Wenn im einzelnen Fall das Abstrakte (und das heißt auch: das Allgemeine) in einer Erzählung zur Anschauung gebracht wird, so nivelliert dies gleichermaßen die singuläre Aussagekraft dieses Einzelfalls. Der paradoxe Moment der illustrierenden Funktion liegt darin, dass der besondere Gehalt des einzelnen Falles nur deswegen kenntlich gemacht wird, um seine Zugehörigkeit zum Allgemeinen anzuzeigen, sprich seine Besonderheit zu konterkarieren. Wenn das Besondere aber nahtlos in das All-
Techniken zielende Kurzerzählung einfache illustrative Funktionen nicht gerade bewusst konterkariert. Für ein streng logisches Verfahren der Induktion müsste man allerdings alle bekannten Fälle anführen, aus denen sich dann klar eine Regel herauskristallisiert, nicht nur – wie die hier untersuchten Befunde – einen einzigen Fall. Vgl. dagegen Pethes, Ruchatz, Willer, nach denen die exemplarische Kurzerzählung – je nach Kontext – auch als illustratives Schlussverfahren fungieren kann. Pethes, Ruchatz, Willer stellen diese Funktionen anhand der Termini von Induktion („Ausgangsbeispiel“) und Deduktion („Belegbeispiel“) vor: Pethes, Ruchatz, Willer: Zur Systematik des Beispiels (Anm. 5), S. 21– 40. Ralf-Henning Steinmetz hingegen weist historisch auf die institutionelle Verschiebung des exemplum im Mittelalter hin: Während die „illustrativ-stilistische“ Seite des exemplum vom rhetorischen Bereich des Arteslehrgangs abgedeckt wird, ordnet sich die beweisende Funktion der mittelalterlichen Dialektik zu, vgl. Ralf-Henning Steinmetz: Exempel und Auslegung. Studien zu den Sieben weisen Meistern. Freiburg, Schweiz 2000 (Scrinium Friburgense. 14), S. 131. Kant unterscheidet hierbei jedoch begrifflich zwischen Beispiel und Exempel: „Woran ein Exempel nehmen und zur Verständlichkeit eines Ausdrucks ein Beispiel anführen, sind ganz verschiedene Begriffe.“, Kant: Metaphysik der Sitten (Anm. 76), S. 620. Vgl. dazu auch Pethes, Ruchatz, Willer: Zur Systematik des Beispiels (Anm. 5), S. 27; von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. 26 f. Augustinus: De doctrina christiana (Anm. 18), IV.X.24 (Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung [De doctrina christiana]. Übers., Anm. und Nachw. von Karla Pollmann. Stuttgart 2002 [RUB. 18165], S. 169: ‚Was diejenige Sache gut veranschaulicht und einprägt, die er zu zeigen beabsichtigt.‘).
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gemeine eingegliedert wird, so engt dies seinen Spielraum auf das Illustrieren korrespondierender Relationen ein. Karlheinz Stierle hat dagegen in einem durchweg luziden Aufsatz das historische Exempel als narrative Entfaltung eines moralischen Lehrsatzes als Gebot oder eines juristischen Lehrsatzes als Verbot bezeichnet.⁸² Indem er die exemplarische Kurzerzählung (anhand des historischen Exempels) im moraldidaktischen und rechtlichen Kontext verortet, weist Stierle implizit auf eine präskriptive Funktion hin, die sich als Verweis vom Besonderen auf das Regelhafte ausdifferenziert und damit ein bloßes Illustrieren übersteigt. Wo das Allgemeine insofern interessiert, als es die Matrix für Regelanweisungen bildet, wird der besondere Fall der exemplarischen Kurzerzählung zum präskriptiven Reservoir an Handlungsvorstellungen. Vor dem Hintergrund eines ethisch abgesicherten Koordinatensystems offeriert das historische Exempel Orientierung an vorgegeben Rollenmustern: Es bietet in einer moralischen Dilemma-Situation historisch verbürgte Präzedenzfälle. Eine etwaige Entscheidungsfindung wird so über den Rückgriff auf konsensuale Gewissheiten gelöst, wobei diese Gewissheiten bereits im einzelnen Fall die überzeitliche Geltung einer Regel oder Handlungsmaxime bestätigen. Allein durch die narrative Aufbereitung einer Handlung in der exemplarischen Kurzerzählung wird diese sowohl als mögliche, da bereits geschehene, und als ethisch begründete (oder zu verurteilende) dargestellt.⁸³ Während sich die exemplarische Kurzerzählung in einfachen Funktionen argumentativen Strukturen entzieht, orientiert sich die präskriptive Funktion an einem induktiven Prozess: Wenn Einzelfall an Einzelfall aneinandergereiht wird, bis sich aus der Kette an exemplarischen Kurzerzählungen eine homogene Regelkonformität ergibt, so fungiert der exemplarische Fall hier dezidiert als Schlussverfahren. Aristoteles verdeutlicht dies durch einen politischen Entscheidungskontext: Ist es notwendig, gegen einen feindlichen Großkönig zu kämpfen, der im Begriff ist, Ägypten zu unterwerfen? In der Vergangenheit, so die Argumentationskette laut Aristoteles, habe der König Dareios erst Ägypten besiegt und sich dann gegen Griechenland gewandt. Ebenso habe Xerxes erst Ägypten unterworfen und dann Griechenland angegriffen. Es sei daher notwendig, den jetzigen Großkönig an einer Eroberung Ägyptens zu hindern, damit dieser nicht Griechenland attackiere.⁸⁴ Aus der Summe der historischen Erfahrung ergeben sich Regel und Handlungsanweisung. Gerade das von Stierle beschriebene historische Exempel scheint damit, da es sich auf einen geschichtlichen Wahrheitsanspruch berufen kann, präskriptive Funktionen anzunehmen. Gegenüber einer systematisch-normativen Regelausbreitung zeigt das
Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 354. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Menschliches Handeln und göttliche Kosmologie. Geschichte als Exempel. In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Vol. 11: La littérature historiographique des origines à 1500. T. 1: (Partie historique). Hrsg. von Dems., Hans Robert Jauß, Jean Frappier. Heidelberg 1987, S. 869 – 951, hier S. 890; von Moos: Das exemplum und die exempla der Prediger (Anm. 51), S. 111. Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393a 31– 1393b 3).
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historische Exempel in der Erzählung sowohl die Wirkungskraft der Regel selbst wie auch eine historisch beglaubigte Erfolgsgarantie für das regelkonforme Verhalten, das sich dem Rezipienten so als nachahmenswert anbietet. Die Präskription zielt auf Imitation und wird damit für politische Rhetorik und christliche Homiletik immens wichtig. Wo die Legende in der imitatio christi ihren präskriptiven Kulminationspunkt findet,⁸⁵ kann das historische Exempel je nach Kontext für verschieden ausgeformte Nachfolge-Modelle plädieren. Die präskriptive Funktion des historischen Exempels bietet somit die Möglichkeit eines permanenten Abgleichs eigener lebensweltlicher Handlungen mit einem Archiv an historischen Rollenvorgaben.⁸⁶ Markus Schürer hat in einer groß angelegten Untersuchung den Gebrauch von historischen Exempeln im dominikanischen und franziskanischen Kontext analysiert: Nicht nur in der vita religiosa, sondern im gesamten kommunikativen Handeln der Orden erweist sich das historische Exempel als konstitutiv für die Herausbildung einer stabilen institutionellen Ordnung.⁸⁷ Damit sich aus dem Erfahrungsraum der Erzählungen ein tendenziell infinit modellierbares Normenreservoir ableiten lassen kann, muss bereits dem einzelnen Fall ein Gültigkeitsanspruch zugesprochen werden, der in erster Linie durch den Nachweis von auctoritas erreicht wird.Wo das antik-römische System noch dem Alter und den Taten der Vorfahren (exempla maiorum) uneingeschränkt Autorität zuspricht und somit ethische Vorgaben spiegelbildlich zur eigenen Vergangenheit konstruiert,⁸⁸ kann auctoritas auch unter rhetorischer Perspektive – und damit losgelöst von einem fest umgrenzten Figurenpersonal – als Beweiskategorie fungieren, wie es Quintilian⁸⁹ oder auch die Rhetorica ad Herennium ausführen.⁹⁰
Vgl. Jolles: Einfache Formen (Anm. 2), S. 34– 38. Vgl. Engler, Müller: Einleitung (Anm. 49), S. 12; Markus Schürer: Das Exemplum oder die erzählte Institution. Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jahrhunderts. Berlin [u. a.] 2005 (Vita regularis: Abhandlungen. 23), S. 17. Vgl. ebd., S. 299 – 309; sowie Christoph Daxelmüller: Auctoritas, subjektive Wahrnehmung und erzählte Wirklichkeit. Das Exemplum als Gattung und Methode. In: Germanistik, Forschungsstand und Perspektiven. Teil 2: Ältere deutsche Literatur, neuere deutsche Literatur. Hrsg. von Georg Stötzel. Berlin 1985, S. 72– 87, hier S. 79. Vgl. Marcus Tullius Cicero: Orator. Lateinisch – Deutsch. Hrsg. und übers. von Bernhard Kytzler. 4., durchges. Aufl. München [u. a.] 1998 (Sammlung Tusculum), 34, 120: commemoratio autem antiquitatis exemplorumque prolatio summa cum delectatione et auctoritatem orationi affert et fidem. (‚Die Erwähnung der Vorzeit und das Anführen von Beispielen bewirkt höchstes Vergnügen und verleiht der Rede Gewicht und Glaubwürdigkeit‘); Franz Dornseiff: Literarische Verwendungen des Beispiels. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 4 (1927), S. 206 – 228, hier S. 219: „Das Beispiel wird Bild, Vorbild.“; vgl. dazu auch Ute Lucarelli: Exemplarische Vergangenheit. Valerius Maximus und die Konstruktion des sozialen Raumes in der frühen Kaiserzeit. Göttingen 2007 (Hypomnemata. 172), S. 27 f. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), V, 11, 36. Vgl. Martin Paul Schittko: Analogien als Argumentationstyp. Vom Paradeigma zur Similitudo. Göttingen 2003 (Hypomnemata. 144), S. 85 f.; vgl. auch Niklaus Largier: Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und früher Neuzeit. Mit einem Essay zur Figur des Diogenes zwischen Kynismus, Narrentum und postmoderner Kritik. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit. 36), S. 54.
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Ein immer wieder auftauchender Befund der Forschung zu exemplarischen Kurzerzählungen liegt in einer häufig zu Tage tretenden Polyvalenz: Die gleiche Erzählung erscheint in unterschiedlichen Kontexten oder unterschiedlichen Zeitstufen, oft mit keinen oder nur marginalen inhaltlichen Veränderungen, bekommt dabei jedoch divergierende Aussagen zugeschrieben.⁹¹ So bestimmt ein historisches Exempel, das von der Begegnung Alexanders des Großen mit einem Seeräuber erzählt, je nach Kontext Alexander als ein Beispiel für patientia, für mangelnde iustitia oder aber auch konträr für den gerechten Herrscher.⁹² Im Bereich der Fabel kann der Hahn, der einen Edelstein findet, diesen aber (weil er ihn nicht verspeisen kann) als nutzlos abtut, sowohl in einen höfischen Kontext gestellt werden, da er beweist, dass Hohes und Niedriges nicht zusammengehören, er kann im geistlichen Kontext als Exempel des Faulen fungieren, der Weisheit verschmäht, oder in Ulrich Boners Edelstein gar reflexiv auf die Rezipienten der Fabelsammlung bezogen werden.⁹³ Die exemplarische Kurzerzählung wird zu einem Generator von Sinnzuschreibungen und verweigert sich damit illustrativen und präskriptiven Funktionen, die auf Eindeutigkeit zielen: die Illustration, indem sie den besonderen Fall als homolog zum Allgemeinen setzt, und die Präskription, indem sie eine Regel in funktionaler Perspektive über die Autorität des Einzelfalls herleitet. Die plurale Sinnsteigerung lässt sich hingegen als Vorstufe einer reflexiven Verwendung verstehen, in der vom Einzelfall auf den Einzelfall, vom
Bloomer betont, dass sich diese Technik schon bei Cicero findet, der die Gracchi in seinen historischen Exempeln je nach Kontext mal als positive Vorbilder, mal in negativer Abschreckung inszeniert. Bloomer: Valerius Maximus & the Rhetoric of the New Nobility (Anm. 30), S. 6. Aurelius Augustinus: De civitate dei. Libri I – X. Hrsg. von A. Kalb und B. Dombart. Turnhout 1955 (Corpus Christianorum. 47), IV, 4; Ioannis Sareberiensis Policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII. Hrsg. von Clemens Webb. London 1909, III, 14; Gesta Romanorum. Hrsg. von Hermann Oesterley. Reprograf. Nachdr. der Ausg. Berlin 1872. Hildesheim 1963, Nr. 146. Zu dem Exempel vgl. auch Udo Friedrich: Juristisches Argumentieren und Erzählen in den Gesta Romanorum. In: Rechtsnovellen. Rhetorik, narrative Strukturen und kulturelle Semantiken des Rechts in Kurzerzählungen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Pia Claudia Döring, Caroline Emmelius. Berlin [u. a.] 2017 (Philologische Studien und Quellen. 263), S. 27– 50, hier S. 32– 34. Vgl. auch ausführlicher zu verschiedenen Versionen des Exempels Michael Schwarzbach-Dobson: Argumentation – Narration – Epimythion. Zum rhetorischen Potential exemplarischer Kurzerzählungen des Mittelalters. In: narratio und moralisatio. Hrsg. von Björn Reich, Christoph Schanze. Oldenburg 2018 (Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung. Themenheft 1), S. 69 – 99, hier S. 80 – 88. Marie de France: Äsop. Eingel., komm. und übers. von Hans Ulrich Gumbrecht. München 1973 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben. 12), Nr. 1; Die Kleindichtung des Strickers. Gesamtausgabe in fünf Bänden. Hrsg. von Wolfgang Wilfried Moelleken. Göppingen 1973 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 107), Nr. 65; Ulrich Boner: Der Edelstein. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Leipzig 1844 (Dichtungen des deutschen Mittelalters. 4), Nr. 1. Vgl. zu der Fabel von ‚Hahn und Edelstein‘ auch Klaus Speckenbach: Die Fabel von der Fabel. Zur Überlieferungsgeschichte der Fabel von Hahn und Perle. In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 178 – 229. Hans Jürgen Scheuer hat die Fabel kürzlich in einen generellen Kontext von Verstehen und Nicht-Verstehen gestellt: Hans Jürgen Scheuer: Keep on Turning! Ein altes Exempel zum besseren Verständnis des Nicht-Verstehens. In: LiLi 172 (2013), H. 4, S. 189 – 192.
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Besonderen auf das Besondere verwiesen wird und die somit das Allgemeine nur noch implizit anzitiert, anstatt es als normative Vorgabe auszuspielen. Der einzelne Fall entzieht sich hier der Allgemeingültigkeit einer verbindlichen Norm – Alois Hahn bezeichnet diesen Vorgang, in dem ein Einzelfall nur mehr situativ, aber nicht generell unter eine Regel zu subsumieren ist, als ‚Wichtigkeitswissen‘, d. h. eine Form des Common Sense, welche die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit als kreative Herausforderung begreift.⁹⁴ Das Allgemeine wird hierbei nicht vorgegeben, sondern ist aktiv vom Rezipienten zu modellieren. Da die exemplarische Kurzerzählung es ihrem Rezipienten überlässt, je nach Kontext und Rezeptionsbedingung unterschiedliche Versionen des Allgemeinen zu konstruieren oder auch zu hinterfragen, kann hier von einer Funktion der Reflexion gesprochen werden. Was gemeinhin als Kennzeichen moderner Poetologie gewertet wird, hat tatsächlich seinen Ursprung in der rhetorischen Tradition der Gerichtsrede. So führt die griechische, pseudo-aristotelische Rhetorica ad Alexandrum (wahrscheinlich von Anaximenes von Lampsakos verfasst) aus: „There are two sorts of examples: some events occur according to and others against reasonable expectation.“⁹⁵ Was sich gegen die Erwartung richtet, ist jedoch geeignet, „eine allgemein herrschende Meinung ins Wanken zu bringen: also für Regel und Ausnahme“⁹⁶ zu argumentieren. Indem der einzelne Fall nur noch auf einen weiteren Fall verweist (Teil-Teil anstatt Teil-Ganzes), erarbeitet sich die exemplarische Kurzerzählung einen rhetorischen Status, der den Einzelfall zum Paradigma avancieren lässt.⁹⁷ Giorgio Agamben, der – nicht unumstritten⁹⁸ – die aristotelische Idee des Paradigmas aufgreift, versteht diese Form des Exemplarischen als Vorgabe für weitere Fälle: „Es ist vielmehr die Präsen-
Vgl. Hahn: Soziologie der Weisheit (Anm. 62), S. 49 f. [Rhetorica ad Alexandrum] Aristoteles: Problems. Volume II: Books 20 – 38. Rhetoric to Alexander. Edited and Translated by Robert Mayhew, David C. Mirhady. Cambridge, Mass. 2011 (Loeb Classical Library. 317), 8.2. Dornseiff: Literarische Verwendungen des Beispiels (Anm. 88), S. 216. Auch Aristoteles definiert so die Beziehung vom Einzelnen zum Einzelnen: Aristoteles: Analytica priora (Anm. 43), II, 24 (69a 14– 17): „Es ist demnach klar, dass ein Beispiel [parádeigma, M.S-D.] sich weder wie ein Teil zu einem Ganzen verhält, noch wie ein Ganzes zu einem Teil, sondern wie ein Teil zu einem Teil, wenn beides sich unter demselben befindet und eines von beiden bekannt ist.“; vgl. auch Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), I, 2 (1357b 26 – 36). Vgl. etwa Norris, der Agamben aus Sicht der politischen Theorie eine Gleichsetzung von Philosophie und Politik vorwirft, und DeCaroli, der Agambens Theorie des Exemplarischen mit einer historischen Perspektive ergänzt: Andrew Norris: Die exemplarische Ausnahme. Philosophische und politische Entscheidungen in Giorgio Agambens ‚Homo sacer‘. In: Urteilen / Entscheiden. Hrsg. von Cornelia Vismann, Thomas Weitin. München 2006 (Literatur und Recht), S. 254– 268; Steven D. DeCaroli:Visibility and History. Giorgio Agamben and the Exemplary. In: Philosophy Today 45 (2001), H. 5, S. 9 – 17. Agambens Versuche, rhetorische Operationalität nicht nur nachzuzeichnen, sondern auch zu dekonstruieren, sollen hier nicht näher besprochen werden, vgl. dazu Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002 (es. 2068); sowie Stefan Willer: Was ist ein Beispiel? Versuch über das Exemplarische. In: Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Hrsg. von Gisela Fehrmann [u. a.]. Köln 2004 (Mediologie. 11), S. 51– 65, hier S. 53 f.
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tation des paradigmatischen Falls allein, die eine Regel konstituiert, die als solche weder angewendet noch angegeben werden kann.“⁹⁹ Wo Wissen nicht systematisierbar ist, d. h. keine Regel formuliert werden kann, erschöpft sich die Funktion der exemplarischen Kurzerzählung nicht mehr in der Illustration oder Präskription. Während bei einer präskriptiven Verwendung eine vorgegebene Regel über das Anführen diverser Exempel bestätigt wird, kommt die reflexive Funktion der exemplarischen Kurzerzählung dann zum Tragen, wenn die Regel nicht vorab deskriptiv erschlossen wird oder werden kann, sondern aus einem einzelnen Beispielfall ableitbar ist. Während die exemplarische Kurzerzählung über die illustrative Funktion das Besondere in das Allgemeine integriert und über die präskriptive das Allgemeine (Regelhafte) induktiv erschließt, entfernt sich die reflexive Funktion von dieser binären Opposition: Die Erzählung steht sowohl für den einzelnen Fall, den sie erzählt, als auch für das nicht-vorgegebene, aber aus dem Fall erkennbare Allgemeine – und wird so mehrdeutig. Damit streift die exemplarische Kurzerzählung Diskurse, die über dichotomische ‚wahr/falsch-Relationen‘ nicht abgedeckt werden können. Für Agamben ist ebendies die Grundfunktion des Paradigmas; dieses „gewinnt sein Statut hier vor allem durch die Desidentifikation und die Neutralisation der beiden ersten Positionen [d. h. einer binären Logik: wahr/falsch, M.S-D.] die damit zugleich voneinander ununterscheidbar werden.“¹⁰⁰ Was von der Literaturwissenschaft bevorzugt als historischer Einschnitt auf dem Weg vom Exempel zur Novelle definiert wird,¹⁰¹ bestätigt sich schon bei der antiken und mittelalterlichen Kurzerzählung: Robert Honstetter hat bereits 1977 die reflexivkasuistischen Inhalte der historischen Exempel des Valerius Maximus aufgezeigt, von Moos weist ähnliche Strukturen im Policraticus des Johannes von Salisbury nach.¹⁰² Idealtypisch lässt sich die reflexive Funktion der exemplarischen Kurzerzählung selten identifizieren – sie bildet sicherlich nicht das Zentrum mittelalterlichen Gebrauchs an Kurzerzählungen, sondern steht an dessen Peripherie. Und doch finden sich immer wieder Beispiele für Erzählungen, deren Funktion sich nicht im Illustrieren einer Regel erschöpft, sondern die ihre Rezipienten mit einer eigenständig zu erarbeitenden Übertragung konfrontieren oder selbst auf mehrere Auslegungsmöglichkeiten verweisen. Tatsächlich scheint die exemplarische Kurzerzählung – reflexiv verwendet – sich teils dezidiert gegen tradierte Konsense von Ähnlichkeit zu richten, teils mithilfe analogischer Relationen neue Verweismöglichkeiten zu erschließen.
Agamben: Was ist ein Paradigma? (Anm. 43), S. 26. Ebd., S. 24. Vgl. Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle (Anm. 36). Schon Jolles versucht, Vorläufer der „Kunstform“ Novelle zu identifizieren, findet diese allerdings nicht im Exempel, sondern im Kasus: Jolles: Einfache Formen (Anm. 2), S. 182. Vgl. die kritische Revision der Debatte bei Emmelius: Kasus und Novelle (Anm. 35). Vgl. von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10); Robert Honstetter: Exemplum zwischen Rhetorik und Literatur. Zur gattungsgeschichtlichen Sonderstellung von Valerius Maximus und Augustinus. Konstanz 1977.
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II.1.3 Exemplarisches Erzählen als narratives Argumentieren: Ähnlichkeit und Analogie Die enge Bindung an den Kontext rückt die exemplarische Kurzerzählung auch formal in die Nähe rhetorisch geprägter Schlussfiguren, insofern man die Übertragungsleistung, in der von einem narrativ präsentierten besonderen Fall auf einen weiteren Fall oder eine Regel verwiesen wird, als ausgeformte Analogie- bzw. Ähnlichkeitsrelation versteht.¹⁰³ Analogie- und Ähnlichkeitsrelationen lassen sich nicht – wie etwa Kategorien von Induktion und Deduktion – logisch auflösen, sondern verbinden das Besondere und Allgemeine nur durch einen scheinbaren, d. h. einen wahrscheinlichen Schluss: „Mittheilung durch Analogieen halt ich für so nützlich als angenehm; der Analoge Fall will sich nicht aufdringen, nichts beweisen, er stellt sich einem andern entgegen, ohne sich mit ihm zu verbinden.“¹⁰⁴ Wenn Goethe hier die Analogie vom logischen Beweis abrückt, verweist er durch das implizite Horaz-Zitat¹⁰⁵ gleichzeitig auf einen rhetorisch-poetischen Funktionsbereich analoger „Mittheilung“. Um eine ‚Epistemologie des Exemplarischen‘ argumentationstheoretisch zu grundieren, braucht es diesen genauen Blick auf Formen der Übertragung, gibt doch Aristoteles zwar das parádeigma als Argumentationsmittel an:¹⁰⁶ „Von den gemeinsamen Überzeugungsmitteln gibt es zwei Gattungen: Beispiel [parádeigma, M.S-D.] und Enthymem“¹⁰⁷, doch offeriert er für diese Prämisse des Exemplarischen ebensowenig eine Begründung wie seine Nachfolger. Im Folgenden sollen daher die schon oben angeführten Möglichkeiten exemplarischer Übertragung – Analogie und Ähnlichkeit – in einen breiter gefassten Untersuchungshorizont gelegt werden, der die Funktionen der exemplarischen Kurzerzählung auf basale rhetorische Überzeugungstechniken zurückführt. Dass sich die Welt und das Wissen über sie in Ordnungsstrukturen kategorial erschließen lassen, entspricht eher dem Selbstverständnis der Vor-, denn der Post-
Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 356. Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 13: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen. Hrsg. von Harald Fricke. Frankfurt am Main 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker. 102), S. 77. Das breit rezipierte Diktum stammt aus Horaz: De arte poetica, V. 333 f.: aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae (‚Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und nützlich fürs Leben ist, sagen.‘). Text und Übersetzung hier und im Folgenden zit. nach: Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch – Deutsch. Mit einem Nachwort hrsg. von Bernhard Kytzler. Verb. und aktualisierte Neuausg. Stuttgart 2006 (RUB. 18466). Vgl. dazu auch Schittko: Analogien als Argumentationstyp (Anm. 90), S. 17, sowie S. 25 – 32; von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. 49 f. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393a 24– 25). Laut Aristoteles kann man auch „die Beispiele wie Beweise gebrauchen, wenn man keine Enthymeme zur Verfügung hat“, Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1394a 9 – 10). Vgl. dazu auch Schittko: Analogien als Argumentationstyp (Anm. 90), S. 25 – 32.
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moderne.¹⁰⁸ Wenn im geordneten Wissen die Welt einheitlich abgebildet, d. h. repräsentiert werden kann, so stellt sich die Frage nach denjenigen epistemischen Relationen, die Wissen und Welt konstituieren: Theorien von Mikro- und Makrokosmos schließen vom Kleinen auf das Große, die Allegorese sucht nach Strukturen der Ähnlichkeit zwischen Naturgegenstand und biblischer historia,¹⁰⁹ der Neuplatonismus übernimmt aus der Antike die Idee der Analogie als kosmologischem Strukturprinzip. Wie bereits Michel Foucault postuliert, ist die vormoderne Ordnung des Wissens in Ähnlichkeits- und Analogierelationen differenzierbar¹¹⁰ und kann damit exemplarisch erschlossen werden, d. h. aus dem Nachziehen bzw. Herausstellen dieser epistemischen Relationen leiten sich Argumentationsformen ab. Auf die Frage, wie man die – durchaus problematischen – Begriffe Ähnlichkeit und Analogie gegeneinander abgrenzen bzw. als divergierende Strukturen von Differenz und Verwandtschaft konzeptualisieren kann, hat die Theoriegeschichte von Aristoteles bis in die Moderne im Wesentlichen eine Antwort gefunden: „Analogie ist vermutlich eine metaphorische Ähnlichkeit, d. h. eine Ähnlichkeit von Relationen, während im eigentlichen Sinne (unmetaphorisch) ähnlich nur Substanzen sein können“¹¹¹, so Walter Benjamin. Während dem Gedanken, analogische Relationen (und das meint auch: über Analogie aufgebaute Erzählungen) als Metaphern zu lesen, ein eigenes Kapitel gewidmet ist (vgl. Kapitel II.2), können Benjamins komprimierte Überlegungen bereits an dieser Stelle weiter im rhetorischen Kontext verfolgt werden. Der vorgestellte Konsens zeigt die Analogie als eine spezielle Form von Ähnlichkeit, die un-ähnliche Dinge (Substanzen) in Verbindung stellt, indem sie über eine geo-
Jean-Francois Lyotard sieht das Welt- und Wissensverständnis der Postmoderne als geprägt von divergierenden Sprachspielen, deren Konkurrenz um Deutungshoheit einheitliche Ideen von der Welt (métarécits bzw. grand narratives) konterkariert: Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Aus dem Franz. von Otto Pfersmann. Hrsg. von Peter Engelmann. 6., überarb. Aufl. Wien 2009 (Edition Passagen. 7), v. a. S. 145 – 157. Vgl. bspw. Wolfgang Harms: Der Eisvogel und die halkyonischen Tage. Zum Verhältnis von naturkundlicher Beschreibung und allegorischer Naturdeutung. In: Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Bd. 1. Hrsg. von Hans Fromm, Wolfgang Harms, Uwe Ruberg. München 1975, S. 477– 515. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. 14. Aufl. Frankfurt am Main 1997 (stw. 96), S. 46 – 66; zu Foucaults Verwendung von Analogie und Ähnlichkeit vgl. Andre Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhundert. Tübingen 2006 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung. 29), S. 8 – 14; zum Ordnungsgedanken der Scholastik vgl. Hermann Krings: Ordo. Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Idee. 2. Aufl. Hamburg 1982, S. 27– 34. Walter Benjamin: Analogie und Verwandtschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6: Fragmente, Autobiographische Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991 (stw. 936), S. 43 – 45, hier S. 43; zu Benjamin vgl. Johannes Endres: Unähnliche Ähnlichkeit. Zu Analogie, Metapher und Verwandtschaft. In: Similitudo. Konzepte der Ähnlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Martin Gaier, Jeanette Kohl, Alberto Saviello. München 2012, S. 29 – 58, hier S. 29 f.; vgl. dazu auch die folgenden Ausführungen sowie den konzisen Überblick bei Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit (Anm. 110), S. 19 – 39 (hier auch Verweise auf ältere Forschung).
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metrisch-mathematische Denkstruktur Ähnlichkeit in den Beziehungen der Dinge untereinander nachweist.¹¹² Diese Unterscheidung hatte und hat Konjunktur, auch wenn sie nicht zwangsläufig mit den gleichen Begrifflichkeiten operiert. Thomas von Aquin führt etwa die Bezeichnung analogia attributionis für eine Ähnlichkeit zwischen Substanzen ein und grenzt sie von der analogia proportionalitatis ab, die aufgrund des Beweises von ähnlichen Relationen auch als Instrument der Gotteserkenntnis fungiert.¹¹³ Was schon Aristotelesʼ biologische Schriften präfigurieren,¹¹⁴ formt Darwin später zu einer umfangreichen Theorie der Arten von Lebewesen aus, deren Ordnungscluster (Art/ Gattung) sich aus einem Verwandtschaftsnachweis durch Ähnlichkeit ergibt, gleichzeitig jedoch von der Analogie, einer Merkmalsgleichheit aufgrund ähnlicher Anpassungsbedingungen, abgrenzt.¹¹⁵ Aus einer kulturtheoretischen Perspektive aber, wie sie Gilles Deleuze und Félix Guattari einnehmen, erweisen sich theologische wie naturdeutende Klassifikationen als Beispiele eines in sich zweigeteilten, gleichwohl erst in der Kombination gültigen mimesis-Modells. Das dichotomisch ausgelegte Muster der verkettenden Serie (Ähnlichkeit) und der übertragenden Struktur (Analogie) markiert hier zwar die Unterscheidung von graduell abgestuften Gleichheitsver-
Quintilian definiert die Analogie wie folgt (Quintilian: Institutio oratoria [Anm. 13], I, 6, 3 f.): omnia tamen haec exigunt acre iudicium, analogia praecipue, quam proxime ex Graeco transferentes in Latinum proportionem vocaverunt. eius haec vis est, ut id, quod dubium est, ad aliqiuid simile, de quo non quaeritur, referat et incerta certis probet. (‚Dennoch verlangt dies alles scharfes Urteilsvermögen, zumal die Analogie, die man in genauer Übertragung aus dem griechischen proportio genannt hat. Ihre Bedeutung ist die, etwas Zweifelhaftes auf etwas Ähnliches zu beziehen, an dem kein Zweifel besteht, und Ungewisses durch Gewisses zu beweisen.‘). Siehe dazu auch die Ausführungen unten. Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica, I, q. 13, 5: Dicendum ergo quod hujusmodi nomina dicuntur de Deo et creaturis secundum analogiam, idest proportionem (‚Demnach werden diese Namen von Gott und den Geschöpfen im Sinne einer Analogie, d. h. einer Verhältnisgleichheit ausgesagt.‘). Text und Übersetzung zit. nach: Thomas von Aquin: Die deutsche Thomas-Ausgabe. Bd. 1: Gottes Dasein und Wesen: I, 1– 13. Übersetzt von Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Hrsg. vom Kath. Akademikerverband. Fotomechan. Nachdr. der 3. verb. Aufl. 1934. Graz [u. a.] 1982; vgl. dazu auch Endres: Unähnliche Ähnlichkeit (Anm. 111), S. 41 f.; sowie Rudi Te Velde: Die Gottesnamen. Thomasʼ Analyse des Sprechens über Gott unter besonderer Berücksichtigung der Analogie (S.th. I, q. 13). In: Thomas von Aquin: die Summa theologiae. Werkinterpretationen. Hrsg. von Andreas Speer. Berlin [u. a.] 2005 (De-Gruyter-Studienbuch), S. 51– 76, hier S. 56 – 60 und S. 66 – 73. Vgl. Christof Rapp: Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie bei Aristoteles. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 46 (1992), H. 4, S. 526 – 544, hier S. 531 f. Darwin grenzt Ähnlichkeit von Analogie somit insofern ab, als analoge Merkmale bei Tieren vorkommen, die nicht verwandt sind, aber ähnlichen Lebensbedingungen unterliegen: „Nach den oben entwickelten Ansichten wird es begreiflich, wie wesentlich es ist, zwischen wirklicher Verwandtschaft und analoger oder Anpassungsähnlichkeit zu unterscheiden […] So stellen Körperform und Ruderfüsse der Wale nur eine Analogie zu denen der Fische dar, indem solche in beiden Classen nur eine Anpassung des Thieres zum Schwimmen im Wasser bezwecken.“ Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, oder, die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein. Nach der letzten engl. Ausg. wiederholt durchges. von J. Victor Carus. Köln 2002, S. 494 f. Zu Darwin vgl. auch Endres: Unähnliche Ähnlichkeit (Anm. 111), S. 43.
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hältnissen und Differenz markierenden Übertragungen, beide sind jedoch notwendig, um eine Wissensformation aus Identität und Differenz zu komplettieren.¹¹⁶ Man hat im Anschluss daran immer wieder versucht, in den verschiedenen Epochen der Kulturgeschichte je eine spezifische Präferenz für die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten von Ähnlichkeit und Analogie zu lesen. Zahlreiche Auseinandersetzungen mit dem mittelalterlichen Konzept der similitudo (als eines Vergleiches anhand von direkten Ähnlichkeiten) haben für das christliche Mittelalter eine Bevorzugung substantieller Ähnlichkeit statuiert – nicht zuletzt Fritz Peter Knapp hat in einer monumentalen Studie die Bandbreite der mittelalterlichen Diskussion um similitudo als Instrument des Vergleichs detailliert nachgezogen.¹¹⁷ Die Moderne hingegen, so wurde dem gegenübergestellt, entdecke (bzw. reaktiviere) im Kontext der epistemologischen Umbrüche des 18. und 19. Jahrhunderts den analogischen Vergleich.¹¹⁸ Theoriehistorisch ist es vor allem die strukturalistische Bewegung, die auf Differenzen in Wissens- und Weltordnung hinweist und die Verheißung einer über Ähnlichkeit evozierten seriellen Wissensorganisation hinterfragt, wie es Claude LéviStrauss in ‚Das Ende des Totemismus‘ beispielhaft vorführt.¹¹⁹ Anstatt diesen (teils simplifizierenden bzw. hier verkürzt wiedergegebenen) Thesen zu folgen, sollen hier Ähnlichkeit und Analogie als kulturell unabhängige, komplementär zu denkende Modi der Übertragung verstanden werden.Wie es Deleuze und Guattari vielleicht am eindrücklichsten im Hinblick auf naturwissenschaftliche Klassifikationsbemühungen gezeigt haben,¹²⁰ bedingen Ähnlichkeit und Analogie sich gegenseitig: Identität ist nicht ohne Differenz zu denken. So scheinen auch exemplarische Kurzerzählungen auf sowohl Ähnlichkeits- wie Analogierelationen zurückgreifen zu können – je nachdem was der Kontext situativ erfordert. Dies gilt ebenso in gattungstheoretischer Perspektive. Zwar tendieren Fabel und Gleichnis eher dazu, Analogiesituationen zu entwerfen (‚So wie sich der Wolf
Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin 1997, S. 319 – 321. Vgl. Fritz Peter Knapp: Similitudo. Stil- und Erzählfunktion von Vergleich und Exempel in der lateinischen, französischen und deutschen Großepik des Hochmittelalters. Bd. 1: Einleitung, Vorstudien. Wien, Stuttgart 1975 (Philologica Germanica. 2). So etwa im Kontext der aufkommenden Empirie im 18. und 19. Jahrhundert, vgl. Michael Eggers: Vom Wissen zur Wissenschaft. Vergleich, Analogie und Klassifikation als wissenschaftliche Ordnungsmethoden im 18. und 19. Jahrhundert – zur Einleitung. In: Von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Vergleich, Analogie und Klassifikation in Wissenschaft und Literatur (18. / 19. Jahrhundert). Hrsg. von Dems. Heidelberg 2011, S. 7– 30; Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit (Anm. 110). Lévi-Strauss beschäftigt sich mit totemistischen Vorstellungen, die seiner Meinung nach gerade nicht über Ähnlichkeiten funktionieren, sondern über Differenzen, d. h. Unterschieden, die aber über Analogieziehungen miteinander verbunden werden, vgl. Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus. 6. Aufl. Frankfurt am Main 1987 (es. 128), S. 101 f.; vgl. dazu auch: Déleuze, Guatarri: Tausend Plateaus (Anm. 116), S. 322 f. Vgl. ebd., S. 319 – 321.
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zum Lamm verhält, steht der Räuber zum Unschuldigen‘),¹²¹ während das historische Exempel Ähnlichkeitsverhältnisse propagiert (‚Da ein früherer Großkönig sich so verhalten hat, wird sich der jetzige ihm ähnlich verhalten‘, s.o. für dieses aristotelische Beispiel). Indem das historische Exempel Ähnlichkeitsrelationen zwischen Entscheidungssituation und einer historischen Situation nachweist (Stierle spricht hier von Isomorphie),¹²² plädiert es in der narrativ aufbereiteten historia bereits für eine Entscheidung in der Gegenwart. Doch letztlich bleibt jeder Erzählung jede Argumentationsform offen, mehr noch: Die Überlieferungsgeschichte macht deutlich, dass sich eine einzelne Erzählung im rhetorischen Baukasten von Ähnlichkeits- und Analogierelationen unbegrenzt bedienen kann, wie das folgende Beispiel zeigt. Es kann hier auf die Fabel von ‚Ochse, Ziegenbock und Löwe‘ verwiesen werden.¹²³ Die an sich simple Fabel ist schnell erzählt: Auf der Flucht vor einem Löwen sucht ein Ochse Schutz in einer Höhle. In dieser jedoch befindet sich bereits ein Ziegenbock, der den Ochsen mit zum Angriff gesenkten Hörnern bedroht. Da der Ochse befürchtet, dass ein Kampf nur den Löwen anlocken würde, flieht er vor dem eigentlich unterlegenen Bock, nicht ohne ihn im Fortlaufen noch zu schmähen und auf das natürliche Kräfteverhältnis hinzuweisen. Soweit das narrative Grundgerüst der Fabel, das von der griechisch-lateinischen Antike bis ins volkssprachige Spätmittelalter weitgehend stabil bleibt. Spätantike Sammlungen wie die des Babrius oder Avian fügen der Fabel kein Epimythion bei.¹²⁴ Das Mittelalter kennt verschiedene Techniken, die antike Leerstelle
So auch häufig in der Theoriegeschichte der Fabel betont, etwa bei Herder: „und könnte der Ursprung aller menschlichen Dichtung, jener wirksame Trieb in uns, Analogien zu schaffen, mit innerm Vergnügen sie anzuerkennen und jedesmal dadurch seine Begriffe zu erweitern, zu üben, zu stärken, in einer allgemeinen Quelle gesucht werden? Auch der äsopischen Fabel ist also Analogie die Mutter; nicht Abstraktion, nicht eine leere Reduktion vom Allgemeinen aufs Besondre.“, Johann Gottfried Herder: Werke. Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum. 1774– 1787. Hrsg. von Jürgen Brummack. Frankfurt am Main 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker. 105), S. 673 (Kursivierung im Original); vgl. dazu auch Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit (Anm. 110), S. 4 f. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 357: „Sofern gegebene Situation und Exemplum durch Isomorphie verbunden sind, läßt sich der Ausgang des Exemplums begreifen als Vorgriff auf den Ausgang der eigenen Situation.“; vgl. Steinmetz: Exempel und Auslegung (Anm. 79), S. 134. Vgl. zur Überlieferung Gerd Dicke, Klaus Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften. 60), S. 526 – 528 (Nr. 443). Vgl. für eine ausführliche Analyse der Fabel auch Schwarzbach-Dobson: Argumentation – Narration – Epimythion (Anm. 92), S. 76 – 80. Vielmehr scheint es hier – wie übrigens häufig bei Avian – darum zu gehen, eine Situation zu inszenieren, die gegen die natürlichen Wahrscheinlichkeiten anerzählt. Dass ein Ochse einer Ziege überlegen ist, kann als Konsens akzeptiert werden, rhetorisch interessant ist aber die Ausnahmesituation, d. h. die Frage, unter welchen Bedingungen der starke Ochse vor einer Ziege flieht. Babrius: Fabeln, Nr. 91. Hier zit. nach: Antike Fabeln. Griechische Anfänge, Äsop, Fabeln in römischer Literatur, Phaedrus, Babrios, Romulus, Avian, Ignatios Diakonos. Aus dem Griech. und Lat. übers. von Johannes Irmscher. Berlin [u. a.] 1978; Avianus: Fabulae. Hrsg. von Antonius Guaglianone. Aug. Taurinorum
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zu füllen. So formuliert der Novus Avianus aus dem 12. Jahrhundert eine Kritik am Ziegenbock, der die ordo rei, die Ordnung der Sache, durch seine unterlassene Hilfe an dem ihm überlegenen Tier verletzt, mithin dessen Not ausnutzt.¹²⁵ In eine ähnliche Richtung argumentiert der Fabelkommentar Accessus Aviani, der eine symbolische Politik gegenseitiger Hilfestellung imaginiert: Den Unterdrückten solle man nicht schaden, sondern sie unterstützen, damit diese wiederum helfen können, falls man es selbst bedarf.¹²⁶ Gegenüber den auf eine Gabenpolitik der gegenseitigen Hilfe zielenden und sich auf den Ziegenbock konzentrierenden Epimythien steht aber auch eine Perspektive, die auf das Rachekalkül des Ochsen abhebt: Wenn man beleidigt werde, solle man mit seiner Rache warten, bis man diese ohne weiteren Schaden vollziehen könne, man solle also ein kleineres Übel einem größeren vorziehen. Anstatt den Ziegenbock als Negativfolie zu nehmen, hebt diese Form der moralisatio, die sich etwa im Nürnberger Prosa-Äsop ¹²⁷ oder in Steinhöwels Fabelsammlung¹²⁸ findet, die Vorbildunktion des Ochsen heraus. Dieser avanciert so zum klugen Tier, das zwischen verschiedenen Schäden abwägen und den je situationsgerechten auswählen kann: Welcher von iemand schmach oder schaden enpfangen hat, der sol sich nit rechen zuo den zyten, so er größers schadens muoste besorgen, sonder sol er warten der zyt, dar inne er sich one wider leczen mage rechen, schreibt Steinhöwel.¹²⁹ Unabhängig von ihrer jeweiligen Betonung (lobenswertes Vorbild vs. nicht nachahmenswertes Feindbild) nutzen beide Varianten Argumentationsstrategien der imitatio: Diesem Tier solle man folgen, jenem aber nicht. Ihre Überzeugungskraft bezieht die imitatio aus einem Annäherungs- bzw. Entfernungsprozess, der über (Un‐)
[u. a.] 1958, Nr. 13. In etlichen Avian-Handschriften des Mittelalters wird der Fabel allerdings ein Epimythion angefügt, vgl. die Hinweise bei ebd., S. 26. Novus Avianus, Nr. 13: Hic Caper ostendit, non recto tramite tendit, / Qui non parcit ei quem probat ordo rei. (‚Hier zeigt der Bock an, dass sich der nicht auf den rechten Pfad begibt, der den nicht schont, den die Ordnung der Sache billigt.‘, Übersetzung M.S-D.). Hier und im Folgenden zit. nach: Léopold Hervieux: Les fabulistes latins. Depuis le siècle d’Auguste jusqu’à la fin du moyen âge. Band 3: Avianus et ses anciens imitateurs. Hildesheim [u. a.] 1970 [Reprograf. Nachdr. d. Ausg. Paris 1894], S. 430 – 451, die zitierte Fabel auf S. 435 f. Accessus Aviani, Nr. 13: Hic, ne obpressis aliquo casu noceamus, sed iuvemus ut et ipsi nobis rependant si indigemus. Hier und im Folgenden zit. nach: Robert B.C. Huygens: Accessus ad auctores, Bernard DʼUtrecht, Conrad DʼHirsau: Dialogus super auctores. Ed. critique, entierement revue et augmentée. Leiden 1970, S. 22– 25, hier S. 23. Nürnberger Prosa-Äsop. Hrsg. von Klaus Grubmüller. Tübingen 1994 (ATB. 107), Nr. 13, 3 – 7: Hie vnderweist vnns der maister daz sich chain mensch also rech dauon im selben schaden oder verderben chömen mag. Er schol im ee vertragen, wand wer sich richt dauon er selb zu uerderbleichen schäden chümpt, der ist nicht weis. Heinrich Steinhöwel: Äsop. Hrsg. von Hermann Oesterley. Tübingen 1873 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. 117), Aviani fabule, Nr. 10. Sowohl die Fabelsammlung Steinhöwels als auch der Nürnberger Prosa-Äsop fallen aus dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Zeitraum hinaus, sie dienen hier lediglich der Kenntlichmachung von Argumentationsstrategien. Steinhöwel: Esopus (Anm. 128), Aviani fabule, Nr. 10.
II.1 Exemplarisches Erzählen
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Ähnlichkeit wirkt: Man solle sein Verhalten möglichst ähnlich zum Ochsen und möglichst unähnlich zum Ziegenbock ausrichten. Die so gezogenen Lehren bleiben daher eng an die Axiologie der Figuren gebunden. Freier und damit flexibler in der Argumentation werden die Epimythien jedoch, wenn sie auf Analogierelationen basieren. So ist es Ulrich Boner in seiner Fabelsammlung Edelstein möglich, die Erzählung in einem langen Epimythion qua Analogie in einen politischen Bogen einzuspannen: den meiger und den amptman, / den voget und den schachtelân, / die muoz man dik entsitzen, / nicht von ir selbers witzen, / wan von ir hêrren gewalt. / daz merken vil wol jung und alt! / der ochse nicht den bok entsaz / dur sîne kraft; mê vorcht er daz, / daz im der löw nâch rande, / des kraft er wol erkande. ¹³⁰
Boner betont explizit kein nachahmens- oder verabscheuenswertes Verhalten, sondern Relationen: So wie der Ochse den Ziegenbock ertragen muss, da der Löwe im Hintergrund droht, muss man Vögte fürchten, wenn der Landesherr hinter ihnen steht. Zwischen Vogt und Ziegenbock besteht keine direkte Ähnlichkeit, es wird auch keine praktische Regel aus der Fabel extrahiert. Die Analogierelation, d. h. der Fokus auf Ähnlichkeiten in den Verhältnissen, ist stattdessen in der Lage, die Erzählung mit einem neuen, durch sie selbst nicht vorgegebenen Stratum zu unterlegen. Ähnlichkeit und Analogie sind somit nicht nur die Matrix für zeitgenössische Wissens- und Erkenntnisinteressen, sondern bilden auch diejenigen Operatoren, über die exemplarische Kurzerzählungen ihre narrative Argumentation organisieren. Schon der einfache Fall der Fabel von ‚Ochse, Ziegenbock und Löwe‘ zeigt Differenzen zwischen Ähnlichkeit und Analogie auf: Die direkte Orientierung an Ähnlichkeitskriterien lässt nur zwei Deutungen zu – entweder es existiert eine Ähnlichkeit oder nicht. Auch wenn es natürlich Schattierungen zwischen beiden Polen gibt (zwei Fälle ähneln sich wenig/in Teilen/stark usw.), so beinhaltet die Serie an Ähnlichkeiten¹³¹ doch keine Differenzierungsmöglichkeiten. Der qua Analogie gezogene Schluss bietet jedoch genau dies: Zwei Fälle sind sich sowohl un-ähnlich (in der Substanz) wie auch ähnlich (im Verhältnis beider Fälle zueinander).¹³² Der Analogieschluss bestätigt damit Differenz, nähert über die Vergleichbarkeit der Verhältnisse aber auch zwei sich unähnliche Dinge einander an. Indem Un-Ähnliches (Differenz) und Ähnliches (Identität) kombiniert werden, schafft die Analogieziehung Raum für Mehrdeutigkeiten. Giorgio Agamben, der den Begriff des ‚Paradigmas‘ auch als Resultat einer Analogierelation versteht, sieht in der Analogieziehung Raum für Aussagen über „das
Ulrich Boner: Der Edelstein (Anm. 93), Nr. 78, V. 45 – 54. Wichtig ist der Begriff der Serie, vgl. abermals Déleuze, Guatarri: Tausend Plateaus (Anm. 116), S. 319 – 323. Von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. 7, betont diesen Analogieschluss als „Kern des Exemplums“.
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II Theoretische Rahmenziehung
Dritte“, d. h. Möglichkeiten, die dem tertium non datur konventioneller Beweise nicht zukommen.¹³³ Agamben argumentiert damit gegen einen Forschungskonsens, der die Analogie als ein spezifisch logisches, an Eindeutigkeit orientiertes Schlussverfahren herausstellt. „Die Analogie ist ein wissenschaftliches, ein rationales Prinzip“¹³⁴, so Walter Benjamin, und auch Hans Georg Coenen hat in einer breit angelegten Untersuchung versucht, den Analogieschluss auf seine logische Funktion zurückzuverfolgen.¹³⁵ Versteht man Analogie und Ähnlichkeit jedoch als Differenz wie Identität suggerierende Argumentationsmittel, so fügt sich diese Mehrdeutigkeit in den Kontext der Rhetorik ein: „In den die Sprache betreffenden Disziplinen ist es die Rhetorik, deren Systematik von ternären Figuren bestimmt ist.“¹³⁶ Die je situativ auf Anforderungen der Wirklichkeit reagierende Rhetorik fordert ein ebenso flexibles Argumentationsreservoir, dessen Anbindungsmöglichkeiten an neue Kontexte über einfache Ähnlichkeitsverhältnisse hinausgehen muss. So generieren beide Übertragungsformen gerade in ihrer Nähe zueinander ein komplexes Spiel aus Identität und Differenz, das nicht nur exemplarische Kurzerzählungen kennzeichnet, sondern auch generell Phänomene der semantischen Ersetzung prägt, genauer: die Metapher.¹³⁷ Kapitel II.2 baut daher auch auf die hier vorgenommenen Überlegungen auf und setzt den rhetorischen Kontext der Metapher in Bezug zur exemplarischen Kurzerzählung, bevor Kapitel II.3 dann eine Synthese beider Ansätze versucht.
II.1.4 Narratives Argumentieren zwischen Rhetorik und Hermeneutik Traditionell verorten weite Teile der Forschung die exemplarische Kurzerzählung an den Rändern des Narrativen. Das funktional verkürzte, häufig auf das Nötigste reduzierte exemplarische Erzählen sei Zeichen einer sog. ‚Einsinnigkeit‘, die konträr zur
Agamben: Was ist ein Paradigma? (Anm. 43), S. 24; vgl. auch mit Bezug zur Analogieführung der Metapher Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (Anm. 24), S. 84– 87; vgl. zu generellen Ansätzen einer Theorie des ‚Dritten‘, die sich gegen binäre Logiken stellt Albrecht Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hrsg. von Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer [u. a.]. Berlin 2010 (stw. 1971), S. 9 – 31. Benjamin: Analogie und Verwandtschaft (Anm. 111), S. 44. Vgl. Hans Georg Coenen: Analogie und Metapher. Grundlegung einer Theorie der bildlichen Rede. Berlin [u. a.] 2002 (De Gruyter Studienbuch). Renate Lachmann: Die Rolle der Triaden in sprachbezogenen Disziplinen. In: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hrsg. von Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer [u. a.]. Berlin 2010 (stw. 1971), S. 94– 109, hier S. 104. Vgl. Friedrich: Historische Metaphorologie (Anm. 24), S. 184– 189; Schittko: Analogien als Argumentationstyp (Anm. 90); Lachmann: Die Rolle der Triaden in sprachbezogenen Disziplinen (Anm. 136), S. 107– 109; Umberto Eco: The Scandal of Metaphor. Metaphorology and Semiotics. In: Poetics Today 4 (1983), H. 2, S. 217– 257.
II.1 Exemplarisches Erzählen
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üblichen ‚Mehrsinnigkeit‘ des Narrativen stehe.¹³⁸ Die Übernahme einer spezifischen Funktion im Kontext bewirke somit eine dezidierte Ausrichtung jeglicher narrativer Parameter der exemplarischen Kurzerzählung an einer einzigen Aussage. Dies sei aus rhetorischer Sicht als Gewinn, aus hermeneutischer Perspektive aber als Verlust zu lesen – ein Verlust, der über verschiedene Techniken kompensiert werden könne, wie etwa die Sinnpluralisierung durch eine Erzählsammlung¹³⁹ oder den narrativen Ausbau zur Novelle.¹⁴⁰ Dass hier das Selbstverständnis des rhetorischen Diskurses nicht exakt genug erfasst ist, d. h. immer vom Ausgangspunkt einer semantisch ausgerichteten narratologischen Epistemologie argumentiert wird, die stets um narrative Poetiken bemüht ist,¹⁴¹ hat man inzwischen erkannt. Ein Gegenentwurf liegt etwa in der sog. praxeologischen Narratologie vor, die Gert Hübner am exemplarischen Erzählen des Spätmittelalters entwickelt hat.¹⁴² Hübner gelingt es, das Dilemma um die unklare Differenz ‚einsinnig‘ – ‚mehrsinnig‘ insofern zu lösen, als er im exemplarischen Erzählen ein kulturelles Praxiswissen identifiziert, das selbst bereits in einer Handlungsstruktur vorliegt.¹⁴³ Dieses Praxiswissen zielt auf Handlungsmaximen, die keinen allgemeinen Anspruch vertreten, sondern nur angeben, welches Handeln in einer konkreten Situation zum Erfolg führt.¹⁴⁴ Aus dieser Perspektive ist das exemplarische Erzählen von den hermeneutischen Zwängen befreit, allgemeine Sinnstrukturen zu produzieren, da es nicht mehr auf ein Allgemeines zielt, sondern auf eine pragmatische Ebene: Die Handlung ist der Sinn und der Sinn ist die Handlung.¹⁴⁵ Hübners Argumentation, die stark auf dem Habitus-Konzept Pierre Bourdieus basiert, hilft, die (vor allem für Mären häufig gebrauchte) immer etwas unscharfe Bezeichnung einer ‚Klugheit der Praxis‘ in ihrer narrativen Grundierung deutlich zu machen. Dass hier auf die praxeologische Narratologie dennoch nur punktuell Bezug genommen wird, liegt zum einen an Hübners Erkenntnisinteresse, das auf Vgl. etwa Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen (Anm. 51), S. 268 f.; Largier: Diogenes der Kyniker (Anm. 90), S. 57 f.; Jens Haustein: Zum Verhältnis von exemplarischer Erzählung und Exempel an drei Beispielen aus der deutschen Literatur des Mittelalters. Leipzig [u. a.] 2006 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse. 139, 6), S. 18. Vgl. Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen (Anm. 51). Vgl. Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle (Anm. 36); Largier: Diogenes der Kyniker (Anm. 90). Zur narratologischen Epistemologie vgl. Hartmut Bleumer: Historische Narratologie. In: Literaturund Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik (Anm. 24), S. 213 – 274, hier S. 216; allgemein zu der Problemlage vgl. auch Hübner: evidentia (Anm. 71), besonders S. 132 f. Vgl. Hübner: Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen (Anm. 14); Hübner: Erzählung und praktischer Sinn (Anm. 7); Hübner: Tugend und Habitus (Anm. 14). Vgl. Hübner: Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen (Anm. 14), S. 192. Vgl. Hübner: Tugend und Habitus (Anm. 14), S. 137; Hübner: Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen (Anm. 14), S. 181; Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (Anm. 30), S. 20 – 28. Vgl. dazu auch Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 236.
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II Theoretische Rahmenziehung
komplexe Erzähltexte des Spätmittelalters (Wittenwilers Ring; Dil Ulenspiegel) gerichtet ist, Texte mithin, denen das Auseinanderfallen von diskursivem und argumentativem Wissen inhärent ist¹⁴⁶ – was auf die hier untersuchten Texte nur bedingt zutrifft. Exemplarische Kurzerzählungen favorisieren in der Regel weniger ein praktisches Handlungswissen denn ein ‚narratives Argumentieren‘, ein exemplarisches Erzählen als „Argumentationsspiel“¹⁴⁷, das im Übergang von diskursiver Technik zur kleinen narrativen Form erfolgt. Damit rücken grundlegende Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen rhetorischer und narrativer Evidenz stärker in den Fokus. ‚Narrative Argumentation‘ bezieht sich (neben dem Ziel der Persuasion) auch auf den Transfer und die Ausgestaltung eines logischen Problems in eine Erzählung. Als ‚logisches Problem‘ lässt sich entweder eine entscheidungsbedürftige Situation (soll gegen den Großkönig in den Krieg gezogen werden?)¹⁴⁸ wie auch die Diskussion von Prämissen des menschlichen Handelns (ist der Stärkere stets dem Schwächeren überlegen?) verstehen. Im einfachsten vorliegenden Fall wird somit eine Form des Wissens, egal ob Handlungsregel, Wunsch oder Erkenntnis, auf eine andere Ebene verlagert und dort narrativ verhandelt. Schon die rhetorische narratio-Lehre der Vormoderne trennt nicht zwischen argumentativer und narrativer Sinnkonstitution¹⁴⁹ – ein Befund, der auch aus erzähltheoretischer Perspektive auf die exemplarische Kurzerzählung zutrifft: Sie integriert Elemente der Rhetorik, grenzt sich aber durch ihre narrative Struktur von der reinen Argumentation (d. h. dem Bericht, der descriptio, dem Kasus) ab.¹⁵⁰ Vielmehr fördert die Rhetorik diskursive Elemente im Erzählen: eingestreute Sprichworte, topische Schlüsse, aber auch agonale Argumentation in Dialogen. Somit ist die exemplarische Kurzerzählung nicht nur in syntagmatischer, sondern auch in paradigmatischer Struktur funktional ausgerichtet.¹⁵¹ In den Dialogen werden verschiedene Wertebeziehungen gegenübergestellt, die Figuren selbst verkörpern kulturell vorgeprägte Axiologien (Wolf vs. Schaf in der Fabel; Mächtiger vs. Weiser im historischen Exempel usw.). Man könnte die These Walter Haugs, das Erzählen entfalte seine Möglichkeiten erst mit dem Überwinden des Exemplarischen,¹⁵² somit umformulieren zu: Das Erzählen entfaltet seine rhetorischen Möglichkeiten erst im Exemplarischen.
Vgl. Hübner: Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen (Anm. 14), S. 192. Vgl. Coralie Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel. Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stofftradition. Tübingen 2014 (Bibliotheca Germanica. 61). So etwa das bereits oben besprochene Beispiel aus der aristotelischen Rhetorik: Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393a 31– 1393b 3). Vgl. Hübner: Erzählung und praktischer Sinn (Anm. 7), S. 221, Anm. 18. Wichtige Hinweise dazu bei Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 236 f. Vgl. Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen (Anm. 32), S. 228; Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (Anm. 37). Vgl. Walter Haug: Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten. Oder: Wie steht es um die Erzählkunst in den sog. Mären des Strickers?. In: Die Kleinepik des Strickers (Anm. 25), S. 9 – 27, hier S. 11.
II.1 Exemplarisches Erzählen
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Hans Blumenberg hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Rhetorik nicht nur daran interessiert sei, Wirkung zu erzielen, sondern auch, diese „durchschaubar zu halten“¹⁵³. Dies aber ist Aufgabe der Erzählung, die durch ihre strukturierte Handlungsfolge von ‚Anfang, Mitte, Ende‘ auf Entstehung und Folge der rhetorischen Persuasion aufmerksam machen kann: „Durch die Art und Weise der Komposition [dem aristotelischen Schema einer Erzählung aus Anfang, Mitte und Ende, M.S-D.] wird sichergestellt, dass sich das Geschehen als folgerichtige Abfolge von Ereignissen entfaltet und einen Rückschluss von der erzählten Geschichte auf die Erfahrungswelt […] der Leser erlaubt.“¹⁵⁴ Es interessiert nicht nur, dass ein Argument wirkt, sondern auch wie, warum und mit welchen Folgen es eingesetzt wird. Damit aber nehmen selbst die – so häufig als ‚einsinnig‘ charakterisierten (s.o.) – exemplarischen Kurzerzählungen komplexe Formen an. In einem Gleichnis Ulrich Boners¹⁵⁵ (dessen Erzählsammlung Edelstein in Kapitel IV.2 im Zentrum steht) möchte ein Dieb heiraten. Den freudigen Nachbarn, die meinen, die Heirat würde der Diebeskarriere ein Ende bereiten, erzählt ein weiser Mann eine Fabel: Die Sonne fühlt sich allein und heiratet. Darunter leidet die Erde enorm, da ihr durch das zu erwartende Kind doppelt so viele Verbrennungen drohen – die Erzählung schließt mit dem Hinweis, dass die Kinder meist schlimmer seien als die Väter: man sicht dicke, daz diu kint / vil bœser denn der vatter sint. ¹⁵⁶ Fällt in der Erzählkonzeption die Kombination aus Gleichnis und Fabel auf und aus rhetorischer Perspektive die schon von Aristoteles präferierte Funktionaliserung der Fabel als „Rede vor der Menge“¹⁵⁷, so sind es auf paradigmatischer Ebene Fragen nach Affektregulierung durch Heirat und genealogische Prinzipien, die einander gegenübergestellt werden. Das hermeneutische Potenzial der Erzählung ergibt sich jedoch aus der Figur des weisen Mannes, der einen defizitären Zustand über eine weitere exemplarische Kurzerzählung korrigieren muss. Er bedient sich dabei einer Erzählung, in der eine Alternativsituation gezeigt wird: eine Möglichkeit für etwaige Konsequenzen des Ereignisses ‚Diebeshochzeit‘, die zwar nicht wahr (die Fabel beansprucht keine Wahrheit für sich), aber – und das ist rhetorisch entscheidend – wahrscheinlich sind.¹⁵⁸ Damit endet auch das Gleichnis mit einer narrativen Leerstelle: Was auf die Rede des weisen Mannes folgt, wird nicht erzählt. Das offene Ende spielt einerseits mit dem Status der Erzählung, indem es den Dreischritt aus ‚Anfang, Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (Anm. 73), S. 112; vgl. dazu auch Lachmann: Die Rolle der Triaden in sprachbezogenen Disziplinen (Anm. 136). Matthias Bauer, Maren Jäger: Statt einer Einleitung. In: Mythopoetik in Film und Literatur. Hrsg. von Dens. München 2011 (Projektionen. 5), S. 7– 32, hier S. 8. Ulrich Boner: Der Edelstein (Anm. 93), Nr. 10. Ebd., Nr. 10, V. 31 f. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393a 22– 1394a 18). Für den Einsatz der Fabel vor den rustici plädiert auch: Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), V, 11, 19. Vgl. auch Gert Hübner: Der künstliche Baum. Höfischer Roman und poetisches Erzählen. In: PBB 136 (2014), S. 415 – 471, hier S. 448: Tierfabeln verfolgen das „Prinzip, das topisch Wahrscheinliche mittels erfundener Topiken des Unmöglichen“ zu plausibilisieren.
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II Theoretische Rahmenziehung
Mitte, Ende‘ offenlässt, bleibt so aber andererseits rhetorisch modellierbar. Die Analogieziehung (so wie die Hochzeit der Sonne für die Erde Konsequenzen hat, hat die Hochzeit des Diebes für dessen Nachbarn Folgen) kreiert eine Argumentation, die nicht nur auf Wirkung angelegt ist, sondern in der doppelten, gleichzeitig aber offen bleibenden Erzählform auch ihre eigenen Bedingungen darlegt und damit die narrative Argumentationsform zur Anschauung bringt.
II.2 Metapher und exemplarisches Erzählen II.2.1 Einleitung: Metapher und Erzählen Angesichts des heutigen Forschungsstandes scheint die Feststellung, die Metapher gehe sowohl in einer rhetorischen wie poetischen Funktion über ihren bloßen Status als Rede-schmückender Tropus hinaus, inzwischen trivial. Doch korrespondiert diese Einsicht mit einem Blick auf neue Wirkungsfelder der Metapher: über Hans Blumenberg, der die Metapher in phänomenologischer Sicht als begrifflich nicht mehr einholbare Wahrheit versteht,¹⁵⁹ daneben aber auch ihre rhetorische Grundierung hervorhebt,¹⁶⁰ bis zu Paul Ricœur, der in neohermeneutischer Perspektive Formen eines ‚metaphorischen Erzählens‘ beschreibt, das als Neu-Beschreibung der Wirklichkeit im Sinne einer metaphorischen Wahrheit fungiert (s.u.).¹⁶¹ Ricœur setzt hier dem komplexitätsreduzierenden Potenzial des Tropischen¹⁶² eine komplexitätssteigernde Funktion entgegen, die weniger auf einzelne Metaphern zielt denn auf den metaphorischen Gehalt einer Erzählung. Ähnlich wie der Status der exemplarischen Kurzerzählung ist somit auch derjenige der Metapher im Spannungsfeld von Rhetorik und Hermeneutik auszuloten. Kapitel II.2.1.1 umreißt die rhetorische Funktion der Metapher als Schlussverfahren und die damit verbundene Frage nach der Leistung der Metapher als Mittel der Argumentation (basierend im Wesentlichen auf den Überlegungen Aristotelesʼ), während Kapitel II.2.2 die hermeneutische Leistung der Metapher in Bezug auf das Erzählen selbst beschreibt (bezugnehmend auf die Arbeiten Paul Ricœurs). Zusam-
Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Bonn 1960. Vgl. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (Anm. 73), S. 115 f. Vgl. Paul Ricœur: Die lebendige Metapher. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe. Aus dem Franz. von Rainer Rochlitz. 2. Aufl. München 1991 (Übergänge. 12); Paul Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache. In: Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache. Hrsg. von Eberhard Jüngel, Paul Ricœur. München 1974 (Evangelische Theologie. Sonderheft 1974), S. 45 – 70, hier S. 45. Vgl. etwa Quintilian, der die Metapher als verkürztes Gleichnis bezeichnet: in totum autem metaphora brevior est similitudo (‚Im ganzen aber ist die Metapher ein kürzeres Gleichnis‘), Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), VIII, 6, 8.
II.2 Metapher und exemplarisches Erzählen
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mengeführt und auf die drei genera narrationis Fabel, Gleichnis und historisches Exempel übertragen werden die Ergebnisse dann im folgenden Abschnitt II.3 der Arbeit.
II.2.1.1 Metapher und Rhetorik. Die Metapher als Schlussverfahren Die Metapher in einen rhetorischen Kontext zu stellen, ist keine selbstverständliche Prämisse, hat sie doch seit der weitgehenden Ablösung der Rhetorik durch die Ästhetik-Fokussierung des 18. Jahrhunderts¹⁶³ verstärkt in poetischer Perspektive Konjunktur und wurde demzufolge in erster Linie im Bereich stilistischer Funktionen verortet. Diese Unterschlagung des argumentativen Potenzials der Metapher ist Antike und Mittelalter noch fremd. Aristoteles behandelt die Metapher auch in seiner Rhetorik, wobei er sie nicht unmittelbar als sprachliches Phänomen, sondern als Mittel zur Erkenntnis vorstellt: „die Metapher hingegen bewirkt dies (den Lernprozess) am ehesten.“¹⁶⁴ Aristoteles begründet diese Potenz der Metapher mit ihrer Position zwischen fremdartigen Ausdrücken und dem kulturell Üblichen: Während Erstere unverständlich sind, ist Letzteres bereits bekannt und trägt damit nicht zum Lernen bei.¹⁶⁵ Die Metapher nimmt eine Mittelstellung zwischen beiden Polen ein. Aristoteles verortet insofern die Metapher im Spannungsfeld von Bekanntem und Unbekanntem, als das Neue im metaphorischen Prozess in bekannte Begriffe gekleidet wird – ein bereits in der Analogielehre angeführtes Prinzip.¹⁶⁶ Wenn der Drang zum Wissenserwerb (wie von Aristoteles in der Metaphysik behauptet) eine anthropologische Konstante ist,¹⁶⁷ kann diese Form der metaphorischen Übertragung als Erfüllung eines menschlichen Grundbedürfnisses verstanden werden,¹⁶⁸ als Hilfestellung, „in den weit auseinander liegenden Dingen das Ähnliche zu erkennen.“¹⁶⁹
Vgl. dazu grundlegend (wenn auch mit starkem Fokus auf die slawische Literaturgeschichte) Renate Lachmann: Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen. München 1994 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen. 93). Vgl. auch die komplexen Versuche, diese Schnittstelle zu hinterfragen, etwa bei Anselm Haverkamp: Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs. München 2007; bzw. sie aus Sicht spielerischer Wahrscheinlichkeitstheorie neu zu bestimmen: Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 10 (1410b 13 f.), der umklammerte Einschub so schon dort. Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 10 (1410b 10 – 15). Vgl. Kapitel II.1.3. Aristoteles: Philosophische Schriften. Bd. 5: Metaphysik. Nach der Übers. von Hermann Bonitz bearb. von Horst Seidl. Lizenzausg. Darmstadt 1995, I, 1 (980a): „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“. Vgl. dazu auch die Hinweise von Christof Rapp in: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 4: Rhetorik. Halbband 2. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Darmstadt 2002, S. 885. Vgl. Eberhard Jüngel: Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie. In: Metapher (Anm. 161), S. 71– 122, hier S. 94 f. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 11 (1412a 12 f.).
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II Theoretische Rahmenziehung
Aristoteles führt nicht explizit aus, wie der (durch die Metapher ausgelöste) Erkenntnisprozess Wissen generiert. Der ‚natürliche‘ Prozess des Wissenserwerbs hingegen, so konstatiert Aristoteles in der Metaphysik, basiert in erster Linie auf Erfahrungen: Durchläuft ein Mensch verschiedene Erfahrungen, macht er sich Gedanken über das Ähnliche zwischen diesen Erfahrungen, er bildet eine allgemeine Annahme über sie.¹⁷⁰ Aus der Vielfalt des Besonderen bildet sich eine Meinung über das Allgemeine, d. h. das verbindende Element.¹⁷¹ Die Metapher aber substituiert diesen ‚natürlichen‘ Erkenntnisprozess durch einen artifiziellen. Die individuelle Erfahrung ist nicht mehr Ausgangspunkt der Wissensbildung, sondern die Metapher implementiert ihr Wissen, indem sie eine so nicht bekannte Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen suggeriert: Sie ist, wie Harald Weinrich es treffend ausdrückt, ein „demiurgisches Werkzeug“¹⁷². Das von der Metapher entworfene Wissen artikuliert dabei jedoch keinen Anspruch auf allgemeingültige Aussagen, wie es das über Erfahrungen gemachte Allgemeine fordert.¹⁷³ Anstelle von Deduktion und Induktion, die als logische Schlüsse das Allgemeine und das Besondere miteinander verbinden, setzt die Metapher eine Beziehung zwischen dem Besonderen und dem Besonderen. Sie operiert damit zunächst gegen den Erkenntnisprozess, den Albertus Magnus in deutlicher Anlehnung an Aristoteles wie folgt beschreibt: Ratio enim est vis animae discurrendo per experta ex memoriis accepta, per habitudinem localem aut sillogisticam, universale eliciens et ex illo principia artium et scientiarum per similes habitudines conferens. ¹⁷⁴ Eine Schlussfolgerung aus wahren Prämissen (der von Albertus angesprochene Syllogismus) offeriert die Metapher nicht, denn sie operiert über Ähnlichkeits- und Analogierelationen (s.u.). Die von der Metapher evozierte Erkenntnis ist nicht wahr, aber auch nicht falsch, sondern kulturell wahrscheinlich. So bezeichnet Aristoteles im Rückgriff auf Homer Achill als Löwe:¹⁷⁵ Achill ist zwar kein Löwe, die Gleichsetzung eines Kriegers mit einem Raubtier ist aber aus Sicht einer Kriegerkultur möglich. Dieser, der Überzeugung dienende, Wahrscheinlichkeitsschluss ist es, der die Metapher als dezidiert
„Wenn sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet.“, Aristoteles: Metaphysik (Anm. 167), I, 1 (981a). „Denn eben das heißt ja allgemein, was seiner Natur nach mehreren zukommt.“, ebd., VII, 13 (1038b). Harald Weinrich: Semantik der kühnen Metapher. In: DVjs 37 (1963), S. 325 – 344, hier S. 338. Vgl. zur Idee des ‚Allgemeinen‘ in der Rhetorik die Überlegungen Dockhorns: Klaus Dockhorn: Hans-Goeorg Gadamer, Wahrheit und Methode (Rezension). In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 218 (1966), S. 169 – 206, hier S. 172. Albertus Magnus: De animalibus libri XXVI. Nach der Cölner Urschrift. Bd. 2: Buch XIII – XXVI enthaltend. Hrsg. von Hermann Stadler. Münster i.W. 1920 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. 16), XXI, 2, 11 (‚Der Verstand nämlich ist das Vermögen der Seele, das aus der Erinnerung Erfahrene zu durchlaufen, durch eine räumliche oder syllogistische Gestalt das Allgemeine auszuwählen und aus jenem die Prinzipien der Künste oder der Wissenschaften durch ähnliche Gestalten zusammenzutragen.‘). Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 4 (1406b 20 – 25).
II.2 Metapher und exemplarisches Erzählen
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rhetorisches Instrument ausweist: „to speak of metaphor, therefore, means to speak of rhetorical activity in all its complexity.“¹⁷⁶ Tatsächlich sind wahre Prämissen laut Aristoteles im Überzeugungsprozess nicht notwendig: „Wir sind nämlich dann am meisten überzeugt, wenn wir annehmen, dass etwas bewiesen wurde.“¹⁷⁷ Diese Annahme eines Beweises ergibt sich ebenso aus dem Aufstellen von wahrscheinlichen Prämissen, d. h. enthymemischen Schlüssen. Wo die Wahrheit nicht existiert oder nicht intelligibel ist, muss sie durch das dem Wahren ähnliche, das „Wahr-scheinliche“ ersetzt werden.¹⁷⁸ Hans Blumenberg hat diese „Verlegenheiten, die sich aus der Unmöglichkeit ergeben, Wahrheit zu erreichen“¹⁷⁹, als eine mögliche Grundauffassung der Rhetorik bezeichnet. Privilegiertes Medium der Überzeugung qua wahrscheinlichen Prämissen ist dabei der zu diskutierende Gegenstand selbst bzw. die aus ihm zu ziehenden Beweise.¹⁸⁰ Die Rhetorik versucht, das jedem Gegenstand inhärente Überzeugungspotenzial systematisch auszuschöpfen. Um nun aber die Frage zu beantworten, inwiefern die Metapher selbst als Mittel der Überzeugung dienen kann, lohnt der Blick auf die Metaphern-Definition, die Aristoteles in der Poetik angibt.¹⁸¹ Bisher wurde die Metapher als rhetorisches Instrument vorgestellt, das einen Erkenntnisprozess bewirkt, dabei jedoch keinen Wahrheitsanspruch angibt, sondern seinen rhetorischen Status über die Nähe zum Enthymem zementiert: Die Metapher gibt das Unmögliche als Mögliches aus.¹⁸² Angaben über die Bildung einer Metapher macht Aristoteles in der Rhetorik nicht, wohl aber in der Poetik. Die Metapher, heißt es da, ist „die Übertragung […] entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf
Eco: The Scandal of Metaphor (Anm. 137), S. 217. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), I, 1 (1355a 6 f.). Vgl. auch Cicero: De Inventione (Anm. 13), I, 29, 44: Etenim, ut breviter describamus, argumentatio videtur esse inventum aliquo ex genere rem aliquam aut porbabiliter [sic!] ostendens aut necessarie demonstrans (‚Um es nämlich kurz zu beschreiben: die Beweisführung scheint eine Auffindung des Stoffes zu sein, die in irgendeiner Weise eine Sache entweder glaubwürdig zeigt oder zwingend darlegt.‘). Vgl. auch die phänomenologische Perspektive Blumenbergs auf den Begriff: Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (Anm. 159), S. 88 – 105. Zum Verständnis der aristotelischen Rhetorik als Wissenschaft vom Wahrscheinlichen vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 26; Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (Anm. 24), S. 83; sowie Fuhrmann: Die antike Rhetorik (Anm. 10), S. 16: „Die Theorie vom Wahrscheinlichen blieb stets ein wichtiger Bestandteil der rhetorischen Beweislehre.“ Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (Anm. 73), S. 104. Vgl. die Anmerkungen des Rhetorik-Herausgebers Rapp: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 4: Rhetorik. Halbband 1. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Darmstadt 2002, S. 338. Zu Aristoteles aus linguistischer Sicht vgl. Coenen: Der Löwe Achilles (Anm. 26). Vgl. Bernhard H. F. Taureck: Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie. Frankfurt am Main 2004 (stw. 1666), S. 42.
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II Theoretische Rahmenziehung
die Gattung oder von einer Art auf eine andere Art oder gemäß einer Analogie.“¹⁸³ Aussagen über Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns bzw. der Überzeugung gibt Aristoteles zu diesen vier verschiedenen Methoden der Metaphern-Bildung nicht an. Soll jedoch – wie hier – die Metapher als rhetorisches Instrument der Überzeugung vorgestellt werden, ist vorab ein genauerer Blick auf die aristotelischen MetaphernDefinitionen notwendig. Umberto Eco hat in seinem durchweg luziden Aufsatz ‚Scandal of the Metaphor‘ die ersten beiden Metaphern-Definitionen des Aristoteles als Übertragungen anhand logischer Relationen vorgestellt.¹⁸⁴ Die Bewegungen von der Gattung zur Art oder von der Art zur Gattung orientiert sich an einer Denkstruktur, die ihr vielleicht eindrücklichstes Symbol im porphyrischen Baum gefunden hat. In der hierarchischen Ordnung der Prädikabilien von genus und species zeigt der (von Boethius wie auch von Petrus Hispanus aufgegriffene) Baum des Wissens beispielhaft die notwendige Zuordnung jeder Art zu der ihr zugewiesenen Gattung.¹⁸⁵ Eco macht deutlich, dass die ersten beiden aristotelischen Metaphern-Definitionen somit logischen Zuweisungen folgen, diese Zuweisungen aber kulturell geprägt sind – bereits Foucault hat in ‚Die Ordnung der Dinge‘ jedes Ordnungs- und Klassifikationssystem als kulturell determiniert bezeichnet.¹⁸⁶ Die Frage nach dem Überzeugungswert der Übertragungen beantwortet jedoch auch Eco nicht. Es fällt auf, dass Aristotelesʼ Beispiele zu seinen Metaphern-Definitionen aus einer Übertragung und einem dazu in Relation gesetzten Gegenstand bestehen. „Mein Schiff ‚steht‘ hier“¹⁸⁷ ist etwa ein Beispiel für die Übertragung von der Gattung auf die Art, denn „das ‚Vor-Anker-Liegen‘ ist eine Art von ‚Stehen‘.“¹⁸⁸ Die Metapher lässt sich im Sinne eines Schlussverfahrens ausformulieren: Die erste, für die Metapher notwendige Prämisse lautet: ‚Vor Anker Liegen ist eine Form des Stehens‘. Dazu kommt ein Einzelfall: ‚Dieses (mein) Schiff liegt hier vor Anker‘. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung: ‚Mein Schiff steht hier‘. Das Erkennen von Ähnlichkeiten, das für Aristoteles den Erkenntnisprozess ausmacht, wird hier über eine Bewegung vom Allgemeinen zum Besonderen, mithin eines deduzierenden Schlusses, generiert. In ein ebensolches Schema (nur unter umgekehrten Vorzeichen) lässt sich auch die Übertragung von der Art auf die Gattung fassen.
Aristoteles: Poetik, 21 (1457b 8 – 11). Hier und im Folgenden zit. nach: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 5: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin 2008; vgl. ausführlich dazu: Friedrich: Historische Metaphorologie (Anm. 24), S. 184– 186. Vgl. Eco: The Scandal of Metaphor (Anm. 137), S. 222; Eco führt ähnliche Überlegungen breiter aus in: Umberto Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache. München 1985 (Supplemente. 4), S. 133 – 192. Vgl. Annemieke R.Verboon: The Medieval Tree of Porphyry. An Organic Structure of Logic. In: The Tree. Symbol, Allegory, and Mnemonic Device in Medieval Art and Thought. Hrsg. von Pippa Salonius, Andrea Worm. Turnhout 2014 (International Medieval Research. 20), S. 95 – 116. Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge (Anm. 110), S. 22– 28. Aristoteles: Poetik (Anm. 183), 21 (1457b 10 – 11). Ebd., 21 (1457b 11).
II.2 Metapher und exemplarisches Erzählen
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Verdeutlichen diese Übertragungsmöglichkeiten noch Wenn-dann-Relationen (‚Wenn mein Schiff vor Anker liegt, dann steht es auch‘) und überzeugen somit über logische Schlussfolgerungen, lassen sich die dritte und vierte aristotelische Metaphern-Definition weniger eindeutig fassen. Aristoteles gibt als drittes folgendes Beispiel: „‚mit dem Erz die Seele abschöpfend‘ und ‚schneidend mit dem scharfen Erz‘, denn er [Aristoteles referiert wahrscheinlich Empedokles, M.S-D.] hat hier im zweiten Fall das Schöpfen ‚schneiden‘ genannt, im ersten Fall das Schneiden ‚schöpfen‘; beides sind nämlich Arten des Wegnehmens.“¹⁸⁹ Es ist vor allem diese Bestimmung der Metapher,¹⁹⁰ die in der Moderne Karriere macht (die ersten beiden Metaphern-Definitionen würde man heute eher als Synekdochen bezeichnen),¹⁹¹ da sie das vielbeschworene tertium comparationis – nach Aristoteles die Gattung, die im Hintergrund steht – voraussetzt. Konträr zur logischen Wenn-dann-Relation, die über Identität argumentiert, greift die dritte MetaphernDefinition auf Identitäts- wie Differenzrelationen gleichermaßen zurück. Dies lässt sich an der bereits mehrfach angesprochenen Löwen-Achill-Metapher verdeutlichen: Wenn Homer Achill als Löwen bezeichnet, macht er nach Aristoteles eine Übertragung von der Art auf die Art, deren verbindendes Element die Tapferkeit ist. Die Metapher fokussiert diese Ähnlichkeit in einem ersten Schritt und marginalisiert zwangsläufig etwaige Unterschiede.¹⁹² Die evozierte Erkenntnis besteht darin, die Differenzen zwischen dem Menschen Achill und dem Tier Löwe zu negieren und ihre Identität als tapfere Lebewesen zu verinnerlichen. Die Interaktionstheorie der Metapher hat gezeigt, dass diese Übertragung Konsequenzen für beide Arten hat. Nicht nur nehmen wir Achill als tapferen Krieger wahr, auch der Löwe, ein an sich weder tapferes noch sonst nach menschlichen Verhaltensweisen definierbares Tier erhält in der Kultur die Konnotation einer heroischen Animalität.¹⁹³ Gleichzeitig aber entwirft die Metapher keine systematische Deckungsgleichheit: Weder wird Achill komplett zum Tier noch der Löwe zum Menschen. Als rhetorisch, nicht logisch operierendes Instrumentarium lässt die Metapher auch Differenz zu. Ausgespielt werden „kulturelle Beziehungen“¹⁹⁴, die sowohl in Richtung ‚Identität‘, wie in Richtung ‚Differenz‘ modellierbar bleiben. Ähnlich problematisiert
Ebd., 21 (1457b 13 – 17). Es wäre zu überlegen, inwiefern der Sprung von der Art auf die Art, der die Gattung nicht mehr anspricht, wohl aber als kulturelle Grundüberzeugung voraussetzt, dem von Agamben herausgearbeiteten Paradigma, das vom Besonderen auf das Besondere schließt, gleicht. Vgl. Kapitel II.1.2. Vgl. dazu die ersten beiden Metaphern-Definitionen bei Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), VIII, 6, 9 f.; vgl. auch Schittko: Analogien als Argumentationstyp (Anm. 90), S. 40. Vgl. Eco: The Scandal of Metaphor (Anm. 137), S. 226. Vgl. exemplarisch Schlaffer: Odds and Ends, S. 76; Black: Die Metapher (Anm. 26); Wellbery: Übertragen (Anm. 26); Friedrich: Historische Metaphorologie (Anm. 24), S. 190 f.; Coenen: Der Löwe Achilles (Anm. 26). Friedrich: Historische Metaphorologie (Anm. 24), S. 186.
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II Theoretische Rahmenziehung
etwa auch die Fabel das Typische des Menschen anhand von Tieren,¹⁹⁵ sucht also in der Differenz (Tierwelt und Menschen) eine Gemeinsamkeit (meist im Affekthaushalt: List, Gewalt etc.), ohne auf absoluter Kongruenz zu beharren. Aristotelesʼ vierte Metaphern-Definition („gemäß einer Analogie“) unterscheidet sich ebenso signifikant von den ersten beiden Bestimmungen. Letztlich rekurriert Aristoteles erst hier auf die in der Rhetorik postulierte Relation der Metapher zwischen Bekanntem und Unbekanntem. Über die Einbindung einer geometrischen Figur¹⁹⁶ in das sprachliche Denken verdeutlicht Aristoteles das kognitive Potenzial der Metapher, zwei nicht kontigue Begriffe zueinander in Beziehung zu setzen: Wenn sich B zu A verhält wie D zu C, dann verhält sich A zu C wie B zu D. In Aristotelesʼ Worten: „Was das Alter in Bezug auf das Leben ist, das ist der Abend in Bezug auf den Tag. Man wird also den Abend das Alter des Tages nennen.“¹⁹⁷ Die Metapher nimmt hier die Funktion ein, nicht Verbundenes zueinander in Relation zu setzen – nicht aufgrund von Ähnlichkeiten, die den Dingen selbst zukommen, sondern aufgrund von Ähnlichkeiten, die in den Verhältnissen der Dinge zueinander liegen.¹⁹⁸ Damit löst Aristoteles sich vom logisch organisierten Raster der Art-/Gattungszuweisung und kreiert ein Schema, das beliebig gefüllt werden kann: „The Aristotelan proportion is an empty schema where infinite pieces of encyclopedical information can be inserted.“¹⁹⁹ Die Metapher zeigt qua Analogiebildung ein Schlussverfahren, das aus dem Raster epistemologischer Verknüpfungen hinausweist. Sie beinhaltet hier mehr als das nur rein illustrative Abbilden gemeinsamer Schnittmengen, d. h. Ähnlichkeitsverbindungen. Die metaphorische Operation der Analogie wirkt umso erfolgreicher, je mehr sie ihre Aussage „vor Augen führt.“²⁰⁰ Aristoteles schreibt hier der Metapher eine deiktische Funktion ein, deren Wirksamkeit er als die Belebung von eigentlich Unbelebtem beschreibt; eine Technik, die sich – unter anderen Vorzeichen – auch Fabeln und Gleichnisse zunutze machen. Das Vor-Augen-Stellen (energeia) kristallisiert sich hier als wesentlicher Wirkungsmechanismus der Metapher heraus, der Ähnlichkeiten in
Vgl. zur Verbindung von Menschen und Tieren in der Fabel: Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Sonderausg. der 5. Aufl. Frankfurt am Main 1996, S. 148 f. Zu Geometrie und Sprache vgl. Renate Schlesier: Der bittersüße Eros. Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik des Metapherbegriffs. In: Archiv für Begriffsgeschichte 30 (1986/1987), S. 70 – 83, hier S. 75. Aristoteles: Poetik (Anm. 183), 21 (1457b 24 f.). Diesen Punkt betont auch Foucault stark, der daher die Analogie als kategoriales Ordnungssystem der Ähnlichkeit unterordnet, da sie die „subtileren Ähnlichkeiten der Verhältnisse“ betrifft. Ihr Vorteil bestehe darin, dass „sie von einem einzigen Punkt aus eine unbeschränkte Anzahl von Verwandtschaften herstellen“ kann, Foucault: Die Ordnung der Dinge (Anm. 110), S. 51. Eco: The Scandal of Metaphor (Anm. 137), S. 232. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 11 (1411b 23); vgl. dazu auch Rüdiger Campe: Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Gerhard Neumann. Stuttgart [u. a.] 1997 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände. 18), S. 208 – 225, hier S. 211.
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den Verhältnissen nicht nur sichtbar macht, sondern auch für Evidenz im Erkenntnisprozess sorgt.²⁰¹
II.2.2 Metapher und Hermeneutik Ähnlichkeits- und Analogieoperationen sind somit nicht nur, wie in Kapitel II.1.3 vorgestellt, Funktionsmechanismen der exemplarischen Kurzerzählung, sie liegen auch der Metapher zugrunde. Indem die Analogie eine Differenzrelation ausspielt, die Ähnlichkeit aber für Identität plädiert,²⁰² avanciert die Metapher zu einer ambigen Figur, da sie Gemeinsamkeit und Unterschied gleichermaßen suggeriert: „Ähnlichkeit und Analogie bilden mithin zwei differente, aber komplementäre Verfahren der Metaphernbildung, woraus die ganze epistemologische Problematik der Metapher resultiert.“²⁰³ Wie das Exemplarische scheint sich auch die Metapher dem strengen ‚entweder-oder‘ binärer Relationen zu entziehen und als eine Figur des Dritten zu fungieren – einer Figur, die logische Zweipoligkeit (wahr/falsch) durch eine triadische Struktur substituiert.²⁰⁴ Damit wird die Metapher neben der Rhetorik auch für die Erzählforschung interessant, lässt sich dies doch in kultureller wie narrativer Perspektive verfolgen. Auf das Erzählen bezogen avanciert die Metapher zur Matrix des narrativen Ereignisses: Ein Ereignis definiert sich gemeinhin als Änderung einer gegebenen Situation, d. h. den Übergang von Zustand A zu Zustand B. Gleichzeitig aber partizipieren Anfangs- wie Endzustand am gleichen Geschehnis, d. h. es existiert auch eine Form der Identität zwischen A und B. Identität und Differenz konstituieren so auch hier den semantischen Mehrwert der Geschichte – die narrative Struktur nimmt die Form einer Metapher an.²⁰⁵ Im Kontext einer Tropologie des narrativen Diskurses erbringt die Metapher somit die nötige semantische Identifikationsleistung, die äußerlich differente Elemente in einen zusammenhängenden, sich zeitlich entfaltenden Konnex stellt.²⁰⁶ Verstehen und Argumentieren, d. h. Hermeneutik und Rhetorik, stellen die Metapher in divergierende Kontexte, verweisen aber letztlich auf die gleiche Operation: Wie kann A gleich B und gleichzeitig ungleich B sein? Oder, klassisch hermeneutisch
Vgl. ebd., S. 215 – 218. Vgl. Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (Anm. 24), S. 90; vgl. auch Susanne Köbele: Umbesetzungen. Zur Liebessprache in Liedern Frauenlobs. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger, Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2000, S. 213 – 235, hier S. 214: „Metaphernspezifisch ist gerade die Verknüpfung von analogisierender und identifizierender Rede.“ Friedrich: Historische Metaphorologie (Anm. 24), S. 186. Vgl. Lachmann: Die Rolle der Triaden in sprachbezogenen Disziplinen (Anm. 136), S. 107– 109; Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (Anm. 24), S. 87. Die Überlegungen basieren auf: Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 219 f. Vgl. ebd., S. 244– 248.
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formuliert: Was passiert, wenn sich literaler und übertragener Sinn widersprechen?²⁰⁷ Wird Julia bei Shakespeare als Sonne bezeichnet, so impliziert dies zwei Aussagen. Erstens die banale, aber dem logischen Verständnis nach falsche Aussage ‚Julia ist ein Stern am Rand der Milchstraße‘ und eine sekundäre Aussage, die sich in einem kulturellen Regelsystem bewegt und der Sonne zugeschriebene Eigenschaften (schön, strahlend, erleuchtend, Leben spendend usw.) auf Julia überträgt und somit im metaphorischen Sinn wahr ist.²⁰⁸ In der Hermeneutik fungiert die Metapher damit als Auflösung einer semantischen Dissonanz,²⁰⁹ die im Zusammenspiel von Differenz und Identität einen neuen Sinn kreiert. Falls die Metapher damit tatsächlich zum ‚Hauptproblem‘²¹⁰ der Hermeneutik avancieren sollte, so zeigt dies vielleicht stärker die rhetorische Tradition der Hermeneutik²¹¹ denn ein generelles Problem des metaphorischen Verstehens. Stellt man die Metapher in diesen basalen rhetorischen und hermeneutischen Kontext, entgeht man dem von Gert Hübner vor einigen Jahren thematisierten Problem, historische Metaphern durch Theorien zu erklären, die auf divergierenden ontologischen (d. h. im Regelfall modernen) Prämissen basieren.²¹² Metapherntheorien, die sich aus Erkenntnisparadigmen des 18. – 20. Jahrhunderts ergeben – wie etwa die sprachanalytische Interaktionstheorie – seien zwar auf vormoderne Metaphern anwendbar, so Hübner, würden aber zu unhistorischen Analyseergebnissen führen.²¹³ Was Aristoteles und der im Folgenden besprochene Ricœur zu zeigen versuchen, sind jedoch basale Implikationen einer Übertragungsleistung, die einer Metapher immer zustehen – gleich ob ihr Schöpfer eine bestimmte Metapherntheorie kennt oder nicht. Über ihre enthymemische Struktur (s.o.) zielt die Metapher direkt in den thymos, d. h. das Herz als Sitz der Emotionen.²¹⁴ Die Metapher basiert so auf gleichsam ‚natürlichen‘
Vgl. Schlesier: Der bittersüße Eros (Anm. 196), S. 73. Zu diesem Beispiel vgl. insbesondere Wellbery: Übertragen (Anm. 26), S. 139 – 147. Vgl. Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache (Anm. 161), S. 48. Vgl. Paul Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik. In: Theorie der Metapher (Anm. 8), S. 356– 375. Für ausführliche Überlegungen dazu vgl. Dockhorn: Gadamer,Wahrheit und Methode (Anm. 173), besonders S. 183 – 190. Vgl. Gert Hübner: Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien. In: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der amerikanisch-deutschen Arbeitstagung an der Georg-August-Universität Göttingen vom 17. bis 20. Oktober 2002. Hrsg. von Arthur Groos, Hans-Jochen Schiewer. Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit. 1), S. 113 – 153. Vgl. auch die Replik von Florian Kragl: Wie man in Furten ertrinkt und warum Herzen süß schmecken. Überlegungen zur Historizität der Metaphernpraxis am Beispiel von Herzmaere und Parzival. In: Euphorion 102 (2008), S. 289 – 330. Vgl. Hübner: Überlegungen zur Historizität von Metapherntheorien (Anm. 212), S. 153. Vgl. David C. Mirhady: Aristotleʼs Enthymeme, Thymos, and Plato. In: Influences on Peripatetic Rhetoric. Essays in Honor of William W. Fortenbaugh. Hrsg. von David C. Mirhady. Leiden [u. a.] 2007 (Philosophia antiqua. 105), S. 53 – 64, hier S. 61; Villwock: Mythos und Rhetorik (Anm. 6), S. 80 f.; Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (Anm. 24), S. 84.
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Überzeugungen, die sie in ‚künstliche‘ Überzeugungen umwandelt.²¹⁵ Damit agiert sie unabhängig vom ontologischen Paradigma (im Sinne Thomas S. Kuhns)²¹⁶ einer Epoche als Substitut des Begrifflichen, logisch systematisierbaren. In der „auseinanderhaltenden Verbindung“²¹⁷ der Metapher liegt ihre Potenz, als eine der möglichen Grundformationen von Rhetorik und Hermeneutik zu fungieren: Sie trennt und verbindet, deckt auf und verschließt. Dass die Vormoderne diese Ambiguität zwar aufweist, nicht aber (wie Moderne und Postmoderne) in Sprachtheorien problematisiert, sollte nicht zum Anlass genommen werden, über sie hinwegzusehen. Vielleicht könnte man so abschließend mit Hübner gegen Hübner argumentieren, konzedierte dieser doch vor kurzem im Zuge einer breit angelegten Rekapitulation aktueller Forschungsansätze in der LiLi²¹⁸ für die Rhetorik, dass diese unabhängig von der sie umgebenden Wissenskultur gelte.²¹⁹ Rhetorische Strategien des GlaubhaftMachens, so Hübner, seien kulturell unabhängige universelle Argumentationsmuster, genauso wie auch niemand narratologische Kenntnisse brauche, um zu erzählen.²²⁰ Daher könne „[e]in rhetorisch angeleitetes Interesse an der älteren deutschen Literatur […] Zusammenhänge zwischen glaubhaft Gemachtem, Verfahrensweisen des Glaubhaftmachens und als glaubhaft Vorausgesetztem nachgehen, um kulturelle Wissenspraktiken zu rekonstruieren.“²²¹ In diesen rhetorischen Zusammenhang ist die Metapher hier eingeordnet.
Vgl. Villwock: Mythos und Rhetorik (Anm. 6), S. 81. Vgl. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Anm. 18). Jörg Villwock: Welt und Metapher. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983), S. 199 – 217, hier S. 208. Vgl. LiLi 43 (2013), H. 172. Das Heft erschien unter dem programmatischen Titel: „Turn, turn, turn? Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende? Eine Rundfrage zum Jubiläum der LiLi.“ Vgl. Gert Hübner: Literatur und Rhetorik, vormodern. In: LiLi 43 (2013), H. 172, S. 102– 105, hier S. 104. Vgl. ebd. Ebd. Hübner orientiert sich hier implizit an dem forschungsgeschichtlich bedeutsamen Resümee von Peter von Moos: „Weder ist alles Rhetorik und Dialektik, was im Mittelalter so geheißen hat (bzw. Mediävisten so nennen), noch ist es nur das, was Aristoteles oder Cicero nach dem exklusiven Denkschema einiger Altphilologen und Humanismusforscher dazu ‚dekretiert‘ haben.“, Peter von Moos: Rhetorik, Dialektik und civilis scientia im Hochmittelalter. In: Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter. Rezeption, Überlieferung und gesellschaftliche Wirkung antiker Gelehrsamkeit, vornehmlich im 9. und 12. Jahrhundert. Hrsg. von Johannes Fried. München 1997 (Schriften des Historischen Kollegs. 27), S. 133 – 156, hier S. 134. Man müsse eher (so von Moos, der sich hier wiederum Blumenberg annähert, ohne diesen zu zitieren) von „konstitutive[n] Leitgedanken“ ausgehen, die „unabhängig von bestimmten Regeln und tradierten Vorschriften ‚mutatis mutandis‘ immer wieder neu zu analogen Methoden führen (und auch führen müssen), weil sie auf anthropologische Bedürfnisse antworten.“, ebd.Vgl. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (Anm. 73).
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II Theoretische Rahmenziehung
II.2.2.1 Paul Ricœurs ‚lebendige Metapher‘ Paul Ricœur hat versucht, die oben beschriebenen Wirkungsweisen der Metapher unter dem Stichwort der ‚lebendigen Metapher‘ zu konzeptionalisieren. Ricœur sieht die rhetorische und poetische Leistung der Metapher bereits bei Aristoteles beschrieben, der sie allerdings nur nebeneinander stelle, ohne beide zu kombinieren. Das rhetorische Potenzial der Metapher vermöge es, eine auf dem Argument des Wahrscheinlichen bauende Überzeugung zu implementieren,²²² das poetische Potenzial hingegen liege in der Möglichkeit einer Neubeschreibung der Wirklichkeit qua „heuristischer Funktion“²²³. Etwas simpler formuliert: Ricœur zeigt an Aristotelesʼ Überlegungen symptomatisch Bereiche von Komplexitätsreduktion wie von Komplexitätsproduktion auf, die beide von der Metapher besetzt werden. Prämisse für Ricœurs Überlegungen ist eine Unterscheidung von Sinn und Bedeutung, die Gottlob Frege bereits 1892 vorgelegt hat.²²⁴ Auf der sprachimmanenten Ebene des Sinns, bei Frege als „Art des Gegebenseins“²²⁵ bezeichnet, ermögliche die Metapher eine ‚semantische Innovation‘ (s.u.), auf der Ebene der Bedeutung, die auf das Bezeichnete zielt (und von Ricœur in Anlehnung an moderne Terminologie meist als Referenz bezeichnet wird), hingegen o.g. ‚heuristische Funktion‘ als Neubeschreibung von Wirklichkeit. Gegenüber den Versuchen des Strukturalismus, Sprachparadoxien wie die Metapher allein durch Relationen innerhalb des grammatischen Systems zu erklären (bei Jakobson etwa als Prinzip der Selektion),²²⁶ sieht Ricœur den (literarischen) Text als Ausdruck einer ‚Text-Welt‘, in der die deskriptive Funktion der Sprache (d. h. die Beschreibung von Wahrheit) durch einen jenseits des Faktischen liegenden Sprachmodus ersetzt wird. Die Wirklichkeit wird ‚umgangen‘, doch ist dieser ‚Umweg‘ kein Verlust, sondern offeriert gerade diejenige heuristische Potenz, die zum Verständnis der Lebenswelt notwendig ist.²²⁷ Eine Besonderheit in Ricœurs Theorie der ‚lebendigen Metapher‘ liegt im Wesentlichen in Ricœurs Argumentationsführung. Er nähert sich der Metapher nicht nur über ihre Funktion (‚Überzeugen‘, ‚Neubeschreiben‘, usw.), sondern auch über einen sprachanalytischen Dreischritt. Ricœur geht mit der antiken Rhetorik vom Wort aus, das durch die Metapher ersetzt wird, erklärt dann das Aufstellen eines neuen, metaphorischen Satzes als eigentliche semantische Innovation, in der zwei Sprachfelder miteinander kombiniert werden, und endet schließlich beim Text, der eine neue Dimension von Wirklichkeit aufschließt – indem sein wörtlicher Sinn durch einen me-
Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher (Anm. 161), S. 19. Ebd., S. 235. Vgl. Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik N.F. 100 (1892), S. 25 – 50; Ricœur: Die lebendige Metapher (Anm. 161), S. 210 f.; zu Ricœur und Frege vgl. auch Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 220. Frege: Über Sinn und Bedeutung (Anm. 224), S. 26. Vgl. Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik (Anm. 8), S. 166 f. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher (Anm. 161), S. 238.
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taphorischen substituiert wird.²²⁸ Das Skandalon der Ricœurschen Metapherntheorie – aus Sicht der Kritiker – liegt hier in seiner Erschließung der syntagmatischen Ebene für den metaphorischen Prozess. Ist es im Anschluss an Jakobson die paradigmatische Ebene, auf der die Metapher als Substitution eines austauschbaren Elementes operiert, avanciert bei Ricœur die syntagmatische Ebene zum präferierten „Entfaltungsmittel“²²⁹ der Metapher: „man muß das Geheimnis der Metapher in den ungewohnten syntagmatischen Verbindungen, den neuen, rein kontextgebundenen Kombinationen suchen.“²³⁰ Es ist somit der fiktionale Text, der „von möglichen Welten (spricht) und von möglichen Weisen, sich in diesen Welten zurechtzufinden.“²³¹ Die Relation von ‚Wirklichkeit‘ und diesen möglichen (d. h. nicht-realen, aber übertragbaren) Welten entspricht dabei der Analogiesetzung zwischen Bekanntem und Unbekanntem in der aristotelischen Metaphern-Definition, die so den Status der Metapher als Medium der Weltaneignung zementiert.²³² Ricœur sieht dieses Prinzip auch in der Aneignung eines Textes durch den Leser, indem er den Grundgedanken des Hermeneutischen Zirkels re-definiert: Der Leser eignet sich den Horizont der Textwelt an, er erweitert das eigene Selbstverständnis durch die Welt des Textes.²³³ Ricœur, der seinen Argumentationsweg von der Metapher zum Text im Wesentlichen über die Auseinandersetzung mit anderen Metapherntheorien (Aristoteles, Saussure, Jakobson) abschreitet, grenzt sich an diesem neuralgischen Punkt, an dem die Metapher für das Verständnis eines Textes (und nicht mehr nur eines Wortes) essenziell, ja geradezu notwendig zu werden scheint, auch von der Interaktionstheorie Max Blacks ab. Tatsächlich argumentiert Black auf den ersten Blick diametral entgegen Ricœur: Für ihn verbindet (leicht vereinfachend zusammengefasst) die Metapher ein „System miteinander assoziierter Gemeinplätze“²³⁴, d. h. Topoi, deren Semantiken miteinander interagieren. Die Metapher speist sich somit bei Black im Wesentlichen aus kulturellen Vorstellungswelten – Black führt das Beispiel der Me-
Der Schrittfolge Wort-Satz-Text lassen sich leicht die Untersuchungsformen Semiotik-SemantikHermeneutik zuordnen bzw. der Schritt von der ‚semantischen Innovation‘ zur ‚heuristischen Funktion‘. Vittoria Borsò: Metapher und Wirklichkeitserkenntnis im Roman. In: Zeichen und Realität. Band 2. Hrsg. von Klaus Oehler. Tübingen 1984 (Probleme der Semiotik. 1,2), S. 453 – 467, hier S. 454. Ricœur: Die lebendige Metapher (Anm. 161), S. 178. Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik (Anm. 210), S. 370. Nicht zuletzt auffällig in der Moderne durch metaphorische Neologismen, die als Bezeichnung neuer Institutionen, Konzepte o. ä. dienen, bis sie so weit in den Sprachgebrauch eindringen, dass ihr metaphorischer Gehalt nur noch im Hintergrund wirksam bleibt, wie etwa bei ‚Kindergarten‘. Zur Verknüpfung von Vorstellungswelt und Metapher vgl. auch George Lakoff, Mark Johnson: Metaphors We Live By. Chicago [u. a.] 1980. Vgl. Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik (Anm. 210), S. 371 f.; vgl. dazu Villwock: Welt und Metapher (Anm. 217), S. 207: „Die in der Auslegung geschehende Konfrontation mit einer anderen Welt erschließt dem Subjekt zugleich neue Möglichkeiten des ‚In-der-Welt-seins‘“. Black: Die Metapher (Anm. 26), S. 70 f.
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tapher „Der Mensch ist ein Wolf“ an, deren Erfolg von der kulturellen Determination des Wolfes als räuberisches, a-moralisches Wesen abhängt.²³⁵ Ricœur spricht der Metapher nicht die Fähigkeit ab, diese für das kulturelle Gedächtnis wesentliche Funktion zu übernehmen, er perspektiviert jedoch die Metapher weniger auf ihre Einbindung in den Alltag, d. h. in den Common Sense, als in die Literatur. Um seine Theorie einer neuen Beschreibungsfunktion zu legitimieren, muss der Metapher aus Ricœurs Perspektive daher auch die Potenz zukommen, gegen das allgemein Akzeptierte, das kulturell Gegebene, anzuarbeiten (nicht umsonst spricht er von der ‚lebendigen Metapher‘). An dieser Stelle greift Ricœur auf das oben bereits angesprochene Konzept der „Semantischen Innovation“²³⁶ zurück. Innovativ insofern, als ein Text, aus der Perspektive der Metaphorik gelesen, zwei Möglichkeiten der Interpretation offeriert: eine wörtliche, die kulturellen Wertigkeiten assoziierende, und eine metaphorische, die eine neue Sinn-Setzung durch den Leser erfordert.²³⁷ Die Metapher führt zwar zwei semantische Felder zusammen, doch eher im Sinne einer „prädikativen Assimilierung“²³⁸ denn einer Bedeutungsübernahme. Im Identität suggerierenden „Sein“ schwingt immer auch ein „Sein wie“ mit – das Ähnliche wird erkannt als Identität in der Differenz (s.o.). Greift man Blacks Beispielsatz „Der Mensch ist ein Wolf“ aus der Perspektive Ricœurs wieder auf, so liegt der Fokus genau auf dieser Erkenntnis. Aus der logischen Störung, die der wirklichkeitsbeschreibenden Funktion der Sprache widerspricht,²³⁹ entsteht die Möglichkeit, ein neues, gemäß der Metapher organisiertes Modell der Referenz (also in diesem Beispiel den Menschen) zu entwerfen. Dieser Vorgang der heuristischen Neu-Beschreibung wird bedingt durch die semantische Innovation und lässt sich nicht durch Begrifflichkeiten ersetzen, sondern wird von Ricœur als ontologischer Vorgang definiert.²⁴⁰ Ricœur verweist hier weitaus deutlicher als jede Substitutions- oder Interaktionstheorie auf die Sprache als Medium der Welterschließung, d. h. auf den metaphorischen Status von Wahrheit, den schon Nietzsche zum Ausdruck bringt: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken.“²⁴¹
Vgl. ebd., S. 71. Für eine ausführliche Diskussion vgl. Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik (Anm. 210), S. 366 f. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher (Anm. 161), S. 275. Ebd. Vgl. Borsò: Metapher und Wirklichkeitserkenntnis im Roman (Anm. 229), S. 454. Vgl. Ricœur: Die lebendige Metapher (Anm. 161), S. 290 – 294; vgl. auch Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache (Anm. 161), S. 54; Borsò: Metapher und Wirklichkeitserkenntnis im Roman (Anm. 229), S. 455; Campe: Vor Augen Stellen (Anm. 200), S. 215 f. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: Ders.: Sämtliche Werke. Band 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870 – 1873. Hrsg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. München [u. a.] 1980, S. 875 – 890, hier S. 880.
II.2 Metapher und exemplarisches Erzählen
51
Ricœur stellt nicht nur eine Verbindung zwischen Metapher und Narration her, er zeigt auch, dass Metapher wie Erzählung gleichermaßen dem Sprachspiel unterworfen sind, da beide eine sprachlich artikulierte Erfahrung organisieren.²⁴² In einem kurzen Aufsatz über die Gleichnisse Jesu versucht Ricœur, diesen Zusammenhang anhand einer konkreten Erzählform aufzuzeigen.²⁴³ Die Gleichnisse des Neuen Testaments können als Metaphern gelesen werden, da sie eine „Szene“²⁴⁴ beschreiben, die zwar der Lebenswelt entspricht, die aber weder geschehen ist noch geschieht, sondern eine Möglichkeit aufzeigt, wie die Welt sein könnte. Jesu Ideen werden im Gleichnis bildhaft-narrativ aufbereitet, in eine Erzählung überführt und als neue, mögliche Form der Wirklichkeit (bzw. des Gottesreiches) beschrieben.²⁴⁵ Der Vorteil an dieser metaphorischen Wahrheit ist, dass sie gegenüber der direkten, begrifflichen Vermittlung (bspw. den ‚Zehn Geboten‘) keinen dezidiert präskriptiven Status postuliert, sondern als Sprachspiel in erster Linie an die kognitiven und hermeneutischen Kenntnisse ihrer Leser appelliert. Auch hier eröffnet der „Umweg“²⁴⁶ der Fiktion somit die Chance, jenseits aller metaphysischen Wahrheitspostulate eine andere, metaphorische Form der Wahrheit zu implementieren: „um metaphorisch reden zu können, muss erzählt werden.“²⁴⁷ Indem er den metaphorischen Prozess im Gleichnis herausstellt, zeigt Ricœur, dass das Gleichnis nicht als schlicht-bildhafte Verdeutlichung einer Lehre verstanden werden muss (ebensowenig wie die Fabel nur die narrative Ausgestaltung einer normativen Maxime ist). Vielmehr impliziert das Gleichnis eine „Extravaganz“²⁴⁸ (von Ricœur als Gradmesser der Metaphorizität verstanden), die aus dem Vorkommen des Außergewöhnlichen im Gewöhnlichen resultiert.²⁴⁹ Die Offenheit des metaphorischen Prozesses durchbricht die Geschlossenheit der Erzählform und ermöglicht eine Neubeschreibung menschlichen Erfahrungswissens.²⁵⁰ Durch die ‚lebendige Metapher‘ gewinnt eine „poetische Mimesis“ somit „Zugang zur persuasiven Rhetorik.“²⁵¹ Das Konzept der ‚lebendigen Metapher‘ zielt, wie Ricœur es vor allem in den Bänden ‚Zeit und Erzählung‘²⁵² ausführt, auf eine allgemeine Erzähltheorie literarischer Texte, insofern „die Referenzfähigkeit der Sprache nicht durch die deskriptive
Vgl. Dirk Rustemeyer: Erzählungen. Bildungsdiskurse im Horizont von Theorien der Narration. Stuttgart 1997, S. 52. Vgl. Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache (Anm. 161). Ebd., S. 65. Die „Spannung besteht dann zwischen der Szene und der Wirklichkeit des alltäglichen Lebens“, Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache (Anm. 161), S. 65. Ebd., S. 70. Jüngel: Metaphorische Wahrheit (Anm. 168), S. 113. Ricœur: Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache (Anm. 161), S. 67. Vgl. Markus Buntfuß: Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache. Berlin [u. a.] 1997 (Theologische Bibliothek Töpelmann. 84), S. 119. Vgl. ebd. Campe: Vor Augen Stellen (Anm. 200), S. 217. Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. 3 Bde. 2. Aufl. München 2007 (Übergänge 18,1– 3).
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II Theoretische Rahmenziehung
Sprache erschöpft wird und daß sich die dichterischen Werke mit einem eigenen Referenzmodus, dem der metaphorischen Referenz, auf die Welt beziehen.“²⁵³ Da diese Arbeit exemplarische Kurzerzählungen in den Fokus der Analyse stellt, kann Ricœurs universeller Anspruch auf allgemein „dichterische Werke“ marginalisiert werden. Zu fragen bleibt jedoch, inwiefern die von Ricœur herausgearbeiteten Merkmale metaphorischer Rede hier heuristisch genutzt werden können und welche Modi des exemplarischen Erzählens noch nicht von Ricœurs Analyseinstrumentarien erfasst werden – Kapitel II.3.3 wird auf diese offenen Stellen zurückkommen.
II.3 Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel II.3.1 Die rhetorische Perspektive: fabula, argumentum, historia Konnte bisher ein allgemeines Funktionsspektrum exemplarischen Erzählens in rhetorischer Perspektive umrissen werden, so stellt das folgende Kapitel die hier im Fokus stehenden Erzählformen Fabel, Gleichnis und historisches Exempel im Einzelnen näher vor. Um die nicht unumstrittenen Begriffe ‚Fabel‘, ‚Gleichnis‘, ‚historisches Exempel‘ terminologisch abzugrenzen, wird dabei synchron wie diachron argumentiert. Eine diachrone Perspektive verfolgt grundlegende Differenzierungen (fabula, argumentum, historia) der antiken juridisch-politischen Rhetorik auf ihrem Weg ins Mittelalter – einem Weg, der bereits den Wechsel von politischer Redekategorie zur Erzählung impliziert, wie es im Detail von Päivi Mehtonen herausgearbeitet wurde.²⁵⁴ Ergänzt wird diese Perspektive nicht nur durch Rückgriffe auf die oben angeführten Überlegungen zum exemplarischen Erzählen, sondern auch durch eine Diskussion derzeitiger Forschungsperspektiven zu exemplarischen Kurzerzählungen im Mittelalter. Abschließend sollen die Ergebnisse aus den vorherigen beiden Kapiteln (zum exemplarischen Erzählen und zur Metapher) auf die drei hier untersuchten Erzählformen übertragen werden. Im Folgenden geht es somit weniger um eine abermalige Gattungsdiskussion des breiten Spektrums mittelalterlicher Kurzerzählungen, sondern darum, grundlegende Möglichkeiten des persuasiven Erzählens in ihrer rhetorischen Grundierung kenntlich zu machen. Um dies auch terminologisch zu verdeutlichen, werden Fabel, Gleichnis und historisches Exempel hier als ‚Erzählformen‘ bezeichnet – ein Begriff, der nicht normativ vorgegeben, sondern im weiteren Verlauf der Arbeit perspektivisch geschärft werden soll. Während sich die Rhetorik traditionell um Strategien der Wirklichkeitsbewältigung zentriert, orientiert sich die Poetik an den Parametern von Wahrheit und
Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. 2. Aufl. München 2007 (Übergänge 18,1), S. 126. Vgl. Mehtonen: Old Concepts and New Poetics (Anm. 30).
