Evolutionäre Führung: Der Kern erfolgreicher Führungspraxis. Mit einer Einführung in das Management-Profiling (German Edition) 3834901822, 9783834901828


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Evolutionäre Führung: Der Kern erfolgreicher Führungspraxis. Mit einer Einführung in das Management-Profiling (German Edition)
 3834901822, 9783834901828

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Michael Alznauer

Evolutionäre Führung Der Kern erfolgreicher Führungspraxis Mit einer Einführung in das Management-Profiling

Michael Alznauer Evolutionäre Führung

Michael Alznauer

Evolutionäre Führung Der Kern erfolgreicher Führungspraxis Mit einer Einführung in das Management-Profiling Volker Beeck Hans Pa

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage September 2006 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Ulrike M. Vetter Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Druck und buchbinderische Verarbeitung: Wilhelm & Adam, Heusenstamm Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-8349-0182-2 ISBN-13 978-3-8349-0182-8

Wir können erfolgreicher führen

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Für meine Familie, Danke für Gene und liebevolle Geborgenheit, und in Erinnerung an Günter, es hätte ihm sicher gefallen

Wir können erfolgreicher führen

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Wir können erfolgreicher führen

Das Phänomen Führung ist selbst nach vielen Jahrzehnten Forschung und Jahrtausenden der Praxis immer noch verblüffend unverstanden. Was zunächst bedeutet: Führung funktioniert auch, ohne dass wir sie begreifen! Warum also damit beschäftigen? Mir persönlich fallen spontan zumindest zwei gute Gründe ein: Zunächst macht es schlichtweg Spaß! Wir haben ein Bedürfnis, Rätsel zu lösen und uns ein schlüssiges Bild unserer Welt zu machen. Wir befassen uns vielleicht aus einem ähnlichen Grund mit der „Theorie des Führens“, wie wir grübeln, wer in einem Krimi der Täter ist. Sicherlich liegen zugleich aber auch praktische Interessen dahinter. Wir versprechen uns von unserem Bemühen einen größeren Erfolg als Führungsspezialisten1. Oder haben Sie dieses Buch nicht deshalb zur Hand genommen? Führung ist ein extrem bedeutsames Phänomen! Es ist eindeutig nicht egal, ob und wie wir führen oder geführt werden! Bedauerlicherweise zeigt das wahre Leben: Führung ist nicht nur wichtig – Führung ist auch schwierig! Offenbar sind wir Menschen manchmal eigensinnig und widerspenstig, manchmal pflegeleicht und folgsam. Wir sind kompliziert. Aber sind die entscheidenden Mechanismen des Phänomens Führung deshalb auch so unglaublich schwer zu verstehen? Ich denke: nein! Neben meiner über 15-jährigen Tätigkeit als Managementberater, Coach und Führungsdiagnostiker war es die Evolutionäre Psychologie, die mich inspiriert hat, ganz weit hinter die Kulissen des Phänomens Führung zu schauen. Kurz gesagt, ist diese davon überzeugt, dass die Idee der Evolution nicht nur für unser körperliches Erscheinungsbild bedeutsam ist, sondern auch Erkenntnisse in Bezug auf unsere psychologische Welt bietet. Kann es beispielsweise sein, dass Ihr Schreibtisch im Büro so steht, dass Sie mit dem Rücken zur Wand und nicht zur Tür sitzen? Haben Sie bei Besprechungen oder am Frühstückstisch einen Stammplatz? Spüren Sie den Adrenalinstoß, wenn ein Kollege Ihren Plänen öffentlich einen Strich durch die Rechnung macht – oder ein Autofahrer sich im Stau von der Nebenspur aus vor Sie drängt? Steigt Ihr Blutdruck, wenn Ihr Chef Sie telefonisch und mit knappen Worten zu sich bittet, ohne Ihnen zu sagen, worum es ihm geht? Wahrscheinlich kennen Sie solche Dinge, nicht wahr? Ist es nicht verblüffend, dass ich solche Annahmen über Sie einfach so in den Raum stellen kann?

1

Erlauben Sie mir, aus Gründen der leichteren Lesbarkeit des Textes, in der Regel die männliche Schreibform zu nutzen. Ich persönlich bin absolut überzeugt, dass das Geschlecht nicht über den Führungserfolg bestimmt.

8

Wir können erfolgreicher führen

Ich kenne weder Ihr Leben noch die Erfahrungen, die Sie gemacht haben. Aber ich gehe davon aus, dass hinter unserem Verhalten Muster liegen, die wahrscheinlicher sind als andere. Und die Evolutionäre Psychologie weist darauf hin, dass solche Muster und Wahrscheinlichkeiten vorhersehbar sind. Ich behaupte, erfolgreich führen kann nur, wer die evolutionär-menschliche Natur berücksichtigt, statt ihr entgegen zu handeln! Sie fragen, warum das so sein sollte? Weil Führung eine Aufgabe ist, die uns seit Urzeiten gestellt wird und evolutionäre Spuren in uns hinterlassen hat. Führung ist nichts, was beliebig zwischen Führungskräften und Geführten ausgehandelt werden kann oder aktuellen Moden folgt. Das evolutionär definierte Phänomen Führung besser zu verstehen, ist die grundlegendste Voraussetzung, um Führungserfolg systematisch zu erhöhen! Der Ansatz dieses Buchs würde allerdings wohl kläglich scheitern, wenn dabei eine Bedingung die weitgehende Reduzierung des Menschen auf sein evolutionäres Erbe wäre (wie es derzeit vielfach geradezu Mode geworden zu sein scheint2). Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass wir mehr sind als „biologische Maschinen“, und sicher, dass unsere Zukunft erheblich von diesem Mehr abhängt. Eine schlichte (evolutions-)theoretische Perspektive reicht also nicht aus, um ein wirklich tragfähiges Verständnis vom Phänomen Führung zu entwickeln. Wir müssen einen tieferen Blick hinter die Kulissen des Phänomens Führung werfen. Und wir brauchen zugleich eine Sicht auf das, was Tag für Tag zwischen Führenden und Geführten geschieht! Und zu guter Letzt benötigen wir einen Ansatz, der in der Lage ist, dies alles professionell zu einem Bild zu fügen! Solche Methoden zur Verbindung theoretischer Modelle, sorgfältiger Beobachtung und professionell gesammelter Informationen wollen wir uns von den Kriminalprofilern borgen. Diese sind Profis darin, fehlendes Wissen durch tragfähige Hypothesen zu ersetzen und auf dieser Grundlage praxisrelevante Bilder zu gestalten. Sie arbeiten daran, die Erfolgswahrscheinlichkeiten (z. B. einen Straftäter dingfest zu machen) zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen. Mir geht es ebenfalls um Erfolgswahrscheinlichkeiten: Ich möchte die Wahrscheinlichkeit zu unseren Gunsten verändern, dass wir erfolgreich in geführten Gruppen arbeiten, erfolgreich viel versprechende Führungskräfte identifizieren und erfolgreich Menschen zu besseren Führungskräften machen. Dieses Buch ist kein einfaches Rezeptbuch. Aber ich verspreche, Ihnen eine ungewöhnliche Fülle von Anregungen und eine wertvolle Basis für Ihre konkrete Arbeit zu geben. Sie erhalten quasi maximal viel Know-how – und nicht eine Sammlung von Anekdoten – für Ihr Geld, unabhängig davon, ob Sie Führungskraft, Mitarbeiter, Berater oder Trainer sind!

Bonn, im Sommer 2006 Michael Alznauer 2

ein Beispiel? Der Bestseller von A. & B. Pease, Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken, 29. Aufl., 2005, Berlin: Ullstein

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Wir können erfolgreicher führen ........................................................................... 7

Teil I: Das Puzzle der Führung ..................................................... 13 Von Managern, Profilern und Puzzlern............................................................... 15 Das verflixte Problem Führung ........................................................................... 19 Profilern über die Schulter gesehen ................................................................... 25 1. Vom Mythos zum praktischen Nutzen ..............................................................................25 2. Wichtige Erkenntnisse und Methoden...............................................................................28 3. Was wir an dieser Stelle mitnehmen können.....................................................................31

Führung ist natürlich ........................................................................................... 33 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Evolution definiert Verhaltenswahrscheinlichkeiten ..................................................34 Die Geburtsstunde der Führung ........................................................................................44 Der evolutionäre Triumph der Führung.............................................................................46 „Puzzlesteine“ für unser Bild (Teil 1) ...............................................................................55 Die Führung auf dem Weg in die Gegenwart ....................................................................56 „Puzzlesteine“ für unser Bild (Teil 2) ...............................................................................81

Teil II: Die Essenz der Führung..................................................... 83 Die Aufgabe professionell wahrnehmen ............................................................. 85 Das richtige Führungsverständnis ist wichtig ..................................................... 91 1. 2. 3. 4. 5.

Wozu ist Führung gut? ......................................................................................................92 Wer soll die Führung übernehmen?...................................................................................94 Was ist gutes Führungsverhalten? .....................................................................................95 Wer ist eigentlich wofür verantwortlich? ..........................................................................98 „Puzzlesteine“ für unser Bild (Teil 3) ............................................................................. 104

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Inhaltsverzeichnis

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar ............................................. 105 1. 2. 3. 4.

Führende müssen das wertvollste Erfolgsmodell anbieten ............................................. 107 Eine gemeinsame Wirklichkeit ist für den Erfolg wesentlich ......................................... 125 Um Ziele zu erreichen, müssen Probleme gelöst werden ............................................... 134 Macht-Worte sind manchmal notwendig ........................................................................ 144

Die Führung nicht verkomplizieren ................................................................... 163 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Markt und Kunden: Auf die bedeutsame Umwelt ausrichten ......................................... 164 Strategie: Die Suche nach dem Weg zum Erfolg ............................................................ 165 Mitarbeiter: Ohne Gefolgschaft geht gar nichts.............................................................. 166 Kleiner Ausflug: Tipps für Geführte............................................................................... 169 Konflikte: Auf die Kooperation kommt es an................................................................. 175 Motivation: Kein Mythos, aber überschätzt ................................................................... 177 Kulturunterschiede: Für die Essenz unwesentlich .......................................................... 185

Teil III: Die Kompetenz zur Führung............................................191 Mit einer guten Theorie an die Praxis............................................................... 193 Führungspersönlichkeit: Mythos oder Realität? ............................................... 197 1. Wir können Menschen realistisch beurteilen .................................................................. 201 2. Erfahrung, Intuition und Datenbanken helfen ................................................................ 204

Das Profil der Führenden ................................................................................. 207 1. 2. 3. 4.

Die so genannte Persönlichkeit ist doch wichtig ............................................................ 209 Anforderungskriterien sind zumeist Unsinn ....................................................................211 Die Persönlichkeit als Gesamtheit ist bedeutsam ........................................................... 212 Es gibt entscheidende Beurteilungskriterien................................................................... 214

Management-Profiling ...................................................................................... 219 1. Die Wesentlichkeit und Qualität der Informationen sind wichtig ................................... 221 2. Die Interpretation ist ein separater Schritt ...................................................................... 224

Teil IV: Der Weg zur Führung ......................................................227 In jedem schlummert Führungs-Kraft ............................................................... 229 1. Karriere: Im Wettkampf stehen....................................................................................... 231 2. Beförderung: Den Wettkampf gewinnen ........................................................................ 233 3. Gefolgschaft: Die Mitarbeiter gewinnen ........................................................................ 235

Inhaltsverzeichnis

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Führungspersönlichkeit ist kein Zufall .............................................................. 237 1. Erfahrung: Erfolgreich zum Führenden werden.............................................................. 240 2. Systematik: Die Abkürzung zum „Alten Hasen“ ............................................................ 243 3. Künstlertum: Zur Führungspersönlichkeit reifen ............................................................ 249

Führung ohne Ende .......................................................................................... 253 1. 2. 3. 4. 5.

Es geht letztendlich nicht um unser Berufsleben! ........................................................... 253 Auf das große Gemeinschaftsprojekt besinnen ............................................................... 254 Wettbewerb der Erfolgsmodelle...................................................................................... 255 Unternehmen sind in Wirklichkeit Pilotprojekte ............................................................. 256 Weiter nach sozialer Gerechtigkeit suchen...................................................................... 258

Literaturverzeichnis........................................................................................... 261

Der Autor........................................................................................................... 263

Ein Dankeschön................................................................................................ 264

Inhaltsverzeichnis

Teil I: Das Puzzle der Führung

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Von Managern, Profilern und Puzzlern

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Von Managern, Profilern und Puzzlern

„Die Neigung der Natur, sich selbst treu zu bleiben, kann uns viel lehren. Unter diesem Aspekt lassen sich heutige Managementmethoden leichter beurteilen, Modeerscheinungen und oberflächliche Vorschläge als solche erkennen, und wir können uns stattdessen auf das konzentrieren, was sich auch grundsätzlich bewährt hat.” Margaret J. Wheatley, Managementprofessorin

Wie können wir uns das Rätsel rund um das Phänomen Führung eigentlich vorstellen? Unsere Lage ähnelt der Situation, über eine riesige Anzahl von Puzzlesteinen (Detailwissen, Studienergebnisse etc.) zu verfügen – aber keine Bildvorlage. Und schwieriger noch: Wir wissen nicht einmal, welche Steine zu einem völlig anderen Puzzle gehören und es fehlen vermutlich viele, die wir benötigen würden. Wir wissen nur eines: Wenn das Puzzle fertig ist, zeigt es eine Schatzkarte! Wie soll man an diese Aufgabe herangehen? Für welche Hilfsmittel entscheidet man sich? Meine Wahl fiel auf: „ Hilfsmittel Nr. 1: Die evolutionspsychologische Perspektive. Sie gibt uns – um in unserem Bild zu bleiben - eine grobe Information darüber, welchen Gesetzmäßigkeiten die Landschaft folgt und ob der Schatz auf dem Land oder im Wasser zu finden ist. „ Hilfsmittel Nr. 2: Methoden des kriminalistischen Profilings. Sie verraten uns u. a., wie sich für die leer bleibenden Stellen unseres Puzzles „Standard-Puzzlesteine“ erstellen lassen. Diese können wir dann so lange nutzen, bis wir bessere gefunden haben. Diese Methode lässt sich übrigens auch sehr wirkungsvoll für die Managementdiagnostik nutzen. Wir wollen grundsätzlich möglichst viele der richtigen Puzzlesteine in ein stimmiges Bild bekommen und dabei klären, warum manche nicht dazu gehören können. Die übrig bleibenden Steine legen wir einfach zur Seite, denn „werden die einzelnen Analysepunkte nicht in ein Ganzes integriert, so sind sie oft mehrdeutig und wertlos…“3 Es gibt zu viele Themen und Gedanken, die unter der Überschrift Führung diskutiert oder veröffentlicht werden, die für das Kernphänomen absolut unwesentlich sind.

3

Föhl, M., Täterprofilerstellung: ein methodenkritischer Vergleich aus rechtspsychologischer Perspektive, 2001, Frankfurt/ M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 79

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Von Managern, Profilern und Puzzlern

Den Stand der Führungsforschung können wir uns – um in unserem Bild zu bleiben – folgendermaßen verdeutlichen: Die Forscher haben Berge von Puzzlesteinen (Einzeldaten und fakten) gesammelt, die sie zwischendurch immer wieder einmal neu nach Farbe oder Größe sortieren. Diese Steine stellen eine unerschöpfliche Quelle für die Gestaltung unterschiedlichster (Führungs-) Bilder dar; jeder Puzzler (Autor, Berater, Trainer) kann sich beliebig bedienen, um sein Bild zu gestalten. Für dessen Wahrheitsgehalt gibt es kaum Kriterien, entscheidend für den jeweiligen Erfolg ist daher in erster Linie der Unterhaltungs- und Vermarktungswert. Leider geht den meisten Künstlern schon lange auch noch die Kreativität aus, sofern sie überhaupt vorhanden war. Die Führungsgalerien hängen voll von Fälschungen und Plagiaten, und die Führungsliteratur besteht zumeist aus – freundlich ausgedrückt – Wiederholungen. Haben wir überhaupt eine Chance, einen anderen Weg einzuschlagen? Schauen wir uns die anstehende Aufgabe noch einmal an: Ein Grundproblem der geschilderten Situation besteht darin, im „Puzzlestein-Salat“ bedeutsame von irrelevanten Steinen zu unterscheiden. An dieser Stelle tritt für uns die Evolutionspsychologie auf die Bühne. Sie bietet uns keine Bildvorlage, die wir abzeichnen können, aber sie gibt uns Regeln. Wir hantieren nicht mehr auf einer völlig freien Fläche, unser Bild bekommt eine Struktur. Wir können begründet äußern: Dieser Puzzlestein gehört dazu, jener nicht. Wie weit wir damit der Wahrheit nahe kommen, wissen wir kaum. Und schon sind wir an einem Punkt, an dem wir uns erstmalig Anregungen von den Profilern holen können: Sie empfehlen in diesem Zusammenhang, die eigene Arbeit als Denkexperiment anzulegen. Lassen Sie mich also bereits an dieser Stelle betonen, dass ich mich nicht in die Gruppe von Autoren einzureihen gedenke, denen die Worte Wissenschaft, Evolution und Gene dazu dienen, die große Wahrheit zu verkünden. Ich betreibe ein Denkexperiment! Natürlich handelt man sich mit dem skizzierten Ansatz ein Problem ein: Wie stellen wir sicher, hinterher nicht ein fantasievolles, aber leider völlig irrelevantes Bild zu betrachten? Gerade Denkexperimente müssen sich zweifellos sehr disziplinieren, um nicht zu einer willkürlichen Fantasterei zu geraten. Bei der kreativen Gestaltung unseres Bildes dürfen und werden wir daher nicht auf Seriosität verzichten. Dazu orientieren wir uns zum einen an wissenschaftlichen Spielregeln4. Zum anderen wollen wir – wie bereits signalisiert – Erfahrungen von professionellen Profilern nutzen. Bei der Gelegenheit: Was tun die, um nicht in wilde Spekulationen abzugleiten? Für deren Arbeit wären die Konsequenzen noch viel dramatischer als für uns: Sie würden in einem Fall überbordender Kreativität nicht nur keine Hilfe darstellen, sondern die Kriminologen sogar auf eine falsche Spur führen. Der Mörder käme womöglich ungestraft davon, während ein Unschuldiger seine Freiheit verliert. Um 4

Eine gute Theorie sollte eine große Menge an Daten in sinnvolle Aussagen und Thesen zu ordnen verstehen und einige nachvollziehbare Kriterien erfüllen (Miner, J. B., Theories of organizational behavior, 1980, Hinsdale Ill.: Dryden Press): Sie sollte zum Verstehen eines Phänomens führen, Vorhersagen gestatten und Beeinflussung erleichtern, klare Grenzen für ihre Anwendbarkeit definieren, die Forschung auf wichtige Themen aufmerksam machen, generalisierbare Ergebnisse hervorbringen, weiteres Testen ermöglichen, indem sie klar definierte Variablen und Begriffe enthält, nicht nur von der Forschung bestätigt werden, die davon direkt abgeleitet wird, sondern auch mit bekannten Tatsachen vereinbar sein und so einfach wie möglich ausgedrückt werden.

Von Managern, Profilern und Puzzlern

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Risiken zu minimieren, betonen die Profiler u. a. die so genannte sequenzielle Vorgehensweise5. Diese verlangt, mit den eigenen Konstruktionen streng dem Zeitstrahl zu folgen und Geschehnisse ausschließlich mit vorhergehenden Ereignissen zu erklären. Ein guter Gedanke. Diese Anregung macht zweifellos auch für uns Sinn. Die schlüssige Gestaltung eines evolutionspsychologischen Bildes der Führung verlangt also einen schrittweisen Aufbau. Man könnte es auch so ausdrücken: Wir dürfen kein fertiges Bild vor Augen haben und dann mit den vorhandenen Puzzlesteinen verzweifelt versuchen, dieses „hinzubekommen“. Und wenn ein Stein nicht passt, machen wir ihn auch nicht passend. Wir müssen Schritt für Schritt schauen, welches Bild bereits entstanden ist und welche Art von Stein als nächstes passen könnte. Unstimmigkeiten verlangen dabei glaubwürdige Erklärungen – oder einen kompletten Umbau des Bildes. Wie die fertige Schatzkarte letztendlich aussieht, wissen wir erst im Verlauf ihrer Entstehung. Zu Beginn unserer gemeinsamen Reise durch die Welt der Führung werden wir zunächst einen kurzen Blick auf die problematische Ausgangssituation werfen. Womit sieht sich der Interessierte konfrontiert, wenn er heute mehr vom Phänomen Führung zu verstehen sucht? Dann schauen wir uns an, wie Ansätze der Kriminalprofiler für uns wertvoll sein können. Im nächsten Schritt werde ich Ihnen schildern, warum Führung als evolutionär definierte Aufgabe betrachtet werden sollte und welch schwerwiegende Bedeutung diese Perspektive hat. Sie löst viele bestehende Probleme und gibt anregende Orientierung für die Führungspraxis. Diese Anregungen werde ich dann aufgreifen, um die Kernaufgaben der Führung herauszuarbeiten. Anschließend prüfe ich, welchen Nutzen die evolutionäre Führungsperspektive für Fragen der Potenzialanalyse sowie der Auswahl und Entwicklung von Führungskräften bietet. Wenn Sie die Meilensteine auf unserem Weg später noch einmal Revue passieren lassen möchten, hier zwei Lesetipps: Das Zeichen gibt Ihnen einen Hinweis darauf, dass es sich an dieser Stelle um einen wichtigen Zwischenschritt bei der Gestaltung unseres „Puzzles“ handelt: eine Kernaussage oder Schlussfolgerung, die Sie einer kritischen Prüfung unterziehen sollten.

Hinterlegte Textstellen enthalten Hinweise auf praktische Konsequenzen der zuvor entwickelten Gedanken.

Beispiele und Erläuterungen finden Sie mit einem grauen Balken gekennzeichnet.

5

Hoffmann, J., Fallanalyse im Einsatz, in: Musolff, C. & Hoffmann, J. (Hrsg.), Täterprofile bei Gewaltverbrechen. Mythos, Theorie und Praxis des Profilings, 2002, Berlin: Springer, S. 305-330

Das verflixte Problem Führung

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Das verflixte Problem Führung

„Am Anfang, noch vor dem ersten Tier, vor der ersten Emotion, war eine Nervenzelle, die sich direkt aus einem Bakterium entwickelt hatte. Der innerste Kern der Neuronen unseres Gehirns, die Millionen von Mitochondrien, ähnelt diesen Urbakterien fast aufs Haar. Wir haben dieses Milliarden Jahre alte System in jeder unserer Zellen.” Robert Ornstein, Gehirnforscher

Die Anzahl an Veröffentlichungen, Veranstaltungen und Forschungsergebnissen rund um das Thema Führung steht zum tatsächlichen Verständnis des Phänomens in einem erschreckend ungleichgewichtigen Verhältnis. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir über das Phänomen Führung unangenehm wenig!6 Faszinierenderweise hält das viele von uns Managern, Personalverantwortlichen und Beratern weder davon ab, treffliche Führungstipps zu geben, noch immer differenziertere Anforderungsprofile zu erstellen oder gar Urteile in Bezug auf die Führungskompetenz anderer zu fällen. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass unser Kenntnisstand niedrig ist, glauben wir trotzig an das, was wir lesen, hören und dann selbst weiter verbreiten. Wen würden Sie fragen, um mehr über Führung zu erfahren? Je nach persönlicher Veranlagung recherchieren die meisten Menschen wohl im Internet, wenden sich an den nächsten Buchhändler, an einen persönlich bekannten Manager oder besuchen einige Seminare. Und dann sind sie nicht selten noch verunsicherter als zuvor! Zum Thema Führung gibt es mehr Veröffentlichungen, als wir jemals lesen können (und wollen!), jeder Manager erzählt davon, wie er selbst erfolgreich geworden ist (oft völlig unterschiedliche, sehr individuelle Erfahrungen), und in den Seminaren erfährt man mehr über persönliche Wertvorstellungen des Trainers als über das „wahre Leben“. Überall nehmen wir schließlich ein wenig mit und „basteln“ uns letztendlich nach bestem Wissen und Gewissen (und zeitweilig mit schmerzhaften Erfahrungen) etwas, woran wir uns orientieren – zumindest hin und wieder. Mit kurzen Worten: Subjektivität, Zufall und Willkür beherrschen die Szene! Dass Sie an diesen unbefriedigenden Punkt kommen, liegt nicht daran, dass Sie einfach Pech hatten und die falschen Leute gefragt haben. Es geschieht, weil viele der so 6

Es verwundert nicht, wenn Oswald Neuberger, einer der populärsten deutschen Führungsforscher, nahezu zynisch verlangt: „Statt kurzatmig Fakten auf Fakten zu häufen und mit unzulänglichen Messinstrumenten auf Verdacht herausgegriffene Variablen in ihrem Zusammenhang zu ungenügend operationalisierten Adhoc-Erfolgsmaßen zu bestimmen, muss der theoretischen Durchdringung der bereits vorliegenden Erfahrungen größere Aufmerksamkeit geschenkt werden …“ (Neuberger, 2002, S. 433-434)

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Das verflixte Problem Führung

genannten Spezialisten zumeist nicht wirklich Tiefschürfendes über das Phänomen Führung wissen! Sie glauben und verbreiten in der Regel das, was populär ist oder was die meisten anderen auch glauben und verbreiten. Der auf Führungsthemen spezialisierte Professor Jürgen Weibler7 bestätigt die Problematik, wenn er sich und seine Leser fragt: „ Welche Theorien können uns helfen, die Beziehung zwischen Führenden und Geführten zu verstehen? „ Welche Gedanken, Gefühle und Motivationen sind hierbei im Spiel? „ Wie sollten Führungstrainings aussehen? „ Und was heißt das alles für wirklich gute Führungsmodelle und -werkzeuge? Allein die Tatsache, dass ein führender Wissenschaftler in einer recht aktuellen Veröffentlichung zu seinem Spezialgebiet derart allgemeine Fragen als Schlüsselfragen definiert, gibt Ausdruck über den Stand der Forschung. Die Schwierigkeiten sind jedoch noch viel grundlegender: Schon das Phänomen Führung selbst – betrachtet man die unendlich erscheinende Vielzahl von Definitionsversuchen – ist offensichtlich kaum eindeutig zu fassen. Alle Führungsdefinitionen scheinen hierbei denselben Gefahren ausgesetzt zu sein: „ Zunächst gelingt es oft kaum, Führung von „normalem“ (Arbeits-) Verhalten abzuheben. „ In anderen Fällen ergehen sich Definitionen nahezu in Zirkelschlüssen. „ Oder eine willkürlich erscheinende Auswahl von Verhaltensweisen in bestimmten Situationen wird zur Beschreibung herangezogen. Erscheint Ihnen die Lage rund um das Thema Führung nun schon aussichtslos genug? Oder benötigen Sie noch ein paar zusätzliche Sorgen? Die Gesamtlage wird beispielsweise dadurch weiter erschwert, dass es nicht einmal so richtig gelingen will, den Erfolg der Führung näher zu bestimmen. In der Regel wird in der Literatur hier zumindest schon einmal zwischen (A) dem Karriereerfolg einer Führungskraft und (B) ihrem Beitrag zum Unternehmenserfolg unterschieden. Eine nähere Bestimmung dieses Beitrags wird als „Herkulesaufgabe“ definiert8, d. h. als menschlich unmöglich (wenn man bedenkt, dass Herkules ein Halbgott war). Ein wenig Hoffnung macht da beinahe der Versuch, zumindest die „Misserfolgsfaktoren“ der Führung9 zu identifizieren. Die Gefahr des Scheiterns für Führungskräfte erhöht sich danach vor allem bei: „ speziellen Leistungsproblemen (z. B. bei der Übernahme neuer Aufgaben), „ Unsensibilität für andere (ein schroffer, einschüchternder, tyrannischer Stil), Kälte, Distanziertheit, Arroganz, 7 8 9

Weibler, J., New Perspektives on Leadership Research, in: Zeitschrift für Personalforschung, 18. Jg., Heft 3, 2004, S. 257-261 Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002, S.305 McCall, M. W./ Lomardo, M. M. / Morrison, A. M., Erfolg aus Erfahrung. Effiziente Lernstrategien für Manager, 1995, Stuttgart: Klett-Cotta

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„ Missbrauch von Vertrauen, „ Übermanagement (Unfähigkeit, zu delegieren oder ein Team aufzubauen), „ übertriebenem persönlichem Ehrgeiz, „ Auswahl der falschen Leute, „ Unfähigkeit, strategisch zu denken. Andere „Misserfolgsstudien“ bestätigen leider immer nur Trivialitäten, z. B. wenn festgestellt wird, dass „Umsetzungsdefizite“ und „Probleme im Umgang mit Menschen“ die Hauptursachen für das Scheitern waren10. Bedauerlicherweise stellt sich nun aber Erfolg nicht automatisch dadurch ein, dass man Dinge lässt, die den Misserfolg garantieren. Nicht zu stürzen oder eine Muskelzerrung zu vermeiden, diese Tipps sind ja auch nicht wirklich wertvolle für professionelle Skifahrer. Führungskräfte sind sogar noch schlechter dran als Leistungssportler: Es gibt viele Belege dafür, dass nicht einmal eine bislang ungebrochene Erfolgsbilanz ein Indiz dafür ist, dass eine Führungskraft nun weiß, was sie zu tun hat.

Führungserfolg entsteht offenbar nicht, indem man sich an klar festgelegte Vorgehensweisen oder Trainingsmethoden hält. Es erscheint daher fraglich, ob beispielsweise die Aussage „Er ist eine gute Führungskraft“ in dieser allgemeinen Form überhaupt möglich ist. Die sehr traditionsreiche Forschungslinie, nach den Eigenschaften oder Verhaltensmustern zu suchen, die erfolgreich Führende von weniger erfolgreichen unterscheiden, ist jedenfalls erfolglos geblieben – auch wenn wir intuitiv wissen, dass nicht jeder ein guter Führender ist. Erfolgreiche Führungskräfte unterscheiden sich genau so deutlich voneinander wie andere Menschen auch. Die einzige wirklich identifizierte Gemeinsamkeit von Führenden scheint darin zu bestehen, dass sie freiwillige Gefolgsleute haben11. Es gelingt offensichtlich auch nach Jahrzehnten der Führungsforschung bis zum heutigen Tag nicht, das Phänomen in einer Weise greifbar zu machen, die breiten Konsens findet und zugleich wertvolle Hinweise für die Praxis gibt. Merkwürdig, nicht wahr? Manche Menschen sind offenbar erfolgreichere Führende als andere – diese sind allerdings nicht über besondere Eigenschaften identifizierbar. Gegen diese Sachlage sträubt sich meine Logik. Ihre auch? Die Suche nach der Führungspersönlichkeit „serviert“ uns aber dennoch immer wieder nur die üblichen Facetten der menschlichen Natur. Diese Tatsache interpretiert Neuberger gnadenlos, wenn er feststellt, dass viele dieser Ergebnisse „… die Grenze zu Kalenderweisheiten oftmals überschreiten“12. Auch die Managementliteratur ist bei der Lösung unserer Schwierigkeiten „…in so hohem Maße 10

Mintzberg, H., Manager statt MBAs. Eine kritische Analyse, 2005, Frankfurt/ M.: Campus, S. 136 Boyett, J. H./ Boyett, J. T., Management-Guide. Die Top-Ideen der Management-Gurus, 1999, München: Econ 12 Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002, S.205 11

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mentliteratur ist bei der Lösung unserer Schwierigkeiten „…in so hohem Maße wertlos, dass es sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, praktisch nicht lohnt, sie durchzusehen.“13 Vor diesem irritierenden Hintergrund sehen sich anscheinend viele Autoren und Forscher genötigt, die chaotische Welt der Führungsdefinitionen um ein weiteres Exemplar zu bereichern. Neuberger entlarvt diese Ansätze als völlig irrelevant: „Wer glaubt, mit dem richtigen Wort ließe sich die Sache entzaubern, irrt.“14 Hier wird offensichtlich: Unsere Suche muss dem Kern der Führung gelten, nicht seiner Oberfläche, sie muss dem Phänomen gelten, nicht der Suche nach den richtigen Begriffen. Wie sieht also der praxisrelevante Kern des Wortes Führung aus? Auf diese Frage gibt es meines Wissens kaum Antworten. Professor Rolf Wunderer empfiehlt vor diesem Hintergrund (aus meinem Empfinden heraus nahezu ein wenig hilflos): „Gerade in der jetzigen Forschungsphase ist es in Ermanglung eines Königsweges bedeutsam, das eigene Interpretationsspektrum zu erweitern und eher Komplexität aufzubauen.“15 Das Interpretationsspektrum rund um das Phänomen Führung zu erweitern, gefällt mir, aber zugleich bin ich eher bemüht, Komplexität zu reduzieren. Wie bereits erwähnt, soll uns bei dieser Aufgabe die Idee der Evolution wertvolle Dienste leisten. Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Die meisten evolutionsbiologischen Erklärungen sind keine unumstößlichen Wahrheiten. Aber sie sind zumindest sehr plausible Denkmodelle mit Erklärungskraft. Die Idee der Evolution auch im Managementzusammenhang auf ihren Wert zu prüfen, ist nicht neu. Wenn Sie die Begriffe „Evolution“, „Führung“ und „Management“ in eine Internet-Suchmaschine eingeben, werden Sie vor allem auf Ansätze stoßen, die in irgendeiner Form von der „Evolution sozialer Systeme“ handeln16. So interessant solche Gedanken sein mögen, mit ihnen verbindet uns hier wenig. Hier geht es nicht um Analogien und Metaphern17. Ich versuche, die Idee der Evolution auf das Phänomen Führung selbst anzuwenden – und handele mir prompt einige Schwierigkeiten ein. Dieser Ansatz ist nicht ganz unproblematisch. Was denken Sie? Trägt die Idee der Evolution überhaupt für psychologische Phänomene, wie es Führung eines ist? Es gibt Autoren, die dies grundsätzlich ablehnen18 und kritische Fragen stellen: Wie sollten Gene Verhaltenswahrscheinlichkeiten beeinflussen? Und wie soll man sich den Zusammenhang zwischen Vererbung und Verhalten vorstellen? Erfreulicherweise gibt es sehr aktuelle Studien und Veröffentlichungen, die darauf Antworten geben und unse-

13 14 15 16 17 18

Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S. 25 Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002, S. 10 Wunderer, R., Führung und Zusammenarbeit. Eine unternehmerische Führungslehre, 5., überarb. Auflage, 2003, München: Luchterhand, S. 272 Königswieser, R., Lutz, Chr. (Hrsg.), Das systemisch-evolutionäre Management: der neue Horizont für Unternehmer, 2. Auflage, 1992, Wien: Orac Nöllke, M., So managt die Natur. Was Führungskräfte vom erfolgreichsten Unternehmen aller Zeiten lernen können, 2004, Planegg: Haufe Hemminger, H., Der Mensch – eine Marionette der Evolution? Eine Kritik an der Soziobiologie, 1983, Frankfurt/ M.: Fischer

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ren Ansatz damit sehr lohnend erscheinen lassen19. Somit erscheint es sinnvoll, den Gedanken, dass das Phänomen Führung parallel zu unserer eigenen evolutionären Entwicklung entstanden ist, weiter zu verfolgen. Gibt es eine urzeitliche Geburtsstunde des Phänomens Führung? Wo ist der Puzzlestein, mit dem alles anfängt? Auf der Suche nach Antworten müssen wir weit in die Geschichte zurück. Bevor wir auf diese Zeitreise gehen, möchte ich Ihnen allerdings noch schildern, warum ich auch in den Erfahrungen der Kriminalprofiler für unser „Problem: Führung“ einen Nutzen sehe.

19

Marcus, G., Der Ursprung des Geistes. Wie Gene unser Denken prägen, 2005, Düsseldorf: Walter

Profilern über die Schulter gesehen

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Profilern über die Schulter gesehen

„Die verlockende Vorstellung, Kriminalisten eine Checkliste in die Hand zu geben, bestimmte Merkmale herauszufiltern, hiermit den Computer zu füttern, der schließlich das reale (oder ideale) Täterprofil ausspuckt, bleibt kriminalistische Sciencefiction.” Stephan Harbort, Profiling-Experte

1.

Vom Mythos zum praktischen Nutzen

In Ordnung: Sie können selbstverständlich fragen, was Führung und Management mit Serienstraftätern zu tun haben sollen. Natürlich nichts! Vielleicht sind Sie sogar ein wenig abweisend. Ist das hier nur eine marktschreierische Idee, frei nach dem Motto: Was hatten wir denn noch nicht? Nein. Es ist eindeutig mehr als das! Aus meiner Sicht lassen sich bei den Profilern Anregungen zur Lösung unserer Schwierigkeiten mit dem Phänomen Führung finden. Diese Einschätzung hat sich bei mir allerdings erst während eines längeren Prozess der Annäherung entwickelt. Als mir vor Jahren ein etwas gruseliges Buch eines FBI-Profilers in die Hände fiel, verspürte ich einen Hauch von Geistesverwandtschaft zum Autor, konnte das aber nicht näher einordnen. Es verunsicherte mich sogar etwas. Dieses kleine Gefühl reichte allerdings, um meine Neugier zu reizen. Wie durch Zauberei tauchten einige Zeit später Kriminalromane, Spielfilme und Fernsehserien auf, die das Thema Profiling immer populärer machten. Es sei hier gestanden: Ich schaue mir immer noch recht gerne solche Filme an – aber fachlich ist die Faszination am Thema rasch einer spürbaren Ernüchterung und Sachorientierung gewichen. Ich machte mich auf die Suche nach Informationen, die nicht gruseligunterhaltsam, sondern fachlich fundiert sind. Eines war mir dabei schnell klar: Es handelt sich beim so genannten Profiling weder um ein Allheilmittel gegen die Abgründe des Bösen noch eine Abkürzung in die Welt geschädigter Seelen oder eine diagnostische Wunderwaffe. Ich fand allerdings immer seriöser werdende Versuche, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, die für bestimmte Taten verantwortlichen Menschen zu identifizieren.

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Es war der von den Profilern betrachtete Zusammenhang zwischen der Innenwelt eines Menschen und seinem Verhalten, der mich als Psychologe und Management-Diagnostiker damals die Verwandtschaft mit dem FBI-Agenten hatte empfinden lassen und mein Interesse weiter aufrecht hielt. War es möglich, auch die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, die für FührungsTaten verantwortlichen Menschen zu identifizieren? Zeichneten diese sich irgendwie besonders aus? Das Thema blieb für mich sperrig und faszinierend zugleich. Wo waren die Parallelen zu der Arbeit, die ich machte? Und wo waren die doch auch klar zu verspürenden Unterschiede? Konnte ich von den Methoden dieser anderen Welt profitieren? Ich musste mir also ein noch besseres Bild davon verschaffen, was diese Spezialisten eigentlich genau tun. Um es vorwegzunehmen: So einheitlich ist dieses Bild gar nicht. Es gibt nicht einmal ein einheitliches Vokabular. Schlagworte wie Profiling hört man beispielsweise in Fachkreisen der deutschen Kriminalpolizei überhaupt nicht so gerne20. Somit konnte ich nicht einfach ein fertiges Instrumentarium übernehmen. Ich musste genauer hinschauen und war bemüht, mir die Zusammenhänge zu verdeutlichen, die mich neugierig gemacht hatten. Mir wurde klar, dass es nicht das vorrangige Ziel eines Profilers ist, Verhalten psychologisch zu erklären oder die Täter-Persönlichkeit an sich zu identifizieren. Sie suchen keine Antworten darauf, warum jemand etwas getan hat oder welchen Charakter der Täter hat. Sie definieren stattdessen Kriterien einer Gruppe von Menschen, die zu einer bestimmten Tat fähig sind. Diese Haltung war mir verwandt: Ich hatte nicht die Absicht, zu beantworten, was die psychologischen Beweggründe für jemanden sind, eine Führungsaufgabe zu übernehmen. Meine Begegnungen mit vielen Hunderten von Managern hatten mir gezeigt, dass es dort keine große Einheitlichkeit zu finden gab. Und der gesamten Führungsforschung ist es bislang auch nicht gelungen, so etwas wie eine Führer-Persönlichkeit21 zu identifizieren. Bislang konnte ich also den Ansätzen der Profiler folgen. Ihnen geht es darum, nützliche Charakteristika aus Handlungen herauszuarbeiten22. Dabei gehen sie davon aus, dass menschliches Verhalten einerseits zu komplex ist, um es katalogisieren zu können, andererseits aber Vorhersagen erlaubt23. Diese Grundhaltung fand ich von Beginn an interessant, denn sie deckte sich mit meinem Menschenbild. Nur unter der Voraussetzung, dass Verhalten nicht rein situativ und zufällig ist, erweist sich die Profilerstellung als sinnvoll. In diesem Ansatz finden wir daher Annahmen über „ eine recht stabile Natur des Menschen (Zitat: „Nach all den Jahren bist du noch ganz der Alte“), „ den Bezug zu einer ganz konkreten Handlung (Zitat: „Das hätte ich mir denken können, dass du das warst“) und

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Harbort, St., Mörderisches Profil. Phänomen Serientäter, 2. Aufl., 2003, Leipzig: Militzke, S. 147 In Deutschland löst der Terminus Führer immer noch bei einigen Menschen eine Art Gänsehaut aus. Ich entschuldige mich dafür und werde ihn selten nutzen. 22 Föhl, M., Täterprofilerstellung: ein methodenkritischer Vergleich aus rechtspsychologischer Perspektive, 2001, Frankfurt/ M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 5 23 Müller, Th., Bestie Mensch: Tarnung – Lüge – Strategie, 2004, Salzburg: ecowin, S. 44 f. 21

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„ eine erfahrungsbezogene Weiterentwicklung des Verhaltens, die ebenfalls etwas über die Persönlichkeit aussagt (Zitat: „Respekt! Das machst du um Klassen besser als früher“). Profiler erarbeiten aus den Handlungen Wahrscheinlichkeitsaussagen über mögliche Verursacher. Sie grenzen also im erfolgreichen Fall den Kreis der in Frage kommenden Täter ein. Das war schon wieder interessant! Wäre das nicht ein großer Fortschritt, wenn ich aus Führungshandlungen relevante Charakteristika herausarbeiten könnte, die mir Wahrscheinlichkeitsaussagen über in Frage kommende Personen ermöglichten? In meinen Kopf entstand plötzlich das faszinierende Bild, dass ich aufgrund meiner Studien jemandem sagen könnte, dass er mit 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit der Richtige für solche Handlungen sei, während die Kollegin dies mit 85-prozentiger Sicherheit ist. Das wäre ein Meilenstein in der Auswahl von Managern. Es würde nicht mehr mit irgendwelchen Idealprofilen verglichen, die laut aktuellem Forschungsstand sowieso Unsinn waren, sondern mit seriösen Wahrscheinlichkeitsmustern, die sich auch noch in Zahlen ausdrücken ließen. Mittlerweile war ich sicher: Ich konnte von den Profilern etwas lernen. Ich erfuhr, dass diese bei ihrer Arbeit ein Protokoll über ihre einzelnen Arbeitsschritte und Schlussfolgerungen erstellten und so den Entscheidungsweg ihres Teams transparent und mögliche Unsicherheiten erkennbar machen. Das gefiel mir! Zum einen bedeutete das, es wurde nicht mit geheimnisvollen oder gar obskuren Methoden gearbeitet, die niemand überprüfen konnte, zum anderen hatten die Profiler sichergestellt, die brisante Subjektivität durch Teamarbeit einzudämmen. Sie hatten keine Angst vor Aussagen, die gewisse Unsicherheiten bargen, machten diese aber transparent. Schon immer war mir unangenehm, dass absolut objektive Feststellungen in der Managementdiagnostik oft kaum Aussagewert haben, während Erfahrungswerte ständig der Gefahr unterliegen, nicht von völlig willkürlichen Vermutungen abgrenzbar zu sein. Wenn es aber eine überprüfbare, objektive Datenbasis für Aussagen gäbe, die nicht einfach nur in richtig oder falsch unterteilt sind, sondern in Wahrscheinlichkeiten, wären wir auch an dieser Stelle einen riesigen Schritt weiter.

Die Profiler identifizieren letztlich keinen konkreten Täter. Die entscheidende Arbeit leistet weiterhin der Ermittler vor Ort24. Unwillkürlich musste ich den nicht ganz zutreffenden Vergleich zwischen unserem Team – ich sah uns mittlerweile als Management-Profiler – und den Entscheidern in den Unternehmern ziehen. Vor meinem geistigen Auge berichteten wir unserem Kunden, dass bestimmte ausgewählte Menschen für die Führungshandlungen in seinem Unternehmen in Frage kämen. Wir legten Berichte vor, die detaillierte Erklärungen und Wahrscheinlichkeitsaussagen zu jedem Kandidaten enthielten. Auf dieser Grundlage führte der Kunde Einzelgespräche und identifizierte die richtige Person. Das war zu schön, um wahr zu sein. Und ich stellte bald fest, dass es sich bei den Profilern auch nicht so elegant entwickelt hatte. Vor allem in ihrer Startzeit war die Kritik an diesem Ermittlungswerkzeug groß. Anfangs waren die verwendeten Methoden nebulös und das Vor24

Reichertz, .J, „Meine Mutter war eine Holmes“. Über Mythenbildung und die tägliche Arbeit des CrimeProfilers“, in: Musolff, C. & Hoffmann, J. (Hrsg.), Täterprofile bei Gewaltverbrechen. Mythos, Theorie und Praxis des Profilings, 2002, Berlin: Springer, S. 37-69

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gehen in der Regel unsystematisch. Es wurden mit viel Geheimniskrämerei und kaum empirischem Wissen Profile erstellt. In dieser Phase entstand der Mythos des kauzigen, leicht verrückten Profilers, der dem Täter in seine Schreckenswelt folgt. Die meisten Praktiker wollten mit so jemandem nicht zusammenarbeiten und Erfolge waren nahezu Zufall. Mit zunehmender Professionalisierung hat sich die Akzeptanz in den letzten Jahren allerdings stark ins Positive gewandelt. Wiederholte Prüfungen beim US-amerikanischen FBI und in Großbritannien belegen, dass sich die Genauigkeit der Voraussagen in der Zwischenzeit verbessert hat und mittlerweile im Durchschnitt zwischen 70 und 80 Prozent liegt. Auch das Bundeskriminalamt stellt in seinen eigenen Erhebungen dar, dass es bei der Tathergangsanalyse eine Trefferquote von 90,3 bis 92,8 Prozent, bei Täterprofilen zwischen 81,0 und 88,1 Prozent erreicht.25 Der Bedarf an Täterprofilen steigt weiter an, und mit der vermehrten Forschung sowie mit Verbreitung der computergestützten Programme nimmt auch die Effektivität der Profiler zu26. Grundsätzlich ist nicht mehr der tief in die Abgründe der Seele blickende Seher das Leitbild des Profilers, sondern der gut ausgebildete Experte. „Dabei beinhaltet aber gerade der letzte Schritt zum Täterprofil oft eine nur schwer auflösbare Mischung aus Fachwissen, Common Sense, gründlicher Fallbearbeitung, psychologisch geschulter Menschenkenntnis und Erfahrung.“27 Können wir also die Erfahrungen und Erkenntnissen der Profiler nutzen? Welche Methoden haben sich dort bewährt?

2.

Wichtige Erkenntnisse und Methoden

Von den Profilern werden insbesondere die individuellen Analysen von statistischen Ansätzen abgehoben. Rein intuitive Methoden, die nur auf persönlichen Erfahrungen des Spezialisten beruhen, werden mehrheitlich kritisiert. Im praktischen Einsatz hat sich jedoch gezeigt, dass sich diese drei Wege (individuell, statistisch, intuitiv) gut ergänzen und zu einer vielfachen Qualitätssteigerung in der Arbeit und Datensammlung führen können28.

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Musolff, C., Täterprofile und Fallanalyse. Eine Bestandsaufnahme, in: Musolff, C. & Hoffmann, J. (Hrsg.), Täterprofile bei Gewaltverbrechen. Mythos, Theorie und Praxis des Profilings, 2002, Berlin: Springer, S. 1-33 26 Föhl, M., Täterprofilerstellung: ein methodenkritischer Vergleich aus rechtspsychologischer Perspektive, 2001, Frankfurt/ M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 172 27 Reichertz, .J, „Meine Mutter war eine Holmes“. Über Mythenbildung und die tägliche Arbeit des CrimeProfilers“, in: Musolff, C. & Hoffmann, J. (Hrsg.), Täterprofile bei Gewaltverbrechen. Mythos, Theorie und Praxis des Profilings, 2002, Berlin: Springer, S. 37-69 28 Musolff, C., Täterprofile und Fallanalyse. Eine Bestandsaufnahme, in: Musolff, C. & Hoffmann, J. (Hrsg.), Täterprofile bei Gewaltverbrechen. Mythos, Theorie und Praxis des Profilings, 2002, Berlin: Springer, S. 1-33

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„ Bei individuellen Ansätzen werden keine Statistiken berücksichtigt. Nichts wird in Kategorien gepresst, weil keine zwei Personen genau gleich denken und dasselbe Verhalten völlig unterschiedliche Gründe haben kann. Nachteilig wirken sich in der Praxis für dieses Vorgehen der relativ große Aufwand und der Bedarf an hervorragend ausgebildeten Personen aus. „ Der statistische Ansatz nimmt dagegen seinen Anfang bei ähnlichen Fällen. Frühere Erfahrungen werden auf die aktuelle Situation übertragen und mögliche Schlussfolgerungen als Wahrscheinlichkeiten formuliert. Dieser Ansatz setzt voraus, dass individuelles Verhalten verallgemeinert und statistisch vorhergesagt werden kann. Er unterstellt also grundlegende Muster bei uns Menschen. Ein Vorteil dieser Methode besteht darin, dass die Anwendung kaum besonderer Fachkenntnis bedarf. Das Profil ist quasi auf Knopfdruck erstellt und kann sogar Zahlenwerte als Wahrscheinlichkeiten anbieten. Das Grundproblem dieser Methoden liegt letztlich darin, dass die absolute Einzelfallbetrachtung einen enormen Aufwand darstellt, der intuitive Ansatz kaum überprüfbar ist und die nackte Zahlenwelt der Statistiken noch lange keine Erklärung liefert. Was würde beispielsweise die Erkenntnis nützen, dass 76,3 Prozent aller Fahrerflüchtigen im Alter von 10 Jahren an den Fingernägeln kauten und 82,7 Prozent ein Paar braune Schuhe besitzen? Wir hätten hier einfach nur Zusammenhänge, von denen niemand weiß, was sie bedeuten – im schlechtesten Fall nämlich nichts. Wir könnten ja herausfinden, dass bei allen anderen Menschen in unserem Land die Werte genau die gleichen sind, auch bei Fahrradfahrern, Stelzenläufern und Fußgängern.

Eine sehr vergleichbare Sachlage finden wir in den meisten Studien über Führung wieder. Es werden irgendwelche Daten erhoben, vielleicht sogar schlicht über Fragebögen, und in Bezug zueinander gesetzt. Oft ein wertloses Vergnügen. Ihren Nutzen bekommen Daten erst, wenn es eine gute Theorie dazu gibt. Manche Fachleute äußern Thesen wie: „Der Fahrerflüchtige lebt bei seiner Mutter, ist heterosexuell und hat eine mindestens 10 Jahre alte Garage aus Backsteinen.“ Vielleicht liefern sie sogar noch bunte und spannende Erklärungen, wie sie zu dieser Schlussfolgerung gekommen sind. Das erinnert mich an manche Bücher über Führung, die man im besten Fall als unterhaltsam bezeichnen kann. Aber wer beweist, dass es so und nicht anders ist?

Wir brauchen also seriöse Theorien – und nicht irgendwelche Spekulationen. Die Profiler hatten nun die Idee, im direkten Kontakt mit den Tätern eine nachvollziehbare und bedeutsame Ordnung in die Daten zu bringen. Sie hatten dabei ein Hauptziel: Sie wollten verstehen! In aufwändigen Interviewserien in den Gefängnissen stellten sie sich dieser zweifellos sehr schwierigen Aufgabe, wenn man bedenkt, dass es nicht zwingend im Interesse der Betroffenen lag, offene und ehrliche Antworten zu geben. Die Kernfrage war: Was geht tatsächlich im Kopf dieses Menschen vor? Und vor allem auch: Weiß er das selbst? Kann er überhaupt davon berichten? Auch an der Stelle finden wir eine erkennbare Parallele zu unserem Thema: Alle Spezialisten, wie es auch erfolgreiche Führungskräfte sind, haben zumeist große

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Schwierigkeiten, ihre Gedanken und Vorgehensweisen wirklich treffsicher zu beschreiben. Diese sind schließlich nichts Außergewöhnliches für sie, sondern quasi „in Fleisch und Blut“ übergegangen. Im Laufe der Zeit und mit der Vielfalt der Studien konnte man für das Profiling immer erfolgreicher herausarbeiten, was die Qualität der Arbeit verbessern kann. Hier einige auch für uns anregende Erkenntnisse: „ Die Forschung hat klar gemacht, dass neben der Methode des Profilings auch das spezifische Fachwissen über den Deliktbereich sehr relevant ist. Was für den Fahrerflüchtigen gilt, kann völlig bedeutungslos für den Zigarettenschmuggler sein. Für uns bedeutet dies, die Methodik muss sich völlig auf das Phänomen Führung einlassen, eine einfache Übertragung von Ergebnissen wäre Unsinn. Wir brauchen absolute Führungsspezialisten bei der Entwicklung des Management-Profilings. „ Die Intuition sehr erfahrener Menschen repräsentiert eine Form des Expertenwissens, das wichtig ist. Intuitive Erkenntnisse, die nicht von der Beweislage gestützt werden, müssen aber als bloße Vermutungen dargestellt werden und sollten auch als solche gekennzeichnet sein. Wir sollten also nicht auf unser Bauchgefühl verzichten, dieses aber als solches unmissverständlich kenntlich machen und stets in objektivere Informationen umzuwandeln versuchen. „ Die Qualität des Profils ist auf das Engste mit der Qualität der zugrunde liegenden Daten verknüpft. Wir benötigen folglich aussagefähige Daten(-banken) über Führungskräfte, deren Informationen nicht in halbprofessionellen Erhebungen oder von unerfahrenen Menschen stammen. „ Eines der kriminalistischen Grundprobleme liegt darin, die Frage nach Relevanz und Irrelevanz möglicher Beweismittel und Spuren einzuschätzen. Wir müssen herausarbeiten, welche Daten und Informationen für unser Phänomen Führung wirklich bedeutsam sind. „ Wenn bei einer Profilerstellung die individuelle Methode im Vordergrund steht und die Statistik Ergänzungen bei der Hypothesenbildung liefert, lassen sich viele Risiken dieser Methoden vermeiden. Wir müssen also das konkrete Führungsverhalten im Einzelfall und seriöse statistische Informationen zusammenbringen. „ Es muss sich am Ende eine homogene Gestalt ergeben. „Werden die einzelnen Analysepunkte nicht in ein Ganzes integriert, so sind sie oft mehrdeutig und wertlos …“29 Wir benötigen Profis, die in der Lage sind, aus der Masse der Einzeldaten ein schlüssiges und glaubwürdiges Bild zu gestalten. Durch Interviews, Fallanalysen, Datenbanken, statistische Auswertungen, Intuition und Erfahrung wurden von den Kriminologen zunehmend konkretere Verhaltens- und Motivmuster für spezifische Taten identifiziert, die dann in Verbindung mit den Besonderheiten des indivi-

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Föhl, M., Täterprofilerstellung: ein methodenkritischer Vergleich aus rechtspsychologischer Perspektive, 2001, Frankfurt/ M.: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 79

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duellen Falls zur Profilerstellung genutzt wurden30. Können wir so einen praktischen, handfesten Nutzen derzeit auch von unserem Fachbereich behaupten? Da sieht die Sachlage offenbar eher schlechter aus, wenn man führenden Wissenschaftlern glauben darf.

3.

Was wir an dieser Stelle mitnehmen können

Zunächst einmal ist es offenbar sinnvoll, zwischen der handelnden Person (Manager) und ihrer Aufgabe (Führung) zu unterscheiden. Es gibt dabei nicht nur einen einzigen Weg, die Aufgabe erfolgreich zu bewältigen, sondern unterschiedliche. Der gewählte Weg sagt etwas über den Handelnden aus. Eine spezifische Führungspersönlichkeit gibt es nicht. Wir können Informationen rund um die Aufgabenerfüllung (Führung) in Datenbanken ablegen und ihre Zusammenhänge analysieren. Die Rohdaten müssen hohen Qualitätsstandards genügen, da sonst alle weiteren Schritte wertlos sind. Von den statistisch identifizierbaren allgemeinen Mustern lassen sich individuelle Muster unterscheiden. Bei der Managementdiagnostik sollten diese im Vordergrund stehen, doch die Datenbanken können uns unterstützen, Hypothesen für den Einzelfall aufzustellen. Die Verknüpfung von Statistik und Theorie sollte erfahrenen Spezialisten überlassen werden, die in der Lage sind, auch ihrer Intuition einen gewissen Raum zu lassen. Intuitive und geprüfte Aussagen müssen klar voneinander unterscheidbar sein. Letztere sollten in Form von Wahrscheinlichkeitsaussagen getroffen werden. Alle Informationen müssen zusammen ein schlüssiges Bild ergeben. Um nicht willkürlich mit den Daten umzugehen, benötigen wir eine (Führungs-)Theorie. Aus dieser lassen sich einerseits die wirklich relevanten Kategorien ableiten, für die sich die Erhebung von Daten lohnt (die Felder der Datenbank), andererseits erlaubt erst sie uns die systematische Interpretation der statistischen Analysen. Damit haben wir folgende Situation: 1. Wir benötigen eine gute Theorie, die uns sowohl die Ableitung von Kategorien für unsere Datenbank ermöglicht, wie auch die Interpretation der jeweils vorliegenden Muster. 2. Wir brauchen eine möglichst große Anzahl von Einzelfällen, um unsere Datenbank zu füllen. Die Informationen müssen höchsten Qualitätsansprüchen genügen. 3. Wir können dann die statistischen Analysen mit Hilfe unserer Theorie interpretieren und auf den Einzelfall anwenden. Wie wir bereits festgestellt haben, nützt uns zum Beispiel die Aussage, dass knapp 62 Prozent der Führungskräfte die Individualität ihrer Mitarbeiter respektieren, nicht viel. Uns fehlen sinnvolle Vergleiche. Die Information wäre nämlich schon deutlich interessanter, wenn man 30

Füllgrabe, U., Psychologische Täterprofile. Das Modell des Federal Bureau of Investigation – FBI, in: Kriminalistik 5, 1993, S. 297-305

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wüsste, dass in einer bestimmten Gruppe von Managern diese Zahl nur noch bei 34,5 Prozent liegt. Was denken Sie, was diese bestimmte Gruppe auszeichnet? Ich wage die These, dass viele von Ihnen hier falsch liegen. Habe ich Ihre Neugier ein wenig geweckt?31 Neben solchen Vergleichen fehlt uns zum anderen die brauchbare Theorie. Wir haben bereits zu Anfang unserer Überlegungen festgestellt, dass es eine solche derzeit für das Phänomen Führung nicht zu geben scheint. Gleichzeitig habe ich versprochen, mit Ihnen gemeinsam zu prüfen, inwieweit uns die Evolutionspsychologie an dieser Stelle helfen kann. Ich bin überzeugt, Ihnen hier interessante Zusammenhänge zeigen zu können. Kommen Sie mit? Begleiten Sie mich weit, weit in unsere Geschichte zurück.

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Diese Daten stammen aus unserer Management-Profiling-Datenbank mit weit über 100.000 Daten. Die spezielle Gruppe von Führungskräften ist die, die in ihrer Rolle akzeptiert wird. Verblüffend, nicht wahr? Wirklich spannend wird es, wenn wir nun eine sinnvolle Erklärung für dieses statistische Ergebnis finden wollen. Also los!

Führung ist natürlich

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Führung ist natürlich

„Während allgemein akzeptiert ist, dass Gene etwas damit zu tun haben, dass eine Hunderasse freundlicher (oder bösartiger) ist als eine andere, sträuben sich selbst manche Wissenschaftler gegen die Vorstellung, dass sie prägend auf unser Denken und Handeln einwirken.” Gary Marcus, Psychologieprofessor

„Mit scheinbar übernatürlichen Fähigkeiten kann er voraussehen, wie die Tiere sich verhalten werden, und das macht ihn in der Sippe beliebt. Schon frühzeitig – mit ungefähr fünfzehn Jahren – wird er zum allgemein anerkannten Anführer der kleinen Gruppe. Unter seiner Leitung hat der Trupp immer genug zu essen, und es geht allen gut.“32 Das ist keine sentimentale Beschreibung eines Romanautors. So stellt sich der Populationsgenetiker Wells die Geburtsstunde der Intelligenz vor rund 70.000 Jahren in Afrika vor. Hört sich diese Beschreibung nicht gleichzeitig nach einem ganz normalen Führungswechsel an? Und weckt eine solche kleine Geschichte nicht ein wenig Sehnsucht in uns nach Geborgenheit, Sicherheit und Zufriedenheit? Den Geburtsmoment des Phänomens Führung für die Menschheit auf ein bestimmtes Datum zu legen, ist natürlich Unsinn. Aus meiner Perspektive fällt es allerdings schwer, Autoren zu folgen, die meinen, Management sei geschichtlich gesehen noch sehr jung, keine hundert Jahre alt, und der größte Teil der Entwicklung falle in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.33 Ist es vorstellbar, dass die Gruppe von Vorfahren (wohl 20 bis 30 Individuen), die vor mindestens 350.000 Jahren über mehrere Generationen hinweg in Deutschland nahe Erfurt drei Hüttenplätze, „Werkstattzonen“ und einen „Schlachtplatz“ bewohnte, in dieser Zeit mehr als 1.000 Tiere jagte und verzehrte (darunter Nashörner, Hirsche, Biber, Waldelefanten, Höhlenlöwen, Wildschweine), und dabei ohne Führung und Management auskam?34 Aus meiner Sicht lautet die Antwort eindeutig: nein!

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Wells, S., Die Wege der Menschheit. Eine Reise auf den Spuren der genetischen Evolution, 2003, Frankfurt/ M.: Fischer, S. 135 33 Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S. 9 34 Engeln, H., Wir Menschen. Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen, 2004, Frankfurt/ M.: Eichborn, S. 89 ff.

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In dem Ur-Moment, in dem gut geführte Gruppen erfolgreicher ihr Überleben managen konnten als schlecht oder gar nicht geführte Horden, erlebte das Phänomen Führung seine evolutionäre Geburtsstunde. Seither hat es sich mit uns, unseren Genen und Gehirnen weiter entwickelt. Um es vorwegzunehmen: Ich bin überzeugt, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen einzelnen Genen und konkretem Führungsverhalten gibt, da solche Beziehungen auch zu anderen komplexen Verhaltensweisen nicht zu finden sind. Erfolgreiche Führungskräfte sind damit wohl kaum über ihre Gene zu identifizieren. Den „geklonten Erfolgsmanager“ wird es nicht geben! Allerdings spielt konkretes Führungsverhalten für unseren Ansatz auch gar keine Rolle! Der Forschung ist es ja, wie wir bereits gesehen haben, bis heute auch nicht gelungen, das Phänomen Führung überhaupt an bestimmten Verhaltensweisen festzumachen. Was wäre, wenn es gar nicht um konkretes Verhalten ginge? Was wäre, wenn der Zusammenhang zwischen unserem evolutionären Erbe und dem Phänomen Führung ganz anders aussähe?

1.

Die Evolution definiert Verhaltenswahrscheinlichkeiten

Für viele von uns ist die Überzeugung sehr wichtig, frei und unbeeinflusst, rein rational und den aktuellen Erfordernissen entsprechend, entscheiden und handeln zu können. Entspricht dieses Bild und Selbstverständnis nicht auch dem des erfolgreichen Managers, der in einsamen, heroischen Momenten das Schicksal der Massen bestimmt? Möchten Sie ein Opfer Ihrer Gene sein? Gleichzeitig ist es allerdings erstaunlich, dass allgemein akzeptiert wird, dass Gene etwas damit zu tun haben, dass eine Haustierrasse kinderlieber ist als eine andere, während wir uns gegen die Vorstellung sträuben, dass sie auch Einfluss auf unser Denken und Handeln nehmen könnten. Sollten Gene hier selbständig zwischen verschiedenen Säugetieren unterscheiden? Ich denke, wir können uns damit abfinden: Wir sind nicht ganz so frei, wie wir vielleicht gern wären! Wenn wir ein wenig achtsam und bewusst durch die Welt gehen, wissen wir, dass wir in verschiedensten Situationen nicht gut „aus unserer Haut können“. Unser Verhalten unterliegt Gesetzmäßigkeiten, die durchaus auch etwas mit unseren Genen zu tun haben! Und für Führungsverhalten gilt dies auch! Auch wenn es keine einfache Zuordnung zwischen Genen, Hirnarealen und Handlungen gibt. Es kann zum heutigen Stand der Erkenntnis ausgeschlossen werden, dass konkretes Verhalten in Genen gespeichert ist. Wie können wir uns aber dann einen solchen Zusammenhang vorstellen?

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Menschen sind keine Automaten, die einfach nach dem Schema „wenn …, dann …“ funktionieren! Und auch ein noch so ausgefeiltes Wissen um unsere evolutionärpsychologischen Gemeinsamkeiten würde es uns noch lange nicht ermöglichen, individuelles Verhalten fehlerfrei vorherzusagen. Aber ein solches Wissen erlaubt uns durchaus Wahrscheinlichkeitsaussagen. Wenn Sie bei nächster Gelegenheit auf der Straße den ersten zehn Menschen, die Ihnen begegnen, eine kräftige Ohrfeige geben, kann ich Ihnen nicht genau sagen, was deren Reaktion sein wird. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Sie einen Schlag zurückbekommen, eine Anzeige erhalten oder Ihr Gegenüber vor Schreck erstarrt, ist größer, als dass Sie mit einem Kuss zu rechnen haben. Wobei selbst das im Einzelfall denkbar wäre. Menschen sind manchmal auch merkwürdig und haben unterschiedlichste Vorlieben. Wir können uns als Wahrscheinlichkeitswesen verstehen. Wenn Menschen keine Automaten sind, dann gibt es natürlich auch keine unfehlbaren Verhaltenstipps oder Führungswerkzeuge. Hatte unsere Entwicklungsgeschichte Einfluss auf solche Wahrscheinlichkeiten? Evolutionäre Psychologen gehen genau davon aus, weil bestimmte Verhaltensweisen ein häufig wiederkehrendes Überlebensproblem lösen konnten. Sie nennen das Adaption35. Ich möchte in diesem Zusammenhang von unserem Autopiloten sprechen. Es erscheint mir glaubwürdig, dass unser Autopilot eine Grundausstattung von arttypischen Programmen enthält und nicht völlig inhaltsleer und strukturlos bei unserer Geburt war. Ein unterhaltsamer Forscher36 prüfte die Vorstellung vom Gehirn als leerem Blatt Papier, indem er in einem Bürobedarfsladen ein solches kaufte und es ein paar Wochen lang auf seinem Schreibtisch liegen ließ. Wollen Sie wissen, was dann geschah? Er schildert seine Erfahrung so: „Und ich sprach mit ihm und sang ihm etwas vor. Ich bat es, alles mögliche zu tun. Ich gab ihm zu essen, ich gab ihm zu trinken, ich las ihm aus den Werken von Descartes vor, gab ihm die Werke von Freud, ich versuchte es zum Sprechen zu bringen, ich versuchte, es auf einen Spaziergang mitzunehmen. Ich legte es in mein Auto, um zu sehen, ob es das Meer und die Berge erkennen könne.“ Das Blatt konnte nichts von alledem.

Heute ist anerkannt, dass wir nicht unbeschrieben auf die Welt kommen. Zweifellos ist es kein Zufall, dass wir beispielsweise eher eine übertriebene Angst vor Spinnen entwickeln als eine 100 Euro-Schein-Phobie? Warum streben wir eher nach dem Gefühl der Geborgenheit als nach dem der Orientierungslosigkeit? Warum meiden Kleinstkinder gefährliche Abgründe und greifen zu, wenn man die Innenfläche ihrer winzigen Hand berührt? Sicherlich könnten Sie viele ähnliche Fragen oder entsprechende eigene Erfahrungen aufzählen. Wir kommen nicht völlig leer auf diese Welt – allerdings auch nicht fest verdrahtet. Wir sind keine fertige Hardware, die bis zu ihrem natürlichen Ende auf vorgegebenen, unabänderlichen Wegen in ihrer Umwelt ihr Dasein fristet. 35 36

Williams, G. C., Adaption and natural selection, 1966 Ornstein, R., Evolution des Bewusstseins, 1996, Freiburg: VAK, S. 107

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Unser evolutionäres Erbe besteht nicht aus einzelnen, starren Reaktionsmustern, sondern aus psychischen Mechanismen. Diese legen uns bestimmte (Re-)Aktionen nahe, sie geben uns sozusagen Verhaltensempfehlungen. Auch unser Alltagsverhalten zeigt uns, dass es durchaus irgendeinen Bezug zwischen unserer biologischen Natur und unserem Verhaltens geben muss. Wenn wir beispielsweise unser Frühstücksei salzen, erhöht dies zweifellos nicht unmittelbar unseren Fortpflanzungserfolg. Viele Menschen auf der Erde könnten wohl auch nicht genau erklären, wozu Salz für unseren Organismus gut sein soll. Und es wird auch kein „Streu-Salz-auf-dein-Frühstücksei-Gen“ geben. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen Salz nutzen, relativ hoch. Sie tun dies nicht, weil sie es mühsam anerzogen bekommen haben, sondern weil sie es schlicht und einfach mögen. Die Evolutionspsychologie versucht, unser arttypisches Mögen besser zu verstehen. Diese Sicht unterwirft uns nicht genetischen Zwängen, schließlich können wir durchaus auf das Salz verzichten, wenn wir uns dazu entscheiden und die entsprechende Willenskraft besitzen. Es kann also ein Autopilot vermutet werden, der Verhaltensmuster mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten bereithält. Natürlich ist uns dabei nicht exakt aufgezwungen, was wir konkret und im Einzelfall zu tun haben. Vermutlich konkurrieren in verschiedenen Situationen sogar unterschiedliche Impulse in uns um ihre Verwirklichung. Wir erleben dann unsere innere Zerrissenheit, zwei Seelen in einer Brust, unsere psychischen Konflikte. Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass sich unser Autopilot vielleicht überstimmen, nicht aber ausschalten lässt. Die Impulse unseres Autopiloten nehmen ähnlich auf uns Einfluss, wie beispielsweise unsere (schlechten) Gewohnheiten. Natürlich können wir – auch wenn es uns sehr schwer fallen mag – anders als üblich reagieren oder die Impulse ablehnen. Entkommen können wir diesen Kräften aber nicht! Vielleicht gehören Sie auch zu den Menschen, die gerne einmal etwas Süßes oder Deftiges essen, Kaffee mögen oder auch das eine oder andere Glas Bier. Dann wissen Sie vermutlich, dass es gar nicht so einfach ist, an diesen Stellen konsequent „nein“ zu den inneren Impulsen zu sagen. Wir haben an vielen Dingen Spaß und auf vieles Lust, was sich aus unserer Evolution gut begründen lässt. In diesem Zusammenhang ist es gleichzeitig interessant, dass wir Menschen unseren Glauben an die eigene Willensfreiheit offensichtlich sehr mögen. Verblüffenderweise unterliegt aber selbst hier unser Verhalten Mustern: Behauptet jemand, genau zu wissen, was wir als Nächstes tun werden, und beschreibt er dies dann detailliert, verspüren wir den Impuls, etwas anderes zu tun. Und natürlich können wir es zumeist auch. Aber mögen wir es immer? Wie oft haben wir in unserem Leben wohl aus Trotz etwas getan, obwohl wir uns eigentlich lieber anders verhalten hätten?

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Die Evolutionstheorie definiert für das menschliche Verhalten weder genetische Zwänge noch die Unmöglichkeit einer Veränderung, wie teilweise fälschlich unterstellt wird. Gerade das Wissen unserer im Laufe der Zeit entstandenen „Muster“ zusammen mit dem Wissen um die Einflüsse, die deren Aktivierung bewirken, kann uns mehr Macht geben, unser Verhalten zu steuern. Es wäre absoluter Unsinn, unser gesamtes Verhalten aus der evolutionären Perspektive zu betrachten. Wir treffen zweifellos auch situative, ethische oder strategische Entscheidungen und verfügen zusätzlich über gelernte Muster (Gewohnheiten). Wir entwickeln in unserem Leben einen Individual-Autopiloten, der wohl aber selten generellen Mustern widerspricht. Wir äußern in diesem Zusammenhang dann, „nicht aus unserer Haut zu können“. Oft ist uns völlig klar, dass es kindisch ist, wie wir gerade reagieren, tun es aber dennoch. „So bin ich halt.“ Versucht gar jemand, uns zu ändern, reagieren wir (– selbst, wenn es zu unserem Besten wäre) spontan mit Widerstand. So frei sind wir Menschen offenbar nicht. Eine spannende Frage lautet also: Womit können wir rechnen, selbst wenn wir jemanden kaum oder gar nicht kennen? Die Aussage, dass wir mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen müssen, dass jemand auf unser eigenes Verhalten aggressiv reagiert, kann sehr wichtig sein. Probieren Sie es bitte lieber nicht aus. Das mit den Wahrscheinlichkeiten kommt Ihnen zu abstrakt vor? Wenn es im Wetterbericht heißt, die Regenwahrscheinlichkeit betrage heute 30 Prozent, dann bedeutet das weder, dass es in 30 Prozent der Region regnet, noch wird über die Regenintensität gesprochen. Ich habe mich früher gefragt, was ich mit einer solchen Aussage überhaupt anfangen soll. Dann hat mir ein netter Mensch erklärt, was das bedeutet: Die Meteorologen weisen uns darauf hin, dass es in der Vergangenheit unter vergleichbaren Bedingungen in 30 Prozent der Fälle regnete. Das schützt mich nicht davor, unter unglücklichen Umständen nass zu werden oder den Schirm unnötig mit mir herumzutragen. Aber es könnte eine Entscheidungsgrundlage dafür sein, ob ich die Grillparty stattfinden lasse oder sie absage. Wenn ich entsprechend bei einer Personalentscheidung die Aussage treffen könnte, die Führungserfolgswahrscheinlichkeit einer Person läge bei 30 Prozent, wäre dies ebenfalls eine sehr wertvolle Information, nicht wahr? Dieser Gedanke trug nicht unwesentlich dazu bei, dass wir in unserem Beratungsteam die Methode des CST-Management-Profilings entwickelten. Doch dazu später. Alle heutigen Erkenntnisse sprechen dafür, dass die komplette Entwicklung unserer Vorfahren stets in einem sozialen Umfeld stattgefunden hat. Eine Reihe von Wissenschaftlern betrachtet Gemeinschaft und Kooperation sogar als Basis des Lebens an sich, die schon unmittelbar nach dessen Entstehung ihren Auftritt auf der Bühne der Evolution hatten37. Ich gehe davon aus, dass unser Autopilot schon deshalb massiv auf soziale Situationen eingestellt ist, weil es grundsätzlich schwer vorstellbar erscheint, wie sich ein einsames Urwesen unserer

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Fortey, R., Leben. Eine Biographie, 2002, München: DTV, S. 78

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„Kategorie“ nicht nur erfolgreich durch sein Leben kämpfte, sondern auch noch einen Weg der reichlichen Vermehrung fand. Unsere Vorfahren entwickelten sich in Gruppen und waren aufeinander angewiesen, um zu überleben und sich fortzupflanzen. Aufgrund dieser bereits ewig währenden Entwicklung in Gruppen werden im sozialen Miteinander wohl evolutionspsychologische Muster zu entdecken sein. Unsere geistigen Strukturen sind in all den Jahrtausenden so sehr darauf ausgerichtet worden, durch die Brille sozialer Bedeutung zu sehen, dass beispielsweise Krabbelkinder ein einfaches Wechselspiel zwischen zwei unbelebten Objekten als eine soziale Handlung mit Zielen, Wünschen und Absichten interpretieren38. Wenn ein großer Ball gegen einen kleinen stößt und dieser fortrollt, hat der „böse Große den Schwächeren vertrieben“. Es fällt uns auch schwer, den „Gesichtsausdruck“ von Tieren nicht zu interpretieren: Wir sehen hochnäsige Kamele, stolze Adler und eiskalte Schlangen. Was mögen wir erst alles in die Frontpartie unserer Nachbarn und in die Mimik unserer Chefin hinein interpretieren? Unser Autopilot sorgt dafür, dass wir das Geschehen sozial interpretieren, ihm einen Sinn verleihen. Der Impuls ist so stark, dass er Zufall in Bedeutung verwandeln kann. Eine versehentliche Berührung oder ein längerer Blick zwischen einem fremden Mann und unserer Frau kann unmittelbar einen eifersüchtigen Impuls bei uns auslösen. Zwei tuschelnde Mitarbeiter, die sich in dem Moment trennen, als wir eintreten, lässt unsere Phantasie Überstunden machen. Ein im Spiel versunkenes Kind scheint unsere Autorität in Frage zu stellen, weil es nicht auf unsere Aufforderungen reagiert. Gönnen Sie sich den Spaß: Gehen Sie einfach unter Menschen. Ihr Autopilot übernimmt gerne die unterhaltsame Interpretation für Sie. Glauben Sie, Sie könnten nun Ihr weiteres Denken und Handeln von den unmittelbaren Verhaltensempfehlungen und automatischen Interpretationen unbeeinflusst lassen? Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Sie im gerade beschriebenen Beispiel ein Impuls der Zuneigung und Fürsorge für den fremden Rivalen durchfährt und Sie ihn fragen, ob man nicht einmal gemeinsam in den Urlaub fahren sollte? Ist Ihr Verhalten in dieser Situation völlig unvorhersehbar, folgt es keinen Prinzipien und Wahrscheinlichkeiten? Und sind wiederum diese absolut individuell und innerhalb eines kleinen Lebens gelernt, nur Zeichen Ihres ganz persönlichen Stils? Das erscheint doch sehr unwahrscheinlich, finden Sie nicht? Ich stelle mir die ganze Sache so vor: Die Evolution hat uns mit (damals) sinnvollen Wahrnehmungsmustern ausgestattet. Schließlich war es Voraussetzung für unsere erfolgreiche Fortpflanzung, mögliche Gefahren oder auch Nahrung schnell zu registrieren. Je stärker der entsprechende An-Trieb (z. B. Angst oder Gier), desto rascher kam es über dazugehörige Verhaltensimpulse zur „vorbelegten“ Handlung (z. B. Flucht oder Übergriff). Auch heute sprechen wir noch von geringerer Verantwortung des Handelnden, wenn er im Affekt rea38

Allman, W. F., Mammutjäger in der Metro. Wie das Erbe der Evolution unser Denken und Verhalten prägt, 1999, Berlin: Spektrum, S. 73 ff.

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giert. Aber auch unsere Intuition meldet sich an dieser Stelle mit Anregungen. Widerstehen wir diesen ersten Impulsen, dann tun wir als Nächstes in aller Regel das, was wir in ähnlichen Situationen schon immer getan haben. Die Evolution hat uns darauf vorbereitet, die Dinge, die sich bewährt haben oder von der Realität nicht direkt bestraft wurden, beizubehalten. Wir bleiben daher zumeist berechenbar. Unseren Gewohnheitsmustern zu entkommen, ist schwierig. Fragen Sie nur einmal einen Raucher. Es verlangt einen (mentalen) Aufwand, mit unserem Verhalten über Gewohnheitsmuster hinauszugehen. Die Natur sieht einen solchen Aufwand nur dann vor, wenn es nötig ist und sich lohnt. Genau deshalb sind wir die häufigste Zeit unseres Lebens im Modus des Autopiloten. Halten wir nun den in uns entstehenden Verhaltensempfehlungen stand, ohne darauf zu reagieren, erleben wir unsere inneren Kämpfe. Setzen Sie sich einfach einmal 20 Minuten ruhig in einen Sessel, schalten Sie alle Ablenkungen aus und hören Sie dem verrückten Durcheinander in Ihrem Kopf zu. Ich verspreche Ihnen, Sie werden schon nach verblüffend kurzer Zeit Impulse verspüren, dem auszuweichen: Ihnen fallen Dinge ein, die jetzt direkt erledigt werden müssen, Ihr Verstand flüstert Ihnen zu, dass dies eine blöde Übung ist, die Ihnen nur Zeit stiehlt, es kommen Gedanken hoch, die Sie nicht gerne haben usw. Unser Autopilot will seine Vorherrschaft zurück! In diesem Modus kommt es zu halbbewussten Aktionen, die immer noch unseren Mustern entsprechen, aber uns in ihrer Bedeutung klarer sind. Haben Sie die 20 Minuten ohne Reaktion auf Ihre Impulse ausgehalten? Dann wird es bald ruhiger in Ihrem Kopf. Es beginnt ein wenig Freude zu machen, aus dem Gehetze des Alltags ausgestiegen zu sein. Wir bekommen etwas Abstand von unserem „eigenen Film“ und unsere Gedanken klären sich. In diesem Modus kommt es zu stimmigeren Handlungen, die nun mehr den realen Erfordernissen entsprechen als unseren eigenen Mustern. Haben Sie noch innere Ruhe? Dann warten Sie doch auf das, was nun bald kommen wird: Ihre kreativen Gedanken. Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass diese eher in entspannten Situationen auftauchen als unter Druck? Meine besten Ideen habe ich bei längeren Autofahrten, friedvollen Frühstücken und bei genüsslichen Lesestunden. Ich kenne Freunde, die hier die Phase vor dem Einschlafen und das Duschen nennen würden. Erst jetzt besteht die Chance zu wirklich neuen Wegen. Und glauben Sie mir, Sie funktionieren grundsätzlich nach den gleichen Prinzipien. Zurück zu unserem Ausgangspunkt: Wir sind also Sozialwesen. Dieser Feststellung werden die meisten Menschen wohl ohne weiteres zustimmen können. Aber das ist noch nicht alles. Wir sind sogar von Natur aus nett. Sie haben sicherlich sofort einige Gegenbeweise aus Ihrem eigenen Umfeld für diese Behauptung parat. Aber überprüfen Sie diese doch einfach einmal unvoreingenommen: Machen Sie eine Woche lang eine Strichliste, wie viele freundliche Begegnungen Sie haben – und wie viele unangenehme. Vorausgesetzt, Sie sind selbst freundlich und führen Ihre Statistik nicht in erster Linie über Menschen, die außergewöhnlichen Belastungen unterworfen sind, werden Ihre Ergebnisse meine Aussage sicherlich bestätigen.

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„Wir brauchen die freundlichen Neigungen, persönliche Beziehungen zu entwickeln, dem Menschen nicht erst mühsam anzudressieren. Der Mensch ist dem Mitmenschen grundsätzlich von Natur aus auch freundlich zugewandt.“39 Das soll nicht darüber hinweg täuschen, dass unsere Artgenossen in uns auch Fluchtimpulse und Aggression auslösen. Da wir beispielsweise wissen, dass Kinder einen Unbekannten auch dann scheuen, wenn sie nie zuvor schlechte Erfahrungen mit Fremden sammelten, dürfen wir annehmen, dass sie dabei angeborenermaßen auf bestimmte Merkmale des Mitmenschen mit Furcht reagieren. Selbst taubblind geborene Kinder fremdeln in einem bestimmten Alter. Zudem lösen Belastungen und besondere Herausforderungen auch Muster aus, die uns auf Kampf und Flucht vorbereiten. Sprechen Sie nur einmal freundlich einen Mitmenschen an, der kurz vor einer sehr anstrengenden Prüfung, vor einem bedeutsamen Vortrag vor Hunderten von Zuhörern oder einem bedrohlichen Boxkampf steht. Wäre es gerecht, seine vermutlich eher kurz angebundene, wenig achtsame Reaktion als Unhöflichkeit zu interpretieren? Über die längste Zeit seiner Geschichte lebte der Mensch in relativ geschlossenen, kleinen Gruppen mit vertrauten Personen. Vor denen musste er kaum Angst haben. Heute leben viele von uns in anonymen Gesellschaften, in denen die meisten Mitmenschen, denen wir im Alltag begegnen, Fremde sind. Angst auslösende Signale kommen hierbei wohl deutlicher zur Wirkung, und es spricht einiges dafür, dass unser aller Verhalten sich in Richtung Misstrauen verschiebt. Die Scheu des Menschen vor dem Mitmenschen gehört ebenso zu den Universalien wie unsere grundsätzliche Fähigkeit, freundlich zu sein. Und beide beeinflussen unser soziales Zusammenleben entscheidend. Das Miteinander war von Beginn an nicht problemlos. Wir wurden zwar schon immer automatisch in eine Gruppe hineingeboren, andererseits bleiben wir dadurch beispielsweise nicht ebenso zwangsläufig darin. Angesichts der Tatsache, dass das Verbleiben in der Gruppe (die soziale Akzeptanz) für das Überleben und Fortpflanzen dringend notwendig war, könnte die Selektion einen Mechanismus gefördert haben, der ein Individuum dazu befähigt, die Akzeptanz anderer wahrzunehmen und das eigene Verhalten entsprechend zu steuern. Finden wir hier ein weiteres Muster? Es wird vermutet, dass unser Selbstwertgefühl ein subjektives Messinstrument für die Einschätzung durch andere Menschen ist. Für die Ursprünglichkeit dieses Gefühls spricht auch dessen überkulturelle Unausweichlichkeit, seine nahezu automatisiert Verhalten steuernde Funktion und unsere verblüffende Abhängigkeit davon. Ist es nicht faszinierend, was wir alles tun, um unser Selbstwertgefühl zu schützen oder gar zu steigern? Und ist es nicht ebenso beeindruckend, wie unendlich gnadenlos wir mit den Menschen umgehen, die unser Selbstwertgefühl (vielleicht nur versehentlich) verletzt haben? Und wenn wir selbst es verletzen, töten wir uns sogar hin und wieder. Was für ein mächtiges 39

Eibl-Eibesfeldt, I., Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, 5. Auflage, 2004, München: Piper, S. 253

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Phänomen, nicht wahr? Gleichzeitig wird ein unrealistisch hohes Selbstwertgefühl (Arroganz, Hochnäsigkeit, Überheblichkeit etc.), also das Überschätzen der eigenen Bedeutung für die Gruppe, von dieser bestraft beziehungsweise korrigiert. Man holt uns „auf den Boden der Tatsachen“ zurück. Wir sind zumeist bereit, dies auszuhalten, auch wenn niemand die damit verbundenen Gefühle liebt. Das Leben in der Gruppe scheint uns – zumindest „durchschnittlich“ – gut zu tun. Moderne Studien liefern in diesem Zusammenhang interessante Ergebnisse: Organisationsmitglieder, die Teil einer harmonisch eingespielten Arbeitsgruppe sind, werden gewöhnlich seelisch, geistig und körperlich mit den Arbeitsbedingungen besser fertig. Sie erleben weniger Frustration, sind zufriedener, klagen seltener über Stress, sind seltener krank und kündigen auch weniger oft als diejenigen, die als Außenseiter keiner Gruppe angehören40. Offensichtlich sind wir bemüht, Bestandteil einer Gemeinschaft zu bleiben, und übertragen dazu auch bereitwillig einen Teil unserer Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Organisation. Wie beispielsweise Teamsportarten zeigen, kooperieren Menschen auch zum Spaß. Wir mögen es. Trotzdem sind wir keine perfekten Kooperationspartner. Die Evolution hat mit der Kooperationsfähigkeit unseren wertvollen egoistischen Impulsen nur einen weiteren „Nutzenbringer“ zur Seite gestellt. Sie sah keine Notwendigkeit, den Mechanismus des Eigennutzes zu eliminieren – zumindest bislang. Wie Studien belegen konnten, ist einer der wichtigsten kooperationsfördernden Faktoren weder Freundschaft und Vertrauen noch das Vertragswesen, sondern der „Schatten, den die Zukunft wirft“41. Möglicherweise liegt eine Wurzel kooperativen Verhaltens darin, dass unsere Vorfahren wussten, dass sie mit ihren Handelspartnern Tag für Tag zusammen lebten. Mit dem Satz „Man sieht sich immer zwei Mal im Leben“ weisen wir heute noch darauf hin, dass wir um die Sinnhaftigkeit kooperativen Verhaltens wissen. Trotz der nachweisbaren Vorteile ist erfolgreiches Arbeiten in Gruppen für den Einzelnen keine naturgegebene Selbstverständlichkeit. Interne Prozesse wie Zusammenhalt, Kommunikation oder Umgang mit Konflikten gelten in allen Gruppentheorien als Einflussfaktoren der Effektivität. Und ich werde zeigen, dass auch dem Phänomen Führung in diesem Zusammenhang eine herausragende Funktion zukommt. Gerne in Teams zu arbeiten, heißt keinesfalls, dass man es auch gut kann. Und eine Arbeit gemeinsam angehen zu können, bedeutet auch nicht, dass es manchmal nicht alleine besser ging. Die Evolution hat nie geäußert, dass die Gruppe bei allem erfolgreicher ist – ein Team-Dogma wäre für sie absurd! Heute ist nachgewiesen, dass bei Gruppenarbeiten nicht bei allen Aufgaben 1 + 1 = 3 ist, sondern manchmal nur 1,5. Ich spreche in diesen Momenten gerne von „Synergie(d)effekten“. Schwächen und Gefahren der Gruppe sind z. B. die Illusion der Unangreifbarkeit, der Druck der Gruppen-

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Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, S. 417 Allman, W. F., Mammutjäger in der Metro. Wie das Erbe der Evolution unser Denken und Verhalten prägt, 1999, Berlin: Spektrum, S. 109

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meinung oder die Gefahr des sozialen Faulenzens42. Ursprünglich ging es der Natur allein um die Frage, ob sich das gemeinschaftliche Lebensmodell – im Spannungsfeld von Distanz und Nähe, von Konkurrenz und Kooperation – evolutionär bewährt. Das hat es wohl. Die Selektion wird die Kompetenz gefördert haben, die Fähigkeiten anderer zu beurteilen43 – schon allein deshalb, weil es eine unsinnige Strategie wäre, in jedem Kampf mit einem anderen Individuum an die eigenen Grenzen der Belastbarkeit zu gehen. Wir sind aufeinander bezogen, machen uns über einander Gedanken und sind allesamt von Natur aus Gedankenleser: Regelmäßig versuchen wir, das Verhalten anderer zu verstehen, indem wir uns (nicht immer bewusst) vorstellen, was sie erreichen wollen, wie sie sich fühlen und was sie wohl denken. Die Gabe des Menschen, sich in andere hineinzuversetzen, stellt offenbar eine spezifische Eigenschaft des Gehirns dar, die unabhängig von anderen geistigen Aktivitäten funktioniert, die mit „klassischer Intelligenz“ in Zusammenhang stehen44. Ohne die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen (Einfühlungsvermögen), wäre die menschliche Kultur nicht möglich gewesen, denn diese Gabe spielt auch beim Lehren eine große Rolle. Einige Evolutionstheoretiker gehen sogar davon aus, dass erst unser menschliches Gehirn zu diesen hochkomplexen Einfühlungsprozessen fähig wurde – und unserer Art damit den bisherigen Erfolg ermöglichte. Noch etwas anderes hat die Natur clever eingerichtet: Erfolg lohnt nicht nur für die Gemeinschaft als Ganzes. Er lohnt auch für die einzelnen Gruppenmitglieder, die sich bei der Aufgabenbewältigung hervortun. Eine Form der Belohnung ist beispielsweise der soziale Rang innerhalb der Gruppe. Soziale Akzeptanz und das für uns so immens wichtige Selbstwertgefühl sind eng miteinander verwandt. Es gibt wenig Dinge, die uns länger beeinflussen als soziale Kränkungen. Manche Kulturen haben daher dramatische Regelwerke um das „Bewahren des Gesichts“ oder rund um die „Ehre“ geschaffen. Status, Rang, Ehre und Ansehen werden in allen bekannten Gruppen auf verschiedene Weise verliehen. Empirische Untersuchungen bestätigen, dass sich Status- und Kompetenz-Hierarchien sehr schnell bilden. Buss formuliert gar: „Sollte es einen vernünftigen Anwärter für ein universales menschliches Motiv geben, so stünde das Streben nach Status ganz oben auf der Liste.“45 Es gibt in diesem Zusammenhang Hinweise darauf, dass einerseits Unterlegene schnell eine dominante Stellung einnehmen, wenn sich die Gegebenheiten ändern. Haben Sie einmal erleben dürfen, wie sich manche Menschen verändern, wenn sie Führungsverantwortung übertragen bekommen? Führende Gruppenmitglieder wehren sich andererseits erkennbar,

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Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5., vollst. überarb. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, S. 431 ff. 43 Buss, D. M., Evolutionäre Psychologie, 2004, S. 449 44 Allman, W. F., Mammutjäger in der Metro. Wie das Erbe der Evolution unser Denken und Verhalten prägt, 1999, Berlin: Spektrum, S. 84 45 Buss, D. M., Evolutionäre Psychologie, 2004, S. 447

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wieder in eine unterlegene Position zu gehen. Auch hier haben Sie sicherlich praktische Beispiele vor Augen, nicht wahr? Weil ehemalige Führer aufgrund dieser Verhaltensmuster ein massives Konfliktpotenzial darstellen, haben frühe Gruppen sie bei einem Machtwechsel aus der Gemeinschaft ausgestoßen oder sogar getötet. Grundsätzlich scheinen unterschiedliche Positionen, Rollen und Beziehungsmuster in Gruppen quasi automatisch zu entstehen. Immer wieder lassen sich in Studien identifizieren: „ Führende, Sprecher und Repräsentanten einer Gruppe: Diese fühlen sich Handlungen verpflichtet, die eine gemeinsame Sache nach vorn bringen beziehungsweise mit Hilfe derer man gemeinsame Ziele erreicht. Dabei konzentrieren sie sich darauf, effektiv zu arbeiten.46 „ „Experten“: Diese haben aufgrund besonderer Fähigkeiten eine ebenfalls herausgehobene Rolle innerhalb der Gruppe „ „Normale“ Mitglieder, Mitläufer und Helfer. „ Außenseiter, Prügelknaben und Sündenböcke: Diese leben quasi „am Rande“ der Gruppe und haben trotz geringer Integration eine Aufgabe für den Gruppenzusammenhalt zu erfüllen. Diese Rollen sind nicht mit Persönlichkeiten zu verwechseln. Es gibt den oft zitierten Führertyp oder den Prügelknaben an sich nicht. So mancher ehemalige Außenseiter aus Grundschulzeiten ist ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft geworden – und die „Schulhof-Führungspersönlichkeit“ von damals wirkt vielleicht nur noch peinlich.

