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German Pages 591 Year 2013
Europäische Integration Wirtschaft, Erweiterung und regionale Effekte von
Prof. Dr. Ulrich Brasche FH Brandenburg
3., erweiterte und aktualisierte Auflage
Oldenbourg Verlag München
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 143, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Anne Lennartz Herstellung: Tina Bonertz Titelbild: thinkstockphotos.de Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Grafik + Druck GmbH, München Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-71657-3 eISBN 978-3-486-73609-0
Das neue und vereinte Europa, wo sich der deutsche Perfektionismus, die britische Voraussicht, die französische Erfindungsgabe, die italienische Phantasie, die polnische Geistesfreiheit und die tschechische Genauigkeit verbinden, muss ein Europa von Menschen sein, die gemeinsam eine Antwort gefunden haben auf die Frage, was wesentlicher ist: Sein oder Haben. Andrzej Szczypiorski: Europa ist unterwegs, Zürich 1996:94
Vorwort Jenseits der Krise – ein informierter Blick auf die Europäische Union Die positive Sicht auf eine „immer engere Union“ scheint verflogen. An ihre Stelle sind Krisensorgen, Untergangsszenarien und die Diskussion um Austritt und Herauswurf getreten. Einige der negativen Aspekte haben Substanz und werden die öffentliche Diskussion zu Recht noch weiter begleiten. Jedoch darf der Blick auf die auch positiven Wirkungen der Europäischen Integration und auf das bisher Erreichte dahinter nicht verschwinden. Jenseits aller Krisen und Unzulänglichkeiten gewinnt die EU für die Bürger ebenso wie für Unternehmen und Personen in der öffentlichen Verwaltung, in Politik und Verbänden immer mehr Bedeutung, und gleichzeitig fällt es nicht leicht, deren Strukturen und Prozesse zu durchschauen. Aus der Unkenntnis bilden sich Mythen und Gerüchte über dieses unbekannte Europa. Dieses Buch will helfen, einen nüchternen und analytischen Blick auf die Europäische Union zu werfen, aus dem ein differenziertes und informiertes Urteil erwachsen kann. Vor allem die wirtschaftlichen Aspekte Europas werden für den kundigen Laien verständlich gemacht, indem die grundlegenden Annahmen darstellt, bisherige Abläufe sowie Erfolge und Misserfolge geschildert und die Probleme und Widersprüche der Europäischen Wirtschaftsintegration benannt werden. Im Vordergrund stehen der Binnenmarkt und die gemeinsame Währung Euro, die Agrarpolitik und Regionalförderung, die wirtschaftlichen Wirkungen der Erweiterungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie die immer noch nicht entschiedene Mitgliedschaft der Türkei. Über institutionelle Fragen der EU erfährt der Leser/die Leserin genug, um das Spiel um Macht und Einfluss zwischen Nationalstaat, Interessensgruppen, Europäischer Kommission und Europäischem Parlament zu durchschauen. Zwei neue Schwerpunkte in dieser Auflage sind die Finanzmärkte sowie die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise; dabei wird besonders auf deren spezifisch europäische Dimension eingegangen.