II.3 Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel
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Wahrscheinlichkeit. Gerade Letztere gelten üblicherweise als Begriffe, die sowohl in sich problematisch als auch in ihrer Konnotation stark vom zeitgenössischen Kontext abhängig sind.²⁵⁵ Aristoteles definiert die Kategorien von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit einerseits als Prämissen von kulturellen und natürlichen Ordnungsprinzipien (Natur als immer und wahr, Kultur als Gewohnheit und Wahrscheinlichkeit),²⁵⁶ versteht sie andererseits aber auch als Konstituenten von Dichtung, indem er dieser zugesteht, das Mögliche „gemäß innerer Wahrscheinlichkeit“²⁵⁷ mitzuteilen und somit Anspruch auf allgemeines Wissen zu erheben (im Gegensatz zum relativen Wissen des Historikers).²⁵⁸ Das dialektische Moment der Dichtung, so könnte man es überspitzt formulieren,²⁵⁹ besteht also darin, dass sie eine singuläre Geschichte erzählt, diese aber, da sie als durchweg wahrscheinlich²⁶⁰ präsentiert wird und das Wahrscheinliche die unmittelbare Funktion von Evidenzproduktion besitzt, gleichzeitig das überzeugungskräftige Allgemeine impliziert.²⁶¹ Aristotelesʼ Diktum ist vor allem von der – inzwischen fast unübersehbar gewachsenen – Fiktionalitätsforschung aufgegriffen worden, die sich intensiv mit dem Selbstverständnis des Höfischen Romans auseinandergesetzt hat.²⁶² Auf Anregungen aus der Rhetorik wird in der Debatte jedoch nur
Vgl. dazu: Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963.Vorlagen und Verhandlungen. Hrsg. von Hans Robert Jauß. München 1964 (Poetik und Hermeneutik. 1), S. 9 – 27. Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), I, 11 (1370a 7– 8); vgl. auch Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (Anm. 24), S. 83 f. Aristoteles: Poetik (Anm. 183), 9 (1451a 38). Aristoteles grenzt die Dichtung vor allem gegenüber der Geschichtsschreibung ab. Für eine konzise Zusammenfassung vgl. Gabriele Schabacher: Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion ‚Gattung‘ und Roland Barthesʼ „Über mich selbst“. Würzburg 2007 (Studien zur Kulturpoetik. 7), S. 43 – 46; Peter von Moos: Poeta und historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan. In: PBB 98 (1976), S. 93 – 130, hier S. 96. Den ideengeschichtlichen Hintergrund der aristotelischen Überlegungen, insbesondere gegenüber Platon, referiert überzeugend: Karla Pollmann: Zwei Konzepte von Fiktionalität in der Philosophie des Hellenismus und in der Spätantike. In: Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike. Hrsg. von Therese Fuhrer, Michael Erler, Karin Schlapbach. Stuttgart 1999 (Philosophie der Antike. 9), S. 261– 278, hier S. 262 f. Zur Leistung des aristotelischen Konzepts im Rahmen einer ‚Historischen Narratologie vgl. Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (Anm. 30), S. 17– 28. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Was macht Wissen verlässlich? Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschafts- und Wissensgeschichte. In: Muster im Wandel. Zur Dynamik topischer Wissensordnungen im Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Dickhut, Stefan Manns, Norbert Winkler. Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung. 5), S. 13 – 29, hier S. 14 f. Dies lässt sich durchaus wörtlich verstehen, als das dem Wahren scheinbar Ähnliche, vgl. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (Anm. 159), S. 88 – 105. Vgl. Schabacher: Topik der Referenz (Anm. 258), S. 44. Vgl. für die Mediävistik bspw. Haug, der eine ‚Entdeckung‘ der Fiktionalität im 12. Jahrhundert postuliert: Walter Haug: Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein bei Chrétien de Troyes, Thomas von England und Gottfried von Straßburg. In: Ders.: Positivierung von Negativität. Letzte kleine Schriften. Tübingen 2008, S. 172– 186; vgl. auch Gertrud Grünkorn: Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200. Berlin 1994 (Philologische Studien und Quellen. 129).
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II Theoretische Rahmenziehung
selten Rücksicht genommen – nur langsam setzt sich durch, „[d]ass gerade die Geschichte der Erzählverfahren Anlass bieten könnte, ein differenzierteres Bild von der Bedeutung der rhetorischen Tradition zu entfalten.“²⁶³ Schon die antike Rhetorik entwirft ein ähnlich gelagertes Spannungsfeld aus Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, welches sie zusätzlich durch einen Rekurs auf Wirklichkeit ergänzt. Aristoteles skizziert in seiner Rhetorik bekanntlich rednerische Möglichkeiten, per Beispielerzählung zu überzeugen.²⁶⁴ Während Aristoteles dabei zwar auf verschiedene Register von Fiktionalität in den Erzählungen anspielt, diese aber nicht systematisiert, entwickelt die römische Rhetorik eine generische Trias faktualen bzw. fiktionalen Sprechens und Schreibens. Die Rhetorica ad Herennium gibt drei Möglichkeiten an, wie ein Sachverhalt, der auf Handlung beruht, dargelegt werden kann: historia als wirklich geschehenes – und damit wahres – Ereignis, argumentum als erfundene Erzählung, die sich aber nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit hätte ereignen können, und fabula als weder wahre noch wahrscheinliche Dichtung.²⁶⁵ In den Kontext der juridisch-politischen Rhetorik (der Auctor ad Herennium versteht die Darlegung des Sachverhalts als Hilfsmittel vor Gericht) werden somit Kategorien von narrativer Fiktionalität integriert und diese argumentativ ausgerichtet, denn stets geht es um das Überzeugen einer dritten Instanz (Richter, Volk, usw.). Diese pragmatischfunktionale Einbindung rekurriert auf diverse erzählerische Strategien, u. a. der evidentia: Rem ornatiorem facit, cum nullius rei nisi dignitatis causa sumitur; apertiorem, cum id, quod sit obscurius, magis dilucidum reddit; probabiliorem, cum magis veri similem facit; ante oculos ponit, cum exprimit omnia perspicue, ut res prope dicam manu temptari possit.²⁶⁶
Gleichzeitig verknüpft die Rhetorica ad Herennium die graduell abgestufte Trias der genera narrationis bereits mit poetischen Gattungen: fabula ist die Tragödie, historia die Historie, argumentum die Komödie. Die Gattungseinteilung qua Fiktionsgehalt ist somit schon in der Antike gegeben, aber stark zeitgenössischen Kontexten unter-
Hübner: evidentia (Anm. 71), S. 142. Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393a 22– 1394a 18). Vgl. auch Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), V, 11, 1– 21. Vgl. Rhetorica ad Herennium (Anm. 30), I, 8, 13; ähnlich Cicero: De Inventione (Anm. 13), I, 19, 27; zur antiken Rezeption vgl. Bloomer: Valerius Maximus & the Rhetoric of the New Nobility (Anm. 30), S. 1– 10. Rhetorica ad Herennium (Anm. 30), IV, 49, 62 (‚Es [= das Beispiel, M.S-D.] macht eine Sache geschmückter, wenn man es aus keinem anderen Grunde als um der würdigen Darstellung willen nimmt; offenkundiger, wenn es das, was zu dunkel ist, heller erscheinen läßt; glaubhafter, wenn es die Sache wahrscheinlicher macht; es stellt sie vor Augen, wenn es alles klar ausdrückt, so daß man die Sache sozusagen mit der Hand berühren kann.‘); vgl. allgemein zur Evidenz im Kontext einer rhetorisch ausgerichteten Narratologie Hübner: evidentia (Anm. 71); Matthias Bauer: Von Fall zu Fall. Die narratio zwischen Argumentationsprotasis und Poetik. In: Spielregeln barocker Prosa. Historische Konzepte und theoriefähige Texturen ‚ungebundener Rede‘ in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Thomas Althaus, Nicola Kaminski. Bern [u. a.] 2012 (Simpliciana. 7), S. 119 – 144, hier S. 120 – 123.
II.3 Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel
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worfen – schon für Isidor von Sevilla sind die fabulae nicht mehr Tragödie, sondern Komödie und (Tier‐)Fabel.²⁶⁷ Päivi Mehtonen hat detailliert gezeigt, wie mittelalterliche Leser die Einteilungen der Rhetorica ad Herennium sukzessive als poetische Gattungsexplikation interpretiert und aus dem primär rhetorischen Kontext gelöst haben: narratio poetica nennt man nun den Dreischritt aus fabula, historia und argumentum. ²⁶⁸ Fritz Peter Knapp hat eine ähnliche Rezeption bei Engelbert von Admont festgestellt, dessen Überlegungen sich laut Knapp auch auf volkssprachige Erzählungen erstrecken.²⁶⁹ Das Bedeutungsspektrum der drei Kategorien im Mittelalter im Einzelnen nachzuzeichnen würde je eine eigene Untersuchung voraussetzen (was zum Teil bereits erfolgt ist),²⁷⁰ hier sollen nur kurz grundlegende Tendenzen im Hinblick auf die folgenden Überlegungen zu volkssprachigen Erzählformen skizziert werden. Im von christlichen Leitideen durchzogenen Gattungsdiskurs des Mittelalters erweist sich das antike historia-Verständnis als besonders anknüpfungsfähig. Weniger als Geschichte per se denn als narrative bzw. hermeneutische Kategorie verstanden,²⁷¹ bieten die aus der wahren und wirklichen Heilsgeschichte herausgeschnittenen Erzählungen die Garantie, „daß in der Erkenntnis ontisch dasselbe konstituierende Moment wirksam und präsent ist, das die Dinge selbst zu dem macht, was sie sind, aristotelisch gesprochen: ihre Wesensform.“²⁷² Etwas einfacher formuliert: Wenn Natur und Geschichte, also die intelligible und erfahrene Wirklichkeit, wahr sind, da sie von Gott erschaffen wurden, dann ist auch die Erzählung von diesen Begebenheiten wahr, denn sie ist schlicht sprachliches Abbild der Wirklichkeit.²⁷³ Historia wird somit häufig als narratio rei gesta verstanden,²⁷⁴ was u. a. die Bibel, Bibel-Exzerpte
Vgl. Isidor von Sevilla: Etymologiarvm sive originvm libri XX. Recogn. brevique adnotatione critica instruxit W.M. Lindsay. Oxford 1911, I, XL; vgl. dazu auch Grünkorn: Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200 (Anm. 262), S. 42. Vgl. Mehtonen: Old Concepts and New Poetics (Anm. 30), S. 33 f. Vgl. Fritz Peter Knapp: Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik. In: Exempel und Exempelsammlungen (Anm. 2), S. 1– 22; sowie Fritz Peter Knapp: legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in ‚falschen‘ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus. In: Ders.: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Teil 2: Zehn neue Studien und ein Vorwort. Heidelberg 2005 (Schriften der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 35), S. 101– 130, hier S. 125. Für den Begriff historia vgl. etwa Joachim Knape: „Historie“ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext. Baden-Baden 1984 (Saecula spiritalia. 10); Arno Seifert: Historia im Mittelalter. In: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 226 – 284. Vgl. Knape: „Historie“ in Mittelalter und früher Neuzeit (Anm. 270), S. 91 f; Mehtonen: Old Concepts and New Poetics (Anm. 30), S. 65 f. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans (Anm. 255), S. 20. Vgl. Seifert: Historia im Mittelalter (Anm. 270), S. 228 f. Vgl. Isidor: Etymologiae (Anm. 267), I, XLI, 1: Historia est narratio rei gestae (‚historia ist eine Erzählung von Taten.‘). Die Übersetzungen der Etymologiae werden hier und im Folgenden zit. nach:
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II Theoretische Rahmenziehung
oder Legenden von Heiligen umfasst. Auch Erzählungen mit nicht-christlichen Figuren erhalten den Status einer wahren Erzählung, sofern sie sich in das Masternarrativ der Heilsgeschichte eingliedern lassen und im besten Fall moralische Aussagequalität gewinnen. Der Versuch, das kulturell bzw. religiös signifikante Archiv des liber historiarum ²⁷⁵ in eine allgemein intelligible Struktur zu überführen, spricht der narratio rei gesta einen deutlichen Wahrheitsgehalt zu, beruft sie sich doch auf die Autorität des Geschichtlichen. Der vom historischen Exempel offerierte analogische Transfer von der Sphäre der Erfahrung in die Sphäre eines aktuellen Diskurses²⁷⁶ ist somit stets von einem Geltungsanspruch geprägt, der sich auf eine feste Verankerung in der historia beruft. Konsequenterweise geht schon Quintilian davon aus, dass historische Exempel über diese Verweisfunktion eigene Erfahrungen des Individuums in der Lebenswelt ersetzen können, haben sie doch das kollektive Reservoir an narrativ aufbereiteten und historisch abgesicherten Erfahrungsregeln auf ihrer Seite.²⁷⁷ Problematischer für den Diskurs um Erzählformen ist die fabula als direkt ausgestellte Fiktion, die nicht nur keinen Wahrheitswert besitzt, sondern sich auch nach den Vorgaben der von Gott geordneten Welt (d. h. ihren Wahrscheinlichkeiten) nicht hätte zutragen können. Während der lateinisch gebildete Klerus nicht selten volkssprachiges Erzählgut unter den Generalverdacht stellt, fabula zu sein, und den Begriff damit von jedweder gattungs-spezifischen Verbindung freigibt, findet sich parallel dazu schon früh und durchgehend die Verbindung von fabula und der (Tier‐)fabel.²⁷⁸
Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Übers. und mit Anm. vers. von Lenelotte Möller. Wiesbaden 2008. Vgl. dazu auch: Grünkorn: Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200 (Anm. 262), S. 44. Vgl. von Moos: Das argumentative Exemplum und die „wächserne Nase“ der Autorität im Mittelalter (Anm. 69), S. 56. Vgl. Armand Strubel: Exemple, fable, parabole. Le récit bref figuré au Moyen Age. In: Le Moyen Age 4 (1988), S. 341– 361, hier S. 349: „un transfert analogique, du monde de l’expérience à celui du discours.“ Vgl. dazu auch: von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. 7. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), XII, 4, 2: sciat ergo quam plurima [gemeint sind viele exempla, M.S-D.] […] sed non est expectanda ultima aetas, cum studia praestent, ut, quantum ad cognitionem pertinet rerum, etiam praeteritis saeculis vixisse videamur (‚So soll man denn so viel Beispiele wie möglich kennen […] doch braucht man nicht erst bis zum hohen Alter zu warten, da es ja das Geschichtsstudium zuwege bringt, daß es scheint, man habe, was die Kenntnis der Ereignisse betrifft, auch die früheren Jahrhunderte selbst miterlebt.‘); vgl. dazu Gumbrecht: Menschliches Handeln und göttliche Kosmologie (Anm. 83), S. 893. Vgl. Udo Kindermann: Gattungensysteme im Mittelalter. In: Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Hrsg. von Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989, S. 303 – 313, hier S. 310. Teilweise finden sich auch Differenzierungen bzw. Überschneidungen mit dem Begriff apologus, so etwa bei Johannes de Garlandia: Parisiana poetria, 5.394– 397: Et notandum quod omnis appologus est fabula, sed non conuertitur. Est enim apologus sermo brutorum animalium ad nostram instructionem, ut in Auiano et in Esopo. Hier und im Folgenden zit. nach: The Parisiana poetria of John of Garland. Ed. with Introd., Transl., and Notes by Traugott Lawler. New Haven 1974 (Yale Studies in English. 182). Vgl. auch Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 48 – 85; Edward Wheatley: Mastering Aesop. Medieval Education, Chaucer, and his Followers. Gainesville, Fla 2000, S. 7– 51.
II.3 Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel
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Aufgefangen werden können die unwahren Erzählungen wiederum nur durch die Moral: Ad mores, ut apud Horatium mus loquitur muri et mustela vulpeculae, ut per narrationem fictam ad id quod agitur verax significatio referatur schreibt Isidor dazu,²⁷⁹ auch die Schule von Chartres entwirft mit der integumentum-Lehre einen ähnlich operierenden ‚Umweg‘, der Fiktionalität zugunsten einer höheren Wahrheit in Kauf nimmt.²⁸⁰ Nicht zuletzt die Praxis mittelalterlicher Erziehungssysteme beweist, dass die Fabel (speziell Avian-Sammlungen) zumindest in der rudimentären Bildung problemlos in den Kanon der Schullektüre integriert werden konnte.²⁸¹ Mit den Gleichnissen Jesu hingegen liegen dem Mittelalter Erzählungen vor, die sich zwar in einem der Wahrheit zugeschriebenen Text, der Bibel, finden, gleichzeitig jedoch von ihrem intradiegetischen Erzähler selbst als nicht-historisch – im Sinne von universell (homo quidam…) – gekennzeichnet werden. Sie dem (einerseits nicht geschehenen, andererseits aber als wahrscheinlich charakterisierten) argumentum zuzuordnen, liegt damit auf der Hand: res autem ficta alia est, quae fieri potuit et dicitur argumentum ut parabolae Evangelii,²⁸² schreibt etwa Dominicus Gundissalinus. En-
Isidor: Etymologiae (Anm. 267), I, XL, 6 (‚Auf die Sitten bezogen sind Fabeln, wenn bei Horaz die Maus zur Maus spricht und das Wiesel zum Füchslein, so dass durch die Handlung der erfundenen Erzählung eine wahre Aussage wiedergegeben wird.‘, Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla [Anm. 274]). Der Gedanke ist vielfach rezipiert worden, so etwa in der Mitte des 12. Jahrhunderts bei Dominicus Gundissalinus: De divisione philosophiae = Über die Einteilung der Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Hrsg., übers., eingel. und mit Anm. vers. von Alexander Fidora. Freiburg [u. a.] 2007 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters. 11), S. 126: Ad mores autem, ut fabulae Aviani vel Horatii, ubi mus muri vel mustela vulpeculae loquitur. […] Hoc enim totum ad mores fingitur, ut ad rem, quae intenditur, ficta quadam ratione, sed veraci significatione veniatur (‚Auf die Sitten aber beziehen sich beispielsweise die Märchen [besser: Fabeln, M.S-D.] des Avian oder Horaz, wo eine Maus mit einer anderen oder ein Wiesel mit einem Füchslein redet. […] All dies wird nämlich um der Sitten willen erfunden, damit man zu der Sache, die man anstrebt, durch eine bestimmte erfundene, aber der Bedeutung nach wahre Argumentation gelangt.‘). Vgl. zur integumentum-Lehre exemplarisch Seifert: Historia im Mittelalter (Anm. 270); Grünkorn: Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200 (Anm. 262), S. 49 – 55; sowie die Diskussion der Debatte zwischen Fritz Peter Knapp und Christoph Huber bei: Hans Jürgen Scheuer: Hermeneutik der Intransparenz. Die Parabel vom Sämann und den viererlei Äckern (Mt 13,1– 23) als Folie höfischen Erzählens bei Hartmann von Aue. In: Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten. Hrsg. von Steffen Martus, Andrea Polaschegg. Bern [u. a.] 2006 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. 13), S. 337– 359, hier S. 345 f. Vgl. dazu die breit angelegte Arbeit von Michael Baldzuhn: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der Fabulae Avians und der deutschen Disticha Catonis (2 Bde.). Berlin [u. a.] 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 44,1 + 2). Dominicus Gundissalinus: De divisione philosophiae (Anm. 279), S. 126 (‚Erfundene Gegenstände wiederum gibt es einmal solche, die geschehen hätten können, und dann spricht man von Argument, wie bei den Gleichnissen des Evangeliums.‘).
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II Theoretische Rahmenziehung
gelbert von Admont substituiert den Begriff argumentum in seiner Aufzählung der Gattungstrias direkt durch parabola und verweist ebenfalls auf die Gleichnisse Jesu.²⁸³ Es ist vielleicht die polyvalente Verwendung von argumentum, das auch in der mittelalterlichen Logik – verstanden eher im Sinne eines ‚Argumentes‘ – starke Beachtung findet, die dazu führt, dass das argumentum wesentlich deutlicher in den Kontext von theoretischen Überlegungen zur ‚Wahrscheinlichkeit‘ gestellt wird, als es für andere Erzählformen der Fall ist. Wahrscheinlichkeit, häufig als ‚konform zur consuetudo‘ verstanden²⁸⁴ – ein Vorgang ist dann wahrscheinlich, wenn er sich nahtlos in habitualisierte bzw. traditionale Handlungsabläufe eingliedert –, avanciert zum ubiquitären Signum des argumentum, das so zum Anknüpfungspunkt für topisch-rhetorische Überzeugungsstrategien wird.²⁸⁵ Bernhard von Utrecht stellt beide Perspektiven nebeneinander, wenn er schreibt: Argumentum vero est quodammodo res ficta, quae tamen fieri potest, ut in comediis; est enim aliquid quod diffinit Tullius dubiae rei fidem faciens. ²⁸⁶ Was hier stark reduziert als Konsens eines mittelalterlichen Gattungssystems beschrieben wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als höchst divergent. Vielfach überschlagen mittelalterliche Texte das argumentum und konzentrieren sich auf eine Opposition von fabula und historia, sprich Lüge und Wahrheit;²⁸⁷ die aristotelischen Lehren zur Wahrscheinlichkeit werden – wenn überhaupt – erst im Spätmittelalter rezipiert;²⁸⁸ und natürlich vollkommen ungeklärt bleibt der Einfluss, den diese scholastischen Überlegungen auf das breite Feld volkssprachiger Erzählformen hatten. Einblick in diese Problemfelder, die hier nicht weiter diskutiert werden sollen,
Vgl. Knapp: Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik (Anm. 269), S. 17; vgl. allgemein zur Verortung des Gleichnisses im Mittelalter: Bärbel Koch-Häbel: Unverfügbares Sprechen. Zur Intention und Geschichte des Gleichnisses. Münster 1993 (Literatur als Sprache. 10), S. 125 – 174. Koch-Häbel betont hier stark die Analogien zwischen dem Sprechen im Gleichnis und der Allegorese, eine rhetorische Kontextualisierung des Gleichnisses wird eher marginalisiert. Vgl. Methonen: Old Concepts and New Poetics (Anm. 30), S. 100. Vgl. Eugene Vance: From Topic to Tale. Logic and Narrativity in the Middle Ages. Minneapolis 1987 (Theory and History of Literature. 47), S. 14– 27, besonders S. 22 f. Bernhard von Utrecht: Commentum in Theodolum, S. 63, Z 139 – 141 (‚Das Gleichnis ist aber gewissermaßen eine erfundene Sache, die dennoch geschehen kann, wie in den Komödien. Es ist nämlich etwas, das Cicero definiert und das die zweifelhafte Sache glaubhaft macht.‘, Übersetzung M.S-D.). Hier zit. nach: Robert B.C. Huygens: Accessus ad auctores, Bernard DʼUtrecht, Conrad DʼHirsau: Dialogus super auctores. Ed. critique, entierement revue et augmentée. Leiden 1970, S. 55 – 69. Vgl. dazu auch Mehtonen: Old Concepts and New Poetics (Anm. 30), S. 63. Vgl. Mark Chinca: History, Fiction, Verisimilitude. Studies in the Poetics of Gottfriedʼs Tristan. London 1993 (Modern Humanities Research Association. 35), S. 100 – 104. Vgl. Fritz Peter Knapp: Sein oder Nichtsein. Erkenntnis, Sprache, Geschichte, Dichtung und Fiktion im Hochmittelalter. In: Ders.: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Teil 2 (Anm. 269), S. 225 – 256, hier S. 243 f.; James Murphy: Aristotleʼs rhetoric in the Middle Ages. In: Quarterly Journal of Speech 52 (1966), H. 2, S. 109 – 115; von Moos: Rhetorik, Dialektik und civilis scientia im Hochmittelalter (Anm. 221); vgl. zur Überlieferung Bernd Schneider: Die mittelalterlichen griechisch-lateinischen Übersetzungen der Aristotelischen Rhetorik. Berlin [u. a.] 1971 (Peripatoi. 2).
II.3 Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel
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offerieren die Arbeiten Fritz Peter Knapps.²⁸⁹ Festzuhalten bleibt der Verweis auf eine zwar im Detail uneinheitliche, aber doch immer wieder diskutierte Gattungstrias (die genera narrationis), die Erzählungen nach ihrem Wahrheitsgehalt differenziert und ihnen zudem Anspruch auf Wahrscheinlichkeit (und damit allgemeinen Aussagen) zuspricht: historia und argumentum aufgrund des von ihnen aufgegriffenen Geschehens, fabula aufgrund ihrer moralischen Intention. Bemerkenswert sind zudem die auftretenden Querverbindungen zu exemplarischen Kurzerzählungen: fabula im Kontext der Tierfabel, argumentum als Gleichnis, historia verstanden als historisches Exempel. Diese idealtypische Ausformung lässt sich naturgemäß in mittelalterlicher Schreibpraxis nur noch in Tendenzen nachweisen. So orientieren sich etwa die lateinischen exempla größtenteils am Konzept der historia, da sie denkwürdige Erzählungen aus der (Heils‐)Geschichte offerieren, doch finden sich in Exempelsammlungen ebenso Fabeln oder Gleichnisse, ohne dass dies von den Sammlungen kommentiert oder problematisiert wird. Die Gesta Romanorum bieten ein gutes Beispiel für eine scheinbar willkürlich zusammengestellte Kompilation aus antiken und mittelalterlichen Exempeln, Fabeln, Gleichnissen und Legenden, die alle als exempla fungieren. Auch Aristoteles fasst in der Rhetorik unter parádeigma zusammen, was erst später ausdifferenziert wird: Fabel, Gleichnis und die Erzählung von früher geschehenen Dingen.²⁹⁰ Diese funktionale, rhetorische Einbindung bleibt grundsätzlich auch in weiten Teilen des – der Fiktion eher kritisch gegenüberstehenden – mittelalterlichen Diskurses für alle drei Erzählformen gültig, wird aber in der Regel durch den Verweis auf moralische Inanspruchnahme ergänzt: In fabula vero et argumento quamvis ficta habetur narratio hortantur tamen ad contemptum vitiorum et appetitum
Vgl. etwa Knapp: Sein oder Nichtsein (Anm. 288); Knapp: Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik (Anm. 269); Fritz Peter Knapp: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter. In: Ders.: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Heidelberg 1997, S. 9 – 64; Fritz Peter Knapp: Von der antiken Fabel zum lateinischen Tierepos des Mittelalters. In: La fable. 8 exposés suivis de discussions. Hrsg. von Francisco Rodriguez Adrados. Genève 1984 (Entretiens sur l’antiquité classique. 30), S. 253 – 306. Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393a 22– 1394a 18). Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Aristotelesʼ Definition des ‚Gleichnis‘ eher im Sinne eines ‚Vergleiches‘ zu verstehen ist und nicht notwendigerweise eine Erzählung im Sinne eines Gleichnisses impliziert. Dass aber gerade der Rhetor auch neben historischen auch erfundene Beispiele nutzen solle, findet sich bei Cicero: Topica, X.45: Quae commemoratio exemplorum valuit eaque vos in respondendo uti multum soletis. ficta etiam exempla similitudinis habent vim; sed ea oratoria magis sunt quam vestra (‚Diese Erwähnung von Beispielen tat in diesem Falle ihre Wirkung, und ihr [Juristen] pflegt bei euren Rechtsauskünften davon viel Gebrauch zu machen. Sogar erfundene Analogiefälle machen Eindruck; doch sind das mehr die Praktiken von Rednern als die von euch [Rechtsgelehrten]‘). Text und Übersetzung hier und im Folgenden zit. nach: Marcus Tullius Cicero: Topica. Die Kunst, richtig zu argumentieren. Lateinisch – Deutsch. Hrsg., übers. u. erl. von Karl Bayer. München [u. a.] 1993 (Sammlung Tusculum); ähnliches bei Boethius: De differentiis topicis (Anm. 6), IV.
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II Theoretische Rahmenziehung
virtutum. Expellit itaque poesis vitium et informat virtutem tum per historiam, tum per fabulam, tum per argumentum, schreibt Radulf von Longchamp.²⁹¹ Antike wie Mittelalter entwerfen somit Erzählkonzepte, die zwar nicht deckungsgleich sind, die aber beide exemplarischen Kurzformen eine rhetorische Funktion zugestehen: das Überzeugen durch Erzählen, das Lösen einer unsicheren Situation durch eine (das Wahrscheinliche imaginierende) Narration, das narrative Aufführen eines Einzelfalls, der einen Ausblick auf das Allgemeine impliziert und dieses illustrieren oder präskribieren kann. Das antike rhetorische Funktionsspektrum wirkt unter einer modifizierten Oberfläche kontinuierlich weiter. Wenn Fabel, Gleichnis und historisches Exempel – verstanden als unterscheidbare Erzählformen – im Wesentlichen Forschungskonstruktionen darstellen, stellt sich berechtigterweise die Frage nach dem heuristischen Nutzen dieser Trias. Denn einmal davon abgesehen, dass sich Gattungskonzepte generell als ein Produkt von spezifischen Lektürevorgängen und institutionalisierten Verständnisrahmen verstehen lassen,²⁹² ist es zudem für die in Kapitel II.1 skizzierten erzähltheoretischen Zugänge zur exemplarischen Kurzerzählung relativ unerheblich, ob nun eine Kurzerzählung des Typus ‚Fabel‘ oder des Typus ‚Gleichnis‘ vorliegt. Schon Boccaccio formuliert im Prolog des Decameron leicht ironisierend, er werde nun 100 Geschichten erzählen, gleich ob man sie Fabel, Gleichnis oder Historie nennen wolle (intendo di raccontare cento novelle, o favole o parabole o istorie che dire le vogliamo).²⁹³ Letztlich fungieren die drei Erzählformen Fabel, Gleichnis, historisches Exempel in dieser Arbeit daher weniger als fest umrissene Gattungsterminologie, denn als Spiegel der anfangs betonten divergierenden Wahrheits- und Wirklichkeitsvorstellungen: Verfolgt man Kurzerzählungen in unterschiedlichen Kontexten, zeigt sich, dass prinzipiell stoffgleiche Erzählungen auf einem divergierenden Wahrheitsverständnis beruhen können. Erzählungen, in denen Tiere miteinander sprechen, werden im Kontext einer Chronik wieder aufgegriffen, doch bleiben die Tiere dort stumm oder werden durch menschliche Figuren ersetzt und somit einer Rationalisierung unterworfen (d. h. von der Fabel zum Gleichnis). Im monastischen Kontext angefertigte Erzählungen weisen häufig Angaben zu vergangenem Zeitpunkt und Ort ihres Geschehens auf, während sich stoffgleiche Erzählungen im Bereich der Laiendidaxe als überzeitlich gültige,
Radulf von Longchamp: In Anticlaudianum Alani commentum, Capitula distinctionis primae, XXXV (Quid sit Poesis et quot eius species?). (‚Obwohl man in einer fabula und in einem argumentum eine erfundene Erzählung hat, ermahnen sie doch zur Verachtung der Laster und zum Verlangen nach den Tugenden. Die Dichtung verbannt daher das Laster und formt Tugend bald über die historia, bald über die fabula und bald über das argumentum.‘, Übersetzung M.S-D.). Hier zit. nach: Radulphus de Longo Campo: In Anticlaudianum Alani commentum. Ed. princeps ex codice Scorialensi necnon sex aliis extantibus introd. et notis adiectis rec. Jan Sulowski.Wrocław [u. a.] 1972 (Źrodła do dziejów nauki i techniki. 13). Vgl. dazu auch Mehtonen: Old Concepts and New Poetics (Anm. 30), S. 87. Vgl. Matthias Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart 1993, S. 7. Zit. nach Knapp: Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik (Anm. 269), S. 22.
II.3 Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel
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aber nicht auf historische Ereignisse rekurrierende Narrationen präsentieren (d. h. vom historischen Exempel zum Gleichnis). Diese wechselnden Konzepte auch begrifflich einzufangen, ist die Idee hinter der Einführung der genannten Erzählformen, die zwar anachronistisch sein mögen, jedoch in rhetorischen Vorstellungswelten gründen.
II.3.2 Exemplarische Kurzerzählungen und bîspel – Perspektiven der Forschung Die eingeführte Trias des exemplarischen Erzählens offeriert gegenüber der mittelalterlichen Gattungstypologie den Nutzen einer klaren Distinktion, die hier heuristisch fruchtbar gemacht werden soll. Dennoch sollen mittelalterliche Besonderheiten, wie etwa das (scheinbar) willkürliche Zusammenstellen unterschiedlicher Kurzerzählungen unter dem Oberbegriff exemplum in lateinischen Sammlungen und unter bîspel im volkssprachigen Bereich, nicht unberücksichtigt bleiben. Zudem stellt das Mittelalter ein breites Spektrum an eigenen Begrifflichkeiten parat, deren Uneinheitlichkeit jedoch eine feste Definition erschwert: Für die Fabel apologus, fabula, fabella, exemplum im Lateinischen, bîspel und fabel im volkssprachigen Raum; für das Gleichnis argumentum, parabola, similitudo, exemplum im Lateinischen, glîchnis, bilde, bîspel im volkssprachigen; für das historische Exempel historia und exemplum im Lateinischen, bîspel und bilde in volkssprachigen Texten.²⁹⁴ Nicht zuletzt aufgrund dieser ubiquitären Besetzung des Begriffes Bîspel (bî-spel: Bei-/Neben-Erzählung) hat sich dieser in der Forschung als Bezeichnung einer kurzen, in Reimpaarversen geschriebenen, lehrhaften Erzählung durchgesetzt, die sich aus einem (knapp gehaltenen) Erzählteil im Präteritum und einem längeren Epimythion im Präsens zusammensetzt.²⁹⁵ Diese – mehr oder weniger scharfe – begriffliche Eingrenzung ist natürlich als Idealmodell selbst Forschungskonstruktion.²⁹⁶ Die Liste ließe sich bei ausgeweiterter Suche leicht fortsetzen. Vgl. bspw. de Boor: Über Fabel und Bîspel (Anm. 2); Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen. München 1985 (MTU. 87); Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchges. und erw. Aufl. besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983. Das Bîspel wurde dabei v. a. in Abgrenzung zum Märe, gleichsam ex negativo definiert. Während Hanns Fischer entscheidende Gattungsdifferenzen vor allem in der Länge des Erzählteils (Bîspel weniger als 90 – 100 Verse im Erzählteil, Märe zwischen 150 und 2000 Verse) bestimmte (vgl. Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung [Anm. 295], S. 61– 63), haben sich im Anschluss stärker narratologisch ausgerichtete Zugänge durchgesetzt. Hans-Joachim Ziegeler hat, gestützt durch detaillierte Einzelanalysen, die These vertreten, dass das Bîspel einen allgemeinen Fall schildere, der in der Erzählung die Anwendung einer Regel imaginiere und so gewissermaßen auf eine analoge Situation in der offenen Zukunft ziele. Das Märe hingegen, so Ziegeler, sei durch Zugewinn an Informationen nicht mehr direkt in die Wirklichkeit übertragbar und lasse sich somit weniger als allgemeiner denn als Einzelfall verstehen. Vgl. Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter (Anm. 295), S. 97– 122. Vgl. Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Ein Handbuch. Berlin [u. a.] 2012, S. 135.
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II Theoretische Rahmenziehung
Franz-Josef Holznagel hat wohl auch deswegen in einer Reihe an Publikationen versucht,²⁹⁷ den Bîspel-Begriff aus einer spezifischen Funktionsform des Übertragens abzuleiten. Holznagel unterscheidet zwischen den beiden „Denkoperationen“²⁹⁸ ‚Generalisierung‘ und ‚Analogisierung‘, wobei ‚Generalisierung‘ hier die Verallgemeinerung eines Einzelfalls²⁹⁹ und ‚Analogisierung‘ den Transfer zwischen zwei „Wirklichkeitssphäre[n]“³⁰⁰ meint. Ein Bîspel zeichne sich dann dadurch aus, dass es beide Argumentationsformen vereint, d. h. sowohl eine ‚Generalisierung‘ der Verserzählung wie auch einen Vergleich zwischen zwei „Wirklichkeitsbereiche[n]“³⁰¹. Obwohl Holznagel dies nicht näher ausführt, stehen somit auch bei ihm Relationen zwischen Besonderem und Allgemeinen (also etwa Einzelfall und Regel) im Fokus seiner Überlegungen zu exemplarischen Kurzerzählungen bzw. Bîspeln. Holznagels Thesen sind anregend, jedoch aus argumentationstheoretischer Perspektive teils ein wenig kurzgreifend, wie etwa der Terminus der ‚Generalisierung‘: Entscheidend für eine Distinktion ist nicht, dass generalisiert wird, sondern wie – mithin die in Kapitel II.1.3 vorgestellten Kategorien von Ähnlichkeit und Analogie (wobei letztere dort leicht abweichend zu Holznagel definiert ist). Dennoch ist Holznagels Überlegungen der abermalige Verweis auf Mischformen des Narrativen und Diskursiven zu verdanken. Die auf Hanns Fischer zurückgehende³⁰² und von Holznagel aufgegriffene Idee, bei totaler Reduktion des Narrativen von ‚Rede‘ (also je nach Erzählform ‚Gleichnisrede‘, ‚Fabelrede‘ etc.) zu sprechen, wird im Folgenden übernommen. Problematisch für eine dezidiert rhetorische Perspektive ist jedoch die Definition des Bîspels aufgrund von Argumentationsformen (Generalisierung/Analogisierung) einerseits, wie von formalen Kategorien (vierhebiger Reimpaarvers) andererseits, obwohl beide in keinem Zusammenhang stehen. An dieser Stelle offeriert der Fokus auf Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis der jeweiligen Erzählung nicht nur die Möglichkeit, Erzählformen zu explizieren, die rhetorisch grundiert sind (Fabel, Gleichnis, historisches Exempel), als dieser Hintergrund auch den Konnex zwischen Erzähl- und Argumentationsform schließt. Die in dieser Arbeit durchgeführte Marginalisierung des Bîspel-Begriffs (und damit die Ausweitung der Analyse über volkssprachige Erzählungen in vierhebigem Reimpaarvers hinaus) mag zu einer Aufweichung des Quellenkorpus führen, zeigt aber die Universalität rhetorischer Argumentation, die nicht an Kategorien wie ‚Reimpaarvers‘ gebunden ist. Damit öffnet
Vgl. bspw. Holznagel: Verserzählung – Rede – Bîspel (Anm. 39); Holznagel: Der Weg vom Bekannten zum weniger Bekannten (Anm. 39); Holznagel: Gezähmte Fiktionalität (Anm. 25). Holznagel: Verserzählung – Rede – Bîspel (Anm. 39), S. 296. Holznagel spricht – etwas missverständlich – immer von einem „Kasus“ bzw. „Einzelkasus“. Da der Terminus ‚Kasus‘ in dieser Arbeit jedoch im Sinne Jollesʼ verwendet wird, ist Holznagels Begriff des ‚Kasus‘ hier durch ‚Fall‘ ersetzt. Vgl. ebd., S. 297; vgl. Jolles: Einfache Formen (Anm. 2), S. 171– 199. Holznagel: Verserzählung – Rede – Bîspel (Anm. 39), S. 296. Ebd., S. 297. Vgl. Hanns Fischer: Strickerstudien. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 13. Jahrhunderts, Diss. München 1953.
II.3 Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel
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sich die Perspektive auf die lange vernachlässigten volkssprachigen Kurzerzählungen in Prosa³⁰³ wie auch der Vergleich zu lateinischen Exempelsammlungen. Es interessiert somit hier nicht, ob in einer Erzählung formale (Reimpaarvers) und argumentative Techniken zusammenkommen, sondern inwiefern Rhetorik und Poetik in der exemplarischen Kurzerzählung je neu interagieren (vgl. auch Kapitel II.1.4). So hat etwa Udo Friedrich darauf aufmerksam gemacht, Rhetorik nicht nur als Form der funktionalen Einbindung von Kurzerzählungen zu verstehen, sondern ebenso als Generator für literarische Erzählstrategien.³⁰⁴ Konsequenterweise bedeutet der rhetorische Blick für Friedrich zwar auch die Frage nach der Textfunktion, ebenso aber die Frage nach literarischen Schemata, über die sich die Kurzerzählung erst situationsspezifisch konstituiert: vom eher demonstrativen Exempelerzählen zur kasushaften Problematisierung.³⁰⁵ Es sei abschließend und gleichzeitig mit Blick auf das folgende Kapitel noch auf einen Ansatz der Bîspel-Forschung hingewiesen, der die Übertragung zwischen Erzähl- und Auslegungsebene im Bîspel in die Nähe der Metapher gestellt hat.³⁰⁶ Rückgreifend auf Interaktionstheorien zur Metapher hat man versucht, den semantischen Transfer, den Metapher wie Bîspel fordern, als Teil einer Argumentationsstrategie zu verzeichnen, die den Rezipienten des Bîspels in der prinzipiellen Offenheit der Erzählung nur eine spezifische Lehre erkennen lässt³⁰⁷ – und zwar so, dass diese Lehre gleichsam natürlich an die Erzählung gebunden wird. Gleichzeitig wurde auf Bîspel hingewiesen, in denen sich die metaphorische Transferbewegung aufgrund fehlender Referenzen selbst dekonstruiert.³⁰⁸ Diese ersten Ansätze zur Rolle der Metapher in exemplarischen Kurzerzählungen sollen im Folgenden sowohl in poetischer wie rhetorischer Perspektive aufgegriffen und neu fundiert werden.
Für eine neuere Arbeit, die sich Kurzerzählungen in Prosa widmet, vgl. Monika Studer: Exempla im Kontext. Studien zu deutschen Prosaexempla des Spätmittelalters und zu einer Handschrift der Strassburger Reuerinnen. Berlin [u. a.] 2013 (Kulturtopographie des alemannischen Raums. 6). Vgl. Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen (Anm. 32), S. 229. Vgl. ebd., S. 248; vgl. Udo Friedrich: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber, Christopher Young. Berlin 2006 (Beihefte zur ZfdPh. 13), S. 48 – 75. Vgl. Mohr: Verselbständigte Metaphorik (Anm. 25); Holznagel: Inszenierte Vergleiche und metaphorisches Verstehen (Anm. 25); Holznagel: Gezähmte Fiktionalität (Anm. 25), S. 54– 58; mit Bezug auf den Stricker auch: Ralf-Henning Steinmetz: Fiktionalitätstypen in der mittelalterlichen Epik. Überlegungen am Beispiel der Werke des Strickers. In: Die Kleinepik des Strickers (Anm. 25), S. 79 – 95, hier S. 94 f. Vgl. Holznagel: Gezähmte Fiktionalität (Anm. 25), S. 56 f. Vgl. Mohr: Verselbständigte Metaphorik (Anm. 25).
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II Theoretische Rahmenziehung
II.3.3 Metapher und exemplarische Kurzerzählung Die oben angesprochene Bîspel-Forschung hat den Konnex zwischen Erzählen und Metapher vor allem aus der Relation zwischen narratio und Epimythion abgeleitet: Die Auslegung des narrativen Gehaltes gebe der ‚Erzählebene‘ des Bîspels einen metaphorischen Gehalt, neben dem ‚wörtlichen‘ somit auch einen ‚übertragenen Sinn‘. Dass ein Epimythion zwangsläufig eine Übertragungsleistung fordert, ist zweifellos richtig. Umgekehrt ließe sich aber auch fragen, inwieweit eine Erzählung überhaupt auf eine dezidierte Auslegung angewiesen ist, um metaphorisch gelesen zu werden – so scheint etwa die Fabel bereits aufgrund ihrer deutlich herausgestellten Fiktionalitätssignale anzuzeigen, dass sie noch eines semantischen Transfers bedarf, und nähert sich damit auch ohne explizites Epimythion der Metapher an. Gleichzeitig impliziert eine etwaige Nähe zwischen exemplarischer Kurzerzählung und Metapher Konsequenzen aus rhetorischer Perspektive: Die Metapher ist wie das parádeigma im aristotelischen Sinne Überzeugungs- und Erkenntnisinstrument.³⁰⁹ Kapitel II.1.3 hat gezeigt, dass die exemplarische Kurzerzählung (wie die Metapher) auf Ähnlichkeits- wie Analogiebildung fußt und so das Besondere mit dem Besonderen verbinden kann.³¹⁰ Doch auch über strukturelle Parallelen hinaus scheinen Metapher und exemplarische Erzählung einen vergleichbaren Platz im rhetorischen Kanon zu besetzen, schlägt sich doch die Potenz der Metapher, Identität und Differenz zugleich zu postulieren, auch im Verwendungsrahmen der exemplarischen Kurzerzählung nieder. Schon die Antike kennt Kritik an Letzterer, insofern sie als „ein durchaus zweischneidiges Schwert [galt]; man wußte, daß es nicht nur Beispiele, sondern auch Gegenbeispiele gibt.“³¹¹ Metapher wie exemplarische Kurzerzählung sind Figuren der Ambiguität, die sich nicht an logischen Wahrheiten, sondern rhetorischen Wahrscheinlichkeiten ausrichten und je nach persuasiver Notwendigkeit unterschiedlich argumentieren können. Müsste man nun also konsequenterweise von einem metaphorischen anstelle eines exemplarischen Erzählens sprechen? Oder ist das exemplarische Erzählen auch eine Form jenes ‚metonymischen Erzählens‘, das Harald Haferland und Armin Schulz vor einigen Jahren skizziert haben?³¹² Wenn auch der ‚Metonymie‘-Begriff von Haferland/Schulz eher in der Metapher denn in der klassischen Metonymie begründet liegt,³¹³ so zielen ihre Überlegungen doch auf ein mythisches Symbolverständnis im
Vgl. Pethes, Ruchatz, Willer: Zur Systematik des Beispiels (Anm. 5), S. 9. Vgl. Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (Anm. 24), S. 91. Manfred Fuhrmann: Das Exemplum in der antiken Rhetorik. In: Geschichte. Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 449 – 452, hier S. 451; vgl. dazu auch Pethes, Ruchatz, Willer: Zur Systematik des Beispiels (Anm. 5), S. 13. Vgl. Harald Haferland, Armin Schulz: Metonymisches Erzählen. In: DVjs 84 (2010), S. 3 – 43. Vgl. Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 243.
II.3 Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel
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Sinne Ernst Cassirers,³¹⁴ das zeigt, wie vormoderne Texte über Wiederholungen Bedeutsamkeit suggerieren – eine narratologische Perspektive, die sich in erster Linie für Semantiken interessiert, nicht für rhetorische Überzeugungsleistung. Ob nun aber die hier skizzierten Gemeinsamkeiten zwischen metaphorischer Übertragung und exemplarischer Erzählung den Terminus ‚metaphorisches Erzählen‘ rechtfertigen, bleibt letztlich eine Frage nach der Reichweite von Begrifflichkeiten. Es ist jedoch weniger Intention dieser Arbeit, dem bereits übervollen Fundus germanistischer Fachtermini einen weiteren hinzuzufügen, als aufzuzeigen, welche Möglichkeiten dem Erzählen in rhetorischer Perspektive zukommen können – gleich, wie man dies bezeichnen mag. Hans Blumenberg versteht in seinen späteren Arbeiten die Metapher nicht mehr bloß als „Vorfeld der Begriffsbildung, als Behelf in der noch nicht konsolidierten Situation von Fachsprachen“, sondern zudem als „authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen.“³¹⁵ Diese Funktion übernimmt auch die exemplarische Kurzerzählung, indem sie jenseits von subjektiven Erfahrungsräumen erzählt, aber doch die Rückführung in die Lebenswelt propagiert: „Lebensweltlich muß es immer schon Rückübertragungsverhältnisse der Anschauung gegeben haben, damit die Forcierung des Bewußtseins durch die Metapher ertragen werden konnte.“³¹⁶ Das exemplarische Erzählen projiziert paradigmatische Konfliktkonstellationen aus dem Koordinatensystem menschlichen Handelns – Stark gegen Schwach, Natur gegen Erziehung, Weisheit gegen Macht, usw. – in eine Erzählsituation, deren Figuren sich aus der Geschichte (hist. Exempel), der Tierwelt (Fabel) oder der Gesellschaft (Gleichnis) ergeben. Wo das begriffliche Argumentieren Problemfälle direkt aufbereitet und sprachlich festlegt, verhandeln exemplarische Erzählungen Konflikte und Aporien indirekt, indem sie diese in einen neuen Kontext übertragen. Deutlich kristallisiert sich so heraus, dass die rhetorische Ausrichtung einer Erzählung nicht zwangsläufig in konzeptuellen Paradoxien enden muss: Selbst bei kleinen und kleinsten Formen des exemplarischen Erzählens determiniert die funktionelle Einbindung den narrativen Gehalt, absorbiert ihn aber nicht vollständig. Ganz im Gegenteil erweist sich mitunter gerade ein rhetorischer Impetus als eigentliches Reservoir für Reflexionspunkte und Spielfelder kultureller Diskurse. Aufgabe des Rezipienten bleibt es, diesen Zusammenhang herzustellen, denn gegenüber direkter Begrifflichlichkeit erhebt die exemplarische Kurzerzählung den Anspruch, Problemfälle über die exemplarisch-bildliche Aufbereitung nur indirekt zu verhandeln.
Auch Kropik verortet das metonymische Modell Haferlands stärker im mythischen Denken, vgl. Cordula Kropik: Metonymie und Vormoderne. Zur kulturgeschichtlichen Verortung einer Denkfigur. In: Poetica 44 (2012), S. 81– 112. Sie plädiert dafür, eine metonymische Form nicht als a priori vormodern zu begreifen, sondern zu fragen, welche spezifischen metonymischen Denkweisen sich in der mittelalterlichen Kultur herausbilden. Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit (Anm. 22), S. 77. Ebd., S. 79. Als ein Beispiel für diese „Rückübertragungsverhältnisse der Anschauung“ lässt sich etwa das Enthymem verstehen, vgl. Villwock: Mythos und Rhetorik (Anm. 6).
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Kapitel II.2 hat dieses rhetorische Schlussverfahren auch in der Funktionsweise der Metapher skizziert. Relativ eindeutig lassen sich hier die von Ricœur so betonten rhetorischen (Überzeugung) und poetischen (Weltaneignung) Funktionen der Metapher in den vorgeschlagenen Analyse-Rahmen einbeziehen. Doch noch stärker als von Ricœur herausgearbeitet, fungiert die exemplarische Kurzerzählung als Mittel der Persuasion, der Überredung qua Beispielpräsentation. Als Funktionsinstrument der ‚narrativen Argumentation‘ lässt sich in vielen Erzählungen der Rückbezug auf kulturelle Grundüberzeugungen identifizieren. Die in den Dialogen der Tiere in der Fabel und der menschlichen Figuren der Gleichnisse und Exempel angeführten Argumente und Sprichworte werden in der Regel aus dem Speicher des Common Sense gezogen. Dieser aber, verstanden als kollektives Gedächtnis für bildlich abgespeicherte Erfahrung,³¹⁷ ist auch Reservoir der Metapher. Argumentativ verfahren Erzählung und Metapher nicht über den ‚klassischen‘ Gang der deduktiven Beweisführung, sondern indem sie anhand des Common Sense den Anspruch aufstellen, ein zwar unmethodisches, aber doch richtiges, da in der Natur der Dinge liegendes Wissen zu präsentieren.³¹⁸ Wo der Common Sense aber bestrebt ist, über Techniken der Pragmatik die Welt als eindeutig zu gestalten,³¹⁹ können sich im exemplarischen Erzählen (je nach Grad der Differenzierung) innovative Verknüpfungen zwischen Lebenswelt und Erzählwelt abbilden – eben dies hat Ricœur ja in der Formulierung ‚Neu-Beschreibung der Wirklichkeit‘ zu fassen gesucht. Zwar entwickelt die Erzählung, wenn sie in der Kultur habitualisiert ist und auf gesellschaftlich akzeptierte Ähnlichkeiten verweist (wie etwa Wolf = böse; Schaf = unschuldig; usw.) ein enormes Wirkungspotenzial,³²⁰ doch kann sie diese ebenso archivierende wie stagnierende Funktion auch über eine Störung des Sprachspiels, über analoge Verknüpfungen, die nicht-etablierte Verstehensperspektiven nachzeichnen, überwinden. So betont etwa Lessing in seiner Fabeltheorie den Variantenreichtum der Kurzerzählform Fabel, die über das innovative Zusammensetzen konventioneller Figuren „zum Reflexionsmedium neuer moralischer Probleme“³²¹ werden kann. Inwieweit die exemplarische Kurzerzählung diese (für den Aufklärer Lessing selbstverständliche) ‚Reflexion‘ bereits im Mittelalter leistet, wird im Lauf der Arbeit zu eruieren sein. Hier kann in einem ersten Schritt festgehalten werden, dass sich konventionelle und innovative Funktionen von Metapher und Erzählung nicht
Vgl. Friedrich: Historische Metaphorologie (Anm. 24), S. 183. Vgl. dazu Geertz: Common sense als kulturelles System (Anm. 23), S. 277: „Der common sense präsentiert die Dinge […] so, als läge das, was sie sind, einfach in der Natur der Dinge.“; vgl. auch Pethes, Ruchatz, Willer: Zur Systematik des Beispiels (Anm. 5), S. 13 f. Vgl. Geertz: Common sense als kulturelles System (Anm. 23), S. 267. Vgl. Daniel Fulda, Stefan Matuschek: Literarische Formen in anderen Diskursformationen. Philosophie und Geschichtsschreibung. In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Simone Winko. Berlin [u. a.] 2009, S. 188 – 219, hier S. 195. So Fulda und Matuschek über Lessings Fabelkonzeption: Ebd., S. 194.
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ausschließen, sondern erst in der Kombination ihren vollen Wirkungsraum verdeutlichen. Markus Buntfuß hat in einer größer angelegten Studie diesen Synergieeffekt für die Metapher beschrieben: „Vielmehr erfährt die heuristische Funktion der lebendigen Metapher eine Ergänzung durch die quasi-topische Gebrauchsfunktion der konzeptuellen Metapher.“³²² Was sich bei Buntfuß als Spannungsfeld zwischen innovativer und konventioneller Leistung der Metapher herauskristallisiert, wurde in Kapitel II.1 bereits als divergierende Funktionen des exemplarischen Erzählens identifiziert: Kurzerzählungen schwanken zwischen Normbestätigung und Normreflexion. Beide theoretischen Zugriffe verweisen letztlich auf das gleiche Phänomen. Je nach Kontext können exemplarische Kurzerzählung wie Metapher topische Inhalte aufgreifen, um über einen habitualisierten Ähnlichkeitsvergleich zu argumentieren, oder sie implizieren qua Analogieführung eine neue Erkenntnis. Dahinter steht die Frage nach dem Überzeugungswert von Kurzerzählung und Metapher, denn Ähnlichkeit und Analogie stehen für zwei konträr laufende Erkenntnismöglichkeiten: Wird mit einem Instrumentarium operiert, das auf kulturell verwurzelte Bilder der Gemeinsamkeit verweist (Ähnlichkeit), oder werden neue Verbindungen kreiert, indem zwei nicht über Kontiguität verbundene Begriffe zusammengeführt werden (Analogie)? Die erste Annahme ließe sich umformulieren zu einer These, die Kurzerzählungen vor allem als Archiv tradierter Bilder und kultureller Überzeugungen auffasst. Wenn die Metapher im Wesentlichen dazu dient, Ähnlichkeiten anzuzeigen und diese spezielle Gemeinsamkeit im kulturellen Gedächtnis zu zementieren (der listige Fuchs usw.), kann die exemplarische Kurzerzählung als Speichermedium mittelalterlicher Vorstellungswelten verstanden werden. Die zweite Betrachtungsweise steht dem hingegen diametral entgegen. Anstatt etablierte Vorstellungswelten des kulturellen Gedächtnisses zu reproduzieren, zeigt die Analogie neue Gestaltungsmöglichkeiten im ordo auf. Ihren Mehrwert erhält die exemplarische Kurzerzählung dadurch, dass sie dort Verbindungen kreiert, wo in den Dingen selbst (noch) keine Ähnlichkeit existiert. Dass durchaus beide Perspektiven als zutreffend gewertet werden können, liegt nur zum Teil an der Heterogenität einer so weiten Gattung wie der ‚exemplarischen Kurzerzählung‘, sondern in erster Linie auch an der Vielschichtigkeit rhetorischen Sprechens, das logische Eindeutigkeit durch Mehrdeutigkeit substituiert – eine Mehrdeutigkeit, die bereits in der metaphorischen Übertragung verankert ist.
II.3.3.1 Fabel, Gleichnis und historisches Exempel als ‚Metapher‘ Die oben diskutierten Verbindungen zwischen exemplarischem Erzählen und der Metapher suggerieren eine Geschlossenheit des Exemplarischen, die sich der Vielfalt an Erzählformen widersetzt. Die hier untersuchten genera narrationis (Fabel, Gleichnis, historisches Exempel) bilden je eigene Verbindungen zur Metapher, die im Fol-
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II Theoretische Rahmenziehung
genden ansatzweise skizziert werden. Zu fragen ist somit einerseits nach der spezifischen Erzählweise von Fabel, Gleichnis und historischem Exempel wie auch andererseits nach der Nähe zur Metapher. Zur Fabel: Eine exakte Definition der Erzählform ‚Fabel‘ zu formulieren, ohne sich in wenig zielführende Gattungsdiskussionen zu verstricken, erscheint problematisch. Bisherige Vorschläge vermeiden größtenteils dieses Problem, indem sie die Fabel in erster Linie über ihre Wirkungsweise herleiten. Am bekanntesten dürfte hier wohl Lessings Fabelbegriff sein, der zwischen ‚einfachen‘ und ‚zusammengesetzten‘ Fabeln unterscheidet, wobei erstere auf eine „allgemeine Wahrheit“ verweisen, während sich letztere auf einen „wirklich geschehenen Fall“ anwenden lassen.³²³ „Endzweck“ der Fabel bleibt dabei jedoch für Lessing – der damit ganz im Sinn der Aufklärung argumentiert – der „moralische Lehrsatz“³²⁴. Karlheinz Stierle hat Lessings Ausgangsthese aus Sicht des Strukturalismus und der Textpragmatik reformuliert: Der moralische Lehrsatz wird durch die Erzählung transformiert, d. h. das Allgemeine (Lehre) „erscheint in der Fabel als Besonderes“³²⁵ (nämlich als Erzählung). Wie die FabelErzählung diese Transformation gestaltet, verfolgt Stierle im Detail weiter nicht. Hans Ulrich Gumbrechts Vorschlag, „archetypische Handlungsmuster“³²⁶ zu identifizieren, deren Struktur die histoire-Ebene der Fabel bestimmen, ist zu sehr auf die Erzählungen der Marie de France bezogen, um allgemeine Gültigkeit zu erlangen, zumal Stierle mit dem Verweis auf syntagmatische Entfaltungsmöglichkeiten paradigmatischer Oppositionen Gumbrechts ‚auserzählte Handlungsmuster‘ wesentlich genauer erfasst hat.³²⁷ Auch Hans Georg Coenens vor einigen Jahren vorgelegter Versuch, das Überzeugungspotenzial der Fabel über logische Parameter herzuleiten, bietet zwar etliche lohnenswerte Überlegungen, marginalisiert aber die Multifunktionalität rhetorischer Argumentation.³²⁸
Gotthold Ephraim Lessing: Fabeln und Fabelabhandlungen. In: Ders.: Werke und Briefe. In zwölf Bänden. Bd. 4: Werke 1758 – 1759. Hrsg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker. 148), S. 295 – 412, hier S. 346. Ebd., S. 357; vgl. auch Jörg Villwock: Lessings Fabelwerk und die Methode seiner literarischen Kritik. In: DVjs 60 (1986), S. 60 – 87. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 356 (Hervorhebung im Original). Hans Ulrich Gumbrecht: Fabeln und literaturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse. Vorschläge zum Umgang mit dem Esope der Marie de France in hermeneutischer Absicht. In: Marie de France: Äsop. Eingel., komm. und übers. von Dems. München 1973 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben. 12), S. 17– 52, hier S. 37. Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 353. Vgl. Coenen: Die Gattung Fabel (Anm. 27). Coenen sieht eine gattungsspezifische Unterscheidung zwischen einer ‚rhetorischen Fabel‘, die in einen konkreten Streifall eingebunden ist und einer ‚belehrenden Fabel‘, die eine allgemeine Lehre vermittelt. Coenen liefert sehr detaillierte Analysen, in denen er versucht, die ‚Leserleistung‘ – also die Funktionsweise – der Fabel über logische Schlüsse nachzuvollziehen. Die vorliegende Arbeit sieht in diesem Ansatz ein nicht aufzulösendes Dilemma: Die Beispielerzählung bedient sich eben gerade keiner logischen Argumentation, sondern einer rhetorischen.
II.3 Kleine Formen exemplarischen Erzählens: Fabel, Gleichnis, historisches Exempel
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Offen, aber nicht unbekannt ist der Vorschlag, die Fabel als Metapher zu lesen.³²⁹ Wenn die Metapher im aristotelischen Sinne eine Abweichung vom allgemeinen Sprachgebrauch ist, der Unbekanntes zu Bekanntem in Relation setzt, so ist der Bezug zur fabula, d. h. zu demjenigen Erzählen, welches sich gewöhnlichen Wahrheitsvorstellungen widersetzt, sicherlich gegeben. Engelbert von Admont schreibt zu Beginn des 14. Jahrhunderts in seinem Speculum virtutum (X, 18): Ideo autem delectant fabulae, quia componuntur ex miris et insolitis. Talia autem sunt delectabilia, quia dilatant mentem, et deducunt ad intelligenda solita et consueta ex insolitis et inconsuetis, sed cum similibus et prius non animadversis.³³⁰
Der Konnex zu Aristoteles, der das Potenzial der Metapher bestimmt als „in den weit auseinander liegenden Dingen das Ähnliche zu erkennen“³³¹, ist evident.³³² Mit der Präsentation von unmöglichen Verbindungen zwecks metaphorischer Darstellung einer möglichen Wahrheit rekurriert die Fabel direkt auf einen doppelten Sinn hinter der Erzählung, der sowohl wörtlichen wie auf die Lebenswelt übertragbaren Anspruch postuliert: Es geht somit in der fabula letztendlich darum, ad mores hominum exprimendos, et ad vitam humanam ex rerum figuris et similibus informandam, heißt es bei Engelbert weiter.³³³ Metapher und Fabel gehen somit bereits von ihrer Anlage her enge Verbindungen ein: Eine Metapher wie die vom ‚Staat als Körper‘³³⁴ lässt sich auch als Fabel erzählen, beispielhaft etwa von Titus Livius und Äsop mit der Fabel vom ‚Magen und den
Vgl. exemplarisch Hans Jürgen Scheuer: Aspekte einer vormodernen Poetik der animalia. Tierkataloge und Minnebestiare in mittelhochdeutscher Dichtung. In: Tiere im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebewesen. Hrsg. von Dems., Ulrike Vedder. Bern 2015 (Zeitschrift für Germanistik. N.F. 29), S. 37– 60, hier S. 38 f. Gegen eine Lesart der Fabel als Metapher spricht sich aus: Klaus Grubmüller: Semantik der Fabel. In: Proceedings. Third International Beast Epic, Fable and Fabliau Colloquium, Münster 1979. Hrsg. von Jan Goossens, Timothy Sodmann. Köln 1981 (Niederdeutsche Studien. 30), S. 111– 134, hier S. 124 f. ‚Deshalb aber ergötzen die fabulae, da sie aus Wunderbarem und Ungewohntem zusammengestellt sind. Es ist aber ergötzlich, was das Denkvermögen ausweitet und aus Ungewohntem und Fremdem, jedoch mit Ähnlichem und vorher Unbemerktem, auf das Verständnis von Gewohntem und Vertrautem hinführt.‘ Text und Übersetzung zit. nach: Knapp: Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik (Anm. 269), S. 14. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 11 (1412a 12 f.). Engelbert hat sich stark mit der aristotelischen Rhetorik auseinandergesetzt (Conpendium Rhetorice Aristotilis, vor 1291), vgl. Franz-Josef Worstbrock: Die Rhetorik des Aristoteles im Spätmittelalter. Elemente ihrer Rezeption. In: Aristotelische Rhetoriktradition. Akten der 5. Tagung der Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung vom 5. – 6. Oktober 2001 in Tübingen. Hrsg. von Joachim Knape. Stuttgart 2005 (Philosophie der Antike. 18), S. 164– 196, hier S. 185 – 190. ‚Um die Sitten der Menschen zum Ausdruck zu bringen und das menschliche Leben durch Bilder und Gleichnisse für die Wirklichkeit abzubilden.‘, Text und Übersetzung zit. nach: Knapp: Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik (Anm. 269), S. 12. Vgl. Hugo von St.Viktor: De institutione novitiorum. In: Migne, Patrologia Latina 176, Sp. 925 – 951, hier Cap. XII (Sp. 943): Est enim quasi quædam respublica corpus humanum.
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Gliedern‘ realisiert.³³⁵ Genauso denkbar ist die Reduktion einer Fabel auf eine einzelne Metapher, wie in der Fabel vom ‚Fuchs vor der Löwenhöhle‘ und der gleichnamigen Metapher der ‚Höhle des Löwen‘ – ob in diesen Fällen Fabel oder Metapher zuerst entstanden ist, lässt sich kaum feststellen und ist für das Verständnis beider auch sekundär. Wichtig ist der Grund für diesen engen Bezug: Bedingt durch ihre narrative Konstitution, ist bereits die histoire-Ebene der Fabel per se, also auch die in ihr handelnden Figuren, metaphorisch zu verstehen. Nicht erst die Argumentation, d. h. die dezidierte Analogieführung (ausgedrückt durch das Epimythion: ‚Der Wolf bedeutet einen Räuber‘ usw.) schreibt der Fabel einen metaphorischen Gehalt ein, sondern dieser steht ihr bereits aufgrund ihrer offen herausgestellten Fiktionalität zu. Dafür plädiert auch Stierle, wenn er der Fabel eine „allegorische Intention“ zugesteht, die sich aus ihrer „programmatischen Unwahrscheinlichkeit“ ergibt.³³⁶ Die Fabel ließe sich damit anhand der dritten aristotelischen Metaphern-Definition fassen, die (wie oben dargestellt) anhand eines ‚gemeinsamen Dritten‘ (tertium comparationis) von der Art auf die Art verweist: Tier und Mensch unterliegen dem gleichen Affekthaushalt und sind daher aufeinander zu beziehen.³³⁷ Die Offenheit der Fabel fordert die Mensch-Tier-Relationen jedoch je neu heraus, besetzt sie mit der Schnittstelle Mensch-Tier doch eine kulturelle Grenze, die in der Identität wie Differenz inszenierenden Erzählung sowohl verstärkt wie durchbrochen werden kann. Der anthropomorphe Gehalt der Fabel ist topisch codiert und unterliegt damit rhetorischer Modellierbarkeit. In die Differenz von Heuschrecke und Ameise etwa, von denen Letztere im Sommer für den Winter vorsorgt, während Erstere dies nicht tut und konsequenterweise hungern muss, lesen vormoderne Fabelversionen eine unterschiedliche Qualität im Arbeitsethos, die den Faulen bestraft,³³⁸ während die Moderne die Heuschrecke als Künstler auffasst, der im Winter die anderen Tiere mit Geschichten vom Sommer unterhält.³³⁹ Die lange Rezeptionsgeschichte der Gattung Fabel zeigt nicht nur ihre Zeitlosigkeit, sondern auch die je neu ausgeformte rhetorische Funktionalisierung des metaphorischen Potenzials der Erzählung. Erst durch die Moral, das Epimythion, wird die Offenheit der Fabel gebändigt und an eine Form von Identität rückgebunden, quasi eine ‚doppelte Metapher‘. Dies mag auch begründen, warum sich in der Moderne
Titus Livius: Ab urbe condita, 2,32. Hier und im Folgenden zit. nach: Titus Livius: Römische Geschichte. Bd. 1: Buch 1– 3. Lateinisch und Deutsch. Hrsg. von Hans Jürgen Hillen. München 1987 (Sammlung Tusculum); Äsop: Fabeln. Griechisch/Deutsch. Übers. und Anm. von Thomas Voskuhl. Nachw. von Niklas Holzberg. Nachdruck d. Ausgabe 2005. Stuttgart 2009 (RUB. 18297), Nr. 130. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 356. Zu Tier-Mensch-Diskursen des Mittelalters generell vgl. Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik. 5). So zu finden etwa in Hugos von Trimberg Renner, die angegebene Fabel bespricht das Kapitel III.2.3. So bspw. in einem Bilderbuch des italienischen Zeichners Lionni: Leo Lionni: Frederick. Dt. von Günter Bruno Fuchs. Köln 1967.
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zahlreiche Stimmen erheben, die jedwede feste Auslegung einer Fabel als Störung der narrativen Eigenpoetik lesen. So betont etwa Hans Blumenberg die Fähigkeit der Fabel, zur philosophischen Reflexion anzuregen – Blumenberg nennt dies die „Nachdenklichkeit“ der Fabel³⁴⁰ –, und beklagt gleichzeitig den Verlust dieser Option durch das Epimythion.³⁴¹ Das Mittelalter problematisiert dies weniger über einen Wunsch nach narrativen Leerstellen, wie bei Blumenberg, als dass der freie, metaphorische Gehalt der Fabel in topisch angelegten Fabelsammlungen (wie etwa bei Ulrich Boner) mit christlich geprägten, an Eindeutigkeit interessierten Auslegungsmustern konfligiert. Zum Gleichnis:³⁴² Was Aristoteles nur eine kurze Erwähnung wert ist, sollte insbesondere in der Theologie für heftige Kontroversen sorgen: „Auch das Gleichnis ist eine Metapher.“³⁴³ Schon Aristoteles schränkt jedoch ein: Im Gegensatz zur reinen Metapher verfüge das Gleichnis über ein Vergleichswort³⁴⁴ und gebe eine Erklärung ab, „d. h. dass sie [die Gleichnisse, M.S-D.] eine Vergleichshinsicht ausdrücklich einführen oder entwickeln.“³⁴⁵ Hegel nimmt diesen aristotelischen Gedanken später in seinen Vorlesungen über Ästhetik auf: „Was erstens die Metapher angeht, so ist sie an sich schon als ein Gleichnis zu nehmen“³⁴⁶ Das Gleichnis, so ließe sich im Anschluss an Hegel formulieren, führt zwei getrennte Dinge erst über einen narrativen Prozess einander an, während die Metapher sie gleichsam unmittelbar in eins setzt – das Gleichnis verzögert damit die Übertragungsleistung der Metapher und begründet sie gleichzeitig in einer Erzählung. Die Verwandtschaft zwischen Metapher und Gleichnis Vgl. Hans Blumenberg: Nachdenklichkeit. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1980), S. 57– 61. Vgl. ebd., S. 60. In begriffsgeschichtlicher Hinsicht haben die Termini ‚Gleichnis‘ und ‚Parabel‘ häufig zu Verwechslungen geführt. Die hier vorliegende Arbeit präferiert den Terminus ‚Gleichnis‘, der sich in der Forschung der letzten Jahrzehnte gegenüber dem Begriff der ‚Parabel‘ weitgehend durchgesetzt hat. Vgl. Rüdiger Zymner: Art. Gleichnis. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. 2007, S. 724– 727; Koch-Häbel: Unverfügbares Sprechen (Anm. 283), S. 1– 8. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 4 (1406b 20). Aristoteles führt das bekannte Achill-Beispiel an: „ein Löwe stürzte auf ihn“ sei eine Metapher für Achill, „wie ein Löwe stürzte er auf ihn“ hingegen ein Gleichnis, Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 4 (1406b 20 – 25). Problematisch ist hier die Begrifflichkeit: Aristotelesʼ Beispiel erinnert eher an das, was wir heute ‚Vergleich‘ nennen würden. Aristotelesʼ weitere Ausführungen scheinen aber auch auf Gleichnisse (im Sinne von Erzählungen) hinzudeuten: „denn es [das Gleichnis, M.S-D.] hat den Charakter der Dichtung“, ebd.. So Christof Rapp im Kommentar zur Rhetorik: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 4: Rhetorik. Halbband 2. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Darmstadt 2002, S. 852. Im Kontext der Gleichnisse hat sich bereits Adolf Jülicher mit der Metapher und Aristoteles auseinandergesetzt, vgl. Adolf Jülicher: Die Gleichnisreden Jesu. Band 1. Freiburg i. Br. [u. a.] 1888, S. 24– 121. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 13:Vorlesungen über die Ästhetik I. Auf der Grundlage der Werke von 1832– 1845 neu edierte Ausgabe von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1993, S. 516 (Kursivierung im Original); vgl. dazu auch Haverkamp: Metapher (Anm. 163), S. 86 f.
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ließe sich damit auch aus erzähltheoretischer Perspektive herleiten. Bruno Snell hat nicht nur gezeigt, dass sich die Gleichnisse Homers im Wesentlichen aus Metaphern entwickelt haben, sondern auch, dass Gleichnis und Metapher auf dieselbe Weise die binäre Struktur der Logik (tertium non datur) unterlaufen.³⁴⁷ Gegenüber der Fabel stellt das Gleichnis seine Fiktionalität jedoch nicht direkt aus – gemäß seiner rhetorischen Definition als argumentum (s.o.) erzählt es von dem, was zwar nicht geschehen, aber möglich ist. Sein Figurenreservoir entspringt damit der Gesellschaft, die zwar häufig verfremdet, nicht aber ins Unmögliche (sprechende Tiere o. ä.) gewendet wird. Auf einen ersten Blick scheint das Gleichnis damit auf eine angehängte Moral angewiesen, um als Metapher gelesen zu werden. Franz-Josef Holznagel hat sicherlich Recht, wenn er die Verweise zwischen Narration und Epimythion als wichtigen Beleg für ein metaphorisches Verstehen des Gleichnisses identifiziert,³⁴⁸ doch sollen im Folgenden Ansätze aus der neueren Theologie-Forschung aufgegriffen werden, die sich (wie auch schon Ricœur, s.o.) im Zusammenhang der Gleichnisse Jesu mit einem direkten ‚metaphorischen Erzählen‘ im Gleichnis auseinandergesetzt haben.³⁴⁹ Aus streng dogmatischer Perspektive avanciert das Gleichnis, als Metapher verstanden, zum Skandalon: Anstatt einer Wahrheit offeriert das Gleichnis Vieldeutigkeiten, anstatt dem Verständnis des Gottesreiches zu dienen, pluralisiert es dessen Auslegungsmöglichkeiten. Dies kann jedoch auch produktiv verstanden werden. Hartmut Raguse interpretiert das Gleichnis im Anschluss an Max Blacks Interaktionstheorie der Metapher³⁵⁰ als Mittler zwischen Gottesreich und erfahrbarer Welt, die – wie Black es mit seinen interagierenden Modellen vorgibt – je Eigenschaften des anderen übernehmen und so das Gottesreich auch immanent erfahrbar machen.³⁵¹ Gleichzeitig besitzt das metaphorische Erzählen im Gleichnis gegenüber begrifflichen Aussagen den Vorteil, die Grenze zwischen dem Aufzeigen von Realia und der schöpferischen Fiktion zu verwischen: „Es ist nicht zu unterscheiden, ob mit Meta-
Vgl. Bruno Snell: Gleichnis, Vergleich, Metapher, Analogie. Der Weg vom mythischen zum logischen Denken. In: Ders.: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. 5., durchges. Aufl. Göttingen 1980, S. 178 – 204, hier S. 203. Vgl. Holznagel: Inszenierte Vergleiche und metaphorisches Verstehen (Anm. 25), S. 115 f. Vgl. auch die Überlegungen von Hans Jürgen Scheuer: Im Schatten keines Zweifels. Jehan Renarts Lai de lʼombre und die Auflösung des moralischen Dilemmas im Gleichnis. In: LiLi 45 (2015), H. 180, S. 67– 82, hier S. 69 f. Vgl. Black: Die Metapher (Anm. 26). Vgl. Hartmut Raguse: Figürlich leben. Einige Reflexionen zu neueren Ansätzen in der Gleichnistheorie. In: Theologische Zeitschrift 51 (1995), H. 1, S. 18 – 40, hier S. 35 f. Vgl. auch Eberhard Jüngel: Die Problematik der Gleichnisreden Jesu. In: Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung von Adolf Jülicher bis zur Formgeschichte. Hrsg. von Wolfgang Harnisch. Darmstadt 1982 (Wege der Forschung. 366), S. 280 – 342; Hans Weder: Die Gleichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen. 4., durchges. Aufl. Göttingen 1990 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments. 120).
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phern Eigenschaften in den Dingen aufgefunden oder erschaffen werden.“³⁵² Christian Strub hat in einer historischen Perspektivierung gezeigt, dass dieses Dilemma der Metapher inhärent ist, wenn es auch vom Sprachskeptizismus der Moderne stärker akzentuiert wird.³⁵³ Im Kontext des Gleichnisses ist es jedoch gerade dessen rhetorischer Status als argumentum, als Präsentation einer möglichen (wahrscheinlichen) Welt, aus dem die Erzählung ihre metaphorische Wirksamkeit zieht: „In der Erzählung wird die Lebenswelt von Erzähler und Hörern aufgenommen und so verfremdet, dass eine Spannung entsteht, ohne in die ferne Distanz irrealer Möglichkeiten zu geraten.“³⁵⁴ Gegenüber der Fabel als dezidiert ‚unwahrer‘ Erzählung offeriert das Gleichnis eine fremdvertraute Welt, deren metaphorischer Status wesentlich subtiler ist: Er lässt sich verstehen als „Horizontvorgriff einer realen Möglichkeit.“³⁵⁵ Während diese metaphorische Spannung zwischen erzählter Welt und Lebenswelt im Kontext der Theologie immer auf eine ontologische Spannung zwischen Gott und Welt verweist,³⁵⁶ interessieren hier die Auslegungsmöglichkeiten, die das mittelhochdeutsche Gleichnis auch außerhalb des religiösen Diskurses annimmt. Welche Form von Welt wird metaphorisch imaginiert und als wahrscheinliche vorgestellt? Welche Arten der Überzeugung nimmt das Gleichnis über seine spezifische Erzählweise in Anspruch? Zum historischen Exempel: Es bereitet Schwierigkeiten, das historische Exempel als Metapher zu lesen, stellt es doch nicht – wie Fabel und Gleichnis – durch explizite oder implizite Fiktion einen übertragbaren Sinn heraus. Wenn das historische Exempel für sich in Anspruch nimmt, über wahre Taten aus der Geschichte zu berichten (historia), so suggeriert es zuvorderst einen chronikalischen Anspruch, der sich Überzeugungs- wie Belehrungsfunktionen zu verweigern scheint. Philipp Stoellger fasst Ricœurs Grundthese zur Verbindung von Metapher und Erzählung noch einmal so zusammen: „Eine Erzählung als Metapher anzusprechen, heißt nicht, darauf abzuheben, dass in ihr Metaphern auftreten. Dem mag so sein, aber die Pointe dieser Lesart liegt darin, die Dynamik einer Erzählung als metaphorisch zu verstehen.“³⁵⁷ Der etwas unspezifische Begriff einer ‚Dynamik‘ scheint sich dabei im Wesentlichen auf die Verbindung von Argumentation und Narration, d. h. Rhetorik und Hermeneutik, zu beziehen. Auch das historische Exempel verfügt über einen Bereich der narrativen Argumentation, mithin einen Bereich der subtilen Überzeugung: Es vergleicht im Regelfall zwei besondere Fälle miteinander und betont damit eine sich je herauskristallisierende Ähnlichkeit, die einem (prinzipiell unbe-
Raguse: Figürlich leben (Anm. 351), S. 36. Vgl. Christian Strub: Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie. Freiburg 1991, S. 471– 504. Philipp Stoellger: Das Selbst auf Umwegen. Metaphorische Identität am Beispiel des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn. In: Metaphern in Wissenskulturen. Hrsg. von Matthias Junge. Wiesbaden 2010, S. 27– 51, hier S. 33 (Kursivierung im Original). Ebd., S. 34 (Kursivierung im Original). Vgl. Buntfuß: Tradition und Innovation (Anm. 249), S. 123. Stoellger: Das Selbst auf Umwegen (Anm. 354), S. 36.
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grenzt auslegbaren) historischen Ereignis einen spezifischen Sinn zuweist.Verbunden werden können zwei Personen in der Geschichte, wie auch das historische Geschehen mit der aktuellen Lebenswelt in Relation gebracht werden kann. Während Gleichnis und Fabel somit eher über Relationen, d. h. Analogie, eine metaphorische Erzählform annehmen, verweist das Exempel auf Ähnlichkeit – beide Formen der Übertragung sind in der Metapher jedoch komplementär angelegt (s. Kapitel II.2). Gerade in der Herausstellung einer Ähnlichkeit zwischen dem geschichtlichen Ereignis und der Lebenswelt des Rezipienten entfaltet das historische Exempel seinen Wirkungsraum. Für die Vorbildnahme historischer Taten in der Lebenswelt ist eine Form der Übertragung notwendig, die von der Vergangenheit in die Gegenwart führt – ut eorum [gemeint sind die Taten der Vergangenheit, M.S-D.] quoque respectus aliquid praesentibus moribus prosit schreibt Valerius Maximus einleitend in den Facta et dicta memorabilia. ³⁵⁸ Aristoteles führt ein schon in Kapitel II.1 herangezogenes Beispiel an, das die Frage diskutiert, ob in der Gegenwart gegen einen feindlichen Großkönig in den Krieg gezogen werden sollte: Der Blick in die Geschichte zeigt dann eine ähnliche Situation (der vorherige Großkönig hat sich als aggressiv erwiesen), aus der sich eine Regel als Lehre für die Gegenwart ergibt.³⁵⁹ Die Selbstverständlichkeit, mit der ein Blick in die Geschichte hier als präskriptives Vorbild genommen wird, erstaunt. Können Fabel und Gleichnis eine Analogie von Narration und Gesellschaft ‚über den Umweg der Fiktion‘ erreichen (wie es Ricœur formuliert), so verfügt das Exempel nur über den Fundus des Faktisch-Historischen, der nicht unbedingt den Bedingungen der Gesellschaft entsprechen muss. Doch bereits Thukydides schreibt dem historischen Geschehen zu, dass „dergleichen und ähnliches“³⁶⁰ sich stets wiederholt, und wird darin nur wenig später von Aristoteles bestätigt: „in der Regel ist nämlich das, was künftig geschehen wird, dem schon Geschehenen ähnlich.“³⁶¹ Damit ist die Möglichkeit gegeben, Geschichte paradigmatisch zu fassen und das historische Exempel als Verweis zu lesen: „Alles
Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia. Hrsg. von John Briscoe. 2 Bände. Stuttgart [u. a.] 1998 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Liber secundus, praef (‚Und so wird ihre [gemeint sind die Taten der Vergangenheit, M.S-D.] Berücksichtigung auch für den jetzigen Gegenstand von einigem Nutzen sein.‘, die Übersetzung der Facta et dicta wird hier und im Folgenden zit. nach: Valerius Maximus Sammlung merkwürdiger Reden und Thaten. Übersetzt von D. Friedrich Hoffmann, Diaconus zu Balingen im Königreich Württemberg. 5 Bände. Stuttgart 1828 – 1829, hier Bd. 1, S. 81). Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393a 30 – 1393b 3). Zit. nach Snell: Gleichnis, Vergleich, Metapher, Analogie (Anm. 347), S. 191. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1394a 7– 8); vgl. dazu auch Friedrich: Historische Metaphorologie (Anm. 24), S. 184. Mit der Regelhaftigkeit ist für Aristoteles auch die Basis für Argumentation gegeben: „Auch muss man die Schlussfolgerungen nicht nur aus den notwendigen Dingen ziehen, sondern auch aus dem, was sich in der Regel so verhält“, Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 22 (1396a 2– 3).
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Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis“³⁶², schreibt Goethe programmatisch und gesteht der historia damit die Übertragungsmöglichkeit des Gleichnisses zu. Was aus christlicher Perspektive im Verfahren der Typologie (AT–NT) als Elementarregel für die Vergegenwärtigung historischen Wissens figurieren sollte,³⁶³ wird vom historischen Exempel narrativ bewältigt: Das erzählte Vergangene ist Zeichen des Kommenden und kann aus dieser Zukunftsgewissheit Regeln der Belehrung, des Verhaltens, der Einsicht formulieren. Dies bildet dann auch die Schnittstelle zur Rhetorik, wie etwa bei Johannes de Garlandia, der sich auf die rhetorische Figur der transitio (Übergang) beruft, die helfe, dass ein Hörer aus einer vergangenen Geschichte etwas darüber lerne, was ihm in der Zukunft begegne.³⁶⁴ Cicero formuliert pointiert, man habe als Rhetor gleichsam sein eigenes Leben mit der Vergangenheit zu verweben (contexitur), womit er einerseits auf die Lehrhaftigkeit von Geschichte für das Leben, gleichzeitig aber auch auf das narrative Substrat beider verweist.³⁶⁵ Die Geschichte wird so zur Lehrmeisterin des Lebens (historia magistra vitae),³⁶⁶ doch sind es weniger die Zeitläufte selbst als ihre narrative Aufarbeitung, die von der reinen historia zur exemplarischen Erzählung führt. Isidor von Sevilla schreibt dementsprechend: Historiae gentium non inpediunt legentibus in his quae utilia dixerunt. Multi enim sapientes praeterita hominum gesta ad institutionem praesentium historiis indiderunt. ³⁶⁷ Erst das
Johann Wolfgang von Goethe: Faust II, Vers 12104 f. Hier zit. nach: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 7: Faust. Teil 1: Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker. 114,1). Vgl. auch Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 359: „Der Umgang mit Geschichte, wie ihn die Antike kennt, und wie er der ‚einfachen Form‘ des Exemplum zu Grunde liegt, könnte mit einem Terminus der modernen Linguistik als paradigmatisch bezeichnet werden.“ Vgl. Gumbrecht: Menschliches Handeln und göttliche Kosmologie (Anm. 83), S. 903. Wobei auf den Unterschied hingewiesen werden muss, dass die christliche Typologie proklamiert, auf Wahrheit zu beruhen, während das historische Exempel nur eine wahrscheinliche Schlussfolgerung aus der Vergangenheit zieht. Vgl. Johannes de Garlandia: Parisiana Poetria (Anm. 278), 5.323 – 325: et utatur illo colore rethorico qui dicitur Transicio, et est color per quem animus auditoris per premissam narrationem percipit futura. Vgl. Cicero: Orator (Anm. 88), 34, 120: quid enim est aetas hominis, nisi ea memoria rerum veterum cum superiorum aetate contexitur? (‚Was ist denn des Menschen Leben, wenn es nicht durch die Erinnerung an frühere Geschehnisse mit der Vergangenheit verwoben ist?‘). Vgl. für einen Überblick über die Begriffsverwendung Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 2006 (stw. 757), S. 38 – 66, hier S. 40 – 46. Isidor von Sevilla: Etymologiae (Anm. 267), I, XLIII (‚Die Geschichtsschreibung der einzelnen heidnischen Völker ist nicht schädlich für die, die in den [Geschichtsbüchern] Nützliches lesen. Viele Weise nämlich haben die vergangenen Taten der Menschen zur Unterweisung der jetzt Lebenden in Geschichtsbücher [historiae] gefasst.‘, Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla [Anm. 274]). Auch hier muss jedoch auf die Differenz von Heilsgeschichte und Geschichtserfahrung hingewiesen werden (vgl. Anm. 363): Was das Diktum der Geschichtserfahrung (historia magistra vitae) impliziert, ist ein wahrscheinlicher Schluss aus Erfahrungswerten, was Isidor als lehrhafte (Heils‐)Geschichte versteht, nimmt für sich in Anspruch, Wahrheit zu sein.
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II Theoretische Rahmenziehung
Erzählen, die exemplarische Aufarbeitung durch das Hinzufügen eines über das historische Geschehen hinausweisenden Sinnes ist es, das die historia zur magistra avancieren lässt. Karlheinz Stierle beschreibt diesen Vorgang als ‚Vergegenständlichung‘ von Geschichte: Wo sich historisches Geschehen unter paradigmatischen Vorzeichen unter ein Normsystem subsumiert, wird es erst intelligibel.³⁶⁸ Im Exempel erscheint das Allgemeine „im Besonderen“³⁶⁹ – während die Fabel das Allgemeine repräsentiert (als Besonderes, s.o.), impliziert es das Exempel nur.³⁷⁰ Hayden White hat den Vorgang einer Narrativierung von Geschichte bekanntermaßen als ‚emplotment‘ bezeichnet, als Strukturierung historischer Ereignisse durch Erzählschemata. White resümiert: „Es ist diese vermittelnde Funktion [die historische Ereignisse zu einer kohärenten Erzählung formt, M.S-D.], die es uns erlaubt, von einer historischen Erzählung als fortgesetzter Metapher zu sprechen.“³⁷¹ Durch das metaphorische In-eins-Setzen werden Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden. Die historische Erzählung, so White weiter, nutzt „die metaphorischen Ähnlichkeiten zwischen Folgen von realen Ereignissen und den konventionellen Strukturen unserer Fiktion.“³⁷² Diese „konventionellen Strukturen“ sind Gegenstand der Topik und als solche auch von der Rhetorik determiniert. Valerius Maximus, römischer Geschichtsschreiber des 1. nachchristlichen Jahrhunderts, sammelt in seinen Facta et dicta memorabilia rund eintausend historische Exempel, die er topischen Kategorien zuordnet: Tapferkeit, elterliche Liebe, Aberglaube usw. Die einzelnen Figuren der Exempel fungieren so als Synekdochen, die je einen Wert in besonderem Maße verkörpern.³⁷³ Der Bezug vom historischen Exempel zur Metapher scheint damit weniger eindeutig, als er es bei Fabel und Gleichnis ist. Die Nähe zu Synekdoche und Paradigma impliziert jedoch keine Ferne zur Metapher, sondern verweist auf die Sonderstellung des historischen Exempels im Kontext der genera narrationis. Als wahre und geschehene Erzählung ist es an ein festes historisches Archiv gebunden, wodurch seine Überzeugungskraft potenziert, seine Variationsfähigkeit aber minimiert wird. In diesem Spannungsfeld ist es die Annäherung an die Metapher, die es dem historischen Exempel erlaubt, seine geschichtlich begrenzten Inhalte an immer neue Auslegungskontexte anzubinden: Als Metapher verstanden, kann ein einziges historisches Ereignis je nach Kontext neu gelesen werden.
Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 359. Ebd., S. 356 (Hervorhebung dort). Vgl. ebd. Hayden White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk. In: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Hrsg. von Christoph Conrad, Martina Kessel. Stuttgart 1994 (RUB. 9318), S. 123 – 157, hier S. 141. Ebd., S. 142. Vgl. dazu auch: von Moos: Das argumentative Exemplum und die „wächserne Nase“ der Autorität im Mittelalter (Anm. 69), S. 59.
III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext III.1.1 Historisches Geschehen und exemplarische Kurzerzählung In einer heute weitgehend unbeachteten Chronik, die Rolandinus von Padua in der Mitte des 13. Jahrhunderts über die Mark Treviso verfasst, findet sich folgende Episode:³⁷⁴ Padua steht im Jahr 1249 unter der grausamen Herrschaft des kaisertreuen Ezzelino da Romano und seines als Stadtherrn eingesetzten Neffen. In der Halle des Statthalters kommen einige Bürger zusammen, zufällig fliegt ein Sperber in das Gebälk der Halle. Der Vogel erinnert einen der Anwesenden, einen gebildeten Mann (litteratus), an eine Fabel Äsops, die er auch vorträgt: Die Tauben leiden unter den ständigen Attacken des Falken und bitten daher den Sperber, als ihr neuer König zu fungieren und sie zu beschützen. Der Sperber vertreibt zwar erfolgreich den Falken, attackiert dafür jedoch die Tauben selbst heftiger als ihr alter Feind. Die Erzählung des Bürgers findet Anklang, und er wird aufgefordert, sie schriftlich festzuhalten. In dieser schriftlichen Form gelangt die Fabel zu einem Richter der Stadt, auch er hat Gefallen an ihr (delectabiliter audiebat). So erreicht die Fabel letztlich den Herrscher Paduas, besagten Neffen Ezzelinos, der sie jedoch gänzlich konträr – Rolandinus nennt es bezeichnenderweise in malam partem – auffasst. Er bezieht die Konstellation aus Tauben und ungerechtem Herrscher auf seine Regierung über Padua und lässt den Richter sowie zahlreiche weitere Bürger im Gefängnis festsetzen, sie werden dort später auf Befehl Ezzelinos hingerichtet. Diese Einbindung einer exemplarischen Kurzerzählung (hier einer Fabel) in einen historiographischen Text illustriert vorbildhaft die zu verfolgende Fragestellung: Welche Funktionen kommen der Kurzerzählung zu, wenn sie im historischen Kontext eingesetzt wird? Inwiefern greifen Chroniken überhaupt auf Fabeln und Gleichnisse zurück, und wie konstituiert sich das Spannungsfeld aus Narration und chronikalischem Schreiben? Schon aus dem relativ simplen Fall von Rolandinusʼ Integration einer äsopischen Fabel³⁷⁵ in die Beschreibung der Tyrannis Ezzelinos lassen sich erste
Rolandinus von Padua: Cronica Marchie Trivixane, lib. VI, IV. Hier zit. nach: Rerum Italicarum scriptores. T. 8, Pt. 1: Rolandini Patavini Cronica in factis et circa facta Marchie Trivixane. Hrsg. von Lodovico Antonio Muratori. Nuova ed. riv., ampliata e corr. con la dir. di Giosue Carducci. Città di Castello 1908. Vgl. dazu auch: Wheatley: Mastering Aesop (Anm. 278), S. 1– 3. Die Fabel liegt in verschiedenen Fassungen auf Latein vor, als älteste Version ist wohl die des Phaedrus anzusetzen: Phaedrus: Liber fabularum. Lateinisch/Deutsch. Übers. von Friedrich Fr. Rückert und Otto Schönberger. Hrsg. und erl. von Otto Schönberger. Stuttgart 2012 (RUB. 1144), I, 31 (‚Miluus et columbae‘). Für weitere Versionen vgl. Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 630 – 635 (Nr. 555). https://doi.org/10.1515/9783110579406-004
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Vorannahmen über das Verhältnis von fiktional-narrativen Einheiten in Chroniken und Geschichtsdichtung ableiten: Der historische Kontext formiert einen Wahrheitsanspruch, den die Fabel nicht und das Gleichnis nur bedingt erheben, diese werden somit nicht als faktisches Geschehen, sondern als metadiegetische Erzähleinheiten präsentiert, die von einem intradiegetischen Erzähler geschildert werden.³⁷⁶ Die narrative Sequenz erhält über eine Redeszene eine rhetorische Rahmung, die ihre je situationsspezifische politische Funktion betont. Dabei werden (wie auch bei Rolandinus) häufig die innerhalb einer exemplarischen Kurzerzählung angelegten Mehrdeutigkeiten in der Chronik direkt in Szene gesetzt: Eine einzelne Erzählung wird von zwei Parteien je unterschiedlich verstanden. Letztlich verbindet die Chronik somit die rhetorische Rahmung der Kurzerzählung mit einer hermeneutischen Frage nach ihrer Auslegung, d. h. nach dem Sinn, der sich aus der Kurzerzählung ergibt. In ihren Reinformen – jedenfalls im aristotelischen Sinn – zentriert sich die Historiographie um das Besondere, die Dichtung aber fokussiert das Allgemeine.³⁷⁷ Aussagen allgemeinen Inhaltes, d. h. universaler Natur, zu formulieren, ist für die Geschichtsschreibung somit problematisch, da sie der Faktizität des einzelnen Ereignisses verpflichtet ist.³⁷⁸ Dennoch scheint gerade das Mittelalter verschiedene Strategien zu entwickeln, aus dem historischen Einzelfall bereits eine allgemeine Annahme herauszulesen, ohne den Umweg über die fiktionale Dichtung nehmen zu müssen. Diese Techniken beginnen bei dem eher simplen Fall des typologischen Verweises, der in jedem Ereignis eine Bedeutung in seiner Zeit und eine zukünftige, sich noch zu erfüllende Bedeutung sieht, und reichen bis zu der Tendenz, das historisch Einmalige exemplarisch zu verstehen, wie es das historische Exempel vornimmt. Friedrich Ohly hat etwa anhand der Trajangeschichte der Kaiserschronik die
Es werden die bekannten Begrifflichkeiten von Gérard Genette übernommen. Es lässt sich allerdings die berechtigte Frage stellen, inwiefern überhaupt von einer metadiegetischen Erzählung (also einer Erzählung in der Erzählung) gesprochen werden kann, da eine Chronik per se keine Erzählung darstellt. Seit Hayden Whites grundlegender Studie zum narrativen Gehalt historischer Texte hat sich jedoch weitgehend die Ansicht durchgesetzt, auch Geschichtswerke nach narratologischen Fragestellungen untersuchen zu können. White widmet sich zwar im Speziellen der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, verweist aber auf den Anspruch, „die zu allen Zeiten in der Geschichtswissenschaft […] eingesetzten besonderen poetischen Elemente aufzudecken.“, Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt am Main 1991, S. 11 (Hervorhebung im Original). Auch wenn Chroniken hier als nicht-narrative Texte untersucht werden, wird dennoch an den Termini von intradiegetischem Erzähler und metadiegetischer Erzählung festgehalten. Vgl. weitergehend ebd., S. 15 – 62, sowie die folgende Diskussion. Aristoteles: Poetik (Anm. 183), 9 (1451b 7 f.). Zum Einfluss des aristotelischen Diktums auf das Mittelalter vgl. auch Dennis Howard Green: The Beginnings of Medieval Romance. Fact and Fiction, 1150 – 1220. Cambridge [u. a.] 2002 (Cambridge Studies in Medieval Literature. 47), S. 2 f.; vgl. auch die luziden Überlegungen Hübners zu den Folgen des aristotelischen Diktums auf ein ‚mittelalterliches‘ Erzählen: Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (Anm. 30), S. 17– 28. Vgl. Pollmann: Zwei Konzepte von Fiktionalität in der Philosophie des Hellenismus und in der Spätantike (Anm. 258), S. 262; von Moos: Poeta und historicus im Mittelalter (Anm. 258), S. 96.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Interdependenzen zwischen einzelnen Trajan- (bzw. Gregor‐)exempla und ihrer Zusammenführung und historischen Kontextualisierung in der Kaiserchronik untersucht: Die Kaiserchronik bedient sich aus dem Stoffreservoir der exempla, um Trajan nicht nur als römischen Kaiser zu präsentieren, sondern auch als historisches Exempel mit moralischem Impetus.³⁷⁹ Die historische Person exemplarisch zu präsentieren, ist somit der Normfall in vielen Geschichtswerken des Mittelalters und bildet zugleich den Grundgedanken des historischen Exempels.³⁸⁰ Was in dieser Arbeit als historisches Exempel neben Fabel und Gleichnis zur Debatte steht, macht somit in vielen Fällen bereits den Kern mittelalterlicher Geschichtsschreibung aus und ist aufgrund dieser Ubiquität analytisch nur noch schwer zu fassen.³⁸¹ Die divergierenden Auslegungsmöglichkeiten, die einer einzelnen Person (etwa Alexander dem Großen) dabei zu unterschiedlichen Zeiten und vor unterschiedlichen Kontexten zukommen können, veranschaulichen zwar die Bandbreite des mittelalterlichen Exempelverständnisses, rekurrieren aber letztlich stets auf den gleichen Argumentationstypus. Ertragreicher, da in sich heterogener, ist die Analyse einer Einbindung fiktionaler Kurzerzählungen in historisches Geschehen, die im Folgenden ausführlich untersucht werden soll. Wenn das historisch Einmalige mithilfe einer Fabel oder eines Gleichnisses mit überzeitlichen Sinnstrukturen unterlegt wird,³⁸² erhält der kontingente Geschichtsverlauf eine Verweisfunktion, die auf basale menschliche Eigenschaften hindeutet. List, Hybris, Demut, usw. werden als allgemeine Konstituenten menschlichen Handelns und damit auch als Grundstrukturen des historischen Geschehens in Szene gesetzt. Nicht übergeordnete Erzählmuster (Heilsgeschichte) oder politische Zugehörigkeiten generieren Konflikte, Abspaltungen oder Allianzen, sondern immer wiederkehrende menschliche Schwächen und Stärken: Geschichte erhält eine paradigmatische Verlaufsform.
Vgl. Friedrich Ohly: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung. 2., unveränd. Aufl. Darmstadt 1968, S. 119 – 128. Dazu, insbesondere im Hinblick auf die Kaiserchronik vgl. Johannes Dickhut-Bielsky: Auf der Suche nach der Wahrheit in Annolied und Kaiserchronik. Poetisch-historiographische Wahrheitssuche in frühmittelhochdeutschen Geschichtsdichtungen. Stuttgart 2015 (Beihefte zur ZfdA. 23), S. 112– 152. Vgl. dazu auch die umfassende Untersuchung von Matthew Kempshall: Rhetoric and the Writing of History, 400 – 1500. Manchester [u. a.] 2011, S. 121– 264. Während die scholastische Gattungspoetik der Kombination von historia und fabula im Allgemeinen eher kritisch gegenübersteht, finden sich doch auch einige Befürworter. So spricht Alanus ab Insulis davon, dass sich aus dem Zusammenführen von historia und fabula ein noch eleganteres Bild ergebe, Alanus ab Insulis: Liber de planctu naturae. In: Migne, Patrologia Latina 210, Sp. 429 – 482, hier Sp. 451: Poetæ tamen aliquando historiales eventus joculationibus fabulosis quadam eleganti fictura confœderant, ut ex diversorum competenti conjunctura, ipsius narrationis elegantior pictura resultet. (‚Die Dichter verbinden dennoch manchmal historische Ereignisse mit erheiternden Fabeln durch geistreiche Fiktion, damit aus der passenden Verbindung von Unterschiedlichem ein noch geistreicheres Bild der Erzählungen selbst entsteht.‘, Übersetzung M.S-D.). Geoffrey von Vinsauf greift den Gedanken später auf, vgl. Mehtonen: Old Concepts and New Poetics (Anm. 30), S. 69.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Was dabei im Hintergrund steht, aber hier nur gestreift wird, ist die generelle Frage nach ‚Erzählhaftigkeit‘ von Chroniken, d. h. dem narrativen Gehalt von Historiographie. Seit Paul Ricœurs und Hayden Whites grundlegenden Auseinandersetzungen haben Fragen nach der Relation von narrativer Fiktion und historischem Diskurs in Literatur- wie Geschichtswissenschaft bekanntlich Konjunktur.³⁸³ Während sich einerseits ein Forschungskonsens herauskristallisiert, der die gegenseitige Interdependenz historiographischen und ‚literarischen‘ Schreibens bestätigt (die Historiographie benötige narrative Verknüpfungen, um die Kontingenz historischer Ereignisse in sinnhafte Kohärenz zu verwandeln, literarische Texte hingegen lehnen sich an der faktizistischen Referenz der Historiographie an, um eigene Referenzmodi hervorzubringen),³⁸⁴ sind andererseits detaillierte Untersuchungen zu narrativen wie poetologischen Brüchen an der Schnittstelle von historia und Fiktion bisher Mangelware.³⁸⁵ Auch dass Geschichte durch unterschiedliche Sinnmuster strukturiert und konzeptualisiert werden kann, ist mittlerweile Konsens der Forschung. Tatsächlich lässt sich – jedenfalls nach den Überlegungen Jean-Francois Lyotards – die Postmoderne wohl als die erste Epoche verstehen, die über Deutungsmuster in der Geschichte, d. h. sogenannte Metanarrative (Aufklärung, Marxismus usw.), intensiv reflektiert und sich über diesen Reflexionsprozess von ihnen löst.³⁸⁶ Dass jedoch schon in der Vormoderne keine einheitliche Geschichtsauffassung per se existiert, hat Arno Seifert beispielhaft dargelegt, indem er das bisherige Postulat eines im 18. Jahrhundert einsetzenden ‚Verzeitlichungs-Prozesses‘ demontiert und Tendenzen von ‚Verzeitlichung‘ bereits in den Anfängen der Frühen Neuzeit verortet.³⁸⁷ Auch wenn sich diese Arbeit weder mit der Frühen Neuzeit noch mit dem Phänomen der ‚Verzeitlichung‘ beschäftigt, so kann doch von Seifert die Idee übernommen werden, schon in der Vormoderne, also im Zeitalter der biblischen historia sacra, nach divergierenden Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung (Anm. 253); White: Metahistory (Anm. 376); für eine präzise Zusammenfassung seiner Thesen und ihrer Applikation auf historische Texte vgl. auch White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk (Anm. 371). Prägnant zusammengefasst bei Fulda, Matuschek: Literarische Formen in anderen Diskursformationen (Anm. 320), S. 207. Timo Reuvekamp-Felber hat in seiner (unveröffentlichten) Habilitationsschrift einen derartigen Versuch unternommen. Vgl. seinen Forschungsüberblick Timo Reuvekamp-Felber: Historiographie und historischer Roman. Poetologische Zugänge zur volkssprachlichen Geschichtsschreibung des 12. und 13. Jahrhunderts. Köln, Univ., Habil.-Schrift 2006, S. 1– 8; ein gutes Beispiel für eine Einzelstudie bietet: Hartmut Bleumer: Alexanders Welt. Geschichte und Bild zwischen Historia und Roman. In: Geschichtsentwürfe und Identitätsbildung am Übergang zur Neuzeit. Bd. 1: Paradigmen personaler Identität. Hrsg. von Ludger Grenzmann, Burkhard Hasebrink, Frank Rexroth. Berlin 2016 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. N.F. 41/1), S. 193 – 219. Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen (Anm. 108). Vgl. Arno Seifert: „Verzeitlichung“. Zur Kritik einer neueren Frühneuzeitkategorie. In: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 447– 477. Als Verzeitlichung wird die Vorstellung bezeichnet, ‚Zeit‘ selbst als geschichtliche Qualität zu deuten – Geschichte vollzieht sich nicht mehr in, sondern durch die Zeit.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Schichten von Geschichtskonzeptionen zu suchen.³⁸⁸ Michail Bachtin bestätigt diesen Befund aus kulturtheoretischer Perspektive, indem er verschiedene Modelle der Aneignung historischer Zeit beschreibt: chronologische Ordnung, Orientierung an Naturzyklen, das Inszenieren einer mythischen Vor-Zeit usw.³⁸⁹ Kennzeichen dieser Einbindungen von Zeitlichkeit in kulturelle Modellierungen ist, dass sie selten in Reinform vorkommen, sondern sich meist überschneiden und ergänzen. So setzen antike, historisch orientierte Exempelsammlungen wie diejenige des Valerius Maximus prinzipiell einen Prozess der ‚Entzeitlichung‘ voraus, d. h. eine Aufgabe chronologisch-kausaler Ordnungsraster zugunsten des punktuellen Herausgreifens exemplarisch verstandener Personen und Ereignisse, denen somit (ganz im Sinn des mos maiorum) ein topischer Wert zugeschrieben wird.³⁹⁰ Geschichtsschreibung im weitesten Sinne besteht dann nur noch aus dem Zusammenfügen historischer Exempel, die – nach moralisch-ethischen Gesichtspunkten geordnet – sich den üblichen diachronen Zeitparametern entziehen. Die christliche Geschichtskonzeption des Mittelalters ist jedoch auf eine zeitlich stringente Struktur angewiesen, die das Geschehen zwischen Anfang und Ende der Welt gemäß theologischer Vorgaben anordnet, d. h. über Formen von Selektion und Disposition in eine protonarrative Komposition überführt. Die Einbindung exemplarischer Erzählungen in Chroniken stellt somit nicht nur einen abgegrenzten Einschub narrativer Strukturen in Geschichtsdarstellung dar, sie impliziert auch eine punktuelle Verschiebung chronologischer Zeitkonzeptionen.³⁹¹
III.1.1.1 Herausforderungen des Exemplarischen: Rhetorische Substrate in der historia sacra Die oben grob skizzierten Unterschiede und Übergänge zwischen Geschichtsschreibung und Narration wurden von Walter Benjamin und (auf ihn bezugnehmend) Karlheinz Stierle differenziert als unterschiedlich ausgeformte Parameter von Wissen
Seifert selbst beschäftigt sich in einer anderen Arbeit mit der Frage nach dem Bedeutungsfeld von historia im Mittelalter und weist darauf hin, dass schon die christliche Exegese gerade für die historia sacra verschiedene Auslegungsmöglichkeiten präsentiert (sensus litteralis, sensus allegoricus usw.), Seifert: Historia im Mittelalter (Anm. 270), hier S. 245. Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russ. von Michael Dewey. Mit einem Nachw. von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt am Main 2008 (stw. 1879), v. a. S. 180 – 196. Zu verschiedenen Zeitmodellen in mittelalterlicher Historiographie vgl. auch Kempshall: Rhetoric and the Writing of History (Anm. 381), S. 34– 120. Vgl. dazu auch Seifert: „Verzeitlichung“ (Anm. 387), S. 452 f.; Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976 (Historische Forschungen. 11). Vgl. dazu auch den Zusammenhang von rhetorischer dispositio und der Anordnung und Sinnzuschreibung historischer Ereignisse, den Ricœur herausgearbeitet hat: Paul Ricœur: History and Rhetoric. In: The Social Responsibility of the Historian. Hrsg. von François Bédarida. Providence, RI [u. a.] 1995 (Diogenes. 168.1995), S. 7– 24, hier S. 11– 15.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
und Erfahrung beschrieben. Benjamin versteht die traditionelle Erzählung als Form einer direkten Kommunikationssituation, in der Erfahrung verarbeitet und weitergereicht wird. Dem gegenüber steht die Information als neuzeitliche Form reinen Wissens, die das Narrative zugunsten einer scheinbaren Objektivität ersetzt. Analog dazu begreift Benjamin die Chronistik als (vormodernes) Geschichts-Erzählen, das über andere Sinnregister verfügt als die (moderne) Geschichtsschreibung bzw. Historiographie als Form des Wissens und der Information, d. h. der narrativen Nullstufe.³⁹² Benjamins diachrone Perspektive ist stark von der Geschichtsphilosophie Hegels geprägt und in ihrem Ansatz natürlich überholt. Dennoch offeriert Benjamins These, die mittelalterliche Chronistik als eine Form der Geschichtserzählung, die über die Vermittlung faktuellen Wissens hinaus auch Sinn stiftet, Raum für weitere Überlegungen. Denn aus dieser Perspektive verwundert das – zwar nicht ubiquitäre, aber doch rekurrente – Vorkommen von Fabeln und Gleichnissen in mittelalterlichen Geschichtstexten auf den ersten Blick nicht, bieten sie neben der Heilsgeschichte doch ein rhetorisch-topisches Stratum an, das den Blick auf politische Konstellationen lenkt und damit ein weiteres Sinnregister öffnet. Nun spricht Walter Benjamin jedoch in seinen weiteren Überlegungen speziell der mittelalterlichen Chronik diese Form der Sinnöffnung ab. Die Art der mittelalterlichen Geschichtsschreibung, so Benjamin in einem Essay über Nikolai Lesskow, sei ein „Punkt schöpferischer Indifferenz.“³⁹³ Mit Blick auf die mittelalterlichen Chronisten fügt er hinzu, diese „haben […] die Last beweisbarer Erklärungen von vornherein von sich abgewälzt.“³⁹⁴ Erklärung, so Benjamin, wird durch Auslegung substituiert, da das eschatologische Geschichtsmodell schon einen festen Bestand an
Vgl. Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Ders.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Ausgew. und mit einem Nachw. von Alexander Honold. Frankfurt 2007 (stw. 1841), S. 103 – 128, hier S. 103 – 116; Stierle: Erfahrung und narrative Form (Anm. 12), S. 85 – 87; Alexander Gelley: Introduction. In: Unruly examples (Anm. 1), S. 1– 24, hier S. 6 f. Benjamin: Der Erzähler (Anm. 392), S. 115. Ebd. Vgl. Stierle: Erfahrung und narrative Form (Anm. 12), S. 85 – 92. Auch die mediävistische Forschung hat diesen Befund schon zu weiten Teilen korrigiert, indem sie nicht nur die Verkettung von Welt- und Heilsgeschichte in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung herausstellte, sondern auch auf die Differenzen zwischen regional- und gesamthistorisch interessierter Chronistik hervorhob. Vgl. grundlegend Helmut de Boor: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 3, Teil 1: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250 – 1350. Neu bearb. von Johannes Janota. 5., neu bearb. Aufl. München 1997 (Handbücher für das germanistische Studium), S. 164– 191. Generell müssen auch die Eigenheiten mittelalterlicher Chronistik berücksichtigt werden, deren Grenzen zu literarischen Texten wesentlich unschärfer gezogen sind als diejenigen moderner Geschichtsschreibung. Vgl. Reuvekamp-Felber: Historiographie und historischer Roman (Anm. 385), S. 5. Fritz Peter Knapp weist zu Recht darauf hin, dass fiktionale Ausschmückungen des historischen Geschehens schon in spätantiken Chroniken die Regel waren und auch im Mittelalter weitgehend toleriert wurden, vgl. Fritz Peter Knapp: Gattungstheoretische Überlegungen zur sogenannten märchenhaften Dietrichepik. In: Aventiure – märchenhafte Dietrichepik. 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2000 (Philologica Germanica. 22), S. 115 – 130, hier S. 118.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Erklärungsmustern offeriere. Die Einbindung von exemplarischen Kurzerzählungen in mittelalterliche Chroniken zeigt jedoch, dass Benjamins Überlegungen der Präzisierung bedürfen. Zwar fungieren die Erzählungen im Regelfall (eine Ausnahme wird in Kapitel III.1.3 angesprochen) nicht als kausale Explikation des historischen Geschehens, doch binden sie dieses im Einzelfall an kulturelle Grundüberzeugungen, die neben dem teleologisch ausgerichteten Geschichtsmodell Raum für die Diskussion menschlicher Affekte und Einflüsse schaffen. Die Kurzerzählung führt CommonSense-Überzeugungen in die historia sacra und entfaltet sie als Argument, sie beweist ein allgemeines Prinzip im besonderen historischen Einzelfall. Der Blick auf Fabeln und Gleichnisse in Chroniken ist somit gleichzeitig ein Blick auf die dort entworfenen politischen Konstellationen. Denn nicht erst die moderne, schon die mittelalterliche Geschichtsschreibung fokussiert politisches Geschehen, das im heilsgeschichtlichen Modell ebenfalls eine tragende Rolle einnehmen kann: Konfliktsituationen, Machtkonstellationen, politische Akteure und ihr Handeln formen den Zeitverlauf, Beschreibungsmuster wie die translatio imperii orientieren sich dezidiert an Herrscherpersönlichkeiten. Wie an der Chronik des Rolandinus gezeigt, gewinnt die exemplarische Kurzerzählung im politischen Spannungsfall eine heuristische Funktion, die sich als Erkenntnis generierendes Moment manifestiert.³⁹⁵ Prominentestes Beispiel hierfür dürfte die bei Titus Livius bezeugte Fabel vom Magen und den Gliedern sein, die Menenius Agrippa den aus Rom geflohenen Plebejern erzählt und diese so über die Erkenntnis ihrer Position im politischen System zur Rückkehr bewegt.³⁹⁶ Während die Körper-Metaphorik auch in anderen Zusammenhängen Karriere machen sollte und sich im Mittelalter sowohl im christlichen Diskurs wie als Analogie des Feudalsystems wiederfindet,³⁹⁷ kommt sie in mittelalterlichen Chroniken selten
Vgl. auch die Untersuchung von Patterson, die die Rolle der Fabel in politisch-historischen Texten der Frühen Neuzeit und der Moderne untersucht hat: Annabel Patterson: Fables of Power. Aesopian Writing and Political History. Durham [u. a.] 1991 (Post-Contemporary Interventions); oder den politischen Gehalt äsopischer Fabeln: Alexander Demandt: Politik in den Fabeln Aesops. In: Gymnasium 98 (1991), S. 397– 419; Christos A. Zafiropoulos: Ethics in Aesopʼs Fables. The „Augustana“ Collection. Leiden [u. a.] 2001 (Mnemosyne. 216), S. 98 – 107. Vgl. auch die kurzen Hinweise in Grubmüller: Zur Pragmatik der Fabel (Anm. 51), S. 481. Titus Livius: Ab urbe condita (Anm. 335), 2, 32, 8. Die Glieder des Körpers stellen ihre Arbeit aus Protest gegenüber dem Magen, der nur Essen benötigt, aber nichts dafür tut, ein. Als dem Magen jedoch kein Essen mehr zugeführt wird, schwächt sich der gesamte Organismus und die Glieder sehen ihren Irrtum ein. Titus Livius spricht in Ab urbe condita nicht direkt von einer Fabel, sondern beschreibt die Erzählsituation so: Is [= Menenius Agrippa, M.S-D.] intromissus in castra prisco illo dicendi et horrido modo nihil aliud quam hoc narrasse fertur (‚Er wurde ins Lager geschickt und soll dort in der damaligen altertümlichen und schlichten Art zu reden nichts anderes getan haben, als daß er folgende Geschichte erzählte.‘). Livius ordnet das Erzählen und Argumentieren in Fabeln somit einer älteren Zeitstufe zu. Dietmar Peil hat die diversifizierenden Kontexte der Fabel umfassend aufgearbeitet, er zeigt beispielhaft die Einbindung in kirchliche Fragen bei Johannes von Salisbury, didaktische Fragen bei Heinrich dem Teichner wie auch die Möglichkeiten der Analogieziehung zum corpus christi. Vgl.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
vor. Vielmehr scheint das metaphorische Erzählen vom konsensualen, interdependenten Modell durch Erzählungen ersetzt worden zu sein, die das Gefälle politischer Machtausübung illustrieren. So berichtet Cosmas von Prag in seiner Böhmischen Chronik (Anfang 12. Jahrhundert) von zwei Konflikten zwischen der Herrscherin Libussa und ihrem Volk, die von Libussa je durch das Erzählen von Fabeln gelöst werden. Zweifel an ihren Richter- und Herrschaftsqualitäten als Frau begegnet Libussa mit der (auch bei Rolandinus zitierten) Fabel von den Tauben, die aus Hybris ihren eigentlichen, aber als gefährlich empfundenen Herrscher, den Sperber, durch den Habicht substituieren und darunter noch mehr leiden.³⁹⁸ So, wie das Volk Libussa gewählt habe, hätten die Tauben den Sperber gewählt; wenn nun das Volk nach einem neuen Herrscher verlange, hätten sie ein Schicksal analog zu den Tauben zu erwarten. Nachdem eine Volksversammlung einberufen wird, auf der das Volk abermals nach einem neuen Herzog verlangt, variiert Libussa ihre Erzählung: Die Frösche hätten sich eine Wasserschlange zum Schutz als Herrscherin ausgewählt, diese habe aber bloß die Frösche selbst verspeist und sei – einmal gewählt – nicht mehr zu entfernen gewesen.³⁹⁹ Eine ähnliche Tyrannis sei auch von einem etwaigen neuen Herzog zu erwarten. Dieser auf Beibehaltung rechtlicher wie politischer Strukturen zielende Fabelgebrauch scheint gewissermaßen den Normalfall der Verwendung von exemplarischen Kurzerzählungen in Chroniken abzubilden. Auch einer der frühesten mittelalterlichen Geschichtsschreiber, Gregor von Tours, schildert in den Decem libri historiarum (Ende 6. Jahrhundert), wie der Frankenkönig Theudebald, erzürnt über einen möglichen Diebstahl an seinem Besitz durch Untergebene, das Gleichnis einer Schlange erzählt, die eine Flasche voll Wein findet und, angelockt durch ihre Gier, in die Flasche kriecht und den Wein trinkt.⁴⁰⁰ Aufgrund ihres vom Weinkonsum aufgeschwemmten Körpers
Dietmar Peil: Der Streit der Glieder mit dem Magen. Studien zur Überlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main [u. a.] 1985 (Mikrokosmos. 16), besonders S. 20 – 87. Gerhard Dohrn-van Rossum hat darüber hinaus gezeigt, dass eine Körper-Metaphorik generell stark das politische Sprechen prägt: Gerhard Dohrn-van Rossum: Politischer Körper, Organismus, Organisation. Zur Geschichte naturaler Metaphorik und Begrifflichkeit in der politischen Sprache. 2 Bde. Bielefeld 1977. Cosmas von Prag: Die Chronik der Böhmen, I, IV. Hier und im Folgenden zit. nach: Die Chronik der Böhmen des Cosmas von Prag. Unter Mitarb. von W. Weinberger hrsg. von Bertold Bretholz. Berlin 1923 (MGH Scriptores. 6 [N.S. 2]). Eine Übersetzung der Böhmischen Chronik liegt vor: Cosmas von Prag: Die Chronik Böhmens. Hrsg. von Alexander Heine. In Anlehnung an die Übertr. von Georg Grandaur neu übers. und eingel. von Franz Huf. Essen [u. a.] 1987 (Historiker des deutschen Altertums). Die unterschiedliche politische Ausgangskonstellation bei Rolandinus und Cosmas, in der die Fabel je auf divergierende Weise als Argument zur Durchsetzung politischer Interessen verwendet wird, bietet einen weiteren Hinweis auf die (im weiteren Verlauf der Arbeit noch zu diskutierende) Multifunktionalität der Fabel. Cosmas von Prag: Die Chronik der Böhmen (Anm. 398), I, V. Gregor von Tours: Decem libri historiarum, IV, 9. Text und Übersetzung hier und im Folgenden zit. nach: Gregor von Tours: Zehn Bücher Geschichten. Bd. 1: Buch 1– 5. Auf Grund der Übersetzung W.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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kann die Schlange nicht aus dem Gefäß fliehen und wird vom Besitzer der Flasche aufgefunden, der verlangt, sie müsse nun entweder den Wein herausgeben oder in der Flasche gefangen bleiben – eine Dilemma-Situation, von der eigenen Gier hervorgerufen und nicht ohne Verluste lösbar. Gregor kommentiert die Reaktionen des Volkes: quae fabula magnum ei timorem atque odium praeparavit. ⁴⁰¹ Furcht und Hass jedoch sind Instrumente herrschaftlicher Unterdrückung, die weniger auf ein System der gegenseitigen Abhängigkeit zielen (wie es Agrippa in der Magen-Fabel skizziert), denn auf eine feste ordo-Struktur, in der gesetzte Grenzen qua Gewaltausübung oder -androhung verteidigt werden: Affekt ersetzt den Konsens. Die Fabeln und Gleichnisse, so lässt sich in einem ersten Schritt festhalten, werden in den Chroniken selbst als Instrumente der Machtpolitik imaginiert, sie werden exklusiv vom Herrscher gegenüber dem Volk erzählt und dienen der Konsolidierung eigener Interessen. Die Potenz der exemplarischen Erzählung, als Metapher Wirklichkeit ‚neu zu beschreiben‘ (Ricœur), avanciert hier zum Signum der Zukunftsgewissheit: Der Herrscher nimmt die Position eines Auguren ein, der die Konsequenzen etwaiger Handlungen narrativ in der metaphorischen Erzählung vorführt. Was sich in der Erzählliteratur des Mittelalters sonst generell auf zwei Figuren verteilt, nämlich die Figur des Mächtigen und diejenige des Weisen, fügen die Chroniken in einer Person zusammen, denn der Herrscher verfügt hier nicht nur über Macht, sondern auch über eine mit ihr kongruierende Weisheit. Das Gleichnis oder die Fabel wird zum Argument für die Durchsetzungskraft des Einzelnen, der das rebellierende, ihm untergeordnete Kollektiv nicht re-integriert, sondern sanktioniert. Die exemplarischen Kurzerzählungen bieten so ein System von Codierung und Auslegung, das sich nicht aus einer transzendenten Instanz (Offenbarung), sondern aus immanenten Machtkonstellationen speist und politische Hierarchien entwirft. Mittelalterliche Chronistik scheint somit auch unter theologischen Vorgaben auf fiktionale Erzählungen zurückzugreifen. Dennoch lässt sich die berechtigte Frage stellen, inwiefern historiographische Texte, die direkt das heilsgeschichtliche Masternarrativ bedienen, d. h. biblische Erzählungen als historia aufarbeiten, auf exemplarische Kurzerzählungen zurückgreifen, bzw. wie mit den Fabeln und Gleichnissen der Bibel selbst verfahren wird. Rudolfs von Ems Weltchronik (Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden),⁴⁰² die sich stark am Alten Testament der Vulgata orientiert und im Bericht über den Tod
Geisebrechts neubearbeitet von Rudolf Buchner. 5., durchges. und erg. Aufl. Darmstadt 1977 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. 2). Gregor von Tours: Decem libri historiarum (Anm. 400), IV, 9 (‚Durch diese Fabel erregte er große Furcht und großen Haß gegen sich.‘). Interessanterweise wird hier gegen ein Leitmotiv antiker Politik angeschrieben, das im Mittelalter in den Ordensregeln seinen Platz findet: plus amari quam timeri soll in der Antike der politische Herrscher, im Mittelalter allerdings der Klosterabt sein. Vgl. dazu Karl Gross: Plus amari quam timeri. Eine antike politische Maxime in der Benediktinerregel. In: Vigiliae Christianae 27 (1973), S. 218 – 229. Hier und im Folgenden zit. nach: Rudolf von Ems: Weltchronik. Aus der Wernigeroder Handschrift. Hrsg. von Gustav Ehrismann. 2., unveränd. Aufl. Dublin [u. a.] 1967 (DTM. 20).