Rollen entstehen im jeweiligen Sozialzusammenhang oft neu – vermutlich aber unter bestimmten Rahmenbedingungen nahezu unausweichlich. In Notzeiten beispielsweise bilden sich selbst in grundsätzlich sehr liberal-demokratisch geführten Völkergruppen straffe Hierarchien. In Kleingruppen bilden sich solche Rollensysteme, wenn rasche Entscheidungen gefordert werden und wenn eine Gruppe eine Aufgabe zu bewältigen hat. Was bedeutet dies alles für unser Phänomen Führung? Ich behaupte, dass Führung nicht einfach nur ein soziales Phänomen ist, das rein situativ und kulturell bedingt ist. Es hat evolutionäre Wurzeln, die wir nur unter Gefahr ignorieren dürfen, weil sie Verhaltenswahrscheinlichkeiten beeinflussen. Und ich behaupte, dass Führung sich aus der gemeinschaftlichen Lebensbewältigung entwickelte. Es ist also ein Phänomen, das ganz grundlegend auf Kooperation beruht, statt dieser entgegenzustehen. Wie dürfen wir uns seine Entstehung vorstellen?

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Steckler, N. & Fondas, N., Building team leader effectiveness: A diagnostical tool, in: Organizational Dynamics, Winter, 1995, S. 20-35

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2.

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Die Geburtsstunde der Führung

Die Evolution erzwingt nicht von Natur aus für jede Gemeinschaft einen Führer. So gibt es beispielsweise keinerlei Hinweise darauf, dass Insektenstaaten einer Führung bedürfen, um erfolgreich zu sein. Ihr Superorganismus basiert – ab einer Größenordnung von etwa 100.000 Individuen – wohl ausschließlich auf dem Prinzip der Selbstorganisation47. Aber wir sind keine Insekten und funktionieren offensichtlich auch sozial anders. Von Beginn an konnten unsere Vorfahren die Erfahrung machen, gemeinsam mit anderen größere Aufgaben bewältigen zu können als allein. Für sie dienten Koalitionen Zielen, wie der Aufzucht von Nachwuchs, der Verteidigung gegen Angriffe, dem Vermeiden von Hunger (z. B. durch die Jagd von Großwild und dem Verteilen eigener Nahrungsreserven) oder dem Bau von Unterständen. Aus evolutionärer Perspektive lassen sich Unternehmen folglich als soziale Systeme definieren, die dazu dienen, gemeinsam das (wirtschaftliche) Überleben wahrscheinlicher zu machen. Das Phänomen Führung entstand dabei nicht als eine Art urhistorisches Zufallsprodukt, es löste ein evolutionäres Problem. Die Gemeinschaften, die in der Lage waren, auch wichtige Großprojekte zu managen, lebten zweifellos erfolgreicher. Dabei war nicht entscheidend, ob der Einzelne seine individuellen Chancen verbesserte (vielleicht starb er bei der Jagd auf Großwild), sondern, ob die Gesamtgruppe erfolgreicher fortbestand als andere Gemeinschaften. Dieser Fortbestand wurde stärker gefördert, wenn die Menschen nicht nur zusammen handelten, sondern sich in ihren Aktionen auch gleichzeitig nach guten Führern richteten. Kooperation und Führung können keine alternativen Formen der Zusammenarbeit sein, sie erfordern einander und entstanden sicherlich gleichzeitig! Es ist daher absolut unsinnig, Führung in einem Kontrast oder gar Kampf gegen den Rest der Gruppe zu betrachten. Die Gruppen profitierten von Beginn an von dem Phänomen Führung! Sonst hätte die Evolution dieses Experiment rasch wieder beendet. Berth48, ein ehemaliger Kienbaum-Berater, hat sich trotz der prinzipiell immensen Schwierigkeit daran gemacht, Führungserfolg zu messen und mögliche Ursachen zu identifizieren. Vier Jahre lang spürte er unternehmerischem Erfolg nach, um festzustellen, dass sich extrem erfolgreiche Unternehmen vor allem durch ergänzendes Management auszeichnen. In Ansehung der eigenen Unvollkommenheit wurde hier die Nähe des anderen gesucht. Aus unserer Perspektive trifft dieser Erfolgsbaustein die Ur-Gruppe in ihrem Kern: Man tut sich zusammen, weil man es allein nicht so gut schaffen würde. Das erfordert Vertrauen zueinander: der zweitwichtigste

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Wieser, W., Die Erfindung der Individualität oder Die zwei Gesichter der Evolution, 1998, Berlin: Spektrum, S. 469 48 Berth, R., Erfolg, 1993, Düsseldorf: Econ

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Faktor in Berths Studie. Doch zurück in die Vergangenheit: Worin besteht nun genau die evolutionäre Kernaufgabe der Führung? Führung bot nur dann einen evolutionären Zusatznutzen, wenn die Gruppe mit ihr erfolgreicher die gemeinsame Aufgabe bewältigte als ohne sie. Wäre dies nicht der Fall gewesen, würde uns das Phänomen nicht mehr beschäftigen. Wir stimmen also zu, wenn Weibler formuliert: „Gemeinsam ist den Führenden …, dass sie ganz allgemein aufgerufen sind, die gegenwärtigen und zukünftigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der ihnen folgenden Personen positiv (mit)zugestalten.“49 Vorausgesetzt, er meint damit nicht allgemeine Lebens- und Arbeitsbedingungen. Führende müssen nicht die großen Retter der Menschheit sein oder allgemeines Wohlbefinden schaffen – sie müssen zunächst einmal nur dafür Sorge tragen, dass die Gruppe das aktuelle gemeinsame Ziel besser erreicht als ohne sie. Wenn wir fragen, was genau denn Führung zum Funktionieren bringen soll, suchen wir nach dem Grund, aus dem sich die Gruppe zusammengefunden hat. Prosaisch ausgedrückt lautet eine Kernfrage jeder geführten Gruppe auch heute noch: „Was ist unser Mammut?“ Interessant ist vielleicht in diesem Zusammenhang, dass die Jagd auf Großsäuger erst größere Ausmaße annahm, nachdem das Phänomen Kultur seinen Aufschwung nahm. Half uns das, was die kulturelle Entwicklung beflügelte, auch bei der erfolgreichen Bewältigung von gemeinsamen Großprojekten? „Ausschlaggebend für den Jagderfolg der Frühmenschen waren weniger ihre neuen Waffen, sondern vielmehr ihre veränderten Verhaltensweisen.“50 Dazu zählten neben der notwendigen Koordination der Aktivitäten auch der sich an die Jagd anschließende kooperative Sozialaustausch (u. a. das Teilen der Beute). Halten wir an dieser Stelle fest: Führung hängt zunächst mit unserer Entwicklung als soziale Wesen zusammen und setzt Gemeinschaft voraus! Ein einsamer Streuner würde nicht als Rudelführer identifiziert. In einer Wiese (wohl kein soziales System) wird es keine führenden Grashalme geben, in einem Wolfsrudel oder einer Gruppe Neandertaler allerdings schon. Vielleicht haben wir also der Geburtsstunde der Führung soeben gedanklich beigewohnt. Schauen wir uns doch nun den neugeborenen Urzeit-Manager etwas näher an.

49 50

Weibler, J.: Personalführung, München: Vahlen, 2001, S. 8 Allman, W. F., Mammutjäger in der Metro. Wie das Erbe der Evolution unser Denken und Verhalten prägt, 1999, Berlin: Spektrum, S. 275

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3.

Der evolutionäre Triumph der Führung

Führung mit dem Evolutionsgedanken zusammen zu bringen, kann rasch Missverständnisse auslösen. Man könnte ja auch fragen, ob Führende damit sozusagen die genetisch besser Ausgestatteten, die von der Natur Auserkorenen sind? Hat die Evolution dafür gesorgt, dass eine außergewöhnliche Untergruppe unserer Art die schwächere Masse führt? Hier und jetzt ganz eindeutig: Das ist absoluter Unsinn! Es geht bei der Führung nicht darum, dass manche („schwache“) Wesen eine solche brauchen und Eliten besondere Verantwortung übernehmen müssen, um dem Chaos in der Welt vorzubeugen, wie es Weibler51 für den anthropologischen Erklärungsansatz der Führung unterstellt. In dieser Perspektive ist Hierarchie (wörtlich übersetzt: heilige Ordnung) die einzige Alternative zum Chaos und Menschen müssen im Zweifelsfall auch gegen ihren Willen geführt und damit „gerettet“ werden. Solche Gedanken macht sich die Evolution nicht! Führende sind keine kleine Gruppe von Über-Menschen! Auch in der kläglichsten Gruppe Unterprivilegierter findet Führung statt, sobald es eine gemeinsame Aufgabe gibt, die man nur gemeinsam bewältigen kann. Ich teile auch nicht Freuds52 Vermutungen, dass die Menschen in archaischen Zeiten in einer Urhorde zusammenlebten, die von einem Urvater angeführt wurde, der wiederum seinen Willen entsprechend seinen Bedürfnissen umzusetzen verstand, weil er die Anerkennung durch andere nicht benötigte und zu ihnen auch keine gefühlsmäßige Bindung aufbaute. Ein solches Wesen wäre aus meiner Sicht eher der erste Soziopath gewesen, und der, – wie ich später noch begründe – wäre nicht lang Urvater geblieben.

Schauen wir systematischer und durchdachter hin. In welcher Welt musste sich unser Urführer wie bewähren? Und welchem Typ begegnen wir dabei?

3.1

Die Führenden

Es erscheint mir sehr unwahrscheinlich, dass Ur-Führende selbstlose Helden und einsame Kämpfer gewesen sein könnten. Eher kann ich sie mir als problemlösende, soziale Angstwesen vorstellen. Ihre Welt war ein verschlungener, überquellender Dschungel voller Gefahren, viele Wesen waren stärker, schneller, gefährlicher. Statt den Stier bei den Hörnern zu packen, haben unsere Vorfahren wohl eher einfach nur versucht zu überleben. Helden sterben in der Regel früh – und für die Evolution ist das ein wesentlicher Punkt!

51 52

Weibler, J.: Personalführung, München: Vahlen, 2001, S. 10 Freud, S., Die Masse und die Urhorde, 1921, abgedruckt in: Kunczik, M. (Hrsg.), Führung: Theorie und Ergebnisse, Düsseldorf, 1972, S. 36-40

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Erst mit dem Hinscheiden der dominierenden Reptilien (Dinosaurier) wurden die warmblütigen Säuger auf dieser Erde von mehr als 100 Millionen Jahren der Unauffälligkeit befreit. Machen wir uns nichts vor: Die Vorfahren unserer Ahnen waren von Natur aus Angsthasen, nicht Helden, denn sonst hätten sie nicht überlebt. „Wir können uns vorstellen, wie sie, mit empfindlichen Schnurrhaaren versehen, zitternd unter einem Palmfarngehölz Schutz suchten, während Sauropoden donnernd vorbeistampften; sie warteten auf den Einbruch der Dunkelheit, um sich hastig über die Reste der Mahlzeit des Riesenreptils herzumachen.“53

Ich denke, unsere Angsthasen-Natur ist uns erhalten geblieben. Was wir fürchten, ist tief in uns verwurzelt, und auch heute noch schleppen wir die Urängste unserer Vorfahren mit uns herum. Unsere von der Evolution geprägte Psyche ist darauf eingestellt, auf ganz bestimmte Gefahren in unserer Umwelt schnell und massiv zu reagieren. Wir sind Alarmwesen und unsere Reaktionen werden stark von Angstgefühlen beeinflusst. Unsere Vorfahren brauchten Mittel, mit ihrer Angst fertig zu werden. Sie flohen aus der Gefahrenzone und kämpften um ihr Leben, wenn das nicht ging. Gab es evolutionäre Vorgänger des Mutes? „ „Blinde Aggression“, die uns die Wahrnehmung der Angst ersparte? Diese Strategie war für unsere Art evolutionär wohl nur in Extremsituationen eine „letzte Lösung“, ansonsten viel zu riskant. Wenn wir uns umschauen, gehören Amokläufer offensichtlich nicht zur evolutionären Hauptlinie. Es gab nur vereinzelt wahre Killer-Maschinen auf der Welt – und wie es aussieht, haben diese den evolutionären Wettlauf eher verloren. „ „Opferbereitschaft“? Nur sehr wenige Menschen sind geneigt, als Märtyrer zu enden und alles einem Ideal zu opfern. Eben deshalb preisen und verehren wir die seltenen Exemplare und nennen sie Heilige und Helden. Opfer hatten ein kurzes Leben. Eine evolutionäre Erfolgsstrategie kann hier kaum vermutet werden. „ „Weisheit“? Es ist schwer vorstellbar, dass unsere Vorgänger mit Besonnenheit, mentaler Disziplin oder gar Weisheit ihrer Angst begegneten. Was bleibt denn dann noch? Letztlich läuft es schlicht darauf hinaus, lebenswichtige und zugleich Angst auslösende Dinge einfach trotzdem zu tun. Unsere Vorgänger kämpften ursprünglich sicherlich nicht mit gefährlichen Tieren, weil sie eine Mutprobe machen wollten. Sie hatten Hunger oder haben sich verteidigt. Das heißt, es ging ihnen um reinen Eigennutz. Sie gingen die Aufgaben, die sich ihnen stellten, einfach trotz ihrer Angst an. Aus dieser Welt entstammten die ersten Führer. Es musste offenbar nicht darum gehen, sich heldenhaft bei Erfüllung der Aufgabe zu opfern oder den Eigennutz zu unterdrücken. Die Evolution war sicherlich schlau genug, jemanden, der für die Gruppe und für sich selbst nützlich war, nicht zur Vernichtung vorzusehen. Wie aber hat sie Führende denn nun konzipiert?

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Fortey, R., Leben. Eine Biographie, 2002, München: DTV, S. 339

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Der Ur-Führende kann bestimmt nicht skizziert werden, indem man – wie es die Führungsforschung oder Personaler gerne tun – die Eigenschaften oder Verhaltensweisen besonders erfolgreicher Führungskräfte addiert. Ganz im Gegenteil muss der Ur-Führende ein Durchschnittsgebilde gewesen sein, nämlich jemand, der statistisch betrachtet den evolutionären Erfolg geführter Gruppen erhöhte. Nachdem wir wissen, welche evolutionäre Kernaufgabe für Führende vorgesehen war, dann können wir uns vorstellen, welche Erwartungen damit an sie gestellt wurden. Führende konnten zweifellos nicht einfach machen was sie wollten und standen unter beständigem Erfolgsdruck, um ihre – ja auch für sie selbst nützliche Rolle – zu behalten. Es kann auch heute noch belegt werden, dass Führende zwar durchaus von den Gruppennormen abweichen dürfen („Extrawurst“, Sonderstatus, Innovationen etc.), dass sie jedoch die Erwartungen, die an ihre Führungsposition geknüpft sind, weiterhin strikt zu erfüllen haben.54 Diese scheinen also eine maßgebliche Bedeutung zu haben. Die frühzeitlichen Erwartungen der Geführten an den Führenden waren verknüpft mit der erfolgreichen Bewältigung seiner Kernaufgabe. Schlicht formuliert lautet diese: dafür sorgen, dass es gemeinsam besser funktioniert! Die Ur-Erwartungen sind heute noch sehr viel bedeutungsvoller als eventuell modisch hinzugekommene. Sie fragen, warum ich das behaupte? Nun, weil es beispielsweise eine Reihe von Hinweisen dafür gibt, dass wir Menschen über prototypische Vorstellungen hinsichtlich Führungsqualitäten verfügen. Empirische Untersuchungen bestätigen immer wieder, dass intelligente und dominante Personen verstärkt als Führende wahrgenommen werden.55 Erfüllen intelligente, dominante Personen die Kernaufgabe durchschnittlich besser? Um diese Frage zu beantworten, dürfen wir Intelligenz und Dominanz natürlich nicht so ohne weiteres mit heutigen Theorien bewerten. Wobei interessanterweise auch hier eine Entwicklung in Gang ist, die sehr gut zu unseren Gedanken passt. Während wir viele Jahrzehnte den Grad der Intelligenz über Quotienten bestimmen wollten, wird in der neueren Intelligenzforschung mittlerweile eher von Erfolgsintelligenz gesprochen. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die Probleme zu lösen, die in einer bestimmten Umwelt anstehen. Dieser (interkulturell gültige) Intelligenzbegriff korreliert also vor allem mit relevanten Erfolgen im Leben und nicht in erster Linie mit Schulnoten. Für die Ur-Geführten war es absolut (überlebens-)wichtig, dass die Führenden in Bezug auf die anstehende gemeinsame Aufgabe viel wussten und verstanden. Es steht völlig außer Frage, dass es nur sehr fähige Gruppenmitglieder waren, denen gefolgt wurde. 54

Hollander, E. P., Some effects of perceived status on responses to innovative behavior, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 63, 1961, S. 247-250 55 Lord, R., De Valder, C. L. & Alliger, G. M., A meta-analysis of the relation between personality traits and leadership perceptions: An application of validity generalization procedures, in: Journal of Applied Psychology 71, 1986, S. 402-410

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Was wir mit dem Etikett Intelligenz versehen, könnte unser ursprüngliches Empfinden darüber sein, dass jemand in Bezug auf eine konkrete Aufgabe viel weiß und die Dinge wirklich versteht. Interessant ist, dass wir Menschen uns in Bezug auf diese Anforderung extrem schnell ein Urteil über andere bilden. Was nützt nun der Natur jemand, der viel weiß und versteht – aber nichts damit anfängt? Den massivsten Vorteil brachte erst die problemlösende Um- und Durchsetzung der Intelligenz. Die Gruppe erwartete davon einen spürbaren Nutzen für alle. Ein für die Gemeinschaft wertloses Durchsetzen von egoistischen Interessen löste sicherlich den Widerstand der Gruppe aus. Sonst wäre ihr Überleben gefährdet worden. Der Ur-Soziopath wurde ausgestoßen oder getötet. Dumme Durchsetzung eliminierte sich in der gnadenlosen Landschaft evolutionärer Gesetze quasi von selbst. In problemlösender Durchsetzung ist dagegen wohl die Ur-Empfindung zu suchen, die wir heute mit dem Etikett Dominanz versehen? Wesen, die ein großes Verständnis der Lage (Intelligenz) mit problemlösender Durchsetzungskraft (Dominanz) verbanden, müssen schon für die frühen Gruppen sehr wertvolle Führende gewesen sein. Für mich wäre es nicht verwunderlich, wenn sich Muster entwickelt hätten, die uns auch heute noch diese Grunderwartungen an Führende stellen lässt. Die Natur hat nun darauf „geachtet“, Intelligenz und Dominanz über verschiedene Verbreitungsstrategien zu fördern. Es gibt da nämlich ein grundsätzliches Problem: Während die intensive Verbreitung von Intelligenz durchaus eine „evolutionär stabile Strategie“ darstellt, d. h. es kommt auf diesem Weg nicht zwingend zu ernsten Schwierigkeiten, dürfte eine weite Verbreitung von Dominanz in wenigen Generationen zu „Mord und Totschlag“ geführt haben. Einer zunehmenden Intelligenz der Menschheit steht vermutlich prinzipiell nichts im Wege, einer zunehmenden Dominanz schon. Eine evolutionär stabile Strategie würde also Dominanz nur vorsichtig fördern und darauf achten, dass dominantes Verhalten sozial eingedämmt bleibt. Dazu könnte sie beispielsweise (a) die sensible Wahrnehmung von Dominanz und (b) Methoden der Bestrafung zu dominanter Personen einplanen. Eibl-Eibesfeldt weist darauf hin, dass bei geselligen höheren Säugern nicht die Dominanz für die Rangordnung den Ausschlag gibt. „Der Ranghohe wird unter anderem aufgrund seiner Fähigkeit, Streit zu schlichten, Schwache zu schützen, Feinde abzuweisen, die Initiative zu ergreifen und Aktivitäten organisieren zu können, gewählt und erst in zweiter Linie auf Grund seiner Aggressivität. Diese Leistungen setzen neben Durchsetzungsvermögen Intelligenz und Erfahrung voraus … Statt einer Dominanzbeziehung liegt ein Führungsverhältnis vor.“56 Eine interessante Sichtweise, nicht wahr?

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Eibl-Eibesfeldt, I., Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, 8., überarb. Aufl., 2004, München: Piper Verlag, S. 595

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Es spricht absolut nichts dafür, dass extreme Dominanz ein besonders qualifizierendes Merkmal erfolgreicher Führung ist. Was unternahm der Ur-Führende nun konkret, um seine Aufgabe zu erfüllen? War er durch bestimmte Verhaltensweisen gekennzeichnet? Nein! Es ist völlig klar, dass er einfach alles einsetzte, was er zur Erfüllung der Kernaufgabe nutzen konnte. Schließlich ging es um das Überleben. Für alle Beteiligten ging es ums Überleben! Wechseln wir daher einmal die Perspektive und schauen uns an, wie die Welt der Geführten aussah.

3.2

Die Geführten

Die Ur-Geführten sind zweifellos nicht die schwachen Personen gewesen, die sich zitternd dem mächtigen Führer beugten. Noch absurder erscheint mir die Annahme, dass sie ein „Verlangen, sich gehorsam zu unterwerfen“57, hatten. Ich kann mir zwar vorstellen, dass es irgendwann in der Geschichte einmal für Führende nützlich gewesen sein mag, ein Bild des „schwachen Geführten“ zu zeichnen und zu verbreiten – ursprünglich trifft es sicherlich nicht zu! Jeder Geführte war schon immer ein erfolgreicher Überlebender, der hervorragende Arbeit machte. Welche Großaufgabe (z. B. Kampf oder Großwildjagd) sollte ein Führer mit devoten, schwachen und ängstlichen Personen erfolgreich bewältigen? Vermutlich waren es die Besten der Gemeinschaft, die sich gemeinsam den großen Aufgaben gestellt haben. Die Karikatur des Geführten wird keine große Chance bekommen haben, sich fortzupflanzen. Entweder starb er bei der ersten Bewährungsprobe oder fand kein paarungsbereites Weibchen. Wer nicht körperlich stark war, brauchte andere Leistungsmerkmale. Auf jeden Fall qualifizierte er sich sicherlich nicht durch Feigheit und allgemeine Leistungsschwäche. Der Urgeführte war ein erfolgreich Überlebender! Aber genau vor diesem Hintergrund ist die Frage spannend, warum er sich hat führen lassen und warum er dem Führenden Dinge durchgehen ließ, die ihn selbst in seiner eigenen Entfaltung einschränkten. Für ihn mussten wertvolle Ergebnisse der Führung erlebbar werden. Es musste sich lohnen, sich führen zu lassen!

57

Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002, S. 106

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Der „Kredit“ an den Führenden war ursprünglich sicherlich kein Freibrief für jegliches abweichende Verhalten. Letzteres wurde nur akzeptiert oder gar geachtet, wenn der Führende damit seine Wirksamkeit erhöhte, die Kernaufgabe zu lösen. Mit ihm musste die Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe erkennbar besser funktionieren. Wir erkennen hier die Notwendigkeit von Akzeptanz, die auch ausschlaggebend bleibt, wenn bereits eine Anerkennung des Führenden stattgefunden hat. Forscher sollten sich nicht wundern, wenn sie feststellen, dass die Hingabe an einen Führenden nicht rational durch MittelZweck-Abwägungen motiviert ist, sondern „ganz im Gegenteil aktuellen Stimmungen und Gefühlslagen“58 folgt. Die Entscheidungen für oder gegen einen Führer waren für unsere Ahnen nur emotional möglich. Und mittlerweile geht die moderne Hirnforschung auch wieder davon aus, dass es gar keinen Denkvorgang ohne emotionale Beteiligung gibt. Halten wir also noch einmal kurz fest: Kooperationsbereitschaft setzte sich in der Frühzeit vermutlich deshalb durch, weil es einen evolutionären Zugewinn durch soziale Gemeinschaften gab. Und die Bereitschaft zum Gehorsam setzte sich durch, weil es einen (noch größeren) Zugewinn durch eine geführte Gruppe gab. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht nur denkbar, sondern sogar wahrscheinlich, dass die Natur uns mit positiven Gefühlen (z. B. Geborgenheit, Zuversicht, Sicherheit) belohnt, wenn wir uns die Vorteile einer Gruppe sichern, die gut geführt ist. Denn dann überleben wir eher. Interessanterweise hängt auch heute noch die Anziehungskraft einer Organisation auf Bewerber erheblich mit deren Überzeugung zusammen, dass diese ihnen bei den eigenen Zielen nützen könnte59. Wir haben vielleicht zwar kein Bedürfnis, uns zu unterwerfen, aber möglicherweise einen Ur-Traum von Geborgenheit (Sättigung, Wärme, Nähe etc.). Dieses schöne Gefühl von Geborgenheit setzt voraus, sich jemandem „in die Hand zu geben“. Das Führer-Geführten-Verhältnis folgt also keinesfalls einer durchdachten Kosten-NutzenAnalyse gemeinschaftlicher Investitionen, sondern einer ganzheitlich erlebten „archaischen Wohlfühl-Analyse“. Die Risiken dieser Tatsache für uns heute sind nahe liegend. Wir sind hier weit weniger rational, als wir es gerne glauben möchten. Führen und Geführt-Werden folgen nicht intellektuellen Absprachen! Es kann uns passieren, dass wir für das Gefühl von Geborgenheit unsere Eigenständigkeit und sogar unsere intellektuelle Kritikfähigkeit aufgeben. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Erkenntnisse der Erforschung von modernen Gruppen, die davon ausgehen, dass das individuelle Erlebnis der Unsicherheit (also ein sehr ursprüngliches Nicht-mehr-Wohlfühlen) zur Unterwerfung unter einen Führende beiträgt (z. B. Ruf nach der „starken Hand“). Ich bin überzeugt, dass dies nur gilt, wenn der Führende nicht selbst als Ursache für das Unwohlsein betrachtet wird. Es gibt Hinweise darauf, dass unsere Vorfahren mit versagenden Führenden nicht sehr freundlich umgingen.

58 59

Weibler, J.: Personalführung, München: Vahlen, 2001, S. 160 Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, S. 308

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Wir können folgende Hypothese aufstellen: Fühlte sich der Ur-Geführte nicht mehr wohl (nicht im Sinne von unserem heutigen Unwohlsein, sondern im Sinne des „erfühlten Versagens des Ur-Führenden“), wird er sich mit anderen zusammengeschlossen haben, um etwas zu unternehmen (vermutlich Exilierung oder Tötung des versagenden Führenden; eine Entmachtung allein war zu riskant, da Dominante nicht gerne „zurück ins Glied gehen“). Kipnis et al.60 zeigten, dass auch heutige Mitarbeiter in ähnlichen Situationen Koalitionen bilden. Ohne den damals wohl nicht unüblichen letzten, drastischen Schritt suchen sie ihre Vorgesetzten in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dieses „Sich-zusammenschließen“ scheint ein Muster zu sein, das bei Unwohlsein der Geführten recht systematisch auftritt. Auch Wunderer61 berichtet, dass erfolgreiche Zusammenarbeit bei der „Führung von unten“ über wechselseitige Abstimmung und Konsens stattfindet: Man tut sich gegen die Führung zusammen, bildet eine Schicksalsgemeinschaft. Halten wir fest: Es wird „Ur-Revolutionen“ gegeben haben. Die Gruppe hatte so etwas wie ein „Soziales Radar- und Immunsystem“ und stimmte sich in ihrem Verhalten gegenüber dem Führer ab. Führung ist und bleibt ein soziales Geschehen, das sich zwischen Menschen abspielt. Führungsautorität entsteht individuell zwischen Führendem und Geführten. Beide Seiten können diese beeinflussen und reagieren gleichzeitig auch auf das aktuelle Niveau. Sehr interessant für unseren Argumentationsstrang sind folgende Schlussfolgerungen von Wunderer: „Dies müsste nun zu einer Aufhebung der überkommenen Denkweise führen, die vor allem fragt, wer nun wen besonders beeinflusse. Denn im Vordergrund steht die zielorientierte wechselseitige Beeinflussung zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben … Damit geht es auch nicht in erster Linie um die individuelle Motivation von Führenden und Geführten. Im Mittelpunkt sollten vielmehr Effektivitätsziele bei der Erfüllung der gemeinsamen Arbeitsaufgaben, z. B. in einer Arbeitsgruppe, stehen.“62 Unsere Ur-Geführten haben sich sicherlich an dieses Prinzip, das Abertausende von Jahren später formuliert wurde, gehalten! Werfen wir nun am Rande noch einen kurzen Blick auf das Geschlechterthema. Gerade in Bezug auf die Mann-Frau-Frage wird immer wieder auch heute noch mit evolutionären Ideen Schindluder getrieben. Versuchen wir, dies an dieser Stelle zu vermeiden.

60

Kipnis, D. et al., Patterns of managerial influence: shotgun managers, tacticians, an bystanders, in: Organizational Dynamics, 12/ Winter 1984, S. 58-67 61 Wunderer, R., Führung des Chefs, in: Rosenstiel, Lutz von, Regnet, Erika & Domsch, Michel (Hrsg.), Führung von Mitarbeitern, 5., überarb. Auflage, 2003, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S. 293-314 62 Wunderer, R., Führung des Chefs, in: Rosenstiel, Lutz von, Regnet, Erika & Domsch, Michel (Hrsg.), Führung von Mitarbeitern, 5., überarb. Auflage, 2003, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S. 312

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3.3

53

Männer und Frauen

Es geht an dieser Stelle nicht darum, die populäre Diskussion über so genannte angeborene Unterschiede von Frauen und Männern aufzunehmen und irgendwelche Statistiken fantasievoll überzustrapazieren. Neue Forschungen und Veröffentlichungen63 belegen, dass sich Männer und Frauen in knapp 80 Prozent der untersuchten Eigenschaften (Metaanalyse von rund 50 Studien) ähnlich sind, darunter auch Führungsstärke. Dennoch gibt es aus unserer Perspektive einige Fragen: „ Gab es geschlechtertypische Großprojekte? „ Ist das Geschlecht für die Ansprache unserer Ur-Erwartungen an die Führenden relevant? Ein Blick in die heutige Zeit: Studien weisen darauf hin, dass weibliche und männliche Führungskräfte sich zwar auf unterschiedliche Führungsstile verlassen, die Differenzen jedoch insgesamt gesehen sehr gering sind64. Einige Forscher widerlegen in diesem Zusammenhang auch Aussagen in der Managementpresse und populärwissenschaftlichen Literatur, dass Frauen partizipativer und prosozialer führen als ihre männlichen Kollegen. Signifikante Unterschiede ließen sich weder im Entscheidungs- noch im Sozialverhalten feststellen. Auch in der Zufriedenheit der Mitarbeiter zeigten sich keine Differenzen.65 Wir finden in unserer Zeit wohl weniger Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Führungskräften als Variation innerhalb eines Geschlechts. So kommen wir also nicht weiter.

Grundsätzlich wären diese Erkenntnisse eine Unterstützung der Vermutung, dass Frauen in der Frühzeit für ihre gemeinsamen Aufgaben ebenso Führungsstrukturen benötigten wie Männer. Wir sollten mögliche Differenzen aber zumindest einmal durchdenken. Dabei interessieren uns nicht irgendwelche Unterschiede, z. B. ob eventuell Männer andere Stärken räumlicher Wahrnehmung haben als Frauen oder die Strategien der Partnerwahl evolutionär anders aussehen. Uns interessieren hier allein mögliche Unterschiede in Bezug auf den Führungserfolg. Hierzu gibt es meiner Kenntnis nach keine evolutionärpsychologischen Forschungen. Gehen wir also methodisch denkend vor – und wagen wir uns nicht zu weit „aufs Eis“. Gab es geschlechtertypische Großprojekte? Solche zu vermuten, liegt nahe. Es spricht Vieles dafür, dass Frauen seltener auf der Jagd und im Krieg waren, dafür mehr mit dem Sammeln von Nahrung und der Aufzucht beschäftigt waren. Waren diese Frauen-Aufgaben 63

Wilhelm, K., Mann und Frau – ähnlicher als gedacht?, in PSYCHOLOGIE HEUTE, Januar 2006, 33. Jahrgang, Heft 1, Beltz 64 Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, S. 519 65 Wunderer, R. & Dick, P., Frauen im Management. Besonderheiten und personalpolitische Folgerungen – eine empirische Studie., in: Wunderer, R. & Dick, P. (Hrsg.), Frauen im Management, 1977, Neuwied, S. 5-205

54

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soziale Großprojekte, deren evolutionärer Erfolg durch eine geführte Gruppe erhöht werden konnte? Mussten dazu Gruppenaktivitäten koordiniert werden? Das ist sehr wahrscheinlich! Die Aufzucht war erfolgreicher, wenn man sich um einander kümmerte und sich gegenseitig unterstützte. Das systematische Durchforsten der Vegetation nach Essbarem, das gleichzeitige Achten auf mögliche Angreifer und die Versorgung und der Schutz der im Lager Verbleibenden sind komplexe Herausforderungen für eine Gruppe, die von guter Führung profitiert. Ist es wahrscheinlich, dass diese Führungsaufgaben alle von Männern übernommen wurden? Können wir erwarten, dass sie besser wussten, wie die anstehenden Probleme zu lösen sind als diejenigen, die tagtäglich damit zu tun hatten? Dies erscheint mir unwahrscheinlich. Gehen wir davon aus: Frauen mussten führen! Benötigte man für die Aufgaben der Frauen andere Führungskompetenzen als z. B. für die gemeinsame Jagd? Die bereits diskutierten Kernaufgaben und die Grundprinzipien der UrFührung scheinen nichts Geschlechtertypisches aufzuweisen. Unterschiede sind eher darin zu vermuten, dass es anderer Fachkompetenzen bedarf, um die unterschiedlichen Großprojekte zum Erfolg zu bringen, und man es mit anderen Geführten zu tun hat. Es hätte für die Evolution keinerlei Vorteil geboten, erfolgreiche Führerinnen abzulehnen, nur weil sie das „falsche“ Geschlecht haben. Wahrscheinlich können heute Frauen und Männer unsere wohl eher geschlechtsneutralen UrFührungsbilder aktivieren. Dabei muss betont werden, dass die Evolution zweifellos auch geschlechtstypische Ur-Bilder gefördert hat, die in der konkreten Führungssituation sicherlich mit aktiviert werden. Bilder (wie z. B. Sexualpartner, Konkurrent oder Mutter) können von uns sicherlich nicht beliebig aus- und angeschaltet werden. Wir werden somit in jedem Augenblick stets mit einem Knäuel von Ur-Bildern konfrontiert, die Impulse und Muster aktivieren. Wir haben mit unseren bisherigen Überlegungen den Boden für das Phänomen Führung bereitet, uns ein Bild von seinem ursprünglichen Entstehungszusammenhang gemacht. Bevor wir uns seiner weiteren Entwicklung widmen, wollen wir einige wesentliche Punkte festhalten.

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4.

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„Puzzlesteine“ für unser Bild (Teil 1)

„ Es gibt arttypisches Mögen und Nicht-Mögen bei uns Menschen. Diese Muster geben uns Verhaltensempfehlungen (Handlungsimpulse).

„ Wir müssen evolutionäre Impulse (unseren Autopiloten) nicht ausleben, können ihnen aber auch nicht wirklich entkommen. Daher lassen sich bei uns Verhaltenswahrscheinlichkeiten identifizieren.

„ Unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist eine grundlegende Voraussetzung, um zu überleben. Wir sind egoistisch, indem wir kooperativ sind, allerdings keine perfekten Kooperationspartner (wie z. B. Ameisen).

„ Aufgrund dieser hohen Bedeutsamkeit der Gemeinschaft sorgt unser Autopilot dafür, dass wir das Geschehen nahezu stets sozial bedeutsam interpretieren. Unsere Fähigkeit zur Einfühlung erleichtert uns ein flexibleres Zusammenleben und -arbeiten.

„ Unser Bedürfnis nach Status und Ansehen innerhalb der für uns bedeutsamen Gruppe ist ausgeprägt und beeinflusst unser Sozialverhalten. Unser Selbstwertgefühl ist ein subjektives Messinstrument zur Einordnung in den sozialen Zusammenhalt und zur Selbststeuerung.

„ In Gruppen mit gemeinsamen Aufgaben entstehen stets Rollen und Strategien der Zusammenarbeit. Führung löst die Aufgabe, uns nicht perfekten Kooperationspartnern die Bewältigung einer gemeinsamen Großaufgabe zu erleichtern.

„ Die Gruppe richtete sich dabei nach der Person, deren Fähigkeiten den größten Unterschied bei der Bewältigung der gemeinsamen Großaufgabe machten. Dieser größte Unterschied beinhaltet für das Phänomen Führung automatisch den Konkurrenzgedanken.

„ Zur Lösung der Führungsaufgabe setzten unsere Urahnen schon immer alle Fähigkeiten ein, die sie zur Verfügung hatten. Es gibt keine spezifische Führungsfähigkeit!

„ Führende sind keine Über-Menschen. Führung ist eine Aufgabe, die in verschiedenen Situationen und Gruppen von wechselnden Personen übernommen werden kann.

„ Geführte haben es nicht nötig geführt zu werden, sie erteilen jemandem die Legitimation zur Führung. Ohne gemeinsame Großaufgabe („Mammut“) gibt es keine Führungsnotwendigkeit.

„ Geführte beurteilen ihr Verhältnis zur Führung nicht in erster Linie rational nach Kosten und Nutzen, sondern ganzheitlich auf der Basis archaischer Erwartungsmuster. Wir haben z. B. vermutlich einen Ur-Traum von Geborgenheit, der in (geführten) Gruppen angesprochen wird.

„ Wenn solche Erwartungsmuster unbefriedigt bleiben, kommt es mit wachsender Wahrscheinlichkeit zu Revolutionen. Die Gruppe stimmt sich in ihrem Verhalten gegenüber der Führung ab.

„ Die Motive des Führenden dürfen, ebenso wie die der Geführten, durchaus eigennützig sein – wenn es zum Nutzen der Gruppe beiträgt und nicht gegen Grunderwartungen zum Phänomen Führung verstößt.

„ Erfolgreich Führende müssen in der Verbindung von „Verstehen der spezifischen Aufgabenwelt“ (Intelligenz) und „Durchsetzen des richtigen Handelns der Gruppe“ (Dominanz) besser sein als andere in der Gruppe – sonst übernehmen diese die Führung.

„ Das Ur-Phänomen Führung unterscheidet wohl nicht zwischen Frauen und Männern.

56

5.

Führung ist natürlich

Die Führung auf dem Weg in die Gegenwart

Den heutigen Führungsalltag bestimmen zumeist Dinge, die für unsere Vorfahren völlig unvorstellbar waren. Unsere Welt unterscheidet sich massiv von derjenigen, in der das Phänomen Führung geboren wurde. Dazwischen liegen viele Abertausende von Jahren Menschheits- und Führungsgeschichte, die zweifellos auch systematische Spuren hinterlassen haben. Wollen wir uns auf dünnes Eis begeben und versuchen, diesen Spuren zu folgen? Seien wir realistisch: Die Dinge in ihrem Entwicklungsverlauf in Form zu halten, wird zunehmend schwieriger. Wie können wir den damit verbundenen Problemen seriös begegnen? Um dem Risiko der „kreativen Willkür“ etwas entgegenzustellen, könnten wir uns die Methoden der Kriminalprofiler zu Nutze machen, ihre Arbeit zum einen unmissverständlich als Denkexperiment anzulegen. Sie betrachten ihre Überlegungen als Hypothesen-Bildung. Und sie betonen zum anderen die so genannte sequenzielle Vorgehensweise. Das bedeutet, Erklärungen stets auf dem aufzubauen, was schon da ist. Wir dürfen also das weitere Bild nur auf der Grundlage der Puzzlesteine weiterentwickeln, die bereits vorliegen. Wir bauen also auf dem bislang Erarbeiteten auf – wie es die Evolution auch zu tun pflegt. Ich gehe davon aus, dass die weitere Entwicklung des Phänomens Führung keine andere Chance hatte und hat, als mit ihren Ursprüngen zu leben! Die Wahrnehmungs- und Verhaltens-Muster, die sich evolutionär bewährten und nicht vom Leben „ausgesiebt“ wurden, leben in uns weiter! Dieses Prinzip gilt unstrittigerweise für unsere körperliche Entwicklung. Wir müssen z. B. immer noch damit leben, dass unsere Wirbelsäule nicht ideal für den aufrechten Gang und noch weniger für sitzende Tätigkeiten konstruiert ist. Millionen von Menschen mit Rückenproblemen können dies bestätigen. Wir können uns allerdings fragen, wie wir das Beste daraus machen, wie wir vorbeugen, Ausgleich schaffen etc. Ich bin überzeugt, für unsere psychische Entwicklung (und damit das Phänomen Führung) gelten diese Grundprinzipien der Evolution auch. Um die Komplexität des weiteren Geschehens für uns handhabbar zu halten, möchte ich im Folgenden einige Entwicklungsstränge des Phänomens Führung separat beleuchten. Zunächst interessiert mich die Entwicklung von Organisationen und Positionen, die wohl heute eine ganz andere Bedeutung haben als in unseren Ursprüngen. Dann sollten uns auch sehr bestimmend gewordene Phänomene wie Macht und Politik einen Blick wert sein. Und auch die Frage, welche Auswirkung die weitere menschliche Entwicklung (z. B. des Bewusstseins und unserer Fähigkeiten) hat, soll uns beschäftigen. Und letztlich hat auch das Phänomen Besitz in der uns heute prägenden Form damals keine Bedeutung gehabt.

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5.1

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Positionen: Aufgaben werden zu Rollen

Führung setzte ursprünglich natürlich keine definierte Führungsrolle (Amt) voraus. Es gab keine Abteilungsleiter-, Projektmanager- oder Geschäftsführer-Positionen, die besetzt werden mussten. Positionen entstanden nur um konkrete aktuelle Aufgaben. Verschwanden die Aufgaben, verschwanden auch die Positionen. Zweifellos kamen „Titel“ zeitlich nach der Geburtstunde des Phänomens Führung. Unsere bisherigen Überlegungen führen zu der These, dass die Haupterwartung an eine Führungskraft, die Kernaufgabe besser zu erfüllen als alle anderen in der Gruppe, zeitlich unveränderbar ist. Sie ist ein „Urbild der Führung“, das uns nicht anerzogen werden muss oder kulturell außer Kraft gesetzt werden kann. Dieses Urbild kann allerdings durchaus weiter entwickelt, ergänzt und kulturell eingebettet werden. Welche Erwartungen an Führende und Geführte im Verlauf der Zeit kulturell und individuell hinzugekommen (und wieder verschwunden) sein mögen, bedarf einer anderen Form der Beleuchtung, als wir sie hier vornehmen können. Eine Sozialgeschichte der Führung steht meines Wissens noch aus. Uns interessiert, wie es zum Führungsamt gekommen sein könnte und welche Bedeutung diese Entwicklungen für uns heute noch haben. Ich gehe davon aus, dass Positionen und Ämter ebenfalls eine evolutionäre Wurzel haben, dass ihre Entstehung nicht aus dem Nichts erfolgte oder zufällig vonstatten ging. Es liegt nahe, aus evolutionspsychologischer Sicht zu vermuten, dass die erfolgreiche Erfüllung der Kernaufgabe schon immer zu besonderem Ansehen66, Status und Privileg führte. Zur persönlichen Macht67 des Führenden, die ihm die Übernahme seiner Rolle erst ermöglichte, bekam er von den Geführten zusätzliche soziale Macht verliehen. Sie ließen es zu, dass der Führende Dinge tat, die sie anderen Gruppenmitgliedern nicht „durchgehen ließen“. Ich bezweifele, dass diese zusätzliche Macht vom Führenden ständig verteidigt werden musste, wie manche Autoren annehmen. Führende waren nicht gewalttätige Diktatoren, sie waren in erheblichem Maße auch ermächtigt. Und in dieser Rolle waren sie so wertvoll für die Gruppe, dass es sinnvoll für diese war, ihre Führenden zu schützen – statt sie ständig anzugreifen. Der Führende wurde zumeist von der Gruppe stabilisiert, diese stand „hinter ihm“. Die Evolution hat ein eingebautes Effizienzsystem. Sie achtet darauf, keine unnötigen Energien zu vergeuden. Interne Dauerkämpfe zur Verteidigung der Führungsrolle wurden schon deshalb vermieden, damit der Führende seine Energie auf die Erfüllung seiner Kernaufgabe konzentrieren konnte. Solange er dies tat, wurde er beschützt! Unsicher wurde die Gemein-

66 67

Der Begriff „An-sehen“ verbindet sehr schön die Verbindung von Macht und sozialer Aufmerksamkeit. Macht definiere ich als die Fähigkeit, etwas machen zu können, was andere nicht können!

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schaft nur, wenn jemand anderer in naher Zukunft vielleicht die Kernaufgabe besser zu erfüllen vermochte als der aktuelle Führer. Es kann gleichzeitig vermutet werden, dass der Führende auch selbst Macht verlieh. Er bestimmte wohl beispielsweise, wer an einem definierten Großprojekt teilnehmen sollte, oder gestand durch Verteilen seiner Aufmerksamkeit Status und Ansehen zu. Alle „Erfolgreichen“ versuchten (und versuchen auch heute noch) aus nahe liegenden Gründen, ihre Privilegien zu behalten. Damit ergibt sich folgende Situation: Führungskräfte setzen alles ein, was ihnen zur Verfügung steht, um die Kernaufgabe besser zu lösen als andere (Ziel 1). Gelingt ihnen dies, erhalten sie Legitimation, Unterstützung und Ansehen aus der Gruppe. Diese Privilegien verteidigen sie nun mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit allem, was ihnen zur Verfügung steht (Ziel 2). Das extreme Risiko für Führungskräfte besteht nun darin, die Wirkungszusammenhänge misszuverstehen. Konzentrieren sie ihre Kräfte auf den Erhalt der Privilegien (Ziel 2) und vernachlässigen sie die Kernaufgabe (Ziel 1), wird ihnen Legitimation, Unterstützung und Ansehen entzogen. Es entsteht ein Teufelskreis: Je stärker sie ihre Privilegien verteidigen, desto eher verlieren sie sie! Die Schlussfolgerung ist hier aus meiner Warte völlig eindeutig: Liebe Führungskräfte! Erfüllt die Kernaufgabe, und Ihr bewahrt Eure Privilegien! Es geschieht schnell, Wirkungszusammenhänge misszuverstehen, wenn stimmige Theorien fehlen. Hier ein weiteres Beispiel: Vor Jahren entstanden immer mehr Hierarchieebenen in unseren Unternehmen. Diese künstliche Hierarchisierung von Positionen ist nach Ansicht einiger nun der Grund für wachsendes „Karrieredenken“68 (d. h., die Motivation, Einkommen und Ansehen zu mehren) gewesen. Mir fällt es schwer, diesem Gedanken zu folgen. Wäre es nicht verständlicher, umgekehrt zu argumentieren: Unser – eventuell gar archaisch angelegtes – „Karrieredenken“ förderte die künstliche Hierarchisierung von Positionen? Auch diese beiden Sichtweisen führen zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen: Aus einer Warte müsste man möglichst viele Hierarchiestufen wegfallen lassen, um Karrieredenken zu reduzieren, aus meiner Sicht dagegen, sich grundsätzlich Gedanken machen, wie mit dem Phänomen Karrieredenken zweckmäßig umgegangen werden muss. Dies gerade und umso massiver, je weniger Hierarchiestufen angeboten werden. Schauen wir uns doch um: Reduziert das so genannte Lean Management das Karrieredenken – oder schafft es Probleme der von mir theoretisch aus unserem Evolutionären Führungsansatz abgeleiteten Art?

68

Türk, K., Entpersonalisierte Führung, in: Kieser, A,, Reber, G. & Wunderer, R., Handwörterbuch der Führung, 2. Auflage, 1995, Stuttgart, S. 328-340

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Jede Gruppe und Organisation muss sich Gedanken darüber machen, wie sie mit dem Bedürfnis ihrer Mitglieder nach Status, Ansehen und Privilegien umgehen will. Dieser Umgang darf die gemeinsame Zielsetzung nicht grundsätzlich gefährden. So lange der Führungserfolg unmittelbar und öffentlich erkennbar mit der Erfüllung der Kernaufgabe verbunden war, standen Rolle, Macht und Verantwortung in einer urnatürlichen Verbindung. Stellte der Führende keinen tatsächlichen Mehrwert mehr für die Gruppenziele dar, orientierte sich die Gruppe an einem anderen Mitglied. Legitimation, Ansehen und Privilegien verschoben sich. Ein Machtkampf und -wechsel bahnte sich an. Unterlag der bisherige Führende, wurde er nicht selten isoliert. Der Preis, einmal besondere Privilegien genossen zu haben, war hoch. Mit zunehmender Komplexität unserer Welt (möglicherweise also parallel zu unserer kognitiven Entwicklung) entstand dann ein neues Spiel: Die Ursachen des (Miss-)Erfolgs konnten verschleiert werden und wurden mehrdeutig. Die natürliche Verbindung von Macht, Privilegien und Verantwortung löste sich. Erst mit wachsendem menschlichem Abstraktionsvermögen konnte sich das Phänomen Führung in Führungsrolle und Positionsinhaber, das Phänomen Gruppenmitglied in Stelle und Mitarbeiter ausdifferenzieren. Irgendwann begannen wir – ich vermute, es ist evolutionsgeschichtlich erst wenige Augenblicke her –, unsere Begriffe mit der Wirklichkeit zu verwechseln: Lebende Gemeinschaften wurden mit abstrakten Organisationen verwechselt und Beteiligte mit Stellenbezeichnungen. Die so unglaublich wichtigen evolutionären Grundprinzipien des Phänomens Führung gerieten uns zunehmend aus den Augen. Ein weiterer Entwicklungsstrang dürfte sich mit der Vergrößerung der Gruppen ergeben haben. Solange direkte und aussagekräftige Erfahrungen zwischen Geführten und Führenden möglich waren, z. B. in den Horden und Clans, konnten sich Privilegien, Macht und Aufgabenerfüllung nicht stark voneinander lösen. Als unsere Vorfahren sesshaft wurden, Städte entstanden, Kriege und Landgewinn gar zu Weltreichen führten, hatten viele Menschen keinerlei Kontakt mehr zu den Mächtigsten. Irgendwann auf diesem Weg wurde es sogar möglich, dass rein formale „Machthaber“ existierten, die nur noch Symbole der Erfüllung der Kernaufgabe waren (z. B. „schlechte“ Könige). Ich bin überzeugt, dass unsere archaischen Muster auch in diesen Situationen ihre Kraft behalten haben, schließlich spürten alle Beteiligten immer am eigenen Leib und am eigenen „Wohlfühlniveau“, inwieweit die Kernaufgabe erfüllt wurde. Allerdings wird ein zusätzlicher Faktor an Bedeutung gewonnen haben: das Image des Führenden! Neben den konkreten Auswirkungen seines Tuns, die stets und immer spürbar blieben, wurde zunehmend bedeutsam, wem diese Auswirkungen zugeschrieben wurden. Wenn es dem Versager-König gelang, die allgemeine Not beispielsweise dem „bösen“ Nachbarland in die Schuhe zu schieben, konnte er sich vielleicht zumindest noch als Kriegsherr bewähren. Ich würde nicht ausschließen, dass dies auch heute noch Staatsmännern gelingt. Von nun an konnte es verstärkt geschehen, dass Leistung, Wahrnehmung der Verantwortung für das Ganze, Macht und Führungslegitimation nicht mehr natürlich zusammengehörten. Es gab nun wohl auch zuneh-

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mend länger dauernde „Fehlbesetzungen“. Unser Grundprinzip sagt jedoch: Jede Fehlbesetzung ist ihrer Natur nach zwangsläufig zeitlich begrenzt, denn sie macht die Gemeinschaft schwach. Im direkten Umfeld einer Führungskraft wirken die archaischen Muster nach wie vor stark. Den Menschen in seiner Nähe kann man auf Dauer nichts vormachen: Legitimation ist mit Leistung verbunden. Wenn ein Manager sich primär auf seine formale Einflussnahme verlässt, läuft er umgehend Gefahr, die Loyalität seiner Mitarbeiter zu verlieren.69 Dieses „Gesetz“ gilt offensichtlich auch heute noch, wie eine Studie belegt. Insbesondere bei der Übernahme einer bislang unbekannten Gruppe wird der neue Führende von dieser getestet. Kann man sich diesem Menschen anvertrauen? Ist er stark genug, dafür zu sorgen, dass es funktioniert? Hier muss der Führende erkennen lassen, dass er die Herausforderung annimmt, und bereit sein, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wer davor Angst hat, sich hinter seiner Positionsmacht versteckt oder seine Kernaufgabe nicht spürbar erfolgreich wahrnimmt, hat verloren – egal, wie viele Managementseminare er besucht hat und welche Titel er führt.

5.2

Organisationen: Die Dauer des Zwecks verlängert sich

Während der Zweck einiger Gruppenbildungen schon zu Ur-Zeiten die Dauer einer „Führungsära“ überschritt (z. B. das Überleben einer Horde), war er in anderen Fällen stets schon zeitlich begrenzt (z. B. eine einzelne Jagd). Es gab damit vermutlich von Beginn an Urformen von einerseits Organisationen, die andauerten, die Identität stifteten und Grundlage des individuellen Überlebens waren, und andererseits Projektteams, die sich zu einer zeitlich begrenzten Aufgabe zusammenfanden. Liegt da nicht der Gedanke nahe, dass es auch schon sehr früh verschiedene Führertypen gab? Zukunftsorientierte Organisationsleiter, nennen wir sie ruhig im üblichen Stil „Visionäre“, entwickelten sich zweifellos erst nach dem „Macher und Problemlöser“. Warum? Nun, unser Geist ließ zu Frühzeiten gar nicht den Blick in die Zukunft zu. Der Zeithorizont unserer Ahnen war auf das Hier und Jetzt ausgerichtet, ähnlich, wie es bei vielen Tierarten heute auch noch ist. Das Morgen fand einfach dann statt, wenn es gelang, das Heute zu überleben. Dies würde die These erlauben, dass immer noch der „Macher und Problemlöser“ eher unserem archaischen Muster der Führung entspricht als der zukunftsorientierte Führende. In dem Zusammenhang: Eine Untersuchung, die im Jahre 1981 bei 849 Führungskräften gemacht wurde, identifiziert 44,5 Prozent „reiner“ Macher-Typen, und 76,2 Prozent gingen urteilend an die Welt heran, mit dem Bedürfnis, die Dinge abschließend zu regeln. Sie bevorzugten einen durchorganisierten Lebensstil70. Heute ist es ein wenig Mode, dies als zeitgeistiges 69 70

Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, S. 480 vgl. Attems, R. & Heimel, F., Typologie des Managers, 1003, Frankfurt: Redline, S. 131

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Phänomen zu interpretieren und den Manager der Zukunft herbeizureden, der neue Möglichkeiten sucht, kultursensibel ist, und systemisch denkt und handelt. In der aktuellen Literatur begegnet uns häufig eine Aufteilung von Führungskräften in Problemlöser (auf das Heute ausgerichtet) und Chancensucher71 (auf das Morgen ausgerichtet). Immer wieder wird dabei, manchmal mit Bedauern, festgestellt, dass es zu wenig Visionäre und Chancensucher gäbe. Vielleicht ist dies schlichtweg natürlich! Vielleicht handelt es sich hier nicht um eine zufällige Auf- und Verteilung, die dem Zeitgeist entspringt und bedarfsgerecht verändert werden kann. Vielleicht identifizieren wir hier die Auswirkungen archaischer Wurzeln. Und was können wir von einer bekannten Führungspersönlichkeit lernen, die äußert: „Wenn jemand Visionen hat, soll er zum Arzt gehen“? Es ist jedenfalls anzunehmen, dass sie eher zu den Machern gehört, nicht wahr? Organisation als Aufgabe war ursprünglich vermutlich kein allzu großes Problem, da die unmittelbar spürbare Zweckerfüllung den Menschen organisierte. Misserfolg war in seinen Zusammenhängen für Erfolgsintelligente (und das waren Führende ja nach unserer bisherigen Analyse) sofort zu erkennen und nötige Veränderungen wurden direkt umgesetzt! Und was funktionierte, wurde nicht selbstkritisch in Frage gestellt. Es gab viele Hunderttausend Jahre in unserer Geschichte, in denen sich erfolgreiche Abläufe und Kenntnisse nachweislich nahezu nicht veränderten. Es funktionierte – und es gab wohl noch keine geistigen Möglichkeiten, kreativ etwas weiter zu entwickeln. Für Ziele, die wiederkehrten, kristallisierten sich Erfahrungen in Strukturen, Aufgaben und Abläufe (in „Organisationen“). Dies ist wohl eine Errungenschaft, die parallel zur Bewusstseinsentwicklung immer deutlicher, arbeitsteiliger und spezifischer wurde. Eine recht dramatische Veränderung ereignete sich vor etwa 10.000 Jahren, als die Menschen zu Ackerbau und Viehzucht übergingen. Innerhalb von nur 5.000 Jahren nach dem Aufkommen der Landwirtschaft war der gesamte Planet mehr oder weniger von Agrargesellschaften besiedelt. Die Verlagerung zu einer solchen Gesellschaftsform verstärkte eine Sozialwirtschaft, in der sich jeder Einzelne in einem Netzwerk aus Rechten und Pflichten, Traditionen und sozialen Positionen befand. Diese Netzwerke entwickelten ein Eigenleben, das es zu sichern galt. Das, was ein Führender nun funktionierend halten musste, war komplexer und immer weniger von einzelnen Individuen abhängig. Organisationen definierten Aufgaben, für die eine bestmögliche Besetzung gefunden werden musste. Wenn es keine Bauern mehr gab, hatten der König und sein Hof existenzielle Probleme. Von nun an war es immer häufiger denkbar, dass Führungserfolg nicht mehr durch Bewältigung eines zeitlich begrenzten, gemeinsamen Großprojekts definiert wurde, sondern durch die Überlebensfähigkeit der Organisation.

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Eberle, W. & Hartwich, E., Brennpunkt Führungspotential. Persönlichkeitseinschätzung als unternehmerische Aufgabe, 1995, Frankfurt/ M.: Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 21

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Es wurde noch schwerer, den direkten Zusammenhang zwischen Führung und Ergebnissen zu erleben, weil die Komplexität stieg. War eine aktuelle, unliebsame Aktion nötig, um die Überlebensfähigkeit der Organisation langfristig zu sichern – oder war es einfach nur ein unnötiger Fehler oder Willkür des Mächtigen? Das Überleben von zunehmend mehr Organisationen wurde zum Selbstzweck erhoben. Sie entwickeln sich, wechseln Mitglieder aus und ändern möglicherweise gar ihren Ursprungszweck. Sie bieten dem Einzelnen Status und Funktion. Grundsätzlich war die Errungenschaft des „Organisiertseins“ evolutionär offensichtlich überlebensfähig. Sonst würde uns dieses Thema heute nicht mehr beschäftigen. Warum ich denke, dass auch das Phänomen Organisation Muster in unseren Strukturen hinterlassen hat? Schauen Sie einmal in Ruhe hin: Verlangt nicht beispielsweise das „Sterben“ einer Organisation (z. B. bei Fusionen oder Insolvenz) eine Trauerphase der Beteiligten? Tut es uns nicht weh, wenn wir viele Jahre Herzblut in eine Organisation gesteckt haben – und dann vielleicht sogar nur der Name der Organisation geändert wird? Selbst wenn unser Arbeitsplatz völlig ungefährdet ist? Wenn wir als „Gegenmittel“ versuchen, uns nicht mehr mit der Organisation zu identifizieren, uns seelisch vor Schmerz zu schützen, fehlt uns etwas. Wir fühlen uns leerer, das Arbeiten-Gehen wird zu einer kalten Pflicht und Last. Organisationen gewinnen offensichtlich, sobald sie sich etabliert haben, an Eigenständigkeit und Identität. Bei Zielerfüllung beginnen sie, sich neue Aufgaben zu suchen. Unter Umständen ändern sich dabei die ursprünglichen Ziele. Zugleich haben sie die grundsätzliche Fähigkeit, wie die Ursprungsorganisation unserer Ahnen, uns selbst mit Identität und positiven Gefühlen zu versorgen. Dies erwarten wir tief in uns auch von ihnen. Heutige Verstöße gegen diese archaischen Muster bergen spürbare Gefahren und erschweren die Führung! Nach (unnötig?) vielen Jahren der Forschung ist heute klar, dass bestimmte Organisationsstrukturen nicht automatisch und in jeder Situation einen großen Erfolg garantieren. Ihre Effizienz wird von der Art der Organisation und ihren Zielen abhängen, von den Qualifikationen der Beteiligten und der relevanten Umwelt. Welch erstaunliche Erkenntnis … Weinert72 betont in diesem Zusammenhang, dass bis heute recht unklar ist, wie und in welcher Weise Organisationen das Verhalten jener beeinflussen, die in ihr tätig sind. Manchmal gehen Autoren heute so weit, mehr an die Organisation zu glauben als an persönliche Führung. Die Fehlerquelle Mensch soll eliminiert werden. Welch ein dramatischer Verstoß gegen unsere Natur! Persönliche Führung soll hier der Organisation nachgelagert und quasi als Lückenbüßer zu betrachten sein, der erst dann zum Einsatz kommt, wenn Verhaltenssteuerung durch die Strukturen und andere Formen der Verhaltenskontrolle nicht wirken73. Man spricht von strukturellen Führungssystemen. Diese Überlegungen gipfeln in der

72 73

Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, 545 Weibler, J.: Personalführung, München: Vahlen, 2001, S. 108

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Frage, ob Führung in einer idealen Organisation überhaupt nötig ist. Aus meiner Sicht äußert sich hier ein besorgniserregendes Menschen- und Führungsbild. Wenn die Einsetzung so genannter struktureller Führungssysteme einige Probleme reduziert, hat persönliche Führung aus unserer Perspektive nur einen weiteren Weg gefunden, ihre Kernaufgabe zu verfolgen. Sie ist nicht ersetzt worden, denn selbst für sich perfekt geplant, kann die Organisation doch in ein Chaos führen oder durch Missachtung der menschlichen Natur in Schieflage geraten. Wunderer geht beispielsweise mit uns davon aus, dass die Fixierung auf die Organisationsgestaltung (übrigens der bevorzugte Gestaltungsansatz struktureller Führung bei Unternehmensberatungen und Topmanagern) in Zukunft abnimmt. Er prognostiziert die zunehmende Verbreitung von Projektarbeit74. Die angesprochenen Gedanken unterliegen aus meiner Sicht einem grundlegenden Missverständnis: Führung kam vor der formalen Organisation! Und Organisation ist immer ein Ergebnis der Wahrnehmung der Führungsaufgabe. Malik ist in diesem Punkt ebenfalls skeptisch: „Alle Organisationen sind unvollkommen … Viel zu häufig wird übersehen, dass es für Probleme, die den Anschein haben, organisatorisch gelöst werden zu müssen, auch andere Lösungen geben kann. Am häufigsten wird übersehen, dass die meisten Probleme durch besseres Management … vielleicht nicht gerade gelöst, aber doch gemildert werden können, und zwar viel rascher und leichter als durch Strukturveränderungen … Ist das Management, die handwerkliche Professionalität schlecht, so lässt sich das meiner Beobachtung nach niemals durch gute Organisation beheben oder kompensieren … Es gibt Leute, die bei jeder Schwierigkeit reflexartig ein Organisations- oder Strukturproblem sehen und sofort nach organisatorischen Änderungen rufen. Diesem Reflex darf man als Führungskraft keinesfalls nachgeben … Organisationen dürfen nicht primär nach den Problemen beurteilt werden, die sie produzieren, sondern man muss sie nach jenen Problemen bewerten, die sie gerade nicht produzieren.“75 Wie beruhigend, so berufene Hilfestellung für unsere Perspektive zu bekommen. Führung hat stets und immer dafür zu sorgen, dass Organisation auf die Kernaufgabe ausgerichtet bleibt: Damit trägt sie Verantwortung für die Organisation. Es war eine Zeit lang Mode, den Evolutionsgedanken auf die Organisationsgestaltung selbst anzuwenden. Einer der Grundgedanken dieser Perspektive ist sehr wohl nachvollziehbar, wenn wir uns eine Definition von Leben anschauen.

74

Wunderer, R., Führung und Zusammenarbeit. Eine unternehmerische Führungslehre, 5. Auflage, 2003, München: Luchterhand, S. 535 75 Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S. 193 ff.

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„Leben ist eine Systemleistung, bei der das System seine Elemente austauscht und die Systemleistung erhält. Es gibt also etwas, das bleibt (die Systemleistung), und etwas, das vergeht (die Elemente). Erhalten und Vergehen sind die beiden Grundprinzipien des Lebens.“76 Lebendige Organisationen und Unternehmen sind mit dieser Definition durchaus zu beschreiben. Allerdings hat diese Linie nichts mit dem von mir hier verfolgten Ansatz zu tun. Halten wir dennoch fest: Organisationen können nach Struktur- und Funktionsprinzipien lebensfähiger Systeme gestaltet werden. Grundsätzlich spricht jedoch gleichzeitig Einiges dafür, dass Organisationsformen sich evolutionär weder selbst zu Optimal-Organisationen weiter entwickeln konnten noch dies jemals tun werden: „ Zunächst einmal ist in jeder Organisation aufgrund der vorhandenen Komplexität Misserfolg leicht auf nahezu beliebige Gründe zurückzuführen. Die Selektionsmechanismen „schlagen nicht gnadenlos treffsicher zu“. „ Dann müssten klare, voneinander isolierte Organisationsformen in den Wettbewerb gehen, um die erfolgreichste zu identifizieren. Es dürfte nicht zu einem Austausch kommen. Die partielle Übernahme von Ideen anderer Organisationen und der Wechsel von Organisationsmitgliedern führten eher zu einer „schwächenden Vermischungen“ als zu „klaren Siegern“. „ Die „richtige“ Form, an ein soziales Großprojekt heranzugehen, unterliegt zu vielen sich verändernden Einflussfaktoren. Die Evolution wird unter solchen Bedingungen stets flexible Problemlöse-Mechanismen (z. B. gute Führung) fördern. Während ältere Definitionen Organisationen als Akt oder Prozess des Organisierens definierten (ein Gedanke, dem wir durchaus folgen können), gehen neuere Definitionen in mancher Weise noch näher in Richtung unserer Ur-Perspektive. „Unter einer Organisation verstehen wir ein strukturiertes soziales System, das aus Gruppen von Einzelpersonen besteht, die zusammenarbeiten, um vereinbarte gemeinsame Ziele zu erreichen … Die formale Organisation ist ein mit Problemen konfrontiertes und diese Probleme lösendes System.“77 Es scheint dabei nicht unwichtig zu sein, sich auf klar definierte Hauptziele (wir erinnern uns: „Was ist unser Mammut?“) zu konzentrieren. Malik stellt fest, dass alle „…Versuche, Ein-

76 77

Treml, A. K., Evolutionäre Pädagogik. Eine Einführung, 2004, Stuttgart: Kohlhammer, S. 83 Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, S. 6 + S. 557

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zweck- in Multizweck-Organisationen zu verwandeln, letztlich gescheitert sind“78. Wir sollten also auch überlegen, wann der Sinn einer Organisation erfüllt ist – und uns beschränken. Es gibt Hinweise darauf, dass der moderne Gedanke der Kernkompetenzen eine Wurzel in unserer Vergangenheit hat, nämlich in der einfachen Kernfrage: Wozu gibt es diese Organisation? In den Abertausenden von Jahren hat sich Einiges verändert: Menschen arbeiten heute in Organisationen, verdienen dort ihr Geld und gehen wieder. Sie kommen oft nicht mehr erkennbar um einen gemeinsamen Sinn zusammen. Wir registrieren auf diesem Weg langsam Probleme, die aus evolutionspsychologischer Sicht vorhersagbar gewesen wären. Das Phänomen der (sinkenden?) Loyalität ist vermutlich eng mit diesen Gedanken verbunden. In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass Organisationen immer häufiger nicht mehr die sichtbaren, greifbaren und offensichtlichen Orte sind, die sie einmal waren. Es müssen nicht mehr alle Mitarbeiter zur selben Zeit am selben Ort sein, damit Aufgaben bewältigt werden können. Und Organisationen sind auch immer seltener davon überzeugt, alles besitzen zu müssen, das benötigt wird, um die Arbeit zu leisten. Noch können wir nur spekulieren, wie sich diese Entwicklung mit unseren evolutionären Grundstrukturen und Mustern vertragen wird. Es gibt wohl einige Wahrheiten über Organisationen, die ihre Gültigkeit behalten werden. Eine davon scheint das Gesetz der Gegenseitigkeit zu sein, das es in allen Nationen und Kulturen gibt. Eine andere, dass wir die grundsätzliche Tendenz und das Bedürfnis haben, unsere Identität mit den Dingen zu definieren, die unseren Alltag dauerhaft bestimmen. Sollten Organisationen irgendwann nur noch virtueller Art sein, sollten verschiedenste Menschen zeitlich begrenzt zur Aufgabenerfüllung zusammen kommen und nach getaner Arbeit wieder verschwinden, dann geht uns etwas verloren. Und der Verdacht liegt nahe, dass dabei auch leistungsbestimmende Dinge verloren gehen. Es geht hier nicht allein um: „bedauerlich, aber unvermeidlich“! Bei aller Veränderung und Erprobung sollten wir mit Drucker eines im Auge behalten: „Das Unternehmen ist vor allen Dingen sozial. Es besteht aus Menschen. So sollte es dem Zweck dienen, die Stärken der Menschen effektiv zu nutzen und ihre Unzulänglichkeiten bedeutungslos zu machen. Nur mit Hilfe der Organisationen ist es möglich, das umzusetzen – das ist der Grund, warum es Organisationen gibt und warum wir sie brauchen.“79

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Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S. 29 79 Drucker, P. F., Auf dem Weg zu neuen Organisationsformen, in: The Drucker Foundation, Organisation der Zukunft, S. 15-19, 1998, München: Econ

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5.3

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Politik: Die Macht bekommt ein Eigenleben

Erinnern wir uns: Führende setzen alles ein, was ihnen zur Verfügung steht, um die Kernaufgabe besser zu lösen als andere (Ziel 1). Gelingt ihnen dies, erhalten sie Legitimation, Unterstützung und Ansehen aus der Gruppe. Diese Privilegien verteidigen sie nun mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit allem, was ihnen zur Verfügung steht (Ziel 2). Für dieses neue Spiel werden Fähigkeiten wertvoller, die - unabhängig von der Erfüllung der Kernaufgabe – auf den Erhalt der Positionsmacht ausgerichtet sind. Was hat es mit dem Phänomen Macht auf sich? Der Begriff Macht hat Wurzeln in vielen Regionen der Welt und ist im Kontext von Kraft, etwas vermögen, machen, etwas bauen, zu finden. Er weist also darauf hin, dass jemand, der Macht hat, etwas vermag, was jemand anderer nicht vermag. Das Phänomen hat mit Unterschieden zwischen den Menschen zu tun. Macht ist folglich mit Leistungsvermögen verknüpft. Es gibt sehr unterschiedliche MachtHaber und prinzipiell verschiedenste Macht-Quellen: Manche Menschen können besser laufen oder jagen, andere besser reden, kämpfen, flirten, Probleme lösen, Häuser bauen usw. Macht ist unlösbar mit der Natur (des Menschen) verbunden! Wie sähen die Alternativen aus: (a) „Nichts und niemand vermag etwas zu tun.“ Eine für die Evolution unsinnige Aussage. (b) „Es gibt keinerlei Unterschiede zwischen den Wesen.“ Eine für die Evolution ebenso unsinnige Aussage. Gehen wir also davon aus: Macht ist! Es gibt uns Menschen ein gutes Gefühl, etwas bewirken zu können. Wir mögen das. Mittlerweile wissen wir, dass dieses allgemein verbreitete Mögen ein Zeichen dafür ist, dass wir archaischen Mustern auf der Spur sind. Schon kleinste Kinder haben an der Erfahrung, etwas bewirken zu können, Freude – selbst, wenn das Ergebnis uns Erwachsenen völlig unsinnig erscheint. Haben Sie schon einmal einem Baby zum siebten Mal einen Schnuller in den Mund gesteckt, den dieses freudig erregt sofort wieder ausspuckt, um dann auf Ihre Reaktion zu warten? Es spürt seine eigene Wirksamkeit – und hat einen riesigen Spaß daran. Schade nur, dass wir diesen in solchen Momenten selten teilen, genießen und fördern, nicht wahr? Eine echte Schwierigkeit ergibt sich allerdings daraus, dass es für das Machtstreben keine triebbefriedigende, abschaltende Endsituation gibt. Machtstreben kennt keine Grenzen, außer denen, die die Umwelt setzt. Wir haben Spaß daran, unseren Wirkungskreis zu erweitern, immer mehr bewirken zu können. Entscheidend für die Wirkung der Macht ist, wie sie eingesetzt wird und um welche Art von Macht es sich handelt (z. B. Belohnungsmacht, Attraktivität, Expertenmacht, Positionsmacht, Gewalt).

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Evolutionspsychologisch werden Vorfahren, die ihre egoistischen Aggressionen nicht kontrollieren konnten oder ihr Vermögen (ihre Macht) nur für egoistische Zwecke nutzten, im Exil geendet haben, von der Gemeinschaft getötet oder gefangen genommen worden sein80. Nicht Macht ist ein soziales Problem, Machtmissbrauch ist es! Von Machtmissbrauch sollte man insbesondere dann sprechen, wenn individuelle Fähigkeiten eingesetzt werden, um (a) rein egoistische Ziele zu verfolgen und dabei (b) gleichzeitig keine Rücksicht auf das Selbstwertgefühl anderer genommen wird. Während das schmiedeeiserne Gartentor der Lehrwerkstatt für den Direktor zwar recht egoistisch sein mag, fördert es zumindest noch die Kompetenzen der Auszubildenden und könnte gar deren Selbstwertgefühl steigern. Die sexuelle Affäre mit einer Mitarbeiterin, die später stillschweigend „versetzt“ wird, hat da eine andere Dimension. Aber selbst das unachtsame Nicht-Grüßen eines Chefs, dem auf dem Flur ein Mitarbeiter begegnet, hat Facetten von Machtmissbrauch. Sicherlich wird er, darauf angesprochen, auf seinen Stress oder die eigene gedankliche Abwesenheit hinweisen. Hätte er aber in derselben Situation auch seinen eigenen Vorgesetzten nicht gegrüßt? Unwahrscheinlich. Eine für die Praxis wesentliche Unterscheidung sollte auch zwischen machtbewusst und machtmotiviert getroffen werden. Jede erfolgreiche Führungskraft benötigt wohl Antennen für subtile Machtsignale und weniger subtile Machtkämpfe. Sie muss Machtbewusstsein besitzen, zu ihrer Macht stehen und diese für das gemeinsame Ziel einzusetzen bereit sein. Machtmotivation, als vielleicht sogar recht stabile individuelle Motivationsstruktur, birgt jedoch eine große Gefahr. Sie holt sich ihre – letztlich nicht stillbare – Befriedigung aus der Niederlage anderer. Dies kann unmöglich den Gesamterfolg der Organisation erhöhen! Durch die gedankliche Verknüpfung von Hierarchie und Machtmissbrauch wurde ersterer immer wieder einmal abgesprochen, dass sie noch zeitgemäße, für das Überleben nützliche Konzepte der Unternehmensführung bietet. Insbesondere radikale Vertreter der Systemtheorie sind die vehementesten Hierarchie-Gegner, dabei wurde schon häufig das Scheitern führerloser Gruppen beschrieben81. Die wenigsten Hierarchie-Abschaffer haben dabei wohl erwartet, dass mit der Entsorgung offizieller Machthaber das Phänomen Führung nicht beseitigt werden kann. Es entstehen unmittelbar neue Führungsstrukturen. Aus unserer Perspektive gibt es kaum etwas Selbstverständlicheres. Führung ist unabhängig von einer formalen Hierarchie. In jeder Gruppe entwickelt sich in Bezug auf spezifische gemeinsame Aufgaben ein stabiles und wiederkehrendes Muster unterschiedlicher Rangpositionen. Irgendeiner in der Gruppe hat immer mehr Einfluss (kann immer mehr machen) als die anderen82.

80

Richerson, P. J., Boyd, R. & Paciotti, B., An Evolutionary Theory of Commons Management, Draft 4.0 May 30, 2001, Chapter intended for: Institutions for Managing the Commons, Stern, P., managing editor, National Research Council, S. 12 81 Dollinger, M., Führen in eine(r) Lernkultur. Die Mitarbeiter-Chef-Beziehung als Reciprocal Management, 1999, München: Vahlen, S. 60 82 Diehl, R., Das Ende der Hierarchien?, 1993, Paderborn: Junfermann

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Für mich ist daher z. B. das Konzept der Anarchie (von griechisch „An-Archia“, keine Herrschaft) völlig chancenlos, auch wenn es lebenswerte Elemente enthalten mag. Dabei geht es mir nicht darum zu behaupten, dass der Mensch beherrscht werden müsse. Wir Menschen wissen jedoch nahezu instinktiv, dass wir bei der Bewältigung gemeinsamer Großaufgaben erfolgreicher sind, wenn wir gut geführt agieren. Auch Anarchisten geht es so, selbst wenn sie sorgfältig darauf hinweisen, keine Führenden oder Cheftheoretiker zu haben83. Das anarchistische Hauptziel, die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ist nicht durch eine Abschaffung von Herrschaft zu erreichen. Macht ist nicht abschaffbar! Es ist sinnvoll, transparente Machtstrukturen zu haben, die von den Beteiligten legitimiert oder abgelehnt werden können. Der Missbrauch von Macht muss (von den Geführten) erkannt und geahndet werden können. Dass der Kampf um Anerkennung und Status einen besonderen, separaten Reiz erhielt, war evolutionär zum einen kaum zu vermeiden, zum anderen für unsere Spezies bislang offenbar (noch?) nicht ernsthaft überlebensgefährdend. Sonst gäbe es uns nicht mehr! Dieser Kampf stellt möglicherweise eine Wurzel der Politik dar. Macht und Politik sind eng miteinander verwobene Konzepte. Politische Kompetenz hat erheblich mit dem Erwerben, Erhalten und Vermehren von Macht zu tun. Politik findet seinen Nährboden vor allem in größeren Systemen. Sie ist wohl seltener in der Partnerschaft zu finden als in der Familie. Vor knapp 6.000 Jahren entstanden die ersten, größeren Gesellschaften, und zwar relativ unabhängig voneinander weltweit in vermutlich 6 Zentren (Mesopotamien, Anden, Industal im nordwestlichen Indien, Ägypten, China, Mittelamerika). Und schon vor etwa 11.000 Jahren lassen sich zahlreiche Ortschaften nachweisen, die sich im Laufe vieler Generationen immer mehr zu Siedlungssystemen zusammenfügten. Der Übergang zu größeren Lebensgemeinschaften stellte für unseren frühzeitlichen Verstand eine gewaltige Herausforderung dar: Angst und Misstrauen gegenüber Fremden wuchsen ebenso wie das Bedürfnis nach gegenseitiger Verteidigung. Und es „… entstand, was unter Menschen in vergleichbarer Lage immer entsteht: ein unentwirrbares Netzwerk von Interessen, Eifersüchteleien, Begehrlichkeiten und natürlich auch Konflikten“84.

Auch eine große Gesellschaft muss weiterhin als Ganzes auf bestimmte Probleme reagieren. Wir wissen zum Beispiel, dass die Pflege der Infrastruktur schon zu den Aufgaben gehörte, die sich den frühesten Vorstufen des Staates stellten. Dazu kam eine Aufgabe, die sich aus einem entscheidenden Nachteil der Sesshaftwerdenden ergab: Wachsender Wohlstand weckte die Begehrlichkeiten der Nachbarn. So sind die Raublust der Nomaden (die sich naturgege83

Stowasser, H., Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten, 2003, Berlin: Karin Kramer 84 Herzog, R., Staaten der Frühzeit. Ursprünge und Herrschaftsformen, 1998, München: Beck, S. 38

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ben in ihrer Umwelt bedienen und weiterziehen, damit sich diese erholt) und die Angst der sesshaften Völker vor ihnen (die naturgegeben bewahren, schützen und hegen) bis heute in weiten Teilen der Welt ein fundamentales Thema. Sobald sich eine Gruppe von Menschen erst einmal zu einer komplexen Gesellschaft organisiert hatte, übte sie aufgrund ihres erhöhten kooperativen Potenzials Druck auf kleinere Einheiten aus. Für Menschen wurde es oft nachteilig, keiner großen Gruppe anzugehören. Aber Tausende von Jahren lassen sich in unseren Köpfen nicht so einfach ausradieren: Die Anzahl der Menschen, die wir kennen – meist sind es nicht mehr als 150 Personen – hat sich seit den Lebzeiten unserer Vorfahren praktisch nicht geändert, obwohl wir heute in einer Massengesellschaft mit Abermillionen von Menschen leben. Unsere Psyche ist wohl nicht darauf eingerichtet, komplexe kooperative Beziehungen mit einer größeren Menge an Menschen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, weil jede Form der Kooperation prinzipiell viel versprechend, aber auch sehr gefährlich und außerordentlich nervenaufreibend ist. In Großgesellschaften fehlt uns etwas, was wir mögen. Prompt schmieden wir kleinere Bündnisse: Wir verwenden unsere bemerkenswerte Kooperativität, um Kartelle, Interessenverbände und Banden aufzubauen oder um Ränke zu schmieden. Neben solchen Gruppen stehen Einzelne und weniger geschlossen auftretende Gruppen oftmals im Abseits, also bauen auch sie sich politisches Kapital auf. Dieses Kapital besteht nach Ansicht von Wissenschaftlern aus zwei immateriellen Gütern: Ansehen und Beziehungen. Wir erinnern uns, dass bereits bei der Diskussion über Organisationen das Ansehen bzw. Image der Führungskraft an Bedeutung gewann. Es wäre zu schön und ist meistens auch nicht wahr, wenn beides nur von der Qualität der gelieferten Arbeit abhinge. Fachleuten zufolge entsteht Ansehen folgendermaßen: Zunächst einmal muss man sich als jemand qualifizieren, der zuverlässig Leistung erbringt, sprich die Ergebnisse liefert, die in der Organisation benötigt werden. Es fällt uns leicht, diese Aussage in unser bisheriges Bild einzufügen. Daneben setzt Ansehen dann wohl voraus, dass man die richtigen Resultate auf dem richtigen Weg erreicht. Welcher Weg der richtige ist, lässt sich schwer verallgemeinern, aber fast immer kommt es auf gute Zusammenarbeit an. Auch diese Aussage birgt nichts Erstaunliches für unsere evolutionäre Perspektive, nicht wahr? Leistung erbringen und sich gleichzeitig die Gruppe zum Feind zu machen, wird für unsere Urahnen weniger erfolgreich gewesen sein, als persönliche Leistung mit sozialer Unterstützung verbunden zu bekommen. Die Fachleute behaupten weiterhin, dass unser politisches Kapital wächst, wenn wir das Ansehen und die Aufstiegschancen der Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung stützen oder sogar steigern und wenn wir uns ihnen gegenüber loyal verhalten. Zu guter Letzt fehlt es ihrer Ansicht nach nur noch an einer erfolgreichen Beteiligung an dem Netzwerk der gegenseitigen Gefälligkeiten, Einverständnisse und Hilfestellungen, das eine

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Organisation zusammenschweißt85. Wenn diese Erkenntnisse stimmen, hat es die Natur sehr geschickt eingerichtet: Wir erhalten Ansehen, wenn wir wertvoll für die Gemeinschaft sind. Unser Führungsansatz würde genau dieses vorhersagen! Menschen in größeren Systemen sind daran interessiert, ihr politisches Kapital zu erhöhen. Sie integrieren sich in Netzwerke gegenseitiger Gefälligkeiten. Es ist unwahrscheinlich, dass Erfolg in einer Gruppe ohne Berücksichtigung machtpolitischer Aspekte dauerhaft möglich ist. Ansehen beruht also zum einen auf Leistungen, zum anderen auf Beziehungen. Interessant kann in diesem Zusammenhang auch eine Studie sein, die das Sozialverhalten von Kindern thematisiert86. Kinder, die Ansehen genießen, zeigen folgende Eigenschaften: „ Sie treten als Initiatoren von Spielen auf und organisieren diese. „ Sie bewegen sich freier im Raum und spielen mit verschiedenen Kindern. „ Sie greifen bei Streit schlichtend ein und treten dabei bevorzugt als Beschützer des Schwächeren auf. „ Sie sind aggressiver als der Durchschnitt, aber keineswegs die Aggressivsten. „ Sie stellen sich häufiger prahlend zur Schau. Das Streben nach Ansehen und Dominanz wird beim Menschen interessanterweise durch einen hormonalen Reflex belohnt. Es handelt sich also selbst aus biologischer Perspektive um einen stammesgeschichtlich älteren Ansporn87. Allerdings hat diese Tatsache durchaus Nebenwirkungen! Wir können „süchtig“ nach Macht und Ansehen werden! Zusammen mit der bereits erwähnten Tatsache, dass es für diese Beweggründe keinen Trieb abschaltenden Endzustand (wie Sattheit bei Hunger) gibt, haben wir es mit einem Phänomen besonderer Brisanz zu tun. Es spricht sehr viel dafür, dass unsere Bedürfnisse nach Macht, Ansehen und positivem Selbstwertgefühl auch sehr starke Motoren unserer Entwicklung waren und sind. Es wird den meisten Menschen nicht möglich sein, Spaß daran zu entwickeln, unbedeutend, ohnmächtig und wertlos zu sein. Legen wir zu diesen enormen Kräften noch unsere Neugier und Spiellust hinzu und wir haben eine faszinierende Mischung menschlicher Entwicklungskraft. Diese Energie wird vermutlich mit dazu beigetragen haben, dass wir im Verlauf unserer Entwicklung immer fähiger wurden. Es musste wohl früher oder später zu einer „KompetenzExplosion“ bei uns Menschen kommen. 85

Badaracco, J. L., Lautlos führen. Richtig entscheiden im Tagesgeschäft, 2002, Wiesbaden: Gabler, S. 83 Eibl-Eibesfeldt, I., Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie, 5. Auflage, 2004, München: Piper, S. 425 87 Eibl-Eibesfeldt, I., Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie, 5. Auflage, 2004, München: Piper, S. 432 86

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5.4

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Kompetenz-Explosion: Die Geführten werden besser

Wir wurden also immer mächtiger! Alle! Die (Bewusstseins-)Entwicklung galt natürlich für unsere gesamte Art und machte keinen Unterschied zwischen Führenden und Geführten. Genau dies ist der Grund, warum aus meiner Sicht alles dafür spricht, dass es keine genetischen Aspekte geben kann, die zwischen Führenden und Geführten unterscheiden. Schließlich entwickelten sich hier nicht zwei Gruppen unabhängig voneinander, so wie die Finken auf den Galapagos-Inseln und die in Europa. Wir haben bereits dargestellt, dass die Geführten von Natur aus erfolgreiche Überlebende mit entsprechendem Selbstverständnis waren – und in den Jahrtausenden unserer Startphase auch die genetischen Nachkommen von erfolgreich Führenden. Schließlich hatten diese die größten Möglichkeiten der Fortpflanzung. Es machte für die Natur absolut keinen Sinn, die Geführten prinzipiell dumm und schwach zu halten. In der kulturellen Ausgestaltung des Phänomens Führung haben spätere Führende – wohl aus den angesprochenen politischen Gründen der Machterhaltung – das „Dumm-und-schwachHalten“ selbst in die Hand genommen. Auch das entbehrt aus evolutionspsychologischer Sicht nicht der Logik: Wenn der Führende nicht von sich aus bessere Antworten auf die wesentlichen Fragen hat, sorgt er halt dafür, dass die anderen Antworten schlecht sein müssen. Diese „Lösung“ gab es erst, als kulturelle Aspekte und individuelles Lernen Einfluss auf die Frage nehmen konnten: Wer ist besser geeignet, die Kernaufgabe zu erfüllen? Im Konkurrenzkampf um die Führung gibt es zwei Wege: Zum einen kann ich dafür sorgen, einen Vorsprung zu halten, zum anderen dafür, dass alle Mitbewerber noch schlechter sind als ich. Auch heute finden wir viele Führungskräfte, die alle Lichter um sich herum ständig austreten, damit ihr eigenes heller leuchtet, nicht wahr? Dumme und schwache Geführte stellen die Autorität nicht so rasch in Frage. Der Preis: Schwierige Gemeinschaftsaufgaben können immer schlechter bewältigt werden, denn die Mannschaft ist untauglich. Diese Überlegung erlaubt eine interessante evolutionspsychologische Schlussfolgerung: Diktatorisch-repressive Gesellschaften sind in der Bewältigung wirklich herausfordernder Gemeinschaftsaufgaben schlechter als gut geführte Gesellschaften. Und dies gilt selbstverständlich auch für Unternehmen. Wachsende Herausforderungen für die Gemeinschaft machen schlauere und stärkere Geführte notwendig. Die damit wachsende Kompetenz der Geführten verändert nun wohl deren Erwartungen an die Führung ebenso wie die Bewertung derselben. Das kulturell zwischenzeitlich gepflegte Selbstverständnis der Führenden als „in allem Bessere“ gerät ins Wackeln. Und nun haben wir ein Problem: Die Geführten werden immer besser, und ich darf sie als Führungskraft nicht „dumm halten“. Was bleibt mir dann, um meine Macht zu erhalten? Machtmissbrauch und Gewalt als Lösungsweg verstoßen derart massiv gegen unsere evolutionär angelegten Vorstellungen von guter Führung, dass sie keine evolutionär stabile Strategie

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darstellen können. Es kann vertrauensvoll davon ausgegangen werden, dass die Natur diesen Weg nicht systematisch weiter verfolgt. Das andere Extrem, Gleichheit ohne Führung, müssen wir, wie bereits besprochen, als noch unwahrscheinlicher ausscheiden. Es gibt Unterschiede zwischen uns, die potenzielle Machtquellen darstellen. Ob wir wollen oder nicht! Gibt es andere Lösungen? Eine Denklinie kann bis zur Empfehlung des Reciprocal Management88 verfolgt werden. Hier geht die Autorin so weit, von den Geführten nicht nur zu erwarten, dass sie ihren Chef zu einem guten und erfolgreichen Führenden machen. Sie verpflichtet die Mitarbeiter sogar dazu, ihre Vorgesetzten bei deren Führungsaufgaben zu unterstützen, deren Führungskompetenz zu entwickeln und diese insgesamt zu fördern. Ich befürchte, diese Selbstlosigkeit kann aus evolutionär-psychologischer Perspektive kaum erhofft werden. Dem steht der natürliche Konkurrenzaspekt um die Führungsrolle entgegen. Was bleibt dann noch? Nun, zunächst einmal bleibt natürlich nach wie vor die Kernaufgabe der Führung! Auch die kompetentesten und stärksten Menschen bilden zusammen nur einen Haufen, kein funktionierendes Sozialsystem zur Bewältigung der Aufgabe, zu der man sich zusammengefunden hat. Die Natur hat uns hier – durch einige kulturelle Verwirrungen – vielleicht wieder mit der Nase auf das Wesentliche gestoßen. Es geht nach wie vor schlicht um die Frage: Wer kann erkennbar erfolgreicher dafür sorgen, dass das Ganze funktioniert? Es gab schon für unsere Führungs-Urahnen sicherlich Fähigkeiten, die einzelne Gruppenmitglieder besser entwickelt hatten. Ich kann mir kaum vorstellen, dass der historische Oberchef die besten Pfeile herstellte, alles über das Verhalten des Wildes wusste, über eine kraftvolle Konstitution verfügte, das Wetter bestimmen konnte usw. Auch damals gab es sicherlich bereits Spezialisten. Aber konnten die auch gemeinsam erfolgreicher sein als allein? Dafür zu sorgen, dass es gemeinsam funktioniert, scheint komplexer und schwieriger zu werden. Sind wir ihr irgendwann nicht mehr gewachsen? Gibt es irgendwann keine tatsächlich erfolgreichen Führungskräfte mehr? Gerät die „Welt aus den Fugen“?