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Vorwort
Für wen das Buch geschrieben ist Das Buch wendet sich an Studierende der Wirtschafts-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie des Europarechts, an Lehrer der Sekundarstufe und an Dozenten in der Erwachsenenbildung ebenso wie an Mitarbeiter in Politik, Verbänden und Verwaltung. Auch an Europa Interessierte, die keinen wirtschafts- oder sozialwissenschaftlichen Hintergrund haben, werden unkompliziert und schnörkellos an komplexe Zusammenhänge der Europäischen Integration herangeführt. Die theoretischen Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften werden eingeführt, soweit dies erforderlich ist, um die wirtschaftliche Logik der Europäischen Integration zu verstehen. Ein vertieftes Spezialwissen und das Umgehen mit formalen Modellen werden nicht angeboten oder vorausgesetzt. Themen, die in der Grundausbildung an den Hochschulen meist nicht behandelt werden, werden etwas ausführlicher vorgestellt; dazu zählen z.B. Außenwirtschaftslehre, Finanzmarktanalyse und Regionalökonomie. Dabei wird auch die Sichtweise der verhaltensorientierten Ökonomie berücksichtigt. Worum es in den Kapiteln geht Das erste Kapitel stellt die grundlegenden Prinzipien einer wachsenden EU sowie ihre wichtigsten Institutionen vor. Die Entscheidungen im „Macht-Dreieck“ der EU verlaufen oft widersprüchlich und mit unverständlichen Kompromissen. Daraus wird auch klar, warum Europa seine institutionellen Regeln weiterentwickeln muss, wenn es demokratischer und handlungsfähiger werden und so die Akzeptanz bei den Bürgern (wieder-)gewinnen will. Mit dem Vertrag von Lissabon sind zwar einige Reformen gelungen, ab es wird fundamentale Kritik lauter, die eine neue Formation – weg von der immer engeren Union – nach sich ziehen könnte. Im Zentrum des zweiten Kapitels steht das „wirtschaftliche Herz“ der Europäischen Integration: der Binnenmarkt. Unauffällig, aber dennoch mit tiefer Wirkung auf alle nationalen Märkte, ist die EU dem Ideal eines einheitlichen Marktes für Kapital, Arbeit, Waren und Dienstleistungen nähergekommen. An die Konsumgüter aus unseren Nachbarländern in den Regalen unserer Supermärkte haben wir uns gewöhnt, aber andere Effekte des Binnenmarktes werden als störend wahrgenommen: Wenn die EU-Kommission nationale Subventionen verbietet, wenn die Wasserwerke von der ausländischen Konkurrenz übernommen werden oder Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedsstaaten mit geringeren Lohnniveaus „uns die Arbeit wegnehmen“. Die ursprünglich erwarteten Effekte des Binnenmarktes werden – soweit möglich – mit den tatsächlich eingetretenen Effekten verglichen und die möglichen Gewinner und Verlierer ermittelt. Großes Gewicht haben dabei die Dienstleistungen, bei denen der Schutz nationaler Anbieter und die fürsorgliche Rolle des Staates vermeintlich im Widerspruch mit der Liberalisierung in der EU stehen. Neu im Blickfeld sind die Finanzmärkte, über deren Funktionieren wenig nachgedacht wurde – bis durch die Krise die Bedeutung des Finanzsektors klar wurde. Im dritten Kapitel wird der Frage nachgegangen, warum eine einheitliche Währung eingeführt wurde, welche „Prüfungen“ die Mitgliedsstaaten bestehen mussten und welche Nebeneffekte des Euro erwartet wurden. Nach der erfolgreichen Einführung der gemeinsamen
Vorwort
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Währung wurden mit der Krise die kritischen Aspekte, die bisher meist unterschätzt wurden, deutlich. In dieser Auflage wird der Euro daher recht ausführlich behandelt: Grundlagen zu den Themen Inflation, Wechselkurs und Geldpolitik bereiten das Verständnis der Argumente und Vorgänge um den Euro vor. Private und öffentliche Verschuldung, die sich als wesentliche Krisenursache gezeigt haben, bilden den zweiten Grundlagenabschnitt. Danach wird die Diskussion um das richtige Konzept einer Währungsunion aufgegriffen, womit auch die damaligen Kritiker stärker gewürdigt werden. Das politisch durchgesetzte Konzept der Konvergenz als Kriterium für die Übernahme des Euro sowie die institutionellen Festlegungen von Zuständigkeit und Verantwortung ergaben das – einzigartige und nicht schlüssige – Konstrukt der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Nach der Einführung des Euro und ersten – anscheinend erfolgreichen – Jahren brach die Krise aus. Als zwei Ursachen werden Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten sowie die Geldpolitik erörtert. Krisen werden in einen historischen Kontext eingebettet und mit der Theorie von Hyman Minsky erklärt. Die Krise, die im Jahr 2007 ausbrach, wird speziell in ihrer europäischen Dimension und im Hinblick auf den Euro dargestellt. Eine kurze Diskussion der derzeit diskutierten Lösungen schließt das Kapitel. Im vierten Kapitel werden diejenigen Politiken der EU beleuchtet, für die „Brüssel“ die meisten Mittel einsetzt: Agrar- und Regionalpolitik. Es wird untersucht, ob diese Politiken ökonomisch