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Salomos abbricht, kann hier als Beispiel für eine derartige heilsgeschichtlich-konforme Geschichtsdichtung herangezogen werden.⁴⁰³ Bekanntermaßen subsumiert Rudolf eschatologisch nicht unmittelbar relevantes Personal und Geschehen als biwege (V. 3114) bzw. nebinganc (V. 3117), so dass sich die Weltgeschichte als Oszillation zwischen Haupt- und Nebenweg erstreckt.⁴⁰⁴ Griechisch-römische Göttergestalten und antike Heldenfiguren (die in anderen Kontexten im Mittelalter durchaus als exempla Verwendung finden) sind für Rudolf fabeln aus der Perspektive eines theologischen Standpunktes: Erfindungen, Unwahrheiten, Täuschungen des Teufels.⁴⁰⁵ Was sich nicht im abgesicherten Koordinatensystem christlicher Tradition bewegt, hat keinen exemplarischen Wert. Dass aber auch die Bibel (offenkundig unwahre) Fabeln und Gleichnisse offeriert, erkennt Rudolf und verortet eine durch Autorität (Augustinus) bezeugte exemplarische Bedeutung exklusiv bei diesen Erzählungen: so bescheidet ez alsus / Sanctus Augustinus / und spriht, ez mohte niht geschehin, / wan das Got dran lie sehin / sinis gewaltis hohe craft, / und git des eine bischaft / der man billiche volge giht. (V. 25921– 25927). Die Beispielerzählungen sind somit nicht nur transzendent abgesichert (sie werden analog zu den miracula, also den göttlichen Wundern, präsentiert, wodurch ihre Fiktionalität theologisch aufgefangen wird), Rudolf insistiert auch auf die erkenntnisgenerierende Funktion der bischaft, die er in großer Zahl aus den alttestamentlichen Büchern übernimmt: die Jotamfabel (V. 19051– 19094, vgl. Ri 9,8 – 15), das Gleichnis Nathans (V. 28872– 28929, vgl. 2 Sam 12,1– 13), das Gleichnis einer weisen Frau (V. 29229 – 29267, vgl. 2 Sam 14) usw. Schon an einzelnen Erzählsequenzen wie der Jotamfabel lässt sich zeigen, durch welche Techniken Rudolf die Fiktionalität der Fabel nivelliert und sie – noch viel stärker als in der Vulgata – in einen Kontext einbindet, der ihre rhetorische Funktion hervorhebt. Jotam, einziger Überlebender eines Massakers an seiner Familie (durchgeführt vom eigenen Bruder Abimelech, der eine Alleinherrschaft anstrebt), wendet sich nach der Wahl seines Bruders zum König an das Volk, um gegen den neuen Herrscher zu argumentieren. Er erzählt die Fabel einer Königswahl der Bäume: Nachdem Öl-, Feigen-, und Weinbaum die Wahl zum König abgelehnt haben, bieten die Bäume ihre Herrscherposition letztlich dem wenig geeigneten Dornstrauch an. Während Jotam in der Vulgata – nachdem er eine prototypische Redesituation (leicht erhöht über dem
Rudolfs Weltchronik ist an dieser Stelle auch insofern interessant, da sie – allein aufgrund ihrer Form nach (Volkssprache, Reimpaare) – über ganz andere Voraussetzungen verfügt als die lateinische Geschichtsschreibung. Vgl. die konzise Analyse bei Bent Gebert: Nebenwege in der Vormoderne. Semantische Tradition und Erzählen in der Weltchronik Rudolfs von Ems. In: Mittellateinisches Jahrbuch 51 (2016), H. 1, S. 39 – 72. Von fabel spricht Rudolf bspw. im Zusammenhang mit Prometheus (V. 8698 f.), Zerberus und Herkules (V. 19735; V. 19749).
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Volk) eingenommen hat – seine Fabelerzählung in medias res beginnt,⁴⁰⁶ lässt Rudolf Jotam seine Fabel historisieren: ‚ez geschach in etelichin tagin‘ (V. 19057). Die Fabel ist keine reine Fiktion, sondern erhält den Charakter von historia, von göttlich beglaubigter Geschichte. Während der biblische Originaltext weder die Erzählung benennt noch eine direkte Auslegung liefert,⁴⁰⁷ spricht Rudolf dezidiert von einem bispel (V. 19095), dessen Bedeutungsgehalt von Jotam selbst entschlüsselt wird: er sprah: ‚sus hapt ouh ir getan! / vil reht ih iuh gelichit han / dén boumen die iuh gelichit sint (V. 19096 – 19098). Indem Jotam die Gleichheits-, d. h. Ähnlichkeitsverhältnisse der metaphorischen Erzählung derart spezifisch herausstellt, reduziert Rudolf die der Fabel inhärenten Mehrdeutigkeiten einerseits auf eine einzelne Erkenntnis, gesteht diese andererseits aber nur einem Teil des zuhörenden Volkes zu: die wisen průpften do dú wort / dú er gesprochin hate dort: / die tumbin ahtens niht ein har. (V. 19114– 19116). Über Techniken der Temporalisierung und Auslegung didaktisiert Rudolf die Fabel, sodass die (rhetorisch geprägte) exemplarische Kurzerzählung mit dem christlichen historia-Verständnis synchronisiert wird. Aus einer Rätselstruktur wird eine eindeutige Lehre, deren rhetorische Potenz weniger in der Erzählung selbst, als in ihrer Rahmung in der Chronik liegt. Die von Rudolf vorgenommenen Kontextualisierungen exemplarischen Sprechens gleichen denjenigen Strategien, die hier auch an anderen Geschichtswerken herausgearbeitet wurden: die Unterscheidung zwischen Ver- und Erkennen, das Herausarbeiten eines rhetorischen Rahmens, die dezidierte Betonung, dass hier eine metaphorische Erzählung, eine exemplarische Kurzerzählung (bîspel) vorliegt, die sich vom historischen Geschehen abgrenzt. Die Herausforderungen, die die historia sacra an das exemplarische Sprechen stellt, werden von Chroniken und Geschichtsdichtungen so in einem ersten Schritt über die Addition eines rhetorischen Substrats gefüllt, das die Kurzerzählung in einen auf sie zugeschnittenen Kontext einbettet. Gleichzeitig scheint sich ein politisches Muster herauszuschälen, das die hier vorgestellten Kurzerzählungen gemeinsam entwerfen: ein Modell, dem die Differenz zwischen einem als unfähig charakterisierten Volk, das nicht selbst über seinen König bestimmen kann, und einer rechtmäßigen Herrscherfigur, zugleich mächtig und weise, fest eingeschrieben ist. Dieses Paradigma zieht sich durch die Chroniken und wird je mit divergierenden Figurenkonstellationen besetzt: die Tauben und der Falke; die Frösche und die Schlange; die Bäume und der Dornbusch. Die Differenz zwischen
Vgl. Ri 9,7– 15. Die Vulgata wird hier und im Folgenden zit. nach: Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem, rec. et brevi apparatu critico instruxit Robert Weber. 5., verb. Auflage. Hrsg. von Roger Gryson. Stuttgart 2007. Übersetzungen aus der Vulgata werden zit. nach: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. Standardausgabe mit Apokryphen, revidiert 2017. Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 2017. Jotam scheint hier eine Erkenntnis auch ohne Explikation vorauszusetzen, denn er wendet sich direkt nach dem Ende der Fabel an das Volk: nunc igitur si recte et absque peccato constituistis super vos regem Abimelech […], Ri 9,16 (‚Habt ihr nun recht und redlich getan, dass ihr Abimelech zum König gemacht habt? […]‘).
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
geeignetem und ungeeignetem Führendem wird metaphorisch in der Kurzerzählung entworfen und qua Analogie auf die jeweilige historische Situation appliziert. Formen des ‚narrativen Argumentierens‘ bestehen hier somit vor allem im Nachzeichnen von Stratifizierungen, d. h. einer Bestätigung des gegebenen ordo. Ordnung, so hat es bereits der in Kapitel II.1.3 angeführte Lévi-Strauss postuliert, wird über Differenzziehungen kreiert.⁴⁰⁸ Auffällig bleibt dabei die große Zahl an Kurzerzählungen, die entweder selbst oder über den Kontext Fragen der Erkenntnis thematisieren. Entweder wird (von der Herrscherfigur selbst) eine Erkenntnis metaphorisch in der Kurzerzählung vermittelt, wie auch die Kurzerzählung selbst noch gedeutet, d. h. richtig erkannt werden muss – Strukturen der Verrätselung, der Codierung prägen die Integration von Erzähleinheiten.
III.1.2 Funktionstypen des Exemplarischen im historischen Geschehen: Ähnlichkeit und Analogie (Löwenhöhle und Hirschherz) Im Folgenden sollen diese grundlegenden Möglichkeiten der Verrätselung und Decodierung von Fabel und Gleichnis im historischen Kontext anhand von zwei exemplarischen Kurzerzählungen näher analysiert werden. Die Erzählungen von der Löwenhöhle und vom gegessenen Hirschherz gehören zu den beliebtesten Kurzerzählungen in mittelalterlichen Chroniken. Während die Fabel von der Löwenhöhle sich um die Person des Rudolf von Habsburg anlagert, wird die Hirschherz-Erzählung über verschiedene Zwischenstufen schließlich in der Kaiserchronik in den Konflikt zwischen dem Bayernherzog Adelger und dem römischen Kaiser Severus integriert.⁴⁰⁹ Charakteristisch für beide Kurzerzählungen ist ihr breiter Rezeptions- bzw. Traditionskreis, der über Geschichtswerke weit hinausweist: So finden sich die Erzählungen auch in Exempelsammlungen oder in didaktischen Texten. Die Fabel vom Fuchs, der vor der Höhle des (kranken) Löwen steht und sich – konträr zum Rest der Tiere – gegen ein Betreten der Höhle entscheidet, da zwar Spuren in die Höhle hinein-, aber keine hinausführen, ist schon früh in den politischen Kontext verlagert worden. Horaz etwa nutzt die Fabel (die bei ihm fast zum Sprichwort reduziert ist), um sich von der besinnungslosen Geldgier des römischen Volkes abzugrenzen,⁴¹⁰ während Marie de France im Epimythion auf die Gefahren des Kö-
Vgl. Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus (Anm. 119), S. 101– 119. Eine ausführlichere Stoffbesprechung findet weiter unten statt. Horaz: Epistulae (Anm. 105), I, 1, 70 – 75: quodsi me populus Romanus forte roget, cur / non ut porticibus sic iudiciis fruar isdem / nec sequar aut fugiam quae diligit ipse vel odit: / olim quod volpes aegroto cauta leoni / respondit, referam: ‚quia me vestigia terrent, / omnia te adversum spectantia, nulla retrorsum.‘ (‚Doch wenn mich das Volk von Rom einmal fragen sollte, warum ich wohl nicht wie dieselben Säulenhallen so auch dieselben Ansichten mit ihm teile, warum ich nicht tu oder lasse, was es selbst liebt oder haßt, dann will ich zur Antwort geben, was einst der vorsichtige Fuchs dem kranken
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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nigshofes verweist (s.u.). Die Beliebtheit der Fabel schlägt sich nicht nur in ihrer Verbreitung und verschiedenen Aussagespielräumen, sondern auch in ihrem Weiterleben im Sprichwort nieder, das als ebenso ambivalent wie die Fabel gedeutet werden kann.⁴¹¹ Doch nicht nur die Aussagemöglichkeiten der Fabel sind Verschiebungen unterworfen, auch die Narration selbst variiert kleine Muster. Für die Analyse der chronikalischen Einbindung der Fabel von der Löwenhöhle ist ein vorheriger Blick auf diese Polyvalenz der Fabel unabdingbar, um den rhetorischen Spielraum der Kurzerzählung aufzuzeigen. Die folgende Tabelle führt die wichtigsten Fabelverwendungen auf und fasst kurz Inhalt und Epimythion zusammen: Übersicht über die Versionen der Fabel von der Löwenhöhle von der Antike bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Auswahl)⁴¹² Text
Inhalt
Epimythion
Äsop: Fabeln (Anm. ), Nr. (zugeschrieben, Hs. ‚Collectio Augustana‘ aus dem . Jh.)
Ein alter Löwe, der Probleme mit Kluge Menschen vermeiden der Beschaffung von Nahrung hat, Gefahr, indem sie auf Zeichen spielt krank und frisst die ihn achten. besuchenden Tiere. Ein Fuchs⁴¹³ kommt vorbei, der Löwe bittet ihn hereinzukommen, doch er verneint mit Verweis auf die Spuren, die in die Höhle hinein-, aber nicht hinausführen.
Babrius: Fabeln, Nr. (./. Jh. n. Chr.)⁴¹⁴
Der alte Löwe hat keine Kraft mehr Derjenige kann sich glücklich zum Jagen und stellt sich krank. nennen, der aus den Fehlern Die Tiere bemitleiden ihn, komanderer Lehren zieht. men in seine Höhle und werden
Löwen antwortete: „Weil mich die Spuren erschrecken: alle führen zu dir hinein, keine wieder heraus!“‘). Ähnliches auch schon bei Platon: Alkibiades I, S. 186: „Das Wort des Fuchses an den Löwen paßt genau auf Sparta: man sieht wohl die nach dieser Richtung hin führenden Spuren des eingehenden Geldes, von dem ausgehenden aber ist nirgends eine Spur zu sehen […].“ Hier und im Folgenden zit. nach: Platon: Sämtliche Dialoge. Bd. 3: Euthydemos. Hippias I/II und Ion. Alkibiades I/II. Gastmahl. Charmides. Lysis. Menexenos. Hrsg. von Otto Apelt. Nachdruck. Hamburg 1993. Die Autorschaft Platons ist allerdings umstritten. „Die Höhle des Löwen ist sprichwörtlich ein ambivalenter Platz: Wer sich hineinbegibt, läuft die äußerste aller Gefahren, wer sich schon drin befindet (und den Löwen nicht reizen konnte), ist in schönster Sicherheit vor allem, was ihm sonst noch drohen könnte.“, Hans Blumenberg: Löwen. Mit einem Nachwort von Martin Meyer. Frankfurt am Main 2010 (Bibliothek Suhrkamp. 1454), S. 106. Die Hinweise auf verschiedene Versionen der Fabel sind größtenteils übernommen von: Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 228 – 233 (Nr. 201). Im Griechischen wie auch im Lateinischen hat der Fuchs ein feminines Geschlecht, weshalb auch die griech.-dt. Äsop-Ausgabe von einer „Füchsin“ spricht. Der besseren Lesbarkeit halber wird hier immer vom „Fuchs“ ausgegangen. Hier zit. nach: Fabeln der Antike. Griechisch und lateinisch. Hrsg. von Harry C. Schnur. München 1978 (Tusculum-Bücherei).
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Übersicht über die Versionen der Fabel von der Löwenhöhle von der Antike bis zur Mitte des . Jahrhunderts (Auswahl) (Fortsetzung) Text
Inhalt
Epimythion
gefressen. Ein Fuchs kommt vorbei, der Löwe bittet ihn hereinzukommen, doch er verneint mit Verweis auf die Spuren, die in die Höhle hinein-, aber nicht hinausführen. Marie de France: Esope, Nr. (um )
Ein Löwe ist müde vom vielen Laufen, er behauptet, krank zu sein, und lädt die Tiere zu sich in den Wald, um angeblich zu überprüfen, wer der beste Jäger sei. Die Tiere kommen und werden gefressen, der Fuchs jedoch zögert, in den Wald zu gehen. Vom Löwen angesprochen, begründet der Fuchs sein Zögern damit, dass er zwar viele Tiere in den Wald habe gehen sehen, keines sei aber wieder hinausgekommen.
Analog zu der Fabel ist der Königshof zu verstehen: Viele, für die es besser wäre, draußen zu bleiben, gehen leichtfertig hinein.
Thomasin von Zerklaere: Ein Löwe tut, als sei er krank, das Der Welsche Gast, V. – Gerücht verbreitet sich, die Tiere (um )⁴¹⁵ kommen aus Neugier, um den kranken Löwen zu sehen, und werden von ihm gefressen. Nur der Fuchs kommt nicht, ein Eichhörnchen fragt ihn nach seinen Gründen, der Fuchs erläutert sie anhand von Spuren, die in die Höhle führen, aber nicht aus ihr kommen.
Der Fuchs wird auf einen Mann ausgelegt, der sich gut vorsieht und vor den Fallen des Teufels in Acht nimmt. Der Löwe bzw. Teufel bestraft diejenigen, die ihm dienen wollen. Weiterführung auf ein weiteres Beispiel: Auch Schafe laufen nicht bedenkenlos dem Wolf nach. So sollen sich auch die Menschen verhalten und nicht den Sünden hinterherlaufen.
Sog. Wiener Kleinepikhandschrift (Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. , um )⁴¹⁶
Der Löwe ist krank. Es ist Sitte, Niemand soll sich vorschnell dass sich die Tiere gegenseitig falschen (ungetriwen) Menschen Geschenke bringen. Der Fuchs anschließen. weigert sich, die Höhle zu betreten, der Löwe fragt ihn, warum er nicht hineinkommt. Der Fuchs
Hier und im Folgenden zit. nach: Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von Heinrich Rückert. Mit einer Einl. und einem Reg. von Friedrich Neumann. Berlin 1965 [1852]. Hier und im Folgenden zit. nach der kleinen Edition im Anhang von Kosaks Monographie: Bernhard Kosak: Die Reimpaarfabel im Spätmittelalter. Göppingen 1977, die Fabel auf S. 519.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Übersicht über die Versionen der Fabel von der Löwenhöhle von der Antike bis zur Mitte des . Jahrhunderts (Auswahl) (Fortsetzung) Text
Inhalt
Epimythion
führt zur Begründung die Spuren an, die hinein-, aber nicht hinausführen. Sächsische Weltchronik (Ers- Die Tiere werden eingeladen, in te Bairische Fortsetzung, um einen Berg zu gehen, auch der )⁴¹⁷ Fuchs ist darunter. Die Tiere (bis auf den Fuchs) gehen alle hinein, keines kommt aber wieder hinaus. Der Fuchs beschließt, nicht in den Berg zu gehen.
Von Rudolf als bîspel herangezogen, um seinen Gefolgsleuten zu erklären, warum er nicht die ihm als römisch-deutschen König zustehende Romfahrt antritt.
Kapitel II.1 hat die polyvalente Verwendung von exempla als Vorstufe zu einer reflexiven Exempel-Verwendung definiert. Tatsächlich zeugen die hier aufgeführten Varianten von einer Mehrdeutigkeit der Fabel von der Löwenhöhle, die über winzige semantische und erzähllogische Verschiebungen je anders ausgespielt wird: Wie begründet der Fuchs sein Fernbleiben – geht es um das richtige Erkennen von Spuren, d. h. von Zeichen, oder um Augenzeugenschaft, um das richtige Sehen und Deuten? Warum gehen die anderen Tiere in die Höhle, werden sie eingeladen, oder folgen sie einem eigenen Antrieb? Warum ist der Löwe als stärkstes Tier auf die Höhle als Schutzraum angewiesen und kann nicht selbst jagen – ist er tatsächlich krank, oder stellt er sich nur so dar? Treten Löwe und Fuchs als Opponenten miteinander in Kontakt, oder marginalisiert die Narration den direkten Dialog der beiden Tiere? Die offenen Erzählstellen werden in den Fabelversionen je unterschiedlich gefüllt. Allein der Blick auf den Beweggrund der Tiere, in die Höhle einzutreten, zeigt ein breites Spektrum an möglichen Grundierungen auf. Bei Äsop ist es List, bei Babrius Mitleid, d. h. caritas, bei Marie de France geht es um einen Ehr-Wettbewerb, Thomasin unterstellt Neugier, die Wiener Kleinepikhandschrift imaginiert eine Gabenpolitik. Alle diese Modellierungsoptionen bieten nicht nur bereits Hinweise auf Einstellungen, die im politischen Kontext eine Rolle spielen, sie verdeutlichen auch die situationsspezifische Potenz der Fabel, die – je nachdem, wie aus dem rhetorischen Raster der inventio geschöpft wird – unterschiedlich argumentiert. Den Figuren der Fabel können daher eine Vielzahl an paradigmatischen Wertekonstellationen eingeschrieben werden: der Mächtige und der Weise; der Heimtückische und der Listige; die blind-vertrauende Masse und der Spuren-deutende Weitsichtige. Je nach Erzählvariante erge-
Hier und im Folgenden zit. nach: Sächsische Weltchronik. Eberhards Reimchronik von Gandersheim. Braunschweigische Reimchronik. Chronik des Stiftes S. Simon und Judas in Goslar. Holsteinische Reimchronik. Hrsg. von Ludwig Weiland. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1877. München 2001 (MGH Scriptores. 8 [2]), die Fabel auf S. 328.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
ben sich andere Aussagemöglichkeiten, die zudem vom Kontext determiniert werden: Thomasin verfolgt als Didaktiker andere Ziele als der Verfasser der Sächsischen Weltchronik. ⁴¹⁸ Marie de France fügt eine zusätzliche, ins Metaphorische zielende Semantik hinzu, die das Prinzip des Jagens perpetuiert: Der Löwe lädt die Jäger in die Höhle, die dort zu Gejagten werden. Die Unterschiede zwischen den Begründungen des Fuchses für sein Fernbleiben verweisen jedoch auf je divergierende Konzepte von Wahrheit. Das direkte Sehen der in der Höhle verschwindenden Tiere ordnet sich einem Kontext ein, der den Augenzeugentopos als Garant für Wahrheit bestimmt: Melius enim oculis quae fiunt deprehendimus, schreibt bereits Isidor über das wahrheitsgetreue Erzählen von Ereignissen.⁴¹⁹ Das indirekte Bemerken der Gefahr anhand von Spuren verweist hingegen auf eine semiotisch-hermeneutische Denkstruktur, die einen Erkenntniszuwachs im richtigen Deuten von Zeichen verortet. Die Fabel, so scheint es, verfügt wie jede exemplarische Kurzerzählung über narrative Implikationen, die je nach Kontext neu expliziert werden können.⁴²⁰ In der deutschen Geschichtsschreibung findet sich die erste Erwähnung der Fabel und ihr Bezug zu Rudolf von Habsburg (1218 – 1291) in einer bairischen Fortsetzung der Sächsischen Weltchronik (entstanden um 1314).⁴²¹ Rudolf wird als exorbitanter, das Reich einender und befriedender Herrscher eingeführt, dessen Erfolge jedoch die Frage nach einer Romfahrt und der damit einhergehenden Kaiserkrönung aufwerfen: Also gesigt der chuenich den Pehaimen an, und dovon wart er also wert, daz in die herren ofte anmueten, daz er ze Rom fuere und kaiser wurde. Der kunich was ein weis, chuendich man, er antwurt den herrren der rede also mit dem peispel: ‚Ez wurden vil tier geladen fur einen perch, nu chom der fuhs auch dar; diu tier giengen elliu in den perch, der fuhs belaib alain hie auzzen stan und warte, wenne diu tier herwider giengen. Der chom dehainz herwider auz; do wolt der fuchs in den perch niht.‘ Mit dem peispel gab der kuenich den herren ze versten, daz vor im manich chuenich uber daz gepirg in Wælscheu lant fur, die alle dorinne beliben. Dorumb wolt er ze Wælischen landen noch ze Rom niht.⁴²²
Vgl. Kapitel III.2.3 für eine ausführliche Analyse von Thomasins Verwendung der Fabel. Isidor: Etymologiae (Anm. 267), I, XLI, 1 (‚Besser fassen wir nämlich, was geschieht, mit den Augen auf.‘, Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla [Anm. 274]). Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 362 f. Alois Hahn hat dies aus soziologischer Perspektive beschrieben: „Inkomensurabilität des Wirklichen gegenüber aller Theorie und Gelehrsamkeit. Wirklichkeit entzieht sich insofern immer den szientifischen Netzen, mit denen wir sie einzufangen hoffen. Dies liegt unter anderem an der Differenz von situativer Einzigartigkeit und begrifflicher Generalität. Die Fälle sind eben nicht als solche schon ‚im Prinzip‘ in der Theorie vorgesehen, so daß die Subsumption ein bloßer Sortierungsvorgang wäre […] Subsumption als realer Vorgang der situativen Passung ist kreativ.“, Hahn: Zur Soziologie der Weisheit (Anm. 62), S. 49 f. Die Chronik reiht sich damit in eine Reihe von Texten ein, die um die Person Rudolf von Habsburg kleine Exempel und Kurzerzählungen anlagern.Vgl. dazu: Willi Treichler: Mittelalterliche Erzählungen und Anekdoten um Rudolf von Habsburg. Bern [u. a.] 1971 (Geist und Werk der Zeiten. 26), S. 101 f. zu der hier besprochenen Fabel. Sächsische Weltchronik (Anm. 417), S. 328.
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Die Fabel lässt sich von dieser ersten Erwähnung an in deutschsprachigen Chroniken verfolgen, so etwa bei Fritsche Closener, Jakob Twinger von Königshofen und weiter in die Frühe Neuzeit,⁴²³ wobei die Fabel-Erzählungen dort stark ihrer Quelle, der Sächsischen Weltchronik, gleichen. Die oben herausgearbeiteten Ergebnisse zur Einbindung von Kurzerzählungen in Geschichtstexten treffen auch hier zu: Der Fiktionsgehalt der Fabel wird auf ein Minimum reduziert; kein Tier spricht mehr. Als Erzählform scheint das Gleichnis wesentlich besser in den chronikalischen Kontext zu passen als die Fabel, nimmt es doch als argumentum zwischen den gegensätzlichen Polen historia und fabula eine Mittlerposition ein und offeriert zudem aus rhetorischer Perspektive eine Garantie an Wahrscheinlichkeit. Letztlich bringt die Chronik somit alle drei genera narrationis in eine enge Relation: Der historische Kontext als historia, die in der Königsrede angeführte Erzählung als fabula, die aber zugleich auch argumentum ist. Es sei an Aristoteles erinnert, der betont, es sei leichter, Fabeln in die Rede einzubinden, eine Erzählung sei jedoch umso wirksamer, je deutlicher sie sich als ‚wahr‘ präsentiere.⁴²⁴ Wie bei Rolandinus erhält die Erzählung in der Sächsischen Weltchronik so einen rhetorischen Rahmen – ein als weitsichtig dargestellter Herrscher instruiert seine Untergebenen, der Text betont dezidiert die Funktion der Erzählung als bîspel. Erst im Vergleich mit den oben vorgestellten Fabel-Versionen jedoch verdeutlichen sich Eigenheiten einer ‚historischen‘ Einbindung der Fabel. So ist die Handlung in wesentlichen Punkten stark reduziert, vor allem der Wegfall des Antagonisten fällt ins Auge. Gründe für den Verzicht auf den Löwen lassen sich auf vielen Ebenen finden. Es wäre etwa der heraldische Kontext heranzuziehen: Traditionelles Wappentier und Identifikationsfigur der Habsburger ist der Löwe. Die Erzählung von einem mit Rudolf verbundenen Fuchs, der gegen einen Löwen antritt, mag unter mittelalterlichen Rezipienten somit falsch verstanden werden. Möglich auch der Verweis auf das kulturelle Gedächtnis: Die Fabel könnte im Mittelalter bereits so verbreitet gewesen sein, dass die Höhle (bzw. hier der perch) als Gefahr verstanden wird, ohne dass es die Erwähnung eines Löwen braucht. In diesem Kontext am erkenntnisreichsten ist jedoch eine erzähltheoretische Erklärung. In der Sächsischen Weltchronik hat der Löwe seine Funktion verloren, die Fabel speist ihre Aussage nicht mehr aus dem Widerstreit antagonistischer Kräfte (Löwe gegen Fuchs), sondern betont die besondere Klugheit des Fuchses gegenüber den anderen Tieren. Es ist die Ähnlichkeit zwischen der Höhle und Rom bzw. den italienischen Städten (Gefahr/Nicht-Wiederkehr als tertium comparationis), die in der Auslegung der Erzählung von der Chronik betont wird: Mit dem peispel gab der kuenich den herren ze versten, daz vor im manich chuenich uber daz gepirg in Wælscheu lant fur, die alle dorinne beliben. Dorumb wolt er ze Wælischen landen noch ze Rom
Vgl. für Belegstellen Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 323 – 327 (Nr. 281). Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1394a 2– 16). Vgl. dazu die Kapitel II.1 und II.2.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
niht. ⁴²⁵ Wichtig ist somit nicht der besondere Fall, sondern die Reihe vorheriger Könige, die alle nicht mehr über die Alpen zurückgekehrt sind. Aus der Summe der Einzelfälle ergibt sich dann die Regel ‚Fahre nicht über die Alpen‘. Die Chronik beschreibt somit ein induktives Schlussverfahren, das eine Erfahrungsregel mittlerer Reichweite imaginiert, die jedoch nicht direkt, sondern über eine Erzählung ausgestaltet ist. Die konventionell-topische Erkenntnis über die Gefährlichkeit, in den Machtbereich des Überlegenen einzutreten, erfährt daher in der exemplarischen Kurzerzählung einen metaphorischen Imaginationsraum, der von Rudolf als Argument hinzugezogen wird. Interessant bleibt dennoch die Frage, warum hier eine Fabel, also eine exemplarische Kurzerzählung, als Argument verwendet wird – genausogut vorstellbar wäre eine Rede Rudolfs, in der er seinen Untergebenen explizit auseinandersetzt, wieso die Fahrt nach Rom mit Risiken besetzt ist. Die von der Sächsischen Weltchronik an dieser Stelle hervorgehobene Funktion der Kurzerzählung kann unter Rückgriff auf Kapitel II.1.2 als Präskription beschrieben werden – als normative Vorgabe einer Regel oder Vorschrift, die über Ähnlichkeitsverhältnisse hergeleitet wird. Der Rückgriff auf eine exemplarische Kurzerzählung (je nach Definition hier entweder Fabel oder Gleichnis) als Argument untermauert den Status dieser Regel, zeigt sich doch ihre Anwendbarkeit über den spezifischen Einzelfall hinaus. Über das Erzählen des bîspels inszeniert die Chronik Rudolfs Situation als per se exemplarisch. Hinter der Erfahrungsregel ‚Fahre nicht über die Alpen, denn vor dir sind bereits andere gefahren und nicht wiedergekehrt‘ steht eine implizit ausgedrückte Geschichtsbetrachtung, die von rekurrierenden Strukturen in der historia ausgeht – ‚was den Vorläufern geschehen ist, wird auch mir geschehen‘, oder, auf die bekannte topische Formel gebracht: historia magistra vitae. Aristoteles hat dies im bereits früher zitierten Diktum der Wiederholbarkeit von Geschichte ausgedrückt: „in der Regel ist nämlich das, was künftig geschehen wird, dem schon Geschehenen ähnlich.“⁴²⁶ Dass diese Kombination aus Vorschrift und Geschichtsphilosophie als bîspel, d. h. als Erzählung verständlicher und wirkungsvoller funktioniert, beschreibt schon Senecas im Mittelalter viel zitiertes Diktum, exempla seien wirksamer und kürzer als praecepta. ⁴²⁷
Sächsische Weltchronik (Anm. 417), S. 328. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1394a 7– 8). Vgl. Seneca d. J.: Epistulae morales ad lucilium, 6, 5: quia longum iter est per praecepta, breve et efficax per exempla. (‚Weil der Weg über Lehre/Vorschriften ein langer ist, durch Beispiele aber kurz und wirksam.‘, Übersetzung M.S.-D). Hier und im Folgenden zit. nach: Seneca d. J.: Epistulae morales ad lucilium. Lateinisch – Deutsch. Hrsg. und übers. von Gerhard Fink. Düsseldorf 2007 (Sammlung Tusculum). Vgl. Gumbrecht: Menschliches Handeln und göttliche Kosmologie (Anm. 83), S. 894; von Moos: Das exemplum und die exempla der Prediger (Anm. 51), S. 114.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Die Erzählung vom gegessenen Hirschherz offeriert eine ähnliche Konstellation aus gewonnener und verfehlter Erkenntnis, auch hier zunächst ein tabellarischer Überblick:⁴²⁸ Übersicht über die Versionen der Fabel vom Hirschherz von der Antike bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts (Auswahl) Epimythion (falls gegeben)
Text/ Kontext
Inhalt
Babrius: Fabeln, Nr. (./. Jh. n. Chr.)⁴²⁹
Der Löwe ist krank und gibt dem Fuchs den Auftrag, den Hirsch „mit Worten“ zu „erjagen“. Der Fuchs erzählt dem Hirsch, dass er (der Hirsch) zum Nachfolger des sterbenden Löwen bestimmt sei. Als der Hirsch daraufhin zum Löwen geht, springt der Löwe auf ihn zu, schafft es jedoch nur, den Hirsch am Ohr zu verletzen, bevor der Hirsch entflieht. Erneut bekommt der Fuchs den Auftrag, den Hirsch herbeizulocken. Der Fuchs erzählt dem Hirsch, der Löwe habe ihm nur etwas ins Ohr flüstern wollen, (einen guten Rat für den Nachfolger). Der Hirsch kehrt beruhigt zum Löwen zurück und wird dort gefressen. Der Fuchs stiehlt das Herz des Hirsches. Der Löwe fordert das Herz zurück, der Fuchs antwortet, der Hirsch habe kein Herz besessen, da er mit Herz sicherlich nicht überlistet worden wäre.
Avian: Fabulae (Anm. ), Nr. (um n. Chr.)
Ein Eber verwüstet die Felder ei- Zur Lehre derjenigen, die nicht nes Bauern und bekommt von von schlechten Taten lassen können. ihm ein Ohr abgeschnitten als Zeichen der Warnung. Als der Eber erneut auf den Feldern gefangen wird, schneidet der Bauer auch das zweite Ohr ab, beim
Vgl. zur Überlieferungssituation (neben Dickes und Grubmüllers Fabelkatalog) auch die älteren, motivgeschichtlich orientierten Untersuchungen: Georg Keidel: Die Eselherz- (Hirschherz-, Eberherz‐) Fabel. In: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte 7 (1894), S. 264– 267; Ernst Rochholz: Das Thiermärchen vom gegessenen Herzen. In: ZfdPh 1 (1869), S. 181– 198. Hier zit. nach: Babrius: Fabeln (Anm. 414), Nr. 95.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Übersicht über die Versionen der Fabel vom Hirschherz von der Antike bis zur Mitte des . Jahrhunderts (Auswahl) (Fortsetzung) Text/ Kontext
Inhalt
Epimythion (falls gegeben)
dritten Mal wird er geschlachtet und dem „Herrn“ vorgesetzt. Der bemerkt das Fehlen des Herzens und beschuldigt den Koch, welcher argumentiert, der Eber könne kein Herz besessen haben, da er unsinnigerweise stets zurückgekehrt sei. Fredegar: Chronik, II, (Mitte . Jahrhundert)⁴³⁰
Der Löwe feiert als stärkstes aller Tiere ein Fest und lädt alle Tiere ein. Als der Hirsch sich vor dem Kontext in der Chronik: Löwen verneigt, versucht dieser, Kaiser Leo lädt den erfolgreichen ihn zu fressen. Der Hirsch kann Gotenführer Theoderich ein; in entkommen, büßt aber sein GeKonstantinopel angekommen, weih ein. Der Löwe befiehlt dem Fuchs, den Hirsch zur Rückkehr soll Theoderich ermordet werden, kann aber mithilfe seines zu überreden, was auch gelingt. Freundes Ptolemaeus entkomZurück beim Löwen wird der men, dieser bleibt am KaiserHirsch gefressen, der Fuchs aber hof. Jahre später wird Theodestiehlt das Hirschherz. Der Löwe rich erneut eingeladen, er fordert das Herz zurück, der schickt Ptolemaeus einen Boten, Fuchs antwortet, der Hirsch habe welcher Ptolemaeus zu einem kein Herz besessen, da er mit Mahl des Kaisers begleitet, wo Herz sicherlich nicht überlistet Theoderichs Freund die Fabel worden wäre. erzählt.
Ein Gärtner besitzt einen schönen Garten, an dem ein Hirsch Gefallen findet. Der Hirsch Kontext in der Chronik: kommt in den Garten, um KräuDer Bayernherzog Adelger wird ter zu essen, der Gärtner schafft an den Hof des Kaisers Severus es jedoch, ihm den Schwanz gerufen. Er fällt dort einer Intrige halb abzuschlagen. Kurze Zeit zum Opfer und muss sich auf später kommt der Hirsch erneut Befehl des Kaisers die Haare in den Garten und wird vom scheren und die Kleidung kürGärtner getötet. Ein Fuchs stiehlt Kaiserchronik, V. – (ca. )⁴³¹
Hier und im Folgenden zit. nach: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts. Die vier Bücher der Chroniken des sogenannten Fredegar. Unter der Leitung von Herwig Wolfram neu übertragen von Andreas Kusternig. Darmstadt 1982 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. 4a). Hier und im Folgenden zit. nach: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von Edward Schröder. Hannover 1892 (MGH Scriptores. 8 [1,1]).
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Übersicht über die Versionen der Fabel vom Hirschherz von der Antike bis zur Mitte des . Jahrhunderts (Auswahl) (Fortsetzung) Text/ Kontext
Inhalt
zen. Sein Ratgeber rät ihm, diesen Befehl an sein Volk weiterzureichen, so dass alle Bayern kurze Hosen tragen. Der Kaiser ist beeindruckt und reklamiert den Ratgeber für sich, Adelger kehrt ohne ihn zurück. Einige Zeit später richtet sich die Stimmung wieder gegen Adelger, wiederum wird er nach Rom gerufen. Adelger ist unschlüssig, ob er gehorchen soll, und schickt einen Boten zu seinem alten Ratgeber. Letzterer gibt an, nicht mehr frei sprechen zu können, da er nun in den Diensten des Kaisers stehe, er erzählt dann aber öffentlich im Beisein von Kaiser und Bote die Hirschherz-Fabel. Enttäuscht kehrt der Bote zu Adelger zurück, welcher jedoch die Botschaft der Fabel versteht und nicht nach Rom reist.
unbemerkt das Herz des Hirsches. Der Gärtner wundert sich über das fehlende Herz und erzählt seiner Frau davon, diese antwortet, der Hirsch kann kein Herz besessen haben, da er ohne Verstand abermals in den Garten eingedrungen sei.
Marie de France: Esope, Nr. (um )
Der Löwe ist krank, er bekommt den Rat, zur Heilung ein Hirschherz zu essen. Der Hirsch wird eingeladen, zum Löwen zu kommen, wird aber gewarnt und erscheint nicht. Er wird ein zweites Mal eingeladen, erscheint diesmal beim Löwen, wo er erfährt, dass er getötet werden soll, daraufhin flieht der Hirsch und entkommt knapp. Er wird ein drittes Mal eingeladen, erscheint und wird gefressen. Der Fuchs stiehlt das Herz. Der Löwe und die anderen Tiere fordern das Herz zurück, der Fuchs antwortet, der Hirsch habe kein Herz besessen, da er mit Herz sicherlich nicht überlistet worden wäre.
Epimythion (falls gegeben)
Wenn Kluger und Dummer etwas teilen müssen, versteht es der Klügere, den Dümmeren zu überlisten und durch Worte zu täuschen, so dass für den Dümmeren die Lüge zur Wahrheit wird.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Übersicht über die Versionen der Fabel vom Hirschherz von der Antike bis zur Mitte des . Jahrhunderts (Auswahl) (Fortsetzung) Text/ Kontext
Inhalt
Epimythion (falls gegeben)
Gerhard von Minden: Wolfenbütteler Äsop (ca. )⁴³²
Der Löwe ist krank und lässt Lügen machen guten Rat seine Ratgeber kommen. Sie ra- zunichte. ten ihm, ein Herz zu verspeisen, um wieder zu genesen. Ein Herz wird vor den Löwen gelegt, als er gerade schläft. Der Fuchs stiehlt und isst es. Vor den Löwen gebracht, rechtfertigt der Fuchs sich, indem er den Hinweis der Ratgeber bezweifelt und diese als Verschwörer hinstellt, die den Löwen über das Essen eines schwächeren Herzens töten wollen.
Gesta Romanorum (Anm. ), Nr. (ca. )
Kaiser Traian besitzt einen schönen Garten, um den sich ein Hüter (Jonathan) kümmert. Ein Eber kommt in den Garten und verwüstet ihn, der Hüter schlägt ihm jedoch das linke Ohr ab. Am nächsten Tag kommt das Schwein wieder; ihm wird das rechte Ohr abgeschlagen. Als es das dritte Mal kommt, wird ihm vom Hüter der Schwanz abgeschlagen. Der Eber kommt noch ein viertes Mal. Jetzt wird er getötet und an den Kaiser zum Verzehr gereicht. Der Koch des Kaisers isst allerdings das Herz des Ebers. Zur Rede gestellt, führt er (über syllogistische Schlussfolgerungen) aus, der Eber könne kein Herz gehabt haben, da er ohne Verstand immer wieder in den Garten gekommen sei.
Der Kaiser bedeutet Christus, der Garten das Leben der Menschen. Die Bäume des Gartens sind gute Werke. Der Gärtner Jonathan ist der Tod, der Eber steht für Menschen, die böse Werke begehen. Das linke Ohr bedeutet die Taufe, das rechte Ohr den Tod von Verwandten. Der Koch ist der Teufel. Gott sucht am Jüngsten Tag das Herz (= Seele). Nur wer seine Seele behält, kann dem Teufel entkommen.
Hier und im Folgenden zit. nach: Die Fabeln Gerhards von Minden. In mittelniederdeutscher Sprache zum ersten Mal herausgegeben von Albert Leitzmann. Stuttgart 2002, die Fabel hier S. 196 – 199.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Was oben in Bezug auf die Erzählung von der Löwenhöhle festgestellt wurde, kann in einem ersten Schritt auch auf die Fabel vom Hirschherzen übertragen werden. Die Fabel geriert sich in divergierenden Kontexten multifunktional, sie dient mal der Warnung vor einer Wiederholung von Fehlern, mal als Bezugsrahmen längerer syllogistischer Schlüsse, wie sie die Gesta Romanorum dem Gärtner in den Mund legen – geradezu dialektisch beweist dieser, dass der Hirsch kein Herz hat, und zeigt situationsgemäße Schlagfertigkeit: Omnis cogitacio a corde procedit; bene sequitur, si nulla est cogitacio nec cor ullum usw.⁴³³ Ebenso sind es wieder kleine Details, die der Narration einen neuen Sinn verleihen, ablesbar bspw. am inszenierten Konfliktpotenzial: Babrius imaginiert einen politischen Hintergrund, bei Avian geht es um ökonomischen Schaden, Fredegar bringt Ehre und Ehrerbietungen am Löwenhof ins Spiel. In der Fabelsammlung der Marie de France ist der Hirsch kein Eindringling, sondern wird vom Löwen einbestellt, was Marie (wie schon im Epimythion zur ‚Löwenhöhle‘) zu einer Warnung vor dem Hof des Mächtigen ausbaut. Auffällig ist jedoch die frühe Einbindung in den historiographischen Kontext; die Fabel ist seit dem siebten Jahrhundert in Chroniken bezeugt. Bereits Friedrich Ohly hat hier die Überlieferungsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Kaiserchronik aufgearbeitet,⁴³⁴ Ludger Lieb und Stephan Müller haben inzwischen seine Befunde ergänzt.⁴³⁵ Die Einzelunterschiede der Versionen müssen daher nicht ausführlich referiert werden, entscheidend ist vielmehr wiederum der Blick auf narratologische Fragen und rhetorische Strategien. Auch die Hirschherz-Erzählung in der Kaiserchronik bestätigt die erarbeiteten Thesen. Die exemplarische Kurzerzählung wird in der Chronik über einen intradiegetischen Erzähler präsentiert, der Fiktionsgehalt in Fabeln wird drastisch reduziert (auch in der Kaiserchronik, die sich im Prolog explizit gegen ‚Lügendichtung‘ wen-
Gesta Romanorum (Anm. 92), Nr. 83 (‚Ein jeder Gedanke kommt aus dem Herzen, daraus folgt aber ganz richtig, daß, wo das Nachdenken fehlt, auch kein Herz sein kann.‘ Die Übersetzung hier zit. nach: Gesta Romanorum. Die Taten der Römer. Ein Geschichtenbuch des Mittelalters. Nach der Übersetzung von Johann Georg Theodor Grässe hrsg. u. neu bearb. von Hans Eckart Rübesamen. München 1962 [Heyne-Paperbacks. 5], S. 115). Vgl. Ohly: Sage und Legende in der Kaiserchronik (Anm. 379), S. 144– 156. Vgl. Ludger Lieb, Stephan Müller: Situationen literarischen Erzählens. Systematische Skizzen am Beispiel von Kaiserchronik und Konrad Flecks Flore und Blanscheflur. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz, Klaus Ridder. Berlin 2004 (Wolfram-Studien. 18), S. 33 – 58. Allgemein zu den Rede- und Ratsszenen in der Kaiserchronik vgl. Gesine Mierke: Riskante Ordnungen. Von der Kaiserchronik zu Jans von Wien. Berlin [u. a.] 2014 (Deutsche Literatur: Studien und Quellen. 18), S. 230 – 244. Generell zum rhetorischen Potenzial der Exempelerzählungen in der Kaiserchronik vgl. Udo Friedrich: Topik und Narration. Zur rhetorischen und poetischen Funktion exemplarischen Erzählens in der Kaiserchronik. In: Poetica 47 (2015), S. 1– 24; Dickhut-Bielsky: Auf der Suche nach der Wahrheit in Annolied und Kaiserchronik (Anm. 380), S. 112– 152 (zur Hirschherz-Fabel auch S. 155).
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
det,⁴³⁶ reden keine Tiere), Ziel der Einbindung ist eine narrativ inszenierte Erkenntnis, die aber nicht jedem zugänglich ist. Und dennoch funktioniert die HirschherzFabel (wenn man sie denn nicht Gleichnis nennen will) der Kaiserchronik über andere rhetorische Parameter als die Erzählung von der Löwenhöhle in der Sächsischen Weltchronik. Wie Lieb und Müller zeigen, kreiert die Kaiserchronik eine komplexe Semantik aus Heimlichkeit und Öffentlichkeit, die in das Spiel um symbolische Kommunikation in der höfischen Herrschaftspraxis eingebunden ist.⁴³⁷ Herrschaftspraxis und Deutungskompetenz ergänzen einander, der Bayernherzog Adelger reüssiert in der Realpolitik, weil er in der Lage ist, Analogien zwischen spel und ebendieser herzustellen.⁴³⁸ Zugespitzt formuliert, zeigt die Kaiserchronik einen Erkenntnisgewinn, der sich nicht aus semiotischen Lesekompetenzen (Spuren deuten) oder der Wahrhaftigkeit der Augenzeugenschaft ergibt, sondern aus der Fähigkeit, hermeneutisch zu denken: Die Chronik inszeniert im Geschehen um Herzog Adelger, Kaiser Severus, Bote und Ratgeber das Verstehen von Kurzerzählungen an sich. Ein narratologischer Selbstverweis also, der durch den Konnex Erzählung-Auslegung noch forciert wird. Konträr zur Erzählung der Löwenhöhle findet sich in der Kaiserchronik gerade kein induktives Verfahren. Es geht nicht darum, aus einer Reihe von Einzelfällen (‚Viele ziehen über die Alpen, wenige kehren zurück‘) eine Regel zu bilden (‚Gehe besser nicht über die Alpen‘), die dann qua exemplarischer Kurzerzählung an die weniger Erkenntnisfähigen vermittelt wird. Sondern es wird narrativ ein Einzelfall präsentiert (Gärtner und Hirsch), aus dem bereits eine allgemeine Regel für die Realpolitik extrapolierbar ist (‚Begehe nicht den gleichen Fehler zweimal‘). Dies funktioniert nicht über Ähnlichkeit, denn weder gibt es eine Ähnlichkeit zwischen Kaiser Severus und dem Gärtner noch zwischen Adelger und dem Hirsch, sondern über Analogie: So, wie sich der Gärtner zum Hirsch verhält, verhält sich Severus zu Adelger. Zwei Einzelfälle werden qua Analogie verbunden, deren Konsequenzen jedoch von Adelger selbst zu erkennen sind – durch die Notwendigkeit dieser eigenen Suche avanciert die Erzählung zum Rätsel. Was die Moraldidaxe der Kurzerzählung zugesteht (delectare und prodesse) wird in der Kaiserchronik zweigeteilt: Für Severus und Adelgers Boten ist die Erzählung reine Unterhaltung, für Adelger und seinen Ratgeber jedoch eine verschlüsselte Botschaft, eine zu decodierende lehrreiche Applikation. Die exemplarische Kurzerzählung wird für Adelger zum Paradigma (vgl. Kapitel II.1.2), zum Beispielfall, der allein aus sich selbst heraus Gültigkeit beansprucht.
Vgl. Jürgen Wolf: Narrative Historisierungsstrategien in Heldenepos und Chronik. Vorgestellt am Beispiel von Kaiserchronik und Klage. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters (Anm. 435), S. 323 – 346, hier S. 334– 336. Vgl. Lieb, Müller: Situationen literarischen Erzählens (Anm. 435), S. 40 f. So auch bereits Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 123. Zu beachten ist auch, dass die FabelVersion der Kaiserchronik gerade keine politischen Elemente enthält, wie sie andere Fabel-Versionen kennzeichnen (in denen ein Kaiser auftritt oder der Löwe als König der Tiere an seinen Hof lädt, s.o.).
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Das Paradigma, so wie es Agamben versteht,⁴³⁹ ist aber auf beliebig weitere Einzelfälle anwendbar. Die Kaiserchronik erzählt im weiteren Verlauf, wie Severus, erzürnt über Adelgers Weigerung, an seinen Hof zu reisen, selbst einen Heerzug in den Machtbereich des Bayernherzogs übernimmt und dort von diesem schmählich besiegt wird. Auch auf Severus (dem offensichtlich die Erkenntnis der Erzählung verwehrt bleibt) ließe sich die Grundkonstellation des Paradigmas applizieren, jedoch mit verschobener Konstellation: Nun entspräche Severus dem gefangenen Hirsch und Adelger dem siegreichen Gärtner.⁴⁴⁰ Die Kaiserchronik führt in ihrer Version die Fabel über den Tod des Hirsches hinaus noch fort. Die hier herausgearbeiteten paradigmatischen Funktionen der Erzählung träfen jedoch auch dann zu, wenn die Erzählung nach dem Tod des Tieres beendet wäre – warum, so stellt sich die Frage, wird noch vom Diebstahl des Hirschherzens berichtet? Ludger Lieb und Stephan Müller verstehen diesen letzten Teil der Erzählung im Allgemeinen und die mahnende Ansprache der Gärtnergattin im Besonderen als direkte Anrede an Adelger,⁴⁴¹ somit als ein implizites Epimythion, das eine Art Wertung der handelnden Personen vornimmt, indem es den Hirsch als unverständig charakterisiert. Dies ist sicherlich zutreffend, umfasst aber nicht den gesamten Bedeutungshorizont, der – ähnlich wie die Kurzerzählung allgemein im Kontext der Chronik – um Fragen der Erkenntnis kreist. Denn bei genauer Analyse kombiniert die Kurzerzählung an dieser Stelle verschiedene Formen des Schließens und der Schlussfolgerung. Im ersten Teil der Narration zeigt das Erlegen des Hirsches ex negativo, dass man aus Erfahrung lernen muss – eine rhetorisch hergeleitete Regel mittlerer Reichweite. Der zweite Teil hingegen fügt ein logisches Additum hinzu, das – ähnlich wie in der Fassung der Gesta Romanorum – mittels eines Syllogismus schlussfolgert. Aus den beiden Prämissen ‚Der Hirsch hatte kein Herz‘ und ‚Lebewesen ohne Herz sind unklug‘ ergibt sich der Schluss: ‚Der Hirsch war unklug‘. Ein Spiel mit der Spannung von Wahrscheinlichkeit (Rhetorik) und Wahrheit (Logik), das innerhalb der Kurzerzählung fließend ineinander übergeht. Dieser implizite Rekurs auf Techniken der rhetorischen und logischen Argumentation lässt sich auf erzähltheoretischer Ebene weiter verfolgen. Denn die in der kurzen Sequenz um den Gärtner und seine Frau präsentierten Schlussfolgerungen bilden den metapoetischen Kommentar der gesamten Sequenz – Adelger versteht es, das Rätsel zu decodieren, d. h. die Erzählung metaphorisch zu lesen, der Kaiserhof nicht – auf einer Mikroebene nochmals ab. So wird auch zum Ende der Kurzerzählung ein Befund (hier: ‚Der Hirsch hat kein Herz‘) zweifach verstanden. Der Gärtner
Vgl. Kapitel II.1.2. Diese Multifunktion spricht (leider etwas simplifizierend) auch Pézsa schon an: Tibor Friedrich Pézsa: Studien zu Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen Kaiserchronik. Frankfurt am Main [u. a.] 1993 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur. 1378), S. 88. Vgl. Lieb, Müller: Situationen literarischen Erzählens (Anm. 435), S. 39.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
bleibt auf der Ebene der Realien und ist konsequenterweise nicht in der Lage, eine Schlussfolgerung zu bilden; er fragt also seine Frau um Rat. Die Frau offeriert dann die für die Erkenntnis notwendige Prämisse: Dass der Hirsch kein Herz hat, ist metaphorisch verstanden wahr, denn der Hirsch hat sich dumm verhalten. Diese metaphorische Referenz ist der Schlüssel zur Erkenntnis, sie ist immer gültig – egal, ob ihr Befund mit der ‚Wirklichkeitʻ der Referenz kongruiert oder nicht. Denn die Schlussfolgerungen des Gärtners und seiner Frau beruhen natürlich auf falschen Annahmen: Der Hirsch hat mit Herz gelebt, bis der Fuchs es ihm post mortem entwendet hat. Die Syllogismus-Führung im zweiten Teil der Narration steht somit nicht nur konträr zur rhetorischen Beweisführung in der ersten Handlungssequenz, sie offeriert auch eine eigene Lehre über das Ziehen von Syllogismen qua metaphorischer Vorgaben. Die Leistung des exemplarischen Erzählens ist, dass es qua metaphorischer Referenz eine Erkenntnis ermöglicht: ein gegen jede Logik sprechender Befund, der aber dennoch wahrscheinlich ist.⁴⁴² Die exemplarischen Kurzerzählungen von der Löwenhöhle und vom gegessenen Hirschherz übernehmen im historiographischen Kontext somit eine ähnliche Funktion, die jedoch über je andere Erzählstrategien erreicht wird. Im Zentrum der Erzählungen steht je die Relation von Vergangenem und Zukünftigem – ein gerade für Chroniken symptomatischer Fokus. Die Relation wird über Differenzziehungen zwischen Arglosigkeit und Vorsicht, Erfahrung und Klugheit unterlegt und – wichtig für die rhetorische Rahmung – öffentlich vorgetragen, so dass eine Performanzsituation entsteht. Das (Nicht‐)Wiederholen von eigenen und fremden Fehlern wird je über unterschiedliche Figuren- und Erzählkonstellationen in Szene gesetzt: Eine Figur (Herrscher) steht vor einer Entscheidungssituation, deren Lösung in der Erkenntnis einer Kurzerzählung liegt. Die Sächsische Weltchronik und die Kaiserchronik operieren dabei mit unterschiedlichen Graden von erzählerischer Komplexität: Während in der Sächsischen Weltchronik Rudolf von Habsburg seine Entscheidung induktiv herleitet, eine Regel formuliert und diese Erkenntnis in der exemplarischen Erzählung an seine Untertanen weitergibt, konstruiert die Kaiserchronik ein raffiniertes Spiel aus metaphorischen und faktizistischen Wahrheiten, aus Rätselstrukturen und Auslegungsmöglichkeiten. Letztlich ist es hier der Einzelfall, der – metaphorisch aufbereitet – eine Erkenntnismöglichkeit verbirgt und diese erst in der richtigen Analogiesetzung freigibt. Die exemplarische Kurzerzählung ist so weitgehend frei von funktionell aufgeladenen Einbindungen (Präskription bzw. Illustration), sondern avanciert innerhalb der Chronik zu einer Schnittstelle und einem Reflexionspunkt für die Inszenierung von richtigem und falschem Verstehen. Ermöglicht wird dieses komplexe Spannungsfeld durch je unterschiedlich ausgeformte Explikationen von narrativen
Bezug kann hier auf das in Kapitel II.2.2.1 vorgestellte Ricœursche Konzept einer metaphorischen Wahrheit genommen werden, d. h. auf eine metaphorische Referenzbeziehung zwischen Sprache und Objekt.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Implikationen,⁴⁴³ die nicht nur die Wandlungsfähigkeit der Kurzerzählungen, sondern auch ihre rhetorische Situationsangepasstheit aufzeigen.
III.1.3 historia als Fabel: Bild-Narrative im Teppich von Bayeux (Exkurs zur Fabel als visuelles Medium) In den vorhergehenden Kapiteln wurde die Funktion exemplarischer Kurzerzählungen im historiographischen Kontext beschrieben als narratives Instrumentarium in der Darstellung eines weitsichtigen, qua hermeneutischer oder semiotischer Fähigkeiten Wissen und Erkenntnis erlangenden Herrschers. Pragmatisch kann die Kurzerzählung so in verschiedene Werteordnungen eingebunden werden: Als Einschüchterung der Untertanen (Gregor von Tours), als Belehrung von Gefolgsleuten (Sächsische Weltchronik), als zu decodierendes Rätsel (Kaiserchronik). Abschließend sollen im Folgenden anhand eines kurzen Exkurses – Fabeln in den Randborten des Teppichs von Bayeux – weitergehende Funktionen von Kurzerzählungen aufgezeigt werden. Dass hier gewissermaßen das zu untersuchende ‚Medium‘ gewechselt wird, soll nicht im Sinne einer willkürlichen Quellensammlung verstanden werden, sondern als Möglichkeit, die Fragestellung nach der Interaktion zwischen der Darstellung historischen Geschehens und einer exemplarischen Kurzerzählung auch in intermedialer Perspektive zu verfolgen.⁴⁴⁴ Der Teppich⁴⁴⁵ von Bayeux zeigt in nahezu monumentaler Länge den Konflikt um die Thronnachfolge Eduard des Bekenners, die mit der normannischen Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer (Schlacht bei Hastings 1066) endet. Entscheidend sind hier weniger die traditionellen Fragen der Kunstgeschichte nach Auftraggeber, Ausführenden und Einzeldeutung der historischen Szenen, sondern die Randborten des Teppichs, die neben Einzeltieren und Ornamenten auch eine große Anzahl an Fabelszenen zeigen. Dass diese (so die zu verfolgende These) mit der historischen Darstellung in Bezug treten, ja sie gar kommentieren und das Geschehen, den kontingenten Geschichtsablauf, durch Verweise auf grundlegende Muster und Schemata im wahrsten Sinne des Wortes unterlegen, bedarf der Erläuterung. Schon in den Marginalien mittelalterlicher Manuskripte ist der Bezug zum eigentlichen Text nicht zwangsläufig gegeben: Während Eintragungen wie Griffelglossen ganz selbstverständlich den Text kommentieren oder erläutern, kommt aus-
Vgl. dazu auch Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 362 f. Für neuere Anregungen dazu vgl. Kattrin Schlecht: Fabula in situ. Äsopische Fabelstoffe in Text, Bild und Gespräch. Berlin [u. a.] 2014 (Scrinium Friburgense. 37), S. 135– 138, die zwar einige Funktionen der Fabeln beschreibt, aber das hier fokussierte Hauptproblem (historia vs. fabula) nicht bespricht. Der deutsche Begriff ‚Teppich‘ ist insofern irreführend, als eine Stick-, keine Knüpfarbeit vorliegt.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
ufernden Rubriken oder Initialen häufig nur eine sekundäre Funktion zu.⁴⁴⁶ Auch für den Teppich von Bayeux hat die Forschung lange eine Interferenz zwischen Randborten und Hauptdarstellung negiert.⁴⁴⁷ Erst in den letzten Jahren wurde vereinzelt auf Bezugnahmen hingewiesen. John Bard McNulty hat überzeugend gezeigt, dass selbst einzelne Tier- und Menschdarstellungen, die sich keinen Fabeln zuordnen lassen, über Analogie- und Ähnlichkeitsrelationen auf die Haupthandlung verweisen: Normannen, die Engländer verfolgen, lassen sich in Analogie zu den in der Randborte jagenden Raubtieren lesen, herausragende Herrscher erhalten hingegen das ihrem Charakter ähnliche mythische Tier zugewiesen (Wilhelm der Eroberer als Pegasus).⁴⁴⁸ Am deutlichsten jedoch treten die vielfältigen Fabelszenen hervor. Die kunsthistorische Forschung der letzten Jahrzehnte konzentrierte sich im Wesentlichen auf drei Fragen: Welche der vielfältigen Tierszenen können als Fabeln identifiziert werden, auf welche schriftliche Vorlage rekurrieren sie und mit welchen Figuren der Haupthandlung lassen sich die Tiere der Fabeln identifizieren? Hier wird weder eine Antwort auf eine dieser Fragen gesucht, noch wird die Diskussion im Einzelnen nachvollzogen. Als identifizierbare Fabeln werden im Wesentlichen die von Chefneux angegebenen Segmente herangezogen (mit geringfügigen Modifikationen)⁴⁴⁹ und der weitergehende Ansatz von Herrmann zurückgewiesen.⁴⁵⁰ Dem Forschungskonsens bezüglich der Vorlage – eine nicht überlieferte Fabel- oder Exempelkompilation, die mit der Vorlage zur Fabelsammlung der Marie de France identisch oder sehr ähnlich gewesen sein muss – wird gefolgt.⁴⁵¹ Auch über die kaum fruchtbare Diskussion, ob nun (bspw.) Harald oder Wilhelm als Fuchs in der Fabel vom ‚Fuchs und Raben‘ zu verstehen sei,⁴⁵² soll im Folgenden weniger gesprochen werden als hingegen – bisher unterbliebene –
Die wohl luzidesten Ausführungen über die Marginalien mittelalterlicher Manuskripte bietet immer noch: Michael Camille: Image on the Edge. Margins of Medieval Art. London 1992 (Essays in Art and Culture). Vgl. bspw. H. E. J. Cowdrey: Towards an Interpretation of the Bayeux Tapestry. In: The Study of the Bayeux Tapestry. Hrsg. von Richard Gameson. Rochester, N.Y. 1997, S. 93 – 110, hier S. 100; William Brunsdon Yapp: Animals in Medieval Art. The Bayeux Tapestry as an Example. In: Journal of Medieval History 13 (1987), S. 15 – 73, hier S. 33; Dora Lämke: Mittelalterliche Tierfabeln und ihre Beziehungen zur bildenden Kunst in Deutschland. Greifswald 1937 (Deutsches Werden. 14), S. 30. Vgl. J. Bard McNulty: Visual Meaning in the Bayeux Tapestry. Problems and Solutions in Picturing History. Lewiston [N.Y.] 2003 (Studies in French Civilization. 28), S. 28 f. Vgl. Hélène Chefneux: Les fables dans la tapisserie de Bayeux. In: Romania 60 (1934), S. 1– 35, S. 153– 194. Ergänzungen liefern McNulty: Visual Meaning in the Bayeux Tapestry (Anm. 448), S. 23 – 36; sowie die Einzelkommentare in: David M. Wilson: Der Teppich von Bayeux. Sonderausg., 2. Aufl. Köln 2005. Vgl. Léon Herrmann: Les Fables antiques de la broderie de Bayeux. Bruxelles-Berchem 1964. Herrmanns breiter Ansatz, der auch in einzelnen Tieren ganze Fabeln zu erkennen meint, ist größtenteils nicht tragbar, bietet jedoch in Einzelfällen überlegenswerte Anregungen. Vgl. bspw. Cowdrey: Towards an Interpretation of the Bayeux Tapestry (Anm. 447), S. 99. Vgl. die Versuche bei Bernstein, der allerdings auch bereits resigniert feststellt, dass jeder Versuch der Identifikation aufgrund der Mehrdeutigkeiten der Fabeln zwangsläufig scheitern muss: David J. Bernstein: The Mystery of the Bayeux Tapestry. Chicago 1987, S. 129 – 135.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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generelle Fragen über die Versinnbildlichung von Grundmustern der historia in den Fabeln des Teppichs angesprochen werden, über die Rückführung des Besonderen auf das Allgemeine durch Fabelkommentierung.⁴⁵³
Abbildung : Teppich von Bayeux (Ausschnitt, stark verkleinert). Harald setzt nach Frankreich über. Die Fabeln darunter (von links nach rechts): ‚Der Rabe und der Fuchs‘, ‚Der Wolf und das Lamm‘, ‚Die gebärende Hündin‘, ‚Der Wolf und der Kranich‘, ‚Der Affe und der Löwe‘, ‚Der Frosch und die Maus‘.⁴⁵⁴
Das auf dem Teppich von Bayeux dargestellte historische Geschehen lässt sich – stark gekürzt und strukturiert – so zusammenfassen: Der angelsächsische König Eduard der Bekenner (Edward) schickt seinen Schwager, Harald II. (Harold Godwinson), den Grafen von Wessex, in die Normandie, wahrscheinlich auf Reise zu Wilhelm I. (Wilhelm der Eroberer).⁴⁵⁵ Bei der Landung in Frankreich wird Harald durch ungünstige Winde gezwungen, im Gebiet des Grafen Guido von Ponthieu zu landen. Harald wird von Guido gefangengenommen, später jedoch auf Druck von Wilhelm freigelassen, an dessen Hof er sich begibt. Harald und Wilhelm unternehmen einen gemeinsamen Feldzug, Harald schwört Wilhelm den Vasalleneid. Harald segelt zurück nach England zu König Eduard. Als dieser bald danach im Sterben liegt, übergibt er die Königskrone auf dem Sterbebett an Harald. Boten unterrichten Wilhelm (der ebenfalls Anspruch auf den englischen Königsthron besitzt) von Haralds Machtübernahme und den damit verbundenen Treuebruch gegenüber Wilhelm. Dieser rüstet eine Flotte aus und setzt mit seinem Heer nach England über. Durch Boten gewarnt, stellt Harald
Dicke erwähnt dies in einem Satz, führt es aber nicht aus: „Der Mittelstreifen zeigt die normannische Eroberung Englands, während ein Teil der unteren Bildbordüre mit Äsop lehrt, sie als unvermeidlichen Gang der Dinge zwischen Starken und Schwachen, Siegern und Verlieren hinzunehmen.“, Gerd Dicke: …ist ein hochberühmt Buch gewesen bey den allergelertesten auff Erden. Die Fabeln Äsops in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Von listigen Schakalen und törichten Kamelen. Die Fabel in Orient und Okzident. Hrsg. von Mamoun Fansa, Eckhard Grunewald. Wiesbaden 2008 (Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch. 62), S. 23 – 36, hier S. 35. Die hier angegebenen Namen der Fabeln richten sich nach den standardisierten Titeln in Dickes und Grubmüllers Fabelkatalog, teilweise sind die Fabeln in der Randborte des Teppichs mit anderen Tieren besetzt. Vgl. Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123). Bildnachweis für die Abb. 1 und 2a – c: https://de.wikipedia.org/wiki/Teppich_von_Bayeux#/media/ File:Teppich_von_Bayeux.jpg, Wikimedia Commons, lizenziert unter GNU-Lizenz für freie Dokumentation (Zugriff 20. 2. 2018). Allein aus der Darstellung auf dem Teppich selbst ist ein Zweck der Reise nicht ersichtlich – entsprechende Chroniken machen diesen aber deutlich. Die im Fließtext angegebenen historischen Namen richten sich nach heutiger Konvention und nicht nach den Inschriften auf dem Teppich.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
gleichfalls sein Heer bei Hastings auf. Die beiden Heere treffen aufeinander, in der Schlacht fällt Harald und die Engländer fliehen.
Das sich über 68 Meter erstreckende (das Ende des Teppichs ist nicht erhalten) und durch zahlreiche lateinische Schriftzusätze kommentierte Geschehen hält sich relativ eng an die einschlägigen Chroniken und zeigt die Ereignisse aus einer tendenziell pronormannischen Sichtweise. Auch die hier zur Debatte stehenden Fabeln verteilen sich über fast die gesamte Länge des Teppichs, wobei drei Besonderheiten der Fabel-Anordnung sofort ins Auge fallen: Zum einen sind die Fabeln unregelmäßig über den Teppich verteilt – gerade zum Anfang, in der Darstellung von Haralds Fahrt in die Normandie, folgen diverse Fabeln direkt aufeinander (s. Abbildung 1), während die Fabeln über den restlichen Teppich meist nur vereinzelt zu finden sind. Zum anderen kommen fast alle Szenen nur einmal vor – diejenigen Fabeln jedoch, die sich wiederholen (vgl. etwa die dreimalige Wiederholung der Fabel von ‚Fuchs und Rabe‘, Abbildung 2),⁴⁵⁶ tun dies an neuralgischen Punkten des Geschehens und mit teilweise veränderter Figurenkonstellation. Drittens scheinen Fabeln ausgewählt worden zu sein, deren Thematik verschiedene Formen von List und Verrat durchspielt, wobei beides häufig mit dem Wechsel von Besitz zusammenfällt: der Fuchs, der dem Raben Essen abgewinnt; die hochschwangere Hündin, die sich in die Hütte einer anderen Hündin einschleicht und mithilfe ihrer neugeborenen Jungen deren Wohnstatt okkupiert; die Ziege, die – vom Löwen bedroht – darum bittet, noch eine Messe singen zu dürfen, und somit Bauern anlockt, die den Löwen verjagen. Von diesen noch recht basalen Beobachtungen ausgehend, lassen sich erste Thesen formulieren: Wo der Teppich seine historischen Figuren im Mittelstreifen durch die wenigen Schriftzusätze kaum kommentiert, ihnen vor allem keine Werte zuschreibt, setzen die Fabeln das historische Personal in Relation zu allgemeinen Attributen.⁴⁵⁷ Die Fabeln zeigen klare Oppositionsbeziehungen, mithin aktantielle Relationen, die auf die Akteure des historischen Geschehens übertragen werden.⁴⁵⁸ Die syntagmatische Struktur des historischen Geschehens wird durch paradigmatisch
McNulty schlägt folgende Interpretation vor: Der Rabe ist mit Harald, der Fuchs mit Wilhelm zu identifizieren, der Käse eine Metapher für den Königsthron.Vor Haralds Reise ist völlig unklar, wem der Thron zukommt, daher wird der Käse zwischen beiden Tieren dargestellt. Nach Haralds Befreiung und beim gemeinsamen Feldzug, bei dem Harald als Vasall Wilhelms fungiert (b), ist sich Wilhelm sicher, der nächste König zu werden, daher erscheint der Käse hier im Maul des Fuchses. Haralds Rückkehr nach England (c) steht hingegen für sein gesteigertes Machtinteresse am englischen Königsthron, daher hält nun der Rabe den Käse. Die hier eingefügten Balken lassen sich als Zeichen für die räumliche Trennung zwischen beiden Kontrahenten verstehen. McNultys Deutung ist anregend, zeigt aber auch symptomatisch die Probleme eines stets spekulativ bleibenden direkten Identifizierungsversuches zwischen Fabeln und historischen Figuren auf. (Vgl. McNulty: Visual Meaning in the Bayeux Tapestry [Anm. 448], S. 32). Für eine generelle Untersuchung derartiger Interferenzen vgl. Fulda, Matuschek: Literarische Formen in anderen Diskursformationen (Anm. 320), S. 202. Zu den hier verwendeten Termini vgl. Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 219.
III.1 Exemplarisches Erzählen im historischen Kontext
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Abbildung 2: Die Fabel ‚Fuchs und Rabe‘ zeigt der Teppich von Bayeux insgesamt drei Mal. a) Harald bereitet die Überfahrt in die Normandie vor. Die Fabelszene zeigt den Raben, wie er den Käse in das Maul des Fuchses (auf dem Teppich wohl eher ein Wolf oder ein Hund) fallen lässt. b) Harald und Wilhelm ziehen gemeinsam gegen Guido in den Krieg. Die Fabelszene zeigt den Käse beim Fuchs. c) Harald hat sich von Wilhelm verabschiedet und reist zurück nach England. Die Fabelszene ist hier – ungewöhnlicherweise – in der oberen Randborte platziert, die beiden Tiere sind zudem durch Balken getrennt. Der Käse befindet sich wieder beim Raben.
ausgewiesene Basis-Konstellationen der Fabelfiguren kommentiert. Narratologisch gesprochen, erhalten die historischen Figuren hier eine Axiologie – das historische Geschehen wird über das Hinzufügen von Werte-Oppositionen als Geschichte disponiert. Dies kongruiert mit der Beobachtung, dass der Teppich nur an ausgewählten Punkten Fabeln unter die Mittelstreifen setzt: Aus der Menge an historischen Geschehensmomenten werden so nur einige akzentuiert und in ihrer semantischen Substanz auf Formen von Verrat, Täuschung und Objektwechsel geformt.⁴⁵⁹ Was der Teppich im Mittelstreifen nur als Nacheinander entfaltet – das historische Geschehen um Verrat und Treuebruch – entwerfen die Fabeln im direkten, neben den Figuren stehenden Kommentar.⁴⁶⁰ Dies fügt dem historischen Geschehen jedoch auch einen ambivalenten Ton hinzu: Die Schwierigkeiten der kunsthistorischen Forschung, Fabeltiere und Figuren der Hauptdarstellung zusammenzubringen, haben ihren Ursprung in der Offenheit und Mehrdeutigkeit der Fabeln, die – ohne Epimythion und auf eine einzige Szene reduziert – von einer hohen Polyvalenz zeugen. Tatsächlich komprimiert der Teppich von Bayeux die Fabel als exemplarische Kurzerzählung nochmals auf eine singuläre exemplarische Szene, sodass die metaphori Vgl. ebd. Zu ähnlichen Befunden auf der Ebstorfer Weltkarte vgl. Udo Friedrich: Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von Dems., Andreas Hammer, Christiane Witthöft. Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte. 3), S. 267– 288.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
sche Erzählung arretiert wird und ganz zur einzelnen Metapher gerinnt. Und selbst auf diese Weise funktioniert die Erkenntnis der Metapher ‚Verrat‘ oder ‚Heimtücke‘ nur, wenn der Betrachter des Teppichs bereits vom Inhalt der Fabeln weiß – auch hier also Formen einer Rätselstruktur, jedoch nicht innerhalb eines Textes, wie etwa in der Kaiserchronik inszeniert, sondern zwischen Bild und Betrachter. Nuancen in der Deutung der verschiedenen Fabeln zu suchen, erscheint heuristisch daher wenig erfolgversprechend. Gerade die Tatsache, dass der Teppich von Bayeux die – für das Geschehen höchst bedeutsame – Überfahrt und Landung Haralds in der Normandie mit acht verschiedenen Fabeln unterlegt, deutet eher auf ein allgemeines Substrat hin, das die visuell aufbereiteten exemplarischen Kurzerzählungen als Kommentar zum Einzelgeschehen offerieren und kumulativ verstärken. So ließen sich die Fabeln einerseits als Vorschau, als Hinweis auf das zukünftige, ebenso vom Verrat durchwobene Geschehen lesen,⁴⁶¹ wie sie auch anzeigen, dass es allgemeine und wahrscheinliche Qualitäten sind, die die historia prägen. Die Dichtkunst, so formuliert es Aristoteles, zeigt im Gegensatz zur wahren Geschichtsschreibung das Wahrscheinliche an.⁴⁶² Die innovative Verknüpfung von historischem Geschehen und fiktionaler Form, die der Teppich von Bayeux entwirft, rekurriert auf beide Leitlinien: Was er zeigt, wird nicht nur als historisches Einzelgeschehen imaginiert, sondern auch als kulturell wahrscheinlich. Der besondere Fall des historischen Ereignisses (Schlacht bei Hastings) gewinnt so allgemeine Qualitäten (Verrat bei Thronkonflikt als rekurrentes Thema der historia). Ihren eigenständigen Status als Erzählung haben die Fabeln hier durch ihre Reduktion auf eine Einzelszene verloren. Selbst eine Fabel wie ‚Fuchs und Rabe‘, von der drei verschiedene Szenen vorliegen, sperrt sich gegen eine stringente Erzählform aus Anfang-Mitte-Schluss, da die drei Szenen kausal nicht aufeinander folgen können (s. Abbildung 2 und Fußnote 456). Konträr zur chronologischen Verlaufsform des Mittelteils haben die Fabeln keinerlei Bezug zu zeitlichen Vorgaben, sondern zeigen sich als Elemente des Allgemeinen und Exemplarischen – eine konzeptionelle Grundierung der historia, die gegen eine etwaige Kontingenz im Geschehen plädiert. Der durch Treuebruch, Verrat und Täuschung bestimmte Verlauf des Konfliktes um den Königsthron, so deuten es die Fabeln an, ist kein Einzelfall der Geschichte, sondern ein allgemein-menschliches Handlungsprinzip. Im Gegensatz zu den singulären und abgeschlossenen Erzähleinheiten in Kaiserchronik oder Sächsischen Weltchronik offerieren die Fabeln im Teppich von Bayeux mehr als nur einen punktuellen Kommentar in der historia. Mit dem direkten Nebeneinanderstellen von historischen Figuren und Fabeltieren steht dem Teppich als ‚visuellem Medium‘ die Möglichkeit offen, das historische Geschehen direkt und in seiner Gänze mit deutenden Strukturen zu versehen. Das ‚Erzählen zur Erkenntnis‘ Vgl. McNulty: Visual Meaning in the Bayeux Tapestry (Anm. 448), S. 32– 34; Schlecht: Fabula in situ (Anm. 444), S. 138. Zu überlegen wäre zudem, inwiefern sich in den Narrativen von Verrat, Täuschung und Vorausschau Elemente finden, die als Erzählmuster auch die Heldenepik prägen. Vgl. Aristoteles: Poetik (Anm. 183), 9 (1451b 6 – 11).
III.2 Exemplarische Kurzerzählungen im didaktischen Kontext
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jedoch, das die exemplarischen Kurzerzählungen im historiographischen Kontext vornehmen, funktioniert auch hier qua metaphorischer Übertragung. Wo die Chroniken diesen Erkenntnisprozess anhand verschiedener Stufen durchspielen – für die Kaiserchronik ließen sich bspw. drei Ebenen identifizieren: immanent in der Erzählung des gegessenen Hirschherzens die Erkenntnis der Gärtnersfrau, anschließend an die Erzählung die Erkenntnis Adelgers und dann der letzte Schritt aus dem Text heraus als die Erkenntnis des Rezipienten der Chronik –, wendet sich der Teppich von Bayeux direkt an seine Betrachter. Es sind hier nicht die Figuren des Geschehens, die eine Erkenntnis über die historia erlangen, sondern Strukturen der historia selbst sollen vom Rezipienten identifiziert werden. Diese kommunikative Pragmatik wird wiederum eingeschränkt durch die zum Standbild arretierten Fabeln – sie erinnern eher an Rätselbilder als an eine Sinn-offenbarende Narration. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig als Schwäche verstanden werden: Aus hermeneutischer Perspektive pluralisieren die zum Standbild arretierten Fabeln die Sinnproduktion des Teppichs.
III.2 Exemplarische Kurzerzählungen im didaktischen Kontext III.2.1 Einzelfall und Regel: Parameter einer rhetorisch-didaktischen Beweisführung Die Untersuchung von exemplarischen Kurzerzählungen in Chroniken hat nicht nur gezeigt, dass Fabeln und Gleichnisse aufgrund ihres problematischen Wahrheitsgehaltes in den (sich der wahren historia verpflichtet gebenden) Chroniken eine deutliche Abweichung von der Beschreibung und Archivierung historischer Ereignisse darstellen, sondern auch, dass diese Abweichung von den Chroniken selbst fruchtbar gemacht werden kann, indem sie die Erzählungen als reflexive Schnittpunkte in das historische Geschehen integrieren. So verweist die Kaiserchronik anhand der Hirschherz-Erzählung sowohl auf Funktionen des Narrativen im politischen Kontext, wie sie auch einen hermeneutischen Kommentar über ‚richtiges‘ und ‚falsches‘ Auslegen und Verstehen offeriert. Demgegenüber erweisen sich exemplarische Kurzerzählungen in didaktischen Summen auf den ersten Blick homogener in ihren Kontext eingebunden und mit einer simpleren Funktion besetzt: die allseits gegenwärtige Normvermittlung argumentativ zu unterstützen oder exemplarisch zu illustrieren. Da das didaktische Ziel der Belehrung immer auch ein rhetorisches Moment der Überzeugung beinhaltet, ist die Vereinnahmung rhetorischer Erzählstrategien in Lehrtexten prinzipiell möglich und durchaus nicht ungewöhnlich, wie etwa am Renner Hugos von Trimberg ablesbar, der Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel gleichermaßen in seinen Argumentationsgang einbaut. Als Narratives im Nicht-Narrativen bleibt die Kurzerzählung aus erzähltheoretischer Perspektive aber ein Fremdkörper.⁴⁶³ Und auch die
Vgl. Christoph Schanze: Narratives im Nicht-Narrativen. Zur Funktion erzählender Passagen in der
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
metaphorische Aufbereitung eines exemplarischen Einzelfalls in der Kurzerzählung kann unter Umständen mit der systematischen Regelvermittlung im didaktischen Kontext konfligieren. In den folgenden Kapiteln wird versucht, mögliche Funktionen von Kurzerzählungen in didaktischen Texten näher einzugrenzen und an Einzelbeispielen zu analysieren. Einleitend werden die wesentlichen Argumentationsmittel der Didaxe aufgearbeitet und die rhetorische Verortung der Kurzerzählung und ihrer beispielgebenden Funktion in diesem System skizziert: Dienen die Kurzerzählungen überwiegend der Illustration, wie es etwa Klaus Grubmüller für den Renner konstatiert,⁴⁶⁴ oder verfügen sie auch über Strategien der narrativen Argumentation?⁴⁶⁵ Wenn hier von ‚didaktischen Texten‘ gesprochen wird, so meint dies nicht denjenigen Teil mittelalterlicher Texte, die einen didaktischen Anteil aufweisen (dazu dürfte man fast alle exemplarischen Kurzerzählungen selbst zählen), sondern im engeren Sinne lehrhaftes Schrifttum, das nicht primär narrativ gestaltet ist. Christoph Huber nennt diese Texte „moraldidaktische Summen“⁴⁶⁶ – von den Schriften, die er diesem Bereich zuordnet, fallen fünf in den hier untersuchten Zeitraum: Wernhers von Elmendorf Bearbeitung des Moralium dogma philosophorum (um 1170), der Welsche Gast des Thomasin von Zerklaere (1215/16), der Renner Hugos von Trimberg (um 1300/ 1313), dazu zwei Schachbücher (Heinrich von Beringen, 2. Viertel 14. Jh.; Konrad von Ammenhausen, 1337).⁴⁶⁷ Die Fallbeispiele in den folgenden Kapiteln untersuchen diese fünf Texte, geordnet sind sie dabei vordergründig nach quantitativen Befunden. Beinhaltet etwa Wernhers von Elmendorf Bearbeitung des Moralium Dogma Philosophorum nur eine einzige exemplarische Kurzerzählung (III.2.2), inkorporieren der Renner und der Welsche Gast bereits zahlreiche (teils sehr heterogene) Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel (III.2.3). Mit den im 14. Jahrhundert entstehenden Schachbüchern gewinnt die exemplarische Kurzerzählung im didaktischen Kontext schließlich (mengenmäßig) Vorrang gegenüber der systematischen Normdiskussion ihres Kontextes. Die Texte Konrads von Ammenhausen und Heinrichs von Beringen bestehen zu großen Teilen aus historischen Exempeln, nicht-narrative Passagen werden hingegen marginalisiert (III.2.4). Formal stehen die Schachbücher damit
mittelhochdeutschen Lehrdichtung. In: Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident. Hrsg. von Regula Forster, Romy Günthart. Frankfurt am Main [u. a.] 2010, S. 133 – 159. Vgl. Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 259. Dafür plädiert: Schanze: Narratives im Nicht-Narrativen (Anm. 463), S. 140. Christoph Huber: Der werlde ring und was man tuon und lassen schol. Gattungskontinuität und Innovation in moraldidaktischen Summen: Thomasin von Zerklaere – Hugo von Trimberg – Heinrich Wittenwiler und andere. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea. 16), S. 187– 212, hier besonders S. 188 f. Im 14. Jahrhundert entstehen in rascher Folge (teilweise unabhängig voneinander) volkssprachige Übersetzungen des lateinischen Schachbuchs des Jacobus de Cessolis (um 1300). Der hier gewählte Untersuchungszeitraum (bis 1350) limitiert die Auswahl auf die zwei angegebenen Übertragungen.
III.2 Exemplarische Kurzerzählungen im didaktischen Kontext
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dicht an den Erzählsammlungen, die im zweiten Analyseabschnitt der Arbeit als ‚Beispiel-Archive‘ untersucht werden. Im Fokus der Analyse stehen so auch verschiedene Formen der Integration exemplarischer Kurzerzählungen, die von den untersuchten Texten divergierend gelöst werden: eine knappe und funktional ausgerichtete Einbindung in die Vermittlung von Normen und Regeln einerseits, das Überschreiten der reinen Funktionalisierung und Ausformen ‚narrativer Überschüsse‘ andererseits. Der topische Gehalt didaktischer Texte scheint einen je unterschiedlich gewichteten Anspruch an exemplarische Kurzerzählungen zu formulieren. In diesem Zusammenhang kann noch einmal auf Barthesʼ Arbeiten zum rhetorischen Modell der Topik verwiesen werden: Topik, so Barthes, lasse sich verstehen als Archiv, als Struktur und als Argument.⁴⁶⁸ Zu untersuchen ist damit (im weiteren Sinn), inwiefern der didaktische Text sich bereits als Wissensenzyklopädie versteht, als Speicher für allgemeine und besondere Fälle, d. h. als Archiv; wie dieses Archiv aufgebaut ist, d. h. nach welchen Kriterien seine Struktur ausgerichtet wird; und inwiefern schon der narrative Einzelfall zum Argument avancieren kann. Von ‚reiner‘ Didaxe kann jedoch nur mit Einschränkung gesprochen werden. Gerade im Bereich von moraldidaktischen Summen ist der Einfluss christlichen Gedankengutes naturgemäß sehr groß, nicht zuletzt auch aufgrund des klerikalen Hintergrundes einiger Verfasser, wie etwa bei Hugo von Trimberg. Überschneidungen mit Kapitel III.3 (Kurzerzählungen im Kontext des Christentums) sind daher gegeben. Was hier an der Didaxe interessiert, ist vielmehr eine Beobachtung, die Niklas Luhmann aus systemtheoretischer Perspektive zur Wissenssoziologie des Mittelalters aufgestellt hat. Die Morallehre, so Luhmann, steht immer in der Gefahr, bloß tautologisch zu argumentieren, indem sie Tugenden und Laster vorstellt und diese entsprechend lobt und tadelt, jedoch ohne Selbstreferenzen oder Reflexionen zuzulassen:⁴⁶⁹ Zwischen Gut und Böse gibt es selten ein Drittes. „Die Aufgabe einer etwas distanzierten Präsentation des Moralschemas“, so Luhmann weiter, „obliegt der Rhetorik, die wie zur Entlastung der Ethik erfunden zu sein scheint.“⁴⁷⁰ Die Rhetorik ist in der Lage, das gleiche Verhalten einmal zu loben und zu tadeln (wenn etwa die Umstände andere sind),⁴⁷¹ sie zielt somit auf die Besonderheiten des Einzelfalls. Nicht allein die Etablierung eines kohärenten moralphilosophischen Lehrgebäudes, sondern auch die Applikation dieser Regeln auf Einzelfälle scheint somit zum Programm der Texte zu gehören. Diese Relation von Regel und Fall, hier verkörpert über die Kurzerzählung als metaphorische Aufbereitung eines Einzelfalls gegenüber einer normativ-didaktischen Regel im nicht-narrativen Kontext, ist jedoch prekär. Als
Vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 66 – 72. Vgl. Niklas Luhmann: Ethik als Reflexionstheorie der Moral. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt am Main 1989, S. 358 – 448, hier S. 381. Ebd., S. 387. Vgl. ebd.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Schnittpunkt zwischen Common Sense (Erfahrungswissen) und systematischer Normvermittlung steht die Kurzerzählung in einem Spannungsfeld und kann, je nach Gegebenheit, unterschiedlich ausgespielt werden. Das Formulieren von Regeln und ihren Anwendungen scheint keiner homogenen Linie zu folgen, sondern auf verschiedene Techniken aus den Bereichen Logik und Rhetorik zurückzugreifen: Berufung auf Autoritäten, Sentenzen, Syllogismen, historische Exempel, Gleichnisse, Fabeln usw. Dieses auf den ersten Blick verwirrende Konglomerat an Argumentationsformen hat seinen Ursprung in der zwiespältigen Ausgangslage der mittelalterlichen Didaxe. Gleich ob sie sich eher an ein höfisches Publikum richtet (wie der Welsche Gast) oder eine allgemeine Ständelehre verfolgt (wie der Renner), die Didaxe steht stets im Spannungsfeld zwischen einer pragmatischen Zweckbindung, die Wissen als praktischen Lebensvollzug vermittelt, und einem normativen Grundsatzprogramm, das diese Pragmatik durch überzeitlich gültige Regelvorgaben unterlegt. Es geht also zugleich darum, wie sich in einer spezifischen Situation in der Gesellschaft klug zu verhalten ist, als auch um die Einordnung dieses Verhaltens in ein moralisches Raster. Abstrakter formuliert: Die Summen versuchen, sowohl Common-Sense-Überzeugungen zu aktivieren (Etwa: ‚Es ist klug, nicht mehr auszugeben, als ich besitze‘), als diese Überzeugungen auch über allgemeingültige Präskription abzusichern (‚Wer mehr ausgibt, als er besitzt, macht sich der Verschwendung und damit der Sünde – luxuria als eine der sieben Todsünden – schuldig‘). Diese Kombination birgt jedoch Konfliktpotenzial, denn wo die Norm generell als überzeitlich gültige Richtschnur präsentiert wird, verwehrt sich der Common Sense diesen eindeutigen Zuordnungen. Das Wissen des Common Sense, so formuliert es etwa Clifford Geertz, präsentiert sich unmethodisch in Sprichwörtern oder Sentenzen,⁴⁷² es ist somit situationsspezifisch und von einer rhetorischen Pragmatik geprägt, die sich stärker dem Einzelfall anpasst, als Regeln für das Allgemeine vorzugeben. So ließen sich leicht (um bei dem oben gegebenen Beispiel zu bleiben) Situationen finden, in denen es klug wäre, mehr auszugeben, als der Besitz hergibt (der Adlige, der sich besonders der milte verpflichtet, also ökonomisches Kapital in symbolisches Kapital umwandeln möchte usw.).⁴⁷³ Dies bildet auch eine Schnittstelle zur Rhetorik, die immer schon einkalkuliert, dass sich gesetzte Normen unter besonderen Um-
Vgl. Geertz: Common sense als kulturelles System (Anm. 23), S. 284. Ein so angelegtes Gleichnis erzählt bspw. Petrus Alfonsi in der Disciplina clericalis (Nr. 29: ‚De prudenti consiliarii regis filio‘): Ein junger Verwalter gibt während einer Hungersnot große Mengen Geld für die Armen aus, ja verschuldet sich gar, um Lebensmittel zu verteilen. Der zürnende König ruft den jungen Verwalter an den Hof, wo dieser erklären muss, was er mit dem Vermögen des Königs getan hat. Als der König vernimmt, zu welchem Zweck der Ratgeber das Geld ‚verschwendet‘ hat, verzeiht er ihm. Hier und im Folgenden zit. nach: Die Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi. Nach allen bekannten Handschriften hrsg. von Alfons Hilka und Werner Söderhjelm. Heidelberg 1911 (Sammlung mittellateinischer Texte. 1).
III.2 Exemplarische Kurzerzählungen im didaktischen Kontext
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ständen auch in ihr Gegenteil verkehren können.⁴⁷⁴ Das in dieser Arbeit immer wieder berücksichtigte Zusammenspiel aus Argumentationstechniken, die sich der Wahrheit verpflichten, und denjenigen, die mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten, lässt sich also auch hier konstatieren. Die dezidierte Normvermittlung zielt auf notwendige Allgemeingültigkeit (Wahrheit), das praktische Wissen des Common Sense und der Rhetorik aber auf eine zwar wahrscheinliche, aber nicht notwendige Allgemeinheit. Der Befund schlägt sich nicht nur in argumentativen Strategien nieder: So hat etwa die Soziologie auf die komplexitätsreduzierende Funktion systematischer Vermittlung verwiesen – die klare Regel schafft Eindeutigkeiten und damit Vertrauen.⁴⁷⁵ Der nur wahrscheinliche Einzelfall jedoch, der plurale Lösungen anstatt eines schematischen ‚entweder-oder‘ offeriert, wirkt oft komplexitätsproduzierend. Didaktische Argumentationsstrategien kombinieren dabei häufig Techniken von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit – so ergänzt etwa Thomas von Cantimpré in seinem enzyklopädisch-didaktischen Liber de natura rerum die allgemeine Meinung (Common Sense) durch Verweis auf die Autorität des Alters (als Indikator für Wahrheit): Interdum autem et vulgi opiniones non per omnia refutandas posuimus; ipsa enim antiquitas in talibus plerumque honoranda est, dum aperte non sit dissona veritati. ⁴⁷⁶ Ähnlich finden sich im Renner oder der Spruchdichtung des Freidank Aussagen, in denen sich ein Sprecher-Ich als Augenzeuge eines kulturellen Erfahrungsschatzes geriert, als „Sprachrohr der allgemeinen Erfahrung“⁴⁷⁷, wodurch dieses wahrscheinliche Erfahrungswissen zur wahren historia avanciert – denn seine Existenz ist über die Garantie des Zeugen belegt. Die exemplarische Kurzerzählung jedoch löst die oben angesprochene Dichotomie zwischen Normpräskription (Wahrheit) und Anknüpfung an die Lebenswelt der Rezipienten (Wahrscheinlichkeit) auf. Sie kombiniert die pragmatische Aufbereitung eines Problemfalles oder Lehrsatzes in der Narration mit einer Regel, die aus dem Fall selbst ablesbar ist bzw. im Epimythion auch direkt an Vgl. etwa Cicero: De officiis, III, 25, 95: Sic multa, quae honesta natura videntur esse, temporibus fiunt non honesta. Facere promissa, stare conventis, reddere deposita commutata utilitate fiunt non honesta (‚So hört vieles, das von Natur aus moralisch zu sein scheint, unter gewissen Umständen auf, moralisch zu sein. Versprechen zu erfüllen, Abmachungen einzuhalten und Aufbewahrtes zurückzugeben, ist unmoralisch, wenn der Nutzen ins Gegenteil umschlägt.‘). Text und Übersetzung hier und im Folgenden zit. nach: Marcus Tullius Cicero: De officiis. Lateinisch und Deutsch. Übers., komm. und hrsg. von Heinz Gunermann. Stuttgart 1976 (RUB. 1889). Mit dem Problem von ‚Komplexitätsreduktion vs. Komplexitätsproduktion‘ hat sich aus soziologischer Perspektive umfassend Niklas Luhmann beschäftigt, vgl. etwa seine Arbeit zum Zusammenhang von Vertrauen und Komplexitätsreduktion: Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 2., erw. Aufl. Stuttgart 1973, bes. S. 23 – 32. ‚Manchmal haben wir auch die allgemeinen Meinungen, die nicht völlig zu verwerfen sind, angegeben; denn meist ist in solchen das Alter zu ehren, solange es nicht offensichtlich der Wahrheit widerspricht.‘ Text und Übersetzung zit. nach: Christel Meier: Argumentationsformen kritischer Reflexion zwischen Naturwissenschaft und Allegorese. In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 116 – 159, hier S. 138. Klaus Grubmüller: Freidank. In: Kleinstformen der Literatur. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1994 (Fortuna vitrea. 14), S. 38 – 55, hier S. 54.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
geführt wird. Die exemplarischen Kurzerzählungen ergänzen normative Wissensformen durch rhetorische Argumentation, durch kollektiv abgesicherte Techniken der Wirklichkeitsbewältigung:⁴⁷⁸ Die Kurzerzählung kann damit sowohl komplexitätsreduzierende wie komplexitätsproduzierende Funktionen übernehmen. Dass dieses ‚narrative Argumentieren‘ letztlich in unterschiedlich ausgeformten Erzählungen resultiert, liegt einerseits an deren divergierender Konzeption: Das historische Exempel schöpft aus dem Reservoir der Geschichte, das Gleichnis aus der Gesellschaft, die Fabel aus der Tierwelt – die verschiedenen Techniken der Übertragung können sowohl in Verfremdung (Fabel) als auch in Wahrheitsberufung (historisches Exempel) resultieren.⁴⁷⁹ Andererseits hat bereits Karlheinz Stierle darauf hingewiesen, dass unterschiedliche Funktionszusammenhänge je neue Ansprüche an eine Erzählung stellen. Jedes Narrativ verfüge, so Stierle, über Implikationen, die je nach Kontext verschieden expliziert werden können.⁴⁸⁰ Stierles Beispiel ist das exemplum, das durch divergierende Explikation zum Kasus avancieren kann. Die folgenden Fallanalysen zeigen zusätzlich, dass mit dem Ausspielen von Implikationen nicht zwangsläufig ein Wechsel in der Erzählkonzeption einhergeht, sondern auch unterschiedliche Funktionalisierungen stoffgleicher Geschichten möglich sind. Dies führt nicht zu erzählerischer Beliebigkeit, wie es Stierles These zum Vorwurf gemacht wurde,⁴⁸¹ sondern verweist auf die (von Hugo Kuhn postulierte) Multifunktionalität jeder Erzählform.⁴⁸² Man muss den – teils stark strukturalistisch geprägten – Überlegungen Kuhns und Stierles nicht in allen Einzelheiten folgen, doch zeigen sie einen Lösungsansatz für ein erzähltheoretisches Dilemma auf. Wenn eine Kurzerzählung im didaktischen (oder auch einem anderen deskriptiven) Kontext über ihre primäre Funktion der Illustration oder des Beweises hinaus noch weitere Details enthält, so muss dies nicht allein als Form ‚beginnender Literarisierung‘ gewertet werden. Denn die These des Strukturalismus, dass jedem Textelement auch eine eigene Funktion zukomme, fordert auf, sich nicht mit der Feststellung einer ‚Literarisierung‘ zufriedenzugeben (wie die Forschung es etwa anhand der Erzählform Novelle gemacht hat),⁴⁸³ sondern diese zu kontextualisieren. Längere Erzähleinheiten schlicht als ‚mehrdeutig‘ oder ‚ambig‘ zu charakterisieren, mag zwar zutreffen, verdeckt aber die Tatsache, dass auch diese Kurzerzählungen im didaktischen Kontext einen bestimmten Zweck erfüllen können. Auch scheinbar gegen ihren Kontext erzählende Fabeln, Gleichnisse oder historische
Vgl. dazu auch die Hinweise in den Kapiteln II.1 und II.2. Siehe dazu Kapitel II.3 Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 362 f. Vgl. Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese (Anm. 61), S. 63 f. Vgl. Kuhn: Zur Typologie mündlicher Sprachdenkmäler (Anm. 61), S. 21. Vgl. auch die Diskussion in II.1. Zum Strukturalismus vgl. Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (Anm. 37). Zur ‚Literalisierung‘ der Novelle vgl. Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle (Anm. 36).
III.2 Exemplarische Kurzerzählungen im didaktischen Kontext
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Exempel verfügen über Figurationen, die im didaktischen Text fruchtbar gemacht werden können: Eine die Regel übersteigende Erzählung sorgt für Anschauung und gibt damit Gelegenheit zur Reflexion. Mit dem Einfügen einer detaillierten Kurzerzählung verschiebt sich der Fokus auf den komplexen Fall, nicht auf die systematische Regel – welche Auswirkungen dies auf die Argumentationsstrategien der Didaxe besitzt, soll im Folgenden im Fokus stehen.
III.2.2 Die singuläre Kurzerzählung im didaktischen Kontext: Wernher von Elmendorf Die Zusammenstellung von normativ-systematischen Regelvorschriften und narrativen Einzelfällen ist kein genuin didaktisches Phänomen: Rechtstexte wie der Deutschenspiegel oder der Schwabenspiegel inkorporieren ebenso Erzähleinheiten unterschiedlicher Herkunft. So setzt etwa der Deutschenspiegel Exempel aus dem Buch der Könige vor seine Rechtsabhandlungen, die jedoch weniger eine heilsgeschichtliche Funktion erfüllen,⁴⁸⁴ als sie das kulturelle Archiv an biblischen Rechts- und Machtbeispielen für den juristischen Kontext aufbereiten. Positiv konnotierten Figuren wie Moses stehen pejorative Könige wie Balak gegenüber⁴⁸⁵ – Recht- und Machtausübung werden in bonam partem wie in malam partem präsentiert. Die Autorität biblischer historia verweist aber auch auf die Grenzen irdischer Gerichtsbarkeit, d. h. auf Gott als meta-juristische Instanz, der jedwede weltliche Regelung übertrifft: Ir edeln herren, den got ûf disem ertrîche guot und êre habe gegeben, gedenket an daz grôze gerihte daz got hie vor über die grôzen herren tet. Ir sult ez für iuwer augen setzen, wie griulîch er über si rihtete. ⁴⁸⁶ Während die historischen Exempel eine eigenständige Einheit bilden, die das juristische Regelsystem einer christlichen Rahmung unterwerfen, finden sich innerhalb des Deutschenspiegels auch singuläre, nicht-historische Erzähleinheiten, so etwa das Gleichnis ‚Der Sünder und der Einsiedler‘ und das Märe ‚Der Richter und der Teufel‘, die beide der Stricker-Tradition entstammen.⁴⁸⁷ Wie Norbert Ott anhand der
Hier und im Folgenden zit. nach: Deutschenspiegel und Augsburger Sachsenspiegel. Hrsg. von Karl August Eckhardt und Alfred Hübner. 2., neubearb. Ausg. Hannover 1933 (MGH Leges. 7 [N.S. 3]). Bezeichnenderweise ist die Hauptquelle für diesen Abschnitt nicht die Vulgata, sondern die Historia scholastica des Petrus Comestor, also eine bereits stark exempelgeprägte Bibel-Paraphrase. Vgl. James H. Morey: Peter Comestor, Biblical Paraphrase, and the Medieval Popular Bible. In: Speculum 68 (1993), H. 1, S. 6 – 35. Vgl. dazu auch Norbert H. Ott: Bispel und Mären als juristische Exempla. Anmerkungen zur Stricker-Überlieferung im Rechtsspiegel-Kontext. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter (Anm. 51), S. 243 – 252, hier S. 251 f. Deutschenspiegel (Anm. 484), S. 71, 6 – 10. Der Deutschenspiegel selbst nennt beide Kurzerzählungen bîspel, vgl. zu den hier verwendeten Gattungsbegriffen Kapitel II.3. Moelleken führt das Gleichnis in seiner Stricker-Ausgabe an, vgl. Stricker: Kleindichtung (Anm. 93), Nr. 94. Zu der Frage nach Stricker-Erzählungen im Rechtskontext vgl.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
handschriftlichen Überlieferung gezeigt hat, ist der Platz des Stricker-Gleichnisses im juristischen Kontext nicht festgelegt, sondern kann je nach Handschrift divergieren: Es findet sich sowohl als Übergang zwischen dem Buch der Könige und der Reimvorrede des Rechtstextes als auch an unterschiedlichen Punkten innerhalb der Rechtsvorschriften selbst, so etwa im Kontext der Regelung von Erbfällen nach Klostereintritt.⁴⁸⁸ Das Gleichnis scheint einen Grenzfall von Funktionalität abzubilden, insofern seine freie Verortung in den unterschiedlichen Handschriften auf keine dezidierte Funktion rückschließen lässt.⁴⁸⁹ Es liegt somit nahe, das Gleichnis weniger als Illustration einer Regel zu verstehen⁴⁹⁰ denn als Komplement zu den rechtlichen Normen, d. h. als eine variierende metaphorische Aufbereitung eines exemplarischen Wertes. Denn während die Normen juristische Regeln vorschreiben bzw. Sanktionen für die Nicht-Einhaltung dieser Regeln formulieren, propagiert das Gleichnis eine kulturell geformte Tugend. Es erzählt die Geschichte eines Sünders, charakterisiert als unstæte (S. 105, 22), der sich aus Reue einem Einsiedler anschließt, dort jedoch nach einem Jahr mangels göttlicher Gnadenzeichen zu zweifeln beginnt. Sich seiner annehmend, spricht der Einsiedler zu ihm: „Trit her ûf mînen fuoz!“ / Unde hiez in ûf sehen (S. 105, 18 f.). Der Sünder berichtet von drei Visionen,⁴⁹¹ die vom Einsiedler ausgelegt werden – Diu dinc betiutent elliu dich (S. 107, 4) –, woraufhin der Sünder von seinem Zweifeln ablässt: Und beleip dar an sô stæte, / Daz al sîn guottæte / Zuo nâmen unz an sînen tôt (S. 108, 18 – 20). Mit dem Rekurs auf unstæte/stæte verweist das Gleichnis auf eine Verhaltensnorm, die rechtlich nicht reguliert ist, sondern im Common Sense verortet werden kann. Gleichzeitig wird in der Narration selbst ein Überzeugungsprozess inszeniert, der sich nicht aus praecepta, also Vorschriften, speist, sondern die Übernahme sozialer Leistungen (stæte) als eigenen Erkenntnisprozess inszeniert, der im Wesentlichen durch die Ausdeutung von mære[n] (S. 108, 15) geführt wird.⁴⁹² auch Maryvonne Hagby: man hat uns fur die warheit … geseit. Die Strickersche Kurzerzählung im Kontext mittellateinischer narrationes des 12. und 13. Jahrhunderts. Münster [u. a.] 2001 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit. 2), S. 332– 334. Vgl. Ott: Bispel und Mären als juristische Exempla (Anm. 485), S. 248– 251. Zur Idee einer festen Funktionalität jedweden Textbestandteils vgl. abermals Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (Anm. 37). Dagegen spricht der wechselnde Platz innerhalb der Handschriften, zudem ergeben sich dort, wo das Gleichnis einer Regel folgt, kaum Parallelen zwischen Erzählinhalt und Gesetzesnorm. Der Sünder sieht: einen Mann, der eine Last Holz tragen möchte und, obwohl diese bereits zu schwer für ihn ist, immer noch mehr Holz dazulegt; einen Mann, der mit einem Eimer ohne Boden Wasser schöpfen will; zwei Männer, die gemeinsam eine Stange quer zwischen sich tragen und folglich nicht durch eine Tür treten können. Das Gleichnis ist eine Variante der im Mittelalter weitverbreiteten Erzählung der ‚Vision des Arsenius‘, die von Vitaspatrum bis zu Gesta Romanorum in zahlreichen Exempelsammlungen vorkommt. Für einen Überblick über die lateinischen Versionen und ihre Bezüge zur Stricker-Erzählung vgl. Hagby: man hat uns fur die warheit … geseit (Anm. 487), S. 32– 49. Ein – hier nicht weiter verfolgter – Vergleich zum Märe ‚Der Richter und der Teufel‘ im Kontext des Deutschenspiegels böte interessante Perspektiven. Vgl. zu Literatur und Recht in ‚Der Richter und der Teufel‘ auch die profunde Analyse von Hartmut Bleumer: Vom guten Recht des Teufels. Kasus, Tropus
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Ein ähnlich gelagerter Fall ergibt sich bei Wernher von Elmendorf:⁴⁹³ Die exemplarische Kurzerzählung wird dort herangezogen, wo eine bestimmt Form der Pragmatik gefordert ist, die über das reguläre Inventar an Normen und Regeln nicht gefüllt werden kann. Ist dies im Deutschenspiegel ein sozialer Wert, so führt Wernher eine exemplarische Kurzerzählung im Kontext von Rhetorik selbst an. Er beginnt seine Tugendlehre mit einer Diskussion über das richtige Ratgeben, wobei er immer wieder auf die Doppeldeutigkeit der zungen zu sprechen kommt: her is wis, der di zungen midet, / di vor salbit vnd nach snidet (V. 139 f.). Wer das Lob der Ratgeber allerdings akzeptiere, ohne es zu hinterfragen und sich somit ganz den Schmeicheleien ergebe, gerate später in Probleme. Wernher ergänzt: dez mugit ir bispel horen (V. 149), und erzählt das historische Exempel vom Perserkönig Xerxes, der einen Heerzug nach Griechenland plant, woraufhin sechs Ratgeber auftreten. Die ersten fünf Ratgeber sprechen jedoch bloß eine Reihe von Scheingründen gegen den Feldzug aus: Die Griechen würden schon fliehen, bevor es zum Kampf kommt; das Meer sei zu klein, um alle Kriegsschiffe zu tragen; der Himmel nicht groß genug, um all die Geschosse der Perser aufzunehmen usw., wodurch sie Xerxes in seinem Entschluss bestärken. Lediglich der sechste, als Einziger namentlich genannte (Demerat, V. 207)⁴⁹⁴ Ratgeber meldet echte Bedenken an: Nichts auf der Welt sei so gewaltig, dass es nicht auch bezwungen werden könne; zudem sei es schwierig, ein derart großes Heer effizient einzusetzen (V. 211– 221). Auf das Prahlen der Ratgeber sei kein Verlass (V. 222 – 224). Demerat setzt den falschen Ratgebern damit zwei unterschiedlich ausgerichtete Argumente entgegen, nämlich den allgemeinen, auf Weitsicht zielenden Satz, dass Größe kein absolutes Argument ist, und ein eher funktionales Argument in Bezug auf Kriegstaktik: eine Verbindung von Common Sense (Wahrscheinlichkeit) und Kriegslogik (Wahrheit). Der Text schließt die weitere Handlung lakonisch innerhalb von drei Zeilen ab: vnde also quam ez an der tat, / daz der kunic sin ere verlos. / kumme intran er sigelos (V. 226 – 228). Das historische Exempel ist die einzige exemplarische Kurzerzählung in Wernhers Text und zeichnet sich zudem durch seinen – relativ – großen Umfang aus. Mit 79 Versen beansprucht die Erzählung mehr Raum als die vorherige systematische Abhandlung über Ratgeber. Gleichzeitig ist ihr narrativer Gehalt stark eingeschränkt (man beachte das extrem gekürzte Ende), lediglich die Auftritte und Reden der Ratgeber werden breit ausgespielt. In den lehrhaften Diskurs über das Ratgeben wird eine Narration eingebaut, die aber selbst zutiefst diskursiv gestaltet ist. Weniger scheint
und die Macht der Sprache beim Stricker und im Erzählmotiv ‚The Devil and the Lawyer‘ (AT 1186; Mot M215). In: LiLi 41 (2011), H. 163, S. 149 – 174. Hier und im Folgenden zit. nach: Wernher von Elmendorf: [Lehrgedicht]. Hrsg. von Joachim Bumke unter Mitarb. von Udo Gerdes, Joachim Heinzle und Gerhard Spellerberg. Tübingen 1974 (ATB. 77). Die Paarung Xerxes – Demerat (bzw. Demarat) ist eine der vielen topischen Konstellationen vom Mächtigen und Weisen und findet sich so schon bei Herodot: Historien. 2 Bände. Griechisch – Deutsch. Hrsg. von Josef Feix. 7. Aufl. Düsseldorf 2006, 7, 101– 105.