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Dollinger, M., Führen in eine(r) Lernkultur. Die Mitarbeiter-Chef-Beziehung als Reciprocal Management, 1999, München: Vahlen

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5.5

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Komplexität + Dynamik: Die Welt gerät aus den Fugen

Insbesondere mit dem für erfolgreiche Führung notwendigen wirklichen Verstehen, der Erfolgsintelligenz, tun wir Menschen uns offensichtlich nicht nur verblüffend schwer, wir haben sogar den Eindruck, es würde zusehends unmöglicher. Wir unterstellen der Welt daher gerne eine wachsende Komplexität. Unsere Probleme, deren Zahl in unserer Wahrnehmung ständig zunimmt, werden zumeist eben dieser steigenden Komplexität und unserer mangelnden Fähigkeit zugeschrieben, mit derselben umzugehen. Malik vertritt die Ansicht, dass frühere Organisationen im Kern relativ einfach zu managen waren, „unter anderem deshalb, weil sie konkret waren; weil alles, was wichtig war, mit den Sinnesorganen erfahrbar war … In Zukunft und in den neuen Organisationen sind Information und Wissen die wichtigsten Ressourcen. Nur sehr wenig wird in gewohnter Weise mit den Sinnesorganen erfahrbar sein“89. Das würde bedeuten, nicht nur die wachsende Komplexität der Welt ist das Problem, sondern die wachsende Abstrahierung der Welt. Diese nahm sicherlich mit Entwicklung unseres Bewusstseins ihren Ausgangspunkt. Wir haben hier nach wie vor eines der größten noch ungelösten Probleme der Biologie vor uns. Und das Rätsel vertieft sich mit der Tatsache, dass viel von dem, was im Gehirn vor sich geht, unser Bewusstsein auch noch umgeht, auch wenn wir die hartnäckige Illusion haben, dass dem nicht so sei. Unser Zugang zu den Bereichen in uns, wo unterschiedliche Handlungsabläufe erwogen, Entscheidungen getroffen und langfristige Ziele bewertet und aktualisiert werden, ist überraschend eingeschränkt90. Das liegt schlichtweg daran, dass diese Funktionen auch schon benötigt wurden, als unser Denken noch nicht über Worte verfügte und das Bewusstsein in den Kinderschuhen steckte. Wir „dachten“ wohl eher in Bildern. Es gibt eine Denkrichtung, die versucht, unseren uralten Bildern im Kopf auf die Spur zu kommen. Sie spricht dabei von Archetypen. Nach C. G. Jung handelt es sich hierbei um „Reste einer frühen Kollektivpsyche“ die „in der Gehirnstruktur vererbt ist“. Er sieht im Archetypus eine kollektive Erlebnisbereitschaft, die nicht erworben ist, sondern schon immer da war, seit die Gattung homo existiert. Für ihn liegen Archetypen in einer funktionalen Nähe mit Trieben, und er betrachtet sie als „gigantische historische Vorurteile“91. Erkennen wir an dieser Stelle nicht verblüffende Parallelen zu unseren evolutionspsychologischen Gedanken?

Die Diskussion um unser „tierisches Erbe“ und um Archetypen ist zumeist von emotionalen, ganz individuellen Haltungen beeinflusst. Diese Themen gehen uns nahe, weil sie stets unser 89

Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S. 11 90 Koch, Ch., Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel, 2005, München: Elsevier, S. 224 ff. 91 Schmidbauer, W., Mythos und Psychologie, 2. Auflage, 1999, München: Reinhardt, S. 118 ff.

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ganz persönliches Selbstverständnis berühren. Wenn beispielsweise ein bekannter Wissenschaftler die Sorge äußert, die Archetypen-Diskussion entziehe sich „…einer technischrationalen Analyse, …, wo stattdessen viel primitivere (d. h. ursprünglichere, vorgängige, erstrangige) Prägungen am Werk sind“, scheint er um die Freiheit des Menschen und um das Anspruchsfeld wissenschaftlicher Forschung besorgt. Für ihn beutet Führung übrigens „– meist unbewusst – diese tiefsitzenden Programmierungen aus“92. Selbst wenn dem so wäre, stellt sich dann nicht noch dringlicher die Frage, ob und wozu sich solche Programmierungen entwickelten? Und haben auch Geführte Handlungsschablonen, um „tiefsitzende Programmierungen“ beim Führenden auszunutzen? Und warum überhaupt ausnutzen? Evolutionär ist dieses Phänomen nach unseren bisherigen Überlegungen zum Nutzen aller Beteiligten entstanden. Hier scheint mir eine sachlichere Herangehensweise angebracht. Es kann vermutet werden, dass auch unser Bewusstsein, unser Denken und Fühlen, einer evolutionären Dynamik unterworfen war und ist. Es wird Vorläufer unseres heutigen Denkens geben. Mit dem Begriff des Archetypischen könnten wir versuchen, eine Ebene zu markieren, auf der Erkennen und Verarbeiten stattfand, bevor es Sprache gab. Etwas Ähnliches wie unser heutiges Denken mag also dem Bewusstsein in Form urtümlicher oder archaischer Bilder zur Verfügung gestanden haben. Es gibt Autoren, die das Entstehen des Ich-Bewusstseins auf eine Zeit vor etwa 60.000 Jahren datieren93. Hier lassen sich z. B. bereits ausgeprägte religiöse Vorstellungen, die in der Bestattung von Verstorbenen mit Blumen und Grabpflege gipfelten, nachweisen. Andere gehen davon aus, dass schon Abertausende Jahre vorher die Endlichkeit des Lebens im Bewusstsein vorhanden sein musste. „Wenn das stimmt, dann müssen jene nordspanischen Höhlenbewohner, die vor 300.000 Jahren lebten, als vollwertige Mitglieder derselben Familie angstvoller Wesen verstanden werden, zu denen wir auch gehören.“94 Werfen wir bei dieser Gelegenheit einen kurzen Blick in unser Gehirn. Im Großen und Ganzen ist unwidersprochen, dass Gedanken in Form von Neuronennetzen in unserer Hirnrinde abgespeichert werden und Bilder und Ideen hier nicht in einer Art Schublade liegen. Es existieren überhaupt keine Bilder permanent in unserem Gehirn, sondern die neuronalen Schaltkreise, die diese Bilder für kurze Zeit „aufleuchten“ lassen, werden bei jeder Erregung neu zusammengesetzt95. Wäre es so abwegig, dass diese neuronalen Schaltkreise im Laufe der evolutionären Entwicklung systematisch strukturelle Elemente entwickelt haben – und vielleicht bestimmte „Bilder“ wahrscheinlicher machen? Auch unsere Möglichkeit des „Einan-

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Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002, S. 107 von Sprockhoff, H., Bewusstsein, Geist und Seele. Die Evolution des menschlichen Geistes, 1996, Frankfurt/ M.: Insel, S. 35 94 Arsuaga, J. L., Der Schmuck des Neandertalers. Auf der Suche nach den Ursprüngen des menschlichen Bewusstseins, 2003, Hamburg: Europa, S. 221 95 Weber, P. F., Der domestizierte Affe. Die Evolution des menschlichen Gehirns, 2005, Düsseldorf: Patmos 93

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der-Verstehens“ könnte auf gemeinsame Strukturen und Muster unseres Bewusstseins hinweisen. Wenn wir tatsächlich alle in einer völlig eigenen (Gedanken- und Gefühls-) Welt leben würden, wie wäre funktionierende Kommunikation, wie wäre Einfühlung, wie wäre das Phänomen, verstanden zu werden, erklärbar? Alles nur im Laufe eines kleinen Lebens gelernt? Funktioniert es dazu nicht schon viel zu lange und viel zu erfolgreich? Und entstand dieses Phänomen nicht bereits zu Zeiten, in denen unsere Vorstellungen von Lernen, Erziehung und Kultur gar nicht relevant waren? Ist es nicht nahe liegender, gemeinsame Grundstrukturen im Kopf zu vermuten, die sich in der Konfrontation mit derselben Umwelt entwickelt haben? Müssen wir lernen zu gähnen, wenn jemand in unserer Nähe dies tut? Müssen wir um eine Erklärung bitten, wenn jemand vor Ekel sein Gesicht verzieht und das Gegessene ausspuckt? Essen wir dann in Ruhe einfach weiter? Offenbar gibt es Grundstrukturen zu bestimmten überlebenswichtigen Themen, die uns das gegenseitige Verstehen erleichtern. Sie haben nichts mit Spielregeln zu tun, die in irgendeiner Weise abgestimmt wurden – sie entstanden vor dem Denken und Sprechen durch die gemeinsame evolutionäre Entwicklung; sie sind in diesem Sinne vor-rational. Warum sollten die Grundstrukturen im Laufe der Zeit wieder verschwinden? So etwas geschieht in der Evolution nur, wenn sich etwas als nicht mehr lebensfähig oder als hinderlich erweist. Ansonsten gestaltet Mutter Natur einfach auf der vorhandenen Basis weiter. In unserem Kopf gibt es Hirnstrukturen, die sehr viel älter sind als andere. Diese wurden nicht irgendwann ausgetauscht und gegen modernere Strukturen ersetzt; sie wurden ergänzt und eventuell auch zu ganz neuartigen Funktionen fähig. Daher ist auch der Gedanke irrig, wir seien archaische Wesen mit einer dünnen Kulturschicht, und jederzeit könnte das „Urmonster“ durchbrechen, wenn es nicht von unserem modernen Intellekt ständig kontrolliert würde. Dann sind wir schon eher zeitgemäße Wesen, von denen sich Einzelbausteine auch schon zu frühen Zeiten in irgendeiner Weise als überlebensfähig erwiesen. Das Funktionsprinzip einer Schraube kann auch in einem High-Tech-Flugzeug eine wichtige Funktion haben, ohne dieses zu einem konservativen Fortbewegungsmittel werden zu lassen, das sofort die Herrschaft übernimmt, wenn es nicht zwanghaft bewacht wird.

Nach Entstehen von Sprache, Bewusstsein und Kultur konnten wir viele Jahrtausende mit unseren archaischen Grundstrukturen weiterarbeiten. Wir konnten über sie nachdenken, sie in Theorien und Weltbilder einbetten, sie interpretieren, verleugnen und in ihrer Bedeutung ausschmücken. Heute kann niemand mehr wissen, was eine solche Grundstruktur für uns ohne Sprache und Bewusstsein zu leisten vermag. Wir können nicht einmal mehr eine solche Grundstruktur objektiv isolieren und identifizieren. Wir können nur mit Hypothesen arbeiten. Diese sind allerdings sehr wohl massiv von Kultur und Zeitgeist beeinflusst. Wenn wir unsere „Grundstrukturen im Kopf“ als Archetypen bezeichnen, können sie prinzipiell nicht eindeutig in für uns heute feststehende Begriffe übersetzt werden. Jede Theorie der Archetypen war und ist damit automatisch etwas Tagesaktuelles und Kulturelles.

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Die Weiterentwicklung unseres Bewusstseins konfrontierte unsere Vorfahren wahrscheinlich schon bald mit dem Eindruck einer zunehmenden Komplexität der Welt. Sie wurde in ihrem Erleben verwirrender und schwieriger. Der sich zugleich verlängernde Zeithorizont forcierte zusätzlich die Chance, Angst vor der Zukunft zu haben. Plötzlich signalisierte uns unsere Innenwelt Probleme, für die es in der Außenwelt keine unmittelbaren konkreten Entsprechungen gab. Wir wurden freier! Wir wurden mit unserem Erleben aus der aktuellen Situation herausgerückt. Wir fingen an, unsere natürliche Präsenz zu verlieren. Wir konnten Angst vor Dingen bekommen, die es nicht gab. Unsere Vorfahren werden genauso nach direkt spürbaren Lösungen für diese neue Art des Unwohlseins gesucht haben, wie sie es bei Hunger oder Angst vor der anwesenden Schlange auch taten. Sie waren sicherlich sehr bemüht, ihre (innere) Welt wieder unter Kontrolle zu bekommen. War dies die Geburtsstunde der professionellen Planung und der frühzeitlichen Wissenschaft – und zugleich des Aktionismus und des betäubenden Drogenmissbrauchs? Die zunehmende Flexibilität, die uns unser Bewusstsein ermöglichte, bot offensichtlich aber auch wesentliche Überlebensvorteile. In der direkten Konkurrenz mit anderen Lebewesen war es nützlich, ein differenzierteres Verständnis der Wirklichkeit entwickeln zu können – intelligenter zu sein. Heute bekommen viele Menschen die Komplexität in ihrem Kopf immer seltener „in den Griff“, sie verlieren oft sogar vor lauter Grübelei und Analyse ihre Handlungsfähigkeit. Die Entwicklung unserer mentalen Fähigkeiten ist wohl immer schon Segen und Fluch zugleich gewesen. Ist es möglich, dass wir in unserer Entwicklung an einen Punkt gekommen sind, an dem im beschriebenen Führungs-Spagat von Intelligenz und Dominanz auch für die Intelligenz der Umkehrpunkt erreicht ist? Werden zu intelligente Personen handlungs- und damit erfolgsunfähig? Diese Sorge scheint nur dann berechtigt, wenn wir das Intelligenzkonzept unabhängig vom Lebenserfolg definieren. Um dies zu vermeiden, müssen wir uns fragen: Was ist zu tun, damit uns unsere Komplexitätskompetenz nicht lahm legt? Erinnern wir uns vielleicht an dieser Stelle daran, dass die Natur uns schon bei der hochkomplexen Situation des Zusammenlebens geholfen hat. Um nicht voreinander zu fliehen, hat sie uns mit der Möglichkeit ausgestattet, einander zu vertrauen. Luhmann96 sieht eine wichtige Funktion von Vertrauen darin, Komplexität zu reduzieren. Haben unsere Vorfahren in der Angst fördernden Phase der Bewusstseinsentwicklung etwas Ruhe durch ein frühes „Gottvertrauen“ gefunden? Es gibt Hinweise darauf, dass die Entwicklung unseres Bewusstseins mit den ersten religiösen Aktivitäten parallel verlaufen ist. Auch heute scheint, Studien zufolge, diese Art von Vertrauen noch eine der Hauptursachen für Unterschiede bezüglich der allgemeinen Zufriedenheit in verschiedenen Gesellschaften zu sein.

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Luhmann, N., Soziale Systeme, 1984, Frankfurt: Suhrkamp

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Vertrauen scheint eine sehr wichtige Variable für unser Leben darzustellen! Studien belegen, dass überall dort, wo in sozialen Systemen das Vertrauen sinkt, Konflikte die Kooperation ersetzen. Richerson97 ist in unserem Zusammenhang überzeugt, dass Organisationen und das Vertrauen in sie evolutionäre Wurzeln haben und daher kaum analytisch-rational zu managen bzw. herzustellen sind. Wir haben bereits festgestellt, dass erlebte Unsicherheit die Sehnsucht nach einem Führenden erhöht. Die Geführten möchten sich vertrauensvoll entspannen, die Sorge um die Bewältigung der Kernaufgabe in den besten Händen wissen. Ist der Führende für die Geführten eine Methode der Komplexitätsreduktion? Ist daher Vertrauensmissbrauch durch ihn so schmerzhaft? Und: Wie gehen die Führenden mit ihren eigenen Ängsten um? Ein zweiter Ansatz, bewusste Komplexität zu reduzieren, besteht darin, verstärkt auch auf unsere unbewussten Verarbeitungssysteme (Phänomen Intuition) zu setzen, die sich in engem Zusammenspiel mit der Realität entwickelt haben. Dieses „Instrument“ kann zweifellos entwickelt werden – vorausgesetzt es wird ebenfalls noch besser verstanden. Aktuelle Studien und Veröffentlichungen98 belegen den Wert unserer Intuition – in den Lebensbereichen, in denen wir uns gut auskennen. Unsere Intuition stellt wohl die Kunst unseres Geistes dar, Wesentliches (Fakten, Beziehungen, Dynamiken) aus der unendlichen Vielfalt unserer Umwelt zu identifizieren und in Bezug zu unserem praktischen Verstehen, Entscheiden und Handeln zu bringen. Eines ist sicher: Wir entkommen der Komplexität unseres Bewusstseins nicht mehr. Die spannenden Fragen sind: Wie gehen wir mit den damit verbundenen Impulsen um (Phänomen Affekthandlung)? Wo können wir vielleicht unseren evolutionären Mechanismen vertrauen, weil sie viel unmittelbarer auf die Komplexität der Welt eingestellt sind (Phänomen Intuition), und wo benötigen wir andere Instrumente? Immer wieder wird besorgt registriert, dass wir die Probleme von morgen mit der Mentalität von vorgestern und den Werkzeugen von gestern angehen. Manche Autoren sind sogar der Überzeugung, dass „sämtliche Niederlagen, die wir bereits haben einstecken müssen“ mit diesem Defizit zusammenhängen99. Eine sehr pessimistische Haltung, nicht wahr? Üben wir uns doch direkt in Vertrauen: Halten wir uns zuversichtlich vor Augen, dass es Führungskräfte vor gut 10.000 Jahren schon einmal geschafft haben, ihren Planungs- und Managementhorizont drastisch zu verändern: vom „Projektleiter“ (Nomadentum und Jäger) zum „Linienmanager“ (Pflanzer und Hirten). Völlig neue Grundhaltungen wurden damals notwendig, um von der gewohnten Eintagesplanung auf eine 365-mal längere Jahresplanung überzugehen.

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Richerson, P. J., Boyd, R. & Paciotti, B., An Evolutionary Theory of Commons Management, Draft 4.0 May 30, 2001, Chapter intended for: Institutions for Managing the Commons, Stern, P., managing editor, National Research Council, S. 20 98 Wagner, B., Warum wir auf das Bauchgefühl hören dürfen, in PSYCHOLOGIE HEUTE, Januar 2006 33. Jahrgang, Heft 1, Beltz 99 Berth, R., Erfolg, 1993, Düsseldorf: Econ, S. 14

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Und dies ist sicherlich nur ein Beispiel dafür, welche Hürden wir bereits erfolgreich genommen haben. Möglicherweise nimmt die Komplexität der Welt auch gar nicht objektiv so rapide zu, wie es allerorts beschworen wird. Vielleicht sind wir nur zunehmend in der Lage, uns eine größere Komplexität zu verschaffen, uns immer intensiver mit der Komplexität der Welt zu befassen, in uns immer mehr Komplexität zu produzieren. Das würde bedeuten, dass es sehr wichtig wird, Wesentliches von Irrelevantem zu unterscheiden – und uns vor Letzterem zu schützen. In diesem Feld der Komplexität und Dynamik sind viele Fragen zu finden, für die wir noch gute Antworten brauchen.

5.6

Besitz: Die Trennung von Arbeit, Führung und Kapital

Parallel zur Entwicklung von Organisationen und Positionen, Sprache und Bewusstsein, von Politik und Karriere bekam ein weiterer Aspekt menschlicher Entwicklung wachsende Bedeutung: der individuelle Besitz. Die Horden unserer Vorfahren waren Hunderttausende von Jahren selbständige Unternehmen. Kooperation und Führung waren ur-natürlich mit der gemeinsamen Aufgabe zu überleben verknüpft, der Sinn des gemeinsamen Tun stand völlig außer Frage, „Kapital“ in unseren Sinne gab es nicht. In diesem Umfeld entstanden unsere Ur-Bilder von Gerechtigkeit, Motivation und Sinnhaftigkeit. Anfangs ermöglichte Besitz vor allem Vorsorge und Tauschhandel. Wenn ich zwei statt einem Bogen herstellte, konnte ich einen gegen Feuersteine tauschen. Und spätestens als vor rund 10.000 Jahren Menschen Land in Besitz nahmen, änderte sich vieles. Auch wenn schon der Jagd-Speer eine Ressource ist, die grundsätzlich einem anderen zur Verfügung gestellt werden kann, der Speer konnte selbst hergestellt werden. Ressourcen, die regional unterschiedlich verteilt waren (z. B. bestimmte Steine, Pflanzen und Nahrungsmittel) oder auf unterschiedlichen Fähigkeiten beruhten (z. B. Behälter und spezifische Waffen), konnten schon sehr früh Machtquellen darzustellen. Eine wirklich massive Veränderung trat in dem Moment ein, als (überlebens-) wichtige Ressourcen Einzelnen gehörten, die nicht mehr von jedem hergestellt werden konnten. Waren es gar entscheidende Ressourcen für soziale Großprojekte, wird diese Tatsache noch bedeutsamer: Eine Form der Macht entstand, die nicht mehr von den Kompetenzen eines Individuums abhängen musste, sondern von seinem Besitz („diese unnachahmliche Keule gehört mir. Versuche, sie mir abzunehmen …“). Diese Entwicklung kann von mir nicht einmal annähernd in ihrer vollständigen Bedeutung für unser Gemeinschaftsleben beurteilt werden und ist Grundlage unterschiedlichster Gesell-

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schaftsentwürfe (gewesen). Recht sicher ist man sich, dass es sehr verschiedene Motivationen des Besitzens und nicht notwendigerweise einen „allgemeinen Besitztrieb“ gibt100. Ich möchte in unserem Zusammenhang allerdings zumindest einige Facetten herausgreifen: Persönlicher Besitz kann zunächst einmal ebenso als individuelle Ressource betrachtet werden, wie die Fähigkeit, Speere treffsicher zu schleudern. Er ist eine weitere Machtquelle. Besitzende können auf diese Weise Führung beanspruchen, ohne persönlich für das gemeinschaftliche Großprojekt wertvoll zu sein. Hochgradig schwierig wird es, wenn sie Einfluss nehmen ohne ausreichendes Verständnis für die Gesamtlage. Wir erinnern uns: Die Phänomene Erfolgsintelligenz und Dominanz (problemlösende Um- und Durchsetzung der Intelligenz) stehen vermutlich in einer ursprünglichen Beziehung zum Phänomen Führung. Besitz stellt nur eine Machtquelle dar, fördert also die Dominanzseite der Führung. Besitz macht nicht erfolgsintelligent! Mit Einführung der Besitzvariable Geld entstand zudem eine Art Fähigkeits-Joker. Es gab nun quasi „Multi-Befähigte“, die ihre Joker genau dafür einsetzen konnten, was zur Bewältigung der Gemeinschaftsaufgabe gebraucht wurde – aber natürlich auch für rein egoistische Zwecke. Die Notwendigkeit für die Mitglieder einer Gruppe, dem Risiko des Machtmissbrauchs erfolgreich zu begegnen, wird mit dem Phänomen Besitz, insbesondere seit Einführung der Besitzvariablen Geld, erschwert – aber noch bedeutsamer! Ein weiteres Problem entstand vor kurzem, als die Besitzvariable Geld selbst zum höchsten Managementziel (Shareholder Value) erhoben wurde und eine Veränderung der Steuerungsmechanismen stattfand. Erfahrung und wirkliches Verstehen wurden auf finanztechnische Kennziffern reduziert. Von nun an steht weder der ursprüngliche Sinn der sozialen Gemeinschaft noch die Überlebensfähigkeit der Organisation an höchster Stelle, sondern der – zumeist erschreckend kurzfristige – Gewinn. Setzt man ihn nun noch mit Führungserfolg gleich, verliert man den wesentlichen Kern des Phänomens Führung völlig aus den Augen. Wir haben es hier mit Entwicklungen zu tun, die in ihren Auswirkungen nur schwer abzuschätzen sind. Sicher scheint jedoch, dass die Inhaber von Führungspositionen zunehmend vor zumindest zwei Probleme gestellt werden, die neueren Datums sind: 1. Es gibt Mächtige, die von etwas keine Ahnung haben, sich trotzdem genau dazu einschalten und denen von den beteiligten Organisationsmitgliedern nicht demonstrativ die Legitimation entzogen werden kann! Womit ist bei den Betroffenen wohl zu rechnen? Eine kleine Auswahl: „ Sie entziehen unsichtbar und innerlich die Legitimation (Extremfall: innere Kündigung). „ Sie enthalten den Mächtigen ihre persönlichen Machtquellen (u. a. Kreativität, Wissen, tiefes Engagement und Selbständigkeit) z. B. in Form von Dienst nach Vorschrift vor. 100 Eibl-Eibesfeldt, I., Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie, 5. Auflage,

2004, München: Piper, S. 482

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„ Sie konzentrieren sich verstärkt auf politische Macht statt auf die Leistungserbringung. Sie suchen Schicksalsgenossen, mit denen sie gemeinsam das eigene Überleben sicherstellen. „ Sie stellen ihre Machtquellen einer anderen Organisation zur Verfügung – übersehen dabei allerdings oftmals, dass sie häufig „vom Regen in die Traufe“ kommen (Kündigung). 2. Die eindimensionale Ausrichtung auf Geld reduziert die Möglichkeit gemeinsamen Sinnerlebens. Jedes Gruppenmitglied erlebt nur isoliert den Sinn, den es der „Variable Geld“ persönlich gibt. Die Identifikation mit der Gemeinschaft wird erschwert, die Prioritäten verschwimmen. Was sind hier einige mögliche Reaktionen der Betroffenen? „ Das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit und Identifikation wird außerhalb des Unternehmens gestillt – oder in der beschriebenen Gruppe der Schicksalsgenossen. Die Organisation ist nicht mehr emotional bedeutsam. „ Die Gruppenmitglieder entwickeln ein zynisches Welt- und Menschenbild und senken ihre Erwartungshaltung an die Organisation und deren Mitglieder. „ Das Engagement und die Konzentration werden einseitig auf Geldverdienen ausgerichtet, nicht mehr auf das Leben einer gemeinsamen Leistungskultur. Es kann gut sein, dass in der Dimension „Arbeit und Kapital“ tatsächlich viele der oftmals und teilweise bekannt polemisch aufgezeigten Risiken zu finden sind. Die wesentliche Frage ist jedoch auch hier: Was schließen wir aus dieser Sachlage? Gehen wir in den „Klassenkampf“ – oder besinnen wir uns auf die Wurzeln unserer Gemeinschaft und korrigieren Fehler? Verfestigen wir innerhalb der Organisation Feindbilder oder setzen wir die belegbare Tatsache, dass interne Kooperation erfolgreicher ist als interner (Wett-)Kampf, in konkretes Handeln um? Eines erscheint mir sicher: Der so genannte Fortschritt und die kulturelle Entwicklung sind nicht automatisch weise und gut für uns. Wenn wir sie nicht vor dem Hintergrund unserer menschlichen Natur prüfen und steuern, übernimmt die Evolution wieder selbst die Auslese.

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6.

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„Puzzlesteine“ für unser Bild (Teil 2)

„ Das Urbild der Führung hat sich weiterentwickelt, wurde ergänzt und unterschiedlich kulturell eingebettet. Die Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, die sich evolutionär bewährten und nicht vom Leben „ausgesiebt“ wurden, leben dabei in uns weiter. Sie wurden nicht unwirksam! „ Führung ist damit nicht beliebig zwischen Führenden und Geführten aushandelbar und kann auch nicht willkürlich „modernen Ideen“ folgen. „ Die erfolgreiche Wahrnehmung der Führungsaufgabe führt zu Ansehen, Status und Privilegien. Zur persönlichen Macht des Führenden kommt die von den Geführten verliehene soziale Macht. Der erfolgreich Führende wird von der Gruppe stabilisiert. „ Menschen versuchen, ihre Privilegien zu verteidigen. Das größte Risiko für Führungskräfte besteht in diesem Zusammenhang darin, über diese Verteidigung ihre Kernaufgabe zu vernachlässigen. Der Wirkungszusammenhang ist eindeutig: Die Erfüllung der Kernaufgabe führt zu Privilegien! „ Jede Gruppe muss sich Gedanken machen, wie sie mit dem Bedürfnis ihrer Mitglieder nach Status, Ansehen und Privilegien umgehen will und sollte. „ Auch wenn es schwerer wird, den tatsächlichen Zusammenhang zwischen Führung und erlebtem (Miss-)Erfolg zu klären: Dieser Zusammenhang wird von den Geführten unmittelbar hergestellt. Sie lassen sich einerseits nur kurz „bluffen“ und sind andererseits nicht an „Objektivität“ ausgerichtet! „ Geführte testen ihre (neuen) Führende. Diese müssen die Herausforderung annehmen und ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. „ Evolutionär kann angenommen werden, dass der Typus Problemlöser sehr viel häufiger unter Führungskräften zu finden ist als der Typus Chancensucher/ Visionär. „ Die Errungenschaft des Organisiert-Seins war evolutionär offensichtlich wertvoll. Organisationen sind kristallisierte Erfahrungen in Strukturen, Aufgaben und Abläufen. Sie bieten ihren Mitgliedern Status, Funktion, Identität und Geborgenheit. Menschen mögen das! „ Es gibt keine übergreifend optimale Organisation und noch so erfolgreiche Organisation kann Führung nicht ersetzen. Organisationen sind in erster Linie sozial! Sie bestehen aus evolutionär, kulturell und individuell geformten Menschen. Führung kann diese Tatsache nicht ungestraft ignorieren. „ Macht ist unlösbar mit der Natur des Menschen verbunden und absolut wertvoll! Machtmissbrauch (Verfolgung egoistischer Ziele, ohne Rücksicht auf das Selbstwertgefühl anderer) ist ein sehr ernst zu nehmendes Problem! „ Führungskräfte müssen machtbewusst sein, zu ihrer Macht stehen und diese für das gemeinsame Ziel einzusetzen bereit sein. Eine hohe Machtmotivation dagegen stellt ein Risiko dar, da Menschen „süchtig“ nach Macht werden können und es für diesen Beweggrund keinen „Trieb abschaltenden Endzustand“ gibt. „ Unsere Psyche ist vermutlich nicht darauf eingerichtet, komplexe kooperative Beziehungen mit einer größeren Menge an Menschen aufzubauen. In größeren Systemen sind wir daher daran interessiert, politisches Kapital (Ansehen und Beziehungen) aufzubauen. „ Politisches Kapital stellt eine eigene Machtquelle dar. Es ist unwahrscheinlich, dass Erfolg in einer Gruppe ohne Berücksichtigung machtpolitischer Aspekte dauerhaft möglich ist. „ Das Selbstverständnis von Führenden und Geführten ist in erster Linie kulturell definiert! Damit kann es unabhängig von den evolutionären Gegebenheiten des Phänomens Führung sein. Es kann wesentliche Fehler enthalten und den gemeinsamen Erfolg behindern oder gar vereiteln! „ Die Gefahr unserer Fähigkeit, Komplexität erleben und herstellen zu können, ist die Handlungsunfähigkeit. Führung reduziert für die Geführten Komplexität, indem sie die Möglichkeit bie-

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tet, sich vertrauensvoll zu entspannen. Menschen mögen dieses Gefühl der Sicherheit. Wo Vertrauen abnimmt, ersetzen Konflikte die Kooperationsbereitschaft. „ Neben Vertrauen ist auch unsere Intuition in der Lage, Komplexität zu reduzieren. „ Besitz (durchaus auch der „Besitz einer Position“) stellt eine eigene Machtquelle dar. Besitzende können darüber Führung beanspruchen, ohne für die Erfüllung der Kernaufgabe wertvoll zu sein. Dadurch werden ernst zu nehmende Probleme gefördert, z. B. (innere) Kündigungen, Dienst nach Vorschrift, politische Machtspiele, sinkende Loyalität, Zynismus, Egoismen.

Unser Gedankenspiel rund um die Frage, wie weit die Idee der Evolution auch das Phänomen Führung befruchten kann, endet hier zunächst. Mit jedem Schritt, den wir gemeinsam seit den Ursprüngen des Phänomens Führung gegangen sind, wurde das Eis dünner, auf dem wir uns bewegen. Weist der Stand unserer Überlegungen nun auf eine Zukunft, auf ein Soll für die Führung hin? Nein, nicht unmittelbar. Evolution definiert keine Soll-Zustände. Allerdings definiert sie Rahmenbedingungen für Zukünftiges und Mögliches. Ich werde diesen Gedanken im letzten Teil des Buches noch einmal aufgreifen. An dieser Stelle können wir aber bereits festhalten, dass wir von unserer Zeitreise nicht mit leeren Händen zurückgekommen sind. Wir haben eine Menge an Material, um daraus für unser Profiling eine gute Theorie zu erarbeiten. Lassen Sie uns die Essenz der evolutionären Führung zusammenstellen.

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Teil II: Die Essenz der Führung

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„Ein Mensch, der nichts hat, worin er anderen voraus ist, ist kein Führer.“ Dschuang Dsi, Weiser Unsere bisherigen Überlegungen begründen, warum Führung einerseits weder einfach an konkreten Verhaltensweisen noch an besonderen Eigenschaften der Führenden festgemacht werden kann, andererseits jedoch bestimmten Regeln und Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Damit löst sich ein Paradox auf, das sich noch am Anfang unserer gemeinsamen Reise in die Urzeit stellte: Manche Menschen sind erfolgreichere Führende als andere, aber sie lassen sich nicht auf der Grundlage ihrer Persönlichkeit und ihres Verhaltens beschreiben. Unser Puzzle ist offenbar zumindest soweit gediehen, dass wir Teile zusammenfügen konnten, die bislang unvereinbar erschienen. Und wir ahnen auch schon, welches Gesamtbild möglicherweise entstehen wird. Unklar bleibt, wie die Details aussehen und inwieweit diese eine praktische Bedeutung für unsere Schatzsuche haben. Aus Profiler-Sicht können wir an dieser Stelle die beiden Grundthesen aufstellen, dass die Gruppe von Menschen, die Führungsaufgaben erfolgreich wahrnimmt, „ besser als andere Mitglieder dafür sorgen kann, dass ein für die Gruppe bedeutsames großes Ganzes funktioniert und „ es versteht, die Legitimation der Gemeinschaft für die eigene Führungsrolle zu erlangen und zu erhalten. Wir wissen nun zudem, dass es nicht dem Zufall überlassen ist, ob dies gelingt oder nicht. Auch wenn es offenbar keine Musterlösung für die Führungsaufgabe gibt, so wie es z. B. auch keine Musterlösung für die weit einfacheren Aufgaben eines Schach- oder Fußballspiels gibt, kann man auch in unserem „Spiel“ besser oder schlechter sein. Wir haben uns entschieden, in diesem Zusammenhang das Konzept der Wahrscheinlichkeiten zu nutzen. Es gibt Wege, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zum Spielerfolg führen als andere. Ein wesentlicher Aspekt besteht dabei aus unserer Sicht darin, dass wohl nur diejenigen erfolgreich führen können, die die evolutionär-menschliche Natur berücksichtigen, statt ihr entgegen zu handeln. Um unser Verständnis dieser Natur zu vertiefen, sind wir dem Weg des Phänomens Führung von seiner Geburtsstunde an gefolgt. Nun haben wir den Punkt erreicht, das Wesentliche der Führungsaufgabe herausarbeiten zu können. Ich verspreche Ihnen, dass Sie in dieser Aufgabe keine entscheidenden Fehler mehr begehen, wenn Sie sich an den An-

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regungen orientieren, die ich in den folgenden Kapiteln zusammenstelle! In diesen Punkten „kreativ“ vom Wesentlichen abzuweichen, wird Ihren Erfolg gefährden. Ebenso, wie es in aller Regel nicht als Beispiel gelungener Kreativität beim Fußball betrachtet werden kann, den Ball in die Hand zu nehmen, schadet in Bezug auf die Grundgesetzlichkeiten evolutionärer Führung Variabilität dem gemeinsamen Erfolg. Im Rahmen der Grundprinzipien sind Flexibilität, Kreativität und Varianz für den Erfolg enorm wichtig. Natürlich können Sie sagen, es gäbe Spieler, die ihre Hand schon in geradezu künstlerischer Genialität zum Spielgewinn eingesetzt haben. Aber würden Sie diesen Ansatz daher als Empfehlung aussprechen und systematisch in das Training von Nachwuchs- und Profifußballern einbauen? In Ordnung, Sie haben mich überzeugt: Manche tun genau das. Ich kenne auch Berater, die enormen Erfolg mit der Philosophie haben, der Zweck heilige die Mittel. Aber das ist eine andere Sache. Wesentlich ist, dass die erfolgreichsten Sportler nur über den Weg der absoluten Beherrschung von so genannten Standards zur Genialität und zum Künstlertum gelangten. In der Welt der Führung sind wir meiner Ansicht nach noch unendlich weit entfernt von der Professionalität, die in den meisten Sportarten zu finden ist. Wahrscheinlich liegt das schlicht daran, dass dort Erfolg unmittelbar zu erkennen ist. Wenn im Tennis die Schlägerfläche bei Grundlinienschlägen während des Treffpunkts in Richtung Boden weist, hat man einen Punkt verloren. Ende! Jeder weiß das, jeder sieht das. Kein Spieler käme auf die Idee zu sagen, er gehöre zu den Top Ten der Welt und könne sich daher diese kleine persönliche Innovation im eigenen Spiel erlauben. In komplexen Sportarten, die nicht alleine ausgeübt werden, vermitteln Trainer dem Anfänger Grundtechniken, Prinzipien, Regeln und Strategien. Es wird geübt, Standardsituationen zu bewältigen und ein Spiel auszutragen. Wenn man sich an die Regeln hält und die Technik ein wenig zu praktizieren gelernt hat, wird man mit Partnern einer vergleichbaren Spielstärke erste Erfolge und Freude haben. Persönlicher Stil ist viele Jahre lang nichts anderes als Ungeübtheit und schlechte Angewohnheit.

Was wäre, wenn wir in unserem Gebiet ähnlich professionell vorgehen würden? Lassen Sie uns dazu kurz überlegen, was einen Profi überhaupt auszeichnet. Der Begriff bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als durch seine Aufgabe die eigene Existenz zu erwirtschaften. Schon vor dem 16. Jahrhundert wurde dieser Begriff in Frankreich benutzt, wenn jemand eine Angabe zu seiner Tätigkeit machte und sich damit zu einer Aufgabe öffentlich bekannte. Der Amateur „entstand“ später in Abgrenzung dazu als Liebhaber, der etwas einfach gerne tut, also damit nicht seinen Lebensunterhalt bestreitet. Das Verständnis, ihn als Dilettanten zu betrachten, ist moderner und im Kern nicht zwingend. Es gab in der Geschichte der Menschheit viele Persönlichkeiten, die Herausragendes auf Gebieten leisteten, auf denen sie nicht ihr Geld verdienten. Der Dritte im Bunde, der Laie, war schon viele Jahrhunderte einfach jemand, der zum Volk gehörte (ursprünglich in Abgrenzung zum kirchlichen Geistlichen). Jeder Mensch, der mit seiner Tätigkeit die eigene Existenz erwirtschaftet, sollte aus meiner Sicht unzweifelhaft das Selbstverständnis eines Profis leben. Es ist keinesfalls so, dass der

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Maurer, die Küchenhilfe oder der Professor in diesem Punkt von einem Fußballprofi unterschieden werden sollten! Alle Berufstätigen, die ihre Aufgabe professionell betreiben, orientieren sich an einigen Grundregeln: „ Profis akzeptieren die relevanten Gesetzmäßigkeiten der eigenen Aufgabe und handeln danach! Wenn die Aufgabe beispielsweise eine bestimmte Lebensführung oder Kleidungsordnung erfordert, wird dies nicht in Frage gestellt. „ Profis stellen die eigene Person während der Ausübung ihres Berufs hinter die Aufgabe zurück! Die wesentlichen Spielregeln und Gesetzmäßigkeiten des Erfolgs stehen absolut im Vordergrund. „ Profis tun die Dinge, die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führen! Wenn etwas sich als wirkungsvoller herausstellt als das Bisherige, wird es übernommen. Persönliche Vorlieben werden nüchtern hinterfragt. Unser Ansatz führt inhaltlich zu einem Führungsverständnis, das der Sichtweise des erfahrenen Managementprofis Fredmund Malik recht verwandt ist. Dies ist insofern interessant, als wir bei einigen Fragestellungen zu einer ähnlichen Grundhaltung gelangen – obwohl wir von unterschiedlichen Ausgangspunkten starten. An dieser Stelle seien seine jüngsten Veröffentlichungen empfohlen. Malik betrachtet Führung als Handwerk und betont, dass es absolut nicht darum gehen kann, ob dabei etwas neu, modern oder „in“ ist. Es ginge ausschließlich darum, ob es funktioniert und praktisch hilft, die Führungsaufgabe bestmöglich zu erfüllen. Auch in Bezug auf die Frage, ob es interkulturelle Unterschiede bezüglich Führungsaufgabe und handwerk gibt, kommt Malik zur gleichen Schlussfolgerung wie ich: „Gutes Management ist universell, invariant und unabhängig von Kultur.“101 Wir Amateure und Laien fragen uns in stillen Momenten natürlich auch manchmal, wo denn die Persönlichkeit des Einzelnen auf dem Weg des Profis bleibt. Insbesondere Anfänger erleben die Zwänge der professionellen Tätigkeit oftmals als massive Einschränkung und Beschneidung ihrer Freiheit und Spontaneität, übersehend, dass letztere bei genauem Hinschauen nur das Ausleben bisheriger Gewohnheiten darstellt. Sie verwechseln Spontaneität zumeist mit Willkür und Disziplinlosigkeit. Auch in der Führungskräfteentwicklung wird oft die Frage gestellt, ob man als Chef plötzlich nicht mehr „Mensch“ sein darf. Was denken Sie? Sie haben Recht! Natürlich hängt die Antwort davon ab, wie man Menschsein definiert. Auch Profis haben ihr ganz persönliches Stärken-Schwächen-Muster, ihre eigenen Beweggründe, Vorlieben und Hintergründe. Aber sie wissen, wann sie diese leben können – und wann nicht. Wie wohl würden Sie sich in einem Flugzeug fühlen, in dem der Pilot ihnen über das Lautsprechersystem mitteilt, dass er heute einen unglaublich miesen Start in den Tag hatte, leider immer noch ein wenig unter dem Gelage des Vorabends leidet, sowieso absolut keine Lust mehr auf diese verflixte Fliegerei hat und sein enormes Körpergewicht auch kaum noch in das Cockpit bekommt?

101 Malik, F., Management: Das A und O des Handwerks, 2005, Frankfurt: Frankfurter Allgemeine Buch, S. 12

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Nun ist, wie wir festgestellt haben, das richtige Verhalten für Piloten eindeutig klarer definiert als für Führungskräfte. Für uns gibt es keine Checkliste für den Start und auch keine computergesteuerte Landung. Die Führung von Menschen folgt nicht denselben Gesetzmäßigkeiten, wie der Umgang mit Maschinen, analytischen Methoden und Werkzeugen. Und genau darauf weist unser evolutionärer Führungsansatz hin. Die meisten so genannten Karrierewege vernachlässigen diese schlichte Tatsache allerdings. Kommen wir zurück zu dem Weg, den erfahrene Trainer im Sport einschlagen. Wir hatten in diesem Zusammenhang folgende Aspekte als wertvoll registriert: „ Die Grundtechniken: Unser Ansatz geht davon aus, dass Führende stets schon immer alles eingesetzt haben, was ihnen persönlich zur Verfügung stand, um ihre Kernaufgabe zu erfüllen. Daher findet die Wissenschaft hier weder spezifische Verhaltensweisen noch charakteristische Eigenschaften. Praktisch bedeutet das, Führung ist nicht – wie z. B. das Schachspielen – auf einige Spielfiguren mit klar definierten zulässigen Zügen beschränkt. Das Spiel ist wesentlich komplexer und beruht auf unserem Vermögen, Wirkung zu erzielen. Unsere Spielzüge beruhen im sachlichen Zusammenhang auf allen möglichen praktischen Fähigkeiten und im sozialen Zusammenhang auf Kommunikation (nicht gleichbedeutend mit „reden können“ oder „sich gut verkaufen“). Damit ist im Grunde jede Verbesserung der eigenen Kompetenzen auch für eine mögliche Führungsaufgabe von Nutzen. Welcher Leistungsverbesserung dabei entscheidende Bedeutung zukommt, hängt von der anstehenden gemeinsamen Aufgabe, der jeweiligen Gruppe, der Konkurrenzsituation und dem Führenden selbst ab. Es kann hier keine allgemeingültige Antwort geben. „ Die Prinzipien und Regeln: Die Komplexität des Spiels geht nicht bis zur Zufälligkeit oder Beliebigkeit, denn die Spielfiguren sind wir Menschen und das Spielbrett unsere Welt. Die evolutionäre Gewordenheit des Phänomens Führung definiert die wesentlichen Rahmenbedingungen des Spiels. Im weiteren Verlauf werde ich diese detaillierter herausarbeiten. „ Die Strategien: Innerhalb der Prinzipien und Regeln besteht soviel Spiel-Raum, dass es unterschiedliche Wege zum Führungserfolg gibt. Die Historie hat beispielsweise gezeigt, dass das „Grundprinzip Vorsprung“ für Führungskräfte auf zumindest zwei verschiedenen Wegen realisierbar ist: Einerseits können sie sich selbst verbessern, andererseits dafür sorgen, dass alle anderen schlechter werden. Die evolutionären Gesetzmäßigkeiten sorgen allerdings auf Dauer dafür, dass nicht alle Strategien gleich lebensfähig sind. Im direkten Wettbewerb wird im beschriebenen Fall die Gemeinschaft, die aus bewusst geschwächten Mitgliedern besteht, gegen die Konkurrenz verlieren. „ Das Üben von Standardsituationen: Wir Menschen kommen in verschiedensten Lebenslagen in Situationen, in denen wir das üben können, was in der Führungsaufgabe auf uns zukommen wird. Natürlich kann auch ein Seminar solche Möglichkeiten bieten. Wenn wir auf den Sport schauen, dann stellen wir fest, dass hier kein erfolgreicher Mensch so wenige Trainingseinheiten absolviert wie eine Führungskraft. Offenbar überwiegt hier eine andere Form der Entwicklung. Während beispielsweise Boxprofis Woche für Woche ihr Pro-

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gramm durchlaufen, scheint die Welt der Manager eher auf dem Prinzip der Straßenkämpfer zu beruhen. „ Das Spiel selbst: Das „wahre Leben“ ähnelt natürlich auch mehr dem Straßenkampf. Dies wird vermutlich der Grund sein, warum es eine ganze Reihe erfolgreicher Führungskräfte gibt, die nie eine entsprechende Vorbereitung in Anspruch genommen haben. Man nennt das in der Wirtschaftswelt „ins kalte Wasser werfen“. Unabhängig davon, wie lange und professionell ein Sportler trainiert, ohne Wettkampferfahrung wird er nie ein Großer. Es scheint Sportarten zu geben, auf die das Leben selbst vorbereiten kann (z. B. der Kampf) und andere, bei denen der Weg nur über gezieltes Training führt (z. B. Tennis). Führung können wir wohl prinzipiell zur ersten Gruppe zählen. Ich bin aber auch überzeugt, dass die meisten Profis das Gros der Straßenkämpfer auf die Bretter schicken und die Besten beider Kategorien stets Talent und systematische Übung miteinander verbunden haben. Halten wir fest: Eine Führungskraft darf und wird ihren persönlichen Stil entwickeln, denn sie ist in ihren ganz individuellen Möglichkeiten, die Kernaufgabe zu erfüllen, einzigartig. Aber sie kann dabei nicht ungestraft gegen die Grundregeln evolutionärer Führung verstoßen! Sie muss ihrer Aufgabe und Rolle gerecht werden! Da unser Ansatz einen stabilen Kern dieser Rolle verlangt, sollte ein solcher auch nachweisbar sein – und zwar recht unabhängig von Zeitgeist und Kultur. Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich wieder einmal lese, wie gewaltig sich Führung verändert hätte – um dann Erkenntnisse mitgeteilt zu bekommen, die sich in nahezu zwangsläufiger Weise aus dem evolutionären Führungsansatz ergeben, d. h. die uralt sind. Viele Buchtitel (wie „Führung neu denken“, „Führung im Wandel“ usw.) unterstützen die Verwirrung der aktuellen und zukünftigen Managergeneration und reduzieren damit zumeist leider auch noch die Professionalisierung dieser Aufgabe. Für Sportler entspräche dies der Situation, dass sie sich in den letzten Monaten auf das Konditionstraining konzentriert haben, Jahre davor auf eine hohe Beweglichkeit und davor auf die richtige Kleidung. Nun erfahren sie, dass die besten Sportler ihrer Disziplin sehr viel Eiweiß zu sich nehmen und 78 Prozent eine Körpergröße über 1,87 Meter haben. Welche Fähigkeiten soll ich denn nun entwickeln, wenn wieder einmal gerade „alles neu“ zu werden scheint? Ist es nicht schon beinahe so, wie in der Softwarebranche: Lohnt es sich überhaupt, dieses Update mitzunehmen, wenn bald bestimmt schon die neue Programmversion herausgebracht wird? In Bezug auf den evolutionären Führungsansatz lautet meine Antwort: Nehmen Sie das Original! Erst wenn die Disziplin und ihre Gesetzmäßigkeiten wirklich klar sind, bekommen Training und Entwicklung eine Systematik. Der professionelle Weg zum wirklichen Könner führt immer vom Anfänger über die Aneignung und spätere Beherrschung der Standards. Schauen Sie sich die frühen Werke eines Picasso oder Dali an – und Sie verstehen, was ich meine.

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Die Aufgabenwelt dieses Originals werde ich nun für Sie zusammenstellen, vorab allerdings noch kurz das evolutionäre Führungsverständnis in Form von Antworten auf folgende Kernfragen zusammenfassen: „ Wozu ist Führung gut? „ Wer soll die Führung übernehmen? „ Was ist gutes Führungsverhalten? „ Wofür ist der Führende tatsächlich verantwortlich und wofür die Geführten? Mir erscheint es unendlich wichtig, das richtige Verständnis des Phänomens Führung zu haben. Aus einer falschen Haltung heraus zu handeln, kann nur zufällig zu richtigen Aktionen führen. Wenn ich überzeugt bin, Torwart in einem Handballspiel zu sein, während tatsächlich ein Basketballspiel stattfindet, habe ich ein Problem! Und dieses Problem hat nicht das Geringste damit zu tun, über welche Basketball- und Handballfähigkeiten ich verfüge. In dieser Situation wäre es auch erstaunlich, wenn meine Mitspieler glücklich über meine Teilnahme wären, nicht wahr? Diese Tatsache wird in erschreckender Form in der Entwicklung und dem Training von Führungskräften vernachlässigt.

Das richtige Führungsverständnis ist wichtig

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Das richtige Führungsverständnis ist wichtig

„Wenn man die menschliche Natur versteht, dann hat man alle Prinzipien, die das Wesen der Dinge regieren.“ Hsün-Tzu, Weiser Solange der Schwerpunkt in der Managemententwicklung in erster Linie auf das Verhalten von Führungskräften gelegt wird, auf Techniken und Werkzeuge, bewegen wir uns in eine unglückliche Richtung. Aus eigener Erfahrung ist mir klar, dass „der Markt“ leider diese Entwicklung fördert: Die (potenziellen) Teilnehmer von Managementtrainings möchten zumeist einfach in aller Eile einige Tricks, wie sie Mitarbeiter wirkungsvoller dazu bekommen, das von ihnen Erwünschte zu tun. Dramatischerweise vermitteln aber alle Maßnahmen rund um die Führungskräfteentwicklung ein Managementbild, hier also: Mitarbeiter sind Wesen, die man mit Tricks dazu bewegen muss, das zu tun, was Manager wollen. Gerade auch einige Studiengänge, „Goldfischteich-Konzepte“ oder MBA-Programme liegen hier aus meiner Sicht gefährlich falsch. Sie vermitteln ein Führungsverständnis, das den von uns erarbeiteten Prinzipien oft nur wenig entspricht, wenn nicht sogar in eine völlig falsche Richtung lenkt. Der Ansatz der evolutionären Führung definiert ein klares Bild, er macht exakte Aussagen darüber, in welchem Spiel ich mich befinde, welche Rollen es gibt und wie die Spielregeln aussehen! Aus unserer Perspektive ist es sowohl für Manager wie auch für Mitarbeiter entscheidend, das richtige Verständnis von Führung zu haben. Diese aus Führungsaufgabe, Selbstverständnis der Führungskraft und Erwartungen der Geführten bestehende gemeinsame Wirklichkeit muss im Rahmen unseres evolutionären Führungsverständnisses widerspruchsfrei sein. Ein Manager, der unzureichend versteht, wie wir Menschen rund um das Phänomen Führung „funktionieren“, hat ebenso ein ernst zu nehmendes Problem, wie der Mitarbeiter, der die evolutionäre Funktion der Führung nicht erkennt! Ein solches Verständnis kann sich durchaus intuitiv entwickeln. Schließlich war es bislang offenbar für erfolgreiche Führungskräfte nicht nötig, die Grundgedanken der Evolutionären Führung bewusst zu lernen. Ich wage an dieser Stelle jedoch die These, dass weniger erfolgreich Führende in ihrer Haltung von den Grundprinzipien evolutionärer Führung abweichen

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und man ihren Misserfolg hätte vorhersehen können. Diese Grundprinzipien können aus unserer Perspektive logischerweise keinen Moden unterworfen sein und interessieren sich nicht dafür, ob sie populär, verkannt oder verdreht werden. Führungsaufgaben oder -anforderungen unter modischem Gesichtspunkt zu sehen, halte ich für brisant. Ständig etwas „Neues“ und „Besseres“ zu erwarten bzw. zu proklamieren, ist in einem so ur-sprünglichen und mit unserer Natur verankerten Feld bestenfalls verwirrend und möglicherweise sogar gefährlich. Etwas Besseres zu finden, um das Thema Führung weiterzuentwickeln, ist keine Frage von Innovation. Es ist in erster Linie eine Frage von Reflexion! Es geht um ein tieferes und besseres Verstehen des Phänomens. Auf dieser Basis lassen sich dann sicherlich auch wertvolle Werkzeuge für Diagnostik, Training und Praxis erarbeiten. Unabhängig von diesen Grundlagen entstehen bestenfalls fantasievolle „Tools“. Es gehörte schon ein sorgfältiges Belegen und Argumentieren her, in welcher Hinsicht und warum etwas Neues zu den Aufgaben oder Methoden einer erfolgreichen Führungskraft gezählt werden soll. Das richtige Führungsverständnis ist im Kern keinen Moden unterworfen! Führung hat einen fest verankerten Sinn!

1.

Wozu ist Führung gut?

Jeder, der in beruflichem Umfeld irgendetwas tut, sollte eine Antwort auf die Frage haben: Was soll das? Warum machst du das? Er wird mit solchen Fragen auch dann konfrontiert, wenn sie nicht ausgesprochen sind. Geführte fragen uns: Wozu ist Führung gut? Was bringt mir das? Der evolutionäre Sinn der Führung besteht darin, dass die Gruppe mit einem Führenden erfolgreicher ein Problem löst als ohne ihn. Dies wiederum setzt voraus, dass die anstehende Aufgabe über die Möglichkeiten des Einzelnen hinausgeht, also Zusammenarbeit erfordert. Im Fußball gibt es einen Spielführer, im Turniertennis nicht. Wer sehr gut ohne andere ein Problem lösen kann, hat keinen Bedarf an Führung. Tiere, die erfolgreich ihr Überleben alleine sichern können, kommen zumeist nur zur Paarung zusammen und verschwinden dann wieder in ihre individuelle Welt. Für sie gibt es das Phänomen Führung nicht. Können Sie sich Ihre Irritation vorstellen, wenn Sie mit Ihrem Aquarellmalblock, einer Staffelei und Farben einen schönen Platz in Paris finden, sich unter die dort bereits versunken arbeitenden Künstler mischen, und plötzlich ruft einer davon: „Ich bin hier der Chef!“? Wahrscheinlich würden Sie eher an die bekannte Nähe von Künstlertum und Wahnsinn denken als daran, nun endlich ein geführter Aquarellmaler zu sein, nicht wahr?

Autarke Menschen sind schwer zu führen – weil sie darin weder Sinn noch Nutzen erleben.

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Aus dem Spagat, für größere Aufgaben andere zu brauchen und sich gleichzeitig dadurch organisatorische, soziale und emotionale Probleme einzuhandeln, ergibt sich die Spezialaufgabe Führung. Diese lautet: dafür sorgen, dass „es“ (ein soziales Großprojekt) funktioniert! Malik geht wohl aus diesem Verständnis heraus sogar davon aus, dass es Weniges gibt, was für uns Menschen wichtiger als gute Führung ist: „Wie das Genom der Code für die biologische Lebensfähigkeit von Menschen ist, ist richtiges Management der Code für ihre Lebenstüchtigkeit, also ihre gesellschaftliche Lebensfähigkeit – und gleichzeitig für die Funktionstüchtigkeit der Institutionen einer Gesellschaft.“102 Aus unserer Warte wird das Phänomen Führung von den Beteiligten als wertvoll erlebt, wenn 1. es eine Aufgabe zu lösen gilt, die keiner alleine so gut bewältigen könnte, wie mit anderen gemeinsam, 2. jemand dafür sorgen kann, dass es mit ihm innerhalb dieser Gruppe gesamtheitlich besser funktioniert als ohne ihn, 3. der erlebte Nutzen für Beteiligte größer ist als deren individuelle Zusatzbelastung. Es wird deutlich, dass Führung insbesondere bei Herausforderungen (deren Bewältigung sich ein Einzelner nicht mehr zutraut) und in Risikosituationen (wenn das Funktionieren des Sozialsystems bedroht ist) gefragt ist. Allerdings darf nicht der weit verbreitete Fehler gemacht werden, Führung sozusagen auf Krisensituationen zu beschränken. Zweifellos ist es auch Aufgabe der Führung, Krisen-Prophylaxe zu betreiben. Die Gruppenmitglieder werden später vielleicht erzählen: „Als sie noch unsere Chefin war, hat es diese Probleme nie gegeben.“ Oder „Mit solchen Sorgen mussten wir uns mit dem alten Chef nie herum schlagen.“ Aus diesem Verständnis heraus können wir Antworten geben, unter welchen Bedingungen Führung Sinn macht – und wann nicht. So gibt es manche Gemeinschaften, bei der die Individualität von Natur aus der gemeinsamen Aufgabe untergeordnet ist (z. B. bei Ameisen oder in Schwärmen). Die Natur hat hier Systeme geschaffen, die nach Prinzipien der Selbstorganisation und -regulierung funktionieren. Es treten keine Probleme auf, die der situativen Lösung bedürfen: Das Phänomen Führung ist irrelevant und nie entstanden. Bei uns Menschen hat sie offenbar einen anderen Weg gewählt! Aus dem Grunde können wir auch nicht entspannt darauf setzen, dass sich Organisationen selbst steuern. Konnten wir noch nie! Sonst hätte die geführte Gruppe keinen evolutionären Nutzen für uns gehabt! Genau dieser evolutionäre Nutzen wird nicht ausreichend erkannt! Der Ursprung der Führung weist auf etwas hin, was in heutigen Organisationen zu wenig Berücksichtigung findet. Management ist einer der wesentlichsten Differenzierungsfaktoren, die die Natur im Wettbewerb zwischen menschlichen Gruppen vorgesehen hat! Weil gut geführte Gemeinschaften erfolgreicher überlebten, hat sich das Phänomen Führung erhalten und weiter entwickeln können. Dass die daraus ableitbare Konsequenz, den Wert von Organisationen viel deutlicher an der Leistungsfähigkeit ihres Managements festzumachen, noch nicht wirklich gelebt wird, hat einen einfachen Grund: Es gibt halt noch keinen Maßstab für diese Leistungsfähigkeit. 102 Malik, F., Management: Das A und O des Handwerks, 2005, Frankfurt: Frankfurter Allgemeine Buch, S. 7

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Man beschränkt sich bislang in der Öffentlichkeit schlicht darauf, den Wert der Organisation in erster Linie an Gewinn und Börsendotierung festzumachen und auf dieser Grundlage das Management zu bewerten. Die damit verbundenen Gefahren sind mittlerweile hinlänglich bekannt geworden, ohne dass sich die Praxis geändert hätte. Ich bin überzeugt davon, dass es dabei bleiben wird, solange eine bessere Bewertungsmethode fehlt! Der evolutionäre Führungsansatz kann für eine solche Methode die Grundlage bieten, indem er absteckt, welche Aufgaben ein erfolgreicher Manager zu bewältigen hat. Gleichzeitig unterstützt er auf diesem Wege die Antwort auf die Frage, wem die Verantwortung für die Kernaufgabe der Führung übertragen werden sollte.

2.

Wer soll die Führung übernehmen?

Die Besetzung einer Führungsposition beruht von Natur aus stets auf Vergleichen; es handelt sich per Definition um eine Konkurrenzsituation. Schon deshalb ist der Versuch Unsinn, Menschen allgemein in Gruppen von Führenden (oder Führungspersönlichkeiten) und Geführten aufzuteilen! Wer in einer Situation als Führungskraft einen wertvollen Beitrag für eine Gruppe zu leisten vermag, kann eventuell in einer anderen Situation nicht den Bruchteil des Nutzens bieten, den andere Gruppenmitglieder in dieser Rolle schaffen könnten. Die Mitglieder einer Gruppe mit einer gemeinsamen Aufgabe stehen einerseits in Bezug auf die Führung im Wettbewerb, andererseits haben sie prinzipiell einen deutlichen Nutzen von guter Führung. Daher sind sie bereit, dieser ihre Unterstützung zu geben, sich führen zu lassen. Ist der Nutzen nicht erlebbar, entziehen sie dem Führenden die Legitimation, folgen einer anderen Person oder versuchen, für sich allein das Beste herauszuholen. Folglich sollte das Gruppenmitglied die Führung übernehmen, das 1. innerhalb der Gruppe von seinen Kompetenzen und seinem Wissen am ehesten dafür sorgen kann, dass die gemeinsame Aufgabe funktioniert und 2. die Legitimation für seine Führung aufbauen und bewahren kann. Im ersten Fall geht es um die Relevanz einer Führungskraft für die Gruppe! Diese ist für verschiedene Mitarbeiter und Aufgabenfelder selbstverständlich unterschiedlich. Ist der Wettkampf um die Führungsrolle geklärt, muss die Gruppe sich umgehend auf die Zielsetzung konzentrieren, für die sie zusammengekommen ist. Es ist für die Gruppenmitglieder nun sinnvoll, den Führenden zu unterstützen und Kraft- und Zeitverlust durch weiteres Kämpfen zu minimieren. Es gibt Wichtigeres für alle Beteiligten als ihr persönliches Ego auszuleben: den gemeinsamen Erfolg! Dennoch bleibt die Erwartung der Geführten bestehen, dass Führende auf Dauer einen Vorsprung anbieten, um wertvoll für die Gruppe zu bleiben. Es reicht nicht aus, einmal diese Position errungen zu haben. Schwache Führende versuchen eventuell, ihren Vorsprung da-

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durch zu sichern, indem sie die Geführten „dumm“ halten oder ständig „klein machen“. Ich habe schon betont, dass eine solche Strategie im Wettkampf der Organisationen Selbstmord auf Raten darstellt. Betroffene täten gut daran, sich einer neuen Führung anzuschließen, um ihre Zukunft zu sichern. Auch dieser Aspekt wird in der Wirtschaftswelt noch nicht ausreichend berücksichtigt! Nicht nur der Wert von Organisationen hängt von guter Führung ab, auch die Attraktion für Menschen. In Ermangelung eines wirklichen Maßstabs für gute Führung sammeln sich derzeit Führungskräfte und Mitarbeiter zumeist noch um ein attraktives Unternehmen. Dabei wäre es angemessener, Organisationen und Mitarbeiter sammelten sich um eine attraktive Führung. Die Überlebensfähigkeit der Gruppe wird nur davon profitieren, dass die Führenden stets nach noch besseren Lösungen für die Kernaufgabe suchen. Tun sie dies nicht, lassen sie sich beispielsweise stets vom so genannten Alltagsgeschäft oder Allmachtsfantasien ausfüllen, verlieren sie leicht die Legitimation. Nie darf vergessen werden, dass es für die Natur Sinn macht, Erfolgsmodelle in Konkurrenz zueinander zu prüfen. Diese Wettbewerbssituation sollte innerhalb einer Gruppe mit Vorsicht gehandhabt werden. Jedes Herausfordern des Führenden muss sorgfältig überlegt und abgewogen werden. Es verspricht nur dann eine gewisse Aussicht auf Erfolg, wenn 1. es klar bessere Alternativen für die Führungsrolle gibt, 2. die Alternativperson nach dem gewonnenen direkten Machtkampf eine schnelle Legitimation des Teams bekommen kann und 3. das aktuelle Führungsverhalten vom Großteil der Gruppe als schlecht wahrgenommen wird. Aber was heißt hier schlecht? Hatten wir nicht bereits festgestellt, dass sich erfolgreiche Führungskräfte gar nicht so ohne weiteres durch ihr Verhalten charakterisieren lassen? Woran wollen wir dann aber gute Führung erkennen?

3.

Was ist gutes Führungsverhalten?

Um es direkt unmissverständlich auf den Punkt zu bringen: Spezielle Verhaltensweisen nur für Führende gibt es nicht! Wie schon mehrfach betont, haben unsere Vorfahren stets schon immer alles eingesetzt, was ihnen an Möglichkeiten zur Verfügung stand, um zu überleben. Daher findet jede Studie auch immer wieder nur das breite Spektrum des menschlichen Verhaltensrepertoires, wenn sie erfolgreichen Managern auf die Finger schaut. Führungsverhalten ist schlicht das Verhalten eines Führenden – mehr nicht!

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Gutes Führungsverhalten ist das Verhalten, das 1. die Kernaufgabe der Führung erfüllt und 2. die Legitimation durch die Gruppe nicht nachhaltig gefährdet. Damit liegen wir mit Malik auf einer Linie, wenn er sagt: „Management ist der Beruf des Resultate-Erzielens oder Resultate-Erwirkens. Der Prüfstein ist das Erreichen von Zielen und die Erfüllung von Aufgaben …. Manager müssen ihre Kraft, Energie und Aufmerksamkeit auf jene Dinge richten, die gehen.“103 Allerdings ergänzen unsere Vorüberlegungen den Aspekt der Akzeptanz. Führung ist ein Beziehungsphänomen, das ohne Ermächtigung durch die Geführten nicht funktionieren kann. Warum finden wir aber nun in den so genannten Anforderungsprofilen für Führungskräfte, in der Literatur oder in Seminarbeschreibungen immer wieder die Auflistung von notwendigen Verhaltensweisen? Einige Irritationen entstehen sicherlich schon alleine dadurch, dass einerseits für bestimmtes Handeln (z. B. eigenes Missfallen äußern) oder für Führungsaufgaben (z. B. zu klären, was zur Erreichung des gemeinsamen Erfolgs von wem erwartet wird) Begriffe erfunden werden (hier z. B. Kritik- und Zielvereinbarungsgespräch). Machen wir uns aber nichts vor: Beidesmal handelt es sich hier auf Verhaltensebene schlicht um Kommunikation. Hier ist nicht das Werkzeug das Charakteristische, sondern die Aufgabe, die damit erfüllt werden soll. Findet jemand alternative Mittel, um diese Aufgaben zu erfüllen, sind diese plötzlich Führungsverhalten geworden. Andererseits wird auch immer wieder einmal die Persönlichkeitstheorie der Führung bemüht: Eine gute Führungskraft ist danach durch spezifische Eigenschaften definiert. Sie ist beispielsweise zielstrebig, erfolgsorientiert usw. Diese Eigenschaften müssen verständlicherweise dann aber wieder durch konkrete Verhaltensweisen beschrieben werden. Das Problem bleibt das Gleiche: Um die Führungsaufgabe zu erfüllen, bringen Menschen alle ihre Möglichkeiten ein. Dies ist genau der Grund, warum aus meiner Sicht niemals eine wissenschaftliche Studie dem Phänomen Führung wirklich auf die Spur kommen wird, indem sie untersucht, was Führungskräfte genau tun. Studien belegen: Manager halten sich zur Lösung ihrer Aufgaben nicht an Musterlösungen oder Theorien. Sie folgen schlicht den Notwendigkeiten – und oft den eigenen Gewohnheiten und Vorlieben. Die Praxis zeigt, dass erfolgreiche Führungskräfte kaum das tun, was in der Managementliteratur zu ihren Hauptaufgaben gezählt wird: planen, organisieren, koordinieren und kontrollieren. Es war Henry Mintzberg104, der dies recht systematisch belegte. Er sammelte und analy-

103 Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S.

73 ff. 104 Mintzberg, H., Der Managerberuf: Dichtung und Wahrheit, in Harvard Businessmanager/ Seeger, Ch.

(Hrsg.), Köpfe, Konzepte, Klassiker, 2005, Frankfurt: Redline Wirtschaft, S. 76-103

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sierte Forschungsmaterial darüber, wie der Alltag von Führungskräften aussieht. Hier einige seiner Erkenntnisse: „ Manager sind einem unerbittlichen Arbeitstempo unterworfen, ihre Aktivitäten sind kurzfristig, höchst unterschiedlich und diskontinuierlich, sie sind selbst in hohem Maße aktionsorientiert und haben eine Abneigung gegen reflektierende Aktivitäten. Keinesfalls können sie als systematische Planer beschrieben werden. Keine Studie konnte für die Art und Weise, in der Manager ihre Zeit einteilen, ein allgemeingültiges Muster erkennen. Sie reagieren einfach auf die Sachzwänge, die ihre Tätigkeit mit sich bringt. Wenn ein Manager planen muss, so scheint er dies im Kontext seiner Tagesroutine zu tun, nicht in einem abstrakten Denkprozess, für den er sich gezielt zurückzieht. „ Neben Ausnahmesituationen gehört auch eine ganze Reihe von Pflichtübungen zur Arbeit eines Managers. Hierzu zählen u. a. die Repräsentation, Verhandlungen und Verarbeitung weicher Daten über das Unternehmen und sein Umfeld. Der Chef springt ein, wenn „Not am Mann ist“, und übernimmt die Aufgaben, die seine Mitarbeiter von ihrer Arbeit abhalten könnten (z. B. Besucher, Repräsentationspflichten, „Außenpolitik“). „ Der Manager verbringt ca. 80 Prozent seiner Zeit mit mündlicher Kommunikation, schreibt aber von dem, was ihm zu Ohren kommt, nicht sehr viel auf. Darum sind die Köpfe der Manager die strategische Datenbank einer Organisation – es sind nicht die Computer. So sind sie allerdings auch gezwungen, entweder das meiste selbst zu erledigen oder Aufgaben ohne angemessenes Briefing zu delegieren. „ Management ist keine Wissenschaft: Die Programme, mit denen diese ihre Zeit einteilen, Informationen verarbeiten und Entscheidungen fällen, liegen tief im Gehirn verborgen. Mintzberg betont, dass es zwischen den von ihm beobachteten Topmanagern und ihren Vorgängern von vor 1.000 Jahren seiner Ansicht nach keine fundamentalen Unterschiede gibt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Ergebnisse dieser Studie bislang oft dazu genutzt wurden, den Managern vor Augen zu halten, dass sie ihre Führungsaufgabe falsch wahrnehmen. Es wurde versucht, sie davon zu überzeugen, dass es extrem wichtig ist, die Führungsaufgabe so zu verstehen und zu erfüllen, wie man es sich theoretisch vorstellte. Aus unserer Sicht lassen sich in Mintzbergs Studienergebnissen allerdings keine Hinweise dafür finden, dass die beschriebenen Manager hier versäumen, die Kernaufgabe der Führung zu bewältigen. Die Praxis scheint durchaus mit unserem evolutionären Führungsverständnis vereinbar zu sein, nicht wahr? Kann nun ein Manager zur Aufgabenerfüllung völlig willkürlich agieren? Nein! Wir haben bereits herausgearbeitet, dass sich auf unserem evolutionären Weg Verhaltenserwartungen und -wahrscheinlichkeiten rund um das Phänomen Führung gebildet haben. Diese sind in grundlegenden Facetten wohl so in uns verankert, dass sie die akzeptierte Verhaltensvariabilität des Führenden einschränken. Er kann nicht tun und lassen, was er will, ohne – eventuell auch ernsthaft nachteilige – Konsequenzen und Nebenwirkungen zu provozieren.

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Selbst der heute so oft kritisierte Führungspatriarch ist durchaus in wesentlichen Punkten mit unserem Rollenverständnis vereinbar. Nur deshalb gab es ihn vermutlich auch lange Zeit – und auch immer noch. Ich bin sicher, der Patriarch hat keinen Zweifel daran gelassen, wie er zum Ziel zu kommen gedenkt. Er hat Hindernisse „hinfort gewalzt“, seine ihm Anvertrauten auf die richtige Bahn gebracht und für sie gesorgt. Er hat die Kernaufgabe der Führung erfüllt, wusste durch seine große Erfahrung, wie man Erfolge wahrscheinlich macht, und hat einen unbedingten Führungsanspruch durchgesetzt. Zumindest zwei Umstände haben sich allerdings zu Ungunsten des Patriarchen massiv verändert: (1) Er hat in komplexeren, schwer überschaubaren Welten nicht mehr den früheren Vorsprung. (2) Er vermag diese Schwäche nicht immer durch andere Qualitäten auszugleichen. Der Patriarch personifiziert für die Gruppe oft nicht mehr den Weg zum Erfolg. Ihm wird die Legitimation entzogen. Dieses Beispiel zeigt vielleicht, worin die Variabilität des Führungsverhaltens liegen darf – und unter welchen Bedingungen dasselbe Verhalten plötzlich ein Problem darstellen kann. Die Bedingungen sind andere geworden, die Grundprinzipien evolutionärer Führung sind geblieben! Der Patriarch hat heute vielfach einen Exotenstatus. Wir könnten allerdings die These formulieren, dass er in Branchen noch häufiger anzutreffen ist, in denen seine Erfahrung ein wesentlicher Erfolgsfaktor geblieben ist und dort, wo sein Stil aus Tradition noch legitimiert wird.

Mit unserem Verhalten ist es wie mit Medikamenten: Wenn es Wirkung erzielt, hat es auch Nebenwirkungen. Es wird gefährlich, wenn die Nebenwirkungen unbedacht bleiben und gar schädlich für das Gesamtziel sind. Dieses Prinzip gilt unausweichlich auch für Führungsverhalten. Es ist nicht alles gleich sinn- und wertvoll, um die Kernaufgabe der Führung zu erfüllen. Einige wenige Menschen lernen aus den damit verbundenen Problemen, die meisten können auch an dieser Stelle „nicht aus ihrer Haut“ und verschlimmern in der Regel mit ihren Reaktionen die Lage weiter. Wer überzeugt ist, der Zweck heilige die Mittel, kennt nur keine besseren Mittel. Er beweist seine persönlichen Grenzen, die eigene Unwissenheit und Hilflosigkeit. Die Auswirkungen dieser Fehleinschätzung wird er zwangsläufig erfahren. Wenn wir Führung nicht an spezifischen Verhaltensweisen festmachen, sondern es als Aufgabe definieren, müssen wir genauer klären, wer dabei wofür verantwortlich ist. Welche Aufgaben innerhalb des Teams sind gemeinsame Aufgaben, welche die des Führenden?

4.

Wer ist eigentlich wofür verantwortlich?

Das menschliche Zusammenleben stellt eine Form des Aufeinander-Bezogenseins dar und ist damit auch von gegenseitigen Abhängigkeiten definiert. Unsere Gattung hat sich quasi vor vielen Jahrtausenden ein gegenseitiges Leistungsversprechen gegeben, um besser zu überle-

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ben. Dieses Ur-Versprechen haben wir sogar in unseren Genen und es ist nach wie vor Basis jeder erfolgreichen gemeinsamen Aktivität! Wenn wir es nicht einhalten, gefährden wir uns und sterben (aus). Diese Erkenntnis mussten sich unsere Vorfahren nicht mühsam in philosophischen Gesprächen, Vertragsverhandlungen und Diskussionen erarbeiten, denn es begründete ihren Ursprung: Ohne Leistungsversprechen der Eltern an ihr Neugeborenes keine Menschheit. Ohne gegenseitiges Leistungsversprechen der Mitglieder einer Ur-Horde kein Überleben. Ende! Unser heutiger Leistungsbegriff ist irreführend! Wenn wir Leistung als Arbeitsmenge pro Zeiteinheit definieren, als gute Note oder einen besonderen Verdienst, dann gehen wir wieder einmal am Kern eines Phänomens vorbei! Der Ursprung des Begriffs leisten kommt von „der Spur folgen“. Die Rechtsprechung bezeichnete später damit, „der Verpflichtung gemäß zur Unterhandlung einfinden“. Beide Sichtweisen sind überholt, aber noch wesentlich näher am Bedeutungskern. Anfangs suchte man offensichtlich ein Wort, um zu beschreiben, dass jemand das tat, was allgemein von ihm erwartet wurde: der Spur zu folgen. Später wurden wir freier und mussten nur noch der Spur folgen, zu der wir uns verpflichtet hatten. Taten wir es nicht, mussten wir uns vor einer Instanz ver-antworten, d. h. Antwort geben. Irgendwann auf unserem Weg scheinen sich die Aspekte der Erwartung und Verpflichtung kulturell vom Begriff Leistung gelöst zu haben. Wir sind offenbar nun nichts und niemandem mehr verpflichtet und gehen nur noch unseren eigenen Weg. Leistung geschieht plötzlich individuell, im sozialen Vergleich und im Wettkampf! Was für eine tragische Fehlentwicklung. Auch unser Verständnis von Leistungskultur ist völlig fehlgeschlagen. Wir bezeichnen damit zumeist landläufig, dass der Druck auf den Einzelnen sich immer früher im Lebenslauf und zugleich dramatisch erhöht. Das mag sein – aber es hat mit dem Ursprung des Phänomens Leistung nichts zu tun. Wem geben überdressierte Kinder im Kindergarten oder in der Schule ein Leistungsversprechen? Wo ist die soziale Einbindung, die Gegenseitigkeit und das voneinander Abhängigsein bei einer großen gemeinsamen Aufgabe? Unsere moderne Sozialisation bereitet uns an dieser Stelle meiner Ansicht nach völlig falsch vor! Kinder sollten ihre Wirksamkeit so früh wie möglich in einer sozialen Verpflichtung erleben dürfen. Vielleicht würde ihnen damit viel weniger die Kindheit geraubt, als ihre Natur wiedergegeben. Ist es so erstaunlich, dass es Kindern, Arbeitslosen und alten Menschen gar nicht gut bekommt, aus der Welt gegenseitiger Leistungsversprechen ausgeschlossen zu werden? Ist die Tatsache, dass selbst beste Schulleistungen heute nicht mehr garantieren, in das Netz gegenseitiger Leistungsversprechen (hier: den Arbeitsmarkt) aufgenommen zu werden, nicht mit Ursache für die verstörende Wirklichkeit für unsere Jugend? Doch schauen wir noch einmal zurück: Unsere Vorfahren hätten sich zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels niemals zusammentun können, ohne die Fähigkeiten zu gegenseitigem Zutrauen (gemeinsam können wir es schaffen) und Vertrauen (jeder tut das Nötige und nichts Schädigendes). Faszinierenderweise hat die Natur uns mit diesen Fähigkeiten ausgestattet und uns damit das Miteinander möglich gemacht. Wenn diese innerhalb eines Teams

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nicht genutzt werden, wenn Misstrauen und gegenseitiges Ausnutzen die Kontakte bestimmen, braucht man sich über Verantwortlichkeiten erst gar keine Gedanken machen. In einer solchen Gruppe werden Egoismen vorherrschen und Absprachen nicht eingehalten. Das Verantwortungsbewusstsein Einzelner wird systematisch missbraucht und quasi „bestraft“. Dabei kommt es gerade auf das Verantwortungsbewusstsein aller Beteiligten an! Verantwortungsbewusstsein ist keine Anforderung, die Führung besonders auszeichnet. Sich ver-antworten (Antwort geben) muss jeder, der innerhalb einer Gemeinschaft eine Aufgabe übernimmt. Dies gilt für Führende ebenso wie für Gruppenmitglieder. Wer ein geringes Verantwortungsbewusstsein hat, muss in erster Linie seiner Gemeinschaft oder einer vertretenden Instanz („Gericht“) Antworten für sein Verhalten geben. Für Menschen mit hohem Verantwortungsbewusstsein ist es noch schwieriger: Sie müssen sich selbst gegenüber Rechenschaft abgeben. Der Unterschied zwischen Führenden und Geführten ergibt sich daraus, wofür sich jemand zu verantworten hat. Führungskräfte haben die Aufgabe übernommen, das große Ganze zum Erfolg zu bringen. Es wäre ein folgenschwerer Irrtum anzunehmen, dies bedeute, sich nur um die großen Dinge kümmern zu müssen. Viele Menschen möchten Führung übernehmen, weil sie die Beschäftigung mit Details langweilig finden. Das ist zweifellos in keiner Weise eine Qualifikation für die Führungsaufgabe – auch wenn es oft eine hohe Motivation darstellt, die Karriereleiter weiter zu erklimmen. Bei Misserfolg hört man diese Manager dann sagen: „Ich kann mich doch nicht um jeden Mist kümmern.“ Zähne knirschend übernehmen sie möglicherweise unter Druck von außen schließlich das, was sie „politische Verantwortung“ nennen. Sie meinen damit aber, unschuldig zu einer Verantwortungsübernahme gedrängt worden zu sein und die entsprechenden Konsequenzen notgedrungen tragen zu müssen. Diese Einschätzung ist dramatisch falsch und zeugt nur davon, das Phänomen Führung nicht verstanden zu haben. Jede Führungskraft hat eine übergreifende Verantwortung. Sie personifiziert ein Erfolgsversprechen an die Gruppe. Bei Misserfolg ist ihre Rolle selbstverständlich in Gefahr. Studien haben übrigens in diesem Zusammenhang zeigen können, dass Verantwortungsbewusstsein und ein entsprechendes Handeln in größeren Gruppen prinzipiell abnehmen. Man nennt das Verantwortungsdiffusion oder auch schlicht: „Toll ein anderer macht’s“ (T.e.a.m.). Wir sind offenbar nicht gut darin, uns verantwortlich zu fühlen, wenn auch viele andere das Notwendige tun könnten. In einer Gruppe sind wir besser, wenn wir wissen, was unsere Rolle und unsere Aufgabe ist, wenn wir wissen, wofür genau wir verantwortlich sind. Viele Menschen fühlen sich dann auch einfach wohler. So wird beispielsweise gerade in Zeiten der Komplexität und Orientierungslosigkeit in den Unternehmen immer wieder verstärkt nach Stellenbeschreibungen geschrien. An dieser Stelle möchte ich Sie mit einer Autorin bekanntmachen, die wohl aus einer inneren Unzufriedenheit mit dem populären Führungsverständnis heraus, provokante Aussagen macht. Ein Buch zu veröffentlichen, das dem Zeitgeist widerspricht, ist mutig und – wenn der

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Leser Glück hat – auch anregend. Judith Mair ist eine solche Veröffentlichung unter dem Titel „Schluss mit lustig! Warum Leistung und Disziplin mehr bringen als emotionale Intelligenz, Teamgeist und Soft Skills“ gelungen. Sie meint, „Es ist absurd, Arbeit als Ersatzheimat und Statussymbol anzupreisen, die Selbstverwirklichung und Spaß verspricht. Arbeit ist zunächst einmal einfach nur Arbeit.“105 Sie betont damit kompromisslos, dass Menschen in erster Linie in Unternehmen zusammenkommen, um ihre Existenz gemeinsam zu erwirtschaften! Das ist zumindest meine (evolutionspsychologisch orientierte) Definition eines Unternehmens – und sie scheint mir den Gedanken von Mair nahe. Die neue Freiheit der Geführten (z. B. die so genannte Vertrauensarbeitszeit oder Zielvereinbarungen) definiert sie als unlauteres „Drücken“ vor der Führungsaufgabe und Frustrierung akzeptabler Erwartungen auf Geführtenseite. Der in solcher „Führungslosigkeit“ angelegten Überforderung der MitarbeiterInnen stehe auf Seiten des Führenden die völlige Entspannung gegenüber: Er könne sich moralisch hinter Begriffen wie Vertrauen, Verantwortung und Selbstbestimmung verstecken. Mair fordert „ einen einschätzbaren Arbeitsaufwand, „ ein klar umrissenes Tätigkeitsfeld, „ wohl portionierte Aufgaben und „ überschaubare Verantwortlichkeiten für die Geführten ein. Gerade wenn die Arbeitsinhalte immer komplexer und differenzierter werden, sei es wichtig, den Prozess der Arbeit selbst klar zu strukturieren. Ziel und Pflicht des Führenden sei es, die Mitarbeiter so gut es geht vor Stress und unnötigen Strapazen zu bewahren, statt sie darauf abzurichten. Er fungiere als eine Art Dolmetscher, der die Unsicherheit und Komplexität des Marktes für den Mitarbeiter in Anleitungen und Anweisungen übersetze. Aus evolutionspsychologischer Warte spricht Mair hier über die urtümliche Erwartung der Geborgenheit an den Führenden. Die moderne Forderung nach steter Veränderung kritisiert sie in diesem Zusammenhang, da den meisten Unternehmen das abhandenkomme, was man als Substanz oder Zentrum bezeichnen könne. Sie weist sogar mit eigenen Worten darauf hin, dass hochflexible Organisationen nicht unseren Ur-Bedürfnissen nach Geborgenheit und Sicherheit entsprechen. Sie vermutet, dass diese Art der Arbeit vielen von uns „nicht liegen“ wird. Ihre Haltung gipfelt in dem unmodernen Satz: „Mitarbeiterführung ohne verbindliche Absprachen, Regeln und Forderungen funktioniert nicht, denn Führen bedeutet immer auch einzuschränken, zu kontrollieren und Vorgaben zu machen.“106 Aus unserer Perspektive beweist die Autorin ein gutes (intuitives?) Gespür sowohl für die Kernaufgabe der Führung wie auch für die Charakteristika unseres „Archetypen Unternehmen“. Die neue Freiheit der Geführten darf nicht zur Vernachlässigung der Kernaufgabe 105 Mair, J., Schluss mit lustig! Warum Leistung und Disziplin mehr bringen als emotionale Intelligenz, Team-

geist und Soft Skills, 2002, Frankfurt: Eichborn, S. 9 106 Mair, J., Schluss mit lustig! Warum Leistung und Disziplin mehr bringen als emotionale Intelligenz, Team-

geist und Soft Skills, 2002, Frankfurt: Eichborn, S. 68

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führen. Wenn Führungskräfte ihre eigene Ohnmacht und Verunsicherung dadurch zu bewältigen versuchen, dass sie ihre ureigene Aufgabe nicht mehr wahrnehmen, wozu werden sie dann benötigt? Wir stellen also fest, dass auch etwas unpopuläre Ansichten zum Phänomen Führung durchaus einer evolutionspsychologischen Sichtung unterzogen werden können – und sich in diesem Fall auch keine wesentlichen Widersprüche identifizieren lassen. Es geht eben bei unserem Thema nicht vorrangig um das Kriterium der Popularität, es geht um ein real existierendes, existenzielles Phänomen mit einem zentralen, zeitlosen Kern! Die Sachlage ist allerdings komplizierter! Das exakte Festschreiben von Verantwortlichkeiten hat nicht nur Vorteile. So fördert es beispielsweise auch den „Dienst nach Vorschrift“, reduziert die Flexibilität, schwächt die Kreativität und Selbständigkeit. Setzt man dagegen auf das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen, auf die eigenverantwortliche und selbständige Arbeit, fördert man zugleich oft Ängste, Chaos, Wildwuchs und Fehlerquellen. Kann unser evolutionäres Führungsverständnis eine tragfähige Orientierung für diese schwierige Situation geben? Ich denke schon! Ein „evolutionär geführtes Team“ hat ein grundlegendes und gemeinsam getragenes Verständnis für Verantwortlichkeiten: „ Die übergeordneten Ziele liegen in der Organisation selbst definiert! Um diese Ziele herum treffen sich die Mitglieder der Organisation. Sie können nur vom Topmanagement geändert werden. Wer diese Ziele nicht teilen kann, verlässt früher oder später die Gruppe – zumindest mental („Innere Kündigung“). Einer professionellen Jagdgruppe gehören die an, die jagen können und wollen! Ein Tourist sollte nicht dabei sein. „ Das Vorgehen zur Zielerreichung leitet sich aus dem Verständnis der Führungskraft ab, wie Erfolg entsteht. Ich nenne das ihr Erfolgsmodell. Sie ist damit das personifizierte Erfolgsversprechen für die Gruppe. Es ist in ihrem eigenen Interesse, dafür zu sorgen, dass alle wesentlichen Erfahrungen und Kenntnisse (u. a. der Gruppenmitglieder) in dieses Modell eingeflossen sind. Der erfahrene Jagdleiter sagt in letzter Instanz, was getan wird. Führt sein Vorgehen nicht zum Erfolg, entzieht die Gruppe ihm „Legitimationspunkte“. „ Die Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten liegt – wiederum in eigenem Interesse – in der Verantwortung aller Beteiligten. Es macht für das gemeinsame Ziel nicht den geringsten Sinn, der Gruppe Erkenntnisse vorzuenthalten, und Machtkämpfe innerhalb der Gruppe haben einen hohen Preis. Wer während der Jagd das gemeinsame Ziel aus den Augen verliert, weil er gegen ein anderes Gruppenmitglied „gewinnen“ will, verscheucht schnell auch das Wild – und jeder hungert. „ Die letztendliche Bewertung vorhandener Alternativen nimmt die Führung vor. Sie trifft damit die Entscheidungen, die nicht selbstverständlich sind, und lässt dabei wiederum ihr Erfolgsmodell erkennen. Von welcher Seite man sich dem Wild nähert, entscheidet der Jagdleiter. Führt seine Entscheidung nicht zum Erfolg, entzieht die Gruppe ihm weitere „Legitimationspunkte“. „ Die Verantwortung für die Umsetzung der Entscheidungen bzw. die Maßnahmen zur Zielerreichung liegt in den Händen des speziell dafür fähigsten Gruppenmitglieds. Die schnellsten Läufer verfolgen das Wild, die treffsichersten Schützen schleudern die Speere.

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„ Der Gesamtverantwortung entkommt die Führung nicht! Sie hat dafür zu sorgen, dass es funktioniert, und dazu die Möglichkeit, sich jederzeit überall einzuschalten. Jedes Einschalten führt zu einer Belastung des „Kontos: Legitimation“ (bei Misserfolg) oder zu einer Einzahlung (bei Erfolg). War die Jagd wiederholt erfolglos, wird die Ursache immer unwichtiger: Die Unzufriedenheit der Gruppe wächst und alternative „JagdleiterAnwärter“ treten auf. Die Antworten auf die von mir hier definierten vier Schlüsselfragen eines jeden Führungsverständnisses sollten mit allen Beteiligten diskutiert werden und in der Organisation Basis der gemeinsamen Arbeit sein. Besteht an dieser Stelle keine gemeinsame Wirklichkeit, werden sich Grundsatzprobleme häufen. Es erscheint mir völlig unverständlich, auf Fachkompetenzen, Lebensläufe und Titel so viel Wert zu legen, während die Grundhaltung der Beteiligten als unwichtige Randfacette betrachtet wird. Ebenso merkwürdig ist es, dass Unternehmen immer wieder in z. T. aufwändigen Prozessen Führungsgrundsätze erarbeiten. Wenn man mal davon absieht, dass letztlich sowieso zumeist inhaltlich das Gleiche dabei herauskommt, wird zugleich übersehen, dass es natürliche und unumstößliche Führungsgrundsätze gibt! Ich möchte nahe legen, die Grundsätze der Evolutionären Führung in Unternehmen ausführlich und mit allen Beteiligten (nicht nur Führungskräften) zu diskutieren, statt das Rad immer wieder neu zu erfinden. Anstatt für die Entwicklung von Führungsgrundsätzen Geld auszugeben, sollte viel eher in die Gestaltung einer gemeinsamen Wirklichkeit bezüglich der hier dargestellten Facetten des Phänomens Führung investiert werden. Verschenkt eine Organisation damit die Chance zur Entwicklung einer eigenen Identität? Unsinn! Wenn ein Sportler sich an die biophysikalischen Grundprinzipien der menschlichen Natur hält, wird er auch nicht eingeschränkt, sondern erfolgreicher. Der Charakter, der Stil, die Einzigartigkeit einer Organisation müssen auf diesem Weg nicht gefährdet werden. Unser Puzzle ist mittlerweile so weit geschlossen, dass die Aufgabenwelt der Führung immer klarer heraustritt. Es ist an der Zeit, sie für uns handhabbar zu machen.