sinnvoll in Händen der EU liegen, ob die Ziele erreicht werden und welche Nebenwirkungen zu beobachten sind. Die Agrarpolitik der EU ist ein zählebiges und viel geschmähtes planwirtschaftliches Relikt europäischer Gemeinsamkeiten. Sie beansprucht umfangreiche Ressourcen und macht Probleme bei den Verhandlungen um internationale Handelsabkommen sowie bei der Aufnahme neuer Mitglieder. Eine grundlegende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik zeichnet sich nicht ab. Wirtschaftliche Entwicklungen haben meist eine starke regionale Komponente. Es wird vermittelt, welche ökonomischen Kräfte die Entwicklung von „Peripherie“ und „Zentrum“ vorantreiben, und wie sich die fortschreitende wirtschaftliche Integration Europas auf diesen Trend auswirkt: Führt „Europa“ zu mehr regionaler Ungleichheit oder ist es im Gegenteil ein Mittel des Ausgleichs? Die Unterstützung der EU für benachteiligte Regionen steht damit auf dem Prüfstand: Was wollte die EU damit erreichen, wie weit ist sie dabei tatsächlich gekommen und wie muss sie als erweiterte Union beschaffen sein, um notwendige Solidarität zu zeigen, ohne wirtschaftliche Vernunft in den Hintergrund treten zu lassen? Da ein Drittel des EU-Haushalts für diesen Bereich ausgegeben wird und da die neuen Mitglieder überwiegend aus unterstützungsbedürftigen Regionen bestehen, haben diese Fragen erhebliches Gewicht. Die EU ist für einige vorrangig ein großer „Fördertopf“ und für andere dagegen ein „Zuschussgeschäft“. Wenn auch die Größenordnung der Finanzen der EU bescheiden bleibt, ist doch der politische Druck auf die nationalen Regierungen groß, ihre finanzielle Position zu verteidigen. Dies führt zu der insgesamt unerfüllbaren Zielsetzung: „Einzahlung minimieren – Empfang maximieren“. Das fünfte Kapitel behandelt die Erweiterung der EU um insgesamt zwölf neue Mitglieder (2004 und 2007). Im Kontrast zu ihrer ungebrochenen Attraktivität für Dritte tut sich die EU immer schwerer damit, neue Mitglieder aufzunehmen. Die einmalige historische Situation des Zusammenbruchs des Sowjetreichs hat die EU geografisch, politisch und wirtschaftlich neu zentriert. Die Regeln, die die EU für die Mitgliedschaft dieser Länder gesetzt hatte, werden auf ihre Begründungen untersucht und es werden mögliche Effekte für die Kandidaten
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Vorwort
dargestellt. Die politischen und wirtschaftlichen Spannungen des Beitritts forderten sowohl von den bisherigen Mitgliedern als auch von den Kandidaten erhebliche Anpassungsleistungen. Die wirtschaftlichen Effekte der Erweiterung machen sich an zwei Fragen fest: Welche Verschiebungen wird es im Binnenmarkt geben, wenn Kapital, Arbeit, Güter und Dienstleistungen künftig ungehindert die Grenzen zwischen den alten und den neuen Mitgliedern überschreiten können, und welcher Mitgliedsstaat zahlt künftig mehr bzw. bekommt weniger? Mit diesen Fragen verbanden sich zahlreiche Befürchtungen, die auch zu politischen Blockaden im Erweiterungsprozess geführt haben. Mittlerweile können sowohl Hoffnungen als auch Befürchtungen an der Elle der wirtschaftlichen Realität gemessen werden. Das sechste Kapitel behandelt die Kandidatur der Türkei. Dieses Land nimmt in geografischer, kultureller und politischer Hinsicht eine Sonderstellung ein. Sein Beitritt ist umstritten wie kein anderer. Der Antrag auf Mitgliedschaft wurde bereits 1963 gestellt und vor dem Jahr 2023 dürfte er nicht entschieden sein. Die politischen Aspekte werden ausführlich beleuchtet und die denkbaren wirtschaftlichen Wirkungen eines Beitritts auf die EU sowie auf die Türkei diskutiert. Das siebte Kapitel richtet den Blick auf die Zukunft der EU, deren Richtung und „Finalität“ noch unklar ist. Die Weiterentwicklung der Europäischen Union erfordert nicht nur die erfolgreiche Integration der neuen Mitglieder und die Gestaltung der Beziehungen zu den Nachbarn, sondern auch die Lösung der globalen Herausforderungen Umwelt, Alterung und sozialer Zusammenhalt. Dazu sind Dynamik und Reformfähigkeit unerlässlich. Es werden einige Modelle für die künftige Entwicklungsrichtung der EU dargestellt, die nicht zwingend zu einer immer engeren Union führen müssen, sondern auch differenziertere Formen der Zusammenarbeit bedeuten können. Mein Dank … für wertvolle Anregungen und fruchtbare Diskussionen geht insbesondere an Victoria Büsch, Rüdiger Eschenbach, Frank Geilfuß, Susanne Huyoff, Winfrid Pfister, Tobias Roth, Siegfried Schulz, Michael Stobernack und meine Studierenden an der FH Brandenburg. Beata Berta hat das Manuskript akribisch durchgesehen und viel zu seiner Verbesserung beigetragen. Verbliebene Fehler und Unzulänglichkeiten gehen allein zu meinen Lasten. Neuigkeiten „Europa“ bleibt dynamisch: Um auch nach dem Redaktionsschluss im Januar 2013 dem Leser/der Leserin den „aktuellen Rand“ sowie Hintergrundinformationen leichter zur Verfügung stellen zu können, biete ich unter der folgenden Web-Adresse zusätzliches Material an und freue mich auf Kommentare und Hinweise: http://brasche-europa.de