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sich hier die narrative Kleinform von ihrem Kontext abzugrenzen, als eine besondere Form der Anschauung zu inszenieren, die ihren Fokus auf die besondere Situation der politischen Entscheidung wirft – mithin einen Bereich des politischen Ratgebens, der auf keine allgemeingültige Norm reduziert werden kann.⁴⁹⁵ Der langen Diskussion um das Für und Wider des Heerzuges korrespondiert somit die Funktion der Kurzerzählung, einen Einzelfall als beispielgebend zu setzen: Welcher Rat gut und welcher Rat schlecht ist, obliegt Wahrscheinlichkeiten und kann nur im Einzelfall entschieden werden. Die Handlung des historischen Exempels rekurriert damit auf eine rhetorische Prämisse. Induktionslogik (hier fünf Gründe, die alle in die gleiche Richtung weisen) kann mit dem richtigen Argument widerlegt werden, die Minderheit kann sich – mit entsprechender rhetorischer Technik ausgestattet – gegen die Mehrheit stellen. Wernher formuliert an dieser Stelle somit gerade keine überzeitlich gültige Norm,⁴⁹⁶ sondern fordert den Rezipienten auf, seine Lehren aktiv aus der Kurzerzählung zu ziehen: Nv merke an disme gedichte, / wedir man mit mereme rechte / volge zu den erin / den valschin lugenerin / oder den stetin luten (V. 229 – 233). Das historische Exempel aber kann als historia die kasuistische Entscheidung, welchen Ratgebern zu folgen ist, durch historische Wahrheit ergänzen – die Geschichte hat gezeigt, wer im Recht war. Joachim Bumkes These, Wernher entferne sich in seinem Argumentationsgang vom deduktiven Schlussfolgern seiner Vorlage, des Moralium Dogma philosophorum (1. Hälfte 12. Jh., wahrscheinlich von Wilhelm von Conches verfasst), kann somit an dieser Stelle gefolgt werden.⁴⁹⁷ Die exemplarische Kurzerzählung ist eingebunden in einen Argumentationsprozess, der situationsgemäße Klugheit über den narrativ präsentierten Einzelfall herleitet. Mit dem historischen Exempel von König Xerxes und seinen Ratgebern liefert Wernher eine notwendige Ergänzung zur präskriptiven Regel, da sich aus dieser (‚Folge den richtigen Ratgebern‘) keine Handlungsanweisung für den Einzelfall ergibt. Die problematische Frage, wie zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Ratgebern zu differenzieren sei, wird über das ausführlich erzählte Auftreten der Ratgeber bzw. ihren langen Reden jedoch auch als ein generelles Problem von Rhetorik inszeniert: Schöne Rede ist nicht zwangsläufig ein Garant für Wahrheit. Gegenüber seiner lateinischen Vorlage führt Wernher weitere Ratgeber ein und baut deren Reden breit aus – wo die Ratgeber sich im Moralium dogma philosophorum auf sachliche Hinweise beschrän Rüdiger Campe hat dies als „politisches Präsens“ bezeichnet, d. h. eine spezifische Form politischer Rhetorik, die in der Gegenwart Entscheidungen für die Zukunft diskutiert, vgl. Campe: Vor Augen Stellen (Anm. 200), S. 209. Dass Rhetorik eng mit politischem Ratgeben verbunden ist, betonen aber auch immer wieder die römischen Rhetoriken: Der Rhetor habe den Nutzen (utilitas) abzuwägen und in der politischen Debatte (civilis disceptatio) Rat (consultatio) zu geben, vgl. Rhetorica ad Herennium (Anm. 30), III, 2, 2– III, 4, 7. Zur Relation von römischer Rhetorik und Ratgebung vgl. auch Kempshall: Rhetoric and the Writing of History (Anm. 381), S. 230 f. Wie sonst in seinem Text üblich, vgl. z. B.: ‚Egal, was passiert, vertraue immer auf Gott‘, V. 555 – 566. Vgl. Joachim Bumke: Die Auflösung des Tugendsystems bei Wernher von Elmendorf. In: ZfdA 88 (1957), S. 39 – 54, hier S. 45 f.
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ken,⁴⁹⁸ werden ihre Vorträge bei Wernher mit Lob und Affekten angereichert. Gespielter Kummer, Angst und Leid weisen auf Falschheit hin, nur Demerat verortet Furcht nicht bei sich selbst, sondern versucht, diese im König zu erwecken: Die Vergänglichkeit jeder Macht evoziere Angst und Demut. Wernher thematisiert nicht nur den funktionellen Wert des Ratgebens im politischen System von Ratgeber-Herrscher (wie es Wilhelm von Conches im Moralium vornimmt), sondern baut den institutionellen Rahmen der Ratgeberszene zu einer Diskussion über das generelle Problem doppeldeutiger Rede und damit der politischen Rhetorik aus. Wie sich an diesem ersten Befund ablesen lässt, können exemplarische Kurzerzählungen in didaktischen Texten zur Aufarbeitung sozial-politischer wie auch kultureller Problemfälle genutzt werden. Formen der ‚narrativen Argumentation‘ ergeben sich dann vor allem daraus, dass das Erzählen als ein Raum von hypothetischen Möglichkeiten genutzt wird, die eine Überführung von Regeln in den Einzelfall imaginieren und über das Öffnen und Schließen von Handlungsmöglichkeiten je einen unterschiedlichen Umgang mit normativen Vorgaben inszenieren. Kapitel II.1 hat das ‚narrative Argumentieren‘ von exemplarischen Kurzerzählungen als indirekte, an Wahrscheinlichkeit orientierte Rhetorik vorgestellt: Lehrsätze werden nicht direkt eingeführt, sondern narrativ entfaltet und in die Axiologie einer Erzählung überführt. Diese Erzählung kann unterschiedliche Grade an Wahrheitsbezügen aufweisen (vom als wahr vorgestellten Exempel bis zur unwahren Fabel), bindend ist aber immer der Ähnlichkeits- bzw. Analogieschluss, der aus der Narration eine Lehre extrapoliert. Es scheint ein besonderes Kennzeichen didaktischer Texte zu sein, dass die mittelbare narrative Argumentation der Kurzerzählung mit der direkten und unmittelbaren Normvermittlung ihres Kontextes in Bezug tritt. Dies kann affirmativ geschehen, wie bei Wernher von Elmendorf, wo die Kurzerzählung die allgemeine Annahme über die Doppelzüngigkeit des Redens argumentativ über den Einzelfall herleitet. Genausogut – und dies wird ein Gesichtspunkt des folgenden Kapitels sein – kann die Kurzerzählung aber auch kontrastiv zur Norm erzählen. So hat etwa Peter von Moos für den Policraticus des Johannes von Salisbury festgestellt, dass Johannesʼ striktes Normkonzept durch exempla unterlaufen werden kann, insofern Johannes selbst parodistisch aufzeigt, wie sich durch exempla letztlich alles beweisen lässt.⁴⁹⁹
III.2.3 Spielräume von Funktionalisierung und Narrativierung: Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast und Hugo von Trimberg: Der Renner In Alexander Neckams Suppletio defectuum, einer Ergänzung zu seinem enzyklopädischen Text De laudibus divinae sapientiae, findet sich neben einer didaktisch auf Vgl. Wilhelm von Conches: Moralium dogma philosophorum, I.A.1. Hier und im Folgenden zit. nach: Das Moralium dogma philosophorum des Guillaue de Conches. Lateinisch, Altfranzösisch und Mittelniederfränkisch. Hrsg. von John Holmberg. Uppsala 1929 (Arbeiten. 37). Vgl. von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. 328 – 332.
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bereiteten Kompilation von Naturwissen (komplettiert durch allegorische und moralische Auslegungen) auch die Fabel eines Mäusekönigs, der sich auf die Suche nach einer adäquaten, seinem Stand angemessenen Ehefrau begibt, was eine Kette der Überbietungslogik in Gang setzt: Die Maus sucht die Sonne auf, diese gibt aber an, von Wolken überdeckt zu werden, welche wiederum beklagen, der Wind treibe sie umher usw.⁵⁰⁰ Neckam integriert die Fabel auf zweifache Weise in seinen wissenskompilatorischen Argumentationsgang. Er setzt noch vor den Beginn der Fabel ein moralisches Diktum, das in der Fabel narrativ entfaltet wird: Ha quociens effert humiles tumor assecla fastus! / Quos prius erexit spes, dolor inde premit. ⁵⁰¹ Zudem gibt er einen metapoetischen Verweis auf Sinn und Nutzen der Erzählung: Informare potest moralis fabula mores; / Prebet iam dictis nostra fabella fidem. ⁵⁰² Der exemplarischen Erzählung wird die Fähigkeit zur aktiven Korrektur moralischen Verhaltens sowie zur Beweisführung zugesprochen. Die Fabel selbst scheint sich jedoch dieser funktionalen Einbindung in die systematische Moraldidaxe entgegenzustellen. Nicht nur breitet Neckam die Fabel über knapp 100 Verse aus, was in der nur 1458 Verse langen Suppletio, die sich generell aus kurzen thematischen Einheiten zusammensetzt, besonders auffällt. Zudem reduziert sich die Suche der Maus nicht – wie in anderen Fabel-Versionen – auf das Durchlaufen verschiedener Tierarten. Vielmehr begibt sich die Maus auf eine ‚kosmische‘ Reise, trifft Sonne, Wolken, Wind und Regen, je mit Verweis auf komplementäre antike Gottheiten: Phoebus, Kybele, Jupiter usw. Neben der schlichten Warnung vor Hybris präsentiert die Fabel eine den irdischen Erfahrungsraum übersteigende Kette an Entitäten und Naturgewalten, die Wissen über kosmische Zusammenhänge, damit korrespondierende Götter, aber auch Ehekonventionen, Heiratspolitik und selbst eine Edelsteinlehre offeriert. Es ist vielleicht weniger die von Neckam selbst postulierte Potenz der Fabel, moralisches Verhalten zu korrigieren, als vielmehr der wissensvermittelnde Kontext, der das Syntagma der Erzählung mit einem breiten Natur- und Technikdiskurs füllt: Ein narrativer Überschuss, der sich nicht aus dem direkten didaktischen Kontext speist (und somit auch jenseits der Relation Regel-Fall steht), aber dennoch in ein Programm von Wissensvermittlung eingebunden ist.
Vgl. Alexander Neckam: Suppletio defectuum,V. 1327– 1408. Text und englische Übersetzung hier und im Folgenden zit. nach: Alexander Neckam: Suppletio defectuum. Alexander Neckam on Plants, Birds and Animals. A Supplement to the Laus sapientie divine edited from Paris, B. N. lat., MS 11867 by Christopher J. McDonough. Tavarnuzze 1999 (Per verba. 12). Die Fabel ist in Antike und Mittelalter vielfach überliefert, wobei sie verschiedenen Tieren zugeschrieben wird: Der Stricker erzählt etwa von einer Katze, die heiraten möchte. Vgl. Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 388 f. (Nr. 334). Für einen Vergleich einiger lateinischer Versionen mit derjenigen des Strickers vgl. Hagby: man hat uns fur die warheit … geseit (Anm. 487), S. 125 – 134. Alexander Neckam: Suppletio defectuum (Anm. 500), V. 1323 f. (‚Alas! How often arrogance, a hand-maiden to pride, carries the lowly away! / Later sorrow overwhelms people who previously had been buoyed by hope.‘). Ebd., V. 1325 f. (‚A morality tale has the power to shape our behaviours. / Now our short story will lend credibility to these assertions.‘).
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Die oben beschriebene argumentative Stellung der exemplarischen Kurzerzählung zwischen strikter Normvermittlung einerseits und narrativ aufbereitetem Einzelfall andererseits bietet somit Raum für divergierende Erzählkonzeptionen. Je nachdem, ob eine funktionale Einbindung oder der narrative Gehalt betont werden, fügen sich die Kurzerzählungen enger der Argumentationslinie ihres didaktischen Kontextes oder bilden einen deutlich abgegrenzten narrativen Einschub gegenüber der diskursiven Normvermittlung. Es ist mittlerweile bekannter, wenn auch nicht unumstrittener⁵⁰³ Forschungskonsens, dass eine funktionelle Einbindung exemplarischer Kurzerzählungen durch erweiterten Erzählumfang konterkariert werden kann. Je detaillierter und ausführlicher die Erzählung, so etwa die Annahme Walter Haugs, desto vieldeutiger die aus ihr zu ziehenden Lehren, während das knapp und auf den Punkt erzählte Exempel nur eine ‚einsinnige‘ Lesart offeriere.⁵⁰⁴ Ähnlich argumentiert Niklaus Largier, wenn er davon ausgeht, dass es die Möglichkeiten narrativer Strukturen sind, durch die sich Norm und Exempel tendenziell voneinander lösen können.⁵⁰⁵ Da hier jedoch mit Stierle Erzählen vor allem als Funktionszusammenhang begriffen wird, so muss konsequenterweise eruiert werden, welche Funktionen dem narrativen Einzelfall zukommen, wenn er die ihm vorangehende Regel übersteigt. Der Zusammenhang zwischen Regel und Fall, d. h. didaktischer Lehre und exemplarischer Kurzerzählung, wird von Hugos von Trimberg Renner und dem Welschen Gast des Thomasin von Zerklaere auf unterschiedlichste Arten gestaltet. Gewissermaßen als Normalfall finden sich exemplarische Kurzerzählungen, deren Erzählelemente durchweg funktional ausgerichtet sind. So fügt etwa der Welsche Gast in einem Abschnitt über die Vergänglichkeit irdischer Macht (ausgeformt als Regel), ein historisches Exempel über Julius Caesar ein. Knapp erzählt und auf nur wenige Verse gedrängt, bezeugt der gewaltsame Tod Caesars die Nutzlosigkeit herrschaftlicher Gewalt (V. 3377– 3387). Regel und Fall stehen in einem symmetrischen Verhältnis gegenseitiger argumentativer Unterstützung: Die Regel schreibt vor, der Fall illustriert und beweist zugleich den standardisierten Regelablauf in der historia. Abseits dieser eindeutigen Einbindung finden sich aber auch Erzählungen, deren Funktionalität nicht restlos aufzugehen scheint, wie etwa die Fabel um den Esel Baldewîn. Eingeleitet durch die Lehre, dass leere Drohungen nur selten helfen, erzählt Thomasin über knapp 100 Verse die Geschichte von Baldewîn, einem Esel, der freudig und laut singend durch den Wald läuft. Der schreckliche Gesang des Esels versetzt die anderen Tiere in Angst; der Löwe rät, den Wolf zu schicken, um die Quelle des Lärms zu erkunden. Der Wolf, der auch beim Zusammentreffen mit dem Esel heftig erschrickt, möchte erst fliehen, beißt aber dann doch zur Probe in den Esel. Als dieser sich nicht gegen die Attacke wehrt, gewinnt der Wolf Mut und berichtet von der Harmlosigkeit Baldewîns (V. 13261– 13358). Anschließend werden mehrere Lehren Vgl. dazu (gerade zu der unklaren Begrifflichkeit von ‚einsinnig‘ bzw. ‚mehrsinnig‘) auch die Hinweise in Kapitel II.1.4. Vgl. Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen (Anm. 51), S. 264– 269. Vgl. Largier: Diogenes der Kyniker (Anm. 90), S. 80.
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aufgeführt, die ihre Wirkkraft alle aus der Fabel ziehen: Ein Richter soll nicht wie Baldewîn leer drohen; man soll aber auch nicht wie Baldewîn Unrecht an sich geschehen lassen; so wie der Wolf Baldewîn angreift, so greift auch ein bœse[r] man (V. 13397) immer wieder an, bis ihm Einhalt geboten wird usw. Die verschiedenen Epimythien werfen divergierende Perspektiven auf den Inhalt der Fabel: Der Esel Baldewîn kann als Negativexempel für nutzlos drohende Richter, aber auch als Opfer von Gewaltherrschaft verstanden werden.⁵⁰⁶ Wie in Kapitel II.1 betont, deutet die Technik, verschiedene Schlüsse aus einer Erzählung zu ziehen, bereits auf eine reflektierende Funktion hin und scheint hier stark auf der Länge der Erzählung zu basieren, die erst den Vorrat für die unterschiedlichen Schlussfolgerungen bereitstellt. Der vielschichtige Einzelfall liefert ein Reservoir für mehrere Regeln, die sich alle über die gleiche Erzählung legitimieren und ihre Figuren ambig charakterisieren – der Esel als Opfer und als Täter. Eine direkte Vorlage für die Baldewîn-Fabel bei Thomasin kann nicht ausgemacht werden, es finden sich aber antike Fabeln, die mit dem Themenkomplex Esel-Schrecken-Stimme spielen und im Mittelalter breit rezipiert werden.⁵⁰⁷ Ein größerer Bedeutungsrahmen der Fabel erschließt sich jedoch erst, wenn sie in Bezug zu einer stofflich verwandten und zeitlich nahen Stricker-Erzählung gesetzt wird:⁵⁰⁸ Der Stricker erzählt die Geschichte eines sozialen Missstandes: Ein (namenloser) Esel ist die ständigen Demütigungen und harte Arbeit bei den Menschen leid; der Wunsch nach einem besseren Leben veranlasst ihn, in fremde Länder zu ziehen. Dort kennt man keine Esel – konsequenterweise setzt der Protagonist seine Stimme bewusst ein, um die Landesbewohner zu ängstigen. Diese flüchten vor dem laut schreienden Tier in eine Burg, von der aus sie den Esel beobachten. Dieser erweist sich als harmlos (er greift die Burg nicht an, sondern verhält sich friedlich), die Menschen gewinnen Mut, legen den Esel an eine Leine und versklaven ihn – er befindet sich wieder in seiner Ausgangsposition. Während sich der Stricker somit (erzählt aus Sicht des Esels) eines topischen Musters des sich gegen seinen Stand erhebenden und daraufhin sanktionierten Subjekts bedient, dreht Thomasin die Perspektive um. Erzählt aus Sicht der Tiere des Waldes, erhält der Esel hier zwar einen Namen, befindet sich aber nicht in einer defizitären Situation.Vielmehr läuft, ruft und springt Baldewîn aus Freude, was die Tiere des Waldes jedoch konträr als Bedrohung interpretieren. Thomasins Erzählung in-
Vgl. Schanze: Narratives im Nicht-Narrativen (Anm. 463), S. 143. So etwa Phaedrus: Liber fabularum (Anm. 375), I, 11 (‚Asinus et leo venantes‘), vgl. Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 118 – 121 (Nr. 115); oder Avian: Fabulae (Anm. 124), Nr. 5 (‚Esel in der Löwenhaut‘), vgl. Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 122 – 127 (Nr. 117). Zu den Beziehungen zum Welschen Gast vgl. auch Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 254. Die Fabel des Strickers wird zitiert nach: Stricker: Kleindichtung (Anm. 93), Nr. 70. Allgemein zur Esel-Erzählung und speziell zur Version des Strickers vgl. Hagby: man hat uns fur die warheit … geseit (Anm. 487), S. 18 – 25.
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szeniert anschließend Mechanismen eines ausdifferenzierten Herrschaftssystems: Die verängstigten Tiere werden von ihrem König, dem Löwen, beruhigt, ein Rat wird abgehalten und der Wolf als tapferes und kluges (!) Tier zum Boten an den Esel bestimmt – Techniken feudaler Konfliktbewältigung prägen die Fabel. Die anschließende Konfrontation von Wolf und Esel spiegelt die entsprechende Szene in der Erzählung des Strickers: Der Wolf beobachtet das Verhalten des Esels und stellt fest, dass dieser als harmlos einzustufen ist. Dennoch fürchtet er ein Zusammentreffen, erst der Gedanke an den Rat seines Vaters (des half im sînes vater lêre, / der in hete gelêret wol / daz er nimmer vliehen sol, / ern sæhe daz man in jaget, / anders wær er gar verzaget,V. 13322– 13326) ermöglicht den Angriff auf den Esel. Thomasin marginalisiert den Punkt der reinen Beobachtung und ersetzt ihn durch die Lehre des Vaters als eine Form von kondensierter Lebenserfahrung – das eigene Urteilsvermögen unterliegt der kulturell geformten Schlussfolgerung. Orientiert sich der Stricker eher an der Erzählform Gleichnis (es findet keine sprachliche Kommunikation zwischen Tier und Mensch statt), bewegt sich Thomasin ganz im Rahmen der Fabel. Aussagekräftiger als erzählkonzeptionelle Unterschiede erscheinen hier jedoch die Differenzen in der funktionellen Einbindung der Narration in die Normgestaltung. Der Stricker erzählt vom Einzelfall, der zur Regel ausformuliert wird: ‚Erhebe dich nicht gegen deinen Platz in der Welt.‘ Thomasin zieht hingegen nicht nur mehrere Regeln aus der Narration, diese selbst bietet Aussagemöglichkeiten, die von den Epimythien nicht abgedeckt werden: Spielräume herrschaftlicher Machtpolitik, die Überlegenheit des Sprich-/Erfahrungswortes gegenüber subjektiver Wahrnehmung usw. Die exemplarische Kurzerzählung bietet an dieser Stelle mehr als reine Funktionalität – der in der Fabel erzählte Einzelfall übersteigt seinen streng lehrhaften Kontext. Von der Fabel um den Esel Baldewîn abgesehen, offeriert Thomasins Welscher Gast ein nur eingeschränktes Reservoir an exemplarischen Kurzerzählungen: zahlreiche historische Exempel (meist knapp gehalten), wenige Gleichnisse und zwei Fabeln, die Thomasin als bîspel bezeichnet – ein Terminus, den er sonst nicht gebraucht.⁵⁰⁹ Relevanz für die funktionale Einbindung der Erzählungen in Thomasins didaktischer Argumentation scheint dem Begriff des bilde nemen zuzukommen, den Thomasin in zahlreichen Kontexten anführt. Bilde kann ebenso am Verhalten leibhaftiger Vorbilder wie an den âventiuren der arthurischen Literatur oder an den Taten biblisch-historischer Herrscher genommen werden.⁵¹⁰ Die Forschung hat hier in erster Linie auf Zusammenhänge zu den Illustrationen des Welschen Gastes verwiesen, da in den bimedialen Bilderhandschriften text- und bildliche Visualisierungsstrategien miteinander kongruieren.⁵¹¹ Neben dieser deiktischen Komponente bezeugt das bilde Vgl. Schanze: Narratives im Nicht-Narrativen (Anm. 463), S. 141. Vgl. Horst Wenzel: Sagen und Zeigen. Zur Poetik der Visualität im Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere. In: ZfdPh 125 (2006), S. 1– 28, hier S. 6 – 9. Vgl. ebd., insbesondere S. 28; Claudia Brinker-von der Heyde: Der Welsche Gast des Thomasin von Zerclaere. Eine (Vor)Bildgeschichte. In: Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illus-
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nemen an historia jedoch auch eine der Grundfunktionen des historischen Exempels: Der Blick in die Geschichte ermöglicht eine Selbsterkenntnis, die auf imitatio (bei positiven Vorbildern) oder Abgrenzung (bei negativen Vorbildern) zielt. Prämisse dieses Gedankens ist die Vorstellung rekurrierender Strukturen in der Geschichte. Erst wenn die Möglichkeit gegeben ist, dass Geschichte sich wiederholt, kann der Heilige in der Legende über die imitatio christi selbst zum Vorbild werden oder der mächtige Herrscher sich vom Schicksal Alexanders lösen, indem er vom übermuot Abstand nimmt.⁵¹² Diese Idee von Geschichte als speculum oder imago wird von Thomasin immer wieder in kurzen Exempeln aufgegriffen, am deutlichsten aber wohl in Buch VIII, das um die Thematik von mâze/unmâze kreist.⁵¹³ Thomasin stellt hier seinen eigenen Lernprozess als vorbildlich dar: swer die kronike alle hiet, / er vunde der übermüete diet / gar ze bœsem ende komen. / ich hâns ouch ein teil vernomen (V. 10653 – 10656). Konsequent dann auch die Aufforderung: welt aver ir umbe kêrn / diu alten buoch, ir muget lern / waz übermuot habe getân / hie vor und muget wol dar an / bilde, ob ir wellet, nemen (V. 10675 – 10679). Thomasin erzählt anschließend selbst, was er in den alten Büchern verortet: Eine lange Reihe an Herrschern, die sich qua übermuot oder unmâze über ihre Machtfunktion als gottgleich inszeniert haben und dafür bestraft wurden, etwa Gosdrôas (Chosrau II.), Ââman (Haman), Nabuchodonosor (Nebukadnezar II.) usw. (V. 10681– 10886). Die sich über 200 Verse hinziehenden und von deskriptiven Passagen unterbrochenen Exempel wirken auf den ersten Blick rein additiv aneinander gereiht und strikt dem Oberthema der unmâze unterworfen. Tatsächlich jedoch reflektieren die einzelnen Erzählungen den Erkenntnisprozess des bilde nemen: Thomasin gruppiert in der Kette historischer Exempel stets zwei aufeinander bezogene Herrscher. Der zuerst genannte König Gosdrôas (Chosrau II.) trifft auf Êraclîus (Herakleios), welcher nicht nur von dessen hochvart Abstand nimmt, sondern Gosdrôas auch auf dem Schlachtfeld bezwingt. Ähnlich, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, erzählt Thomasin von Nabuchodonosor (Nebukadnezar II.) und seinem Sohn Balthasâr (Belsazar). Nabuchodonosor ergeht sich im übermuot und verfällt daraufhin dem Wahnsinn, sein Sohn vermag es nicht, an ihm bilde zu nehmen, und wiederholt die Fehler seines Vaters, er verliert Reich und Leben (V. 10867– 10886).⁵¹⁴ Nicht nur sollen Betrachter der historia an den Exempeln direkt bilde nemen, sondern diese offenbaren zusätzlich Strategien eines gelungenen oder verfehlten Lernprozesses. Neben dem moralischen Verhalten (mâze/unmâze) des historischen Personals erhält somit auch dessen Potenzial, zum bilde, zum historischen Exempel für andere zu werden, Relevanz.
trierten Handschriften des Welschen Gastes von Thomasin von Zerclaere. Hrsg. von Horst Wenzel, Christina Lechtermann. Köln 2002 (Pictura et poesis. 15), S. 9 – 32, hier S. 32. Vgl. dazu auch die Hinweise in Friedrich: Topik und Narration (Anm. 435), S. 8 f. Vgl. Hans-Joachim Ziegeler: Art. Reimbispel-Sammlungen. In: ²VL. Bd. 7, Sp. 1143 – 1152, hier Sp. 1144 f. Vgl. ebd., Sp. 1145.
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Thomasin beendet die Reihe an historischen Exempeln mit der Fabel vom ‚Fuchs vor der Löwenhöhle‘, die bereits im Chronik-Kapitel angesprochen wurde. Wie dort breiter ausgeführt, fokussiert die Fabel dezidiert die Thematik des ‚Lernen vom Anderen‘, wobei dieses bilde nemen indirekt, d. h. über die in die Löwenhöhle hineinführenden Tierspuren, inszeniert wird. Dieser Wechsel in der Perspektive des Lernprozesses kongruiert mit einer Verschiebung des übermuots: Es ist nun nicht mehr der Herrscher, der sich der Hybris hingibt, sondern die neugierigen Tiere des Waldes, die aus übermuot (V. 10937) in die Höhle des (sich krank stellenden) Löwen eindringen. Die tabellarische Übersicht im entsprechenden Kapitel hat dies als Thomasins eigene Akzentuierung herausgestellt. Konträr zu anderen Versionen der Fabel werden die Tiere nicht zum Löwen geladen, sondern suchen ihn aus eigenem (von Thomasin negativ konnotierten) Antrieb auf. In der Kontrastierung von Fabel und historischen Exempeln thematisiert Thomasin somit nicht nur die Bandbreite von unmâze/übermuot, sondern reflektiert auch über den Lernprozess des bilde nehmen. Wie an der Kaiserchronik gezeigt, weisen exemplarische Kurzerzählungen in nicht-narrativen Kontexten über ihre direkte funktionale Einbindung hinaus häufig auch übergreifende Hinweise zu richtigem bzw. falschem Verstehen auf. Dies realisiert sich in nur leicht verschobenem Rahmen auch im didaktischen Kontext. Nicht die schlichte Illustration einer Tugend oder Sünde ist das alleinige Ziel einer Einbindung von Kurzerzählungen, sondern der in den Kurzerzählungen reflektierte Lernprozess gewinnt für die Didaxe Relevanz: der Fuchs der aus Spuren liest, der Herrschersohn, der sich nicht vom bilde seines Vaters lösen kann usw. Kontrastiv zum Welschen Gast kann Hugos von Trimberg Renner gesetzt werden. Um dies näher zu erläutern, ist es notwendig, nochmals auf das Verhältnis von Norm bzw. Regel und Kurzerzählung zu sprechen zu kommen. Didaktische Texte führen als wahr postulierte Regeln an, die über exemplarische Kurzerzählungen auch als kulturell wahrscheinlich hingestellt werden: Es ist wahr, dass man nicht auf schlechte Ratgeber hören soll, denn sonst endet man wahrscheinlich wie König Xerxes. Regel und Kurzerzählung gehen im didaktischen Kontext ein enges Verhältnis ein. Nun hat jedoch Kapitel II.1.2 unter Berufung auf Giorgio Agambens Begriff des ‚Paradigmas‘ beschrieben, wie eine Kurzerzählung als narrativer Einzelfall Gültigkeit beanspruchen kann, indem sie unter Umgehung jedweder Regel direkt auf weitere Einzelfälle verweist. Die hier weiter zu verfolgende These lautet daher: Eine exemplarische Kurzerzählung kann sich im didaktischen Kontext einer funktionalen Einbindung in die Regelvermittlung (also etwa der Illustration) entziehen, doch bedeutet dies nicht zwangsläufig ‚Mehrdeutigkeit‘, sondern kann darauf hinweisen, dass die Kurzerzählung hier die didaktisch-normative Regel schlicht ersetzt – „es ist vielmehr die Präsentation des paradigmatischen Falls allein, die eine Regel konstituiert, die als solche weder angewendet noch angegeben werden kann.“⁵¹⁵
Agamben: Was ist ein Paradigma? (Anm. 43), S. 26.
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Deutlich wird dies gleich zu Anfang des Renner. Hugo thematisiert die hôchfart von Bauern, doch leitet er diesen Abschnitt über ein Sprecher-Ich ein, das in ein Dorf geritten kommt, wo es von den untätig umherliegenden Bauern gedrängt wird, ihnen Auskunft über soziale Hierarchien zu geben: „Vil lieber herre, wie gefüeget sich daz, / Daz iu herren ist vil baz / Denne uns armen gebûren sî?“ (V. 1323 – 1325).⁵¹⁶ Die Frage der Bauern lässt sich hier wohl weniger als Kritik am Feudalsystem lesen, als sie vielmehr ein Bedürfnis nach aitiologischem Wissen offenbart, den Wunsch, die Regeln für das Entstehen stratifikatorischer Differenzierungen kennenzulernen. Genau über diese Regeln scheint das heftig bedrängte Sprecher-Ich aber nur ungern Auskunft geben zu wollen. Es verweist erst auf den Pfarrer, der normalerweise derartige Belehrungen vornehmen sollte, wird von den betrunkenen Bauern aber weiter festgehalten. Schließlich erzählt das Sprecher-Ich das historisch-biblische Exempel von Noah und seinen Söhnen (Gn 9,20 – 27): Noah betrinkt sich und schläft nackt ein. Sein Sohn Ham entdeckt den Vater und ruft die beiden Brüder (Sem und Jafet), damit auch sie den nackten Vater ansehen können. Die beiden allerdings nähern sich dem Vater nur abgewandt und bedecken ihn mit ihrer eigenen Kleidung. Aufwachend realisiert Noah das Geschehen und verflucht Ham und alle seine Nachkommen – der Ursprung der Ständeteilung, denn alle eigen Leute stammen von Ham ab. Einer der Bauern missversteht dies,⁵¹⁷ woraufhin das Sprecher-Ich korrigierend eingreift und zudem Noahs Fluch ausdehnt: Juden, ketzer, heiden (V. 1401) sowie sündhafte Christen würden ebenso darunter fallen.
Deutlich lassen sich hier Analogien zur Einbindung exemplarischer Kurzerzählungen in Chroniken (vgl. Kapitel III.1) ziehen. Hugo inszeniert über die Konfrontation von Erzählinstanz und Bauern eine Performanzsituation, die einen rhetorischen Rahmen bildet und bereits die erfolgreiche Applikation der Kurzerzählung – d. h. Persuasion durch Erzählen – aufzeigt: Zwar wird das Sprecher-Ich erst falsch verstanden, dann aber überzeugt es die betrunkenen Bauern.⁵¹⁸ Und auch dieses erste Missverstehen zeigt Parallelen zur chronikalischen Einbindung von Kurzerzählungen. Über den Kontext werden verschiedene Auslegungs- und Verstehensmöglichkeiten der Narration präsentiert, die wiederum als Kommentarfunktion zu ebendieser zu lesen sind, wie etwa hier der Verweis auf begriffsstutzige gebûren. ⁵¹⁹
Der Renner wird hier und im Folgenden zit. nach: Hugo von Trimberg: Der Renner (4 Bände). Hrsg. von Gustav Ehrismann. Mit einem Nachw. und Erg. von Günther Schweikle. Nachdr. Berlin 1970 [Erstauflage 1908 – 1911]. Der Bauer meint, Noahs Fluch sei der Grund, warum die Bauern ein vernoyertes [= abgefallenes] volc (V. 1390) seien, vgl. dazu auch Schanze: Narratives im Nicht-Narrativen (Anm. 463), S. 157. Im Prinzip sucht der Bauer nach etymologischen Parallelen, missversteht aber Noahs Namen (Nôê) als Noyer. Vgl. dazu auch Tobias Bulang: Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Berlin 2011 (Deutsche Literatur – Studien und Quellen. 2), S. 173. Ohne den Vergleich zwischen der Fabel in der Kaiserchronik (vgl. Kapitel III.1.2) und der Bauernbelehrung auf die Spitze treiben zu wollen, sollte jedoch betont werden, dass bei Hugo alle Aus-
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Das Mittelalter, so hat es Klaus Grubmüller in einer motivgeschichtlichen Untersuchung gezeigt, kennt divergierende Theorien zur sozialen Ungleichheit, die sich sowohl theologisch-scholastisch herleiten lässt,⁵²⁰ als sie auch als Produkt von unrechter Gewalt und Zwang dargestellt werden kann, wie es etwa der Sachsenspiegel unternimmt.⁵²¹ Hugo von Trimberg jedoch erzählt ein historisch-biblisches Exempel, das einen nicht mehr hinterfragbaren Anfang und Urgrund setzt, der als paradigmatischer Einzelfall das Vorbild für alle weiteren Sünder, Unfreien, Ketzer usw. bereitstellt. Der Erzählung wird hier eine mythische Komponente eingeschrieben, insofern sie ein Schema bereitstellt, das über das Anführen einer bestimmten Anfangssituation „die Frage nach dem Ursprung still[stellt, M.S-D.] und alle Zukunft an diesen Anfang zurück[bindet, M.S-D.].“⁵²² Das historische Exempel ersetzt nicht nur Regeln, die soziale Ungleichheit erklären können, es macht bereits die Frage nach diesen Regeln obsolet: Die exemplarische Kurzerzählung konstituiert als paradigmatischer Einzelfall selbst gesellschaftliche Realitäten. Möglich wird dies, indem nicht auf einen beliebigen Abschnitt der historia zurückgegriffen wird, sondern auf eine Szene von höchster heilsgeschichtlicher Relevanz, die kulturstiftende Geltung beanspruchen kann. Das historische Exempel ist hier gleichermaßen in Geschichte, Christentum und Morallehre verankert. Hugos Verwendung von narrativen Einheiten per se als ‚illustrativ‘ zu bezeichnen, mag daher zwar im Einzelfall zutreffen, ist aber eingedenk der vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten von Kurzerzählungen zu unpräzise.⁵²³ Tobias Bulang weist daher zu Recht auf einen „konnotativen Überschuss [des Exempels, M.S-D.] gegenüber dem zu Explizierenden“⁵²⁴ hin, der sich nicht in einer illustrierenden Funktion auflösen lässt. Ebenjene divergierenden Optionen der Einsetzung von narrativen Passagen, die im Renner zwischen Regel-Illustration, argumentativer Unterstützung einer Regel und der kompletten Regel-Ersetzung changieren, können an Hugos Fortführung der legungen seines Exempels auf die gleiche Regel verweisen, während die Fabel von den Figuren der Kaiserchronik divergierend verstanden wird. Vgl. Klaus Grubmüller: Nôes Fluch. Zur Begründung von Herrschaft und Unfreiheit in mittelalterlicher Literatur. In: Medium Aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dietrich Huschenbett. Tübingen 1979, S. 99 – 119, hier S. 102. Vgl. in diesem Kontext auch Inés de la Cuadra: Diskurse über soziale Mobilität im Spiegel von Fiktion und Historie. Die ‚Bauernszene‘ im Renner Hugos von Trimberg (V. 1309 – 2280) und das achte Gedicht der Seifried Helbling-Sammlung (SH VIII, 1– 410). In: ZfdPh 119 (2000), S. 75 – 97. Vgl. Grubmüller: Nôes Fluch (Anm. 520), S. 103. Udo Friedrich: Mythos und europäische Tradition (Einleitung). In: Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos. Hrsg. von Manfred Eikelmann, Udo Friedrich. Unter Mitarb. von Esther Laufer und Michael Schwarzbach. Berlin 2013, S. 187– 204, hier S. 188. Vgl. exemplarisch zur mythischen Denkform auch Blumenberg: Arbeit am Mythos (Anm. 195); Jolles: Einfache Formen (Anm. 2), S. 91– 125. Für eine Vorstellung von Illustration plädieren tendenziell: Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 259; Schanze: Narratives im Nicht-Narrativen (Anm. 463), S. 158. Bulang: Enzyklopädische Dichtungen (Anm. 518), S. 71.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
‚Bauernbelehrung‘ aufgezeigt werden. Nach Anführung des Noah-Exempels ist der Wissensdrang der Bauern nicht befriedigt: Wie es sich mit halprittern verhalte (V. 1467), wird das Sprecher-Ich gefragt – die klare Grenzziehung zwischen Freien und Unfreien wirft anscheinend sofort die Frage nach Mischformen auf. Wieder antwortet das Sprecher-Ich mit einer Erzählung, diesmal jedoch mit einer Fabel: Der Löwe lässt als König die Tiere vor sich treten und von ihrer Herkunft berichten. Das Maultier jedoch weigert sich trotz zorniger Nachfrage des Löwen, von seinem Vater zu berichten, stattdessen führt es berühmte Pferde an, die alle mit seiner Mutter verwandt sind. Schließlich muss der Fuchs eingreifen und gibt den Esel als Vater des Maultieres zu erkennen (V. 1479 – 1534). Die Grundstruktur der Fabel ist beliebt und findet sich etwa in der Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi wieder, der sie mit einem ähnlich gebauten Gleichnis ergänzt – ein Hinweis auf die Multifunktionalität exemplarischer Erzählformen.⁵²⁵ Während Alfonsi die Erzählung jedoch in einen Diskurs um natürliche Anlage und Kunstfertigkeit stellt, begrenzt Hugo von Trimberg ihre Aussagemöglichkeiten auf die sich anschließende Lehre: Diz bîspel sol man diuten / den tummen, hôchfertigen liuten, / Die sich ir armen friunde schement (V. 1535 – 1537). Die Fabel dient als Ausgangsbeispiel⁵²⁶ der argumentativen Vorbereitung einer Regel. Der Einzelfall des sich überheblich gebenden und seiner gemischten Herkunft schämenden Maultieres fungiert als Illustration und Präskription gleichermaßen, insofern er die folgende Lehre zu halprittern nicht nur auf ein programmatisches Mischwesen projiziert, sondern die Erzählung ebenso als Erkenntnisgegenstand inszeniert: Diz bîspel sol man diuten (V. 1535). Konträr zum Noah-Exempel bleibt die Fabel aber stets Komplement zu einer eindeutigen Regel und ist von dieser nicht zu trennen – sie bildet keine paradigmatische Ursprungssituation, sondern die metaphorische Regelaufbereitung in einer Erzählsituation. Man könnte versucht sein, diesen Befund zu situationsspezifischen rhetorischen Argumentationsstrategien in Bezug zur jeweiligen Erzählform zu setzen: Die BibelHistorien erzählen im Renner paradigmatisch, die Fabeln illustrativ. Tatsächlich hat die Forschung ähnliche Vorschläge unterbreitet. Rudolf Weigand spricht von „frei springender Assoziation“ und „lange[n] Deutungsketten“ bei „profanen Erzählungen“ sowie von „historisch verstandene[r] Begründung“ im Kontext von biblischen Er-
Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis (Anm. 473), Nr. 4 ist eine ähnliche Fabel, hier allerdings als metadiegetische Erzählung in einem Gleichnis (Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis [Anm. 473], Nr. 3), das von einem wenig talentierten Dichter erzählt, der vor dem König seinen Vater aus geringem Stand verschweigt, dafür aber die adlige Verwandtschaft seiner Mutter betont – der König erzählt daraufhin die Fabel des Maultiers. Zum Begriff vgl. Pethes, Ruchatz, Willer: Zur Systematik des Beispiels (Anm. 5), S. 31– 40: Das Ausgangsbeispiel dient dazu, einführend von einem besonderen Fall zu erzählen, der dann auf eine verallgemeinernde Regel weitergeführt wird.
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zählungen.⁵²⁷ Christoph Schanze versucht, rekurrierende Muster in Hugos Argumentationsweise zu identifizieren: eine „Abfolge von illustrierender Erzählung, Auswertung, assoziativer Fortsetzung und Abschluss durch ein biblisches Beweisexempel und/oder Autoritätenzitate.“⁵²⁸ Unter Rückgriff auf die in Abschnitt II entworfenen erzähltheoretischen Überlegungen zu Form und Funktion der exemplarischen Kurzerzählung lassen sich diese Forschungsthesen präzisieren. Am oben skizzierten Vergleich zwischen der Noah- und der Maultier-Erzählung wird deutlich, dass sich historisches Exempel und Fabel hier dem gleichen Problem – der Frage nach sozialer Differenzierung – stellen. Das historische Exempel fokussiert den Einzelfall und bezieht seine Relevanz einerseits aus der auctoritas der Bibel, andererseits über die Idee einer genealogischen Verkettung als Abstammungsfolge, die historische Differenzen bis in die Gegenwart überträgt. Metaphorisch arbeitet das historische Exempel hier nicht über analoge Strukturen, sondern qua Ähnlichkeit: Ham und die Bauern gleichen sich in ihrer Eigenschaft, ein verfluchtes, abgefallenes Personal in der Heilsgeschichte darzustellen. Die Fabel hingegen orientiert sich an einer Regel, verweist auf ein natürliches Substrat und entwirft ihre Lehre über Analogierelationen: So wie das Maultier zwischen Eseln und Pferden steht, stehen die halpritter zwischen Bauern und Adel. Ähnlichkeit und Analogie sind jedoch nicht zwangsläufig gegenläufige Argumentationsmittel, sondern, wie in den entsprechenden Kapiteln gezeigt, beides Konstituenten sowohl der Metapher wie des exemplarischen Erzählens. Illustration und Beweis lassen sich somit nicht als schlichter Gegensatz lesen, sondern als zwei komplementäre Techniken im breiten Funktionsspektrum exemplarischer Kurzerzählungen. Wenn hingegen nach den spezifischen Bedingungen ebendieser Kurzerzählungen im didaktischen Kontext gefragt wird, so hilft abermals ein Fokus auf den Bezug zur entworfenen Lehre bzw. Regel des Kontextes – gerade dieser Konnex scheint für didaktische Texte prägend zu sein. Hugos Renner orientiert sich in seiner Konzeption bekanntlich an negativen Werten: hôchvart, gîtikeit, frâz usw. unterteilen als Oberthemen das Werk in einzelne Kapitel, so dass alle sieben Todsünden zusammen sechs distinctiones bilden (zorn und nît werden zusammengefasst).⁵²⁹ Positiv und negativ konnotiertes Verhalten und Handeln werden strikt getrennt, wobei ersteres durch die strikte Normvermittlung als moralisch superior dargestellt wird. Es fällt in diesem Kontext auf, dass viele der exemplarischen Kurzerzählungen im Renner konträr zur allgegenwärtigen Präskription von nachahmenswerten Regeln gerade vom Gegenteil, also vom Bruch mit der Norm erzählen. Sie vermitteln ihre Lehre somit ex negativo, besser ausgedrückt: Sie orientieren sich am Argumentationsmuster des Topos ex
Rudolf Kilian Weigand: Der Renner des Hugo von Trimberg. Überlieferung, Quellenabhängigkeit und Struktur einer spätmittelalterlichen Lehrdichtung. Wiesbaden 2000 (Wissensliteratur im Mittelalter. 35), S. 265; vgl. auch Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 266. Schanze: Narratives im Nicht-Narrativen (Anm. 463), S. 158; ähnlich schon: Weigand: Der Renner des Hugo von Trimberg (Anm. 527), S. 316. Vgl. Schanze: Narratives im Nicht-Narrativen (Anm. 463), S. 135.
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contrariis. Der locus ex contrariis ⁵³⁰ versucht hier, die Notwendigkeit einer Regel aus dem Gegenteil, d. h. ihrem Nicht-Befolgen, abzuleiten. Exemplarischen Kurzerzählungen bietet sich in didaktischen Texten somit nicht nur die Chance, metaphorische Situationen aufzuzeigen, in denen der Einzelfall die Norm aufgreift und verändert, sondern auch von Gegebenheiten zu erzählen, in denen die Norm dezidiert gebrochen wird. Es scheint, als sei die Projektion des Normbruchs in die nicht-reale Welt von Fabel und Gleichnis überhaupt erst notwendig, um die Etablierung einer allgemeingültigen Regel zu legitimieren.⁵³¹ Beispielhaft kann hier auf die zweite Distinktion (gîtikeit) in Hugos Renner verwiesen werden, in der Hugo u. a. Regeln der Gastfreundschaft thematisiert. Die sowohl mit höfischen wie kirchlichen Vorstellungen konforme Regel, dass ein Gast umfassend versorgt werden soll (Der pflege doch sîner geste alsô / Daz si sîn koste mache frô, V. 5547 f.), wird in die Fabel von der Ameise und der Grille überführt. Den Sommer über sammelt die Ameise Vorräte für den Winter, während die Grille sich dem Vergnügen hingibt: Die wîle der sumer aber wert, / Der stolze grille niht anders gert / Denne daz er loufe und springe snelle (V. 5571– 5573). Im kommenden Winter muss die Grille erwartungsgemäß hungern und besucht die Ameise mit der Bitte um Essen, was ihr aber von dieser verwehrt wird: „Lât iuch niht an müezikeit, / Wenne diu bringet manic leit! […] Ein ieglicher ist im selber holt.“ (V. 5607– 5611). Das Verhalten der Ameise stellt vordergründig einen Bruch mit der eingangs aufgeführten Norm dar: ‚Ein Gast muss freundlich aufgenommen werden.‘ Hugo etabliert qua exemplarischer Kurzerzählung eine Situation, in der die Norm erst aufgehoben und dann mit einer neuen Regel ergänzt wird. Die Grille entspricht einem hofenager (V. 5636), der sich bei Hof einschleicht, obwohl er seine Not selbst verschuldet hat oder sich sogar in keiner Notlage befindet. Die Fabel erzählt formal eine irreale Geschichte, ist über ihre metaphorische Struktur aber fest in die soziale Lebenswelt eingegliedert. Argumentativ ergibt sich erst über das Erzählen vom Bruch mit der Norm die Legitimation für eine neue Regel: ‚Manche Gäste soll man besser nicht aufnehmen‘. Alte und neue Regel stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis – Hugo resümiert nahezu kasuistisch: Wirtschaft tuot schaden und frumen (V. 5653). Dieses Fazit wird von kurzen biblisch-historischen Exempeln untermauert, die wirtschaft sowohl in bonam wie in malam partem auslegen: das Gastmahl des Belsazar, dem bei einem Fest sein naher Tod verkündet wird (V. 5665 – 5678), aber auch die sündige Maria Magdalena, die bei einem Gastmahl die Füße Jesu wäscht und von ihren Sünden erlöst wird (V. 5691– 5696). Über die illustrierende Funktion hinaus eröffnen die exemplarischen Kurzerzählungen hier einen artifiziellen Handlungsraum, in dem die Norm frei gesetzt wird: Sie kann gebrochen oder befolgt werden, und je Vgl. etwa Cicero: Topica (Anm. 290), XI.47: Deinceps locus est, qui a contrario dicitur (‚Hierauf folgt der Argumentationstypus, der ,vom Gegensatz her‘ heißt.‘). Auch das Exempel kann vom Bruch mit der Regel erzählen, doch verweist es bekanntermaßen nicht auf hypothetische Welten, sondern auf die realen Gegebenheiten der Geschichte (vgl. Kapitel II.3).
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nach Einzelfall ergeben sich daraus unterschiedliche Folgen. Die Kurzerzählung fungiert so als argumentative Basis für die Regelführung des didaktischen Kontextes. An Thomasins Welschem Gast und Hugos Renner lässt sich beispielhaft ein breites Funktionsspektrum an argumentativen Einbindungen exemplarischer Kurzerzählungen aufzeigen. Die Grundierungen reichen dabei von der eindeutigen Funktionalisierung, die den Aussageraum der Erzählung begrenzt und ihre axiologische Besetzung meist auf ein konkurrierendes Kräfteverhältnis festlegt (nachahmenswert vs. abschreckend; erkenntnisfähig vs. ignorant usw.) bis hin zum komplexen Erzählmodell, das sich narrativen Freiraum verschafft, seinen ‚Erzähl-Überschuss‘ aber dennoch kontextuell verortet. Kurzerzählungen können vereinzelt herangezogen werden, aber auch in Kombination auftreten, wobei die Verkettung von historischem Exempel und Fabel am deutlichsten hervortritt, wohl auch, da beide Erzählkonzeptionen an gegensätzlichen Enden der narrativen Skala stehen (Wahrheit vs. Fiktion). Immer jedoch verweisen die Kurzerzählungen auf den Einzelfall, der die systematische Regel des didaktischen Kontextes illustriert, kommentiert oder (wie im Fall der BaldewînFabel) sogar überspielen kann.
III.2.4 Kasuistik und Exempelketten: Die Schachzabelbücher Heinrichs von Beringen und Konrads von Ammenhausen Bereits ab dem Hochmittelalter verbindet sich mit dem Schachspiel eine umfangreiche Herrschafts- und Sozialmetaphorik. Schach avanciert nicht nur als Spiel zum Adelsvergnügen, sondern wird selbst zur Matrix einer politischen Ordnung: das Schachspiel als Staatsspiel, in dem jede Figur über ihre Codierung als soziales Aussageobjekt fungiert.⁵³² Als Staatsmetapher scheint das Schachspiel anderen Metaphoriken (der Staat oder die Gesellschaft als Schiff, Bienenstock, Organismus usw.) überlegen, da es wesentlich flexibler besetzt werden kann.⁵³³ Entsprechend breit ist die kulturelle Integration des ursprünglich außereuropäischen Spiels auch in literarische Texte des Mittelalters: Begriffe aus der Schachterminologie finden sich in Kampfmetaphorik,⁵³⁴ das Schachbrett wird zum Diagramm von Werten und Figurenhandlungen,⁵³⁵ aber auch eine Überführung der Schachmetapher in Kurzerzählungen lässt sich konstatieren. So finden sich bspw. in den Gesta Romanorum nicht nur Geschichten, die auf
Vgl. Déleuze, Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 116), S. 483 f. So Volker Honemann unter Rückgriff auf Ingeborg Glier: Volker Honemann: Das Schachspiel in der deutschen Literatur des Mittelalters. Zur Funktion des Schachmotivs und Schachmetaphorik. In: Zeichen, Rituale, Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Hrsg.von Gerd Althoff, Christiane Witthöft. Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. 3), S. 363 – 383, hier S. 365. Vgl. ebd., S. 366. Vgl. Hans Jürgen Scheuer: Schach auf Schanpfanzûn. Das Spiel als Exempel im VIII. Buch des Parzivâl Wolframs von Eschenbach. In: ZfdPh 134 (2015), H. 1, S. 29 – 46.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Schach anspielen, sondern auch bereits eine ausführliche Auslegung der Schachfiguren, die dort sowohl in der Allegorese auf einen heilsgeschichtlichen Horizont wie auch auf soziale Stände bezogen werden.⁵³⁶ Letzteres unternimmt – allerdings in verschobener Form – im didaktischen Kontext das gegen 1300 entstandene Schachbuch des Jacobus de Cessolis (Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum).⁵³⁷ Die hier im Fokus stehenden volkssprachigen Übersetzungen des Schachbuchs von Heinrich von Beringen (2. Viertel 14. Jh.) und von Konrad von Ammenhausen (1337) reihen genau wie ihre Vorlage weit über 100 historische Exempel paradigmatisch anhand der Schachmetapher aneinander.⁵³⁸ Jeder Figur auf dem Schachbrett werden spezifische Tugenden zugeordnet, so etwa bei Konrad für riter die Werte wîsheit, triuwe, vrîer muot (liberalitas), starker muot (im Sinne von Tapferkeit), erbermde und gegenüber schwachen Leuten und dem Gesetz schirm geben (V. 5821– 7838), die je durch mehrere Erzählungen exemplifiziert werden.⁵³⁹ Die systematische Normvermittlung beschränkt sich häufig nur auf wenige Verse, breiten Raum nehmen hingegen die Kurzerzählungen ein, die in der Regel über mittelalterliche Zwischenstufen aus antiken Quellen (v. a.Valerius Maximus) stammen.⁵⁴⁰ Diese werden in den Schachbüchern jedoch einer neuen Funktionalisierung unterworfen: Während die Exempel in Valeriusʼ Facta et dicta memorabilia verschiedene Perspektiven auf einen Gegenstand (etwa Glück) aufzeigen, orientieren sie sich in den Schachbüchern klar am Leitgedanken der Ständelehre – die topische Struktur wird durch eine soziale ersetzt. Die soziale Organisation offeriert jedoch naturgemäß keine rein exklusiven Tugenden, Werte wie sapientia finden sich bei diversen Gruppierungen.⁵⁴¹ Ständeübergreifend wird so auch
Vgl. Gesta Romanorum (Anm. 92), Nr. 166: ‚De ludo schacorum‘. Das Schachbuch des Jacobus de Cessolis wird im Folgenden zit. nach: Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen, Mönchs und Leutpriesters zu Stein am Rhein. Nebst den Schachbüchern von Jakob von Cessole und des Jakob Mennel. Hrsg. von Ferdinand Vetter. Mit einem Exkurs über das mittelalterliche Schachspiel von v. Heydebrand und der Lasa. Frauenfeld 1892 (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes). Vgl. Franziska Küenzlen: Lehrdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die Bearbeitung von Jacobusʼ de Cessolis Schachtraktat durch Konrad von Ammenhausen. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Henrike Lähnemann, Sandra Linden. Berlin [u. a.] 2009, S. 265 – 283, hier S. 275. Das Schachbuch des Konrad von Ammenhausen wird hier und im Folgenden zit. nach der in Anm. 537 angegebenen Edition des Jacobus de Cessolis, die beide Texte enthält. Speziell zum Wertekatalog der Ritter-Figur bei Konrad vgl. Pamela Kalning: Der Ritter auf dem Schachbrett. Ritterliche Tugenden im Schachzabelbuch Konrads von Ammenhausen. In: Chess and Allegory in the Middle Ages. Hrsg. von Olle Ferm, Volker Honemann. Stockholm 2005 (Säälskapet Runica et Mediævalia. Scripta minora. 12), S. 173 – 215. Die Exempel des Valerius Maximus etwa scheint Jacobus de Cessolis aus dem Speculum Maius des Vinzenz von Beauvais übernommen zu haben, vgl. Gösta Hedegård: Jacobus de Cessolis Sources. The Case of Valerius Maximus. In: Chess and Allegory in the Middle Ages (Anm. 539), S. 99 – 160. Vgl. Wachinger: pietas vel misericordia (Anm. 51), S. 234.
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ein allgemeines Wertereservoir aufgebaut, das sowohl auf einen homogenen Tugendkatalog wie auf die gegenseitige Abhängigkeit der Stände verweist. Teile der Forschung haben die spezifische Erzählorganisation der Schachbücher in Bezug zu rhetorischen Gedächtnislehren gesetzt. Die schon in Konrads wie Jacobusʼ Prolog betonte memoria-Funktion werde durch die feste Bindung von Schachfigur – Exempel – Tugend realisiert: „the chessmen in the Libellus are mnemonic imagines“, so etwa Raymond di Lorenzo.⁵⁴² Der Konnex zu Mnemotechniken ist von der neueren Forschung mit Recht als zu lose kritisiert worden,⁵⁴³ doch lassen sich die Ansätze di Lorenzos unter Rückgriff auf erzähltheoretische Erkenntnisse reformulieren: Das sozial ausgerichtete Erzählinteresse ist letztendlich über die Orientierung am Schachfeld diagrammatisch organisiert.⁵⁴⁴ Das diagrammatische Muster steckt einen Orientierungsrahmen ab, wird aber nicht narrativ ausgespielt: Die Figuren bleiben weitgehend statisch, das Schachbrett hat als Bewegungs- oder Spielfeld nur eingeschränkt Relevanz.⁵⁴⁵ Die einzelne Schachfigur wird vielmehr zum locus, unter den sich diverse Exempel subsumieren lassen, die ihre Relevanz nicht nur im symbolischen Schachspiel behaupten, sondern auch metaphorisch der Etablierung eines Systems normativer Regeln dienen. Solange der feste Rahmen an Schachfiguren und Feldern gewahrt bleibt, ist die diagrammatische Ordnung offen für Kürzungen und Erweiterungen – Exempelerzählungen können beliebig entfernt oder hinzugefügt werden.⁵⁴⁶ Sowohl Heinrich von Beringen wie auch Konrad von Ammenhausen gehen sehr frei mit dem Erzählbestand ihrer Quelle um, wobei Ersterer ihn in Teilen kürzt, Letzterer deutlich erweitert. Wenn die Verfasser mittelalterlicher Schachbücher die historischen Exempel ihrer lateinischen Vorlage derart offen bearbeiten, stellt sich naturgemäß die Frage, welcher argumentativen Funktion diese noch dienen. Denn während bei Valerius Maximus die Geschichte als Reservoir divergierender Einzelfälle fungiert, aus denen je unterschiedliche Argumentationsmuster gezogen werden können, reihen die Schachbücher in erster Linie gleichgeartete Beispiele aneinander. Einzelfall um Einzelfall beweist, dass ein König gerecht sein muss, ein Ritter tapfer, ein Bauer fleißig usw. – ein in-
Raymond Di Lorenzo: The Collection Form and the Art of Memory in the Libellus super ludo schachorum of Jacobus de Cessolis. In: Mediaeval Studies 35 (1973), S. 205 – 221, hier S. 216; für weitere Literatur vgl. Melanie Urban: Visualisierungsphänomene in mittelalterlichen Schachzabelbüchern. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Charles Stephen Jaeger, Horst Wenzel. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen. 195), S. 139 – 166, hier S. 149. Vgl. Plessow: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung (Anm. 42), S. 62. Für einen Überblick zur Diagrammatik vgl. Matthias Bauer, Christoph Ernst: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld 2010 (Kultur- und Medientheorie). Gerade die volkssprachigen Übersetzungen kürzen teilweise den vierten Teil des Schachbuchs, in dem die Bewegungen der Figuren besprochen werden. Holger Kahle bereitet an der Universität Bochum momentan eine Dissertation zu den vierten Kapiteln der Schachbücher vor. Vgl. dazu auch Ziegeler: Art. Reimbispel-Sammlungen (Anm. 513), Sp. 1146.
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duktives Schlussverfahren, das seine Beweiskraft gerade aus der Kompilation möglichst vieler Erzählungen zieht, welche die Durchsetzungskraft eines spezifischen Wertes in je unterschiedlichen sozialen und historischen Situationen demonstrieren. Beispielhaft für diesen Normalfall der Argumentation kann hier auf die oben bereits angegebene Ritterfigur bei Konrad von Ammenhausen zurückgegriffen werden: wîsheit wird als erste Rittereigenschaft mit zwei historischen Exempeln unterlegt. Alexander der Große war in seinen Eroberungen derart erfolgreich, da er in seiner Taktik mit alter riter wîsheit / mêr denn mit sterke der jungen (V. 6010 f.) agiert – eine topische Argumentation, die auf das erfolgreiche Potenzial des weisen Alters gegenüber der ungestümen Jugend verweist. Darauf folgt bei Konrad das längere historische Exempel über Gildo, einen römischen Feldherrn und Usurpator, der die Kinder seines Bruders (bei Konrad Malterâ, historisch Mascezel) umbringen lässt, schließlich aber von diesem besiegt wird. Weise ist hier Malterâ, der zwar über ein zahlenmäßig unterlegenes Heer verfügt, vor der Schlacht aber drei Tage lang mit heiligen Männern betet, bis ihm der heilige Ambrosius den Sieg verleiht – eine religiöse Kontextualisierung, die wîsheit christlich rahmt. Als Wert im Ritterkanon wird wîsheit somit nicht nur historisch unterschiedlich verortet, sondern auch divergierend konnotiert. Topisches und christliches Register verweisen in der Kombination induktiv auf das Potenzial ritterlicher wîsheit. Mit dem Induktionsbeweis korrespondiert die Erzählkonzeption: Fast alle Kurzerzählungen sind historische Exempel, Fabeln sind überhaupt nicht zu finden, Gleichnisse nur sehr vereinzelt (s.u.). Alles Unwahrscheinliche, nur potentiell Mögliche wird zugunsten des Historisch-Faktischen (und damit Wahren) ersetzt. So fest die Rahmung der Kurzerzählungen auch am Kriterium der Wahrheit orientiert ist, so variabel zeigen sich doch deren Inhalte. Jacobus de Cessolis etwa führt in seinem Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum dreimal an unterschiedlichen Stellen das Exempel von Demokrit, der sich freiwillig blenden lässt, an. In der ersten Erzählung lässt sich Demokrit blenden, weil er nicht sehen will, wie böse Menschen gut leben (Sp. 47/48), dann um sich besser auf sein Denken konzentrieren zu können (Sp. 71– 74), schließlich will er nicht mehr sehen, um sich nicht von Frauen ablenken zu lassen (Sp. 493/494).⁵⁴⁷ Das Aussagereservoir einzelner Exempel wird pluralisiert, die Erzählung je nach angeführter Schachfigur und thematisierter Tugend funktional formbar. Die flexible rhetorische Funktion der Kurzerzählung setzt sich gegenüber einer streng systematisch-dogmatischen Einbindung durch. Heinrich von Beringen gilt als erster volkssprachiger Übersetzer des Jacobus de Cessolis: Sein im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandenes Schachzabelbuch kürzt den Exempelbestand der lateinischen Vorlage und übernimmt ansonsten die
Vgl. dazu auch Heinz-Jürgen Kliewer: Die mittelalterliche Schachallegorie und die deutschen Schachzabelbücher in der Nachfolge des Jacobus de Cessolis. Giessen 1966, S. 187.
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funktionale, sich auf den jeweiligen Kontext beschränkende Erzählweise.⁵⁴⁸ Man könnte Heinrichs Schachzabelbuch wohl einen kohärenten induktiven Argumentationsgang unterstellen, in dem die Exempel sich der eindeutigen Lesart ihres didaktischen Kontextes und seiner Tugendvermittlung angleichen, wenn Heinrich nicht diese feste Struktur an spezifischen Punkten selbst durchbrechen würde. Die Forschung hat bereits ein dezidiertes Interesse Heinrichs an Minnefragen konstatiert.⁵⁴⁹ Exempel, in denen Liebes- bzw. Paarrelationen zur Disposition stehen, werden von Heinrich – konträr zu seinem sonstigen Erzählschema – breit auserzählt und in Bezug zum höfischen Minnediskurs gesetzt. Die bei Jacobus de Cessolis nur kurz angeschnittenen Exempel der Lucretia, der Freundschaft zweier Kaufleute oder der Tochter des Fürsten Pfîsistarcus werden auf diese Weise detailliert ausgestaltet und in ihrer syntagmatischen Struktur mit Fragen der Liebesthematik angereichert: sî füeget liep, sî füeget leit, / Minn slihtet, Minne wirret, / sî fürdert, Minn ouch irret, […] Minn twinget junc, Minn twinget alt. (V. 519 – 527), schreibt Heinrich über die Auswirkungen der Liebe auf einen jungen, in die Tochter des Fürsten Pfîsistarcus verliebten Mann. Ähnliches, diesmal direkt aus der Perspektive eines Erzähler-Ichs geschrieben, in der Freundschaftsgeschichte zweier Kaufleute: ich darf der Minne smeichen nit, / wan, hât sî tugentlîche sit, / die sint mir noch unkündic: / flîzic unde fündic / was sî gein mir ie hertikeit; / für liebe gap sî mir ouch leit (V. 5392– 5397). Es ist nicht nur das Syntagma der einzelnen Erzählungen, das hier mit dem Liebe/ Leid-Topos gefüllt wird.⁵⁵⁰ Da Heinrich über den gesamten Text verteilt (und völlig unabhängig von der jeweiligen Schachfigur oder dem sozialen Wert) den Minnediskurs aufgreift, kann auch von einer paradigmatischen Bedeutung der Liebesthematik für seinen Text gesprochen werden. Haben sich neue und ältere Forschung im Wesentlichen darauf beschränkt, Heinrichs Interesse an Minnediskussionen festzustellen, soll im Folgenden nach den Konsequenzen für die Erzählkonzeption der erwei Das Schachzabelbuch Heinrichs von Beringen wird im Folgenden zit. nach: Das Schachgedicht Heinrichs von Beringen. Hrsg. von Paul Zimmermann. Tübingen 1883 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. 166). Zur Erzählweise Heinrichs vgl. Plessow: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung (Anm. 42), S. 83. Sehr hilfreich ist auch die Exempelkonkordanz bei: Kliewer: Die mittelalterliche Schachallegorie und die deutschen Schachzabelbücher in der Nachfolge des Jacobus de Cessolis (Anm. 547), S. 233 – 249. Neben einigen Streichungen fügt Heinrich von Beringen auch zwei (bei Cessolis nicht vorhandene) Exempel hinzu, von denen eines von Caesar erzählt, das andere von Gyges. Vgl. ebd., S. 249. Vgl. Plessow: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung (Anm. 42), S. 83 – 85; Margaret Dickie Howie: Studies in the Use of Exempla. With special Reference to Middle High German Literature. London 1923, S. 57; Ingeborg Glier: Kleine Reimpaargedichte und verwandte Großformen. In: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begr. von Helmut de Boor und Richard Newald. Bd. 3: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Teil 2: Reimpaargedichte, Drama, Prosa. Hrsg. von Ingeborg Glier. München 1987 (Handbücher für das germanistische Studium), S. 18 – 141, hier S. 87 f. Vgl. auch den Überblick zum Topos bei Öhlinger, der Heinrich von Beringen allerdings nicht erwähnt: Bernhard Öhlinger: Destruktive Unminne. Der Liebe-Leid-Tod-Komplex in der Epik um 1200 im Kontext zeitgenössischer Diskurse. Göppingen 2001 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 673).
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terten Exempel gefragt werden. Ausgegangen wird dabei von der These, dass sich die mit dem Minnediskurs angereicherten Exempel nicht nur allein aufgrund ihrer erzählerischen Fülle der didaktischen Einbindung widersetzen, sondern sich über die Einspeisung des Liebe/Leid-Topos auch von ihrer ursprünglichen Exempelfunktion entfernen und stattdessen kasuistischen Erzählformen annähern. Beispielhaft wird dies im Folgenden an der Erzählung von der Freundschaft zweier Kaufleute verdeutlicht. Jacobus de Cessolis, Heinrichs Vorlage, übernimmt die Freundschaftsgeschichte weitgehend unverändert aus der Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi. In Jacobus’ Schachbuch ist sie am dritten Bauern, d. h. den wollverarbeitenden Berufen und Schreibern bzw. Notaren,⁵⁵¹ verortet und soll dort amicitia exemplifizieren. Petrus Alfonsi und Jacobus de Cessolis erzählen – relativ knapp und ohne Details – folgende Geschichte:⁵⁵² Zwei Kaufleute, einer in Bagdad, einer in Ägypten, sind durch enge Freundschaft verbunden, auch wenn sie sich nur über Boten verständigen. Eines Tages beschließt der Kaufmann aus Bagdad, den Ägypter zu besuchen, er wird überaus herzlich aufgenommen und mit allem versorgt. Dann jedoch erkrankt der Gast, man ruft Ärzte hinzu, die schließlich eine Liebeskrankheit diagnostizieren. Der Ägypter zeigt daraufhin seinem Gast alle Frauen des Hauses, doch der Kaufmann aus Bagdad findet keinen Gefallen an ihnen, bis ihm schließlich die zukünftige Frau seines Gastgebers präsentiert wird. Sofort meldet der Gast, diese sei es, die ihm solche Liebesqualen verursache, woraufhin ihm sein Gastgeber nicht nur die Frau, sondern auch die entsprechende Mitgift übergibt. Einige Zeit später: Der Kaufmann aus Bagdad ist samt neuer Frau in seine Heimat zurückkehrt, der ägyptische Kaufmann inzwischen verarmt. Er beschließt, seinen Freund in Bagdad zu besuchen. Nach seiner dortigen Ankunft wird er aber fälschlicherweise des Mordes bezichtigt. Resigniert ergibt er sich in sein Schicksal (die Todesstrafe), schon am Galgen angelangt wird er jedoch von seinem Freund erkannt, der nun seinerseits (fälschlicherweise) angibt, er hätte den Mord begangen, um so seinen Freund zu retten. Dies alles beobachtet der wahre Mörder, der, bewegt durch das Verhalten der beiden Freunde, die Tat gesteht. Die Sache wird vor den Richter gebracht und aufgeklärt, beide Freunde teilen das Vermögen des Bagdaders und sind inniger verbunden als je zuvor.
Der Stoff der Kurzerzählung ist vom Mittelalter bis in die Moderne äußerst beliebt, nicht zuletzt die vielfach diskutierte Variante der Erzählung in Boccaccios Decameron zeugt von der Popularität dieser Freundschaftsgeschichte.⁵⁵³ Dass eine Überschrei Die etwas willkürlich scheinende Kombination von Webern und Schreibern liegt darin begründet, dass beide Berufsgruppen das ‚Äußere‘ eines Tieres bearbeiten – die einen Wolle, die anderen die Haut. Vgl. Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis (Anm. 473), Nr. 2 (‚Exemplum de integro amico‘); Jacobus de Cessolis: Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum (Anm. 537), Sp. 483 – 490. Neuschäfer versucht, im Vergleich zwischen Exempelerzählung (Disciplina clericalis) und Novelle (Decameron) die komplexere Erzählform der Novelle zu begründen. Neuschäfers Thesen waren sehr wirksam, sind aber heute nicht unumstritten, vgl. Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle (Anm. 36), S. 43 – 49. Vgl. die Erweiterung und Besprechung der Thesen Neuschäfers durch Kablitz: Andreas Kablitz: Boccaccios Decameron zwischen Archaik und Modernität. Überlegungen zur achten
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tung des rein Funktionalen hier in komplexen Erzählformen münden kann, hat man anhand der Genese der Freundschaftsgeschichte bereits erfasst, wobei jedoch gerade Heinrichs Version bisher unbeachtet geblieben ist. Hans-Jörg Neuschäfer etwa hat die Differenzen in den Varianten dieser Erzählung zwischen Disciplina clericalis und Boccaccios Decameron als literaturhistorischen Fortschritt vom Exempel zur Novelle interpretiert. Die Figuren des Exempels in der Disciplina clericalis seien Typen, die dem Ideal der Freundschaft alles unterordnen, ein Einzelwert determiniere damit die gesamte Erzählung. Im Decameron hingegen werde schon die Entstehung der Liebe zum Problem, wobei dies durch die Figuren selbst reflektiert wird: Aus einer idealistischen werde eine realistische Moralauffassung.⁵⁵⁴ Andreas Kablitz hat Neuschäfers Beobachtungen durch den Hinweis auf eine hochmittelalterliche französische Version des Stoffes (Li Romanz d’Athis et Prophilias) ergänzt, in der bereits angelegt ist, was im Decameron expliziert wird – ein Pragmatismus der Argumentation, der Affekte rationalisiert. Kablitz verortet die Unterschiede in den Erzählvarianten so stärker im epistemologischen Kontext: Bei Boccaccio zeige sich ein philosophischer Diskurs des Spätmittelalters, der auf den Zerfall des Systems scholastischer Ethik mit einer Normübersteigenden Pragmatik antworte, die eine etwaige Kontingenz von Moral als gegeben akzeptiere.⁵⁵⁵ Heinrich von Beringen bearbeitet das Exempel in seinem Schachzabelbuch umfassend und weitet es auf fast 1000 Verse aus (V. 5122– 6083).⁵⁵⁶ Auch er bringt die Erzählung eingangs in einen Konnex zur Freundschaft: Das Exempel thematisiere […] zweier gselleschaft, / die der geselleschefte kraft / der welt zuo bilde brâhten, / und wie sî wankel smâhten (V. 5126 – 5129). Alles Unbeständige, Wankende wird hier von vornherein aus dem Freundschaftsdiskurs ausgeklammert, konsequenterweise schildert Heinrich die Freundschaftsbeziehung auch wesentlich inniger. Nicht nur besuchen die beiden Kaufleute sich regelmäßig (bei Petrus Alfonsi haben sie noch über Boten kommuniziert), ihre Freundschaft wird auch in der Begrifflichkeit höfischer Bindungen gefasst: in [gemeint sind die Kaufleute, M.S-D.] het geweben in ein vach / diu edel rein geselleschaft / lîp, herzen, aller sinne kraft, / sô daz ir leben was enein / ân underscheiden ein gemein (V. 5133 – 5188). Sobald die problematische Ausgangslage hergestellt ist – bei einem seiner Besuche in Ägypten verliebt sich der Kaufmann aus Bagdad in die neue Braut seines
Novelle des zehnten Tages. In: Literarhistorische Begegnungen. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Bernhard König. Hrsg. von Andreas Kablitz, Ulrich Schulz-Buschhaus. Tübingen 1993, S. 147– 181. Der Stoff liegt mit dem französischen Li Romanz d’Athis et Prophilias und seiner mhd. Übertragung auch als eigenständige, umfangreichere Erzählung vor. Vgl. Peter Ganz: Art. Athis und Prophilias. In: ²VL. Bd. 1, Sp. 511– 514. Vgl. Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle (Anm. 36), S. 43 – 49. Vgl. die kritische Revision bei: Emmelius: Kasus und Novelle (Anm. 35). Vgl. Kablitz: Boccaccios Decameron zwischen Archaik und Modernität (Anm. 553), S. 154– 160. Bei einer Gesamttextlänge von etwa 10.000 Versen, in der die meisten Exempel nur wenige Dutzend Verse beanspruchen, ist dies ein beachtlicher Umfang.
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Gastgebers – kippt Heinrichs Erzählung ins Diskursive. Schon der Auftritt einer personifizierten Minnefigur führt deren Wirkmacht vor Augen: dô kom mîn frou, von der ich klag: / ich meine, diu frou Minne, / diu wol besinter sinne / ze tumpheit vil gewîset hât (V. 5227– 5230). Die Machtlosigkeit des Kaufmanns gegenüber der Liebe wird mit einer Vielzahl unterschiedlicher Bilder unterlegt: dâ wider het er keinen sturn, / er muoste tief in iren [der Minne, M.S-D.] turn; / dar inne lac er âne wer. / sî was im ein michel her. […] nu bôt si im den heizen brant dar, / denn kom sî mit dem îse / ze trank und ouch ze spîse / gap sî im siuften achen usw. (V. 5340 – 5350). Die Erzählung fasst – ganz im Rahmen rhetorischer energeia – Minne durch Techniken des Vor-Augen-Stellens. Minne wird so eine doppelte Anschauung eingeschrieben: Verlebendigung als Figur einerseits, erzählende Beschreibung in den abgestuften Bildern der Minnemacht andererseits.⁵⁵⁷ Indem Heinrich Bestandteile der Handlung zum Sprachbild macht, indem er durch die Personifikation die rhetorische Figur zur handelnden Figur und Dialogpartnerin umfunktioniert und so aus dem Bereich der elocutio in die dispositio holt, zeigt sich der topische Wechsel aus Liebe und Leid hier als Einfallstor für Rhetorik.⁵⁵⁸ Doch es ist nicht nur die discours-Ebene, in der das Narrative vom Argumentativen überlagert wird: Auch auf histoire-Ebene weicht Heinrich von Beringen signifikant von seinen Vorläufern ab. Minne, so macht es das Schachzabelbuch klar, evoziert Freude und Leid, da sie den Kaufmann aus Bagdad in eine Situation bringt, in der er die Werte Freundschaft und Liebe gegeneinander ausspielen muss. Ein Großteil der Narration ist dabei dem Besuch des Bagdaders in Ägypten reserviert, in dem die Bedingungen der Brautsuche und die Qualen der Liebeskrankheit detailliert erzählt werden, wobei der Erzähler in Exkursen immer wieder eine personifizierte Minnefigur direkt anspricht. Was Heinrichs Erzählung jedoch vom Exempel seiner Vorlage grundsätzlich unterscheidet, ist die Reflexion des Kaufmanns aus Bagdad über die Liebe zur Frau seines Gastgebers. Die Freude und Leid evozierende Minne bringt den Gast in eine Situation, in der er die Werte Freundschaft und Liebe gegeneinander ausspielen muss: er [der Gast aus Bagdad] wolte lîden ê den tôt / od lîden immer mêr die nôt, / ê er ez [die Liebe zur Frau des Gastgebers] wolde künden. / er meint sô sêre sünden / an sîns gesellen êren / und vorht ein solichz verkêren, / swâ man sîn immer mêr gewuoc, / daz er der soliche minne truoc, / diu sîns gesellen lîbe / gemahelt wær ze wîbe. (V. 5552– 5561)
Es ist diese Reflexion über die Priorisierung gesellschaftlicher Werte, der Versuch, den Affekthaushalt zu kontrollieren und sozialen Normen anzupassen, die die Erzählung
Vgl. Campe: Vor Augen Stellen (Anm. 200), S. 209 – 223, der energeia von enargeia abgrenzt – Ersteres als Technik figuralen Vor-Augen-Stellens aus der Metapherntheorie, Letzteres als narratives Vor-Augen-Stellen (d. h. als figurative Narrativierung der Deskription) aus der Erzähltheorie. Es bliebe zu überlegen, inwieweit sich beide Techniken in Heinrichs Erzählung finden lassen. Vgl. Friedrich: Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen (Anm. 32), S. 240 – 242.
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dem Kasus näherbringt. Denn dieser stellt kontroverse Sachverhalte zur Disposition:⁵⁵⁹ „Bestehen, Gültigkeit und Ausdehnung verschiedener Normen werden erwogen, aber diese Erwägung enthält die Frage: wo liegt das Gewicht, nach welcher Norm ist zu werten?“⁵⁶⁰ So wird auch der sich anbahnende innere Minne-Freundschaft-Konflikt in eine Metaphorik des Kampfes gestellt, in der zwischen zwei Seiten entschieden werden muss: dâ hât erhaben sich ein strît / und was ouch kraft ze beider sît; / ich prüeve, swer ez rehte wigt, / dâ wart ze beider sît gesigt (V. 5334– 5337). Über die Minne kommt ebenjenes ‚Wanken‘ und Abwiegen in den Freundschaftsdiskurs, das Heinrich eingangs noch explizit aus diesem ausgeschlossen hatte. Im Vergleich zu den lateinischen Vorlagen zeigen sich dann auch signifikante Abweichungen auf der Handlungsebene. Wo der Gast aus Bagdad etwa bei Petrus Alfonsi seine Liebe zur Braut seines Gastgebers öffentlich erklärt, weigert sich er sich bei Heinrich, Gründe für seine Minnekrankheit bzw. den Grund seiner Verliebtheit zu nennen. Das Dilemma der Normkollision bedingt so ein narratives Patt, denn weder können die ägyptischen Ärzte dem kranken Gast helfen, noch kann sich dieser selbst von seinen Minnequalen befreien. Damit aber droht die Situation unaufgelöst zu bleiben, wie es dem Kasus eigen ist, der die narrative Minimalstruktur aus Anfang, Mitte und Ende durch seine Unabgeschlossenheit eben gerade nicht erfüllt.⁵⁶¹ So fasst Heinrichs Text seine Freundschaftserzählung stärker als Spiel, denn als präskriptive Demonstration von Werten auf: das süeze[ ] spil (V. 5293) der Minne bedingt den ständigen Umschwung von Liebe und Leid, so dass die ganze Situation an ein tümpelieres [= Glücks, M.S-D.] spil (V. 5266) erinnert. Ein Spiel insofern, als die Erzählung hier verschiedene Normkonflikte inszeniert, die einer Beurteilung zugeführt werden müssen. Im Gegensatz zu den meisten Exempeln des Schachzabelbuchs wird gerade kein allgemeingültiges verbindliches Tugendmodell (=Wert) entworfen, sondern die Frage verhandelt, was in einem konkreten Fall zu tun ist (=Norm).⁵⁶²
Vgl. ebd., S. 231. Zum Kasus vgl. auch Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel (Anm. 147), S. 19 – 29. Mit den narratologischen Schwierigkeiten, zwischen Exempel und Kasus zu unterscheiden, haben sich Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius am Beispiel des Rings befasst: Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius: Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers Ring. In: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006. Hrsg. von Klaus Ridder, Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz. Berlin 2008 (Wolfram-Studien. 20), S. 177– 204. Jolles: Einfache Formen (Anm. 2), S. 190; vgl. dazu auch Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel (Anm. 147), S. 20. Vgl. Bleumer, Emmelius: Vergebliche Rationalität (Anm. 559), S. 186 und S. 194 f.; Bleumer: Vom guten Recht des Teufels (Anm. 492), S. 160 – 162; Emmelius: Kasus und Novelle (Anm. 35), S. 60. Gegen diese Auffassung des Kasus als defizitäre, d. h. protonarrative Struktur und für ein Verständnis des Kasus als vollständige Geschichte argumentiert: Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel (Anm. 147), S. 22– 25. Zur Unterscheidung von Werten und Normen und ihrer Zuordnung zu Exempel und Kasus vgl. Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 237.
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Letztlich fängt Heinrich von Beringen jedoch diesen kasuistischen Inhalt durch die Exempelstruktur der Erzählung wieder auf. Das Liebes-Dilemma kann durch ein Experiment gelöst werden: Der ägyptische Gastgeber lässt sämtliche Frauen seines Hauses vor dem Kaufmann aus Bagdad unter ärztlicher Beobachtung vorbeilaufen. Als sich die Krankheitssymptome beim Anblick der zukünftigen Braut intensivieren, deduzieren die Ärzte korrekt die Liebe zur baldigen Frau des Gastgebers. Experiment, Beobachtung und ratio scheinen hier die Instrumente zu bilden, durch die das Spiel der Affekte kontrolliert und aufgefangen werden kann.⁵⁶³ Während der Kasus die Frage nach der Gewichtigkeit verschiedener Normen öffnet und eine endgültige Situationsbewertung seinen Rezipienten überlässt, zeigt Heinrich in der Erzählung die Möglichkeit, Minne und Freundschaft miteinander in Einklang zu bringen. Es ist hier aber bereits die bloße Thematisierung eines Normkonfliktes, der die Erzählung von vielen anderen historischen Exempeln in Heinrichs Schachzabelbuch grundlegend unterscheidet, denn die direkte didaktische Einbindung wird deutlich überschritten. Heinrich erzählt (wie auch schon Jacobus) die Freundschaftsgeschichte im Kontext des dritten Vende (Bauern),⁵⁶⁴ dessen sozialer Bezugsrahmen vor allem das woll-, tuch- und lederverarbeitende Gewerbe umfasst. Die dem Handwerkerstand zugeordnete Tugend der friuntlîch geselleschaft (V. 4729) wird in der Erzählung jedoch über die Einspeisung des Liebe/Leid-Topos desavouiert. Nicht mehr das reine Prinzip von Gabe und Gegengabe, wie es in der Vorlage durchexerziert wird, bestimmt Freundschaft. Vielmehr wird Minne als freundschaftsbedrohende und soziale Beziehungen zersetzende Kraft inszeniert, die rational nur noch schwer kontrolliert werden kann: Der Kaufmann aus Bagdad schafft es trotz Reflexion über die Folgen weder, auf die Frau seines Gastgebers zu verzichten, noch, seine Liebe zu artikulieren und damit eine Lösung der Situation zuzuarbeiten. Die Erzählung wird zum Einzelfall, der nicht mehr gemeinsam mit anderen, deckungsgleichen Fällen die Normativität eines Wertes bestimmt, sondern nur noch auf sich selbst verweist, d. h. nicht auf das Allgemeine, sondern auf das Besondere.⁵⁶⁵ Mit dieser Problematisierung eines allgemeingültigen Wertes reiht sich Heinrich von Beringen in eine Erzähltradition ein, die die Freundschaftsgeschichte je in neue Kontexte gestellt hat. Petrus Alfonsi unterlegt die Freundschaftsgeschichte mit einem christlichen Substrat, das die Opferrolle in der Freundschaft hervorhebt, Jacobus de Cessolis favorisiert Tauschprozesse von Gabe und Gegengabe, Boccaccio in einer philosophischen Volte Pragmatik und das Einspielen von Kontingenz. Bei Heinrich von Beringen fungiert der Liebe/Leid-Topos als Minneparadigma und programmatisches Narrativ, das die axiologische Besetzung modelliert und Handlungsschemata von Erwartung und Erfüllung bedient. Heinrich öffnet die stringente Exempelerzäh Zur Bedeutung der ratio in der Genese der Freundschaftsgeschichte vgl. Kablitz: Boccaccios Decameron zwischen Archaik und Modernität (Anm. 553), S. 157. Der ‚Vende‘ ist nach heutiger Terminologie ein Bauer im Schach. Auch hier ist somit eine Nähe zum Kasus zu sehen, zur Bedeutung des Kasus als ‚Einzelfall‘ vgl. Rippl: Erzählen als Argumentationsspiel (Anm. 147), S. 19 f.
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lung damit für diskursive, argumentierende Inhalte, die stärker an Reflexion und rhetorischer Verhandlung orientiert sind. Normdiskussion wird einerseits über die Reden der Figuren inszeniert, die (meist im Selbstgespräch) ihr Handeln unter dem Minneeinfluss überdenken und Handlungsmöglichkeiten abwägen. Andererseits sorgt die Erzählung aber auch für Anschauung, indem sie ihr diskursives Potenzial über eine personifizierte Minne und Ketten an Minnemetaphern ausspielt. Symptomatisch demonstriert die Freundschaftsgeschichte, wie Heinrichs von Beringen ansonsten sehr stringente Argumentationsstruktur aus Schachfigur und zugeordneten Werten, die über funktional erzählte und induktiv beweisende Exempel ihren didaktischen Stellenwert herausstellen, durch Integration des höfischen Minnediskurses aufgebrochen wird. Minnekasuistik stellt hier gesellschaftliche Werte in Frage, anstatt ihre soziale Durchsetzungskraft zu demonstrieren. Sie zeigt, dass sich die psychische Disposition des Menschen nicht durch ein normativ vorgeschriebenes Tugendmodell kontrollieren lässt, sondern ihren Affekten unterworfen ist.⁵⁶⁶ Bei Heinrich behält die Erzählung zwar ihre narrative Struktur und avanciert nicht zum reinen Kasus (der ein offenes Ende hat und damit narratologisch gesehen keine abgeschlossene Geschichte darstellt), doch problematisiert sie die Frage nach dem richtigen Verhalten, dass hier erst situativ ausgehandelt werden muss. Es ist keine allgemeingültige Regel, auf die die Freundschaftsgeschichte bei Heinrich von Beringen hinausläuft, sondern die Inszenierung eines Einzelfalls, der das Minnespiel als ein rhetorisch stilisiertes Erzählspiel inszeniert.⁵⁶⁷ Die Erzählkonzeption Konrads von Ammenhausen bietet demgegenüber keine klar hervortretenden Charakteristika. Statt einen spezifischen Diskurs zu fokussieren (wie Heinrich von Beringen), erweitert Konrad insgesamt die Kurzerzählungen des Jacobus de Cessolis, ohne sie allerdings einem stringenten Leitthema zu unterwerfen.⁵⁶⁸ Zudem fügt er neue Erzählungen hinzu, darunter jedoch nicht nur historische Exempel, sondern (konträr zur Konzeption seiner Vorlage) auch einige Gleichnisse.⁵⁶⁹ Kohärenz in Konrads Überarbeitung kann noch am deutlichsten in der Relation zwischen Kurzerzählung und Kontext festgemacht werden: Die zahlreichen Details, um die Konrad die Erzähllänge der einzelnen Exempel erweitert, scheint auf eine
Zu der Inszenierung gesellschaftlicher Bedrohung durch Trieb in mittelalterlichen Kurzerzählungen vgl. auch die Hinweise bei Friedrich: Trieb und Ökonomie (Anm. 305), S. 49. Zur ‚Spiel‘-Metaphorik in Kurzerzählungen vgl. Udo Friedrich: Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer. In: IASL 21 (1996), S. 1– 30. Konrad zielt hier u. a. darauf ab, die Vielzahl an Berufsgruppen deutlicher als Jacobus de Cessolis abzubilden, gerade der dritte Vende bekommt hier explizit mehr Berufe zugeschrieben, vgl. Oliver Plessow: Kulturelle Angleichung und Werteuniversalismus in den Schachzabelbüchern des Mittelalters. In: Chess and Allegory in the Middle Ages (Anm. 539), S. 57– 97. Vgl. Glier: Kleine Reimpaargedichte und verwandte Großformen (Anm. 549), S. 88 f.; Plessow: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung (Anm. 42), S. 89 f., der als Quellen für die Erweiterungen v. a. biblische Erzählungen und die Rechtstradition angibt.
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homogene Einbettung der Narrationen in die entworfene Ständelehre zu zielen.⁵⁷⁰ Während der Konnex zwischen Exempel und Kontext bei Jacobus de Cessolis aufgrund der knappen Erzählweise häufig relativ willkürlich erscheint, betont Konrad in seinen Kurzerzählungen dezidiert den je zur Debatte stehenden Wert bzw. die ihr zugeordnete soziale Figur. Dennoch ergibt sich daraus ein paradoxer Befund: Die systematische Normvermittlung wird auf ein Minimum reduziert und über weite Strecken von den langen Erzählungen überdeckt.⁵⁷¹ Der klare induktive Argumentationsgang seiner lateinischen Vorlage wird in Konrads Text zugunsten literarisch angereicherter Kurzerzählungen aufgegeben, die zwar jede für sich den Beweis für die Notwendigkeit einer spezifischen Norm liefern, in ihrer Gesamtheit und Masse aber klare Argumentationslinien überdecken. Konrads Vorliebe für diese rhetorische Technik der amplificatio kann bereits zu Eingang seines Schachzabelbuches beobachtet werden. Die rund 680 Verse, die Konrad als Prolog vor seine eigentliche Bearbeitung des Jacobus de Cessolis setzt, verteilen sich auf die üblichen topischen Prolog-Formeln, eine Darlegung der Verfasser-Intentionen und zwei exemplarische Kurzerzählungen: das Exempel von Daniel in der Löwengrube und das Gleichnis von Vater, Sohn und Esel. Für Letzteres lässt sich keine direkte Quelle finden, doch lohnt ein Blick auf die Parallelüberlieferung bei Ulrich Boner, um Spezifika in Konrads Adaptation des Stoffes zu konstatieren.⁵⁷² Boner erzählt im Edelstein die Geschichte eines Vaters, der mit Sohn und Esel zu einem Markt reist.⁵⁷³ Die ihnen unterwegs begegnenden Menschen (Boner spricht allgemein von liute[n], V. 9) spotten über die jeweilige Reitkonstellation: Reitet der Sohn, wird bemerkt, dieser solle laufen und der Vater sich auf dem Esel ausruhen; reiten beide, wird moniert, dies belaste den Esel übermäßig, usw. In ihrer Not tragen Vater und Sohn schließlich gemeinsam den Esel und werden dafür abermals ausgelacht. Das
Zur ständischen Didaktisierung sowie zur Selbstreferenz auf das Schachspiel, das bei Konrad nicht nur als diagrammatisches Ordnungsmuster funktionalisiert, sondern dessen Ursprung (wie in der Vorlage) auch expliziert wird vgl. Wolfgang Dittmann: Zur Erfindung des Schachspiels im Schachzabelbuch. Die erzählte Primär-Rezeption bei Konrad von Ammenhausen. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland, Michael Mecklenburg. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. 19), S. 303 – 326; generell zur Erfindung des Schachspiels in den Schachbüchern, das selbst als ein Exempel zwischen Mächtigem (Evilmoradach) und Weisem (Xerxes) erzählt wird, vgl. Andreas Hermann Fischer: Spielen und Philosophieren zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2016 (V&R Academic), S. 116 – 120. Plessow spricht vom „Verlust einer hierarchischen Gliederungsebene“, Plessow: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung (Anm. 42), S. 88. Ob dies mit einer von Küenzlen postulierten „fingierten Dialogizität“ in Konrads Text kongruiert, bleibt zu eruieren, Küenzlen: Lehrdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Anm. 538), S. 283. Vgl. zur Quellenfrage die Angaben des Herausgebers: Konrad von Ammenhausen: Schachzabelbuch (Anm. 539), Sp. 15, Anm. 8; Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 314, der auf das Alphabetum narrationum (heute Arnold von Lüttich zugeschrieben) als Quelle Boners verweist. Vgl. Ulrich Boner: Der Edelstein (Anm. 93), Nr. 52.
III.2 Exemplarische Kurzerzählungen im didaktischen Kontext
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Epimythion richtet sich anschließend gegen üble Nachrede und plädiert für ein Festhalten an guten Werken auch bei falschen Verleumdungen. Die Kurzerzählung adaptiert das logische Muster eines Polylemmas – einer Situation, in der zwischen mehreren gleich unattraktiven (oder attraktiven) Optionen gewählt werden muss –, offeriert jedoch keine Auflösung der paradoxen Verwicklungen durch logische Schlüsse, sondern über moralische Qualitäten. Rhetorisch spielt die Erzählung über die verschiedenen Reitkonstellationen je verschiedene Handlungsmöglichkeiten gegeneinander aus, um schließlich beim unwahrscheinlichsten Fall zu landen: Der Esel wird getragen. Hans Jürgen Scheuer hat darauf hingewiesen, diese Umbesetzungen auch als ein Spiel mit Erzählkalkülen zu lesen, das mehrschichtige Beobachterpositionen inszeniert. So wie die erzählimmanenten Zuschauer Vater, Sohn und Esel beobachten, beobachtet der Rezipient diese in ihrer mehrstufigen Ablehnung der Reitkonstellationen.⁵⁷⁴ Konrad entfaltet ebenso die traditionelle Erzählstruktur aus wechselnden Besetzungen des Esels, die je bemängelt werden. Als Kritiker imaginiert Konrad allerdings keine anonyme Menge, sondern speist hier bereits die Ständethematik des folgenden Textes in das Syntagma seines Eingangsgleichnisses ein. Es begegnen Vater und Sohn: ein hovenscher garzûn (V. 422), ein Gärtner (V. 441), ein Knecht (V. 461), eine Magd (V. 478) und ein knape (V. 506). Konrad inszeniert eine Kette aus unterschiedlichen beruflichen Gruppierungen,⁵⁷⁵ die dem Gleichnis eine apologetische Funktion zuweisen. Nicht gegen allgemeine Nachrede, sondern gegen etwaige Kritik der Stände an Konrads sozialer Lehre richtet sich die Kurzerzählung. Auch das aus Parallelüberlieferungen bekannte Epimythion wird nicht in den über 100 Versen des Gleichnisses ausgeführt, sondern schon zu Beginn der Kurzerzählung in einer kurzen Sentenz formuliert: Nieman hat reht stætekeit, / swer ahten wil, was menglich seit / und nâch ir aller rede wil leben. (V. 415 – 417). Konrad funktionalisiert das Gleichnis um in eine Legitimationsbasis des eigenen Schreibens, erkennt aber gleichzeitig die Gefahr der Überfrachtung durch das erweiterte Erzählen: ich solte lenden unde steden / und kürzen disen anevang (V. 410 f.). Die oben besprochenen Techniken der dilatatio, der Materialerweiterung, mit denen Konrad die Exempel seiner Vorlage anreichert und fester in die Tugend- bzw. Ständethematik zu integrieren versucht, sollen abschließend an einem Beispiel verdeutlicht werden. Es werden dabei in einem Dreischritt erst die Quelle (Valerius Maximus) und dann die Bearbeitungen des Jacobus de Cessolis und des Konrad von Ammenhausen vorgestellt.
Vgl. Hans Jürgen Scheuer: Eselexegesen. Spielräume religiöser Kommunikation im Schwankexempel des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Germanistik 25 (2015), H. 1, S. 42– 57, hier S. 50 f. Wobei bemerkt werden muss, dass die von Konrad angeführten Figuren nicht das gesamte soziale Spektrum erfassen, sondern sich v. a. auf Dienstleute konzentrieren.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Valerius erzählt, gruppiert unter das Oberthema iustitia, das historische Exempel des Konsuls Camillus:⁵⁷⁶ Der Römer Camillus belagert die Stadt Falerii. Ein Lehrer in der besetzten Stadt schart etliche Kinder der Aristokratie um sich und bringt diese ins römische Lager, mit der Intention, diese den Römern als Geiseln zu überlassen und so die Belagerung zu beenden. Die Römer beschließen jedoch, den Lehrer zu binden und ihn, geprügelt von seinen Schülern, zurück in die Stadt zu jagen. Bewegt von dieser Tat, geben die Falisker ihre Stadt freiwillig auf: qua iustitia animi eorum sunt capti quorum moenia expugnari non poterant: namque Falisci beneficio magis quam armis uicti portas Romanis aperuerunt. ⁵⁷⁷ Jacobus integriert das Exempel in sein Kapitel über den rochus (Turm), den er auf vicarii regis bezieht, also die Stellvertreter des Königs.⁵⁷⁸ Er hält sich relativ dicht an Valerius, erzählt jedoch genauer, wie der Lehrer die Kinder aus der Stadt entfernt und fügt eine Rede der Römer ein, in der diese ihre Abscheu gegenüber dem Lehrer betonen und ihre Integrität und Gerechtigkeit herausstellen – iustitia ist nach Jacobus eine der zentralen Tugenden des vicarius regis. ⁵⁷⁹ Konrads Schachzabelbuch bezieht den Turm auf einen Landvogt, und stellt das historische Exempel (V. 8126 – 8250) in den Kontext von gerehtekeit (V. 7877). Das Schachzabelbuch intensiviert dabei die bei Jacobus schon angelegte antithetische Perspektive auf die beiden Figuren: Der Lehrer plant nun, die Kinder zu ermorden (wan er ein mort wolt hân getân, V. 8149), bei seiner Ankunft im römischen Lager entwickelt sich ein Dialog zwischen ihm und dem Konsul Camillus (bei Konrad: Canulus), den die Vorlagen nicht beinhalten. Der siegessichere Lehrer hofft hier weniger auf einen Friedensschluss denn auf eine persönliche Belohnung (ich hoffe, das irs dankent mir, V. 8178), Camillus hingegen rekurriert auf die Schutzfunktion des Lehrers gegenüber seinen Schülern: dur das ir hant ein mort getân / an dien, die iuch bevolhen sint (V. 8186 f.) und avanciert zum Ankläger des Mordversuchs, den er sowohl juristisch wie moralisch verurteilt. Politisches Machthandeln wird hier weitestgehend durch individuelle Interessen und Verantwortung ersetzt. Konsequenterweise interessiert sich Konrad weniger für den weiteren Verlauf der Belagerung als für die Zukunft des zurückgejagten Lehrers: was lônes aber im wurd bereit, / an disem buoch ich des niht vant; / doch wæne ich, das im wurd zehant / sîn lôn, des er wirdig was (V. 8234– 8237). Im Schachzabelbuch Konrads fungiert das persönliche Handeln als Maßstab und Tugendspiegel, moralische Implikationen treten vor politische Konsequenzen. Vale-
Vgl. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia (Anm. 358), 6.5.1. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia (Anm. 358), 6.5.1 (‚Während die Mauern dieser Stadt den Belagerern trotzten, gewann dieses rechtliche Benehmen ihre Bewohner; und durch eine Wohlthat, statt durch Waffengewalt besiegt, öffneten die Falisker den Römern die Thore.‘,Valerius Maximus Sammlung merkwürdiger Reden und Thaten [Anm. 358], S. 399). Jacobus de Cessolis: Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum (Anm. 537), Sp. 301 f. Ebd., Sp. 311– 314. Hier zeigen sich Parallelen zu Titus Livius: Ab urbe condita (Anm. 335), 5, 27, 1– 9. Vgl. dazu auch Hedegård: Jacobus de Cessolis Sources (Anm. 540), S. 113 – 115.
III.3 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext
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riusʼ Pointe – was durch Waffengewalt nicht erreicht wird, kann manchmal durch Bewegung der Herzen erreicht werden (s. o.) – hat in der Ständelehre ihre Funktion verloren. Stattdessen erhält die Kurzerzählung bei Konrad eine klar definierte axiologische Besetzung, die die Differenz zwischen ungerechtem und gerechtem Handeln anhand der Gegenüberstellung zweier Figuren verhandelt. Richtiges, gerechtes Verhalten ergibt sich nicht mehr aus dem Einzelfall, sondern wird über allgemeine Parameter (ein Lehrer muss für seine Schüler sorgen usw.) hergeleitet. Während Valerius zeigt, wie sich Gewalt durch einen Wert ersetzen lässt, orientiert sich Konrad an der Sentenz, das Gleiches mit Gleichem vergolten werden solle: iuwer mortheit wolt si hân / mit mortheit überwunden (V. 8210 f.). Dies impliziert das Talionsprinzip und damit ein allgemeingültiges Rechtsprinzip, das die antike Vorlage in der Erzählung nicht kennt. Der didaktische Rahmen der Ständelehre, der in Konrads Text gegenüber seiner Vorlage nochmals betont wird, erzwingt eine Neuausrichtung der Kurzerzählung, die in einer verschobenen argumentativen Funktion resultiert. Gerechtigkeit ist nicht länger politisches Mittel, das in divergierenden Situationen unterschiedlich eingesetzt und bewertet wird, sondern Wertverhalten einer spezifischen sozialen Schicht und als solches statisch. Generell sind Konrads Erzählungen darauf ausgerichtet, spezifische Werte und Ständecharakteristika nicht nur im erzählten besonderen Fall, sondern auch in überzeitlicher, allgemeiner Perspektive darzustellen. Dies konterkariert jedoch das induktive Argumentationsmuster des Jacobus de Cessolis: Wo sich dort eine allgemeine Aussage erst aus einer Kette an gleichgerichteten Einzelfällen ergibt, so unternimmt es Konrad, das Allgemeine bereits aus jedem Einzelfall je neu zu beweisen – und nähert sich damit paradoxerweise dem rhetorischen Verfahren des Valerius Maximus wieder an, wenn auch unter verschobenen inhaltlichen Vorzeichen.
III.3 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext III.3.1 Einführung: Erzählen von der Ausnahme Der schwedische Naturforscher Carl von Linné besaß – neben dem Interesse am Klassifizieren von Pflanzen – auch eine besondere Vorliebe für einen bestimmten Typus an Kurzerzählungen. Er sammelte, archivierte und systematisierte unter dem Titel Nemesis divina etwa 100 historische Begebenheiten, die alle nach folgendem Muster berichten: „Klingsporre, Oberst, aber Kapitän bei der Garde, als die Dalekarlier 1743 auf Norrmalmstorg geschlagen wurden. Als sie die Waffen niedergelegt und Pardon begehrt hatten, ritt er wie rasend, hieb er die armen Dalekarlier nieder und massakriert sie, auch einen, der mit emporgestreckten Händen auf den Knien lag und um Gnade bettelte, was selbst seinen Kameraden mißfiel.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
1761 in Pommern wurde er im Krieg von den Preußen elendig in den Kopf und das Gesicht gehauen, daß er sein Leben lang als ein rechts Spektakel mit unendlich Mühe und Schmerz ging.“⁵⁸⁰ „Madame N.N. hatte ein Dienstmädchen; dieses sollte eine Porzellanschale die Treppe hinauftragen, fällt aber und bricht sie entzwei. Madam wird wie wahnsinnig, schlägt sie zuerst elendig, dann nimmt sie ihren Lohn und kauft eine neue. Gegen Abend, da Madame dieselbe Treppe hinuntergehen wollte, stolpert sie und bricht sich das Bein.“⁵⁸¹
Linné versucht, die Präsenz und das Gerechtigkeitswirken Gottes (in Form eines ius talionis) empirisch über historische Exempel zu belegen. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive rekurriert er auf die alte Technik des Staunens über das Wunderbare, indem er ein Ereignis gleichzeitig „als überraschend und zugleich folgerichtig erscheinen“⁵⁸² lässt – schon Aristoteles bringt in der Poetik das Beispiel der Mitys-Statue, die auf den Mörder des Mitys fällt und ihn tötet, als dieser vor ihr steht.⁵⁸³ Die Erzählung vom Wunderbaren und Erstaunlichen gibt so Kausalität für Finalität aus und etabliert Providenz als gleichsam natürliches Prinzip. Was das Mitys-Exempel des Aristoteles und Linnés Sammlung verbindet, ließe sich als ein ‚Erzählen von der Ausnahme‘ fassen, ein Schema, das im Mittelalter seinen privilegierten Platz in der Legende findet. Im Erzählkanon des Christentums vollführt das Erzählen von der Ausnahme aber einen paradoxen Zirkelschluss, da in der Legende die Ausnahme letztlich selbst zur Regel wird: Der ‚hagiographische Diskurs‘⁵⁸⁴ bildet eine Erzählstruktur, nach der sich der Sonderfall des ‚Auserwählt-Seins‘ regelgerecht erreichen lässt. Nicht zufällig sammeln daher Linné wie auch mittelalterliche Mirakel- und Legendensammlungen (etwa die Legenda aurea) ein möglichst breites Reservoir an ‚wunderbaren‘ Fällen. Die Wirkkraft einer transzendenten Existenz wird damit nicht nur narrativ illustriert, sondern über eine Reihung von Einzelfällen auch induktiv bewiesen.⁵⁸⁵ Schon die antike Rhetorik hat auf Wiederholung als Prinzip verwiesen: „in der Regel ist nämlich das, was künftig geschehen wird, dem schon Geschehenen
Carl von Linné: Nemesis divina. Hrsg. von Wolf Lepenies. München 1981 (Hanser Anthropologie), S. 185. Ebd., S. 200. Matuschek: Über das Staunen (Anm. 19), S. 35. Vgl. Aristoteles: Poetik (Anm. 183), 9 (1452a 8 – 10). Vgl. zum Begriff ‚hagiographischer Diskurs‘ die forschungsgeschichtlich bedeutsamen Erläuterungen in: Marc van Uytfanghe: Art. Heiligenverehrung II (Hagiographie). In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 14. Hrsg. von Ernst Dassmann. Stuttgart 1988, Sp. 150 – 183, hier Sp. 155 – 157. Zu Linné vgl. auch Paul Fleming: The Perfect Story. Anecdote and Exemplarity in Linnaeus and Blumenberg. In: Thesis Eleven 104 (2011), H. 1, S. 72– 86, hier S. 76 – 80; Rüdiger Zill: Minima historia. Die Anekdote als philosophische Form. In: Zeitschrift für Ideengeschichte VIII (2014), H. 3, S. 33 – 46, hier S. 41.
III.3 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext
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ähnlich“⁵⁸⁶ – so Aristoteles in der Rhetorik. Die Wiederholung einer immer gleichen Aussage schafft generell Sicherheiten,⁵⁸⁷ ja konstituiert überhaupt erst Geschichte⁵⁸⁸ und damit die Basis für ihre Funktionalisierung. Salvator enim noster omnium praedicatorum perfecta forma fabulis, Palaestinorum more, usus est, ut rerum similitudine ad viam veritatis homines perduceret,⁵⁸⁹ schreibt die lateinische Fabelsammlung Dialogus creaturarum moralisatus in ihrem Prolog: die zahlreichen von Jesus erzählten Gleichnisse weisen durch ihre Ähnlichkeit (similitudo) auf göttliche Wahrheit. Der Nachweis von Providenz ist jedoch von anderer Art als der rhetorische Wahrscheinlichkeitsschluss oder der logische Wahrheitsschluss – seine Form ist zwingend, denn das Belegen eines göttlichen Wirkens in Natur und Geschichte ist notwendig: „Es kommt nicht darauf an, daß die geschriebene Geschichte wahr ist, sondern darauf, daß sie wahr sein muß.“⁵⁹⁰ So ist etwa in den historischen Exempeln der Ordensliteratur die Geschichte längst nicht mehr nur Lehrmeisterin des Lebens (magistra vitae), sondern gleichzeitig Ausweis einer providentiell gelenkten Heilsgeschichte, womit der narrative Bezugsrahmen erweitert wird. Nicht nur eine Lehre für die Gegenwart wird aus der Geschichte gezogen, sondern der Blick in die Vergangenheit öffnet eine Perspektive in die Zukunft.⁵⁹¹ Aristotelesʼ Behauptung, dass sich Geschichte „in der Regel“⁵⁹² wiederholt, erhält einen zwingenden Charakter: Aus einer typologischen Sichtweise muss sich erfüllen, was im Vorbild präfiguriert ist. In der Einbindung exemplarischer Kurzerzählungen in historische wie didaktische Kontexte konnte in den vorhergehenden Kapiteln eine spezifisch rhetorische Rahmung der Narrationen identifiziert werden. Neben dem primären Ziel der Persuasion, der Überzeugung durch Erzählen, lagert sich so auch ein breiter Spielraum an Funktionalisierungen rund um die Kurzerzählung, der Strategien von Illustration, Präskription und Reflexion enthalten kann. Genau wie die Kurzerzählung vom Einzelfall erzählt, bedient dieser Einzelfall auch je unterschiedliche, funktional auf den Kontext ausgerichtete Argumentationsstrategien. Wenn im Folgenden von einer
Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1394a 7– 8). Damit ist auch die Basis für Argumentation gegeben: „Auch muss man die Schlussfolgerungen nicht nur aus den notwendigen Dingen ziehen, sondern auch aus dem, was sich in der Regel so verhält“, ebd., II, 22 (1396a 2– 3). Vgl. Hans Blumenberg: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Hrsg. von Angus Nicholls und Felix Heidenreich. Berlin 2014, S. 9 – 19. Vgl. Hans Blumenberg: Weltbilder und Weltmodelle. In: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 30 (1961), S. 67– 75, hier S. 68; Friedrich: Trieb und Ökonomie (Anm. 305), S. 55. Dialogus creaturarum moralisatus. Lateinisch – Deutsch. Hrsg., übers. und komm. von Birgit Esser und Jürgen Blanke. Würzburg 2008, Praefatio (‚Unser Heiland nämlich hat nach palästinischer Sitte Erzählungen in der vollendeten Form aller Prediger benutzt, um die Menschen durch die Ähnlichkeit der Fälle auf den Weg der Wahrheit zu führen.‘). Blumenberg: Arbeit am Mythos (Anm. 195), S. 141. Vgl. Gert Melville: System und Diachronie. Untersuchungen zur theoretischen Grundlegung geschichtsschreiberischer Praxis im Mittelalter. In: Historisches Jahrbuch 95 (1975), S. 33 – 67, S. 308 – 341, hier S. 37; Schürer: Das Beispiel im Begriff (Anm. 56), S. 236. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1394a 8).