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5.

Das richtige Führungsverständnis ist wichtig

„Puzzlesteine“ für unser Bild (Teil 3)

„ Unsere Art hat sich von Beginn an ein gegenseitiges Leistungsversprechen gegeben, um ihr gemeinsames Überleben sicherzustellen. Dies gelang nur, weil wir von Natur aus die Fähigkeit zum Zutrauen und Vertrauen haben. „ Wir hatten damit schon immer Verantwortung füreinander (in unserer kleinen Horde). Verantwortungsbewusstsein konnte erst mit unserer geistigen Entwicklung daraus werden. „ Der evolutionäre Sinn der Führung besteht darin, dass die Gruppe mit einem Führenden erfolgreicher ihre gemeinsame Aufgabe bewältigt als ohne ihn. Aus diesem Grund liegt in gutem Management wohl von Beginn an der wesentlichste Differenzierungsfaktor bezüglich des Erfolgs von Gruppenarbeiten. „ Das richtige Führungsverständnis, die richtige Haltung, ist Grundbedingung für ein erfolgreiches Arbeiten in Gruppen. Führende und Geführte benötigen in diesem Punkt eine gemeinsame Wirklichkeit. „ Es gibt charakteristische Erwartungsmuster an eine Führungskraft, die tief mit unserem Gesamtwesen verbunden sind. Diese definieren einen stabilen Kern der Führungsrolle, der unabhängig von Zeitgeist und Kultur ist. Wenn der persönliche Stil einer Führungskraft gegen die damit verbundenen Grundgesetzlichkeiten verstößt, gefährdet das den gemeinsamen Erfolg. „ Führungskräfte sind personifizierte Erfolgsversprechen an die Gruppe. „ Die Besetzung von Führungspositionen beruht von Natur aus auf Vergleichen; es handelt sich per Definition um eine Konkurrenzsituation. Hierbei geht es darum, die Kernaufgabe der Führung besser als andere Mitglieder der Gruppe erfüllen zu können. Es geht um Kompetenz, Vorsprung und Legitimation. „ Führung muss genauso als professionelle Aufgabe verstanden werden wie jeder andere Beruf auch. „ Zur Erfüllung seiner Aufgabe setzt jeder Führende alles ein, was ihm zur Verfügung steht. Es gibt kein Verhalten, das als spezielles Führungsverhalten bezeichnet werden kann. „ Die evolutionären Erwartungsmuster rund um das Phänomen Führung schränken die sinnvollen Verhaltensweisen der Führenden ein. Sie können nicht machen was sie wollen. „ Ein Unternehmen ist eine Gruppe von Menschen, die zusammengekommen sind, um gemeinsam ihr Überleben erfolgreicher zu erwirtschaften, als sie es glauben alleine zu können. „ Die Ziele einer Organisation liegen in ihr selbst definiert. Sie können nur vom Top-Management geändert werden. Um die Ziele herum treffen sich die Mitglieder. „ Das Vorgehen zur Zielerreichung leitet sich aus dem Verständnis der Führungskraft ab, wie Erfolg entsteht (also aus ihrem Erfolgsmodell). „ Die Verbesserung des Erfolgsmodells liegt im Interesse aller, aber insbesondere im Interesse des Führenden. Schließlich liegt hier eine wesentliche Chance, den nötigen Vorsprung erlebbar werden zu lassen. „ Die letztendliche Bewertung vorhandener Alternativen, die Entscheidungsmacht, liegt bei den Führenden. Bei Fehlentscheidungen ist ihre Legitimation gefährdet. „ Die Umsetzung der Entscheidungen bzw. der notwendigen Schritte zur Zielerreichung liegt bei den fachlich dafür am besten geeigneten Gruppenmitgliedern. „ Der Gesamtverantwortung für den Erfolg kann die Führung per Definition nicht entkommen.

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„Wenn einer ein Amt innehat und kann nicht handeln, wie es sein Amt verlangt, so soll er gehen.“ Chinesische Weisheit Wir gehen also von der Annahme aus, dass die Ur- und Kernaufgabe der Führung lautet: sicherstellen, dass ein soziales System bei der Erfüllung der gemeinsamen Aufgabe besser funktioniert als ohne sie! Wer spürbar oder zumindest glaubhaft machen kann, dass seine Fähigkeiten dafür geeigneter sind als die anderer Gruppenmitglieder, dem wird gefolgt. Die Führungsrolle ist nun besetzt. Von diesem Augenblick an gilt es für den Führenden, alle Beteiligten konsequent und bestmöglich darauf auszurichten, das zu schaffen, wofür sie zusammengekommen sind. Sonst gefährdet oder verliert er seine Position wieder. Was muss getan werden, um der Kernaufgabe der Führung gerecht zu werden und die eigene Position zu halten? Welche Erwartungen der Geführten müssen erfüllt werden – und welche sind im Zusammenhang mit der Kernaufgabe unbedeutend? Grundsätzlich lassen sich folgende Hauptaufgaben aus der Kernaufgabe ableiten: 1.

Eine Führungskraft muss sicherstellen, dass sie selbst über eine wirkungsvolle Vorstellung davon verfügt, wie die Gruppe Erfolg herstellen kann („Erfolgsmodell“).

2.

Sie muss sicherstellen, dass allen Beteiligten präsent bleibt, worum es für die Gesamtgruppe wirklich geht und was zur gemeinsamen Zielerreichung nötig ist („gemeinsame Wirklichkeit“).

3.

Sie muss sicherstellen, dass die Hürden auf dem Weg zum Ziel erkannt und erfolgreich bewältigt werden („Problemlösung“).

4.

Sie muss sicherstellen, dass notwendige Entscheidungen „richtig“ getroffen werden („Macht-Wort“).

Dann gibt es allerdings noch einen weiteren, sehr wesentlichen Aspekt: Die Kernaufgabe der Führung bezieht sich von Natur aus auf die übergeordnete Zielsetzung der gesamten Gruppe. Das bedeutet, das Individuum steht kaum im Fokus der Betrachtung. Zyniker würden an dieser Stelle vielleicht kühl formulieren: „Na ja, manche bleiben halt auf der Strecke.“ Ist die Lage so einfach und gefühllos? Ist das Individuum unwichtig?

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Die Evolution akzeptiert durchaus, dass das Einzelwesen gegebenenfalls einen hohen Preis dafür zahlt, das Überleben der Gemeinschaft bzw. der Art zu fördern. Wenn Eltern bei der Verteidigung ihres Nachwuchses ihr Leben aufs Spiel setzen, ist das für Mutter Natur völlig in Ordnung. Wenn ein Jäger bei dem Versuch stirbt, Nahrung für die Gruppe zu besorgen, hält sie sich entspannt heraus. Aus dieser Tatsache leiten manche „Hardcore-Evolutionäre“ für sich eine gefährlich überhebliche Haltung ab. Sie begründen ihre Ignoranz gegenüber den Mitgliedern ihrer Gemeinschaft mit den übergeordneten Zielen der Gesamtorganisation. Schließlich sei es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das große Ganze funktioniert. Sie argumentieren damit, dass das Schicksal des Einzelnen immer geringer anzusiedeln ist als das Überleben der Gesamtgruppe. Aus evolutionärer Sicht ist diesem Argument prinzipiell wenig entgegenzusetzen. Aber sobald übersehen wird, dass die Organisation aus lauter Einzelnen besteht, wird es brisant. Wem gegenüber ist sonst die Führung noch Rechenschaft schuldig? Im krassesten Fall läuft es auf den berühmten Spruch eines unbekannten Chirurgen hinaus: „Operation gelungen! Patient tot!“ So wie der Sinn einer Operation darin liegt, das Leben des Patienten zu erhalten, liegt der Sinn der Organisation im Überleben seiner Mitglieder. Erfreulicherweise hat die Natur auch an dieser Stelle wieder mitgedacht. Sie hat der Gefahr der Willkür, der Ignoranz und des Machtmissbrauchs vorgebeugt, denn sie würden das Überleben der Gruppe dramatisch gefährden. Wir hatten bereits festgestellt, dass Führung eine Ermächtigung durch die Gruppenmitglieder verlangt. Erfolgreiche Führende scheinen sich nicht in vielen Punkten zu ähneln, in einem aber schon: Sie haben Gefolgsleute! Die Legitimation durch jedes einzelne Gruppenmitglied stellt die markanteste Machtquelle für die Führungskraft dar, ihre Kernaufgabe zu erfüllen. In der Praxis wird die damit verbundene Gefahr mit der Feststellung umschrieben, dass Mitarbeiter ihren Chef „auflaufen“ lassen können. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine weitere Aufgabe, die ich im Zusammenhang mit der Hauptaufgabe 4 („Macht-Wort“) detaillierter beleuchten werde: „ Eine Führungskraft muss sicherstellen, dass sie sich ihrer wichtigsten Machtquelle nicht beraubt: der Legitimation durch die Geführten. Aus meiner Sicht besteht die Schwierigkeit für die Führung weder in einer verwirrenden Vielfalt ihrer Aufgaben noch in Rollenunklarheit. Wir haben an dieser Stelle 4 Hauptaufgaben107 aus unserer evolutionären Kernaufgabe der Führung ableiten können, für die wir eine zeitliche und kulturelle Unabhängigkeit annehmen können. Auch die Sorge, dass man als Führungskraft in der Widersprüchlichkeit der unterschiedlichen Erwartungen der Mitarbeiter hin und her gerissen werden könnte, ist unbegründet. Auf welche Erwartungen es wirklich ankommt, läst sich aus den Urmustern rund um das Phänomen Führung ableiten. Nachdem wir nun eingegrenzt haben, worin die wesentlichen Aufgaben der Führung bestehen, macht es Sinn, sich über eine erfolgreiche Erfüllung derselben Gedanken zu machen. Werden wir konkret! 107 Unser Denkexperiment führt nicht zwangsläufig zu genau 4 Hauptaufgaben. Vertiefende Diskussionen und

Studien mögen hier wertvolle Weiterentwicklungen anregen. Um beides wird an dieser Stelle ausdrücklich gebeten.

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1.

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Führende müssen das wertvollste Erfolgsmodell anbieten

Wir sind bereit zu folgen, wenn jemand einen Vorsprung hat, der uns eine erfolgreichere Zukunft verspricht. Dann bietet es einen Nutzen für uns, einen anderen Menschen in seiner privilegierten Position zu unterstützen. Möglich, dass es irgendwann einmal auch die körperliche Kraft einer Person gewesen sein mag, die diese rosigen Zukunftsaussichten für eine Gruppe bescherte. Wahrscheinlicher ist es meines Erachtens jedoch, dass es schon immer eher um (Lebens-)Problemlösung und damit um eine Form der Erfolgsintelligenz ging. Und in Bezug auf Führung steht diese Form der Intelligenz in Konkurrenz. Wenn eine Führungskraft im Wettkampf der Erfolgsmodelle einen Vorsprung haben will, muss sie wirklich begreifen, worauf es ankommt. Sie muss einen glaubwürdigen Vorschlag machen, wie die Gruppe Erfolg produzieren kann, und sie muss ihn erfolgreicher anbieten als potenzielle Konkurrenten. Können Sie sich die Situation vorstellen? Ein gewalttätiger, kraftstrotzender Urahn, nennen wir ihn Urg, tötet in einer blutrünstigen, impulsiven Aktion den bisherigen Führer einer Horde und setzt dann gegen die Mitglieder seinen Anspruch mit roher Gewalt durch. Diese fürchten ihn und meiden seine Gegenwart, da sie hier immer mit unvorhersehbaren Angriffen rechnen müssen. Urg spürt die Angst und versteckten Aggressionen. Beides erregt ihn und macht ihn zugleich misstrauisch. Er nutzt jede Gelegenheit, seine Dominanz unter Beweis zu stellen. Auch wenn er nicht herausgefordert wird, was bislang nur ein einziges Mal geschah und mit dem Tod des Leichtsinnigen endete, ist er stets damit beschäftigt, die männlichen Mitglieder der Gruppe zu terrorisieren. Die Weibchen beachtet er nur, wenn er seine Erregung sexuell abbauen will. Der stetige Schub von Testosteron, Adrenalin und Endorphinen vermittelt ihm das Gefühl der Unbesiegbarkeit. Wenn er hungrig ist, nimmt er das, was da ist. Muss er warten, tobt Urg wie ein Wahnsinniger und alle sind bemüht, ihn zu besänftigen. Er fühlt sich grandios. Wochen später ist die ganze Gruppe erschöpft. Niemand kennt die Wege der Jagdbeute so gut wie der frühere, jetzt tote Führende. Die ständige Angst der Gruppenmitglieder vor Urg lässt sie oft vergessen, was sie früher konnten und raubt ihnen zusätzlich viel Energie. Er lässt niemanden weit von sich weg, um alles im Auge zu behalten. Das Sammeln von Nahrung ist kaum noch möglich, alle leiden unter dem Hunger. Dem Terror des unzufriedenen Urg kann nun überhaupt niemand mehr ausweichen. Die Horde wirkt wie eine Ansammlung halbverhungerter Urwelt-Neurotiker. Und die Tage und Nächte werden kälter. Eines Morgens zieht die Horde Richtung Süden weiter, während Urg in einer großen Blutlache, umgeben von kleineren Felsbrocken und schweren Ästen, auf seinem Nachtlager zurückbleibt. Mehrere Männchen und Weibchen haben schmerzhafte Verletzungen, aber sie folgen ruhig und mit einer Zuversicht, die sie schon wochenlang nicht mehr verspürt haben, Krumm, dem Ältesten der Gruppe. Er ist der Einzige, der die Reise in den wärme-

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ren Süden bereits einmal erfolgreich absolviert hat. In seinem Kopf trägt er die Bilder mit sich, an welchen Stellen die Nahrungssuche viel versprechend ist und wo Gefahren lauern. Er kann der Gruppe Ruhe und Sicherheit vermitteln. Schon unter dem früheren Führer war er es, der Konflikte innerhalb der Horde am friedlichsten regeln konnte. Urg, dessen Körper bereits von den Aasfressern verwertet ist, hatte ihn nie angegriffen, weil er zu schwach und unauffällig war, um in ihm eine Gefahr zu sehen. Aber Krumm´s Erfolgsmodell erschien der Gruppe wertvoller – und sie hat das Notwendige getan.

Von einem Führenden wird erwartet, dass er versteht, worauf ausbleibender Erfolg zurückzuführen ist. Er benötigt dazu eine zutreffende Vorstellung von der für die Gruppe relevanten Aufgaben-, Problem- und Lösungswelt. Die Kernaufgabe der Führung verlangt zu ihrer Erfüllung das, was landläufig als über den Tellerrand hinaussehen bezeichnet wird. Ein Erfolgsmodell für das Ganze setzt zwangsläufig voraus, dass der Blick nicht nur auf Details gerichtet ist. Es geht in der Führungsrolle um mehr als nur darum, den ganz persönlichen Bereich zu kennen. Wenn einer unserer Urahnen ein genialer Hersteller von Wurfspeeren war, dessen Fähigkeiten für alle anderen ein Buch mit sieben Siegeln blieb, hatte er aufgrund seines Wertes für das Überleben der Horde sicherlich viel Ansehen. Gefolgt ist ihm allerdings wohl niemand in die Wildnis, wenn es Mitglieder gab, die mehr über all die Erfolgsfaktoren der Jagd oder Reise wussten. Ein guter Speer ist dabei nur ein kleiner Baustein. Zur Führung eines „Unternehmens für Wurfspeere“ war er allerdings eventuell durchaus geeignet, denn er wusste, wie es gelingt, wirkungsvolle Waffen herzustellen. Sicherlich haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht, dass oft gerade das Fachspezialistentum als Beleg für eine spätere gute Führungsleistung gewertet wird. Die beste Fachkraft wird zum Chef gemacht. Warum ist dieser seit vielen Jahren kritisch betrachtete Sachverhalt so schwer auszumerzen? Nun, weil eine solche Bewertung zunächst durchaus intuitiv nahe liegend ist! Der Betreffende signalisiert Selbstvertrauen, Kraft und Kompetenz. Er hat Ansehen und personifiziert das von uns geforderte Erfolgsversprechen an die Gruppe! Diese Einschätzung ist oftmals falsch; oftmals heißt aber auch: Es ist nicht immer falsch! Ich kenne viele Spezialisten, die ich mir durchaus als erfolgreiche Führende einer besonderen Gruppe vorstellen kann. Wir müssen an dieser Stelle aufpassen, nicht in die allgemeine Polemik einzustimmen, man hätte mit einer solchen Entscheidung stets „eine gute Fachkraft weniger und eine schlechte Führungskraft mehr“. Und erst recht dürfen wir nicht den Fehler machen, auf Menschen hereinzufallen, die mit diesem Satz nur verdecken wollen, dass sie von dem Bereich, den sie führen wollen, keine Ahnung haben. Es reicht weder aus, „Management“ (bzw. Betriebswirtschaftslehre etc.) studiert zu haben, noch die Klaviatur psychologischkommunikativer Techniken zu beherrschen. Auch Führende müssen gute Fachkräfte sein – nur ist ihr Fach in dieser Rolle ein anderes (geworden). Die immer wieder aufkeimende Diskussion, wie viel Fach- und wie viel Führungskompetenz ein Manager benötigt, ist zutiefst unsinnig!

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Es geht um gute Erfolgsmodelle! Dafür muss man selbstverständlich Ahnung von der Sache haben. Und übertragbar sind Erfolgsmodelle verständlicherweise auch nicht so leicht. Viele Berater, die in das Management von Wirtschaftsunternehmen wechselten, die sie zuvor erfolgreich beraten haben, können von dieser Tatsache ein Lied singen. Der Spruch „Schuster bleib bei deinen Leisten“ kommt nicht von irgendwo. Einen erfolgreichen Manager zu versetzen, erfordert zumindest so viel Sorgfalt, wie das Umtopfen einer sensiblen Pflanze. Auch hier würde man zunächst prüfen, ob die wesentlichen Bedingungen für den späteren Erfolg gegeben sind, nicht wahr? Es geht bei dem Thema Fachkompetenz natürlich nicht darum, all die Fachwelten der anderen Gruppenmitglieder nun zusätzlich zur eigenen auch noch zu kennen. Ein Bauer muss nicht wissen, wie es biologisch-physiologisch genau funktioniert, dass Hühner Eier legen, um einen erfolgreichen Hof zu führen. Aber er muss verstehen, wie die Eier legenden Hühner zum Überleben des gesamten Hofs beitragen können. Er braucht ein wirkungsvolles Erfolgsmodell für das große Ganze. Und ein Jagdleiter benötigt keine Kenntnisse darüber, wie hervorragende Speere hergestellt werden. Aber er muss eine Vorstellung davon haben, inwieweit beispielsweise noch bessere Speere den Jagderfolg erhöhen würden.

Oftmals wird an dieser Stelle der Generalist herbeigeredet. Es wird darauf hingewiesen, dass wir viel mehr davon benötigen würden. Gerade jungen Menschen wird damit häufig eine gefährlich falsche Vorstellung vermittelt. Für sie ist es durchaus attraktiv, sich in anregender Weise mit vielen, unterschiedlichen Dingen beschäftigen zu können, kein „Fachidiot“ zu werden. Vielfalt statt Tiefe, Unterhaltung statt Fleiß, Übersicht statt Details, MTV statt Dokumentation. Auf diesem Weg wird niemand zum Kenner einer Materie oder – um es mit unseren Worten zu sagen – einer Aufgaben-, Problem- und Lösungswelt. Erfolg setzt wirkliches Verstehen voraus, und das entsteht weder durch „Themen-Tourismus“ noch durch Oberflächlichkeit. Wenn Erfolg leicht und bequem zu erreichen wäre, hätte ihn jeder! Es ist wichtig, sich bewusst zu halten, dass Führung grundsätzlich unter Konkurrenzbedingungen stattfindet. Wir hatten festgehalten, dass nur Besitz hier einen gewissen Wettkampfvorteil bietet. Während der Bauer als Eigentümer in der Regel nicht im Wettbewerb mit dem Knecht über die Führung des Hofs steht, muss der Jagdleiter ein Erfolgsmodell in den Wettbewerb schicken. Auffallen tun die Menschen, die etwas Besonderes können, die in etwas besser sind als andere. Es ist schön, wenn jemand von sehr vielen Sportarten die Grundregeln und -techniken kennt. Vielleicht beschert es ihm jede Menge unterhaltsamer Nachmittage. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass er in einer Sportart eine Führungsrolle innehat, ist nicht hoch. Wie lässt sich nun diese Wahrscheinlichkeit erhöhen?

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Im Wettbewerbszusammenhang ist es wichtig für Führende, siegerträchtige Antworten auf folgende Fragen zu finden: „ Warum und wozu kommen die Menschen gerade in dieser Gruppe zusammen? Was genau soll hier funktionieren? (Sinn) Vielleicht geht es ja beispielsweise in einer Gruppe gar nicht um die Sportart, sondern darum, gemeinsam Spaß zu haben. Ein Fußballfanatiker würde sich mit diesem Ziel vielleicht dann nicht identifizieren und die Gruppe verlassen, während ein „Unterhaltungsspezialist“ die Führung innehätte. Wer wirklich versteht, worin der Sinn einer bestimmten Gruppe besteht, erhöht seine Wahrscheinlichkeit, den Wettkampf um die Führung für sich zu entscheiden. Hier orientiert sich der Führende an der Gruppe: Wozu kommt sie zusammen? „ Welches Erfolgsversprechen personifiziere ich? Für welche Zukunft stehe ich? (Vision) Führen kann man nur irgendwohin, in eine Zukunft, zu etwas noch nicht Vorhandenem. Die Gruppe möchte für ihre Entscheidung, wem sie folgen soll, eine Zukunft angeboten bekommen. Hier orientiert sich die Gruppe am Führenden: Wohin will er führen? Möglich, dass die Gruppe, die sich zum Fußballspielen getroffen hat, jemandem zum Schwimmen folgt. Dieser Jemand ist vermutlich nicht der „Fußball-Führer“. Ein anderes Gruppenmitglied hat eine Vision angeboten, eine Alternative, die offensichtlich attraktiver war. Die Führungsrolle wurde von der Gruppe neu vergeben. Dies geschieht nur, wenn der Gruppensinn verstanden wurde. Geht es der Gruppe darum, für das Meisterschaftsspiel am Wochenende zu trainieren, wird das Alternativangebot keine Akzeptanz finden. „ Wie kann ich dafür sorgen, dass es besser gelingt - als ohne mich oder mit jemand anderem? (Funktionalität) Wer sich um die Führung bewerben will, benötigt einen Plan! Dies muss nicht zwingend ein theoretisches Konzept, aber es muss wirkungsvoll sein. Je umfassender und wesentlicher mein Nutzen für die Gruppe zur Zielereichung ist, umso besser für mich im Wettbewerb um die Führung. Wenn dieser Nutzen nicht dem Zufall überlassen bleiben soll, muss ich verstehen, wie es zum gemeinsamen Erfolg kommen kann. Beim Fußball könnten mögliche Fouls und Verlierer-Gefühle den gemeinsamen Spaß gefährden. Wenn ich mir darüber klar werde, dass damit ein Alternativangebot ohne diese Gefahren attraktiver sein könnte, gewinnt mein Vorschlag, schwimmen zu gehen, an Gewicht. Diese Überlegungen beruhen auf einer kleinen, persönlichen Theorie von „Spaß haben“. „ Wie kann ich meine Gesamtvorstellung, mein Erfolgsmodell, wirkungsvoll anbieten? (Auftritt) Der Wettbewerb um die Führung findet von Natur aus in der Öffentlichkeit (zumindest der Gruppe) statt. Wenn ich unzufrieden am Fußballspielen herumnörgele und meine Unlust am Gegenspieler auslasse, werde ich vermutlich eine andere Wirkung erzielen als mit einer begeisternden Wiedererweckung des Spaßes beim letzten FreibadBesuch. Das angebotene Erfolgsmodell stellt ein Versprechen dar. Ein gnadenlos falsches Versprechen wäre die Botschaft: „Ich bringe Euch den Erfolg!“ Das Führungsversprechen muss immer der Logik folgen: „Wenn wir mein Erfolgsmodell gemeinsam umsetzen, werden wir alle Erfolg haben!“ Womit zunächst die Frage zu klären wäre: Erfolg wobei?

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

1.1

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Sinn: Bedürfnisse und Ziele der Gemeinschaft verstehen

Die erste Aufgabe wirksamen Managements sei es, für Ziele zu sorgen, meint ein populärer Autor108. Sollte es Fachleute geben, die seriös bezweifeln, dass Ziele eine wesentliche Grundlage erfolgreicher Führung sind, sind mir diese zumindest nicht bekannt. Dennoch bewegen wir uns hier bereits einen kleinen Schritt zu weit. Zunächst einmal muss nämlich geklärt werden, wozu es eine bestimmte Gruppe überhaupt gibt und warum sie welche Mitglieder braucht. Eine Ausgangsfrage lautet damit: Welchen Sinn hat die Gemeinschaft? Wozu ist sie da? Es erscheint mir aus drei Gründen extrem wichtig, diese Ausgangsfrage zu beantworten: „ Sinn ist die tiefste Quelle unserer Energie! Er gibt uns die Antwort auf die Frage: warum? Wenn etwas für uns Sinn macht, brauchen wir uns über unsere Motivation keine Gedanken zu machen. Können Sie sich vorstellen, dass ein Ur-Führer seine Gruppe dafür begeistern musste, Essbares zu suchen, wenn diese Hunger hatte? Hier war der Sinn quasi eingebaut! Probleme gab es aber möglicherweise mit dem Auftrag, mit vollem Magen weiter zu sammeln. „ Sinn ist die höchste Ausrichtung unserer Energie! Er weist über die Gegenwart hinaus und gibt uns die Antwort auf die Frage: wozu? Wenn etwas für uns Sinn macht, haben wir das Ziel klar vor Augen. Sobald der Sinn der Vorratshaltung erkannt war, musste unser UrFührer nicht ständig darauf achten, dass auch mit vollem Magen weiter gesammelt wurde. „ Sinn ist ein menschliches Urbedürfnis! Das Gefühl von Sinnlosigkeit kann uns in so extremer Weise Lebensenergie rauben, dass wir unser komplettes Tun oder sogar unsere Existenz in Frage stellen. Dieses Gefühl scheint sich in unserer Entwicklung erst mit dem Auseinanderbrechen von Handeln, Denken und Fühlen eingestellt zu haben. Wobei wir natürlich nicht wissen, ob es vor 150.000 Jahren vielleicht doch schon Selbsttötungen aufgrund existenzieller Zweifel gegeben hat. Für unsere Vorfahren war der Sinn der Zusammenarbeit nahezu unverrückbar vorprogrammiert: Es ging selbstverständlich um das individuelle und Art bezogene Überleben. Alle Aufgaben hatten irgendwie damit zu tun. In späteren menschlichen Sozialsystemen wurde die Lage immer vielfältiger. Eine Familie erfolgreich durch das Leben zu führen (Familienführung) stellt einen anderen Sinn dar, als eine Gruppe durch ein Gebirge (Bergführer), eine Fußballmannschaft zum Sieg (Spielführer) oder ein Unternehmen zum Gewinn (Unternehmensführung). Firmen haben dabei mit dem Ziel, ihren Mitgliedern das Erwirtschaften der eigenen Existenz zu sichern, nicht den hintersten Platz auf einer imaginären Sinn-Skala. Also eigentlich keine schlechte Ausgangslage. Wenn ich ein Unternehmen zur Förderung von 108 Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S.

174 ff.

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Ausbildungsplätzen für Hausmilben gründen würde, könnte ich mir vorstellen, dass ich nicht viel zu führen hätte. Rahmen des Erfolgsmodells einer Führungskraft muss die klare Aussage darüber sein, woran diejenigen teilhaben werden, die sich dieser Gemeinschaft anschließen. Es wird eine Antwort gefordert, womit genau sich die Mitglieder identifizieren können. Organisationen und Gruppen machen ein Identifikationsangebot! „Identität ist das fundamentale Prinzip aller sich selbst organisierenden Systeme. Sie umfasst die Bedeutung einer Organisation, ihren Zweck und ihre Absicht, und sie liefert den Zusammenhalt, der dem System Stabilität gibt.“109 Ein absolut lesenswertes Buch ist in diesem Zusammenhang „Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten“ von Walter Böckmann. Die Identifikation mit der gemeinsamen Sache, ein Verständnis des möglichen persönlichen Beitrages zum Gesamtergebnis, ist in vielen Organisationen kaum mehr realistisch. Da wir jedoch von Natur aus das Bedürfnis nach einer solchen Identifikation haben, sind wir entweder a) frustriert und demotiviert oder b) daran interessiert, uns mit kleineren Einheiten (z. B. Projekten, Abteilungen, Geschäftsbereichen) zu identifizieren. Oft kommt es auf diesem Wege zu der unglücklichen Situation, dass der Zusammenhalt der kleineren Einheiten den Gesamterfolg hemmt. Es entstehen eigene Sprachen, Deutungsmuster, Ziel- und Erfolgsmodelle – nur um etwas zu haben, mit dem man sich identifizieren kann. Eine solche Entwicklung muss aus unserer Sicht klar als Führungsfehler betrachtet werden! Im Zusammenhang dieses Buches kommt der Führung von und in Unternehmen eine besondere Bedeutung zu. In Diskussionen zwischen Managern sind es gerade die betriebswirtschaftlich orientierten Menschen, die immer wieder betonen, der Sinn von Unternehmen sei es, Geld zu verdienen. Die entsprechende Rechnung ist einfach: kein Ertrag, kein Erfolg, kein Überleben. Und die Rechnung ist korrekt! Jedes Lebewesen muss in irgendeiner Weise seine Existenz erwirtschaften. Sie schließen sich seit Urzeiten in Organisationen zusammen, um dies erfolgreicher zu tun. Im Grunde bietet dieser schlichte Sachverhalt gar keine Grundlage für Diskussionen und Konflikte. Dennoch ergeben sich zeitweilig hitzige Debatten darum, ob diese Sicht ausreicht. Das tatsächliche Problem besteht nämlich darin, Einigkeit darüber zu erzielen, was gemeinsam für diesen Erfolg getan werden muss. Und schon sind wir im Bereich des Wettbewerbs der Erfolgsmodelle! Hier liegt aus unserer Sicht der Grund, warum solche Diskussionen oft den Geschmack von Machtkämpfen haben. („Ich weiß besser, was für uns alle gut ist!“) Wir wissen bereits: An dieser Stelle werden archaische Muster angesprochen. Wer der Gruppe das wertvollste Erfolgsmodell anbietet, hat einen berechtigten Anspruch auf die Führungsrolle angemeldet – und damit eventuell die bestehenden Machtstrukturen in Frage gestellt. Das Drumherum in diesen Diskussionen, die Pseudo-Sachlichkeit, soll zumeist nur den eigentli109 Marshall, St. P., Die Bildung stabiler und lernfähiger Gemeinschaften für das 21. Jahrhundert, in: The

Drucker Foundation, Organisation der Zukunft, S. 195-205, 1998, München: Econ

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113

chen Machtkampf verbergen, der dahinter liegt. Wenn in solchen Diskussionen von Zielen gesprochen wird, geht es einerseits um Erfolgstheorien und andererseits darum, welche Zukunft angestrebt werden soll. Führung macht auch ein Zukunftsangebot!

1.2

Vision: Eine attraktive Zukunft anbieten

Es geht an dieser Stelle nicht um die Frage, ob man Visionen entwickeln kann, sondern darum, welches Zukunftsversprechen man gibt. Und das tut jede Führungskraft! Ob sie sich dessen bewusst ist und es unmissverständlich und klar zum Ausdruck bringt oder nicht! Der anregende Autor Marcus Buckingham war 17 Jahre lang beim berühmten Gallup-Institut mit Studien rund um das Phänomen Führung befasst. Auf die Frage, was gute Führende von „normalen“ Menschen mit Initiative, Kreativität, Stehvermögen und Integrität unterscheidet, sieht er nur eine einzige Antwort: Sie führen Menschen in eine bessere Zukunft110. Er geht sogar davon aus, dass sie mit jeder Faser ihres Seins daran glauben, die einzig richtige Person zu sein, die diese Zukunft herbeiführen wird. Und mit einer solchen Bewertung des Themas steht er nicht allein. „Um eine Organisation zu herausragendem und kontinuierlichem Erfolg zu führen, gibt es keine stärkere Kraft als eine attraktive, würdige und realisierbare Vision der Zukunft, die von vielen getragen wird.“111 In einer groß angelegten Studie zum Führungserfolg hat Berth112 festgestellt, dass Unternehmen mit einer visionären Orientierung über 200 Prozent erfolgreicher sind als solche ohne. Dies ist auch deshalb interessant, weil das Phänomen Vision zumeist zwei unterschiedliche Haltungen provoziert. Diese rangieren von: „So ein nebulöser Blödsinn kommt mir nicht ins (wohl strukturierte) Haus!“ bis: „Was für ein faszinierendes Phänomen menschlicher Natur!“ Dass die evolutionspsychologische Perspektive, im Gegensatz zu manchen rational betonten Managern, zur zweiten Aussage neigt, versteht sich vermutlich von selbst. Aus unserer Perspektive ist der Ansatz der Visionären Führung (bzw. das zu Grunde liegende Phänomen) mehr als eine weitere Methode – und wohl auch mehr als eine Mode der Führungsforschung. Kern des Erfolgsmodells einer Führungskraft muss die klare Aussage darüber sein, welche Zukunft sie mit der Gemeinschaft aufzubauen gedenkt. Es wird eine Antwort gefordert, worauf alle zusammen hinarbeiten werden. Führung macht ein Zukunftsangebot! Neuberger vermutet, dass es „… unserer visuell geprägten Kultur“ zu danken ist, „… dass das Konzept der Vision in die Management- und Führungslehre Eingang gefunden hat und außerordentlich positiv besetzt wurde … Visionen sind Fernziele (aber nicht: Utopien oder Illusionen), die bildhaft ausgedrückt sind, einen starken emotionalen Aufforderungscharakter haben und wichtigen Werten oder Anliegen Ausdruck geben … Zu den Funktionen von Visi110 Buckingham, M., The One Thing. Worauf es ankommt, 2006, Wien: Linde, S. 63 111 Nanus, B., Visionäre Führung, 1994, Frankfurt: Campus, S. 19 112 Berth, R., Erfolg, 1993, Düsseldorf: Econ

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onen gehört es, von der Will-Kür einzelner Personen abzulenken und hin zu lenken auf etwas Größeres: die Unternehmung, das eigentliche Ziel, die letzten Werte.“113 Aus unserer Sicht erklären wir diese Sachlage selbstverständlich nicht mit „unserer visuell geprägten Kultur“, sondern mit unserer visuell geprägten Natur! Und es ist auch nicht ihr zu verdanken, dass das Konzept der Vision in die Führungslehre Eingang gefunden hat. Führung bietet von Natur aus ein Zukunftsangebot! Prinzipiell könnte sie dies wohl auch schriftlich tun; da wir visuell und sozial orientierte Wesen sind, geht es aber auf solchen Wegen wirkungsvoller. Der Mensch als „Seh-Wesen“ Im Gehirn des Menschen beanspruchen diejenigen Bereiche, die dem Sehen zugeordnet sind, den meisten Platz. Wir Menschen sind vermutlich, evolutionär betrachtet, vor allem Seh-Wesen. Was wir über das Leben bzw. die Welt wissen, haben wir uns, im besten Wortsinn, „ein-ge-bildet“. Als die alten Lateiner diesen Vorgang informatio tauften, haben sie wohl kaum erwartet, dass viele Jahrhunderte später der Begriff Information mit der ursprünglichen Bedeutung nicht mehr viel gemein hat. Wer sich heute als informiert bezeichnet, denkt vor allem an Daten, aktuelle Nachrichten und Hintergrundfakten – nur selten wird er dabei auf seine „Ein-Bildung“ Bezug nehmen. Schade!

Ich stelle die These auf, dass sich der Kern des Phänomens Vision in unterschiedlichsten Kulturen wiederfinden lässt. Gleichzeitig erscheint es wahrscheinlich, dass es in diesem Zusammenhang in erster Linie um die Tatsache des Zukunftsangebots geht, nicht um die Frage des Visuellen, Auditiven usw. Ursprünglich sprach jedes Zukunftsangebot allerdings verständlicherweise das visuelle Vorstellungsvermögen an. Mit etwas Mut ließe sich sogar die Annahme wagen, dass wir über Ur-Bilder attraktiver Zukünfte (Archetypen) verfügen; das wären sozusagen die ersten unternehmerischen Visionen. Diese wohl überschaubare Anzahl von Ur-Visionen stand dann sicherlich in natürlicher Verknüpfung mit unseren Bedürfnissen. Zukünfte von Geborgenheit, Sicherheit oder Lust sprechen uns stärker an als von Einsamkeit, Hunger und Langeweile. Eine wirkungsvolle Vision kann man nicht im üblichen Sinne entwerfen, erarbeiten, formulieren, visualisieren und kommunizieren. Der energetische Kern einer wirklich guten Vision muss wohl als geteilte, emotionale Erfahrung zwischen allen Beteiligten „erinnert“ werden. Wir hatten bereits zuvor festgestellt, dass Zukunft erst mit der Entwicklung unseres Bewusstseins Eingang in unser Dasein fand. Ursprünglich bestand das Leben vor allem aus beständiger Gegenwart und der Bewältigung derselben. Unsere Ahnen brauchten keine ausgefeilten Zukunftsbilder. Bei ihnen ging es zunächst schlicht um das Herstellen und Bewahren einer attraktiven Gegenwart. Erst durch den wachsenden Abstand von Gegenwart und möglicher Zukunft ging die natürliche Verbindung von individueller Energie und gemeinsamer Ausrichtung verloren. Diese Spaltung beeinflusste selbstverständlich die Kernaufgabe der Führung! Irgendwann wurde es möglich, sich über unterschiedliche Zukunftsangebote in den 113 Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002, S. 205

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Konkurrenzkampf um die Führungsrolle zu begeben. Immer noch geht es dabei auch darum, eine Verknüpfung von natürlichen Bedürfnissen (Motivation und Energie) und gemeinsamer Ausrichtung (Ziel und Organisation) zu finden. Visionen verbinden zwei unterschiedliche Aspekte, die uns im Zusammenhang mit dem Phänomen Führung immer wieder begegnen: „ Einerseits geht es um die Erfüllung der Kernaufgabe. Ein Zukunftsversprechen gibt Energie und Ausrichtung. „ Andererseits geht es um den Konkurrenzgedanken. Wer bietet das attraktivste Zukunftsversprechen? Der Konkurrenz-Gedanke macht auch das Erkennen und Nutzen von Chancen bedeutsam. Oft wird die so genannte Chancenorientierung im Zusammenhang mit dem Problemlösen und der Haltung gegenüber Krisensituationen diskutiert. Es wird dann einerseits von uns erwartet, dass wir uns nicht von den Risiken zu sehr beeindrucken lassen, andererseits den Blick auch für wertvolle Optionen offen halten. Mir erscheint es interessanter, die Formulierung von Chancen als Facette eines Zukunftsangebots zu betrachten. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter erstaunlich, dass solche, die glaubwürdig attraktive Entwicklungen beinhalten (also chancenorientiert sind), im Konkurrenzkampf recht gut dastehen. Die so genannte Chancenorientierung ist die Fähigkeit, möglichst viele attraktive Zukünfte zu sehen. Fehlt die gelungene Ausrichtung auf eine attraktive Zukunft, fehlt eine Vision, steht der Führende plötzlich vor einer ganzen Anzahl isolierter Probleme: Er ringt verzweifelt mit jedem um Zielvereinbarungen, kämpft beständig gegen die Demotivation der Geführten an und fragt sich verzweifelt, warum deren Identifikation mit der Organisation so gering und die Loyalität ihm gegenüber kaum spürbar ist. Aus unseren Überlegungen lassen sich folgende Aussagen in Bezug auf Visionen ableiten: „ Es gibt nicht die eine richtige Vision für ein Unternehmen. Es gibt immer unterschiedliche mögliche Zukünfte und unser Geist beschäftigt sich nahezu zwangsläufig mit dieser Vielfalt. Sie macht uns Angst, weckt unsere Neugier und steuert unser Verhalten. „ Visionen können nicht völlig frei erfunden werden. Attraktive Visionen müssen auf kraftvollen Grundbedürfnissen aufbauen und sowohl mit der menschlichen Natur wie auch den realen Gegebenheiten vereinbar sein. Es gibt völlig wirkungslose Zukunftsbilder, die uns weder berühren noch zu Aktionen anregen. „ Gute Visionen wirken. Ein Zukunftsangebot, das unsere evolutionäre Natur berücksichtigt, lässt uns nicht „kalt“. Studien belegen, dass eindeutige Zukunftsbilder uns erfolgreicher machen. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit, helfen uns, Aufgaben beharrlich zu verfolgen und dienen der gemeinsamen Orientierung114.

114 Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, S. 215 ff.

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„ Guten Visionen wird gefolgt. Die Führung muss eine Zukunftsmöglichkeit personifizieren, damit die Gruppenmitglieder sich für sie entscheiden können. Eine Führungskraft, die unklar lässt, für welche Zukunft sie steht, verliert Akzeptanz. Interessanterweise zeigte die bereits angesprochene Studie von Berth zwischen den Unternehmen, die keine Vision haben, und denjenigen, die nur eine mündliche besitzen (d. h., diese nicht schriftlich fixiert haben), keine merkliche Differenz! Um ihre positive Wirkung entfalten zu können, muss das Zukunftsangebot der Führung offenbar unmissverständlich und klar sein. Vage Ideen und Fantasien sind in diesem Sinne nicht als Zukunftsversprechen zu verstehen. Sie bleiben unglaubwürdig und realitätsfern. Das Problem darf nicht übersehen werden: Zukünfte sind oft weit weg! Solche Dinge bewegen uns kaum. Immer noch sind unsere menschlich-evolutionären Grundenergien stark auf die Gegenwart ausgerichtet. Dies ist beispielsweise auch die Ursache dafür, dass wir unsere Hand rasch von der berühmten heißen Herdplatte ziehen, während es uns deutlich schwerer fällt, viele Jahre Schulzeit für eine Zukunft zu investieren, die für uns vage und weit entfernt ist. Wie wirkt eine Vision? Wie sieht die Verbindung zwischen Zukunftsangebot und aktuellem Verhalten aus? Was unterscheidet Fantasterei von einer wirkungsvollen Vision? Offenbar brauchen wir neben Attraktivität auch Glaubwürdigkeit. Diese mag einerseits auf Vertrauen beruhen, das man dem Führenden entgegenbringt („er wird`s schon richten“), andererseits auf einem inneren Bild davon, wie diese Zukunft herstellbar wäre („das können wir schaffen“). Wenn uns ein Zukunftsangebot attraktiv erscheint, taucht offenbar unmittelbar die Frage in uns auf: Wie kommen wir dort hin? Wir erwarten von demjenigen, dem wir die Führungslegitimation erteilen sollen, dass er uns darauf eine glaubwürdige Antwort liefert. Zum Anbieten des wertvollsten Erfolgsmodells gehören nachvollziehbare Aussagen, wie es funktionieren soll, die attraktive Zukunft gemeinsam zu verwirklichen.

1.3

Funktionalität: Die Erfolgsgesetze des großen Ganzen verstehen

Eine faszinierende Frage: Wie entsteht Erfolg? In vielen Bereichen hat „Mutter Natur“ dafür gesorgt, dass unser Großhirn nicht für den Erfolg notwendig ist. Wir müssen nichts über Biologie wissen, um uns zu vermehren, nichts über Ernährungsphysiologie, um gut zu essen, nichts über Soziologie, um zufrieden in einer Familie oder Arbeitsgruppe zu sein, nichts über unseren Hormonhaushalt, um die Sonne zu genießen. Wir benötigen kein Wissen über Tierkunde, um Kuhmilch zu trinken und keines über Neurophysiologie, um uns in „miesen Zeiten“ etwas Gutes zu tun. In Bezug auf unser Phänomen Führung stellt sich die Lage jedoch aus einer anderen Perspektive dar! Es geht für Führungskräfte einerseits um die Funktionalität ihres Verstehens, andererseits um die Erfüllung von Erwartungen. Die Geführten erwarten und unterstellen, dass

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der Führende die relevante Aufgaben-, Problem- und Lösungswelt besser versteht. Sonst wäre er nicht in dieser Rolle! Sie erwarten hier einen Vorsprung des Führenden. Beginnen sie, diesen anzuzweifeln, entziehen sie ihm die Legitimation. Substanz des Erfolgsmodells einer Führungskraft müssen klare Aussagen darüber sein, wie die Gemeinschaft zusammen die angebotene Zukunft verwirklichen kann. Es wird eine Antwort gefordert, wie dabei jeder einzeln vorgehen soll. Führung macht ein Wirkungsangebot! Wenn ein alter Schamane vor vielen tausend Jahren ein Ritual vollzog, um den Regen zu rufen, hatte er das Vertrauen seiner Leute. Er „wusste“, was bei Trockenheit zu tun ist. Aber er benötigte auch Erfolge, um seine Macht zu legitimieren. Wenn ihm klar war, dass es vor allem dann regnet, wenn eine spezifische Wolkenformation über einem Hügel bei bestimmten Temperaturen auftritt, waren seine Beschwörungen zweifellos wirkungsvoller, nicht wahr? Sind wir überhaupt in der Lage, unsere Welt zu verstehen? Aus funktionalen Gesichtspunkten heraus wohl in wesentlichen Punkten: Unsere Erkenntnisstrukturen passen ja deswegen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an das reale Umfeld herausgebildet haben. Wir erwarten daher evolutionär bestimmte Erkenntnismuster und -vorgänge. Die bei allen Menschen einlaufende sensorische Information reicht beispielsweise in der Regel für eine eindeutige Interpretation nicht aus. In einem solchen Fall füllen die Netzwerke im Gehirn Lücken aus. Angesichts der unvollständigen Informationen stellen sie die beste Vermutung auf, die ihnen möglich ist. Dieses allgemeine Prinzip, das umgangssprachlich mit „vorschnellen Schlüssen“, „selbst erfüllenden Prophezeiungen“ und „Vorurteilen“ in Verbindung gebracht wird, lenkt einen Großteil des menschlichen Verhaltens115. Und es ist überlebenswichtig! Unser Verstehen ergibt sich in allererster Linie durch die Auseinandersetzung mit unserer Umwelt, durch unser Tun. Für uns ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass es um die Auseinandersetzung mit der relevanten Umwelt gehen muss. Auf diese Weise erwerben wir uns Kennerschaft! Ausschließlich theoretisches Wissen oder abstraktes Planen ohne aktives Handeln wird zu einer rein geistigen Übung, bei der wir eine Welt in unserem Kopf heraufbeschwören, die es nicht gibt. Diese Tatsache sollte insbesondere auch bei der Ausbildung von Führungskräften (und z. B. auch Controllern) stärkere Berücksichtigung finden. Wir benötigen weniger (Besser-)Wisser als Kenner! Ein Weinkenner ist etwas völlig anderes als z. B. ein Wissenschaftler, der sich auf Wein spezialisiert hat. Führende müssen sich Erfahrungen erarbeiten und den Kontakt zur realen Welt erhalten. Zahlen, Tabellen, Studiengänge und Grafiken sind kein wirkungsvoller Ersatz für die aktive Auseinandersetzung mit dem erfolgsrelevanten Feld. Unser Gehirn formt aus unseren Erlebnissen ein Modell der Umwelt, das uns erlaubt, Dinge zu erkennen und Voraussagen über die Zukunft zu treffen. Die älteren und häufig gebrauchten 115 Koch, Ch., Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel, 2005, München: Elsevier, S. 25

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Erkenntnisse formen sozusagen das Fundament, das nicht ohne weiteres geändert werden kann. Jeder Mensch handelt daher nach einer persönlichen, recht stabilen Erfolgstheorie. Dabei besteht zwischen den jeweiligen Bildern im Kopf und den wirklichen Tatbeständen das Verhältnis einer mehr oder weniger weitgehenden Analogie. Unsere Erfahrung kann sich einerseits in Form unserer Intuition melden, sie kann andererseits – dem Intellekt zugänglich gemacht – analysiert werden und ein immer komplexeres und differenziertes Gebilde ergeben. Unser Erkenntnissystem hat sich bislang evolutionär bewährt. Gleichzeitig liegen durchaus einige brisante Gefahren für uns darin: Erfahrung und Gewohnheiten können zu Starrheit werden, Intuition ist leicht mit Willkür zu verwechseln, Analysen produzieren viel zu oft Datenfriedhöfe und wachsende Komplexität und Differenziertheit enden nicht selten in Handlungsunfähigkeit. Gefahr

Gegenmittel

9 Starrheit

9 Austausch und Reflexion

9 Willkür

9 systematische Prüfung unserer (Vor-)Annahmen

9 Datenfriedhöfe

9 “verstehende” Methoden (z. B. Wirkungsgefüge)

9 Handlungsunfähigkeit

9 Komplexität reduzierende Methoden (z. B. Vision, Strategie, Prioritätensetzung)

„ Starrheit können wir damit begegnen, dass wir uns unsere Gedankenwelt bewusst machen, nicht mit ihr alleine bleiben und sie herausfordern (lassen). Vielfalt von Erfahrung spielt hier eventuell genauso eine Rolle, wie z. B. das Führen eines Tagebuchs. „ Das Risiko der Willkür erfordert eine systematische Prüfung unserer (Vor-)Annahmen. Auch dazu ist es notwendig, sich diese zunächst einmal bewusst zu machen. Im nächsten Schritt müssen wir aktiv unserer natürlichen Tendenz begegnen, nach Bestätigungen unserer Annahmen zu suchen. Unser Verstand ist darauf programmiert, Recht haben zu wollen. Wir beachten von Natur aus insbesondere die Dinge, die für unsere Sicht sprechen. Daher hat sich z. B. die Wissenschaft entschieden, ihre Thesen bewusst widerlegen zu wollen. Nur wenn das einfach nicht gelingen will, akzeptiert sie etwas als wahr. An dieser Strategie sollten wir uns orientieren. „ Unser Verständnis erhöhen wir nicht dadurch, immer mehr Fakten anzuhäufen. Datenfriedhöfen können wir nur erfolgreich begegnen, indem wir mit verstehenden Methoden arbeiten. Eine viel zu selten genutzte Möglichkeit ist beispielsweise die Erstellung von Wirkungsgefügen: Wie wirkt was worauf und mit welchen Ergebnissen, Spät- und Ne-

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benwirkungen? Die systemische Gedankenwelt kann an dieser Stelle wertvolle Anregungen bieten116. „ Wenn wir alle Zusammenhänge unserer Welt wirklich verständen, würde uns diese Komplexität wohl ziemlich lähmen. Um unsere Handlungsunfähigkeit bewahren zu können, benötigen wir also Methoden, die eine Reduzierung der Komplexität ermöglichen, ohne wesentliche Dinge zu vernachlässigen. Oder wie Einstein es sinngemäß formuliert haben soll: „Wir müssen die Dinge so einfach machen, wie wir nur können. Aber nicht einfacher.“ Um diese Anregung zu verwirklichen, müssen wir genau wissen, worum es uns geht (Prioritäten). Dann haben wir eine Art Kompass, an dem wir uns orientieren können. Ein Führender, der sich seinen Vorsprung des Verstehens erhalten will, muss die Fähigkeit entwickeln, realistisch wahrzunehmen. Dies setzt voraus, die eigenen Wahrnehmungsmuster zu kennen und den damit verbundenen Handlungsimpulsen zu widerstehen. Die Praxis beweist uns oft, dass unsere Wahrnehmungen nicht realistisch sind. Es trifft uns dann hart, dass wir uns in einer Situation, auf die unsere Erkenntnisse nicht mehr zu passen scheinen, mit den offenbar falschen Instrumenten bewegen. Gegen die Ohnmacht, die wir dabei empfinden, können wir etwas tun. Die Angst vor der Komplexität lässt sich überwinden – allerdings anders als wir denken. Noch einmal: Wir benötigen kein Mehr an Daten, sondern ein Mehr an Verstehen. Um in der Komplexität des Lebens entscheidungs- und handlungsfähig zu bleiben, müssen wir die Fähigkeit pflegen, das Wesentliche eines Feldes zu erfassen. Viele Manager häufen immer weiter Informationen an, in dem verzweifelten Versuch, ihre Welt unter Kontrolle zu bekommen. Eine geradezu widersinnige Strategie. Irgendwann geht die eigentlich wesentliche Nachricht im „Rauschen“ unter. Gerade Führende müssen sich auf Muster, statt auf Daten und Fakten konzentrieren. Sie müssen sich ein Bild machen! Zur Mustererkennung gehören in der Führungspraxis vier Dinge: „ Datenreduktion auf die wesentlichen Schlüsselkomponenten, „ Vernetzung dieser Komponenten, „ intuitives Füllen der Lücken und „ systematisches Übersetzen von Intuition in Erkenntnis. Solange wir jedoch die Muster nicht kennen, nützt es wenig, die Einzelbereiche mit noch mehr Detaillierung und Exaktheit zu untersuchen. Wir stehen hier an dem gleichen Punkt, der uns dazu geführt hat, das Phänomen Führung von seinen Ur-Mustern her verstehen zu wollen, statt einfach noch mehr Gedanken auf den riesigen Berg von Überlegungen anzuhäufen. Erfolgsmodelle können nicht aus gigantischen Datenbanken abgeleitet, erfunden oder frei erarbeitet werden! Man kann nicht nach dem Motto agieren: „Na, dann lasst uns mal überlegen, wie wir erfolgreich sein wollen.“ An dieser Stelle liegt durchaus auch ein entscheidender Fehler in der Denkweise einiger großer Strategieberatungen. Erfolgsmodelle werden in der

116 Gomez, P. & Probst, G., Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens, 1999, Stuttgart: Paul Haupt

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Wirklichkeit entdeckt! Sie werden eher aus der Realität herausgeschält als in einem demokratischen Prozess diskutiert und verabschiedet. Die Erfolgsmodelle, die wir für eine bestimmte Organisation bzw. Aufgabe haben, sind nicht unabhängig von unseren ganz individuellen Erfolgsmodellen. Jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine Vorstellung davon, was er tun und lassen muss, um erfolgreich durch die Welt zu kommen. Es ist uns nicht möglich, authentisch und motiviert einen Weg zu gehen, an den wir nicht glauben – weil er unserem persönlichen Erfolgsmodell widerspricht. Für Führungskräfte bedeutet das, dass sie eventuell nur für eine bestimmte Art von Erfolg gut sind, nämlich die, die zu ihrem eigenen Modell passt. Unsere persönlichen Erfolgstheorien sind einerseits Grundlage unserer individuellen Art von Erfolgen, andererseits halten sie uns zumeist davon ab, andere Formen von Erfolg zu erlangen. Wir stecken quasi in unserer Art von Erfolg fest! Führende müssen ihre persönliche Erfolgstheorie kennen und die damit nahezu zwangsläufig definierten persönlichen Grenzen. Nur so sind diese überwindbar – und der Führungsanspruch über die aktuellen Grenzen hinweg in Zukunft zu legitimieren. Manager müssen sich zudem bewusst halten, dass sie vor dem Problem stehen, ihr eigenes Erfolgsmodell schwer widerlegen bzw. verbessern zu können. Wer sagt ihnen denn noch die Wahrheit? Hinzu kommt, dass unsere Entwicklung persönliche Wahrnehmungsmuster fördert. Wir sehen viel zu oft nur die Dinge, die ausschließlich mit uns zu tun haben (unsere „Macken“), statt mit der Realität. Wir sind im Grund gezwungen, die Realität stets durch unseren ganz persönlichen Spielfilm hindurch wahrzunehmen. Wir leben in unserer eigenen Welt. Verständlich, dass diese Tendenz gerade für eine Führungskraft große Risiken birgt! Gibt es auch an dieser Stelle Gegenmittel? „ Nehmen Sie sich die Zeit und bauen Sie wahre Kennerschaft auf! „ Pflegen und nutzen Sie viele zusätzliche, inoffizielle Informationsquellen. Gerade weil eine Führungskraft viele Kontakte hat, viele Zugänge und Quellen, genießt sie bei der Beschaffung von (weichen) Informationen einen natürlichen Vorteil. Bauen Sie diesen Vorteil aus! „ Suchen Sie Wege und Mittel, das eigene Erfolgsmodell systematisch zu verbessern. Der erste notwendige Schritt dazu besteht darin, das eigene Erfolgsmodell aus den Tiefen Ihres Autopiloten herauszuholen und bewusst zu machen. „ Stellen Sie sicher, kritische und kompetente Partner zur Reflexion zu haben. „ Integrieren Sie Hinweise auf weitere erfolgsrelevante Aspekte in ihr Modell, statt diese in Konkurrenz zu Ihrer Sicht wegzudiskutieren. „ Nehmen Sie Fakten, die nicht zu Ihrem Erfolgsmodell passen, besonders ernst! Sie sind oft Hinweis darauf, dass Sie etwas Wesentliches noch nicht verstanden haben.

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Fassen wir vor diesem Hintergrund noch einmal die wesentlichen Aufgaben in Bezug auf die Erarbeitung eines Erfolgsmodells für Führungskräfte zusammen. Aufgabe

Einordnung

9 Definieren Sie ein klares Identifikationsangebot!

9 Dieses stellt den Rahmen des Erfolgsmodells dar. Woran werden diejenigen teilhaben, die sich genau dieser Gemeinschaft anschließen? Welchen Sinn hat diese? Lässt sich der Sinn auf eines unserer archetypischen Grundbedürfnisse zurückführen?

9 Machen Sie ein persönliches Zukunftsangebot!

9 Das ist der Kern Ihres Erfolgsmodells. Welche gemeinsame Zukunft werden Sie mit der Gemeinschaft aufbauen. Worauf werden alle zusammen hinarbeiten?

9 Transportieren Sie ein unmissverständliches Wirkungsangebot!

9 Das ist die wirkliche Substanz Ihres Erfolgsmodells. Wie kann die Gemeinschaft zusammen die angebotene Zukunft verwirklichen? Was muss dabei jeder einzeln tun?

9 Machen Sie Integrationsangebote!

9 Das ist die Grundlage der Umsetzungsenergie Ihres Erfolgsmodells. Wie können die wesentlichsten Facetten der unterschiedlichen persönlichen Erfolgsmodelle der Geführten in das „große Ganze“ einbezogen werden? Wo ist die Grenze der Integrationsfähigkeit erreicht?

Was nützt es, wenn es nun einen Menschen gibt, der das „Geheimnis des Erfolges“ kennt – aber nicht verrät? Möglicherweise bietet eine solche Vorgehensweise die Basis für individuelle Erfolge: Man stellt quasi ein Monopol her. Wertvoll ist dies nur, wenn man zur Herstellung des Erfolges niemanden benötigt, die Aufgabe also gar keiner Führung bedarf. Ein Monopol auf das Feuermachen war zweifellos vor vielen Jahrtausenden eine beeindruckende Sache, die Anerkennung und Macht verschaffte. Ein Monopol auf die Methode der Treibjagd hat da einen deutlich geringeren Reiz, nicht wahr? Wenn man hier das Geheimnis für sich behält, ist es wertlos. Gleichzeitig stellt es aber ein Erfolgsmodell für eine gemeinsame Großaufgabe dar und birgt damit die Grundlage für die Übernahme einer Führungsrolle. Ich stelle hier folgende These auf: Wenn die persönlichen Erfolge einer Person bislang darauf beruhten, dass diese ein (Erfolgsmodell-)Monopol aufbaute, wird sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine gute Führungskraft.

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Diese Annahme beruht auf der Tatsache, dass wir unsere bewährten persönlichen Erfolgsmodelle nicht einfach geändert bekommen. Wie wir gesehen haben, kann ich mich als Einzelperson sehr gut mit der Geheimhaltung meines Erfolgsmodells positionieren. Nehme ich diese „Geheimnis-Strategie“ aber mit in eine Führungsaufgabe, stellt sie sofort ein Problem dar. In den Situationen, in denen es um Führung geht, muss das eigene Erfolgsmodell angeboten werden. Es geheim zu halten, macht zum einen keinen Sinn, da Führungskräfte in einem Wettbewerb der Erfolgsmodelle stehen. Zum anderen schwächt diese Strategie sogar den Erfolg der Gruppe! Vor diesem Hintergrund stellen sich für eine erfolgreiche Führungskraft weitere Aufgaben: Sie muss sich und ihr Angebot erfolgreich vermarkten und damit in Konkurrenz zu den Alternativen treten. Dazu ist es notwendig, das Modell in eine klare, unmissverständliche und wirkungsvolle Sprache zu übersetzen (Prinzip: „Ich aber sage euch …“).

1.4

Auftritt: Das Erfolgsmodell wirkungsvoll anbieten

Unsere Urahnen boten der Gruppe selbstverständlich kein bewusstes und durchdachtes Erfolgsmodell an. Sie lebten es einfach vor, ließen es in ihrem Handeln erkennen und die Wirkungen spüren. Das funktioniert auch heute noch! Wir sprechen dann davon, dass eine Führungskraft Vorbildfunktion haben muss. Diese nun als Anforderungskriterium zu definieren, ist beliebt, macht allerdings meiner Ansicht nach überhaupt keinen Sinn. Das Hauptproblem besteht nicht darin, ob jemand Vorbild ist oder nicht. Das Problem besteht in der Frage, wofür jemand Vorbild ist. Menschen leben einfach ihr persönliches Erfolgsmodell. Darin sind sie Vorbild. Jeder von uns ist das! Für Führende sieht die Sachlage komplizierter aus: Würde ich beispielsweise sagen, ein Chef sollte Vorbild im Lügen sein, dann mache ich deutlich, dass ich Lügen für eine Fähigkeit halte, die den Gruppenerfolg bestimmt. Erwarte ich vorbildliche Wahrhaftigkeit, sieht mein Erfolgsmodell ganz anders aus. Vorbildsein ist einfach ein Mittel, das eigene Erfolgsmodell zu verbreiten, es ist nicht zwingend eine ethische Dimension. Vorbildsein an sich ist für Führungskräfte als Anforderungskriterium untauglich! Erst das jeweilige Erfolgsmodell definiert, worin jemand Vorbild zu sein hat. Das eigene Erfolgsmodell durch Vorbild zu vermitteln, setzt allerdings zumindest zwei Dinge voraus, die in heutigen Führungssituationen nicht immer gegeben sind: „ Ich benötige den direkt geteilten Alltag mit den Mitarbeitern, damit diese mich auch erleben können.

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„ Ich benötige Zeit, da mein Verhalten erst im Laufe der Zeit in den Köpfen der Mitarbeiter eine Gestalt annimmt und die Muster erkennen lässt, die ihm zu Grunde liegen. Wenn dies nicht möglich ist, brauchen wir eine Alternative. Damit kommt einer weiteren Art der Vermittlung Bedeutung zu: dem Verkaufen! Jack Welch formuliert den Kerngedanken unseres Erfolgsmodells in der Frage: „Wie sollen wir in unserem Geschäftsfeld erfolgreich sein?“117 und bezeichnet ihn als Leitbild. Er berichtet, dass man in seinem Unternehmen in jedem großen oder kleinen Meeting immer wieder darauf zu sprechen kam. Jede Entscheidung, jede Initiative wurde damit verknüpft. Offenbar wurde also hier das Erfolgsmodell durch Hartnäckigkeit und Bewusstmachung seiner praktischen Bedeutung vermittelt. Unter dem Titel „Führung neu denken“118 ist ein Buch erschienen, das die Aufgabe der Vermittlung schwerpunktmäßig dem Mittleren Management zuweist. Dabei wird verblüffenderweise übersehen, dass diese Ebene das Erfolgsmodell ja auch vermittelt bekommen muss. Und die untere Managementebene, die für die Umsetzung verantwortlich sein soll, steht doch auch vor dieser Aufgabe. In meinem Verständnis ist die wirkungsvolle Vermittlung grundlegend mit dem Phänomen Führung verknüpft, unabhängig von der Hierarchieebene. In der Praxis überwiegt eine bestimmte Form der Vermittlung: intellektuell und dominant! Es wird argumentiert, logisch vermittelt, verhandelt und im Zweifelsfall erzwungen. Das ist kein Zufall! Der Weg zur Führungskraft nimmt häufig einen Verlauf, der insbesondere analytischintellektuelle und diplomatisch-durchsetzungsbezogene Fähigkeiten erfordert und fördert. Wie wir bereits festgestellt haben, sind die Phänomene Intelligenz (im Sinne von Verstehen) und Dominanz (im Sinne von problemlösendes Durchsetzen) vermutlich auch evolutionspsychologisch eng mit dem Phänomen Führung verbunden. Wir finden daher in der Praxis immer wieder recht erfolgreiche Führungskräfte, die als kopflastig und dominant erlebt werden. Weil sie selbst die Welt auf ihrem Weg seit vielen Jahren in eine rationale Sprache übersetzen (müssen), verfallen sie leicht in eine Art Wahn: Sie halten die Welt – und die Menschen in ihr – für rational! In aller Regel ist dies ein folgenschwerer Fehler! Viele Führungskräfte versuchen, ihre MitarbeiterInnen sachlich von Zielen, Veränderungsnotwendigkeiten, Entscheidungen etc. zu überzeugen. Manchmal gelingt dies – zumeist eher nicht! Diese Manager tun sich mit emotionalen Typen schwer und – ganz unter uns – betrachten das in der Regel als deren Defizit. Das Problem liegt allerdings an anderer Stelle. Es geht zunächst gar nicht um die Frage, ob wir rational oder emotional sind! Wir erleben, können darüber mehr oder weniger gut nachdenken und uns mehr oder weniger gut von unseren Handlungs-Impulsen distanzieren! Die Grundlage ist immer unser ganzheitliches Erleben einer Situation. Das ist zunächst unsere Wahrheit – besser: Wirklichkeit – und darauf reagieren wir! Wenn Führungskräfte monatelang die Notwendigkeit von Veränderungen und die geplanten Maßnahmen veröffentlichen, tun sie aus ihrer Sicht alles, um den Umsetzungserfolg zu si117 Welch, J. und S.: Winning. Das ist Management, 2005, Frankfurt: Campus, S. 24 118 von Michael Löhner im Jahr 2005

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chern. Wie oft hört man allerdings dann, dass sich die Mitarbeiter gut informiert fühlen? Erschreckend selten! Wenn die Führungskräfte nun erbost versuchen zu beweisen, dass dies die Unwahrheit ist, können sie nur verlieren. Es geht nicht um die große Wahrheit, es geht immer nur um unser Erleben, um unsere Wirklichkeit. Die ist immer wahr. Wenn ich nicht die Wirkung erziele, die ich erzielen wollte, muss ich etwas anders machen. Zur erfolgreichen Kommunikation gehört die Gestaltung von Erleben! Das hat nicht in erster Linie damit zu tun, die sachlichen Fakten zu verkaufen, sondern sich mit dem Erleben der Beteiligten zu befassen: Ich bin zunächst Erlebnis für sie, dann Helfer beim Nachdenken über ihr Erlebnis. Kommunikation hat damit immer einen Prozesscharakter. Die evolutionäre Psychologie geht davon aus, dass wir Menschen grundsätzlich besser visuell und emotional als analytisch-formal angesprochen werden können, da wir schon viele Hunderttausenden von Jahren länger in emotionalvisuellen Mustern denken und erleben als in Worten. Diese Sichtweise wird von der Neurobiologie119 gestützt und kann als glaubwürdig eingestuft werden. Unser Gehirn hat spezialisierte Bereiche, die eine Art Radar für Bedeutendes sind. Interessanterweise sind die beteiligten Regionen nachweislich besonders sensibel für soziale Interaktionen. Die Vermittlung an uns erfolgt von dort aus in Form von Emotionen. Die umgangssprachlich übliche Unterscheidung zwischen Denken und Fühlen trifft dabei übrigens in keiner Weise die Wirklichkeit. Es gibt keinen kognitiven Vorgang in unserem Hirn, der ohne emotionale Beteiligung abläuft. Und um genau zu sein: Die emotionalen Prozesse holen hier zeitlich einen maßgeblichen Vorsprung heraus und können unsere Denkvorgänge quasi „färben“.

Ich gehe davon aus, dass die so genannten charismatischen Führer an dieser Stelle ihren persönlichen Vorteil ausspielen. Wie bereits erwähnt: Man setzt einfach alles ein, was einem bei der Erfüllung der Kernaufgabe nützen kann. Aber machen wir uns nichts vor: Ich löse eher ein Überlebensproblem ohne Charisma, als mich allein darauf verlassen zu müssen. Es erscheint mir absolut verfehlt, diese Fähigkeit als besonders qualifizierendes Merkmal erfolgreicher Führungskräfte zu betrachten. Dennoch kommt kein Führender daran vorbei, dass Kommunikation für ihn ein wesentliches Werkzeug ist. Diese Tatsache ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass viele Führungstrainings letztlich nicht viel mehr als Kommunikationsseminare sind. Wohlgemerkt: Ich bin überzeugt, dass eine Verbesserung hier für Manager sehr bedeutsam sein kann und nie schadet. Der Begriff Kommunikation steht für mich für das Phänomen „Wirkung auf andere erzielen“. Es hat damit für jeden Führenden eine hohe Bedeutung, stellt allerdings nichts Charakteristisches für das Phänomen Führung dar.

119 Siegel, D. J., Wie wir werden die wir sind. Neurobiologische Grundlagen subjektiven Erlebens & die

Entwicklung des Menschen in Beziehungen, 2006, Paderborn: Junfermann

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Ich würde Managern immer empfehlen, sich mit dem Phänomen Kommunikation und seinen so genannten Werkzeugen bestens vertraut zu machen. Das würde ich aber auch Ärzten, Lehrern, Kindern, Eltern und … und … und … empfehlen. Auf jeden Fall kann es u. a. bei der Aufgabe, das Erfolgsmodell wirkungsvoll anzubieten, genau so wertvoll sein, wie bei der nächsten Aufgabe: das Herstellen einer gemeinsamen Wirklichkeit. Arbeiten Sie daran, möglichst oft die Wirkung erzielen zu können, die sie erzielen wollen!

2.

Eine gemeinsame Wirklichkeit ist für den Erfolg wesentlich

Wird ein Gruppenmitglied schlussendlich als personifiziertes Erfolgsversprechen angenommen, wird ihm gefolgt, stellt sich die nächste Hauptaufgabe: Der Gruppe muss stets präsent bleiben, worum es wirklich geht und was zur Zielerreichung nötig ist. Führende müssen allen Beteiligten das Erfolgsmodell immer wieder bewusst machen und eine gemeinsame Wirklichkeit in Bezug auf die wichtigsten Erfolgsbausteine herstellen. Wir sind als Gruppe nur erfolgreich, wenn wir gemeinsame Vorstellungen davon haben, was zum Erfolg führt und was jeder Einzelne in diesem Zusammenhang zu tun hat. Dann sind unsere Verhaltensweisen aufeinander abgestimmt, Reibungsverluste minimiert und Enttäuschungen unwahrscheinlicher. Wir benötigen als zielorientierte Gruppe gemeinsame Bilder im Kopf, die uns Orientierung und Sicherheit in unserem Handeln geben. Wenn eine Führungskraft ihr Erfolgsversprechen halten will, muss sie zunächst allen Beteiligten ein einheitliches Bild davon vermitteln, worauf es ankommt. Sie muss sicherstellen, dass allen Beteiligten präsent bleibt, worum es für die Gesamtgruppe wirklich geht und was zur gemeinsamen Zielerreichung nötig ist. Lassen wir vor unserem geistigen Auge einen jungen Menschenähnlichen erstehen, wie er vor rund 1,5 Millionen Jahren gerade in einer wilden Jagd mit anderen Gruppenmitgliedern hinter einem kleinen Säugetier herhetzt. Sein Blut ist voller Adrenalin und sein ganzes Wesen ist hochgradig fixiert auf die Beute. Keine Gedanken, die ihn ablenken können, mögliche Schmerzen sind durch körpereigene Hormone unterdrückt. Ein Zustand, wie ihn vielleicht in unserer Kultur einige Sportler unter Höchstleistung kennen. Die Gruppe fällt in leichtes Traben zurück, sammelt sich allmählich, die Jagd ist erfolglos geblieben, das Tier entkommen. Szenen der Jagd gespenstern durch die Köpfe, der Pulsschlag sinkt, unser Junge nimmt allmählich wieder wahr, was um ihn herum geschieht. Und er hat Hunger. Kein ungewöhnlicher Zustand für ihn. Die Gruppe hat Geräusche gemacht, das Tier zu früh aufgeschreckt, der Vorsprung war nicht einzuholen. Alle sind vor Hunger mittlerweile so schwach, dass Wurzeln, Blätter, die Maden und das Aas der letzten Tage nur noch zum nackten Überleben ausreichten. Eine schnelle Jagd ist kaum noch jemandem möglich.

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Plötzlich taucht zwischen den Bildern der Jagd in seinem Kopf eine Szene auf, die nicht tatsächlich stattfand. Er sieht sich und einige Frauen der Horde lärmend durch das hohe Gras ziehen, Tiere fliehen früh und gelassen – in die Speere der genau dort wartenden Jäger. Ein erregendes Bild. Dem Jungen läuft Speichel im Mund zusammen. Er gestikuliert hektisch, läuft wild herum, versucht die Szene darzustellen, zieht hier den einen am Arm, schiebt dort einen anderen an eine Stelle. Fünf Monate später stirbt er als Dritter der Horde an Nahrungsmangel. Kaum jemand hat ihn verstanden, als er das Prinzip der Treibjagd deutlich machen wollte. Die beiden Ausnahmen, zwei intelligente, aber sehr vorsichtige Wesen, haben nicht mitgemacht. 2.000 Kilometer östlich war eine junge Frau in einer anderen Gruppe mit einer sehr ähnlichen Phantasie erfolgreicher. Sie hat mittlerweile ein hohes Ansehen in der Horde, einen erfolgreichen Jäger als Partner und ist schwanger. Von jeder Jagd, die mittlerweile durch ihre Ideen sehr viel häufiger erfolgreich sind, bringen ihr die anderen die besten Stücke an ihr Lager und sind stolz, wenn sie diese annimmt. Der Schamane hat eine Jagdszene mit einer Farbe an die Höhlenwand gemalt, in die ihr Blut gemischt ist. Bei den Entscheidungen der Gruppe schauen viele Mitglieder aus den Augenwinkeln sehr genau auf ihre Reaktionen, um diese zu kopieren. Hunger hat dort derzeit niemand mehr.

Führung hat ganz wesentlich damit zu tun, dass das eigene Erfolgsmodell von der Gruppe angenommen und gemeinsam umgesetzt wird. Für den Gruppenerfolg muss in Bezug auf die entscheidenden Einflussfaktoren Einigkeit bestehen. Wie lässt sich diese erreichen? Hierzu ist es für Führende wichtig, Antworten auf folgende Fragen zu haben: „ In welchen Punkten des Erfolgsmodells darf es keine Variabilität geben? In welchen Aspekten ist individueller Stil und persönliche Willkür bzw. Freiheit zulässig? (Essenz) Zweifellos wäre es absolut unpassend, wenn die Fachkräfte, die am Gleiskörper eines Hochgeschwindigkeitszuges arbeiten, ihrer Kreativität freien Lauf ließen. Auch die Instandhaltungsarbeiten an Kernkraftanlagen folgen beruhigenderweise einer sehr zwanghaften Vorgabe. Ob allerdings ein Verkaufsvorgang mit der gleichen Kompromisslosigkeit vorgeplant und umgesetzt werden sollte, ist sehr zu bezweifeln. „ Wie lassen sich individuelle Erfolgsmodelle in das große Ganze einbeziehen? (Integration) Wir wollen nicht nur entscheiden, woran wir teilnehmen, sondern auch unsere eigenen wesentlichen Vorstellungen einbringen und berücksichtigt sehen. Dies gilt vor allem dann, wenn wir selbst viel Kompetenz mitbringen. Es wäre unsinnig, auf die Erfahrungen der Beteiligten zu verzichten, und zugleich entspräche es nicht unserer Natur, rein als Automat zu funktionieren. „ Welche individuellen Erfolgsmodelle sind nicht in das große Ganze integrierbar? (Konflikt) Es mag unüberbrückbare Unterschiede zwischen dem Gesamtmodell und einzelnen, individuellen Vorstellungen geben. Überzeugungsarbeit ist dabei vor allem dann oft nahezu unmöglich, wenn diese persönlichen Erfolgsmodelle auf vielen Jahren Erfahrung beruhen. Dies ist der Grund dafür, warum Unternehmen manchmal lieber selbst die Arbeit der Ausbildung auf sich nehmen, als „Alte Hasen“ einzustellen.

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„ Wie kann das Erfolgsmodell durchgängig bewusst gehalten werden? (Präsenz) Früher haben sich Menschen Knoten in ihr Taschentuch gemacht, um an wichtige Dinge zu denken. Offenbar ist es schwer für uns, Wesentliches im Kopf zu behalten. Wir sind zumeist zu sehr vom lebhaften Alltag beeindruckt. Es gibt so vieles, was sich uns in dieser Welt aufdrängt, dass die entscheidenden Dinge einer großen Konkurrenz um unsere Aufmerksamkeit ausgesetzt sind. In der Praxis entstehen die meisten Führungsprobleme daraus, dass zu wenig Wert auf eine gemeinsame Wirklichkeit gelegt wird. Insbesondere in Zeiten starker Veränderungen liegt hier eine vernachlässigte Hauptaufgabe.

2.1

Essenz: Den unumstößlichen Kern des Erfolgsmodells klar machen

Wenn heute diskutiert wird, welche Faktoren welchen Einfluss auf den gemeinsamen Erfolg haben, entsteht rasch eine unübersichtliche Gemengelage. In ihren ständigen Bemühungen um Ordnung und Vorhersagbarkeit macht diese Komplexität Führungskräfte schier verrückt. Dies führt einige Forscher zu der Annahme, dass Menschen mit einfach und klar strukturiertem Denken und Wissen „den Informationstüchtigen langfristig klar überlegen sein“ werden120. Ich halte eine solche Haltung für zu eindimensional: Es geht meiner Ansicht nach nicht um den Grad der Komplexität, sondern um den Grad der Wesentlichkeit von Informationen, Bildern und Erfolgsmodellen. Es geht zweifellos darum, sich auf das zu konzentrieren, was das Wesen einer Sachlage ausmacht. Wir sind nicht unfähig, in einem komplexen System erfolgreich zu leben! Der Beweis ist längst erbracht – schließlich gibt es uns noch. Schon vor über 1,5 Millionen Jahren haben Ur-Verwandte routiniert komplexe natürliche Aufgaben gelöst (z. B. Objekterkennung), von denen viele auch heute noch nicht in künstlichen Modellen der Intelligenz konstruiert werden können. Komplexität ist nichts Neues! Das Erfolgsprinzip lautet an dieser Stelle: „Wie viel kann ich weglassen, ohne das Wesen einer Sache zu verlieren?“ Die amerikanische Psychologin Carol Moog registriert bei Managern eine tief sitzende Angst vor der Vereinfachung. Angst davor, etwas auszulassen, etwas wegzulassen. Sie wollen sämtliche Optionen berücksichtigen, um nicht von irgendjemandem kritisiert werden zu können121. Hier wird aus meiner Sicht der Beweis erbracht, dass viele Manager keine tauglichen Annahmen darüber haben, welche Informationen entscheiden sind. Diese sind allerdings Voraussetzung dafür, sich auch um das Wesentliche kümmern zu können. In einer groß ange-

120 Brandes, D., Einfach managen. Klarheit und Verzicht – der Weg zum Wesentlichen, 2005, München: Piper

Verlag, S. 46 121 ebenda

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legten und interessanten Studie122 wurde nachgewiesen, dass ein „Ja“ auf die Frage: „Weiß ich, was bei der Arbeit von mir erwartet wird?“ die wichtigste Aussage in Bezug auf ein starkes, produktives Arbeitsumfeld darstellt. Dann folgen: „Habe ich die Materialien und Arbeitsmittel, um meine Arbeit richtig zu machen?“ und: „Habe ich bei der Arbeit jeden Tag die Gelegenheit, das zu tun, was ich am besten kann?“. Wenn dies nicht ein unmissverständliches Ausrichten auf die gemeinsame Leistungserbringung darstellt. Zugleich wurde nachgewiesen, dass die Mitarbeitermeinung zu den Fragen sehr stark vom direkten Vorgesetzten geprägt war, weit weniger von der Politik und den Prozessen des Gesamtunternehmens. Gute Manager sehen offenbar ihre Aufgabe darin, sicherzustellen, dass ihre Mitarbeiter über die aufgabenbezogenen Anforderungen genau Bescheid wissen und in der Lage sind, diese hundertprozentig zu erfüllen. Ihnen ist es wohl gelungen, den unumstößlichen Kern des Erfolgsmodells klar zu machen. Zugleich haben wir Menschen allerdings oft zwei Seelen in einer Brust. Wir wollen nicht einfach genau das machen, was uns jemand im Detail vorgibt. Wir fühlen uns dann oft eingeengt. Auf der einen Seite lieben wir Orientierung und Klarheit, auf der anderen unseren Bewegungs- und Gestaltungsspielraum sowie das Gefühl der Freiheit. Um dieser Tatsache gerecht zu werden, müssen Führungskräfte es ihren Anvertrauten ermöglichen, beide Bedürfnisse auszuleben. Wenn uns jemand in ein Zwangskorsett zu stecken versucht, weckt dies unseren Widerstand. Wie ein wildes Tier im Moment seiner Gefangenschaft kämpfen wir um unsere Freiheit, oft blind vor Emotionen und ohne Blick dafür, ob man uns eventuell sogar Gutes will. Der Verlust unserer Freiheit widerspricht offenbar unserem Naturell. Stellen wir fest, dass all unser Kämpfen nichts nutzt, werden wir apathisch, unser Verhalten wird stereotyp. Das ehemals freie Tier läuft tagelang im kleinen Käfig von rechts nach links, von links nach rechts, von rechts nach links. Irgendwann verlässt es nicht mehr seine Ecke. Das Erfolgsmodell der Führungskraft gewinnt seine Attraktivität dadurch, dass es Orientierung gibt. Jeder weiß, was von ihm erwartet wird und was er selbst von anderen erwarten kann. Der erlebte Zwang, diesen Erwartungen auch entsprechen zu müssen, stellt gleichzeitig eine Form der Bedrohung dar. Wir spüren Impulse, unsere persönliche Freiheit wieder herzustellen. Bei Kindern nennen wir die damit verbundenen Handlungen Trotzreaktionen und gehen davon aus, dass sie mit zunehmender Reife verschwinden. Das tun sie nicht zwangsläufig! Wir erkennen oft nur später leichter, worin unsere Vorteile bestehen, wenn wir das tun, was uns gesagt wurde. Die warme Jacke im Winter erspart uns die Erkältung oft tatsächlich. Sie war keine Repressalie unserer Eltern. Entscheiden wir uns irgendwann aus freien Stücken für die Jacke, tut das unserem Gefühl verblüffenderweise eher gut. Wir sind nun nicht mehr Gefangene unserer Trotzreaktionen!

122 Buckingham, M./ Coffman, C., Erfolgreiche Führung gegen alle Regeln, 2001, Frankfurt/ M.: Campus

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Für Führende ist es enorm wichtig, unmissverständlich klar zu machen, welche Facetten des gemeinsamen Erfolgsmodells überlebenswichtig sind – weil damit auch deutlich wird, an welchen Stellen das Ausleben persönlicher Vorlieben, die Entfaltung von Kreativität und Freiheit möglich und vielleicht sogar sehr sinnvoll sind. Es gibt allerdings noch eine weitere Möglichkeit, den Trotzimpulsen vorzubeugen: indem die individuellen Sichtweisen in das Gesamtbild integriert werden. In der Praxis entspricht das z. B. der Erkenntnis, dass jemand motivierter an einem Projekt teilnimmt, wenn er an der Entstehung und Vorbereitung beteiligt war. Manche Mitarbeiter berichten in ähnlichem Zusammenhang auch davon, dass sie eine eigene Idee so platzieren müssen, dass der Chef denkt, es wäre seine eigene gewesen. Ich finde es irgendwie lustig, dass alle Beteiligten sich quasi gegenseitig mit den gleichen Grundmechanismen zu manipulieren versuchen. Nicht mehr so lustig ist allerdings, dass eine Haltung der Manipulation Nebenwirkungen hat: Sie führt zu einem zynischen Menschenbild, zu Misstrauen und sozialen Zerfallserscheinungen. Dabei geht es im Kern doch um etwas viel Wesentlicheres: Wie lassen sich die unterschiedlichen Erfahrungen in das gemeinsame Erfolgsmodell integrieren?

2.2

Integration: Maßgebliche Bausteine individueller Erfolgsmodelle berücksichtigen

Führende müssen neben ihrem bisher ganz persönlichen Erfolgsmodell eines für die gesamte Gruppe (Prinzip: „über den Tellerrand hinaussehen“) erarbeiten. Im Sinne der Vorbildfunktion, Authentizität und Glaubwürdigkeit ist es wichtig, dass diese beiden Modelle nicht im Konflikt zueinander stehen. Wenn beispielsweise bislang der harte Konkurrenzkampf ein wesentlicher Faktor für den persönlichen Erfolg war, könnte dieser im Zusammenhang mit der Führungsaufgabe plötzlich sogar zu einem Hindernis werden. Es gibt Führungskräfte, die mehr Energie dabei verbrauchen, im steten Wettbewerb mit ihren Mitarbeitern zu stehen, als diese Kraft für den gemeinsamen Erfolg einzusetzen. Insofern stellt die Verknüpfung von früherer, eigener Erfahrung und der Theorie für den Gruppenerfolg im Grunde die erste Integrationsleistung des Führenden dar. Sofern das Grundmodell des Führenden für die Gruppe überzeugend ist, gewinnt er an Legitimation. Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass es brisante Nebenwirkungen produziert, wenn alle Beteiligten nun zwangsverpflichtet werden, genau nach diesem Modell zu handeln. Menschen sind keine Automaten und haben auch das Bedürfnis, sich nicht als solche zu erleben. Dazu kommt, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, dass kompetente Gruppenmitglieder nicht durchaus auch wesentliche Verbesserungen des Grundmodells beitragen könnten. So wird beispielsweise im situativen Führungsansatz aus der Mitarbeiterreife abgeleitet, ob ein Mitarbeiter Anweisungen bekommen sollte (kompromisslos einfache Durchsetzung des Erfolgsmodells), ob ihm die Dinge erklärt werden sollten (Erläuterung des Erfolgsmodells), ob er beteiligt werden sollte (Einbezug des Know-hows des Mitarbeiters in das Gesamtmodell)

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oder ob ihm eine Aufgabe komplett übertragen werden sollte (es wird völlig auf das Erfolgsmodell des Mitarbeiters gesetzt). Ich frage mich allerdings in unserem Zusammenhang: Kann sich eine Führungskraft erlauben, ihr „Erfolgsmodell-Monopol“ aufzugeben? Was denken Sie?

1. Integrationsleistung

Persönlich-individuelles Erfolgsmodell des Führenden

Gesamt-Erfolgsmodell der Organisation

Wir haben bereits festgestellt, dass das Phänomen Führung einen erlebten Vorsprung des Führenden voraussetzt. Die Evolution benötigt bei ihrer Arbeit nie absolute Vorsprünge! Schon der kleinste Unterschied kann über Existenz oder Vergehen entscheiden. Warum sollte sie dieses Prinzip in unserem Zusammenhang ausgesetzt haben? Bezüglich unserer Überlegung bedeutet das, die Führungskraft braucht kein Erfolgsmodell-Monopol, aber sie braucht die Erfolgsmodell-Hoheit! Und schon lässt sich das Notwendige mit dem Nützlichen verbinden: Das Grundmodell, mit dem der Führende seine Legitimation erhalten hat, muss in der Lage sein, die wesentlichen Erfolgsbausteine der individuellen Modelle der Beteiligten aufzunehmen.

2. Integrationsleistung

Im so genannten wahren Leben findet der hier geforderte Schritt der Integration in aller Regel völlig unsystematisch und unprofessionell statt. Aus meiner Erfahrung wird diese Führungsaufgabe sträflich vernachlässigt, wenn überhaupt erkannt. Wenn schon in vielen Organisationen verblüffend wenig Zeit für die Erarbeitung einer gemeinsamen Vorstellung von der Zukunft investiert wird, handelt es sich bei der hier besprochenen Aufgabe wohl um ein noch stiefmütterlicher behandeltes Thema. Ich bin absolut überzeugt, dass in dieser Tatsache einer der wesentlichen Gründe für die als fehlende Motivation der Mitarbeiter beBeteiligte zeichnete Problematik zu sehen ist. Dabei wird es doch erst da für die Führung schwierig, wo sich das individuelle Erfolgsmodell eines Geführten nicht in das große Ganze integrieren lässt. An dieser Stelle ist eine wirkliche gemeinsame Topleistung nicht mehr sicherzustellen und wir stehen vor einem notwendigen Konflikt!

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2.3

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Konflikt: Keine Kompromisse in Bezug auf das Wesentliche eingehen

Da jeder Mensch nach einem persönlichen Erfolgsmodell handelt, das nicht ohne weiteres änderbar ist, werden bei wesentlichen Unterschieden in unserem Zusammenhang sowohl die Führungsakzeptanz wie ein gemeinsames Vorgehen unwahrscheinlich. Ist das persönliche Erfolgsmodell eines Gruppenmitglieds in wesentlichen Punkten nicht in das Modell der Gemeinschaft integrierbar, ist eine Trennung sinnvoll. An dieser Stelle wird deutlich, dass Führung ohne das Phänomen Vertrauen immer eine Form von Zwang oder Manipulation darstellen wird. Entweder, ich glaube an das Erfolgsversprechen des Führenden und das zu Grunde liegende Erfolgsmodell für die Gemeinschaft, dann entsteht für diesen kein so genanntes Motivationsproblem, oder ich muss erst irgendwie dazu gebracht werden, etwas Bestimmtes zu tun – und zwar quasi ständig. Wer wäre so dumm etwas zu tun, an dessen Erfolg er nicht glauben kann? Wenn ich meinem Kind sage, dass es leicht an die Bonbons kommt, wenn es sich einen Stuhl aus dem Nebenzimmer holt, ist dessen nächster Schritt sehr voraussehbar, nicht wahr? Es glaubt meinem Erfolgsmodell und braucht keine weitere Motivation. Das Ziel alleine reicht in Verbindung mit dem direkten Überprüfen meines Modells völlig aus. Wenn ich beteuere, dass das regelmäßige Lernen für die Schule den späteren Lebenserfolg maßgeblich mitbestimmt, sinkt mein Einfluss. Selbst wenn es mir glaubt, ist der Zusammenhang für mein Kind nicht direkt spürbar. Die Motivation sinkt. Verlange ich eine Verhaltensänderung mit der Behauptung, dass grüne Haare asozial machen, werde ich einen Konflikt haben. Mein Kind glaubt meiner Theorie nicht und erlebt auch noch die eigene hohe soziale Akzeptanz im Freundeskreis. Meine Legitimation als „Führungskraft“ wird abnehmen.