Ohne die Ermutigung und Unterstützung meiner Frau, Gabriele Koch, hätte ich nicht die Kraft gehabt, dieses Buch zu schreiben: Ihr widme ich es.
Inhalt Vorwort
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Tabellen
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Abbildungen
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Abkürzungen
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1 Europäische Institutionen und Prozesse 1 1.1 Der europäische Integrationsprozess .......................................................................... 2 1.1.1 Prinzipien europäischer Entwicklung.............................................................. 2 1.1.2 Erweiterung versus Vertiefung........................................................................ 6 1.1.2.1 Spannungen bei Erweiterungen.........................................................7 1.1.2.2 Vertiefung als Transfer von Souveränität .......................................10 1.1.3 Ziele und Entwicklungsstand der EU ............................................................ 13 1.1.3.1 Die Ziele der Europäischen Union ..................................................13 1.1.3.2 Die Stufen der Integration Europas .................................................14 1.1.3.3 Wo steht die EU heute? ...................................................................18 1.2 Institutionen und Entscheidungen in der EU ............................................................ 19 1.2.1 Das europäische Macht-Dreieck ................................................................... 19 1.2.2 Europäisches Parlament ................................................................................ 21 1.2.3 Europäischer Rat und Rat.............................................................................. 22 1.2.4 Europäische Kommission.............................................................................. 27 1.2.5 Gesetzgebung in der EU................................................................................ 30 1.2.5.1 Die europäischen Verträge ..............................................................30 1.2.5.2 Verordnungen und Richtlinien ........................................................33 1.2.6 Regieren im System der EU .......................................................................... 36 1.3 Institutionelle Probleme in der EU ........................................................................... 39 1.3.1 Transparenz, Bürgernähe und Demokratie .................................................... 39 1.3.2 Dominanz der Großen über die Kleinen? ...................................................... 43 2 Der Europäische Binnenmarkt 47 2.1 Mehr Wettbewerb durch Integration ........................................................................ 48 2.2 Den Binnenmarkt vollenden ..................................................................................... 52 2.2.1 Das Programm für ‚1992‘ ............................................................................. 52
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Inhalt 2.2.2 Die Flankierung des Binnenmarktes ............................................................. 56 2.2.2.1 Subventionskontrolle und Wettbewerbsaufsicht ............................. 56 2.2.2.2 Staatliches Beschaffungswesen ...................................................... 58 2.2.3 Erwartungen an den Binnenmarkt................................................................. 62 2.2.3.1 Zur Bestimmbarkeit von Effekten des Binnenmarktes ................... 62 2.2.3.2 Erwarteter wirtschaftlicher Nutzen ................................................. 65 2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“ ...................................................................................... 67 2.3.1 Freier Warenverkehr ..................................................................................... 69 2.3.1.1 Erklärung des Außenhandels .......................................................... 69 2.3.1.2 Abbau von Handelshemmnissen ..................................................... 78 2.3.1.3 Vereinheitlichung technischer Standards ........................................ 81 2.3.1.4 Erwartete Handelseffekte des Binnenmarktes ................................ 85 2.3.1.5 Tatsächliche Handelseffekte des Binnenmarktes ............................ 90 2.3.1.6 E-Commerce nicht grenzüberschreitend ......................................... 96 2.3.1.7 Vertragsverletzungsverfahren im freien Warenverkehr .................. 97 2.3.2 Freizügigkeit für Arbeitnehmer im Binnenmarkt ......................................... 98 2.3.2.1 Einkommensdifferenzen als Wanderungsgrund ............................. 98 2.3.2.2 Wirkungen der Arbeitskräftewanderung ....................................... 101 2.3.2.3 Regelung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer .............................. 