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
‚christlichen‘⁵⁹³ Perspektive auf die Rhetorik gesprochen wird, so spielt dies auf eine Schwerpunktverschiebung in Rede- und Argumentationsstrategie an. Während im didaktischen Feld versucht wird, qua exemplarischer Kurzerzählung Erfahrungswissen und Morallehre zu homogenisieren, so erzählt die mit christlichen Inhalten gefüllte Kurzerzählung von einer Instanz, die das individuelle Erfahrungs- und Gewohnheitswissen übersteigt: Nam dominus in evangelio: ‚Ego sum‘, inquit, ‚veritas‘ non dixit: ‚Ego sum consuetudo‘, so Augustinus programmatisch,⁵⁹⁴ denn die erzählten Eingriffe Gottes in die immanente Welt unterliegen nicht diesseitigen Gewohnheiten, sondern ihren eigenen, transzendenten Gesetzen.⁵⁹⁵ Die Relation von Glaube und Wahrheit scheint damit einen zweiten Rahmen zu bilden, innerhalb dessen das Christentum eine Umbesetzung vornimmt. Aristoteles ist in der Nikomachischen Ethik noch davon ausgegangen, dass sich Wahrheit aus kollektiven Überzeugungen herleiten lässt: „[E]iner Überzeugung, die alle Menschen teilen, entspricht wirkliches Sein.“⁵⁹⁶ Im Christentum aber ist der Glaube die Artikulationsform einer festen Wahrheit und der einzige Weg, diese zu erreichen. Die Postmoderne fasst dies als religiöse Paradoxie auf: Der gläubige Christ muss nicht mehr überzeugt werden, er verlässt sich auf seinen Glauben und ist auf keine Beweise angewiesen.⁵⁹⁷ Die Forschung hat wiederholt auf die Rolle verwiesen, die der Rhetorik im Zusammenhang von Glaube und Wahrheit (insbesondere im Kontext von Augustinusʼ De doctrina christiana) zukommt.⁵⁹⁸ Auf das dabei immer wieder angeführte ambivalente
Vgl. zu der Problematik, ein ‚christliches‘ Feld von einem ‚didaktischen‘ oder ‚historischen‘ abzugrenzen, die Erläuterungen in der Einleitung. Er greift dabei auf Gedanken Tertullians und Cyprians zurück, hier zitiert nach: von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. 86, Anm. 211. Vgl. Gumbrecht: Menschliches Handeln und göttliche Kosmologie (Anm. 83), S. 879 f.; Hans Robert Jauß: Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich, Wolfgang Iser. München 1983 (Poetik und Hermeneutik. 10), S. 423 – 431. Aristoteles: Nikomachische Ethik, X, 2 (1173a). Hier und im Folgenden zit. nach: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 6: Nikomachische Ethik. Übers. und kommentiert von Franz Dirlmeier. Berlin 1979. Vgl. Lutz Danneberg:Von der Heiligen Schrift als Quelle des Wissens zur Ästhetik der Literatur (Jes 6, 3; Jos 10, 12– 13). In: Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten. Hrsg. von Steffen Martus, Andrea Polaschegg. Bern [u. a.] 2006 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. 13), S. 219 – 262, hier S. 233. Slavoj Žižek nennt dies die reflexive Struktur des Glaubens – an den Heiligen Geist (oder die Nation etc.) glauben heißt, an den Glauben selbst zu glauben, der in der Gemeinschaft verwirklicht wird: „Ich [gemeint ist der Gläubige, M.S-D.] brauche keinen externen Beweis und keine Bestätigung für die Wahrheit meines Glaubens: Allein durch den Akt des Glaubens an den Glauben der anderen ist der Heilige Geist da.“, Slavoj Žižek: Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen „Dings“. In: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Hrsg. von Joseph Vogl. Frankfurt am Main 1994 (es. 1881), S. 133 – 164, hier S. 136. Vgl. exemplarisch Christian Tornau: Zwischen Rhetorik und Philosophie. Augustins Argumentationstechnik in De civitate Dei und ihr bildungsgeschichtlicher Hintergrund. Berlin [u. a.] 2006
III.3 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext
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Grundverhältnis zur rhetorischen Argumentation kann auch hier verwiesen werden: die Bindung der prinzipiell offenen Rhetorik an die christliche Wahrheit einerseits, das Bemühen um Klarheit und Affektrhetorik in der Glaubensvermittlung andererseits.⁵⁹⁹ Gerade letztere, pragmatisch ausgerichtete Form des Wissenstransfers bietet einen Konnex zu den hier untersuchten exemplarischen Kurzerzählungen. Die Erzählungen halten ihren Rezipienten den Status der Glaubensregeln in immer neuen Variationen vor, um eine Schnittstelle zwischen Offenbarung und Lebenswelt zu kreieren. Der Auftrag von Vermittlung, Belehrung und Illustration macht die exemplarische Kurzerzählung hier für das Christentum interessant: Wo die feste Regel nicht greift, muss qua Beispiel argumentiert werden, um auch Ausnahmen einzuschließen. In der als Gespräch zwischen Mönch und Novize angelegten Exempelsammlung Dialogus miraculorum (1219 – 1223) des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach fragt ein Novize nach dem Verhältnis von Bekehrung und Reue.⁶⁰⁰ Auf die wenig eindeutige (und eben keine feste Regel angebende!) Antwort des Mönches, dass manchmal die Reue der Bekehrung vorausgehe, manchmal ihr aber auch nachfolge, entgegnet der Novize: vellem mihi hoc exemplis probari. ⁶⁰¹ Die exemplarische Kurzerzählung (und das heißt: die Rhetorik) kommt zum Tragen, wenn die Vielfältigkeit der Wirklichkeit nicht unter eine Regel subsumiert werden kann.⁶⁰² Mit dem antiken Korpus aus Exempeln, Gleichnissen und Fabeln steht dazu ein Reservoir an Erzählungen zur Verfügung, das zwar in der moralischen Ausrichtung über andere Parameter, in der axiologischen Besetzung aber über adäquate Oppositionen verfügt: Was im antiken Exempel bspw. antithetisch als ‚hinterhältig vs. aufrecht‘ ausformuliert wird, kann aus der christlichen Perspektive als ‚heidnisch vs. rechtgläubig‘ re-interpretiert werden; was die Fabel als ‚gewalttätig vs. unschuldig‘ ausdifferenziert, als ‚sündenhaft vs. tugendhaft‘ usw. Der Inhalt wird auf die religiöse Leitlinie ausgerichtet, die antithetisch besetzte Axiologie bleibt bestehen. Es ist das Grundmuster der Differenzziehung, der Unterscheidung zwischen Werten und ihrer
(Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte. 82); sowie Kempshall: Rhetoric and the Writing of History (Anm. 381), S. 92– 107 und S. 370 – 388. Vgl. Tornau: Zwischen Rhetorik und Philosophie (Anm. 598), S. 354. Vgl. Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, 1, 2. Text und Übersetzung hier und im Folgenden zit. nach: Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum = Dialog über die Wunder. Lateinisch – Deutsch. Eingel. von Horst Schneider. Übers. und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider. 5 Bände. Turnhout 2009 (Fontes Christiani. 86). Ebd., 1, 2 (‚Ich möchte dies an Beispielen verdeutlicht sehen.‘). Zum Verhältnis Wirklichkeit-Regelbildung generell aus soziologischer Perspektive vgl. Hahn: Zur Soziologie der Weisheit (Anm. 62), S. 49 f.: „Wirklichkeit entzieht sich insofern immer den szientifischen Netzen, mit denen wir sie einzufangen hoffen. Dies liegt unter anderem an der Differenz von situativer Einzigartigkeit und begrifflicher Generalität. Die Fälle sind eben nicht als solche schon ‚im Prinzip‘ in der Theorie vorgesehen, so daß die Subsumption ein bloßer Sortierungsvorgang wäre […] Subsumption als realer Vorgang der situativen Passung ist kreativ.“
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Einteilung in moralische Register, die antike exemplarische Kurzerzählungen mit der religiösen Glaubensvermittlung teilen.⁶⁰³ Grundlegende Unterschiede finden sich aber im Spannungsfeld von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit.⁶⁰⁴ So operiert etwa die antike Fabel im Bereich natürlicher Bedingungen: Es ist wahrscheinlich, dass das Schaf vom Wolf gefressen wird, aber es ist nicht notwendig – Äsop erzählt Geschichten, in denen Schafe Wölfe überlisten.⁶⁰⁵ Umgekehrt verfährt das Erzählen unter providentiellen Vorgaben: Dass der Sünder sanktioniert, der Heilige erhöht wird, ist nicht wahrscheinlich, sondern notwendig für das christliche Verständnis eines allmächtigen Gottes. Ist die Überführung providentieller Wahrheit in die Erzählformen Legende und Mirakel evident, offenbaren sich bei Fabel, Gleichnis und teils auch beim historischen Exempel Schwierigkeiten. Denn die exemplarische Ausnahme der christlichen Erzählung basiert darauf, dass sie – obgleich wahr – konträr zu allen Wirklichkeitserfahrungen erzählt und sich damit gegen den Common Sense wendet. Dieser wiederum fungiert in vielen exemplarischen Kurzerzählungen der Antike als Argumentations- und Handlungsreservoir. Dieses grundlegende Problem, Wahrscheinlichkeiten durch göttliche Wahrheit zu ersetzen,⁶⁰⁶ kann im ‚Wieder-‘ bzw. ‚Neu-Erzählen‘ exemplarischer Kurzerzählungen unter christlicher Perspektive durch verschiedene Erzähltechniken und Transformationen von Argumentationsmustern gelöst werden. Hier soll daher zunächst einführend eine spezifisch ‚christliche‘ Vereinnahmung exemplarischer Kurzerzählungen im Hinblick auf Glaubensvermittlung oder den Nachweis von Providenz umrissen werden (III.3.2). Aus einer rhetorischen und erzähltheoretischen Perspektive wird nach der Fortführung und der Transformation von Erzählformen des Exemplarischen im christlichen Kontext gefragt. Die generell in Abschnitt III dieser Arbeit zur Debatte stehende Einbindung von Kurzerzählungen in einen diskursiven Kontext (das ‚Narrative im Nicht-Narrativen‘) wird dann anhand von zwei Texten untersucht: Die Heilige Regel für ein vollkommenes Leben (ca. 1250) und der Große Seelentrost (aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts) sind christliche Lehrtexte, die in ihrem Argumentationsgang eine Vielzahl von Gleichnissen und Exempeln anführen. Sie sind hier beispielhaft ausgewählt, da sie zwei divergierende Möglichkeiten der Einbindung exemplarischer Kurzerzählungen in einen christlichen Lehr-Kontext vorführen: Die Heilige Regel für ein vollkommenes Leben inkorporiert einzelne, den Argumentationsgang je akzentuierende exemplarische Kurzerzählun-
Vgl. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2002 (stw. 1581). Für einen Transfer der Luhmannschen Soziologie auf den religiösen Diskurs in mittelalterlichen Mären vgl. Silvan Wagner: Gottesbilder in höfischen Mären des Hochmittelalters. Höfische Paradoxie und religiöse Kontingenzbewältigung durch die Grammatik des christlichen Glaubens. Frankfurt am Main [u. a.] 2009 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft. 31), v. a. S. 40 – 63. Vgl. dazu auch Friedrich: Naturgeschichte zwischen artes liberales und frühneuzeitlicher Wissenschaft (Anm. 64), S. 241– 246. Vgl. etwa Äsop: Fabeln (Anm. 335), Nr. 159, Nr. 160. Vgl. dazu auch: Friedrich: Topik und Rhetorik (Anm. 10), S. 92.
III.3 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext
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gen, deren Inhalt stark an der religiösen Leitlinie ausgerichtet wird. Der Große Seelentrost hingegen orientiert sich am Dekalog, dessen Struktur auch die Ordnung der Kurzerzählungen bestimmt: Jedem der Zehn Gebote werden eine Vielzahl an Erzählungen zugeordnet, die in ihrer Varianz das einzelne Gebot aber auch unterlaufen können.
III.3.2 Darstellungstechniken exemplarischer Kurzerzählungen im christlichen Kontext Harald Weinrich hat einmal pointiert formuliert, das Christentum sei im Kern eine „Erzählgemeinschaft“.⁶⁰⁷ Schon der Beginn des Johannesevangeliums („Im Anfang war das Wort…“) suggeriert einen Erzähleinsatz, der den Logos weniger expliziert denn narrativiert. Das Christentum ist in seiner Geschichte jedoch, so Weinrich, umgekehrt vorgegangen und hat seine Erzählungen logisiert.⁶⁰⁸ Einzig die Gleichniserzählungen Jesu – erzähltheoretisch betrachtet in der Bibel metadiegetische Erzählungen eines intradiegetischen Erzählers – konnten ihren narrativen Status behaupten. Zugleich offerieren die entsprechenden Bibelstellen ein Paradigma der narrativen Argumentation (Jesus überzeugt qua Gleichnis), auf das sich Texte des Mittelalters immer wieder beziehen. Aus einer narratologischen Perspektive kann das Potenzial einer offenen Erzählform sogar fruchtbar gemacht werden, insofern im metaphorischen Gleichnis – wie Hartmut Raguse herausgearbeitet hat – Gottesreich und Welt, Transzendenz und Immanenz, in direkte, sich gegenseitig beeinflussende Relationen gebracht werden.⁶⁰⁹ Weniger soll im Folgenden jedoch das Verhältnis von Theologie und Narration diskutiert werden, als an symptomatischen Beispielen der Blick auch auf exemplarische Kurzerzählungen außerhalb der Bibel ausgeweitet und deren Integration in nicht-narrative religiöse Texte skizziert wird. Einführend vorgestellt werden dabei Darstellungsstrategien: Das Verschieben von rhetorischen Erzählinhalten bzw. Axiologien, die Berufung auf Autoritäten und eine Homogenisierung des Inhaltes durch Allegorese sind sicherlich die gängigsten Methoden ‚christlicher‘ Rezeption von Kurzerzählungen. Doch schon das folgende Kapitel zeigt, dass eine theoretische Verpflichtung zur göttlichen Wahrheit sich nicht zwangsläufig in der Formenvielfalt der Praxis spiegelt. In der christlichen Perspektive avanciert in erster Linie die Fabel zu einer defizitären, da den Wirklichkeitsanspruch der Glaubenswahrheit konterkarierenden Gattung (vgl. Kapitel II.3). Auf größere Akzeptanz stoßen andere Formen von exemplarischen Kurzerzählungen: Das auf der Wahrheit der historia bauende historische Exempel wird, um ein biographisches Erzählmuster erweitert und am Vorbild Christi orientiert, zur Legendenform und damit zur eigenständigen Gattung in der Aufar-
Harald Weinrich: Narrative Theologie. In: Concilium 9 (1973), S. 329 – 333, hier S. 330. Vgl. ebd., S. 331. Vgl. Raguse: Figürlich leben (Anm. 351), S. 36 f.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
beitung paradigmatischer Stationen der Heilsgeschichte einerseits wie auch zum nachahmenswerten Beispiel (imitatio christi) in der Glaubensvermittlung andererseits. Ist der Wahrheitsanspruch bei historischem Exempel und Legende evident, braucht es bei anderen Erzählgattungen Strategien der Sinnstiftung, die persuasiv eine mit dem christlichen Horizont vereinbare Legitimation für die fiktionale Kurzerzählung herstellen. So betont Caesarius von Heisterbach zu Beginn des Dialogus miraculorum, dass testis est mihi Dominus, nec unum quidem capitulum in hoc Dialogo me finxisse,⁶¹⁰ und fügt zudem jeder Erzählung in seinem Text Orts- und Zeitangaben hinzu, wodurch sich auch klassische Gleichniserzählungen als historische Wahrheit ausgeben.⁶¹¹ Die von Gott dominierte historia ist im ordo temporum aufgefangen, was nicht nur ihre metahistorische Bedeutung theologisch verfügbar macht,⁶¹² sondern Geschichte auch zur Richtschnur für Glaubenswahrheiten avancieren lässt. Das antike Erzählgut (Valerius Maximus etc.) wird dabei weniger bedient, als die Lebenswelt des Christenmenschen selbst ein unendlich variierbares Erzählreservoir über den Widerstreit antagonistischer Kräfte und den Siegeszug glaubenskonformen Verhaltens offeriert. Schon die Vitaspatrum haben, zurückgreifend auf die Lebensbeschreibungen frühchristlicher Eremiten, die Erzählform des Exempels um einen hagiographischen Diskurs ergänzt, populäre Werke wie der oben erwähnte Dialogus miraculorum greifen im Hochmittelalter ähnliche Erzählmuster auf und verlagern die Handlung ihrer Kurzerzählungen weitgehend in den monastischen Kontext. Wenn die Erzählkonzeption dieser historischen Exempel sich somit den Vorgaben der Heilsgeschichte anpasst – sie sind wahr und sie sind geschehen –, so finden sich in der christlichen Glaubensvermittlung doch auch Fabeln und Gleichnisse. Ist die Fiktion hier offensichtlich, wie in der Aufnahme antiker Fabeln, liegt die Legitimationsgrundlage des ‚lügenhaften Erzählens‘ in der den Erzählungen angehängten Moral – eine strikte Bindung der Erzählung an ihre (vorgegebene) Auslegung: quod totum utique ad mores fingitur ut ad rem, quae intenditur, ficta quidem narratione, sed veraci significatione veniatur, so Isidor über die fabulae. ⁶¹³ Die generelle Integration fiktionaler Erzähleinheiten wird häufig in Analogie zu den Gleichnis-Erzählungen Jesu gestellt (s.o.): Salvator enim noster omnium praedicatorum perfecta forma fabulis, Palaestinorum more, usus est, ut rerum similitudine ad viam veritatis homines perduceret. ⁶¹⁴ Im Rückgriff auf die biblische Legitimation für das fiktionale Erzählen kann
Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum (Anm. 600), Prologus (‚Gott ist mein Zeuge, daß ich nicht ein Kapitel in diesem Dialog erfunden habe.‘). Ein Beispiel dafür findet sich unten. Vgl. Reinhart Koselleck: Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Anm. 366), S. 130 – 143, hier S. 130. Isidor: Etymologiae (Anm. 267), I, XL, 6 (‚Dieses [die Fabel, M.S-D.] ist jedenfalls ganz auf die Moral hin ausgerichtet, so dass man durch die erfundene Erzählung zur beabsichtigten Sache kommt, aber durch die wahre Bezeichnung.‘, Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla [Anm. 274]). Dialogus creaturarum moralisatus (Anm. 589), Praefatio (‚Unser Heiland nämlich hat nach palästinischer Sitte Erzählungen in der vollendeten Form aller Prediger benutzt, um die Menschen durch
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der mittelalterliche Verfasser eine Art imitatio christi vollziehen: So wie Christus durch Gleichnisse gepredigt hat, kann er selbst auch durch Kurzerzählungen predigen. So scheint gerade in Predigten die exemplarische Kurzerzählung häufig der Regelvermittlung zur Seite gestellt zu werden. Gregor der Große setzt das exemplum fidelium über die docentium verba,⁶¹⁵ der im 13. Jahrhundert predigende und viele Fabeln aufgreifende Odo von Cheriton schreibt auf ihn bezugnehmend: Et quoniam, ut dicit Gregorius, plus quandoque compungunt exempla quam uerba, aperiam in parabolis os meum, et similitudines et exempla que libencius audiuntur, memorie firmius quam uerba commendantur, proponam, quibus intellectis sapiens sapiencior erit.⁶¹⁶
Die Anpassung des Stoffreservoirs lässt sich jedoch nicht allein an inhaltlichen und pragmatischen Kriterien festmachen, relevant ist vielmehr der damit korrespondierende gewandelte Anspruch an rhetorische Techniken. So ist etwa in vielen historischen Exempeln des Valerius Maximus das Leben der Figuren geprägt von Wechselfällen des Lebens, sprich Kontingenz, die aber qua Rhetorik (als Form der Wirklichkeitsbewältigung) aufgehoben werden können: „Als die Athener in ihrem verbrecherischen Wahnsinn Sokrates zum Tode verurteilt hatten und er mit mutiger Entschlossenheit und standhafter Miene den Gifttrank aus der Hand des Henkers empfing, rief, als er schon den Becher zu den Lippen führte, seine Frau Xanthippe weinend und klagend, er werde unschuldig sterben. ‚Was denn‘, erwiderte er, ‚hast du gemeint, es sei besser für mich, schuldig zu sterben?‘“⁶¹⁷
Sokratesʼ Antwort, die Aussage seiner Frau ins Gegenteil verkehrend und der Gefahrensituation Komik abgewinnend, lässt sich als rhetorische Technik sui generis lesen, die Ähnlichkeit der Fälle auf den Weg der Wahrheit zu führen.‘). Siehe auch oben zum gleichen Zitat im Kontext der Wiederholbarkeit von Geschichte(n). Vgl Gregor der Große: XL homiliarum in Evangelia libri duo. In: Migne, Patrologia Latina 76, Sp. 1075 – 1314, hier Sp. 1290. Zur weiten Verbreitung des (auf Seneca zurückgehenden) Diktums im Mittelalter vgl. Schürer: Das Exemplum oder die erzählte Institution (Anm. 86), S. 75; Kempshall: Rhetoric and the Writing of History (Anm. 381), S. 152 f. Odo von Cheriton: Fabulae, Prologus (‚Und weil, wie Gregor sagt, die Exempel treffender sind als die Wörter, werde ich meine Rede in Gleichnissen eröffnen, und da ja sowohl die Gleichnisse als auch die Exempel lieber gehört werden und die Exempel besser im Gedächtnis haften bleiben als die Wörter, werde ich darlegen: Nachdem der Weise diese [= die Exempel] verstanden hat, wird er [noch] weiser sein.‘, Übersetzung M.S-D.). Hier und im Folgenden zit. nach: Léopold Hervieux: Les fabulistes latins. Depuis le siècle d’Auguste jusqu’à la fin du moyen âge. Band 4: Eudes de Cheriton et ses dérivés. Hildesheim [u. a.] 1970 [Reprograf. Nachdr. d. Ausg. Paris 1896], S. 173 – 248, hier S. 175. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia (Anm. 358), 7.2.ext.1: […] cum Atheniensium scelerata dementia tristem de capite eius sententiam tulisset, fortique animo et constanti uoltu potionem ueneni e manu carnificis accepisset, admoto iam labris poculo, uxore Xanthippe inter fletum et lamentationem uociferante innocentem eum periturum, ‚quid ergo?‘ inquit; ‚nocenti mihi mori satius esse duxisti?‘ Die Übersetzung im Fließtext zit. nach: Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia. Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und hrsg. von Ursula Blank-Sangmeister. Stuttgart 1991 (RUB. 8695).
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da sie sich der kontingenten Wirklichkeit entgegenstellt. Eine inhaltlich ähnliche Thematik des ‚unschuldigen Todes‘ findet sich auch in zahlreichen Kurzerzählungen der Heiligen Regel für ein vollkommenes Leben wieder, ist dort aber konträr ausgestaltet: Ein Vater begibt sich mit seinem Sohn auf den Jakobsweg. Unterwegs werden sie, obwohl unschuldig, des Diebstahls bezichtigt und der Vater soll gehängt werden. Der Sohn zeigt sich tief betrübt über den bevorstehenden unschuldigen Tod des Vaters und überredet den Richter, ihn selbst anstelle seines Vaters zu hängen. Der trauernde Vater führt den Pilgerweg allein zu Ende, betet für den Sohn und findet diesen, an den Galgen zurückkommend, wieder lebendig vor: Der heilige Jakob hat ihn gerettet.⁶¹⁸
Im christlichen Text ist der unschuldige Tod kein Resultat kontingenter Ereignisse, denen nur die Rhetorik etwas abgewinnen kann, sondern wird über Providenz wieder aufgefangen: In der Opferung für den anderen, im freiwilligen, unschuldigen Tod bezieht sich der Sohn auf die Erlöserfigur Christus und kann auf Gnade hoffen. Folglich hat auch die Rhetorik ihre Funktion verloren und ist durch den Glaubensbeweis ersetzt worden. Auf der Ebene der histoire zeigt sich dies durch die Hervorhebung der Rede bei Valerius, während die Kurzerzählung der Heiligen Regel für ein vollkommenes Leben fast nur über Figurenhandlung funktioniert. Die Pointe der christlichen Erzählung ist somit keine rhetorische Technik mehr (Sokrates verkehrt die Aussage seiner Frau ins Gegenteil), sondern ein narrativ ausgebreitetes Modell des Wunders (der göttliche Eingriff in die immanente Welt). Eine diskursive Auseinandersetzung um die Frage, mit welchen Wahrheiten und rhetorischen Techniken sich Wirklichkeit meistern lässt, wird im Modell der christlichen Kurzerzählung obsolet, erlaubt sie doch nur eine Form von Wahrheit. Diese aber ist, wie einleitend ausgeführt, eine der Ausnahme: Dass sich der Sohn für den Vater opfert (und nicht der Vater für den Sohn), widerspricht dem Common Sense, folgt aber dem christlichen Modell. Im Hintergrund einer ‚christlichen Adaptation‘ von Kurzgeschichten steht somit die Frage, welche Funktion der Rhetorik noch zukommt, wenn der Besitz von Wahrheit bereits a priori gegeben ist: „Die christliche Tradition schwankt zwischen den beiden möglichen Konsequenzen aus der Prämisse des Wahrheitsbesitzes, daß einerseits die göttliche Wahrheit der menschlichen Hilfestellungen rhetorischer Art nicht bedarf und sich aufs schmuckloseste selbst darbieten sollte […] und daß andererseits eben diese Wahrheit sich im kanonisierten Gehäuse der rhetorischen Regeln humanisiert.“⁶¹⁹ An dieser ‚Humanisierung‘ göttlicher Wahrheit arbeiten die Kurzerzählungen mit, insofern sie Lehren und Regeln in der Erzählung metaphorisch aufbereiten und damit intelligibel machen. Dennoch scheint es auch innerhalb der Kurzerzählungen notwendig zu sein, neue Legitimationsfiguren einzuführen, die nicht nur den Wegfall Die heilige Regel für ein vollkommenes Leben. Eine Cisterzienserarbeit des XIII. Jahrhunderts. Aus der Handschrift Additional 9048 des British Museum. Hrsg. von Robert Priebsch. Berlin 1909 (DTM. 16), 35,23 – 36,30. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (Anm. 73), S. 105.
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an rhetorischen Wahrscheinlichkeitsschlüssen kompensieren, sondern auch einen Anschluss an christliche Traditionslinien gewährleisten: Berufung auf Autoritäten und die Allegorisierung des Stoffes. Was in der Didaxe quantitativ über das Anknüpfen an allgemeine Meinungen (Common Sense) gelöst wird, bewältigen Kurzerzählungen im Kontext des Christentums qualitativ über das Zitieren einer Autorität. So bringt der Dialogus creaturarum moralisatus in der Regel kurze Fabeln, deren Epimythien durch lange AutoritätenAnrufung inhaltlich gefüllt werden. Die Erzählung eines Konfliktes zwischen Reh und Kreuzdorn, in der ein Reh vom jungen, weichen Kreuzdorn frisst, dann einige Zeit später sich der Pflanze erinnert und zurückkehrt, nur um festzustellen, dass der Kreuzdorn nun dornig und hart geworden ist, wird bspw. mit der Aussage: ‚Viele beginnen gut, enden aber schlecht‘, ergänzt.⁶²⁰ Diese wird dann über zahlreiche Autoritäten-Zitate theologisch abgesichert – Hieronymus, Paulus, Isidor und Cyprian werden in Bezug auf ein etwaiges schlechtes Ende herangezogen.⁶²¹ Über das Anführen von Autoritäten offeriert die Kurzerzählung nicht mehr einen Wahrscheinlichkeits- oder Wahrheitsschluss, sondern wird selbst zur Wahrheit.⁶²² Autorität ist dabei nicht personengebunden, sondern lässt sich auch über Erzählstrukturen herleiten: Der Große Seelentrost ordnet seine Kurzerzählungen im Rahmen eines Lehrgespräches den Zehn Geboten an und unter (s.u.), womit der Dekalog zum narrativen Ordnungsschema wird⁶²³ und eine analog zur Bibel gestaltete Erzählkonzeption garantiert ist. Ähnlich fungiert die Allegorese als Technik der Rahmung und Vereinnahmung divergierender Inhalte in das christliche Einheitsschema. Wenn Fabeln oder Gleichnisse Punkt für Punkt ausgelegt, Tiere und Figuren auf das Personal der Heilsgeschichte bezogen werden, so fängt dies nicht nur ihren fiktionalen Gehalt theologisch auf, sondern macht die Erzählungen überhaupt erst für die Glaubensvermittlung verfügbar. Erzähltheoretisch lässt sich die Allegorese als eine Form des exemplari Vgl. Dialogus creaturarum moralisatus (Anm. 589), Nr. 33 (‚De rhamno et dammula‘). Darüber hinaus überführt der Dialogus creaturarum moralisatus die Fabel in ein Gleichnis, das über seine Figuren ‚Ritter – Abt‘ die Aussagen über gutes Leben und schlechtes Ende noch viel deutlicher hervorhebt. Vgl. Dialogus Creaturarum Moralisatus (Anm. 589), Nr. 33. Der Dialogus creaturarum moralisatus ist wohl eines der interessantesten Beispiele für eine spezifisch christliche Adaptation von Kurzerzählungen, fällt jedoch zeitlich aus der hier gezogenen Untersuchungsgrenze – Popularität gewinnt der Text v. a. als Druck im 15. und 16. Jahrhundert. Seine Überlieferung reicht jedoch bis ins 14. Jahrhundert zurück, wo die Kompilation unter dem Namen Contemptus sublimitatis bekannt ist. Vgl. Carmen Cardelle de Hartmann, Estrella Pérez Rodríguez: Text im Wandel und editorische Praxis. Der lateinische Contemptus sublimitatis (Dialogus creaturarum) in der handschriftlichen Überlieferung. In: Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident. Hrsg. von Regula Forster, Romy Günthart. Frankfurt am Main [u. a.] 2010, S. 21– 40. Vgl. von Moos: Geschichte als Topik (Anm. 10), S. 66. Zum Konnex Kurzerzählung-Autorität vgl. auch Hagby: man hat uns fur die warheit … geseit (Anm. 487), S. 187– 190. Vgl. Burghart Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen. Der Große Seelentrost, das Promptuarium exemplorum des Andreas Hondorff und die Locorum communium collectanea des Johannes Manlius. In: Exempel und Exempelsammlungen (Anm. 2), S. 239 – 263.
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schen Erzählens verorten, insofern die Existenz einer zweiten, über den eigentlichen Inhalt der Narration hinausgehenden Sinnebene ebenso zu ihren Voraussetzungen zählt.⁶²⁴ Doch wo das exemplarische Erzählen mitunter auf Vieldeutigkeit angelegt sein kann, vereinheitlicht die Allegorese ihre Aussagemöglichkeiten.⁶²⁵ Im Kontext von exemplarischen Kurzerzählungen formen das Autoritäten-Zitat und die Allegorese als Techniken der Adaptation fremder Inhalte ihren zeitlichen Höhepunkt erst nach dem hier gezogenen Untersuchungszeitraum, so etwa in den neu entstehenden Fabel-Kompendien des 15. Jahrhunderts.⁶²⁶ Relevant für die Analyse von Texten wie der Heiligen Regel für ein vollkommenes Leben ist vielmehr der im folgenden Kapitel vorgenommene Blick auf ein ‚christliches‘ Umformen bzw. Fortführen von Erzählmustern.
III.3.3 Kontinuität und Transformation von Erzählmustern am Beispiel der Heiligen Regel für ein vollkommenes Leben und des Großen Seelentrosts Dass exemplarische Kurzerzählungen meist nicht ohne Anpassung in den christlichen Kontext übernommen werden, hat das vorige Kapitel gezeigt: Die Fabellogik (z. B. ‚Der Stärkere setzt sich durch‘) kann der christlichen Logik (‚Die Ersten werden die Letzten sein.‘) widersprechen. Doch auch auf generischer Ebene lassen sich Transformationen beobachten, dazu einführend zwei symptomatische Beispiele, bevor zu den hier analysierten Texten übergeleitet wird: Während eines Aufenthaltes des Franziskus von Assisi in der Stadt Agobio erscheint ein menschenfressender Wolf im Land, der unter den Bewohnern der Stadt furchtbare Angst verbreitet. Franziskus aber verlässt die Stadt und sucht den Wolf in der Wildnis. Auf diesen treffend, schlägt Franziskus vor dem attackierenden Tier das Kreuzzeichen. Sofort verhält sich der Wolf wie ein Lamm, Franziskus spricht mit ihm und ermahnt ihn, sein sündenhaftes Rauben einzustellen. Der Wolf gibt durch Gesten zu erkennen, dass er einverstanden ist, er streckt seine Pfote aus und Franziskus gibt ihm seine Hand. Franziskus handelt daraufhin mit den Bewohnern der Stadt eine Abmachung aus: Sie geben dem Wolf Futter, dieser lässt Tiere und Menschen in Frieden.⁶²⁷
Die nächste Erzählung stammt von Sedulius Scottus: In einer Herde Schafe sticht ein Hammel ganz besonders hervor: Kein Tier kommt ihm gleich, er ist rein, wunderschön, tugendhaft. Doch ein wilder Hund raubt den Hammel, beide Tiere werden von
Vgl. Ludwig Gompf: Figmenta poetarum. In: Literatur und Sprache im europäischen Mittelalter. Festschrift für Karl Langosch zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Alf Önnerfors. Darmstadt 1973, S. 53 – 62. Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge (Anm. 110), S. 46 – 77. Ein gutes Beispiel bietet hier der Nürnberger Prosa-Äsop (vor 1412). Vgl. dazu auch Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese (Anm. 61). Rudolf Georg Binding: Die Blümlein des heiligen Franziskus von Assisi. Frankfurt am Main 1973, hier S. 67– 70. Die Blümlein des Heiligen Franziskus, ein italienisches Florilegium (Fioretti di San Francesco), sind wohl gegen Ende des 14. Jahrhunderts entstanden.
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einer Horde Hütehunde verfolgt, die den wilden Hund vertreiben. Daraufhin wenden sich die Hütehunde aber selbst gegen den Hammel: Zwar besänftigt dieser die Hunde erst durch eine mahnende Rede, wird dann jedoch von einem verräterischen Hund verleumdet. In einem Dornbusch verfangen, kann der Hammel nicht fliehen und wird von den Hunden zerfleischt.⁶²⁸
Beide Kurzerzählungen, die zeitlich weit auseinander liegen,⁶²⁹ zeigen auf je eigene Weise Transformationen herkömmlicher Erzählstrategien exemplarischer Kurzerzählungen. Das Exempel von Franziskus hat die Erzählform Fabel als Assoziationshintergrund, es dominiert aber der Heiligkeitsbeweis legendarischen Erzählens und damit die theologische Grundierung. Gleichzeitig etabliert es eine produktive Metaphorik von Wildheit und Unschuld – der innerlich zum Lamm gewordene Wolf, der mit den Stadtbewohnern ein Tauschgeschäft eingeht. Der Heilige ist nicht nur in der Lage, mit den Tieren zu kommunizieren (hier transformiert das Exempel ein Fabelelement zu einem Beweis der omnipräsenten Gaben des göttlich favorisierten Heiligen), es zeigt den Heiligen auch als Inkarnation göttlicher Providenz, die die Gemeinschaft vor Bedrohungsinstanzen schützt: Franziskus bewacht seine Schafe – metaphorisch verstanden die Stadtbewohner –, indem er den Wolf in ein ebensolches Schaf verwandelt. Die der Pastoralmacht⁶³⁰ zugrundeliegende Metapher vom Hirten, der vor dem Wolf schützt, wird hier direkt in Handlung überführt. Mit der Konsens-Lösung, die auch für den Wolf ein gutes Ende findet, schreibt die Erzählung aber auch eine der Fabel inhärente Pointe um: Die Common-Sense-Basis aus ‚gut vs. böse‘ wird über den Heiligen als Vermittler, der auch Einfluss auf die Arteigenschaften des Wolfes besitzt, aufgelöst. Nicht List oder Gewalt beendet die Erzählung, sondern die friedliche Koexistenz. Seduliusʼ Fabel hingegen unterlegt die Fabelstruktur mit einer Märtyrererzählung. Dem Tod des Hammels wird als Subtext die Passionsgeschichte eingeschrieben, was nicht nur durch verschiedene Motive (Dornen), sondern auch durch allegorische Vergleiche immer wieder betont wird: Agnus ut altithronus pro peccatoribus acrem / Gustavit mortem filius ipse dei, / Carpens mortis iter canibus laceratus iniquis / Pro latrone malo sic, pie multo, peris. ⁶³¹ Die Kurzerzählung mag einen untergründig ko-
Eine Edition der Erzählung (‚De quodam verbece a cane discerpto‘) findet sich in: Reinhard Düchting: Vom Hammel, den ein Hund gerissen. Ein lateinisches Poem des Iren Sedulius. In: Das Tier in der Dichtung. Hrsg. von Ute Schwab. Heidelberg 1970, S. 114– 127, S. 277– 281. Die Entstehungsdaten sprengen den hier gewählten Untersuchungszeitraum: Sedulius lebte in der Mitte des 9. Jahrhunderts, die Blümlein des Heiligen Franziskus sind gegen Ende des 14. Jahrhunderts entstanden (s.o.). Zum Begriff der ‚Pastoralmacht‘ und zum Hirten-Modell vgl. Michel Foucault: Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft. In: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Hrsg. von Joseph Vogl. Frankfurt am Main 1994 (es. 1881), S. 65 – 93, hier S. 75 – 79. Sedulius Scottus: De quodam verbece a cane discerpto (Anm. 628), V. 117– 120 (‚Das hochthronende Lamm, der Gottessohn selbst, kostete für uns Sünder den bittern Tod; nicht anders gingst du, frommer Hammel, den Todesgang und starbst, von den schlimmen Hunden gerissen, für den gemeinen Räuber.‘).
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mischen Ton haben,⁶³² sie verdeutlicht jedenfalls eindrücklich die Kombination von Gattungsmustern: Während das Exempel von Franziskus nur einzelne Fabelelemente in seinen hagiographischen Diskurs einspeist und diese stark transformiert, offeriert Sedulius eine eigenartige Amalgamierung von Fabel und Bibelgeschichte über analoge Plotstrukturen.⁶³³ Fabeltypisch steht bei ihm ein Dialog im Zentrum der Geschichte, während bei der legendenartigen Erzählung von Franziskus das Handeln der Figuren fokussiert ist. Beide Erzählungen jedoch zeigen ein Prinzip von Kontinuität und Transformation: Einerseits greift man auf tradierte Gattungsmuster zurück, ist aber andererseits frei in ihrer Anreicherung und Umformung, um sie dem christlichen Kontext anzupassen – Kategorien von Heiligkeit heben die natürlichen Regularitäten der Kurzerzählungen auf. Diese Tradierung und Umformung von Erzählmustern soll hier beispielhaft an zwei volkssprachigen christlichen Regelwerken verdeutlicht werden. Die Heilige Regel für ein vollkommenes Leben (im Folgenden: Heilige Regel) wurde gegen 1250 verfasst, ihr Inhalt lässt auf einen zisterziensischen Hintergrund schließen. Der nur singulär in einer fragmentarischen Handschrift überlieferte Prosatext⁶³⁴ führt acht geistliche Tugenden an, deren letzte (caritas) in das bekannte Ordnungsschema der neun Engelchöre überleitet, die hier jedoch weniger auf eine himmlische Hierarchie verweisen, als sie abermals spezifische Verhaltensvorstellungen (Liebe zu Gott, Bescheidenheit usw.) repräsentieren.⁶³⁵ Insgesamt inkorporiert die Heilige Regel knapp 50 Kurzerzählungen in diese gestufte Normvermittlung, die meist aus dem üblichen religiösen Archiv schöpfen (Vitaspatrum, Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, Honorius Augustodunensis), aber auch auf weltliche Stoffe wie die Fabelsammlung des Avian zurückgreifen.⁶³⁶ Forschungsliteratur gibt es zu der Heiligen Regel – abgesehen von der Einleitung von Priebsch in seiner Edition und einem sehr kurzen Artikel im Verfasserlexikon – kaum.⁶³⁷
Vgl. die Forschungsdiskussion bei Jan M. Ziolkowski: Talking Animals. Medieval Latin Beast Poetry. 750 – 1150. Philadelphia 1993, S. 69 – 79. Es sei an Aristoteles erinnert, der davon ausgeht, dass es leicht sei, für jede Argumentationssituation eine Fabel zu erfinden, vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1394a 1– 3). Vgl. Kapitel II.1 und II.2. Eine der in den Text inkorporierten Kurzerzählungen ist durchgereimt, vgl. Heilige Regel (Anm. 618), 71,4– 73,25. Die Reimformen weisen auf einen mittelfränkischen Sprachgebrauch hin. In einer Autopsie der Handschrift (die von vier Schreibern verfasst wurde) konnten einige Korrekturen der Priebsch-Edition vorgenommen werden. Der Einleitung des Textes nach ist dieser erste ‚Tugend‘-Abschnitt nur eine von vier Texteinheiten: „Lehre von den Tugenden; vom Gottesdienst und den sieben Tagzeiten; von den Ordensgelübden; von der Minne und von den drei Graden“, Gabriele von Siegroth-Nellessen: Art. Die Heilige Regel für ein vollkommenes Leben. In: ²VL. Bd. 3, Sp. 627 f., hier Sp. 628. Aufgrund der fragmentarischen Überlieferung ist nicht zu entscheiden, ob diese weiteren Texteinheiten je geschrieben wurden. Für etliche Kurzerzählungen lässt sich keine Vorlage festmachen. Vgl. die in Anm. 618 zitierte Edition von Priebsch, sowie: Siegroth-Nellessen: Art. Die Heilige Regel für ein vollkommenes Leben (Anm. 635). Monika Studer hat vor kurzem die bekannten Ergebnisse
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Der Große Seelentrost ⁶³⁸ (Mitte 14. Jahrhundert) stammt aus dem niederdeutschen Sprachraum, ist wie die Heilige Regel in Prosa verfasst, jedoch mit 45 Textzeugen wesentlich stärker verbreitet.⁶³⁹ Wie oben bereits kurz angemerkt, gibt sich der Text die Rahmung eines Lehrgespräches, subsumiert seine über 200 Kurzerzählungen jedoch unter die Zehn Gebote, so dass – wie Wachinger herausgearbeitet hat – der Dekalog als Ordnungsschema den Exempeln Struktur gibt.⁶⁴⁰ Vorlagen für die exemplarischen Kurzerzählungen finden sich in erster Linie in der Legenda aurea und im Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais, aber auch nicht genuin christliche Erzählstoffe wie der Alexanderroman werden aufgegriffen. Mit einer derartigen Vielzahl an Kurzerzählungen fällt der Große Seelentrost (ähnlich wie die oben besprochenen Schachbücher) tendenziell aus den in Abschnitt III untersuchten Texten heraus, beanspruchen die narrativen Partien des Textes doch einen derart großen Raum gegenüber dem Nicht-Narrativen, dass fast schon von einer Sammlung an Kurzerzählungen gesprochen werden könnte (und die Untersuchung des Textes damit in Abschnitt IV dieser Arbeit gehörte).⁶⁴¹ Da der Große Seelentrost jedoch weitgehend von diskursiven Einheiten geprägt ist, die zwar vom Textumfang zurücktreten, aber für Anordnung und Funktionalisierung der Kurzerzählungen unabdingbar scheinen, wird er hier als ‚nicht-narrativer‘ Kontext untersucht, bildet dort aber sicherlich einen Grenzfall. Im Gegensatz zur Heiligen Regel ist der Große Seelentrost von der Forschung relativ stark rezipiert worden. Der Status der exemplarischen Kurzerzählungen zwischen funktionaler Einbindung und narrativer Anreicherung stand hier mehrmals im Fokus, wobei etwaige Diskrepanzen leider etwas zu simplifizierend auf Differenzen zwischen ‚einsinnigen‘ Exempeln und ‚mehrsinniger‘ Literatur zurückgeführt wurden.⁶⁴² Auf den Sonderfall der Visionsexempel im Großen Seelentrost, die in ihren Jenseitserzählungen eine imaginative Lücke füllen, die der Text sonst nicht besetzt, hat Jörn Bockmann aufmerksam gemacht.⁶⁴³ Burghart Wachinger hat über seine Studien zum Dekalog hinaus auch auf den Zusammenhang von Exempel und Erfahrung im Großen Seelentrost hingewiesen, während Monika Studer die vergleichsweise detailreichen
zusammengefasst und den Status der Heiligen Regel im Kontext von Prosaexempelsammlungen des 13. Jahrhunderts beschrieben, vgl. Studer: Exempla im Kontext (Anm. 303), S. 132– 136. Der große Seelentrost. Ein niederdeutsches Erbauungsbuch des vierzehnten Jahrhunderts. Hrsg. von Margarete Schmitt. Köln [u. a.] 1959 (Niederdeutsche Studien. 5). Vgl. Nigel F. Palmer: Art. Seelentrost. In: ²VL. Bd. 8, Sp. 1030 – 1040, hier Sp. 1030. Vgl. Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen (Anm. 623). Tatsächlich wird der Große Seelentrost in der Forschung meist als ‚Exempelsammlung‘ tituliert. Vgl. Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen (Anm. 623), S. 242– 244; Daniela Hempen: … Eyn ganss truwe frunt. Frauen und Kinder als Opfer männlicher Freundschaftstreue in zwei Exempeln des Großen Seelentrostes. In: Neophilologus 82 (1998), S. 425 – 433, hier S. 426. Vgl. Jörn Bockmann: Vision und Exempel. Gattungskontext und Sinnvermittlung von Visionsexempeln im Großen Seelentrost. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 137 (2014), S. 7– 28.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Narrationen des Textes – im Vergleich zu anderen Prosaexempeln des 14. Jahrhunderts – hervorhebt.⁶⁴⁴ Die Quellen des Großen Seelentrostes hat Margarete AnderssonSchmitt auch über ihre Edition des Textes hinaus in einigen Einzelstudien untersucht.⁶⁴⁵ Die Heilige Regel wie auch der Große Seelentrost binden ihre exemplarischen Kurzerzählungen an unterschiedliche argumentative Techniken: Es scheint die Multifunktionalität exemplarischer Erzählformen zu sein, die mit der Textintention korrespondiert, haben die christlichen Lehrtraktate doch heterogene Verfahren zu vereinen: direkte Belehrung, Wissensvermittlung und Normpräskription einerseits, kasuistische Problemdiskussionen bei strittigen Regelanwendungen andererseits.⁶⁴⁶ Wie schon im Kapitel zu Kurzerzählungen in der Didaxe festgestellt, kann das Anführen einer Regel auch hier die Frage nach Ausnahmen von dieser Regel beinhalten; ebenso stehen illustrierende bzw. beweisende Kurzerzählungen in einem Spannungsfeld zwischen metaphorischer Regelaufbereitung und narrativem Überschuss, d. h. zwischen normativem Gebot (doctrina) und reflexiver Anschauung. Im Normalfall fungieren die exemplarischen Kurzerzählungen in der Heiligen Regel als Belegbeispiele,⁶⁴⁷ die die Wirksamkeit einer Regel in der besonderen Erzählsituation anzeigen. Der geistliche Grundtenor akzentuiert dabei ein von den üblichen Epimythien divergierendes Aussagereservoir und schreibt sich auch in die Narration selbst ein. Die Heilige Regel führt etwa im Kontext des vierten Engelchores, der Gehorsamkeit fordert (75,14– 19), die Erzählung eines Toren an,⁶⁴⁸ der zwar einveldich an uzerlichen und zu wertlichen dingen ist, allerdings über bescheidenheit und vorte zu Gote, di ein begin ist aller wizheit, verfügt (76,15 – 76,17). Schon eingangs wird damit eine neue Figurenkonstellation eingeführt: Einfältigkeit und Weisheit sind keine Werte mehr, die (wie häufig in der Fabel) axiologisch auf zwei Figuren aufgeteilt sind, sondern eine Figur vereint beide Werte. Damit generiert die Erzählung aber auch neue Handlungsmuster: Der Tor sammelt eifrig Geld, das er nach seinem Tod an Priester weitergeben möchte. Davon hört ein schulere (76,24) und beschließt, den
Vgl. Wachinger: pietas vel misericordia (Anm. 51), S. 228 – 232; Studer: Exempla im Kontext (Anm. 303), S. 138 – 140. Vgl. Margarete Andersson-Schmitt: Mitteilungen zu den Quellen des Großen Seelentrostes mit einem Exkurs über die Tänzer von Kölbecke. In: Niederdeutsches Jahrbuch 105 (1982), S. 21– 41; Margarete Andersson-Schmitt: Über die Verwandtschaft der Alexandersagen im Seelentrost und in der ersten niederländischen Historienbibel. In: Münstersche Beiträge zur niederdeutschen Philologie. Hrsg. von Felix Wortmann. Köln [u. a.] 1960 (Niederdeutsche Studien. 6), S. 78 – 104. Vgl. Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen (Anm. 623), S. 242. Zum Begriff vgl. Pethes, Ruchatz, Willer: Zur Systematik des Beispiels (Anm. 5), S. 21– 31. Vgl. Heilige Regel (Anm. 618), 76,15 – 77,7. Eine Quelle für die Kurzerzählung kann der Herausgeber der Heiligen Regel nicht angeben. Meines Erachtens nach scheinen zumindest rudimentäre Parallelen zu einer Erzählung aus der Vita Meinwerci zu existieren, hier suggeriert Kaiser Heinrich II. Bischof Meinwerk, dass sein Tod kurz bevorstünde, vgl. Vita Meinwerci episcopi Patherbrunnensis. Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg. von Guido M. Berndt. München 2009 (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens, Paderborn. 21), cap. 184.
III.3 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext
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Toren zu betrügen. Er versteckt sich in der Kirche hinter dem Altar, wartet, bis der Tor dort betet, und stellt sich diesem dann als St. Nikolaus vor. In der falschen Rolle des Heiligen verlangt er Geld, da er dem Toren suggeriert, dieser werde in acht Tagen sterben und müsse mit dem Geld das Himmelsreich erkaufen. Der Tor freut sich über das ihm bevorstehende Himmelsreich, bringt das Geld und erzählt allen Leuten von den kommenden Freuden – wird von diesen aber ausgelacht. Nach acht Tagen bekommt der Tor jedoch tatsächlich Fieber, stirbt und seine Seele fährt zu der ewigen vroude (77,7). Die Erzählung wirkt seltsam pointenlos, insofern der Gutgläubige nicht – wie in der Fabellogik üblich – für sein blindes Vertrauen sanktioniert wird.⁶⁴⁹ Somit wird gerade keine Eigenschaft propagiert, die sich im sozialen Agon durchsetzen kann, sondern der Verlierer und Betrogene des diesseitigen Daseinskampfes wird erhöht – denn er kann seine mangelnde gesellschaftliche Wettbewerbsfähigkeit durch Vertrauen in eine höhere Instanz kompensieren. Damit verweisen die Figuren der Kurzerzählungen nicht auf ihre Rolle als Akteure einer sozialen Ordnung, die in der Narration metaphorisch verhandelt wird, sondern auf eine göttliche Seinsordnung, die den sozialen Wertekonflikten ein metaphysisches Gerechtigkeitssystem oktroyiert. So wird auch aus rhetorischer Perspektive aus der Kurzerzählung keine Regel extrapoliert. Es ist vielmehr das Ende der Erzählung, die Erhöhung des Einfältigen und Betrogenen, das eine Umkehrlogik suggeriert: Multi autem erunt primi novissimi et novissimi primi (Mt 19,30),⁶⁵⁰ so ein zentraler Satz der Bibel. Die Erzählung rekurriert zwar auf eine rhetorische Figur (die Umkehrung),⁶⁵¹ gebraucht diese aber als Grundierung für die narrative Entfaltung einer revolutionären Weltanschauung, nicht als rhetorische Pointe. Wohl auch deswegen sind Dialogpartien in den Kurzerzählungen der Heiligen Regel generell sehr kurz gehalten, Handlung – und nicht agonale Diskussionen – bestimmen den narrativen Aufbau. Die Schwierigkeiten, soziale und christliche Vorgaben zu versöhnen bzw. die Kurzerzählungen direkt in den Dienst der vorhergehenden Regel zu stellen, offenbaren sich in der Heiligen Regel naturgemäß vor allem in der Integration älterer Erzählstoffe. Zurückgreifend auf Lk 23,43⁶⁵² argumentiert der Text: Daz wort heilet an unz di unreine miselsucht dez ubelen nidez (33,7 f.). Neid ist eine religiös zu heilende Krankheit, was durch zwei exemplarische Kurzerzählungen ergänzt wird. Zuerst bringt die Heilige Regel eine populäre Avian-Fabel, die im antiken Original folgenden Inhalt hat:
Ebensowenig wird der Schein-Heilige für sein Betrügen bestraft. ‚Viele aber, die jetzt die Ersten sind, werden dann die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein.‘ So wie etwa Aristoteles dafür plädiert, dass der Rhetor die Argumente seines Gegners ‚umdreht‘: „Ein weiterer (Topos ergibt sich) daraus, dass man das über einen selbst Gesagte gegen den wendet, der es sagte“, Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 23 (1398a 3 – 4). Et dixit illi Iesus amen dico tibi hodie mecum eris in paradiso (‚Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.‘).
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
Jupiter sendet Apollon zu den Menschen, um deren Herzen auszuforschen. Er trifft auf zwei Männer, von denen einer als cupidus charakterisiert wird, der andere als invidus. Apollon, der sie testen möchte, gewährt einem der beiden einen Wunsch, allerdings erhält der je andere die doppelte Menge des Gewünschten. Der begehrliche Mann enthält sich (um das Zweifache zu bekommen), der neidische fordert hingegen den Verlust eines seiner Augen, um den anderen völlig erblinden zu lassen. Apollon lernt so die wahre Natur des Menschen kennen und kehrt desillusioniert zu Jupiter zurück.⁶⁵³
Die Heilige Regel entmythisiert Teile der Narration und bindet andere in den christlichen Kontext ein (33,12– 23): Ein großer König hat zwei ihm treu dienende Damen, Nid und Girheit. An Weihnachten vergibt er den aus der Avian-Fabel übernommenen Wunsch, worauf sich auch die bekannten Konsequenzen anschließen, jedoch unter einer neuen Perspektivierung: Weniger die Erkenntnis der ‚menschlichen Natur‘ steht jetzt im Vordergrund, als die Hervorhebung des destruktiven Potenzials der Sünde ‚Neid‘. Dennoch bietet die Erzählung, trotz allegorisierter Figuren, keinen Zugang zur christlichen Heilslehre. Neid ist vor allem ein soziales, den Körper betreffendes Problem, das in der immanenten Welt verhandelt und nicht durch entgegengesetzte Tugenden (caritas, Vergebung) gelöst wird – die im Regel-Kontext versprochene Heilung wird nicht eingelöst, die Erzählung erhält den Status eines Negativexempels, in dem der sensus tropologicus, d. h. die moralische Sinnebene, dominiert.⁶⁵⁴ Wohl nicht zufällig schließt in der Heiligen Regel die Fabel Avians unmittelbar an ein Gleichnis unbekannter Quelle an (34,1– 35,12): Ein mächtiger Herr besitzt zwei Töchter, die ältere soll verheiratet werden, die jüngere ins Kloster gehen. Als entsprechende Vorbereitungen getroffen werden, verfällt die ältere Tochter dem Neid, sie schleicht sich in das Zimmer der Jüngeren und zieht deren Nonnen-Kleider an. Von ihrer Schwester überrascht, entspannt sich ein Streitgespräch über die Vorzüge weltlicher und geistlicher Lebensweisen: Die ältere Tochter bietet ihren Reichtum und Ehemann der Jüngeren an, um statt dieser ins Kloster gehen zu können; die Jüngere lehnt ab und verweist auf die Pflicht der Älteren zum Stammeserhalt sowie die sie erwartenden Freuden der Adelswelt; die Ältere verstärkt abermals ihren Wunsch nach geistlichem Leben mit Hinweis auf die Vergänglichkeit alles Irdischen. Der Vater kommt hinzu und entscheidet, beide ins Kloster zu geben, womit alle Spannungen gelöst werden. Wie in der Avian-Erzählung bestimmt ein agonales Prinzip hier die Erzählkomposition, doch konträr zur antiken Fabel imaginiert die Heilige Regel eine Konsensmöglichkeit für die zerstrittenen Parteien in Form des geistlichen Lebens. Nicht länger körperliche Beeinträchtigung, sondern Weltabwendung ist Lösungsfolie für die Neidbzw. Eifersuchtsproblematik. Doch geht die Erzählung über das Neid-Thema hinaus, indem sie im Dialog der Schwestern Diskurse adliger Lebenswelt anspricht: Die
Vgl. Avian: Fabulae (Anm. 124), Nr. 22. Vgl. zum vierfachen Schriftsinn auch die konzise Zusammenfassung bei Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 245 – 247.
III.3 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext
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Weltflucht (moniage) konkurriert mit ökonomischen Überlegungen, genealogischen Verpflichtungen und Standesrepräsentation, setzt sich aber (v. a. begründet über das vanitas-Argument) gegen diese durch. So wird auf eine rhetorische Situation angespielt, diese jedoch nicht ausgeführt: Die Figuren argumentieren nicht rhetorisch, sondern theologisch. Das Abwägen zwischen zwei Werten ist nur scheinbar als Kasus gestaltet, tatsächlich desavouiert die Heilige Regel das dem Kasus inhärente Vergleichen zweier Normen, indem sie über den Vater eine Instanz höherer moralischer Ordnung einführt. Scheinbar symmetrische Relationen erweisen sich als zutiefst asymmetrisch, doch läuft die Erzählung auf ein Ende hinaus, dass alle offenen Streitigkeiten einer konsensualen Lösung zuführt. Der Verfasser der Heiligen Regel spielt hier die antike Erzählung des Avian mit einem (vielleicht selbst erfundenen) Gleichnis aus, in das der contemptus mundi als legendarisches Erzählschema eingespeist wird. In der Interferenz von antikem Erzählschema (die menschliche Natur ist von Neid geprägt, und die Gottheiten wenden sich ab) und christlichem Erzählschema (die menschliche Natur ist von Neid geprägt, doch Gott wendet sich denen zu, die sich von der Welt abwenden) inszeniert die Heilige Regel die geistliche Lösung als das bessere Argument. Das bonum exemplum (Gleichnis der zwei Schwestern) widerspricht dem malum exemplum (Avian-Fabel), verweist auf die ‚eine‘ Wahrheit und die Durchsetzungskraft geistlicher Weltabwendung in sozialen Problemkonstellationen. Wenig überraschend nutzt auch der Große Seelentrost eine Zusammenstellung aus negativer und positiver Beispielerzählung, die sich in erster Linie auf die Pole ‚NichtBefolgen eines Gebotes – Einhalten eines Gebotes‘ begrenzt.⁶⁵⁵ Konträr zur Heiligen Regel, in der die Kurzerzählungen konstitutiv in den Argumentationsgang eingebunden sind, verfolgt der Große Seelentrost jedoch keine induktive Beweisstruktur. Nicht in der Kombination mehrerer Einzelfälle wird eine Regel gebildet oder bewiesen, sondern diese bezieht ihre Autorität aus der paradigmatisch gesetzten Bibel und erhält damit normative Geltung. Durch die Vielzahl an Erzählvariationen zu jeder Regel beschreibt der Große Seelentrost die Vorgaben desselben Gebotes in Antike (historisches Exempel), Altem bzw. Neuem Testament (d. h. der Heilsgeschichte) und in der Gesellschaft (Gleichnis). Die Zehn Gebote erweisen sich als mehr denn nur gliedernde Elemente: Sie sorgen für textuelle Kohärenz, für ein verbindendes Element zwischen disparaten Erzählreservoiren. Anstatt so aus der einzelnen Kurzerzählung eine Regel zu generieren, gibt das gesetzte Gebot Anlass zu einer Erzählung, deren Funktion die der Illustration jedoch nur in seltenen Fällen übersteigt. So wird etwa das zweite Gebot (Mynsche, du ne schalt dynen munt nicht dar to wenen, dat he vnnutliken swere bij vnseme heren gode, 38,5 – 7) in das Beispiel eines Ritters, der beim Würfelspielen auf Gott schwört und dadurch
Vgl. Edith Feistner: Gattungstransformation im Seelentrost. Zum System der Gattungen exemplarischer Rede. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 10 (1998), S. 111– 124, hier S. 115.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
seine Augen verliert, übertragen. Diese Erzählung schließt dann mit dem Gebot, auch gegenüber Heiligen nicht falsch zu schwören, was über die immer wieder angeführte Formel hijr van wil ik dij eyn bilde seggen (38,21)⁶⁵⁶ in das nächste Exempel (‚Ein meineidiger Bruder‘) geführt und dort narrativ entfaltet wird. Insgesamt reihen sich so 34 historische Exempel und Gleichnisse an das zweite Gebot, die je eine vorab gesetzte und auf das Gebot zielende Norm in ihrer Axiologie illustrieren. Die Intention der Erzählungen scheint damit vor allem in der Variation zu liegen: Das Bemühen, Konstanz und Gültigkeit jedes der Zehn Gebote in divergierenden Situationen und gegenüber allen Formen von Kontingenz aufzuzeigen, lässt wieder an Linnés Nemesis Divina denken. Gleichzeitig kompensiert das variierende Erzählreservoir den Ausfall erzähltechnischer Spannung: Wenn Ausgang wie auch Sinn der Erzählungen aufgrund der Allmacht Gottes und des ordo certus von vornherein festgelegt sind (das Befolgen von Geboten wird belohnt, der Fehltritt sanktioniert), negiert dies erzählimmanente Formen von Wahrscheinlichkeit und damit Spannungserzeugung. Die Varianz in der Illustration führt im Großen Seelentrost jedoch naturgemäß auch zu einer Anreicherung der Lehrinhalte in den Epimythien, die den zugewiesenen christlichen Kontext übersteigen können: Der lebensweltliche Bezug der Kurzerzählungen wird theologisch aufgefangen, aber nicht komplett kompensiert. So bringt der Text anknüpfend an das achte Gebot (Mynsche, du ne schalt nicht valschliken tugen, 223,3) ein aus Disciplina clericalis ⁶⁵⁷ und Gesta Romanorum ⁶⁵⁸ bekanntes Gleichnis (238,8 – 22): Drei reisenden Freunden geht das Essen aus, nur ein Brot ist übrig. Zwei verbünden sich heimlich gegen den Dritten, sie schlagen vor, sich schlafen zu legen, die beiden mit den schönsten Träumen sollen danach je eine Hälfte des Brotes bekommen. Nach dem Aufwachen berichten die zwei Betrüger von ihren wunderbaren Träumen: Der eine habe neben Gott im Himmelreich gesessen, der andere neben Maria. Der dritte jedoch antwortet, er habe die beiden dort auch sitzen sehen, sei deswegen davon ausgegangen, dass sie das Brot nicht mehr benötigen und habe alles allein aufgegessen. Gegenüber der Version der Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi ist der soziale Gehalt der Erzählung deutlich reduziert (bei Alfonsi wird viel Wert darauf gelegt, dass hier nicht drei gleichwertige Reisende vorliegen, sondern zwei Stadtleute erfolglos versuchen, einen Bauern hereinzulegen), dafür jedoch wird die Narration hier durch einen anderen topischen Ratschlag ergänzt:⁶⁵⁹ Du neschalt nicht gerne sulff dridde wanderen. Wan dre sind in eyner kumpanie, so plegen gerne twe to samne to holdene; dat bedrouet den drydden (238,5 – 7) – theologischer und sozialer Gehalt erstrecken
Mit geringfügigen Variationen beendet dieser Satz fast jedes Exempel und bindet es sogleich an das nachfolgende. Vgl. Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis (Anm. 473), Nr. 19 (‚De duobus burgensibus et rustico‘). Vgl. Gesta Romanorum (Anm. 92), Nr. 106. Vgl. dazu auch Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen (Anm. 623), S. 244f.
III.3 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext
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sich auf „Regeln unterschiedlicher Reichweite, die vom Common Sense bis zur Allegorese reichen.“⁶⁶⁰ Letzteres betont die Heilige Regel, die ebenfalls das Gleichnis anführt,⁶⁶¹ dabei ihre Figuren jedoch direkt allegorisiert: Ez waren drie gesellen, der erste hiz Wollust, der ander Homut, der drite bruder Johan. er hette van Gote genaden genuk, wan er waz einveldic und gud (77,8 – 10). In der Kombination topisch-sozialer und religiöser Regeln verweisen die Texte somit auch auf Probleme der Wirklichkeit, die von der christlichen Wahrheitslehre nicht abgedeckt werden können. Nur in Einzelfällen gewinnt der narrative Abschnitt der Kurzerzählungen im Großen Seelentrost jedoch deutlichere, weit über das Funktionale hinausweisende Eigenständigkeit, wie etwa in den Alexanderexempeln im Kontext des zehnten Gebotes. Gegen Begehrlichkeit argumentierend (Mynsche, du neschalt nicht begeren dynes euenen kristenen wyues etc., 254,3 f.), werden biblische Exempel (David, Abraham, Isaak) und zwei kurze Gleichnisse angeführt, bevor der Text auf Alexander überleitet, dessen Geschichte den Großen Seelentrost beschließt. Weniger wird hier jedoch ein spezifisches Ereignis aus der Alexander-überlieferung als Einzelfall geschildert (Einzelexempel zu Alexanders superbia usw. sind populäres Erzählgut), vielmehr steht Alexanders gesamte Biographie zur Disposition.⁶⁶² Von der problematischen Vorgeschichte seiner Eltern ausgehend (die sich noch am deutlichsten dem zehnten Gebot zuordnen lässt),⁶⁶³ über Alexanders Jugend, den Kämpfen gegen Darius, Indienund Paradieszug und Alexanders Tod bedient der Große Seelentrost das umfassende Register mittelalterlicher Alexanderromane. Zwar teilen entsprechende Formeln die einzelnen Erzählabschnitte ansatzweise in eigenständige Kurzerzählungen – Men vint ouch bescreuen (271,1); Dar na quam he to ener stat (270,4) –, doch ergibt sich insgesamt der Eindruck einer kohärenten Erzählung, die nicht nur ihren christlich-didaktischen Kontext marginalisiert, sondern sich auch in ihrer Ausführlichkeit von den sonstigen Erzählungen des Großen Seelentrost eklatant unterscheidet. Die Alexandererzählung übersteigt hier die Funktion des illustrierenden Einzelfalls: Weder wird Alexanders Biographie auf ihren exemplarischen Gehalt reduziert, noch ist sie substantiell mit dem zehnten Gebot verbunden. Mit dem Bericht von Indien-Wundern, Amazonen, Luft- und Meerfahrt scheint der Große Seelentrost hier vielmehr selbst das zu erzählen, vor dem er im Prolog warnt: Ichteswelke lude leset boke van Persevalen vnde van Tristram vnde van hern Didericke van den Berne vnde van
Friedrich: Topik und Rhetorik (Anm. 10), S. 96. Direkt anschließend an oben zitierte Erzählung vom Toren, d. h. im Kontext von Gehorsamkeit. Nur der Anfang der Erzählung ist aufgrund der schwierigen Überlieferungssituation erhalten (von der Heiligen Regel existiert nur eine einzige, fragmentarische Handschrift). Die Quellenfrage ist kompliziert und noch wenig erforscht, am deutlichsten sind die Bezüge zum lateinischen Alexanderroman des Archipresbyters Leo (Historia de preliis Alexandri Magni) und zur Liegnitzer Historia, vgl. Andersson-Schmitt: Über die Verwandtschaft der Alexandersagen im Seelentrost und in der ersten niederländischen Historienbibel (Anm. 645). Der Zauberer Neptabanus zeugt Alexander mit Olympias, die eigentlich die Ehefrau von König Philippus ist. Vgl. Großer Seelentrost (Anm. 638), 259,1– 260,3.
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III Exemplarische Kurzerzählungen im nicht-narrativen Kontext
den olden hunen, de der welde denden vnde nicht gode (1,27– 29). Der ‚Erzählüberschuss‘, die narrative Anreicherung des Alexanderstoffes, ist weltlicher Natur und wird nicht theologisch kompensiert. Es verdeutlicht sich an dieser Stelle eine generelle narrative Paradoxie im mittelalterlichen Erzählen von Alexander, wie sie Hartmut Bleumer herausgearbeitet hat: Die Figur des Alexander dominiert als historisches Phänomen die narrativen Möglichkeiten derart, dass „mit der narrativen Struktur auch die Möglichkeit des Weltverstehens verloren“⁶⁶⁴ geht. Die umfassende Alexander-Episodenreihung im Großen Seelentrost kreiert semantische Möglichkeiten, die selbst ihre zentrale Figur beherrschen: Erst wird von Alexanders Tod berichtet (270,18 – 30), dann von seiner Fahrt zum Paradies, dem Iter ad paradisum (271,1– 27). Auch Alexanders Tod ist kein Ende für das Erzählen und Deuten seiner Taten (was an der Paradiesfahrt besonders deutlich gemacht wird). Das exemplarische Sinnmuster übersteigt hier die Zeitstruktur der biographischen Form.⁶⁶⁵ Es ist deutlich geworden, dass die Heilige Regel und der Große Seelentrost gegenüber ihren lateinischen Vorlagen die adaptierten exemplarischen Kurzerzählungen nicht nur übersetzen, sondern auch ihre Erzählkonzeption verschieben. Weniger die eingangs aufgezeigte Verbindung von Fabel und historischem Exempel als eine Reduzierung historischer facta zugunsten einer stärkeren Verallgemeinerung des Besonderen (die Ausnahme, die zur Regel wird, s.o.) kristallisiert sich in den umgeschriebenen Erzählungen heraus: Die lateinischen historischen Exempel werden zu volkssprachigen Gleichnissen umgeschrieben. Eine etwaige Berufung auf historische Faktizität in der Kurzerzählung wird hier zugunsten einer Erweiterung des illustrativen und argumentativen Potenzials über den historischen Einzelfall hinaus ersetzt. So gibt Caesarius von Heisterbach im Dialogus miraculorum bspw. eine kurze historische Einordnung zur Erzählung einer Frau, die sich durch Beichte vor einem Dämonen rettet. Die Frau heiße Aleidis, sei früher die concubina eines Priesters in Bonn (namens Petrus) gewesen, nach dessen Suizid sie ins Frauenkloster gegangen sei.⁶⁶⁶ Genaue Orts- und Namensangaben verbürgen die Wahrheit des Erzählten – Caesarius entwirft eine strenge Symmetrie zwischen Geschichte und göttlichem Wirken,⁶⁶⁷ insofern er in seinen Exempeln und Mirakeln die christliche Heilsbotschaft mit der wahren und wirklichen Vergangenheit homogenisiert. Die Heilige Regel greift das Exempel auf, formuliert jedoch verallgemeinernd: Ez waz ein geistlich wip in eime clostere (12,1). Nicht nur Figuren, Ort und Zeit der Handlung werden durch das Aus-
Bleumer: Alexanders Welt (Anm. 385), S. 219. Der Große Seelentrost scheint hier zudem den Iter ad paradisum (konträr zum Straßburger Alexander) dezidiert als Jenseitsreise zu verstehen. Vgl. Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum (Anm. 600), 3, 13. Zur generellen Problematik in der Relationierung von göttlichem Wirken und Vergangenheit vgl. Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluss. Frankfurt am Main 1987 (Bibliothek Suhrkamp. 965), S. 141.
III.3 Exemplarische Kurzerzählungen im christlichen Kontext
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lassen des Prologes generalisiert,⁶⁶⁸ auch der spezifische Grund für Dämonenbesuch und Notwendigkeit der Beichte – das uneheliche Vorleben – bleibt im Ungefähren: di [= die Frau, M.S-D.] was nicht gar bescheiden an begerunge noch an willen (12,1 f.). Die Heilige Regel sucht das Gerechtigkeitswirken Gottes nicht im Vergangenen (historisches Exempel) oder gar im Irrealen (Fabel), sondern in potentiell möglichen Welten (Gleichnis). Dennoch bilden die volkssprachigen Erzählungen einen Schnittpunkt zwischen historischem Exempel und Gleichnis, denn den Wahrheitsgehalt ihrer Kurzerzählungen greifen die Heilige Regel und der Große Seelentrost nicht an. Kombiniert wird das Wahrheitsverständnis des historischen Exempels mit dem Wahrscheinlichkeitscharakter des Gleichnisses (das eine Geschichte erzählt, die universell möglich ist). Ihren Kurzerzählungen weisen die Texte somit eine doppelte Funktion zwischen Theorie und Praxis zu: den Nachweis des Faktischen (das Wirken Gottes) einerseits, die Formulierung von universellen Verhaltensregeln für die Lebenswelt andererseits.⁶⁶⁹
Für den Großen Seelentrost hat Edith Feistner einen ähnlichen Befund gemacht: Gegenüber der Legenda aurea zeichnen sich die Exempel des Großen Seelentrosts durch eine dezidierte „Enthistorisierung“ aus, Feistner: Gattungstransformation im Seelentrost (Anm. 655), S. 117. Gleiches sieht Maryvonne Hagby für etliche Kurzerzählungen des Strickers: Hagby: man hat uns fur die warheit … geseit (Anm. 487), S. 153; Markus Schürer verortet ähnliche Umbesetzungen in Exempelsammlungen der Dominikaner als Erhöhung des didaktischen Potenzials des exemplarischen Erzählens: von der distanzierten Bewunderung gegenüber dem exzeptionellen Heiligen (dem Besonderen) hin zur sympathetischen Identifikation mit dem Allgemeinen, vgl. Markus Schürer: Die Dominikaner und das Problem der generaciones venturae. In: Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum. Hrsg. von Gert Melville, Jörg Oberste. Münster 1999 (Vita regularis. 11), S. 169 – 214, hier S. 182. Zum theoretischen Hintergrund vgl. Zill: Minima historia (Anm. 585), S. 41.
IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen IV.1 Einleitung: Das Archiv als Kontext Verschiebt sich die Perspektive von der einzelnen Kurzerzählung im Kontext eines größeren Textes hin zu einer Sammlung an Kurzerzählungen, so impliziert dies einen Wechsel von unmittelbarer Funktionalität zur mittelbaren, potentiellen Aussagekraft des Archivs. Wenn damit Analysen von direkten, wechselseitigen Relationen zum nicht-narrativen Kontext durch Fragen nach Anlage, Struktur und Themen einer Sammlung ersetzt werden, scheint ein rhetorischer Blick sinnlos, da das Archiv vermeintlich nur als Reservoir der inventio, der Materialbeschaffung, eine Rolle spielt, jedoch keine tatsächliche Applikation der rhetorischen Möglichkeiten einer exemplarischen Kurzerzählung offeriert. Der folgende Fokus auf drei beispielhaft ausgewählte Sammlungen benötigt daher eine kurze Erläuterung, d. h. einen Rückgriff auf Beobachtungen des Theorie-Kapitels und weiterführende Überlegungen zur rhetorisch-poetischen Relevanz der ‚Kurzerzählung im Archiv‘. Das gerade geschilderte Dilemma ist weder neu noch unbeantwortet: Walter Haug hat sich dieser Frage bereits 1991 gewidmet.⁶⁷⁰ Haug sieht Kurzerzählungen generell in einer poetisch-rhetorischen Paradoxie gefangen: Die Rhetorik benötige eine möglichst eindeutige Erzählung, um diese besonders schlagkräftig einzusetzen, die Poetik hingegen reichere die Kurzerzählung mit narrativen Anteilen an, die diese mehrdeutig (und damit weniger persuasiv) werden lassen.⁶⁷¹ In der Sammlung biete sich nun – nach Haug – eine Lösungsmöglichkeit für dieses Problem, da sie einerseits durch Kompilation mehrerer Erzählungen narrative Vielfalt herstelle, die Kurzerzählungen selbst aber ihren „einsinnigen“ Charakter behalten können.⁶⁷² Vor allem Fabeln seien es, die auf dieses Potenzial der Sammlung als Ausgleichsfaktor zurückgreifen würden.⁶⁷³ Haugs Überlegungen sind durchaus anknüpfungsfähig, doch greifen seine Prämissen ‚rhetorisch = eindeutig‘ und ‚poetisch = mehrdeutig‘ zu kurz. Die dieser Analyse vorangesetzten Überlegungen haben gezeigt, dass die exemplarische Kurzerzählung immer mit Bedeutungsangeboten spielt, gerade auch in der rhetorischen Einbindung: Stoffgleiche Erzählungen werden unterschiedlich ausgelegt, durch kleine Variationen in der Narration kann das Sinnangebot nochmals erhöht werden. Dass die gleiche Fabel im chronikalischen wie didaktischen Kontext divergierende An-
Vgl. Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen (Anm. 51); Zu Haugs Überlegungen vgl. auch Brigitte Weiske: Gesta Romanorum. Bd. 1: Untersuchungen zu Konzeption und Überlieferung. Tübingen 1992 (Fortuna vitrea. 3), S. 113; sowie die grundlegenden Überlegungen in Kapitel II.1.4. Vgl. Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen (Anm. 51), S. 267– 269. Vgl. ebd., S. 269. Vgl. ebd. https://doi.org/10.1515/9783110579406-005
IV.1 Einleitung: Das Archiv als Kontext
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wendung findet, ist nicht zwangsläufig Resultat ästhetischer Mehrdeutigkeit, sondern rhetorischer Multifunktionalität. Die Potenz der Sammlung liegt daher nicht darin, dass sie durch Kompilation diverser Kurzerzählungen narrative Vielfalt generiert, sondern darin, dass sie durch sorgfältige Auswahl, durch bewusstes Nebeneinanderstellen disparater Erzählungen und durch eingefügte Kommentare narrative Vielfalt begrenzt. Diese ‚Begrenzung‘ kann (um von wertenden Termini abzurücken) auch beschrieben werden als eine programmatische Anlage, als ein Versuch, Ordnung in das weite Feld überlieferter Kurzerzählungen zu bringen. Wenn Ulrich Boner im Edelstein über große Strecken je zwei Kurzerzählungen (oft aus unterschiedlichen Quellen) hintereinander bringt, die schlaglichtartig zwei sich ergänzende oder widersprechende Perspektiven auf ein Thema werfen (s.u.), so zeigt er beispielhaft auf, wie sich eine Regel in bonam und in malam partem verstehen lässt. Das Archiv weist Kurzerzählungen einen Bedeutungsrahmen zu, es ordnet und strukturiert diese notwendigerweise, um selbst benutzbar zu bleiben. Das lateinische Mittelalter kennt Sammlungen, die ihre Erzählungen nach Ständen bzw. Berufsgruppen (Compilatio singularis exemplorum), nach den Sieben Gaben des Heiligen Geistes (Stephan von Bourbon: Tractatus de diversis materiis predicabilibus) oder einfach alphabetisch (Arnold von Lüttich: Alphabetum narrationum) ordnen.⁶⁷⁴ Je nachdem, ob sich die Sammlung stärker als reines Promptuarium, d. h. als Erzähl-Reservoir für neue Kontexte (Predigten etc.)⁶⁷⁵ oder als in sich geschlossene, als Ganzes angelegte und tradierte Anlage versteht, ist die einzelne Kurzerzählung unterschiedlich fest in ein gliederndes Konzept eingebunden. Die volkssprachige Überlieferung zeigt, dass nicht der schlichte Anspruch, Kurzerzählungen zu kompilieren oder ‚Vielfalt‘ herzustellen, die Sammlungen prägt, sondern eine durchdachte, sich als Ordnungsraster verstehende Programmatik. Sichtbar wird dies etwa an einer im 13. Jahrhundert entstandenen Sammlung, die in der Forschung unter dem Namen ‚Die Welt‘ firmiert und von den Handschriften selbst mit ähnlichen Formulierungen bezeichnet wird (so etwa in der Stricker-Handschrift E: Hie hebt sich an das bůch daz do heizet die werlt).⁶⁷⁶ Wenn die Sammlung auch nicht in Gänze überliefert ist, so
Vgl. Reinhold Wolff: Unterwegs vom mittelalterlichen Predigtmärlein zur Novelle der Frühen Neuzeit. Die Erzählsammlung Compilatio singularis exemplorum. In: Mittellateinisches Jahrbuch 41 (2006), S. 53 – 76, hier S. 60 f.; Grubmüller: Exemplarisches Erzählen – im exemplum, im Märe, im Fabliau? (Anm. 57), S. 72 f. Vgl. ebd., S. 72; Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen (Anm. 51), S. 269. Zit. nach: Hans-Joachim Ziegeler: Beobachtungen zum Wiener Codex 2705 und zu seiner Stellung in der Überlieferung früher kleiner Reimpaardichtung. In: Deutsche Handschriften 1100 – 1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von Volker Honemann, Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 469 – 526, hier S. 471. Vgl. zur ‚Welt‘ auch Wolfgang Achnitz, Franz-Josef Holznagel: Der werlt lauff vnd ir posait. Die Sammlung ‚Die Welt‘ und ihre Rezeption. In: Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hrsg. von Horst Brunner. Wiesbaden 2004 (Imagines Medii Aevi. 17), S. 283 – 312; Wolfgang Achnitz: Item daz bispyl buoch genant der welt louff. Literarische Kleinformen im An-
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
lassen sich doch tradierte Versatzstücke beobachten, die offenbar als Einheit gesehen wurden und bis weit ins 15. Jahrhundert überliefert sind.⁶⁷⁷ Gleichzeitig schärft jede Sammelhandschrift ihr eigenes Profil, und sei es nur die – an sich simple – Tendenz, geistliche Themen und Erzählungen hervorzuheben (z. B. in den StrickerHandschriften N, M, V, W, C)⁶⁷⁸ oder weitgehend auszuklammern (vgl. Stricker-Handschrift F, d. h. die Handschrift MS Add. 24946 aus der British Library in London, die in Kapitel IV.4 näher vorgestellt wird). Der Status einer Sammlung lässt sich mit unterschiedlichen Instrumentarien fassen: Man kann versuchen, aus gattungstheoretischer Perspektive klassifikatorische Merkmale aufzustellen, um damit divergierende Sammlungstypen voneinander abzugrenzen. Heuristisch gesehen bietet dies die Chance, auch begrifflich auf Unterschiede und Abweichungen in der Anlage verschiedener Sammlungen aufmerksam zu machen. Gleichzeitig bedingt die Vielfalt und der hybride Charakter vieler Sammelhandschriften die Gefahr, dass jede theoretische Klassifikation an der Formenvielfalt der Praxis scheitert. Demgegenüber kann aber auch versucht werden, die Funktion einer Sammlung als topisches Archiv rhetorisch zu bestimmen. Dies resultiert nicht in generischen Klassifikationen, jedoch in einem Beschreibungsinstrumentarium, das es – im besten Fall – erlaubt, die Charakteristika einer Sammlung vor dem Hintergrund ihrer rhetorischen Verwendungsmöglichkeiten (das Archiv als strukturierte Anlage an Argumenten) je neu zu bestimmen. Die Vielfalt an Sammlungstypen wird dabei als Prämisse akzeptiert, jede Sammlung prinzipiell neu bestimmen zu müssen – wobei auch die Möglichkeit besteht, dass eine einzelne Sammlung paradigmatisch für weitere Sammlungsformen stehen kann. Im Folgenden soll beides berücksichtigt werden. Ein erster, klassifikatorischer Versuch knüpft an bestehende Forschungstendenzen an und gibt einen ersten Überblick über Sammlungen von exemplarischen Kurzerzählungen. Für die weiteren Untersuchungen entscheidend ist dann aber die darauf folgende Ableitung von Ordnungstechniken aus dem rhetorischen Register. Es ist vor allem Hans-Joachim Ziegeler, der wichtige Beiträge zur Einteilung von Erzähl-Sammlungen geleistet hat⁶⁷⁹ – seine Überlegungen (die sich primär auf sog.
gebot des Buchhändlers Diebold Lauber. In: Aus der Werkstatt Diebold Laubers. Hrsg. von Christoph Fasbender. Berlin [u. a.] 2012 (Kulturtopographie des alemannischen Raums. 3), S. 223 – 243. Vgl. Achnitz, Holznagel: Der werlt lauff vnd ir posait (Anm. 676), S. 283. Die Stricker-Siglen richten sich hier und im Folgenden nach: Franz-Josef Holznagel: Die Koblenzer Stricker-Fragmente (Landeshauptarchiv, Best. 701 Nr. 385, Bl. 1 und 2). Mit einer aktualisierten Liste der Stricker-Siglen. In: ZfdA 140 (2011), S. 141– 169. Vgl. Ziegeler: Art. Reimbispel-Sammlungen (Anm. 513). Ziegeler sieht drei Gruppen: „Sammlungen, die Bispel in einen ausformulierten Erzähl- oder Argumentationszusammenhang integrieren“ (Renner, Welscher Gast), „Sammlungen, die in Prolog oder Epilog die nicht durch Zwischentext verbundenen Bispel als Teile einer größeren Einheit deklarieren“ und „Sammlungen, die ihr Material nach bestimmten Gesichtspunkten ordnen, aber ohne dies ausdrücklich […] kundzutun.“ Ebd., Sp. 1144. Die letzten beiden Typen wurden übernommen, Ziegelers erster Sammlungstyp wird hier nicht als
IV.1 Einleitung: Das Archiv als Kontext
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Reimbîspel-Sammlungen beziehen) werden hier aufgenommen, leicht modifiziert und um Sammlungen anderer Formen von Kurzerzählungen ergänzt:⁶⁸⁰ ‒ Sammlungen, die über Prologe (ggf. auch Epiloge) Kohärenz anzeigen und eine gewisse Programmatik in der Anlage durch bewusste Auswahl, Zusammenstellung oder Titelgebung der Kurzerzählungen verfolgen. Überdurchschnittlich häufig finden sich Fabelsammlungen, die nach diesem Schema angelegt sind, wie etwa Ulrich Boners Edelstein oder Gerhards von Minden Wolfenbütteler Äsop. ⁶⁸¹ ‒ Sammlungen, die ihr Material nach spezifischen Gesichtspunkten ordnen, ohne dies offen darzulegen und ohne durch Pro- oder Epilog Abgeschlossenheit zu suggerieren. Die Grenze zum ersten Typus an Sammlungen ist dabei offen: „Es gab […] auch bereits in der StrickerÜberlieferung ein dem ‚Ordnungsprinzip‘ in Boners ca. hundert Jahre später entstandenem ‚Edelstein‘ verwandtes […] Verfahren, thematisch und in der Durchführung verwandte Texte zusammenzustellen.“⁶⁸² ‒ Sammlungen, die – vermeintlich – überhaupt kein Ordnungsmuster verfolgen. Ob es diesen Typus in Reinform gibt, ist zu bezweifeln. Dennoch bieten manche Erzählsammlungen, wie etwa die Gesta Romanorum, keine klaren Kriterien für Struktur und Aufbau. ‒ Sammlungen, die sich eine Rahmenerzählung geben. Dies kann häufig ein Dialog sein (Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum, Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis), auch ein Streitgespräch ist möglich, in dem die Kurzerzählungen dann stark argumentierende Funktionen übernehmen (Sieben weise Meister).⁶⁸³ Auffallend ist, dass dieser Sammlungstypus häufig nicht nur auf Kurzerzählungen, sondern auch auf Sentenzen (Disciplina clericalis) oder Autoritätenzitate (Dialogus miraculorum) zurückgreift.
Um die Frage ‚Was ist eine Sammlung?‘ demgegenüber rhetorisch zu beantworten, hilft es, abermals auf Roland Barthes zurückzugreifen: Dieser hat, wie schon mehrmals dargestellt, in der ‚alten Rhetorik‘ die Funktionalität von Topik in dreifacher Ausrichtung bestimmt: als Archiv, als Struktur und als Argument.⁶⁸⁴ Eine Sammlung an Kurzerzählungen ist ein topisches Archiv, da sie Erfahrungswissen, CommonSense-Überzeugungen und das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft (memoria) speichert und für den späteren Gebrauch bereitstellt. Rhetorisch gesehen bildet dies die Prämisse für die inventio, die Materialfindung, trifft damit aber mehr oder weniger auf alle Sammlungen zu und hilft noch nicht, spezifische Eigenschaften zu for-
Sammlung, sondern als didaktischer Text mit nur vereinzelt eingefügten Kurzerzählungen verstanden – Renner und Welscher Gast sind daher schon in Kapitel III.2 besprochen worden. Einen ähnlichen (skizzenhaften) Überblick über Formen von Exempelsammlungen gibt: Hagby: man hat uns fur die warheit … geseit (Anm. 487), S. 293 f. Vgl. Ziegeler: Art. Reimbispel-Sammlungen (Anm. 513), Sp. 1148. Ziegeler: Beobachtungen zum Wiener Codex 2705 und zu seiner Stellung in der Überlieferung früher kleiner Reimpaardichtung (Anm. 676), S. 491. Vgl. dazu: Steinmetz: Exempel und Auslegung (Anm. 79); Sabine Obermaier: Die zyklische Rahmenerzählung orientalischer Provenienz als Medium der Reflexion didaktischen Erzählens im deutschsprachigen Spätmittelalter. In: Didaktisches Erzählen. Formen literarischer Belehrung in Orient und Okzident. Hrsg. von Regula Forster, Romy Günthart. Frankfurt am Main [u. a.] 2010, S. 189 – 205. Vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 67– 70.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
mulieren – es lässt sich höchstens fragen, was, d. h. welcher Inhalt, je gespeichert wird. Relevanz kommt vielmehr der Struktur, d. h. dem Raster, der Anlage einer Sammlung zu. Jede Sammlung an Kurzerzählungen scheint hier auf unterschiedliche Techniken zurückzugreifen, die sich strukturell auf basale Funktionen aus Selektion und Kombination zurückführen lassen.⁶⁸⁵ Es ist somit die rhetorische dispositio, die Anordnung, die zur großen Variabilität der Sammlungen führt: Selektiv verfährt eine Sammlung, indem sie bestimmte Erzählungen archiviert, andere aber nicht übernimmt (also etwa die Anzahl an Kurzerzählungen gegenüber ihrer Vorlage nach bestimmten Kriterien erweitert oder kürzt, d. h. die rhetorische dilatatio bzw. abbreviatio materiae).⁶⁸⁶ Formen der Kombination zeigen sich im Umstellen der verschiedenen Kurzerzählungen, die so in je neue Kontexte eingegliedert werden können: Kontextbildung funktioniert hier im Wesentlichen über das Neu-Kombinieren vorhandener Texteinheiten, d. h. Erzählungen.⁶⁸⁷ Die letzte Funktion schließlich, die des Arguments, führt die Sammlung zurück auf ihre einzelnen Kurzerzählungen: Jede Erzählung lässt sich als Argument einsetzen und bekommt damit rhetorische Durchsetzungskraft eingeschrieben. Die folgenden Analysen greifen drei verschiedene Sammlungen auf, die sich sowohl klassifikatorisch auf verschiedene Sammlungstypen zurückführen lassen, als an ihnen auch je verschiedene rhetorische Techniken von Ordnung und Archivierung von Argumentationsverfahren sichtbar werden. An Ulrich Boners Edelstein (Kapitel IV.2) lässt sich das klassische Beispiel einer geschlossenen Fabelsammlung verfolgen: Nicht nur Pro- und Epilog umschließen die programmatische Zahl an 100 Fabeln, auch Auswahl und Zusammenstellung zeigen deutliche Hinweise auf durchgeformte Strukturen. Zu zeigen ist aber auch Boners Spiel mit Sentenzen und Topoi – diese werden nicht nur im Prolog als Leitbilder exemplarischen Erzählens eingeführt, sondern bestimmen auch die narrative Entfaltung der Fabeln: Kurzerzählungen als aus- oder umformulierte Lehrsätze, als diskursive Auseinandersetzung mit kulturellen Wertvorstellungen. Weniger mit Sentenzen als mit Erzählformen setzen sich hingegen die Gesta Romanorum (Kapitel IV.3) auseinander. Als ‚offene‘ Sammlung, die sich weder einem spezifischen Verfasser oder Kompilator zuschreiben lässt, noch ein festes Programm verfolgt, gestalten die Gesta Romanorum auch ihre Kurzerzählungen jenseits von Vgl. dazu generell Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik (Anm. 8), S. 165 – 167. Zur rhetorischen Technik grundlegend vgl. Franz Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1– 30. Für eine Neuperspektivierung auf die moderne Textpoetik des Katalogs vgl. Lisa Regazzoni: Selektion und Katalog. Zur narrativen Konstruktion der Vergangenheit bei Homer, Dante und Primo Levi. München [u. a.] 2008. Roman Jakobson hat die beiden Verfahren von Selektion (Substitution) und Kombination (Kontextbildung) aus der Perspektive des Strukturalismus als Metapher und Metonymie beschrieben: Im ersten Fall wird ein Gegenstand durch eine Similaritätsoperation verändert, im zweiten durch eine Kontiguitätsoperation, vgl. Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik (Anm. 8), S. 167 f.
IV.2 Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung
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Gattungsgrenzen: Gleichnisse stehen neben Fabeln und Exempeln, wobei die Übergänge fließend gestaltet sind – traditionelle Fabeln werden als Gleichnis erzählt und vice versa. Die offenen Formen des Erzählens, die Addition neuer Kontexte und die Kombination verschiedener Erzähltraditionen werden hier im Vordergrund stehen. Ein Blick auf die Relationen von Ausnahme und Regel in den Exempeln der Gesta Romanorum schließt das Teilkapitel ab. Als dritter und letzter Sammlungstypus wird eine – exemplarisch ausgewählte – Handschrift herangezogen (Kapitel IV.4). Die Handschrift London, British Library, MS Add. 24946 (Stricker-Sigle F) fällt zwar zeitlich aus dem Untersuchungsraum dieser Arbeit hinaus (sie stammt aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts), überliefert jedoch Kurzerzählungen der ‚Welt‘-Sammlung, die im 13. Jahrhundert entstanden ist. Die Analyse der Handschrift versteht sich daher als kleiner Ausblick auf die Bedingungen und Tendenzen der Rezeption exemplarischer Kurzerzählungen im 15. Jahrhundert: Mit welchen anderen Texten kombiniert die Handschrift ihre Kurzerzählungen? Auf welche exemplarischen Kurzerzählungen greift sie zurück und wie werden diese strukturiert? Finden sich narrative Umformungen? Boners Edelstein, die Gesta Romanorum und die Handschrift Add. 24946 zeigen somit je divergierende Vorstellungen eines Archivs an Kurzerzählungen: die programmatisch-didaktische Auseinandersetzung sozialer Werte innerhalb der Erzählform Fabel (Edelstein), das freie Spiel mit Argumentationstechniken und rhetorischen Diskursen über Gattungsgrenzen hinweg (Gesta Romanorum) und die planvolle Strukturierung und kontextuelle Einbindung von Kurzerzählungen in einen Horizont weiterer (Erzähl‐)Texte (Add. 24946).
IV.2 Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung IV.2.1 Einführung: Forschung und Überlieferung Ulrich Boner, in Bern ansässig und Mitglied des Dominikanerordens, greift für seine gegen 1340/1350 enstandene Fabelsammlung Edelstein im Wesentlichen auf die lateinischen Fabelbücher des Avian und des Anonymus Neveleti zurück,⁶⁸⁸ aus denen er 100 Kurzerzählungen auswählt, erweiternd übersetzt und mit Pro- und Epilog neu strukturiert. Über Boners sorgfältiges Auswählen und planvolles Zusammenstellen
Die genauen Angaben finden sich bei: Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 297– 319, mit Verweisen auf ältere Forschungsliteratur. Ergänzungen bei: Schlecht: Fabula in situ (Anm. 444). Vgl. zudem Wright, der auf lateinische Fabelkommentare als Vorlagen für Boner verweist: Wright: Hie lert uns der meister (Anm. 36). Dass sich an der Forschungsgeschichte des Edelstein selbst Paradigmen der germanistischen Forschung im 18. und 19. Jahrhundert symptomatisch spiegeln, hat Andreas Schaffry herausgearbeitet: Andreas Schaffry: Im Spannungsfeld zwischen Literaturkritik und philologischer Methode. Aspekte der Rezeption von Ulrich Boners Edelstein von Lessing bis Benecke. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 7 (1992/93), S. 405 – 433.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
seiner Fabeln besteht weitgehend Konsens in der Forschung, weiterhin unklar sind die Quellen einzelner Erzählungen und die Frage nach einem stringent durchgeführten poetischen Programm. Die Forschung sieht Boners Eigenleistung hier – neben der Übersetzung – in einer programmatischen Auswahl mehrerer Eingangsfabeln: Pround Epilog bilden gemeinsam mit den ersten vier und der letzten Fabel einen Rahmen, der Anfang und Ende der Sammlung markiert.⁶⁸⁹ In der Anordnung der exemplarischen Kurzerzählungen selbst falle die (nur in Teilen des Edelstein durchgeführte) Gruppierung von je zwei Fabeln auf, die beide das gleiche Thema verhandeln.⁶⁹⁰ Man hat weiterhin versucht, die thematische Ausrichtung des Edelstein sozialhistorisch zu verorten: Die häufige Betonung von ‚Freiheit‘ in den Fabeln, so Klaus Grubmüller, sei auf das politische Umfeld des Berner Stadtbürgers Boner zurückzuführen, das von Auseinandersetzungen zwischen Stadt und umliegendem Adel geprägt gewesen sei.⁶⁹¹ Boners deutsche Fabeln würden dabei den rhetorischen Gehalt ihrer lateinischen Vorgaben reduzieren und um zusätzliche narrative Details ergänzen⁶⁹² – eine These, die hier zur Disposition gestellt wird. Die im Edelstein überdurchschnittlich langen Epimythien würden darüber hinaus ein Variantenangebot unterschiedlicher Sentenzen vorstellen,⁶⁹³ die inhaltlich jedoch stets darauf verweisen, dass das Nützliche und Erfolgreiche auch das moralisch Richtige sei.⁶⁹⁴ Die hier nur skizzenhaft wiedergegebene Forschung wird im Folgenden mithilfe der in dieser Arbeit verfolgten Fragestellung um einige Punkte ergänzt. Kapitel IV.2.2 analysiert Struktur und Aufbau des Edelstein und liest damit Boners Fabel-Sammlung selbst als Kontext: Über einfache Komplementär- und Kontrastrelationen hinaus
Vgl. Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 304; Wiebke Freytag: Die Fabel als Allegorie. Zur poetologischen Begriffssprache der Fabeltheorie von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert. In: Mittellateinisches Jahrbuch 20 (1985), S. 66 – 102, hier S. 92– 96; für einen Vergleich mit anderen ‚Rahmungen‘ narrativer Texte vgl. Matthias Meyer: Whatʼs within a Frame. Observations on Framing in the German Medieval Tradition: Rudolf von Ems and Others. In: Barlaam und Josaphat. Neue Perspektiven auf ein europäisches Phänomen. Hrsg. von Constanza Cordoni, Matthias Meyer. Berlin [u. a.] 2015, S. 271– 289, zu Boner S. 280 – 284. Speziell zum Konnex zwischen erster Fabel und Prolog vgl. KochHäbel: Unverfügbares Sprechen (Anm. 283), S. 224– 232; Speckenbach: Die Fabel von der Fabel (Anm. 93), S. 196 – 198. Vgl. Susanne Reichlin: Semantik, Materialität und Prozessualität des Weiterschreibens beim ‚Schweizer Anonymus‘. In: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz, Susanne Köbele, Klaus Ridder. Berlin 2012 (Wolfram-Studien. 22), S. 437– 466, hier S. 450; Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 302 f. Vgl. ebd., S. 350 – 374. Vgl. ebd., S. 324. Vgl. dazu v. a. das Kapitel ‚Boners Fabeltyp: das Epimythion als Variantenangebot‘: Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 320 – 332; sowie Reichlin: Semantik, Materialität und Prozessualität des Weiterschreibens beim ‚Schweizer Anonymus‘ (Anm. 690), S. 452 f. Vgl. Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese (Anm. 61), S. 66.
IV.2 Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung
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scheinen die Fabeln des Edelstein isotopische Reihen auszubilden,⁶⁹⁵ in denen Kurzerzählungen – auch ohne direkt nebeneinander zu stehen – je ein spezifisches Thema aufgreifen und variieren. Deutlich gemacht wird dies an der Leitdifferenz ‚stark vs. schwach‘, die im Fabelkontext generell gehäuft auftritt und bei Boner in diversen exemplarischen Kurzerzählungen in unterschiedlichen Besetzungen und mit divergierenden Resultaten durchgespielt wird. Kapitel IV.2.3 geht dann näher auf den Status der Topik im Edelstein ein, wobei hier anhand eines inhaltlichen Topos (‚mit sehenden Augen blind sein‘) die programmatische Bandbreite topischer Argumentation aufgezeigt wird: ein einzelner Topos als Argument, als narratives Raster und als Selbstverweis auf das eigene Schreiben. Anschließend (Kapitel IV.2.4) wird abermals auf eine Leitdifferenz in Boners Text zurückgegriffen (natûre gegen Gewohnheit), an der exemplarisch Boners Positionierung innerhalb eines zentralen mittelalterlichen Diskurses dargestellt wird. Abschließend vervollständigt Kapitel IV.2.5 die Untersuchung durch eine Zusammenstellung signifikanter rhetorischer Techniken und Argumentationsmuster im Edelstein. Die schwierige Überlieferungssituation des Edelstein verlangt einige zusätzliche Bemerkungen. Die allgemein gültige und mangels Alternativen auch hier genutzte Edition Franz Pfeiffers gibt einen Maximalbestand an Fabeln wieder, der in den 36 überlieferten Handschriften des 15. Jahrhunderts (die älteste datierte EdelsteinHandschrift stammt aus dem Jahr 1411)⁶⁹⁶ eher Ausnahme denn Norm ist. Pfeiffer selbst hat den Bestand in drei Klassen (I, II, III) unterteilt,⁶⁹⁷ inzwischen hat die Forschung in weitere Subklassen differenziert: I/Ia, II/IIa, III.⁶⁹⁸ Klasse I gibt einen Maximalbestand an 100 Fabeln mit je zwei Überschriften und vollständigem Pround Epilog an (und entspricht damit der Pfeifferschen Edition), der in dieser Idealform jedoch nur in einer Handschrift überliefert ist.⁶⁹⁹ In den (zahlenmäßig größeren) Klassen II/IIa fehlt der Prolog, in Klasse III zusätzlich auch der Epilog.⁷⁰⁰ Beide Klassen überliefern zudem eine (im Einzelfall schwankende) geringere Zahl als die Der Begriff wird aus der ‚Strukturalen Semantik‘ Greimasʼ übernommen. Er beschreibt eine Wiederholung semantischer Merkmale, die so für Kohärenz sorgen und über Rekurrenzen innertextuelle Verbindungen anzeigen. Vgl. Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig 1971 (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie. 4), S. 60 – 92. Ehem. Straßburg, StB, Joh. Bibl. Ms. B 94 (1870 verbrannt). Die Datierung folgt den Angaben in der hier verwendeten Edition des Edelstein: Ulrich Boner: Der Edelstein (Anm. 93), S. 233. Vgl. ebd., S. 186 – 188. Für eine grundlegende Untersuchung vgl. Ulrike Bodemann, Gerd Dicke: Grundzüge einer Überlieferungs- und Textgeschichte von Boners Edelstein. In: Deutsche Handschriften 1100 – 1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von Volker Honemann, Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 424– 468; vgl. auch die neuere Arbeit von Schlecht, die in Einzeluntersuchungen den Gebrauchszusammenhang der Fabeln Boners in ausgewählten Handschriften untersucht hat: Schlecht: Fabula in situ (Anm. 444), S. 57– 120. Eben in jener oben zitierten verbrannten Straßburger Handschrift, vgl. Bodemann, Dicke: Grundzüge einer Überlieferungs- und Textgeschichte von Boners Edelstein (Anm. 698), S. 444. Vgl. die Übersicht bei: ebd., S. 446 – 449.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
programmatischen 100 Fabeln – Klasse III 84, IIa 86 und II 90 Fabeln. Auffällig ist zudem die geänderte Anordnung der ersten elf Fabeln in den Klassen II/IIa und III. Auf den Problembestand kann in diesem Rahmen nur hingewiesen werden. Ulrike Bodemann und Gerd Dicke gehen zurecht davon aus, dass die Annahme Pfeiffers, nur die (aus Pfeiffers Sicht) vollständigen Handschriften besäßen Relevanz, so nicht gehalten werden kann. Die Klassen II/IIa und III gehen wahrscheinlich nicht auf I zurück, sondern sind vor oder parallel zu dieser Klasse entstanden, womit auch die Möglichkeit der „Überführung einer noch lockeren […] Fabelsammlung in ein geschlossenes Autorœuvre“⁷⁰¹ im Raum steht. Die hier getroffene Entscheidung, weiter mit Pfeiffers Edition zu arbeiten, hat daher im Wesentlichen pragmatische Gründe – es bleibt auf die geplante Neu-Edition des Edelstein durch Gerd Dicke zu warten.
IV.2.2 Konzeption und Struktur des Edelstein Für die Genese narrativer Kurzformen scheinen im Mittelalter zwei Charakteristika von Bedeutung: Zum einen die Kompilation unterschiedlicher Kurzerzählungen nach systematischen Gesichtspunkten – wie etwa in lateinischen Exempelsammlungen, die nach Berufsgruppen oder alphabetisch geordnet werden können⁷⁰² –, zum anderen die umfassende Auslegung der Erzählungen anhand des religiösen Registers, d. h. der Allegorese, wie sie sich in vielen Gleichnissen und Fabeln des Strickers oder der Gesta Romanorum findet. Beides – Systematik wie Allegorese – ließe sich dem (vor allem in der romanistischen Literaturwissenschaft populären) Begriff der Moralphilosophie zuordnen, der als Bezeichnung eines normativ auf allgemeine Grundsätze verweisenden Regelsystems fungiert. Gegenpol der Moralphilosophie ist hingegen die Moralistik, die über den Einzelfall reflektiert und als deren Kulminationspunkt gemeinhin Montaignes Essais gelten.⁷⁰³ In Montaignes Texten, so Karlheinz Stierle, verliere die Kurzerzählung, das Exemplum, „seine stellvertretende Funktion“ und werde stattdessen „auf eine Geschichte zurückgeführt […], deren Sinn nicht mehr offenliegt, sondern Anlaß wird für die bloße subjektive und immer neu ansetzende Mutmaßung.“⁷⁰⁴
Ebd., S. 450. Vgl. etwa Arnolds von Lüttich Alphabetum narrationum und die Compilatio singularis exemplorum. Das Alphabetum narrationum wird im Folgenden zit. nach: Arnoldus Leodiensis (Arnold von Lüttich): Alphabetum narrationum. Hrsg. von Elisa Brilli. Turnhout 2015 (Corpus Christianorum. 160); die Compilatio singularis exemplorum wird im Folgenden zit. nach: Alfons Hilka: Neue Beiträge zur Erzählungsliteratur des Mittelalters (die Compilatio singularis exemplorum der Hs. Tours 468, ergänzt durch eine Schwesterhandschrift Bern 679). Breslau 1913. Vgl. dazu auch die Hinweise in Kapitel IV.1. Vgl. Stierle: Was heißt Moralistik? (Anm. 44); zu Montaigne vgl. auch Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 366 – 375; sowie Nichols: Example versus Historia (Anm. 1). Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 372.
IV.2 Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung
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Boners Edelstein, so die Arbeitshypothese, nimmt hier eine Zwischenstellung ein: Der Edelstein weist zwar Ansätze von Ordnungsstrukturen auf, doch sind diese weniger systematisch, denn topisch angelegt. Er marginalisiert gegenüber seinen Vorgängern aus dem Mittelalter normative Wertordnungen in seinen Erzählungen und Epimythien, führt aber auch nicht diejenigen pragmatischen Reflexionsverfahren an, die nach Hans Blumenberg konstitutiv für die anthropologische Moralistik sind.⁷⁰⁵ Es sind bei Boner vielmehr kleine Verschiebungen in kompositorischen, rhetorischen und poetischen Parametern, an denen Schwerpunktverlagerungen von der Logik allgemeiner Regeln zum Betonen des Einzelfalls oder zur Verbindung von sozialem Wissen und Erfahrungsregeln festgehalten werden können: Wirklichkeit, so könnte man es hypothetisch formulieren, steht bei Boner vor Idealität. Dieses Spannungsfeld von Regel und Einzelfall führt zurück zu der bereits eingangs genannten kompositorischen Technik Boners, ein bestimmtes Thema durch aufeinander folgende Kurzerzählungen unterschiedlich zu beleuchten. Neben längeren Reihen, in denen sich Boner an der Struktur seiner lateinischen Vorbilder Anonymus Neveleti und Avian orientiert⁷⁰⁶ (so entsprechen etwa die Erzählungen 5 – 41 im Edelstein den Fabeln 2– 37 des Anonymus Neveleti),⁷⁰⁷ integriert er auch einzelne Kurzerzählungen aus anderen Quellen in den Edelstein, um thematisch komplementäre Kleingruppen zu bilden. Die Forschung hat das früh erkannt,⁷⁰⁸ jedoch die Kriterien der Zusammenstellung noch nicht hinreichend analysiert. Im Folgenden soll daher auf einige generische wie thematische Äquivalenzen in der Struktur dieser Kleingruppen hingewiesen werden. Auf einer zunächst sehr basalen Ebene lässt sich festhalten, dass Boner in der Gruppierung verschiedener Kurzerzählungen abseits des großen Anonymus NeveletiBlocks Tendenzen zeigt, Fabeln und Gleichnisse idealtypisch zu trennen und zu homogenen Paaren zusammenzusetzen; dies wird vor allem im Avian-Teil des Edelstein, d. h. ab Erzählung Nr. 63, deutlich. So entspricht Boners Gleichnis Nr. 73 der Avian Vgl. Hans Blumenberg: Anthropologie: ihre Legitimität und Rationalität. In: Ders.: Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß hrsg. von Manfred Sommer. Berlin 2014 (stw. 2091), S. 478 – 549; zu Boners Ansätzen zur Reflexion vgl. auch Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 328. Interessanterweise bringt Boner an der Schnittstelle zwischen dem am Anonymus Neveleti orientierten und dem am Avian angelehnten Fabelteil zwei Quellenberufungen – was sich ansonsten im Edelstein nicht findet. In Boners letzter Fabel des Anonymus Neveleti-Teils (Nr. 62) heißt es im Epimythion: als der Ysôpus hât geseit (V. 87), im Promythion der folgenden Fabel, der ersten Avian-Fabel, dann: als man list in dem Âviân (Nr. 63, V. 2). Boner hat eine um eine Erzählung größere Zahl, da er aus Nr. 21 des Anonymus Neveleti zwei Erzählungen generiert. Der Anonymus Neveleti wird im Folgenden zit. nach: Lyoner Yzopet. Altfranzösische Übersetzung des XIII. Jahrhunderts in der Mundart der Franche-Comté mit dem kritischen Text des lateinischen Originals (sog. Anonymus Neveleti). Hrsg. von Wendelin Foerster. Heilbronn 1882 (Altfranzösische Bibliothek. 5). Vgl. Anton Schönbach: Zur kritik Boners. In: ZfdPh 6 (1875), S. 251– 290, hier S. 286 – 288 („Denn es ist solche gruppenbildung für alle übrigen fabeln des Bonerius charakteristisch“, ebd., S. 286); Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 302 f.; Reichlin: Semantik, Materialität und Prozessualität des Weiterschreibens beim ‚Schweizer Anonymus‘ (Anm. 690), S. 450.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Erzählung Nr. 9: Zwei Gefährten reisen gemeinsam, wobei ihnen ein Bär begegnet. Obwohl sich die beiden Gefährten treuen Zusammenhalt geschworen haben, flüchtet einer der beiden auf einen Baum und lässt seinen Freund zurück, dieser kann sich nur retten, indem er sich tot stellt. Boner ergänzt dies mit einer Erzählung, die sich nicht in der Avian-Sammlung findet, aber aus der Disciplina clericalis ⁷⁰⁹ und den Gesta Romanorum ⁷¹⁰ bekannt ist: Drei Gefährten reisen friedfertig zusammen, doch als ihnen der Proviant ausgeht, versuchen zwei von ihnen, den dritten mittels fingierter Träume um seinen Anteil zu betrügen.⁷¹¹ Der thematische Zusammenhang ist evident: Sozialer Zusammenhalt, d. h. Freundschaft, von Reisenden einerseits, der Chronotopos ‚Landstraße‘ als Rahmung andererseits.⁷¹² Auffallend ist aber auch die Kombination eines Gleichnisses mit einem weiteren: Die doppelte Perspektivierung eines Themas scheint auf der Erzählebene des gleichen Fiktionalitätsgehalts zu bedürfen.⁷¹³ Neben der Aneinanderreihung von fabula an fabula und argumentum an argumentum markiert Boner über die Titel der Kurzerzählungen deren thematische Verwandtschaft: ‚von offenunge des mordes‘ (Nr. 61) führt zu ‚von offenunge des rechtes‘ (Nr. 62),⁷¹⁴ ‚von zerstœrunge spottes‘ (Nr. 75) wird ergänzt mit ‚von schuldigem spotte‘ (Nr. 76). Unter rhetorischem Gesichtspunkt ist jedoch vor allem die Frage interessant, inwiefern die Kleingruppen an Erzählungen ihr gemeinsames Thema je unterschiedlich perspektivieren. Der Edelstein zeigt hier verschiedene Stufen an Komplexität, die von einfacher Variierung hin zur komplexen Reihung reichen können. So wird das Gleichnis von Vater, Sohn und Esel (Nr. 52, s.u.) um ein Gleichnis über einen gehäuteten Esel (Nr. 53) ergänzt. Während die erste Erzählung in der Aussage mündet, man könne es niemandem recht machen und der hinderrede (Nr. 52, V. 90) nicht entgehen, greift die zweite Erzählung dieses Thema zwar komplementär auf, formt es aber in einen Appell um: Obwohl man sich vor besagter hinderrede nicht schützen kann, soll man trotzdem ûfrecht (Nr. 53, V. 81) leben und so das Gerede gar nicht erst provozieren. Wird hier eine Aussage um eine moralischen Anrede ergänzt, spalten die zwei Gleichnisse 57 und 58 ein Thema in bonam und in malam partem auf.
Vgl. Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis (Anm. 473), Nr. 19. Vgl. Gesta Romanorum (Anm. 92), Nr. 106. Dieses Gleichnis wurde bereits in Kapitel III.3.3 ausführlicher behandelt. Zum Chronotopos ‚Landstraße‘ vgl. Bachtin: Chronotopos (Anm. 389), S. 180 – 183. Dieses Prinzip ist im Edelstein zwar nicht konsequent durchgeführt, aber dennoch markant. So unterbricht Boner auch nach der Fabel ‚Hund und Schelle‘ die Kette an Avian-Erzählungen und ergänzt sie mit einer thematisch verwandten Fabel aus anderer Quelle, vgl. Ulrich Boner: Der Edelstein (Anm. 93), Nr. 69, die Vorlage ist hier Avian: Fabulae (Anm. 124), Nr. 7. Ein Beispiel für die Kombination einer Fabel mit einem thematisch verwandten Gleichnis wäre etwa Nr. 86 (von der Vorlage: Avian: Fabulae [Anm. 124], Nr. 19) mit Nr. 87 (wahrscheinlich aus dem Alphabetum narrationum), oder die drei Erzählungen 24– 26 (ein historisches Exempel und zwei Fabeln, die alle Fragen der Herrschaft thematisieren). Diese Zusammenstellung entspricht der Reihenfolge des Anonymus Neveleti (Nr. 59 und 60 dort), der thematische Zusammenhang wird aber von Boner gegenüber seiner lateinischen Vorlage stärker herausgearbeitet.
IV.2 Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung
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In Nr. 57 benutzt eine Witwe die Leiche ihres verstorbenen Mannes, um ihrem neuen Liebhaber zu helfen, dem als Friedhofswächter eine Leiche gestohlen wurde; in Nr. 58 hingegen wird sozialer Druck auf drei Witwen ausgeübt, die wieder heiraten sollen, worauf alle drei in langen Reden darlegen, warum sie sich nach dem Tod des Ehepartners gegen neue Männer entscheiden. Die Frage, ob eine Witwe sich einen neuen Mann suchen soll, wird so über zwei kontrastive Varianten narrativ verhandelt, wobei die jeweiligen Figuren deutlich unterschiedliche axiologische Zuschreibungen erhalten: ein bœse[s] wîb[ ] einerseits (Nr. 57, V. 101), hôch an wirdekeit (Nr. 58, V. 5) andererseits. Boner zeigt, dass beide Entscheidungen prinzipiell möglich sind – eine genuin rhetorische Perspektive –, gibt über die markante Wertzuschreibung jedoch die Entscheidung für ein Leben als Witwe als die moralisch richtige Entscheidung vor. Zeigen die beiden Beispiele von Komplementär- und Kontrastrelationen noch relativ simple Variationsmöglichkeiten, verfährt Boner in den Kurzerzählungen 81, 82 und 83 deutlich komplexer. Die gemeinsame Thematik aus übermuot bzw. der Notwendigkeit zur Selbsterkenntnis fungiert hier als thematischer Rahmen: wer sich erkennet, daz ist guot (Nr. 81, V. 69) daz ieman welle erkennen sich / und sîne stimme (Nr. 82, V. 49 f.) und erkenne an mir selber wol, / daz ich nicht wider streben sol (Nr. 83, V. 29 f.)
Gegenüber den ersten Beispielen kombiniert Boner nicht nur drei anstatt zwei Erzählungen, er projiziert den diskursiven Gehalt auch in Narrationen unterschiedlicher Fiktionalitätsgrade, indem er Fragen der Selbsterkenntnis an Tieren, Menschen und Pflanzen durchspielt.⁷¹⁵ Die Fabel mit tierischen Figuren (Nr. 81) zeigt einen Pfau, der seine Schönheit vor dem Kranich preist, dann aber von diesem zurechtgewiesen wird, da der Kranich argumentiert, die Schönheit des Pfaus sei nur schädlich, da sie ihn zum begehrten Jagdobjekt mache, die unschönen Federn des Kranichs hingegen diesem das Wegfliegen erlauben. Das Gleichnis (Nr. 82) beschreibt einen pfaffen, der so von seiner Stimme eingenommen ist, dass er laut in der Messe singt; als daraufhin eine Frau zu weinen beginnt, glaubt der Geistliche, seine Stimme habe dies bewirkt, die Frau erklärt ihm aber, sein Gesang erinnere sie an ihren kürzlich verstorbenen Esel. Die Fabel mit Figuren aus der Pflanzenwelt (Nr. 83) erzählt von einer Eiche, die trotz ihrer Stärke vom Wind umgestoßen wird, woraufhin die Eiche sich gegenüber dem Schilfrohr wundert, warum sie trotz ihrer Kraft umgeworfen worden sei, das schwache Rohr aber noch stehe; dieses erklärt, dass gerade sein kleines und flexibles Wachstum es gerettet habe.⁷¹⁶ Nr. 81 entspricht Avian: Fabulae (Anm. 124), Nr. 15; Nr. 83 entspricht Avian: Fabulae (Anm. 124), Nr. 16. Zwischen beide Fabeln setzt Boner ein Gleichnis (Nr. 82), das sich sowohl bei Jacques de Vitry wie im Alphabetum narrationum des Arnold von Lüttich findet, vgl. Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 316. Die Fabel wird seit der Antike breit rezipiert, vgl. Äsop: Fabeln (Anm. 335), Nr. 70; Avian: Fabulae (Anm. 124), Nr. 16 (Boners Vorlage); zur Stofftradition vgl. Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 87– 90 (Nr. 81).
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Die drei Erzählungen gruppieren somit unter das Oberthema je oppositionelle Werte, die die Rahmengebung der ‚Selbsterkenntnis‘ unterschiedlich akzentuieren: Schönheit gegen Nützlichkeit, Überheblichkeit gegen Bescheidenheit, Härte gegen Biegsamkeit. Diese binären Gegensätze werden auch argumentativ unterschiedlich verhandelt. Während die erste Erzählung einen Austausch von Argument und Gegenargument inszeniert und damit genuin rhetorisch verfährt (vgl. den aristotelischen Topos, Beschuldigungen gegen den Ankläger selbst zu wenden, mithin dessen Argumentation ‚umzudrehen‘⁷¹⁷), bedient sich die zweite Erzählung der entlarvenden Komik des Witzes, die dritte hingegen besteht aus einer rein narrativen Entfaltung natürlicher Bedingungen als Demonstrationsfolie. Die Kombination aus unterschiedlichen Aktanten und Kontrastierungen resultiert dabei aus verschiedenen Perspektiven auf den Gegenstand: Es wird deutlich gemacht, dass jede der drei Erzählungen (also jeder Einzelfall) ein je eigenes Verständnis von Selbsterkenntnis in Szene setzt. Die Notwendigkeit zu dieser wird zwar durchweg betont, doch lässt sie sich nicht systematisch herleiten, sondern bleibt einer situativen Argumentation unterworfen:⁷¹⁸ Überhebliche Schönheit lässt sich per Verweis auf Funktionalität zur Einsicht zwingen, die schiefe Singstimme hingegen durch ihre Ähnlichkeit zum Blöken des Esels usw. Aus jedem Einzelfall lässt sich eine eigene Regel mittlerer Reichweite bilden, die alle erst in Bezug aufeinander die Vielfältigkeit des Themas ‚Notwendigkeit der Selbsterkenntnis‘ akzentuieren und vervollständigen. Während die thematische Angleichung bei den drei vorgestellten Erzählungen durch ihre direkt aufeinanderfolgende Reihung besonders betont wird, finden sich ebenso Kurzerzählungen, die in der Sammlung zwar weit voneinander entfernt stehen, aber dennoch vergleichbare Themen perspektivieren. Der Edelstein scheint als Sammlung so auf diverse Leitdifferenzen zurückzugreifen, die Querverbindungen zwischen verschiedenen Kurzerzählungen anzeigen, ohne dass diese Kurzerzählungen direkt in der Sammlung miteinander kombiniert werden – ebendiese Wiederholung von Semantiken wurde eingangs als ‚isotopische Reihung‘ bezeichnet. Deutlich gemacht wird dies hier an der Relation von ‚stark-schwach‘. Schon die drei gerade vorgestellten exemplarischen Kurzerzählungen inszenieren ein mögliches Kombinationsmuster in der Relation ‚stark-schwach‘: Die vermeintlich stärkere Position wird zur schwächeren gemacht. Ebenso bringt Boner aber Fabeln, in denen die schwächere Position zur Stärkeren gemacht wird – und die damit den immer wieder an die Rhetorik herangetragenen Vorwurf, sie ziele auf gesellschaftliche Umkehrung, zu bestätigen scheinen.⁷¹⁹ In einer
„Ein weiterer (Topos ergibt sich) daraus, dass man das über einen selbst Gesagte gegen den wendet, der es sagte“, Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 23 (1398a 3 – 4). Vgl. zu einem derartigen situationsbezogenen Praxiswissen abermals die Arbeiten Hübners: Hübner: Tugend und Habitus (Anm. 14), S. 137; Hübner: Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen (Anm. 14), S. 181. Vgl. Manfred Kienpointner: Art. Rhetorica contra Rhetoricam. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7. Hrsg. von Gert Ueding. Darmstadt 2005, Sp. 1395 – 1407.