Das Erfolgsmodell hat in extremer Weise mit dem Phänomen Motivation zu tun. Wenn Mitarbeiter nicht an das Erfolgsmodell des Führenden glauben, sinkt also nicht nur dessen Akzeptanz, es entstehen gleichzeitig massive Motivationsprobleme. Es macht überhaupt keinen Sinn, im Zusammenhang mit dem Führungserfolg die Themen Motivation, Vertrauenswürdigkeit und Erfolgsmodell unabhängig voneinander zu betrachten. Die meisten so genannten Motivationstechniken gehen aus dieser Perspektive in erschreckender Weise am Thema vorbei. Halten wir also fest: Führungskräfte können sich nicht erlauben, in Bezug auf die wesentlichen Aspekte ihres Erfolgsmodells Kompromisse einzugehen. Hält sich jemand nicht an das, was den Erfolg bewirkt, hat die ganze Gemeinschaft ein Problem. Der Erfolg bleibt aus und

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der Führungskraft wird Legitimation entzogen. Warum? Nun, ganz einfach: Sie hat ihr Erfolgsversprechen nicht gehalten. Von ihr wurde erwartet, das Problem zu lösen, und ich persönlich sehe in diesem Zusammenhang nur drei Wege: „ Es gelingt dem Führenden, dafür zu sorgen, dass der Abweichler sich korrekt verhält. Hierzu sind vermutlich klare Worte und Signale unausweichlich. „ Der Führende findet eine Aufgabe für den Abweichler, die innerhalb der Gemeinschaft einen anderen Zweck erfüllt, damit dieser sein Leistungsversprechen der Gruppe gegenüber weiter einhalten kann. „ Lässt sich jemand letztlich nicht in das gemeinsame Handeln integrieren, kommt ihm keine Aufgabe mehr zu. Er ist damit entweder ein Sozialfall für die Gemeinschaft, die ihn weiter trägt, oder er gehört nicht mehr dazu. In diesem Fall wäre eine Trennung unausweichlich. Welchen Weg der Führende auch immer einschlagen mag, er wird mit den Konsequenzen leben müssen. Nichts zu unternehmen, hätte wohl die problematischsten Folgen und Nebenwirkungen. Solange es jedoch keine grundlegenden Differenzen in Bezug auf das Erfolgsmodell gibt, geht es im Alltag viel mehr darum, dieses auch in den Köpfen der Beteiligten präsent zu halten, um einen schleichenden Verfall des gemeinsamen Erfolgs zu vermeiden.

2.4

Präsenz: Das Erfolgsmodell in allen Köpfen bewusst halten

Die Phase der gemeinsamen Arbeit am Erfolgsmodell ist oft eine spannende und inspirierende Zeit, in der alle Beteiligten auf das Wesentliche konzentriert sind. Der Austausch, die Diskussionen, das Ringen um die wirklichen Erfolgsfaktoren sind hervorragende Wege, sich bewusst zu machen, worauf es ankommt. Die Schwierigkeiten beginnen später: Sie beginnen in dem Moment, in dem der gemeinsame Austausch wieder an Ab-Teilungsgrenzen endet und sich isolierte Wirklichkeiten bilden und verfestigen. Sie beginnen dann, wenn Dringlichkeiten die Wichtigkeiten verdrängen, wenn die Informationsflut und Belastungen unsere Aufmerksamkeit ablenken und der Alltag ein Eigenleben bekommt. Jack Welch formuliert in der Frage „Wie sollen wir in unserem Geschäftsfeld erfolgreich sein?“123 Gedanken, die unseren Überlegungen zum Erfolgsmodell verwandt sind. Er bezeichnet die Antwort als Leitbild und berichtet, dass man in seinem Unternehmen in jedem großen oder kleinen Meeting immer wieder darauf zu sprechen kam. Jede Entscheidung, jede Initiative wurde damit verknüpft. Offenbar hat er einen Weg gefunden, das Erfolgsmodell präsent zu halten. Führungskräfte stehen in diesem Zusammenhang vor folgenden Fragen: 123 Welch, J. und S.: Winning. Das ist Management, 2005, Frankfurt: Campus, S. 24

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„ Wie lässt sich die Gefahr der Entwicklung isolierter, widersprüchlicher Wirklichkeiten reduzieren? „ Wie lässt sich Wesentliches für alle Beteiligten dringlich halten? Forscher haben festgestellt, dass Ordnung, Konformität und Form in vielen Systemen nicht durch komplexe Kontrollen geschaffen und aufrechterhalten werden, sondern durch einige wenige Leitsätze oder Prinzipien.124 Im besten Fall geben diese das Wesentliche des Erfolgsmodells wieder. Im Grunde sind die meisten so genannten Führungstechniken (Mitarbeitergespräche, Meetings, Führen mit Zielen, Anweisungen, Delegation, Feedback, Beurteilung, Kritik, Kontrolle) Instrumente, eine gemeinsame Wirklichkeit entstehen zu lassen und präsent zu halten. Über diese Dinge wurde dermaßen viel geschrieben, dass ich hoffentlich an dieser Stelle getrost auf diese Veröffentlichungen verweisen darf. Fassen wir noch einmal die wesentlichen Aufgaben in Bezug auf die Herstellung einer gemeinsamen Wirklichkeit in Bezug auf das Erfolgsmodell zusammen. Aufgabe

Einordnung

9 Vermitteln Sie unmissverständlich Freiräume und Zwänge!

9 Die Komplexität des Erfolgsmodells darf nicht dazu führen, dass jeder etwas anderes für das Wesentlichste halten kann. In welchen Punkten darf es keine Verhaltensvarianz geben? Wo können die Beteiligten ihre Kreativität und Vielfalt ausleben?

9 Nutzen Sie die Erfahrungen aller Beteiligten!

9 Das Basis-Erfolgsmodell muss die Integration weiterer Erfolgsbausteine erlauben. Welche Bereicherung können die persönlichen Erfolgsmodelle der Beteiligten darstellen? Wie lassen sich diese integrieren?

9 Gehen Sie keine Kompromisse ein, wenn es um Wesentliches geht!

9 Jede Integration muss das Basis-Erfolgsmodell verbessern und nicht verwässern. Wo sind die Grenzen der Integrierbarkeit? Was geschieht mit Abweichlern?

9 Halten Sie das Erfolgsmodell stets allen präsent!

9 Es reicht nicht, es „doch schon oft gesagt zu haben“! Orientiert sich immer noch jeder am Erfolgsmodell? Stimmt die Abstimmung aufeinander nach wie vor?

124 Wheatley, M. J., Quantensprung der Führungskunst, 1997, Reinbek: Rowohlt, S. 27

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Das Leben hält sich erfahrungsgemäß nicht an unsere Pläne, Vorstellungen und Erfolgsmodelle. Wir sagen: Was schief gehen kann, geht auch schief! Ein Autor empfiehlt gar, das Wort Lösung aus unserem Wortschatz zu streichen und durch den Begriff Prozess zu ersetzen125. Er weist darauf hin, dass sich Erfolg im Leben nie plötzlich, sondern erst im Verlauf komplexer Veränderungsvorgänge einstellt, deren Verlauf (und sogar Ausgang) zudem stets ungewiss sei. Die unausweichliche Begegnung mit dem Unerwarteten löst Irritationen unterschiedlichster Art, Ängste und Leiden aus. Eines erscheint sicher: Das Leben orientiert sich nicht an guten Absichten und kluger Voraussicht. Es bedarf der Bewältigung des Scheiterns – oder zumindest des zwischenzeitlichen Scheiterns. Und das nennen wir dann: Wir haben ein Problem!

3.

Um Ziele zu erreichen, müssen Probleme gelöst werden

Natürlich ist es ein wichtiger Anfang, Einigkeit darüber herzustellen, wie der gemeinsame Erfolg erreicht werden kann, vergleichbar einem Fundament vor dem Baubeginn. Aber genau das ist es: der Zeitpunkt vor dem Baubeginn! Von nun an geht es um die Verwirklichung des Erfolges. Erfahrene Manager formulieren diese Aufgabe zum Beispiel so: „Machen Sie sich weniger Sorgen um Organigramme, Strukturen und große Konzepte als vielmehr darum, wie eine Aufgabe ungeachtet dieser Dinge erledigt werden soll. Verbringen Sie weniger Zeit mit formaler Planung und mehr Zeit damit, die Dinge ins Rollen zu bringen.“ In zahlreichen Studien wurde dabei belegt, dass Führung kaum als autonome und geradlinige Umsetzung einer durchdachten und stimmigen Strategie gesehen werden kann. Angesichts mehrdeutiger Ziele und Bedingungen, unvollständiger Informationslage und unterschiedlicher Interessen, beschränkter Ressourcen, Zeitdruck und undurchschaubarer Abhängigkeiten spricht Neuberger126 in diesem Zusammenhang von der zu beherrschenden „Kunst des Durchwurstelns“. Das Wesentliche dabei ist jedoch, dass es nicht darum geht, sich als Führungskraft alleine „durchzuwursteln“. Niemand kann eine Treibjagd ohne die anderen zum Erfolg bringen. Es ist in Ordnung, Schwierigkeiten zu haben. Problematisch ist es jedoch, als Führender nicht mehr weiter zu wissen. Damit ist das Erfolgsversprechen gebrochen! Die Zielerreichung beruht allerdings auf gemeinschaftlichen Anstrengungen. Es kommt einem absoluten Kunstfehler gleich, dem Team – und wenn auch nur indirekt durch das eigene Verhalten – zu vermitteln, das Erfolgsversprechen würde lauten: „Ich persönlich schaffe euch den Erfolg!“ Jedem Manager sollte klar sein, dass er sein Erfolgsversprechen von Natur aus nur zusammen mit den anderen halten kann. 125 Mary, M., Das Leben lässt fragen, wo du bleibst. Wer etwas ändern will, braucht ein Problem, 2005, Ber-

gisch Gladbach: Gustav Lübbe 126 Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002, S.476

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Nachdem die Gruppe das personifizierte Erfolgsversprechen akzeptiert hat, nachdem sie den Führenden und sein Erfolgsmodell angenommen hat, gilt es für diesen, sein Versprechen auch zu halten. Alle anstehenden Probleme auf dem Weg zum Ziel müssen gelöst werden. Vor gut 40.000 Jahren erlebte der Verstand des Menschen eine Blüte, wie sie im Laufe der Evolution noch nie da gewesen war. Jahrtausende lang hatten unsere Vorfahren Verhaltensweisen ohne große Veränderungen gezeigt. Sie machten die Dinge so, wie sie schon Ewigkeiten vorher auch gemacht wurden. Bestimmte Hürden und Probleme wurden einfach als natürliche Grenzen angenommen. Versetzen wir uns an diese Zeitgrenze zurück. Ein erfahrener Führer, nennen wir ihn Grau, hat für seine Gruppe entschieden, dass der Weg nach Südwesten das Überleben wahrscheinlicher macht. Mehrere Familien einer fremden Horde, die über Distanz mit angespitzten Stöcken zu töten verstehen, haben seit Monaten alle sicheren Höhlen der Region in Besitz genommen. Immer mehr Raubtiere ziehen hungernd durch die Landschaft und die Quote an tödlichen Begegnungen wird für Grau´s Gruppe stetig größer. Sie verfügt nur noch über 5 Frauen, 3 Männer und 2 Kleinkinder. Alle folgen ihm, wie sie es schon einige Male voller Vertrauen getan haben. Und sie folgen ihm weiter als jemals zuvor. Wenn die kleine Gruppe einen Fluss erreicht, bleibt sie an seinem Ufer, bis er schmal und seicht wird oder ein Baum eine natürliche Brücke bildet. So haben sie es schon immer gemacht – und ihre Eltern – und deren Eltern … Heute ist es grausam anders. Seit Tagen läuft die Gruppe an einem unglaublich breiten Fluss entlang, die Wellen sind extrem, das andere Ufer ist nicht zu sehen. Das Wasser ist ungenießbar und brennt in den Augen. Alle haben nach verschiedenen Trinkversuchen extremen Durst. Eine weitere Frau und ihr Kind sind von Raubkatzen, die der Gruppe folgen, getötet worden. Als sie eine Stelle erreichen, von der aus ein kleines Stück weit entferntes Land zu erkennen ist, lagert die Horde. Niemand will Grau weiter folgen. Alle sind erschöpft und die beiden anderen Männer wollen mit ihren Partnerinnen zurückgehen. Drei Jahre später lebt die Gruppe, mittlerweile zwei Paare mit 4 Kindern, immer noch unter Führung von Grau, geschützt auf einer Insel vor der Küste. Grau hat treibende Baumstämme mit Lederriemen verbunden und die Überfahrt als erster gewagt. Gemeinsam haben sie später diese Technik verbessert und alle übergesetzt. Weder Raubtiere noch Feinde haben ihnen folgen können. Die kleine Frischwasserquelle, die Vögel, Fische und Pflanzen machen den Ort zu einem sicheren Paradies. 20.000 Jahre später leben Aberhunderte Nachkommen von Grau in ihrer ganz eigenen Art vom Meer. Sie sehen nicht mehr genauso aus wie ihr Vorfahr und wissen nicht, dass ihre Art des Bootsbaus tiefe Wurzeln in der Vergangenheit hat.

An den Führenden wird eine glasklare Forderung gestellt: Sorge dafür, dass die Gruppe ihren Sinn erfüllt und eine positive Zukunft verwirklicht! Das Leben nimmt in aller Regel allerdings keinen geraden, vorhersehbaren Verlauf und hat seine eigene Dynamik. Oder wie der Volksmund sagt: Es kommt meistens anders als man denkt. Der Begriff Frustration stammt in seinem Kern aus dem Lateinischen und beschreibt etwas Irrtümliches, etwas Vergebliches. Es liegt in der Natur des Lebens, dass nicht alles genau so gelingt, wie wir es uns vorgestellt

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haben. Das Vergeblichkeitsgefühl Frustration hält uns ab, sinnlos weitere Energie zu vergeuden. Es sagt uns: Vorsicht, überprüfe die Dinge noch einmal, bevor du viel Kraft investierst. Wäre dies allerdings unser einziger Impuls, könnten wir uns nur sehr schlecht gegen Widerstände behaupten und Hürden überwinden. Wir wären schnell „geknickt“. Deshalb hat uns Mutter Natur noch mit einem anderen Impuls ausgestattet: mit der angesprochenen Freude an unserer Wirksamkeit. Wir finden es großartig, wenn wir etwas hinbekommen. Dieses Gefühl mobilisiert nun gerade die Kräfte, die wir zur Überwindung von Hindernissen auf dem Weg zum Ziel benötigen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage von Malik127, dass Organisationen nicht geschaffen wurden, damit Menschen glücklich und zufrieden sind. Man sollte daher seiner Meinung nach statt auf Freude am Arbeiten auf Freude an der Wirksamkeit achten. Sinn liege in erster Linie in den Ergebnissen einer Tätigkeit, nicht in der Tätigkeit selbst, die durchaus zeitweilig frustrierend sein kann und wohl auch wird. Ob es Grau Spaß bereitet hat, sich durch die gefährliche Brandung zu kämpfen, ohne schwimmen zu können, voller Angst, Sorge um die Seinen und Müdigkeit, erscheint mir fraglich. Aber sicherlich hat er gekämpft und der Erfolg vermittelte ihm schließlich ein wahnsinnig gutes Gefühl. Das Erleben von Wirksamkeit und Sinn ergibt zusammen offenbar eine extrem befriedigende Mischung für uns Menschen. Probleme selbst machen möglicherweise keine Freude. Festzustellen, dass wir die Fähigkeit besitzen Probleme zu bewältigen, befriedigt uns allerdings sehr. Es gibt Autoren, die Unternehmen als vielfältig miteinander verknüpfte Problemlöseaktivitäten bezeichnen. Sie äußern, dass Führungskräfte für komplexe Probleme (hier sind die Verknüpfungen zwischen den relevanten Aspekten einem dynamischen Wandel unterworfen), die Geführten für einfache (mit gesundem Menschenverstand zu bewältigen) und komplizierte (vielfach verknüpfte) Probleme zuständig seien.128 Diese Sicht kann ich nicht teilen. Führende sind für das Funktionieren des großen Ganzen zuständig. Ob sie dazu einfache, komplizierte oder komplexe Probleme lösen müssen, ist nahezu irrelevant. Gleichzeitig gibt es sicherlich auch Geführte, die ganz hervorragend komplexe Probleme zu lösen verstehen und dies auch für das große Ganze tun können müssen. Von Führungskräften wird etwas anderes erwartet: Sie müssen dafür sorgen, dass die für das große Gelingen relevanten Probleme gelöst werden! Dazu müssen sie Antworten auf folgende Fragen anbieten: „ Was sind die wirklich wesentlichen Probleme? (Wachsamkeit) An dieser Stelle liefert das gemeinsame Erfolgsmodell eine erste gute Orientierung für das Wesentliche, das im Auge behalten werden muss. In Bezug auf diese Aspekte kann durchaus ein systematisches Frühwarn-System aufgebaut werden. Das reicht allerdings nie aus. Der Begriff Wachsamkeit weist darauf hin, dass auch der Intuition erfahrener Beteiligter und schwachen Informationsmustern Wert beigemessen werden muss.

127 Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S.

81 ff. 128 Gomez, P. & Probst, G., Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens, 3. Auflage, 1999, Stuttgart: Haupt,

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„ Welchen Problemen können und sollten wir ausweichen? (Navigation) Es muss nicht jede Herausforderung angenommen werden! Die Bewältigung von Problemen kostet Energie und Zeit. Wenn Wege gefunden werden können, diesen Aufwand auf dem Weg zum Ziel gering zu halten, sollten sie genutzt werden. Grau hätte sicherlich lieber eine seichte Furt gefunden, um das Wasser zu überqueren. „ Welche Probleme müssen wir angehen und lösen? (Änderung) Es gibt Probleme, für die sich der Aufwand der Bewältigung lohnt. Diese gilt es konsequent, effizient und mit möglichst geringem Energieeinsatz zu lösen. Vielleicht ist sogar das ganze Leben als Problemlöseprozess beschreibbar. Während niedrige Organismen allerdings stets unter Einsatz ihres Lebens experimentieren, können wir Pläne, Modelle und Simulationen für uns sterben lassen. Wir müssen dazu allerdings gedanklich probehandeln. Dies ist insofern recht bedeutsam, weil unser Großhirn insbesondere in Krisensituationen, also wenn es wirklich darauf ankommt, nicht besonders beeindruckend arbeitet. Für solche Momente hat uns die Evolution zwei recht automatisch ablaufende Problemlösemethoden mitgegeben: Flucht und Kampf. Da Nachdenken für unsere Urahnen in bedrohlichen Situationen offenbar eher ein Hemmnis darstellte, wird unser Großhirn quasi abgeschaltet. Ich nenne das unseren Neandertaler-Modus (in der Hoffnung, dass diese mir meine – nur des plakativen Effektes wegen in Kauf genommene – Respektlosigkeit großzügig ausgelegt hätten): Hier denken wir nicht nach, sondern schlagen um uns oder fliehen aus der Situation.

3.1

Wachsamkeit: Die wesentlichen Probleme erkennen

Die Wachsamkeit ist im Neandertaler-Modus nicht besonders ausgeprägt. Unsere Wahrnehmung und Aufmerksamkeit sind hier deutlich auf das konzentriert, was uns gerade Schwierigkeiten bereitet. Grundsätzlich eine gute Sache für unser Überleben. Problematisch wird dieses Muster allerdings beispielsweise, wenn es größere Probleme gibt, die uns dadurch entgehen. Unsere Wahrnehmung ist nicht nur konzentriert, sondern zugleich auch eingeschränkt. Zwei in einen heftigen Streit um eine Frau verwickelte Neandertaler sind zweifellos eine Gefahr füreinander. Richtig unangenehm wird es allerdings für beide, wenn sie darüber den anschleichenden Berglöwen übersehen. Wir Menschen sind solchen Wahrnehmungsmustern auch heute noch unterworfen. Was bedeutet das für uns Führende? Die Reaktion auf dringliche Probleme nimmt einen großen Teil der Managerzeit in Anspruch. Sie müssen häufig auf Sachzwänge reagieren und stehen dabei nicht selten unter massivem Druck. Es bedarf aber eines kühlen Kopfes und eines gewissen inneren Abstands vom stressigen Tagesgeschäft, um die eigene Wachsamkeit zu bewahren. Erschwert wird diese Situation dadurch, dass wir in der Regel die Einschränkungen

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unserer Wahrnehmungsfähigkeit im Neandertaler-Modus nicht bewusst mitbekommen. Erst mit dem Nachlassen der Stresssituation spüren wir, dass sich unsere Wachsamkeit wieder vergrößert, unser Blick weiter wird. Wir sind wieder offen für die schönen Dinge, für schwache Informationsmuster und die Befindlichkeiten anderer Menschen. Manager, die sich stets von den alltäglichen Sorgen und Problemen mitreißen lassen, laufen Gefahr, das Wesentliche zu übersehen. Für sie ist es enorm wichtig, sich in regelmäßigen Abständen aus dem hektischen Fluss des Geschehens heraus zu ziehen, um die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu bewahren und zu regenerieren. Wenn wir etwas dafür tun wollen, die wesentlichen Probleme nicht zu übersehen, müssen wir an dieser Stelle unterscheiden zwischen „ denjenigen, in denen die Bilder der Realität entstehen (Menschen) und „ den Instrumenten, welche die dafür notwendigen Daten liefern (z. B. Controlling, Management-Informations-Systeme, Gespräche mit Kunden, Kollegen und Mitarbeitern). Während die Instrumente in den meisten Unternehmen im Rahmen der so genannten Professionalisierung immer mehr verfeinert werden, verliert der erste Aspekt aus meiner Warte sogar zunehmend an Qualität. So wird in der gesamten Führungskräfteentwicklung oft übersehen, dass es letztlich darum gehen muss, sich selbst zum wertvollsten (Wahrnehmungs-) Instrument zu machen. Die meisten Management-Entwicklungsprogramme sind darauf ausgerichtet, die (betriebswirtschaftlichen) Analysefähigkeiten der Beteiligten zu verbessern. Zweifellos eine nützliche Sache. Unsere Aufgabe ist aber sehr viel weiter gesteckt, wenn wir fragen: Was steht unserem Ziel im Wege? Viele wesentliche Informationen finden wir z. B. nicht in den kaufmännischen Abteilungen der Unternehmen, sondern unstrukturiert, widersprüchlich und mehrdeutig in den Köpfen der Mitarbeiter und Kunden verborgen. Die wirklich bedeutsamen Situationen sind oft undurchsichtig, vielschichtig und gefährlich. Führungskräfte, die nicht über die Erfahrung verfügen, aus den vorhandenen Informationen für sich persönlich sinnvolle Bilder zu gestalten, sollten schnellstens daran etwas ändern. Und auch an dieser Stelle gilt: Ein Mehr an Daten schafft nicht ein Mehr an Verstehen! Gerade in schwierigen Zeiten schwappt oft eine Welle von ausgefeilten Kontroll- und Informationssystemen über die Unternehmen. Die Manager erhoffen sich auf diesem Wege ein objektiveres Bild der Lage. Grundsätzlich sind Probleme jedoch für uns nie etwas objektiv Vorgegebenes. Instrumente, die dies nahe legen, erfüllen ihren Dienst nicht. Eine sorgenvolle Entwicklung kann hierbei in dem Glauben gesehen werden, dass Daten automatisch zu Bildern werden. So erlauben beispielsweise Controllingsysteme oft nur bestimmte Perspektiven und ersetzen nie das, was erfahrene Manager als Gespür bezeichnen. Dieses Gespür verändert sich mit unserer persönlichen Haltung zum jeweiligen Thema, unserer Erfahrung und unseren Lösungsfähigkeiten. Wir sprechen dann von Einstellung, Weitsicht und Sachkompetenz.

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Um seine Aufgabe erfüllen zu können, ist es wichtig für einen Manager, die Über-Sicht zu bewahren. Es ist völlig unnötig, die damit verbundene Notwendigkeit der Auf-Sicht als etwas Tragisches, Einschränkendes oder gar Diktatorisches zu betrachten. Der Führende muss dazu weder alles wissen noch seine Grundhaltung darauf ausrichten, Schuldige bei Fehlern zu ertappen. Ob man kontrollieren soll, darf nicht zur Diskussion gestellt werden. Ich muss als Profi mitbekommen, wenn etwas Wesentliches entscheidend anders verläuft als vorgesehen. Wie man jedoch am besten kontrolliert, ist ein entscheidendes Thema. Kontrolle darf weder auf das Erwischen ausgerichtet sein noch aus einem Kontrollzwang des Managers heraus entstehen. Sie sollte aus einer Grundhaltung der Fürsorge erfolgen. Was muss erkannt werden, damit alle gemeinsam erfolgreich sein und bleiben können? Wieder müssen wir an dieser Stelle den unterschiedlichen Zeithorizont des Urmenschen und seiner Nachkommen in Betracht ziehen. Der ursprüngliche Führende musste sich in erster Linie erfolgreich in der aktuellen Welt bewegen: Wenn das Mammut nicht getötet war, endete die Jagd erfolglos! Jetzt und hier war man erschöpft und hatte Hunger. Es ging zumeist um den aktuellen Erfolg und die gerade derzeitig vorhandenen Hindernisse. Irgendwann erweiterte sich der Zeithorizont. Eine zusätzliche Frage lautete plötzlich: Was müssen wir heute tun, um übermorgen erfolgreich ein Mammut zu jagen? Es war der Moment, in dem die Zukunft in unser Bewusstsein drang. Im Zusammenhang mit der Aufgabe, wesentliche Probleme zu identifizieren, wurde die Welt der Führenden komplizierter. Plötzlich ging es nicht mehr um aktuelle, direkt erlebbare Schwierigkeiten, sondern um Voraus-Sicht. Nur wo hört weise Voraussicht auf und fängt neurotische Sorge an? Genau dort, wo eine Führungskraft selbst zum wesentlichen Engpass wird. Zur Aufgabe, relevante Probleme zu identifizieren, gehört für einen fähigen Manager auch die Selbstprüfung. Wenn er die Kernaufgabe aus dem Auge verliert oder nicht mehr zu erfüllen versteht, wenn er diese nicht mehr hoch genug priorisiert oder sich in eigenen Mustern und Problemen verstrickt, muss er handeln! Wachsamkeit beschränkt sich nicht auf das Hier und Jetzt, sie bezieht nicht nur zusätzlich mögliche Zukünfte mit ein, sie muss auch die eigene Person im Auge haben. Ist das realistisch? Würde sich ein Manager selbst zum Problem erklären? Nun, öffentlich wohl selten. Aber es geht ja zunächst erst einmal um die Fähigkeit, diese Möglichkeit mit ins Kalkül zu ziehen. Ohne ein besonnenes, achtsames und realitätsbezogenes Registrieren der Lage und Entwicklung ist erfolgreiches Führen kaum möglich. Denn nur auf dieser Grundlage lässt sich die nächste Frage beantworten: Müssen wir das Problem direkt angehen oder können wir ihm ausweichen?

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3.2

Navigation: Den Problemen auf dem Weg zum Ziel ausweichen

Viele Führungskräfte verstehen und erleben sich in erster Linie als Macher und Problemlöser. Gleichzeitig scheint es heute schick geworden zu sein, das Wort Problem nicht mehr zu benutzen. Wir haben offensichtlich plötzlich alle nur noch „Herausforderungen, denen wir uns gerne und mit vollem Engagement stellen“. Wir sind alle kraftvoll, anpackend und konstruktiv. Das ist natürlich Unsinn. Erstens stellen wir Menschen uns zweifellos nicht gerne jeder Herausforderung. Manche Probleme machen uns Freude und reizen uns, andere erleben wir als Belastung und Bedrohung. Zweitens kostet das Annehmen einer Herausforderung Kraft. Man sollte daher gar nicht jede annehmen. Wenn es uns aufgrund der eigenen Wachsamkeit gelungen ist, wesentliche Hindernisse auf unserem Weg zum Ziel zu identifizieren, sollten wir zuallererst überlegen, ob wir den Problemen ausweichen können. Es ist kein Zeichen von Schwäche, Defizite zu kompensieren, einen leichteren Weg einzuschlagen oder ein alternatives Zukunftsversprechen zu prüfen. Es bleibt allein wichtig, den Sinn der Gemeinschaft weiterhin erfolgreich zu verwirklichen. Manager, die quasi in ihrem Selbstverständnis als machtvolle Problemlöser gefangen sind, unterliegen ständig der Gefahr, die eigenen Kräfte und die Ressourcen der Gemeinschaft zu überfordern. Für sie ist es enorm wichtig, sensibler für Energiethemen zu werden und das eigene Rollenverständnis zu erweitern. Gerade in den letzten Jahren verstärkt sich der Eindruck, dass viele Aktionen und Entscheidungen der Wirtschaftsbosse auch die Funktion erfüllen, sich mehr über die eigene Wirksamkeit zu freuen als darauf Acht zu geben, das Erfolgsversprechen zu erfüllen. In den Unternehmen überschlagen sich die Veränderungsprojekte, große Deals werden gemacht und die Organisation zum x-ten Male neu aufgestellt. Das ganz schlichte Resümee: In den meisten Fällen sind die Ergebnisse nicht dem Aufwand angemessen. Sie werden allerdings im Nachhinein mit der Aussage legitimiert, dass es heute viel schlimmer wäre, wenn man nichts getan hätte. Das mag schon sein. Wer weiß? Aber es geht ja gar nicht um die Alternative des Nichtstuns, es geht um die Alternative der geschickten Navigation. Können wir uns die Situation vorstellen? Eine Horde unserer Vorfahren registriert, dass die ständig zunehmende Kälte die Zukunft gefährdet. Den nächsten Winter wird man eventuell nicht mehr überleben können, weil die Zeit zwischen den Schneephasen nicht reicht, genügend Vorräte anzulegen. Ein Mitglied der Gruppe folgt ihrem „Traum von Wärme und Sattheit“ (Vision), ist als guter Jäger und Läufer bekannt, geachtet. Es macht sich auf den Weg Richtung Süden, einige Weibchen und Männchen gehen mit, folgen ihrem neuen Führenden. Wir wissen heute, dass solche Projekte erfolgreich abgeschlossen worden sind. Dem Problem Hunger und Kälte wurde ausgewichen, nachdem eine weitere Erhöhung der Anstrengungen die Kräfte der Gruppe überstiegen hätte. Unsere Urahnen konn-

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ten keine Darlehen aufnehmen, um noch mehr Kleidung zu kaufen und die Eiszeit an Ort und Stelle zu überstehen. Auch die gezielte Anwerbung noch erfolgreicherer Jäger war nicht möglich. Und vergessen wir nicht: Beide Entscheidungen hätten auch das Leben der Gemeinschaft damals nicht retten können.

Die Natur hat uns mit der Fähigkeit ausgestattet, aus unseren Erfahrungen zu lernen. Wenn etwas nicht gelingt, hantieren wir herum, registrieren die Auswirkungen, korrigieren, lernen auf dem Weg zum Ziel. Wenn diese Strategie nicht ausreicht, wenn der Veränderungsdruck größer wird, steigern wir unsere Kraftanstrengung, bleiben aber zunächst auf unserem Weg (Methode: Mehr-des-Selben). Erst dann akzeptieren wir, dass etwas Neues nötig ist. Wir werden innovativ! Dieser Prozess verlangt zu keinem Zeitpunkt eine spezielle Art der Führung, sie muss nur weiterhin den hier beschriebenen Grundprinzipien folgen. Malik formuliert das so: „Das Managen von Innovationen ist vergleichbar mit alpinistischen Erstbesteigungen. Eine Erstbesteigung erfordert weder andere Aufgaben noch andere Werkzeuge als die Begehung einer bekannten Route. Es ist dasselbe erforderlich, aber auf einem völlig anderen Leistungsniveau.“129 Allerdings kann man sich meiner Ansicht nach durchaus auch auf die Besonderheiten beim Managen von Veränderungen konzentrieren. Wenn Führung dafür sorgen muss, dass die gemeinsame Aufgabe funktioniert, lässt sich diese auch als Veränderungsprojekt definieren! In diesem Fall kommt eine Gruppe zusammen, um eine Veränderung hinzubekommen. Eine Ur-Horde würde nun der Person folgen, die den größten Erfolg genau dabei vermuten lässt: die Geburtsstunde des Changemanagers. So wie es Bergführer, Spielführer oder Jagdleiter gibt, lässt sich prinzipiell mit jeder relevanten Aufgabe, für deren Erfolg gemeinsame Anstrengungen notwendig sind, ein neuer Führender definieren: in diesem Fall der Changemanager. Was spricht dagegen, Spezialisten für das Bewältigen von Veränderung zu folgen? Nichts. Veränderungen werden in Projektform, d. h. zeitlich begrenzt, definiert sein. Wenn die Ur-Horde einen lebensfreundlicheren Raum gefunden hat, ist das Veränderungsprojekt abgeschlossen. Wer wird sich als kompetent für die danach im Vordergrund stehenden Ziele erweisen? Vielleicht hat der Changemanager sich so viel Vertrauen erarbeitet, dass ihm auch für die neuen Aufgaben die Führungslegitimation erteilt wird – vielleicht gibt es für die neue Aufgabe aber eine fähigere Person. Nur wenn eine wesentliche Veränderung für die Gruppe zu einem eigenen Projekt wird, macht es Sinn, von Veränderungsmanagement und von einem so genannten Changemanager zu sprechen. Hier bekommt die betroffene Gruppe ein eigenes Ziel: die Veränderung. Diese ist zeitlich begrenzt und hat Projektcharakter.

129 Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S.

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Solange es um die Steuerung des prinzipiell bewährten Vorgehens geht, sollte man die notwendigen Aktionen nicht als Changemanagement bezeichnen. Diese Art von Veränderung gehört zu den üblichen Aufgaben jedes Führenden. Halten wir fest: Um auf die andere Seite eines Berges zu kommen, muss man nicht unbedingt über ihn hinwegsteigen. Es mag für die Gruppe sinnvoll oder sogar notwendig sein, ihn zu umwandern. Die wesentliche Aufgabe besteht hier in der Beurteilung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses sowie der Einschätzung der vorhandenen Ressourcen. Gerade diese werden in Bezug auf die Veränderungsfähigkeit einer Organisation von vielen Führungskräften in ihrem Eifer überschätzt. „Organisatorische Veränderungen sind vergleichbar mit chirurgischen Eingriffen in einen Organismus – in einen lebenden Organismus ohne Betäubung … Die Menschen können zwar Veränderungen und Wandel durchaus verkraften, aber sie brauchen auch Phasen von Ruhe und Stabilität, um produktive Leistungen zu erbringen.“130 Besteht das Hindernis für eine Gruppe allerdings nicht aus einem Berg, sondern aus einem Fluss, sieht die Sachlage anders aus. Jetzt kann man zwar die am günstigsten zu bewältigende Stelle suchen, überwinden muss man sie allerdings. Es gibt Hürden, denen man nicht ausweichen kann.

3.3

Änderung: Die wesentlichen und unvermeidlichen Probleme lösen

Wachsamkeit und Geschick können Vielem vorbeugen. Es gibt Führungskräfte, die einen sehr einfachen Job zu haben scheinen. Wenn man ihnen über die Schulter sieht, ist man überzeugt, diese Aufgabe sofort übernehmen zu können: oft eine verhängnisvolle Fehleinschätzung. Ähnlich geht es vielen Menschen, wenn sie einem guten Tennisspieler zuschauen oder vom Sofa aus Fußballprofis weise Ratschläge geben. Wirkliche Könnerschaft und die geschickte Wahrnehmung der Führungsaufgabe sind zumeist durch Details und subtile Feinheiten ausgezeichnet, die unerfahrenen Menschen verborgen bleiben. Das ändert nichts an der Tatsache, dass jede Gruppe manchmal vor unumgänglichen Hindernissen steht. Möglich, dass geniale Kapitäne ihre Segelschiffe zeitweilig unter Nutzung der Strömungen und Winde nahezu von selbst an das Ziel gebracht haben. Ich halte es für ausgeschlossen, dass es jemandem immer gelang. Zweifellos gab es auch Situationen, in denen dieselben Könner die Entscheidung gefällt haben, dass die Mannschaft stunden- und tagelang an die Ruder musste. Vielleicht war es notwendig, zugleich die Essensrationen auf die Hälfte zu reduzieren. Jedes andere Vorgehen hätte das Überleben aller gefährdet.

130 Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S.

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Manager, die auf ihr Geschick setzen und sich mit diesem Rollenverständnis zu stark identifizieren, unterliegen der Gefahr, notwendige Aktionen nicht durch- und umzusetzen. Für sie ist es wichtig, sich mit ihrem Führungsbild auseinanderzusetzen und ihr Verhaltensrepertoire zu erweitern. Wenn es einer Führungskraft nicht gelingt, die aktuell anstehenden Probleme zu lösen, bricht sie ihr Erfolgsversprechen und es kommt zu einer folgenschweren Entwicklung: Ihr wird Vertrauen, Legitimation und Macht entzogen. Der Glaube an das Erfolgsmodell ist schwer erschüttert und die Aktivitäten verlieren ihren gemeinsamen Kern. Von nun an beschleunigt sich die Entwicklung in Richtung Misserfolg. Die besten Gruppenmitglieder schauen sich nach Alternativen um. Der Erfolg rückt für die Gemeinschaft in unendliche Ferne. Die Führungsrolle ist nicht länger haltbar! Fassen wir die wesentlichen Aufgaben in Bezug auf die Lösung vorhandener Probleme auf dem Weg zum Ziel zusammen. Aufgabe

Einordnung

9 Erhalten und entwickeln Sie Wachsamkeit!

9 Weder Alltagsstress noch Selbstgefälligkeit dürfen die Aufmerksamkeit der Führung gefährden. Berücksichtigen wir die wesentlichen Informationen? Gelingt es uns, daraus bedeutsame Bilder zu gestalten?

9 Bewahren Sie die Ressourcen!

9 Geschickte Navigation stellt sicher, dass nur die unumgänglichen Hürden angegangen werden. Können wir das Problem umgehen? Steht der Aufwand für die Bewältigung in einem gesunden Verhältnis zum damit verbundenen Vorteil?

9 Räumen Sie wesentliche Hindernisse fort!

9 Manche Steine im Weg sind entscheidend und lassen sich weder umgehen noch aussitzen. Handeln wir konsequent und wirksam, wenn es darauf ankommt?

Die Bewältigung von Problemen kostet für die Gruppe Kraft, und nicht immer ist der notwendige Aufwand für alle Beteiligten gleichmäßig verteilt. Es gibt bei den Alternativen zur Vorgehensweise Interessenkonflikte – und das ursprünglich geteilte Erfolgsmodell ist in Frage gestellt. Machtspiele oder gar -kämpfe nehmen zu. Die Gruppe läuft in solchen Situationen zunehmend Gefahr, ihre Kräfte vom gemeinsamen Vorgehen abzuziehen. Wir sprechen davon, dass sich alle Mitglieder verzetteln, verstricken oder gar verzehren. Es ist sicherlich kein Zufall, dass solche Phänomene vermehrt in Gruppen zu registrieren sind, deren Führung schwach oder abgelenkt ist. Eine solche Situation muss im Interesse aller rasch überwunden werden. Es ist Zeit für ein Machtwort!

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4.

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Macht-Worte sind manchmal notwendig

Um die Handlungsfähigkeit der Gruppe als Ganzes zu erhalten, dürfen sich die vorhandenen Kräfte nicht gegenseitig aufheben. Es darf weder längere Patt-Situationen geben, noch darf es zu Lähmungen kommen. In solchen Momenten erwartet die Gruppe eine Entscheidung des Führenden, die in Bezug auf das gemeinsame Erfolgsmodell nachvollziehbar ist. Sie fordert die so genannte „starke Hand“. Das tut sie nicht zwangsläufig und stets deshalb, weil sie selbst schwach ist und geführt werden will, sondern weil sie die Wahrnehmung der Entscheidungsaufgabe in genau dieser Lage mit der Führungsrolle verbindet. Der Führende wird genau dazu von den anderen mit Macht und Privilegien ausgestattet. Setzt er sie nun nicht für das große Ganze ein, werden beide wieder entzogen. Auch die stärksten Mitglieder der Gemeinschaft fordern eine Entscheidung oder das Freimachen der Führungsposition – damit ein anderes Gruppenmitglied die Handlungsfähigkeit wieder herstellt. In verblüffend vielen Unternehmen ist diese Handlungsfähigkeit derzeit nur sehr eingeschränkt vorhanden. Eine Art von Problem auf dem Weg zum Ziel besteht darin, dass die unterschiedlichen Interessen und Perspektiven der Gruppenmitglieder die gemeinsame Zielverfolgung gefährden. Da der Führende von der Gemeinschaft damit betraut ist, die Zielerreichung für alle sicherzustellen, muss er die Initiative ergreifen. In diesem Zusammenhang ein Machtwort zu sprechen, ist nichts Anmaßendes oder Diktatorisches. Es ist eine Aufgabe und Verantwortung, die der Führung in dieser Situation zukommt. In einer ähnlichen Lage befand sich möglicherweise auch Grau´s Gruppe, nachdem es ihnen gelungen war, die Insel zu erreichen. Nach vier Tagen war allen klar, dass dieses Land rundherum von Wasser umgeben war, nur die Kraft für ein erneutes Übersetzen hatte niemand mehr. Aber sie sind offenbar sicher vor Raubtieren und Feinden, aber auch die vertraute Jagdbeute lebt nicht auf der Insel. Während Grau mit zwei Frauen weiter nach Nahrung sucht, hockt der kleine Rest der Horde mit dem letzten erbeuteten Vogelei am Ufer und blickt sehnsüchtig auf das Festland zurück. Fünf Tage später ist das einzige verbliebene Kind der Gemeinschaft tot. Der Mann und drei Frauen legen mit letzter Hoffnung Holz zusammen, um die Überfahrt noch einmal zu versuchen. In Grau`s Bewusstsein flackern Bilder von Einsamkeit und Hunger, von Ertrinken und dem ausgemergelten Leichnam des Kindes. Er ahnt irgendwie, dass ein Auseinanderfallen der Restgruppe das Aus für alle bedeutet. Einem allmählich reifenden Impuls folgend, schlägt er den Mann nieder und zerstört das kleine Floß. Die zeternde Gruppe rennt den abtreibenden Stämmen hinterher und wirft mit Steinen nach Grau. Einer dieser Steine platzt auf und etwas Weißes rinnt auf die Felsen. Als es Nacht wird, ist es ruhig auf der Insel geworden. Viele braune Schalen liegen am Strand und die Gruppe wärmt sich aneinander. Das Blut am Schädel des Mannes ist ab-

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gewaschen und er ist seit Tagen endlich wieder satt. Seinen Kopf hat er unter die Hand von Grau geschoben, der ihn streichelt. Es dauert viele Tage, bis die Gruppe feststellt, dass nicht nur die Kokosnüsse essbar sind, sondern auch das Meer eine Fülle von Nahrung bietet. Und es dauert einige Monate, bis sich neuer Nachwuchs bei der Gruppe einstellt.

Führung spitzt sich gewissermaßen in einigen Situationen auf Momente der Wahrheit zu. Jetzt oder nie (mehr)! Das sind die Situationen, für die Führende von ihrer Gemeinschaft mit Macht ausgestattet worden sind! Sie müssen jetzt Antworten auf folgende Fragen haben: „ Gefährden die aktuellen Kraftverhältnisse und Strömungen den Erfolg der Gemeinschaft? Muss ich meine Kraft einsetzen, um die Verhältnisse wieder eindeutig zu gestalten? (Entscheidung) Viel zu oft wird von Führenden übersehen, dass es Situationen gibt, die von ihrer Natur her nicht kooperativ oder gar demokratisch zu lösen sind. Während sie Sorge haben, der Einsatz von Macht könnte ihnen vorgeworfen werden, übersehen sie das Wesentlichste: Wirklich vorgeworfen wird ihnen in allererster Linie der Misserfolg der Gruppe! „ Verfüge ich über ausreichende Kraft, die maßgebliche Entscheidung herbeizuführen? Habe ich einen realistischen Blick für die vorhandenen Kraftfelder? (Wirksamkeit) Führende dürfen sich nicht in eine Situation oder Lage manövrieren (lassen), die sie selbst handlungsunfähig macht. Ihre Stärke müssen sie im Interesse des Ganzen pflegen. Gleichzeitig benötigen sie ein Gespür für Machtverhältnisse und -dynamiken, um wirksam sein zu können. „ Gelingt es mir, meine Macht so einzusetzen, dass ich meine Führungsrolle nicht gefährde? Kann ich die Akzeptanz der Geführten bewahren? (Legitimation) Da die Kraft der Führenden im Wesentlichen auch darin besteht, durch die Geführten ermächtigt zu sein, dürfen sie sich dieser Machtquelle nicht selbst berauben. Der sicherste Weg dies zu tun, besteht im Machtmissbrauch. Es gibt Menschen, die das Phänomen Führung oder sogar unser gesamtes soziales Miteinander ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von Machterwerb und -ausübung betrachten. So wenig mir einfiele, die Bedeutung des Machtstrebens als Kraft an sich zu leugnen, käme ich nicht auf die Idee, unser Sozialleben auf diese Perspektive zu reduzieren. Dennoch darf man wohl nicht übersehen, dass dem Phänomen Führung der Konkurrenzaspekt innewohnt und damit stets ein grundlegender Konflikt erhalten bleiben wird: Wofür setze ich meine Macht schwerpunktmäßig ein? „ Nutze ich meine Macht, um die gemeinsamen Ziele der Gemeinschaft in bestmöglicher Form zu verwirklichen – und akzeptiere, wenn mir von der Gruppe aufgrund meines Vorsprungs die Legitimation zur Führung übertragen wird? „ Besteht mein Hauptanliegen darin, den Konkurrenzkampf um die Führung zu gewinnen? Will ich in erster Linie Ansehen und persönliche Privilegien erlangen und erhalten?

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Ich habe bereits im Kapitel „Politik: Die Macht bekommt ein Eigenleben“ mein grundsätzliches Verständnis des Phänomens Macht beschrieben. Es geht darum, aufgrund von individuellen Unterschieden Dinge machen zu können, die für andere nicht möglich sind. Es gibt sehr unterschiedliche Macht-Haber und prinzipiell verschiedenste Macht-Quellen. Das Charakteristische an der Macht ist, dass sie funktioniert, und sie versorgt uns Menschen mit dem guten Gefühl, etwas bewirken zu können. Es gibt zumindest zwei Grundprobleme des Phänomens: „ Machtstreben kennt keine Grenzen, außer denen, die die Umwelt setzt. Wir haben Spaß daran, unseren Wirkungskreis zu erweitern, immer mehr bewirken zu können. Es gibt keinen abschaltenden Zustand der Befriedigung für unser Machtbedürfnis. „ Wir können mit unserer Macht auch rein egoistische Ziele verfolgen und dies sogar in völliger Ignoranz und auf Kosten anderer. In diesem Fall spreche ich von Machtmissbrauch. Wer seine Führung auf Einschüchterung und mehr oder minder offene Gewalt gründet, der darf sich nicht wundern, wenn ihm die eigenen Mitarbeiter sofort die Gefolgschaft verweigern, sobald die autoritären Machtmittel nicht mehr zur Verfügung stehen oder präsent sind. Es gibt nicht einmal in der Natur das viel beschriebene „Gesetz des Stärkeren“; Raubtiere sind gewiss nicht die erfolgreichere Lebensform im Vergleich zu ihren Beutetieren. Es gibt nicht zufällig weit mehr harmlose Pflanzenfresser als Raubtiere. Eine wesentliche Unterscheidung sollten wir zwischen Machtbewusstsein und Machtmotivation oder gar -sucht treffen. Letztere holt sich ihre nicht stillbare Befriedigung aus der Niederlage anderer. Das kann unmöglich den Gesamterfolg der Organisation erhöhen. Dagegen benötigt jede erfolgreiche Führungskraft aber Antennen für subtile Machtsignale und vielleicht sogar notwendige Machtkämpfe. Sie muss Machtbewusstsein besitzen, zu ihrer Macht stehen und diese für das gemeinsame Ziel einzusetzen bereit sein. Tut sie das nicht, wird sie ihrer Funktion nicht gerecht.

4.1

Entscheidung: Vorhandene Kräfte dürfen sich nicht gegenseitig aufheben

Unser (beruflicher) Alltag wimmelt nur so von Entscheidungen, auch wenn uns diese meistens gar nicht bewusst werden. „Entscheidungsbedarf ist das gemeinsame Kennzeichen aller kritischen Situationen: Diese sind definiert als Situationen, deren Ausgang die weitere Entwicklung eines Prozesses bestimmt …“131 Mal ehrlich: Welche Situation im Leben definiert nicht durch ihren Ausgang, wie es weiter geht? Und im Grunde ist es ja noch komplizierter: Führungskräfte bewegen sich – ebenso wie jeder andere Mensch – in einer Welt voller Wi131 Hofinger, G., Fehler und Fallen beim Entscheiden in kritischen Situationen, in: Strohschneider, St. (Hrsg.),

Entscheiden in kritischen Situationen, 2003, Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 115-136

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dersprüche, in denen es selten eindeutige Entscheidungsgrundlagen gibt. Da sie jedoch die Aufgabe übernommen haben, dafür Sorge zu tragen, dass das spezifische Sozialsystem erfolgreich seinen Sinn erfüllt, müssen sie unter bestimmten Bedingungen ihre Entscheidungsgewalt wahrnehmen! Selbst wenn sie dies anderen überlassen, entkommen sie nicht der grundsätzlichen Verantwortung für das Ergebnis! Führende müssen damit zumindest zwei Entscheidungen immer treffen: (1) Muss hier eine Entscheidung her? und (2) Liegt es jetzt bei mir? Das sind die beiden Grundfragen jeder Entscheidungspolitik. Man kann vor ihrem Hintergrund folgenden Haltungen häufig begegnen: „ Führungskräfte, die sich in erster Linie als Entscheider sehen, versuchen oft, ihre Nase quasi überall mit hinein zu stecken. Sie werden zwangsläufig zum Flaschenhals der Gemeinschaft und von ihren Mitarbeitern und der folgenden Gruppe als hinderlich, direktiv und machtorientiert erlebt. „ Führungskräfte, die ihr Verhalten oft als kooperativen (Entscheidungs-)Stil bezeichnen, suchen vor allem den Konsens und überlassen es nicht selten sogar den Beteiligten selbst, diesen zu finden. In Gesprächen haben sie viele gute und ethisch motivierte Argumente für ihre Haltung, die jeder unterschreiben würde. Nichtsdestotrotz werden sie von der ersten Gruppe und auch sehr vielen Mitarbeitern als hinderlich, führungs- und entscheidungsschwach erlebt. Und nun das Humorvolle an der Situation: Diese beiden Gruppen und die kleine Anzahl anderer Führungskräfte wähnen sich alle in der Mitte zwischen diesen Positionen. Testen Sie diese Behauptung von mir und fragen Sie einfach einmal nach. Was halten Sie in dem Zusammenhang von folgenden Thesen? „ Ein Großteil der so genannten Entscheider lebt vor allem sein ganz persönliches Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit aus. Sie wollen die Dinge im Griff behalten und fühlen sich extrem unwohl, wenn dies nicht möglich ist. Da nehmen sie lieber in Kauf, nicht von jedem gemocht zu werden. „ Viele so genannte kooperative Führungskräfte suchen einen Weg, ihrer Sorge vor persönlicher Ablehnung zu begegnen. Sie haben das Bedürfnis nach Harmonie und sind oft nicht sehr erfahren im erfolgreichen Lösen von Konflikten. Da verschieben sie die Konflikte lieber. Damit haben wir immer noch keine Antwort auf unsere beiden Grundfragen der Entscheidungspolitik. Hilft uns das evolutionäre Führungsverständnis an dieser Stelle weiter? Ich denke schon. Wäre es wirklich sinnvoll gewesen, wenn die Natur es so eingerichtet hätte, dass die meisten Entscheidungen in den Gemeinschaften in einem Kopf getroffen werden müssten? Ich sehe in Gedanken schon einen Urzeit-Jäger, der das Wild an sich vorbeiziehen lässt, weil der Hordenführer ihm nicht das Zeichen gegeben hat, seinen Speer zu werfen. Eine absurde Vorstellung, oder? Hier benötigt niemand Führungsinitiative, denn das gemeinsame Ziel (das „Mammut“) und das gemeinsame Erfolgsmodell („Treibjagd“) definierten die wesentlichen Elemente für jede individuelle Entscheidung. Nur wenn Probleme auf dem Weg

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zum Ziel auftauchen, die der Einzelne nicht lösen kann, muss die Führung aktiv werden, z. B. wenn die Gruppe plötzlich auseinander gerissen worden wäre. Wir sehen an dieser Stelle, wie die unterschiedlichen Führungsaufgaben miteinander verwoben sind. Und aus der anderen Perspektive: Waren unsere Urahnen überhaupt in der Lage, in kommunikativen Prozessen die Grundlage für Konsens-Entscheidungen zu erarbeiten? Hat unser Freund Grau eine Sitzung einberufen, um die Vor- und Nachteile des Insellebens mit der kleinen Gemeinschaft zu diskutieren? Hat er sicherlich nicht, aber ich vermute, er war sich darüber im Klaren, dass ihn seine Entscheidung auch das Leben kosten kann – wenn er einfach Pech hat oder die Kraftverhältnisse falsch einschätzt. Und hier scheinen wir ein weiteres wichtiges Kriterium gefunden zu haben: das Verhältnis vorhandener Kräfte! Für die Gruppe von Grau bestand zwar nach wie vor das gemeinsame Ziel im Überleben, aber das Erfolgsmodell stand in Frage: Überlebte man dadurch, dass die Gruppe auf der Insel blieb oder überlebte man durch die Rückfahrt? Der Bau des Floßes stellte ein Konkurrenzmodell dar und hätte ebenso gut einen Führungswechsel einleiten können. Wir haben damit zwei grundlegend unterschiedliche Entscheidungssituationen für Führende: „ Wird das bisherige Erfolgsmodell in Frage gestellt? Dann betrifft die Entscheidung den Kampf um die Führung selbst. „ Lähmen sich die Kräfte innerhalb des gemeinsamen Erfolgsmodells gegenseitig? Dann sollte eine Entscheidung die Befreiung aus der Handlungsunfähigkeit bedeuten. Alle anderen Entscheidungen sind Sach- und Detailentscheidungen – und nicht Kernaufgabe der Führung! Haben Sie schon einmal einen Job übernommen, dessen früherer Inhaber jetzt genau eine Hierarchiestufe höher sitzt, also nun Ihr Chef ist? Dann wissen Sie vermutlich, wovon ich spreche. Manager müssen für ihre Entscheidungen Spezialisten darin sein, Kraftverhältnisse realistisch zu bewerten. Das setzt Machtbewusstsein voraus. Ihre Entscheidungen müssen stets einen klaren Bezug zum allgemein anerkannten Erfolgsmodell haben und die Handlungsfähigkeit der Gruppe als Ganzes erhalten. Alle Gruppenmitglieder müssen für ihre Entscheidungen Spezialisten darin sein, Sachverhältnisse realistisch zu bewerten. Das setzt Fachkompetenz voraus. Ihre Entscheidungen müssen sie stets vor einem kompetenten Kreis inhaltlich vertreten können. Zweifellos ist es sowohl für Führende wie auch für die Gruppe enorm wichtig zu wissen, wann ihre Entscheidung gefragt ist. Ich behaupte vor dem Hintergrund unseres evolutionären Führungsansatzes, dass Manager ihre Rolle gefährden, wenn sie in den beschriebenen Situationen nicht entscheiden. Übernehmen sie darüber hinaus Entscheidungsverantwortung, machen sie sich – kompetente Gruppenmitglieder vorausgesetzt – häufiger zum Hindernis für die Gemeinschaft als ihr zu nutzen.

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Forscher haben festgestellt, dass Entscheidungen für die Gemeinschaft in Jäger-SammlerGesellschaften zumeist so lange offen diskutiert werden, bis ein Konsens gefunden wird. Und interessanterweise sind die glücklichsten Kulturen kleinere Gesellschaften wie Schweden, Holland und die Schweiz, die zudem über viele Möglichkeiten der Teilhabe verfügen132. Ist das nicht ein eindeutiger Beleg dafür, dass die Gruppe und nicht die Führungskraft entscheiden sollte? Auf jeden Fall wird er häufig so benutzt. Ich könnte mir durchaus auch eine andere Einordnung dieser Beobachtungen vorstellen.

Entscheidungen von Führungskräften haben unmittelbare Bedeutung für andere Menschen und verändern auch oft die bestehenden Kräfteverhältnisse. Damit ist für sie ein nicht zu unterschätzendes Risiko verbunden. Ich vermute, weise Entscheider initiieren Gruppendiskussionen und Gespräche nicht, um Entscheidungen im Team zu treffen. Ihre Hauptziele sind meiner Einschätzung nach andere: „ Sie analysieren auf diese Weise die bestehenden Kräfteverhältnisse. „ Sie entwickeln eine Vorstellung darüber, wie sich diese mit den notwendigen Entscheidungen verändern würden. „ Sie prüfen, mit welchen Reaktionen sie nach einer Entscheidung rechnen müssen, um sich darauf vorzubereiten. „ Sie suchen den konfliktärmsten Weg zur Lösung des aktuellen Problems – und damit zur Erfüllung ihrer Aufgabe! Was wäre nun aber, wenn die Entscheidungen wirklich auf der Grundlage der Gruppendiskussion erfolgen würden? Ist das nicht völlig in Ordnung und auch der beste Weg? Unwahrscheinlich! Sind die Teammitglieder schon individuell auf der richtigen Fährte (z. B. weil sie sich alle am gemeinsamen Erfolgsmodell orientieren), so braucht man die Gruppe eigentlich nicht. Sind sie auf der falschen Fährte, schaffen sie es fast nie, durch Diskussionen wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Es gibt einige Studien, die die Schwierigkeiten belegen133: „ In Gruppendiskussionen wird mehr geteilte Information ausgetauscht als ungeteilte. So wird das Gefühl von Gemeinschaft und Nähe gefördert. Niemand möchte gerne außerhalb stehen. „ Es werden im Verlauf kaum neue Informationen eingebracht. Diese könnten das Gefühl der Gemeinschaft irritieren. Und unter (Zeit-)Druck wird der Informationsfluss auch noch reduziert.

132 Richerson, P. J., Boyd, R. & Paciotti, B., An Evolutionary Theory of Commons Management, Draft 4.0

May 30, 2001, Chapter intended for: Institutions for Managing the Commons, Stern, P., managing editor, National Research Council, S. 24 133 Schulz-Hardt, St., Gruppen als Entscheidungsträger in kritischen Situationen: Mehr wissen = besser entscheiden?, in: Strohschneider, St. (Hrsg.), Entscheiden in kritischen Situationen, 2003, Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 137-151

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„ Es gibt oft einen vorschnellen Konsens. Man möchte sich gerne wohl miteinander fühlen und sendet gegenseitig Signale des Friedens. „ Man geht davon aus, dass wichtige Informationen auch weiter verbreitet sind, und orientiert sich an der Mehrheit. „ Inhaltlich findet kaum gegenseitige Bereicherung statt. Der eigenen Meinung widersprechende Informationen werden als unglaubwürdiger oder irrelevanter erlebt. „ Es wird nicht um die bestmögliche Problemlösung für das große gemeinsame Ziel gerungen. Einen größeren Mut zu Konflikten haben nur die Mitglieder, die um persönliche Interessen feilschen. Wenn man solche Forschungsergebnisse betrachtet, könnte man resignieren – oder feststellen, dass diese Dinge aus evolutionspsychologischer Sicht zu erwarten waren. Natürlich musste für unsere Ahnen im Vordergrund stehen, die Gemeinschaft zu erhalten und selbst Mitglied zu bleiben. Natürlich waren sie brav und sendeten liebe Signale. Und natürlich passten sie auf, dass ihre Interessen nicht zu kurz kamen. Genau deshalb hat die Natur von Anfang an so gute Erfahrungen mit dem Phänomen Führung gemacht: Vorhandene Kräfte dürfen sich nicht gegenseitig aufheben und das gemeinsame Ziel muss erreicht werden. Ungeführte Gruppendiskussionen sind einfach nur soziale Ereignisse und mit hoher Wahrscheinlichkeit fördern sie nicht die Problemlösung. Oder haben Sie mit Ihren Besprechungen andere Erfahrungen gemacht? Der einsame Entscheider argumentiert währenddessen, dass er letztlich ja doch die Verantwortung tragen muss und Diskussionen nur unnötig Zeit kosten. Unabhängig einmal davon, ob es heutzutage wirklich einen Zwang zu schnellen Entscheidungen gibt: Er geht auf diese Weise völlig unvorbereitet und ahnungslos seinen Weg. Selbst bei analytischster Entscheidung verhält er sich damit absolut dumm – und läuft große Gefahr, seine Macht in den Augen der Betroffenen zu missbrauchen und die eigene Legitimation ernsthaft zu gefährden. Denn es wird ihm sehr viel schwerer fallen, die Kräfteverhältnisse erfolgreich zu berücksichtigen und zu gestalten. Gehen wir aber davon aus, die Entscheidung wäre nun getroffen worden. Wirksam wird sie nur dann auf jeden Fall, wenn auch die notwendige Macht zur Umsetzung vorhanden ist und eingesetzt wird. Es gehört meiner Erfahrung nach leider nicht zu den Ausnahmen, dass das Management Entscheidungen verabschiedet, an die sich dann niemand zu halten genötigt sieht. Entscheiden Bei nur wenigen unserer Entscheidungen führt eine Weiche zum Bewusstsein hinauf. Wir entscheiden zumeist „aus dem Bauch heraus“: Zunächst einmal tun wir das, was wir bislang am häufigsten taten (Gewohnheit) und das, was sich in ähnlichen Situationen bewährte. Und selbst wenn wir denken, neigen wir dazu, das zu denken, was wir schon häufig dachten (Prinzip der Bahnung). Wir gehen also ausgesprochen konservativ an Situationen heran. Dennoch unterscheidet sich dieser Mechanismus in einem ganz wesentlichen Punkt

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nicht von unserem bewussten Denken: Er ist lernfähig. Deshalb können wir mit Übung und Erfahrung lernen, unsere Spontanentscheidungen zu entwickeln und zu verbessern. Wenn wir uns aber weiterhin vor allem als Vernunftwesen begreifen, werden viele Verbesserungsvorschläge in eine falsche Richtung weisen, z. B. dahin, sich möglichst großes Faktenwissen anzueignen. Leider ist das noch nicht alles! Dadurch dass aktuelle Motive sinnvollerweise mächtig sind, d. h., Bedürfnisse, die wir im Moment haben, stärker sind als solche, die wir (vielleicht) haben werden, ist unser Denken und Handeln von Natur aus eher kurzsichtig. Gefühle steuern unser Verhalten, weniger unser Denken. Das Rationale, das bei uns Menschen eine große Rolle spielt, dient vor allem dem Aufzeigen und Durchspielen von Handlungsalternativen und ihren Konsequenzen.

4.2

Wirksamkeit: Die notwendige Macht muss vorhanden sein

Es gibt Autoren, die quasi das komplette Aufgabenfeld der Führung unter dem Schlagwort Wirksamkeit zusammenfassen. Ich verstehe das. Die Vorstellung einer unwirksamen Führungskraft ist wohl nicht nur aus evolutionärer Sicht absolut paradox. Der Begriff ist allerdings nahezu ein Joker für jede Form von Fähigkeit. Wie könnte man sich einen völlig unwirksamen Menschen vorstellen? Ebenso, wie uns die Phänomene Macht, Entscheidung und Kommunikation unausweichlich durch unser Leben begleiten, tut dies auch die Wirksamkeit. Wir Menschen lieben es, wenn wir unser Vermögen spüren, etwas zu bewirken. Wir haben zweifellos ein Ur-Bedürfnis danach und fühlen uns grauenhaft, wenn Hilflosigkeit und Ohnmacht in uns hochkommen. Für Führende müssen wir also auch dieses große Feld vor dem Hintergrund ihrer Kernaufgabe eingrenzen. Wir betrachten es nicht unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Professionalität (wirksame Werkzeuge wirksam einsetzen) oder im Zusammenhang mit dem Thema Kommunikation (Wirkung erzielen). Diese sind für jeden tätigen Menschen wertvoll und können natürlich im direkten Wettbewerb um die Führungsrolle auch den Ausschlag geben. Somit wäre es sowohl sinnvoll wie auch ein Leichtes, Ihnen zu empfehlen: Erhöhen Sie Ihre persönliche Wirksamkeit! Die Managementliteratur besteht in erheblichem Ausmaß in diesem Tipp – ausgestaltet in unendlicher Vielfalt. Greifen Sie einfach zu. Das meiste nützt eher, als dass es schadet – vorausgesetzt, Sie prüfen die Führungsbilder kritisch, die dort vermittelt werden. Wir haben uns hier die deutlich schwierigere Aufgabe gestellt, die Essenz der Führung herauszuarbeiten, ihr Wesentlichstes zu identifizieren. Und dazu müssen wir an einem anderen Punkt ansetzen und den Gedanken weiterführen, der uns auch zum vorangegangenen Kapitel

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geführt hat. Führungskräfte müssen in der Lage sein, ein Machtwort zu sprechen und Entscheidungen zu treffen. In unserem Zusammenhang wollen wir die Wirksamkeit von Entscheidungen des Führenden in den Mittelpunkt stellen. Werden diese umgesetzt oder nicht? Das heißt, das Thema Wirksamkeit wird bedeutsam, wenn jemand nicht tut, was ihm von der Führung gesagt wurde. Ein sehr wesentlicher Punkt, nicht wahr? „Wo sind wir denn? Das geht doch nicht. Es kann doch hier nicht jeder machen, was er will.“ Auch zu dieser Problematik finden wir viele engagierte Anregungen in der Managementliteratur, zumeist unter Schlagworten wie Motivation, Commitment, Leitsätze, Kritik, Abmahnung usw. Nähern wir uns Schritt für Schritt und beginnen wir mit der nahe liegenden und zu selten gestellten Frage: Warum tut jemand nicht das, was wir sagen? Viele Führungskräfte, die ich kenne, erleben diese Situation zunächst einfach als Angriff auf ihre Autorität. Ihr Alarmsystem sendet ihnen unmittelbar den Impuls, der Bedrohung zu begegnen und die eigene Position zu verteidigen. Es mobilisiert den Neandertaler-Modus, der Organismus schaltet auf Kampf oder Flucht und der Autopilot übernimmt die weitere Steuerung. Ich behaupte, dieser Ablauf ist kein Zufall oder individuelles Schicksal. Wir begegnen hier schlicht wieder einmal einem unserer evolutionären Muster. Daher wirkt es auch am intensivsten bei den Menschen, die noch nicht viel Führungserfahrung haben. Sie empfinden zumeist noch keinen großen eigenen Vorsprung und fühlen sich schnell von anderen in ihrer Rolle in Frage gestellt. Der Autopilot schreit entweder: „Alarm! Tu doch was, sonst geht alles den Bach runter! Hau die dreisten Angreifer um.“ Oder: „Hilfe! Was sollen wir nur tun? Alles geht den Bach runter! Bring dich in Sicherheit.“ Eigentlich eine lustige Geschichte – wenn man nicht selbst betroffen ist. Wir wissen mittlerweile, dass der Erfolg der Führung nicht darin bestehen kann, gegen die Geführten zu kämpfen! Und die beiden schlichten Reaktionen Kampf oder Flucht sind an dieser Stelle nicht sehr sinnvoll. Warum? Zunächst einmal, weil es sich gar nicht oft um einen Angriff handelt! Die Antwort auf die Frage: „Warum tut jemand nicht das, was wir sagen?“ lautet selten „Weil er unsere Autorität untergraben und an unserem Stuhl sägen will.“ Oft ist sich diese Person noch nicht einmal bewusst, dass sie natürlich auch dies tut. Es gibt durchaus einige alternative Begründungen und dementsprechend auch sinnvolle Reaktionen der Führung.

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Warum tut jemand nicht das, was ich ihm sage? 9 Er hat es nicht verstanden!

„ Ich muss darauf achten, dass er offen und entspannt genug ist, mir aufmerksam zuzuhören. „ Ich muss mich unmissverständlicher ausdrücken und das Verständnis sichern!

9 Er kann das nicht leisten, was ich von ihm will!

„ Ich muss klären, welche Fähigkeiten fehlen.

9 Er will es grundsätzlich nicht tun!

„ Ich muss herausbekommen, welche Gründe warum für ihn dabei relevant sind.

„ Ich muss entscheiden, ob diese zu entwickeln sind oder jemand anderes diese Aufgabe übernehmen soll.

„ Die Gründe sollte ich berücksichtigen, wenn sie bedeutsam für den gemeinsamen Erfolg sind. „ Sofern es rein persönliche Gründe sind, verstößt jemand gegen das gegenseitige Leistungsversprechen. Es muss gemeinsam darüber nachgedacht werden, welche Konsequenzen dies für alle Beteiligten hat. „ Sollte jemand nicht an das allgemeine Erfolgsmodell glauben können, muss man sich trennen.

9 Er will es bei mir nicht tun!

„ Ich kann davon ausgehen, dass zwischen uns ein Beziehungsproblem existiert. „ Die Beziehung ist zu thematisieren, weil sie die Arbeitsfähigkeit reduziert. „ Sofern es keine Lösung für uns beide gibt, ist eine Trennung notwendig.

Wesentlich ist dabei: Unabhängig von den Ursachen muss gehandelt werden! Von Führungskräften wird so genannte Durchsetzungs- bzw. Umsetzungsstärke erwartet. Plakativ gesagt: Sie sind die Einzigen, die nicht einfach zusehen dürfen. Alle Welt schaut in den Momenten der Wahrheit auf sie. Das ist der Kern von dem, was wir hier als Wirksamkeit bezeichnen. Letztlich geht es bei dieser Frage entscheidend auch um Konsequenz. Schon Eltern machen früh die Erfahrung, dass fehlende Konsequenz in der Umsetzung von Entscheidungen eine neue Spielregel definiert. Diese lautet: An Entscheidungen braucht man sich hier nicht zu halten!

154

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

Wenn Führende etwas entscheiden, sollten sie auch die Umsetzung durchsetzen können. Wir haben bereits sehr früh in unseren Überlegungen festgestellt, dass Verstehen und Durchsetzen zwei sehr wesentliche Aspekte des Phänomens Führung darstellen und vermutlich fest in der Erwartungswelt der Geführten verankert sind. Zugleich bewegen wir uns hier in einem hoch sensiblen Feld: Gelingt es der Führung nicht, das Notwendige durchzusetzen, wird sie ihrer Aufgabe nicht gerecht. Ihr wird Legitimation entzogen. Setzt sie Entscheidungen in unangemessener Form durch, wird ihr ebenfalls Legitimation entzogen. Kann dieses Spiel überhaupt gewonnen werden? Nur dann, wenn es dem Führenden gelingt, sein „Legitimations-Konto“ nicht dauerhaft zu überziehen.

4.3

Legitimation: Die Macht muss erhalten bleiben

Ein unterschätztes Problem für Führungskräfte besteht darin, dass Macht funktioniert. Sonst verdient sie gar nicht den Namen Macht. Und wir Menschen sind von der Natur darauf „programmiert“, alles was funktioniert, häufiger zu tun. Im Grunde eine sinnvolle Sache – statistisch betrachtet. Im Einzelfall allerdings manchmal auch etwas brisant. Einige Beispiele: Der Cognac am Abend entspannt; er funktioniert. Unser Ausrasten in einer Besprechung hat die anderen mundtot gemacht; es hat funktioniert. Die Entscheidung des Chefs auf sich beruhen zu lassen und auszusitzen, reduziert diese Woche meinen Stress; es funktioniert. Wir konnten dem erotischen Impuls auf der Geschäftsreise nachgeben, ohne die Ehe zu gefährden; es hat funktioniert. Den Reklamationskunden in den zwei Tagen vor meinem Urlaub nicht mehr zurückzurufen, bringt Ruhe in mein Leben; es funktioniert. Wollen wir wetten, dass in all solchen Fällen die Wahrscheinlichkeit ähnlicher Entscheidungen und Verhaltensweisen gestiegen ist? Warum das alles ein Problem für den Einsatz der Macht sein soll? Weil unser Verhalten Auswirkungen und Nebenwirkungen hat. Viele Menschen essen gerne Süßes, Salziges und/ oder Fettiges. Sie genießen das; es funktioniert. Die Nebenwirkungen können wir uns allerdings in vielen Ländern in jeder Einkaufsstraße und in vielen Patientenkarteien anschauen. Welche Nebenwirkungen hat der Machteinsatz?

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

155

Hier einige Beispiele: kurzfristige Nebenwirkung

längerfristige Auswirkungen

Trotzimpulse

9 Mini-Sabotagen, Zurückholen von Freiheiten

Angst

9 Dienst nach Vorschrift, geringere Kreativität und Selbständigkeit, Zusammenschluss mit Schicksalsgenossen, Stress

Gewöhnung

9 Eskalationsnotwendigkeit, Abstumpfung gegen Drohsignale, Verkennung von realen Gefahren

Distanzierung

9 Verschlossenheit, Kontaktvermeidung

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass nach dem Einsatz von Macht die Anzahl von „unglücklichen Kleinigkeiten“ zunimmt? Zumeist handelt es sich dabei um Dinge, für die wir nicht wirklich jemanden zur Rechenschaft ziehen können, weil sie sich quasi am Rande des Zulässigen oder Zufälligen bewegen. Trotz mehrmaliger Versuche konnte ein Mitarbeiter sich beispielsweise nicht mit einem anderen über notwendige Schritte abstimmen – und es kam zu Missverständnissen, die jetzt ein Problem darstellen. Oder bei der Instandsetzung einer Anlage war ein notwendiges Ersatzteil nicht direkt einsatzbereit – und es kam zu teuren Ausfällen. Oder die E-Mail, die wir nicht sofort als dringlich erkennen konnten, weil sie sehr harmlos aussah – sie enthielt leider weit unten im ausufernden Text einen Termin, für den ein Mitarbeiter dem Kunden unseren Rückruf versprochen hatte. Vielleicht passt in diese Reihe auch die Krankheit, die sich bei einem Teammitglied genau am „Tag danach“ einstellt, wer weiß? All diese Dinge, ich nenne sie Trotzreaktionen, treten mit hoher Berechenbarkeit nach dem Einsatz von Macht häufiger auf! Glauben Sie mir! Spannend ist es auch zu beobachten, wie sich Manager über die geringe Selbständigkeit und Kreativität ihrer Mitarbeiter beklagen. Sie machen nur Dienst nach Vorschrift, hängen bei jeder Gelegenheit tratschend in Grüppchen zusammen und brauchen in regelmäßigen 3Wochen-Abständen ordentlich Druck. Dann geht es wieder eine Zeit lang – bis alles von vorne losgeht. Wenn man nur die richtigen Leute finden würde … Seitdem man ein Exempel statuiert hat, scheint es ein wenig besser zu laufen. Aber man muss quasi ständig neben den Leuten stehen. Kommt Ihnen das bekannt vor? Dann haben Sie entweder das Pech, als Führungskraft ein Erbe angetreten zu haben, das Ihnen das Leben noch lange schwer machen wird. Oder Sie sollten einmal einen Blick darauf werfen, wie Ihre Rolle in diesem Teufelskreis aussieht.

156

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

Es erscheint mir sinnvoll, den Einsatz von Macht zunächst einmal als Abbuchung vom „Legitimations-Konto“ zu betrachten. Die Situation hat ein wenig Ähnlichkeit mit der Entscheidung unserer Bank, uns einen Kreditrahmen einzuräumen. Die Höhe hängt davon ab, was uns die Bank wirtschaftlich zutraut (Sicherheiten und Einkommen) und wie hoch ihre Angst (Risikopolitik, Vertrauen in unsere Person) ist. Stellen wir uns also vor, unsere Mitarbeiter hätten uns ein Legitimations-Konto eingerichtet, auf dem wir eine Kreditlinie haben. Diese bekommen wir, damit wir Spielraum haben, um unsere Aufgabe zu erfüllen. Wohlgemerkt: Wir bekommen sie nicht, um es uns bequem zu machen, unsere egoistischen Träume zu verwirklichen oder zu spekulieren. Die Mitarbeiter erwarten unmissverständlich, dass wir ihren Kredit zur Erreichung des gemeinsamen Ziels nutzen. Vielleicht ist es anfangs nur ein sehr kleiner Kredit. Schließlich kennt man uns noch nicht. Überziehen wir schnell in dramatischem Ausmaß, kündigt man uns das Konto. Unsere Legitimation ist fort und unsere Handlungsoptionen sind völlig verschwunden. In der Praxis bleibt uns jetzt nur, die Positionsmacht einzusetzen – was weiteres Überziehen bedeutet. In einem Software-Spiel bekämen wir nun die Nachricht: „end of the game“. Versuchen wir es erneut. Wir wissen, dass unser Kreditrahmen noch sehr klein ist und konzentrieren uns darauf, den Kreditgebern zu beweisen, dass wir das Beste aus ihrem Geld machen. Wir zeigen, dass wir in der Lage sind, die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Ich nenne das hier: Wir zahlen ein. Das Zutrauen unserer Kreditgeber wächst. Gleichzeitig erleben sie uns in unterschiedlichsten Situationen und registrieren, dass man uns vertrauen kann. Allmählich sind sie bereit, unseren Kreditrahmen zu erweitern. Wohlgemerkt: Weil wir ihn praktisch kaum gebraucht haben! Wozu das alles? Irgendwann wird die Situation kommen, dann benötigen wir den Kreditrahmen – vielleicht sogar in vollem Umfang –, um unser Erfolgsversprechen weiterhin einlösen zu können. Vielleicht drücken wir zum Beispiel gegen den allgemeinen Trend in der Gruppe etwas durch. Unsere Bank wird sagen: „Ei, ei, ei, was macht er da gerade? Das gefällt uns aber gar nicht. Wenn das mal gut geht.“ Und genau so ist es. Wenn das gut geht, sind Zutrauen und Vertrauen sogar noch weiter gewachsen. Hat es dagegen kein Happy End, wird unser Kreditrahmen wieder massiv gekürzt – oder sogar unser Konto aufgelöst. Ein einfaches System, nicht wahr? Der Kern ist, dass wir als Führungskräfte diese Kreditlinie brauchen. Wenn wir unsere Macht nicht erhalten, wenn uns die Legitimation entzogen wird, sind wir im Grunde chancenlos. Zu Zeiten unserer Ahnen war das Spiel damit aus. Heute kann uns unsere formale Position noch ein wenig Galgenfrist verschaffen, aber nur kurz. Viele Manager verlassen dann das Unternehmen, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Das Dumme ist nur: Sich selbst und ihr Führungsverständnis nehmen sie mit, solange sie nicht wirklich ent-täuscht werden (d. h. ihrer Täuschung beraubt) und die Ursachen an anderer Stelle suchen und finden. Schauen wir uns vor diesem Hintergrund die beiden angesprochenen Aspekte Zutrauen und Vertrauen näher an.

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

4.3.1

157

Zutrauen

Viele Führungskräfte schwören aufgrund der vielen Nebenwirkungen dem Einsatz von Macht weitgehend ab. Sie haben dafür – wir haben es gerade gesehen – ja auch viele Gründe. Ihr Selbstverständnis als Führungskraft ist möglicherweise kollegial oder kooperativ, vielleicht sehen sie sich auch ganz modern in erster Linie als Coach und Förderer ihrer Mitarbeiter. Und sie finden reihenweise Literatur und Seminare, die sie in diesem Selbstverständnis bestätigen. Insbesondere für Autoren, Wissenschaftler und Trainer ist es leicht, solche Bilder zu verbreiten. Die meisten von ihnen kennen nämlich den Druck gar nicht, zusammen mit Menschen, die man sich oft nicht einmal aussuchen durfte, ehrgeizige Ziele erreichen zu müssen. Der vertretene Grundgedanke ist zumeist in etwa: Wenn Führungskräfte werteorientierte Menschen sind, ein förderndes Klima herstellen, die elementaren menschlichen Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter erfüllen und selbst begeistert dabei sind, kommt der Rest von ganz alleine. Schön wär’s! Leider ist das viel seltener der Fall als uns lieb ist. Die Erklärung dafür ist eigentlich ganz einfach. Fällt es denn niemandem auf? Es gibt in dieser Philosophie gar keine Führung. Managern mit einer ähnlichen Haltung gelingt es oft recht schwer, ein förderliches Leistungsklima für die Gemeinschaft herzustellen. Ihre (vielleicht sogar unbewusst vermittelte) Kernbotschaft steht dem entgegen! Sie lautet zu oft: „Wir sind hier zusammengekommen, um zu reifen und uns zu entwickeln!“ Aber sind wir das wirklich? In diesem Verständnis hat die Führungskraft in erster Linie eine Elternrolle. Es kommt oft zu merkwürdigen Schlussfolgerungen: „ ?: Es ist in Ordnung, wenn die Anvertrauten Trotzreaktionen zeigen, weil es wichtig für ihre Entwicklung ist. Sie müssen ja allmählich selbständig werden. „ ?: Jeder muss seinen individuellen Möglichkeiten und der aktuellen Befindlichkeit entsprechend Berücksichtigung finden. Die Leistung kommt dann schon. „ ?: Es muss alles getan werden, um negativen Gefühlen wie Unlust, Enttäuschung, Selbstkritik etc. vorzubeugen, denn für das richtige Lernklima ist die Führung zuständig. „ ?: Es ist viel Verständnis für die Sorgen, Nöte und Befindlichkeiten der Anvertrauten wichtig. Der Prozess der inneren Reifung und des persönlichen Wachstums ist halt schwierig. „ ?: Vor allem das Potenzial zählt. Wir werden es dann schon wecken. Wir könnten sicherlich diese Liste gemeinsam noch eine Zeit lang weiter entwickeln, nicht wahr? Und sie spiegelt schöne und fürsorgliche Werte wider. Wir haben nur ein Problem: Das dahinter liegende Rollenverständnis ist falsch! Die Menschen kommen zusammen, um gemeinsam ihr wirtschaftliches Überleben besser zu erwirtschaften, als sie dies alleine könnten. Das erfordert eine völlig andere Kernbotschaft und ein Rollenverständnis, wie wir es in diesem Buch beschreiben. Wir sind nicht in der Führungsrolle, weil wir vor allem gute Förderer sind! Wir haben die Legitimation bekommen, weil wir für Erfolg stehen. Das Unternehmen und unsere Mitarbeiter trauen uns zu, dafür zu sorgen, dass es funktioniert! Deswegen folgen sie uns. Diese Form der Akzeptanz stellt den Kern der Führungsrolle dar!

158

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

Natürlich gibt es die unterschiedlichsten Formen von Akzeptanz zwischen uns Menschen. Wir können für unsere humanistische Haltung geschätzt werden, für unsere ehrenamtliche Tätigkeit für ausgesetzte Tiere, für unser fantastisches Aussehen und unsere erotische Ausstrahlung, für unsere begeisternden Ansprachen, für unser enormes Fachwissen und so weiter … Gegen all dies ist absolut nichts zu sagen. Aber es ist erschreckend unbedeutend in unserem Zusammenhang. Enttäuscht Sie diese provokante Aussage oder fühlen Sie in sich ein Echo? Erinnern Sie sich an Mair, die die neue Freiheit der Geführten (Vertrauensarbeitszeit, Zielvereinbarungen etc.) als unlauteres „Drücken“ vor der Führungsaufgabe und Frustrierung akzeptabler Erwartungen der Geführten bezeichnete?134 Heißt das, Freundlichkeit wird von den Mitarbeitern gar nicht geschätzt? Aber nein. Sie hassen es jedoch geradezu, wenn Führende ihre Kernaufgabe nicht wahrnehmen. Zu Recht! In diesem Zusammenhang überlegen Manager immer wieder einmal, ob das Zugestehen von eigenen Fehlern nun eher die Akzeptanz schwächt oder souverän wirkt. Machen wir uns nichts vor: Wenn unser Wanderführer uns eröffnet, dass er sich verlaufen hat, stärkt dies sicherlich nicht unser Zutrauen in seine Kompetenz. Auf seinem Legitimations-Konto wird eine Abbuchung vorgenommen. Gleichzeitig sichert er mit seiner Korrektur unseren gemeinsamen Erfolg und in Bezug darauf geht ihm unser Kredit wohl nicht völlig verloren. Wir sind bereit, ihm eine weitere Chance zu geben. Häufige Konto-Abhebungen dieser Art wird er sich nicht schadlos erlauben können: Zum Herumraten, wo der richtige Weg sein könnte, benötigen wir keinen Führenden! Wir erwarten jemanden, der „einen Plan“ hat, an den wir glauben können. Souverän wirkt das Eingestehen bei den Persönlichkeiten, die sich bereits ein großes Zutrauen erworben haben. Dann denken wir: „Selbst ein solches Genie zeigt, dass er auch nur ein Mensch ist. Wie sympathisch.“ Die Akzeptanz, auf die es in unserem Zusammenhang ankommt, bezieht sich wieder eindeutig auf das Erreichen des gemeinsamen Ziels. Wenn wir den rettenden Bergführer nicht mögen, folgen wir ihm trotzdem – aber nicht begeistert und nur so lange, wie wir keine Alternative haben. Etwas anders gelagert ist die Situation, wenn wir gar nicht genau einschätzen können, wie fähig unser Bergführer ist. Wir haben ihn nie im Berg erlebt, oder er schlägt uns eine völlig unbekannte Route vor. Folgen wir ihm? Das hängt wohl davon ab, wie groß unser Vertrauen zu ihm ist. Neben dem Zutrauen gibt es eine weitere Möglichkeit, Einzahlungen auf dem Legitimations-Konto vorzunehmen.

134 Mair, J., Schluss mit lustig! Warum Leistung und Disziplin mehr bringen als emotionale Intelligenz, Team-

geist und Soft Skills, 2002, Frankfurt: Eichborn, S. 68

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

4.3.2

159

Vertrauen

Zum Phänomen Vertrauen gibt es nicht ein Tausendstel der Forschung und Literatur, wie zu unserem Thema Führung. Dabei ist es, erinnern Sie sich, der zweitwichtigste Faktor in Berths135 Studie über den Erfolg von Unternehmen. Das liegt einfach daran, dass es überhaupt keine menschlichen Gemeinschaften geben könnte, wenn die Natur uns nicht mit der Fähigkeit des Vertrauens ausgestattet hätte. Wir haben hier wieder eines unserer uralten Muster vor uns. Selbstverständlich hatte es daher von Anfang an auch enge Verbindungen zum Phänomen Führung. Stellen Sie sich vor, ich erzähle Ihnen flüsternd bei der Wanderung, dass der Bergführer ein Raubmörder sein könnte, der uns gerade in unbekanntem Terrain in einen Hinterhalt lockt. Dort werden wir ausgeraubt, missbraucht und unserem Schicksal überlassen. Wie lange hätten Sie Lust, mir zuzuhören? Hielten Sie mich für verrückt oder angemessen weitsichtig? Und was würde Ihnen durch den Kopf gehen, wenn Sie plötzlich im Rucksack des Führers einen Revolver sehen, den dieser rasch unter einem Pullover versteckt?

Misstrauen ist eine Fähigkeit, die wir zu unserem Schutz durchaus benötigen. In unserem innersten Zirkel von Gefährten stellt diese allerdings nur ein Kraft raubendes Schema dar. Man misstraut Fremden. Diese mussten sich schon immer erst als vertrauenswürdig erweisen. Die eventuell nötige Nähe – beispielsweise bei Händlern oder Durchreisenden – wurde nur möglich, indem sich beide Seiten an genaue Rituale hielten. Geschah dies nicht, kam es zu massiven Auseinandersetzungen. Sich im Gegenzug vertrauenswürdig zu verhalten, hatte schon immer etwas damit zu tun, dass man sich wieder begegnen konnte. In einer engen Gemeinschaft waren Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit die Regel. Sie können das noch immer spüren, wenn Ihnen beispielsweise ein guter Freund sehr formal und ritualisiert begegnet. Was bei Fremden die Berechenbarkeit und Zusammenarbeit unterstützt, scheint im Umgang mit vertrauten Menschen zu irritieren. Diesem mächtigen Phänomen Vertrauen kommt in unserem Zusammenhang größte Bedeutung zu: Führenden zu misstrauen, macht diese handlungsunfähig! Wenn ein Chef morgens mit einem fröhlichen „Hallo miteinander!“ ins Büro kommt und allen sofort durch den Kopf schießt: „Was führt der Mistkerl damit wieder im Schilde?“, dann haben alle ein ernst zu nehmendes Problem. Führungskräfte sind darauf angewiesen, Wirkung erzeugen zu können. Beraubt man sie ihrer Mittel, in diesem Fall wird durch Misstrauen jegliche Kommunikation unwirksam, können sie ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht werden. Man könnte gnadenlos formulieren: Der Entzug des Vertrauens stellt das Absetzen der Führung dar. Wenn wir also hier tatsächlich ein so entscheidendes Phänomen vor uns haben, dann sollten wir davon mehr verstehen. Was hat es mit Vertrauen auf sich – und gibt es Möglichkeiten, dieses zu fördern? Vertrauen hatte von Beginn unserer Zeit an die Aufgabe, trotz der Risiken und der Unkalkulierbarkeit des Miteinanders, dieses möglich zu machen. Ohne die Fähigkeit des Vertrauens gäbe es uns nicht! Unsere Ahnen sind in eine – modern formuliert – Vertrau135 Berth, R., Erfolg, 1993, Düsseldorf: Econ

160

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

enskultur hineingeboren worden. Solange sich die anderen Mitglieder der Gemeinschaft erwartungsgemäß, d. h. berechenbar verhielten, gab es keinen Grund, das Vertrauen aufzugeben. Wenn also ein Homo erectus (einer unserer Urahnen) dem anderen das Essen wegnahm, entstand nicht zwingend Misstrauen zwischen diesen beiden, so merkwürdig uns das im ersten Moment vorkommen mag. Es ging allein darum, ob diese Aktion zu erwarten war. Vielleicht gab es Wut, Enttäuschung und Rachegefühle des Unterlegenen – Misstrauen entstand aber nur, wenn die Berechenbarkeit (Vorhersehbarkeit, Verlässlichkeit etc.) verloren ging. Um in unserem Bild zu bleiben: Vertrauen bedeutet, ohne Sicherheiten einen Kredit zu gewähren, bis es Belege für ein anderes Vorgehen gibt. Misstrauische Menschen bezeichnen das als naiv oder gar dumm. Diese Sicht kann ich absolut nicht teilen. Vertrauen ist zunächst einmal ein Beziehungsangebot. Man schlägt vor, in einer Art miteinander umzugehen, die offenbar von der Natur als sinnvoll erachtet wurde: vertrauenswürdig und kooperativ. Wird dieser Vorschlag abgelehnt, zum Beispiel durch Betrug, erst dann wäre weiteres Vertrauen blind und naiv. Es gibt zudem Situationen, da wäre ein solches Beziehungsangebot unsinnig: z. B. im Boxkampf. Hier ist die Art des Miteinanders von vornherein anders definiert und beide Seiten kennen die Regeln. Auch darauf kann man vertrauen, denn Regeln geben Orientierung. Kennen Sie die Stelle in Disneys Zeichentrickfilm „Das Dschungelbuch“, an der die Riesenschlange den kleinen Helden Mogli zu hypnotisieren versucht? Sie singt dabei „… vertraue mir …“. Dabei sind die Regeln doch ganz klar: Riesenschlangen fressen kleine Säugetiere.

Vertrauen kann man nicht einfordern, man kann es nur bekommen und erwerben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das Phänomen Vertrauen ursprünglich in Situationen großer Furcht aktiviert wurde. Wenn die Bedrohung zu groß war, wie bei unserem kleinen Mogli, dann haben unsere Vorfahren keinen Kredit eingeräumt. Vertrauen musste erst langwierig erarbeitet und bewiesen werden. Die Annäherung von Wolf und Mensch auf dem Weg zur Partnerschaft war wohl keine rasche, denn wer Vertrauen entwickeln möchte, muss den Wert der Beziehung demonstrieren und Angst nehmen können. Wolf und Mensch erlebten beide einen Nutzen der Zusammenarbeit und lernten allmählich, dass der andere nicht zwangsläufig eine Gefahr darstellt. Beide Seiten wurden füreinander berechenbarer. Führungskräfte haben hier durchaus ein Problem: Absolut jede Handlung – vor allem gegenüber Mitarbeitern, die sich unterlegen fühlen oder es in der Tat sind – kann unbeabsichtigt bedrohlich wirken. Wenn wir nun noch berücksichtigen, dass sich Chefs der beständigen Aufmerksamkeit aller Mitarbeiter erfreuen und diese sich über ihre Ängste und Kritik austauschen, erkennen wir die gewaltige Bedeutung dieses vernachlässigten Themas. Erlebte Bedrohung kann nicht durch widersprüchliches Verhalten oder unberechenbaren Machteinsatz abgebaut werden! Es besteht kein Zweifel, dass Vertrauensbildung als Prozess zu sehen ist, der mit gegenseitigem Verstehen wollen und können beginnen muss. Dazu gehört eben auch der sensible Umgang mit den Ängsten, Befürchtungen, Wünschen und Hoffnungen der Mitarbeiter.

Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

161

Nur der Manager, der die Wirklichkeiten seiner Mitarbeiter kennt, kann eigene, unnötig bedrohliche Handlungen abbauen. Und dieser Schritt darf nicht übersprungen werden! In unserer Beratungspraxis müssen wir uns immer wieder mit dem Seufzer auseinandersetzen: "Wir haben jetzt schon so viel für unsere Leute getan; warum vertrauen sie uns einfach nicht?" Dabei ist die Antwort so einfach: Solange bedrohliche Handlungen nicht abgebaut sind, werden vertrauensbildende Maßnahmen nahezu wirkungslos verpuffen! In diesem Zusammenhang ist es nötig, in allen Phasen der Beziehung widerspruchsfreies Verhalten zeigen und selbst vertrauen zu können. Warum das nötig ist? Nun, sehr misstrauische Menschen senden die Botschaft: Vorsicht, man kann niemandem trauen! Sie machen uns also nicht das angesprochene Beziehungsangebot. Ich gehe zudem davon aus, dass ein gesundes SelbstVertrauen ebenfalls die Wahrscheinlichkeit für vertrauensvolle Kooperation erhöht. Warum sollte z. B. ein Vorgesetzter, der von seiner Kompetenz absolut überzeugt ist, misstrauisch gegenüber Mitarbeitern sein? Und warum sollte ein Mitarbeiter dies sein, der weiß, dass er auch schwierige Situationen zu bewältigen versteht? Wenn zwei Menschen zusammenarbeiten, die Vertrauen zu den eigenen Fähigkeiten haben, können sie einander mutiger einen Vorschusskredit geben. Wenn die Beiden dann auch noch Versprechen geben und halten, sind sie auf einem hervorragenden Weg. Vertrauen hat also vor allen Dingen etwas mit Verhalten zu tun. Es nützt nichts, nur darüber zu reden. Unser evolutionärer Führungsansatz berücksichtigt diese Facetten und bietet damit eine gute Grundlage für eine Vertrauenskultur. Wohlgemerkt: Wir arbeiten hier nicht einmal bewusst daran, Vertrauen quasi technisch herzustellen. Vertrauen entsteht bei uns einfach als wertvolle Nebenwirkung der Zusammenarbeit auf der Grundlage des evolutionären Führungsverständnisses. „ Alle Beteiligten sehen eindeutig die Vorteile der Zusammenarbeit, d. h., es ist eine grundsätzliche Vertrauensbereitschaft vorhanden. „ Die Ziele sind so hoch, dass man sie nur gemeinsam verwirklichen kann. Beide Seiten gehen von einer längeren Zusammenarbeit aus. Sie geben sich ein gegenseitiges Leistungsversprechen – und Versprechen werden gehalten! „ Führungskraft und Mitarbeiter kommunizieren miteinander und entwickeln so eine gemeinsame Wirklichkeit in Bezug auf das Erfolgsmodell. Daran orientieren sie ihr Verhalten. Sie handeln berechenbar und widerspruchsarm. „ Um Unsicherheiten und Bedrohlichkeiten vorzubeugen, gibt man sich gegenseitig ehrliche Orientierung und sorgt für Transparenz, z. B. in Bezug auf Strategien, Handlungsweisen und zukünftige Ereignisse. „ Das Vertrauen wird nicht missbraucht, z. B. durch Ungerechtigkeit, Betrug, Ausnützen oder Schädigung. „ Macht wird nur völlig berechenbar und im Rahmen der Legitimation eingesetzt.

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Die Aufgabenwelt der Führung ist überschaubar

Mit dem Phänomen Vertrauen das Kapitel „Die Essenz der Führung“ zu beenden, wird dem Thema sehr gerecht. Fassen wir die wesentlichen Aufgaben in Bezug auf den Umgang mit der Macht zusammen. Aufgabe

Einordnung

Achten Sie darauf, dass notwendige Entscheidungen getroffen werden!

9 Vorhandene Kräfte dürfen sich in einer Organisation nicht gegenseitig blockieren. Verliert die Gemeinschaft ihre Handlungsfähigkeit? Muss die Kraft der Führung eingesetzt werden, um wieder eindeutige Verhältnisse herzustellen?

Entwickeln Sie Ihre Wirksamkeit!

9 Erfolg entsteht in einer Organisation durch Handeln. Verfügen wir über die notwendige Macht, Entscheidungen auch umzusetzen? Was tun wir, um unsere Wirksamkeit zu erhalten bzw. weiter auszubauen?

Verspielen Sie Ihre Führungslegitimation nicht!

9 Führung, der die Legitimation entzogen wird, gerät zur Diktatur und wartet auf den Sturz. Sind wir sensibel für die Versuchungen des Machtmissbrauchs? Achten wir darauf, regelmäßig Einzahlungen auf unser Legitimations-Konto zu leisten?

Unser Denkexperiment kann damit zumindest als angelegt betrachtet werden. Ich kann nicht beweisen, dass die evolutionäre Perspektive wahr ist! Sie erscheint mir aber mit der aktuellen Beweislage absolut vereinbar. Ich würde mich freuen, wenn sie Grundlage wissenschaftlicher Überprüfung werden würde. Ihre persönliche Überprüfung ist allerdings noch viel wesentlicher: Der evolutionäre Führungsansatz kann unser konkretes, praktisches Verhalten lenken und bereichern. Testen Sie, inwieweit die damit verbundene Haltung Ihren Führungserfolg vergrößert. Die ständige Ausrichtung nach den neuesten Führungsmoden und -stilen ist ebenso unnötig wie die Heranziehung von immer mehr Führungsaufgaben! Glauben Sie mir: Selbst mit diesen vier Schwerpunkten ist es schon kompliziert genug!

Die Führung nicht verkomplizieren

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Die Führung nicht verkomplizieren

„Die Leute zu gewinnen, gibt es einen Weg: Gewinnt man ihr Herz, so hat man damit schon die Leute. Ihr Herz zu gewinnen, gibt es einen Weg: Was sie haben möchten, gib ihnen; was sie verabscheuen, tu ihnen nicht an.“ Mong Dsi, Weiser Mein derzeitiges Verständnis sieht mit den beschriebenen vier Hauptaufgaben und den daraus ableitbaren Aspekten das Fundament des Phänomens Führung gelegt. Das Puzzle ist nun so geschlossen, dass unsere Schatzkarte wirklich wertvoll geworden ist. Wir können diesen „Erzähl-Strang“ nun schließen und nicht nur für klassische Managementthemen differenzierte Handlungsempfehlungen ableiten, sondern auch Hypothesen über die Wirksamkeit bestehender Führungsmodelle aufstellen. Unser Ansatz löst in völlig natürlicher Form die wesentlichsten Probleme, die im Zusammenhang mit dem Thema Führung diskutiert werden, oder liefert zumindest klar nachvollziehbare Ansätze zum Umgang damit: „ Geschäftsmodell, Strategie, Ziele und Organisation ¼ Erfolgsmodell-Arbeit, gemeinsame Wirklichkeit „ Changemanagement ¼ Vision, Navigation, Änderung, Entscheidung, Legitimation „ Kontrolle/ Controlling ¼ Präsenz, Wachsamkeit „ Motivation ¼ Sinn, Funktionalität, Integration, Legitimation „ Beurteilungen und leistungsorientierte Vergütung ¼ Präsenz, Wachsamkeit, Legitimation „ Vertrauensaufbau und -kultur ¼ kompletter Ansatz „ Interkulturelles Management ¼ kompletter Ansatz Aber was tun wir mit den Puzzlesteinen, die übrig geblieben sind? Vielleicht vermissen Sie einige Aspekte in unserem Ansatz, die Ihnen selbst sehr wichtig erscheinen: z. B. das Thema Markt und Marktstrategie, die Mitarbeiterauswahl und -förderung, Entlohnungsmodelle, die Themen Motivation oder Konfliktmanagement? Viele Fachleute sehen hier Hauptaufgaben der Führung, während sie in unserem Ansatz eher ein Schattendasein fristen. Nun gut, nehmen wir uns ein wenig Zeit, um genauer hinzuschauen.

164

1.

Die Führung nicht verkomplizieren

Markt und Kunden: Auf die bedeutsame Umwelt ausrichten

Sie können mir wirklich glauben, dass ich die absolute Bedeutsamkeit von Kunden, Branchen, Märkten usw. für eine Organisation sehe. Aus evolutionspsychologischer Sicht stellen sie jedoch einfach die Umwelt dar, in der eine Gemeinschaft überleben muss. Sie werden damit Berücksichtigung im Erfolgsmodell finden, das die gute Führungskraft anbietet. Diese muss die Erfahrungen und Kenntnisse zur Verfügung haben, die in der jeweiligen Umwelt relevant für das Überleben sind. Hier finden wir einen der Gründe, warum ich mir weder gut vorstellen kann, dass die einfache Übertragung funktionierender Strategien oder Organisationstrends noch der unreflektierte Wechsel erfolgreicher Manager von einer Branche in eine andere zweckmäßig sind. Solche Schritte müssen sehr sorgfältig geprüft werden. Wir brauchen Umwelt-erfahrene Führungskräfte und auf spezifische Probleme spezialisierte Fachleute, auf keinen Fall werden Manager und Berater mit Allgemeingültigkeitsansprüchen gesucht. Die Diskussion über den immer wieder geforderten Generalisten sollte nicht in die falsche Richtung lenken. In diesem Zusammenhang möchte ich noch vor einer ebenso offensichtlichen wie merkwürdigerweise ignorierten anderen Gefahr warnen: der Gefahr, die relevante Umwelt zu verkennen! Sie glauben nicht, dass dies leicht geschehen kann? Dann werfen wir doch einfach nur einen kurzen Blick auf die Welt der Börse und der Aktiengesellschaft. Diese Unternehmensform hat quasi naturgegeben schon ein Problem damit, glaubwürdig die Aufgabe „Zusammenkommen, um gemeinsam das Überleben zu erwirtschaften“ in den Mittelpunkt zu stellen. Das Hauptziel des Topmanagements wird sehr schnell von den Beteiligten anders erlebt: „Zusammenkommen, um für die Anleger möglichst viel Rendite zu erwirtschaften“. Damit haben Vorstände und Führungskräfte von Aktiengesellschaften von Grund auf eine eher schwierigere Führungsaufgabe als das Management anderer Unternehmensformen. Das oftmals noch wesentlichere Problem liegt aber, wie bereits angedeutet, in der Verkennung der relevanten Umwelt: Aktionäre und Analysten stellen eindeutig nicht den wesentlichen Markt für ein Unternehmen dar. Dennoch gelingt es beispielsweise vielen Strategieberatungen mit dem „Trick“, die Börse als relevantestes Umfeld zu definieren, sich erfolgreich quasi als Spezialisten für Aktienwert-Konzepte zu platzieren. Natürlich müssen sie dabei die Dinge empfehlen, auf die die Kapitalmärkte positiv reagieren. Leider hat dies zumeist erschreckend wenig damit zu tun, auf was die Kunden des jeweiligen Unternehmens positiv reagieren. Insgesamt spiegelt sich an dieser Stelle eine sehr unglückliche Entwicklung wider. Halten wir fest: Es ist selbstverständlich entscheidend, dass Führende das Erfolgsmodell auf die für das Überleben relevante Umwelt (Kunden, Markt etc.) ausrichten. Im Grunde müsste man fragen: auf was denn sonst?

Die Führung nicht verkomplizieren

2.

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Strategie: Die Suche nach dem Weg zum Erfolg

Im Grunde kann ich dieses Thema leicht abschließen: Das jeweilige Erfolgsmodell beinhaltet strategische Fragestellungen. Hier ist keine separate Aufgabe nötig. In der Natur existiert eine ungeheure Fülle an Möglichkeiten zurechtzukommen. Es gibt nicht die eine „Strategie der Sieger“. Jeder Organismus ist gefordert, seine eigene Überlebensstrategie zu entwickeln – angepasst an seine Möglichkeiten und an seinen Lebensraum. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, (a) um Lebensräume zu konkurrieren oder (b) sich eigene, konkurrenzarme Lebensräume zu erobern. Während die meisten Tiere keine große Wahl in Bezug auf ihr Erfolgsmodell haben, geht es uns Menschen hier anders. Es liegt übrigens eine ganze Reihe von Studien vor, die dafür sprechen, dass die Erfolgsunterschiede zwischen den Branchen deutlich geringer sind als zwischen den besten und schlechtesten Unternehmen einer Branche. Das bedeutet in unserer Sprache nichts anderes, als dass es mehr auf gute Erfolgsmodelle ankommt als auf Märkte. Coureil136 weist darauf hin, dass man in den meisten Industriezweigen große Wertsteigerungen erzielen kann. Und ebenso kann man in für unproblematisch gehaltenen Bereichen viele Werte vernichten. Dass es bei Erfolgsmodellen mehr um Muster, Dynamiken und tiefes Verständnis geht als um Datenberge und Detailanalysen, haben wir bereits besprochen. Vom erfahrenen Praktiker Jack Welch137 erhalten wir an dieser Stelle Schützenhilfe: „Vergessen Sie das mühselige, verkopfte Herumreiten auf Zahlen und Daten … Vergessen Sie das Entwickeln von Szenarios, jahrelangen Studien und hundert Seiten langen Berichte … In der Praxis ist das Thema Strategie sehr geradlinig. Man wählt eine ungefähre Richtung und strengt sich dann höllisch an, sie umzusetzen.“ Für ihn geht es letztlich nur um drei Dinge: „ Hat man eine clevere, realistische und relativ schnelle Methode, sich einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen? „ Hat man die richtigen Leute mit den richtigen Aufgaben betraut, um die Geschäftsidee umzusetzen? „ Wird man in der Umsetzung besser? Chan Kim und Mauborgne138 gehen einen noch radikaleren Weg, wenn sie formulieren: „Die Konkurrenz lässt sich nur auf eine Weise schlagen: indem man aufhört, es zu versuchen.“ Sie weisen darauf hin, was die Geschichte uns lehrt: Wir verfügen über eine enorm unterschätzte Fähigkeit zur Schaffung neuer und zur Umgestaltung alter Branchen. Sie untersuchten über 150 strategische Bewegungen, die von 1880 bis 2000 in mehr als 30 Branchen gemacht wurden – und fanden weder ein Unternehmen noch eine Branche mit ständigen Spitzenleistungen. Erfolg fanden sie allerdings systematisch dort, wo strategische Bewegungen darauf 136 Coureil, P., Mehrwert. Die neue Aufgabe der Führung, 1999, Frankfurt: Campus, S. 22 137 Welch, J. und S.: Winning. Das ist Management, 2005, Frankfurt: Campus, S. 179 138 Chan Kim, W., Mauborgne, R., Der Blaue Ozean als Strategie. Wie man neue Märkte schafft, wo es keine

Konkurrenz gibt, 2005, München: Carl Hanser, S. 4

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Die Führung nicht verkomplizieren

konzentriert waren, der Konkurrenz durch das Erschließen neuer, bisher von niemandem beanspruchter Märkte auszuweichen. Jede gute Strategie hat ihrer Ansicht nach (a) einen klaren Fokus, (b) unterscheidet sich deutlich vom Durchschnitt und (c) ist von der Zielgruppe schnell und unmittelbar verständlich („überzeugender Slogan“). Halten wir fest: Indem Führungskräfte ihren potenziellen Gefolgsleuten ihr Erfolgsmodell anbieten, lassen sie auch ihre strategischen Vorstellungen erkennen.

3.

Mitarbeiter: Ohne Gefolgschaft geht gar nichts

Sehr häufig wird es auch als wesentliche Aufgabe der Führung definiert, die richtigen Mitarbeiter auszuwählen, zweckmäßig einzusetzen und sinnvoll zu fördern. Natürlich hat der Führende Verantwortung für die Mitglieder der Gemeinschaft, also das so genannte Personal. Der Begriff Personalverantwortung oder -management wird allerdings zumeist in einem anderen Zusammenhang benutzt. Wir hören von Bedarfsdeckung, disziplinarischer Verantwortung, Personalauswahl, -entwicklung und -beurteilung usw. Nett gemeinte Aussagen wie „Unsere Mitarbeiter sind unser Kapital!“ oder Begriffe wie „Humankapital“ sind dabei übrigens absolut unsinnig! Führende sind wesentlich erfolgreicher, wenn sie folgende Grundhaltung leben: Mitarbeiter sind nicht das Kapital der Organisation! Sie sind die Organisation! Die Aufgabe eines Managers kann selbstverständlich nie losgelöst von den beteiligten Menschen gesehen werden. Schließlich geht es für ihn im Kern darum, eine soziale Gemeinschaft erfolgreicher zu machen. Dabei stellen sich vielfältigste Aufgaben, u. a.: „ Das Erfolgsmodell muss in konkrete Aufgaben übersetzt werden, um die sich dann die dafür kompetentesten Mitglieder der Gemeinschaft kümmern. „ Das Erfolgsmodell mag Fähigkeiten erfordern, die in der Gemeinschaft nicht vorhanden sind, die entwickelt oder dazu geholt werden müssen. „ Das Erwirtschaftete muss nachvollziehbar unter den Beteiligten verteilt werden. „ Es müssen Bedingungen hergestellt werden, damit Menschen anstehende Probleme erkennen und lösen können. „ Es gibt Konflikte, die die Handlungsfähigkeit der Organisation gefährden usw. Aber diese Situationen und Aufgaben stellen keine separaten Kernaufgaben der Führung dar. Das Management muss „nur“ dafür sorgen, dass sie gelöst werden, sofern sie den gemeinsamen Erfolg gefährden, ebenso wie es in diesem Fall auch Standortprobleme, Liquiditätsengpässe, Diebstahl, Lagersorgen etc. angehen müsste. Es wäre allerdings unglücklich, wenn sich das Management mit diesen Aufgaben zu sehr identifizieren würde. Wir haben in diesem Zusammenhang im Kapitel „Legitimation: Zutrauen“ beispielsweise darauf hingewiesen,

Die Führung nicht verkomplizieren

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dass das Kern-Selbstverständnis der Führungskraft – entgegen populärer Positionen – nicht das eines Coachs sein sollte. Ein Coach, ein Personalentwickler, Trainer oder Auswahlspezialist etc. ist ein Fachmann zur Lösung bestimmter Sachaufgaben und -probleme, ebenso wie ein Ingenieur, Betriebswirt oder Verkäufer. Ist eine Organisation sehr klein, muss eine Führungskraft dies möglicherweise alles in Personalunion leisten. Dann benötigt sie entsprechende Sachkompetenz. Mit zunehmender Größe sollte sich dies ändern. Das Erfolgsmodell eines Managers mag erfordern, die Mitglieder der Gemeinschaft systematisch auf bestimmte zukünftige Aufgaben vorzubereiten. Vielleicht geht er dies selbst an oder mit der Hilfe von Externen, vielleicht bittet er aber auch jemanden, eine Personalentwicklung aufzubauen. Hier handelt es sich in erster Linie um eine Sachaufgabe und nicht um Führung! Würde unser Personalentwickler im Laufe der Zeit Mitarbeiter zur Unterstützung erhalten, wäre vorstellbar, dass er der neuen Führungsaufgabe nicht gewachsen ist, obwohl er eine gute Personalentwicklung betreibt, denn hier handelt es sich um zwei unterschiedliche Aufgaben!

Personalarbeit und Führung sind aus dieser Sicht nicht ganz so nah beieinander, wie es manchmal diskutiert wird. Ich wage die These, dass dies auch der Grund dafür ist, warum viele Personaler im Unternehmen nicht die Bedeutung haben, die sie sich in ihrer Aufgabe wünschen. Um diese zu erhalten, müssten sie sich unmissverständlicher an den Kernaufgaben der evolutionären Führung orientieren – und nicht so isoliert an den Sachverantwortlichkeiten ihrer Abteilung. Vor einiger Zeit wurde heftig darüber diskutiert und geschrieben, wie sich das so genannte Personalwesen unternehmerischer positionieren kann und sollte139. Dabei stand in der Kritik, dass es sich zu ausschließlich auf seine operativen Funktionen konzentriert. In Ordnung: Das kann man so sehen. Muss man aber nicht. Es braucht von Personalern ebenso wenig gefordert zu werden, dass sie gute Führende sind, wie von Managern, dass sie alle Aufgaben der Personaler beherrschen. Ich bin mir bewusst, dass der evolutionäre Führungsansatz mit dieser Sichtweise keine populäre Position vertritt. Moderner wäre es beispielsweise auch, die Notwendigkeit von Personalspezialisten als Defizit der Manager einzuordnen. Zitat: „Wenn wir wirklich gute Führungskräfte hätten, bräuchten wir keine …“ Setzen Sie an dieser Stelle nun nach Belieben Dinge ein, wie Assessment-Center, Nachwuchsförder-Programme, Strukturierten Mitarbeitergespräche, Zielvereinbarungen, Beurteilungssysteme usw. Heißt das dann auch: Wenn wir wirklich gute Personaler hätten, bräuchten wir keine Führenden? Es erscheint mir an dieser Stelle nicht sinnvoll, diese Gedanken weiter zu vertiefen. In einer Gemeinschaft ist Arbeitsteilung wertvoll! Die Evolution nutzt dieses Grundprinzip seit Ewigkeiten. Wir könnten ja auch alle immer noch unsere Schuhe selbst fertigen, unsere Haare schneiden, Kinder zu Hause gebären, Tiere jagen und Nutzgärten anlegen, unsere Unterkünfte zimmern usw. Sobald wir irgendetwas allerdings nur gemeinsam schaffen können, tritt

139 z. B. Wunderer, R./ von Arx, S., Personalmanagement als Wertschöpfungs-Center, 1998, Wiesbaden: Gabler

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unser Phänomen Führung auf den Plan. Und für uns hieß die damit verbundene Frage: Was bleibt übrig, wenn alle Sachaufgaben delegiert sind? Wir suchen die Essenz der Führung! Kommen wir zu einem weiteren Punkt im Zusammenhang mit dem Thema Mitarbeiter. Die Erfahrung und Forderung vieler Praktiker, dass die Besetzung von Schlüsselpositionen Chefsache sein sollte (also Kernaufgabe der Führung), erscheint mir einige Überlegungen Wert. Derzeit würde ich sie folgendermaßen einsortieren und erklären: „ Facette der Kommunikation: Je weniger es Führenden gelingt, ihr allgemeines Erfolgsmodell der ganzen Gemeinschaft transparent zu machen, desto mehr müssen sie selbst tun. Aus ihrer Sicht machen die anderen sonst zu viel falsch. Diese Manager benötigen also Menschen, die „gleich denken“. Finden sie Personen, die genau zu ihrem Erfolgsmodell passen, dieses also von Beginn an in den wesentlichsten Punkten teilen, können sie das Problem der Kommunikation umgehen. Wir sehen an dieser Stelle wieder, wie unterschiedlich die Kernaufgaben der Führung wahrgenommen werden können, und haben einen weiteren Beleg für die Tatsache, dass Managementerfolg nicht an spezifischen Verhaltensweisen festzumachen ist. „ Facette der strategischen Ergänzung: Die Strategie, eigene Defizite durch personelle Ergänzungen auszugleichen, beschränkt sich selbstverständlich nicht auf die kommunikativen Fähigkeiten. Dieses Grundprinzip ließe sich sogar bis zu dem Punkt betreiben, sich als Führungskraft völlig auf die Besetzung der einen Schlüsselposition zu konzentrieren, d. h. jemanden zu finden, der statt einem selbst die Kernaufgabe der Führung erfüllt. Das wäre das andere Extrem der Arbeitsteilung. Man macht nicht mehr alles selbst, sondern im Grunde gar nichts mehr – außer zu bestimmen, wer das Management übernimmt. Hier haben wir es dann vielleicht schon nicht mehr mit Führung, sondern extremen Besitz- (z. B. wenn Eigentümer ein Management berufen) oder Machtverhältnissen (z. B. Sklaverei) zu tun. „ Facette der Politik: Zweifellos muss die Besetzung von Schlüsselfunktionen immer auch unter Machtgesichtspunkten betrachtet werden. Eine Führungskraft kann selbstverständlich durch die Besetzung von Schlüsselpositionen auch die Loyalität ihres Umfeldes beeinflussen und damit ihre Machtstrukturen sichern. Das Extrem stellt hier die so genannte Vetternwirtschaft dar. Die Kompetenz der Beteiligten spielt dabei kaum noch eine Rolle. Aus meiner Sicht gibt es rund um die Aufgabe der Besetzung von Schlüsselpositionen keine evolutionären Muster. Im Ursprung hatten unsere Urahnen dieses Problem nicht wirklich. Sie lebten in einer gegebenen Gemeinschaft, und die Zusammenstellung eines Teams war nur für Projekte (z. B. eine Jagd oder einen Kampf) notwendig. Es erscheint mir sehr nahe liegend, dass hierbei in erster Linie die Fähigkeiten der Beteiligten eine Rolle spielten. Ich denke, die Anregung, Schlüsselpositionen selbst zu besetzen, ist taktischer und politischer Natur. In diesem Feld140 bewegen wir uns nicht, wenn wir die Essenz der Führung suchen. Dabei be140 vgl. bei Interesse hierzu eher Greene, R., Power. Die 48 Gesetze der Macht, 3. Aufl., 2002, München: DTV

oder von Senger, H., Strategeme. Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden, 1994, München: Scherz

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haupte ich keinesfalls, dass diese Seite unbedeutend ist. Meiner Erfahrung nach besteht bei aller Taktiererei aber immer die Gefahr, die wesentlichen evolutionären Grundlagen des Phänomens Führung aus dem Auge zu verlieren. Ich kenne eine ganze Reihe von Menschen, die der Faszination der Macht und des Taktierens erlegen sind und ihre Führungsrolle dadurch letztlich verwirkten. Wir können also auf der einen Seite Aufgaben rund um die Mitglieder einer Gemeinschaft als Sachaufgaben betrachten. Auf der anderen Seite bewegen wir uns dabei schnell auch im Bereich der Beziehungen, der Politik und Machtspiele. Gerade in diesem Zusammenhang sollten wir uns daran erinnern, dass der evolutionäre Führungsansatz auch für die Geführten selbst bedeutsam ist. Sie sind nicht diejenigen, die hier etwas an sich geschehen lassen müssen oder im Machtkampf mit den Führenden stehen.

4.

Kleiner Ausflug: Tipps für Geführte

Ebenso, wie viele Führungsansätze, Veröffentlichungen und Berater den Chefs von heute ein brisantes Selbstverständnis nahe legen, gehen diese auch nicht spurlos an den Geführten vorbei. Wenn ein Manager zu einem Seminar geht, fragen sich seine Mitarbeiter nicht selten, welche Tricks und Manipulationstechniken er wohl wieder beigebracht bekommt. Und dramatischerweise erscheinen die Führungskräfte oft auch mit genau dieser Erwartung in der Veranstaltung. Und welches Bild sollen wir Geführten entwickeln, wenn wir in einer Buchhandlung Titel lesen, wie „Umgang mit schwierigen Mitarbeitern“, „30 Minuten für effektives Delegieren“, „Führung durch Charisma. Eine Analogie von Hunden und Katzen“, „Pferdeflüstern für Manager. Mitarbeiterführung tierisch einfach“ usw. Eine nicht nur oft beschämende, sondern auch gefährliche Entwicklung, der unbedingt begegnet werden muss! Für das Selbstverständnis der Führenden haben wir das bereits ausführlich getan. Aus dem evolutionären Führungsansatz heraus lassen sich aber durchaus auch Anregungen und Hinweise für Mitarbeiter ableiten. Bevor wir dazu exemplarisch einige Themen herausgreifen, muss eines ganz deutlich vorweg gestellt werden: Wir sind so lange in Gemeinschaften, wie wir unser gegenseitiges Leistungsversprechen erfüllen! Darin besteht der Kern unserer sozialen Existenz! Mit dieser Haltung vertrete ich nicht einen inhumanen und materialistischen Standpunkt. Es geht mir nicht darum, Höchstleistung und Gewinn um jeden Preis in den Mittelpunkt zu stellen. Ich möchte einfach noch einmal auf die schlichte Tatsache hinweisen, dass wir Menschen überlebt haben, weil wir zusammen sind! Wir mögen Geborgenheit, Liebe und Zärtlichkeit. Sie sind Teil unserer Natur, unseres Wesens. Sie weisen uns in wunderschöner Manier darauf hin, dass wir zusammen gehören und uns im Anbeginn unserer Zeit ein gegenseitiges (Leistungs-)Versprechen gegeben haben. Wir wurden nicht daran gemessen, wie viel Geld oder Jagdbeute wir mitbrachten – aber wir hatten eine Aufgabe in der Gemeinschaft. Es

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wurden spezifische Erwartungen an uns gestellt, wie wir spezifische Erwartungen an die anderen stellten. Im geschichtlichen Zusammenhang betrachtet ist es erst winzige Augenblicke her, dass wir allmählich wieder registrieren, wie wichtig für uns diese gegenseitigen Verpflichtungen sind. Welch schwierige Aufgabe für Rentner, einsame Arbeitslose oder alte Menschen ohne Familienzusammenhalt, damit zurechtzukommen, aus diesen gegenseitigen Leistungsversprechen ausgeschlossen zu sein. Konnten unsere Urahnen ihr Versprechen an die Gemeinschaft aufgrund kurzzeitiger Probleme (z. B. Krankheit) nicht einhalten, wurden diese von den anderen Mitgliedern ausgeglichen. Es gibt sogar Knochenfunde, die zeigen, dass selbst schwer verletzte Gruppenmitglieder, die die ihnen erwiesene Unterstützung nie mehr ausgleichen konnten, lange gepflegt und am Leben erhalten wurden. Wir waren immer eine Schicksalsgemeinschaft! Und genau aus diesem Grund musste Mutter Natur uns gleichzeitig davor schützen, ausgenutzt und missbraucht zu werden. Je schneller Schmarotzer und Ungerechte erkannt wurden, umso besser funktionierte die Gemeinschaft.

4.1

Erkennen Sie Ihre Rolle und vertreten Sie realistische Ansprüche

Treten Sie nur der Gemeinschaft bei, deren Sinn Ihnen Energie geben kann und an deren Erfolgsmodell Sie glauben können. Vergessen Sie dabei nie das Grundprinzip: In Unternehmen kommen Menschen zusammen, um gemeinsam ihr Überleben zu erwirtschaften. Sie tun dies in dem Verständnis, so erfolgreicher sein zu können als allein. Mit Ihrem Eintritt in die Gemeinschaft treten Sie auch einem gegenseitigen Leistungsversprechen bei. Das verlangt von Ihnen, einen Beitrag zu leisten, eine wertvolle Rolle innerhalb des allgemeinen Erfolgsmodells zu übernehmen und Probleme zu lösen – nicht zusätzliche zu schaffen. Ihr Umfeld erwartet beispielsweise durchaus zu Recht, dass Sie mit Lösungsmöglichkeiten kommen, statt sich in aller Ausführlichkeit über Schwierigkeiten auszulassen. Ihr Leistungsverhalten sollte unstrittig und vorbehaltlos konstruktiv sein. Selbst wenn Ihre positive Haltung in der Zusammenarbeit nicht erwidert wird, schaden Sie sich und der Gemeinschaft, wenn Sie sofort Gleiches mit Gleichem vergelten, in Resignation verfallen oder aggressiv werden. Sorgen Sie als nächstes dafür, dass es möglichst auch Spaß macht, mit Ihnen zusammen erfolgreich zu sein. Mit der Rückendeckung Ihres Chefs allein ist es zumeist nicht getan. Sie brauchen zudem die Unterstützung im Kollegenkreis. Einzelkämpfer sind nicht nur einsamer, sondern zwangsläufig auch ahnungs- und machtloser als wohl integrierte Menschen. Genauso wie das Management von Veränderungen für die Führung im Grunde keine neuen Grundprinzipien erfordert, sollte es für Sie auch nicht zu einer anderen Haltung führen. Unwohlsein bei Veränderungen und in schwierigen Zeiten ist nachvollziehbar und verständ-

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lich. Doch erfolgreich Überlebende verhalten sich nicht wie Opfer. Lassen Sie sich von Ihren Befindlichkeiten nicht blockieren und überlegen Sie, welchen Beitrag Sie aktiv zum Gelingen der Veränderung leisten können. Können Sie allerdings grundsätzlich nicht an das Erfolgsmodell glauben, das mit den aktuellen Veränderungen verbunden ist, sollten Sie sich nach einer alternativen Gemeinschaft umsehen. Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Sie gewinnen Ansehen und Akzeptanz, indem Sie Ihr Leistungsversprechen sichtbar einlösen. So wie Führungskräfte auf ihr Legitimationskonto einzahlen müssen, zahlen Sie auf eine Art Leistungskonto ein. Je höher Ihr Guthaben auf dem Leistungskonto ist, desto größer sind Ihre Chancen, so arbeiten zu können, wie Sie es gerne tun, und gegebenenfalls auch einmal überziehen zu können. Neben dem Erwirtschaften Ihrer Existenz liegt ein wesentliches Ziel Ihrer Arbeit daher in einer hohen Kreditlinie. Diese verschafft Ihnen eine wirkungsvolle Ausgangsposition in der Gemeinschaft und im Umgang mit der Führung.

4.2

Verhalten Sie sich Ihrem Chef gegenüber weise

Arbeiten Sie daran, dass Ihr Chef Sie als wesentlichen Erfolgsfaktor bei den gemeinsamen Zielen erkennt und er gleichzeitig ein korrektes Führungsverständnis entwickelt. So genannte Mitarbeitergespräche sind immer auch Chancen für Führungskräftegespräche. Und die gemeinsame Wirklichkeit kann in Besprechungen und Workshops auch durch Sie mitgestaltet werden. So unterschiedlich Führungskräfte auch sein mögen, ihre grundsätzlichen Ansprüche decken sich weitgehend, da auch diese aus evolutionären Mustern ableitbar sind. Die meisten erwarten von ihren Mitarbeitern vor allem: „ Loyalität: Konkurrieren Sie nicht mit Ihrem Chef und untergraben Sie – insbesondere öffentlich – nicht seine Autorität. Stellen Sie das allgemeine Erfolgsmodell nicht grundsätzlich in Frage, indem Sie lautstark Alternativen vertreten. Loyalität sollte nicht absolut und für immer gelten, aber zuverlässig im Rahmen des gegenseitigen Leistungsversprechens. „ Leistung: Machen Sie einen positiven Unterschied – und nicht zusätzliche Arbeit. Stellen Sie Ihr persönliches Erfolgsmodell zur Integration zur Verfügung. Enthalten Sie der Gruppe nichts vor, was den gemeinsamen Erfolg fördern könnte. Verfallen Sie nie in den „Nunmotiviere-mich-mal-schön-Modus“, treffen Sie stattdessen klare Leistungsvereinbarungen. „ Gemeinschaft: Lassen Sie erkennen, dass Ihnen an der Gemeinschaft liegt und Sie dort auch einen Teil Ihrer Identität finden. Seien Sie vorbehaltlos konstruktiv und verhalten Sie sich allen anderen gegenüber vertrauenswürdig.

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Die Führung nicht verkomplizieren

Und was ist, wenn Ihr Chef schlechte Arbeit macht? Das Herausfordern der Führung wird nur aus einer Position der Stärke möglich sein und ist in heutigen Organisationen nur sehr selten erfolgreich. Selbst aus einer quasi unkündbaren Stelle heraus kommt es durch Angriffe in Richtung Management maximal zu einer gewissen Isolation für Sie. Um sich wohler zu fühlen, versuchen unzufriedene Mitarbeiter dann häufig einen Sympathisantenkreis um sich zu scharen. Eine psychologisch nachvollziehbare, aber völlig unglückliche Entscheidung, da sie die Leistungsfähigkeit der Gemeinschaft als Ganzes schwächt. Darin darf aber nie das Ziel eines Gruppenmitglieds bestehen. Ebenso, wie Ihr Chef seine Führungslegitimation bewahren muss, um auf Dauer wirksam zu bleiben, müssen Sie Ihre Legitimation als Mitglied der Gemeinschaft bewahren. Ein Jäger, dessen Hauptanliegen darin besteht, das Wild zu verscheuchen, muss ausgeschlossen werden, denn er gefährdet das Überleben aller. Entwickelt er gar die persönliche Gewohnheit, Wild zu verscheuchen, manövriert er sich selbst in eine Sackgasse. Für den Fall, dass „ es Ihnen nicht gelingt, Ihren Chef von Ihrer alternativen Sichtweise zu überzeugen und/ oder „ er seine Kernaufgabe nicht erfüllt und/ oder „ er z. B. durch Machtmissbrauch oder Ungerechtigkeit seine Führungslegitimation zerstört, sollten Sie sich dennoch so lange die Legitimation als Gruppenmitglied (Mittel: siehe oben) bewahren, bis Sie eine bessere Alternative gefunden haben, Ihre Existenz zu erwirtschaften. Achten Sie darauf, nicht in den Neandertaler-Modus zu geraten, Ihr Großhirn zu verlieren und kurzsichtig auf Kampf oder Flucht umzuschalten. Es muss sehr sorgfältig überlegt sein, sich mit einer Beschwerde über Ihren Chef an die übergeordnete Führung zu wenden. Damit ist das gegenseitige Vertrauen endgültig zerstört und eine weitere Zusammenarbeit zumeist kaum mehr möglich – egal, wie die Entscheidung von oben aussieht. Da diese ebenfalls ihre Aufgabe erfüllen muss, wird dafür gesorgt werden, dass es in der Gemeinschaft weiter funktioniert: Die konkrete Entscheidung wird etwas verändern, aber nicht immer Ihren Vorstellungen entsprechen. Selbst für den Fall der Unzufriedenheit mit der Führung kann die Gemeinschaft noch vielen Mitgliedern (und Ihnen!) helfen, das gemeinsame Überleben zu erwirtschaften. Erst wenn diese Aufgabe von der Organisation nicht mehr wahrgenommen werden kann, verliert sie ihren Sinn. Sehen Sie sich spätestens bei entsprechenden Anzeichen nach Alternativen um!

Die Führung nicht verkomplizieren

4.3

173

Nehmen Sie die eigene Führungsverantwortung wahr

Sollten Sie selbst auch Mitarbeiter haben, gilt natürlich alles bisher Besprochene auch für Sie. Dies ist völlig unabhängig von der Hierarchieebene. Für die so genannte Sandwich-Position, also die zwischen dem eigenen Chef und Ihren Mitarbeitern, gibt es vielleicht einige besondere, zusätzliche Anregungen: „ Konzentrieren Sie sich nicht in einer Form auf die Vorstellungen Ihres Vorgesetzten, dass Ihnen Ihre eigenen Mitarbeiter die Gefolgschaft aufkündigen. Ohne die Legitimation Ihrer Gruppe sind Sie kaum mehr in der Lage, dafür zu sorgen, dass es funktioniert. Oberflächlich betrachtet, haben Sie sich an die Person gehalten, die die Macht über Ihr Schicksal hat. Auf den zweiten Blick gesehen, haben Sie sich einer wesentlichen Machtquelle beraubt: der Führungsakzeptanz. „ Verbrüdern Sie sich nicht in einer Weise mit Ihren Mitarbeitern, dass Sie das Ziel der Organisation und Ihre Rolle im großen, gemeinsamen Erfolgsmodell aus den Augen verlieren. Dieses Risiko liegt insbesondere nahe, wenn Sie Ihre erste Führungsaufgabe übernommen haben und Ihr Selbstverständnis noch „das alte“ ist. „ Halten Sie für Ihre Mitarbeiter präsent, welche Rolle diese im großen Ganzen einnehmen. Es gilt der natürlichen Gefahr vorzubeugen, dass sich eine Kleinkultur entwickelt, die einerseits zwar leichter das Bedürfnis nach Identifikation befriedigt, andererseits jedoch die gemeinsame Zielerreichung gefährdet. Wenn wir über Geführte sprechen, über „Mit-Arbeiter“, dann lohnt sich an dieser Stelle vielleicht auch ein kurzer Ausflug zu deren Vertretern, den Betriebsräten.

4.4

Die Idee des Betriebsrats macht Sinn

In großen Organisationen funktionieren die natürlichen Selbstheil- und Kontrollmechanismen in Richtung Führung nicht mehr gut. Wenn sich bestimmte (Macht-)Strukturen einmal gefestigt haben, mit der Kultur zu einem schlüssigen Ganzen wurden, sind sie extrem schwer zu verändern. Nun bliebe prinzipiell selbstverständlich noch die Wahlmöglichkeit der Geführten. Sie könnten die Gemeinschaft verlassen, zu deren Führung sie nicht mehr stehen. Angesichts der Arbeitsmarktlage wäre ein solcher, oberflächlicher Tipp allerdings nahezu zynisch. In besonders ausgeprägter Form finden wir diese Problematik bei nationalen Gemeinschaften. Was tun wir, wenn wir an das Erfolgsmodell unserer Landesführung nicht länger glauben können?

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Die Führung nicht verkomplizieren

Die Aufgabe des Betriebsrats besteht aus meiner Sicht darin, die Sinnerfüllung der Organisation zu fördern, indem der Führung nicht erlaubt wird, schlecht zu sein. Was schlecht bedeutet, kann aus dem evolutionären Führungsansatz abgeleitet werden: Die Kernaufgabe wird vernachlässigt und die Macht missbraucht. Der Betriebsrat übernimmt damit stellvertretend die wichtige Funktion, die bei unseren Urahnen die ganze Gruppe hatte. Solange die Gemeinschaft diese Aufgabe wahrnehmen kann, wird er nicht benötigt. Dieses Selbstverständnis erscheint mir wesentlich, um unglücklichen Entwicklungen vorzubeugen. Wir haben bereits darüber gesprochen, dass unzufriedene Menschen dazu neigen, einen Sympathisantenkreis („Schicksalsgenossen“) um sich zu scharen, um sich wohler zu fühlen. Hier entsteht über Abgrenzung, Identifikation und Austausch rasch eine eigene, von der großen Gemeinschaft getrennte Wirklichkeit, für die im Weiteren quasi „geworben“ wird. Ähnlich, wie sich sektiererische Gruppierungen selbst die Wahrheit ihrer Sicht durch Mitgliedergewinnung beweisen wollen, geht es nun oft Betriebsräten. Wenn dies die Sinnerfüllung der Gemeinschaft als Ganzes gefährdet, hätte die Ur-Gruppe ihre Handlungsfähigkeit wiedererlangt, indem „ ein Macht-Wort der Führung gesprochen oder „ in einem Machtkampf ein Führungswechsel vollzogen worden wäre oder „ die Gruppe sich sinnvollerweise gespalten hätte. Warum? Nun, wir haben bereits festgestellt, dass der Evolution sehr daran gelegen war, dass sich die vorhandenen Kräfte nicht gegenseitig blockieren. Unsere Gesetzgebung hat nun diese Möglichkeit in manchen Organisationen geschaffen, was noch lange nicht heißt, dass diese auch verwirklicht werden muss. Zunächst einmal können wir an dieser Stelle wohl festhalten, dass gemeinsames Leben und Arbeiten immer auch Konfliktpotenziale birgt. Je weiter wir uns von bewährten und eingespielten Mustern entfernen, je unterschiedlicher unsere persönlichen Wirklichkeiten und Erfolgsmodelle werden, desto konfliktreicher wird unser Zusammenleben. In den Organisationen nehmen daher die Konflikte ebenso zu, wie beispielsweise in Partnerschaften. Vermutlich ist dies einer der Gründe dafür, dass von manchen Seiten das Konfliktmanagement zu den Kernaufgaben der Führung gezählt wird.

Die Führung nicht verkomplizieren

5.

175

Konflikte: Auf die Kooperation kommt es an

Eine zerstrittene Horde hat in der Wildnis keine Überlebenschance. Es liegt daher nahe, dass die Natur schon von Beginn an wirkungsvolle Methoden entwickelt hat, Konflikte zu reduzieren und zu schlichten. Sie sorgte dafür, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft sich rasch auf bestimmte Rollen und Positionen einigten, diese zumeist akzeptierten und sich auf die eigentliche Arbeit (das Überleben) konzentrierten. Wahrscheinlich legte oft die ganze Horde in der Vergangenheit den Rivalen nahe, ihren Streit beizulegen. Völlig vergessen war dieser spätestens dann, wenn sich der Gemeinschaft Gegner von außen oder große Herausforderungen stellten. Je stärker es auf den Zusammenhalt der Gruppe in der Wildnis ankommt, desto versöhnlicher verhalten sich auch Tiere. Selbstverständlich braucht man ihnen nicht zu erzählen, worum es in letzter Instanz für sie geht. Je mehr Raum dagegen für Konflikte besteht und Energie für den internen Kampf frei ist, desto wahrscheinlicher werden diese – bis die Machtverhältnisse wieder eindeutig sind. Eine moderne Studie weist darauf hin, dass die Kooperation zur Förderung von Leistung und Produktivität weitaus wirksamer ist als Konkurrenz oder Einzelkämpfertum. Zusätzlich wurde der Beweis erbracht, dass Kooperation ohne internen Wettstreit zu höheren Leistungen und höherer Produktivität führt als Kooperation mit internem Wettstreit141. Diese Tatsache passt ohne Schwierigkeit in unser evolutionärpsychologisches Bild und weitaus weniger gut zu weit verbreiteten Motivationstechniken. Sie sehen: Unsere evolutionären Wurzeln sind nach wie vor funktionstüchtig. Wir Menschen, und das schließt Führungskräfte naturgegeben ein, haben es ständig mit Konfliktpotenzialen zu tun. Es gibt unterschiedliche Interessen, Persönlichkeiten und Stile, Erfolgsmodelle, Positionen, Vorstellungen zur Sachlage usw. Keinesfalls sollten diese ignoriert, geleugnet, verdrängt oder mit emotionaler Überreaktion angegangen werden. „ Zunächst einmal gilt es aber für alle Beteiligten in Gemeinschaften, unnötige Konflikte zu vermeiden. Die Kernfrage dazu ist: Warum sind wir zusammen angetreten? Die meisten Unterschiede sind wohl für die gemeinsame Zielsetzung völlig irrelevant. Warum also streiten? Es gibt Wesentlicheres! Als es noch vor allem um unser Überleben ging, brauchte uns das niemand zu sagen. „ Nun gibt es für den größtmöglichen gemeinsamen Erfolg vermutlich auch notwendige Konflikte. Diese müssen geführt werden – sofern es sich lohnt. Viel Energie für die Klärung der Frage zu verbrauchen, ob man nach einem kleinen Nagetier oder einem gefüllten Nest suchen soll, macht für die Natur wenig Sinn. Schwer vorstellbar, dass sich unsere Urahnen über eine solche Differenz „ans Fell gegangen“ sind. Dabei werden sie zu dieser Entscheidung nicht über große Abwägungsprozesse gelangt sein, sondern mochten sich dafür einfach nicht anstrengen. 141 Johnson et al., Effects of kooperative, competitive, and indivualistuc goal structures on achievement: A

meta-analysis, in: Psychological Bulletin 89, 1981, S. 47-62

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Die Führung nicht verkomplizieren

„ Ist eine Auseinandersetzung wirklich wichtig, muss sie so geführt werden, dass es möglichst nicht zur dauerhaften Schwächung der Gemeinschaft kommt. Wir würden sagen, „man muss hinterher noch miteinander können“. Die gegenseitige Abhängigkeit bleibt bestehen und die individuelle Bereitschaft zur weiteren gegenseitigen Unterstützung muss gesichert bleiben. Es muss einen Interessenausgleich geben, Konsenslösungen sind wohl dagegen nicht zwingend notwendig. Wahrscheinlich bestimmten also die Erfordernisse des Zweckbündnisses die KonfliktSpielregeln unserer Ahnen. Dazu kann kaum viel Großhirn nötig gewesen sein, denn das war anfangs noch nicht besonders beeindruckend. Es werden hier also, unserer Denkweise entsprechend, evolutionäre Muster zu erwarten sein. Als Führungskraft hat man eine besondere Verantwortung dafür, dass Konflikte beigelegt werden, wenn diese aktuell den gemeinsamen Erfolg gefährden oder das Potenzial haben, dies in Zukunft zu tun. Vor diesem Hintergrund würde ich nicht Widerspruch einlegen, wenn jemand Konfliktkompetenz als notwendig für erfolgreiche Führung sähe. Ich habe die aus meiner Sicht wesentlichen Aspekte dieser Thematik allerdings im Zusammenhang mit der Forderung „vorhandene Kräfte dürfen sich nicht gegenseitig aufheben“ diskutiert. Wollen wir nachschauen, ob auch unsere Management-Profiling-Datenbanken diese Sichtweise stützen? Aussage vermeidet unnötige Konflikte

Häufiger bei anerkannten Führenden zu finden? nein

spricht Konflikte offen an

rund 37 %

kann Konflikte gut lösen

rund 45 %

Offenbar muss das Thema Konfliktfähigkeit differenzierter betrachtet werden als es üblich ist. Unterschiedliche Aspekte des Phänomens werden unter ein und demselben Schlagwort diskutiert. Wieder einmal sind wir auf etwas gestoßen, für das unser althergebrachtes Verständnis nicht ausreicht. Damit sollte an Führungskräfte auch nicht die Forderung nach allgemeiner Konfliktkompetenz gestellt werden. In Bezug auf ihre Friedlichkeit („unnötige Konflikte vermeiden“) müssen sie sich offenbar keineswegs von uns allen unterscheiden. Aber sie dürfen nicht konfliktscheu sein („spricht Konflikte offen an“) und müssen in der Lage sein, die Auseinandersetzungen so zu klären, dass eine weitere erfolgreiche Zusammenarbeit möglich ist („kann Konflikte gut lösen“). Diese Datenlage lässt es mir weiterhin sinnvoll erscheinen, das Thema im Rahmen der Erhaltung der gemeinsamen Handlungsfähigkeit zu belassen und nicht eine neue Hauptaufgabe daraus zu machen. Eine Form von Konflikt besteht darin, dass die meisten Menschen nicht genau das tun, was man von ihnen möchte. Im so genannten normalen Leben erstaunt uns diese Tatsache nicht weiter. Führungskräfte sind dagegen entsetzt darüber, wenn Mitarbeiter sich so verhalten. Je nach Grundhaltung sehen sie nun hier einen Machtkampf (Konflikt), Unfähigkeit (Personalentwicklung) oder Lustlosigkeit (Motivationsaufgabe). Da sie offenbar immer häufiger in eine solche Lage kommen, wird zunehmend die Forderung an sie gestellt, gut motivieren zu können. Ist hier eine Hauptaufgabe zu finden, die wir übersehen haben?

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6.

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Motivation: Kein Mythos, aber überschätzt

Manchmal kommt es einem so vor, als wäre die Motivation das Zauberwort der Managerwelt. Dabei kenne ich niemanden, der sich darüber besonders freut, von seinem Chef zu hören, er würde jetzt von ihm „motiviert“. Das Thema gehört in der Berufswelt aus meiner Sicht zu den maßlos aufgepusteten Seifenblasen. Da diese aber quasi „vor aller Munde sind“, sollten wir uns ein wenig Zeit dafür nehmen, ohne tausendfach Erzähltes noch einmal zu wiederholen. Wir haben bereits mehrfach darüber gesprochen, dass die Evolution die gemeinsame Arbeit in sehr schlichten Regeln definiert hat: „ Gibt es keine gemeinsame Aufgabe, gibt es weder Gemeinschaft noch Führung! „ Wenn es eine gemeinsame Aufgabe gibt, ist das Motivation genug! Die Unausweichlichkeit der Tatsache, es nicht so gut alleine schaffen zu können, bedingt die Kooperation. Grundlage dafür ist ein gegenseitiges Leistungsversprechen. „ Hält jemand sein Leistungsversprechen nicht, wird er von der Gemeinschaft „korrigiert“ oder ausgestoßen. Allgemeine Rufe nach mehr Motivation signalisieren in diesem Zusammenhang nur Hilflosigkeit und ein verdrehtes Grundverständnis der Beteiligten.

6.1

Aktives Leben: Wir sind immer motiviert

Grundsätzlich ist es der natürliche Zustand eines Lebewesens, für sein Handeln motiviert zu sein! Genau darin besteht nämlich die Ausgangsfrage der Motivation: Warum tut jemand das, was er tut – und nicht nichts oder etwas anderes? Die ganze Geschichte beginnt also eigentlich bei dem Verhalten, das wir Menschen zeigen und nicht bei dem, was wir nicht tun. Unser Verhalten ist immer motiviert – sonst fände es nicht statt. Wir könnten ein wenig krass formulieren: Der unmotivierte Zustand ist der Tod! Wir sind evolutionär auf zielgerichtete Aktivität ausgerichtet und empfinden Lust und Freude an unserer Fähigkeit, Situationen zu bewältigen und Dinge beeinflussen zu können. Den meisten Menschen fällt es dagegen schwer, Langeweile auszuhalten. Wir sind begeistert von unserer Wirksamkeit und mögen es überhaupt nicht, ohnmächtig, irrelevant und unwesentlich zu sein. Wir sind genetisch an ein aktives, herausforderndes Leben angepasst und mögen es, Aufgaben als eine geschlossene Einheit von Anfang bis Ende zu bearbeiten, die unsere gesamte Persönlichkeit fordern. Wenn das nicht so wäre, gäbe es uns schon lange nicht mehr! Selbst stundenlange, bewegungslose Meditation und unser Schlaf haben einen Beweggrund

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Die Führung nicht verkomplizieren

und sind damit motiviert. Fallen wir in ein Koma und reagieren nicht mehr auf unsere Handlungsimpulse, werden wir sterben, sofern sich niemand um uns kümmert. Haben Lebewesen ein Ziel erreicht, werden dafür zunächst keine weiteren Ressourcen eingesetzt. Dann sind wir möglicherweise motiviert, wieder zu Kräften zu kommen. Die Evolution haushaltet offenbar weise. Alle Lebewesen scheinen zu wissen, dass der Aufwand, den sie für ihre Erfolge betreiben müssen, sie auch überfordern, für lange Zeit lahm legen und damit in ihrer Existenz gefährden kann. Interessanterweise ist Ressourcenschonung in der Natur insbesondere dort der Fall, wo starke Konkurrenz vorhanden ist. Im Wettbewerb ist es wohl noch wichtiger, keine überflüssigen Energien zu vergeuden. Unser Einsatz hängt also davon ab, über wie viel Energie und über welche Ressourcen wir verfügen, welches Ziel wir gegenwärtig als angemessen empfinden und wo unserer subjektiven Einschätzung nach die „Sättigungsgrenze“ liegt. Mit diesen Mustern hat uns Mutter Natur für unsere Aufgabe hier auf der Welt ausgestattet. Und wir sollten dankbar dafür sein. Schauen wir wieder einmal genauer hin: Was sind unsere Beweggründe? Wo kommt die Energie her, die uns in Richtung eines Ziels lenkt? Bergner142 führt unser Agieren auf drei Grundmotivationen zurück: Liebe, Leistung, Macht. Wir sind nahe bei diesen Überlegungen, würden allerdings vermuten, dass unsere Hauptenergien folgenden fünf evolutionären Notwendigkeiten entstammen, wobei die Begrifflichkeiten grundsätzlich eher nebensächlich sind: 1. Notwendigkeit, sich in dieser Welt orientieren zu müssen (Bedürfnis, verstehen zu wollen) ¼ Erkundigung/ Neugier, Intellekt, Sinn, Wunsch nach Klarheit und Ordnung, Angst vor Unbekanntem etc. 2. Notwendigkeit, in dieser Welt wirksam zu sein (Bedürfnis nach Macht, Leistung und Freiraum) ¼ Lust am Einfluss, Schaffenskraft, Kreativität, Spiel, Leistung etc. 3. Notwendigkeit, zum Überleben die Gemeinschaft zu benötigen (soziale Motivation) ¼ Geborgenheit, Liebe, Anerkennung, Selbstwert, Vorsicht vor Fremden etc. 4. Notwendigkeit, ein Körper zu sein (biologische Motivation) ¼ Nahrung, Sexualität, Ruhe, Lebenslust, Sicherheit etc. 5. Notwendigkeit, in Schwierigkeiten nicht aufzugeben (Notfall-Motivation) ¼ Hoffnung, Überlebenswille etc. Bergner geht davon aus, dass wir innere Muster entwickeln, um die Motive zu verwirklichen, und unsere allmählich entstehende, individuelle Motivstruktur nur sehr schwer zu verändern ist. Erstaunlicherweise kennen die meisten Menschen die eigene aber nicht besonders gut. Ihre Selbsteinschätzung richtet sich eher an den Zielen aus als an den Motiven. Sie können viel leichter eine Antwort auf die Frage geben, was sie möchten, als Auskunft darüber, warum dies der Fall ist. Hier kommen zumeist sehr oberflächliche Antworten, die mit den tatsächlichen Beweggründen kaum etwas zu tun haben. Die Natur sah es offenbar als nicht sehr be142 Bergner, Th. M. H., Lebensmuster erkennen und nutzen. Was unser Denken und Handeln bestimmt, 2005,

Heidelberg: mvg

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deutsam an, dass wir uns unserer Antriebe bewusst sind. Frei nach dem Motto: Völlig egal warum, besorg dir etwas zu essen! Interessant wurde es in diesem Punkt erst, als wir begannen, unser Bedürfnis nach Orientierung auf uns selbst anzuwenden. Auf einmal machte es uns auch Freude, uns selbst zu verstehen. Gut, und warum ist das Thema nun für Führungskräfte relevant? Solange die Dinge so laufen, wie es sich jemand wünscht, stellt sich die Frage nach der Motivation im Grunde nur aus wissenschaftlichem Interesse. Warum kommt dem Thema Motivation am Arbeitsplatz eine wachsende Aufmerksamkeit zu? Schlichte Antwort: Weil die Menschen sich nicht so verhalten, wie es derjenige möchte, der über Motivation spricht!

6.2

Individuelles Leben: Wir machen nicht immer das, was andere von uns wollen

Damit Manager ihre Aufgabe erfüllen können, müssen andere Menschen sich in ihrem Verhalten nach einem gemeinsamen Erfolgsmodell richten. Solange dies geschieht, wird das Thema Motivation im Führungszusammenhang kaum auftauchen. Die Situation sieht völlig anders aus, wenn Mitarbeiter nicht mehr „das Richtige“ tun. So genannte Motivationsprobleme lassen sich aber weder durch die Forderung nach motivierender Führung noch durch erhöhten Druck oder organisatorische Veränderungen lösen. Fragen wir doch lieber zunächst nach den Ursachen der Situation. Aus unserer Perspektive sind da nur drei denkbar: „ Der Mitarbeiter hat kein Interesse mehr an der gemeinsamen Aufgabe! „ Der Mitarbeiter glaubt nicht mehr an das Erfolgsmodell! „ Der Mitarbeiter ist nicht in der Lage, das Notwendige zu tun! Wenn wir die erste Ursache einmal ausschließen, dann stellen wir fest, dass die anderen beiden insbesondere in Zeiten auftauchen, in denen sich Veränderungen abspielen, die die Anpassungsfähigkeit der Menschen übersteigen. Sie verhalten sich nicht mehr zweckmäßig bzw. erwünscht. Da unzweckmäßiges Verhalten der Mitarbeiter und Führungskräfte (denn ohne Zweifel gilt dies für beide Gruppierungen) die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens gefährdet, sollen sie „motiviert“ werden. Um korrekt zu sein: Eigentlich sollen sie in aller Regel nur dazu gebracht werden, sich unter veränderten Bedingungen wieder zweckmäßig zu verhalten! Ich möchte in unserem Zusammenhang nicht zwischen Mitarbeiter und Führungskräften unterscheiden! Beide haben unter den beschriebenen Umständen Motivationsprobleme. Der Unterschied liegt nur darin, dass man von den Führungskräften erwartet, das Motivationsproblem der Mitarbeiter zu lösen und sich ganz nebenbei auch noch selber zu motivieren.

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Die Führung nicht verkomplizieren

Wenn über Motivation gesprochen wird, geht es im Kern darum, dass Menschen das tun sollen, was innerhalb des Erfolgsmodells notwendig ist – und es nicht tun. Gleichzeitig stellen Unternehmen zunehmend fest, dass man an das Beste im Menschen (z. B. seine Initiative, seine Kreativität, seine Begeisterung und sein persönliches Engagement) nicht mit Zwang oder einfachen „Ködern“ kommt. Sie geben es nur freiwillig – oder gar nicht. Auch in diesen Momenten wird das Zauberwort Motivation gerne eingesetzt. Im Grunde geht es hier um die paradoxe Aufgabe, jemanden dazu zu bringen, etwas freiwillig zu geben. Der Grundgedanke besteht offenbar darin, dass eine Führungskraft etwas Motivierendes tut, damit sich Mitarbeiter engagiert „richtig“ verhalten. Es entsteht zunehmend eine Kultur, die auf die Forderung hinausläuft: „Chef, ich fühle mich heute so lustlos. Lass Dir was einfallen.“ Halten wir fest, dass es in diesem Zusammenhang zumindest zwei Ziele sorgfältig zu unterscheiden gilt: „ Die Menschen sollen sich wieder zweckmäßig, d. h. den veränderten Notwendigkeiten entsprechend, verhalten. Nennen wir dies der Klarheit halber Motivationsstufe 1. „ Die Menschen sollen ihr Bestes geben. Hier haben wir dann Motivationsstufe 2.

6.2.1

Sich zweckmäßig verhalten: Motivationsstufe 1

Die Aufgabe erscheint mir eindeutig: Versetzen Sie als Führender die Betroffenen in die Lage, das zu tun, was das Erfolgsmodell erfordert, und gehen Sie nicht davon aus, dass jeder Mensch in der Lage ist, jede Verhaltensweise zu zeigen (Stichwort: Begabungen und Talente). Verlangen Sie nichts, was jemand nicht geben kann. Leistungsorientierung schafft man nicht durch wilde Reden und Motivationstricks, sondern durch Konzentration auf das Wesentliche. Der Mitarbeiter macht sich mit Eintritt in eine Organisation freiwillig zum „Instrument“ einer zweckorientierten Kooperation. Damit hat er das Recht zu erfahren, was von ihm erwartet wird, um den gemeinsamen Erfolg zu sichern, und er hat die Pflicht, die vereinbarten Spielregeln einzuhalten. Wir haben das als gegenseitiges Leistungsversprechen bezeichnet. Versuchen wir vor diesem Hintergrund, eine Checkliste zusammenzustellen: 9 Investieren Sie Zeit in die Frage, welches Verhalten Ihrer Meinung nach im jeweiligen Verantwortungsbereich wirklich zweckmäßig ist. Je klarer, bedeutsamer und unmissverständlicher das Erfolgsmodell ist, desto größer ist selbstverständlich die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Beteiligten zweckmäßig verhalten. 9 Sagen Sie jedem, welches Verhalten Sie sich warum von ihm wünschen. Die Menschen wollen erst einmal klar und deutlich hören, was man im Rahmen des „großen Ganzen“ von ihnen konkret erwartet! Sie fragen: Worin besteht mein Beitrag? Sie wollen Information, Orientierung und eventuell auch praktische Handlungsanweisungen.

Die Führung nicht verkomplizieren

181

9 Besprechen Sie mit den Betroffenen, was auf dem Weg zu diesem erwünschten Verhalten hinderlich sein könnte (z. B. fehlende Fertigkeiten, bestimmte Gewohnheiten, unglückliche Prozesse oder Organisationsformen). 9 Lassen Sie so viele Hindernisse wie möglich beiseite räumen (z. B. durch angepasste Abläufe, Seminare, persönliche Unterstützung, Bereitstellung von Ressourcen und Macht). 9 Erkennen Sie die Prozesshaftigkeit dieser Form der Motivation: o

geben Sie Rückmeldungen, ob alle auf dem richtigen Weg sind,

o

sprechen Sie Abweichungen rasch an,

o

befähigen Sie die Betroffenen auf jede nur erdenkliche Weise, das tun zu können, was von ihnen erwartet wird.

Aus meiner Erfahrung könnten sehr viele so genannte Motivationsprobleme vermieden werden, wenn diese einfachen Grundregeln berücksichtigt würden. Es wird wohl niemand besonders dazu motiviert werden müssen, ohne Hilfsmittel unter Wasser die Luft anzuhalten. Einer entsprechenden Bitte oder Anweisung würden die meisten Menschen Folge leisten, weil ihnen der Sinn einleuchtet, es zu ihrem eigenen Nutzen ist und es in ihrer Macht steht, das Notwendige zu leisten. Das ist das Grundprinzip der Motivationsstufe 1. Einzige Ausnahme: Jemand hat nicht das Ziel, die Situation unbeschadet zu überstehen. Das mag in diesem Fall der Entscheidung des Einzelnen überlassen werden können. Sofern ein gemeinschaftlich verfolgtes Ziel dahinter steht, muss die Führung etwas unternehmen. Dies wäre allerdings dann weniger eine Motivationsaufgabe als ein zu lösendes Problem.

In diesem Beispiel wird niemand begeistert die Luft anhalten. Man akzeptiert einfach die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit. Vergleichbar mögen einige Mitarbeiter die Archivierung von Aktenbergen nicht mit euphorischem Engagement betreiben, die Aufgabe aber dennoch wahrnehmen. Was aber, wenn dies auch nach mehrmaliger Aufforderung nicht geschieht? Wo der Mensch etwas leisten will, das kann immer nur er selbst entscheiden. Dabei ist es einfache Realität, dass Menschen an dieser Stelle sehr verschieden handeln. Die Grundentscheidung kann keine einzige Führungskraft der Welt einem Mitarbeiter abnehmen, wenn sie nicht in Zwang oder Manipulation verfallen will! Wenn jemand seine Aufgabe „im großen Ganzen“ allerdings nicht wahrnimmt, bricht er sein Leistungsversprechen. Wozu sollte er nun der Gemeinschaft nutzen? An dieser Stelle muss gefragt werden, ob jemand sich auf Kosten der Gemeinschaft etwas herausnimmt (Prinzip: Schmarotzertum), oder eine legitime Beschränkung seiner Aufgaben vornimmt (Prinzip: Arbeitsteilung). Entstehen aus der Situation Probleme bei der gemeinsamen Zielverfolgung (z. B. Unzufriedenheit im Team, unbewältigte Aufgaben, sinkende Leis-

182

Die Führung nicht verkomplizieren

tungsorientierung), die den Erfolg gefährden können, muss die Führung aktiv werden. Denn genau so haben wir die Kernaufgabe der Führung definiert. Ob es sich hier aber um eine Motivationsaufgabe handelt, erscheint mir fraglich. Wäre es nicht nahe liegender, dass die Vorstellungen und Erwartungen der Beteiligten unrealistisch sind (dann hätten wir eine Kommunikationsaufgabe), dass eine Überlastung vorliegt (dann hätten wir ein Kapazitätsproblem), die Koordination misslungen ist (dann läge eine Organisationsaufgabe vor), jemand nicht über die notwendigen Fertigkeiten verfügt (womit wir es mit einem Besetzungsoder Personalentwicklungsproblem zu tun hätten) oder jemand Wut im Bauch hat (womit wir vielleicht bei Gerechtigkeitsproblemen wären). Vielleicht wird also viel zu oft nach Motivation gerufen, wo ein genaueres Hinsehen wirkungsvoller wäre. Manchmal möchten Führende einen für die Gemeinschaft sehr wertvollen Mitarbeiter zu etwas bewegen, was dieser nicht tun will. Nachdem nichts gefruchtet hat, rufen sie letztlich nach Strategien, Tricks und Führungswerkzeugen, um ihre Wünsche zu verwirklichen. Sie kaufen Bücher und besuchen Seminare. Dabei ist die Sachlage recht einfach: Jeder Mensch entscheidet selbst, was er zu leisten bereit ist – und muss mit den sachlogischen Konsequenzen seiner Gemeinschaft leben. Es gibt keine „Zauberformeln“!

Schwierig wird die Situation dadurch, dass es in unserer Gesellschaft für einige Mitarbeiter möglich geworden ist, nahezu konsequenzfrei ihr Leistungsversprechen einseitig aufzukündigen. Wenn wir diese Sachlage weiter verfolgen wollten, würden wir aber den Boden des evolutionären Führungsverständnisses verlassen und in politische Felder geraten. Erlauben Sie mir, dies hier nicht zu tun und darauf zu setzen, dass es sich um kulturelle und zeitgeistige Ausnahmesituationen der heutigen Führungsaufgabe handelt. Werfen wir lieber einen Blick auf einen deutlich wesentlicheren Punkt: Die Motivationsstufe 1 verlangt neben den bisherigen quasi sachlogischen Argumenten eine weitere Leistung der Führung: Sie darf den Beteiligten nicht deren Ur-Energien rauben! Sie darf nicht de-motivieren! Hier ist keineswegs vom Gegenteil der Motivation die Rede. Motivation befasst sich mit der Energie für spezifische Verhaltensweisen, Demotivation mit den Grundenergien des Lebens. Wir können uns den Unterschied folgendermaßen verdeutlichen: Es bedarf einer gezielten Energie, um ein Fahrzeug ans Meer statt in die Berge zu lenken. Hier wird Grundenergie (Benzin) genutzt, um ein spezifisches Ziel anzustreben. Es gibt hier offenbar einen Beweggrund (Motiv), an die Küste zu fahren. Rauben wir dem Fahrer nun sein Benzin, hat er nicht mehr die nötige Kraft, anspruchvolle Reisen zu unternehmen. Wir haben ihn quasi „de-motiviert“, ihn der grundlegenden Energie beraubt. Es wäre vergeblich, jetzt bestimmte Ziele einzufordern.

Wir machen es jemandem sehr schwer, sich zweckmäßig zu verhalten, wenn wir ihm seine Grundenergien nehmen. Aber genau hier sind meiner Erfahrung nach die größten Führungssünden rund um das Thema Motivation zu finden. Bedauerlicherweise wissen die meisten Manager nicht, was sie alles mit welchen Konsequenzen tun. Während sie einerseits z. B. oft

Die Führung nicht verkomplizieren

183

die notwendige Klarheit in ihren Aussagen vermissen lassen (vielleicht aus lauter Sorge vor einem Konflikt), begehen sie andererseits völlig unnötige Fehler. Hier eine kleine Sammlung: Grundenergie/ -bedürfnis

Die „Kunst der Demotivation“

verstehen wollen

Willkür, Intransparenz, Verwirrung, Mehrdeutigkeiten, Orientierung verweigern …

wirksam sein wollen

massive Zwänge, unnötige Einschränkungen, Ohnmacht beweisen, Ideen ins Leere laufen lassen …

anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft sein wollen

Wunsch nach Geborgenheit frustrieren, Demütigung und Kränkung, Vertrauen verweigern und Misstrauen fördern, Anerkennung nicht erleben lassen …

Körper sein

Kraft sammeln verweigern, schädliche Arbeitsbedingungen, fehlende Fürsorge …

überleben wollen

Angst und Hoffnungslosigkeit erleben lassen …

Die Vermeidung von Demotivation ist erfahrungsgemäß wichtiger als das „Erfinden“ immer neuer Motivationsinstrumente. Wer sich am evolutionären Führungsmodell orientiert, für den wird dieser Punkt leichter einzuhalten sein. Die verbleibenden Risiken habe ich unter dem Stichwort „Legitimation: Die Macht muss erhalten bleiben“ besprochen. Wir können an dieser Stelle festhalten, dass unser Ansatz bisher durchaus die Anliegen derjenigen berücksichtigt, die das Phänomen Motivation als Hauptaufgabe der Führung definiert sehen wollen. Es erscheint unnötig, die Motivationsstufe 1 als separaten Punkt aufzunehmen. Was aber hat es mit der Motivationsstufe 2 auf sich?

6.2.2

Das Beste geben: Motivationsstufe 2

Auch hier gilt: Wenn es darum geht, dass Menschen ihr Bestes geben, dann dürfen wir zunächst einmal nichts tun, was dem im Wege steht! Die erste Stufe der Motivation muss also erfolgreich erklommen worden sein. Von nun an befinden wir uns allerdings im Bereich der Höchstleistung, d. h. im Ausnahmezustand. Unser Bestes geben wir dann, wenn die anstehende Aufgabe uns „reizt“ und unsere Möglichkeiten voll ausschöpft – ohne uns zugleich durch Angst zu lähmen. Mutter Natur hat es so eingerichtet, dass unser Organismus am besten funktioniert, wenn es für uns darauf ankommt. Ursprünglich waren das Situationen, in denen es um Sieg oder Flucht ging. Unser Organismus wurde dann sehr schnell auf die anstehende Aufgabe vorbereitet: Unser Herz schlug schneller, die Atemfrequenz erhöhte sich, das Blut wurde in die großen Muskelpartien gepumpt, die Schweißdrüsen nahmen ihre Arbeit auf, unsere Konzentration schärfte sich usw. Beste Voraussetzungen für körperliche Höchstleistungen – nicht so gute Voraussetzungen zur

184

Die Führung nicht verkomplizieren

Lösung beispielsweise komplexer mathematischer Probleme! Die sind nämlich neueren Datums! Wissenschaftler haben mittlerweile festgestellt, dass das Grundprinzip nach wie vor Bestand hat: Beste Leistungen bei optimaler Einstellung des Organismus! Diese optimale Einstellung ist allerdings von Aufgabe zu Aufgabe verschieden. Und nicht nur das: Sie ist auch von Mensch zu Mensch verschieden. Wir bewegen uns also mit der Motivationsstufe 2 in einem hochgradig individuellen Bereich: „ Welche Aufgabe „reizt“ wen wirklich? „ Wessen Möglichkeiten sind genau darauf abgestimmt? „ Wie sieht die optimale Einstellung der jeweiligen Person aus? Die Führung kann nichts weiter – aber auch nichts weniger – tun, als Antworten auf diese Fragen zu finden und die Bedingungen für persönliche Höchstleistung so weit es geht sicherzustellen. Die Lage ist vergleichbar mit der Situation von Hobby- und Hochleistungs-Teamsportlern. Zunächst einmal ist Voraussetzung, dass jemand überhaupt das Interesse an der jeweiligen Sportart hat. Es macht keinen Sinn, dass der Spielführer jemanden zur Teilnahme zwingen oder ständig aufs Neue dafür gewinnen muss. Die Grundmotivation für das gemeinsame Projekt bringt man mit, sonst gehört man einfach nicht dazu. Ende! Und wenn ein Sportler allen anderen das Spiel verdirbt, weil er sich nicht an den Regeln orientiert, also seinen Part des Leistungsversprechens nicht hält, wird er wieder verabschiedet. Motivationsstufe 1 setzt voraus, die Regeln zu kennen (Erfolgsmodell) und die Fähigkeiten zu haben, das Notwendige zu tun. Gleichzeitig ist es wichtig, dem Spieler nicht die Lust an der gemeinsamen Aktivität zu nehmen (keine Demotivation durch andere oder die Rahmenbedingungen). Unter diesen Voraussetzungen kann man es prinzipiell vom Hobbyspieler bis zum Profi bringen. Motivationsstufe 2 verlangt dann vom Sportler eine besondere Leistungsmotivation (die Aufgabe muss ihn „reizen“) und eine zunehmende Spezialisierung (den eigenen Talenten und Möglichkeiten entsprechend). Zudem muss er in der Lage sein, sich jeweils aufs Neue zum Training und Wettkampf optimal einzustellen. Wenn die Leistungsdichte immer mehr zunimmt, es letztlich auf winzige Unterschiede ankommt, rücken besondere Begabungen, exzellente Rahmenbedingungen und individuelle Feinheiten in den Vordergrund. Vielleicht hat mittlerweile jeder Topsportler ein individuelles Betreuerteam und auf ihn ganz persönlich zugeschnittene Trainings- und Leistungsbedingungen. Hobby- und Profi-Spielführer müssen bei all dem „nur“ die Aufgaben der evolutionären Führung erfüllen. Motivieren, im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs, müssen sie nicht.

Wir können die Energien (z. B. Hunger) eines Menschen weder weg noch herbei reden. Sie sind da oder eben nicht. So genannte Motivationskünstler puschen schlichtweg auf. Sie ma-

Die Führung nicht verkomplizieren

185

chen uns „trunken“, sprechen unsere Phantasie an, erhöhen unseren Adrenalinspiegel. Das ist genau der Grund, warum wir uns einige Zeit danach leer und ausgelaugt fühlen. Vielleicht sehnen wir uns sogar zurück nach dem energetischen Zustand, wollen das Erlebnis wiederholen – wir sind süchtig geworden. Mit dem, was Tag für Tag von uns im Berufsleben gefordert wird, hat dies wenig zu tun. Motivation ist Bestandteil der Identifikation mit der eigenen Aufgabe und der Organisation. Robust muss die Motivation sein, damit sie nicht bei der ersten Bewährungsprobe zusammenbricht. Motivation, die ständig hergestellt werden muss, ist nichts wert. Es geht also nicht darum, Beschäftigte zu motivieren, sondern darum, allen Beteiligten den Grund für Existenz und Erfolg der Organisation zu vermitteln. Die Entlarvung der Widersinnigkeit gängiger Motivationspolitik und -praxis ist kaum irgendwo besser gelungen, als in Reinhard Sprengers Buch „Mythos Motivation“. Er zeigt auf, dass die üblichen Motivationsinstrumente von der Grundannahme ausgehen, dass Mitarbeiter nicht freiwillig das tun, wozu sie der Organisation beigetreten sind und wofür sie bezahlt werden. Darüber kann man offenbar nicht mit ihnen reden, sondern muss sie verdeckt zur Leistungssteigerung bringen. Misstrauen und Manipulation sind daher Grundbestandteile dieser Ansätze. Leider argumentiert Sprenger durchgängig in dem ihm eigenen, unterhaltsam-zynischen Stil und unterstellt, dass jeder sich an einem Größeren beteiligende Mensch sein eigenes „schwaches Ich“ kompensieren will. Diese Perspektive kann ich ganz und gar nicht teilen: Vielleicht bedarf es gerade eines starken Ichs, um die eigenen Grenzen zu erkennen und anzunehmen. Sich für größere Ziele zusammenzutun, muss sicherlich nicht ein Zeichen der Schwäche sein. Es ist vielmehr der Kern unserer Existenz. Dafür lohnt es sich, sein Bestes zu geben!

7.

Kulturunterschiede: Für die Essenz unwesentlich

„Wir Menschen sind eine einzige große Gemeinschaft von Geschwistern, nicht viel mehr als 100.000 Jahre alt, die bislang keine Zeit hatte, fundamentale Unterschiede zu entwickeln, sondern lediglich einige äußere Anpassungen hinsichtlich Hautfarbe und Aussehen.“143 Wir sind alle genetisch verwandt mit einer Frau, die vor maximal 150.000 Jahren in Afrika gelebt hat. Alle anderen Familien, die zur gleichen Zeit lebten, sind ausgestorben144. Was hat es denn dann überhaupt mit kulturellen Unterschieden auf sich – wenn sie offensichtlich nicht in erster Linie genetischer Natur sind? Im Grunde lassen sich zwei Quellen für kulturelle Unterschiede differenzieren:

143 Engeln, H., Wir Menschen. Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen, 2004, Frankfurt/ M.:

Eichborn, S. 157 144 Wells, S., Die Wege der Menschheit. Eine Reise auf den Spuren der genetischen Evolution, 2003, Frank-

furt: Fischer

186

Die Führung nicht verkomplizieren

„ Alle evolutionsbedingten Mechanismen unserer Spezies reagieren natürlich auf Umweltbedingungen und einige Phänomene könnten in manchen Gruppen bzw. Regionen häufiger ausgelöst werden als in anderen (z. B. Hautfarbe als Reaktion auf Sonneneinfluss). „ Eine völlig andere Form kulturellen Einflusses stellt dagegen die Übertragung von Ideen und Vorstellungen dar. Es ist zu vermuten, dass sich in verschiedenen Gruppen eine „eigene Welt“ entwickelte, eine Art „Ideen- und Werte-Biotop“. Dabei ist anzunehmen, dass sich diese rund um einen universalen Kern, um urmenschliche Grundphänomene, bilden. In unserem Zusammenhang können wir festhalten, dass jede Gesellschaft ein Wort für Führer hat145. Das Grundphänomen ist folglich nicht nur überall bekannt, sondern auch den kulturellen Austausch wert. Ones146 hält fest, dass die Struktur der Persönlichkeit bei Völkern auf der ganzen Welt sehr vergleichbar ist. Auch die Vorhersage von Verhalten ist gleichartig. Allerdings unterscheiden sich die Ausprägungen der verschiedenen Komponenten. Wie stehen Führungsspezialisten zum Thema? Malik formuliert hier recht kompromisslos: „Der Gedanke der Kulturabhängigkeit ist nahe liegend und verständlich, aber er ist falsch. Es liegt eine Verwechslung zwischen dem Was und dem Wie von Management vor. Was wirksame Führungskräfte tun, ist in allen Kulturen gleich oder doch sehr ähnlich … So findet man in jeder gut geführten Organisation beispielsweise definierte Ziele und eine funktionierende Kontrolle“147. Es gibt seiner Ansicht nach wenig Gründe, besonderes Aufhebens vom interkulturellen Management zu machen, wenn man davon absieht, dass es in jedem Land bestimmte Sitten und Gebräuche gibt, die man als „elementare Höflichkeit erstens zu kennen und zweitens zu respektieren hat.“ Er zieht eine Parallele zu einem anderen menschlichen Betätigungsfeld und weist darauf hin, dass es genauso wenig nationen- oder kulturabhängigen Sport gibt. Es ginge allein um die Unterscheidung von gutem und schlechtem Management. Auf der einen Seite folgen wir in Bezug auf unsere Kernaufgabe der Führung völlig der Argumentationslinie von Malik. Auf der anderen Seite kann es unseres Erachtens durchaus entscheidende kulturelle Unterschiede geben, die auch für das Phänomen Führung Berücksichtigung finden müssen. Wissenschaftler konnten z. B. zeigen, dass in verschiedenen Nationen, Weltreligionen und Kulturkreisen für den Prototyp der herausragenden Führungsperson zum Teil unterschiedliche Akzente gesetzt werden. Studien belegen auch, dass auch in Bezug auf Einstellungen zu Arbeitszielen, Bedürfnissen und Werten zwischen verschiedenen Kulturräumen unterschieden werden kann148.

145 Buckingham, M., The One Thing. Worauf es ankommt, 2006, Wien: Linde, S. 134 146 Ones, Deniz S., Welchen Stellenwert hat „Persönlichkeit“ im Arbeitsleben?, in Wirtschaftspsychologie

aktuell, 3/2005, S. 35-38 147 Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne, S.

40 148 Laurent, A., The cultural diversity of western conseptions of management, in: International Studies of

Management and Organization 13, 1983, S. 75-96

Die Führung nicht verkomplizieren

187

Unterstützung findet die differenzierte Sicht durch eine große interkulturelle Studie (Forschungsprogramm „Globe“), die universelle und kulturabhängige Führungseigenschaften identifiziert149. universell positiv

universell negativ

kulturabhängig

vertrauenswürdig, glaubwürdig, gerecht, ehrlich, weitblickend, plant im Voraus, ermutigend, informiert, qualitätsorientiert, positiv, dynamisch, Motivanreger, Vertrauensentwickler, motiviert, zuverlässig, Koordinator, intelligent, entschlossen, bestimmt, wirksamer Verhandler, „Win-WinProblemlöser“, geschickt in Verwaltungstätigkeit, kommunikativ, Teamentwickler

Einzelgänger, ungesellig, unkooperativ, reizbar, unklar, egozentrisch, rücksichtslos, diktatorisch

ehrgeizig, vorsichtig, mitfühlend, dominierend, unabhängig, individualistisch, logisch, ordentlich, aufrichtig, weltlich, formell, sensibel

Zunächst erscheint es interessant, dass die universell positiven und negativen Eigenschaften überwiegen – und zweifellos mit unserem evolutionspsychologischen Profil des Führenden vereinbar sind. Eine andere Frage ist, inwieweit einzelne Managementtechniken auf fremde Kulturen übertragbar sind. Hier haben zwei Forscher bereits 1961 einige Stellungnahmen festgehalten, denen bis heute nicht widersprochen ist150: „ Es gibt eine begrenzte Anzahl von Problemen, für die alle Menschen zu jeder Zeit eine Lösung finden müssen. „ Es gibt eine begrenzte Anzahl von sinnvollen Alternativen, um mit diesen Problemen umzugehen. „ Alle Alternativen sind in allen Gesellschaften zu jeder Zeit vorhanden. Aber einige werden gegenüber anderen vorgezogen. „ Jede Gesellschaft hat ein dominierendes Profil von Werteorientierungen und einspezifisches „Bevorzugungsmuster“. „ In einer Gesellschaft, die einen Wandel durchläuft, wird dieses Bevorzugungsmuster nicht klar zu erkennen sein.

149 Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, S. 529 150 Kluckhohn, F. & Strodtbeck, F. L., Variations in value orientation, 1961, Evanston, Ill.: Row, Petersen

188

Die Führung nicht verkomplizieren

Neuere Untersuchungen scheinen zudem Hinweise zu liefern, dass ein Austausch von Facetten aus mehr individualistischen und mehr kollektivistischen Kulturräumen durchaus erfolgreich sein kann151. Aber das ist im Grunde nichts Beeindruckendes: Menschen können halt voneinander lernen. Zusammenfassend betrachtet werden folgende evolutionspsychologischen Annahmen durchaus eher bestätigt als widerlegt: „ Die Kernaufgabe der Führung ist kulturell unbeeinflusst. „ Die technischen und fachlichen Fertigkeiten, wie ein Unternehmen zu führen ist, weisen vermutlich kaum Unterscheidungen auf. „ Es gibt eine Anzahl universaler (positiver wie negativer) Führungseigenschaften bzw. -erwartungen. „ Die Erwartungen an Führende sind in einigen Facetten auch kulturell gefärbt. „ Die Normen des zwischenmenschlichen Umgangs sind recht deutlich kulturell gefärbt, betreffen aber im Grunde dieselben menschlichen Grundprobleme bzw. -themen. Zumindest in Bezug auf diesen „gemeinsamen Nenner“ besteht die Chance gegenseitigen Verstehens.

Es gibt also auch aus Kultur vergleichender Perspektive genug Hinweise dafür, dass eine Essenz der Führung Sinn macht. Und unser Puzzle ist soweit gediehen, dass es eine handfeste Bedeutung für unsere Schatzsuche hat. Zugleich haben wir mit den bisherigen Überlegungen eine Theorie erarbeitet, die wir als Management-Profiler brauchen. Wir sind gut vorangekommen. Völlig „rund“ sind wir noch nicht. Offen ist beispielsweise, wie man zu einer guten Führungskraft wird. Bevor wir uns dieser Frage widmen, lassen Sie uns an dieser Stelle aber zunächst noch einen abschließenden Blick auf unser Thema Profiling werfen.

151 Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz, S. 96

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Die Kernpunkte der Evolutionären Führung im Überblick: Hauptaufgabe Führende müssen das wertvollste Erfolgsmodell anbieten

Aspekte „ Sinn: Die Bedürfnisse und Ziele der Gemeinschaft verstehen „ Vision: Eine attraktive Zukunft anbieten „ Funktionalität: Die Erfolgsgesetze des großen Ganzen verstehen „ Auftritt: Das Erfolgsmodell wirkungsvoll anbieten

Eine gemeinsame Wirklichkeit ist für den Erfolg wesentlich

„ Essenz: Den unumstößlichen Kern des Erfolgsmodells klar machen „ Integration: Maßgebliche Bausteine individueller Erfolgsmodelle berücksichtigen „ Konflikt: Keine Kompromisse in Bezug auf das Wesentliche eingehen „ Präsenz: Das Erfolgsmodell in allen Köpfen bewusst halten

Um Ziele zu erreichen, müssen Probleme gelöst werden

„ Wachsamkeit: erkennen

Die

wesentlichen

Probleme

„ Navigation: Den Problemen auf dem Weg zum Ziel ausweichen „ Änderung: Die wesentlichen und unvermeidlichen Probleme lösen Macht-Worte sind manchmal notwendig

„ Entscheidung: Vorhandene Kräfte dürfen sich nicht gegenseitig aufheben „ Wirksamkeit: Die notwendige Macht muss vorhanden sein „ Legitimation: Die Macht muss erhalten bleiben

Die Führung nicht verkomplizieren

Teil III: Die Kompetenz zur Führung

191

Mit einer guten Theorie an die Praxis

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Mit einer guten Theorie an die Praxis

„Es gilt, ausgehend von beobachtbaren, der objektiven Messung zugänglichen Indizien, Erlebens- und Verhaltensmuster zu beschreiben und abstraktere Eigenschaften abzuleiten.“ S. Müller, D. Köhler & G. Hinrichs, Kriminalpsychologen

Mit unseren bisherigen Überlegungen haben wir uns also die Theorie verschafft, die wir als Management-Profiler brauchen. Wir sind nun in der Lage, vorhandene Daten zu interpretieren. Wollen wir es einmal versuchen? Wie wir bereits an früherer Stelle festgestellt haben, nützt uns die Aussage, dass knapp 62 Prozent der Führungskräfte die Individualität ihrer Mitarbeiter respektieren, nicht viel. „ Uns fehlten zum einen sinnvolle Vergleiche. Die Information war sofort deutlich interessanter, als wir feststellten, dass bei einer bestimmten Gruppe von Managern, diese Zahl nur noch bei 34,5 Prozent liegt: Es waren die, die in ihrer Führungsrolle Akzeptanz finden152. „ Zum anderen fehlte uns bislang eine wertvolle Theorie. Wie genau sollen diese Daten erklärt werden? In welchen Bedeutungszusammenhang gehören sie? Die so genannten Hardliner hätten die Daten so interpretiert: „Ganz klar, wenn du durchgreifst, dann respektieren deine Leute dich auch. Wenn du auf jeden Einzelfall eingehst, halten dich alle für ein Weichei und es ist nichts mit der Akzeptanz.“ Das Erklärungsmuster lautet hier also: Geringe Berücksichtigung der Individualität fördert Führungsakzeptanz. Hätten wir dieser Sicht, außer unserem Unwohlsein, etwas Handfestes entgegenzusetzen? Glauben Sie, wir würden unseren Gesprächspartner überzeugen können, dass er falsch liegt? Und was würde ein so genannter Softliner sagen? „Von wem stammen diese Daten denn überhaupt? Ich glaube nur an die Statistik, die ich selbst gefälscht habe. Überlege doch nur mal, ob du so geführt werden willst.“ Logischerweise und unvermeidlich interpretiert jeder die Wirklichkeit im Rahmen seines eigenen Erfolgsmodells. Das ist uns ja mittlerweile auch aus unseren evolutionspsychologischen Überlegungen heraus bewusst. Aber wie lösen wir das damit verbundene Problem? Unser evolutionärer Führungsansatz würde folgende Sichtweise nahe legen: Wenn der Führende erfolgreich seine Kernaufgabe erfüllt, findet er innerhalb der Gruppe Akzeptanz. Diese 152 Diese Werte stammen aus unserer CST-Management-Profiling-Datenbank mit weit über 100.000 Einzelda-

ten.

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Mit einer guten Theorie an die Praxis

Ausrichtung muss für ihn im Zweifelsfall eine höhere Priorität haben als die Individualität des Einzelnen. Damit wird er sich statistisch in diesem Punkt von Menschen unterscheiden, die keine Führungsaufgabe wahrnehmen. Wohlgemerkt: Nicht das geringe Respektieren der Individualität bedingt die Führungsakzeptanz! Für sich alleine würde sie wohl nur die Legitimation gefährden. Und auch die Aussage, Manager seien von ihrer Persönlichkeit her schlichtweg Ignoranten, ist falsch! Sie könnten durchaus hochgradig einfühlsame Menschen sein, die selbst darunter leiden, sich den Einzelschicksalen nicht ausreichend widmen zu können. Hier würde unsere Erklärung zu einer massiv anderen Schlussfolgerung führen als die unseres Hardliners oder eines Zynikers. Wir würden aber auch nicht einfach die Fakten völlig in Frage stellen, um unser Weltbild aufrechtzuerhalten, wie der Softliner es in unserem Beispiel tut. Vergleichbar ist die Situation vielleicht ein wenig mit der Lage eines Chirurgen, der schwer damit ringt, einem Patienten ein Bein abzunehmen, um sein Leben zu retten. Es wäre ebenso erschreckend, wenn der Arzt sein Handeln nach der Theorie ausrichten würde, dass Einbeinige besser überleben, wie davon auszugehen, dass Chirurgen Persönlichkeiten sind, die gerne Beine amputieren. Aber genauso wie in diesem Beispiel dem Arzt die Achtsamkeit für die Einzigartigkeit der Situation verloren gehen kann (wir würden sagen: „Er stumpft ab“), unterliegen auch Manager dieser Gefahr. Sie können ihr am erfolgreichsten begegnen, wenn sie sich immer wieder auf die Hauptaufgaben der evolutionären Führung konzentrieren.