103 2.3.2.4 Wanderungen in der EU ............................................................... 105 2.3.2.5 Vertragsverletzungen der Freizügigkeit ........................................ 113 2.3.3 Niederlassungsfreiheit im Binnenmarkt...................................................... 114 2.3.3.1 Die Regelung der Niederlassung in der EU .................................. 114 2.3.3.2 Vertragsverletzungen der Niederlassungsfreiheit ......................... 117 2.3.4 Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt ..................................................... 117 2.3.4.1 Definition und Beschreibung von Dienstleistungen ..................... 117 2.3.4.2 Entwicklung und Bedeutung von Dienstleistungen ...................... 119 2.3.4.3 Dienstleistungen zwischen Staat und Markt ................................. 125 2.3.4.4 Dienstleistungen im Binnenmarkt................................................. 130 2.3.4.5 Liberalisierung gescheitert: Die Bolkestein-Richtlinie ................. 136 2.3.5 Wettbewerb bei netzgebundenen Dienstleistungen..................................... 139 2.3.5.1 Organisation von Wettbewerb in Netzen ...................................... 140 2.3.5.2 Daseinsvorsorge unter Wettbewerbsdruck.................................... 145 2.3.5.3 Beispiel: Elektrizität ..................................................................... 149 2.3.6 Freiheit des Kapitalverkehrs ....................................................................... 157 2.3.6.1 Dimensionen und Regelung der Kapitalverkehrsfreiheit .............. 157 2.3.6.2 Direktinvestitionen im Binnenmarkt............................................. 158 2.3.6.3 Widerstand gegen Direktinvestitionen .......................................... 163 2.3.6.4 Regulierung der Finanzmärkte...................................................... 166 2.3.6.5 Integration der Finanzmärkte in der EU ....................................... 175 2.4 Strategien der EU für Wettbewerbsfähigkeit ......................................................... 177
Inhalt
XI
3 Die gemeinsame Währung 183 3.1 Inflation und Geldpolitik ........................................................................................ 185 3.1.1 Inflation und Deflation ................................................................................ 185 3.1.1.1 Ursachen von Inflation und Deflation ...........................................185 3.1.1.2 Folgen von Inflation und Deflation ...............................................190 3.1.2 Geldpolitische Stabilisierung der Preise...................................................... 193 3.1.3 Wechselkurs ................................................................................................ 197 3.1.3.1 Der „richtige“ Wechselkurs ..........................................................197 3.1.3.2 Wechselkurse, Inflation und Handel .............................................199 3.1.3.3 Wechselkurse und Zinsen .............................................................204 3.1.3.4 Interne Abwertung ........................................................................204 3.2 Verschuldung ......................................................................................................... 205 3.2.1 Ursachen der Staatsschulden ....................................................................... 206 3.2.2 Nachhaltigkeit von Staatsschulden.............................................................. 209 3.2.3 Private Verschuldung .................................................................................. 212 3.2.4 Gesamtwirtschaftliche Folgen hoher Verschuldung ................................... 213 3.2.4.1 Verschuldung und Ansteckung .....................................................213 3.2.4.2 Staatsbankrott und Zinsen .............................................................216 3.2.4.3 Schulden-Deflation-Spirale und Wachstum ..................................218 3.3 Eigene oder gemeinsame Währung? ...................................................................... 220 3.3.1 Erwartungen an eine gemeinsame Währung ............................................... 221 3.3.2 Asymmetrische Schocks ............................................................................. 223 3.4 Die Konvergenzkriterien für den Euro ................................................................... 226 3.4.1 Konvergenz statt „optimaler Währungsraum“ ............................................ 226 3.4.2 Fiskalische Konvergenz .............................................................................. 231 3.4.2.1 Grenzen für Defizit und Schuldenstand ........................................231 3.4.2.2 Stabilitäts- und Wachstumspakt ....................................................234 3.4.3 Monetäre Konvergenz ................................................................................. 