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antiken äsopischen Fabel erblickt ein hungriger Habicht eine singende Nachtigall, die er ergreift, um sie zu töten. Die gefangene Nachtigall argumentiert daraufhin, sie sei viel zu klein, um den Hunger des Raubvogels zu stillen, er solle stattdessen einen größeren Vogel reißen. Der Habicht jedoch entgegnet, er sei zufrieden mit dem, was er in seiner Hand habe, und wolle dies nicht für einen weiteren, möglicherweise erfolglosen Jagdversuch opfern.⁷²⁰ Gegenüber der antiken Erzählung, die auf eine Common-Sense-Regel zielt, dabei aber ihre Stark-Schwach-Axiologie konstant hält, finden sich bei Boner ähnliche Fabeln, die diese narrativen Parameter jedoch verschieben, wie etwa Nr. 54:⁷²¹ Eine Nachtigall singt vor ihrem Nest. Ein Sperber fliegt hinzu und bedroht sie – wenn sie aber schön genug singe, werde er sie und ihre Kinder leben lassen. Obwohl die Nachtigall daraufhin wunderbar singt, zerreißt der Sperber die Vogelkinder vor ihren Augen. Kurz drauf wird der Sperber jedoch selbst gefangen und getötet. Von einer gefangenen Nachtigall erzählt auch Fabel Nr. 92: Ein Jäger ergreift eine Nachtigall, diese spricht jedoch zu ihm und argumentiert, er werde nicht satt von ihr werden. Stattdessen gibt sie ihm drei Lehren: Der Jäger solle nicht Unglaubliches glauben, er solle nicht jammern über Dinge, die für immer verloren sind, und drittens solle er nicht das begehren, was ihm nicht zusteht. Der Jäger lässt die Nachtigall fliegen, woraufhin diese (fälschlicherweise) angibt, dass in ihrem Magen ein Edelstein sei, der alle Gifte heile. Der Jäger ärgert sich, dass er den Vogel hat fliegen lassen, bis die Nachtigall ihm erklärt, dass er seine Lehren noch nicht verinnerlicht habe: Er hätte die Lüge über den Stein nicht glauben und sich außerdem nicht nach Dingen sehnen sollen, die für immer fort seien.⁷²² Die Erzählungen projizieren bekannte Oppositionen (stark vs. schwach) in je neue pragmatische Situationen, deren Resultat keiner festen Regel unterliegt, sondern offen ist: Die schwächere Position kann gegenüber der stärkeren Position triumphieren. Es ist hier der Kontext innerhalb der Erzählung selbst, der über ihren Ausgang bestimmt und ihre axiologische Setzung determiniert. Eine derartig offene axiologische Dynamik aber ist Thema der Moralistik, nicht der systematischen Moralphilosophie, da sie über Kalküle argumentiert: Welche Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, ist situationsspezifisch je neu zu berechnen. Die so geschaffenen Bindungen zwischen den Erzählungen folgen dabei zwar aufeinander, aber nicht logisch auseinander. Boner formt seine Fabeln nicht zu einer einzigen großen Metaerzählung, sondern propagiert eine lockere, topische Ordnungsform, die sich an inhaltlichen Ähnlich-
Vgl. Äsop: Fabeln (Anm. 335), Nr. 4. Vorlage für Boners Version ist die Fabel: Anonymus Neveleti (Anm. 707), Nr. 45. Die Fabel (von der Forschung als ‚Des Vögleins Lehren‘ bezeichnet) ist weit verbreitet und wurde im Mittelalter breit rezipiert, sie findet sich u. a. in: Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis (Anm. 473), Nr. 22; Jacques de Vitry: Exempel, Nr. 28; Gesta Romanorum (Anm. 92), Nr. 167. Die Exempel von Jacques de Vitry werden hier und im Folgenden zit. nach: The exempla or illustrative Stories from the Sermones vulgares of Jacques de Vitry. Ed. with Introd., Analysis, and Notes by Thomas Frederick Crane. London 1890. Zur Stofftradition vgl. Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 652– 658 (Nr. 570).
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keiten orientiert. Topik, so formuliert es Wilhelm Schmidt-Biggemann, richtet sich nicht auf ein „metaphysisches Erkenntnisinteresse, sie geht nicht auf Naturerkenntnis aus, sondern auf die Benutzung und Verarbeitung eines Wissens, eines Arguments, eines Sprichworts, eines Bildes.“⁷²³ Rückgreifend auf die einführenden Überlegungen zum rhetorischen Status einer Erzählsammlung (vgl. Kapitel IV.1) können in der Struktur des Edelstein somit sowohl Elemente der Kombination wie der Selektion (Ersetzung) identifiziert werden. Im direkten Nebeneinanderstellen (d. h. der Kombination) von zwei oder drei exemplarischen Kurzerzählungen zu einem Thema bildet der Edelstein einen situativen Kontext, in dem ein Thema kontrastiv oder komplementär verhandelt wird. Gleichzeitig aber – und dies wird in der isotopischen Reihung besonders deutlich – lassen sich verschiedene Leitdifferenzen in der Sammlung identifizieren, deren Wertzuschreibungen je durch verschiedene Figuren besetzt werden können: ‚stark vs. schwach‘ als ‚Sperber vs. Nachtigall‘, als ‚Jäger vs. Nachtigall‘, oder gar als ‚Löwe gegen Maus‘, wie in Fabel Nr. 21, in der ein Löwe eine Maus fängt, diese aber wieder freilässt – woraufhin die Maus den Löwen später aus einer Falle befreit. Im Rückgriff auf Jakobson kann dies als Selektion bzw. Substitution bestimmt werden – metaphorisch werden verschiedene Tiere für den Wert ‚stark‘ oder ‚schwach‘ eingesetzt.⁷²⁴ Kontextbildung erweitert sich damit über die je benachbarte Erzählung hinweg: Die einzelne exemplarische Kurzerzählung behauptet ihren Status erst im Kontext der gesamten Sammlung, die über Querverweise, Reihenbildung und Merkmalswiederholung ein Reservoir unterschiedlich argumentierender, aber miteinander verbundener exemplarischer Kurzerzählungen kreiert. Den Edelstein prägen somit verschiedene Ordnungsebenen: Wie in der Einführung dargelegt, hat die Forschung bereits darauf verwiesen, dass Pro- und Epilog die Sammlung in eine erste Ordnung fassen, einen Rahmen, der in erster Linie der Angabe von paratextuellen Merkmalen dient (Verfasser, Widmung, Titel des Edelstein usw.). Verbunden mit Pro- und Epilog sind die ersten vier Eingangsfabeln wie auch die letzte Fabel, die durch semantisch-topische Eigenschaften Hinweise auf ihre metapoetische Funktion geben (siehe das folgende Kapitel). Darüber hinaus scheint die Sammlung durch eine topische Ordnung geprägt zu sein, in der die exemplarischen Kurzerzählungen durch thematische Äquivalenzen zueinander in Beziehung treten und so eine zweite Ordnung markieren, die zwar weniger deutlich bestimmte Eckpunkte besetzt (wie Anfang und Ende), aber dafür einen Kontext bildet, in dem die einzelnen Kurzerzählungen funktional aufgeladen werden. Boners Edelstein ist damit weniger als starres Regelsystem denn als flexibles Reservoir rhetorischer Argumentation angelegt. Dies spiegelt sich letztlich auch in Boners Auswahl an Kurzerzählungen, kann der Edelstein doch keineswegs als ‚reine‘ Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983 (Paradeigmata. 1), S. XVII. Vgl. Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik (Anm. 8), S. 165 – 168.
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Fabelsammlung betrachtet werden: Nur gut zwei Drittel der Kurzerzählungen lassen sich als Fabeln klassifizieren. Nach eigener Zählung stehen 70 Fabeln 27 Gleichnisse, zwei historische Exempel und eine Gleichnisrede gegenüber.⁷²⁵ Während sich vereinzelte Gleichnisse bereits in den Vorlagen, d. h. bei Avian und beim Anonymus Neveleti, finden lassen, fällt zum Ende des Edelstein ein deutliches Hinzufügen von Gleichnissen aus anderen Quellen auf. Gerade die letzten sechs Kurzerzählungen bieten überhaupt keine Fabeln mehr und finden sich dementsprechend auch nicht bei Avian und dem Anonymus Neveleti.⁷²⁶ Hier verdeutlicht sich nicht nur Boners Anspruch, der Pluralität der Lebenswelt ein möglichst breites Spektrum an Einzelfällen gegenüberzustellen (die letzten sieben Kurzerzählungen decken Themen ab, die Fabeln kaum verhandeln, wie schwarze Magie oder die kirchliche Ämterlaufbahn), sondern auch die Universalität rhetorischer Argumentation: Für die Überzeugungsleistung ist es nicht wichtig, auf welche der drei genera narrationis (fabula, argumentum, historia) sie zurückgreift. Mit diesem weiten Blick stellt sich Boner einem generellen Problem in der Vermittlung von Erfahrungswissen: Er muss einerseits zeigen, dass das Befolgen positiv konnotierter Werte Erfolg hat. Andererseits muss er aber auch zeigen, wie das Verkörpern negativer Werte gleichfalls zum Erfolg führen kann, um vor diesem Weg zu warnen.⁷²⁷ Die Narrationen zeigen die Kontingenz der Welt auf, in der beide Wege zum Erfolg führen können, womit sie auf die moralisch-wertenden Vorgaben der Epimythien angewiesen sind, um moralische Normen zu etablieren. Dies lässt sich nicht logisch, d. h. induktiv lösen, sondern über die Rhetorik, die nur des Einzelfalls bedarf, um daraus eine Lehre zu bilden. Das Wahrscheinliche, so beschreibt es schon Roland Barthes, lässt auch das Gegenteilige zu: „innerhalb der menschlichen Erfahrung […] ist das Gegenteil nie unmöglich.“⁷²⁸
IV.2.3 Topik im Edelstein Reservoir des Erfahrungswissens ist aber die Topik. Die neuere Topos-Forschung hat überzeugend gezeigt, dass der rhetorische Gehalt eines Topos sich nicht auf das konventionelle Anführen einer anerkannten Meinung oder Formel beschränkt, son Die beiden Erzählungen 24 und 97 werden hier als historische Exempel verstanden, da sie sich im Gegensatz zu den Gleichnissen räumlich verorten bzw. auf historische Figuren verweisen. Beide bleiben aber Grenzfälle – so weisen sie etwa keine (für das historische Exempel typische) zeitliche Einordnung auf. Die Erzählung Nr. 4 wird hier, wie schon in Kapitel II.3.2 angemerkt, als Gleichnisrede verstanden, da ihr narrativer Anteil stark beschränkt ist und sie vor allem eine descriptio liefert. Zu den Quellen vgl. Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 317– 319. Allerdings enthalten auch die Fabelsammlungen des Avian und des Anonymus Neveleti nicht ausschließlich ‚klassische‘ Fabeln. Vgl. etwa die Fabel Nr. 5, in der der Wolf sich gegen das argumentierende Schaf mit Gewalt durchsetzt, oder die Fabel Nr. 12: Die schwangere Hündin schleicht sich mittels falscher Worte in die Hütte eines anderen Hundes ein und vertreibt diesen. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 64 f.
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dern vielfältige argumentative Techniken annehmen kann: der Topos als Möglichkeit von Schlussfolgerungen jenseits des Wahrheitsparadigmas der Logik einerseits,⁷²⁹ aber auch als strukturbildende poetische Form andererseits.⁷³⁰ Schon im Einleitungskapitel zum Sammlungs-Abschnitt (IV.1) wurde auf Roland Barthes verwiesen, der diese Bandbreite durch drei Funktionsbereiche des Topos markiert hat: der Topos als Archiv, als Struktur und als Argument.⁷³¹ Barthes gesteht dem Topos damit neben dem – durch Curtius hinlänglich bekannten⁷³² – inhaltlichen Gehalt auch strukturelle und funktionale Eigenschaften zu. Der erweiterte Blick auf das Funktionsspektrum verwischt dabei naturgemäß klare Gattungsbegrenzungen: Sentenz und Sprichwort lassen sich ebenso als Topoi verstehen wie die von Aristoteles angeführten Argumentationstechniken (‚Mehr oder Minder‘).⁷³³ Ein breiter Topos-Begriff kann somit sowohl an allgemein akzeptierten Inhalten (z. B. ‚der Stärkste bekommt die Schönste‘) festgemacht werden wie auch als formales – inhaltlich leeres – Raster, das je nach Kontext unterschiedlich gefüllt werden kann (z. B. der Topos des ‚konträren Gegensatzes‘, der locus ex contrariis).⁷³⁴ Boner bedient sich zahlreicher inhaltlicher Topoi, die bereits im Prolog anklingen, um dann in den Narrationen entfaltet zu werden oder in den Epimythien als Sentenz persuasiven Stellenwert zu besetzen. Deutlich wird dies etwa am Topos ‚mit sehenden Augen blind sein‘.⁷³⁵ Schon der biblische Ursprung zeigt komplexe Verwendungsmöglichkeiten: im alttestamentlichen Gebrauch als pejorative Charakterisierung abweichender Glaubenssysteme,⁷³⁶ im Neuen Testament dann in Bezug auf das Erzählen von Gleichnissen gesetzt.⁷³⁷ Jesus gibt im Matthäus-Evangelium das Gleichnis vom Sämann wieder „Und die Jünger traten hinzu und sprachen zu ihm: Warum redest du zu ihnen in Gleichnissen? Er antwortete und sprach zu ihnen: Euch istʼs gegeben, zu wissen die Geheimnisse des Himmelreichs, diesen aber istʼs nicht gegeben. Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe;
Vgl. Friedrich: Topik und Rhetorik (Anm. 10), S. 91 f.; Hallacker, Schmidt-Biggemann: Topik (Anm. 10), S. 15 – 18. Für eine auf den Konnex ‚Topik-Poetik‘ ausgerichtete Analyse vgl. Scheuer: Hermeneutik der Intransparenz (Anm. 280). Vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 67– 70. Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948. Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 23 (1397b 12– 18). Vgl. Cicero: Topica (Anm. 290), XI.47: Deinceps locus est, qui a contrario dicitur (‚Hierauf folgt der Argumentationstypus, der ,vom Gegensatz her‘ [e contrario] heißt.‘). Also etwa: ‚Wenn Krieg Chaos bringt, bringt Frieden Ordnung‘, oder: ‚Wenn der Tag Freude bringt, bringt die Nacht Unheil‘ usw. Vgl. dazu auch Kapitel III.2.3. Vgl. dazu Gudrun Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter. Bd. 1. München 1985 (Münstersche Mittelalter-Schriften. 35), S. 535 – 538, die auch auf Boner verweist; allgemein zum Topos vgl. Scheuer: Hermeneutik der Intransparenz (Anm. 280); sowie die vielen lateinischen und volkssprachigen Belegstellen in: TPMA. Bd. 2, S. 35 f. Vgl. Ps 113 nach Vulgata-Zählung u. ö. Vgl. Scheuer: Hermeneutik der Intransparenz (Anm. 280), S. 337– 341.
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wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat. Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht […].“ (Mt 13,10 – 13)
Hans Jürgen Scheuer hat gezeigt, dass dieses Oxymoron der caeca speculatio bereits in Hartmanns von Aue Iwein als „Reflexionsfolie des eigenen Verfahrens“⁷³⁸ poetischen Spielraum findet. Ulrich Boner greift weniger elaboriert, jedoch variantenreicher auf das Oxymoron zurück, das er zur Sentenz mit Rätselstruktur ausbaut und als Topos mehrfach einsetzt. Zentrale Rolle spielt dabei die für exemplarische Kurzerzählungen generell konstitutive Differenz zwischen Oberfläche und Tiefe, zwischen wörtlichem und metaphorischem Sinn, die Boner im Prolog kommentiert als: wer niht erkennet wol den stein / und sîne kraft, des nutz ist klein. / wer oben hin die bîschaft sicht / und inwendig erkennet nicht, / vil kleinen nutz er dâ von hât, / als wol hie nâch geschriben stât. (Prolog, V. 69 – 74)
Sehen, Erkenntnis und Nutzen (utilitas) bringt Boner in direkte Relation und verweist gleichzeitig auf die folgenden Erzählungen wie auch selbstreflexiv (stein) auf den eigenen Text. Elementar scheint vor allem ein Blick, der die unter der Oberfläche verborgene sapientia aufdecken kann. Bereits Petrus Alfonsi betont in der Disciplina clericalis, dass si quis tamen hoc opusculum humano et exteriori oculo percurrerit et quid in eo quod humana parum cauit natura uiderit, subtiliori oculo iterum et iterum relegere moneo […].⁷³⁹ Diese Form des Wieder-Lesens ist Boners Erzählungen inhärent, greifen sie doch immer wieder auf die gleichen Topoi zurück, so dass bereits die einmalige Lektüre zur Re-Lektüre wird. Schon die erste Fabel ‚Hahn und Edelstein‘ steht mit dem Prolog in direktem Zusammenhang⁷⁴⁰ und macht deutlich, dass sie stärker auf ein allgemeines Thema denn auf den Einzelfall zielt: daz selb dik mê beschehen ist: / er [= der Hahn, M.S-D.] suochte sîne spîse, / sam tuot ouch noch der wîse. (Nr. 1, V. 4– 6). Wo der Prolog den Topos nur implizit anspricht, greifen hier Handlungsverlauf wie auch der vom Hahn verschmähte Edelstein explizit den Topos der ‚nicht sehenden Augen‘ auf: si [= die tôren, M.S-D.] erkennent nicht des steines kraft, / noch minr, waz in der bîschaft / verborgen guoter sinnen ist, / […] gesehende sint die narren blint. (Nr. 1, V. 35 – 40). Der
Ebd., S. 339. Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis (Anm. 473), Prologus (‚Wenn freilich dennoch jemand dieses Werk mit allzumenschlichem und allzu oberflächlichem Blick durchgeblättert und etwas darin entdeckt hat, wovor sich die menschliche Natur zu wenig in acht genommen hat, so bitte ich ihn, mit feinerem Auge mehrmals zu lesen […].‘, Petrus Alfonsi: Die Kunst, vernünftig zu leben. Disciplina clericalis. Dargestellt und aus dem Lateinischen übertr. von Eberhard Hermes. Zürich [u. a.] 1970 [Die Bibliothek des Morgenlandes. 8], S. 139). Speckenbach hat gezeigt, dass die Fabel ‚Hahn und Edelstein‘ in Fabelsammlungen des Mittelalters häufig als Eingangsfabel programmatischen Stellenwert erhält: Speckenbach: Die Fabel von der Fabel (Anm. 93), hier S. 196 – 198 zu Boners Version; zu der Fabel Boners vgl. auch Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 307 f.
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Topos wird somit sowohl in der Fabel als Erzählung entfaltet (der Hahn sieht bzw. erkennt nicht den wahren Nutzen des Edelsteins), wie auch im Epimythion als erfahrungsgestützte Sentenz argumentativ herangezogen. Gleichzeitig legitimiert Boner über eine Anlehnung an das christliche Modell seinen eigenen Erzählhorizont, denn der vom Hahn verschmähte Stein ist natürlich der Text selbst, den Boner nur wenige Verse zuvor im Prolog als edelstein (Prolog, V. 64) bezeichnet. Analog zum MatthäusEvangelium zieht Boner den Topos als Grundlage für das Erzählen von bîschaft heran. Das Programm des Edelstein erweist sich als eines der Enthüllung und Offenbarung: Nicht das Formulieren von Moralvorstellungen ist das primäre Ziel der Fabel, sondern das Aufdecken der conditio humana, anstatt moralischen Wissens eine Lebensweisheit, die metaphorisch durch die tierischen Aktanten verhandelt wird.⁷⁴¹ Wiederaufgenommen und neu perspektiviert wird der Konnex Finden-Erkennen in der 38. Erzählung: Ein Wolf findet das Bild eines Menschen. Das Bild ist schön anzusehen und der Wolf nähert sich mit dem Glauben, es handele sich um einen tatsächlichen Menschen – muss dann aber feststellen, dass es zwar Augen hat, aber nicht sieht, einen Mund, aber nicht spricht usw. Der Wolf kommentiert: ich wæne, daz / der sêl gezierde stüende baz / denn dem lîb, des ougen blint / und ôren âne gehœrde sint. (Nr. 38, V. 27– 30). Das Epimythion führt die Leib/Seele-Dichotomie weiter, wobei auch der Topos der nicht sehenden Augen abermals angeführt wird: ir oug gesehende nicht gesicht (Nr. 38, V. 43). Gegenüber ‚Hahn und Edelstein‘ verschiebt sich damit die Werteordnung: Nicht mehr dem findenden Tier fehlt die Erkenntnisfähigkeit, sondern dem gefundenen Ding selbst. Das Schein/Sein-Problem wird wieder aufgegriffen, jedoch weniger metapoetisch als in einer religiös geprägten Hermeneutik verortet. Dies verdeutlicht sich auch mit Blick auf die Erzählüberlieferung. Phaedrus erzählt knapp in vier Versen, wie ein Fuchs das schöne, aber ‚tote‘ Bild eines Menschen findet, was durch das Epimythion ergänzt wird, Fortuna gebe manchen Ehre, ohne dass diese sensus communis besäßen.⁷⁴² Der Anonymus Neveleti (Boners Vorlage) fasst die Fabel ähnlich knapp, kennt aber bereits den Wolf als Figur wie auch das Leib/ Seele-Problem.⁷⁴³ Dass es ausgerechnet ein Wolf ist, der die nutzlose Funktion des Körpers gegenüber der Seele anprangert, verwundert und gibt der Fallhöhe zwischen dem auf das Weltliche ausgerichteten, aber ‚nicht-sehenden‘ Körper und seiner ‚weiter-sehenden‘ Seele eine besondere Brisanz. Bei Boner wird der Bezug zum Prolog und zur ersten Fabel nicht zuletzt durch die Wiederaufnahme des Topos deutlich gemacht, der in der Fabel von ‚Wolf und Bild‘ mehrfach als Argument eingesetzt wird, um die Leistung der Seele zu verdeutlichen.
So auch die grundlegenden Überlegungen bei: Harald Weinrich: Wenn ihr die Fabel vertreibt. In: Information und Imagination. Vorträge von Carl Friedrich von Weizsäcker, Golo Mann, Harald Weinrich, Thomas Sieverts und Leszek Kolakowski. Hrsg. von Golo Mann, Carl Friedrich von Weizsäcker, Harald Weinrich. München 1973 (Serie Piper. 75), S. 61– 83. Vgl. Phaedrus: Liber fabularum (Anm. 375), I, 7. Vgl. Anonymus Neveleti (Anm. 707), Nr. 34.
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Boner greift den Topos fast genau in der Mitte des Edelstein, in der 52. Erzählung (‚Von einem man und sînem sune und einem esel‘), wieder auf: Ein Vater und sein Sohn sind unterwegs zum Markt, der Vater reitet auf einem Esel. Dies kritisieren ihnen begegnende Menschen, so dass sich stattdessen der Sohn auf den Esel setzt – was wiederum Abneigung hervorruft. Die beiden probieren daraufhin erfolglos unterschiedliche Positionen durch: Beide reiten, niemand reitet, bis sie am Ende den Esel selbst tragen. Das Gleichnis führt verschiedene Erzählkalküle vor, die Familienmodelle (Vater oder Sohn), Handlungspragmatik und Rhetorik kollidieren lassen und letztlich auf die Vielfältigkeit des Common Sense zielen: Egal in welcher Konstellation geritten wird, es lässt sich immer ein Argument dagegen bilden – reitet der Vater, sollte er sein Kind schonen und es auf den Esel lassen, reitet der Sohn, dann zeigt er keinen Respekt vor dem Alter usw. Dass der Rezipient dazu eine Beobachterposition zweiter Ordnung einnimmt (die Leute am Wegesrand beobachten die Reiter, wir beobachten die ganze Szene), zeigt, dass es auch hier weniger um Moralphilosophie denn um Verstehensprozesse geht.⁷⁴⁴ So kommentiert Boner: gesehent ist vil liuten blint, / der herzen alsô giftig sint, / waz si hœrent oder sehent, / daz si dar zuo daz bœste jehent. (Nr. 52, V. 97– 100). Der Topos avanciert zum Axiom einer Hermeneutik, die die Grundoperationen ‚Sehen‘ und ‚Verstehen‘ abermals mit Oberfläche und Tiefe in Relation bringt. Boners letzte, 100., Kurzerzählung verweist wiederum auf eine metapoetische Ebene: Ein als Kaufmann auftretender Geistlicher bietet auf einem Markt ‚Weisheit‘ zum Verkauf an. Ein König gibt ihm viel Geld und bekommt dafür den Rat, immer auf das Ende seiner Werke zu schauen.⁷⁴⁵ Der König lässt den Spruch über seiner Tür anbringen. Feinde des Königs planen ein Mordattentat und schicken einen Barbier zum König, der ihn beim Scheren töten soll. Als der Barbier jedoch die Botschaft über der Tür liest, bricht er den Plan ab. Die zugrundeliegende Thematik aus Sehen und Erkenntnis greift das Epimythion wieder auf: Wer daz ende an sehen kan / sînr werken,
Auch Scheuer verweist auf die Parallelen, vgl. Scheuer: Eselexegesen (Anm. 574), S. 50. Scheuer sieht in diesem Gleichnis generell die Möglichkeit einer Inversion der Beobachterperspektive. Tatsächlich wird Boners Version der Komplexität der Erzählung kaum gerecht: Das Moment der Selbsterkenntnis, das im paradoxen Tragen des Esels enthalten ist, klammert Boner weitestgehend aus. Vgl. dazu auch die Analyse der Version des Gleichnisses in Konrads von Ammenhausen Schachzabelbuch in Kapitel III.2.4. Eine deutliche Anlehnung an Sir 7,40 (in omnibus operibus tuis memorare novissima tua et in aeternum non peccabis, ‚Was du auch tust, bedenke das Ende, so wirst du nicht sündigen in Ewigkeit.‘). Vgl. dazu und zu Boners Erzählung auch: Reichlin: Semantik, Materialität und Prozessualität des Weiterschreibens beim ‚Schweizer Anonymus‘ (Anm. 690), S. 457– 462; Kattrin Schlecht: Das ich ouch bischaft mach. Lesevorgänge und gedankliche Interferenzen am Beispiel des ‚Schweizer Anonymus‘. In: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz. Zürich 2010 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. 11), S. 315 – 332, hier S. 329 f. Vgl. zur Stofftradition der Erzählung auch das Kapitel IV.3.3.2; sowie Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 319.
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der ist ein wîser man. / wer an daz ende sehen wil, / der kumt nicht ûf des riuwen zil. (Nr. 100, V. 89 – 92). Zum Ende seines Buches formt Boner den Topos (der hier zwar nicht explizit, aber mittelbar verhandelt wird) nicht in eine weitere Geschichte verfehlter Erkenntnis, sondern zeigt, wie Sehen, Verstehen und Handlungswissen idealtypisch in Beziehung zueinander stehen. Die Technik, vom Anfang an das Ende im Blick zu haben, lässt sich aber auch metapoetisch lesen, ist Boner mit der 100. Erzählung doch auch am Ende seines Textes angelangt. Die neuralgischen Punkte Anfang, Mitte und Ende des Edelstein, an denen Boner auf den Topos zurückgreift, verdeutlichen somit nicht nur die Relevanz spezifischer Topoi oder Sentenzen, die Boner mal als Argument anführt, mal als Erzählung entfaltet, sie zeigen auch die Wandlungskraft einer einzigen Aussage: Als Reflexion über das eigene Erzählen zu Anfang des Edelstein, als ausgeformte Narration von Erzählkalkülen zur Mitte und als Exempel einer mustergültigen Erkenntnis zum Ende des Textes. Gleichzeitig bindet Boner den Topos in unterschiedliche Kontexte ein: poetisch-reflexiv verstanden in der Fabel von ‚Hahn und Edelstein‘, religiös in ‚Wolf und Menschenbild‘, bezogen auf Gesellschaft und soziale Kritik im Gleichnis vom getragenen Esel und abermals metapoetisch in der letzten Erzählung der Sammlung. Analog zu den isotopischen Reihen, die sich an verschiedenen Leitdifferenzen orientieren, scheinen es damit auch bestimmte Topoi zu sein, die innerhalb der Sammlung einen kohärenten Zusammenhang bilden und als Reservoir verschiedener argumentativer und narrativer Anwendungsmöglichkeiten fungieren. Es ließen sich etliche weitere Sentenzen und Topoi anführen, die Boner in ähnlicher Form im Edelstein aufgreift. Exemplarisch soll hier jedoch nur auf den Topos ‚Erfolg wird nur durch harte Mühsal erreicht‘ verwiesen werden, der analog zu ‚mit sehenden Augen blind sein‘ im Edelstein einen programmatischen Stellenwert beansprucht und mit diesem in engem Zusammenhang steht. Boner führt den Topos diesmal nicht im Prolog, sondern durch die zweite Fabel (also narrativ anstatt diskursiv) ein: Ein Affe findet Nüsse, lässt sich aber von deren harter Schale abschrecken und gelangt nicht zum süßen Inneren⁷⁴⁶ – wo die erste Fabel (‚Hahn und Edelstein‘) vom Zufallsfund erzählt, steht hier der Aspekt der harten Arbeit im Fokus. Im Epimythion wird erst der soziale Gehalt expliziert,⁷⁴⁷ dann ein direkter Vergleich angeführt: Wer ein Feuer anzündet und sich wegen des Rauches davon abhalten lässt, sich
Während Boners erste Fabel als Vorlage die Eingangsfabel des Anonymus Neveleti hat, ist die zweite Fabel anderer Herkunft, greift aber einen Topos (Harte Schale – süßer Kern) aus dem Prolog des Anonymus auf: Verbula sicca, deus, implue rore tuo. / Verborum leuitas morum fert pondus honestum, / Et nucleum celat arida testa bonum, Anonymus Neveleti (Anm. 707), Prologus,V. 10 – 12.Vgl. dazu auch: Freytag: Die Fabel als Allegorie (Anm. 689), S. 91 und S. 96. Freytag versteht Boners Verwendung als Hinweis auf eine „allegorische[ ] Sinnstruktur der Fabel“, was sicherlich einen Aspekt abdeckt, nicht aber den breiten Deutungsraum des Topos fasst. Die breite lateinische wie volkssprachige Tradition des Topos verzeichnet: TPMA. Bd. 7, S. 1 f. Vgl. Ulrich Boner: Der Edelstein (Anm. 93), Nr. 2,V. 15 – 18: Dem selben affen sint gelîch, / si sîn jung, alt, arm oder rîch, / die durch kurze bitterkeit / versmâhent lange süezekeit.
IV.2 Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung
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um die Flammen zu kümmern, dessen Feuer werde nie wachsen – was Boner hier nicht sozial, sondern geistlich interpretiert.⁷⁴⁸ Die metaphorische Umsetzung des Topos ist polyvalent, sein Bezug multifunktional. Zu Nuss und Feuer stellt Boner in der vierten Erzählung⁷⁴⁹ einen Baum, dessen Wurzeln bitter, dessen Früchte aber süß schmecken und kommentiert anschließend: wer kunst und wîsheit haben sol, / sicher, der muoz erbeit hân (Nr. 4, V. 38 f.). Die Bilder liefern divergierende Metaphoriken der gleichen Aussage, die über Sentenzen argumentativ eingefangen und auf verschiedene Regeln mittlerer Reichweite projiziert werden. Dass Boner den Topos wiederum selbstreflexiv auf den eigenen Text bezieht, bezeugt nicht nur dessen Verwendung in den programmatischen Eingangsfabeln, sondern auch der Epilog: hundert bîschaft hab ich geleit / an diz buoch […] doch hânt si kluoger sinnen hort. / ein dürre schal dik in ir treit / ein kernen grôzer süezekeit (Epilog, V. 9 – 16). Der Topos als Narration, Argument und metapoetischer Kommentar: Analog zu ‚mit sehenden Augen blind sein‘ demonstriert Boner hier abermals die Vielfältigkeit rhetorischen Schlussfolgerns jenseits rein didaktischer Normvermittlung.
IV.2.4 Fallstudie: natûre und gewonheit im Edelstein Die Beobachtungen der vorhergehenden Kapitel zur Struktur und Topik im Edelstein sollen im Folgenden an einer exemplarisch ausgewählten Leitdifferenz inhaltlich vertieft werden. Anhand eines konkreten Feldes wird dabei gezeigt, wie Boner sich in einem einzelnen – für antike und mittelalterliche Kurzerzählungen symptomatischen – Diskurs verortet: Auf welche Einzelfälle greift er zurück, wo weisen diese Abweichungen zu ihren Vorlagen auf, welche Sprichwörter und Lehren offeriert der Edelstein? Es gilt, das Spannungsfeld zwischen rhetorischer Multifunktionalität einerseits und didaktisch-normativem Lehrgehalt andererseits beispielhaft darzulegen. Ausgewählt wurde dafür die Frage nach der ‚natürlichen Anlage‘ bzw. die damit eng verbundene Diskussion nach dem Vorrang zwischen natûre und kultureller Gewöhnung. Die Forschung hat schon vielfach auf die Relevanz dieses Diskurses für Kurzerzählungen generell und Fabeln im Besonderen hingewiesen,⁷⁵⁰ doch soll hier ver-
Vgl. Ulrich Boner: Der Edelstein (Anm. 93), Nr. 2, V. 27: als ist ez ouch umb geislîch leben usw. Man könnte die Erzählung nach Holznagel als ‚Gleichnisrede‘ bezeichnen, d. h. ihr narrativer Gehalt tendiert gegen null, vgl. Holznagel: Verserzählung – Rede – Bîspel (Anm. 39). Vgl. Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (Anm. 24), S. 99 f.; Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter (Anm. 295), S. 124– 128; Kosak: Die Reimpaarfabel im Spätmittelalter (Anm. 416), S. 230 – 238. Vgl. auch die Hinweise Sabine Grieses auf eine semantische wie lexikalische Umschreibung von Natur vs. Erziehung (natura vs. nutritura), die den lateinischen Diskurs zu prägen scheint, hin zu Natur vs. Gewöhnung (natura vs. consuetudo bzw. natûre vs. gewonheit) in volkssprachigen Texten: Sabine Griese: Natur ist stärker als Erziehung. Markolf beweist ein Prinzip. In: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Hrsg. von Alan Robertshaw, Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 215 – 229.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
sucht werden, einen etwas weiteren Bogen zu spannen, um Boners Position zu verdeutlichen. Prämisse des Diskurses ist ein Verständnis von Natur als Ordnungsmodell, das schon nach Aristoteles festgelegten Regeln unterworfen ist.⁷⁵¹ Natur, genauso wie mhd. natûr(e) verstanden als die „im Menschen selbst aufgrund ihrer Geschöpflichkeit wirkenden Kräfte“⁷⁵², wird zum Argument für den ordo, d. h. die feste Begrenzung auf die durch Geburt determinierten Richtlinien menschlichen Handelns. Gerade die Fabel betont immer wieder die notwendige Akzeptanz der eigenen, natürlich gesetzten Grenzen und fügt sich damit bevorzugt in die mittelalterliche Standesethik ein – womit sie das antike Reservoir nicht umformuliert, sondern neu perspektiviert. Bereits Horaz propagiert: naturam expelles furca, tamen usque recurret / et mala perrumpet furtim fastidia victrix. ⁷⁵³ Das unveränderliche Gesetz der Natur (Immer) überträgt sich auf die Kultur des Menschen, die Aristoteles noch als Sphäre der Gewohnheit (Oft) bezeichnete.⁷⁵⁴ Doch das strenge a natura nemo mutatur ⁷⁵⁵ erhält eine Korrekturfolie. Schon verschiedene Fabelüberlieferungen ergänzen: a natura nulla creatura mutatur excepto homine […],⁷⁵⁶ und auch die Erziehungslehren sehen im Menschen eine zweite Natur wirken – die der Gewöhnung. Aegidius Romanus führt aus, dass man Kinder schon früh an Tugenden gewöhnen solle, so dass die Gewohnheit zur zweiten Natur werde (cum ergo consuetudo sit quasi altera natura),⁷⁵⁷ ähnlich argumentiert Thomasin im Welschen Gast. ⁷⁵⁸
Vgl. Krings: Ordo (Anm. 110), S. 29; Aristoteles: Physik, VIII, 1 (252a): „Nichts von dem, was von Natur aus besteht und sich naturgemäß verhält, ist ordnungslos; Natur ist für alles gerade die Ursache von Ordnung.“ Hier und im Folgenden zit. nach: Aristoteles: Philosophische Schriften. Bd. 6: Physik. Vorlesung über die Natur. Übers. von Hans Günter Zekl. Hamburg 1995. Klaus Grubmüller: Natûre ist der ander Got. Zur Bedeutung von natûre im Mittelalter. In: Natur und Kultur in deutschen Literatur Mittelalters (Anm. 750), S. 3 – 17, hier S. 3. Horaz: Epistulae (Anm. 105), I, 10, 24 f. (‚Du magst die Natur mit der Forke vertreiben, sie wird dennoch zurückkehren und heimlich deine häßliche Hoffahrt durchbrechen.‘). Hugos von Trimberg Renner (Anm. 516) bezieht sich in V. 4559 – 4564 direkt darauf: Uns schrîbet meister Orâcius / in sîner briefe buoche alsus: / „Trîp die natûr mit einer gabeln / von dir daz si beginne zabeln, / si loufet doch sân zuo dir hin wider, / swenne du die gabeln legest nider.“ „Es gehört nämlich auf der einen Seite die Natur zum Immer, auf der anderen Seite die Gewohnheit zum Oft“, Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), I, 11 (1370a 7– 8). Das Sprichwort findet sich häufig in lateinischen Fabeln, vgl. etwa die Romulus-Fabel von der ‚Hochzeit der Sonne‘: Romulus-Korpus, Nr. 10. Hier und im Folgenden zit. nach: Der Lateinische Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. Kritischer Text mit Kommentar und einleitenden Untersuchungen. Hrsg. von Georg Thiele. Heidelberg 1910. So etwa in der Fabelsammlung des Romulus Nilanti, hier zit. nach Gotthold Ephraim Lessing: Romulus & Rimicus. In: Ders.: Werke und Briefe. In zwölf Bänden. Bd. 7: Werke 1770 – 1773. Hrsg. von Klaus Bohnen. Frankfurt am Main 2000 (Bibliothek deutscher Klassiker. 172), S. 417– 446, hier S. 425. Aegidius Romanus: De regimine principum libri III. Hrsg. von Hieronymus Samaritanus. Aalen 1967 [Neudr. der Ausg. Rom 1607], II, 2, 10.Vgl. auch Cicero: De Finibus bonorum et malorum,V, 74: […] consuetudine quasi alteram quandam naturam effici. Hier und im Folgenden zit. nach: Marcus Tullius Cicero: De finibus bonorum et malorum. Über die Ziele des menschlichen Handelns. Hrsg., übers. und
IV.2 Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung
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Es verwundert nicht, dass sich die Diskussion auch im Reservoir der Sprichwörter und Kurzerzählungen (also generell im Bereich der Topik und Rhetorik) niederschlägt.⁷⁵⁹ Je nach Perspektive lassen sich divergierende Argumente formulieren: die Macht der Natur als unveränderliche Kraft und ihre Dominanz gegenüber jeder Erziehung einerseits – ich hân gehœret unde gelesen, / swer ûz sînr natûre komen wil, / daz ez im schadet dicke vil schreibt Thomasin,⁷⁶⁰ und der Stricker formuliert analog zu Alanus ab Insulis: die natur ist der ander got. ⁷⁶¹ Andererseits setzt etwa Freidank Natur und Gewohnheit gleich: nâtûre unde gewoneheit, / der beider kraft ist harte breit. ⁷⁶² In zahlreichen Kurzerzählungen werden die Positionen narrativ in Szene gesetzt. Petrus Alfonsi verhandelt in der Disciplina clericalis mehrmals das Verhältnis von natürlicher Anlage und Bildung;⁷⁶³ der Stricker erzählt das vielbeachtete Gleichnis eines Königs, der sich ein Katzenauge einsetzen lässt und durch Übernahme der Katzennatur nur noch auf Mäuse schaut;⁷⁶⁴ er inszeniert aber auch die Geschichte eines Wolfes, der nach einer Art conversio versucht, sein Leben zu bessern und sich einem ihm diametral entgegengesetzten Tier annähert: „da wil ich als ein schaf gan.“ ⁷⁶⁵ Doch die Wende des Wolfes ist zum Scheitern verurteilt: Er trifft auf eine Schar Gänse, die ihn fürchterlich quälen – ganz das Schaf imitierend, wehrt sich der Wolf nicht gegen die Angriffe. Erst als er fast bis zum Tod gepeinigt wird und sich zudem Hunde und Menschen nähern, bricht seine alte natûre Bahn – der Wolf zerreißt die Gänse und kommentiert dies lakonisch: „ich sihe wol, ich bin genesen.“ ⁷⁶⁶ Somit kann der Versuch, die eigene natûre zu überschreiten, von den Kurzerzählungen in malam partem wie in bonam partem inszeniert werden: Auf der einen Seite die Hybris des sich über seinen eigenen Stand erhebenden Tieres, die zumeist schwer bestraft wird (s.u.),
kommentiert von Olof Gigon und Laila Straume-Zimmermann. München [u. a.] 1988 (Sammlung Tusculum). Vgl. dazu generell Friedrich: Menschentier und Tiermensch (Anm. 337), S. 79. Vgl. Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast (Anm. 415),V. 657 f.: daz beidiu zuht und hüfscheit / koment von der gewonheit. Vgl. dazu auch Corinna Dörrich, Udo Friedrich: Bindung und Trennung – Erziehung und Freiheit. Sprachkunst und Erziehungsdiskurs am Beispiel des Kürenberger Falkenliedes. In: Der Deutschunterricht 55 (2003), S. 30 – 42. Thomasin von Zerklaere: Der Welsche Gast (Anm. 415), V. 3100 – 3102. Stricker: Kleindichtung (Anm. 93), Nr. 2, V. 124. Vgl. Christoph Huber: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklære, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl. Zürich [u. a.] 1988 (MTU. 89), S. 374– 376. Zu ähnlichen Belegstellen vgl. TPMA. Bd. 8, S. 428 – 433. Freidank: Bescheidenheit, 111,4 f. Hier und im Folgenden zit. nach: Fridankes Bescheidenheit. Hrsg. von Heinrich Ernst Bezzenberger. Aalen 1962 [Neudr. der Ausg. 1872]. Vgl. zu ähnlichen Belegstellen: TPMA. Bd. 5, S. 6 – 9. Vgl. Petrus Alfonsi: Disciplina clericalis (Anm. 473), Nr. 3 und Nr. 4. Vgl. Stricker: Kleindichtung (Anm. 93), Nr. 2. Ebd., Nr. 48 (‚Der Wolf und die Gänse‘), V. 27. Ebd., Nr. 48, V. 105.
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auf der anderen Seite jedoch auch das Tier, das über einen Wechsel der Gewohnheit versucht, gegen seine negativ konnotierte natûre zu kämpfen. Auch Boners Edelstein fügt sich auf den ersten Blick der Konvention, den Kampf gegen die eigene natûre als ein vergebliches Aufbegehren zu inszenieren. Ganz im Sinne seiner lateinischen Vorlagen erzählt Boner vor allem Fabeln, die das Überschreiten der eigenen Anlagen aufgrund von Eitelkeit oder Hochmut mit Figuren besetzen, die eine deutliche Fallhöhe veranschaulichen: die Schnecke, die wie ein Adler fliegen will (Nr. 64), die Krähe, die sich für einen schönen Pfau hält (Nr. 39), usw. „Das Unentrinnbare der gegebenen Natur“ so Hans Robert Jauß mit Blick auf die ähnlich erzählenden Fabeln der Marie de France, verweise auf die „daraus entspringende Wesensungleichheit der Geschöpfe.“⁷⁶⁷ Neben diese soziale Dimension tritt bei Boner aber auch eine eher ethisch ausgerichtete Perspektive. Häufig findet sich der Erzählerkommentar, ein Tier verhalte sich nâch sîner art ⁷⁶⁸ – die natürliche Anlage wird zum Argument für Handlungsformen und Handlungswissen.⁷⁶⁹ Dies kann einerseits durch dezidierte Bewertungen geschehen, in denen meist der Vorrang der Natur als allgemein gültiges Prinzip propagiert wird: daz er von tôrheit des begert, / des sîn natûr in nicht gewert (Nr. 39, V. 35 f.) zur Krähe, die sich für einen Pfau hält; waz diu natûr hât gegeben, / dem mag der mensch kûm wider streben (Nr. 20, V. 55 f.) zum Esel, der sich wie ein Hund benimmt, und bereits mit Transfer auf den Menschen; wâ diu natûr verirret ist, / waz schikt dâ hôher phaffen list (Nr. 99, V. 73 f.) hier ausnahmsweise in einem Gleichnis und die Ohnmacht selbst geistlicher Arbeit gegenüber schlechter Anlage betonend. Die Erzählungen zeigen andererseits aber auch differenzierende Konstellationen, in denen das Problem einer determinierten Anlage zu Gut oder Böse vor dem Hintergrund einer Schein/Sein-Differenz kontrastiv verhandelt wird. Deutlich wird dies etwa an drei Kurzerzählungen im Edelstein, die alle einen Menschen mit dem Verhalten einer Schlange konfrontieren. Die Kurzerzählungen stammen aus verschiedenen Quellen und finden sich weit verstreut im Edelstein, scheinen aber dennoch aufgrund der ähnlichen, je leicht variierenden Erzählkonstellation aufeinander Bezug zu nehmen, d. h. abermals eine isotopische Reihe zu bilden. In Erzählung Nr. 13 (‚Mensch und undankbare Schlange‘) gestattet ein Mensch einer Schlange, aufgrund des harten Winters in seinem Haus zu bleiben, wird aber bald von dieser angegriffen. Der Erzähler führt für das Verhalten der Schlange die Natur als Argument an: er [= die Schlange, M.S-D.] müeste sîn natûre hân (Nr. 13,V. 22). Die Freundlichkeit des Wirtes wird nicht über eine Gegengabe vergolten, sondern unterliegt als Wert der bösen Anlage, die sich nicht mildern lässt. Auch in Erzählung
Hans Robert Jauß: Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung. Tübingen 1959 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. 100), S. 38. Vgl. Ulrich Boner: Der Edelstein (Anm. 93), Nr 11, V. 1: Ein wolf kam nâch sîner art; Nr. 29, V. 1: Eis tags ein scher nâch sîner art. Vgl. Klaus Grubmüller: Hund und Esel oder Natur und Gesellschaft. In: Micrologus 8 (2000), S. 537– 546, hier S. 544.
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Nr. 34 (‚Mann und verwundete Schlange‘) hält sich eine Schlange im Haus eines Menschen auf, hier wird diese aber ohne Grund vom Menschen angegriffen und verwundet – dem Wirt tut später sein Zorn leid und er bittet die Schlange um Vergebung. Diesmal charakterisiert Boner die anfängliche Freundlichkeit des Menschen als Teil von dessen Natur (daz tet er von menschlîcher art, Nr. 34,V. 7), welche jedoch durch Besitz oder Zorn korrumpiert werden kann.⁷⁷⁰ Konsequenterweise konzentriert sich das Epimythion auf das Hervorheben von Reue als Korrektur für verfehltes Handeln. Gegenüber der Erzählung Nr. 13 verschiebt sich somit nicht nur die Gewaltausübung von der Schlange auf den Menschen, sondern in die Diskussion um die natürliche Anlage schreibt sich eine christliche Perspektive ein: Der Mensch verfügt über gute Anlagen, kann aber dennoch sündigen, wobei das Verfehlen durch ehrliche Reue wieder korrigiert wird. Die Schlange fungiert dabei in erster Linie als Opfer, deren eigene Natur nicht im Fokus steht bzw. nicht pejorativ markiert wird. Erzählung Nr. 71 (‚Befreite Schlange, Mann und Fuchs‘) schließlich erzählt von einem Mann, der eine gefangene Schlange im Wald findet. Er befreit sie, woraufhin diese ihn erwürgen will. Der Fuchs wird als Richter hinzugerufen, um die Situation zu lösen. Er behauptet, sich den Ablauf des Geschehens klar machen zu müssen, daher sollen alle wieder an ihre Ausgangspositionen zurück: Der Mensch kommt frei, die Schlange wird wieder angebunden – und der Fuchs, dessen List aufgegangen ist, empfiehlt dem Menschen, die Schlange diesmal gefangen zu lassen. Die Fabel offeriert ein deutlich komplexeres Erzählmodell als die beiden Vorgänger. Zum einen wird eine dritte Figur hinzugefügt, zum anderen verlagert sich die Diskussion um den Zwang der natûre von der Erzähler- auf die Figurenebene. Nachdem die Schlange den Menschen attackiert hat, argumentiert dieser, die Schlange vergelte ihm die gute durch eine böse Tat („und giltest mir mit übel guot.“, Nr. 71,V. 24). Die Schlange verteidigt sich hingegen mit ihrer unabänderlichen Natur – der Topos wird zum Argument der Figur: „ich tuon dir recht! / ich tuon als ander mîn geslecht. / mîn gift mag ich nicht abe lân, / slanglîch gebærde muoz ich hân.“ (Nr. 71, V. 25 – 28). Noch bestimmter als in den anderen Erzählungen entwickelt sich hier eine kasuistische Situation, in der zu entscheiden ist, ob die Schlange aufgrund ihrer bösen Natur überhaupt in der Lage ist, Gutes mit Gutem zu vergelten, oder notwendigerweise immer zum Bösen tendiert.⁷⁷¹ Die Erzählung löst diese Frage nicht, sondern verweist über die Entscheidung des Fuchses,
Schon in Boners Vorlage (Anonymus Neveleti [Anm. 707], Nr. 30) wirkt die Handlung nur teilweise schlüssig. Klarheit bringt ein Blick auf frühe griechische Versionen: Der Wirt bekommt Reichtum, da die Schlange als Glücksbringer fungiert, der Mann versucht dann, die Schlange zu töten, damit sie ihre Gunst nicht jemand anderem zuwendet, vgl. Babrius and Phaedrus. Newly ed. and transl. into Engl., together with an historical Introduction and a comprehensive Survey of Greek and Latin Fables in the Aesopic Tradition by Ben Edwin Perry. London 1965, S. 530 f. Perry klassifiziert die Fabel dort unter der Nummer 573a. Womit die Fabel auch ihre traditionelle Erzählstruktur (Tiere verhalten sich wie Menschen) hinterfragt: Wenn die Schlange immer ihrer Schlangennatur gehorchen muss, inwiefern fungiert sie dann noch als übertragbare Figur?
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beide Figuren wieder ‚auf den Anfang‘ zu setzen, auf alternative Handlungsmodelle: Wer den Bösen nicht befreit, der muss sich auch nicht der Frage stellen, ob sich dieser ändern kann. Versteht man die Aufnahme der Schlange im Haus bzw. das Lösen ihrer Fesseln in einem weiteren Sinne als Gabe, so unterlegen alle drei Kurzerzählungen die Diskussion um die Determiniertheit natürlicher Anlagen mit dem Prozess eines verfehlten Gabentauschs: Hilfsbereitschaft wird nicht durch eine Gegengabe vergolten.⁷⁷² Indem so natürliche Logik (die natûre der Schlange) mit kultureller Konvention (Gabe muss mit Gegengabe beantwortet werden) interagiert, erweitert Boner den Bezugsrahmen der Leitdifferenz: Nicht nur ‚natürliche Anlage vs. kulturelle Prägung‘ wird diskutiert, sondern auch die davon abhängigen sozialen Interaktionsformen. Wird hier somit schon ansatzweise natûre mit Kultur konfrontiert, greift Boner in der Fabel Nr. 65 (‚Von einem krebze und sînem sune‘) dezidiert auf die oben skizzierte Diskussion um kulturelle Gewohnheit und natürliche Anlage zurück. Avian, der die Vorlage der Fabel liefert, entwirft eine kurze Dialogszene von Krebsmutter und Sohn über den ‚richtigen‘ (d. h. vorwärtsstrebenden) Gang, die er anschließend auf das Anklagen anderer bei eigener Schuld zurückführt: Curva retrocedens dum fert vestigia cancer / Hispida saxosis terga relisit aquis. / Hunc genitrix facili cupiens procedere gressu, / Talibus alloquiis praemonuisse datur: / ‚Ne tibi transverso placeant haec devia, nate, / Rursus in obliquos neu velis ire pedes. / Sed nisu contenta ferens vestigia recto, / Innocuos proso tramite siste gradus.‘ / Cui natus: ‚Faciam, si me praecesseris, inquit, / Rectaque monstrantem certior ipse sequar.‘ / Nam stultum nimis est, cum tu pravissima temptes / Alterius censor ut vitiosa notes.⁷⁷³
Bei Boner avanciert die Fabel zur Ausgangsstelle des Argumentierens über Gewohnheit, Tugend und Erziehung. So fügt er ein Promythion hinzu, in dem er Aspekte von natûr und Gewohnheit verhandelt:
Kontrastiv zu allen drei Erzählungen lässt sich Erzählung Nr. 41 lesen, die von gelungener Gabe und Gegengabe zwischen Mensch und Löwe erzählt und als Androklus-Legende in Antike und Mittelalter weit verbreitet ist. Avian: Fabulae (Anm. 124), Nr. 3 (‚De cancro et matre‘). Die etwas problematische Übersetzung von Ludwig Mader: ‚Schräg die Beine gesetzt bewegte der Jungkrebs sich rückwärts, / Als er im nassen Gestein heftig im Rücken sich stieß. / Immer schon wünschte die Mutter, er solle bequemer doch vorwärts / Gehen und gab ihm auch jetzt, heißt es, den folgenden Rat: / „Setz dir’s doch nicht in den Kopf, hier zu gehen, wo keinerlei Weg ist, / Und gewöhne dir ab, immer nur rückwärts zu gehn! / Nein, beschränk dich darauf, gradaus die Schritte zu lenken / Ohne Gefahr auf dem Weg, der dich geleitet ans Ziel! / Drauf versetzte der Sohn: „Geh du erst, Mutter, voran mir! / Wenn du den Weg mir zeigst, folge ich sichrer dir nach.“- / Maßlose Torheit ist’s, wenn du selbst verkehrt etwas anfängst, / Gleich in des andern Tun nur das Verkehrte zu sehn.‘, Antike Fabeln. Hesiod, Archilochos, Aesop, Ennius, Horaz, Phaedrus, Babrios, Avianus, Romulus. Mit 97 Bildern des Ulmer Aesop von 1476. Eingeleitet u. neu übertr. von Ludwig Mader. Zürich 1951 (Die Bibliothek der Alten Welt. Griechisch-römische Reihe), S. 323.
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Waz von natûr ist angeborn / der krêatûr, wirt daz verlorn, / daz muoz tuon gewonheit grôz. / ân gewonheit diu natûr ist blôz. / dik verwandelt diu gewonheit / die natûr, als man uns seit. / wa aber gewonheit und natûr / ze samen in der krêatûr / koment, die mag man kûm gelân: / wen muoz si stæteklîchen hân, / als hie an dirr bîschaft beschach. (Nr. 65, V. 1– 11).
Implizit verweist Boner hier auf die oben vorgestellten Paradigmen mittelalterlicher Erziehungsdiskurse, wobei er den Topos der consuetudo altera natura zu präferieren scheint. Boner argumentiert jedoch differenzierter, indem er zum einen die Möglichkeit des Verlustes der eigenen Natur beschreibt (Nr. 65, V. 1 f.) und zum anderen die Gewohnheit als Substitut der Natur einführt. Die Gewohnheit kann die Verfehlungen wie auch den Verlust der Natur aufwiegen, sie fungiert somit sowohl als andere oder zweite (altera) Natur, wie auch als deren Korrektiv: dik verwandelt diu gewonheit / die natûr, als man uns seit (Nr. 65, V. 5 f.). Analog zur Monastik begreift Boner die Gewohnheit in einem ersten Schritt als Instrument der Zähmung, ein Gedanke, den er bereits in seinem Prolog ausführt: guot bîschaft kestigt wilden man (Prolog, V. 35). Zähmung durch Erzählung, durch bîschaft – wo der Prolog die persuasive, fast schon domestizierende Funktion der exemplarischen Kurzerzählung hervorhebt, beschreibt Boner in der Fabel die Interferenz von natürlicher Prägung und kultureller Entwicklung als Optimum: wa aber gewonheit und natûr / ze samen in der krêatûr / koment, die mag man kûm gelân: / wen muoz si stæteklîchen hân (Nr. 65, V. 7– 10). Der Zusammenhang zwischen Boners Promythion und der im Wesentlichen an Avian orientierten Fabelerzählung ergibt sich nicht unmittelbar. Zwar kommt der Vater-Sohn-Konstellation in vielen Kurzerzählungen ein didaktischer Impetus zu, der über Erziehungs- und Gewohnheitsdiskurse gefüllt wird. Doch wird in der Fabel selbst eben kein Zusammenkommen von Natur und Gewohnheit geschildert – eher noch das Versagen beider Werte. Doch die Fabel fungiert auch nicht als reines Negativ-Exempel, sondern entwirft vielmehr in der Vater-Sohn-Auseinandersetzung die Grundlage für das Zusammenführen eigentlich parallel laufender Wertesysteme. Konsequenterweise erzählt Boner wesentlich abstrakter als Avian: Er überschlägt den Ausgangspunkt der lateinischen Fabel (der Jungkrebs stößt sich am Stein) und überführt die Erzählung direkt in eine Diskussion um Erziehung und Anpassung. Konträr zu Avian steht somit nicht das kontingente Ereignis am Anfang, sondern die Herausbildung von allgemeinen Verhaltensrollen. Ein alter Krebs kritisiert seinen Sohn aufgrund dessen Laufrichtung, der Sohn solle sich an ihm, dem Vater orientieren und geradeaus laufen. Der Sohn stimmt zu und fordert den Vater auf, es richtig vorzumachen, woraufhin der Vater genau wie der Sohn läuft. Abschließend stellt der Sohn das Kritisieren des Vaters bei eigener Schuld in Frage. Wie für Boners Fabeln üblich, besteht ein Großteil der Fabel aus Dialog und dem Austausch von Argumenten, deren persuasives Potenzial sich in erster Linie aus Sentenzen und Sprichwörtern speist: wel sun tuot als sîn vatter tuot, / der wirt gelobt und spricht man daz: / er ist guot als sîn vatter was. (Nr. 65, V. 22– 24). Und der Sohn antwortet: „vatter, du hâst wâr. / ich weiz ez wol, ân allen vâr / ein sun sîm vatter volgen sol, / daz ist im guot, und stât ouch wol. / tuot er daz, er wirt gelobt.“ (Nr. 65, V. 25 – 29).
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Indem Boner die rhetorischen Schlussfolgerungen der Tiere als kulturelle Überzeugungssätze darstellt und zudem immer wieder auf ein etwaiges Einholen von lob rekurriert, diskutiert er bereits in der besonderen Situation der Fabelerzählung das Allgemeine. Gleichzeitig konstatiert er im universellen imitatio-Modell der Vater-SohnErziehung eine Dysfunktionalität: Der Versuch, den von der natûre verhinderten Gang des Krebses durch Erziehung zu ändern, schlägt fehl, denn der Vater verfügt nur über die gleiche natûre wie der Sohn und kann somit nicht die zur Korrektur notwendige Vorbildfunktion (d. h. in diesem Fall: keinen Vorwärtsgang) einnehmen – so suggeriert es die Erzählung. Doch schon das Promythion hat dieses Modell durch eine spezifische Tugendperspektive ergänzt. Auch im Epimythion führt Boner aus: wer wol lêrt, und übel tuot, / der ergert manges menschen muot. / wîsiu wort und tumbiu werc / trîbent die von Gouchesberc (Nr. 65, V. 53 – 56). Damit schreibt sich Boner abermals direkt in den Tugenddiskurs ein, denn er zitiert aus Freidanks Bescheidenheit: wîsiu wort und tumbiu werc / diu habent die von Gouchesberc heißt es dort in einer langen Polemik gegen tôren. ⁷⁷⁴ Darüber hinaus spielt Boner im Epimythion auf eine christliche Perspektive an: Wer den andern bestrâfen sol, / der sol tuon als rechte wol, / daz er ân strâfung müge wesen (Nr. 65,V. 47– 49) – die Anleihen an die Bibel sind hier deutlich zu erkennen.⁷⁷⁵ Diskussion um Natur und Gewohnheit, Tugendmodell und christliche Perspektive: Boner reichert Avians Fabel mit zahlreichen Anleihen an, die er in einen homogenen Rahmen zu ziehen versucht. Kern- und Ausgangspunkt bleibt die Erzählung als exemplarische Verdeutlichung von Common-Sense-Relationen (‚Der Sohn soll dem Vater folgen‘ usw.). Ihre spezifische Axiologie erhalten die Figuren jedoch erst durch Boners Kommentare, die die Sinnmöglichkeiten der Erzählung potenzieren: Boner offeriert Auslegungsmodelle, die von einer natûre/Gewohnheit-Dissonanz über fehlende Tugend bzw. gesellschaftliche Bedrohung durch tôren hin zur Inszenierung eines christlichen Leitparadigmas reichen. So inkorporiert er nicht nur Naturkunde, Sozialmodell und christliche Vorstellungswelt in einer Fabel, sondern inszeniert alle drei Bereiche auch als interdependent. Wo natûre fehl geht, muss die Gewohnheit korrigieren, die sich an den Maßstäben eines Tugendideals orientiert, welches wiederum christlich aufgeladen ist. Boners Version der spätantiken Fabel ist nicht nur insofern spezifisch mittelalterlich, als er auf mittelalterliche Sinnhorizonte rekurriert, sondern auch in der Exposition eines homogenen, alle Diskurse zusammenführenden Gesamtzusammenhangs. Dies geht über den reinen Transfers eines Topos in die Erzählung hinaus, wie ihn etwa die oben zitierte Fabel Nr. 13 der bösen Schlange vorgibt (a natura nemo mutatur). Boners Fabel von Krebs-Vater und Sohn bestätigt keine
Freidank: Bescheidenheit (Anm. 762), 82,8 f. Vgl. Joh 8,7: qui sine peccato est vestrum primus in illam lapidem mittat (‚Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.‘).
IV.2 Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung
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Regel, sondern irritiert durch ihre Mehraussagen: die logischen Brüche, Mehrdeutigkeiten und impliziten Verweise fordern zur Reflexion auf.
IV.2.5 Rhetorisches Reservoir und narrative Argumentation im Edelstein Die in den vorherigen Kapiteln herausgearbeiteten rhetorischen Inhalte des Edelstein sollen im Folgenden abschließend zusammengefasst und präzisiert werden. Es kann sich dabei nur bedingt Grubmüllers These, der Edelstein reduziere seine rhetorischen Inhalte gegenüber den lateinischen Quellen, angeschlossen werden.⁷⁷⁶ Richtig ist, dass sich bei Avian und beim Anonymus Neveleti häufiger rhetorische Stilmittel finden, d. h. Oxymora, Parallelismen usw., und die Fabeln zudem streng funktional erzählt werden. Boner addiert demgegenüber narrative Details und entfernt etliche rhetorische Figuren. Fasst man Rhetorik allerdings weniger als Sammlung von formelhaften Stilmitteln denn (wie auch in dieser Arbeit) als universelle Argumentationstechnik, so zeigt sich, dass Boners exemplarische Kurzerzählungen auf diverse rhetorische Register zurückgreifen: Lange Figurenreden mit eingebauten Argumenten, der häufige Rückgriff auf Erfahrungsregeln, aber auch die direkte Thematisierung von Rhetorik selbst sprechen für ein dezidiertes Rhetorik-Interesse bei Boner. Diese unterschiedlichen Zugriffe sollen im Folgenden deutlich gemacht werden. Analysiert wird der explizite Rückgriff auf Vor- und Nachteile der Rhetorik (anhand der ‚Worte-als Waffen‘-Analogie), der Gebrauch von Argumenten in ‚Musterreden‘ wie auch die Vereinnahmung von Erfahrungswissen als Technik der Wirklichkeitsbewältigung. Dass Boner einen universellen rhetorischen wie auch poetischen Anspruch an seine Kurzerzählungen legt, demonstriert bereits der Prolog:⁷⁷⁷ Ez sprechent ouch die meister wol: / „mê denne wort ein bîschaft tuot!“ / diu sterket manges menschen muot / an tugenden und an sælekeit. / guot bîschaft treit der êren kleit, / guot bîschaft kestigt wilden man, / guot bîschaft vrouwen zemen kan, / guot bîschaft zieret jung und alt, / recht als daz grüene loup den walt. (Prolog, V. 30 – 38)
Was Seneca (und im Anschluss Gregor der Große) als Vorrang der exempla gegenüber den praecepta bezeichnet,⁷⁷⁸ avanciert bei Boner zu einem Vorzug von bîschaft vor den wort – eine auf den ersten Blick missverständliche Differenz, sind doch die Kurzerzählungen des Edelstein genauso aus Wörtern gebaut. Boners Differenz zielt anscheinend weniger auf eine Relation von Vorschrift und Beispiel, wie bei Seneca,
Vgl. Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 324: „Boner eliminiert gegenüber seinen lateinischen Vorlagen in der Erzählung alle rhetorischen Elemente.“ Der Prolog scheint damit mehr zu bieten als nur „konventionelle Elemente“ (so etwa: Grubmüller: Meister Esopus [Anm. 2], S. 308). Auch Wiebke Freytag sieht in Boners Prolog in erster Linie eine „Erkenntnislehre“, Freytag: Die Fabel als Allegorie (Anm. 689), S. 96. Auf das Diktum wurde bereits mehrfach verwiesen, vgl. etwa Kapitel III.1.2.
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sondern auf die zwischen exemplarischem Erzählen und nicht-narrativem Diskurs generell. Qua Anapher betont Boner dann zunächst das Funktionsspektrum, also den didaktischen Gehalt, seiner Erzählungen: gegen Bedrohungsinstanzen der Gesellschaft (Zähmung von wilden Männern und Frauen) und als Reservoir der Tugend. Letztlich aber rekurriert er auf eine Metapher, die aus der Dichtungstheorie bekannt ist: der Erzähltext als schmückendes grünes Laub.⁷⁷⁹ Die colores rhetorici fungieren sowohl als poetisches Bild wie auch als Instrumentarien narrativer Argumentation. Schon die dritte Erzählung der Sammlung (‚Von einem Jeger und einem Tigertier‘) etabliert dann eine von Boner im Kontext von Rhetorik immer wieder aufgerufene Metaphorik: Worte als Waffen.⁷⁸⁰ Wie in vielen Fabeln des Edelstein gibt Boner erst in einem Promythion eine Sentenz an, die dann narrativ in der Erzählung entfaltet wird: Der liuten rede ist manigvalt, / si hindersnîdent jung und alt (Nr. 3,V. 1 f.). Das Thema des Verleumdens, der negativen Rhetorik, wird bereits hier metaphorisch gefasst: heimlîch diu strâl der zungen kunt / geschozzen ûz des argen munt, / und wundet vrouwen unde man (Nr. 3, V. 9 – 11). Die narratio erzählt dann von einem Jäger, dessen Armbrust und Jagderfolg die gesamte Tierwelt bedrohen, einzig ein Tiger, dem der Jäger unbekannt ist, zeigt im Gegensatz zum Rest der Tiere keine Angst. Doch der Jäger schießt dem Tiger ins Bein, worauf der Fuchs vorgeblich den lahmen Tiger bemitleidet, ihm aber innerlich dieses Resultat gönnt. Der Tiger beklagt abschließend sein Schicksal und warnt vor dem, der heimlîch schiezen kann. Das Epimythion setzt die Worte-WaffenMetapher fort – noch sneller ist des argen wort, / denne von der armbrost sî / der phîl (Nr. 3, V. 56 – 58), führt aber auch eine Reihe von Erfahrungssätzen an, die sich allgemein aus dem Register des Common Sense speisen und Aspekte von Rhetorik und Anti-Rhetorik kommentieren. Letztlich landet Boner so bei seinem eigenen Text: wem mîn geticht nicht wol gevalt, / ez sî wîp, man, jung oder alt, / der lâz mit züchten ab sîn lesen; / wil er, sô lâz ouch mich genesen, / und wâ diz buoch gebresten habe / ûf keinen sin, den nem er abe: / daz ist mîn begirde guot. / er sol wol vinden, der wol tuot. (Nr. 3, V. 65 – 72).
Gottfried von Straßburg schreibt bspw. im Tristan, V. 4671 f.: die [die von Gottfried kritisierten Dichter, M.S-D.] bernt uns mit dem stocke schate, / niht mit dem grüenen meienblate, Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1: Text. Unveränd. 5. Abdr. nach dem 3., mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verb. kritischen Apparat. Besorgt und mit einem erw. Nachw. vers. von Werner Schröder. Berlin [u. a.] 2004 (de-Gruyter-Texte). Die Wendung geht zurück auf: Lukan: De bello civili, I, 140. Hier und im Folgenden zit. nach: Marcus Annaeus Lucanus: De bello civili. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Georg Luck. Stuttgart 2009 (RUB. 18511). Gottfried hat sie aber wahrscheinlich von Matthaeus von Vendôme übernommen, vgl. Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Strassburg. Bd. 1. 2., gründlich überarb. Aufl. Amsterdam [u. a.] 1996 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 57), S. 252– 254. Die ‚Worte-Waffen‘-Analogie ist eine geläufige Metapher, die auch bildlich häufig zur Darstellung kommt – so inszenieren etwa etliche Illustrationen des Welschen Gastes Thomasins Beschreibung der Rhetorik (anhand von Cicero) als Figur, die mit Schwert und Schild ausgerüstet ist. Vgl. http://www. wgd.materiale-textkulturen.de/illustrationen/motiv.php?m=103 (Zugriff am 5.1. 2017). Für weitere Belegstellen vgl. TPMA. Bd. 13, S. 305 – 307.
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Während Boners Vorlage, Avian, die Analogie Worte-Waffen nicht kennt und in seiner Erzählung auch weniger über Rhetorik spricht als ein generelles Problem von Sichtbarkeit und Langschusswaffe aufmacht,⁷⁸¹ erweist sich die Fabel im Edelstein als multifunktional: Rhetorik wird von Boner einerseits als politisches Instrumentarium abgelehnt (Rhetorik als Agon, Worte als destruktive Waffen), findet andererseits aber als literarische Technik Verwendung. Gegenüber der knappen Fabel Avians reichert Boner seine Erzählung durch zahlreiche Details an und lässt vor allem die Tiere in agonalen Situationen mehr reden bzw. reflektieren: Rhetorik ist hier im Sinne der dilatatio Mittel der Textproduktion. Anhand der simplen Struktur von Überheblichkeit und Lähmung präsentiert Boner so drei verschiedene Modi der rhetorischen Argumentation: Lob-, Gegen- und Warnrede. Wieder aufgegriffen wird die Metaphorik der ‚Waffenworte‘ in zahlreichen Erzählungen des Edelsteins. ⁷⁸² Das destruktive Potenzial der Rhetorik wird dabei immer leicht variierend hervorgehoben und in unterschiedliche Kontexte gestellt. Auf politischem, religiösem oder sozialem Feld scheint die Rhetorik als Wirkungsmacht Geltung zu besitzen: diu zunge stiftet mangen zorn, / dâ lîp und sêl mit wirt verlorn. / diu zunge mangen schendet, / si stümelt unde blendet. / diu zunge stœret manig lant, / si stiftet mort, roup unde brant […] diu bœse zunge scheiden kan / liebez wîp und lieben man. (Nr. 17, V. 27– 38). Doch nicht nur die Epimythien verhandeln den Status der Rhetorik, die Waffen-Metaphorik kann auch – ähnlich wie in der oben vorgestellten Tiger-Fabel (Nr. 3) – direkt in die Narration eingebaut werden: Ein krieg huop sich in einer zît / von worten, und ein herter strît (Nr. 41,V. 1 f.), beginnt die Fabel von Fliege und Ameise, die im Wesentlichen aus einer agonalen Diskussion über den Vorteil verschiedener Lebensweisen besteht und sich so auch als Folie rhetorischer Argumentation lesen lässt. Tatsächlich sind es die Figurenreden, die mustergültige Schemata rhetorischer Argumentation nachbilden und so ein Reservoir für etwaige Funktionalisierungen bilden: Bittrede an einen Verwandten bei eigener Not (Nr. 12), Anklage gegen falsche Reue (Nr. 22), politisch-taktischer Rat für die Zukunft (Nr. 23).⁷⁸³ In der gerade angesprochenen Fabel Nr. 41 etwa führt die Fliege eine lange Lobrede über die eigene Lebensweise, die gleichzeitig als Anklage der Ameise fungiert: Sie, die Fliege, schwebe frei herum und esse von den edelsten Tischen, während die Ameise am Boden kriechen und ständig arbeiten müsse. Die Ameise baue sich ihr Haus aus Dornen zusammen, während die Fliege sich auf seidenbezogenen Sitzen niederlasse (Nr. 41, V. 5 – 32). Die Differenzen ‚edel-arm‘ und ‚frei-arbeitend‘ werden von der Fliege argumentativ entfaltet und in verschiedene Vergleiche eingebunden. Die Ameise hält
Avian betont stärker die Überlegenheit des Menschen, mithilfe seiner Schusswaffe den Tiger aus der Distanz zu verwunden, und verweist somit auf eine Natur-Kultur-Differenz. Vgl. Avian: Fabulae (Anm. 124), Nr. 17 (‚De venatore et tigride‘). Prosa-Auflösungen des Avian kennen allerdings die WortWaffen-Metaphorik, vgl. TPMA, Bd. 13, S. 305. Vgl. etwa die Erzählungen 7, 12, 17, 33, 40, 41. Vgl. generell zu derartigen ‚Musterreden‘ die Erzählungen 12, 22, 23, 26, 27, 41, 90.
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jedoch eine Gegen-/Verteidigungsrede, welche diese Differenzen aufgreift, sie aber neu perspektiviert: Die Ameise sei arm, da sie schon mit Kleinem zufrieden sei, während die Fliege nie genug bekomme. Die Fliege sei nicht frei, sondern ein Räuber, der zudem Speisen verunreinige und daher von den Menschen verscheucht werde (Nr. 41,V. 35 – 58). Die Ameise operiert in ihrer Rede mit den Oppositionen ‚genügsamgierig‘ und ‚ehrlich-räuberisch‘, die Gegenargumente zu den Ausführungen der Fliege bilden. Rede und Gegenrede zeigen so paradigmatisch eine mustergültige rhetorische Beweisführung und deren Widerlegung an.⁷⁸⁴ Rhetorik fungiert im Edelstein jedoch nicht nur als ausgeformte Redestrategie, sondern avanciert auch selbst zum Reflexionsgegenstand, wie eine ganze Reihe von Kurzerzählungen zeigt. In dem Gleichnis ‚Von einem diebe der kam zuo der ê‘ (Nr. 10) erzählt Boner von einem Dieb, der eine große Hochzeit feiert – was seine Nachbarn ungemein freut (Nr. 10, V. 1– 8).⁷⁸⁵ Ein wîser man (Nr. 10, V. 9) jedoch warnt ebendiese mit einer Fabel: Die Sonne leidet unter Einsamkeit und Kinderlosigkeit und nimmt sich daher eine Frau. Dies beklagt wiederum die Erde, die bereits von einer einzigen Sonne verbrannt wurde und nun auch noch Nachkommen aushalten muss. Das Epimythion schließt mit einem klassisch-formalen Topos (‚Mehr oder Minder‘):⁷⁸⁶ Wenn schon der Vater böse ist, wie schlimm werden dann erst die Kinder sein (Nr. 10, V. 28 – 32) – also exakt das Prinzip, das in der Binnenerzählung als Fabel und in der Rahmenerzählung als Gleichnis ausgestaltet wird. Boner kombiniert hier zwei rhetorische Erzählformen: das argumentum mit einem Fabelinserat, welches wohl nicht zufällig als Argument gegenüber den Nachbarn fungiert – wie schon Aristoteles angegeben hat, soll man rhetorisch die Fabel als „Rede vor der Menge“⁷⁸⁷ verwenden. Gleichzeitig inszeniert der Edelstein hier in nuce seine eigene Argumentationsweise:
Vgl. etwa Rhetorica ad Herennium (Anm. 30), III, 3, 6: Nam nemo erit, qui censeat a virtute recedendum; verum aut res non eiusmodi dicatur esse, ut virtutem possimus egregiam experiri, aut in contrariis potius rebus quam in his virtus constare ostendatur. Item, si quo pacto poterimus, quam is, qui contra dicet, iustitiam vocabit, nos demonstrabimus ignaviam esse et inertiam ac pravam liberalitatem; quam prudentiam appellarit, ineptam et garrulam et odiosam scientiam esse dicemus; quam ille modestiam dicet esse, eam nos inertiam et dissolutam neglegentiam esse dicemus; quam ille fortitudinem nominarit, eam nos gladiatoriam et inconsideratam appellabimus temeritatem (‚Denn es wird niemanden geben, der die Meinung vertritt, man dürfe von der Tugend abweichen; aber man mag entweder sagen, die Angelegenheit sei nicht von der Art, daß man eine herausragende Tugend erkennen kann, oder man weise darauf hin, die Tugend sei eher in den gegenteiligen Eigenschaften vorhanden als in diesen. Ebenso werden wir, wenn wir irgendwie können, darlegen, daß die Eigenschaft, die der gegnerische Redner Gerechtigkeit nennt, Feigheit sei, Trägheit und verkehrte Freigebigkeit; wir werden sagen, die Eigenschaft, die er Klugheit nennt, sei abgeschmacktes, geschwätziges und widerwärtiges Besserwissen; die Eigenschaft, die er Selbstbeherrschung nennt, werden wir Trägheit und gleichgültige Nachlässigkeit nennen; die er als Tapferkeit benennt, werden wir als gladiatorenmäßige, unbesonnene Tollkühnheit bezeichnen.‘). Vgl. zu der gleichen Fabel auch die Überlegungen in Kapitel II.1.4 Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 23 (1397b 12– 18). Ebd., II, 20 (1393a 22– 1394a 18). Für den Einsatz der Fabel vor den rustici plädiert auch: Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), V, 11, 19.
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das Überzeugen qua exemplarischer Kurzerzählung. Paradigmatisch bildet das kurze Gleichnis das rhetorische Funktionsprinzip der gesamten Sammlung ab: Erkenntnis über die wahre Natur der Menschen, so suggeriert Boner, kann auch über das (Fabel‐) Erzählen vermittelt werden. Ein ähnlich weites Spektrum an Argumentationstechniken offeriert das Gleichnis vom kahlen Ritter (Nr. 75 ‚Von einem kalwen ritter‘). Ein Ritter ist kal von natûre (Nr. 75, V. 2), hat allerdings die gewonheit, sich eine hûbe[] guot mit hâre (Nr. 75, V.4– 6), also eine Perücke, aufzusetzen. Er kommt auf ein Turnier, gewinnt Ansehen im Kampf, doch wird ihm der Helm und damit auch die Perücke abgestoßen. Die Zuschauer verspotten erst seine Glatze, dann wendet der Ritter in einer Rede ihren Spott gegen die Zuschauer selbst, so dass diese verstummen: des spottes wart geswigen dar (Nr. 75, V. 40). Der Ritter führt dazu zwei Argumente an: Wenn ihn schon sein natürliches Haar verlassen habe, warum dann nicht auch die Perücke (Nr. 75, V. 29 – 32, also wieder der Topos ‚Mehr oder Minder‘), und sowieso sei alles Natürliche der Vergänglichkeit unterworfen: wâ mit hanf geziunet ist, / der zûn zergât in kurzer vrist. (Nr. 75, V. 35 f.). Schon die an sich simple Narration verbindet Gegenteiliges: ein Defekt der natûre, der durch gewonheit kompensiert wird,⁷⁸⁸ und die divergierenden Symboliken von Ansehen im Kampf und öffentlicher Schande. Die Rede des Ritters schließlich kombiniert rhetorische Strategien mit dem Wahrheitsanspruch der Natur. Allein die Technik, den Spott der Zuschauer gegen sie selbst zu verwenden, definiert Aristoteles als rhetorischen Topos.⁷⁸⁹ Rhetorischer Topos und Rekurs auf Naturgesetze ergänzen sich hier, schöpfen jedoch aus unterschiedlichen Registern von Wahrscheinlichkeit (Topik) und Wahrheit (Naturgesetz). Das Epimythion verleiht dann dem Wechsel und Wandel, d. h. der Kontingenz, den Status einer natürlichen Rhythmik: an dirr welt ist kein stætekeit: / waz hiut ist liep, dast morne leit. (Nr. 75, V. 49 f.). Kompensationsinstrument ist wiederum die Redekunst, also die Rhetorik: er dunket mich ein wîser man, / der alsô spot zerstœren kan / mit schalle (Nr. 75, V. 41– 43). Rhetorik, so macht es Boner klar, ist eine zwiespältige Methode. Einerseits zeigt der Text, wie sich über rhetorische Argumentation der überhebliche Starke zum Schwächeren degradieren lässt, wie man sich gegen Kritik verteidigen kann und wie Überzeugung durch narratives Argumentieren erreicht wird. Andererseits rekurriert der Edelstein immer wieder auf das destruktive Potenzial der Rhetorik: Schon hingewiesen wurde auf die Metaphorik, Worte und Waffen gleichzusetzen, die vor allem in Bezug auf das zerstörerische Potenzial der zungen immer wieder aufgegriffen wird: die valschen zungen hânt daz recht, / si machent krump, daz ê was slecht. (Nr. 7,V. 47 f.). Boner zweifelt hier jedoch nicht an der Wirksamkeit von Rhetorik, sondern argumentiert aus moralischer Perspektive: Das Auseinanderfallen von Worten und Taten wird zum gesellschaftlichen Problem (die mügen wol valsche sprâche haben: / ir wort,
Siehe dazu auch das Kapitel zu natûre oben (IV.2.4). „Ein weiterer (Topos ergibt sich) daraus, dass man das über einen selbst Gesagte gegen den wendet, der es sagte“, Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 23 (1398a 3 – 4).
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ir werk sint ungelîch, Nr. 33,V. 36 f.). Mit der Prämisse, dass rhetorische Instrumentarien nur dem ethisch Guten zur Verfügung stehen sollen, reiht sich Boner in eine RhetorikKritik ein, die seit den platonischen Schriften der Antike eine ‚populistische‘, missbrauchende Beweisführung zugunsten einer ethisch ausgerichteten Rhetorik eliminieren möchte, indem sie den persönlichen Gewinn durch das Eintreten für das moralisch Richtige substituiert.⁷⁹⁰ So sehr Boner selbst auf rhetorische Techniken in seinen Erzählungen setzt, so deutlich ist sein Drohen vor ihrem Gebrauch durch die valschen: Der Wahrscheinlichkeitsglaube der Rhetorik wird an das Wahrheitskriterium eines ethisch Guten rückgekoppelt. Direkt narrativ verhandelt wird die ‚Zwiespältigkeit‘ der Rhetorik in der Erzählung Nr. 91: Ein Reisender sucht Zuflucht im Haus eines Waldmannes. Um seine Hände zu wärmen, haucht der Reisende sie an, als ihm der Waldmann aber heißen Wein reicht, bläst er auf diesen, um ihn zu kühlen. Verwirrt über das konträre Verhalten seines Gastes („waz ist daz, / daz du treist heiz unde kalt / in dînem munde?“, Nr. 91,V. 38 – 40) setzt der Waldmann den Reisenden wieder vor die Tür. Das Epimythion problematisiert anschließend ausführlich die Auswirkungen des Redens mit zwô zungen (Nr. 91, V. 48). Indem ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Rhetorik hier über die diametrale Opposition heißkalt als sich ausschließende Gegensätze inszeniert werden, zeigt Boner, dass die Rhetorik in diesem Fall der Ethik als Korrektur und Richtlinie bedarf.⁷⁹¹ Basis dieser Verhandlungen ist aber ein Erfahrungswissen, das in den Erzählungen selbst verhandelt wird: Agonale Figurenreden, eingeschobene Sprichwörter und Topoi signalisieren den Rückgriff auf das rhetorische Arsenal. Da die Fabel häufiger als Gleichnis oder Exempel den Konflikt oppositioneller Kräfte thematisiert, greift Boner in der Regel auf adäquate rhetorische Techniken wie die Antithese⁷⁹² (dîn werk sint krumb; dîn wort sint slecht, Nr. 90, V. 24; sin lîp was jung, sîn sitten alt, Nr. 97, V. 3) oder das Aufzeigen diametraler Gegensätze zurück (diu mûs strebt ûf, der vrösch zôch nider; / daz er gelobt, dâ tet er wider, Nr. 6, V. 21 f.; oder poetischer: sô hôher berg, sô tiefer tal; / sô hôher êr, sô tiefer val, Nr. 39, V. 37 f.). Damit schreibt sich ein Reservoir an Argumentationstechniken, Sprichwörtern⁷⁹³ und Enthymemen in die Kurzerzäh-
Vgl. Kienpointner: Art. Rhetorica contra Rhetoricam (Anm. 719). Das Gleichnis Nr. 91 – darauf kann hier nur am Rand verwiesen werden – offeriert somit eine ganz andere, wesentlich allegorischere Auslegung als die vorher eingeführten Erzählungen, es scheint, als sei die Erzählform des Gleichnisses hierfür wesentlich prädestinierter, vgl. Raguse: Figürlich leben (Anm. 351). Für eine ausführliche Analyse von verschiedenen Versionen des Gleichnisses vgl. Schwarzbach-Dobson: Argumentation – Narration – Epimythion (Anm. 92), S. 88 – 91. Die Antithese wird schon von Aristoteles als wirksame Argumentationstechnik hervorgehoben, vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), III, 11 (1412b 21– 32). Der Konnex Fabel-Sprichwort ist eng und auch von der Forschung vielfach analysiert worden, vgl. Ludger Lieb: Fabula docet? Überlegungen zur Lehrhaftigkeit von Fabel und Sprichwort. In: Von listigen Schakalen und törichten Kamelen (Anm. 453), S. 37– 54; wichtig in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung Grubmüllers, dass in mittelalterlichen Handschriften Fabelsammlungen häufig mit Sprichwort-Sammlungen kombiniert werden: Klaus Grubmüller: Elemente einer literarischen Gebrauchssituation. Zur Rezeption der aesopischen Fabel im 15. Jahrhundert. In: Würzburger Prosastu-
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lungen ein, das grundlegende Differenzen gegenüber einer auf Wahrheit basierenden Logik offenbart, zielen die rhetorischen Instrumente doch in der Regel auf Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit: Ein bœs leben wer daz hât, / dar an ein bœs end gerne stât. / er hât gelück, wer alweg tuot / bœslîch, wirt sîn ende guot. (Nr. 54,V. 45 – 48).⁷⁹⁴ An Stellen wie diesen vermeidet Boner apodiktische Aussagen und verweist über kleine Einschränkungen (ein bœs end gerne stât) auf mögliche Alternativen, wie hier etwa Fortuna als Kontingenzfaktor. Aus einer derartigen Perspektive erweist sich die Rhetorik gegenüber der streng moralphilosophischen Lehre als das flexiblere Instrument: Wen spricht ein wort, daz mag wâr sîn, / als ez nu hie ist worden schîn: / ‚Wer ab dem galgen lœst den diep, / dar nâch hât er in niemer liep.‘ (Nr. 71,V. 59 – 62). Die Aussage kann (mag) wahr sein, wie es der Einzelfall gezeigt hat (als ez nu hie ist worden schîn) – es ließe sich auch umgekehrt formulieren: In diesem Fall gilt die Aussage, in anderen Fällen vielleicht nicht. Boner generiert hier aus dem erzählten Einzelfall der Fabel eine Regel, beschränkt aber deren Reichweite auf einen mittleren Radius – ein genuin rhetorisches Verfahren. Boner rekurriert damit auf die Breite eines Erfahrungswissens, das für jede Regel implizit eine Ausnahme einkalkuliert. So verwundert es nicht, dass er neben FreidankAnleihen⁷⁹⁵ und Sentenzen, die auf gesellschaftliche Ordnung zielen (man soll nicht mehr verlangen, als die Natur gegeben hat usw.) in den Epimythien auch häufig formal-topische Sätze anführt, die aus den Registern des Common Sense zitieren: wer under zwein bœsen nemen sol / die wal, dem wil ich râten wol, / daz er neme (daz wirt im guot), / daz den minren schaden tuot. (Nr. 26, V. 33 – 36). Das Prinzip, von zwei Übeln das kleinere zu wählen, wird schon von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik ⁷⁹⁶ dargestellt und zeugt dort wie bei Boner von der Bevorzugung eines pragmatischen gegenüber einem dogmatischen Handlungswissen. Dass Boner den Topos ausgerechnet im Epimythion der Fabel von den ‚Tauben und Habicht‘ anführt, zeigt eine Übertragung des rhetorischen Registers auch auf das politische Feld, das gemeinhin mit der Fabel verbunden wird:⁷⁹⁷ Die Tauben leiden unter den ständigen Angriffen der Weihe und bitten den Habicht, ihr Anführer zu werden und die Weihe zu vertreiben. Der Habicht tut dies, attackiert aber nach Vertreibung der Weihe die Tauben selbst umso heftiger. Kapitel III.1 hat bereits die chronikalische Einbindung der Fabel in politische Situationen aufgezeigt: Wählt das Volk sich selbst einen Herrscher, so der geläufige Tenor hier, endet dies im Unglück. Neben diese soziale Dimension, auf die
dien. Bd. 2: Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Peter Kesting. München 1975 (Medium aevum. 31), S. 139 – 159, hier S. 146. Vgl. auch wer bettet vil, und übel tuot, / der ist sælig, wirt sîn ende guot (Nr. 22, V. 3 f.). Die Querverbindungen erwähnt Bezzenberger im Kommentar seiner Freidank-Ausgabe: Fridankes Bescheidenheit. Hrsg. von Heinrich Ernst Bezzenberger. Aalen 1962 [Neudr. der Ausg. 1872], S. 281– 469. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik (Anm. 596), II, 9 (1109b): „So muß man nach dem volkstümlichen Spruch, als zweitbeste Fahrt, das kleinste Übel wählen.“ Vgl. Cicero: De officiis (Anm. 474), III, 28, 102: Primum: minima de malis. Zu der Fabel vgl. auch Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 350.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
im Edelstein in den vorhergehenden Erzählungen angespielt wird,⁷⁹⁸ stellt Boner ein situationsabhängiges Verhalten, das nicht durch feste Maximen reguliert wird, sondern aus kollektiven Erfahrungsschätzen schöpft.⁷⁹⁹ Liest man Boners Sammlung aus dieser Perspektive, zeigen sich symptomatisch die Schwächen einer die Fabel rein auf ihren erzieherischen Impetus zuschneidenden Literaturwissenschaft. Der geläufigen Konvention, Fabeln auf ihren (etwaigen) moralischen Gehalt zu reduzieren, hat nicht zuletzt Harald Weinrich widersprochen: Die Fabel, so Weinrich, ziele nicht darauf, den Menschen besser zu machen, sondern auf eine Diskussion über die conditio humana – „Man muß die Natur der Arten kennen, gerade weil man sie nicht ändern kann.“⁸⁰⁰ Nicht moralische Erziehung, sondern Wissen in Form akkumulierter Lebenserfahrung prägen die Fabel, wodurch sie im Bereich poetischer Wahrscheinlichkeiten argumentiert.⁸⁰¹ Dass sich dies auch auf die Epimythien der Erzählungen erstreckt, hat Klaus Grubmüller bereits festgestellt. Die von ihm konstatierte „kumulative Reihung von Erfahrungssätzen“⁸⁰² im Anschluss an die Narrationen kann auch beschrieben werden als rhetorische Technik, die gleiche Regel aus verschiedenen Perspektiven je neu zu formulieren. So lässt Boner die 6. Fabel (‚Von einem vrösche und einer miuse‘), in der ein Frosch versucht, eine Maus zu betrügen und zu ertränken – mit dem Resultat, dass beide von einem Greifvogel gefangen werden – in einem Sprichwort enden: Im selben gruobet dicke ein man, / und wænt eim andern gruobet hân (Nr. 6, V. 33 f.).⁸⁰³ An-
Die beiden vorhergehenden Erzählungen haben eine ähnliche Narration, verlegen die Geschichte dabei einmal ins Tierreich (Nr. 25, die Fabel ‚Die Frösche bitten um einen König‘), einmal in die historia (Nr. 24). Beide Epimythien zielen stark auf eine soziale Einschränkung, betonen aber auch Freiheiten: Wer bereits ohne König sei, der solle sich auch keinen nehmen, sondern autark bleiben. Grubmüller hat diese und andere Stellen vor einem sozialgeschichtlichen Hintergrund gedeutet: Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 350 – 374. Auch Aristoteles weist in der Rhetorik auf den Zusammenhang zwischen exemplarischer Kurzerzählung und Herrschaftswahl hin, vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1393b 9 – 23): Die Einwohner von Himera wählen einen Anführer mit uneingeschränkter Machtbefugnis und möchten ihm zudem eine Leibwache geben. Darauf erzählt Stesichoros eine Fabel: Die Weide eines Pferdes wird von einem Hirsch zerstört. Das Pferd verbündet sich mit den Menschen, um Rache zu üben, lässt sich dafür aber auch von den Menschen Zügel anlegen. Sobald die Menschen das gezügelte Pferd besteigen, benutzen sie es nur noch für ihre eigenen Zwecke. Stesichoros warnt, dass den Einwohnern von Himera das gleiche drohe, wenn sie ihrem Anführer zu viel Macht gäben. Ähnlich auch schon: Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 333; Grubmüller: Hund und Esel oder Natur und Gesellschaft (Anm. 769), S. 541. Zu Rhetorik und Handlungswissen vgl. auch Hübner: Tugend und Habitus (Anm. 14), S. 137. Weinrich: Wenn ihr die Fabel vertreibt (Anm. 741), S. 71. Vgl. ebd., S. 71 und S. 75. Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 332; Kritik an Grubmüller hat Wright geäußert, der hinter Boners Zusammenstellung eine lateinische Tradition der Fabelkommentierung sieht, die v. a. in den Avian-Fabeln auffalle, vgl. Wright: Hie lert uns der meister (Anm. 36), S. 107– 131. Das Sprichwort der selbst gegrabenen Grube findet sich auch in der Bibel (Prediger 10,8; Sprüche 26,27), scheint davon unabhängig aber schon in der antiken Fabel eine prägnante Rolle zu spielen, vgl. Äsop: Fabeln (Anm. 335), Nr. 115.
IV.2 Ulrich Boner: Edelstein. Die geschlossene Sammlung
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schließend führt Boner drei Erfahrungssätze an, die anaphorisch mit wâ eingeleitet werden: an untriuwe, wâ diu vür gât, / ein guotez ende selten stât. / wâ wort und werk sind ungelîch, / der mensch wirt kûm an êren rîch. / wâ diu zung mit trügenheit / verbirgt des herzen valschekeit, / vil kûme sich wîp oder man / vor dem valsch gehüeten kan. (Nr. 6, V. 35 – 42).
Klaus Grubmüller hat bereits darauf hingewiesen, dass der letzte Erfahrungssatz die Blickrichtung umkehrt: Statt des Täters steht hier das Opfer des Lügens im Fokus.⁸⁰⁴ Die anderen Feststellungen, so Grubmüller, „bestätigen sich gegenseitig“⁸⁰⁵. Hier lässt sich aber noch genauer differenzieren: Während das eingängige Sprichwort nach dem Prinzip des ius talionis argumentiert und keine moralische Implikation offeriert, bringt der nächste Satz die untriuwe als ethische Qualität ins Spiel, die, so die Erfahrung, selten zu einem guten Ende führt. Das Auseinanderfallen von Worten und Taten hingegen wird mit Verweis auf gesellschaftliches Ansehen kritisiert. Damit aber werden verschiedene Register angesprochen: ausgleichende Gerechtigkeit, zukünftige Gerechtigkeit, soziales Kapital. Auffallend ist zudem die oben bereits besprochene Technik Boners, apodiktische Aussagen durch Hinweis auf Wahrscheinlichkeiten abzumildern (selten, kûm, vil kûme) – auch hier sind die Erfahrungssätze eher Spielräume des Offenen denn moralphilosophische Feststellungen. Als Fabelsammlung steht Boners Edelstein vor dem Paradoxon, wahre bzw. wahrscheinliche Schlussfolgerungen aus Erzählungen zu ziehen, die als fabulae von der Rhetorik als nicht wirklich und nicht möglich klassifiziert werden.⁸⁰⁶ Die entsprechenden Kapitel zu Kurzerzählungen in Chroniken oder im christlichen Kontext haben gezeigt, dass dieses Dilemma häufig narrativ gelöst wird, d. h. man formt die Fabel zu einem Gleichnis mit menschlichem Personal oder lässt die Tiere stumm agieren und gibt sie so als ‚möglich‘ aus. Ulrich Boner hingegen setzt nicht am fiktionalen Gehalt der Narrationen an, sondern betont stark agonale Redesituationen und fügt Sentenzen und Sprichwörter als Erzählerkommentare ein. Das Überzeugungspotenzial seiner Erzählungen ergibt sich somit im Regelfall nicht aus der Darstellung möglicher (Gleichnis) oder bereits geschehener (historisches Exempel) Welten, sondern indem der nicht-wirkliche Erzählrahmen der Fabel als offene Form für rhetorische Techniken fungiert. Der Edelstein generiert aus der erzählerischen ‚Schwäche‘ der Fabel (sie ist nicht passiert und kann auch nie passieren) eine rhetorische Stärke: Die fiktionale Welt der Fabel fungiert als Inventionsraum für die Komplexität der Lebenswirklichkeit, als Reservoir für die Vielfältigkeit des Einzelfalls.⁸⁰⁷
Vgl. Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 326 f. Ebd., S. 327. Vgl. die ausführlichen Hinweise in Kapitel II.3. Vgl. dazu auch die Ausführungen Hans Georg Coenens zur Funktionsweise der ‚rhetorischen Fabel‘: Coenen: Die Gattung Fabel (Anm. 27), S. 60 – 72.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Wo die historia als Quelle des historischen Exempels nicht genügend Beispiele offeriert und das Gleichnis als mögliche Geschichte stets an die Bedingungen realistischen Erzählens gebunden bleibt,⁸⁰⁸ ist die Fabel bei Boner häufig frei für das Demonstrieren potentieller Fallbeispiele, die die Ambivalenz des Erfahrungswissens in variierbare Einzelerzählungen umsetzen, wie es die oben besprochenen isotopischen Reihen paradigmatisch aufzeigen.⁸⁰⁹ Gleichzeitig liegt mit der Fabel aus poetischer Perspektive eine Erzählform vor, in der die axiologische Besetzung der Aktanten im Regelfall bereits durch kulturelle Konvention festgelegt ist. Rekurriert das Gleichnis auf den prinzipiell wertfreien anonymen Menschen (homo quidam),⁸¹⁰ der erst durch Handlung oder Erzählerkommentar moralisch charakterisiert wird, d. h. eine Axiologie erhält, sind Wolf, Lamm oder Fuchs schon bei Erzählbeginn semantisch fixiert: der böse Wolf, das unschuldige Lamm, der kluge Fuchs usw. Im metaphorischen Erzählen der Fabel aber kann Boner diese Werte verschieben. In der Fabel Nr. 5 begegnet der Wolf an einem Bach dem Lamm, das er – stereotyp als gewalttätiger Unterdrücker agierend – mit Scheinvorwürfen belegt und trotz Gegenargumenten frisst. In der oben bereits angesprochenen Fabel Nr. 38 aber, in der ein Wolf das Bild eines Menschen findet, prangert der Wolf die Seelenlosigkeit und moralische Unvollkommenheit des Bildes an: waz sol ein lîp ân sêle, ân muot? (Nr. 38,V. 33). Genauso bedient sich der Wolf in Fabel Nr. 35 eines falschen Eides, um ein Schaf zu verraten, während er selbst in Fabel Nr. 55 vom neidischen Fuchs an einen Hirten verraten wird. Die Eigenschaften und Werte der Tiere scheinen im Edelstein weniger durch kollektive Vorstellung geprägt als situativ je neu entworfen zu werden. Auch in der axiologischen Besetzung beschreibt Boner somit die Komplexität von Wirklichkeit in erster Linie als eine
Vgl. Seifert: Historia im Mittelalter (Anm. 270). Vgl. bspw. die Fabeln 48 und 49: In der Fabel Nr. 48 beklagen Fieber und Floh gegenseitig ihr Leid: Der Floh hat die Nacht bei einer Äbtissin verbracht und konnte dort nur knapp entkommen – die Untergebene der Äbtissin hat diese gründlich nach Ungeziefer abgesucht. Das Fieber hat die Nacht bei einer armen Wäscherin verbracht, wurde von dieser aber durch etliche Behandlungen vertrieben. Sie beschließen, ihre Plätze zu tauschen, und reüssieren nun beide: Die fiebrige Äbtissin lässt sich fest zudecken, was das Fieber freut; der Floh macht es sich im Strohsack der Wäscherin gemütlich. Wird hier gezeigt, dass es für manche von Vorteil sein kann, ihre angestammten Plätze zu tauschen, macht die folgende Fabel deutlich, dass ein derartiger Tausch auch misslingen kann: Die Krähe ist neidisch auf den Habicht und beschließt, sich dessen Vorteile zu eigen zu machen, indem sie seine Eier stiehlt und selbst ausbrütet. Doch der Tausch schlägt fehl: Die jungen Habichte attackieren die Krähe und töten sie. Das rhetorische Prinzip des in utramque partem (also die Technik, ein Thema von zwei Seiten zu betrachten) wird hier im freien metaphorischen Erzählen der Fabel narrativ entfaltet und – typisch für die Fabel – zusätzlich mit einer sozialen Dimension unterlegt. Auch dies ist wieder ein Beispiel für das kontrastierende Zusammenstellen Boners: Nr. 48 hat als Vorlage eine Erzählung von Jacques de Vitry (Nr. 59) und in Arnolds von Lüttich Alphabetum narrationum; Nr. 49 findet sich im Wiener Cod. 2705 (Nr. 188). So etwa auch in der Vulgata der typische Erzähleinsatz der Gleichnisse Jesu, vgl. exemplarisch Lk 15,11.
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
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Sphäre von Kontingenz, in der es keine definitiven Festschreibungen gibt und dem Einzelfall Vorrang vor dem Regelsystem eingeräumt wird.⁸¹¹
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung IV.3.1 Einführung: Forschung und Überlieferung Die Gesta Romanorum gelten als weitverbreitetste⁸¹² und damit auch „beliebteste“⁸¹³ mittelalterliche Sammlung an exemplarischen Kurzerzählungen, die in der Zahl an erhaltenen Handschriften höchstens durch Legendensammlungen wie die Legenda aurea übertroffen wird. Die älteste überlieferte Handschrift (J) datiert auf 1342, doch ist aufgrund von Dubletten in der Handschrift davon auszugehen, dass hier schon eine überarbeitete Version vorliegt⁸¹⁴ – generell setzt die Forschung den Entstehungszeitraum der Gesta Romanorum auf etwa 1300 an.⁸¹⁵ Im Gegensatz zu Ulrich Boners Edelstein, der zwar auch in mehreren Redaktionen vorliegt, jedoch einen klaren Aufbau erkennen lässt, zeigen sich die Gesta Romanorum als eine durchweg offene Sammlung. So schwankt etwa die Zahl an Erzählungen in den verschiedenen Handschriften enorm: Während die älteste Handschrift J noch 220 Exempel aufweist, kompilieren andere Handschriften meist nicht mehr als 110 exemplarische Kurzerzählungen.⁸¹⁶ In funktionaler Perspektive stehen die Gesta Romanorum im Schnittpunkt zwischen Leseliteratur und Predigtreservoir.⁸¹⁷ Sie sind dabei, wie es der Titel bereits andeutet, in erster Linie historisch fokussiert. Der Erzählbestand ist jedoch offen – die Überlieferungsgeschichte zeigt, dass häufig weitere Exempelsammlungen mit dem Bestand der Gesta Romanorum verschmelzen.⁸¹⁸ Die in der Sammlung erhaltenen Eine Technik, die sich auch in anderen Fabelsammlungen, wie etwa derjenigen des Äsop wiederfindet, vgl. etwa Äsop: Fabeln (Anm. 335), Nr. 153, in der Wölfe Schafe überlisten mit Nr. 159 und Nr. 160, in denen Schafe Wölfe überlisten. Zumindest im Spätmittelalter, der Schwerpunkt der Überlieferung liegt im 15. Jahrhundert, vgl. Nigel F. Palmer: Das Exempelwerk der englischen Bettelmönche. Ein Gegenstück zu den Gesta Romanorum?. In: Exempel und Exempelsammlungen (Anm. 2), S. 137– 172, hier S. 141; heute sind mehr als 250 Textzeugen bekannt, vgl. Udo Wawrzyniak: Art. Gesta Romanorum. In: EdM. Bd. 5, Sp. 1201– 1212, hier Sp. 1202. Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Bd. 1, S. 1. Vgl. Nicola Hömke: Seneca Moralizatus. Die Rezeption der Controversiae Senecas d. Ä. in den Gesta Romanorum. In: Pontes III. Die antike Rhetorik in der europäischen Geistesgeschichte. Hrsg. von Wolfgang Kofler, Karlheinz Töchterle. Innsbruck 2005 (Comparanda. 6), S. 157– 174, hier S. 159. Vgl. Wawrzyniak: Art. Gesta Romanorum (Anm. 812), Sp. 1201; Hömke: Seneca Moralizatus (Anm. 814), S. 159. Vgl. Walter Röll: Zur Überlieferungsgeschichte der Gesta Romanorum. In: Mittellateinisches Jahrbuch 21 (1986), S. 208 – 229, hier S. 219. Vgl. Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Bd. 1, S. 1. Vgl. ebd., S. 97.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Erzählformen sind so einerseits relativ heterogen: größtenteils historische Exempel, aber auch wenige Fabeln, Gleichnisse und Legenden, mit der längeren Geschichte des Apollonius von Tyr sogar die Kurzfassung eines Romans.⁸¹⁹ Andererseits werden die Einzelerzählungen aber durch allegorische Auslegungen, sog. Moralisationen, die fast jede Erzählung komplementieren, in ein christliches Koordinatensystem eingegliedert. Klare Ordnungsmuster sind in der Sammlung nicht zu erkennen, auch die Quellensituation ist größtenteils nur in Ansätzen rekonstruierbar: von antiken Autoren wie Plinius d. Ä. oder Valerius Maximus bis hin zu mittelalterlichen Exempelsammlungen wie der Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi oder historiographischen Werken.⁸²⁰ Die komplizierte Überlieferungsgeschichte schlägt sich naturgemäß in editorischen Problemen nieder. Die älteste Handschrift J wurde von Wilhelm Dick herausgegeben,⁸²¹ während Hermann Oesterley eine Gesamtedition vorlegte, welche die 181 Erzählungen des „vulgärtextes“⁸²² (d. h. des – laut Oesterley – wichtigsten Druckes) mit zahlreichen weiteren Exempeln aus allen Oesterley bekannten Handschriften ergänzt; insgesamt kommt die Ausgabe so auf 283 Erzählungen.⁸²³ Eine heutigen Kriterien genügende Edition liegt nicht vor, auch hier wird im Folgenden mit der Oesterley-Edition gearbeitet, wobei der Konvention gemäß durch die Sigle Oe vor jeder Erzählung darauf hingewiesen wird, dass sich die Nummerierung nach dieser Ausgabe richtet. Problematisch ist die defizitäre Editionslage dennoch: Die von Oesterley herausgegebene Sammlung an Kurzerzählungen hat in dieser Form sicherlich nie in einer mittelalterlichen Handschrift gestanden. Wenn im Folgenden Techniken der Kompilation, wie etwa Reihenbildung, besprochen werden, so wird in den Fußnoten auf dieses Problem verwiesen bzw. angegeben, ob sich die Erzählungen in der von Dick herausgegebenen ältesten Gesta Romanorum-Handschrift finden lassen.⁸²⁴
Vgl. Brigitte Weiske: Die Apollonius-Version der Gesta Romanorum. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea. 1), S. 116 – 122. Vgl. dazu exemplarisch Wawrzyniak: Art. Gesta Romanorum (Anm. 812), Sp. 1203; Udo Gerdes: Art. Gesta Romanorum. In: ²VL. Bd. 3, Sp. 25 – 34, hier Sp. 27; Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Bd. 1, S. 10 f.; vgl. auch die Überlegungen von Nickel im Nachwort seiner Edition: Gesta Romanorum. Lateinisch, Deutsch. Ausgew., übers. und hrsg. von Rainer Nickel. Stuttgart 1991 (RUB. 8717), S. 257 f.; sowie die Auflistungen in der Edition von Oesterley: Gesta Romanorum. Hrsg. von Hermann Oesterley. Reprograf. Nachdr. der Ausg. Berlin 1872. Hildesheim 1963, S. 714– 749. Vgl. Die Gesta Romanorum. Nach der Innsbrucker Handschrift vom Jahre 1342 und 4 Münchener Handschriften. Hrsg. von Wilhelm Dick. Nachdr. d. Ausg. Erlangen [u. a.] 1890. Amsterdam 1970 (Erlanger Beiträge zur englischen Philologie. 7). Gesta Romanorum (Anm. 92), S. 1. Vgl. ebd. Für eine nützliche Konkordanz vgl.Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Bd. 1, S. 116 – 124; sowie Catherine Velay-Vallantin: Gesta Romanorum. In: Les Exempla médíévaux. Introduction à la recherche, suivie des tables critiques de lʼIndex exemplorum de Frederic C. Tubach. Hrsg. von Jacques Berlioz. Carcassonne 1992 (Classiques de la littérature orale), S. 243 – 261.
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
209
Mit den Schwierigkeiten der Gesta Romanorum-Überlieferung hat sich Brigitte Weiske intensiv befasst – auf ihre Ergebnisse kann im Rahmen dieser Arbeit, die einen ganz anderen Themenfokus hat, nur kursorisch verwiesen werden.⁸²⁵ Zwei Charakteristika der Überlieferung sollten jedoch auch hier erwähnt werden, da sie bereits auf eine rhetorische Kontextualisierung der Erzählsammlung verweisen. Erstens werden die Gesta Romanorum in einer großen Zahl an Handschriften gemeinsam mit den Sieben weisen Meistern überliefert, mithin einem Text, der dezidiert die Anwendung von exemplarischen Kurzerzählungen als Argumenten zum Thema hat.⁸²⁶ Zweitens werden die Gesta Romanorum in einigen Redaktionen (u. a. auch in einer Fassung der deutschen Übersetzungen) ohne ihre geistlichen Auslegungen überliefert.⁸²⁷ Trotz ihrer enormen Verbreitung hat die Forschung den Gesta Romanorum lange nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Brigitte Weiske stellt – neben einer Aufarbeitung der Überlieferungsgeschichte – die Relation zwischen den Erzählungen und ihren Moralisationen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit: Im geistlichen Sinn, so Weiske, zeige sich ein die Sammlung bestimmender Heilsplan.⁸²⁸ Ähnlich argumentiert Nigel Palmer, wenn er in den Gesta Romanorum in erster Linie „ein Panorama der antiken Welt“ liest, „das in den Dienst christlicher Allegorese“⁸²⁹ gestellt wird. Der Blick auf die Erzählauslegungen hat tatsächlich ein Desiderat gefüllt – kaum eine moderne Übersetzung hat die Moralisationen mit aufgenommen⁸³⁰ und Dick unterschlägt sie sogar in seiner Edition der Gesta Romanorum –, er beantwortet jedoch nicht die Frage nach dem Status des Erzählens selbst. Wichtige Anregungen kommen an dieser Stelle von Nicola Hömke und Udo Friedrich, die sich mit Formen von juristischer Argumentation in den Erzählungen der Gesta Romanorum auseinandersetzen:⁸³¹ Die Gesta
Vgl. Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Zu den Sieben weisen Meistern vgl. Steinmetz: Exempel und Auslegung (Anm. 79); zum Überlieferungszusammenhang vgl. Röll: Zur Überlieferungsgeschichte der Gesta Romanorum (Anm. 816), S. 212. Vgl. Wawrzyniak: Art. Gesta Romanorum (Anm. 812), Sp. 1206; Gerdes: Art. Gesta Romanorum (Anm. 820), Sp. 30. Vgl. Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Bd. 1, S. 3 – 5. Palmer: Das Exempelwerk der englischen Bettelmönche (Anm. 812), S. 138. Eine Übersetzung der Ausgabe Oesterleys wurde sowohl von Grässe wie Trillitzsch angefertigt, wobei Grässe nicht alle 283 Erzählungen bearbeitet. Beide unterschlagen die geistlichen Auslegungen der Exempel. Eine neuere Ausgabe bietet Nickel, der jedoch nur eine kleine Auswahl vornimmt, er übersetzt die Moralisationen zum Teil. Vgl. Gesta Romanorum. Die Taten der Römer. Ein Geschichtenbuch des Mittelalters. Nach der Übersetzung von Johann Georg Theodor Grässe hrsg. u. neu bearb. von Hans Eckart Rübesamen. München 1962 (Heyne-Paperbacks. 5); Gesta Romanorum. Geschichten von den Römern. Ein Erzählbuch des Mittelalters. Erstmals in vollst. Übers. hrsg. von Winfried Trillitzsch. Leipzig 1973; Gesta Romanorum (Anm. 820). Vgl. Hömke: Seneca Moralizatus (Anm. 814); Friedrich: Juristisches Argumentieren und Erzählen in den Gesta Romanorum (Anm. 92); Friedrich hat sich darüber hinaus auch mit dem narrativen Status von ‚Dingen‘ auseinandergesetzt, vgl. Udo Friedrich: Zur Verdinglichung der Werte in den Gesta Romanorum. In: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von Anna Mühlherr [u. a.]. Berlin [u. a.] 2016 (Literatur – Theorie – Geschichte. 9), S. 249 – 266.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Romanorum greifen kasuistische Rechtsfälle aus den Controversiae Senecas d. Ä. auf, die zu Erzählungen umgeformt werden. Während sich Hömke hier stärker an Weiske orientiert und den Konnex zwischen juristischer Erzählung und moralisch-christlicher Auslegung betont, fokussiert Friedrich den über die Allegorese hinausgehenden Mehrwert des Erzählens und zeigt, welch unterschiedliche juristische und rhetorische Argumentationsformen die Erzählungen aufweisen. An diese Thesen wird hier angeknüpft: Nach einem kursorischen Überblick über das Spannungsfeld von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit in Moralisation und Erzählung der Gesta Romanorum (IV.3.2) sollen Formen von Erzählen und Argumentation ausgelotet und die Erzählökonomie im Hinblick auf die Addition neuer Kontexte zu den Erzählungen perspektiviert werden (IV.3.3). Abschließend wird ein Blick auf die Spannung von Gesetz und Ausnahme geworfen wird (IV.3.4). Dabei alle 283 Erzählungen der Oesterley-Ausgabe anzusprechen, ist quantitativ nicht lösbar. Es werden daher nur für die Themenstellung signifikante Kurzerzählungen analysiert – es geht hier weniger um eine umfassende Beschreibung aller Erzählungen als um das symptomatische Herausstellen narrativer Verfahren. Wieder zentriert sich die Analyse auf Kontexte, hier jedoch weniger in Bezug auf die Sammlung als Kontext, wie in Boners Edelstein – in der offenen Sammlung zeigt sich dieser zu heterogen. Vielmehr interessiert an den Gesta Romanorum, inwiefern die Erzählungen selbst einen narrativen Kontext auf einer Mikroebene bilden, in dem Erzählstoffe aus verschiedenen Vorlagen aufgegriffen und neu perspektiviert werden können. Dass neben den volkssprachigen Kurzerzählungen in dieser Arbeit auch eine lateinische Exempelsammlung besprochen wird, hat das einleitende Kapitel bereits ausführlich expliziert: Im Fokus der Arbeit steht der rhetorische Wirkungsraum exemplarischer Kurzerzählungen des Mittelalters, der über das volkssprachige Korpus hinausgeht und auch den lateinischen Diskurs streift. Als sowohl in der Überlieferung weitverbreitete wie auch rezeptionsgeschichtlich höchst bedeutsame Sammlung exemplarischer Kurzerzählungen liefern die Gesta Romanorum hier wichtige Erkenntnisse über Formenvielfalt und Funktion von Fabel, Gleichnis und historischem Exempel. Die im Spätmittelalter angefertigten deutschen Gesta Romanorum-Versionen datieren hingegen auf etwa 1400 und fallen damit aus dem hier gezogenen Untersuchungszeitraum, auf sie wird im Folgenden nur kursorisch in den Fußnoten Bezug genommen.⁸³²
Die volkssprachigen Gesta Romanorum werden im Folgenden zit. nach: Gesta Romanorum. Das Ist Der Rœmer Tat. Hrsg. von Adelbert Keller. Quedlinburg 1841 (Bibliothek der gesammten deutschen Nationalliteratur von der ältesten bis auf die neuere zeit. 23).