Natürlich hätte unsere Profiling-Erklärung einen noch höheren Wert, wenn wir nicht nur Einzeldaten, sondern Muster hätten. Bislang bewegen wir uns auf einem Niveau, das nicht einmal der Situation entspricht, folgende Informationen zu haben: Der gesuchte Text setzt 24 Buchstaben ein, davon tauchen 4 nur einmal auf. Der häufigste Buchstabe ist mit fast 16 Prozent das e, dann folgen n (9,4 %), i (8,6 %), s und d (mit je 7,9 %). In 70 Prozent der Worte, die ein i enthalten, findet sich auch ein e. Selbst wenn wir komplett alle Häufigkeiten der eingesetzten Buchstaben hätten, würden wir wohl niemals herausbekommen, was in diesem Text153 steht. Wir brauchen Bezüge zwischen diesen Buchstaben, wir brauchen Muster. Die Darstellung „D gwöhnlihe Drstelng is ür dn Studirendn notwndg, dr knap Auszg ür Wissnde: jen belert, disr bgnügt sic mt Hiweisn“ macht es uns schon leichter, obwohl es sich um einen ca. 2.000 Jahre alten Sprachstil handelt. Da unser Wahrnehmungssystem auf Mustererkennung ausgelegt ist, müssen wir unser Anliegen auch darauf ausrichten. Es ist weit entscheidender, wesentliche Grundmuster zu identifizieren, als unendlich viele, ungeordnete Details.

153 „Die gewöhnliche Darstellung ist für den Studierenden notwendig, der knappe Auszug für Wissende: jene

belehrt, dieser begnügt sich mit Hinweisen.“ (Seneca, Philosoph und Politiker, lebte zu Beginn unserer Zeitrechnung)

Mit einer guten Theorie an die Praxis

195

Es gibt einerseits statistische Methoden, die Muster suchen. Wussten Sie beispielsweise, dass es in den Jahren, in denen viele Störche schlüpfen, in manchen Ländern auf der Welt zu mehr Geburten bei den Menschen kommt? Ein nettes kleines Muster, das bei manchen Personen zu Interpretationen führt, die nachweislich Unsinn sind. Und es gibt andererseits die theoriegeleitete Suche nach Mustern. Mögen Sie ein spannendes Beispiel? Unser evolutionäres Modell würde zum einen erwarten lassen, dass Führungskräfte einen Vorsprung haben, den sie auch behalten wollen. Frei nach dem Motto: Wissen ist Macht. Sie würden also ihre Erfahrungen für sich behalten. Entgegen der populären Wertediskussion würde unser Modell zum anderen gleichzeitig unterstellen, dass diese Führungskräfte auch mehr Akzeptanz bei ihren Mitarbeitern finden als diejenigen, die ihre Erfahrungen teilen und damit ihren Vorsprung zunehmend einbüßen. Na, dann wollen wir mal sehen! Setzen wir in unserer CST-Management-ProfilingDatenbank die Kategorie „teilt Erfahrungen“ doch einmal auf „ja“. Ergebnis: In dieser Gruppe von Managern steigt die Anzahl akzeptierter Führungskräfte nicht. D. h., auf diese Weise würde es Ihnen nicht gelingen, Ihr Ansehen als Manager bei Ihren Mitarbeitern zu steigern. Wohlgemerkt: Wir sprechen nicht davon, ob Sie damit die Gemeinschaft kompetenter machen würden oder als netter erlebt werden. Wir sprechen davon, ob Sie in Ihrer Führungsrolle eine höhere Legitimation bekämen. Was geschieht, wenn wir den Wert auf „nein“ setzen? Diese Gruppe findet 84 Prozent häufiger Führungsakzeptanz als die Gesamtgruppe. Der erlebte Vorsprung bringt es – ob es uns gefällt oder nicht.154

Unser Hardliner frohlockt an dieser Stelle vielleicht wieder: „Seht Ihr! So mach ich’s schon immer.“ Er biegt sich seine Realität zurecht – und übersieht das Gesamtmuster. Unser Ansatz macht das Problem deutlich: Was fängt man mit einer Jagdgruppe an, in der niemand etwas leisten kann, außer man selbst? Woran die Gruppenmitglieder scheitern, muss der Führende persönlich ausgleichen, um die gemeinschaftliche Zielsetzung zu verwirklichen. Kann er irgendwann nicht mehr sicherstellen, dass die Gemeinschaft satt wird, ist er seine Rolle los. Die Natur des Phänomens Führung interessiert sich nicht für Wertediskussionen. Sie folgt verblüffend emotionsfrei ihren eigenen Spielregeln. Zurück zu unserem roten Faden: Statistische Methoden und theoriegeleitete Suche nach Mustern ergänzen sich also sehr gut. Kommen wir auf diese Weise der Führungskraft an sich eventuell doch ein wenig näher, indem wir Methoden des Profilings mit der Theorie des evolutionären Führens verknüpfen? Machen wir uns auf die Suche nach dem, was man Führungskompetenz nennt.

154 Wenn Ihnen mehr daran liegt, die Gemeinschaft kompetent zu machen, und Sie dennoch Ihre Erfahrungen

teilen wollen, setzen Sie zumindest klare Ziele. Dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Sie zu den akzeptierten Führungskräften gehören, von null auf 35 Prozent. Das ist doch schon etwas, nicht wahr?

Führungspersönlichkeit: Mythos oder Realität?

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Führungspersönlichkeit: Mythos oder Realität?

„Maßgeblich ist … die konzeptionelle Differenzierung von pragmatischen Verhaltensweisen, die für die effektive und zielgerichtete Tatdurchführung notwendig sind (Modus Operandi) und solchen, die nicht zwingend erforderlich sind, sondern darüber hinausgehen (Personifizierung).“ S. Müller, D. Köhler & G. Hinrichs, Kriminalpsychologen

Wir wissen mittlerweile, dass der typische Führer nicht durch Charakteristika seiner Persönlichkeit bestimmt werden kann! Erfolgreiche Manager unterscheiden sich genau so deutlich voneinander, wie andere Menschen auch. Schon einige Grundideen der Führungsforschung sind aus meiner Sicht problematisch: „ Kann man aus der Tatsache, dass es Manager mit bestimmten, vielleicht sogar herausragenden Fähigkeiten gibt, folgern, dass genau diese Kompetenzen auch eine notwendige Voraussetzung erfolgreicher Führung sind? „ Und kann man durch Zusammenstellung dieser Kompetenzen dann eine ideale Führungskraft „basteln“? „ Erscheint es nicht geradezu unlauter, eine groß angelegte Sammlung individueller Stärken dann zu einer Anforderungsliste für Einzelne zu machen? Dies entspräche etwa dem Ansatz, die besten Eigenschaften jeder Säugetierart zusammenzustellen, damit dann einen „Ideal-Säuger“ zu definieren – und jedes einzelne Tier an dieser Liste zu messen. Ein merkwürdiger Weg, der dennoch tagtäglich in den Unternehmen bei der Definition von Anforderungen an ihre (zukünftigen) Führungskräfte praktiziert wird. Aus der von uns bisher eingenommenen Perspektive verwirrt es nicht, wenn es – ab einem bestimmten Punkt der Sammelleidenschaft – immer ähnliche Eigenschaften sind, die in ihrem Beitrag zum Führungserfolg identifiziert werden können: Intelligenz, Aktivität/Energie/ Engagement/Fleiß, Erziehung/sozialer Status, Aufstiegswille/Dominanz, Selbstvertrauen/Sicherheit, Entschlossenheit, Ehrlichkeit, Leistungsmotiv/Drang, andere zu übertreffen/Ehrgeiz, Schulung, Kontaktfähigkeit/verbale Geschicklichkeit/Einfühlungsvermögen usw.155 155 vgl. Stogdill, R.M., Handbook of Leadership, 1974 und Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002,

S.251

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Führungspersönlichkeit: Mythos oder Realität?

Wenn wir Menschen über Eigenschaften verfügen, die in der Lage sind, die Kernaufgabe der Führung erfolgreich zu erfüllen, werden wir sie selbstverständlich einsetzen. Schließlich bringen wir in die Konfrontation mit den Herausforderungen der Umwelt unsere ganze Persönlichkeit ein. In Veröffentlichungen so genannter Anforderungen an Führungskräfte finden wir nur endlose Wunschlisten. Es ist zu erwarten, dass die Suche nach Führungseigenschaften letztlich einfach nur das komplette Repertoire menschlicher Fähigkeiten abbilden wird, sonst nichts. Wir können mittlerweile aus dem evolutionären Führungsansatz die grundlegende These ableiten, dass alle Versuche, spezifisches Führungsverhalten zu finden, scheitern müssen. Die Evolution selbst wird kein Wettrüsten in Bezug auf konkretes Führungsverhalten oder gar auf spezifische Führungs-Gene gefördert haben: „ Die Natur geht in aller Regel nicht den Weg der Perfektion. Hochgerüstete Lebewesen haben allgemein schlechte Überlebenschancen, weil sie auf andere Fähigkeiten verzichten müssen. Weit verbreitete Organismen sind daher mehr oder minder gelungene Kompromisslösungen, austariert zwischen widerstreitenden Anforderungen wie etwa Stärke und Schnelligkeit. Sie sind überlebensfähig; das ist das einzige, was zählt. Gerade in Bezug auf variable Anforderungen, wie die Führungsaufgabe sie stellt, bewährt sich ein vielfältiges Reaktions- und Handlungsrepertoire. Das wird nicht auf einzelne Gene rückführbar sein. „ Selbst wenn wir absurder Weise davon ausgehen würden, dass es genetische Grundlagen erfolgreicher Führer gäbe, wären wir biologisch wohl letztlich alle Nachkommen von ihnen. Schließlich behaupten Hardliner der evolutionären Perspektive, nur diese hätten sich „über biologische Ewigkeiten“ hinweg fortgepflanzt. Und wen kann wundern, dass es Forschern immer wieder problemlos gelingt zu beweisen, dass Führungsverhalten kontextabhängig ist? Jedes Verhalten ist dies! Und vor dem Hintergrund unserer Überlegungen ist es auch nicht erstaunlich, sondern zu erwarten, dass bislang keine überzeugenden Belege für die Überlegenheit eines Führungsstils zu finden sind. Die beeindruckende Schlussfolgerung in allen diesbezüglichen Studien lautet stets in irgendeiner Form: Es kommt darauf an! Ändert sich diese Situation, wenn wir Facetten der menschlichen Persönlichkeit zu Typologien weiterverarbeiten? Hier geht es dann nicht mehr um die Identifikation der einen IdealFührungspersönlichkeit, es geht um die Katalogisierung unterschiedlicher, aber typischer Führungspersönlichkeiten. Der längst totgesagte Typenbegriff wird teilweise wiederbelebt156, weil er sich zur Lösung konkreter Praxisprobleme als bereichernd erwiesen hat. Typen stellen eine konsequente Reduktion der Vielfalt menschlicher Charaktere dar, deren Bedeutung je-

156 Meehl, P. E., Factors and taxa, traits and types – Differences of degree an differences in kind, in: Journal of

Psychology 60, 1992, S. 117-174

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doch nachweislich recht stark von der methodischen Vorgehensweise abhängt, die angewandt wird. Aus der evolutionspsychologischen Perspektive kann gefolgert werden, dass charakteristische Merkmalsgruppierungen (die man durchaus als Typen bezeichnen kann) existieren. Der Mensch entwickelte sich nicht zufällig und unsystematisch, sondern in direkter Abstimmung mit Problemen seiner natürlichen Umwelt. Damit können Strukturen und Muster erwartet werden, die sich entdecken lassen müssen. Eine völlig andere Frage ist jedoch, ob dies bedeutet, dass es charakteristische Typen-Klassen von Führenden gibt. Ich stelle in diesem Zusammenhang folgende These auf: „ Wir können arttypische Muster finden, nicht jedoch stabile Führer-Muster, da sich Führende und Geführte evolutionär nicht in separaten Umwelten entwickelt haben. Daher wird es auch keine typischen genetischen Grundlagen für Führung geben. „ Die Muster, die sich führungsbezogen möglicherweise herausarbeiten lassen, werden eher Charakteristika führungsspezifischer Aufgaben oder der benutzten Forschungsmethodik widerspiegeln, als Managementtypologien abbilden. Bei der Gelegenheit: Würde irgendwann einmal glaubwürdig nachgewiesen, dass wir Menschen über keine charakteristischen Muster verfügen, dürfte der evolutionspsychologische Ansatz in Schwierigkeiten kommen. Dies wäre ein Forschungsergebnis, dem unser Konzept kaum widerstehen könnte. Ein solches gibt es allerdings nicht ansatzweise! Nachdem es nun der Forschung einfach nicht wirklich gelingen wollte, eine typische Führungspersönlichkeit zu identifizieren oder eine sachlogische Ordnung in die anstehenden Aufgaben zu bringen, suchte man zumindest Klärung darüber zu gewinnen, was erfolgreiche Manager denn so tun. Es gibt eine Forschungslinie, die viel Aufwand investiert, um so detailliert wie möglich zu sammeln, wie deren Alltag aussieht. Hier einige Ergebnisse157: „ Führungskräfte haben hohe Arbeitszeiten. „ Ihr Arbeitsalltag ist aus sehr vielen kurzen Episoden zusammengesetzt. „ Vorgesetzte kommunizieren hauptsächlich mündlich. „ Kontakte mit Untergebenen spielen zwar eine wichtige, aber bei weitem nicht die alleinige Rolle. „ Führungskräfte haben keinen festen Arbeitsplatz, sie sind unterwegs. „ Ihr Arbeitsalltag ist voll ungeplanter bzw. unplanbarer Kontakte und Ereignisse. Viel häufiger, als es der Mythos der souveränen Führungspersönlichkeit wahrhaben will, ist ein Manager gezwungen, einfach nur zu reagieren. 157 vgl. Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002, S.456 ff.

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„ Mit steigendem hierarchischem Niveau geht die unmittelbare Führung (von ca. 50 % auf ca. 20 %) zurück, Planung (von ca. 15 % auf ca. 30 %) und übergreifende Initiativen (von. ca. 10 % auf ca. 20 %) nehmen zu. „ Es bestehen große individuelle Unterschiede. So erhellend der eine oder andere solche Fakten gefunden haben mag, wenn er sie mit seinen eigenen Vorstellungen vom Alltag einer Führungskraft verglich: Es muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass kaum Studien vorliegen, die die Erfolgswirksamkeit dieser Verhaltensweise beleuchten. Salopp gesagt: Wen interessiert es, was Führungskräfte tagtäglich tun, wenn völlig unklar ist, ob und wie das zum Erfolg beiträgt? Zunächst einmal handelt es sich bei diesem Ansatz um ein nüchternes Registrieren von Praktiken, deren Bedeutung zumeist nicht erschlossen werden konnte. Es fehlt wieder einmal eine Theorie! Dem Phänomen Führung kommt man auf diesem Weg also keinen Schritt näher! In einer Studie mit 80.000(!) Führungskräften (Auswertungen von 5 Millionen InterviewProtokollseiten) wurde nach Charakteristika gesucht, was die Besten und Erfolgreichsten gemeinsam hatten. Wollen Sie wissen, welche konkrete Empfehlung letztlich abgegeben werden konnte? „Gute Manager haben begriffen, dass jeder Mensch seine eigene Motivationsstruktur besitzt, seine eigene Denkweise, seinen eigenen Umgangsstil. Sie wissen auch, dass sich Menschen nur bedingt ändern lassen. Doch sie beklagen diesen Sachverhalt nicht. Sie versuchen nicht, die Differenzen abzuschleifen. Stattdessen setzen sie alles daran, die Unterschiede zu nutzen.“158 Das war´s! Ist das nicht ein unglaubliches KostenNutzen-Verhältnis?

An dieser Stelle kommt der Verdacht auf, dass es vielleicht gar keinen Sinn macht, weiter nach Besonderheiten von Führungskräften zu suchen. Ist die Suche nach der erfolgreichen Führungskraft vergleichbar mit der Suche nach Atlantis? Forschen wir einem Mythos hinterher? Nein! Ich denke, wir sind mittlerweile in der Lage, ein Management-Profil zu erstellen. Wir müssen dazu von folgender Frage ausgehen: Aus welcher Gruppe stammt ein Mensch, der für die Tat „erfolgreiche Führung“ verantwortlich gemacht werden kann? Grundsätzlich behaupte ich, dass Führende im wahrsten Sinne des Wortes aus demselben Holz geschnitzt sind wie die Geführten. Ihre Funktionsweise ist gleich. Ein wesentliches Element unserer evolutionspsychologischen Überlegungen ist jedoch das Konzept des Musters und das der Wahrscheinlichkeiten. Wir haben zum einen unterstellt, dass es archaische Muster gibt. Gleichzeitig hat uns die Natur zum anderen darauf programmiert, individuelle Muster bilden zu können. Zusammen bilden diese beiden Mechanismen unseren Autopiloten. Wir werden vermutlich niemals genau herausfinden können, wie hoch der Anteil archaischer Aspekte an den Verhaltenswahrscheinlichkeiten ist und wie hoch der Anteil aus dem jeweiligen individuellen Lebenslauf. Für die Praxis ist dies jedoch auch gar nicht notwendig.

158 Buckingham, M./ Coffman, C., Erfolgreiche Führung gegen alle Regeln, 2001, Frankfurt/ M.: Campus

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Für uns wäre es schon ein riesiger Erfolg, wenn wir wirklich brauchbare Vorhersagen machen könnten: Wie wird sich ein bestimmter Mensch vermutlich verhalten, wenn wir ihn mit der Führungsaufgabe konfrontieren, und wie hoch ist dabei die Wahrscheinlichkeit seines Erfolges? Solche Aussagen wären wirklich etwas wert! Aber sind wir überhaupt grundsätzlich in der Lage, vernünftige Beurteilungen anderer Menschen abzugeben?

1.

Wir können Menschen realistisch beurteilen

In den vergangenen zwanzig Jahren konzentrierten sich die Forscher vor allem darauf, unsere zahllosen Unzulänglichkeiten in diesem Punkt aufzuzeigen. So entstand ein Zerrbild unserer Fähigkeiten, demzufolge wir meist kläglich daran scheitern, andere richtig einzuschätzen. Dabei gibt es gleichzeitig auch Spezialisten, die bewiesen haben, dass sie beispielsweise nach der Analyse eines sechzigminütigen Gesprächs zwischen Mann und Frau mit einer 95prozentigen Wahrscheinlichkeit vorhersagen können, ob das Paar in 15 Jahren noch verheiratet sein wird oder nicht. Wenn sie das Paar nur 15 Minuten lang beobachten, liegt ihre Erfolgsquote noch bei 90 Prozent159. Ist das nicht Wahnsinn? Nur der Vollständigkeit halber: Der Durchschnitt der in eine systematische Überprüfung dieser Fähigkeiten einbezogenen Befragten lag bei 53,8 Prozent richtiger Einschätzungen. Diese Menschen hätte also auch eine Münze werfen können. Und worauf glauben Sie, führen diese Spezialisten ihren Erfolg zurück? Der Grund für ihre beeindruckende Leistung läge in einer sehr sorgfältigen und systematischen Erforschung der zu Grunde liegenden Muster. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass jede menschliche Tätigkeit, und damit beispielsweise auch die Ehe, eindeutige und unverwechselbare Muster hat. Sie hatten gelernt, dass sie nicht auf jede Kleinigkeit schauen mussten, sondern selektiv auf die wesentlichen Aspekte achten. Das ist das gleiche Prinzip, nach dem unser evolutionär entstandenes, vorbewusstes Entscheidungsprogramm vorgeht: Es überblickt die Situation, in der wir uns befinden, sortiert alles Unwichtige aus und konzentriert sich absolut auf das Wesentliche, um unmittelbar bedeutsame Muster zu erkennen. Fehleinschätzungen ergeben sich vor allem dadurch, dass uns zu wenige zuverlässige und bedeutsame Indizien zur Verfügung stehen. In einem solchen Fall setzen wir auf Klischees – die ja dann zumindest die bestmögliche Hypothese darstellen. Die Forscher gaben den unerfahrenen Beobachtern später eine Liste mit wesentlichen Kriterien an die Hand, nach denen diese Ausschau halten sollten. Als dann die Videos der Paare in kleine Sequenzen von je 30 Sekunden aufgeteilt wurden und diese häufiger angesehen werden durften, stieg die Erfolgsquote der Laien schon auf etwa 80 Prozent. Das

159 in Gladwell, M., Blink! Die Macht des Moments, 2005, Frankfurt: Campus

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Herausarbeiten der wichtigen Faktoren verlangt allerdings einen bedeutsamen Kontext. Es ist zwar offensichtlich möglich, innerhalb kürzester Zeit zu beurteilen, wie zwei Ehepartner zueinander stehen. Doch es reicht nicht aus, ihnen beispielsweise beim gemeinsamen Fernsehen zuzuschauen. Die beiden müssen über etwas sprechen, das zentrale Bedeutung für ihre Beziehung hat.

Wenn wir Menschen in einem bedeutsamen Kontext160 bei ihren Handlungen zusehen und genau wissen, auf was wir achten müssen, können wir offenbar beeindruckende Vorhersagen zu ihnen machen. Aber warum liegen wir dann so oft daneben? Die Profiling-Forschung weiß, dass „Spuren nicht lügen, doch das liegt nicht an einer besonderen Aufrichtigkeit von Spuren, sondern schlicht daran, dass sie nichts sagen. Spuren sind stumm. Allein die menschliche Vorstellungskraft ist beredt.“161 Jeder Beobachtungs- und Beurteilungsprozess stellt eine Konstruktion dar. Diese kann mehr oder weniger der Realität entsprechen, folgt aber zwangsläufig immer unseren eigenen Mechanismen, Vorurteilen, Theorien, Erfahrungen usw. Bei der Beurteilung von Menschen sind wir grundsätzlich mit zwei Problemarten konfrontiert: 1. unseren eigenen (unbewussten) Mustern, Überzeugungen, Werten, Glaubenssätzen, Einstellungen etc. und 2. den Täuschungsmanövern des anderen. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass die Kriminalprofiler, die in den Gefängnissen Interviews mit den Schwerstkriminellen führten, viele Erfahrungen mit dem Thema Täuschungen gemacht haben. Die Gesprächspartner waren sehr daran interessiert, ihr eigenes Selbstbild zu vermitteln oder den Interviewer bewusst zu manipulieren. Die Profis stellten fest, dass die Wahrheitsfindung letztlich eher einem Entdeckungsprozess als einem Interview ähnelt. Insbesondere der extrem guten Vorbereitung und einem hohen Wissen um die Kernthematik kamen aus ihrer Sicht größte Bedeutung zu. Der erfolgreiche Umgang mit Täuschern gehört zweifellos zur hohen Schule der Profiling-Kunst und erfordert viel Erfahrung und Kenntnis.

Eine Beurteiler-Gefahr liegt in uns selbst: Wir wissen zumeist nicht, wie wir zu unseren ersten Eindrücken kommen oder was sie genau bedeuten, also verstehen wir auch oft nicht, wann sie unzuverlässig sind. Wenn wir unsere Fähigkeiten zur Einschätzung wirklich ernst nehmen wollen, dann müssen wir erkennen, durch welche Einflüsse unser Unbewusstes auf eine falsche Fährte geführt wird. Grundsätzlich weisen Theorien beispielsweise darauf hin,

160 Der Nutzen von Assessment-Centern wäre damit wohl auch zu steigern, wenn wir bedeutsame Situationen

bei der Konzeption und relevante Muster bei der Beobachtung berücksichtigen würden. 161 Reichertz, J., „Meine Mutter war eine Holmes“. Über Mythenbildung und die tägliche Arbeit des Crime-

Profilers“, in: Musolff, C. & Hoffmann, J. (Hrsg.), Täterprofile bei Gewaltverbrechen. Mythos, Theorie und Praxis des Profilings, 2002, Berlin: Springer, S. 37-69

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dass unser Eindruck eines anderen Menschen nicht systematisch durch viele Einzelbeobachtungen zustande kommt, sondern als Globalurteil in Form weniger, genereller Kategorien. Das gilt auch für professionelle Beobachter, z. B. in Assessment-Centern. Die naive landläufige Meinung ist, dass diese das beurteilen, was ihnen auf den Bewertungsblättern vorgegeben wird. Dabei sind es Grundmerkmale wie Dominanz, Leistungsmotivation, soziale Kompetenz und Selbstvertrauen, die mit den Bewertungen korrelieren, nicht die meist sehr aufwändig beschriebenen Beobachtungskategorien. Interessanterweise gehören all diese Merkmale zu jenen, die sich als allgemein berufserfolgsrelevante Eigenschaften herausgestellt haben, die also relativ unabhängig von den spezifischen Anforderungen von Nutzen sind. Moderne Anforderungen wie Teamfähigkeit, vernetztes Denken oder Begeisterungsfähigkeit tauchen in diesem Zusammenhang übrigens nirgendwo auf! Unser so genanntes Bauchgefühl scheint intuitiv zu wissen, was grundlegend wesentlich ist. Ist das nicht wieder ein gutes Beispiel dafür, dass die Evolution mitgedacht hat und unser analytischer Verstand oft unsinnige Gedankenspiele betreibt? Unsere natürlichen Wahrnehmungsmuster machen uns aber an anderer Stelle Schwierigkeiten. Vor allem unsere Voreinstellungen (Erwartungen, persönliche Menschenbild usw.) sind hier starke Einflussfaktoren. Vorgesetzte beurteilen beispielsweise nicht so sehr das, was ihre Mitarbeiter tatsächlich leisten, als vielmehr, was diese ihrer Ansicht nach leisten könnten. Also bewerten sie eigentlich ihre eigenen Vorurteile in Bezug auf diese Person. Auch gehen geistige Fähigkeiten und Fachkenntnisse stärker ins Vorgesetztenurteil ein als konkrete Leistungen162. Interessant ist auch, dass in einer kleinen Studie der durchschnittliche amerikanische, männliche Vorstandsvorsitzende rund 1,82 Meter maß, während der US-Bürger im Mittel rund 1,75 Meter groß ist. Ist ein größerer Mensch eine erfolgreichere Führungskraft? Offenbar bringen viele Menschen Führung mit einer eindrucksvollen Statur in Verbindung, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Wir haben eine Vorstellung davon, wie ein Manager auszusehen hat. Dieses Stereotyp ist derart mächtig, dass wir alle Schwächen übersehen, wenn jemand äußerlich unserem Bild entspricht. In Deutschland hat eine Studie der Universität München ergeben, dass ein zusätzlicher Zentimeter Körpergröße knapp 0,6 Prozent mehr Brutto-Gehalt wert ist.

Übrigens ist unsere Vermutung, dass wir Menschen besser kennen, je mehr Zeit wir mit ihnen verbringen und je mehr Details wir von ihnen wissen, nicht in jedem Zusammenhang zutreffend. So können Fremde uns beispielsweise in Bezug auf unsere emotionale Stabilität und Offenheit für neue Erfahrungen erfolgreicher einschätzen als Freunde. Auch an dieser Stelle sind Voreinstellungen also für ein faires Bewerten problematisch. Zudem spielen unsere persönlichen Theorien in unseren Beurteilungsprozessen eine große Rolle. Wir liegen mit unseren Beurteilungen anderer z. B. oft daneben, weil wir Persönlich162 Schuler, H., Was ist Potenzial und wie lässt es sich messen?, in: Rosenstiel, Lutz v., Lang-von-Wins, Th.,

Perspektiven der Potentialbeurteilung, 2000, Göttingen: Hogrefe, S. 53-71

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keitsmerkmale (z. B. die Entscheidungs- und Handlungsfreudigkeit oder Ordnungsliebe) als Resultate bewusster Denkprozesse interpretieren. Wir sind überzeugt, dass wir Menschen in solchen Dingen die Wahl haben und in der Regel auch nutzen. Doch diese Charakteristika scheinen eher Persönlichkeitseigenschaften zu sein, über die wir wenig Kontrolle haben. Wir sind hier häufiger Opfer unserer Muster! Halten wir fest: Unsere ersten Eindrücke werden erheblich durch persönliche Erfahrungen beeinflusst. Das heißt aber auch, dass wir unsere ersten Eindrücke ändern können. Wir müssen nur dafür sorgen, zuvor andere Erfahrungen zu machen. Der erste Eindruck eines Experten bleibt ein erster Eindruck – aber er ist anders. Wann immer wir auf einem Gebiet, das uns wichtig ist, besonders gut sind, verändern Erfahrung und Leidenschaft unsere ersten Eindrücke. Dazu kommt, dass wir mit genügend Übung lernen können, unsere ersten Eindrücke zu interpretieren und zu entschlüsseln. Das bedeutet nicht, dass unsere Einschätzungen notwendigerweise daneben liegen, wenn wir uns außerhalb unserer besonderen Wissensgebiete bewegen. Es bedeutet nur, dass es ihnen an Tiefe fehlt. Sie sind schwer zu erklären und leicht aus der Bahn zu werfen. Es gilt folglich, wertvolle Theorien (zur Erklärung) und stabile Daten zueinander zu bringen. Sicher kommt Ihnen diese Forderung bekannt vor, nicht wahr? Von welcher Seite wir uns unserem Thema auch nähern, es läuft auf ähnliche Kernthemen hinaus. Es lohnt also, näher hinzusehen.

2.

Erfahrung, Intuition und Datenbanken helfen

Um das Grundmuster eines komplizierten Zusammenhangs zu erkennen, reichen ein paar Eckdaten völlig aus. Zusätzliche Informationen bergen die Gefahr, das relevante Muster zu verschleiern. Ironischerweise ist es genau unser Bedürfnis, auf Nummer Sicher zu gehen, das die Richtigkeit von Entscheidungen gefährden kann. Der Kardiologe Lee Goldman hatte in den Siebzigern – er las gerade einen Artikel über statistische Regeln für das Verhalten subatomarer Teilchen - die Idee, statistische Erkenntnisse auch für die Herzinfarktdiagnostik zu nutzen. Was tat er also? Er fütterte seinen Computer mit Hunderten von Fällen, um festzustellen, welche Symptome auf einen Herzinfarkt schließen lassen und welche nicht. Daraus entwickelte er einen Algorithmus, von dem er glaubte, dass er das Problem der üblichen Rätselraterei bei Brustschmerzen lösen würde. Sein Modell wurde zwei Jahre lang getestet und mit den üblichen Vorgehensweisen verglichen. Das Ergebnis war eindeutig: Der Ansatz von Goldman war um 70 Prozent besser bei der Identifikation von „normalen“ Brustschmerzen und erkannte 95 Prozent tatsächlicher Herzinfarkte. Die Spezialisten kamen hier bislang nur auf rund 85 Prozent.

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Der Witz der ganzen Angelegenheit ist, dass Goldman´s Ansatz neben EKG-Ergebnissen nur 3 (in Worten: drei!) weitere Risikofaktoren berücksichtigte. Dabei gehen wir in der Regel davon aus, dass eine Entscheidung umso besser ist, je mehr Informationen derjenige hat, der sie trifft. Das ist offenbar falsch.

Wirklich gute Entscheidungen beruhen wohl auf einer ausgewogenen Mischung von Intuition („Bauch“) und zielgerichtetem Denken („Kopf“). Letzteres benötigt eine klar definierte Aufgabe, Zeit und oft einen Computer. Gute Entscheidungsprozesse sind dabei so schlank wie möglich. Auch komplizierte Beziehungen und Probleme haben erkennbare Muster, die umso schwerer herauszufiltern sind, je mehr unwesentliche Detailinformationen wir zur Verfügung haben. Probleme entstehen, wenn der Filterungsprozess nicht gelingt: Wenn wir nicht filtern können, wenn wir das Falsche filtern oder wenn unsere Umwelt uns das Filtern nicht ermöglicht. In der Tat: Ob wir uns von der Seite der Kriminalprofiler nähern oder von ganz anderen Ausgangspunkten, wir scheinen immer wieder auf die gleichen, wesentlichen Erfolgsbausteine zu kommen: 9 systematische Daten, 9 eine relevante Theorie, 9 bedeutsame Muster, 9 viel Erfahrung und 9 klar dokumentierter Einsatz von Intuition. Gehen wir diese Checkliste einmal durch: Es gibt sehr viele Forschungsdaten zum Thema Führung, für die es jedoch kaum eine allgemein akzeptierte Systematik gibt. Als relevante Theorie haben wir die Evolutionäre Führung für uns entdeckt, die bedeutsame Muster vorhersagt. Spezifische Erfahrungen rund um das Phänomen Führung und der seriöse Umgang mit der Intuition sind Kriterien, die von den Personen gefordert werden müssen, die sich im Management-Profiling betätigen. Lassen sich nun gute Führungskräfte identifizieren oder nicht? Gibt es ein Profil der Führenden?

Das Profil der Führenden

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Das Profil der Führenden

„Liegt … ausschließlich instrumentelles Verhalten vor – wenn also nur wenig Handlungsspielraum besteht und kaum spezifische Verhaltensweisen sichtbar werden, die Rückschlüsse auf individuelle Persönlichkeitscharakteristika und Auffälligkeiten zulassen, – sind der Tatrekonstruktion erhebliche Grenzen gesetzt.“ S. Müller, D. Köhler & G. Hinrichs, Kriminalpsychologen

In diesem Zitat bringen Profiling-Spezialisten eine Erfahrung auf den Punkt, die auch für unsere Arbeit sehr bedeutsam ist. Man kann praktisch nichts über die Persönlichkeit erfahren, wenn jemand eine Aufgabe erfüllt, die keinen Spielraum für Individuelles bietet. Wenn jemand einfach einen Wasserkran schließt, werden wir nur sehr wenig Charakteristisches von seiner Person erfahren. Ungewöhnlich wäre eine Typologie des WasserkranSchließens. Diese Aufgabe muss in einer recht klar definierten Weise erfüllt werden. Es gibt quasi eine Musterlösung. Die Kriminalprofiler nennen dies den Modus Operandi. Alles, was über dieses Notwendige hinausgeht, ist die persönliche Handschrift. Sie lässt Ableitungen über den Menschen zu.

Nun haben wir festgestellt, dass es keine Musterlösungen für die Führungsaufgabe gibt. Damit ist gleichzeitig klar: Die persönliche Handschrift spielt eine große Rolle. Unser evolutionärer Führungsansatz definiert Hauptaufgaben für den jeweiligen Manager, die durchaus auf unterschiedliche Weise erfolgreich wahrgenommen werden können. Deshalb konnte es der Wissenschaft bisher nicht gelingen, Faktoren zu identifizieren, die in direkter und eindeutiger Beziehung zu erfolgreichem Führungsverhalten stehen. Dieses wird wohl von 4 Aspekten wesentlich beeinflusst: „ Der Gemeinschaftsaufgabe (Umfeld, Branche, Ziele, Erfolgsfaktoren etc.). Diese lässt sich als notwendige Sach- und Aufgabenkompetenz sowohl auf die Gruppenmitglieder wie auch den Führenden beziehen. Jemand, der absolut keine Ahnung davon hat, was eine Gruppe zusammen schaffen möchte, wird kaum das beste Erfolgsmodell anbieten können. „ Der Aufgabe, die genau diese Gruppe stellt (Zusammensetzung, individuelle Erfolgsmodelle, Kompetenzen, Differenzen in den individuellen Wirklichkeiten, Führungsbild und vergangenheit etc.). Die Fähigkeit, die Legitimation einer Gemeinschaft zu bekommen und zu erhalten, folgt einerseits allgemeinen Prinzipien und hat anderseits gruppenspezifi-

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Das Profil der Führenden

sche Elemente. Dazu kommt, dass es etwas anderes erfordert, mit genau dieser Gruppe zum Erfolg zu kommen, als mit einer anderen. „ Der Bewältigung der evolutionären Hauptaufgaben der Führung (wie sie im Kapitel „Die Essenz der Führung“ beschrieben sind). Es gibt zweifellos unterschiedliche Arten, diese Aufgaben erfolgreich wahrzunehmen, aber es gibt sicherlich noch mehr Wege, sie nicht zu erfüllen. „ Der individuellen Persönlichkeit, die in ihrem jeweiligen Stil die Kernaufgabe der Führung übernimmt (persönliches Erfolgsmodell, Muster, Führungsverständnis etc.). Niemand wird bezweifeln, dass jeder Mensch andere Talente, Gewohnheiten, ein anderes Verhaltensrepertoire und andere Strategien hat, mit den Herausforderungen umzugehen, die sich ihm stellen. Davon sind nicht alle mit der gleichen Wahrscheinlichkeit erfolgreich. Da es für die Führungsaufgabe keine Musterlösung gibt, erlaubt die Art, wie jemand sie bewältigt, Aussagen über seine Persönlichkeit! Umgekehrt werden Kenntnisse über die Persönlichkeit Ableitungen darüber möglich machen, in welchem Stil jemand an die Führungsaufgabe herangehen wird. Einige Autoren fordern schon geraume Zeit eine Neuorientierung in der Diagnostik ein, bei der herausgearbeitet werden soll, wie jemand eine gute Leistung zu Stande bringt (man fordert eine so genannte „subjektorientierte Diagnostik“163). Die konkrete Handlung soll im Vordergrund stehen. Und die ist lange nicht so situativ, wie viele Menschen glauben! So hat sich beispielsweise die Auffassung als falsch herausgestellt, dass gewonnene Erkenntnisse über einen Bewerber nur für genau die definierten Anforderungen und den aktuellen Zeitpunkt gültig sind164. Kenntnisse über die Persönlichkeit erlauben offenbar Wahrscheinlichkeitsaussagen darüber, wie sich jemand verschiedenen Aufgaben widmen wird. Offenbar kann man Aussagen zu einem Menschen machen, die auch umfassender und langfristiger Gültigkeit haben. Der Versuch, Managementerfolg über die Bewältigung spezifischer Führungssituationen zu erforschen, gelang allerdings bislang auch nicht. Das Grundproblem wird hier so beschrieben: Es gibt nicht die Situation an sich, da jeder den aktuellen Moment anders interpretiert. Was der eine als besondere Herausforderung erlebt, ist für den anderen nicht mal eine Reaktion wert. Die Aussage, Menschen reagierten auf objektive Situationen, sei viel zu allgemein. Ich denke, das ist aber gar nicht der springende Punkt! Der Hauptfehler besteht darin, dass Situationen betrachtet wurden statt Aufgaben.

163 Jüttemann, G., Eignung als Prozess, in: Sarges, M. (Hg.), Management-Diagnostik, 2. Auflage, 1995,

Göttingen: Hogrefe, S. 68-71 164 Schuler, H., Psychologische Personalauswahl, 1996, Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie

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Die Lage ist vergleichbar damit, dass Hunderte von Partybegegnungen daraufhin durchleuchtet werden, was eine Frau tut, wenn ein Mann von links und ein Mann von vorne auf sie zu kommen. Hier stünde die Situation im Fokus! Ich kann mir schwerlich vorstellen, dass wir eine Musterlösung identifizieren könnten, an der sich fürderhin die Damen erfolgreich orientieren können. Das Wesentlichste wird hier nämlich übersehen. Der entscheidende Punkt ist: Wie lautet denn die Aufgabe für die Frau? Geht es darum, beide abzuwimmeln, beide gegeneinander aufzustacheln, den Attraktiveren mit nach Hause zu nehmen, allen Beteiligten ein freundliches Begegnen zu ermöglichen …?

Einverstanden: Situationen werden von verschiedenen Personen sehr unterschiedlich interpretiert, aber Aufgaben sind nicht so frei interpretierbar. Die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ein Mensch nicht verhungert, ist viel eindeutiger als die Interpretation der Situation eines auf dem Boden gekrümmten, sich den Magen haltenden, apathischen Menschen. Und beides ist etwas völlig anderes als die Anweisung, in einer solchen Situation stets eine künstliche Ernährung vorzunehmen. Der Management-Profiler muss eine Antwort darauf geben, wie sich ein bestimmter Mensch verhalten und bewähren wird, wenn er vor den entscheidenden Führungsaufgaben steht. Diese haben wir mit unserem evolutionären Führungsmodell definiert. Welche Informationen benötigen wir nun von einem Menschen, um aussagekräftige Einschätzungen abgeben zu können? Um darauf eine Antwort zu finden, müssen wir uns mit dem befassen, was gemeinhin als Persönlichkeit bezeichnet wird.

1.

Die so genannte Persönlichkeit ist doch wichtig

Noch einmal unmissverständlich: Wir suchen nicht nach einer spezifischen Führungspersönlichkeit! Wir suchen nach bedeutsamen Aspekten der menschlichen Natur, die Vorhersagen darüber erlauben, wie sich jemand in einer Führungsaufgabe verhalten wird. Es geht nicht um ein Soll-Profil für Führungskräfte. Der Ur-Vater der Managementberater, Peter F. Drucker, weist darauf hin, dass eine ideale Führungskraft nicht notwendigerweise eine Führernatur sein muss. Die vielen erfolgreichen Führungskräfte, die Drucker in seinem Leben getroffen hat, „waren sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, sie vertraten sehr unterschiedliche Werte und Meinungen und hatten sehr unterschiedliche Stärken und Schwächen“165.

165 Drucker, P. F. & Paschek, P. (Hrsg.), Kardinaltugenden effektiver Führung, 2004, Frankfurt: Redline

Wirtschaft, S. 9, S. 229

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Das Profil der Führenden

Wie sieht Ihrer Ansicht nach eine typische „Fahrradreparatur-Persönlichkeit“ aus? Wie interessant wären wohl die Ergebnisse groß angelegter Studien, um diese zu identifizieren? Vielleicht würden Abertausende von Menschen, die ihr Fahrrad erfolgreich instand gesetzt haben, auf Gemeinsamkeiten untersucht. Ich habe keine Ahnung, was dabei herauskäme, bin aber in Bezug auf den Know-how-Gewinn nicht optimistisch. Wechseln wir die Perspektive: Lassen Sie einige Menschen, die Sie sehr gut kennen, an Ihrem geistigen Auge vorüberziehen. Wie würde jeder Einzelne reagieren und was würde er bei einer Fahrradpanne tun? Alternativ: Ich beobachte Ihre Freunde in dieser Situation und schildere Ihnen anschließend genau, was geschehen ist. Könnten Sie Thesen aufstellen, um wen von ihnen es sich dabei mit welcher Wahrscheinlichkeit handelt? Wären Sie in der Einschätzung besser als der Zufall? Ich bin überzeugt davon.

Erinnern Sie sich an die Profiler-Erkenntnis, dass man kaum etwas über die Persönlichkeit erfahren kann, wenn eine Aufgabe keinen Spielraum für Individuelles bietet? Und wir haben mit unserer Fahrradpanne sogar ein solches Beispiel gewählt. Im Vergleich mit der Bewältigung einer Führungsaufgabe ist das Verhalten bei einer Fahrradpanne nahezu zwanghaft eng eingegrenzt. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen der Suche nach einer „Führungspersönlichkeit“ und der Annahme, dass die jeweilige Persönlichkeit Einfluss darauf nimmt, wie eine Führungsaufgabe angegangen wird! Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass für den Berufserfolg im Managementbereich Persönlichkeit eine große Rolle spielt166. Fachlich-formale Merkmale wie Studiennoten und -zeiten oder die Anzahl an Qualifikationen liegen deutlich hinter der Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen167. Es gibt verschiedene Wege, die Kernaufgabe der Führung erfolgreich wahrzunehmen, so wie es beispielsweise sehr unterschiedliche Wege gibt, ein Tennisspiel zu gewinnen. Auch wenn die Regeln weltweit die gleichen sind, schränkt das offensichtlich nicht die Vielfalt der Erfolgsstrategien und -stile ein. Wie mag dies erst in einem unendlich komplexeren Spiel, dem Führungs-Spiel, sein? Anhand welcher Kenntnisse über einen Spieler können wir seinen Stil vorhersagen und Wahrscheinlichkeiten darüber, ob er gegen den nächsten Gegner gewinnen wird? Einfach eine Reihe von Informationen über einen Menschen zusammenzustellen genügt nicht. Wir sind kein Sammelsurium von unterschiedlich ausgeprägten Kriterien, wie dies zumeist von der Management-Diagnostik betrachtet wird. Dort spricht man in dem Zusammenhang von Anforderungskriterien.

166 Hossiep, R., Konsequenzen aus neueren Erkenntnissen zur Potentialbeurteilung, in: Rosenstiel, L. v., Lang-

von-Wins, Th., Perspektiven der Potentialbeurteilung, 2000, Göttingen: Hogrefe, S. 75-105 167 Bröcker, H. F. (Hrsg.), Erfolgsprofile junger deutscher Führungskräfte, 1998, München: Egon Zehnder

International

Das Profil der Führenden

2.

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Anforderungskriterien sind zumeist Unsinn

Seit langem wird der Traum verfolgt, für jeden Beruf ein besonderes Anforderungsprofil zur Hand zu haben, das man mit dem Profil potenzieller Kandidaten vergleichen kann168. Diesem Bemühen liegt die Annahme zu Grunde, dass in einem eindeutig definierbaren Umfeld messbare Leistungen produziert werden, die einer vorgegebenen Aufgabe genau entsprechen. Das ist beispielsweise vielleicht der Fall, wenn es darum geht, schnell und korrekt Nägel in eine Fläche einzuschlagen. Der Grundgedanke ähnelt einer technischen Spezifikation, die beispielsweise bei Erteilung eines Auftrags für die Automobilzulieferindustrie erstellt wird. Je exakter die Anforderungen definiert werden, desto unmissverständlicher ist die Erwartung und desto besser lassen sich Qualitätsmängel erkennen. Es gibt ein klares Sollprofil und eine exakt darauf ausgerichtete Qualitätsprüfung. Ein sehr bewährtes Vorgehen.

Das halbe Personalwesen lebt nahezu vom Sollprofil. Hier herrscht das Motto: je differenzierter, desto besser. Es werden bergeweise Stellenbeschreibungen und Anforderungsprofile erarbeitet. Wenn diese nicht den erhofften großen Durchbruch bringen, handelt man nach dem altbekannten Problemlöse-Prinzip: mehr desselben! Es wird noch differenzierter, noch umfangreicher, noch analytischer… Aber bitte einmal kurz überlegen: Wie viele Aufgaben ähneln dem Einschlagen von Nägeln? Zweifellos macht der Vergleich mit Idealprofilen für Führungsaufgaben wenig Sinn! Der evolutionäre Führungsansatz lässt die These zu, dass jemand durchaus sogar einem absoluten Kompetenz-Superprofil entsprechen und dennoch eine schlechte Führungskraft sein könnte. Weil es nämlich darum geht, was er mit seinen Ideal-Fähigkeiten tut! Können wir denn nicht einfach unser Sollprofil von Fähigkeiten (z. B. kann Kritikgespräche führen, Ziele vereinbaren usw.) um Kriterien erweitern, die den Umgang mit diesen Fähigkeiten betreffen (z. B. ist verantwortungsbewusst, loyal usw.)? Dann sollten wir gleich hingehen und auch noch konkrete Verhaltensweisen (z. B. unterstützt Mitarbeiter) und die Bewältigung von Aufgaben (z. B. kann Wandel gestalten) mit aufnehmen. Schön wäre doch auch, schon von vornherein festzulegen, welche Wirkung die Person später auf die Mitarbeiter hat (z. B. besitzt Ausstrahlung und Charisma) und wie ihr Denken aussehen soll (z. B. verfügt über Kundenorientierung und denkt strategisch). Fällt Ihnen noch etwas Nettes ein? Nicht spontan? Macht nichts: Wir werden dann einfach einen Workshop zum Thema durchführen. Das klang vielleicht jetzt ein wenig zynisch. Aber es war ungerecht von mir. Entschuldigung! Es ist immer leicht, beherzte und engagierte Lösungsversuche niederzumachen. Wir sollten uns bewusst machen, wie viel Zeit und oft auch Leidenschaft viele Menschen dahinein investieren, unser Grundproblem zu lösen. Es geht nur leider auf diesem Weg nicht.

168 Jüttemann, G., Eignung als Prozess, in: Sarges, M. (Hg.), Management-Diagnostik, 2. Auflage, 1995,

Göttingen: Hogrefe, S. 67

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Das Profil der Führenden

„Man stellt immer eine ganze Person ein bzw. befördert sie, nicht ein Bündel von einigen erwünschten Eigenschaften. Das heißt, dass man zu den gewollten auch ungewollte Eigenschaften gratis mitgeliefert bekommt.“169 Wenn wir mit komplexen Aufgaben konfrontiert sind, bringen wir unsere ganze Persönlichkeit ein: Wir kompensieren dabei Schwächen, umgehen bewusst für uns kaum gangbare Wege, gestalten uns die Bedingungen so, dass unsere Fähigkeiten dazu passen, und kombinieren Gewohnheiten mit kreativen Lösungsansätzen.

3.

Die Persönlichkeit als Gesamtheit ist bedeutsam

Ganz grundlegend müssen wir uns bewusst machen, dass Eigenschaften nicht als einzelne unverbunden nebeneinander stehende Facetten der Persönlichkeit betrachtet werden dürfen. Zur Erfolgsprognose für zukünftiges Führungsverhalten genügen keinesfalls bestimmte Mittel- oder Grenzwerte von Eigenschaften, es müssten Strukturen, Modelle und Profile erstellt werden. „Das Wetter kann man auch nicht verstehen, wenn man nur Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck am Boden misst: Meteorologen brauchen schon Theorien, was sich weiter oben abspielt und wie das zum Geschehen hier unten in Beziehung steht. Aber das Wetter findet auch nicht einfach in der Höhe statt. Man nehme einem Meteorologen 90% seiner Mess-Stationen am Boden weg und sehe, wie sich das auf seine Prognosen auswirkt!“170

Können Sie glauben, dass wir Menschen weniger komplex sind als das Wetter? Vielleicht überrasche ich Sie jetzt ein wenig: Ich bin sogar überzeugt davon. Erinnern Sie sich, dass es Spezialisten gibt, die nach der Analyse eines sechzigminütigen Gesprächs zwischen Mann und Frau mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit vorhersagen können, ob das Paar in 15 Jahren noch verheiratet sein wird oder nicht171? Von einem solchen Prognoseniveau sind Meteorologen Welten entfernt. Offenbar gibt es bei uns Menschen leichter zu durchschauende Muster, auch wenn es über die Effekte der Zusammenarbeit von Persönlichkeitsanteilen noch kaum gesichertes Wissen gibt. Aus der Sicht der evolutionären Psychologie liegen die Variationen zwischen den Individuen nicht in einzelnen Charakterzügen, Eigenschaften oder „Dimensionen“. Das Individuelle ist die jeweilige Konstellation der Merkmale. Wir sind keine Liste von unterschiedlich ausgeprägten Kriterien, sondern eher ein Mobile, dessen Grundbestandteile bei uns Menschen sehr weit verbreitet sind. Vor diesem Hintergrund verstehen wir unter einem Profil auch nicht das,

169 Neuberger, O., Führen und führen lassen, 2002, S.237 170 Caspar, F., Beziehungen und Probleme verstehen. Eine Einführung in die psychotherapeutische Plananaly-

se, 2. Auflage, 1996, Göttingen: Huber, S. 119 171 in Gladwell, M., Blink! Die Macht des Moments, 2005, Frankfurt: Campus

Das Profil der Führenden

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woran zumeist gedacht wird, wenn man diesen Begriff hört. Der Vergleich von Soll- und IstProfilen ist aus zumindest zwei Gründen Unsinn: 1. Wir haben bereits festgestellt, dass die Definition eines Idealprofils für Führung keinerlei wissenschaftliche oder praktische Begründung findet. Der Weg hat bislang einfach nicht funktioniert. 2. Das isolierte Nebeneinanderstellen von Kriterien wird in keiner Weise unserer Natur gerecht. Die Aufteilung des menschlichen Verhaltens in abgegrenzte Eigenschaften scheint sogar noch weniger erfolgversprechend zu sein als die ähnlich gelagerte Zerlegung eines Organismus in seine atomaren Bestandteile. Nach aktueller Sichtweise sind es auch hier „… die Beziehungen zueinander, die zu beobachten sind und durch die sich die Teilchen manifestieren. Teilchen können nur im Zusammenhang mit etwas anderem entstehen und beobachtet werden“.172 Wenn wir in dieser Sicht der Wirklichkeit das Wort „Teilchen“ durch „Bewertungskriterien“ ersetzen, entsteht eine neue Vorstellung von Persönlichkeit, nicht wahr? Gehen wir also den ersten kleinen Schritt über das Einzelkriterium hinaus: Statt beispielsweise über eine unterschiedlich hohe Ausprägung von menschlicher „Vorsicht“ zu sprechen („seine Risikobereitschaft liegt bei 2,3.“), könnten wir uns auch eine zweidimensionale Skala vorstellen, auf der links „sehr ängstlich“ und rechts „sehr mutig“ steht, nicht wahr? Viele Kriterien lassen sich ohne ihr Gegenteil gar nicht denken. Hinzu kommt: Jede positive Eigenschaft eines Menschen kann bei einer Überbetonung überzogen und dadurch zum Handicap und zur Schwäche werden (z. B. wird aus Mut vielleicht Leichtsinn). Und dabei sprechen wir erst von isolierten Beziehungen. Was, wenn unsere Persönlichkeit ein komplex verknüpftes Netzwerk wäre? Steht Leichtsinn nicht irgendwie z. B. auch mit Selbstsicherheit, Neugier und eigenen Fähigkeiten in Beziehung? Sind all die vielen Kriterien beliebig frei variierbar? Statt uns weiterhin über Sammlungen und die Additionen von Führungseigenschaften Gedanken zu machen, sollten wir wohl erst einmal unser Verständnis des Phänomens Persönlichkeit erhöhen. Die Evolution sah nie die einzelne Eigenschaft, sondern immer allein den Gesamtorganismus. Dieser musste sich in den Aufgaben des Lebens bewähren. Eine solche Sichtweise wird zunehmend verbreiteter, nimmt allerdings noch kaum Einfluss auf die Managementdiagnostik. In Ordnung: Wir ähneln also eher einem Mobile als einer Kriterienliste. Damit haben wir aber unser Grundproblem nicht gelöst, sondern nur verlagert. Sind menschliche Mobiles beliebig variierbar? Nein. Die Evolutionspsychologie sagt hier Grundmuster voraus und unser Führungsmodell setzt zusätzlich Schwerpunkte.

172 Wheatley, M. J., Quantensprung der Führungskunst, 1997, Reinbek: Rowohlt, S. 25

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4.

Das Profil der Führenden

Es gibt entscheidende Beurteilungskriterien

Es scheint auch aus Sicht der Persönlichkeitsforschung so etwas wie eine Natur des Menschen zu geben. Schon Klassiker der modernen Psychologie173 haben darauf hingewiesen, dass jeder Mensch in gewisser Hinsicht wie alle anderen Menschen, wie manche anderen Menschen und wie kein anderer Mensch ist. Daraus können wir also die Empfehlung ableiten, (a) das Allgemeingültige zu berücksichtigen (evolutionäre Natur des Menschen), (b) Wahrscheinlichkeiten herauszuarbeiten (Muster) und (c) dies in einen individuellen Zusammenhang zu bringen (Management-Profile). Die systematische Erfassung von Basiskompetenzen wird dabei auch von erfahrenen Management-Diagnostikern vor dem Hintergrund des immer flexibler werdenden beruflichen Einsatzes empfohlen174. Im Sport ist es schon sehr lange bekannt, dass es einige Basiskompetenzen gibt, die bedeutsam für jede Ballsportart sind: neben körperlichen Voraussetzungen z. B. eine gewisse Leidensbereitschaft, die Fähigkeit zur Antizipation des Ballverhaltens und ein bestimmtes Körperbewusstsein.

Solche allgemeinen Erfolgsfaktoren gibt es offenbar auch für das Berufsleben175. Es kommt wohl tatsächlich – auch wissenschaftlich belegt – auf viele Dinge an, die wir mit gesundem Menschenverstand erwarten würden, z. B. Hartnäckigkeit, Talent, Ehrgeiz, Selbstdisziplin, Optimismus, geschickte Kompensation eigener Schwächen, Fähigkeit zur raschen Regeneration und Ausbau der persönlichen Stärken. Manchmal täuschen uns unsere Überzeugungen bei diesem Thema aber auch: So konnte z. B. bislang in Hunderten von Studien kein besonderer Zusammenhang zwischen Risikobereitschaft, Offenheit für Erfahrungen oder Extraversion und Erfolg festgestellt werden. Und Leidenschaft und Selbstverpflichtung sind deutlich entscheidender als das Talent. Die Konzentration auf und das Arbeiten an Schwächen werden ebenso überschätzt wie das berühmte Selbstvertrauen. Dieses fördert weder Spannkraft noch Ausdauer oder Zielsetzungen und schon gar keine Erfolge. Es ist kein allgemeines Gefühl, sondern immer an bestimmte Tätigkeiten geknüpft. Jemand, der beruflich ein großes Selbstvertrauen besitzt, kann dies z. B. auf der Tanzfläche rasch einbüßen. Selbstvertrauen ist mehr Resultierende, als Ursache von Erfolgen. Die Forschung weist managementdiagnostischen Verfahren zumeist viele Defizite nach. Ein Grund ist sicherlich darin zu finden, dass die Verfahren in aller Regel darauf ausgerichtet

173 Allport, G. W., The general and the unique in psychological science, 1962 174 Wottawa, H., Perspektiven der Potentialbeuteilung. Themen und Trends, in: Rosenstiel, L. v., Lang-von-

Wins, Th., Perspektiven der Potentialbeurteilung, 2000, Göttingen: Hogrefe, S. 48 175 siehe z. B. Titelthema in PSYCHOLOGIE HEUTE, Mai 2006 oder Buckingham, M., The One Thing.

Worauf es ankommt, 2006, Wien: Linde

Das Profil der Führenden

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sind, die Positivseite künftiger Führungskräfte (also unser berühmtes Ideal-Profil) zu erfassen – dabei geht ein erheblicher Anteil von Führungsversagen auf das Konto der Negativseite einer Person. Eine einzige unglückliche Charaktereigenschaft kann viele große Stärken außer Kraft setzen. Auch an dieser Stelle also der Hinweis auf die Wichtigkeit, die Gesamtperson in ihrer Aufgabe zu sehen. Welche Kriterien sind zu deren Charakterisierung sinnvoll? Heute wird aus unterschiedlichsten Perspektiven bestätigt, einige Kernaspekte der Persönlichkeit als universell zu betrachten. Man spricht in diesem Zusammenhang oft plakativ von den Big Five: „ Extraversion (u. a. Geselligkeit, Tatendrang, Durchsetzungsfähigkeit, Begeisterungsfähigkeit), „ Neurotizismus (u. a. Ängstlichkeit, Traurigkeit, Unsicherheit, Irritierbarkeit, Impulsivität, Verletzbarkeit), „ Offenheit (u. a. Flexibilität des Normen- und Wertesystems, Bereitschaft und Wertschätzung von Fantasie, von neuen Ideen, von Ästhetik und Gefühlen, Bereitschaft für Abwechslung), „ Verträglichkeit (u. a. Nachgiebigkeit, Freimütigkeit, Vertrauen, Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft), „ Gewissenhaftigkeit (u. a. Leistungsstreben, Besonnenheit, Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Selbstdisziplin und -steuerung). Unabhängig von vielen Diskussionspunkten und Unsicherheiten kann zumindest festgestellt werden, dass diese, wenn sie einmal entwickelt sind, eine erhebliche Stabilität aufweisen. Sie reichen meiner Ansicht nach zur Beschreibung eines Menschen aber nicht aus, da es auch andere verhaltensrelevante Persönlichkeitseigenschaften gibt, die hier nicht zuordenbar sind. Aufgrund unserer bisherigen Überlegungen würden wir daher zudem insbesondere folgende Aspekte eines Menschen kennen wollen: „ Seine Wahrnehmungs-, Gefühls- und Denkmuster (z. B. in Bezug auf Macht-, Problemund Leistungssituationen). Die Welt ist für uns Menschen deshalb so verschieden, weil das Gehirn im Laufe der individuellen Entwicklung unterschiedlich organisiert wird. Unsere Erlebnisse, Wahrnehmungen und Erinnerungen stammen nicht direkt aus der Welt an sich, sondern sind unsere eigenen Schöpfungen. Das System, das sich in uns entwickelt hat, vereinfacht alles, was passiert. Nur so kann es in dieser chaotischen Informationsflut einen Sinn erkennen und sich an die Welt gut genug anpassen, um zu überleben. „ Seinen Autopiloten (z. B. Gewohnheiten) beziehungsweise der Grat an Autonomie (z. B. Bewusstheit, Achtsamkeit, Wille). Die Überlebensstrategien eines Menschen können recht unterschiedlich aussehen. Unser Geist passt sich unseren spezifischen Situationen und Umgebungen an und unsere Erfolge hinterlassen sozusagen „Spuren“ in unserem Geist. Es entwickelt sich kein umfassendes Verstehen in uns, sondern eine Strategie, die sicherstellt, dass immer das Richtige geschehen kann. Das diesem Mechanismus zu Grunde liegende Prinzip erfordert praktisch keine Vernunft oder langes Nachdenken. Unser Geist musste

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Das Profil der Führenden

schon immer für ein rasches Handlungsvermögen sorgen. Da war über Jahrmillionen keine Zeit – und keine Notwendigkeit – für Selbsterkenntnis. „ Seine Energie- und Motivationsmuster (z. B. Vorlieben, Hemmungen, Energiequellen). Meist werden Menschen in Unternehmen über die Anreizpraxis verleitet, eine geld- und statusträchtige Führungsaufgabe zu übernehmen. Sie reizt oft die Macht über Menschen, die Illusion der sinkenden Abhängigkeit von anderen und die soziale Anerkennung. Diese Manager sind später dankbar, wenn ihnen große Teile dessen, was sie unter Führung verstehen, von Personalabteilungen, leistungsbezogenen Gehaltsmodellen und anderen „objektiven“ Systemen abgenommen werden. „ Sein individuelles Erfolgsmodell (u. a. Umgang mit Problemen, Risiko- und Entscheidungsverhalten, Selbstwirksamkeit, Werte, Entstehungsgeschichte). Dass sich Eigenschaften unserer Persönlichkeit wie ein roter Faden durch das Verhalten in unterschiedlichen Situationen ziehen und uns erkenn- und berechenbar machen, liegt nicht daran, dass wir uns immer gleich verhalten. Wir konstruieren unser Vorgehen nur nach relativ gleich bleibenden Plänen! o

Eine Art Unterkategorie eines individuellen Erfolgsmodells ist das individuelle Führungs-Erfolgsmodell. Selbst die Menschen, die noch nie Führungsverantwortung hatten, haben aufgrund ihrer Erlebnisse und Überlegungen eine Vorstellung davon entwickelt, wie man sich verhalten muss, um ein guter Manager zu sein. Sie sind oft von ihrer Sichtweise ebenso überraschend stabil wie ungerechtfertigt überzeugt.

Unberücksicht gelassen haben wir bisher noch die Talente und Potenziale eines Menschen. In der Veröffentlichung einer der weltweit größten Langzeitstudien (Gallup-Institut)176 wird festgehalten: „Zwar haben auch Erfahrung, Intelligenz und Willensstärke einen deutlichen Einfluss auf die Leistung, doch die Leistungsunterschiede lassen sich nur durch das Vorhandensein (oder Fehlen) der richtigen Begabungen erklären.“ Diese werden als „wiederkehrendes Denk-, Gefühls- oder Verhaltensmuster“ beschrieben, das sich produktiv einsetzen lässt. Begabungen liegen in dem, was man gerne und häufig tut. Damit ist die Aussage, jeder könne alles erreichen, so er nur richtig wolle, eine grobe – und viel Frustration erzeugende – Übertreibung. Auch wenn Potenzialanalysen sicherlich von besonderen Schwierigkeiten gekennzeichnet sind, werden wir auch diese Informationen über einen Menschen zu berücksichtigen haben: „ Die persönlichen Talente und Potenziale. Ein Problem besteht darin, dass bei der Suche nach Führungspotenzial zumeist dieselben Aspekte zu Grunde gelegt werden wie bei der Beurteilung erfahrener Manager. Für die Bestimmung von Potenzial braucht man jedoch andere Kriterien. Erfasst werden sollen doch Möglichkeiten, Anfangszustände oder quasi „Keimzellen“. Wir würden doch auch nicht das Potenzial eines 4-Jährigen für den Tennissport daran messen, wie viele Asse er schlägt, wie viele Fehler er im Grundlinienduell

176 Buckingham, M./ Coffman, C., Erfolgreiche Führung gegen alle Regeln, 2001, Frankfurt/ M.: Campus

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macht oder wie viele erfolgreiche Netzangriffe er im letzten halben Jahr zu verzeichnen hatte. An dieser Stelle sind wir am selben Punkt angelangt, an dem auch die Kriminalprofiler standen, nachdem sie einen sinnvollen Weg für ihre Arbeit gefunden hatten: Dieser ist wahnsinnig aufwändig und erfordert hochgradig kompetente Fachleute. Kann es denn wahr sein, dass wir stets eine umfangreiche Persönlichkeitsdiagnostik betreiben müssen, um dann Thesen darüber anzustellen, wie dieser Mensch mit einer Führungsaufgabe umgehen wird?177 Der Praktiker in uns verlangt ein effizienteres Verfahren. Grundsätzlich sehe ich dafür folgende Ansatzpunkte: „ Zunächst einmal benötigen wir nicht immer hochkomplexe Verfahren: Über scheinbar banale Situationen, über Alltägliches – und nicht über besondere Highlights und Dramen – können wir in verblüffend kurzer Zeit an recht tiefe, innere Strukturen gelangen178 , da der Gesprächspartner diese als selbstverständlich erlebt und selten reflektiert. Genau hier sind seine Muster zu finden. „ Dann gilt es, die große Vielfalt möglicher Informationen auf das wirklich Wesentliche zu reduzieren. „ Und zu guter Letzt kann uns die moderne Technik sicherlich auch hier einmal wieder unterstützen – vorausgesetzt, wir überschätzen sie nicht.

177 Für manche Fälle mögen Aufwand und hohe Kosten zu rechtfertigen sein. Vor dem Hintergrund, dass

heute selbst für ein althergebrachtes Einzel-Assessment-Center problemlos auch 3 bis 5 Tausend Euro einkalkuliert werden müssen, lässt sich in diesem Rahmen sicherlich auch leicht ein hochgradig komplexes Management-Profiling durchführen. 178 Bergner, Th. M. H., Lebensmuster erkennen und nutzen. Was unser Denken und Handeln bestimmt, 2005, Heidelberg: mvg

Management-Profiling

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Management-Profiling

„Die Analyse und Interpretation einzelner Verhaltensweisen … ermöglichen nur unter ganzheitlicher Berücksichtigung aller Indizien Rückschlüsse auf den generellen Handlungsaspekt.“ S. Müller, D. Köhler & G. Hinrichs, Kriminalpsychologen

Erfreulicherweise müssen wir nicht immer die ganze Vielfalt der beschriebenen Persönlichkeitsaspekte berücksichtigen. Wir befinden uns ja vielleicht in einer ähnlichen Situation wie der Forscher, der hervorragende Prognosen über die Haltbarkeit von Ehen stellt. Er achtet auf Muster! Die sorgfältige Analyse von 60 Minuten Gespräch bringt dabei unglaubliche 95 Prozent Vorhersageerfolg. Das wirklich Interessante in unserem Zusammenhang ist jetzt jedoch, dass bei nur 15 Minuten noch 90 Prozent erreichbar waren. Auch der Kardiologe konnte durch die Berücksichtigung von nur 4 Kriterien 70 Prozent besser „normale“ Brustschmerzen identifizieren als seine Kollegen mit ihrem bisherigen Vorgehen. In unserem Sportbeispiel würde auch kein Talentsucher alle nur möglichen Informationen über die Persönlichkeit und körperliche Konstitution der jungen Menschen sammeln. Ihm würde zu Recht fehlender Pragmatismus vorgeworfen, wenn er Berge von Aktenordnern, Videos, Reagenzgläsern und Datenträgern mitbrächte. Und schlimmer noch: Er würde es sich auch noch erschweren, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Die zweckmäßigen Daten gingen im Informationssumpf viel leichter unter.

Es kommt zweifellos darauf an, die Bestandteile für die entscheidenden Muster zu berücksichtigen. Dazu gehören vier Dinge: Datenreduktion auf die wesentlichen Schlüsselkomponenten, die Vernetzung dieser Komponenten, das intuitive Füllen der Lücken und das systematische Übersetzen von Intuition in Erkenntnis. Wir wissen mittlerweile, dass es nicht das Geringste nutzt, Einzelbereiche mit noch mehr Datenmaterial und Exaktheit zu untersuchen, solange wir diese wesentlichen Muster nicht kennen. Ebenso wie die Kriminal-Profiler hat der Kardiologe Goldman diesen Weg u. a. über den systematischen Aufbau von Datenbanken eingeschlagen. Auch in der Managementdiagnostik wurde ein solcher Ansatz bereits nahe gelegt. So sieht Ueckert179 zumindest drei Anwendungsbereiche für solche Expertensysteme:

179 Ueckert, H., Expertensysteme, in: Sarges, M. (Hg.), Management-Diagnostik, 2. Auflage, 1995, Göttingen:

Hogrefe, S. 789-796

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Management-Profiling

„ Entwicklung einer persönlichen Wissensbank des Diagnostikers für seine eigene praktische Arbeit, „ Erstellung von Expertensystemen für eng umschriebene Aufgabenbereiche der Managementdiagnostik mit dem Ziel der Objektivierung diagnostischer Anforderungs- und Beurteilungskriterien, „ Einsatz von Expertensystemen für Schulung, Training und Supervision in der Diagnostikausbildung und -weiterbildung. Der pragmatische Grundgedanke, dem die Kriminalprofiler nun gefolgt sind, beruht auf der Erkenntnis, dass bestimmte Charakteristika nicht unabhängig voneinander auftreten. Sie stellten beispielsweise fest, dass die Wahrscheinlichkeit, später Kriterium X bei einer Zielperson zu finden, deutlich höher ist, wenn Kriterium Y vorhanden ist. Gleichzeitig registrierten sie, dass der Aufbau eines solchen Expertensystems nicht rein quantitativ erfolgen darf, sondern einer belegbaren Theorie bedarf. Aber über diese Problematik sind wir mit unserem evolutionären Führungsansatz ja längst hinweg. Das computergestützte Management-Profiling erlaubt so das Aufstellen von Thesen über eine Person, wenn einige Informationen über sie vorhanden sind. Diese Thesen sind sogar mit Wahrscheinlichkeiten belegbar! Ein Beispiel? Nehmen wir an, wir wüssten von einem Menschen, dass er in seiner Führungsrolle Akzeptanz findet und die Individualität seiner Mitarbeiter respektiert. Dann könnten wir aufgrund unserer Datenbanken die These aufstellen, dass er auch für Zufriedenheit sorgt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er dies tut, liegt bei über 95 Prozent.

Heißt das nun eigentlich auch umgekehrt, dass man nur die Individualität der eigenen Mitarbeiter berücksichtigen und für deren Zufriedenheit sorgen muss, um mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit Führungsakzeptanz zu finden? Das würde so manchen werteorientierten Managementtrainer sehr freuen – und unser evolutionärer Führungsansatz hätte ein Problem, denn er unterstellt mit seinen Kernaufgaben viel komplexere Zusammenhänge. Was sagen unsere Datenbanken dazu? Geben wir ein: „berücksichtigt Individualität“ + „sorgt für Zufriedenheit“. Erlauben Sie mir, die wahrscheinlichsten Muster der Auswertung hier nicht zu veröffentlichen, aber werfen wir zumindest einen Blick auf die Führungsakzeptanz: Mit diesem Stil trüge man nur ein wenig zu ihr bei (unter 25 Prozent). Auf dieser Kernstrategie sollte das Verhalten eines Managers offensichtlich nicht aufbauen. Richtig spannend wird dieser Ansatz dort, wo er auch statistisch belegbare Risiken eines Verhaltensstils aufzeigt. Wenn ich also weiß, auf welche Kriterien ich Wert legen muss, könnte ich mir sehr gezielt Informationen über eine Person verschaffen und auf dieser Grundlage über die Management-Profiling-Datenbank Hypothesen aufstellen. Solange ich keine individuelleren Daten besitze, arbeite ich mit den wahrscheinlichsten Annahmen. Bin ich bereit, einen größeren Aufwand zu betreiben, überprüfe ich die Hypothesen oder beschaffe mir ergänzende Informationen, die das individuelle Muster deutlicher machen.

Management-Profiling

1.

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Die Wesentlichkeit und Qualität der Informationen sind wichtig

Gerade die statistische Aufarbeitung von Daten kann nur so gut sein, wie die Informationen, auf denen sie beruhen. Unsinn in einer Datenbank bleibt auch nach der Auswertung Unsinn! Viele computergestützte Diagnosesysteme stellen z. B. nichts weiter dar, als die technisch anspruchsvolle Aufbereitung irrelevanter Daten. Wenn ich alle Manager mit einem völlig bedeutungslosen Instrument „messe“ und die Ergebnisse dann als Sollprofil definiere, mit dem ich Nachwuchskräfte vergleiche, nützen die professionellsten Programmierungen nichts. Stellen Sie einer beliebigen Anzahl von Führungskräften folgende Frage: „Waren Sie in Ihrem letzten Sommerurlaub glücklich?“ Lassen Sie nun auf einer Skala von 1 bis 10 ankreuzen. Natürlich können Sie anschließend einen Mittelwert und eine Standardabweichung errechnen. Aber was bedeuten die? Eine ganze Reihe von Verfahren geht nun hin, legt diese Frage anderen Menschen vor und vergleicht die Antwort mit der „Normgruppe“. Passt die Antwort, wird im schlimmsten Fall nun Führungspotenzial unterstellt. Stehen Ihnen die Haare zu Berge? Dann schauen Sie sich auf dem Markt der Management-Diagnostik einmal um.

Es gibt schon deshalb nicht viele brauchbare Instrumente zur Beurteilung der Führungskompetenz, weil es eben kein brauchbares theoretisches Gerüst gibt. Wenn es der Forschung schon kaum gelingen will, das Phänomen Führung zu verstehen, wie will sie es dann messen? Da haben wir mittlerweile einen Vorteil. Wie würden wir vorgehen? Kern unserer Einschätzung wäre die Auseinandersetzung mit der individuellen Person. Dabei können Profiling-Datenbanken – ähnlich wie Bewerbungsunterlagen – Anregungen für die Durchführung von Interviews liefern. Der Gefahr so genannter sozial erwünschter Antworten oder gar Schwindeleien würden dadurch begegnet, den Aussagen und dem Auftreten nicht mehr den Hauptteil der Beweiskraft zukommen zu lassen. Das ist ein ähnlicher Ansatz, wie ihn die Kriminalprofiler bei ihren „Experten-Interviews“ anwenden, um nicht auf das Glatteis geführt zu werden: Sie sind extrem gut vorbereitet und wissen genau, wovon sie reden. Das Einzelgespräch dominiert als Instrument der Wahl natürlich schon aufgrund seiner Unkompliziertheit bei allen Unternehmen um Längen die Szene! Die Ursachen für die in Studien zumeist belegten Probleme von Interviewergebnissen liegen dabei vor allem in drei Bereichen: „ in der unzureichenden Informationsverarbeitung des Interviewers während des Gesprächs sowie danach bei der Entscheidungsbildung (hier unterstützen den Management-Profiler die Datenbanken), „ in der unzweckmäßigen inhaltlichen und fragetechnischen Gestaltung des Interviews (Abhilfen schaffen uns an dieser Stelle das evolutionäre Führungsmodell und die Erfahrung des Interviewers),

222

Management-Profiling

„ in der Tatsache, dass zwischen Selbstberichten und dem Verhalten massive Abweichungen belegbar sind. Dies ist nicht nur auf aktive Täuschungsversuche zurückzuführen, sondern beruht auch auf der schlichten Tatsache, dass unsere Erinnerungen keine passiven Abspeicherungen sind. Gerade in Fällen der Bewertung, die persönliche Karriereziele gefährden können, finden wir natürlich immer die Neigung, die „Wahrheit zu gestalten“. Die Aufdeckung solcher Versuche erfolgt im Kriminalbereich über die Identifikation von Widersprüchen im Gesamtbild. Dabei werden Warnsignale („Red Flags“) zunächst registriert, um dann über Abgleiche mit anderen Komponenten Sicherheit zu erlangen. „Man geht nie unvorbereitet in solche Gespräche. … Es ist wie bei einem Schachspiel. Wer mit der weißen Figur beginnt, ist um einen einzigen Zug voraus, aber nur um einen.“180 Dieser Ansatz ist durchaus übertragbar. Das Gespräch stellt nicht nur die Möglichkeit dar, Informationen zu erfragen und ein persönliches Bild des Menschen zu gewinnen. Es bietet auch die Gelegenheit, Hypothesen zu überprüfen, Einschätzungen zur Diskussion zu stellen und verschiedene Informationen gemeinsam mit dem Gesprächspartner in ein Gesamtbild zu integrieren. Vor diesem Hintergrund haben wir die besten Erfahrungen mit einem zumindest 2-stufigen Interviewprozess gemacht. Weitere Verfahren können hinzugezogen werden, sollten aber immer einen klar nachvollziehbaren Bezug zu den Erfolgsfaktoren des evolutionären Führungsmodells haben. Auf keinen Fall sollte nach dem Motto gearbeitet werden: je mehr, desto besser! „ Die Lebensläufe von Bewerbern gestalten sich zunehmend identischer. Das liegt daran, dass alte Vorhersagekriterien (z. B. Auslandseinsatz) sich schlicht herumgesprochen haben. Welche Aussage erlaubt ein Kriterium, das mehr oder weniger leicht herstellbar ist? Gerade in Bezug auf z. B. den Auslandsaufenthalt während des Studiums müssen wir gar davon ausgehen, dass hier nicht Persönlichkeitsaspekte, sondern ganz andere Faktoren wesentlich sind (z. B. Geld und Kontakte). Einzelaspekte von Biografien sind aus meiner Erfahrung fast bedeutungslos. Die meisten Lebensläufe bieten aber zumindest Gesprächsthemen. „ Noten, Studien- und Ausbildungsergebnisse sind in ihrer Erfolgsrelevanz dramatisch überschätzt. In der Praxis werden sie zumeist vor allem zur methodischen Vorselektion genutzt. Solange für diese Aufgabe keine wesentlicheren und ebenso pragmatischen Lösungen gefunden werden, bleibt es wohl so. „ In den mittlerweile recht verbreiteten Assessment-Centern lässt sich eine methodische Stagnation feststellen. Vor dem Hintergrund unserer Überlegungen kann vermutet werden, dass eine Optimierung dieses Instruments auch grundsätzlich an der Tatsache scheitert, dass es zumeist 5 bis 7 Einzelkriterien in den Mittelpunkt stellt und auf den bereits angesprochenen Ideal- bzw. Sollprofilen beruht. Wir gehen bei CST auch in Bezug auf Assessment-Center einen anderen Weg und nutzen diese als Verfahren, die uns Puzzlesteine für das Profiling liefern.

180 Müller, Th., Bestie Mensch: Tarnung – Lüge – Strategie, 2004, Salzburg: ecowin, S. 15

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„ Persönlichkeitspsychologische Verfahren werden in Deutschland bislang – im Verhältnis zu unseren europäischen Nachbarn – auffallend selten genutzt181. Dabei bewerten die Unternehmen, die bereits mit Persönlichkeitstypologien gearbeitet haben, diese Instrumente überwiegend positiv. Die Firmen, die solche Verfahren ablehnen, nennen hierfür drei Gründe: (1) Das Schubladendenken würde gefördert und die Individualität des Einzelnen vernachlässigt, (2) die zu Grunde liegenden Modelle seien willkürlich und damit unseriös, (3) situations- und kompetenzorientierte Ansätze seien Erfolg versprechender. Der evolutionäre Führungsansatz und das Management-Profiling könnten solche Vorbehalte ausräumen oder zumindest schwächen. „ Auch so genannte 360°-Analysen, hier machen Menschen aus dem Umfeld der jeweiligen Person Aussagen zu ihr, können uns weitere Informationen für das Profiling liefern. Diese sind erfahrungsgemäß als Einzelinformationen weniger relevant, da sie recht unterschiedlich „gefärbt“ sind. In ihrer Funktion als Profiling-Puzzlestein sind sie deutlich nützlicher. Insgesamt sollte auch stets berücksichtigt werden, dass die wertvollsten Erkenntnisse über ein Individuum dann zu erzielen sind, wenn der Betroffene in den Verfahren Sinn, Zulänglichkeit und Fairness erkennen kann. „Die Entwicklung von Verfahren, die solchen Ansprüchen genügen, steckt noch weitgehend in den Kinderschuhen.“182 Angesehene Autoren empfehlen vor diesem Hintergrund, das gängigste Vorgehen, das Einstellungsgespräch, zu optimieren183. Auch diesen Weg verfolgen wir systematisch weiter. Methoden des Management-Profilings sind dabei problemlos in den Unternehmensalltag integrierbar. Hier ein möglicher Ablauf: „ Beschaffung erster Informationen zum Kandidaten durch den Manager oder Personaler vor Ort (das „Unternehmen“), „ Datenbank unterstützte Erarbeitung von Hypothesen, Arbeitsfragen und Interviewthemen durch den Management-Profiler , „ auf dieser Basis: Interview und strukturierte Informationsbeschaffung durch das Unternehmen, „ Erstellung einer differenzierten Stellungnahme zum Kandidaten auf der Grundlage der vor Ort erhobenen Informationen, den Profiling-Datenbanken und den Profiler-Erfahrungen (inkl. Entwicklungsanregungen in Ausblick auf die anstehende Aufgabe). Der Arbeitsteilung zwischen Management-Profiler und dem jeweiligen Entscheider im Unternehmen sind prinzipiell kaum Grenzen gesetzt. Wichtig dabei ist einfach, dass der hier beschriebenen Wesentlichkeit und Qualität der Informationen im ersten Schritt die größte Bedeutung zukommt. Diese Daten dann zu einem treffenden Bild zusammenzusetzen, ist die nächste Aufgabe. 181 Klimmer, M., Neef, M., Einsatz von Persönlichkeitstypologien in der deutschen Wirtschaft, in Wirtschafts-

psychologie aktuell, 3/2005, S. 31-34 182 Spörli, S., Kritische Theorie diagnostischer Praxis, in: Sarges, M. (Hg.), Management-Diagnostik, 2. Auf-

lage, 1995, Göttingen: Hogrefe, S. 874-879 183 Rosenstiel, L. v., Lang-von-Wins, Th., Perspektiven der Potentialbeurteilung, 2000, Göttingen: Hogrefe, S.

20-21

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2.

Management-Profiling

Die Interpretation ist ein separater Schritt

Um nicht in willkürliche Interpretationen abzugleiten, muss das Management-Profiling auf einer professionellen Auswertung früherer Profiling-Aktionen basieren und dieses Grundlagenwissen systematisch zum jeweiligen Einzelfall in Beziehung setzen. In den üblichen Verfahren geschieht dies quasi automatisch im Kopf des Beurteilers. Es bleibt damit hochgradig subjektiv und den zufälligen Einflüssen der persönlichen Erfahrung unterworfen. „Die Annahme, zu wissen, was man jemandem zutrauen kann und was nicht, ist der größte Irrtum und bestenfalls die Basis für Vorurteile.“184 Im professionellen Profiling läuft dieser Prozess daher anders ab. „ Die vorhandenen Informationen müssen in einem ersten Schritt in ihrer Bedeutung eingeordnet werden. Wir können im Bereich menschlichen Verhaltens nicht wirklich messen! Wir können nur vergleichen. Eine wesentliche Basis für solche Vergleiche stellen die Datenbanken und die Erfahrungen der Beurteiler dar. „ Die Datenbanken sammeln das Wissen über Facetten erfolgreichen Führens sowie Erfahrungen früherer Profiling-Aktionen. Sie ermöglichen es, Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Kriterien zu erforschen und immer wieder systematisch zu überprüfen. „ Durch die Zusammenführung der Datenbank-Analysen und dem individuellen Bild lassen sich Wahrscheinlichkeitsaussagen zu den Kandidaten machen, die über die unmittelbar vorhandenen Informationen hinausgehen. „ Auf diese Weise entsteht ein Bild über die führungsrelevante Persönlichkeit eines Menschen. Dieses wird auf der Basis bekannter Muster und Zusammenhänge herausgearbeitet. Dabei geht es nicht darum, individuelle Informationen in vorgefertigte Kategorien zu pressen oder einfach statistische Daten aufzulisten. Ein Management-Profiling als reine Computerarbeit wäre unseriös. Alle Informationen über den Gesprächspartner müssen möglichst widerspruchsfrei in ein Gesamtbild integriert werden. „ Um Aussagen über das zu erwartende Verhalten des Kandidaten machen zu können, muss der Profiler (a) das evolutionäre Führungsmodell, (b) die gemeinsame Aufgabe der Gruppe und (c) die Besonderheiten des Teams verstehen. „ Ein detailliertes Protokoll über die einzelnen Arbeitsschritte und die Schlussfolgerungen macht den Beurteilungsprozess transparent und mögliche Unsicherheiten konkret erkennbar. Das Protokoll kann zu einem ausführlichen Gutachten zur jeweiligen Persönlichkeit weiterentwickelt werden.

184 Müller, Th., Bestie Mensch: Tarnung – Lüge – Strategie, 2004, Salzburg: ecowin, S. 13

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Im Grunde ist Management-Profiling damit nie eine Leistungsdiagnostik, nach dem Motto: Wer kann richtig führen? Vielmehr ähnelt der Ansatz eher der Potenzialdiagnostik: Wem können wir wie wahrscheinlich die anstehende (Führungs-)Aufgabe zutrauen? Sofern es sich um eine Auswahlentscheidung handelt, können verschiedene Interessenten natürlich im Vergleich miteinander bewertet werden: Wer wird mit einer höheren Wahrscheinlichkeit hier Erfolg haben? Auf diese Weise verbinden sich in unserem Ansatz Potenzial- und Auswahldiagnostik. Wir haben uns nun eine konkretere Vorstellung davon gemacht, wie unser evolutionäres Führungsmodell für die Management-Diagnostik Nutzen bieten kann. Damit möchte ich unseren zweiten „Erzählstrang“ schließen: das Profiling! Ich persönlich sehe in diesem Arbeitsfeld nicht nur eine echte Chance, Auswahl- und Potenzialfragen treffsicherer zu beantworten, sondern zugleich auch noch effizienter und kostengünstiger, als dies derzeit oft der Fall ist. Dabei steht uns ein Instrument zur Verfügung, das auch noch systematisch daran arbeiten kann, immer besser zu werden, während viele klassische Methoden seit vielen Jahren in ihrem Nutzen stagnieren. Einer der größten Fehler besteht vor diesem Hintergrund in der Illusion vieler Berater und Praktiker, die sich weiterentwickelnden technischen Möglichkeiten stellten schon für sich alleine eine Verbesserung der Diagnostik dar. Weder die Tatsache, dass Computer zum Testen eingesetzt werden können, noch die Chance, sich beispielsweise Bewerbungen per Internet zukommen zu lassen, bewirkt eine substanzielle Verbesserung der Lage. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn ein Grundkonzept nicht funktioniert, wird es nicht durch Elektronik erfolgreicher. Gut, nehmen wir also an, wir könnten nun bessere Entscheidungen treffen, wer eine Führungsaufgabe vermutlich erfolgreich angehen wird. Bei unseren Urahnen wäre diese damals einfach durch einen konkreten Wettkampf um die Gefolgschaft gefallen. Da die Natur aber schon immer sehr darauf geachtet hat, Ressourcen zu schonen, hat sie den direkten Kampf zwischen den Gruppenmitgliedern vermieden, wo es nur ging. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Management-Profiling als Weiterentwicklung unserer Fähigkeit betrachten, die Kräfte anderer einzuschätzen, um Kraft raubende Machtkämpfe zu vermeiden. Zumindest eine Frage ist jedoch noch nicht ausreichend beleuchtet worden: Wenn man nun eine Führungsaufgabe erhält – kann man besser dabei werden, diese zu bewältigen? Schließlich sind wir Menschen nicht nur Wahrscheinlichkeits-, sondern unwidersprochen auch LernWesen. Gibt es einen Weg zur erfolgreichen Führungskraft?

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Teil IV: Der Weg zur Führung

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In jedem schlummert Führungs-Kraft

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In jedem schlummert Führungs-Kraft

„Meiner Ansicht nach ist der entscheidende Punkt, dass wir eine bewusste Kontrolle über den tatsächlichen Vollzug unseres unbewusst eingeleiteten Willensprozesses haben.” Benjamin Libet, Physiologe

Führungsverantwortung leicht gemacht für jedermann! Haben Sie Lust auf Führung? Ich werde Ihnen in diesem Kapitel verraten, wie Sie es hinbekommen, auf jeden Fall mit einer Führungsaufgabe betraut zu werden. Für Ihr Berufsleben habe ich dann noch 7 Tipps, um die erste Beförderung wahrscheinlich zu machen. Daneben möchte ich verdeutlichen, wie brisant es für Ihren Erfolg, Ihren Energiehaushalt und Ihre Lebensqualität ist, sich bei Ihrer Karriere auf den gelungenen Einsatz von Macht zu spezialisieren. Unser evolutionäres Führungsmodell unterstellt, dass die Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft darüber bestimmen, wem die entsprechende Legitimation entgegen gebracht wird. Das bedeutet, es kann jeden von uns treffen – vorausgesetzt, er ist Mitglied einer Gruppe, in der alle anderen geringere Voraussetzungen für die Lösung der Kernaufgabe haben. Das beantwortet übrigens die immer wieder hitzig diskutierte Frage, ob Führung nun etwas Angeborenes oder etwas Erlernbares ist: weder – noch. Führung ist eine Aufgabe! Und die kann zunächst einmal prinzipiell jeder von uns übernehmen. Hier ist der einfachste Weg: 9 Definieren Sie eine Aufgabe, die man nicht alleine hinbekommen kann (z. B. eine Badminton-Mannschaft bilden) – und in der Sie ganz gut sind. 9 Sammeln Sie in irgendeiner Weise Menschen um sich, die zum einen Lust auf eine solche Aufgabe haben, zum anderen weniger Ahnung davon als Sie (in unserem Fall also an Badminton interessierte Anfänger). 9 Orientieren Sie sich von nun an in Ihrem Verhalten an den beschriebenen Hauptaufgaben der evolutionären Führung – schließlich wollen Sie ja vermutlich nicht nur mal kurz Führungskraft sein, sondern dies auch länger bleiben. Das war schon alles! Ist das nicht prima? Das Prinzip klappt immer und für jeden! Sie meinen, der Tipp wäre ein bisschen mager und im Berufsleben nicht wirklich nützlich? Na gut, das stimmt schon. Schließlich habe ich nicht ganz zufällig ein Beispiel aus dem Hobbybereich gewählt. In Ihrem Beruf ist dieser einfachste Weg wohl eher nicht zu verwirklichen. Vielleicht sollten Sie sich aber vor Augen halten, dass es auf die beschriebene Weise zumin-

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dest für jeden die Chance gibt, Erfahrungen mit den besprochenen Aufgaben zu machen und sich in der Führungsrolle zu erleben. Auch nicht schlecht, oder? Wahrscheinlich möchten Sie in Ihrer Firma aber nicht dermaßen mutig experimentieren. Man blamiert sich dabei so schnell und bekommt auch nicht viele neue Chancen, wenn es daneben geht. Außerdem ist es leichter gesagt als getan, eine Gemeinschaftsaufgabe zu definieren. Im Berufsleben ist das fast nur in der Rolle eines Unternehmers möglich185. Halten wir also nüchtern fest: Man wird ebenso wenig zum erfolgreichen Manager, indem man es attraktiv findet und es sich wünscht, wie man Astrophysiker durch Träumen und „Anhimmeln“ der Sterne wird. Üblicherweise wird die Person mit einer Aufgabe betraut, die es am besten kann. Und das heißt: Die Entscheidung fällt im Wettbewerb. Leider ist dies aber den meisten leistungsorientierten, fachlich gut ausgebildeten jungen Menschen nicht klar! Sehr oft verblüffen sie beispielsweise durch recht gekränkte Reaktionen, wenn man sie darauf hinweist, für den Wettkampf um eine Führungsrolle nicht gut gerüstet zu sein. Statt diese Aussage als fürsorgliche Anregung zu verstehen, sehen sie ihre Stärken unverstanden. Manchmal wollen sie dann trotzig beweisen, dass sie dennoch irgendwo eine Führungsaufgabe erhalten können. Wie wir bereits besprochen haben, ist dies auch durchaus unter bestimmten Bedingungen denkbar – es ändert aber nichts an dem persönlichen Entwicklungsniveau. Ebenso, wie es fahrlässig wäre, einen unausgebildeten Menschen in das Cockpit eines Flugzeugs zu setzen, sollte auch mit der Entscheidung, einem Menschen so genanntes Führungspotenzial zuzuschreiben, vorsichtig umgegangen werden. Das berühmte „ins kalte Wasser werfen“ ist eine schlechte pädagogische Maßnahme, auch wenn es nicht immer so dramatisch endet, wie es wohl in unserem Pilotenbeispiel wäre.