236 3.4.3.1 Konvergenzkriterium: Inflation ....................................................236 3.4.3.2 Konvergenzkriterium: Wechselkurs und EWS-I ...........................237 3.4.3.3 Konvergenzkriterium: Zinsen .......................................................241 3.5 Die Wirtschafts- und Währungsunion .................................................................... 242 3.5.1 Geldpolitik der EZB .................................................................................... 243 3.5.2 Fiskalpolitik in der WWU ........................................................................... 248 3.5.3 Förderung der Wettbewerbsfähigkeit .......................................................... 249 3.5.4 Widersprüche im Konzept der WWU ......................................................... 251 3.6 Die Einführung des Euro ........................................................................................ 252 3.6.1 Konvergenzprüfungen und erste Beitritte ................................................... 252 3.6.1.1 Die Konvergenzprüfung der ersten Gruppe ..................................253 3.6.1.2 Fragwürdige Aufnahme Griechenlands ........................................257 3.6.2 Pre-Ins und EWS-2 ..................................................................................... 258 3.6.2.1 Großbritannien, Dänemark und Schweden ...................................259 3.6.2.2 Die Transformationsländer und der Euro ......................................260
XII
Inhalt 3.6.3 Erste Erfahrungen mit dem Euro ................................................................ 264 3.6.3.1 EZB gewinnt Respekt ................................................................... 264 3.6.3.2 „TEURO“ und Preiskonvergenz ................................................... 265 3.6.3.3 Handelsintensität........................................................................... 266 3.6.3.4 Der Stabilitätspakt hält nicht......................................................... 267 3.7 Ungleichgewichte in der Währungsunion .............................................................. 272 3.7.1 Internationale Wettbewerbsfähigkeit .......................................................... 273 3.7.1.1 Unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit ..................................... 274 3.7.1.2 Wettbewerbsfähigkeit von Ländern .............................................. 277 3.7.2 Pro-zyklische Realzinsen ............................................................................ 281 3.7.2.1 Ursachen für Inflationsdifferenzen ............................................... 281 3.7.2.2 Inflationsdifferenzen und Realzinsen............................................ 283 3.7.2.3 Wirtschaftspolitik und Inflationsdifferenzen ................................ 285 3.8 Die Krise und der Euro .......................................................................................... 287 3.8.1 Zur Erklärung von Krisen ........................................................................... 287 3.8.1.1 Minskys instabile Finanzmärkte ................................................... 287 3.8.1.2 Wiederholte Krisen ....................................................................... 290 3.8.2 Zum Verlauf der Krise in der EU................................................................ 291 3.8.2.1 Spekulation und Krise................................................................... 293 3.8.2.2 Staatsverschuldung und Krise ....................................................... 296 3.8.2.3 Ungleichgewichte und Krise ......................................................... 299 3.8.2.4 Krisen-Kreislauf ........................................................................... 299 3.8.2.5 Eine Krise des Euro?..................................................................... 302 3.8.3 Lösungsansätze ........................................................................................... 303 3.8.3.1 Grundlegende Aspekte.................................................................. 304 3.8.3.2 Kurzfristige Maßnahmen .............................................................. 305 3.8.3.3 Mittelfristige Maßnahmen ............................................................ 308 3.8.3.4 Langfristige Maßnahmen .............................................................. 311