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
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IV.3.2 Die Lesbarkeit der historia. Die Gesta Romanorum zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit Die häufigste in den Gesta Romanorum zu findende Erzählform ist das historische Exempel, das durch eine christliche Allegorese ergänzt wird.Was die Erzählsammlung hier verbindet, ist somit sowohl Erfahrungsform des kulturellen Gedächtnisses (historia magistra vitae) als auch die Allgemeingültigkeit einer religiösen Auslegung. Ersteres, durch die Narration vermittelt, ist rhetorisch geprägt und basiert auf Wahrscheinlichkeit, Letzteres kommt in der Allegorese zum Ausdruck und ist wahrheitsgebunden. Geschichtlich Kontingentes wird so nicht ausgestellt (wie es die antiken Vorlagen teils noch tun), sondern in einen Rahmen gebunden, der Kontingenz durch Providenz einfängt. Das providentielle Narrativ impliziert jedoch naturgemäß ebenfalls eine historische Tiefendimension. In den Gesta Romanorum, so könnte man zugespitzt formulieren, kollidieren zwei Formen von Geschichtskonzeption: eine strukturiertteleologische, d. h. dem Metanarrativ der Heilsgeschichte folgende Ordnung und ein episodisch-exemplarisches Archiv an historischen Einzelfällen.⁸³³ Dass dieses Archiv prinzipiell offen ist, zeigt die Überlieferungsgeschichte der Gesta Romanorum, in der die Sammlung anscheinend problemlos erweitert oder gekürzt werden konnte. Der Gegenstand der historia, so Hans Blumenberg, erlangt seine geschichtliche Wirklichkeit auch dadurch, stets neue Lesarten anzunehmen und neue Interpretationen zu tragen.⁸³⁴ Historische Erfahrung ist unabgeschlossen, sie zieht aus dem Archiv der Geschichte je neue situationsadäquate Schlüsse, während die religiöse Lesart bereits eine geschlossene Totalität impliziert. Die exemplarische Geschichtsauffassung, die dem Einzelfall eine Vielzahl an Auslegungen zuweisen kann, wird damit durch die christliche Auslegung hermeneutisch gebändigt. Aus der Perspektive der Allegorese lässt sich aus dem historisch Besonderen keine Allgemeinheit herauslesen, vielmehr verweist der geschichtliche Einzelfall stets auf die Allgemeingültigkeit der Heilsgeschichte. So hat nicht zuletzt Erasmus von Rotterdam in seinem Lob der Torheit 1509 kritisiert, dass hochtrabende theologische Gelehrte dazu neigen, Begebenheiten aus den Gesta Romanorum allegorisch, tropologisch und anagogisch auszulegen.⁸³⁵ Dies lässt sich auch an den Überschriften der Kurzerzählungen darlegen, die sich in den verschiedenen Handschriften sowohl auf den erzählten Einzelfall wie auch auf die religiöse Deutung der Erzählung beziehen können. Die bereits im Chronik-Kapitel (III.1.2) angesprochene Erzählung vom Eber, der einen Garten verwüstet, wird in einer Göttinger Handschrift als De [h]orto quem aper destruxit bezeichnet (vgl. Gesta Romanorum [Anm. 92], S. 11), in einer Wolfenbüttler Handschrift aber als De anima quam deus maxime diliget etc. (vgl. Geta Romanorum [Anm. 92], S. 40). Die Handschriften entwerfen so je unterschiedliche topische Archive, in denen die Erzählungen bereits qua Überschrift auf historische oder christliche Werte verweisen. Vgl. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (Anm. 45), S. 21. Erasmus von Rotterdam: Moriae encomium, 641– 643 (S. 166): Hic mihi stultam aliquam et indoctam fabulam, ex Speculo, opinor, Historiali, aut Gestis Romanorum in medium adferunt, et eandem
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Erasmus verweist hier auf das grundlegende christliche Deutungsmodell des vierfachen Schriftsinns, dessen Gehalt sich in den Moralisationen der Gesta Romanorum wiederfinden lässt: Den sensus historicus, auch sensus litteralis, nimmt aus dieser Perspektive der historische Gehalt der Exempel ein, die in den Auslegungen meist erst im sensus allegoricus typologisch gedeutet (d. h. in der Regel figural auf Jesus, den Teufel, Gott usw. bezogen) und dann durch appellative Zusätze (Quid ergo est faciendum?)⁸³⁶ durch einen sensus moralis, auch sensus tropologicus genannt, ergänzt werden. In der Summe aber, wie es Brigitte Weiske zeigt,⁸³⁷ entwerfen die Moralisationen einen geschichtlichen Heilsplan, in dem ein durch Jesus hervorgerufenes Gnadenzeitalter beschrieben wird – und somit auch der auf eine eschatologische Ebene zielende sensus anagogicus abgedeckt ist. Narratologisch reformuliert, löst das Deutungsmodell die narrative Struktur der einzelnen Kurzerzählungen auf, indem es ihre syntagmatische Verknüpfung in einen „paradigmatischen Verweisungszusammenhang“⁸³⁸ transformiert. Im sensus historicus interessiert nicht die Verknüpfung der historischen Ereignisse zur Erzählung, sondern ihr Einzelwert als Zeichen, das über Ähnlichkeits- wie Analogierelationen paradigmatischen Status annehmen kann, was der Funktionsweise des historischen Exempels entspricht.⁸³⁹ Wenn das historische Ereignis aber im sensus allegoricus figural gedeutet wird, ist der Zusammenhang zur Metapher evident, den bereits Northrop Frye in ‚Anatomy of Critiscm‘ hervorhebt: „Die religiöse Identifizierung unterscheidet sich von der dichterischen nur in der Absicht; jene ist existentiell, diese metaphorisch. In der mittelalterlichen Kritik war der Unterschied von geringer Bedeutung, und das Wort ‚Figura‘ in seiner Anwendung auf die Identifizierung eines Symbols mit Christus enthält gewöhnlich beides.“⁸⁴⁰
Dem sensus allegoricus fehlt jedoch die mehrdeutige Offenheit des ‚exemplarischen Erzählens‘, das etwa Paul Ricœur anhand der Metapher für die Gleichnisse Jesu beschrieben hat:⁸⁴¹ Der vierfache Schriftsinn basiert nicht auf innovativen Verknüpfungen, die neue Erkenntnismöglichkeiten kreieren sollen, sondern verweist auf das
interpretantur allegorice, tropologice, et anagogice. Hier und im Folgenden zit. nach: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami. Recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata. Ordo 4, Tomus 3. Amsterdam [u. a.] 1979. Erasmus wird auch erwähnt bei: Hömke: Seneca Moralizatus (Anm. 814), S. 158. Für Belege vgl. Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Bd. 1, S. 148. Vgl. ebd., S. 148 f. Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 246. Vgl. ebd., S. 245 f. Vgl. auch Kapitel II.3. Northrop Frye: Analyse der Literaturkritik. Stuttgart 1964 (Sprache und Literatur), S. 143 f. Auf Frye verweist auch Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 246, Anm. 102. Siehe Kapitel II.2.2.1.
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
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immer gleiche Zentralsignifikat, er ist „konventionell“.⁸⁴² Wenn hier die Metapher nicht im poetisch-semantischen Sinn innovativ ist, kann sie trotzdem als rhetorisches Instrument, als Argument fungieren, das – im aristotelischen Sinn – hilft, das Ähnliche in zwei verschiedenen Dingen zu entdecken. Frye hat daher die Allegorese, speziell die Typologie, auch als rhetorische Figur bezeichnet: In ihr werde in der Zeit argumentiert, wobei ihr Fokus in der Zukunft liege.⁸⁴³ Ihre Überzeugungskraft bezieht die Typologie dabei aus der Annahme eines grundlegenden Heilsplans, der Ereignissen Sinn und Ordnung zuschreibt, sich letztlich somit an Formen narrativer Komposition orientiert. Der zuvor über sensus allegoricus und sensus moralis reduzierte historische Gehalt der Exempel wird so über den sensus anagogicus wieder aufgewertet, doch auch neu ausgerichtet: Das christlich-historische Modell, dem die Kurzerzählungen unterliegen, ist keines, das auf Basis von Wahrscheinlichkeiten oder des Common Sense operiert, sondern eines der historisch fortschreitenden Wahrheit. Das Verhältnis Religion/Geschichte, das die allegorisch ausgelegten Exempel forcieren, funktioniert jedoch über andere Parameter als das Verhältnis Religion/Dichtung, das in den wenigen Gleichnissen und Fabeln der Gesta Romanorum umgesetzt wird. Im ersten Fall verbindet beide ein historischer Geltungsanspruch, der auf Wahrheit basiert, während im zweiten Fall das Verhältnis von Fiktion und Religion allein über metaphorische Operationen etabliert werden kann. Die Disposition des Verhältnisses von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit scheint damit nicht nur zwischen Erzählung und Moralisation ausgehandelt zu werden, sondern auch im Zusammenkommen von den Erzählformen historia, argumentum und fabula in den Gesta Romanorum, die bekanntlich je einen eigenen Status von Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit ausbilden.⁸⁴⁴ Doch gerade diese Fixierung narrativer Fiktionalitätsgrade erweist sich als bemerkenswert offen. So sind für die Überlieferungsgeschichte der Gesta Romanorum historisierende wie de-historisierende Tendenzen zu beobachten: Gegenüber antiken Parallelversionen historisieren die Gesta Romanorum ihre Erzählungen, wobei für den Schritt zum historischen Exempel häufig allein die Nennung eines Kaisers und dessen gesetzgebende Funktion ausreicht (s.u.). Gleichzeitig aber scheint dieser Vorgang leicht umkehrbar zu sein, denn in der Überlieferung, speziell im Wechsel von der Handschrift zum Druck, verlieren viele der historischen Exempel ihren spezifischen Kaiser bzw. König, der entweder ganz gestrichen oder zum anonymen rex quidam funktionalisiert wird.⁸⁴⁵ Dies impliziert einen ersten Schritt zur Erzählform Gleichnis, d. h. zu einer Verallgemeinerung der materia, in der
Hellgardt: Erkenntnistheoretisch-ontologische Probleme uneigentlicher Sprache in Rhetorik und Allegorese (Anm. 18), S. 27. Vgl. Northrop Frye: Typologie als Denkweise und rhetorische Figur. In: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt am Main 1988 (es. 1451), S. 64– 96. Vgl. abermals Kapitel II.3. Für Beispiele vgl. Johannes Schneider: Das Fortleben der römischen Kaiser in den Gesta Romanorum. In: Klio. Beiträge zur alten Geschichte 52 (1970), S. 395 – 410.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
nicht mehr die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens ist (histora magistra vitae), sondern die allgemeine Erfahrung. Gleichzeitig und wenig überraschend für eine lateinische Exempelsammlung, die eng in das christliche Koordinatensystem eingebunden ist, werden die wenigen Fabeln der Gesta Romanorum gegenüber ihren Vorlagen entfiktionalisiert und re-christianisiert.⁸⁴⁶ So bringen die Gesta Romanorum etwa eine schon in Bezug auf Boner besprochene Fabel – der Edelstein erzählt Folgendes: Ein Mann findet eine gefangene Schlange. Er befreit sie, woraufhin diese ihn erwürgen will. Der Fuchs wird als Richter hinzugerufen, um die Situation zu lösen. Er behauptet, sich den Ablauf des Geschehens klar machen zu müssen, daher sollen alle wieder an ihre Ausgangspositionen zurück: Der Mensch kommt frei, die Schlange wird wieder angebunden – und der Fuchs, dessen List aufgegangen ist, empfiehlt dem Menschen, die Schlange diesmal gefangen zu lassen.⁸⁴⁷
In den Gesta Romanorum (Oe 174) tritt anstelle des anonymen Mannes ein Kaiser auf, der Fuchs wird durch einen Weisen (philosophus) ersetzt, der als Richter wie als Tugendvorbild für den Kaiser gleichermaßen fungiert. Die Schlange bildet das einzige sprechende Tier, doch wird diese Sprachfähigkeit nicht als natürlich ausgegeben (wie es der Fabel inhärent ist), sondern göttlich verliehen und mit Verweis auf Bileams Esel⁸⁴⁸ durch die Autorität der Bibel abgesichert: Data est vox serpenti, ut quondam asine Balaam, et ait: […].⁸⁴⁹ Das sprechende Tier ist somit nur ein Ausnahmefall, der, als Wunder gekennzeichnet, die Grenze zwischen Geschichte und Heilsgeschichte markiert. Offen bleibt die Frage, ob die hier nur skizzierten generischen Transformationsprozesse auch den rhetorischen Status der exemplarischen Kurzerzählungen als Argumentationsformen betreffen.Wie im Einleitungskapitel dieser Arbeit dargelegt, gibt bereits Aristoteles an, dass sich prinzipiell jede kurze Erzählform – ob Fabel, Gleichnis oder historisches Exempel – in persuasiver Beispielfunktion (parádeigma) benutzen lässt, differenziert aber gleichzeitig zwischen ihrem Wirkungsgrad.⁸⁵⁰ Dies kongruiert mit der Beobachtung, dass verschiedene Erzählformen auf der gleichen Argumentation basieren können. Aristoteles selbst bringt etwa in der Rhetorik als Beispiel für die Verwendung der Fabel als Argument folgendes:⁸⁵¹ Äsop verteidigte einst einen angeklagten Herrscher, indem er eine Fabel erzählte: Ein Fuchs wird in einem Fluss abgetrieben und zwischen Steinen eingeklemmt. Derart bewegungsunfähig be-
Vgl. die Nummern Oe 79, Oe 83, Oe 105, Oe 141, Oe 174. Vgl. Ulrich Boner: Der Edelstein (Anm. 93), Nr. 71. Vgl. dazu Kapitel IV.2.4. Vgl. 4. Mose 22. Gesta Romanorum (Anm. 92), Nr. 174.Vgl. auch Oe 141, in der ebenfalls ein Ritter auf eine Schlange trifft: Serpens videns ejus [eines Ritters, M.S-D.] dolorem data est ei vox a deo sicut quondam asine Balaam. Das historische Exempel sei überzeugender, die Fabel aber allgemeiner einsetzbar usw., vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1394a 2– 8). Vgl. ebd., II, 20 (1393b 24– 1394a 1).
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fallen ihn zahlreiche Läuse. Das Angebot eines vorbeikommenden Igels, ihm die Läuse zu entfernen, lehnt der Fuchs mit der Begründung ab, würde man die satten Läuse vertreiben, würden bloß hungrige nachkommen. Dieses Argument übertrug Äsop auf die Anklage gegen den Herrscher.
Aristoteles gibt der Fabel einen historischen Kontext, in dem Äsop gleichermaßen als Fabeldichter wie Jurist auftritt und eine rechtliche Anwendung der Kurzerzählung aufzeigt. Die Gesta Romanorum erzählen hingegen in Oe 51: Kaiser Tiberius wird gefragt, warum seine Statthalter so lange die Provinzen regieren. Tiberius antwortet per exemplum: Er habe einst einen kranken Mann gesehen, dessen Geschwüre voller Fliegen waren. Als Tiberius die Fliegen verscheuchte, beschwerte sich der Mann, ihm dadurch die Qualen zu verdoppeln, da nun hungrige Fliegen den Platz der alten, gesättigten Fliegen einnehmen würden.
Die Erzählung bleibt vergleichsweise nah an der antiken Version des Flavius Josephus,⁸⁵² die von den Gesta Romanorum auch selbst als Quelle angegeben wird (Referet Josephus). Analog zu Aristoteles wird eine Redeszene gegeben, die eine rhetorische Performanzsituation schafft – bei Aristoteles in juristischer, bei den Gesta Romanorum in politischer Perspektive. Auch das Argument bleibt bestehen, doch ist seine narrative Umsetzung je einmal als Fabel, einmal als historisches Exempel gestaltet. Dies verdeutlicht aber divergierende Wahrheitsansprüche: Nicht nur impliziert die Figur des Menschen (anstelle eines sprechenden Fuchses) in den Gesta Romanorum eine Orientierung an wahrheitsgebundener Referenz, auch die Integration einer metadiegetischen Erzählung durch einen intradiegetischen Erzähler (Tiberius) bedient über den Topos der Augenzeugenschaft Strategien der Wirklichkeitsorientierung. Demgegenüber ist die aristotelische Fabel bereits über die intertextuelle Referenz auf den Fabeldichter Äsop als fiktionale Erzählung gekennzeichnet. Erzähltheoretisch rekurrieren die Gesta Romanorum so auf den paradigmatischen Verweis des historischen Exempels – Geschichte wiederholt sich –, während Äsop den metaphorischen Status der Fabel nutzt, um über Analogierelationen zu argumentieren.⁸⁵³ Die Gesta Romanorum formulieren damit im rhetorischen Sinn das überzeugendere Argument (denn die historia beglaubigt besser als die Fabel),⁸⁵⁴ doch nutzen beide Erzählungen ähnliche Techniken der Überzeugung, die nur durch kleine Differenzen in verschiedene Kontexte eingebunden werden.⁸⁵⁵
Vgl. Flavius Josephus: Antiquitates Iudaicae, XVIII, 6, 5. Hier und im Folgenden zit. nach: Des Flavius Josephus jüdische Altertümer. Übers. und mit Einl. und Anm. vers. von Heinrich Clementz. 14. Aufl. Wiesbaden 2002. Allerdings hat Tiberius bei Flavius Josephus den Mann mit den Geschwüren nicht selbst gesehen, fungiert somit nicht als Augenzeuge. Vgl. dazu auch die Hinweise Hans Georg Coenens zu den unterschiedlichen Argumentationsweisen von Fabel und historischem Exempel: Coenen: Die Gattung Fabel (Anm. 27), S. 48 – 72. Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 20 (1394a 2– 8). Im Liber certarum historiarum (aus der Mitte des 14. Jahunderts) des Johann von Viktring findet sich ebenfalls das Tiberius-Exempel, das hier abermals argumentativ kontextualisiert wird: Als die
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Das Aufgreifen analog gebauter Argumentationsformen in unterschiedlichen Kontexten von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit kann jedoch ebenso zu axiologischen Verschiebungen führen. So erzählt Äsop folgende Fabel: „Ein Wolf hatte sich satt gefressen. Als er ein Schaf auf der Erde liegen sah, bemerkte er, dass es aus Furcht vor ihm hingefallen war. Er kam heran und redete ihm gut zu und sagte, dass er es laufenlassen werde, wenn es ihm drei wahre Worte sage. Das Schaf begann nun und sagte als Erstes, es habe dem Wolf nicht begegnen wollen; als Zweites, wenn es ihm denn bestimmt gewesen sei, wäre ihm ein blinder Wolf lieber gewesen, und als Drittes: ‚Ihr bösen Wölfe sollt alle böse zugrunde gehen, weil ihr uns bekriegt, obwohl wir euch nichts getan haben.‘ Der Wolf nahm diese Wahrheitsliebe freundlich auf und ließ es laufen.“⁸⁵⁶
Die antike Fabel findet sich schon bei Babrius mit kleinen Variationen.⁸⁵⁷ Die Gesta Romanorum hingegen bringen eine erhebliche andere Erzählung, die den Fabelhintergrund komplett durch einen juristisch-historischen Rahmen ersetzt, aber bei aller Verschiedenheit dennoch ‚drei Wahrheiten‘ als argumentative Technik anführt (Oe 58): König Asmodus erlässt ein Gesetz: Jeder Kriminelle, der drei Wahrheiten nennen kann, die vom Volk anerkannt werden, soll freigelassen werden. Ein Ritter vergeht sich gegen den König, er versteckt sich erst im Wald, wird dort aber von einem Richter gefangen genommen. Bei einer öffentlichen Gerichtsszene erhält der Raubritter das Recht, sich durch drei Wahrheiten zu verteidigen. Er gibt an: Erstens sei er ein schlechter Mensch gewesen, zweitens missfalle es ihm sehr, gefangen geworden zu sein, und drittens werde er alles tun, um nie wieder gefangen gesetzt zu werden. Das Volk stimmt diesen Wahrheiten zu und der Raubritter wird freigelassen.
Im Gegensatz zu den Erzählungen vom ‚Fuchs und den Läusen‘ und dem ‚Verwundeten und den Fliegen‘ verschieben sich hier mit der Umsetzung in eine andere Erzählform (von der Fabel zum historischen Exempel) auch die Axiologien. Während in den ersten beiden Beispielen das gleiche Argument der gleichen Sache dient (die existierenden Habgierigen muss man akzeptieren, denn etwaige neue wären noch schlimmer), ist jetzt zwar das Argument (durch Wahrheit kommt man frei) noch gleich, nicht mehr aber seine Besetzung: Bei Äsop dient es der Befreiung des Unschuldigen, in den Gesta Romanorum der des Schuldigen. Dies bedingt je unterschiedliche inhaltliche Akzentuierungen: Das Schaf klagt in seinen drei Wahrheiten den Wolf an, der Raubritter sich selbst. Die Fabel imaginiert eine Situation, in der
Fürsten des Landes sich beim Abt erkundigen, wie sie am besten regieren sollen, erzählt dieser ihnen die Geschichte, wie Tiberius seinen Fürsten erzählte, er habe einmal einen Mann gesehen usw. – das Exempel scheint potentiell unendlich verschachtel- und einsetzbar. Vgl. Johann von Viktring: Liber certarum historiarum. Band 2: Libri IV – VI. Hrsg. von Fedor Schneider. Hannover [u. a.] 1910 (MGH Scriptores. 7 [36,2]), VI, 5. Äsop: Fabeln (Anm. 335), Nr. 159. Bei Babrius trifft der Wolf auf einen Fuchs, auch ist der Wolf nicht sattgefressen. Die ersten beiden der drei Wahrheiten des Fuchses gleichen denen des Schafes bei Äsop, als dritte Wahrheit gibt der Fuchs allerdings an, er möchte dem Wolf nie wieder begegnen. Vgl. Babrius: Fabeln (Anm. 414), Nr. 53.
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der unschuldige Schwache den schuldigen Mächtigen ungestraft seiner Taten beschuldigen kann, das historische Exempel aber eine, in der der Schuldige seine eigene Ungerechtigkeit durch Eingeständnis derselben nivelliert, er übernimmt somit die Rolle von Wolf und Schaf zugleich. Im Zuge der christlichen Ausdeutungen in den Gesta Romanorum kann diese Selbstbezichtigung lückenlos an Bußthematiken angeschlossen werden: Ego sum malus homo, i. e. in tali peccato et sic de singulis, ecce confessio, heißt es in der Moralisation der Erzählung. Der Gnade muss aus christlicher Perspektive die confessio vorausgehen, womit das Erlangen der Freiheit als Ausweis der Stärke des christlichen Gesetzes dient.⁸⁵⁸ Damit schreibt sich neben dem religiösen Kontext auch ein rechtlicher in die Erzählung ein. Der in den Gesta Romanorum häufig zu findende Erzähleinsatz, in dem ein König oder Kaiser ein Gesetz erlässt, verweist auf ein juristisches Substrat, das jedoch durch die unübliche Gesetzgebung wieder unterminiert wird: Wahrheit steht hier über Gerechtigkeit. Dies determiniert die moralische Ausrichtung des Exempels, in dem die Bedingungen für Straflosigkeit ausgelotet werden. Die Fabel als unwahre Erzählung jedoch imaginiert eine Situation, in der es möglich ist, den Mächtigen zu beschimpfen („Die Fabel zeigt, dass oft die Wahrheit sogar bei den Feinden etwas gilt.“⁸⁵⁹, heißt es im Epimythion bei Äsop) – eine subversive Argumentation, die von der literarischen Offenheit der Erzählform Fabel zehrt. Es verdeutlicht sich, dass fabula und historia hier zwar ähnliche Argumentationen, aber divergierende Aussagen vorlegen.
IV.3.3 Erzählen in den Gesta Romanorum Brigitte Weiske stellte 1992 fest, dass sich in den Gesta Romanorum ein „Spiel mit variierenden Erzählmustern“⁸⁶⁰ festmachen lasse. Weiske hat dieses „Spiel“ aber nur in Ansätzen weiter präzisiert und analysiert – ein Desiderat, das hier gefüllt werden soll. Die Frage nach der Erzählökonomie wird dabei weniger überlieferungshistorisch, denn narratologisch perspektiviert. Die Gesta Romanorum ziehen als Vorlagen bekanntlich mittelalterliche und antike Exempelsammlungen⁸⁶¹ wie auch diskursive Texte heran – mithin heterogene Inhalte zwischen historischer, naturkundlicher, juristischer usw. Orientierung, die teils dominierend, teils nur noch latent sichtbar werden. Ein detaillierter Blick auf Transformations- wie Rezeptionsprozesse in der Erzählüberlieferung hilft hier, die narrative Ökonomie der Gesta Romanorum in ihrem rhetorischen und kulturellen Kontext zu verfolgen: Welche Werte werden je in Op-
Vgl. dazu auch Friedrich: Juristisches Argumentieren und Erzählen in den Gesta Romanorum (Anm. 92), S. 40. Äsop: Fabeln (Anm. 335), Nr. 159. Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Bd. 1, S. 67. Vgl. dazu auch ebd., S. 97.
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position gestellt, wird die Erzählform gewechselt, wo formen sich überhaupt erst Erzählungen aus dem historiographischem Bericht?⁸⁶² Wenn im Folgenden Erzählungen der Gesta Romanorum mit antiken oder mittelalterlichen Parallelerzählungen verglichen werden, so ist dies nicht als Behauptung einer direkten Übernahme oder Bearbeitung zu lesen. Wie die Einführung bereits dargelegt hat, lässt sich die Quellensituation für einen Großteil der Erzählungen nur noch ansatzweise rekonstruieren: Antike Texte etwa sind in der Regel über mehrere Zwischenglieder überliefert, bevor sie in die Gesta Romanorum integriert werden. Es geht daher im Folgenden nicht um einen Vergleich zwischen ‚Original‘ und ‚Bearbeitung‘, sondern um eine Analyse der generellen narrativen Möglichkeiten, die jeder Erzählung zukommen. Ein im Zuge dieser Arbeit häufig konstatiertes Phänomen besteht in der Multifunktionalität exemplarischer Kurzerzählungen: Je nach Kontext übernimmt eine Erzählung andere Funktionen, erzählt aber häufig auch unterschiedlich – kleine narrative Implikationen können je anders expliziert werden.⁸⁶³ Um sich den Spielformen des Erzählens in den Gesta Romanorum zu nähern, ist daher der Blick auf divergierende Varianten einzelner Kurzerzählungen unabdingbar.
IV.3.3.1 Von der Beschreibung zur Erzählung Die oben bereits angesprochene Quellenvielfalt der Gesta Romanorum führt dazu, dass auch diskursive, ursprünglich nicht-narrativ ausgeformte Stoffe in den Gesta Romanorum als Erzählung einen Platz beanspruchen. Juristische, philosophische oder naturkundliche Kontexte schreiben sich so in die Erzählsammlung ein, unterliegen dabei aber in der Regel einem Transformationsprozess, der durch die Narrativierung des Stoffes ausgelöst wird. Udo Friedrich hat dies bereits für die Verarbeitung der Controversiae Senecas d. Ä. in den Gesta Romanorum gezeigt, mithin einen juristischen Stoffkreis, dessen Nähe zur rhetorischen Argumentation inhärent ist.⁸⁶⁴ Hier sollen im Folgenden drei Beispiele aus Geschichte, Naturkunde und Affektlehre zeigen, welche Implikationen sich aus dem Schritt von der Beschreibung zur Erzählung für die Gesta Romanorum ergeben. In den Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus findet sich ein kurzer historischer Bericht über die Strenge des Kambyses: Iam Cambyses inusitatae seueritatis, qui mali cuiusdam iudicis e corpore pellem detractam sellae intendi in eaque filium eius iudicaturum considere iussit. ceterum et rex et barbarus atroci ac noua poena iudicis ne quis postea corrumpi iudex posset prouidit. ⁸⁶⁵
Vgl. dazu auch die anregende Analyse zu Wittenwillers Ring bei: Bleumer, Emmelius: Vergebliche Rationalität (Anm. 559), bes. S. 194 f. Vgl. abermals Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 356. Vgl. Friedrich: Juristisches Argumentieren und Erzählen in den Gesta Romanorum (Anm. 92), S. 35 – 42. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia (Anm. 358), 6.3.ext.3 (‚Mit unerhörter Strenge verfuhr einst Kambyses. Einem ungerechten Richter ließ er die Haut abziehen, und dieselbe über den
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Valerius greift hier auf Herodots Historien zurück,⁸⁶⁶ deren Grundkonstellation er weitestgehend übernimmt. Die Gesta Romanorum hingegen formen aus dem Bericht des Valerius eine kleine Erzählung: In Oe 29 spricht ein Kaiser das Gesetz, jeder Richter solle gerecht richten oder aber schwer bestraft werden. Ein Richter, bestochen durch Geschenke, fällt ein falsches Urteil, der Kaiser befiehlt daraufhin seinen Sklaven, dem Richter die Haut abzuziehen. Mit dieser wird der Richterstuhl ausgekleidet, auf den der Kaiser den Sohn des Richters setzt, ihn zum Nachfolger seines Vaters ernennt und spricht: ‚Sedebis super pellem patris tui, ut judices populum meum. Si vero aliquis affert tibi donum ut declines a via recta, ad pellem patris tui respicias, ne tibi hoc idem contingat.‘ ⁸⁶⁷ Was bei Valerius als Beispiel für severitas fungiert, wird in den Gesta Romanorum über den Dreischritt von Gesetz – Übertretung – Strafe zur exemplarischen Kurzerzählung, zum historischen Exempel. Das dezidierte Anführen des Gesetzes und seines Bruchs ist hier nicht nur juristischer Fall, sondern auch Ereignis im narratologischen Sinn, das den Vorfall als Erzählung disponiert. Damit aber wird das historische Personal zu frei besetzbaren Figuren. Die Gesta Romanorum intendieren zwar noch einen historischen Erzähleinsatz (Erat quidam imperator), unterschlagen aber die bei Valerius und Herodot angegebenen Namen und damit die geschichtliche Verortung des Geschehens. Stattdessen avanciert der grausame Barbarenkönig Kambyses zur Gerechtigkeitsfigur, zum imperator, der in der Moralisation auf Jesus bezogen wird (iste imperator est dominus noster Ihesus Christus). Nicht nur die Figuren, auch die Dinge der Erzählung erhalten so einen semantischen Mehrwert: Die Rede des Kaisers macht deutlich, dass das Gesetz über die Haut des Vaters Gültigkeit und Sichtbarkeit erlangt. Die Geschichte des Vaters schreibt sich „statt als natürliche Kontinuität als rechtliche Kontrafaktur“⁸⁶⁸ in die Geschichte des Sohnes ein. Damit führen die Gesta Romanorum eine dezidiert finale Motivation⁸⁶⁹ in die Erzählung ein, die in der historischen Perspektive des Valerius Maximus, in der Haut und Nachfolge des Sohnes nicht direkt verbunden werden, nur in Ansätzen existiert. Gegenüber der historia kann die Erzählung somit nicht nur Figuren umdeuten, sie kreiert über ihr kompositorisches
Richterstuhl spannen. Auf diesen mußte sich hierauf der Sohn des Bestraften zum Gerichthalten niederlassen. Übrigens sorgte der Barbarenkönig durch seine gräßliche, ausgesuchte Bestrafung des Richters dafür, daß sich in der Folge kein Richter bestechen ließ.‘, Valerius Maximus Sammlung merkwürdiger Reden und Thaten [Anm. 358], S. 393). Vgl. Herodot: Historien (Anm. 494), 5, 25. ‚Du sollst auf der Haut deines Vaters sitzen, um über mein Volk zu richten: wenn dir jemand ein Geschenk bringt, damit du von dem Wege des Rechten abweichen mögest, so siehe dich nach der Haut deines Vaters um, auf daß dir nicht dasselbe begegne.‘, Gesta Romanorum (Anm. 830, Ed. Grässe), Nr. 29. Die volkssprachige Fassung erzählt nicht vom Sohn, sondern betont die allgemeine Funktion der Haut als zaichen […] daz ein yeglicher richter bedæcht frbaz daz er nicht miettæt ein vngerechtz gericht, Gesta Romanorum. Das Ist Der Rœmer Tat (Anm. 832), Nr. 13. Friedrich: Zur Verdinglichung der Werte in den Gesta Romanorum (Anm. 831), S. 250. Zum Begriff vgl. Bleumer: Historische Narratologie (Anm. 141), S. 224.
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Moment auch Verknüpfungen zwischen Ereignissen, um ihnen so einen neuen bzw. stärker perspektivierten Sinn abzugewinnen. Als traditionell eng lässt sich die Relation von Naturbeschreibung und Erzählung verstehen: Zahlreiche mittelalterliche Texte, wie etwa die Otia imperialia des Gervasius von Tilbury, zeigen einen fließenden Übergang von Naturkunde, Mirakelbericht und kleinen Erzähleinheiten. Diachron lässt sich der Schritt von der (Natur‐) Beschreibung zur Erzählung an der Stoffgeschichte von Gesta Romanorum Oe 44 (‚Dehnbares Glas‘) nachvollziehen.⁸⁷⁰ Während Plinius d. Ä. nur schematisch berichtet, in der Regierungszeit des Tiberius habe man biegsames Glas erfunden, dann aber, um den Wert anderen Edelmetalls nicht zu senken, die Werkstatt des Erfinders zerstört,⁸⁷¹ inszeniert Isidor von Sevilla den Kaiser Tiberius bereits als aktiv Agierenden: Ein Künstler bietet dem Kaiser eine gläserne Trinkschale an, die dieser verächtlich zu Boden wirft. Als aber die Trinkschale nicht zerspringt, sondern sich zusammenrollt, versichert sich der Kaiser erst, ob der Künstler der einzige sei, der dieses dehnbare Glas herstellen könne, und lässt ihm dann mit der schon bei Plinius zu findenden Begründung den Kopf abschlagen.⁸⁷² Auch die Gesta Romanorum setzen Tiberius als aktive Figur, fügen aber eine Vorgeschichte hinzu (Oe 44): Bevor er Kaiser wurde, war Tiberius ein hochangesehener Mann, berühmt für seine Redekunst (clarus eloquio) und erfolgreich im Krieg. Ab Ernennung zum Kaiser aber stellt er seine militärischen Unternehmungen ein, unterdrückt das Volk und bringt sogar eigene Söhne und Konsuln um. Dann folgt die Episode des dehnbaren Glases; ähnlich wie Isidor beschreiben die Gesta Romanorum eine Form von Experiment, mit dem Tiberius das Glas testet, wobei hier viel deutlicher gemacht wird, dass Tiberius das Glas absichtsvoll gegen die Wand und nicht zufällig zu Boden wirft. Die Frage des Kaisers an den Künstler richtet sich dann auch nicht nach weiteren Mitwissern um die Herstellung, sondern wie man generell ein derartiges Glas herstellen könne, worauf der Künstler antwortet, das wisse niemand (neminem hanc artem scire super terram). Es schließt sich die Enthauptung des Künstlers mit der bekannten Begründung durch Tiberius an. Die Bewegung von der Naturkunde zum Exempel fällt naturgemäß mit Strategien der Historisierung zusammen. Plinius interessiert sich in erster Linie für den Prozess der Glasherstellung und bringt die kurze Episode nur im Konjunktiv und unter dem
Auch hier gibt es eine breite Überlieferung, so findet sich die Episode auch im Satyricon des Petronius Arbiter (51) oder in der Römischen Geschichte des Cassius Dio (57,21,7). Hier und im Folgenden zit. nach: Petronius Arbiter: Satyrica. Schelmenszenen. Lateinisch – Deutsch. Hrsg.von Konrad Müller und Wilhelm Ehlers. 5. Aufl. Düsseldorf [u. a.] 2004 (Sammlung Tusculum); Cassius Dio: Römische Geschichte. Band 4: Bücher 51– 60. Hrsg. und übersetzt von Otto Veh. Zürich [u. a.] 1986 (Die Bibliothek der alten Welt. Griechische Reihe). Vgl. Plinius d. Ä.: Naturalis historia, XXXVI, 195. Hier und im Folgenden zit. nach: C. Plini Secvndi natvralis historiae libri XXXVII. Hrsg. von Karl Mayhoff. Stuttgart 1967 [1897]. Vgl. Isidor: Etymologiae (Anm. 267), XVI, XVI, 6.
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Hinweis auf ihre Ungenauigkeit: eaque fama crebrior diu quam certior fuit. ⁸⁷³ Bei Isidor bleibt die Einbindung in den Kontext der Glasherstellung bestehen, doch finden sich hier bereits zwei oppositionelle Figuren (Kaiser vs. Künstler), und durch die Strukturierung von Anfang, Mitte, Ende (Geschenkübergabe, Experiment, Enthauptung) avanciert das Geschehen zur Geschichte. Damit korrespondiert eine andere Funktionalisierung: Wo Plinius noch allein von ökonomischen Überlegungen bei der Zerstörung der Werkstatt spricht, inszeniert Isidor die Entscheidung zur Enthauptung als Habgier des Herrschers und verweist so auf die problematische Relation von Tyrann (Tiberius) und Weisem (Glas-Künstler). Die Gesta Romanorum erweitern den Bezugsrahmen durch die Kombination mit der Tiberius-Vorgeschichte nochmals in drei Richtungen: Erzähltheoretisch erhält die Figur des Tiberius eine deutlichere Axiologie, eine Wertzuschreibung, die seine Willkür gegenüber dem Künstler biographisch zu erklären versucht. Der Wechsel vom vorbildlichen Herrscher zum Tyrannen öffnet eine zusätzliche Sinnebene, die auch mit der verschobenen Axiologie des Glasherstellers korrespondiert, zeigt dieser doch Hybris in seiner Antwort, niemand auf der Welt sei so klug wie er. Damit hat sich die symmetrische Beziehung vom Mächtigen und Weisen vollends zu einer Asymmetrie aus Tyrann und falschem Künstler verschoben. Konsequenterweise bezieht sich das Exempel zweitens auf moralphilosophische Implikationen (Macht korrumpiert), die in der allegorischen Auslegung des Exempels sowohl über das Reservoir der Erfahrung wie über die Bibel eingefangen werden: et ideo dicetur communiter: Honores mutant mores, et Psalmista: Homo cum in honore esset non intellexit etc. ⁸⁷⁴ – Alltagswissen und religiöses Wissen werden hier in Relation gestellt. Drittens avanciert das ökonomisch-naturkundliche Beispiel damit zum historischen, auch heilsgeschichtlich verorteten Exempel. Dass Tiberius nach Erlangung des Kaiseramtes sein vorbildliches Leben aufgibt, überliefern einige Gesta RomanorumRedaktionen auch als einzelnes Exempel (Oe 205). Die heilsgeschichtliche Relevanz der Tyrannis des Tiberius (in dessen Regierungszeit historisch die Kreuzigung Jesu Christi fällt) wird in Oe 44 jedoch mit der Episode des ‚Dehnbaren Glases‘ verknüpft, wodurch der Zusammenstoß mit dem Künstler paradigmatischen Wert für die Regierung des Tiberius gewinnt. Aus heilsgeschichtlicher Perspektive interessiert nicht die Entwicklung des Glases, sondern die gewalttätige Reaktion gegen den Erfinder, entwirft die Heilsgeschichte doch kein technisches Fortschrittsnarrativ denn eines der Lösung aus irdischer Unvollkommenheit. Die Gesta Romanorum zeigen somit, wie sich
Plinius d. Ä.: Naturalis historia, XXXVI, 195 (‚Und dieses Gerücht war mehr verbreitet als richtig.‘, Die Naturgeschichte des Gaius Plinius Secundus. Ins Dt. übers. und mit Anm. vers. von G. C. Wittstein. Hrsg. von Lenelotte Möller und Manuel Vogel. Wiesbaden 2007). ‚Und deshalb lautet das Sprichwort: „Ansehen verändert die Sitten“, und der Psalmist spricht: „Wenn der Mensch zu Ansehen kommt, dann versteht er nicht mehr usw.“‘, Gesta Romanorum (Anm. 820), Nr. 44. Die Moralisation der deutschen Fassung zielt dagegen stärker auf eine Arm-ReichDifferenz, vgl. Gesta Romanorum. Das Ist Der Rœmer Tat (Anm. 832), Nr. 24.
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die Erzählung über das Hinzufügen weiterer Kontexte erweitern lässt: neben heilsgeschichtlichen auch politische und moralische Aussagemöglichkeiten. Ähnlich lassen sich die Transformationsprozesse zwischen philosophischem Diskurs und Erzählung beschreiben: Seneca d. J. behandelt in seiner Affektlehre De ira Maßnahmen gegen den Zorn – für den Stoiker Seneca ein symptomatisches Thema. Eines der von ihm vorgeschlagenen Gegenmittel zur Abschwächung des Zorns ist die Ablenkung der aufbrausenden Person. Seneca führt hierzu ein kleines Beispiel an:⁸⁷⁵ Man sagt, so Seneca, ein Arzt habe eine Prinzessin an der Brust operieren müssen. Der Arzt habe nun sein Skalpell in einem Schwamm versteckt und mit diesem die Brust abgetupft – und konnte die Prinzessin so operieren, bevor diese Furcht oder Zorn beim Anblick des blanken Messer entwickelte. Seneca schließt mit der allgemeinen Bemerkung, dass sich manches nicht ohne Täuschung heilen lasse (Quaedam non nisi decepta sanantur). Die Gesta Romanorum erzählen folgende Geschichte (Oe 266):⁸⁷⁶ Eine schöne und verwöhnt erzogene (delicate nutrita) Königstochter erkrankt an der Brust. Die hinzugezogenen Ärzte berichten, ihre Krankheit lasse sich nur heilen, indem ein Eisen in die Brust eingeführt werde (per ferrum penetraretur). Die Königstochter antwortet, dass sie aufgrund ihrer Erziehung diese Schmerzen nicht ertragen könne und lieber sterben wolle. Ein Arzt argumentiert: tenere nutrita es, spongia maris tenerior est. ⁸⁷⁷ Die Königstochter willigt in die Operation ein und wird geheilt. Seneca weist sein Beispiel über die Verwendung des Konjunktivs nur als möglich aus, als Begebenheit, die passiert sein könnte. In der Terminologie von Ruchatz und Pethes ließe sich von einem Belegbeispiel sprechen,⁸⁷⁸ insofern Seneca erst allgemeine Schlussfolgerungen über die Natur des Zornes gibt und diese dann durch ein Beispiel konkretisiert – mithin eine Argumentationsstruktur vom Allgemeinen zum Besonderen verfolgt.⁸⁷⁹ Es sei an Kant erinnert, der das Beispiel als besonderen Fall einer praktischen Regel definiert.⁸⁸⁰ Die Gesta Romanorum erzählen die Ereignisfolge hingegen als rhetorisch geprägtes historisches Exempel, betonen somit das Allgemeine im Besonderen. Der antike Kontext einer Affektlehre wird neu expliziert als ein Diskurs um Erziehung und Gewohnheit. Nicht mehr die Täuschung wird als Mittel zur Überwindung des Affekts empfohlen, sondern die Argumentation. Die Einführung
Vgl. Seneca d. J.: De ira = Über die Wut. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Jula Wildberger. Stuttgart 2007 (RUB. 18456), 3, 39. Auch diese Erzählung lässt sich nur in einigen Fassungen der Gesta Romanorum finden, vgl. die weiterführenden Angaben bei: Gesta Romanorum (Anm. 92), S. 268. Leider verschweigt Oesterley, welchen Handschriften er seine Erzählungen entnommen hat. ‚Du bist zart erzogen, ein Meeresschwamm ist (aber) noch zarter.‘, Übersetzung M.S-D. Vgl. Pethes, Ruchatz, Willer: Zur Systematik des Beispiels (Anm. 5), S. 21– 31. Auch Aristoteles weist darauf hin, dass die unterschiedliche Stellung einer Beispielerzählung auf verschiedene argumentative Strategien rekurriert: Das ans Ende gestellte Exempel entspricht einem Beweis, das an den Anfang gestellte Exempel aber der Induktion, vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6) II, 20 (1393b 9 – 17). Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten (Anm. 76), S. 620.
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von Rhetorik wirkt sich jedoch auf die Erzähllogik aus: In der Version der Gesta Romanorum wird der Konnex Schwamm-Messer nicht weiter erläutert (von einem Messer wird gar nicht erst gesprochen), die Geschichte bleibt somit nahezu unverständlich. Auch die allegorische Deutung, welche die Königstochter als Seele und den Schwamm als Christus identifiziert, erklärt nicht die kausalen Lücken in der Ereignisfolge. Wo Senecas Beispiel über den argumentativen Kontext der Affektlehre eine Funktion entwickeln konnte (nämlich die, eine Behauptung zu illustrieren), ist dieser Kontext in den Gesta Romanorum nicht mehr gegeben. Der Zugewinn an narrativer Eigenständigkeit, der sich in der Umformung zur Geschichte, zum historischen Exempel, zeigt, korrespondiert daher mit einem Wechsel der Argumentationsform vom Kontext in die Narration: Nicht mehr das Beispiel als Ganzes soll überzeugen, sondern in einer Erzählung selbst wird eine Figur überredet. Das dabei verwendete Argument weist sich formell als rein logisch aus (Der Meeresschwamm ist zarter als die verwöhnte Königstochter), operiert jedoch im Bereich der Erziehung und damit im Diskurs um kulturelle Gewohnheiten. Letztlich werden eben nicht Körper und Schwamm verglichen, sondern die zarte Erziehung und der Schwamm, also eine Gewohnheit mit einer Substanz. Seneca legt ein rein an Handlungsfunktion orientiertes Beispiel vor, das weder historisiert wird noch an narrativer Entfaltung interessiert ist – über die pragmatische Kontextualisierung der Affektlehre hinaus weist Seneca dem Beispiel keinen Eigenwert zu. Die Gesta Romanorum stellen hingegen nicht Handlung, sondern den Dialog, die Rede ins Zentrum des nun als historisches Exempel ausgeformten Beispiels. Dafür benötigt es jedoch Figuren, denen rudimentäre Werte zugeschrieben werden (die verwöhnte Königstochter, der rhetorisch kluge Arzt) und die somit axiologische Besetzungen vornehmen. Das einfache Schema aus Krankheit und Heilung bekommt damit einen semantischen Eigenwert, in dem die Heilung nicht nur mehr Krankheitsheilung ist, sondern zugleich auch Überwindung der defizitären Figur (Verwöhnung) durch Argumentation – gerade dies aber überlagert die antike Idee der Affekttäuschung. Das Extrahieren eines Beispiels aus dem nicht-narrativen Kontext und die Umformung zur Geschichte müssen damit nicht zwangsläufig mit komplexeren Formen einhergehen. Oe 266 zeigt, bis zu welchem Grad narrative Kohärenz einer neuen Ausrichtung geopfert werden kann: Wenn Argumentation und Erziehungsdiskurs den Kontext aus Täuschung und Affektlehre ersetzen, so weist dies dem Beispiel einen neuen Aussagekontext zu und transferiert es zum historischen Exempel, überspielt aber in diesem Fall die Pointe des antiken Beispiels.
IV.3.3.2 Kombination von Erzähltraditionen Neben der Transformation von diskursiven Kontexten zu eigenständigen Erzählungen finden sich in den Gesta Romanorum auch zahlreiche Exempel, die verschiedene Erzähltraditionen in sich vereinen. Die potenzielle Offenheit der exemplarischen Kurzerzählung erweist sich hier als Schnittstelle für die Zusammenführung divergierender
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Handlungsmuster. So führt die 103. Erzählung der Gesta Romanorum zwei verschiedene Erzähltraditionen zusammen, die im Folgenden kurz skizziert werden:⁸⁸¹ In dem Exempel ‚Der Barbier des Königs‘⁸⁸² erwirbt ein Herrscher auf dem Marktplatz von einem weisen Mann den Spruch, immer auf das Ende zu sehen. Er lässt die Weisheit in seinem Palast (alternativ: an seinem Halstuch) anbringen. Als Feinde des Herrschers dessen Barbier beauftragen, dem König bei der Rasur den Hals durchzuschneiden, erblickt der Barbier den Spruch, lässt seine Pläne fallen und liefert die Verschwörer aus. Der Stoff ist in lateinischen Exempelsammlungen weit verbreitet und auch von Boner im Edelstein bearbeitet worden.⁸⁸³ Die zweite Erzählung (‚Das Einhalten der Ratschläge des Meisters‘) thematisiert ebenso die Weitergabe von Weisheiten, verändert aber die Rahmensituation:⁸⁸⁴ Ein armer Mann arbeitet für einen reichen Bauern, der ihm anstatt eines Lohnes Ratschläge erteilt: ‚Folge immer dem alten Weg‘, ‚Schlaf nicht dort, wo eine junge Frau und ein alter Mann verheiratet sind‘, usw. Als der arme Mann nach drei Jahren zu seiner Familie zurückkehrt, erhält er außer den Sprüchen auch ein Brot. Auf dem Heimweg befolgt er alle Ratschläge und entgeht dadurch tödlichen Gefahren. Als er zu Hause das Brot anbricht, verbirgt sich darin ein finanzieller Lohn für seine Arbeit. Auch dieses Exempel findet sich in zahlreichen Variationen, so etwa in der Compilatio singularis exemplorum (13. Jh.)⁸⁸⁵ oder als einzelnes Erzählmotiv im fragmentarischen Ruodlieb (11. Jh.).⁸⁸⁶ Die Gesta Romanorum erzählen demgegenüber Folgendes: In Oe 103 werden dem weisen und gerechten Kaiser Domitianus von einem Kaufmann drei Waren für je tausend Gulden angeboten. Diese Waren entpuppen sich als Weisheiten. Dem zögernden Kaiser (der sich nicht sicher ist, ob er sein Geld nicht verliert, falls die Sprüche ihm nicht helfen) bietet der Kaufmann an, ihm sein Geld ggf. zurückzuerstatten. Die drei Weisheiten lauten: ‚Schaue bei deinem Tun immer auf das Ende‘, ‚Biege nie von deinem Hauptweg ab‘ und ‚Übernachte nie
Auf die Kombination beider Erzähltraditionen in den Gesta Romanorum weist auch schon hin: Wawrzyniak: Art. Gesta Romanorum (Anm. 812), Sp. 1205. Vgl. AaThU 910C; Index exemplorum 5324. Siehe Kapitel IV.2.3. Das Exempel findet sich u. a. bei: Stephan von Bourbon: Tractatus de diversis materiis predicabilibus, Nr. 81. Hier und im Folgenden zit. nach: Albert La Lecoy de Marche: Anecdotes historiques, légendes et apologues. Tirés du receuil inédit dʼEtienne de Bourbon, Dominicain du XIII. siècle. Paris 1877. Sowie bei: Arnold von Lüttich: Alphabetum narrationum (Anm. 702), Nr. 156. Vgl. AaThU 910B; Index exemplorum 70. Die Nacherzählung richtet sich nach: Jean-Pierre Pichette: Art. Ratschläge: Die klugen Ratschläge. In: EdM. Bd. 11, Sp. 259 – 267, hier Sp. 263 f. Mit dem großen Stoffkreis dieses Erzählmotivs befasst sich Pichette ausführlicher in: Jean-Pierre Pichette: Lʼobservance des conseils du maître. Monographie internationale du conte type A.T. 910 B précédée d’une introduction au cycle des bons conseils (A.T. 910 – 915). Helsinki 1991 (FF Communications. 108). Compilatio singularis exemplorum (Anm. 702), S. 9 f. In der Compilatio ist es der junge Salomon, der drei Ratschläge im Gegenzug für drei Trauben gibt. Im Ruodlieb erhält die gleichnamige Figur vom rex maior insgesamt zwölf Ratschläge, auch das Motiv der Brotübergabe taucht hier auf. Hier und im Folgenden zit. nach: Ruodlieb. In: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland. 800 – 1150. Hrsg. von Walter Haug, Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt am Main 1991 (Bibliothek des Mittelalters. 1), S. 388 – 552.
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
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dort, wo ein alter Mann und eine junge Frau zusammen leben‘. Bald verschwören sich die Führenden des Landes gegen den Kaiser und planen Mordanschläge: Erst soll ein Barbier ihn töten, dieser wird aber vom (am Halstuch des Kaisers angebrachten)⁸⁸⁷ ersten Spruch abgehalten. Dann lauern ihm seine Feinde auf einem Nebenweg auf, den Domitianus aber nicht betritt. Schließlich beauftragen die Verschwörer einen alten Wirt mit junger Frau, den Kaiser zu ermorden, wenn dieser in deren Herberge übernachtet; nachdem Domitianus aber seine Wirtsleute sieht, schläft er nicht dort. Der so dreimal gerettete Kaiser lässt alle Verschwörer hinrichten.
Die beiden Ausgangsexempel weisen trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsame Züge auf, die je einen Kontext für Rat beschreiben. Weise Ratschläge sind dabei nicht nur zu befolgen, sie werden auch in ökonomische Tauschrelationen gesetzt – das Reservoir der Erfahrung muss käuflich erworben oder erarbeitet werden.⁸⁸⁸ Somit tangieren beide Erzählungen auch die Frage nach dem Wert von Erfahrungswissen, das selbst aber je unterschiedlich kontextualisiert wird: Im Exempel ‚Der Barbier des Königs‘ in finaler Motivation, die den anfänglichen Ratschlag mit dem Mordversuch verbindet. In der zweiten Erzähltradition aber sind die Gefahrenmomente kontingent; der heimkehrende Arbeiter muss sich mit allgemeinen Problemen des Reisens auseinandersetzen, nicht aber mit einer geplanten Verschwörung. Gleichzeitig sind die Ratschläge hier seriell ausgestaltet – gerade die Überlieferungssituation zeigt, dass an dieser Stelle ein vielfältiges Arsenal an lebensweltlichen Ratschlägen eingebaut werden kann.⁸⁸⁹ Die Kombination beider Erzähltraditionen in den Gesta Romanorum weist neue Möglichkeiten der narrativen Akzentuierung auf: Die Gesta Romanorum übernehmen das serielle Prinzip mehrerer Ratschläge, die es zu durchlaufen gilt, unterlegen diese aber mit einem durchgängigen, final ausgerichteten Motiv, d. h. mit der Verschwörungssituation aus ‚Der Barbier des Königs‘. Typisch ist die Setzung eines Kaisers (Domitianus) als Hauptfigur – womit sich die Geschichte in Ansätzen historisiert. Wichtiger für die Erzählung scheint jedoch die axiologische Umdeutung des anfänglichen Zusammentreffens zu sein: Die Figur des Weisen aus ‚Der Barbier des Königs‘ wird durch den Kaufmann (mercator) ersetzt – weise ist jetzt Kaiser Domitianus (Domicianus regnavit, prudens valde et per omnia justus). Weise ist damit nicht mehr der, der das Wissen bereithält und offeriert, sondern der, der es erwirbt und anwendet, wodurch sich die übliche Relation vom Mächtigen, der auf den Weisen trifft, verschiebt. So sitzt etwa in der Version des ‚Barbier des Königs‘, die Stephan von Bourbon im Tractatus de diversis materiis predicabilibus (Mitte 13. Jh.) erzählt, der Weise in
Die volkssprachige Überlieferung betont in ihrer Version der Erzählung, dass der Spruch in latein vnd in der gemainen sprach angebracht wird, vgl. Gesta Romanorum. Das Ist Der Rœmer Tat (Anm. 832), Nr. 107. Zu Oe 103 vgl. auch Friedrich: Zur Verdinglichung der Werte in den Gesta Romanorum (Anm. 831), S. 260 f. Vgl. die Überlieferungshinweise in Uthers Zusammenstellung zu AaThU 910B.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
einem Buch versunken inmitten eines leeren Hauses und wird dort in seiner asketischen Abgeschiedenheit vom König aufgesucht.⁸⁹⁰ Wenn jedoch in den Gesta Romanorum die Weisheit dem Herrscher bereits gegeben ist, müssen die drei hilfreichen Sprüche erzähllogisch als Geschenk kommen. So betonen die Gesta Romanorum zwar über die Kaufmann-Figur oberflächlich die ökonomische Komponente des Wissenskaufs, nivellieren aber gleichzeitig die KostenNutzen-Relation der Erzähltradition, indem der Kaufmann anbietet, bei Nicht-Gefallen der Sprüche den Kaufpreis zurückzuerstatten. Gleichzeitig wird die zweite Eigenschaft des Domitianus – seine Gerechtigkeit – hinzugezogen, um den Erhalt der Sprüche als providentielle Belohnung für dessen Herrschaft zu inszenieren: Domicianus regnavit, prudens valde et per omnia justus, quoniam nulli parcebat, quin per viam justicie transiret. Die Kontingenz-Problematik des Reisens in ‚Das Einhalten der Ratschläge des Meisters‘ avanciert so zum providentiellen Narrativ: Die drei Ratschläge sind göttlicher Schutz gegen die Verschwörung. Dass die Weisheiten aber erst erarbeitet werden müssen, wie in ‚Das Einhalten der Ratschläge des Meisters‘, findet sich in veränderter, sozial angepasster Form in den Gesta Romanorum wieder: keine Feldarbeit, sondern gerechtes Wirken des Herrschers. Die Gesta Romanorum kombinieren an dieser Stelle sehr geschickt beide Erzähltraditionen. Die Ratschläge werden formell gekauft (dies entspricht dem ‚Barbier des Königs‘), sind aber metaphorisch gelesen bereits Belohnung (wie in ‚Das Einhalten der Ratschläge des Meisters‘): Ökonomie und Providenz verschränken sich. Heterogener scheint die inhaltliche Zusammenführung der Ratschläge. So lässt sich der Spruch aus ‚Der Barbier des Königs‘ als eine Form von Rätsel verstehen, das decodiert werden muss – mithin, wie am Beispiel des Barbiers erzählimmanent veranschaulicht, einen Erkenntnisprozess auslöst. Die metaphorische, mehrdeutige Aussage enthält somit verschiedene Implikationen, wie bereits für die gleiche Erzählung in Boners Edelstein gezeigt: Das respice finem erinnert an Sir 7,40 – in omnibus operibus tuis memorare novissima tua et in aeternum non peccabis ⁸⁹¹ – etabliert sich aber auch außerhalb der biblischen Tradition als beliebtes Sprichwort.⁸⁹² Die Weisheiten aus ‚Das Einhalten der Ratschläge des Meisters‘ hingegen sind als klare Handlungsanweisungen gekennzeichnet, deren metaphorisches Potenzial (Weg als Lebensweg) in der Erzählung nicht ausgespielt wird – hier muss die Befolgung des Ratschlages daher direkt durch die Figur geschehen, die den Rat erhalten hat, nicht durch eine dritte Figur. Die Gesta Romanorum vereinen damit Ratschläge unterschiedlicher Komplexität: Den mittelbaren, zu decodierenden Ratschlag, immer an das Ende zu denken, und die unmittelbaren Ratschläge, die sich auf das Reisen beziehen. Zusammengeführt wird beides erst in der Moralisation des Exempels. Die Weisheit, immer an das Ende zu
Vgl. Stephan von Bourbon: Tractatus de diversis materiis predicabilibus (Anm. 883), Nr. 81. ‚Was du auch tust, bedenke das Ende, so wirst du nicht sündigen in Ewigkeit.‘ Für zahlreiche Belege vgl. TPMA. Bd. 2, S. 470 – 475.
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
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sehen, kann hier direkt als multifunktionale Aussage übernommen werden, die nur im Verweis auf Sir 7,40 (s.o.) christlich perspektiviert wird. Metaphorisch umgeformt werden dafür die zwei weiteren Ratschläge: Der Hauptweg, auf dem beim Reisen zu bleiben ist, ist der Weg der Zehn Gebote (via publica est via decem preceptorum), die Kombination aus altem Mann und junger Frau ist auf Welt und vanitas zu übertragen (Senex iste est mundus iste, qui habet juvenculam in uxorem i. e. vanitatem). Was in der Erzählung als topische Regel mittlerer Reichweite inszeniert wird, erhält hier eine theologische Perspektivierung, die den Bedeutungsspielraum der Erfahrungsregel auf die christliche Norm reduziert. In den Gesta Romanorum werden somit beide Erzähltraditionen ineinander geschoben. Über den Transfer der Weisheitsthematik in andere Kontexte ergeben sich neue Aussagemöglichkeiten, wie hier etwa an der Figur des Domitianus verdeutlicht: Wo dieser in der Ursprungserzählung bei einer explizit als ‚weise‘ markierten Figur Rat einholt, ist die Figur des Ratgebenden hier nur noch implizit weise, die Axiologie verschiebt sich zugunsten des Herrschers. In der Moralisation aber verbinden sich Common Sense und religiöse Auslegepraxis, ohne dass noch klar erkennbar ist, ob hier Common-Sense-Wissen theologisch reformuliert oder theologisches Wissen in Common-Sense-Form gebracht wird.
IV.3.3.3 Kontextualisierung und narrative Addition Ein detaillierter Blick auf ‚Spielformen‘ des Erzählens soll abschließend anhand der Geschichten Oe 82, 181 und 216 geworfen werden,⁸⁹³ drei Erzählungen, an denen sich eine Vielzahl der hier angesprochenen Erzählverfahren ablesen lässt: der Wandel von der historia naturalis zur Erzählung, das freie Spiel mit Gattungsgrenzen, die Anreicherung und Variierung der Textebenen durch Umformung und Addition neuer Erzählelemente. In Erzählung Oe 82 (‚Störchin‘) brütet ein Storchenpaar auf der Burg eines Ritters. Nachdem die Küken geschlüpft sind, fliegt der männliche Storch tagsüber auf Nahrungssuche, während seiner Abwesenheit betrügt ihn allerdings der weibliche Storch. Um ihre Untreue zu verbergen, badet die Störchin vor der Rückkehr ihres Partners in einer nahgelegenen Quelle. Der Ritter beobachtet dieses Verhalten eine Zeit lang, dann verschließt er die Quelle. Als das Männchen daraufhin zurückkehrt, bemerkt es das Fehlverhalten seiner Partnerin, ruft eine Schar weiterer Störche herbei und zerreißt die Störchin im Beisein des Ritters (in presencia militis eam occiderunt). Oe 181 (‚Löwin‘) erzählt sehr ähnlich: Ein König hält sich ein Löwenpaar und einen Leoparden, bei Abwesenheit des männlichen Löwen betrügt ihn die Löwin mit dem Leoparden.Wieder dient zur Deckung des Treuebruchs eine Quelle, die der König Die Kombination aus Oe 82 und Oe 181 findet sich in den Gesta Romanorum-Handschriften häufig, so etwa in der von Dick herausgegebenen Fassung J: Oe 82 entspricht hier J 26 und J 75 (es liegt eine Dublette vor); Oe 181 entspricht J 161. Seltener ist Oe 276, das sich etwa in der Handschrift London, Ms.Harl. 2270 findet (Nr. 77), vgl. Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Bd. 1, S. 55.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
verschließt, woraufhin der Löwe seine Partnerin „wie ein Richter mit einem Schuldspruch tötet“ (tanquam judex per sententiam latam occidit). Demgegenüber komplexer fällt die nur in einigen anglolateinischen Gesta Romanorum-Fassungen enthaltene Erzählung Oe 276 (‚Brunnen gegen Trunkenheit‘) aus: Der in Rom herrschende Kaiser Andronicus liebt den Gesang eines bestimmten Storches, für den er oft die Mahlzeiten verlässt, um den Vogel im Wald anzuhören. In diesem Wald befindet sich auch eine Quelle, die folgende Eigenschaft hat: Wer von ihr trinkt, der wird nüchtern, egal wie betrunken er ist. Dies nutzt häufig der am kaiserlichen Hof lebende trinksüchtige Ritter Idronicus, der vom Kaiser vielfach um Rat gefragt wird und zu diesen Gelegenheiten nüchtern sein muss. Storch und Idronicus rufen bei den anderen Rittern des Kaisers Neid hervor. Ein alter Mann rät ihnen, die Quelle zu verschließen, daraufhin muss Idronicus betrunken vor den Kaiser treten und wird ins Exil verbannt. Der singende Vogel, ein weiblicher Storch, betrügt seinen Partner und wäscht sich danach in der Quelle rein. Der alte Mann versperrt abermals die Quelle, der männliche Storch bemerkt damit den Betrug, ruft weitere Vögel und tötet seine Partnerin. Die neidischen Ritter genießen daraufhin wieder die volle Aufmerksamkeit des Kaisers.
Das Motiv der Reinigung vom Ehebruch in einer Quelle lässt sich bis in die Naturkunde der Antike rückverfolgen: Plinius d. Ä. berichtet in seiner Naturalis historia, dass die Löwin dazu neigt, ihren Partner mit einem Leoparden zu betrügen und sich nach dem Treuebruch im Wasser reinigt.⁸⁹⁴ Das Mittelalter füllt das Schema jedoch auch schon vor den Gesta Romanorum mit Störchen. So führt Caesarius von Heisterbach Anfang des 13. Jahrhunderts Naturkunde und Exempel zusammen: Er bringt erst einen kurzen, deskriptiven Exkurs über die Eigenschaft der Störchin, sich im Wasser reinzuwaschen, und formuliert dies dann als Geschichte aus. Seine Version gleicht derjenigen der Gesta Romanorum (Oe 82), wobei bereits Caesarius die Erzählung geistlich deutet: Der Storch als Gott, die Störchin als Seele, welche sich durch die Buße (das Wasser der Quelle) von ihren Fehltritten reinigt.⁸⁹⁵ Gegenüber der antiken Beschreibung eines tatsächlichen Waschens erzählt das Mittelalter somit die Geschichte einer metaphorisch zu lesenden Reinigung. Die Narrativierung der Naturbeschreibung benötigt jedoch eine Zustandsänderung, ein Ereignis, das den Anfang der Geschichte von ihrem Ende unterscheidet. Dies wird hier durch das Hinzufügen einer weiteren Figur realisiert, eines Ritters (Königs), die erzählimmanent für Gerechtigkeit sorgt und die durch das Schließen der Quelle erst eine für die Geschichte konstitutive Zustandsänderung herbeiführt. Gleichzeitig entfernen sich die Erzählvarianten durch die Addition einer menschlichen Figur von der Erzählform Fabel – eine symptomatische Bewegung für die geistliche Erzählkultur, in der die Geschichte hauptsächlich tradiert wird.⁸⁹⁶ Die Figur des Dritten, des Ritters oder Königs, kann dabei unterschiedlich akzentuiert werden. In Gesta Romanorum Oe 82 (‚Störchin‘) wird der Ritter zur Beob-
Vgl. Plinius d. Ä.: Naturalis historia (Anm. 871), VIII, 43. Vgl. Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum (Anm. 600), 10, 59 und 10, 60. Siehe dazu auch die Hinweise zum christlichen Kontext in Kapitel III.3.
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
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achterfigur: Mehrmals betont die Erzählung das observierende Verhalten des Ritters (Miles cum sepius hoc vidisset…) und erwähnt auch abschließend die Anwesenheit des Ritters bei der Tötung der Störchin (s.o.). Erzählung Oe 181 aber verlagert die Gerechtigkeitsinstanz auf den Löwen selbst, der die Rache wie ein Richter (tanquam judex) vollzieht. Diese unterschiedlichen Explikationen narrativer Implikationen finden ihren Widerhall in den Auslegungen der Erzählungen: In Oe 82 avanciert der beobachtende Ritter zum Teufel (miles qui fontem clausit, est diabolus), in Oe 181 der König jedoch zu Gottvater (iste rex est pater celestis). Obwohl sich erzählimmanent die primäre Funktion beider Figuren gleicht (Verschluss des Brunnens), zeigt die gegensätzliche Auslegung den breiten Spielraum an Aussagemöglichkeiten auf – die Allegorese kann prinzipiell jede Figur an jede Stelle des christlichen Koordinatensystems setzen.⁸⁹⁷ Indem sie das Motiv des reinigenden Wassers verdoppelt und variiert, fällt Oe 276 demgegenüber wesentlich komplexer aus. Das Thema der Treulosigkeit wird hier in eine größere Rahmenhandlung gebunden, die diese nicht im erotischen, sondern im politischen Horizont verortet: die in den Gesta Romanorum so häufig zu findende Verschwörung gegen den Herrscher. Die Einzelerzählung der Störche ist damit in eine serielle Reihung eingebunden, in der die Rache des Storchen-Partners nur noch funktional dem Plan der Verschwörer dient. Erzähllogisch verläuft dies nicht unproblematisch, was bereits im Mittelalter für Irritationen sorgte – Brigitte Weiske führt etwa eine spätmittelalterliche englische Übersetzung der Gesta Romanorum an, in der die Störchin durch eine Nachtigall ersetzt wird, was die Faszination für ihren Gesang wesentlich plausibler erscheinen lässt.⁸⁹⁸ Interessanter als derartige Inkonsistenzen erscheint jedoch abermals die Invertierung der erzählimmanenten Argumentation und Axiologie bzw. der Ereigniskette. Erzählung Oe 276 findet ihr Ende nicht in ausgleichender Gerechtigkeit, sondern im Triumph der Neider. Die Ereignisse enden jedoch nicht nur konträr, sie beginnen auch durch eine gänzlich andere Motivation. Während in den Einzelerzählungen Oe 82 und Oe 181 durch den Verschluss des Brunnens die fehlende Gerechtigkeit etabliert werden kann, wird sie in Oe 276 dadurch erst hervorgerufen. Die Verhinderung der Sünden von Trunksucht bzw.Völlerei (gula) und Wollust (luxuria) resultiert in der Sünde des Neids (invidia). Das einfache Schema aus Fehltritt und Strafe wird damit durch ein komplexes Gegenüberstellen von verschiedenen Werten ersetzt, das durch das offene Ende zugleich Strukturen eines Kasus annimmt. Erst über die Moralisation der Erzählung wird dies wieder eingefangen: Der Kaiser bedeutet Christus, die Neider die demones infernales etc.
Vgl. Shirley Marchalonis: Medieval Symbols and the Gesta Romanorum. In: The Chaucer Review 8 (1974), S. 311– 319, hier S. 313 f. die dort bereits auf diese Unterschiede hinweist; auch Brigitte Weiske sieht hier Querverweise innerhalb der Handschrift, vgl. Weiske: Gesta Romanorum (Anm. 670). Bd. 1, S. 65. Vgl. ebd., S. 55.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Während die Erzählungen Oe 82 und Oe 181 noch zwischen den Erzählformen Fabel und Gleichnis schwanken, nähert sich Oe 276 über den namentlich genannten Kaiser Andronicus dem historischen Exempel an, etwaige Fabelelemente werden dabei noch deutlicher reduziert. Die Verortung am Kaiserhof forciert ebenso den politischen Gehalt der Erzählung: die Frage nach der Rolle des Herrschers (der den Müßiggang vor das Regieren stellt), des Ritters (der seine Ratgeberfunktion nicht erfüllen kann) und der Höflinge (die nur auf ihr eigenes Ansehen achten). Oe 276 erhöht damit massiv die Anzahl an Figuren, was die Einspeisung neuer Semantiken und neuer axiologischer Besetzungen in die Erzählung ermöglicht: Die einfache List (Verdeckung der Sünde durch Reinigung) wird aufgehoben durch eine List zweiter Ordnung, die das – in Oe 81 und 181 noch positiv besetzte – Verschließen des Brunnens negativiert. Wenn das Ereignis des Brunnen-Schließens seine herausgehobene Bedeutung, d. h. seine Markierung als Wendepunkt der Handlung, verliert, wird auch seine Konnotation frei besetzbar. Oe 276 bringt so anders gewichtete Kontexte in die Erzählung, die den engen Spielraum von ‚Reinigung-Buße‘ um politische und moralische Diskurse erweitern.
IV.3.4 Einzelfall und Regel: Juristische Argumentation zwischen Epikie, List und Rhetorik Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der einzelnen Begebenheit und einer (diese Begebenheit erfassende oder bestimmende) Regel wird von diversen Diskursen gestellt. Im juristischen Sinn interessiert das Gesetz, das einen Fall abdeckt, in der naturwissenschaftlichen Perspektive das physische Prinzip, das ein Einzelphänomen erklärt, im historiographischen Kontext die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, die Einzelereignisse in einen Zusammenhang stellen. Wie in der Einleitung dieser Arbeit deutlich gemacht, ist es auch Kennzeichen der exemplarischen Kurzerzählung, Ereignis und Regel in komplexen Relationen zu verbinden: Es wird ein Einzelfall erzählt, der durch eine angehängte Auslegung oder Moral bereits mit allgemeinen Grundsätzen ergänzt bzw. konfrontiert wird. Dies bedingt einerseits die Beliebtheit der exemplarischen Kurzerzählung, die – wie es diese Arbeit zu zeigen versucht – von divergierenden Diskursen in Beschlag genommen wird, erweist sich mitunter aber auch als brüchig: Fall und Regel können auseinandertreten, wie etwa im Status der Ausnahme. Die Forschung hat dies für den juristischen Diskurs im Kontext der in die Gesta Romanorum eingegangenen Controversiae Senecas d. Ä. gezeigt: Die antiken Rechtsfälle bieten je mehrere Normen, zwischen denen abgewägt werden muss. So etwa in Oe 90: Das Gesetz besagt, dass bei einem Erbfall der ältere Bruder das Erbe teilen soll, woraufhin der jüngere Bruder sich einen Erbteil aussuchen darf. Ein älterer Bruder teilt daraufhin das Erbe auf in einerseits allen Reichtum, andererseits aber die Mutter seines Halbbruders. Dieser muss sich nun aus Mutterliebe gegen das Vermögen entscheiden, verklagt aber seinen Bruder vor Gericht – wie ist zu entscheiden? Die Er-
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
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zählungen nähern sich hier, wie von Udo Friedrich beschrieben, teilweise über einen offenen Schluss dem Kasus an, teils werden sie auch zum Exempel vereindeutigt.⁸⁹⁹ Symptomatisch scheint aber auch die rhetorische Durchsetzung der Argumentation vor Gericht zu sein, die in unkonventionellen, nicht dem strengen Gesetz folgenden Urteilen enden kann. Neben der juristischen Argumentation existieren jedoch noch andere Formen der Ausnahmeregelung, die in den Erzählungen der Gesta Romanorum verhandelt werden. Wie im Folgenden kursorisch gezeigt werden soll, etabliert sich von der Antike bis in die Neuzeit ein Diskurs um die Möglichkeiten, den Zwängen des Gesetzes nicht zu folgen, wenn besondere Bedingungen des Einzelfalls dieses zulassen. Aristoteles hat dies schon früh als ‚Epikie‘ beschrieben, als Ausnahme vom Gesetz aufgrund der Vielfalt der Wirklichkeit, die das Gesetz in seiner Allgemeinheit nicht abdecken kann.⁹⁰⁰ Der arabische Aristoteles-Kommentator Avicenna hat dafür ein bekanntes Beispiel geliefert: Das Gesetz besagt, dass geliehene Dinge zurückgegeben werden müssen. Ein tobender, in einen Wutrausch gefallener Mann verlangt sein verliehenes Schwert zurück.⁹⁰¹ In diesem Fall kann eine Ausnahme vom Gesetz gemacht werden, ohne dass dies aber die ansonsten gültige Anwendung des Gesetzes tangiert. Thomas von Aquin hat die aristotelische Epikie in Anlehnung an das römische Recht als aequitas bezeichnet,⁹⁰² heute ist der juristische Begriff der Billigkeit ein adäquates, wenn auch nicht deckungsgleiches Äquivalent zur Epikie.⁹⁰³ Aristoteles entwirft zwei verschiedene Formen der Epikie: In der Nikomachischen Ethik beschreibt er eher ein moralisches Modell, in dem die Spannung zwischen einer allgemeinen Gesetzesformulierung und der Findung des optimal Gerechten reguliert
Vgl. Friedrich: Juristisches Argumentieren und Erzählen in den Gesta Romanorum (Anm. 92), S. 27– 32. Vgl. Arnold Angenendt: Die Epikie. Im Sinne des Gesetzgebers vom Gesetz abweichen. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hrsg. von Peter von Moos. Köln 2001 (Norm und Struktur. 15), S. 363 – 376, hier S. 364. Vgl. Günter Virt: Epikie, verantwortlicher Umgang mit Normen. Eine historisch-systematische Untersuchung zu Aristoteles, Thomas von Aquin und Franz Suarez. Mainz 1983 (Tübinger theologische Studien. 21), S. 157. Cicero bringt das gleiche Beispiel, wenn er Umstände diskutiert, unter denen bestimmte Versprechen gebrochen werden können, Cicero: De officiis (Anm. 474), III, 25, 95: Ergo et promissa non facienda nonnumquam neque semper deposita reddenda. Si gladium quis apud te sana mente deposuerit, repetat insaniens, reddere peccatum sit, officium non reddere (‚Demnach ist es angebracht, bestimmte Versprechen manchmal nicht einzuhalten und anvertraute Güter nicht immer zurückzugeben. Wenn dir jemand bei gesundem Verstand ein Schwert zur Aufbewahrung überlassen hat uns es in geistiger Umnachtung zurückforderte, dann wäre es ein Fehler, es ihm zurückzugeben, und eine Pflicht, es ihm nicht zurückzugeben.‘). Vgl. Harun Maye: Die Paradoxie der Billigkeit in Recht und Hermeneutik. In: Urteilen / Entscheiden. Hrsg. von Cornelia Vismann, Thomas Weitin. München 2006 (Literatur und Recht), S. 56 – 71, hier S. 59; Virt: Epikie, verantwortlicher Umgang mit Normen (Anm. 901), S. 91– 171. Zu Recht und Billigkeit im Kontext von literarischen Texten (mithin einem Spannungsfeld, das sich gerade im Verhältnis von Exempel und Kasus niederzuschlagen scheint) vgl. Bleumer: Vom guten Recht des Teufels (Anm. 492).
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
wird.⁹⁰⁴ Der Einzelfall übersteigt hier das Recht, da er nach einer höheren Gerechtigkeit verlangt, als es das ihn betreffende Gesetz zulässt:⁹⁰⁵ „Das hat seinen Grund darin, daß jegliches Gesetz allgemein gefaßt ist. Aber in manchen Einzelfällen ist es nicht möglich, eine allgemeine Bestimmung so zu treffen, daß sie richtig ist. […] [D]as Gesetz [nimmt] die Fälle sozusagen en bloc ohne allerdings zu übersehen, daß damit eine Fehlerquelle gegeben ist.“⁹⁰⁶ Eine leicht abgewandelte Form davon entwirft Aristoteles in der Rhetorik: Hier steht die Epikie für den Fall, in dem ein weiteres Recht neben dem geschriebenen Gesetz Gültigkeit beansprucht, d. h. in einer Situation, in der zwei Rechtsgrundsätze miteinander kollidieren und für den Einzelfall eine gesonderte Lösung gefunden werden muss:⁹⁰⁷ „Billig ist das entgegen dem geschriebenen Gesetz Gerechte“, d. h. etwa eine Situation, in der „zwar die Notwendigkeit besteht, allgemeine Aussagen zu treffen, es sich aber nicht allgemein, sondern nur in der Regel so verhält.“⁹⁰⁸ Die Übergänge zwischen beiden Positionen sind naturgemäß fließend, wie auch das aristotelische System offen für weitere Einflüsse ist – gerade im Mittelalter wird das ethisch-juristische Modell einer möglichen Ausnahmeregelung stark durch den christlichen Gedanken der misericordia (Barmherzigkeit) bestimmt.⁹⁰⁹ Das christliche System beschreibt – vereinfacht ausgedrückt – dabei mehrere Formen der Ausnahme. So steht es in erster Linie dem Göttlichen selbst zu, gegebene Gesetze zu überschreiten,⁹¹⁰ da die göttliche Gnade immer über weltlicher Ordnung steht. Dies bedingt jedoch nicht nur Ausnahmen, die dadurch legitimiert werden, dass sie sich an einer höheren Wahrheit orientieren (das göttliche Gesetz zählt mehr als das weltliche Gesetz), und die somit zwei Rechtsnormen gegeneinander abwägen, sondern legitimiert auch unter Umständen die Ausnahme vom Gesetz für den Einzelnen: Meinolf Schumacher hat gezeigt, dass der antike Gedanke des humanum errare est im christlichen Denken des Mittelalters als ‚sündigen ist menschlich‘ wieder auftaucht.⁹¹¹ Der Fehltritt gegen das Gesetz ist dann ausnahmsweise nicht zu bestrafen, wenn der Sünder Reue zeigt und Buße tut. Das Erlassen der Gesetzesstrafe im gnadebedingten Ausnahmefall schreibt sich so in das moralische System ein und beeinflusst – wie
Vgl.Virt: Epikie, verantwortlicher Umgang mit Normen (Anm. 901), S. 80; Maye: Die Paradoxie der Billigkeit in Recht und Hermeneutik (Anm. 902), S. 61 f. Vgl. Angenendt: Die Epikie (Anm. 900), S. 363. Aristoteles: Nikomachische Ethik (Anm. 596), V, 14 (1137b). Vgl.Virt: Epikie, verantwortlicher Umgang mit Normen (Anm. 901), S. 83. Evident ist hier auch die Nähe zum Kasus. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), I, 13 (1374a 27– 32). Vgl. Angenendt: Die Epikie (Anm. 900), S. 370; Maye: Die Paradoxie der Billigkeit in Recht und Hermeneutik (Anm. 902), S. 67. Albertus Magnus gibt etwa an, als bestes Beispiel für eine Epikie sei Jesus Christus selbst zu sehen, vgl. Virt: Epikie, verantwortlicher Umgang mit Normen (Anm. 901), S. 157. Vgl. Meinolf Schumacher: „…ist menschlich“. Mittelalterliche Variationen einer antiken Sentenz. In: ZfdA 119 (1990), S. 163 – 170.
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etwa über die politisch verstandene Tugend der clementia (Milde)⁹¹² – auch stark die Feudalkultur.⁹¹³ Im Folgenden sollen diese Spielräume von Gesetz, Strafe und Ausnahmefall anhand von drei Erzählungen aus den Gesta Romanorum aufgezeigt werden.⁹¹⁴ Oe 55 erzählt von einem König und seinen fünf Kindern: einem in jeder Hinsicht wohlgeratenen Sohn und vier Töchtern mit den Namen Justitia, Veritas, Misericordia und Pax. Der Sohn heiratet, kurz nach der Hochzeit aber wird die junge Braut von einem Diener verführt und misshandelt (seduxit […] ac violavit). Sie wird verstoßen und fällt ins Elend. Als der Sohn davon hört, überkommt ihn Mitleid, er sendet einen Boten, der sie zurückholen soll. Die Frau jedoch argumentiert, eine einmal vollzogene Scheidung sei laut Gesetz nicht zurückzunehmen, worauf der Bote antwortet, der Sohn des Königs stehe über dem Gesetz. Als Zeichen der Versöhnung soll der Königssohn sie selbst zurückholen und mit einem Kuss begrüßen. Als der Sohn dies seinem Vater berichtet, beginnen seine Schwestern eine Diskussion: Justitia (Gerechtigkeit) bedrängt den König, dem Gesetz zu folgen und die Scheidung aufrechtzuerhalten, Veritas (Wahrheit) betont die nicht wiedergutzumachende Sünde der Ehefrau, Misericordia (Barmherzigkeit) aber fordert Erbarmen gegenüber der Frau, während Pax (Frieden) aufgrund des Streites vom Königshof flieht. Angesichts der Unstimmigkeit zwischen seinen Schwestern bietet der Sohn an, stellvertretend für seine Frau Buße zu tun, bevor diese zurückgeholt werde – eine Lösung, der alle zustimmen.
Die Erzählung generiert zwei Formen von Ausnahmeregelungen: zuerst ein politisches Modell, in dem der König aufgrund seines Herrscherstatus anscheinend das Gesetz bewusst nicht zur Anwendung bringen kann. Diese Regelung wird jedoch durch das Gespräch der allegorisch inszenierten Schwestern konterkariert: Die politische Ausnahme verstößt gegen Gerechtigkeit und Wahrheit und ist nicht hinzunehmen. Erst die Barmherzigkeit, verbunden mit der Bußleistung, ermöglicht die Versöhnung und Rückkehr trotz anders lautender Gesetze. Politisches und christliches Modell greifen somit ineinander und etablieren – ganz im Sinne von Aristotelesʼ erster Epikie-Definition – eine Form höherer Gerechtigkeit, die das geltende Gesetz (eine Scheidung ist nicht aufzuheben) übersteigt. Die Frage, die das Gleichnis Oe 55 stellt, besteht damit in erster Linie darin, wie die gesetzliche Ausnahme zu legitimieren ist. Giorgio Agamben hat unter Rückgriff auf Carl Schmitt Formen der Ausnahmeregelung identifiziert, die ein politisches Modell mit einem Souverän im Zentrum beschreiben, der qua seines Amts über den Ausnahmezustand entscheiden kann.⁹¹⁵ Diese souveräne Ausnahme wird im Gleichnis als
Vgl. Karl Ubl: Clementia oder Severitas. Historische Exempla über eine Paradoxie der Tugendlehre in den Fürstenspiegeln Engelberts von Admont und seiner Zeitgenossen. In: Historische Exempla in Fürstenspiegeln und Fürstenlehren. Hrsg. von Christine Reinle. Frankfurt am Main [u. a.] 2011 (Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und der frühen Neuzeit. 4), S. 21– 42. Vgl. Peter von Moos: Vorwort. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hrsg. von Dems. Köln 2001 (Norm und Struktur. 15), S. XI–XXIV, hier S. XIX. Die drei Erzählungen finden sich alle in der ältesten, von Dick herausgegebenen Gesta Romanorum-Handschrift J: Oe 55 entspricht J 134; Oe 194 entspricht J 200; Oe 195 entspricht J 168. Vgl. Agamben: Homo sacer (Anm. 98), S. 25 – 28.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Möglichkeit angespielt, letztlich jedoch durch die transzendente Ausnahme substituiert. Damit wird der Herrscher aber nicht als über dem Gesetz stehend inszeniert, sondern als jemand, der wie die anderen Stände der christlichen Gnadenlogik unterworfen ist – auch er muss Buße leisten. Die vom Gleichnis entworfene Grenze trennt Immanenz und Transzendenz, nicht aber den Herrscher vom Volk. Der politische Gehalt der Gesta Romanorum-Version scheint jedoch eine Eigenart zu sein, die in den sonstigen Varianten der Erzählung nicht enthalten ist. Bekannt ist der Stoff als ‚Streit der vier Töchter Gottes‘, der auf Ps 84,10 f. zurückgeht und zum ersten Mal in einer Predigt Bernhards von Clairveaux deutlich als Erzählung markiert wird.⁹¹⁶ Bernhard setzt die Erzählung in den Kontext des Sündenfalls: Die Nebengeschichte mit der untreuen Frau existiert nicht, stattdessen wird beraten, ob der Mensch an sich trotz seiner Sünden Gnade verdiene.⁹¹⁷ Dieser theologische Gehalt wird in den Gesta Romanorum zwar durch die Moralisation wieder eingefangen,⁹¹⁸ in der Erzählung selbst aber in die Kontexte von Politik und Familie transferiert. Fragen nach der politischen Ordnung (steht der König über dem Gesetz?) werden hier mit Aporien des Familienzusammenhaltes (soll die untreue Frau des Sohnes zurückgeholt werden?) konfrontiert. Das Erzählmuster von Verstoßung und Wiederaufnahme lässt sich somit nicht nur im christlichen Sinn, der mit dem Gleichnis des ‚Verlorenen Sohnes‘ einen ähnlich gelagerten Fall offeriert, lesen, sondern betrifft auch die Frage nach dem Familienzusammenhalt in einem sozialen Normkonflikt. Dass die Schwestern hier in der Auseinandersetzung bereits deutlich als Personifikationen markiert werden, weist auf den argumentativen Gehalt der Geschichte hin, der gegenüber der Narration in den Vordergrund tritt. So besteht ein Großteil der Erzählung aus Redesequenzen, in denen verschiedene Argumente gegeneinander ins Feld geführt werden: Eine einzelne Gesetzesüberschreitung, so zeigt es das Gleichnis, kann divergent bewertet werden, je nachdem ob man aus der Perspektive der Gerechtigkeit, der Wahrheit oder der Barmherzigkeit urteilt. Es scheint hier gerade die Erzählform des Gleichnisses zu sein, die sich für diese Annäherung an die Kasuistik anbietet, löst sie sich doch von der Wahrheitsbestimmung der historia, bleibt aber im Wahrscheinlichen und damit in einem als möglich ausgewiesenen Erzählrahmen, der verschiedene Handlungsalternativen durchspielen kann.⁹¹⁹
Für eine Überblicksdarstellung vgl. Eduard Johann Mäder: Der Streit der „Töchter Gottes“. Zur Geschichte eines allegorischen Motivs. Bern [u. a.] 1971 (Europäische Hochschulschriften. 41); vgl. auch Nicole Eichenberger: Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters. Berlin [u. a.] 2015 (Hermaea. 136), S. 80 f. Vgl. Bernhard von Clairveaux: In annuntiatione Dominica. Sermo primus. Hier und im Folgenden zit. nach: Bernhard von Clairveaux: In annuntiatione Dominica. In: Ders.: Sämtliche Werke. Lateinisch / Deutsch. Band 8. Hrsg. von Gerhard B. Winkler. Innsbruck 1997, S. 96 – 129. Die Moralisation ist ungewöhnlich lang, sie nimmt auch Bezug auf Bernhard. Zum Spannungsfeld Recht – Billigkeit – Literatur vgl. abermals Bleumer: Vom guten Recht des Teufels (Anm. 492), der darauf hinweist, dass es einerseits moralische Orientierung braucht, um die Billigkeit rechtlicher Urteile zu begründen (eine Orientierung, die bevorzugt im exemplarischen Er-
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
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Eine gänzlich andere Form der Zurückweisung des Gesetzes bietet Oe 194: Kaiser Gallicus erlässt ein Gesetz: Wer beim Essen einen Fisch auf seinem Teller wendet, so dass die Gräte sichtbar wird, soll sterben (denn Gallicus ist so reich, dass man am Tisch nur die besten Stücke isst, nicht aber das ganze Tier), erhält jedoch vorher drei Wünsche erfüllt (von denen aber keiner sein Leben betreffen darf). Ein Graf und sein Sohn speisen beim Kaiser, der Graf wendet aus Hunger seinen Fisch auf die Rückseite und wird dafür zum Tod verurteilt. Der Sohn bittet den Kaiser, anstelle seines Vaters den Tod zu erleiden, und nennt dann drei Wünsche: Eine Nacht mit der Tochter des Kaisers schlafen (in der Nacht rührt der Grafensohn die Tochter jedoch nicht an), dann fordert er das gesamte Vermögen (das er allerdings im Volk verteilt) und schließlich, dass jedem, der seinen Vater beim Wenden des Fisches gesehen hat, die Augen ausgerissen werden. Daraufhin ziehen alle Zeugen ihre Anklage zurück, der Graf wird freigesprochen und sein Sohn mit der Kaisertochter verheiratet.
Eine ähnliche Erzählung findet sich bereits in den Gesta Karoli Magni Imperatoris (um 883) des Notker Balbulus,⁹²⁰ aber auch in naturkundlichen Texten wie Alexander Neckams De Naturis Rerum (um 1190);⁹²¹ generell kommt ihr ein breiter Überlieferungskreis zu.⁹²² Gegenüber der älteren Variante bei Notker ist der christliche Gehalt der Erzählung in den Gesta Romanorum verschärft:⁹²³ Opferung des Sohnes für den Vater, Keuschheit und Mildtätigkeit verweisen auf zentrale christliche Tugenden, doch behält das Exempel auch hier seine zentrale Pointe, die weder ethisch noch christlich argumentiert. Denn dass die harte Strafe nicht zur Anwendung kommt, liegt nicht im moralisch legitimierten Ausnahmefall begründet, sondern an einer List, die dem Gesetz seine Beweiskraft (Zeugenaussage) entzieht. Als defizitär erweist sich damit das unverhältnismäßig strenge und durch die luxuria des Gallicus hervorgerufene Gesetz, das sein Korrektiv in der Erhebung des Grafensohnes zum Nachfolger des Gallicus findet. Während der ethisch hergeleitete Ausnahmefall – wie oben in Oe 55 – im Sinne von Aristoteles zwar im Einzelfall das Gesetz nicht zur Anwendung bringt,
zählen vermittelt werden kann), andererseits dieses Erzählen immer wieder auf kasuistische Schemata zurückgreifen muss, um an einem rechtlichen Diskurs zu partizipieren, vgl. ebd., S. 171. Vgl. Notker Balbulus: Gesta Karoli Magni Imperatoris, II, 6. Hier und im Folgenden zit. nach: Notker der Stammler: Taten Kaiser Karls des Grossen. Hrsg. von Hans F. Haefele. Berlin 1959 (MGH Scriptores. 6 [N.S. 12]). Vgl. Alexander Neckam: De Naturis Rerum, 2, 40. Hier und im Folgenden zit. nach: Alexander Neckam: De naturis rerum libri duo.With the Poem of the Same Author, De laudibus divinae sapientiae. Hrsg. von Thomas Wright. London 1863 (Rerum britannicarum medii aevi scriptores or Chronicles and Memorials of Great Britain and Ireland during the Middle Ages. 34). Vgl. Index exemplorum 2056; AaThU 927 A.Vgl. dazu auch Susanne Ude-Koeller: Art.Wunsch: Der letzte Wunsch. In: EdM. Bd. 14, Sp. 1065 – 1070. Notker beschreibt einen Boten, der an den byzantinischen Hof kommt und den dortigen Sitten zum Opfer fällt, d. h. keine Vater-Sohn-Konstellation. Der Bote erhält zudem nur einen Wunsch erfüllt, nicht drei. Die Erzählung bei Neckam gleicht wiederum stärker derjenigen der Gesta Romanorum. Zu den Unterschieden vgl. Johannes Schneider: Die Geschichte vom gewendeten Fisch. Beobachtungen zur mittellateinischen Tradition eines literarischen Motivs. In: Festschrift für Karl Bischoff zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Günter Bellmann. Köln/Wien 1975, S. 218 – 225.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
aber dessen generelle Gültigkeit nicht tangiert, beschreibt Oe 194 die Überwindung des (Un‐)Rechts qua List. Es fällt auf, dass das in der Erzählung thematisierte Gesetz nicht als Naturrecht präsentiert wird, sich mithin auf keine moralphilosophische oder religiöse Herleitung berufen kann, sondern der kulturellen Gewohnheit, der Tischsitte, entspringt. Die Tischsitte aber ist durch die Anmaßung des Souveräns geprägt, dem die Symbolik des Essens vor dessen Nützlichkeit geht. Die symbolische Inszenierung des Essens wird – und auch dies findet sich nur in den Gesta Romanorum ⁹²⁴ – jedoch kontrastiert durch den Hunger des Grafen, mithin den Verweis auf die Notwendigkeit des Essens. Und auch die List des Grafensohnes, der Entzug der Sehfähigkeit, ließe sich in dieser Perspektive doppelt verstehen: als juristischen Trick einerseits, als verdeckte Kritik an der symbolischen, auf Sichtbarkeit angelegten Tischkultur andererseits. Umgeht Oe 194 den Ausnahmefall, indem die List dem Recht seine Grundlagen entzieht, erzählt das folgende Exempel (Oe 195) die Konfrontation zweier Rechtsnormen: Oe 195 erzählt eine komplexe Geschichte: Der in Rom herrschende Kaiser Lucius hat eine schöne Tochter, in die sich ein Ritter verliebt. Der Ritter handelt mit der Kaisertochter aus, dass er für tausend Goldmark (1000 marcas florenas) mit ihr schlafen dürfe. In der Nacht jedoch schläft der Ritter unnatürlich schnell ein, noch bevor der Beischlaf vollzogen wird. Dies wiederholt sich. Ein dritter Versuch wird angesetzt, wobei der Ritter sich nun das Geld bei einem Kaufmann leihen muss und diesem verspricht, bei Nicht-Rückgabe des Geldes mit seinem eigenen Fleisch zu bezahlen. Der Ritter sucht dann einen weisen Mann (philosophus) auf, erzählt ihm seine Geschichte und fragt um Rat. Der weise Mann erklärt, dass eine im Bett des Mädchens versteckte magische Schrift (die er selbst angefertigt hat) den Schlaf bewirke. Der Ritter geht zu dem Mädchen, entfernt die Schrift und schläft mit ihr. Beide verlieben sich ineinander und der Ritter vergisst in der Liebe die ihm vom Kaufmann gesetzte Frist. Der Ritter versucht, mit dem Kaufmann zu verhandeln (er bietet ihm an, die Schulden zurückzuzahlen), doch dieser pocht auf die gemeinsame Vereinbarung, dass mit Fleisch bezahlt werden soll. Dem Ritter soll nun an der Brust Fleisch abgeschnitten werden. Als die Kaisertochter davon hört, verkleidet sie sich als Mann, reitet zum Gericht und übernimmt die Verteidigung, indem sie einen weiteren Rechtssatz anführt: Wer eines anderen Blut vergießt, dessen Blut soll auch vergossen werden (rex dicit, quod quicumque sanguinem alicujus effuderit, sanguis ejus pro eo effundatur). Der Ritter hätte nun aber nur Fleisch versprochen, jedoch kein Blut. Der Richter erklärt daraufhin die Schuld des Ritters für nichtig, da kein Fleisch abgeschnitten werden könne, ohne dass Blut vergossen werde (und dann auch das Blut des Kaufmanns vergossen werden müsste). Das Mädchen gibt sich dem Ritter zu erkennen, beide beschließen ihr Leben in Frieden.
Die Erzählung (bekannt als ‚Fleischpfand‘ bzw. ‚Kaiser Luciusʼ Tochter‘) hat aller Wahrscheinlichkeit nach orientalische Ursprünge, findet sich aber bereits im Dolopathos, einer im späten 12. Jahrhunderts entstandenen Erzählkompilation, die ähnlich wie die Sieben Weisen Meister ihre Exempel in eine Rahmenhandlung bindet.⁹²⁵ Die
Vgl. ebd., S. 223. Vgl. Johannis de Alta Silva Dolopathos sive De rege et septem sapientibus. Nach den festländischen Handschriften kritisch hrsg. von Alfons Hilka. Heidelberg 1913 (Sammlung mittellateinischer
IV.3 Gesta Romanorum. Die offene Sammlung
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Handlung lässt sich grob in zwei Abschnitte unterteilen, wobei hier der zweite (Gerichtsszene) mehr interessiert als der erste (Magie und Gegenlist). Die Forschung hat sich für die Szene in erster Linie aufgrund ihrer Überlieferungsgeschichte interessiert: Neben der Ausgestaltung als Märe⁹²⁶ stand vor allem ihre Adaptation in Shakespeares Merchant of Venice im Fokus.⁹²⁷ Das ius strictum, so bereits Simrock 1831 mit Blick auf Shakespeare, werde hier durch das aequitas-Prinzip, d. h. Billigkeit, ersetzt.⁹²⁸ Was Simrock (und seine Nachfolger) nicht näher ausführen, bedarf eines detaillierteren Blicks. Die Gerichtsszene führt vordergründig zwei Rechtssätze gegeneinander: Das Fleisch muss abgeschnitten werden, um die Schulden des Mannes zu tilgen, und das Blut des Kaufmannes muss vergossen werden, wenn das Blut des Mannes vergossen wird. Dies erinnert an Aristotelesʼ zweites Epikie-Verständnis (dem Abwägen zwischen zwei Regeln, das in einer Ausnahme resultiert), lässt sich aber im Kontext der Gerichtsszene auch als juristische Argumentation lesen. „Man kann nämlich widerlegen, indem man entweder entgegengesetzte Deduktionen bildet oder indem man Einwände vorbringt. Es ist aber klar, dass man entgegengesetzte Deduktionen aus denselben Topen bilden kann: Sie sind nämlich Deduktionen aus dem Anerkannten; viele Meinungen aber verhalten sich entgegengesetzt zueinander“, so Aristoteles über das Argumentieren vor Gericht.⁹²⁹ Dass Gleiches mit Gleichem vergolten werden soll, wie die Kaisertochter argumentiert, lässt sich in diesem aristotelischen Sinn als Topos lesen, der sowohl religiös, wie rechtlich und über den Common Sense abgesichert ist.⁹³⁰ Argumentativ steht er aber im scharfen Gegensatz zur Meinung des Kaufmannes, der das Angebot des Ritters, mit Geld zu bezahlen – also Gleiches mit Gleichem zu vergelten – ablehnt und Ungleiches miteinander verbindet (nämlich Geld und Fleisch).⁹³¹ Beide Topoi sind rechtlich schlüssig, in ihrer Konfrontation aber unver-
Texte. 5), Historia quarti sapientis: Creditor.Vgl. auch AaThU 890. Zur Überlieferung vgl. auch Hannjost Lixfeld: Art. Fleischpfand. In: EdM. Bd. 4, Sp. 1256 – 1262; sowie Christine Scherrer: Heikle Versprechen. Bürgschaft und Fleischpfand in der Literatur. Bern [u. a.] 2016 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700. 51). Vgl. Klaus Grubmüller: Kaiser Luciusʼ Tochter. Zur Vorgeschichte von Shakespeareʼs Kaufmann von Venedig. In: Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart. Hrsg. von Ulrich Mölk. Göttingen 1996, S. 94– 137. Vgl. Uwe Diederichsen: Das Fleischpfand. In: Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart. Hrsg. von Ulrich Mölk. Göttingen 1996, S. 138 – 149; Scherrer: Heikle Versprechen (Anm. 925), S. 229 – 268. Vgl. Theodor Echtermeyer, Ludwig Henschel, Karl Simrock: Quellen des Shakespeare in Novellen, Märchen und Sagen. Theil 3. Berlin 1831 (Bibliothek der Novellen, Märchen und Sagen. 3), S. 194. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), II, 25 (1402a 31– 34). So schon das mosaische Gesetz (2. Mose 21,24), aber auch Herodot: Historien (Anm. 494), 4, 119. Vgl. dazu auch Scherrer, die davon ausgeht, dass ökonomische Verhandlungen in der ‚Fleischpfand‘-Version der Gesta Romanorum die Hintergrundfolie bilden, vor der sich rechtliche Argumentation wie auch Liebesdiskurse erst herausbilden, vgl. Scherrer: Heikle Versprechen (Anm. 925), S. 145 – 193.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
einbar. Diese Unvereinbarkeit kann jedoch argumentativ genutzt werden, denn wenn sich zwei Rechtsgrundsätze widersprechen, kann keine Strafe verhängt werden. Aus juristischer Perspektive entspricht der Topos ‚Gleiches mit Gleichem zu vergelten‘ dem Talionsprinzip. Dieses lässt sich – so Agamben – als Rechtskonstitution über den Ausnahmefall lesen, da es keine Sanktion für die Überschreitung vorgibt, sondern seine Erfüllung in der Wiederholung der Handlung findet: „Dieser [= der Ausnahmefall des lex talionis, M.S-D.] ist keine Bestrafung der ersten Handlung, sondern vollzieht die Einschließung in die Rechtsordnung, setzt die Gewalt als ursprüngliche Rechtshandlung.“⁹³² Die verkleidete Kaisertochter argumentiert damit mit einem Ausnahmefall, der eine Nivellierung des Hierarchieverhältnisses zwischen Ritter und Kaufmann anstrebt: Die rechtliche, nur durch Vertragsabschluss geschaffene Überlegenheit des Kaufmanns gegenüber dem Ritter ist in der Ausnahmesituation, in der beider Leben bedroht ist (da beider Blut vergossen wird), eingeebnet. Das Exempel beschreibt somit auch das Verhältnis von Recht und Körper. Das geplante öffentliche Abschneiden des Fleisches deutet auf eine Ökonomie der Macht (wie sie Foucault in ‚Überwachen und Strafen‘ beschrieben hat)⁹³³ hin, die den Gesetzesübertritt am Körper des Delinquenten in einem absichtlich unverhältnismäßigen Maße bestraft, während das von der Kaisertochter angeführte Gesetz des ius talionis sich eher am Analogie-Denken orientiert: Über die Analogie nimmt die Strafe „die Form einer natürlichen Abfolge“ an, die „in ihrer Form den Inhalt des Verbrechens wiederhol[t].“⁹³⁴ Die Analogie suggeriert eine natürliche, quasi logische Folge, die vor Gericht von der Kaisertochter syllogistisch eingesetzt wird⁹³⁵ – der Kaufmann hingegen verfügt über keine ‚natürliche‘ Argumentation, sein Tausch von Geld gegen Fleisch lässt weder logisch noch über Gerechtigkeitsparadigmen herleiten.
IV.4 Ausblick ins Spätmittelalter: Die Handschrift London, British Library, MS Add. 24946 IV.4.1 Einführung Neben der geschlossenen (Edelstein) und offenen (Gesta Romanorum) Überlieferung von Erzählsammlungen steht eine Fülle an Handschriften, die eine je eigene Kompilation von exemplarischen Kurzerzählungen aufweisen. Nicht erst die Bestrebungen der ‚New Philology‘, die Diversität mittelalterlicher Texte und Textvarianten als eigene
Agamben: Homo sacer (Anm. 98), S. 37. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1994 (Suhrkamp-Taschenbuch. 2271). Ebd., S. 134. ‚Gleiches muss mit Gleichem vergolten werden‘ – ‚die Strafe des Kaufmanns lässt sich nur anwenden, wenn das Blut des Ritters vergossen wird‘ – ergo muss auch das Blut des Kaufmanns vergossen werden.
IV.4 Ausblick ins Spätmittelalter: Die Handschrift London, BL, MS Add. 24946
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Qualität in den Fokus zu stellen, haben hier zu vergleichenden Analysen geführt: In der Forschungsgeschichte zu mittelalterlichen Kurzerzählungen existiert schon lange ein Problembewusstsein für diese breite Überlieferungssituation.⁹³⁶ Gut erforscht sind somit bereits die Stricker-Überlieferung⁹³⁷ wie auch die frühe Kompilation von Kurzerzählungen im 13. Jahrhundert (anhand des Cod. Vindob. 2705),⁹³⁸ Desiderat bleibt allerdings weiterhin der Blick auf die handschriftliche Rezeption ebendieser Erzählungen im 14. und 15. Jahrhundert.⁹³⁹ Die Tendenz, exemplarische Kurzerzählungen als Sammlung zusammenzustellen, korrespondiert in der handschriftlichen Überlieferung mit dem Verfahren, die kompilierten Kurzerzählungen mit anderen Textarten zu kombinieren: Häufig finden sich die Disticha Catonis, Sprichwörter, Spruchsammlungen (Teichner), FreidankAuszüge, aber auch längere Erzählungen wie Mären.⁹⁴⁰ Die Zusammenstellung dieser Texte erscheint dabei relativ ungebunden – je nach Ausrichtung der Handschrift überwiegt eine Orientierung an u. a. didaktischen, geistlichen oder minnethematischen Parametern.⁹⁴¹ Gemein scheint vielen Handschriften jedoch ein Interesse für die Zusammenstellung verschiedener Wissensformen, die als Erfahrungswissen, Common-Sense-Wissen oder auch als moralphilosophisches Wissen präsentiert werden.
Vgl. exemplarisch Franz-Josef Holznagel: ‚Autor‘ – ‚Werk‘ – ‚Handschrift‘. Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Literaturgeschichte kleinerer mittelhochdeutscher Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 34 (2002), H. 2, S. 127– 146; vgl. auch die Beiträge in: Exempel und Exempelsammlungen (Anm. 2). Vgl. bspw. Karl Zwierzina: Beispielreden und Spruchgedichte des Strickers. In: Mittelhochdeutsches Übungsbuch. 2. vermehrte und geänderte Aufl. Hrsg. von Carl von Kraus. Heidelberg 1926 (Germanistische Bibliothek. III. Reihe: Lesebücher. Zweiter Band), S. 83 – 108, S. 279 – 287 (inzwischen in Teilen überholt); Ziegeler: Beobachtungen zum Wiener Codex 2705 und zu seiner Stellung in der Überlieferung früher kleiner Reimpaardichtung (Anm. 676); Holznagel: Die Koblenzer Stricker-Fragmente (Anm. 678); Die bisher unveröffentlichten geistlichen Bispelreden des Strickers. Überlieferung. Arrogate, exegetischer und literarhistorischer Kommentar. Hrsg. von Ute Schwab. Göttingen 1959. Vgl. Ziegeler: Beobachtungen zum Wiener Codex 2705 und zu seiner Stellung in der Überlieferung früher kleiner Reimpaardichtung (Anm. 676); vgl. auch die Habilitationsschrift Franz-Josef Holznagels, deren Veröffentlichung für 2018 geplant ist: Franz-Josef Holznagel: Handschrift – Texttypologie – Literaturgeschichte. Die kleineren mittelhochdeutschen Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts und der Wiener Stricker‐Codex 2705. Berlin [u. a.] 2018 [geplant] (Hermaea. 124). Vgl. grundlegend Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter (Anm. 295); Sarah Westphal: Textual Poetics of German Manuscripts 1300 – 1500. Columbia, SC 1993 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). Vgl. auch die neuere Forschung, etwa zu Prosaexempeln: Studer: Exempla im Kontext (Anm. 303); oder zu geistlichen Kurzerzählungen: Eichenberger: Geistliches Erzählen (Anm. 916). Zu den Disticha Catonis vgl. Baldzuhn: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Anm. 281); vgl. generell Grubmüller: Elemente einer literarischen Gebrauchssituation (Anm. 793), S. 146. Tolan weist daraufhin, dass dies auch für die lateinische Überlieferung gilt, wie etwa für diejenige der Disciplina clericalis, vgl. John Tolan: Petrus Alfonsi and his Medieval Readers. Tampa [u. a.] 1993, S. 133. Die Variations- und Kombinationsvielfalt ist breit und bisher nur in Ansätzen erforscht. Vgl. Westphal: Textual Poetics of German Manuscripts 1300 – 1500 (Anm. 939).
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Das Hauptinteresse der Forschung hat sich hier in erster Linie auf Kompilationsformen der Kurzerzählungen selbst bezogen. Über feste Sammlungstypen wurde bereits im einleitenden Kapitel (IV.1) gesprochen, wichtig ist noch der Hinweis auf häufig vorkommende Reihungsstrukturen von Kurzerzählungen in den Handschriften: „thematische Clusterbildung; Concatenatio-Prinzip [d. h. Wortbeziehungen zwischen einzelnen Texten, M.S-D.]; Markierung von Anfang und Ende der Sammlung mittels inhaltlich passender Texte.“⁹⁴² Wesentlich unklarer ist jedoch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Kurzerzählungen und anderen Texten in der Handschrift, d. h. der Kontext innerhalb der Handschrift selbst. An dieser Stelle setzt das folgende Kapitel an: Untersucht wird die im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts entstandene Handschrift Add. 24946 der British Library in London, die eine Fülle an exemplarischen Kurzerzählungen aus dem 13. und frühen 14. Jahrhundert aufgreift, neu anordnet und mit weiteren Texten kombiniert. Indem sie Fabeln und Gleichnisse aus dem oben erwähnten Wiener Cod. 2705 sowie historische Exempel aus dem Schachzabelbuch Heinrichs von Beringen übernimmt, enthält die Handschrift alle drei genera narrationis und bietet sich damit für eine Analyse im Zuge dieser Arbeit präferiert an. Als abschließendes Teilkapitel des ‚Sammlungs-Teils‘ dieser Arbeit wird damit ganz bewusst einerseits auf Kurzerzählungen zurückgegriffen, die im hier relevanten Untersuchungszeitraum (1150 – 1350) entstanden sind, andererseits aber auch deren spätere Überlieferung im 15. Jahrhundert berücksichtigt.⁹⁴³ Gleichfalls von Interesse ist der handschriftimmanente Kontext: Add. 24946 zeichnet sich durch die Kompilation unterschiedlicher, auf den ersten Blick durchweg heterogener Texte aus und verspricht damit hohes Erkenntnispotenzial. Im Folgenden soll daher in einem ersten Schritt die Zusammensetzung der Handschrift Add. 24946 analysiert werden: Welche Texte werden wie miteinander kombiniert, wo ergänzen sie sich inhaltlich, wo in den Argumentationsformen? Anschließend wird die Perspektive auf die Zusammenstellung und rhetorische Funktionalisierung der exemplarischen Kurzerzählungen in der Handschrift fokussiert. Ein abschließendes Kapitel greift auf das Verhältnis divergierender Wissensformen und -ansprüche zurück: Wo formuliert die Handschrift feste normative Regeln, wo bewegt sie sich in der flexiblen Argumentationskultur des Common Sense und der Gewohnheit?
Holznagel: Die Koblenzer Stricker-Fragmente (Anm. 678), S. 165, Anm. 108. Holznagel fasst hier die Erkenntnisse aus den Arbeiten Sarah Westphals und Maryvonne Hagbys zusammen: Westphal: Textual Poetics of German Manuscripts 1300 – 1500 (Anm. 939); Hagby: man hat uns fur die warheit … geseit (Anm. 487); zu den Kennzeichen primär geistlich ausgerichteter Sammelhandschriften vgl. auch Eichenberger: Geistliches Erzählen (Anm. 916), S. 217– 228. Gerade die Überlieferung des 15. Jahrhunderts zeigt neue Formen der Kompilation, vgl. Ziegeler: Art. Reimbispel-Sammlungen (Anm. 513), Sp. 1144.
IV.4 Ausblick ins Spätmittelalter: Die Handschrift London, BL, MS Add. 24946
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IV.4.2 Narration und Argumentation in der Handschrift Add. 24946 IV.4.2.1 Struktur und Inhalt der Handschrift Die wohl in Nürnberg entstandene und heute in der Londoner British Library aufbewahrte Handschrift Add. 24946 ist (von den letzten Seiten einmal abgesehen)⁹⁴⁴ von einem einzigen Schreiber in bairischer Sprache niedergeschrieben worden.⁹⁴⁵ Deutlich lassen sich Ansätze zur Strukturierung und Unterteilung der Handschrift erkennen: Ein (allerdings sehr lückenhaftes) Register gibt Stichpunkte und Titel zu den einzelnen Abschnitten der Handschrift, diese selbst sind durch rote Überschriften auch farblich markiert. Insgesamt hebt die Handschrift auf diese Weise sieben verschiedene Textblöcke hervor: ‒ Eine ‚theologische Einleitung‘, die in sechs kurzen Texten über Glaubensfragen und Stationen im Leben Jesu berichtet. ‒ 37 wenig umfangreiche Reden Heinrichs des Teichner, gefolgt von der Minnerede ‚Vergissmeinnicht‘⁹⁴⁶ und drei kurzen historischen Exempeln aus dem Schachzabelbuch Heinrichs von Beringen, die hier anscheinend dem Teichner zugeordnet werden.⁹⁴⁷ ‒ 48 Fabeln und Gleichnisse, die fast alle auf den Cod. 2705 zurückgehen, hier aber in neuer Anordnung stehen. Die Handschrift schreibt die Kurzerzählungen fälschlicherweise Freidank zu.⁹⁴⁸ ‒ ein längeres Spruchgedicht Oswalds von Wolkenstein (Kl. 112), das sich auf juristische Fragen bezieht.⁹⁴⁹
Priebsch unterscheidet neben dem Hauptschreiber noch drei weitere Schreiberhände, die die letzten Seiten des Codex (287v – 293r) mit kleineren Texten gefüllt haben (etwa wann man reden oder sweigen sülle, Bl. 287v usw.): Robert Priebsch: Deutsche Handschriften in England. Bd. 2: Das British Museum. Mit einem Anh. über die Guildhall-Bibliothek. Erlangen 1901, S. 215 – 223. Für Informationen zur Handschrift vgl. Ziegeler: Art. Reimbispel-Sammlungen (Anm. 513), Sp. 1147; Arend Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter. Heidelberg 1967, S. 107; Achnitz, Holznagel: Der werlt lauff vnd ir posait (Anm. 676), S. 291; Kosak: Die Reimpaarfabel im Spätmittelalter (Anm. 416), S. 288; Hans-Dieter Mück: Untersuchungen zur Überlieferung und Rezeption spätmittelalterlicher Lieder und Spruchgedichte im 15. und 16. Jahrhundert. Die „Streuüberlieferung“ von Liedern und Reimpaarrede Oswalds von Wolkenstein. Bd. 1: Untersuchungen. Unter Mitwirkung bei Hs. K. von Dirk Joschko. Göppingen 1980, S. 273 – 280. Genaue Beschreibungen der Handschrift liefern: Jacob Bächtold: Deutsche Handschriften aus dem Britischen Museum. In Auszügen. Schaffhausen 1873, S. 72– 146; Priebsch: Deutsche Handschriften in England (Anm. 944). Bd. 2, S. 215 – 223. Vgl. Jacob Klingner, Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Berlin [u. a.] 2013. Bd. 1, S. 576 f. Die Teichner-Forschung verzeichnet die Handschrift unter der Sigle K, vgl. Die Gedichte Heinrichs des Teichners. Hrsg. von Heinrich Niewöhner. Bd. 1: Gedicht Nr. 1– 282. Berlin 1953, S. XCI – XCIII. In der Stricker-Forschung firmiert die Handschrift unter der Sigle F, vgl. Holznagel: Die Koblenzer Stricker-Fragmente (Anm. 678), S. 168. Vgl. Mück: Untersuchungen zur Überlieferung und Rezeption spätmittelalterlicher Lieder und Spruchgedichte im 15. und 16. Jahrhundert (Anm. 945), S. 277. Die Oswald-Forschung verzeichnet die Handschrift unter der Sigle D, vgl. Walter Röll: Oswald von Wolkenstein. Darmstadt 1981 (Erträge der Forschung), S. 98 – 105.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
‒ 33 Mären und Minnereden, darunter Texte von Peter Suchenwirt und Hans Rosenplüt, aber auch Auszüge aus dem Schachzabelbuch Heinrichs von Beringen.⁹⁵⁰ ‒ eine volkssprachige Rumpfbearbeitung der Disticha Catonis. ⁹⁵¹ ‒ eine Nacherzählung der Passion Christi, gefolgt von 51 historischen Exempeln meist antiken Inhalts (Valerius Maximus etc.), die dem Schachzabelbuch Heinrichs von Beringen entnommen sind.⁹⁵²
Insgesamt ergibt sich damit folgendes Bild: Abschnitt I. Theologische Einleitung (Bl. r – v)
Überschrift in der Handschrift
Hie vacht an ain Rueff und hubscher spruch von den zehen gepotten so ain doctor gemacht hat ⁹⁵³ II. Teichner-Reden Hie vahent sich an (Bl. r – v) die teichnär III. Exemplarische Hie vacht an hern Kurzerzählungen I: freidancks gedicht Fabeln / Gleichder auf der welte leuf nisse wol was bericht (Bl. r – v) IV. Oswald von Hie vacht an ain Wolkenstein hübscher spruch so (Bl. r – v) herr oswalld von wolkenstain von dem rechten von richtern vorsprechen und urtailern gemacht hat V. Mären und (ohne Überschrift)⁹⁵⁴ Minnereden (Bl. r – v)
Format
Argumentationsform Inhaltliches Feld
diskursive Glaubenslehre
Autorität des Heiligen Wortes
Religion
Frage-AntwortSchema, Dialog Exemplarische Kurzerzählungen
Expertenwissen
Moralphilosophie Klugheit in der Welt / Common Sense
systematische Explikation
Berufung auf Common Sense
Recht / Gewohnheit
Längere Erzählungen
Erfahrungswissen des Ich-Erzählers
Minne
Narrative Argumentation
In der Mären-Forschung die Sigle l², vgl. Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (Anm. 945), S. 107. Sigle R-Lon³, vgl. Baldzuhn: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Anm. 281). Bd. 2, S. 927. Vgl. Morgan David Idwal Lloyd: Studien zu Heinrich von Beringens Schachgedicht. Berlin 1930. Die Zählung richtet sich nach den Angaben bei Bächtold bzw. Priebsch, die sich an den Überschriften in der Handschrift orientieren. Da allerdings hin und wieder mehrere Kurzerzählungen unter eine Überschrift fallen, kann von mehr Exempeln ausgegangen werden. Vgl. Bächtold: Deutsche Handschriften aus dem Britischen Museum (Anm. 945), S. 134– 146; Priebsch: Deutsche Handschriften in England (Anm. 944). Bd. 2, S. 218 – 223. Bei Zitaten aus Add. 24946 wird behutsam normalisiert: Nasalstriche und diakritische Zeichen werden aufgelöst, Schaft-S ist als normales s geschrieben, die u/v/w-Schreibung wird normalisiert und die Groß-Kleinschreibung ist zu weiten Teilen angeglichen. Hier bildet die Überschrift des ersten Märes gleichzeitig die Überschrift des Abschnitts.