Hand aufs Herz, ein wesentlicher Aspekt der Führungsmotivation besteht doch auch darin, dass oft nur die Übernahme einer Managementposition die Chance liefert, an mehr Geld und Ansehen zu kommen. „Ich bin Sachbearbeiter“, das klingt weder besonders sexy noch nährt es den Verdacht, hier einem besonders wohlhabenden Menschen gegenüber zu stehen, nicht wahr? Bedauerlicherweise sind die meisten Organisationen bei der Verteilung der Gewinne nicht besonders gut darin, den jeweiligen Anteil am Erfolg gerecht zu belohnen. Sie zwingen ihre Mitglieder quasi dazu, eine so genannte Karriere zu machen. Das ist der zweite, zweifellos aufwändigere Weg, mit der Führungsaufgabe betraut zu werden. Wohl gemerkt: Karriere und erfolgreiches Führen sind nicht dasselbe. Und Tipps und Tricks für die Karriere sind nicht automatisch eine Hilfe für erfolgreicheres Führen! Wenn Sie Pech haben, stehen diese sogar im Widerspruch zueinander. Also: Obacht! Schauen wir lieber genauer hin.

185 Hier liegt übrigens der Grund dafür, warum Unternehmer zwar in eine Führungsrolle kommen können,

aber damit nicht automatisch erfolgreiche Führungskräfte sind. Familienunternehmen bergen an dieser Stelle besondere Probleme!

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1.

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Karriere: Im Wettkampf stehen

Ich weiß, Sie haben es sicher schon immer gesagt. Ich möchte dennoch der Wirklichkeit mutig ins hämische Gesicht blicken und es noch einmal aussprechen: Man braucht keine gute Führungskraft zu sein, um eine Managerkarriere zu machen. Schlimmer noch: Eine ausgeprägte Karrieremotivation kann zu einer Vernachlässigung der Führungsaufgabe verleiten. Warum das so ist? Karrieremachen ist eine andere Aufgabe, ein anderes Betätigungsfeld als Führung! Führung ist eine Aufgabe! Karrieremachen ist eine andere Aufgabe! In beiden steht man im Wettbewerb mit anderen! Wer genau und vorurteilsfrei hinsieht, wird erkennen, dass beide Aufgaben oft den Einsatz unterschiedlicher Verhaltensweisen und Strategien erfordern. In der Praxis begegnen einem zumeist zwei Gruppen von Menschen, die den Schritt Richtung Führung gehen. Einmal sind da die Personen, die einen persönlichen Drang zu dieser Rolle haben. Man sagt in diesem Zusammenhang oft, jemand würde einen Führungsanspruch stellen. Aus meiner Sicht haben wir es hier allerdings eher mit einem Karriereanspruch zu tun! Dies entspricht in etwa der Wettkampforientierung eines Sportlers. Ich sehe dabei vor meinem geistigen Auge einen tänzelnden Kämpfer, der Schatten boxend allen Anwesenden zuruft: „Kommt her. Jetzt kommt schon endlich her und greift mich an. Dann werdet ihr sehen, was ich drauf habe!“ Die andere Gruppe kommt zur Führung, „wie die Jungfrau zum Kinde“. Irgendjemand, der die Macht dazu hatte, übertrug die entsprechende Verantwortung. Ob einer dieser beiden Wege höher mit dem späteren Führungserfolg korreliert, ist meines Erachtens noch nicht wissenschaftlich überprüft worden. Bis dahin besteht wohl das Vorurteil, dass die Menschen mit dem Bedürfnis zum Wettkampf und zur Macht bessere Manager werden. Dass sie eher eine so genannte Karriere machen, kann ich mir vorstellen. Ob sie bessere Führungskräfte sind, würde ich lieber überprüft sehen. In dieser Gesamtsituation liegt ein großes Gefahrenpotenzial für Unternehmen: 1. Firmen zwingen ihre Mitglieder förmlich dazu, Karriere zu machen, um an mehr Geld und Ansehen zu kommen. 2. Karriere ist dabei zumeist nur durch Übernahme einer Führungsrolle möglich. 3. Um Karriere zu machen, sind nicht unbedingt dieselben Fähigkeiten und Strategien gefragt, die für erfolgreiches Führen wichtig sind. 4. Erfolgreiche Karrieristen entwickeln auf ihrem Weg somit sehr oft persönliche Erfolgsmodelle, die ihnen bei der gelungenen Bewältigung von Führungsaufgaben im Wege stehen können. Da ich Ihnen vorhin dafür Anregungen versprochen habe, mit der Führungsaufgabe betraut zu werden, müssen wir also plötzlich über Karrieretipps sprechen. Der Begriff Karriere stammt

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übrigens aus dem Bedeutungsfeld von Fahrweg und Rennbahn. Er beinhaltet also die Tatsache, einen Weg zu verfolgen und sich ein Rennen zu liefern. Dabei erfordert der Wettkampf je nach Branche und Tätigkeitsfeld natürlich unterschiedliche Fähigkeiten und es gibt verschiedene Sieger-Strategien. Man kann Sportturniere auf sehr unterschiedliche Arten gewinnen. Die besten Sportler konzentrieren sich dabei stets auf das aktuelle Spiel, den genau jetzt ablaufenden Ballwechsel, auf das Abrufen ihrer besten Leistungen. Je mehr sie an das Endspiel oder Siegesprämien denken, umso abgelenkter und schwächer sind sie. Aber es geht auch anders: z. B. durch Betrug, das Schwächen der Konkurrenz, Absprachen, Ausschluss bestimmter Gegner durch politische Maßnahmen, Einsatz unerlaubter Mittel oder die Bestechung der Schiedsrichter.

Es gibt einerseits eine ganze Reihe von Veröffentlichungen, die auch für den Beruf Tipps der unlauteren Art zu vermitteln suchen. Das sind natürlich keine Bücher über Führung, selbst wenn sie unter einem solchen Titel erscheinen. Die meisten der dort zu findenden Empfehlungen verstoßen entscheidend gegen das evolutionäre Führungsverständnis und sollten mit extremer Vorsicht „genossen“ werden. Andererseits gilt zweifellos, dass Menschen, die jedem Kräftemessen prinzipiell ausweichen, kaum jemals die Möglichkeit bekommen werden, die Gemeinschaft hinter sich zu bringen. Die spannende Frage ist also im Grunde: Wie lässt sich Karriere machen, ohne ein persönliches Erfolgsmodell und Gewohnheiten zu entwickeln, die hinterher als Führungskraft Probleme machen? Nehmen wir an, Ihnen wären die Grundprinzipien evolutionärer Führung so in Fleisch und Blut übergegangen, dass Sie ganz bestimmt eine erfolgreiche Führungskraft wären. Dies würde zweifellos die Wahrscheinlichkeit einer weiteren beruflichen Entwicklung erhöhen. Allerdings gibt es da ein Problem! Um Ihre Managerqualitäten überhaupt beweisen zu können, müssen sie zunächst von Entscheidern mit dieser Aufgabe betraut werden. Sie benötigen damit Ihre erste Beförderung.

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2.

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Beförderung: Den Wettkampf gewinnen

Um Entscheidern aufzufallen, sollten Sie einen Vorsprung spürbar werden lassen. Diese Grundstrategie ist mit dem evolutionären Führungsmodell absolut vereinbar. Es gibt da allerdings ein Problem. Ich habe bereits im Kapitel über die Geführten darauf hingewiesen, dass diese immer kompetenter werden. Während es vor 50.000 Jahren für eine Führungsaufgabe genügt haben mag, ein wenig mehr Gespür für Wetterabläufe zu besitzen, gehört heute unendlich viel mehr dazu, einen Vorsprung zu haben. Dieser lässt sich seriös zumeist nur durch Spezialisierung erreichen. Das wäre mein Tipp Nummer 1! Im beruflichen Umfeld kann ich mir zumindest drei Arten der Spezialisierung vorstellen: „ Methoden: Konzentration auf die Handhabung spezieller Methoden und Werkzeuge (z. B. eine spezielle Buchhaltungssoftware), „ Fach: Konzentration auf Fachwissen (z. B. Buchhaltung), „ Probleme: Konzentration auf eine Aufgabe, die gelingen soll (z. B. Daten sammeln und zu Information verdichten). Spezialisierungen bergen grundsätzlich die Gefahr, bei Veränderungen der Rahmenbedingungen die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Das wäre dann wohl der berühmte „Schuss ins Knie“. Wer sich auf das elegante Setzen von Bleilettern spezialisiert hatte, besitzt mittlerweile eher Museumswert. Softwareentwickler, die mit der Sprache Basics Höhenflüge hatten, werden heute kaum Arbeit haben. Und wer eventuell Fachmann für die Pflege von Dinosauriergehegen war, musste sich zweifellos umorientieren. Wie lässt sich dieses Dilemma lösen? Mein Tipp Nummer 2: Spezialisieren Sie sich auf Grundprobleme bzw. -aufgaben und nicht auf Methoden oder Fächer. Hätten die alten Drucker ihre Grundaufgabe erkannt und im Auge behalten (die Vervielfältigung lesbarer Informationen), würde ihre Gruppe vielleicht heute die Desktop-PublishingWelt beherrschen. Stattdessen war ihr Selbstverständnis offenbar eher auf das geschickte Setzen von Bleilettern gerichtet. Nun ja: Geschichte!

Es gibt viele Grundprobleme, für die sich Spezialisierungen lohnen. Führung gehört dazu. Diese Aufgabe ist nicht nur zeitlos, sie wird auch noch sozial unterstützt186. Aber der Tipp, sich auf Führung zu spezialisieren, erscheint an dieser Stelle etwas absurd. Noch hatten wir ja nicht einmal unsere erste Beförderung. Und wenn man Manager befragt, was in ihrem Unternehmen notwendig ist, um erfolgreich zu sein, lautet die Antwort ausgesprochen selten: Führungskompetenz. Wir brauchen also etwas anderes. Wir könnten uns auf das Gewinnen von Konkurrenzsituationen spezialisieren (Stil: Machtspezialist). Tipps und Tricks bietet uns oft die so genannte Karriereliteratur an. Allerdings findet diese Strategie natürlich keine so große 186 Sie erinnern sich: Die Unterstützung einer erfolgreichen Führungskraft macht für die Gruppe Sinn, denn

sie bietet den Geführten einen Vorteil.

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soziale Unterstützung und zwingt uns somit zu einem erheblichen Krafteinsatz. Sie könnten sagen: viel Feind, viel Ehr! Aber zweifellos gilt auch: viel Feind, viel Sorge, Aggression und früher Tod! Und was noch viel bedeutsamer ist: Dieser Weg steht mit unserem evolutionären Führungskonzept auf Kriegsfuß. Mein Tipp Nummer 3: Spezialisieren Sie sich nicht auf das „Gewinnen an sich“. Diese Strategie lebt davon, dass andere verlieren, und fördert ein persönliches Erfolgsmodell, das in der späteren Führungsaufgabe zum Hindernis wird. Tipp Nummer 4: Konzentrieren Sie sich darauf, Probleme zu lösen, die im Unternehmen über die eigene Abteilung hinaus bedeutsam sind! Die Zeitlosigkeit der Aufgabe spielt dabei noch keine so große Rolle, da wir ja erst einmal nur positiv auffallen wollen. Tipp Nummer 5: Suchen Sie in dem Zusammenhang Kontakt zu den Führungskräften, für die Ihre Problemlösung ebenfalls sehr wichtig ist. Verhalten Sie sich dabei stets zugleich Ihrem eigenen Chef gegenüber weise187. Das ist mein Tipp Nummer 6. Mit diesen Anregungen finden Sie einerseits die Unterstützung der für Sie wesentlichsten Person (Ihr eigener Vorgesetzter), ohne andererseits in deren Abhängigkeit zu geraten. Ich verspreche Ihnen, Sie erhöhen mit der Orientierung an diesen 6 Tipps erheblich die Wahrscheinlichkeit, befördert zu werden. Eine Garantie kann es aber aus zwei Gründen nie geben. Erstens hängt jeder Sieg von der Konkurrenzlage ab, zweitens von den Karriere-Spielregeln Ihres Unternehmens. Die haben nämlich zum Teil recht unterschiedliche Antworten auf die Frage: Wen wollen wir fördern? Zur Ergänzung an dieser Stelle daher Tipp Nummer 7: Glauben Sie bloß nicht, die in Ihrem Unternehmen vorhandenen Führungsgrundsätze, Kompetenzmodelle und Anforderungsprofile könnten Ihnen spürbar helfen. Sie basieren in aller Regel mehr auf Wertvorstellungen als darauf, was nachweislich Erfolg bringt. Deshalb werden sie auch im wahren Leben so gut wie nie umgesetzt. Stattdessen verdeutlichen sie den Mitarbeitern eher, wogegen in ihrer Firma jeden Tag verstoßen wird. Solche Instrumente produzieren damit nicht selten mehr Zynismus als Führungsqualität. Die Lage entspricht in etwa der Situation, in der sich ein Autofahrer befindet, der eine Liste mit folgenden „Fahrer-Grundsätzen“ bekommt: 1.

Uns ist bewusst, dass unsere Existenz von unserem Fahrzeug und den Fahrbahnen abhängt. Wir richten unser Handeln danach aus!

2.

Wir pflegen einen offenen, fairen und ehrlichen Umgang mit anderen Fahrern, mit dem klaren Ziel, die Qualität unserer Leistung stets zu optimieren.

3.

Wir übernehmen die volle Verantwortung für unser Tun und entscheiden sachlich und professionell.

4.

Wir sind ein Vorbild im Straßenverkehr und lassen uns daran messen, wie viele Kilometer wir im Jahr mit über 150 Kilometern pro Stunde fahren.

187 vgl. das entsprechende Kapitel in diesem Buch

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Unter uns: Inwieweit würden Sie nach Kenntnisnahme dieser Liste anders fahren? Wahrscheinlich würden Sie sich nur auf eines konzentrieren, nicht wahr? Dass Menschen in der Praxis ihr Verhalten an den erlebbaren Karrierefaktoren ausrichten – und nicht an Theorien und Modellen –, ist völlig verständlich. Ich würde Ihnen also nicht verübeln können, wenn Sie sich anders verhalten, als es unser evolutionärer Ansatz empfiehlt. Erliegen Sie dann bitte nur nicht der Illusion, Sie wären eine gute Führungskraft, weil Sie Karriere gemacht haben. Unternehmen haben letztlich immer die Führungskräfte, die sie verdienen! Früher oder später werden Sie damit vor der ganz persönlichen Frage stehen: Will ich so werden, wie es eine Karriere hier in dieser Firma von mir erfordert? Eine Führungskarriere ist natürlich nicht damit gemacht, dass Sie die erste Beförderung erhalten. Sie haben nur die Starthürde genommen. Entschuldigung, aber Ausruhen ist jetzt nicht wirklich drin. Ganz im Gegenteil.

3.

Gefolgschaft: Die Mitarbeiter gewinnen

In Organisationen erhalten Sie Mitarbeiter durch die Übernahme einer formalen Rolle. Doch mit Mitarbeitern haben Sie noch keine Gefolgschaft. Es geht also um die Frage, wie Sie die Aufgabe nicht wieder verlieren – und das spüren meiner Erfahrung nach die meisten Führungskräfte in einer neuen Position auch ganz intuitiv. Obwohl sie nun über Machtmittel verfügen, ist ihre Sorge oft groß, die Gefolgschaft nicht halten zu können. Sie fühlen sich hin und her gerissen zwischen „Nettsein“ und „Machteinsatz“, werden von ihren Mitarbeitern als manipulierbar oder unberechenbar erlebt – und gefährden genau das, was sie erreichen wollen. Dabei ist es im Prinzip einfach: „ Der Mitarbeiter hat ein Recht darauf, dass die Führungskraft die evolutionäre Kernaufgabe erfüllt. „ Er hat ein Recht darauf, in diesem Zusammenhang in seiner Rolle und als Mensch respektiert und geachtet zu werden. Inwieweit es bei dem letzen Punkt notwendig und sinnvoll ist, soweit zu gehen, Mitarbeiter als „Kunden der Führung“188 zu betrachten, erscheint mir allerdings etwas fraglich. Da halte ich die Orientierung an den Hauptaufgaben der evolutionären Führung für nützlicher. Daher darf ich mir erlauben, den aktuellen Abschnitt kurz zu halten: Liebe Führungskräfte, definieren Sie für sich die Hauptaufgaben evolutionärer Führung in diesem Buch zur Checkliste –

188 Höhler, G., Spielregeln für Sieger, 1994, Düsseldorf: Econ

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und Sie haben die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, aus zugeordneten Mitarbeitern eine Gefolgschaft zu gewinnen. Viele karriereorientierten Menschen und Führungskräfte setzen jedoch eher auf einen anderen Weg. Sie besuchen Wirtschaftsschulen und Managementtrainings, um ihre Aufgabe erfolgreicher wahrzunehmen. Oft ist in diesem Zusammenhang von der so genannten Führungspersönlichkeit die Rede, die entfaltet werden soll. Nun haben wir seitenlang darüber gesprochen, dass es die Führungspersönlichkeit nicht gibt und auf einmal taucht der Begriff dann doch wieder auf. Wie lässt sich das verstehen? Der Begriff Führungspersönlichkeit macht nur in einem Zusammenhang Sinn: Wenn es darum geht, die eigene Persönlichkeit in der Führungsaufgabe zu entwickeln, um diese zunehmend erfolgreicher wahrzunehmen. In dem Moment, als wir festgestellt haben, dass jeder Führende seine ganze Persönlichkeit dazu einsetzt, die anstehende Führungsaufgabe zu bewältigen, stand fest: Erfolgreicher Führen heißt, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Wir können zwar prinzipiell alle eine Führungsaufgabe übernehmen, das Wahrnehmen dieser Aufgabe ist aber zweifellos auch einem Lernprozess unterworfen. Und natürlich ist es wie immer: Der Teufel steckt dabei im Detail! Der für den Erfolg notwendige Umgang mit diesen Details verlangt eher eine Kennerschaft (der Materie) als großes Wissen. Und es wird niemals den Moment geben können, in dem man entspannt und gelassen sagen könnte: „Jetzt kann ich führen! Jetzt habe ich den Bogen raus!“ Eine Führungsaufgabe nimmt man jeden Tag aufs Neue wahr. Es gibt keine Ziellinie, aber eine Landkarte für den Weg. Die Entfaltung der Persönlichkeit in der Führungsaufgabe muss nicht dem Zufall überlassen bleiben!

Führungspersönlichkeit ist kein Zufall

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Führungspersönlichkeit ist kein Zufall

„Fehlt es an Führung, kommt eine Gemeinschaft zu Fall.“ Salomon Ich möchte nicht nur einfach behaupten, es gäbe eine Landkarte für den Weg zur Führungspersönlichkeit. Ich werde sie skizzieren, um Ihnen Ihr eigenes Abenteuer Führung leichter zu machen. Wie wird man besser, wenn man die erste Führungsaufgabe übertragen bekommen hat? Wie wird man zunehmend zum Führungsspezialisten, vielleicht sogar zum Künstler in diesem Betätigungsfeld? Ich werde Ihnen genau das im aktuellen Kapitel verraten. Sie können natürlich einfach loslegen und Erfahrungen sammeln. Schließlich haben wir bereits festgestellt, dass diese eine wichtigere Funktion haben als Theorien. Wahrscheinlich wundert es Sie nicht, dass Manager in Befragungen zum Beispiel so gut wie nie ein Führungsseminar als entscheidend für ihr Leben bezeichnen? Dagegen fühlen sich aber fast alle einem Vorgesetzten verpflichtet, der sich die Zeit genommen hat, ihnen bei realen und akuten Problemen zu helfen189. Wir entwickeln uns am besten, wenn es um das wahre Leben geht. Auch für unsere Vorfahren kam es schlicht darauf an, hier und jetzt erfolgreich zu handeln. Sie lernten dabei unter sehr turbulenten Bedingungen und nicht in einem Seminarraum, mit dem Buch in der Hand oder am Computer. Jeder hatte seine eigenen Probleme, lernte prinzipiell eher für sich allein und mit einem hohen Maß an Selbststeuerung. Der Lernprozess war der eines Abenteurers: entdeckend, erfindungsreich und ohne Wissen, wohin die Reise letztlich geht. Er verlief völlig natürlich im Alltag und bedurfte keiner weiteren Motivation. Daher haben auch wir eine grundsätzliche Vorliebe für die Erfahrungswelt (die so genannte Praxis). In der abstrakten Welt (Theorie) halten sich die meisten Menschen nur zeitweise und mit erlebter Anstrengung auf. Wenn Sie also bis zu dieser Stelle des Buches gekommen sind, haben Sie bereits eine beeindruckende Kulturleistung vollbracht, die eine Energie erfordert, die nicht jeder mitbringt. Die Sache mit der Erfahrung hat allerdings auch seine Haken: Es gibt beispielsweise Menschen, die verwechseln diese mit der schlichten Anzahl von Berufs- oder Lebensjahren. Dabei kann man sich durchaus darauf beschränken, einige wenige Erfahrungen zu sammeln und diese dann 30 Jahre einfach nur nutzen. Das Leben vieler Menschen ist eher durch Wiederholung als durch Wachstum gekennzeichnet. Damit Ihnen dies nicht passiert, werde ich im aktuellen Kapitel sinnvolle Wege des Erfahrungsaufbaus zeigen. Ein anderes Problem besteht 189 McCall, M. W./ Lomardo, M. M. / Morrison, A. M., Erfolg aus Erfahrung. Effiziente Lernstrategien für

Manager, 1995, Stuttgart: Klett-Cotta

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darin, dass wir nicht ewig den Spruch hören wollen: „Warte, bis du deine Erfahrungen gesammelt hast. Du bist noch zu jung.“ Gibt es für uns keine Abkürzung? Das vielleicht nicht, aber es gibt zumindest einen Turbogang. Ich werde ihn Ihnen beschreiben. Und schließlich kommt noch dazu, dass die meisten von uns keine kreativen, aufregenden Lernprozesse durchlaufen möchten, sondern sich nach einem festen Handlungsplan sehnen, der ihre Unsicherheit vertreibt. Die eigene Lernvergangenheit (Erziehung, Schule, Ausbildung etc.) hat uns an dieser Stelle auf eine unglückliche Spur gelenkt: Wir wollen möglichst sofort und emotionslos wissen, „wie man es macht“. Her mit dem Trick für die Lösung! Jetzt und schnell! „Es scheint, dass wir genau das zu vermeiden versuchen, was Kinder sich wünschen, Un-Gleichgewicht, neue Erfahrungen, Kontrollverlust und Überraschung.“190 Wirkliches Lernen erfordert aber das Aushalten von Unsicherheit! Und an dieser Stelle muss ich passen. Das Gefühl von Unsicherheit kann ich Ihnen nur ansatzweise nehmen – indem ich Ihnen in Form der Landkarte eine Orientierungshilfe zur Verfügung stelle. Diese ist seit Anbeginn unserer Zeit durch drei wesentliche Dimensionen charakterisiert: „ Abenteuer: Entwicklung findet auf Neuland statt und ist auf Entdecken ausgerichtet. Es ist überraschend, irritierend und mit intensivem Erleben verbunden. Die Themen und Aufgaben sind bedeutsam und lassen uns nicht „kalt“. Wenn Sie Ihre Komfortzone nicht verlassen, werden Sie nie feststellen, was in Ihnen steckt. „ Natürlichkeit: Lernen folgt seinem eigenen Rhythmus. Wir können uns einerseits nur schwer dazu zwingen, etwas zu lernen, wenn wir noch nicht „so weit“ sind. Und wir können es andererseits nicht beliebig abkürzen oder beschleunigen. „ Individualität: Entwicklung ist stets etwas ganz Persönliches. Sie erfolgt im Spannungsfeld von Erleben und Reflektieren. Wenn es Ihnen nur um das Verstehen allgemeinen Wissens geht, statt um wirkliches Wachstum, häufen Sie vielleicht Kenntnisse an. Ein wahrer Kenner werden Sie so nicht. Werfen wir an dieser Stelle einen kurzen Blick auf übliche Maßnahmen, die Ihnen auf dem Weg zur Führungspersönlichkeit helfen sollen: Seminare, Management-Schulen und (Nachwuchs-)Förderprogramme. Ich wage zu behaupten, in den meisten derzeitigen Entwicklungsmaßnahmen wird – völlig marktgerecht – genau das angeboten, was die Teilnehmer sich wünschen: die Reduzierung der eigenen Unsicherheit191. Gefragt sind schnelle Antworten, möglichst in wenigen Stunden oder Tagen, auf folgende Kernfragen: „ Wie finde ich mein Selbstverständnis als Führungskraft? (Schlagworte: Selbstvertrauen, Orientierung, Rollenklarheit.) „ Wie bekomme ich Respekt und Akzeptanz in meiner Rolle? (Schlagworte: Konfliktmanagement, Durch- und Umsetzung.)

190 Wheatley, M. J., Quantensprung der Führungskunst, 1997, Reinbek: Rowohlt, S. 99 191 Wobei natürlich die Vorstellung paradox ist, man könne Führende ausbilden, indem man die Teilnehmer in

einem passiven, abhängigen Zustand hält.

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„ Wie bekomme ich die Leute dazu, das zu machen, was ich will? (Schlagworte: Ziele, Motivation und Manipulation.) „ Wie vermeide ich Niederlagen und peinliche Momente? (Schlagworte: soziales Geschick, Gesprächs- und Verhandlungsführung, Präsentation.) Aus meiner Sicht sind diese Anliegen absolut verständlich. Und es ist daher auch in Ordnung, dass die Mehrzahl der Trainingsinstitute sich einfach daran orientiert. Kunden definieren Wünsche und der Markt richtet sich darauf aus. Viele Seminarinhalte sind dabei – frei auf der Basis des jeweiligen Führungsverständnisses des Referenten – zu einer unterhaltsamen Dramaturgie zusammengestellt. Also: Wo ist das Problem? Nun, die Bedürfnisse und Angebote haben nicht automatisch etwas mit Managementqualität zu tun. Dazu fehlt auch hier wieder zumeist ein erfolgsrelevantes Führungsmodell, wie es der evolutionäre Ansatz bietet. Natürlich wenden sich solche Angebote auch kaum an erfahrene Manager, für die Fragen der Unsicherheit nicht mehr sehr bedeutsam sind. Sie sehen selten einen Grund, überhaupt noch an Entwicklungsmaßnahmen teilzunehmen, da sie zumeist nicht „leiden“. Warum sollte ein Tennisspieler weiter hart trainieren, wenn er in einer interessanten Mannschaft spielt, mit seiner Leistung eine ganze Menge Geld verdient – und nicht Gefahr läuft, seinen Platz in der Mannschaft zu verlieren? Das persönliche Besserwerden an sich ist für wenige Manager ein Ziel. Für diesen Luxus haben sie aus ihrer Sicht keine Zeit. Dies wird sich wohl erst ändern, wenn der Unternehmenserfolg deutlicher mit Führungsleistung in Verbindung zu bringen ist. Business-Schools behaupten, genau darüber wüssten sie gut Bescheid. Sie haben zweifellos ein differenzierteres Programm. Haben sie aber auch ein treffenderes Führungsverständnis? Die meisten Studenten von Wirtschaftsschulen verlassen diese mit der Vorstellung, dass Management und Analyse gleichzusetzen seien, insbesondere bei der Erarbeitung systematischer Entscheidungen und der Formulierung wohldurchdachter Strategien. Aus meiner Sicht tut man aber niemandem einen Gefallen, wenn man ihn im Glauben lässt, dass Manager vor allem Probleme rational lösen und Führungstools auf Menschen anwenden. Mintzberg ist der Ansicht, dass MBA-Programme schon aufgrund ihrer typischen Eigenheiten von Anfang an die falschen Leute anlocken: Menschen, die zu ungeduldig, zu analytisch und zu kontrollsüchtig sind. „In einer Welt, die von Erfahrungen lebt und in der es auf Bilder, Geräusche und Gerüche ankommt, achten Business-Schools nur darauf, dass ihre Studenten reden, analysieren und Entscheidungen treffen. Wo Handeln, Sehen, Fühlen und Zuhören gefragt ist, entwickeln sie unsere künftigen Führungspersönlichkeiten durch reines Denken … Während 24 Prozent der amtierenden Spitzenmanager Fähigkeit zur Anteilnahme als das wichtigste Charakteristikum künftiger Führungskräfte nannten, taten dies nur 4 Prozent der MBAStudenten.“ Mintzbergs Fazit lautet: Wir benötigen keine Fachleute mit akademischem Befähigungsnachweis, sondern Führungspersönlichkeiten mit sozialen Kompetenzen. Und ganz in unserem Geiste: „Führung ist ein uraltes Phänomen, während das Managertum, das der MBA befördert, erst seit relativ kurzer Zeit existiert.“192 Er weist darauf hin, dass die großen Bildungsstätten der Geschichte immer räumlich eng begrenzte Gemeinschaften engagierter 192 Mintzberg, H., Manager statt MBAs. Eine kritische Analyse, 2005, Frankfurt/ M.: Campus, S. 81 ff.

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Denker waren, in denen Studenten und Dozenten quasi zusammen auf einem Baumstamm saßen. Offensichtlich muss der pädagogische Stil verbindlich, persönlich und insbesondere auf die jeweiligen Teilnehmer maßgeschneidert sein. Gehen die Programme, die Unternehmen selbst entwickeln und durchführen, einen praxisnäheren Weg? Mir persönlich erscheinen auch Nachwuchsförderprogramme nicht risikofrei. Sie stellen im Grunde eine Art Abkürzung zur Führungsverantwortung dar. Auf der einen Seite ist es wirklich schön, dass Unternehmen Geld und Aufmerksamkeit in gute Führung investieren. Und ich kenne eine ganze Reihe von Fachleuten, die wirklich eine hervorragende Arbeit darin leisten, den Hoffnungsträgern beste Möglichkeiten zu bieten. Auf der anderen Seite vermitteln diese Ansätze – oft indirekt und quasi versehentlich – ein unglückliches Führungsverständnis. Die meisten Teilnehmer solcher Programme halten sich von Beginn an für Auserwählte, was sie ja auch sind. Sie wurden von Entscheidern für die Teilnahme ausgewählt. Tragischerweise hat ihnen nie jemand gesagt, dass es mehr darauf ankommt, später von den Gefolgsleuten auserwählt zu werden. Und wenn sie das ahnen, sagt ihnen niemand, was sie dafür tun müssen. Und wenn ihnen jemand dazu etwas sagt, ist es zumeist das Falsche! Also müssen sie letztlich doch in der Praxis ihre Erfahrungen selbst sammeln. Halten wir fest: Wenn Sie einen der üblichen Wege genutzt haben, besteht Ihr größtes Risiko darin, ein falsches Führungsverständnis entwickelt zu haben. Wenn Sie richtig Pech haben, erschwert das Ihren Einstieg in die Praxis. Aber selbst für den Fall, dass es solche Schwierigkeiten nicht gäbe, eines erspart Ihnen keine Ausbildung: das Sammeln von Erfahrungen!

1.

Erfahrung: Erfolgreich zum Führenden werden

Es scheint auch in Bezug auf dieses Thema Muster zu geben. Wobei darüber – außer anekdotischen Berichten und Erfahrungen – wenig gesichertes Wissen zu finden ist. Lassen Sie uns dennoch zwei Varianten eines „normalen Lebenslaufs“ einer Führungskraft betrachten, um unsere Landkarte weiter zu detaillieren. Die Person, die mit einer Führungsaufgabe betraut wird, hat in aller Regel zunächst weder ein treffendes Selbstverständnis in Bezug auf ihre neue Rolle noch die entsprechenden Fähigkeiten. Daneben kennt sie auch die jeweilige Gruppe oft nicht. Der Anfänger fragt sich, ob die Aufgabe überhaupt für ihn zu schaffen ist, und macht anfangs nicht selten einen schmerzhaften Lernprozess durch. Die Mitarbeiter warten zunächst ab und fühlen dem neuen Chef „auf den Zahn“. Sie testen, welchen Nutzen er für die Gemeinschaft bietet, wie sein Führungsverständnis und das Zukunftsversprechen aussehen, und wie beides gelebt wird. Oft prüft jedes Gruppenmitglied, in welchen Punkten der neue Chef (k)einen Vorsprung hat. Wer sich dieser Herausforderung nicht angemessen stellt, hat einen schweren Start. Die neue Führungsaufgabe zerrt an den Nerven. Unentwegt ist man Kommentaren, Kritik und (Fehl-)Interpretationen ausgesetzt.

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Kann die neue Führungskraft einen Vorsprung spürbar machen und ihre Kernaufgabe für die Gruppe erfolgreich wahrnehmen, erhält sie für ihre Rolle zunehmend Legitimation. Der neue Chef wird jetzt mit Aufgaben und Problemen überhäuft, viele sind dabei quasi vom Vorgänger geerbt. Arbeit ohne Ende! Es gilt, die eigene Zeit auf die wirklich wesentlichen Aufgaben zu konzentrieren. Auf dem noch unbekannten Terrain ist zumeist umsichtiges und besonnenes Verhalten gefragt. Alle Beteiligten erleben dann zunehmend ein Zusammenwachsen der Gruppe und eine immer wirkungsvollere Ausrichtung auf den Erfolg der Gemeinschaft. Erfahrene Mitarbeiter beginnen, der neuen Führung den Rücken zu decken. Gelingt der Start weniger klar und gut, beginnt rasch ein mehr oder minder subtiler Machtkampf. Oft versucht die neue Führungskraft auf ihre ganz persönliche Weise die Mitarbeiter für sich zu gewinnen: Sie ist z. B. nett oder setzt ihre Macht ein, baut Netzwerke auf, manipuliert, kontrolliert und versucht alles, um die Geschehnisse in den Griff zu bekommen. Sie erlebt zunehmend eine Kluft zwischen sich und der Gruppe. Der Druck „von oben“ steigt zudem, da allmählich konkrete Ergebnisse eingefordert werden. Von nun an muss sich der neue Chef immer häufiger mit selbst produzierten „Nebenwirkungen“ seines Verhaltens auseinandersetzen. Es entstehen erkennbare Sympathien und Antipathien, Misstrauen, Verbrüderungen, Abhängigkeiten, Konflikte usw. Statt Freude am Erfolg und positivem Gemeinschaftsgefühl tauchen zunehmend Frustration und Kräfteverlust bei allen Beteiligten auf. Die Gemeinschaft verliert ihre eigentlichen Ziele mehr und mehr aus den Augen und wird immer erfolgloser. Die Fluktuation nimmt – sofern es der Arbeitsmarkt erlaubt – zu. Dies gilt auch für die Wechselmotivation des Chefs. Er holt vielleicht kurzfristig noch einmal alles aus der Gruppe heraus – und wechselt dann (oft nach etwa 2 Jahren, denn so lange dauert der hier beschriebene Prozess zumeist) auf eine andere Position. Wie auch immer: Es entsteht letztlich ein ganz individuelles Führungs-Geführten-System, das sich automatisch seine eigenen Regeln, Tabus und Sachzwänge schafft. Mit der Zeit gewöhnen sich alle Verbliebenen an die Lage und der Chef an seine Rolle. Er gewinnt einerseits an Selbstvertrauen und Sicherheit, unterliegt andererseits der wachsenden Gefahr, seine Achtsamkeit für die Auswirkungen des eigenen Verhaltens und für wesentliche Anzeichen für Veränderungen zu verlieren. Da er jedoch mittlerweile erfahren und oft im Machtnetzwerk etabliert genug ist, bewahrt er seine Position. Die Gesamtlage ist recht stabil. Es funktioniert solange, wie es der Führung gelingt, ihr Legitimationskonto im Kreditrahmen zu halten. Dieser Prozess des Etablierens in der neuen Führungsrolle dauert nicht selten 2 bis 3 Jahre. Wie lange braucht es eigentlich, um auf anderen Gebieten erstklassige Leistungen zu erbringen? In einer Studie mit dem Titel „Development of Talent Project“ wurde der Entwicklung hervorragender Künstler, Pianisten, Schachspieler, Tennisspieler, Mathematiker, Schwimmer und Neurologen nachgegangen. Dabei stellte man fest, dass es unabhängig von der Branche 10 bis 18 Jahre dauerte, um auf einem Gebiet Topleistungen zu erbringen und Meisterschaft zu erreichen193. Für den Managementbereich berichten Quellen von 10 bis 20 Jahren, bis man

193 Buckingham, M./ Coffman, C., Erfolgreiche Führung gegen alle Regeln, 2001, Frankfurt/ M.: Campus

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eine Führungskraft „großgezogen“ hat194. Das muss für ehrgeizige Menschen, die schon bereit waren, für ihr Ziel viele zusätzliche Jahre in die Ausbildung zu investieren, eine erschreckende Nachricht sein! Ich stelle mir vor, wie ich nach einem Studium (natürlich mit Auslandsaufenthalt) – in Deutschland bin ich mittlerweile wohl Anfang oder Mitte Zwanzig – noch ein Traineeprogramm absolviere, promoviere oder ein MBA-Studium anhänge und schließlich meine erste Sachaufgabe im Unternehmen antrete. Erstmalig beginne ich, wirklich an der Lösung realer Probleme in einer realen Welt mitzuwirken. Ich habe einen beeindruckenden Werkzeugkasten, mit dem ich auch elegant umzugehen verstehe – aber diese konkrete Welt kenne ich verständlicherweise genauso wenig wie all die Menschen, zu deren Überleben ich beitragen soll. Niemand wird mir daraus einen Vorwurf machen. Es ist in Ordnung und unausweichlich. Aber es gibt einige Menschen, die mich fragen, wo ich denn in diesem Unternehmen in 5 Jahren stehen will. Sie glauben, die Antwort würde etwas über meine Persönlichkeit aussagen, was natürlich Unsinn ist. Ich antworte also mit Textbaustein 43 aus dem Bewerberhandbuch und frage mich, in welcher Welt mein Gegenüber eigentlich lebt. Wer weiß schon, was in 5 Jahren mit ihm sein wird. Vielleicht hat sogar mein Gesprächspartner bis dahin seinen Job schon längst verloren. Das sage ich wohlweislich nicht. Erfreulicherweise bin ich nach fünf Jahren noch dabei, habe gerade meinen 33-jährigen Geburtstag gefeiert, einige Seminare besucht und an einem Assessment-Center teilgenommen. Mir wurde Führungspotenzial bescheinigt, weil ich selbstbewusst rangegangen und sprachlich ziemlich gut drauf bin. Empfohlen hat man mir, meine soziale Kompetenz noch auszubauen. Ein entsprechendes Seminar wurde angeregt. Mache ich gerne, denn dann geht es hoffentlich endlich los mit der Karriere. Ich habe gelesen, dass man richtig gut ist nach 10 bis 20 Jahren. Aber erstens habe ich ja irgendwie diese Zeit auch eigentlich schon beisammen, wenn man alles mitzählt, und zweitens bin ich besser als der Durchschnitt. War ich schon immer. Wenn die Forschungsergebnisse stimmen, wäre ich Ende 40, bevor ich in der Aufgabe einer Führungskraft ein Kenner wäre. Vorausgesetzt, ich nutze die Zeit wirklich gut. Das kann doch nicht wahr sein! Gibt es denn keinen schnelleren Weg?

194 McCall, M. W./ Lomardo, M. M. / Morrison, A. M., Erfolg aus Erfahrung. Effiziente Lernstrategien für

Manager, 1995, Stuttgart: Klett-Cotta

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2.

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Systematik: Die Abkürzung zum „Alten Hasen“

Auch wenn klar ist, dass Lernen durch Erfahrung ein sehr langwieriges Unterfangen sein kann: Die entscheidenden Entwicklungen machen wir nun mal in der Praxis, d. h., wenn wir uns mit tatsächlichen Problemen und Konsequenzen auseinandersetzen. Dabei liegt der Unterschied zwischen einer unerbittlichen Survival-of-the-Fittest-Ideologie („einfach ins kalte Wasser werfen“) und einem fürsorglichen Entwicklungsansatz in der angebotenen Unterstützung und in der Reaktion auf unvermeidliche Fehler. An dieser Stelle sind Fachleute wertvoll, die wissen, welches Entwicklungspotenzial in welchen Tätigkeiten steckt, die Selbstreflexion fördern und Wegbegleiter auf diesem unbekannten Terrain sind. Gleichzeitig gilt es, günstige Gelegenheiten zu nutzen und zur Improvisation bereit zu sein. In einer interessanten Studie195 wurden wertvolle Erfahrungen auf dem Weg zur erfolgreichen Führungskraft systematisch herausgearbeitet, die ich ein wenig näher beleuchten möchte. „ Es soll demnach Vorteile bieten, mit unbekannten Menschen umgehen zu müssen, um erfolgreich sein zu können. Ich vermute, dass dabei die Betonung auf dem „erfolgreich sein“ liegen muss. Wenn unsere Überlegungen stimmen, dann ist es nicht der Umgang mit unterschiedlichen Menschen, der den Kern der Führung ausmacht. Mit verschiedensten Persönlichkeiten müssen wir heute alle irgendwie auskommen. Etwas zum Erfolg bringen, was nicht nur von den eigenen Sachkompetenzen abhängt, darauf kommt es wohl an. Vor diesem Hintergrund gilt es, früh von Menschen zu verlangen, mit anderen gemeinsam Erfolg herzustellen. „ Verschiedenartigsten Vorgesetzten ausgesetzt sein, ist anscheinend auch nützlich. Offenbar ist es bedeutsam, sich auch bewusst als Geführter zu erleben und die eigenen Reaktionen zu erfahren. Unterschiedliche Vorgesetzte sind deshalb wichtig, um nicht einfach dem Impuls zu folgen, es später auch so – oder gerade genau anders – als eine bestimmte Person machen zu wollen. „ Es wird auch empfohlen, Hilfe bei kritischen Übergängen zu haben. Gerade in extrem schwierigen Momenten sollte man niemanden allein und ohne Sicherung auf seinem Weg lassen. Man benötigt in seiner Entwicklung nicht nur den geistigen Sparringspartner, sondern durchaus auch mal denjenigen, der einen fallenden Felsbrocken abzulenken versteht. Überlegen Sie einmal, wie sorgfältig man mit viel versprechenden Sportlern umgeht – ohne sie auch nur eine Spur zu schonen. „ Nahezu selbstverständlich erscheint der Tipp, Mitarbeiter zu haben. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass es nicht einmal zwingend die berufliche Führungsposition sein muss, die wachsende Führungserfahrung ermöglicht. Entscheidender ist es, die Kernaufgabe der Führung zu übernehmen! Es gilt, wesentlicher für das große Ganze zu sein als je-

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Manager, 1995, Stuttgart: Klett-Cotta

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des einzelne andere Gruppenmitglied. Dass dies auch im Hobbybereich möglich ist, haben wir bereits angesprochen. „ Verantwortung sollte wachsen, aber dabei keinesfalls einfach mit größerer Mitarbeiteranzahl gleichgesetzt werden. Reife Führung hat nicht nur etwas damit zu tun, sich für Ergebnisse verantworten zu müssen. Es geht ganz erheblich auch darum, sich verantwortlich zu fühlen und zu erweisen! Meiner Erfahrung nach setzt das zumindest zwei Dinge voraus: o

die Fähigkeit zum Mitgefühl und

o

die achtsame Wahrnehmung komplexer Wirkungszusammenhänge.

Es geht im Wesentlichen darum, sich einerseits selbst als Ursache für sachliche Ergebnisse und die Befindlichkeiten anderer Menschen zu erkennen, andererseits letztere auch spüren zu können. Aus dieser Wurzel erwächst mit großer Wahrscheinlichkeit eine ethische Haltung. Überzogen wird dieser Prozess, wenn man beginnt, sich nahezu für alles verantwortlich zu fühlen oder gar ständig schuldig. Dies wäre eher als eine Form von Größenwahn zu betrachten. „ Schwierige Situationen mit Risiko bieten offenbar besondere Entwicklungschancen. Die Führung einer eingespielten, erfahrenen und harmonischen Gruppe in einem stabilen Umfeld mag noch relativ einfach sein. Um aber zu vermeiden, in Krisen die Legitimation einzubüßen, muss man solche Momente schon überstanden haben. Schwierige Situationen wird man verständlicherweise aus ethischen Gesichtspunkten nicht aktiv herstellen, aber seien wir realistisch: Das Leben bietet uns an dieser Stelle zweifellos früher oder später Gelegenheiten. „ Ohne (Selbst-)Reflexion und Korrekturen geht es nicht. Wertvolle Erfahrungen entstehen bei uns Menschen nicht automatisch. Es gibt keine Garantie dafür, dass eine Person aus bestimmten Erlebnissen das lernt, was sie lernen könnte. Unreflektiert wird das Geschehen einfach Teil unseres Autopiloten, der nach anderen Kriterien funktioniert als denen der Professionalität. Das ist einer der wesentlichen Gründe, warum es nicht einfach ausreicht, unterschiedliche Menschen durch ähnliche Aufgaben und Situationen laufen zu lassen. Was für den einen ein traumatisches Erlebnis ist, von dem er sich nie zu befreien versteht, ist für den anderen eine wertvolle Erfahrung. Die Unfähigkeit, Erlebnisse in einen Bezug zum eigenen Innern zu setzen, schränkt die Lernfähigkeit drastisch ein. Vermutlich sind es die Antworten auf viele kleine Fragen nach dem Warum und Wie und Wieso nicht, die schließlich zu einem entscheidenden Vorteil anwachsen. Die Phase unmittelbar nach Abschluss einer anspruchsvollen Aufgabe ist dabei eine wichtige Zeit für eine kurze Denkpause. Gerade diesem letzten Punkt kommt aus meiner Erfahrung ein ganz besonderer Stellenwert zu. Sehen wir ihn uns daher noch etwas näher an.

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2.1

245

Selbstreflexion: Der erste Schritt zur Freiheit

Für uns alle gilt: Wir kommen nicht gut aus unserer Haut. Unser Autopilot ist wahnsinnig mächtig! So überlegen, frei und erwachsen, wie wir es uns vorstellen, sind wir einfach nicht. Sie fragen, woran das liegt? Eine unserer Gehirnstrukturen196 hat seit Urzeiten eine emotionale Bewertungsaufgabe, die uns das Überleben sichert. Sie urteilt unmittelbar, inwieweit eine Situation oder ein Ereignis gefährlich oder attraktiv für uns sein könnte. Aus dieser Bewertung erwachsen sofort Handlungsimpulse (z. B. Fluchttendenz, Kampfbereitschaft, Annäherung, Gier etc.). Diese sind wesentlich schneller als unser Großhirn es mit seinen analytischen Möglichkeiten je sein kann. Auf dieser Basis bewegen sich 99,9 Prozent aller Tiere durch ihr Dasein; sie leben im Hier und Jetzt, ihr Alltag beruht im Wesentlichen auf Fressen, Schlafen, Fortpflanzen, Kämpfen. Die restlichen 0,1 Prozent sind vermutlich nur Menschenaffen und Menschen, die ausreichend freie Hirnkapazität haben, um in die Vergangenheit schauen und über die Zukunft nachdenken zu können197. Die starke Tendenz, unmittelbar zu reagieren, war sicherlich eine nützliche Anpassungsreaktion des menschlichen Geistes, als er sich vor langer Zeit entwickelte. Wir werden angegriffen: Wir wappnen uns und schlagen zurück. Die Erde rutscht: Wir suchen uns einen Halt. Eine Besonderheit von uns Menschen ist allerdings auch, dass wir nicht sofort handeln müssen. Diese Fähigkeit entwickelt sich allerdings erst allmählich im Verlauf eines Lebens. Kleine Kinder verfügen noch nicht über sie und selbst sehr reife Persönlichkeiten sind nicht völlig frei. Dies wäre auch problematisch, denn unsere Impulse sind ja oftmals sehr wertvoll – allerdings nicht immer. Erst wenn wir einen Weg finden, nicht unmittelbar zu reagieren, können wir unseren Autopiloten auf seine Qualität prüfen. Dazu brauchen wir als allererstes eine „Lücke“ zwischen emotionalem Handlungsimpuls und unserer konkreten Reaktion. Was lässt sich in diesem Zusammenhang tun? „ Zum einen können Sie Ihre Handlungsimpulse ignorieren, sie verdrängen, sich ihre Wahrnehmung verbieten. Dies entspricht in etwa der Strategie von Kleinkindern, die sich die Augen zuhalten, um nicht gesehen zu werden. Psychisch hilft Ihnen dieser Ansatz, real nicht. Sie bleiben erst recht Opfer Ihrer Impulse und verwechseln Freiheit und Spontaneität mit Gedankenlosigkeit, (schlechten) Gewohnheiten und Willkür. Diese Strategie ist sehr weit verbreitet, weil wir uns frei fühlen wollen. Dafür verbiegen wir auch gerne einmal die Realität. Kennen Sie keine Menschen, die sich mit Arbeit, Konsum, Ablenkung oder Alkohol vor dem Nachdenken schützen wollen? Vielleicht gelingt das ja sogar – aber diese Strategie kürzt nicht den Weg zum „alten Hasen“ ab. Ganz im Gegenteil: Sie bleiben in Ihrer Entwicklung stecken198.

196 das Limbische System 197 Weber, P. F., Der domestizierte Affe. Die Evolution des menschlichen Gehirns, 2005, Düsseldorf: Patmos 198 Es sind übrigens nicht vor allem die nicht so erfolgreichen Führungskräfte oder die besonders guten, die

Managementtrainings vermeiden. Es sind diejenigen, die der Selbstreflexion ausweichen wollen.

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„ Dann können Sie sich das sichtbare Ausleben Ihrer Impulse verbieten. Diese Strategie erfordert Kraft, Disziplin und Selbstkontrolle – manchmal bis hin zur Selbstverleugnung. Meiner Erfahrung nach ist das der Lieblingsansatz vieler erfolgreicher Menschen. Je nach Erschöpfungsgrad und Widerstandskraft, je nach Übung in Disziplin sind sie hierbei im Kampf gegen ihre Handlungsimpulse mal erfolgreicher und mal weniger. Gleichzeitig erwächst daraus oftmals ein Frustrationspotenzial, das zu Kurzschlussreaktionen und Krankheiten führen kann. „ Sie können Ihre Impulse allerdings auch einfach zulassen, ihnen liebevoll zuschauen und sie vergehen lassen. Diese Strategie wird beispielsweise in Meditationsübungen gepflegt und beruht darauf, den Abstand zwischen emotionalem Impuls und Handlung achtsam und stetig zu vergrößern. Auch hierzu wird Übung und Disziplin benötigt, aber es staut sich viel weniger auf. Diese Strategie wird im Managementzusammenhang eher selten gewählt, da sie hier – aufgrund der esoterisch anmutenden Assoziationen – oftmals nahezu suspekt ist. Schade. Der Weg zur erfolgreichen Führungspersönlichkeit verlangt Selbstreflexion: Was sind meine persönlichen Impulse, was ist mein eigener Anteil, und was verlangt die Situation? Und Selbstreflexion benötigt (innere) Ruhe, Wahrhaftigkeit und die Kenntnis eigener Wahrnehmungsmuster. Eine insgesamt große Herausforderung, denn die vorrangige und ursprüngliche Aufgabe unseres Geists ist weder die Selbsterkenntnis noch die Vernunft. Der Evolution reichte aus, dass er uns an die Umwelt anpassen kann, während wir Nahrung, Sicherheit und Fortpflanzungsmöglichkeiten suchen. Handlungsfähigkeit hat für Mutter Natur eindeutig Vorrang vor Bewusstsein. Wenn alles seinen gewohnten Gang geht, besteht für uns keine Notwendigkeit, uns selbst zu beobachten. So wissen wir zwar, was uns gedanklich beschäftigt, aber nur selten, wie und warum. Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns selbst oft überraschend falsch deuten, weil wir kaum glauben wollen, dass wir die Welt von einem Augenblick zum anderen konstruieren. Das Ich ist bezüglich der Deutung seines eigenen inneren Zustands genauso auf Vermutungen angewiesen wie bei der Einschätzung dessen, was in anderen Menschen vorgeht. Für wirkungsvolle Selbstreflexion muss man lernen, sich zu beobachten, als wäre man jemand anderes. Unser Bewusstsein ist etwas potenziell sehr Mächtiges, aber üblicherweise muss es trainiert werden, damit es nicht von anderen, sehr viel älteren und „erfahreneren“ Systemen in uns überrumpelt wird. Das ist ein schwerer Weg, aber wenn Erfolg leicht wäre, hätte ihn ja jeder. Man geht heute davon aus, dass wir geradezu mit Blindheit geschlagen sind, wenn es um unsere Begabungen, um unsere psychischen und geistigen Fähigkeiten, um unsere Beliebtheit oder moralischen Qualitäten geht. Es scheint eine allgemein menschliche Neigung zur Selbstüberschätzung zu geben, so glauben z. B. über 80 Prozent aller Autofahrer felsenfest, zu den besten 5 Prozent zu ge-

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hören199. Und die meisten sind überzeugt davon, ein viel differenzierteres Innenleben zu haben als andere Menschen, und sie halten sich für überdurchschnittlich sensibel, nachdenklich und gefühlvoll. In einer großen amerikanischen Studie wurden eine Million (!) Studenten im letzten Studienjahr befragt, ob sie sich für führungsbegabt hielten. 70 Prozent bejahten diese Frage, nur 2 Prozent zweifelten an ihrer Begabung zum Führen. Was die meisten Menschen zwar entsetzt von sich weisen würden, ist inzwischen gut belegte Wahrheit: Andere Menschen kennen uns besser. Aus einem 90-Sekunden-Video lasen unbeteiligte Beobachter den Intelligenzquotienten der sich dort bewerbenden Kandidaten genauer ab, als es deren Selbsteinschätzung vermochte.

Die Selbstreflexion leidet also absolut nicht an der Fähigkeit, in sich hineinhorchen zu können. Sie leidet an einem Mangel an Objektivität. Wir beurteilen zumeist Dinge, mit denen wir keine ausreichend repräsentativen Erfahrungen haben. Interessanterweise sind wir realistischer in den Bereichen, in denen Dinge direkt in ihrer Auswirkung beobachtbar sind. Ich bin ziemlich sicher, dass Sie Ihre Fähigkeit zum Weitsprung, Tennis oder Golfspielen treffsicherer bewerten können als Ihre Führungskompetenz. Der schwierige Entwicklungsprozess zur Führungspersönlichkeit ist daher mit guten Lehrern und wertvollen Rückmeldungen erfolgreicher zu bewältigen. Fassen wir zusammen: Sie benötigen zu Beginn Ihrer Entwicklung zumindest ein realistisches Bild über Führung und deren Aufgaben. Die dann zwingend notwendigen praktischen Erlebnisse müssen reflektiert und zu Erfahrungen gemacht werden. Dabei können Sie von guten Lehrern profitieren. Wollen Sie Ihr eigenes Wachstum noch darüber hinaus weiter vorantreiben? Dann brauchen Sie den Mut, immer wieder aufs Neue einen Schritt über sich selbst hinauszugehen. Das ist deshalb so schwer, weil Sie wohl erst einmal froh sind, die Unsicherheit der Startphase endlich überwunden zu haben.

2.2

Wandel: Der Schritt über uns hinaus

Der bislang beschriebene Prozess lässt aus meiner Sicht noch unberücksichtigt, dass das Erfolgsmodell, das sich individuell im Kopf eines jeden von uns bildet, nicht außer Acht bleiben darf. Auf dem Weg des praktischen Lernens entstehen Muster, Strategien und Prinzipien, die oft plötzlich ein Hindernis für die weitere Entwicklung sind. Genau die Dinge, denen Sie vielleicht Ihre derzeitige herausragende Position verdanken, blockieren plötzlich Ihren nächsten Schritt. Systematische Erfolgsmodell-Reflexionen sind daher wesentlich für Ihr Wachstum. Es ist enorm wichtig, die Gründe und Muster zu kennen, die für die bisherigen eigenen Erfolge verantwortlich sind.

199 Ernst, H., Wie bin ich?, in PSYCHOLOGIE HEUTE, April 2006, S. 20-26

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Nicht wir haben unser Erfolgsmodell geprägt, es prägt uns! Es beeinflusst maßgeblich die Art, wie wir unsere Wirklichkeit wahrnehmen, die Weise wie wir denken und fühlen, unsere Handlungsimpulse und Entscheidungen. Unser persönliches Erfolgsmodell ist uns in aller Regel nur ansatzweise bewusst, da wir es als völlig normal empfinden – so wie der Fisch nicht weiß, dass er im Wasser schwimmt. Erst wenn etwas nicht mehr wie gewohnt funktioniert, wir an unsere Grenzen stoßen, fällt es uns auf. In solchen Situationen haben Sie drei Möglichkeiten: 1. Sie verdrängen das Problem, indem Sie die Schwierigkeiten leugnen, eigene Schwächen kompensieren oder vergleichbaren Situationen verstärkt ausweichen. Dieser Weg zehrt jedoch immer mehr von Ihren Energien und Kräften auf. Oft denken Sie dann vielleicht, das äußere Umfeld würde Sie auslaugen. Doch im Kern zahlen Sie schlicht den Preis dafür, nicht von Ihrem alten Erfolgsmodell loszukommen. 2. Möglicherweise neigen Sie aber auch mehr zur Methode „Mehr-des-Selben“: Dies entspricht dem Ansatz, einfach mehr Anlauf zu nehmen, wenn man gegen ein Hindernis gerannt ist. Unser Erfolgsmodell ist dermaßen massiv unsere Wahrheit, dass wir der festen Überzeugung sind, man könne gar nicht auf eine andere Art erfolgreich sein. Sie haben möglicherweise in diesem Zusammenhang den Eindruck, dass das Leben immer härter wird. Nichts ist mehr so einfach wie früher. 3. Mein Tipp ist diese Variante: Nutzen Sie die Chance und machen Sie sich Ihr Erfolgsmodell bewusst (so wie Sauerstoff in der Luft dann am ehesten registriert wird, wenn er weniger wird): Über Ihr eigenes Modell hinauszugehen heißt dabei nicht, es aufzugeben. Das ist auch gar nicht möglich. Aber es kann gelingen, eine offenere Beziehung zu ihm zu entwickeln. In Ordnung: Der erste Moment, in dem Sie anerkennen, dass irgendetwas grundlegend nicht mehr stimmt, ist unangenehm. Sie verlieren vielleicht die Überzeugung, Ihr Leben unter Kontrolle zu haben, und gefährden Ihre Identität. Aber wollten Sie nicht über sich hinauswachsen? Dieses Gefährden des Selbstverständnisses ist wichtig, denn auf dem eigenen Entwicklungsweg dürfen Sie an Ihrer alten Identität nicht festkleben. Wir können die Situation z. B. mit unserer Pubertät vergleichen. Die Veränderung vom Kind zum Erwachsenen vollzieht sich voller Dramatik und Unsicherheiten. Wir verabschieden uns von etwas, was wir nicht mehr länger sind, und finden uns in einer unbekannten, faszinierenden und verschreckenden Welt wieder. Ein Festhalten am Vergangenen ist praktisch nicht möglich.

Es bedarf schon einer Änderung im Selbstverständnis eines Menschen, wenn er eine Führungsaufgabe übernimmt. Aber erst der Weg des ständigen Wandels verdient den Begriff des Reifens. Hier finden wir den Weg des Künstlers.

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3.

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Künstlertum: Zur Führungspersönlichkeit reifen

Führungsreife entsteht ebenso wenig automatisch mit einer definierten Anzahl von Managerjahren oder einer bestimmten Hierarchieebene wie Persönlichkeitsreife durch Altwerden. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, ob Management als Karriereweg betrachtet wird, als persönliche Verantwortung oder gar als Auftrag zur eigenen, stetigen Entwicklung. Wenn der Reiz der Führungsaufgabe Sie wirklich gefangen genommen hat, finden Sie sich früher oder später vor der Frage: Wie kann ich meine Persönlichkeit noch wertvoller für die Gemeinschaft machen? Persönliches Wachstum hat etwas damit zu tun, die Potenziale und Möglichkeiten, die uns unsere evolutionäre Natur erlaubt, auch tatsächlich zu verwirklichen. Wie Erfahrungen mit so genannten „Wilden Kindern“ belegen, ist das eindeutig nicht für unsere individuelle Entwicklung genetisch automatisiert200. Einige Aspekte des Menschseins scheinen sich wie selbstverständlich zu entfalten, andere nicht. Wilde Kinder sind z. B. in der Lage, andere Menschen ohne Worte zu erreichen. Sie können überzeugen und ihr soziales Umfeld an sich binden. Sie entwickeln zwar keine Sprache und lernen diese auch später unter fördernden Bedingungen kaum noch, aber sie haben eine hohe Erkenntnisfähigkeit. Andererseits registrieren sie gar nicht bewusst, dass sie andere wirksam beeinflussen können, richten Zorn viel eher gegen sich selbst als gegen dessen Ursache und scheinen sich oft machtlos zu fühlen. Weisheit, Verzückung, Neugier, Mitleid, Freundlichkeit, Humor und Liebe müssen offenbar in einem kulturellen Prozess erworben werden. Wilde Kinder scheinen weder so genannte menschliche Tugenden noch menschliche Laster zu entwickeln. Ich bin überzeugt, dass sich dennoch in einer Gemeinschaft von wilden Kindern Führung herausbilden würde. Der Kern des Phänomens Führung ist keine Kulturleistung! Es erschiene mir übrigens in diesem Zusammenhang überheblich, davon auszugehen, dass ein so genannter höherer Kulturstand zwangsläufig die Führung „niedrigerer Wesen“ notwendig mache. Ich persönlich würde mich in der Wildnis lieber an dem Verhalten und dem Erfolgsmodell wilder Kinder orientieren, als zu versuchen, sie unter meine Führung zu bekommen. Wenn Sie nun einwenden würden, gerade dies wäre ja ein Zeichen für Weisheit und damit entfaltete Menschlichkeit, würden Sie mich allerdings ins Grübeln bringen. Weisheit würde dann offenbar auch Geführten wertvolle Dienste leisten, nicht wahr?

Erwachsen werden, Weisheit, Kunst, persönliche Reife, Kultur. All diese Themen stehen absolut nicht im Widerspruch zu einem evolutionären Menschenbild. Unsere Natur hat uns die Möglichkeit mitgegeben, unterschiedliche Dinge zur Meisterschaft zu bringen. Und da es Autoren gibt, die Management im Zusammenhang mit Künstlertum nennen201, möchte ich dieses Kapitel damit beenden, ein wenig karikierend den Weg zum Meister der Führung zu

200 Newton, M., Wilde Kinder. Schicksale jenseits der Zivilisation, 2004, Essen: Magnus 201 Schircks, A. D., Management Development und Führung, 1994, Göttingen: Hogrefe, S. 64

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skizzieren. Gönnen Sie sich den Spaß und „übersetzen“ Sie ihn doch einmal auf Ihren persönlichen Entwicklungsprozess: 1. Die jeweilige Kunstform erscheint dem naiven Anfänger stets leicht. Er startet aus einer Lage der Unwissenheit und Willkür und ist überzeugt, die Aufgabe besser als die meisten anderen erfüllen zu können – oder zumindest ebenso gut. („Diese Kinderzeichnungen kann doch jeder. Wer ist überhaupt Picasso?“) Wir fühlen uns in dieser Lage authentisch und wirksam. Einen Lehrer benötigen wir unserer Ansicht nach nicht wirklich. Haben wir Kontakt mit ihm, wollen wir beweisen, dass er viel mehr Fehler hat, als er selbst glaubt, und der Unterschied zwischen ihm und uns nur gering ist. 2. Wir lernen bald einfache Standards (Grundtechniken), wenden diese an und begreifen allmählich die Zusammenhänge zwischen Handeln und Ziel. Unser Verhalten fühlt sich für uns noch fremd und ungewohnt an. Wir glauben, viele Dinge, die uns der Lehrer aufträgt, wären überflüssig. („Diese doofe Übung haben wir doch schon mal gemacht. Die bringt im realen Alltag sowieso nichts.“) Wir haben bei der Ausführung oft das Gefühl, nicht wir selbst zu sein. Von außen wirkt unser Vorgehen gelernt, widersprüchlich und „aufgesetzt“. Unseren Lehrer halten wir einerseits für den Größten, andererseits für zu zwanghaft und nicht auf das wahre Leben bezogen. Er geht aus unserer Sicht nicht genügend auf unsere Individualität ein, gängelt und unterdrückt uns. („Ich mache das nicht mehr lange mit.“) 3. Die Übung und Professionalisierung im Umgang mit den Standards bringt uns auf den Weg der Perfektion. Allmählich entsteht bei uns das Gefühl, dass wir die Standards beherrschen und nicht sie uns. Wir fühlen uns zunehmend authentischer und beginnen, unser Vorgehen geschickter und situativer zu steuern. Es wirkt nun nicht mehr „aufgesetzt“. Unseren Lehrer halten wir zunehmend für überflüssig. Er gehört aus unserer Sicht zur „alten Schule“ und begreift nicht, dass mittlerweile alles ganz anders geworden ist. In manchen Punkten sind wir offensichtlich erfolgreicher. („Es wird Zeit, dass ich aus dieser Sache hier rauskomme. Hier lerne ich nichts mehr.“) 4. Entweder werden wir an dieser Stelle zunehmend starr und unflexibel, perfektionieren die Standards isoliert von den situativen Feinheiten immer weiter, oder wir füllen diese mit unserer Persönlichkeit und entwickeln einen eigenen Stil. Im ersten Fall werden wir ein „Abziehbild solider Arbeit“. („Ich mache halt meinen Job. Und das verdammt gut.“) Im zweiten Fall bewegen wir uns auf das Künstlertum zu. Mittlerweile hält man uns für außergewöhnlich und unterstellt uns Talent und Begabung, vielleicht auch Charisma und Führungspersönlichkeit. Unseren Lehrer verstehen wir mittlerweile wieder viel besser. Unser Respekt ist gewachsen und wir begegnen ihm mit wachen Sinnen, immer bereit, weitere Feinheiten aufzunehmen. Die Frage „Ist er besser oder schlechter als ich?“ bewegt uns nicht mehr. („Das kann man schlecht erklären, aber er ist schon was Besonderes.“) 5. Unsere Leistungen heben sich mittlerweile sehr vom Durchschnitt ab und wir stehen vor einer weiteren Weiche: Entwickeln wir nun Künstlertum und Meisterschaft oder Überheblichkeit und Hochmut? Wenn es uns gelingen soll, Führung wirklich zu einer Kunst-

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form zu entwickeln, benötigen wir Disziplin, Achtsamkeit und die Bereitschaft, die Aufgabe nahezu losgelöst von unserer Persönlichkeit zu leben. Die „Führungs-Primadonna“ überbewertet sich selbst zunehmend als Ursache ihres Erfolgs (Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall). Sie beginnt, die wirklichen entscheidenden Dinge zu vernachlässigen. Der „Führungs-Meister“ vergisst nicht, was das Wesentliche ist, und hört nie auf, sich in Bezug auf diese Punkte weiter zu entwickeln. Er gestaltet sich selbst zum Führungsinstrument. („Ich erkenne heute erst, wie unendlich viel es noch zu lernen gibt.“) 6. An dieser Stelle bewegen wir uns bereits an der Grenze des Bekannten. Wir beginnen Neuland zu erforschen und gewinnen eine Unschuld und Freiheit in unserer Kunst, die oft nicht mehr verstanden wird und für die meisten Menschen nicht zur Nachahmung geeignet ist. Wenn wir nun nicht in Kontakt mit dem wahren Leben bleiben, werden wir exzentrisch. („Weißt du, Führung ist eine Welt, die niemand je verstehen wird.“) Noch immer besteht die Gefahr, die Kernaufgabe der Führung aus den Augen zu verlieren – und das Entwickelte zu verlieren. Wenn wir nicht mehr von der realen Welt herausgefordert werden, wenn das Leben uns keine Rückmeldungen mehr geben kann (z. B. weil sich niemand mehr traut, an unserem Denkmal zu kratzen oder wir in einem geschützten Elfenbeinturm leben), werden wir schwach und beginnen, die Natur der Dinge misszuverstehen. Wir werden wie ein Spitzensportler ohne (Wettkampf-)Praxis. 7. Mittlerweile sind wir wohl selbst zum Vorbild und Lehrer geworden. Der Unterschied besteht darin, ob wir unseren Weg durchschaut haben und über eine Landkarte durch das Gelände des Wachstums verfügen – oder nicht. Im ersten Fall können wir zum umfassenden Wegführer werden, wir können lehren. („Schau, in deiner Phase ist Folgendes wertvoll ...“). Im zweiten kann man bestenfalls durch Zusehen von uns lernen. („Was soll ich sagen? So schwer ist es doch nicht. Schau halt genauer hin.“) Der wahre Künstler beginnt, ein Werk und Erbe zu hinterlassen. Ob wir uns den Weg von Malern (z. B. Picasso, Dali), Spitzensportlern (z. B. McEnroe) oder asiatischen Kampfkunst-Meistern anschauen: Wir finden sehr oft diese Muster in ihrer Biografie wieder. Und es gibt keine Ziellinie, kein Ende!

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„Eine Genossenschaft, welche eine große Zahl gut angelegter Individuen umfasst, nimmt an Zahl zu und besiegt andere und weniger gut begabte Gesellschaften, selbst wenn schon jedes einzelne Glied über die anderen Glieder derselben Gesellschaft keinen Vorteil erlangen mag.“ Charles Darwin Die Natur an sich kommt ohne Führung aus – unser Leben aber nicht! Das heißt nicht, dass wir einzelnen Führenden huldigen sollten, sondern dem Phänomen. Auf guter Führung basiert unsere Existenz und auf guter Führung beruht unsere Zukunft. Zum Abschluss eines Buches neigen Autoren leicht zu pathetischen Worten und Ausblicken. Vermutlich kann man diesem Impuls nicht gut widerstehen, wenn man etwas mit Leidenschaft tut.

1.

Es geht letztendlich nicht um unser Berufsleben!

Wenn Sie bis hierher mitgegangen sind, sind Sie wohl auch davon überzeugt, dass wir Menschen Gemeinschaftswesen sind. Ohne Zusammenhalt der Ur-Horde keine Fortpflanzung, keine gelungene Aufzucht, kein Überleben. Die Evolution hat uns in diesen Zusammenhängen zu nützlichem Sozialverhalten „motiviert“. Paradoxerweise haben ihre Mittel dazu geführt, dass wir heute viele Auseinandersetzungen und separatistische Bestrebungen auf der Welt haben. Wie dies zusammenhängt? Eben weil wir in so hohem Maße auf unsere kleine Gemeinschaft des Vertrauens angewiesen waren, mussten wir hochsensibel für verräterische Zeichen sein. Alles Fremde, Unberechenbare, Nicht-Zugehörige wurde vermieden. Und wir tun das noch immer! Wir bemühen uns nicht wirklich um eine globale Kultur unterschiedlicher und doch miteinander verwobener Gemeinschaften, sondern suchen nach solchen, die der unseren am ähnlichsten sind. Vor dem Rest suchen wir uns zu schützen. Unseren Ur-Ahnen ging es da besser: Es gab bestimmt niemanden, der vor 2 Millionen Jahren mit Blick auf den Sonnenuntergang von der Verwirklichung seiner Individualität träumte und den Entschluss fasste, es einmal „auf eigene Faust“ zu versuchen. Er dachte gar nicht daran, alleine mehr herauszuholen, als die Gruppe ihm bieten konnte. Ihm fehlte sogar das Ich-Bewusstsein. Es gibt Autoren, die dessen Entstehen auf eine Zeit vor etwa 60.000 Jahren

254

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datieren202. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich huldige hier keiner evolutionären Sozialromantik, wenn ich darauf hinweise, dass es erheblich der Entwicklung unseres Bewusstseins zu verdanken ist, dass wir wachsende Probleme erleben. Der Knackpunkt liegt nicht im Selbstbewusstsein, sondern vielmehr darin, dass wir vernachlässigt haben, parallel dazu das von Anbeginn an vorhanden gewesene Gemeinschafts-Bewusstsein ebenfalls weiter zu entfalten! Viele von uns empfinden sich kaum noch als Mitglied einer Gemeinschaft. Wir leben oder arbeiten einfach nur nebeneinander. Fruchtbare Diskussionen und Reflexionen darüber, warum und wie wir zusammenleben wollen, fehlen. Unser Gemeinschafts-Bewusstsein steckt offenbar in einer Entwicklungsstufe fest, während unser Ich-Bewusstsein fleißig voraneilt. Gleichzeitig haben wir Institutionen, Organisationen und Staaten geschaffen, die – völlig losgelöst von ihrer ursprünglichen Gemeinschaftsaufgabe und sozialen Funktion – sämtliche Energien in den Kampf gegen andere fließen lassen. Stehen solche Strukturen noch uns zur Verfügung – oder wir ihnen?

2.

Auf das große Gemeinschaftsprojekt besinnen

„Wir sind durch unsere Untersuchungen zu der Erkenntnis gelangt, dass sich das Wesen sämtlicher Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft ändert, wenn im Kern der Gemeinschaft Klarheit über ihren Zweck herrscht“, schreiben Wheatley und Kellner-Rogers203. Die Zusammengehörigkeit sei dann durch ein gemeinsames Verständnis hinsichtlich des Zwecks definiert und nicht durch die gemeinsame Wertung bestimmter Verhaltensweisen. „Die Zielsetzung bindet das einzelne Individuum, aber nicht um den Preis der Aufgabe seiner Einzigartigkeit. Die Konzentration auf die gemeinsame Aufgabe, nicht auf die Übereinstimmung bis ins Detail, nutzt die Spannung zwischen Zusammengehörigkeit und Individualität für eine kraftvolle und widerstandsfähige Gemeinschaft.“ Die Autoren berichten in diesem Zusammenhang u. a. von einer Junior High School, die all ihr Verhalten und ihre Entscheidungen auf nur drei Regeln fundieren: „ Kümmere dich um dich selbst! „ Kümmere dich um andere! „ Kümmere dich um diesen Ort!

202 von Sprockhoff, H., Bewusstsein, Geist und Seele. Die Evolution des menschlichen Geistes, 1996, Frank-

furt/ M.: Insel, S. 35 203 Wheatley, M. J. & Kellner-Rogers, M., Widersprüchlichkeiten und Verheißungen sozialer Gemeinschaften,

in: Hesselbein, F. (Hrsg.), The Drucker Foundation, Die soziale Gemeinschaft der Zukunft, 1999, München: Econ, S. 25-35

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Als ich dies las, hatte ich spontan den Eindruck, das wären wohl die Regeln gewesen, die Mutter Natur uns vor vielen Tausenden von Jahren aufgeschrieben hätte – wenn es nötig gewesen wäre. Aber sie hatte einen viel wirkungsvolleren Weg. Sie schrieb uns diese Regeln in unseren Geist – hatte aber quasi ein paar Nebenwirkungen übersehen, die eine Eigendynamik bekommen haben. Diese drei Grundregeln reichen aus, um sich zugehörig zu fühlen und ein gemeinsames Ziel zu definieren, sie sind aber gleichzeitig offen genug für vielfältige und individuelle Reaktionen in jeder Situation. Man kann die Erfahrung machen, dass Menschen innerhalb kürzester Zeit mit jenen eine neue Beziehung eingehen, von denen sie erfahren, dass sie die gleichen Ziele und Prioritäten verfolgen. Sie haben einfach zueinander gefunden! Haben wir aufgehört, einen gemeinsamen Traum zu träumen? Manche würden vielleicht sagen, wir seien aufgewacht und hätten uns endlich der bitteren Realität des Konkurrenzkampfes gestellt. Vielleicht sind wir aber auch jetzt in einem schlechten Traum und müssen wieder lernen, den realen Kern hinter all unseren Aktivitäten zu erkennen. Es geht vielleicht nach wie vor schlicht um die Frage, wie wir gemeinsam unsere Wahrscheinlichkeit erhöhen können, zu überleben. Wenn ich mit Ihrer Familie gemeinsam einen großen, wunderschönen Garten anlegen möchte, wird er nicht besser, wenn wir darum kämpfen, wer den größeren Teil gestaltet, das höhere Budget zur Verfügung hat, mehr Hilfskräfte einsetzen oder sich während der Bauzeit besser ernähren darf. Dennoch könnten wir all diesen Unsinn natürlich tun. Aber warum eigentlich? Wann nehmen wir diesen gemeinsamen Garten endlich in Angriff?

Mit dieser Haltung und dem evolutionären Führungsansatz möchte ich ein alternatives Erfolgsmodell in den Wettbewerb senden. Wir können wertvollere Wege gehen, um gemeinsam unser Überleben zu erwirtschaften, als wir dies derzeit tun.

3.

Wettbewerb der Erfolgsmodelle

Der Weg des Miteinanders ist der Ausgangspunkt unserer Existenz und hat sich seinem Wesen nach für uns Menschen bis heute bewährt! Die Alternativen, die Wege des Gegeneinanders oder der Isolation lassen sich für unsere Art als tödliche Sackgassen identifizieren. Dennoch haben wir offenbar noch kein Erfolgsmodell gefunden, dieses Wissen attraktiver umzusetzen. Die Evolution interessiert sich nicht für dieses Problem. Sie wartet und sortiert aus. Vor Jahren habe ich eine kleine asiatische Geschichte gelesen. Dort wird der Höllenbereich so beschrieben: Alle sitzen ausgehungert und mit panischem Blick auf den überfüllten Essenstisch um diesen herum. Alle Genüsse sind da. Die Grausamkeit besteht in der Tatsache, dass

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die Essstäbchen so lang sind, dass niemand sie in seinen Mund geführt bekommt. Es ist der pure Horror! Merkwürdigerweise wird der Himmelsbereich genauso beschrieben: extremer Hunger, überbordende Fülle, zu lange Essstäbchen. Der Unterschied besteht nur im Erfolgsmodell: Hier füttern sich alle gegenseitig! Die Evolution schickt immer wieder neue Erfolgsmodelle in den Wettbewerb. Kein Wesen auf dieser Erde ist offenbar in der Lage, dies in einem solchen Maß selbst zu tun wie wir. Das heißt noch lange nicht, dass wir dadurch bevorteilt sind. Wenn wir uns für miese Erfolgsmodelle entscheiden, werden wir aussortiert. Ende! Vor diesem Hintergrund haben wir unser Schicksal mehr in der Hand als andere Lebewesen. Wir schauen daher manchmal überheblich auf sie, z. B. auf die ausgestorbenen Dinosaurier, die uns als Beispiel dienen für Geschöpfe, die es nicht geschafft haben. Wussten Sie, dass die Dinos rund 250 Millionen Jahre die Welt beherrscht haben? Wenn wir außergewöhnlich großzügig rechnen, können wir selbst uns bislang einige wenige Millionen Jahre zugestehen. Ganz ehrlich: Es ist absolut offen, ob wir den bestehenden Dinosaurier-Rekord einstellen. Worin besteht unsere Chance? Nun, wir können Erfolgsmodelle entwerfen, diskutieren, testen, überarbeiten oder wieder verwerfen. Oft, ohne unsere Existenz dabei ernsthaft zu gefährden. Bislang tun wir dies in manchen Lebensbereichen systematischer und erfolgreicher als in anderen. Selbst Religionen könnten als Erfolgsmodell-Angebote betrachtet werden. Manche davon bewähren sich seit über 2.500 Jahren. In den über 15 Jahren, in denen ich mit Führenden und Geführten zusammenarbeite, habe ich viele Erfolgsmodelle im Wettbewerb erlebt, an die ich nicht glauben konnte. Die meisten sind gescheitert. Manche nicht. Was zum Erfolg wird, beweist in letzter Instanz immer das wahre Leben. Es sortiert Untaugliches aus. Wir haben dagegen „das Zeug“ zum bewussten Erschaffen von neuen Erfolgsmodellen für unsere große Gemeinschaft von Menschen! Das kann übrigens niemand für uns übernehmen. Unternehmen könnten vor diesem Hintergrund als „Pilotprojekte“ betrachtet werden, neue Erfolgsmodelle für Gemeinschaftsprojekte zu prüfen, denn das tun sie bereits seit Ewigkeiten. Schließlich sind sie so alt wie wir!

4.

Unternehmen sind in Wirklichkeit Pilotprojekte

Wir haben Unternehmen aus unserer Perspektive als Gemeinschaften definiert, in denen sich Menschen zusammentun, um ihr Überleben erfolgreicher zu sichern, als sie dies alleine tun könnten. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir hier sofort das Grundprinzip der menschlichen Existenz wieder. Wir Menschen sind, evolutionär betrachtet, schon immer eine große Unternehmung. Unsere Gemeinschaften und Organisationen entstehen um eine Aufgabe, die wir nicht gut alleine hinbekommen. In diesem Kreis richten wir unser Handeln an dem Erfolgsmodell aus, an das wir glauben können. Gute Führung verbessert unsere Erfolgschancen. Diese unternehmerischen Gemeinschaften sind Bestandteil einer faszinierenden Welt von

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Erfolgsmodell-Tests. Das sollte systematisiert werden. In Bezug auf das hier vorgelegte Modell evolutionärer Führung sähe ein Test vielleicht so aus: „ Der Nutzen des evolutionären Führungsansatzes verwirklicht sich am konsequentesten, wenn Unternehmen und Organisationen sich explizit und öffentlich dazu bekennen, während sie sich daran ausrichten! Auf diese Weise bieten sie den Menschen eine Chance, systematisch auszuwählen, welchen Zielsetzungen und welcher Führung sie sich anschließen möchten. o

Das evolutionäre Führungsverständnis muss zunächst immer mit allen Beteiligten diskutiert werden, bevor es in der Organisation Basis der gemeinsamen Arbeit werden kann. Ist es nicht verblüffend, dass Unternehmen immer wieder in z. T. aufwendigen Prozessen Führungsgrundsätze erarbeiten? Erstens kommt letztlich zumeist inhaltlich das Gleiche dabei heraus, zweitens wird übersehen – ich wiederhole mich hier gerne –, dass es natürliche Führungsgrundsätze gibt!

„ Gute Führung, das hat die Evolution meiner Ansicht nach zweifelsfrei bewiesen, stellt einen Wettbewerbsvorteil dar. Dieser wird eine positive Gesamtdynamik in Gang setzen. Was funktioniert, wird häufiger zur Anwendung kommen. Die Prinzipien wären ja bekannt. Wir sind in diesem Punkt nicht einmal auf unseren Verstand angewiesen. Die Orientierung an wirkungsvollen Erfolgsmodellen nimmt automatisch zu, wenn wir deren Funktionieren erleben. „ Wenn zu einem Erfolgsmodell mehrere Unternehmen nötig sind, werden diese sich ebenso zusammentun wie Einzelwesen, wenn sie eine Gemeinschaft bilden. Das heißt absolut nicht, dass es zu Fusionen oder Übernahmen kommen muss. Ganz im Gegenteil, spreche ich hier von Vernetzungen in jegliche Richtung, z. B. auch Kunden-, Lieferanten- oder Regional-Gemeinschaften. Auch in solchen Gruppierungen ist automatisch das Phänomen Führung zu finden. Mein Tipp: den evolutionären Führungsansatz einfach nun auf einer Integrationsstufe höher weiter verwirklichen. „ Sie ahnen, wo dieser Weg hinführt … Bei der Gelegenheit: Auch in politischen Gruppierungen, Lebens- und Lerngemeinschaften findet Führung statt. Eines ist an dieser Stelle eine Betonung wert: Wir lassen Erfolgsmodelle gegeneinander antreten, nicht Menschen! So wie prinzipiell jeder von der Entwicklung wirkungsvoller Entspannungsmethoden profitieren kann, ohne dabei jemand anderem die Erholung zu rauben, ist unser gemeinsamer Weg kein Null-Summen-Spiel. Es geht an der Stelle eindeutig nicht um einen großen Kuchen, der verteilt wird. Womit wir natürlich bei der Frage landen, wie wir mit der Verteilung des gemeinsam Erwirtschafteten, des Vorhandenen, umgehen sollten.

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5.

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Weiter nach sozialer Gerechtigkeit suchen

Wir brauchen einander und sähen ziemlich dumm aus, wenn wir nach dem Motto leben würden: Es kann nur einen geben! Der absolute Sieg wäre in unserem Fall allein um den Preis zu haben, selbst einzugehen. Unser Motto lautet also korrekt: Es kann nicht nur einen geben! Wir sind eine Leistungs-Gemeinschaft mit Solidargedanken. Damit stellt sich automatisch die Frage, wie das gemeinsam Erwirtschaftete verteilt werden sollte. Ein Klassiker, nicht wahr? Eine direkte Bezugnahme zwischen individueller Leistung und Gewinn ist natürlich sehr selten im strengen Sinne beweisbar. Dennoch zeigen Studien, dass das Erleben von Fairness und Angemessenheit ein wichtiger Motivationsfaktor ist204. Unsere bisherigen „Pilotprojekte“ in Unternehmen zeigen, dass mechanische Bonussysteme eher zum gezielten Manipulieren der Variablen verleiten denn zum optimalen Leistungsverhalten und zu Gerechtigkeitsempfindungen. Sie lenken die Aufmerksamkeit fort von den tatsächlichen Erfolgsvariablen des Gemeinschaftsprojekts hin zu den persönlichen BonusOptimierungsvariablen. Das Interesse an der Belohnung verdrängt das Interesse an den eigentlichen gemeinsamen Zielen. Solche Systeme sollten vielleicht lieber nicht eingeführt werden. Interessanterweise wurden aber viele altertümliche Großzügigkeitssysteme patriarchischer Natur ersetzt durch so genannte gerechte und transparente Rechensysteme. Größere Zufriedenheit ist dadurch selten entstanden. Wir wissen nicht, wie unsere Urahnen diese Aufgabe organisierten, denn Verhalten wird so selten zu Versteinerungen. In heutigen Jäger- und Sammlergesellschaften aber gehört das Fleisch nicht zwingend dem erfolgreichen Jäger oder seiner Familie. Fleisch ist hier eher ein Allgemeingut; man nimmt, was da ist. Der Gewinn der Gruppe wird so eingesetzt, dass man auch überleben kann, wenn „die Jagd“ mal nicht erfolgreich ist. Es gibt quasi ein Grundgehalt, das das Überleben aller Beteiligten wahrscheinlich macht. Oft hat das erfolgreichste Gruppenmitglied die Chance, sich das schönste Stück herauszuschneiden, bevor der Rest allen zur Verfügung steht. Wurden besondere Jagderfolge erzielt, hat jeder Beteiligte auch mal Überfluss. Er kann Geschenke machen und sich Besonderheiten leisten. Je mehr konstruktive Zusammenarbeit in einer Gemeinschaft erforderlich ist, desto unsinniger sind natürlich Belohnungssysteme, die eine Einzelkämpfermentalität fördern. Welche Form des kooperativen Sozialaustauschs haben wir in unseren Organisationen und Gruppen, um „die Beute zu teilen“? Wie feiern wir gemeinsam die erfolgreiche Jagd? Wie versichern wir uns gegenseitig, zufrieden zu sein und uns auf die nächste gemeinsame Jagd zu freuen? Ich bin nicht kompetent genug, diese schwierige, gesellschaftspolitische Thematik nutzbringend zu beleuchten. Es wäre allerdings durchaus möglich, auf der Basis des evolutionären

204 Sprenger, R. K., Mythos Motivation, 2005, Frankfurt: Campus, S. 184

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Führungsverständnisses lohnende Experimente zu entwickeln. Lassen Sie uns aber auf keinen Fall damit aufhören, nach besseren Lösungen für das gemeinschaftliche Überleben zu suchen. Und an dieser Stelle möchte ich nun unseren kleinen Ausflug beenden. Es hat mir Spaß gemacht, mit Ihnen unterwegs gewesen zu sein. Wenn Sie eigene praktische Erfahrungen, Studien oder Pilotprojekte rund um unser Thema Evolutionäre Führung planen oder umsetzen: Würden Sie mich auf dem Laufenden halten? Ich revanchiere mich! Vielleicht lernen wir uns ja sogar irgendwann einmal auf dem großen gemeinsamen Weg kennen. Es würde mich freuen! Bis dahin: Machen Sie es gut! Ihr

Literaturverzeichnis

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Literaturverzeichnis

Folgende Autoren haben mich mit ihren Erfahrungen, ihrer Fantasie und ihrem Wissen sehr angeregt. Sollte ich ihnen in meiner Arbeit in manchen Punkten widersprochen haben, schmälert das meine Hochachtung für ihre Kompetenz in keiner Weise. Für ein möglicherweise unzulängliches Verstehen entschuldige ich mich an dieser Stelle, verbunden mit der herzlichen Bitte, mir meine Missverständnisse zu erläutern. Die folgende Zusammenstellung umfasst nicht alle berücksichtigten Autoren. Ein vollständiges Literaturverzeichnis stelle ich Ihnen auf Wunsch aber gerne zur Verfügung.

Allman, W. F., Mammutjäger in der Metro. Wie das Erbe der Evolution unser Denken und Verhalten prägt, 1999, Berlin: Spektrum Baxter, St., Evolution. Ein Roman, 2004, München: Heyne Becker, M., Personalentwicklung, 2. Auflage, 1999, Stuttgart: Schäffer-Poeschel Buckingham, M., The One Thing. Worauf es ankommt, 2006, Wien: Linde Buss, D. M., Evolutionäre Psychologie, 2. Auflage, 2004, München: Pearson Studium Fortey, R., Leben. Eine Biographie, 2002, München: DTV Gomez, P. & Probst, G., Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens, 3. Auflage, 1999, Stuttgart: Haupt Goss, T., Schaffen Sie Ihre Zukunft neu, 2000, Düsseldorf/Berlin: Metropolitan Malik, F., Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 2001, München: Heyne Malik, F., Management: Das A und O des Handwerks, 2005, Frankfurt: Frankfurter Allgemeine Buch Müller, S., Köhler, D., Hinrichs, G., Täterverhalten und Persönlichkeit, 2005, Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft Musolff, C. & Hoffmann, J. (Hrsg.), Täterprofile bei Gewaltverbrechen. Mythos, Theorie und Praxis des Profilings, 2002, Berlin: Springer

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Literaturverzeichnis

Neuberger, O., Führen und führen lassen: Ansätze, Ergebnisse und Kritik der Führungsforschung, 6. Auflage, 2002, Stuttgart: Lucius und Lucius Rosenstiel, L. v., Lang-von-Wins, Th., Perspektiven der Potentialbeurteilung, 2000, Göttingen: Hogrefe Rosenstiel, L. v., Regnet, E. & Domsch, M. (Hrsg.), Führung von Mitarbeitern, 5. Auflage, 2003, Stuttgart: Schäffer-Poeschel Sarges, W. (Hg.), Management-Diagnostik, 2. Auflage, 1995, Göttingen: Hogrefe Siegel, D. J., Wie wir werden die wir sind. Neurobiologische Grundlagen subjektiven Erlebens & die Entwicklung des Menschen in Beziehungen, 2006, Paderborn: Junfermann Sprenger, R. K., Mythos Motivation, 2005, Frankfurt: Campus Marcus, G., Der Ursprung des Geistes. Wie Gene unser Denken prägen, 2005, Düsseldorf: Walter Weibler, J.: Personalführung, 2001, München: Vahlen Weinert, A. B., Organisations- und Personalpsychologie, 5. Auflage, 2004, Weinheim: Beltz Welch, J. und S.: Winning. Das ist Management, 2005, Frankfurt: Campus Wunderer, R., Führung und Zusammenarbeit. Eine unternehmerische Führungslehre, 5. Auflage, 2003, München: Luchterhand

Der Autor

Der Autor

Michael Alznauer, Jahrgang 1962, hat in Bonn Klinische Psychologie und Diagnostik studiert, bevor er vor über 15 Jahren begann, sich mit dem Phänomen Führung zu befassen. Seither hat er im Rahmen der Management-Beratung und -Diagnostik einige Tausend Führungskräfte in ihrer Aufgabe unterstützt und begleitet. Er ist verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder und seit einigen Jahren Mitglied eines Wohnprojekts in einem ehemaligen Kloster in Bonn. Hier ist auch die von ihm gegründete Unternehmensberatung CST ansässig, deren Beratungsansatz mit der Evolutionären Führung und dem Management-Profiling hier erstmals beschrieben ist.

Erreichen können Sie den Autor unter [email protected] www.change-support-team.de

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Ein Dankeschön

Ein Dankeschön

An diesem Buch haben nur einige wenige Menschen explizit gearbeitet – aber es ist letztlich das Ergebnis einer großen Gemeinschaft von Führenden, Geführten, Autoren und Wissenschaftlern. Ich erweise Ihnen allen an dieser Stelle meinen großen Respekt und Dank! Ich lebe und arbeite in einer Geborgenheit und Unterstützung, die nicht selbstverständlich ist. In Dankbarkeit!