IV.4 Ausblick ins Spätmittelalter: Die Handschrift London, BL, MS Add. 24946
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Fortsetzung Abschnitt VI. Disticha Catonis (Bl. v – v)
Überschrift in der Handschrift
Wie der haidnisch maister Katho seinem sun rat und kluog ler gab VII. Exemplarische (ohne Überschrift)⁹⁵⁵ Kurzerzählungen II: Historische Exempel (Bl. v – r)
Format
Argumentationsform Inhaltliches Feld
Vater-SohnBelehrung, Sentenzen
Weisheit des Älteren Tugenddidaxe
Exemplarische Kurzerzählungen
Narrative Argumentation / historia als Autorität
Geschichte / Common Sense
Bereits auf den ersten Blick wird die große inhaltliche und formale Bandbreite der Handschrift deutlich: Inhaltlich von Theologie über Gewohnheitswissen hin zu Rechts- und Minnefragen, um schließlich mit der historia als Ratgeberin zu enden; formal von kleinen narrativen Formen hin zu Dialogen, Lehrgesprächen und systematischer Explikation. Sichtbar wird, wie sehr inhaltliche und formale Parameter homogenisiert werden: Im Abschnitt der an weltlicher Klugheit orientierten Fabeln und Gleichnisse werden gegenüber der Vorlage gezielt Erzählungen mit geistlichem Inhalt übersprungen, auch längere Erzählungen übernimmt Add. 24946 nicht von Cod. 2705 (vgl. dazu auch das folgende Kapitel). Ebenso findet sich nur ein an Recht orientiertes Spruchgedicht Oswalds und nichts aus dessen weiterem Œuvre – es scheint, als wolle die Handschrift ein möglichst breites Spektrum an inhaltlichen Diskursen und Vermittlungsformaten abdecken, die aber je in sich geschlossene Sinneinheiten bilden. Dem ersten Abschnitt, dessen Quelle noch nicht vollständig identifiziert werden konnte,⁹⁵⁶ dürfte allgemein eine rahmende Funktion zukommen: In dem anfang aller gutten dingen / ruef wir got an das uns gelingen / das wir den seinen willen volbringen / wann got der herr gesprochen hat / kain guot werich mag nit werden volbracht / on mich und mein gotliche macht (Bl. 4r)
Der Anfang der Handschrift wird so theologisch perspektiviert und entwirft ein christliches Paradigma, das in den folgenden Abschnitten aber nur teilweise aufgegriffen wird.⁹⁵⁷ Entgegen der Überschrift des Abschnitts (Hie vacht an ain Rueff und
Auch hier bildet die Überschrift des ersten Textes (Von unsers herren leiden, Bl. 218v) gleichzeitig die Überschrift des Abschnitts. Auf eine Parallele hat Priebsch hingewiesen: Priebsch: Deutsche Handschriften in England (Anm. 944). Bd. 2, S. 215. Dass die ersten Texte einer Handschrift häufig theologischen Themen reserviert sind, beschreibt: Westphal: Textual Poetics of German Manuscripts 1300 – 1500 (Anm. 939), S. 219.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
hubscher spruch von den zehen gepotten so ain doctor gemacht hat, Bl. 3r) bezieht sich nur der erste der sechs ‚Sprüche‘ auf die Zehn Gebote, die anderen fokussieren das Leben Jesu Christi oder explizieren basale Glaubensüberzeugungen. Demgegenüber thematisiert der folgende Teichner-Abschnitt größtenteils weltliche Fragen. Die Rede ‚Ain boser sol nit wissen das gefert wie sich ain biderman ernert‘ (Bl. 17r – 18v) etwa setzt mit der – bereits mehrfach thematisierten – Sentenz ein, man solle immer auf das Ende schauen:⁹⁵⁸ Ich hon gehort von weisen / von allten und von greisen / man soll das ende sehen an (Bl. 17r), doch wird dies nicht religiös ausformuliert, sondern mit einer kleinen Erzählung unterlegt, in der vier geseln edle Speisen verzehren, während ein weiterer Mann nur Linsen zu sich nimmt. Die geseln verspotten den armen Mann, doch werden sie wenige Tage später erhängt, da sie für ihre exorbitanten Speisen nicht bezahlen können – und was der anfang gar reich / aber das end ward lasterleich (Bl. 18r). Verbleiben Rede und eingebaute Erzählung hier bei sozialen Ordnungsvorstellungen, gehen andere Reden ansatzweise auf religiöse Regeln ein.⁹⁵⁹ Texteingänge wie Ainer bat mich das ich im nant (Bl. 12v) sind dabei häufig zu finden und zeugen von einer (für den Teichner typischen) Inszenierung von Expertenwissen, das als Frage-Antwort-Schema (Quaeritur-Formel) ausgespielt wird. Ergänzt wird das Experten- durch ein Erfahrungswissen, das sowohl diskursiv verhandelt⁹⁶⁰ wie direkt angesprochen wird: Es ist ein allter spruch gemain / Das man spricht ain wetter klain / Treibt ain fawlen werckman ab (Bl. 35v). Finden sich schon in den Teichner-Reden narrative Einschübe durch kleine, in die Reden eingebaute Gleichnisse, so werden diese zum Ende des Teichner-Abschnitts durch eine Minnerede und drei eigenständige historische Exempel aus dem Schachzabelbuch Heinrichs von Beringen ergänzt. Letztere scheinen aufgrund ihrer thematischen Nähe zu den Teichner-Sprüchen (sie argumentieren gegen Spielsucht und warnen vor der Geschwätzigkeit von Frauen) problemlos an den Teichner-Abschnitt gegliedert werden zu können. Dennoch wechselt die Handschrift hier bereits in das Register narrativer Argumentation, das im dritten Abschnitt, der Fabeln und Gleichnisse aus dem Wiener Cod. 2705 enthält, wieder aufgegriffen wird. Während dort die knapp gehaltenen Epimythien der exemplarischen Kurzerzählungen getreu der Überschrift des Abschnittes vom ‚Lauf der Welt‘ erzählen,⁹⁶¹ so scheint diese Lehrfunktion gleichzeitig hinter das Interesse an einer Gliederung nach generischen Vorgaben zurückzutreten: Die Anordnung der Kurzerzählungen richtet sich häufig nach ihrem Fiktionalitätsgrad oder ihrem narrativen Gehalt (vgl. das folgende Kapitel), nicht aber nach ihrer Lehre. Dennoch offerieren die Erzählungen neben der angehängten Moral ein Reservoir an Argumentationstechniken und Erfahrungswissen, das in pointierter Figurenrede in Fabel und Gleichnis vorgeführt wird.
Vgl. Kapitel IV.2.3 und IV.3.3.2. So etwa die Rede ‚Teichnär von der mess Acht güttat komen von der mes‘, Bl. 14v. Vgl. bspw. die Rede ‚Es mugen nit zwo lieb in ain hertz‘, Bl. 30v. Hie vacht an hern freidancks gedicht der auf der welte leuf wol was bericht, Bl. 60r.
IV.4 Ausblick ins Spätmittelalter: Die Handschrift London, BL, MS Add. 24946
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Der vierte Abschnitt, ein auf das Recht bezogenes Spruchgedicht Oswalds von Wolkenstein, führt dann allerdings programmatisch die Grenzen des Erfahrungswissens auf: Mich fragt ein ritter ongeuare / der sich der wellte manig jare / zuo gutter mas erfarn hett (Bl. 85r). Lebens- und Reiseerfahrung vermögen dem Fragenden nicht zu erklären, warum in der von Gott geordneten Welt Ungerechtigkeit gerade im Rechtssystem entsteht. Das antwortende Erzähler-Ich verweist auf zahlreiche Missstände bei Richtern (Bestechlichkeit) und in der Gesellschaft, sieht aber das Problem auch generell in der Unstetigkeit der Rechtsprechung: das recht hat gar ain bechsin [= wächserne, M.S-D.] nas / es lat sich biegen als der has (Bl. 86v).⁹⁶² Der fünfte, Mären kompilierende Abschnitt ersetzt die systematische Explikation durch Narration, behält aber in vielen Erzählungen die Instanz des Sprecher-Ichs bei. Auch wenn sich das inhaltliche Feld verschiebt, bleibt die Perspektive ähnlich: Anstatt der Unbeständigkeit des Rechts thematisieren die Mären die Unbeständigkeit der Minne. Dieser zumindest allusive Zusammenhang wird direkt durch das erste Märe forciert. In ‚Die Beichte einer Frau‘⁹⁶³ streitet sich ein Kleriker mit einer Frau, die ihr außereheliches Liebesverhältnis verteidigt. Die Anschuldigungen des Klerikers kann die Frau durch geschicktes Argumentieren über die Doppelbedeutung von Minne widerlegen, so dass der Geistliche letztlich ihren Standpunkt übernimmt. Ist es bei Oswald noch das unbeständige Recht, das in Paradoxien endet – der Richter verurteilt die Unschuldigen –, so erzählt das Märe analog von einer Umkehrlogik im Bereich der Minne: Der Kleriker verteidigt das außereheliche Verhältnis. Vierter wie fünfter Abschnitt der Handschrift verweisen auf Gefahr und Nutzen der Rhetorik, inszenieren dies jedoch einmal diskursiv und in juristischer Perspektive (Oswald), einmal narrativ und auf Minne bezogen (Mären). Die Cato-Rumpfbearbeitung im sechsten Abschnitt greift in ihrer Tugend-Didaxe viele Inhalte der vorherigen Abschnitte auf, führt aber ein neues Format ein: Eine Vater-Sohn-Belehrung, die in erster Linie über Sentenzen argumentiert und diese mit appellativem Handlungswissen unterlegt: hab deiner frund ratt / so es dir kumerlichen gatt / wer ainen gutten frund hatt, / das ist der pesst artzatt. (Bl. 217r). Der siebte, letzte Abschnitt verweist zwar mit einer einleitenden Nacherzählung der Passion darauf, dass Geschichte vor allem als Heilsgeschichte zu verstehen ist, fügt danach aber antike Exempel aus dem Schachzabelbuch Heinrichs von Beringen ein, denen interessanterweise fast jede Auslegung fehlt (s.u.). Hier scheint die Geschichte weniger als magistra vitae zu interessieren, als dass abermals die narrative Vermittlung von rhetorischen Argumentationsformen im Fokus steht. Die letzten wenigen Seiten der Handschrift sind gefüllt mit Nachträgen von insgesamt drei Schreibern, die kurze Freidank-Sprüche bzw. Pseudo-Freidank-Sprüche Die Metapher der ‚wächsernen Nase‘ ist weit verbreitet, vgl. TPMA. Bd. 8, S. 414 f. In der Handschrift mit ‚Ein hübsche peicht wie das Bulschaft nicht sünd sey‘, Bl. 90r, überschrieben. Vgl. die Edition des Textes nach der Handschrift Prag, Nationalmuseum, Cod. X A 12: Liederbuch der Clara Hätzlerin. Hrsg. von Carl Haltaus. Mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Photomechan. Nachdr. d. Ausg. Quedlinburg u. Leipzig, Basse, 1840. Berlin 1966, S. 115 – 122 (Nr. II, 2).
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
notiert haben. Da sie spätere Zusätze sind und nicht zum Konzept der Handschrift zu gehören scheinen, können sie im Folgenden vernachlässigt werden.
IV.4.2.2 Der dritte Abschnitt der Handschrift: Fabeln und Gleichnisse IV.4.2.2.1 Anordnung der exemplarischen Kurzerzählungen Die 48 Fabeln und Gleichnisse des dritten Abschnitts der Handschrift (Bl. 60r – 84v) gehen bis auf die letzte, nur hier überlieferte Fabel (‚Wolf und Hüter‘) auf den Wiener Cod. 2705 (die sog. ‚Wiener Kleinepikhandschrift‘, um 1260/90) bzw. dessen Vorlage zurück.⁹⁶⁴ Die Auswahl aus der Wiener Handschrift, die 242 Kurzerzählungen enthält,⁹⁶⁵ scheint dabei sehr selektiven Kriterien gefolgt zu sein. 21 der 47 übernommenen Kurzerzählungen stammen aus der in Cod. 2705 aufgegangenen ‚Welt-Sammlung‘,⁹⁶⁶ rund 20 Kurzerzählungen lassen sich dem Stricker-Œuvre zuordnen.⁹⁶⁷ Generell weist Add. 24946 die Tendenz auf, längere Blöcke an Kurzerzählungen aus Cod. 2705 zu übernehmen, die jedoch entweder umgestellt oder aus denen bestimmte Erzählungen herausgekürzt werden. Vergleicht man etwa den Anfang des dritten Abschnitts in Add. 24946 mit der Anordnung der Kurzerzählungen in der Vorlage, so zeigen sich signifikante Unterschiede in der jeweiligen Kompilationsstrategie: Beispiel 1: Nummer in Add. (im dritten Abschnitt)
Nummer in Cod.
Name der Erzählung⁹⁶⁸
‚Ochse und Hirsch‘ ‚Der einfältige Ritter‘ ‚Löwe und Sohn‘ ‚Veiel und Haselblume‘ ‚Fuchs und Affe III‘
Zur Frage der Abhängigkeit vgl. Achnitz, Holznagel: Der werlt lauff vnd ir posait (Anm. 676), S. 292; Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (Anm. 945), S. 37; Kosak: Die Reimpaarfabel im Spätmittelalter (Anm. 416), S. 289 – 295; Grubmüller: Meister Esopus (Anm. 2), S. 145. Nach heutiger Zählung, nicht nach der Zählung des Registers der Handschrift selbst, vgl. Achnitz, Holznagel: Der werlt lauff vnd ir posait (Anm. 676), S. 289. Damit scheint sich die Auswahl auf Texte des zweiten und dritten Faszikels der Vorlage zu konzentrieren. Vgl. Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (Anm. 945), S. 36; Achnitz, Holznagel: Der werlt lauff vnd ir posait (Anm. 676), S. 292. Die Fabel ‚Ochse und Hirsch‘, deren Autorschaft nicht gänzlich geklärt ist, wird dabei als Kurzerzählung des Strickers verstanden. Es werden je die in der heutigen Forschung geläufigen Titel angegeben, nicht die Bezeichnungen in der Handschrift.
IV.4 Ausblick ins Spätmittelalter: Die Handschrift London, BL, MS Add. 24946
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Stammt die erste Kurzerzählung noch aus einem vorderen Teil von Cod. 2705, übernimmt Add. 24946 dann einen relativ geschlossenen, jedoch in der Reihenfolge umgestellten Block von der Vorlage, wobei bspw. Nr. 202 (‚Der kahle Ritter‘) ausgelassen wird. Können die Gründe für die An- und Umordnung hier in einem programmatischen Erzähleingang in die Sammlung vermutet werden (siehe unten), scheint im weiteren Verlauf vor allem eine Homogenisierung der Erzählformen im Vordergrund zu stehen. Wenn die Handschrift Add. 24946 zusammenhängende Blöcke aus der Vorlage übernimmt, werden die darin enthaltenen Mären, wie etwa ‚Der nackte Bote‘ oder ‚Der nackte Ritter‘, nicht angeführt, ebensowenig Erzählungen geistlichen Inhalts.⁹⁶⁹ Die Kompilation der Handschrift scheint von einem markanten Gattungsbewusstsein geprägt zu sein, welches exemplarische Kurzerzählungen deutlich von längeren Erzählungen absondert und Erstere auch inhaltlich auf die Zusammenstellung von weltlichem Erfahrungswissen begrenzt. Dieses ‚Gattungsbewusstsein‘ lässt sich noch weiter ausdifferenzieren: Übernommen werden Fabeln und Gleichnisse mit je unterschiedlich stark ausgebauten narrativen Anteilen. In einigen Fällen tendiert der narrative Gehalt gar gegen null, sodass – in Anlehnung an die von Holznagel vorgeschlagene Terminologie⁹⁷⁰ – hier von Gleichnisrede und Fabelrede gesprochen werden kann. Diese vier Texttypen (Gleichnis, Fabel, Gleichnisrede, Fabelrede) werden über weite Strecken des Abschnitts jedoch voneinander getrennt: Beispiel 2: Nr. in Add. Nummer in Cod. Texttyp (im dritten Abschnitt)
Name der Erzählung
‚Die Milch und die Fliegen‘ ‚Die feisten Jagdvögel‘ ‚Die drei Gott verhasstesten Dinge‘ ‚Vom Tode‘ ‚Weiberzauber‘ (Walther von Griven) ‚Von Eseln, Gäuchen und Affen‘
(bzw. b)
Fabelrede Fabelrede Gleichnisrede Gleichnisrede Gleichnisrede Gleichnisrede
Vgl. Kosak: Die Reimpaarfabel im Spätmittelalter (Anm. 416), S. 294. Übernommen werden allerdings Kurzerzählungen, deren Epimythien christliche Inhalte aufweisen. Ausnahme ist Nr. 25: ‚Die drei Gott verhasstesten Dinge‘. Auch ein längerer profaner Text findet sich: der ‚Weiberzauber‘ des Walther von Griven (Nr. 27). Vgl. Holznagel: Verserzählung – Rede – Bîspel (Anm. 39).
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Beispiel 3: Nr. in Add. Nummer in Cod. Texttyp (im dritten Abschnitt)
Fabel Fabel Fabel Fabel Fabel
Name der Erzählung ‚Löwe und Maus (. Teil)‘ ‚Kranich und Pfau‘ ‚Krähe und Habicht‘ ‚Löwe und Maus (. Teil)‘ ‚Eiche und Rohr‘
Werden in Beispiel 2 noch weit über Cod. 2705 verstreute Fabel- und Gleichnisreden in Add. 24946 zu einem homogenen Block zusammengestellt, so wird in Beispiel 3 ein bereits relativ homogener ‚Fabel-Block‘ aus der Vorlage übernommen, der dann durch kleinere Auslassungen – wie etwa das Gleichnis ‚Der milde König‘, Nr. 186 in Cod. 2705 – noch stringenter auf die Erzählform Fabel perspektiviert wird. Dass zu den Fabeln und Gleichnissen des dritten Abschnitts keine historischen Exempel gehören, macht Add. 24946 deutlich, indem sie diese im siebten Abschnitt der Handschrift sammelt. Dies mag seinen Hintergrund in den unterschiedlichen Vorlagen haben,⁹⁷¹ doch zeigt die Selektion und Anordnung der Fabeln und Gleichnisse, dass die genera narrationis hier zum Ordnungsraster in der Handschrift avancieren, welches die Disposition der Sammlung deutlich mitbestimmt. Als gliederndes wie angleichendes Element lassen sich zudem die (gegenüber der Vorlage) neuen Titel deuten, mit denen Add. 24946 die Kurzerzählungen versieht. So schließt sich an die Erzählungen aus Beispiel 3 ein abschließender Block aus Fabeln an, die mit Gleichnissen durchsetzt sind – Kohärenz wird hier durch die gleichlautenden kurzen Titel erzeugt, die auch Gleichnisse auf ihr ‚animalisches‘ Potenzial zuspitzen: Ein in der Forschung als ‚Der Mann mit dem Stabe‘ bekanntes Gleichnis etwa überschreibt die Handschrift mit ‚Von ainem hundt‘ (Nr. 44, Bl. 82v). Damit ordnet sich das Gleichnis nahtlos in die umliegenden Fabeln ein, sind diese doch mit ähnlich reduzierten Titeln versehen: ‚Von ainem fuchs‘ (Nr. 42), ‚Von ainem baum‘ (Nr. 43), ‚Von dem wolff‘ (Nr. 45). Neben der Gliederung der Kurzerzählungen nach Fiktionalitätsgrad und narrativem Gehalt werden diese aber auch über ihre Funktion als Reservoir rhetorischer Techniken in ihrer Disposition strukturiert. So scheint bereits die erste Fabel, ‚Ochse und Hirsch‘,⁹⁷² nicht zufällig an den Anfang des Abschnitts gesetzt worden zu sein. Die kurze Erzählung berichtet, wie der zusammen mit dem Ochsen unter ein Joch gespannte Hirsch die geforderte Arbeit nicht vollbringen kann, ist er doch das Ziehen nicht gewohnt wie der Ochse (das rind was ziehens gewent, Bl. 60r) sondern vielmehr
Der Wiener Cod. 2705 einerseits, Heinrichs von Beringen Schachzabelbuch andererseits. Die (hier nicht weiter relevante) Frage nach der Autorschaft der Fabel bleibt umstritten, Moelleken rechnet sie dem Stricker zu, Schwab nicht.Vgl. Stricker: Kleindichtung (Anm. 93), Nr. 160; Der Stricker: Tierbispel. Hrsg. von Ute Schwab. Tübingen 1960 (ATB. 54).
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das laufen und springen. Die Erzählung hat keine unmittelbare antike Vorlage, scheint aber eine auf Phaedrus zurückgehende und auch in der Sammlung des Anonymus Neveleti vorkommende Fabel umzuformen:⁹⁷³ Ein Mann hat einen nicht zu bändigenden Sohn. Äsop gibt dem Vater durch eine metadiegetische Erzählung folgenden Rat: Ein Bauer spannt einen alten Ochsen und ein junges Kalb gemeinsam in ein Joch. Dem klagenden alten Ochsen erklärt der Bauer, er tue dies, damit das junge Tier stets überwacht und an die Arbeit gewöhnt werde. Gegenüber der lateinischen Fabel verzichtet die volkssprachige Erzählung auf die Rahmenerzählung und ersetzt den Jugend-Alter-Diskurs durch Verweise auf die Unvereinbarkeit unterschiedlicher Naturen bzw. die Sinnlosigkeit der Zähmung einer wilden Natur. Der offene, in einen direkten Ratschlag mündende Abschluss der Phaedrus-Version avanciert so zu einem geschlossenen, negativ konnotierten Ende. Verbindet die antike Fabel den Erziehungsdiskurs mit der Metapher des Zähmens, so ist es für die mittelalterliche Version die Minne, die der Korrektur bedarf: also geschehe noch leihte zwain, / die mit ungeleichem synne / pflegen einer mynne (Bl. 60r), so das Epimythion. Die Fabel erhält hier oberflächlich eine neue thematische Ausrichtung, was auf die Wandlungsfähigkeit der Erzählung verweist, die je nach Kontext neu expliziert werden kann.⁹⁷⁴ Befragt man die Erzählung jedoch auf ihre argumentative Substruktur und nimmt darüber hinaus an, dass die hervorgehobene Platzierung dieser ersten Fabel, die sich in der Vorlage noch an ganz anderer Stelle befindet,⁹⁷⁵ nicht zufällig erfolgt, sondern dass hier – ähnlich wie bei Boners Edelstein – durch die ersten Kurzerzählungen eine Form von erkenntnisleitendem Beginn inszeniert werden soll, so ließe sich die Fabel auch so verstehen: Zwei unterschiedliche Dinge lassen sich nicht mit dem gleichen Maßstab (oder auch: der gleichen Regel) messen – do muosten sie sich schaiden / wann sie under in baiden / gehilen ungeleich ein (Bl. 60r). Die derart forcierte Perspektive auf die Besonderheit des Einzelfalls und die Notwendigkeit zur Differenzierung bildet
Vgl. Phaedrus: Liber fabularum (Anm. 375), Appendix Perottina, Nr. 12; Anonymus Neveleti (Anm. 707), Nr. 50. Im Fließtext nacherzählt ist die Version des Phaedrus, der Anonymus Neveleti weicht in kleineren Details ab, etwa indem Äsop nicht namentlich auftritt. Zur Stoffgeschichte der Fabel vgl. Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 524 f. (Nr. 442). Es sei hier auch an Alois Hahns Beobachtungen zu Regel-Fall-Verhältnissen vor dem Hintergrund einer schwer klassifizierbaren Wirklichkeit erinnert: „Wirklichkeit entzieht sich insofern immer den szientifischen Netzen, mit denen wir sie einzufangen hoffen. Dies liegt unter anderem an der Differenz von situativer Einzigartigkeit und begrifflicher Generalität. Die Fälle sind eben nicht als solche schon ‚im Prinzip‘ in der Theorie vorgesehen, so daß die Subsumption ein bloßer Sortierungsvorgang wäre […] Subsumption als realer Vorgang der situativen Passung ist kreativ.“, Hahn: Zur Soziologie der Weisheit (Anm. 62), S. 49 f. Vgl. dazu auch Kapitel III.1.2. Dass die antike Fabel hier in den mittelalterlichen Minnediskurs eingegliedert wird, wäre ein Beispiel für diese von Hahn hervorgehobene ‚Kreativität‘ der ‚situativen Passung‘. Im Wiener Codex 2705 die Nr. 174.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
einen deutlichen Kontrast gegenüber den im vorhergehenden Abschnitt formulierten, auf das Allgemeingültige zielenden Regeln des Teichners. Das folgende Gleichnis offeriert ebenfalls nur eine sehr reduzierte Erzählung:⁹⁷⁶ Ein Ritter findet einen Berg, dessen drei Flanken auf die ideale Lage für eine Burg verweisen, der Ritter lobt den Berg überschwänglich, bis er bemerkt, dass die vierte Flanke des Berges völlig ungeeignet ist. Auch diese Narration wird auf die MinneThematik übertragen – man solle erst alle Seiten einer Frau überprüfen, bevor man sie lobt –, lässt sich jedoch genau wie die erste Erzählung argumentativ als programmatische Lehre lesen: Eine durchsetzungsfähige Entscheidung setzt grundlegende Überlegungen und die Berücksichtigung aller Seiten eines Problems voraus. Dass neben Differenzierung (erste Erzählung) und umfassender Überlegung (zweite Erzählung) auch das Befolgen des richtigen Ratschlages programmatisch für den Erkenntnisgewinn aus narrativen Kleinformen ist, macht die dritte Erzählung deutlich: Ein alter Löwe gibt seinem Sohn den Rat, sich vor den Menschen in Acht zu nehmen – denen seien die Löwen zwar körperlich überlegen, nicht aber in Bezug auf den Verstand. Nach dem Tod des Vaters macht sich der Sohn dennoch zu den Menschen auf, verliert dort aber seinen Schwanz. Das Epimythion der Fabel lässt sich auch als Rezeptionshinweis für die folgenden Erzählungen verstehen: wer ye gutten rate verckos / dem muosse daran misselingen / ich main mit disen dingen / ein yeglich welt kind / das so gar ist blindt / das im guotter rat versmahet / und vaste dahin gachtt / da er sich nicht erkennt / wie ofte er sich nennt (Bl. 61v)
Wenn somit die einleitenden Kurzerzählungen auch nicht derart explizit eine ‚Leseanweisung‘ geben, wie dies bei Ulrich Boner der Fall ist, so scheinen sie doch implizit einige Hinweise für das Verständnis der zusammengestellten Fabeln und Gleichnisse zu offerieren, die im Kontext mittelalterlicher Erkenntnistheorie verortet werden können: discretio, das Unterscheidungsvermögen,⁹⁷⁷ durch die erste Fabel; ratio, die Fähigkeit, Sinneseindrücke zu kategorisieren und zu bewerten, durch das folgende Gleichnis vom einfältigen Ritter; und abschließend memoria, die Technik, Gelerntes und Erfahrenes abzurufen und anzuwenden, in der dritten Erzählung des Abschnittes.⁹⁷⁸
IV.4.2.2.2 Techniken rhetorischer Argumentation Dass an den folgenden Kurzerzählungen aber neben der im Epimythion ausgebreiteten Lehre gerade die Demonstration rhetorischer Techniken interessiert, scheint
Die Forschung schreibt das Gleichnis, bekannt als ‚Der einfältige Ritter‘, dem Stricker zu, vgl. Stricker: Kleindichtung (Anm. 93), Nr. 162. Vgl. auch den mhd. Begriff bescheidenheit und den gleichnamigen Text Freidanks, dazu: Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (Anm. 296), S. 23. Zu den Konzepten vgl. ebd., S. 39.
IV.4 Ausblick ins Spätmittelalter: Die Handschrift London, BL, MS Add. 24946
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bestimmend für die Handschrift zu sein. Aufgrund der Kürze der Fabeln und Gleichnisse in Add. 24946, die fast durchgehend sehr knapp erzählen,⁹⁷⁹ bleibt das in den Narrationen enthaltene rhetorisch-topische Reservoir häufig verkürzt auf ein einziges, schlagfertiges Argument. Anstatt agonaler Dialoge fungiert die in der Regel zu findende Struktur aus ‚Vorwurf vs. Gegenargument‘ als Demonstration für die Durchsetzungsfähigkeit einer einzigen rhetorischen Technik einerseits, aber auch als Möglichkeit ihres Scheiterns andererseits. Beispielhaft kann dies an den beiden Erzählungen 29 und 30 des Kurzerzählungen-Abschnitts gezeigt werden. Nr. 29, ein Gleichnis, erzählt Folgendes: Ein blinder Mann heiratet eine junge Frau. In der Hochzeitsnacht bemerkt er, dass seine Braut keine Jungfrau mehr ist, und macht ihr dies zum Vorwurf: er sprach frau ich spür schaden (Bl. 74r). Die Frau antwortet, auch sie sehe schaden, denn ihrem Bräutigam würden die Augen fehlen – was der Mann mit dem Hinweis beantwortet, dies hätten ihm seine Feinde angetan. Die Antwort der Frau: Dann dürfe man sich nicht weiter streiten, denn ihren schaden hätten ihr ihre Freunde angetan. Gerade gegenüber anderen Fassungen der Geschichte (wie etwa einer längeren Version als Märe, die noch eine Reichtum-Armut-Differenz in die Handlung integriert)⁹⁸⁰ wirkt das Gleichnis sehr pointiert und in erster Linie auf das finale Gegenargument ausgerichtet. Das an die aristotelischen Topoi erinnernde Argument der Frau (‚Wenn deine Feinde dir dies antaten, wie kann dann schlimm sein, was meine Freunde mir antaten?‘) erweist sich als Weg zur konsensfähigen Lösung: hiemit liessen sie den hass (Bl. 74r).⁹⁸¹ Die Erzählung kippt hier ins Ironische, insofern der Argumentationstyp das Problem dominiert: Das Gleichnis inszeniert eine Situation, in der eine Ausrede funktioniert, ohne das zugrundeliegende Problem zu lösen. Die symmetrisch aufgebaute Kommunikation von Mann und Frau endet im Witz, der für eine Lösung einsteht, die zwar wenig realistisch, dafür aber umso pointierter formuliert ist. Dass aber das bessere Argument nicht notwendigerweise zum Erfolg und kommunikatives Handeln an seine Grenzen stoßen kann, zeigt die folgende Erzählung: Kontrastiert wird das Gleichnis vom betrogenen Blinden mit der Fabel von ‚Wolf und Lamm‘ (Nr. 30). Die Erzählung ist in vielen Handschriften paradigmatisch gesetzt,⁹⁸² auch in Add. 24946 findet sich der Hinweis: hie hebt sich aller peyspill ane-
Auch dies bildet einen Gegensatz zu den Fabeln in Boners Edelstein. Vgl. NGA I, Nr. 7 (‚Der betrogene Blinde II‘). In dem Gleichnis findet sich eine der wenigen deutlichen innertextlichen Abweichungen von der Vorlage. Während Cod. 2705 in den letzten Versen die Schlagfertigkeit der Frau betont (und si sich mit spotte rach / an dem blinden also sere, / daz ers gewuoch nimmer mere, Bl. 137rb), verweist Add. 24946 auf moralische Implikationen: und sie sich mit spotte rach / an dem blinden also sere / doch hett sie des lutzel ere (Bl. 74r). Zur Überlieferung bis in die Frühe Neuzeit vgl. Adalbert Elschenbroich: Von unrechtem gewalte. Weltlicher und geistlicher Sinn der Fabel vom ‚Wolf und Lamm‘, von der Spätantike bis zum Beginn der Neuzeit, in: Sub tua platano. Festgabe für Alexander Beinlich. Kinder- und Jugendliteratur, Deutschunterricht, Germanistik. Hrsg. von Dorothea Ader. Emsdetten 1981, S. 420 – 451, S. 428 zur hier besprochenen Fabel-Version.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
fangk (Bl. 74v),⁹⁸³ d. h. eine klare Verhandlung des eigenen Exempelstatus. Auf rhetorischer Ebene scheint die Fabel aber in erster Linie auf die Wechselwirkung zwischen Argumentation und Gewalt zu verweisen. Lamm und Wolf treffen an einem Bach zusammen, es entwickelt sich ein vom Wolf ausgelöstes Streitgespräch: Das Lamm trübe ihm das Wasser, worauf dieses argumentiert, es stehe flussabwärts des Wolfes und könne dies gar nicht tun; das Lamm habe den Wolf im vorigen Jahr beleidigt, dieses versichert, da noch gar nicht gelebt zu haben – dann, so beschließt der Wolf, habe ihn eben der Vater des Lamms beleidigt und dafür müsse dieses jetzt büßen. Er beleidigt es selbst (du vil unrainer schras, Bl. 74v) und frisst es auf. Hans Blumenbergs Beobachtung, dass es bei dieser bekannten Fabel weniger um die Unterdrückung des besseren Arguments durch Gewalt gehe als um den Versuch, Gewalt zu legitimieren, d. h. Gewalt und Rhetorik engzuführen,⁹⁸⁴ lässt sich hier bestätigen. Während andere Versionen der Fabel den Wolf die Streitrede verlieren lassen und dieser schlicht aus Wut das Lamm reißt,⁹⁸⁵ behält der Wolf hier das letzte Argument, auch wenn dieses durch den genealogischen ‚Umweg‘ als künstlich konstruiert markiert wird. Damit wird auf die Trennung von Argumentation und Wahrheit hingewiesen: Das Lamm argumentiert mit der Wahrheit und verliert, der Wolf argumentiert mit der Lüge und gewinnt. Das bessere Argument ist nicht mehr das schlagfertigste (wie im vorherigen Gleichnis des betrogenen Blinden), sondern dasjenige Argument, das qua Gewalt Lüge in Wahrheit verwandelt. Die Handschrift konfrontiert hier Gleichnis und Fabel, die je unterschiedliche Kommunikationsmodi abbilden: Symmetrisch im Gleichnis, asymmetrisch in der Fabel. Wahrheit erweist sich im Gleichnis als durchsetzungsfähiges Argument, so lange sie pointiert als Witz eingesetzt wird. In der Fabel aber, die auf die Gewalt der Rhetorik abzielt, wird Wahrheit zum frei besetzbaren Argument: Der Stärkere bestimmt, was wahr ist. Vor dem Hintergrund einer auf Wirklichkeit rekurrierenden Rhetorik erzählen Gleichnis und Fabel damit gegen ihren fiktionalen Status: Das eigentlich wahrscheinliche Gleichnis thematisiert eine wenig realistische Einigung, die eigentlich unwahre Fabel aber eine realistische Situation der Dominanz des Stärkeren.
IV.4.2.3 Der siebte Abschnitt der Handschrift: Historische Exempel Gegenüber den Fabeln und Gleichnissen im dritten Abschnitt von Add. 24946 haben die historischen Exempel im siebten Abschnitt eine wesentlich kompliziertere Überlieferungsgeschichte. Auch die Forschung ging lange von einem Missverständnis aus: Man hat die Erzählungen als deutschsprachige Bearbeitung der Gesta Romanorum
Vgl. dazu auch den Kommentar von Kosak: Die Reimpaarfabel im Spätmittelalter (Anm. 416), S. 422. Vgl. Hans Blumenberg: Wolf und Lamm. Vier Glossen zur Fabel. In: Akzente 30 (1983), H. 5, S. 389 – 392. So etwa besonders deutlich in der Version des Babrius, vgl. Babrius: Fabeln (Anm. 414), Nr. 89.
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gelesen⁹⁸⁶ – richtig ist aber, dass sowohl die Londoner Handschrift wie die Gesta Romanorum teils über Zwischenstufen auf die gleichen antiken Quellen zurückgehen, teils beide Erzählungen aufgreifen, die zum Gemeingut mittelalterlicher Exempelsammlungen gehören. Direkt entnommen sind die historischen Exempel dem Schachzabelbuch Heinrichs von Beringen, von dem sonst nur eine weitere Handschrift erhalten ist.⁹⁸⁷ Heinrichs Text ist eine Übersetzung und Bearbeitung des lateinischen Schachbuchs Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum des Jacobs de Cessolis, der wiederum eine Reihe an antiken und mittelalterlichen Exempelsammlungen genutzt hat.⁹⁸⁸ Wenn somit auch in vielen historischen Exempeln in Add. 24946 Valerius Maximus als Quelle genannt wird,⁹⁸⁹ sind doch zahlreiche Zwischenstufen, Bearbeitungen und Übersetzungen zwischen dem antiken Text und der deutschsprachigen Handschrift des 15. Jahrhunderts anzunehmen – ein für mittelalterliche Exempelsammlungen typischer Befund. Hervorzuheben ist, dass sich mit dem Wechsel der Kompilationsform auch Ordnung und Funktionalisierung der historischen Exempel ändern – je nach kulturellem Kontext wird eine Neuorientierung der Kurzerzählungen gefordert. Valerius Maximus richtet die Exempel nach einem topisch organisierten römischen Tugendsystem aus,⁹⁹⁰ die mittelalterlichen Schachbücher hingegen nach Berufsgruppen, welche dem Ordnungsschema des Schachbretts unterworfen werden. Dass diese Umstrukturierung in den Erzählungen und Epimythien Spuren hinterlässt, wurde bereits in Kapitel III.2.4 gezeigt. Die Handschrift Add. 24946 wiederum gibt die Schachbrett-/Berufsordnung ihrer Vorlage auf. Die Exempel werden aus ihrem Kontext gelöst, Epimythien gekürzt, systematische, die Berufsgruppen thematisierende Einschübe zwischen den Erzählungen ganz gestrichen.⁹⁹¹ In den Fokus kommt die historia weniger als Vorrat an bona exempla für die mittelalterlichen Stände denn als allgemeines Erfahrungs- und Tugend-Reservoir – wenn man so will also eine Re-Orientierung am antiken Modell. Die Meinung der älteren Forschung, die Exempel der Handschrift besäßen überhaupt keine Ordnung mehr,⁹⁹² kann hier in Teilen revidiert werden.
Vgl. Bächtold: Deutsche Handschriften aus dem Britischen Museum (Anm. 945), S. 134; Priebsch: Deutsche Handschriften in England (Anm. 944). Bd. 2, S. 218. Die zweite, fast vollständige Handschrift (Stuttgart, Landesbibl., Cod. poet. et phil. 4° 25) ist mit großer Sicherheit nicht die Vorlage für Add. 24946, vgl. Lloyd: Studien zu Heinrich von Beringens Schachgedicht (Anm. 952), S. 15 – 19. Vgl. auch Plessow: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung (Anm. 42), S. 261, Anm. 88, der einen „episierenden Charakter“ in der Londoner Handschrift ausmacht, auf diesen aber nicht weiter eingeht, U. a. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia; Johannes von Salisbury: Policraticus. Vgl. zu den Schachbüchern auch Kapitel III.2.4. Valerius der schreibt uns das, Bl. 270r, ist eine häufig zu findende Eingangsformel. Vgl. Römer: Zum Aufbau der Exemplasammlung des Valerius Maximus (Anm. 66). Für einen tabellarischen Überblick zu den Erzählungen, die Add. 24946 aus dem Schachzabelbuch übernimmt, vgl. Lloyd: Studien zu Heinrich von Beringens Schachgedicht (Anm. 952), S. 10 – 13. Vgl. ebd., S. 13.
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Eine Strukturierung erhält die Exempelreihe bereits durch die einleitende, im Schachzabelbuch nicht enthaltene Passionsgeschichte ‚Von unsers herren leiden‘ (Bl. 218v – 231r). Im Kontext der Handschrift wird hier, im letzten Abschnitt, wieder ein Bezug zum Anfang hergestellt: Die Passion findet sich auch – in wesentlich kürzerer Form, aber unter dem gleichen Titel (‚Von unsers herren leiden‘, Bl. 4r – 6v) – in den sechs theologischen Texten zu Beginn von Add. 24946. Das Leben Jesu besetzt damit, auch wenn es in vielen Abschnitten nur marginal interessiert, so doch zumindest Anfang und Ende der Handschrift.⁹⁹³ Man kann dies durchaus als eine konzeptuelle Relation verstehen, stellen Anfang und Ende doch generell signifikante Strukturmarker dar, die in Sinngebungsprozesse eines Textes eingebunden sind.⁹⁹⁴ Die Passionserzählung nimmt so eine paradigmatische Bedeutung an, die den antiken Exempeln im siebten Abschnitt vordergründig eine christliche Perspektive einschreibt. Dass aber die historia nicht völlig in der Heilsgeschichte aufgeht, scheint der folgende Text zu zeigen: Zwischen Passionserzählung und den 51 historischen Exempeln⁹⁹⁵ steht noch das Märe ‚Der Herr mit den vier Frauen‘ (Bl. 231r – 238v).⁹⁹⁶ Das an dieser Stelle auf den ersten Blick erratisch erscheinende Märe nimmt zwar thematisch und in Hinblick auf die Erzählform Bezug auf den vorherigen, fünften Abschnitt der Handschrift, der in zahlreichen Mären Fragen der Minnekasuistik diskutiert, lässt sich aber auch im Kontext der historischen Exempel lesen. Das Märe erzählt von einem Mann, der hintereinander drei Frauen heiratet – alle drei betrügen ihn, und er lässt sie hinrichten. Die nach einiger Mühe gefundene vierte Ehefrau soll daher auf die Probe gestellt werden. Ein Ritter umwirbt sie auf Befehl des Ehemanns, doch die treue Gattin geht nur zum Schein auf diesen ein und verabredet ein Treffen. Überzeugt, seine neue Frau wolle ihn genauso betrügen wie die drei Vorgängerinnen, findet sich der Ehemann bei diesem Treffen ein, stellt sich als sein eigener Ritter vor – und wird von den Dienern seiner eigenen Frau fürchterlich verprügelt. Der Mann gibt sich zu erkennen und nimmt sich vor, zukünftig weniger misstrauisch zu sein. Das Märe greift das beliebte Erzählmotiv des geschlagenen Ehemanns auf, addiert aber neue Kontexte zu der Erzählung. So bietet etwas das Märe ‚Bestraftes Mißtrauen‘⁹⁹⁷ einen sehr ähnlich angelegten Plot, allerdings ohne die Vorgeschichte der drei untreuen Ehefrauen: Hier verdächtigt der Ehemann direkt und scheinbar grundlos seine durchweg treue Ehefrau und weist einen Untergebenen an, um sie zu werben. Ob dies als implizierter Verweis auf das bekannte Zitat aus der Johannesapokalypse zu lesen ist (ego alpha et omega primus et novissimus principium et finis, Offb 22,13), bleibt unklar. Vgl. Karlheinz Stierle: Die Wiederkehr des Endes. Zur Anthropologie der Anschauungsformen. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von Dems., Rainer Warning. München 1996 (Poetik und Hermeneutik. 16), S. 578 – 599. Stierle betont hier unter Rekurs auf die aristotelische Poetik stark die Funktion des ‚Endes‘, das den Anfang dominiere. Übernommen wird im Folgenden die Zählung Bächtolds, der nach Überschriften zählt – wobei in der Handschrift auch mehrere Erzählungen unter eine Überschrift fallen können (s.o.). Vgl. Bächtold: Deutsche Handschriften aus dem Britischen Museum (Anm. 945), S. 134– 146. Vgl. NGA I, Nr. 29. Vgl. NGA I, Nr. 28.
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Und auch in ‚Bestraftes Mißtrauen‘ gibt sich der Ehemann am Ende als sein Lehensmann aus und wird von Dienerinnen seiner Frau geschlagen. Dass die Funktion von ‚Der Herr mit den vier Frauen‘ in der Handschrift Add. 24946 sich nicht allein in der (um unbeherrschte Sexualität und mustergültige Treue zentrierten) Lehre erschöpft,⁹⁹⁸ sondern jenseits davon eine rhetorische Grundierung besitzt, zeigt besonders der Vergleich mit ‚Bestraftes Mißtrauen‘. Die addierte Vorgeschichte der Reihung von drei untreuen Ehefrauen, die dann aber mit einer treuen Ehefrau endet, weist darauf hin, dass hinter dem Ehediskurs auch eine Verhandlung von Erfahrungswissen steht: Inwieweit kann aus Geschehenem Schlüsse für Zukünftiges gewonnen werden, wo macht Erfahrung klug, wo lassen sich Regeln bilden und wo Ausnahmen? In seiner finalen Motivation macht das Märe deutlich, dass sich Erfahrung und historia nicht in simpler Reihung erschöpfen: Auch wenn etwas bereits drei Mal passiert ist, heißt es nicht, dass dies auch ein viertes Mal passieren muss – ein gegen Induktion und für den Einzelfall plädierendes Argument. Das hier angedeutete Prinzip der reihenden Variation wird in den historischen Exempeln ausgebaut. Sie greifen häufig thematisch auf einen sozialen Wert zurück, der in verschiedenen Besetzungen und historischen Konstellationen durchgespielt wird, so etwa Gerechtigkeit in den Exempeln 22– 24 oder caritas in den Exempeln 25 – 27.⁹⁹⁹ Historia ist somit – ganz im Sinne der Rhetorik – Reservoir für den Einzelfall, nicht für die Regel. Konsequenterweise fehlen bei vielen Exempeln die Epimythien oder sind aus der Vorlage nur stark gekürzt übernommen. Konträr zu den Fabeln und Gleichnissen mit ihren ausführlichen Auslegungen im dritten Abschnitt der Handschrift interessiert hier weder der Schluss auf das Allgemeine noch die Funktionalisierung als Tugendexempel, die die Vorlage, d. h. Heinrich von Beringen, in der Regel vornimmt. So erzählt die Handschrift Add. 24946 auf Blatt 273r vom römischen Kaiser Vespasian: Nach dem Tod Neros reißt Vitellius die Macht in Rom an sich, wird aber wegen dieser räuberischen Machtübernahme bald enthauptet. Daraufhin bietet das römische Volk die Herrschaft Vespasian an, der jedoch aufgrund seiner Demütigkeit verzichtet. Erst als das gesamte Volk ihn flehentlich bittet, sagt Vespasian zu. Die Handschrift übernimmt das historische Exempel direkt aus Heinrichs Schachzabelbuch, streicht aber die folgenden Verse: des rîches phleger, sît gemant / an die, von den man iu hie seit, / und volgt in an diemüetikeit. ¹⁰⁰⁰ Ohne diesen appellativen Zusatz verweist das historische Exempel nur auf den erzählten, besonderen Fall – durch den
Diese Lehre beschreibt Grubmüller in: Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos (Anm. 38), S. 195 f. Auch diese historischen Exempel werden als Block von der Vorlage übernommen – ein Vorgang, der (analog zu den Fabeln und Gleichnissen des dritten Abschnitts) immer dann eintritt, wenn die Vorlage bereits einen kohärenten, homogenen Block von zwei bis drei historischen Exempeln enthält. An anderen Stellen erfolgt die Auswahl aus der Vorlage wesentlich sprunghafter. Für einen Überblick vgl. Lloyd: Studien zu Heinrich von Beringens Schachgedicht (Anm. 952), S. 10 – 13. Heinrich von Beringen: Schachzabelbuch (Anm. 548), V. 3443 – 3445.
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Verzicht auf den expliziten Transfer potenzieren sich aber die Aussagemöglichkeiten der Erzählung. Auch auf narrativer Ebene werden Differenzen zwischen Fabel und historischem Exempel deutlich. Denn abgesehen von unterschiedlichem Wahrheits- und Fiktionalitätsgehalt scheinen sich die verschiedenen narrativen Formen in Add. 24946 ebenso in ihrer Erzählweise zu unterscheiden. Die Fabeln und Gleichnisse inszenieren meist eine Konfrontation von oppositionellen Werten: Stark trifft auf Schwach, Klug auf Dumm usw. Geprägt ist die Erzählung somit von Agonalität: Grundlegende Wertekonstellationen werden in verschiedenen Variationen zueinander in Bezug gesetzt und kommen je im Einzelfall zur Geltung. Es sei abermals auf Stierle verwiesen, der aus erzählfunktionaler Perspektive argumentiert, wenn er sagt, dass in der Fabel das Allgemeine als Besonderes repräsentiert wird.¹⁰⁰¹ Die historischen Exempel hingegen beschreiben keine Wertekollision, sondern die Übersteigerung des Einzelwerts – sie erzählen vom Besonderen (der einzelnen Figur oder dem einzelnen Wert) und implizieren es gleichzeitig. Statt der Aushandlung zwischen zwei Figuren bzw. Wertmustern fokussieren sie das Singuläre, das sich nicht erst in konträrer Relation zu seinem Gegenwert oder seiner Gegenfigur profiliert, sondern direkt als Besonderes gesetzt wird. So bringt die Handschrift fünf kurze historische Exempel nacheinander, die alle von gedulltikait erzählen (Bl. 273r – 275r): König Vespasian bleibt ruhig gegenüber der Kritik, er handele mit der Gesinnung eines Wolfes, Archîta zeigt Geduld im Umgang mit einem Lehensmann, der Gut verschwendet usw. Die Exempel werden dabei jedoch nicht, wie noch in Heinrichs Schachzabelbuch, als Wertvorbilder für einen Berufsstand inszeniert.¹⁰⁰² Entscheidend ist nicht das Normative, Vorbildhafte im Geduldig-Sein, sondern allein die Reihung an historischen Einzelfällen, die den Wert der Geduldigkeit in verschiedenen Variationen und mit verschiedenen Figurenbesetzungen entfalten. Eine Ausrichtung der Motivation an eher agonalen (Fabeln und Gleichnisse) oder auf die Einzelfigur zentrierten (historische Exempel) Parametern bedingt auch ein je anderes Verhältnis zur Rhetorik. In der Fabel fungiert die Rhetorik als Argumentationsreservoir der Figuren, d. h. als Mittel, in sozialen Auseinandersetzungen zu bestehen (s.o.). Derartige Inszenierungen von Schlagfertigkeit kennen auch die historischen Exempel, sie scheinen allerdings darüber hinaus ihr Syntagma selbst nach topischen Charakteristiken anzulegen und diese in Handlung zu überführen.
Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 356. Heinrich von Beringen leitet die Exempelreihe über Geduld ein mit: Ir wîsen, die der rîche phlegent, / ich rât iu, daz ir iuch bewegent / hôchvart und habt ir widerteil: / ich mein gedult, der wesent geil. / gedulde habet ûz erlesen. / nu hœrt, welt ir geduldic wesen, / sô sult ir daz vor an bewarn / und iuch dâ vor mit sorgen sparn, / daz ir nieman unreht mit / redet von zorne und unsit. / ouch tuot daz gedulde schîn / dem schuldigen ablæzic sîn. / ir sult ouch iuwer undertân / mæzigez strâfen legen an. / kunt ir dem tumben übersehen, / sô muoz man iu gedulde jehen. / welt ir gedult erkennen, / sô hœrt, ich wil iu nennnen / ir vil, die die geduldikeit / unz an ir ende hânt geleit, Heinrich von Beringen: Schachzabelbuch (Anm. 548), V. 3446 – 3465. Die Handschrift Add. 24946 streicht diese Einführung, die die historischen Exempel auf ständische Funktionalität perspektiviert.
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So finden sich in der Mitte des siebten Abschnitts drei Erzählungen in dichter Reihenfolge (Nr. 18, 19, 21), die alle vom Opfer eines Einzelnen für das Kollektiv erzählen. Der Opfertod für die Gemeinschaft lässt sich sowohl aus christlicher wie politischer und antiker Perspektive begründen,¹⁰⁰³ er findet sich mithin als topische Überzeugung in vielen Texten des Mittelalters,¹⁰⁰⁴ vorwiegend in historisch ausgerichteten: iz ist pezzer daz ainer resterbe, / denne diu werlt elliu vur werde, heißt es in der Kaiserchronik. ¹⁰⁰⁵ Was Vulgata (nec cogitatis quia expedit nobis ut unus moriatur homo pro populo et non tota gens pereat)¹⁰⁰⁶ und antike Tradition (unum pro multis dabitur caput)¹⁰⁰⁷ vorgeben, gerinnt in den historischen Exempeln der Handschrift in erster Linie zu einem militärisch-politischen Modell, dessen christliche Grundierung jedoch stellenweise in den Vordergrund tritt. Erzählung Nr. 18 (Bl. 264v–265r) berichtet vom Fürsten der Athener, Codrus (gemeint ist Kodros, König von Attika), dessen Heer vor einer Schlacht folgende Abmachung mit dem Gegner trifft: Das Heer, dessen Anführer als Erster stirbt, soll den Sieg davontragen. Codrus verkleidet sich daraufhin als Pilger, um so unerkannt als Erster in der Schlacht getötet zu werden. Das kurze Exempel verbindet mehrere kulturelle Logiken: grundlegend als narrative Struktur den Topos der Selbstopferung für alle, damit verbunden aber auch die Standeserniedrigung und – wichtig für das Feudalsystem – die Wahrung von Kontinuität: nach dem wollt er ee werben / ee das er lebt und das sein diett / verdurb und sich unbreises niett / wer umb sein erb stirbet / wie süzzlich er verdirbett (Bl. 265r). Gegenüber antiken Versionen der Geschichte, wie etwa bei Valerius Maximus,¹⁰⁰⁸ ist das mittelalterliche Exempel zugleich entmythisiert und christlich forciert: Bei Valerius ist es ein Orakelspruch, der weissagt, das athenische Heer werde siegen, sobald Codrus falle – aus narratologischer Sicht die bessere Lösung als die (kaum kausal begründete) Heeresabmachung,¹⁰⁰⁹ zumal Valerius genau beschreibt, wie die gegnerischen Soldaten den Befehl bekommen, Codrus nicht anzugreifen, wodurch die Verkleidung überhaupt erst notwendig wird. Die Verkleidung selbst ist nicht die eines Pilgers, sondern eines Dieners (depositis insignibus imperii famularem cultum induit).¹⁰¹⁰ Diese
Vgl. Friedrich: Topik und Narration (Anm. 435), S. 21 f. Zur vielfachen mittelalterlichen Verwendung vgl. die Belegstellen bei TPMA, Bd. 2, S. 422 f. Kaiserchronik (Anm. 431), V. 8728 f. Vgl. Friedrich: Topik und Narration (Anm. 435), S. 22. Joh 11,50 (‚Ihr bedenkt auch nicht: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.‘). Vergil: Aeneis, 5.815. Hier und im Folgenden zit. nach: P. Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch/ Deutsch. Übers. und hrsg. von Edith und Gerhard Binder. Stuttgart 2008 (RUB. 18918). Vgl.Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia (Anm. 358), 5.6.ext.1. Das Exempel findet sich u. a. auch bei Cicero: Tusculanae disputationes, 1.116. Hier und im Folgenden zit. nach: Marcus Tullius Cicero: Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Ernst Alfred Kirfel. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 2008 (RUB. 5028). Näher an der antiken Vorlage bleibt die Version: Gesta Romanorum (Anm. 92), Nr. 41. Es ließe sich höchstens argumentieren, dass nach einem dem Mittelalter vertrauten Bild der König das Volk ‚verkörpert‘ und daher keine gesonderte Abmachung notwendig ist. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia (Anm. 358), 5.6.ext.1.
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kausale Motivation negiert das mittelalterliche Exempel, das final auf den Akt der Selbstopferung ausgerichtet ist. Damit aber nimmt es Bezug auf die rahmende Passionsgeschichte: Dass mit dem Tod des Königs das Kollektiv nicht untergeht, sondern gewinnt, ist eine der zentralen Überzeugungen des Christentums, die – v. a. gegenüber Erzählmustern der Heldenepik – eine basale Umkehrung bedeutet.¹⁰¹¹ Ähnlich erzählen auch die folgenden Exempel: In Nr. 19 (Bl. 265r – 266r) etabliert Pompeius Trogus ein gerechtes, aber stark kritisiertes Justizsystem in Rom. Trogus erklärt, er habe die Gesetze von einem Richter namens Apollines erhalten, er wolle dessen Rat einholen, und lässt die Städter versprechen, seine Gesetze einzuhalten, bis er zurückkomme. Statt zum Richter reist Trogus dann ins Exil, stirbt dort und lässt seine Leiche ins Meer werfen – so ist jede Form der Rückkehr ausgeschlossen und die Gesetze bleiben bestehen. Auch hier lassen sich gegenüber antiken Versionen¹⁰¹² zahlreiche verschobene Akzentuierungen beobachten. Bereits Heinrich von Beringen verwechselt den Namen des antiken Verfassers mit dem des Protagonisten (eigentlich geht es um Lykurg),¹⁰¹³ statt eines Richters wird in antiken Versionen das Orakel befragt, und die Erzählung spielt in Sparta, nicht Rom. Interessant in diesem Zusammenhang ist aber in erster Linie die gegenüber der vorhergehenden Erzählung ergänzende Ausrichtung des topischen Schemas in der Handschrift: Exil statt Erniedrigung, Gesetzeinhaltung statt Heereserfolg. Die Selbstopferung ist als Wert polyfunktional und kann sich in unterschiedlichen Situationen durchsetzen: Typologisch gesehen verweist der sich entfernende Gesetzgeber auf Jesus Christus, in rhetorischer Perspektive ist die Aufgabe des Einzelnen für Viele aber auch ein Argument, das hier narrativ entfaltet wird. In ihrer Substruktur scheinen sich die historischen Exempel damit (neben ihrem rhetorischen und historischen Gehalt) immer auch auf die Zentralfigur Jesus Christus zu beziehen. Seine Selbstaufgabe für die Gemeinschaft steht, wie oben beschrieben, den historischen Exempeln vor und ist über diese herausgehobene Position wie auch die detaillierte Länge der Passionserzählung (knapp 1000 Verse) deutlich markiert. Im Kontext der Handschrift avanciert das topische antike Schema somit auch zur imitatio
Für Beobachtungen dazu vgl. Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700 – 1050/60). 2., durchges. Aufl. Tübingen 1995 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1: Von den Anfängen zum hohen Mittelalter. Teil 1), S. 14 f., der dort auf entsprechende Passagen bei Otfrid von Weißenburg hinweist. Eine genaue Vorlage für das Exempel im Schachbuch des Jacobus de Cessolis ist nicht zu ermitteln. Die Werke des Pompeius Trogus (Heinrich verwechselt Verfasser und literarische Figur, eigentlich geht es um ein Exempel des Verfassers Pompeius Trogus über Lykurg) sind bekanntermaßen rudimentär überliefert. Valerius Maximus erwähnt Lykurg nur am Rand. Eine genauere Vita gibt allerdings Plutarch:Vitae parallelae, Lykurg, 29. Hier und im Folgenden zit. nach: Plutarch: Lives. Band 1: Theseus and Romulus. Lycurgus and Numa. Solon and Publicola. With an English Translation by Bernadotte Perrin. Cambridge, Mass. 2005 (Loeb Classical Library. 46). Näher an der antiken Version bleibt abermals: Gesta Romanorum (Anm. 92), Nr. 169. Vgl. Heinrich von Beringen: Schachzabelbuch (Anm. 548), V. 2641 f.
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christi – die antiken Selbstopfer erscheinen als Präfiguration des einen, noch kommenden Erlösers. Add. 24946 weist so auf eine heilsgeschichtliche Perspektive hin, die über (implizite) typologische Verweise ein Metanarrativ für die heterogenen historischen Exempel suggeriert.¹⁰¹⁴ Neben der Explikation topischer Erzählschemata kommt in den historischen Exempeln aber auch die Rhetorik im Sinne von persuasiver Schlagfertigkeit zum Tragen. Bereits erwähnt wurde eine Reduktion auf die jeweiligen Narrationen in der Handschrift: Epimythien und Exkurse werden gegenüber der Schachzabelbuch-Vorlage radikal gekürzt. Was Heinrich von Beringen als ständische Tugend preist, wird in Add. 24946 wieder verstärkt auf rhetorische Technik perspektiviert. So verhandelt Heinrich im Hinblick auf Herrscher und Fürsten den Wert der Geduld als Gegenmittel zum Hochmut (siehe oben): Ir wîsen, die der rîche phlegent, / ich rât iu, daz ir iuch bewegent / hôchvart und habt ir widerteil: / ich mein gedult, der wesent geil (V. 3446 – 3449). Beispiele dafür sind u. a. einige Exempel aus der Vita Julius Caesars. Erzählung Nr. 30 (Bl. 272r – 273v) der Londoner Handschrift beinhaltet noch Folgendes: Ein Adliger beleidigt Caesar, indem er ihm vorwirft, unedler Abstammung zu sein – er trage die Herrschaftswürde zu Unrecht. Caesar antwortet: frunt, welhes zellst du pesser sein / das dein edelin an dir schein / und an dir solches ende hab / als sy gefueret sey zegrab / oder da die edelin an mir sich / mer und mer taglich? (Bl. 273v).¹⁰¹⁵ Thematisch verweist das Exempel auf die (für die höfische Gesellschaft des Mittelalters elementare) Differenz zwischen Geburts- und Tugendadel, argumentiert aber streng rhetorisch, indem es eine Schwäche in eine Stärke umdeutet. Relevant ist dabei nicht Caesars Geduld, sondern seine Schlagfertigkeit – noch deutlicher in dieser Hinsicht ist Caesars Antwort in der Version des Jacobus de Cessolis: ‚Quid melius existimas: aut quod nobilitas in me incipiat, aut quod desinat?‘ ¹⁰¹⁶ Einmal mehr erweist sich Rhetorik in den historischen Exempeln der Handschrift Add. 24946 als Argumentationstechnik einerseits wie auch als Methode der Textproduktion andererseits, in der Narrationen nach topischen Erzählschemata funktional auf den Kontext ausgelegt werden können.
IV.4.3 Common Sense als Wissensform in Add. 24946 Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Vorschlag, bestimmte Leitthemen in der Handschrift Add. 24946 zu identifizieren und eines davon näher vorzustellen.
Zum generellen Verhältnis von Typologie und Geschichte vgl. Friedrich Ohly: Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung. In: Ders.: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil. Stuttgart 1995, S. 445 – 472. Weiter als bis zu Jacobus de Cessolis lässt sich das Exempel nicht verfolgen, eine antike Quelle ist m.W. nicht bekannt. Jacobus de Cessolis: Liber de moribus hominum et officiis nobilium ac popularium super ludo scacchorum (Anm. 537), Sp. 345 f.
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Trotz der textuellen Heterogenität der Handschrift wurde bereits auf einige ‚Register‘ verwiesen, die die Kompilation der gesammelten Texte prägen: so etwa ein christliches Leitparadigma (sichtbar besonders zu Anfang und Ende der Handschrift), das Thematisieren von Minne (v. a. in den vielen Mären, aber auch im zweiten und dritten Abschnitt) oder juristische Fragen (im Spruch Oswalds von Wolkenstein). Neben und in diesen direkt verhandelten Clustern (Religion, Minne, Recht) scheint die Handschrift Add. 24946 immer wieder auf eine ‚Wissensform‘ zurückzugreifen, die eher auf einer indirekten Ebene wirkt: der Common Sense. Narrative wie nicht-narrative Texte der Handschrift rekurrieren häufig auf ein Wissen, das als gleichsam natürlich wie unmethodisch ausgegeben wird, d. h. keiner weiteren Begründung bedarf und damit eine ganz eigene Argumentation ausbildet. Der Common Sense lässt sich nach Überlegungen von Clifford Geertz und Wolfgang Müller-Funk als eine in der Kultur latent wirksame Wissensform (Geertz spricht von einem kulturellen System,¹⁰¹⁷ Müller-Funk von einem Narrativ¹⁰¹⁸) definieren, die allgemein akzeptiertes Handlungswissen bereitstellt, ohne dies zu theoretisieren. Da die reflexive Verfestigung somit der Natur des Common Sense widerspricht, lässt sich dieser weniger in systematischen Regeln ausführen, als dass er in Beispielen, Erzählungen und Sentenzen zum Ausdruck kommt. Das unmethodische Wissen des Common Sense resultiert dabei nicht aus einem geordneten, seriellen Erzählen, sondern in Formen des paradigmatischen Erzählens, das die Besonderheiten des Einzelfalls je neu mit den Bedingungen der Lebenswelt harmonisiert und dabei stets darauf abzielt, die Welt eindeutig zu gestalten. Reservoir des Common Sense ist somit laut Geertz in erster Linie der Inhalt von Sprichwörtern, kurzen Erzählungen, Anekdoten etc.¹⁰¹⁹ Der Common Sense steht somit für ein Wissen, das aus der Gewohnheit, d. h. dem Wahrscheinlichen, entsteht und sich vom systematischen, Wahrheit postulierenden Wissen abgrenzt.¹⁰²⁰
Vgl. Geertz: Common sense als kulturelles System (Anm. 23). Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2., überarb. und erw. Aufl. Wien [u. a.] 2008, S. 145 – 167. Vgl. Geertz: Common sense als kulturelles System (Anm. 23), S. 284. Geertz gewinnt seine Thesen in erster Linie aus ethnologischer Beobachtung, weniger aus dem Bezug auf die geistesgeschichtliche Tradition des sensus communis. Letztere greift Hans-Georg Gadamer auf, wenn er versucht, die rhetorische Kategorie des sensus communis in einen funktionalen Bezug zur Hermeneutik zu stellen, vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode (Anm. 23), S. 16 – 27. Gadamer interessiert nicht das topische Schließen aus Gewohnheitswissen, wie es Geertz beschreibt, sondern Fragen nach dem Entstehen eines gemeinsamen, ethisch perspektivierten Wissens. Der sensus communis erhält so auch eine universale Komponente, die ihn als Vermittlungsinstanz zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen setzt, vgl. ebd., S. 26. Er ist die Fähigkeit, je im Einzelfall zu erkennen, was das Gute und Gerechte für die Allgemeinheit ist, er zeigt also an, wie Wissen gemeinschaftlich zu regulieren ist. Indem Gadamer den sensus communis derart fest in den Entwurf einer universalen Hermeneutik einbindet, reduziert er seine Anschlussfähigkeit auf nur wenige Punkte. Es wird daher im Folgenden in erster Linie auf Geertz zurückgegriffen und Gadamers Überlegungen nur stellenweise eingebracht.
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Geertz sieht fünf Merkmale als Konstituenten des Common Sense: Natürlichkeit, Bezug zur Lebenspraxis, Dünnheit, Unmethodischheit und Zugänglichkeit.¹⁰²¹ Alle fünf Merkmale lassen sich mit kleinen Einschränkungen auch am Programm der Handschrift festmachen: Viele ihrer Texte sind ‚natürlich‘ (1), da sie sich – vom Teichner bis zu den Disticha Catonis – als fester Bestandteil der Lebenswelt präsentieren, d. h. ihre eigenen Bedingungen nicht hinterfragen und ihre Aussagen als natürliche und allgemein applizierbare Beispiele präsentieren. Sie zielen auf praktische Anwendung (2), auf Einbindung in den Alltag (Minne, Recht, soziale Interaktion), das nicht in theoretischer Norm, sondern in appellativen Handlungsanweisungen endet. Dünnheit (3), im Sinne vom Simplizität,¹⁰²² liegt sowohl in den kurz gehaltenen Erzählformen vor, die auf Evidenz zielen, als auch inhaltlich in der Ablehnung von Expertenwissen, wie etwa in der Kritik von Richtern und Rechtswesen im Spruchgedicht Oswalds. Die Texte der Handschrift sind unmethodisch (4), insofern die verschiedenen Textformen sowohl untereinander inkonsistent sind, als sie auch kein geordnetes Modell an Wissen entwerfen, sondern je unterschiedliche, situationsgebundene Perspektiven auf ein Problem entwerfen. Zugänglichkeit (5) schließlich zeigt sich ganz allgemein in der Orientierung an der Volkssprache (und nicht etwa Latein) einerseits, andererseits an der Direktheit der Textsorten, die als Sprüche, Kurzerzählungen und kleine Reden eine direkte Rezeption und schnelles Verständnis erlauben. Die Wissensform, welche die Texte in Add. 24946 propagieren, zielt somit paradoxerweise gleichzeitig auf Evidenz wie ‚Unhinterfragbarkeit‘: Sie muss unmittelbar verstanden werden, da sie in der Natur der Dinge liegt, gleichzeitig darf diese Einsicht nicht im Zweifel enden. Das Wissen soll somit nicht als ‚Schlüssel zur Welt‘ verstanden werden, sondern als der Welt inhärent, d. h. nicht mehr von ihr trennbar. Im Common Sense „spricht“¹⁰²³ die Welt, wie es etwa die Fabeln des dritten Abschnitts imaginieren oder wie es die kollektive memoria der historischen Exempel im siebten Abschnitt vorgibt. Und wenn die Handschrift in der Überschrift zum dritten Abschnitt postuliert, vom ‚Lauf der Welt‘ erzählen zu wollen,¹⁰²⁴ so wird auch hier weniger auf eine allegorische Form des Fortuna- und Kontingenz-Problems gezielt,¹⁰²⁵ als ein direkter Zugang zur Wirklichkeit inszeniert wird, d. h. ein Zugriff auf Formen von konventionalisiertem Alltagswissen. Über die Intention, von der ‚Welt‘ erzählen zu wollen, schreibt sich der Common Sense in den religiösen Diskurs, durch den die Handschrift
Vgl. Geertz: Common sense als kulturelles System (Anm. 23), S. 277– 286. Zum Stellenwert von Common Sense im sozialen Handeln (v. a. aus linguistischer Perspektive) vgl. Helmuth Feilke: Common-sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie des „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens. Frankfurt am Main 1994. Vgl. Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative (Anm. 1018), S. 156. Ebd. Hie vacht an hern freidancks gedicht der auf der welte leuf wol was bericht (Bl. 60r). Wie etwa in der Frühen Neuzeit, vgl. Hieronymus Dürer: Lauf der Welt und Spiel des Glücks. Zum Spiegel Menschl. Leben vorgest. in d. wunderwürd. Lebensbeschreibung d. Tychanders. Nachdr. d. Ausg. Hamburg 1668. Hildesheim [u. a.] 1984.
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eröffnet wird, ein. In Geschichte (historia, historische Exempel) und Geschichten (Fabeln und Gleichnisse) wird Wirklichkeit und Erfahrung in Relation gesetzt und narrativ inszeniert. Was der Common Sense postuliert, ist daher Erfahrungswissen in seiner allgemeinsten Form. Es bleibt aber zu differenzieren, ob Erfahrung in narrativer oder diskursiver Form aufbereitet wird: Die narrative Form entwirft eine Geschichte, eine feste Struktur aus Anfang, Mitte und Ende, die eine Axiologie erhält und damit Erfahrung anhand eines konkreten Falls verhandelt – Kausalität und Finalität können hier je unterschiedliche Formen der Verarbeitung von Erfahrung pointieren.¹⁰²⁶ Der diskursive, nicht-narrative Text verzichtet auf die Abgeschlossenheit der Geschichte, er beschreibt keinen Ausschnitt der Welt in diachroner Struktur, sondern zielt in der Regel auf eine direkt zugängliche, d. h. nicht durch einen Erzähler vermittelte descriptio und marginalisiert somit die Ebene der Textpoetik gegenüber derjenigen der Textpragmatik.¹⁰²⁷ In Add. 24946 scheinen sich beide Möglichkeiten der Erfahrungsvermittlung zu ergänzen. Narrative Texte wechseln sich mit diskursiven Texten ab: Teichner-Reden (größtenteils diskursiv), Fabeln/Gleichnisse (narrativ), Oswalds Spruch (diskursiv), Mären (narrativ), Cato-Rumpfbearbeitung (diskursiv), historische Exempel (narrativ).¹⁰²⁸ Es ist dabei eine Besonderheit des exemplarischen Erzählens, seine Geschichten als gleichzeitig singulär wie auch paradigmatisch für weitere Fälle zu begreifen:¹⁰²⁹ Exemplarisches Erzählen imaginiert eine Kausalität (ein Kind, welches das Feuer nicht kennt, meint, es könne sich durch Schließen der Augen schützen, und verbrennt sich, Erzählung Nr. 6 des dritten Abschnitts, Bl. 62r – 63r), die in der metaphorischen Übertragung für weitere Fälle gültig ist (viele verhalten sich im Erwachsenenalter blind vor Minne und benehmen sich genauso töricht, so das dazugehörige Epimythion, Bl. 62v – 63r). Was die exemplarische Erzählung verbindet, ist allereinfachstes Erfahrungswissen – im heißen Feuer verbrennt man sich die Hände, davor schützt auch kein Wegschauen – und eine Form des Common Sense, die wesentlich komplexer und kulturspezifischer ist: Wer meint, er könne seine Minne vor den Augen der anderen verbergen, wird zwangsläufig scheitern und sich lächerlich machen. Das in diskursiven Texten entworfene Erfahrungswissen braucht andere Formen der Vermittlung und der Legitimation des Common Sense, denn es kann nicht auf den einen, als gültig gesetzten Präzedenzfall zurückgreifen. Die im sechsten Abschnitt der Handschrift zu findende Rumpfbearbeitung der Disticha Catonis inszeniert daher den
Vgl. Stierle: Erfahrung und narrative Form (Anm. 12), S. 92– 97. Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 347– 354. Ausgeklammert ist hier die kurze theologische Einleitung zu Beginn der Handschrift – die dort versammelten sechs Texte sind natürlich am religiösen System orientiert und haben keinen Bezug zum Common Sense. Zum generellen Zusammenkommen von narrativen und diskursiven Formen in Sammelhandschriften vgl. Westphal: Textual Poetics of German Manuscripts 1300 – 1500 (Anm. 939), S. 11 f. (mit Verweisen auf ältere Forschung). Dazu und zum Folgenden vgl. auch Hübner: Tugend und Habitus (Anm. 14), S. 154.
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haidnisch maister katho als weisen Vater, der seinem Sohn das Destillat seiner Lebenserfahrung weiterreicht: Sus vieng er an und sprach / do ich genuog leut sach / verwiert durch ir tumen sitt / da waund ich in wär wol damitt / ob ich in gäb sollchen ratt / das sy verbern missetatt / und nach ern strebten / und tugentlichen lebten (Bl. 212r)
Die an den Sohn gerichteten Ratschläge und Sentenzen avancieren so zu einem umfassenden Sammelbecken für den Common Sense, der sich meist in einfachen normativen Sätzen ausdrückt: willtu ainen gesellnn suechn / kaines reychen solltu ruechen / suech ainen der synnig sey / dem macht du lanng wesen bey (Bl. 217r). Die Ratschläge verzichten auf logische Begründungen, ja häufig selbst auf rhetorische Techniken, sondern stellen sich – ganz im Sinne des Common Sense – als selbstverständlich und natürlich (und damit als alternativlos) dar. Dem Alter ist Erfahrung inhärent, daher kommt ihm natürlicherweise die Aufgabe zu, Rat zu erteilen: „Es passt aber das Sprechen in Sentenzen dem Lebensalter nach zu den Älteren, und zwar über die Dinge in denen man erfahren ist, weil das Sprechen in Sentenzen unangebracht ist, wenn man nicht alt genug ist.“¹⁰³⁰ Die Differenzen zwischen narrativer und diskursiver Vermittlung des Common Sense treten besonders dann zutage, wenn beide Formen das gleiche Thema perspektivieren. So bietet Add. 24946 nicht nur mit dem Spruchgedicht Oswalds von Wolkenstein eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung, sondern auch durch eine Fabel im dritten Abschnitt der Handschrift (Nr. 46: ‚Hund verklagt Schaf‘, Bl. 84r). Normierte Regelsysteme wie das Recht sind generell ein Problem für den Common Sense, der, wie oben angemerkt, sich in seiner Anti-Methodik festen Ausdifferenzierungen widersetzt. Konsequenterweise problematisieren Fabel wie Spruchgedicht dann auch den Ablauf der Rechtsfindung. Die Fabel erzählt die Geschichte eines Hundes, der ein Schaf um ein Stück Brot betrügt, dann aber selbst das unschuldige Schaf vor dem Richter anzeigt und dabei Unterstützung durch den Wolf erhält – erst durch dessen Meineid bekommt der Hund Recht zugesprochen, und das Schaf muss als Ersatzleistung seine Wolle abgeben.¹⁰³¹ Gegenüber den lateinischen Versionen der Fabel bleibt das Ende in Add. 24946 noch relativ offen: Phaedrus lässt das Schaf einige Zeit später auf den toten Wolf treffen, der in der Zwischenzeit gestorben ist;¹⁰³² in der Version des Anonymus Neveleti hingegen
Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6) II, 21 (1395a 3 – 5). Die Fabel ist weit verbreitet, sie ist auch in Boners Edelstein (Nr. 7) zu finden. Allgemein zur Überlieferung von ‚Hund verklagt Schaf‘ vgl. Dicke, Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Anm. 123), S. 353 – 357 (Nr. 305). Zu rechtlichen und sozialen Diskursen in verschiedenen Versionen der Fabel vgl. Gundolf Schütze: Gesellschaftskritische Tendenzen in deutschen Tierfabeln des 13. bis 15. Jahrhunderts. Bern [u. a.] 1973 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. 24), S. 60 – 70. Schützes Untersuchung bleibt leider bei einem weitgehend oberflächlichen Textvergleich und dem Hinweis auf ähnlich lautende Rechtstexte stehen. Vgl. Phaedrus: Liber fabularum (Anm. 375), I, 17.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
ist es das Schaf selbst, das im folgenden Winter aufgrund des Fellverlustes erfriert.¹⁰³³ Die volkssprachige Fabel verzichtet auf eine das immanente Recht übersteigende, für ausgleichende Gerechtigkeit sorgende Rechtsinstanz wie bei Phaedrus und negiert auch die dramatische Fortführung der Fabel des Anonymus Neveleti. Der Fokus bleibt beim einzelnen Fall, der die Unsicherheit des Rechtssystems aufdeckt. Was für den Common Sense zählt, ist die Erkenntnis, dass auch Recht und Wahrheit keine Garanten für Gerechtigkeit sind: also stet es noch manigen tag / wer den andern nit uberzeugen mag / mit reht und mit warheit, / der wirt dick ubersaitt / mit maniger diet (Bl. 84r). Beweis dafür ist der erzählte Einzelfall, der nicht nur mit der in die Axiologie der Geschichte eingeschriebenen Semantik operiert (Wolf vs. Schaf = Meineidiger vs. Unschuldiger), sondern diese auch metaphorisch für den Schluss auf den Common Sense verwendet: er wär nit tumb der sich beschied / das er nicht würd lugenhaft / bey ungetreuer baurschaft (Bl. 84r). Auch Oswald thematisiert in seinem Text Brüche und Schwachstellen im Rechtssystem aus der Perspektive des Common Sense, beschreibt dies aber nichtnarrativ, d. h. stärker in diskursiver Explikation. Wie oben bereits angeführt, setzt der Text vordergründig mit einer Problematisierung von Erfahrungswissen ein: Mich fragt ein ritter ongeuare / der sich der wellte manig jare / zuo gutter mas erfarn hett (Bl. 85r). Die angesammelte (Reise‐)Erfahrung des Subjekts scheint nicht auszureichen, um zu verstehen, wieso nur selten gerechte Urteile gefällt werden: Fahren und Erfahren, d. h. Beobachtung und Erkenntnis des ‚Laufs der Welt‘, versagen gegenüber dem Rechtssystem. Das im Text antwortende Sprecher-Ich¹⁰³⁴ zeigt sich sodann als Experte, dessen Antwort komplex ausfällt: da seyn vil heubter schulldig an (Bl. 85r). Vordergründig findet sich bei Oswald somit ein Prozess, der Erfahrungs- durch Expertenwissen ablöst: Die Welt des 15. Jahrhunderts scheint eine gesteigerte Form von Komplexität zu besitzen, die über neue Parameter erschlossen werden muss. Das Sprecher-Ich erweist sich anschließend jedoch als ausgewiesener ExpertenKritiker: Weder in weltlichen noch geistlichen Kreisen sei man an Gerechtigkeit interessiert, stattdessen auf den eigenen Vorteil bedacht usw. Das Recht ist – bei Oswald wie in den Kurzerzählungen – kein festes System, das aufgrund genormter Regulierungen systemstabilisierendes Vertrauen im Luhmannschen Sinne kreiert, sondern eine unregulierte, nach a-moralischen Registern funktionierende Ordnung. Auf diese Weise bekommt der Common Sense auch bei Oswald wieder eine Funktion, da er eine flexible Handhabe ermöglicht: Erfahrung ist hier als Prozess zu verstehen, in dem sich das Wissen von einem Gegenstand zugleich mit diesem verändert.¹⁰³⁵ Die Unbeständigkeit des Rechts erfordert eine konstante Anpassung: ain gewonheit bös wie allt die ist, / die ist zumeiden kurtzer frist, / und gotlich zureformiern balld, / das sie hais guot Vgl. Anonymus Neveleti (Anm. 707), Nr. 4. Wie bei vielen Texten Oswalds ist auch hier die Sichtweise autobiographisch geprägt bzw. inszeniert eine autobiographische Perspektive. Vgl. allgemein zu der Wandlung von Erfahrung zwischen Vormoderne und Moderne: Peter Bürger: Prosa der Moderne. Frankfurt am Main 1988, S. 260.
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gewonheit allt (Bl. 88r). Gegenüber dem paradigmatischen Einzelfall der Kurzerzählung setzt Oswald auf eine universale Kritik, bedient aber eine ähnliche Argumentation, die auf die Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit verweist. Der Common Sense fungiert dabei noch als bewegliches Instrumentarium der Argumentation, verliert aber im Kontext von Expertenwissen und Expertenkritik an Bedeutung. Es ist somit in erster Linie die Ansammlung exemplarischer Kurzerzählungen in der Handschrift, die ein Reservoir des Common Sense bildet – sind die Erzählungen doch gerade durch ihre Unterschiedlichkeit geeignet, eine Vielzahl an Lösungen gemäß den Vorgaben eines flexiblen Erfahrungswissens zu entwerfen. Dies zeigt sich vor allem dort, wo die Fabeln und Gleichnisse divergierende Konstellationen desselben sozialen Verhältnisses beschreiben. Die elementare (und v. a. in vielen Fabeln thematisierte) Konfrontation von Stark und Schwach etwa findet sich in mindestens fünf Erzählungen, bekommt durch unterschiedliche Figuren und Axiologien aber je eine eigene Markierung: In Erzählung Nr. 17 des dritten Abschnitts besiegt die kleine Maus den starken Ochsen durch ihre Klugheit; in Nr. 41 bleibt das kleine, aber flexible Schilfrohr auch bei heftigem Wind stehen, während die tief verwurzelte Eiche umgeworfen wird; in Nr. 40 hilft die Maus dem Löwen, indem sie ihn aus einer Falle befreit, und wird dafür belohnt; in Nr. 45 hilft der Kranich mit seinem langen Schnabel dem Wolf, muss aber dennoch um sein Leben fürchten. Ähnlich wie in den isotopischen Reihen in Boners Edelstein kann über die Kombination verschiedener Erzählungen und über Selektion bzw. Substitution in der Figurenauswahl die Ambivalenz von Erfahrungswissen in der Sammlung in Szene gesetzt werden.¹⁰³⁶ Gerade die beiden letzten Beispiele machen auf das ‚unmethodische‘ Moment des Common Sense aufmerksam: Die Hilfe des Schwachen für den Starken wird einmal belohnt, einmal bestraft – die Formulierung einer generellen Regel scheint nicht möglich zu sein. Konsequenterweise verweisen die Kurzerzählungen daher auch auf kein moralphilosophisches System zur Werteorientierung, sondern in einer reflexiven Schleife auf sich selbst. Als der Kranich, der gerade mit seinem Schnabel einen Knochen aus dem Rachen des Wolfes entfernt hat, beklagt, dass er für seine Rettung keine Belohnung erhält, entgegnet der Wolf: du hast vor maniger stunde / vernomen in den peispilen / was dem wolf kum in die kelen / das sie alles verlorn (Bl. 83v). Auch innerhalb der Fabel sind Erzählung und Sprichwort (Quod semel inmisit, gula raro lupina remisit)¹⁰³⁷ somit die Medien, in denen der Common Sense vermittelt und durch die ein Lernprozess erfolgen kann. Neben den Fabeln sind es historische Exempel, die bevorzugt Erfahrungs- und Common-Sense-Wissen in ihren Narrationen zur Disposition stellen. So erzählt das Exempel Nr. 46 (Bl. 281v – 282v) im siebten Abschnitt der Handschrift vom tyrannischen König Dionisio, der im Volk derart unbeliebt ist, dass alle für seinen Tod bitten.
Vgl. Kapitel IV.2.2. So das in dieser und ähnlichen Versionen weit verbreitete lateinische Sprichwort. Für Belegstellen vgl. TPMA. Bd. 13, S. 175.
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IV Ausgewählte Sammlungen exemplarischer Kurzerzählungen
Als der König hört, dass eine alte Frau hingegen für seine Gesundheit betet, fragt er diese nach dem Grund für ihr abweichendes Verhalten. Die alte Frau antwortet, in ihrer Jugend habe es einen grausamen Herrscher gegeben, auf dessen Tod sie gehofft hatte, als der Herrscher tatsächlich starb, kam jedoch ein noch ungerechterer Herrscher auf den Thron. Auch für dessen Ableben habe sie gebetet, doch nach dem Tod des zweiten Herrschers wäre Dionisio auf den Thron gekommen, tyrannischer als die beiden ersten Herrscher zusammen. Sie fürchte sich daher vor dem, der nach Dionisio kommen werde.¹⁰³⁸ In argumentativ-rhetorischer Sicht orientiert sich die Erzählung am Prinzip des historia magistra vitae: Aus der Vergangenheit kann eine Lehre für die Zukunft geschlossen werden. Gleichzeitig zeigt das Exempel aber auch eine Verhandlung von Erfahrungswissen: Für die Gesundheit des Tyrannen zu beten wirkt aus moralphilosophischer Sicht falsch, aus Sicht des Common Sense aber richtig, hat dieser doch das Reservoir an Erfahrung auf seiner Seite und weiß, was kommen wird. Damit wird gleichzeitig zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit differenziert: Der „sensus communis“, so auch Hans-Georg Gadamer, ergibt „sich nicht aus dem Wahren, sondern aus dem Wahrscheinlichen.“¹⁰³⁹ Dass Dionisio ein Tyrann ist, ist wahr, dass der auf ihn folgende Herrscher jedoch noch grausamer wird, ist wahrscheinlich, d. h. möglich. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die Handschrift Add. 24946 nach einem dezidierten ‚Common-Sense-Programm‘ ausgerichtet ist, so wie sich etwa spezifische ‚Minne-Handschriften‘ finden. Vielmehr zeigen die obigen Analysen, dass auch sehr disparate Texte einer Handschrift in einem Zusammenhang stehen können, sofern man diesen weniger thematisch als über Argumentations- und Wissensformen definiert. Durch eine Sammlung oder eine Zusammenstellung, so der Phänomenologe Manfred Sommer, wird Dingen eine Eigenschaft zugeschrieben, die sie als Einzelstücke nicht in diesem Ausmaß besitzen.¹⁰⁴⁰ Die Abschnitte der Handschrift mögen als singuläre Texte nicht zwangsläufig auf den Common Sense verweisen, in der Kompilation der Handschrift tun sie es jedoch. Neben der direkten Verhandlung von Religion zu Anfang und Ende der Handschrift oder der Thematisierung von Minne in ihrer Mitte schreibt sich eine bestimmte Form von Gewohnheits- und Erfahrungswissen, d. h. der ‚Lauf der Welt‘, als Substruktur in viele der Abschnitte von Add. 24946. Dass dieses ‚Kompendium‘ an Wissen so ungeordnet erscheint, liegt wohl mehr im Wesen des Common Sense selbst begründet, als dass es auf eine willkürliche Zusammenstellung der Texte verweist, fordert dieser doch eine topische, keine systematische Ordnung.¹⁰⁴¹
Die antiken wie auch mittelalterlichen Parallel-Versionen erzählen die Geschichte relativ ähnlich, vgl. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia (Anm. 358), 6.2.ext.2; Johannes von Salisbury: Policraticus (Anm. 92), VII, 25; Gesta Romanorum (Anm. 92), Nr. 52. Gadamer: Wahrheit und Methode (Anm. 23), S. 18. Vgl. Manfred Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch. Frankfurt am Main 1999, S. 76. Vgl. Friedrich: Die Metapher als Figur der Ambiguität im Mittelalter (Anm. 24), S. 86.
V Fazit Die verschiedenen Analysen der Arbeit sind immer wieder zu zwei zentralen, aus der strukturalistisch orientierten Literaturtheorie übernommenen Thesen zurückgekehrt: Karlheinz Stierles Beobachtung, dass jede exemplarische Kurzerzählung narrative Implikationen besitze, die situativ je neu expliziert werden können,¹⁰⁴² und Roland Barthesʼ Behauptung, dass sich wesentliche Funktionsmechanismen der Rhetorik an der Topik ablesen lassen, die als Argument, als Struktur und als Archiv fungiere.¹⁰⁴³ Beide Annahmen wurden hier als Prämissen zur neueren Forschung über eine ‚Epistemologie des Exemplarischen‘ gestellt, um so einen Weg aufzuzeigen, der die Funktionalität von drei kleinen exemplarischen Erzählformen (Fabel, Gleichnis, historisches Exempel) abseits von Gattungsklassifikationen und Überlieferungszusammenhängen bestimmt. Diese Funktionalität scheint sich, so der Ausgangspunkt, im Wesentlichen an zwei Merkmalen der exemplarischen Kurzerzählung fassen zu lassen: Potenzialität und Latenz. Den ersten Punkt beschreibt die Rhetorik, wenn sie zeigt, wie jeder Erzählung das Potenzial zukommt, zum vielfältig einsetzbaren narrativen Argument zu werden, je nachdem, in welchem Kontext und in welcher Kombination sie auftritt: „Die Konstitution narrativer Texte ist abhängig von ihrem Gebrauch, somit von ihrer Stelle im je umgreifenden sprachlichen […] ‚Kontext‘.“¹⁰⁴⁴ Den zweiten Punkt perspektiviert die Hermeneutik, in der die latenten, versteckt angelegten Möglichkeiten der exemplarischen Kurzerzählung zur Erkenntnisleistung als Metapher definiert werden,¹⁰⁴⁵ als ein Element der Substitution, über das die Kurzerzählung zum universell einsetzbaren Rätsel avanciert. Als Technik der Wirklichkeitsbewältigung operiert die Rhetorik mit je situativ konfigurierten Wahrscheinlichkeiten, nicht mit Wahrheit. Die der Rhetorik damit inhärente Heterogenität macht es schwer, hier abschließend Einheitliches zusammenzufassen. Auf einige Leitlinien der Analyse kann dennoch verwiesen werden: Der weite Blick auf divergente Texte sollte dem Ausgangspunkt einer universell verstandenen Rhetorik Rechnung tragen. Rhetorik wurde hier nicht im engeren Sinne als technische ars verstanden, die in institutionalisierter Form gelehrt und gelernt wird, sondern im weiteren Sinne als allgemeine Praxis der Argumentation (so wie sie auch Aristoteles beschreibt), die auf ein anthropologisches Bedürfnis der Wirklichkeitsbewältigung antwortet¹⁰⁴⁶ und generell die Produktion von Texten prägt. Die Einbindung von Rhetorik ist damit nicht an den Nachweis von direkter Rezeption gebunden (sicherlich haben nur wenige Verfasser der hier genutzten Primärtexte Aristoteles gele-
Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 362 f. Vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 67– 70. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37), S. 351. Vgl. Haverkamp: Beispiel, Metapher, Äquivalenz (Anm. 9), S. 22 f. Vgl. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (Anm. 73), S. 105 – 119. https://doi.org/10.1515/9783110579406-006
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V Fazit
sen), sondern versteht sich als Versuch, bei jeder ‚Sache‘ oder Erzählung das ihr inhärente persuasive Potenzial auszuschöpfen.¹⁰⁴⁷ Hierfür sind weniger rhetorische Stilmittel gefragt denn Argumentationstechniken: Wie kann über die Einbindung einer exemplarischen Kurzerzählung, d. h. über das narrative Argumentieren, Überzeugung kreiert werden? Naturgemäß konnte dabei keine vollständige Untersuchung geleistet, sondern in erster Linie Fallbeispiele für Ausformungen dieser rhetorischen Einbindung von exemplarischen Kurzerzählungen angeführt werden. Als elementar für dieses Erkenntnisinteresse hat sich die Integration der Kurzerzählung in einen Kontext herauskristallisiert, hier nicht als Einbindung in außertextuelle Funktionszusammenhänge verstanden, sondern als Text-Text-Bezug, der im Lauf der Arbeit auf drei Ebenen untersucht wurde: Erstens auf einer ‚großen‘ Ebene als Einbindung einer kleinen narrativen Form in einen diskursiven Kontext. Der ‚große‘ Kontext zeigt sich hier als ein unmittelbarer Wirkungsraum, in dem die exemplarische Kurzerzählung eine direkte argumentative Funktion übernimmt – dies wurde anhand von drei verschiedenen Diskursfeldern (historisch, didaktisch, christlich) untersucht. Vom Normalfall der Argumentation ausgehend (die Kurzerzählung belegt oder illustriert eine systematisch dargelegte Lehre) wurde vorgeführt, dass auch komplexere Formen der Einbindung entstehen können: codierte Erkenntnisleistung, reflexive Verweise auf die eigene Argumentationstechnik oder narrative Anreicherung der Kurzerzählungen über reine Funktionalität hinaus. Auf einer ‚mittleren‘ Ebene wurde zweitens analysiert, inwiefern eine Sammlung an Kurzerzählungen selbst einen Kontext bilden kann, der neue Entfaltungsmöglichkeiten für die in ihm kompilierten exemplarischen Kurzerzählungen offeriert. Konträr zur direkten Funktionalität beschreibt dies einen mittelbaren Kontext, der Kurzerzählungen sammelt und so ein Reservoir möglicher Argumentationsformen bildet – auch dies wurde anhand von drei verschiedenen Beispielen (Boners Edelstein, Gesta Romanorum, Handschrift Add. 24946) vorgestellt. Auf einer Mikroebene und damit gleichsam als Fundament beider anderer Kontexte stand schließlich drittens der narrative Kontext innerhalb der Kurzerzählung selbst im Fokus: Im Vergleich mit Quellen- bzw. Parallelversionen wurde immer wieder analysiert, inwiefern sich durch das Umstellen narrativer Akzente neue Aussage- und Argumentationsmöglichkeiten für eine einzelne Erzählung ergeben. Diese Multifunktionalität scheint im Wesentlichen durch verschieden ausgeformte Relationen vom Besonderen und Allgemeinen möglich. Die exemplarische
Vgl. Aristoteles: Rhetorik (Anm. 6), I, 2 (1355b 26 – 27): „Die Rhetorik sei also als Fähigkeit definiert, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen.“ Vgl. auch Cicero: De Inventione (Anm. 13), I, 5, 6: Officium autem eius facultatis [gemeint ist die rednerische Fähigkeit, M.S-D.] videtur esse dicere apposite ad persuasionem; finis persuadere dictione (‚Aufgabe aber dieser Fähigkeit scheint es zu sein, geeignet zu sprechen, um zu überzeugen; das Ziel ist die Überredung durch den rednerischen Vorttrag.‘). Vgl. auch Quintilian: Institutio oratoria (Anm. 13), II, 15, 3: est igitur frequentissimus finis ‚rhetoricen esse vim persuadendi‘ (‚Es ist also die häufigste Definition, „die Rhetorik sei die Fähigkeit zu überreden.“‘).
V Fazit
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Kurzerzählung, die vom Einzelfall erzählt, kann auf eine allgemeine Lehre verweisen (Teil-Ganzes), sie kann sich aber auch unter Umgehung des Allgemeinen direkt auf einen weiteren Fall beziehen (Teil-Teil). Dies bildet einen zentralen Punkt narrativer Argumentation ab: Wenn keine allgemeingültige Vorgabe formuliert werden kann, sondern nur eine Erfahrungsregel, die auch Ausnahmen zulässt, dann eignet sich die narrative Argumentation, um von dieser Ausnahme zu erzählen. Damit ist auch der Status der Regel dem rhetorischen Register unterworfen: Die Bedingungen der Wirklichkeit erfordern den Einbezug der Ausnahme – „innerhalb der menschlichen Erfahrung […] ist das Gegenteil nie unmöglich.“¹⁰⁴⁸ Die Textanalysen haben immer wieder auf diese Offenheit der rhetorischen Argumentation, die situativ auf die Bestimmungen des Kontextes reagiert, hingewiesen. So lassen sich verschiedene Parameter identifizieren, anhand derer sich eine exemplarische Kurzerzählung ihrem Kontext anpasst: Der Fiktionalitätsgrad einer Erzählung etwa scheint stark modellierbar zu sein. Christliche Lehrtexte und Chroniken, denen der Rekurs auf Wahrheit inhärent ist, formen Fabeln häufig so um, dass sie sich als Gleichnisse lesen lassen – die Kurzerzählung wird als möglich ausgegeben. Umgekehrt kann die Erzählung hier aber auch ihren Wahrheitsgehalt durch Rekurs auf ‚Wunder‘ bis an die Grenzen des Möglichen (und darüber hinaus) verschieben. Der didaktische Text profitiert hingegen von der Transferleistung des Gleichnisses und erweitert historische Exempel über den Bezugspunkt der historia hinaus in die allgemeine Lebenswelt. Historische Wahrheit ist hier als Beweiskategorie weniger wichtig als die generelle Anschlussfähigkeit des Gleichnisses, das mit seinen anonymen Figuren immer auch auf das Kollektiv zielt. In der Erzählsammlung (wie etwa in Boners Edelstein) aber wird die Fabel aufgrund ihrer potenziellen Offenheit (sie ist nicht an die Bedingungen von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit gebunden) zum präferierten Ansatzpunkt, um ein Erfahrungswissen zu demonstrieren, das für ähnliche Situationen verschiedene Resultate generieren kann. Ähnlich frei verfügbar kann mit der Lehre einer Kurzerzählung umgegangen werden: Stoffgleiche Erzählungen offerieren in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Aussagen und Argumente. Dieser Befund, auf den schon Stierle wie Kuhn hingewiesen haben,¹⁰⁴⁹ wurde hier auf die Übertragungsmöglichkeiten von Ähnlichkeit und Analogie zurückgeführt. Als präferierte Techniken des exemplarischen Erzählens bilden Ähnlichkeit und Analogie zwei divergente Möglichkeiten, einen Tansfer zu leisten: als Identitäts- (Ähnlichkeit) wie auch als Differenzrelation (Analogie). Der Zusammenhang von Erzählung und Epimythion scheint damit offen gestaltbar zu sein, so dass sich die Kurzerzählung in verschiedene Aussagekontexte einschreiben kann, die auf natürliche Ordnungen, Common-Sense-Wissen oder Erfahrungsmuster rekurrieren.
Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 64 f. Vgl. Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte (Anm. 37); Kuhn: Zur Typologie mündlicher Sprachdenkmäler (Anm. 61), S. 21.
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V Fazit
Abschnitt III der Arbeit hat dies vor dem Hintergrund von drei Diskursfeldern beispielhaft aufgezeigt. So konnte festgestellt werden, dass selbst Chroniken auf ein politisches Substrat in der Einbindung von exemplarischen Kurzerzählungen verweisen können, das die Hierarchieverhältnisse zwischen Herrscher und Untertanen spiegelt. In komplexeren Formen aber – wie etwa in der Kaiserchronik zu finden – wird die Erkenntnisleistung einer Erzählung direkt in Szene gesetzt: Als Rätsel codiert, wird eine einzelne Erzählung unterschiedlich verstanden, bildet diesen Prozess des Verstehens/Nichtverstehens aber in sich selbst noch einmal ab. Dies verdeutlicht die Wirkungsmacht der exemplarischen Kurzerzählung als Metapher, die Verstehensprozesse reguliert und deren Transferleistung nicht jedem offensteht. Der didaktische Kontext hingegen zeigt ein frei modellierbares Spiel an rhetorischer Indienstnahme der Kurzerzählungen: sowohl knapp erzählt und rein funktional ausgerichtet als auch narrativ angereichert und reine Anschauung übersteigend. Mit der narrativen Detailschärfe korrespondieren damit verschiedene rhetorische Ansprüche an die Leistung der exemplarischen Kurzerzählung: als basale Regelbestätigung einerseits, als komplette Ersetzung einer Regel andererseits. Im zweiten Fall gewinnt das Erzählen eine paradigmatische Funktion, es bildet, wie etwa an der Bauernbelehrung im Renner gezeigt, eine Ursprungssituation ab, die als soziales Modell Gültigkeit erlangt, ohne dass dafür eine Regel expliziert wird. Die vielleicht deutlichste Umformung des rhetorischen Anspruchs auf Wahrscheinlichkeit findet sich dann in christlichen Lehrtexten. Gezeigt wurde, welche Modifikationen das Primat göttlicher Wahrheit von den exemplarischen Kurzerzählungen verlangt: Eingriffe in Erzählmuster und Darstellungstechnik sorgen dafür, dass Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel über die Notwendigkeit von Wahrheit und deren rein göttlich legitimierte Ausnahme erzählen – zuvorderst eine Depotenzierung rhetorischer Strategien der Wahrscheinlichkeitsorientierung. Dennoch kommt die Integration von kleinen Erzählformen anscheinend nicht ohne Rhetorik aus: Auch die christliche Lehre verfügt über ein rhetorisches Substrat, das mit den Gleichnissen Jesu sogar paradigmatische Bedeutung für das Lehren und Predigen mit exemplarischen Kurzerzählungen gewinnt – die letzte Wahrheit wird als Rätsel vermittelt.Wahrheitsvermittlung schließt das Mögliche, Nicht-Notwendige zwar formell aus, ist in der paränetischen Praxis aber auf ein Archiv an Beispielgeschichten und Strategien des Glaubhaft-Machens angewiesen. In ebendieser Anlage eines topischen Reservoirs ist nach Roland Barthes eine Hauptaufgabe der Rhetorik begründet.¹⁰⁵⁰ Die exemplarischen Kurzerzählungen bilden hier abseits direkter Funktionalität (d. h. jenseits ihres Einsatzes als narrativ entfaltetes Argument) ein kollektives Archiv von Erfahrungswissen – ein Aspekt, der in Abschnitt IV der Arbeit im Fokus stand. In der Annäherung an größere Erzählsammlungen des Mittelalters wurde aus rhetorischer Perspektive auf die strukturalistischen Operatoren von Selektion und Kombination zurückgegriffen, um Raster der
Vgl. Barthes: Die alte Rhetorik (Anm. 10), S. 67– 70.
V Fazit
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Zusammenstellung und Kontextbildung im Archiv zu beschreiben: Welche Kurzerzählungen werden ausgewählt, wie sind diese kombiniert, d. h. angeordnet, mit welchen Figuren werden sie je besetzt usw.? Diese Möglichkeiten der Kontextbildung innerhalb einer Sammlung wurde in drei Perspektiven verfolgt: Schon an Ulrich Boners Edelstein ließ sich ablesen, dass eine geschlossene (d. h. über Pro- und Epilog markierte) Sammlung nicht zwangsläufig systematisch angelegt sein muss. Der Edelstein weist eine topische Ordnung auf, die über verschiedene Möglichkeiten von Kombination und Ersetzung (vom direkten Gruppieren verschiedener Erzählungen nebeneinander zur thematischen Äquivalenz bei unterschiedlichen Figuren) einen Kontext bildet, in dem die Ambivalenz von Erfahrungswissen rhetorisch grundiert und damit sichtbar gemacht wird. Boner zeigt dabei einen souveränen Umgang mit argumentativen Techniken: Sei es in der isotopischen Reihung, in der ähnliche Ausgangssituationen divergierend modelliert werden, sei es in der Integration verschiedener inhaltlicher Topoi, die als Argument fungieren, narrativ entfaltet werden oder selbstreflexiv auf den eigenen Text verweisen. Rhetorik erweist sich hier als Mittel der Textproduktion, das die exemplarischen Kurzerzählungen mit agonalen Figurenreden, Musterargumenten und rhetorischen Techniken anreichert. Die Gesta Romanorum hingegen bilden als offene Sammlung, deren Bestand in den Handschriften stark divergiert, keine fest tradierten Reihen an Kurzerzählungen aus. Hier stand damit der Kontext auf einer Mikroebene im Fokus: Wie transformieren die Gesta Romanorum Erzählinhalte gegenüber ihren Vorlagen? Wo wird Diskursives überhaupt erst zur Erzählung disponiert, wo speist die Sammlung schon vorhandene Erzählungen mit zusätzlichen Kontexten? Die Gesta Romanorum vereinen dabei ganz unterschiedliche Argumentationen: Juristische, politische und historische Deutungsmuster bestimmen die Einzelerzählungen. Gleichzeitig wird die rhetorische Grundierung der Sammlung durch ein religiöses Dispositiv gerahmt: Die jeder Erzählung angehängte Moralisation setzt der an Wahrscheinlichkeit orientierten Überzeugungstechnik eine Wahrheitsreferenz gegenüber. Der erzählerische Mehrwert der historischen Exempel kann jedoch – so in den Einzelanalysen gezeigt – das Wahrheitspostulat der allegorischen Auslegung unterlaufen und alternative Lesarten offerieren, die stärker in Rhetorik und im Common Sense verankert sind. Am Beispiel der Handschrift MS Add. 24946 aus der British Library in London wurde abschließend gezeigt, über welche Möglichkeiten der Kombination und Selektion von exemplarischen Kurzerzählungen eine einzelne Handschrift verfügt. Hier bildet die Handschrift einen eigenen Kontext, in dem Kurzerzählungen mit anderen Texttypen (Sprichwort-Sammlung, Mären usw.) ergänzt und auf eine thematische Leitlinie fokussiert werden. Die Handschrift scheint ein Reservoir an Argumenten aus dem Bereich des Common Sense bereitzustellen, das sowohl in diskursiver wie narrativer Form gespeichert wird. Den exemplarischen Kurzerzählungen, v. a. den historischen Exempeln, kommt somit keine direkte Anwendbarkeit mehr zu – sie werden größtenteils ohne Epimythien überliefert. Die Erzählungen interessieren als rhetorisches Archiv, weniger als didaktische Lehrsammlung. Gleichzeitig aber legt die Handschrift aus dem 15. Jahrhundert bereits ordnende Raster an die Kurzerzählungen:
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V Fazit
Gegenüber dem Cod. 2705 aus dem 13. Jahrhundert, der die gleichen Fabeln und Gleichnisse überliefert, sortiert Add. 24946 seine Erzählungen verstärkt nach Fiktionalitätsgrad und narrativem Gehalt. Die hier angefertigen Untersuchungen ließen sich noch in diverse Richtungen ausdehnen: Weitere Sammlungen von Kurzerzählungen oder die Einbindung in andere diskursive Kontexte könnten ebenso untersucht werden wie das hier unberücksichtigt gebliebene Feld exemplarischer Kurzerzählungen im narrativen Kontext (etwa die Gleichnisse in Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat oder die ‚Hahn und Edelstein‘-Fabel im Epilog von Heinrichs von dem Türlin Artusroman Diu Crône). Wie anfangs betont, hat es sich diese Studie nicht zum Ziel gesetzt, sämtliche exemplarischen Kurzerzählungen im untersuchten Zeitraum zusammenzutragen.Vielmehr hat die Arbeit eine neue, rhetorikbasierte Lesart exemplarischer Kurzerzählungen vorgeschlagen und diese an verschiedenen Beispieltexten durchgeführt. Es sollte damit darauf aufmerksam gemacht werden, die Funktionalität kleiner narrativer Formen nicht nur einsinnig als ‚Illustration‘ oder ‚Bestätigung‘ einer Regel zu beschreiben. Vielmehr offeriert das rhetorische Reservoir ein breites Instrumentarium an Anwendungsmöglichkeiten, das auch komplexe Formen annehmen kann. Die rhetorische Entfaltung der exemplarischen Kurzerzählung lässt sich hier in doppelter Weise zusammenfassen: Sie ist multifunktionales Argument und Archiv für Erfahrungswissen. Gleichzeitig beruht ihre Erkenntnisleistung auf einem Transfer, der in die Nähe der Metapher zu stellen ist. Die Wirkungsgeschichte der exemplarischen Kurzerzählung geht damit weder im Rhetorischen noch im Poetischen völlig auf, sondern erst in deren Kombination: Sie ist narrative Argumentation. Aufschluss über die „traditionellen großen Fragen der Ästhetik, zumal die den metaphysischen Gehalt betreffenden“, so Theodor Adorno in der ‚Frühen Einleitung‘ zur ‚Ästhetischen Theorie‘, könne man sich nicht länger „von allgemeinen Grundsätzen […] erhoff[en], sondern in Bereichen, die sonst als bloße Exempla gelten.“¹⁰⁵¹ Wenn Adorno hier auf den Vorteil exemplarischen Erzählens gegenüber allgemeingültigen Prämissen eingeht, bestätigt er nicht nur die jahrhundertealte Vorstellung, exempla seien treffender als praecepta,¹⁰⁵² er deutet zudem an, dass kleine Erzählformen nicht nur belehren, sondern in sich Antworten bereithalten. Diese müssen nicht zwangsläufig die „großen Fragen der Ästhetik“ lösen, sondern können, wie diese Arbeit zu zeigen versucht hat, auch Erkenntnisse über Techniken des rhetorischen Beispiel-Gebrauchs liefern.
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Verwendete Internetquellen http://www.wgd.materiale-textkulturen.de/illustrationen/motiv.php?m=103 (Zugriff 5. 1. 2017)
Personen- und Werkregister Accessus Aviani 32 Aegidius Romanus 190 Alanus ab Insulis 79, 191 Albertus Magnus 40, 232 Alexander Neckam 119 f., 235 Anonymus Neveleti 173, 177 f., 181, 183, 186, 188, 193, 197, 248, 263 Aristoteles 2 – 7, 11, 15 – 17, 22, 25, 27 – 29, 36 – 49, 53 f., 59, 69, 71, 74, 78, 93 f., 108, 146 – 148, 158, 161, 180, 184, 190, 200 – 204, 214 f., 222, 231 f., 235, 237, 263, 267 f. Arnold von Lüttich 142, 169, 176, 179, 206, 224 Äsop 69 f., 77, 83, 89, 91, 150, 179, 181, 204, 207, 214 – 217, 248 Athis und Prophilias 137 Augustinus 5, 21, 24, 86, 148 Avian 31 f., 57, 95 f., 99, 122, 158, 161 – 163, 173, 177 – 179, 183, 194 – 197, 199, 204 Babrius 31, 89 – 91, 95 f., 99, 216, 252 Bernhard von Clairveaux 234 Bernhard von Cluny 14 Bernhard von Utrecht 58 Bibel 55, 57, 85 – 87, 115, 128 f., 148, 151, 155, 158, 161, 163, 184 f., 187, 196, 204, 206, 214, 221, 226, 234, 237, 253, 256 f. Boccaccio, Giovanni 8, 60, 136 f., 140 Boethius 2, 42, 59 Boner, Ulrich 8, 12, 24, 33, 37, 71, 142, 169, 171 – 207, 210, 214, 224, 226, 237, 249 f., 263, 265, 268 f., 271 Caesarius von Heisterbach 149, 152, 158, 166, 171, 228 Cassius Dio 220 Cicero 4, 8, 23 f., 41, 47, 54, 59, 75, 113, 130, 184, 190, 198, 203, 231, 257, 268 Compilatio singularis exemplorum 169, 176, 224 Cosmas von Prag 84 Deutschenspiegel 115 – 117 Dialogus creaturarum moralisatus 147, 152, 155 Disticha Catonis 239, 242 f., 260, 262 f. Dolopathos 236 Dominicus Gundissalinus 57 https://doi.org/10.1515/9783110579406-008
Erasmus von Rotterdam 211 f. Engelbert von Admont 55, 69 Flavius Josephus 215 Fioretti di San Francesco 156 – 158 Fredegar 96, 99 Freidank 113, 191, 196, 203, 239, 241, 245, 250 Gerhard von Minden 98, 171 Gesta Romanorum 13, 24, 59, 98 f., 101, 116, 131 f., 164, 171 – 173, 176, 178, 181, 207 – 238, 252, 257 f., 265, 268, 271 Gesta Romanorum (mhd. Bearbeitung) 210, 219, 221, 225 Gottfried von Straßburg 198 Gregor der Große 153, 197 Gregor von Tours 84 f., 103 Großer Seelentrost 150 f., 155, 159 f., 163 – 167 Heilige Regel für ein vollkommenes Leben 150, 154, 156, 158 – 163, 165 – 167 Heinrich der Teichner 83, 239, 241 f., 244, 249, 260, 262 Heinrich von Beringen 110, 131 – 141, 240 – 242, 244 f., 248, 252 f., 255 f., 258 f. Herodot 117, 219, 237 Horaz 27, 57, 88, 190 Hugo von St. Viktor 69 Hugo von Trimberg 70, 109 – 112, 121, 125 – 131, 170 f., 190, 270 Isidor von Sevilla 220 f.
55 – 57, 75, 92, 152, 155,
Jacobus de Cessolis 110, 132 – 136, 140 – 145, 258 f. Jacques de Vitry 179, 181, 206 Johann von Viktring 215 f. Johannes de Garlandia 56, 75 Johannes von Salisbury 24, 26, 83, 119, 253, 265 Johannis de Alta Silva 236 Kaiserchronik 8, 79, 88, 96 – 103, 108 f., 125 – 127, 256, 270 Konrad von Ammenhausen 10, 110, 131 – 134, 141 – 145, 187
Personen- und Werkregister
Li Romanz d’Athis et Prophilias Lukan 198
137
Marie de France 24, 68, 88 – 92, 97, 99, 104, 192 Montaigne, Michel de 1, 12, 176 Notker der Stammler 235 Novus Avianus 32 Nürnberger Prosa-Äsop 32, 156 Odo von Cheriton 153 Oswald von Wolkenstein 264
241 – 245, 259, 261 –
Petronius Arbiter 220 Petrus Alfonsi 112, 128, 136 f., 139 f., 164, 171, 178, 181, 185, 191, 208, 239 Phaedrus 77, 122, 186, 248 f., 263 Platon 53, 89 Plinius d. Ä. 208, 220 f., 228 Plutarch 258 Quintilian 4, 7, 15, 17, 23, 29, 37 f., 43, 54, 56, 200, 268 Radulphus de Longo Campo 59 f. Rhetorica ad Alexandrum 25 Rhetorica ad Herennium 8, 23, 54 f., 118, 200 Rolandinus von Padua 77 f., 83 f., 93
303
Romulus-Korpus 190 Rudolf von Ems 85 – 87, 272 Ruodlieb 224 Sächsische Weltchronik 91 – 94, 100, 102 f., 108 Sedulius Scottus 156 – 158 Seneca d. J. 94, 153, 197, 222 f. Seneca d. Ä. 210, 218, 230 Steinhöwel, Heinrich 32 Stephan von Bourbon 169, 224 – 226 Stricker 9, 24, 63, 115 f., 120, 122 f., 167, 169 – 171, 173, 176, 191, 239, 241, 246, 248 f. Thomas von Aquin 29, 231 Thomasin von Zerklaere 90 – 92, 110, 112, 121 – 125, 131, 170 f., 190 f., 198 Titus Livius 69 f., 83, 144 Valerius Maximus 18, 26, 74, 76, 81, 132 f., 143 – 145, 152 – 154, 208, 218 f., 242, 253, 257 f., 265 Vergil 257 Vinzenz von Beauvais 132, 159 Vita Meinwerci episcopi Patherbrunnensis 160 Vitaspatrum 116, 152, 158 Wernher von Elmendorf 110, 115, 117 – 119 Wilhelm von Conches 118 f.