4 Politiken und Finanzen der EU 315 4.1 Agrarpolitik ............................................................................................................ 315 4.1.1 Der Agrarsektor im Wandel ........................................................................ 316 4.1.2 Agrarpolitik in der EU ................................................................................ 319 4.1.2.1 Ziele und Instrumente der Agrarpolitik ........................................ 320 4.1.2.2 Nebeneffekte und Reformdruck .................................................... 321 4.1.2.3 Reformen der Agrarpolitik............................................................ 324 4.1.3 Ansätze der EU-Agrarpolitik 2014–2020 ................................................... 328 4.2 Regional- und Strukturpolitik ................................................................................ 330 4.2.1 Regionen und Regionalismus in Europa ..................................................... 331 4.2.1.1 Dimensionen und Typen von Region............................................ 331 4.2.1.2 Regionalismus und das „Europa der Regionen“ ........................... 334 4.2.2 Disparität und Konvergenz ......................................................................... 336 4.2.2.1 Messung von Disparitäten und Konvergenz ................................. 336 4.2.2.2 Konvergenz durch Marktkräfte ..................................................... 341
Inhalt
XIII
4.2.2.3 Disparitäten durch Strukturwandel ...............................................344 4.2.2.4 Disparitäten durch Skalenerträge ..................................................344 4.2.2.5 Regionen in der Wirtschafts- und Währungsunion .......................349 4.2.3 Regionale Disparitäten in der EU................................................................ 351 4.2.4 Grundfragen der europäischen Regionalpolitik........................................... 357 4.2.4.1 Sind Solidarität und Effizienz vereinbar? .....................................357 4.2.4.2 Zentrale Lösungen für lokale Probleme? ......................................360 4.2.5 Regionalförderung der EU .......................................................................... 363 4.2.5.1 Entstehung, Größenordnung und Motive ......................................363 4.2.5.2 Grundsätze und Probleme der Regionalförderung ........................365 4.2.6 Wirkungen der Regionalförderung.............................................................. 372 4.2.6.1 Methodische Aspekte der Wirkungsmessung ...............................372 4.2.6.2 Befunde und Bewertung................................................................375 4.2.7 Ansätze der Regionalförderung 2014–2020 ................................................ 380 4.3 Finanzierung der EU .............................................................................................. 382 4.3.1 Zwei Sichten auf den Haushalt.................................................................... 382 4.3.2 Grundzüge des EU-Haushalts ..................................................................... 384 4.3.2.1 Grundsätze und Verfahren ............................................................384 4.3.2.2 Die Ausgaben ................................................................................385 4.3.2.3 Die Einnahmen..............................................................................387 4.3.3 Der Streit um die Nettozahler-Position ....................................................... 390 4.3.4 Der EU-Haushalt 2014–2020 ...................................................................... 395 5 Erweiterung der EU 397 5.1 Erwartungen an eine Mitgliedschaft ....................................................................... 398 5.1.1 Politisch-historische Aspekte ...................................................................... 398 5.1.2 Wirtschaftliche Aspekte .............................................................................. 399 5.2 Erweiterungsfähigkeit der EU ................................................................................ 400 5.2.1 Zur Absorptionsfähigkeit der EU ................................................................ 400 5.2.2 Homogenität und Identität........................................................................... 403 5.3 Der Erweiterungsprozess ........................................................................................ 407 5.3.1 Erweiterungsrunden .................................................................................... 407 5.3.2 Die Kopenhagen-Kriterien und ihre Wirkung ............................................. 411 5.4 Die Erweiterung von 2004 ..................................................................................... 417 5.4.1 Idealtypische Stufen der Transformation .................................................... 418 5.4.2 Ende des Kalten Krieges ............................................................................. 419 5.4.3 Der Ablauf der Erweiterung ........................................................................ 423 5.4.4 Der Agrarsektor........................................................................................... 427 5.4.4.1 Landwirtschaft im Umbruch .........................................................427 5.4.4.2 Agrarsektor und -politik im Beitrittsprozess .................................428 5.4.5 Handelsbeziehungen ................................................................................... 432 5.4.5.1 Handelsstrukturen zwischen „Ost“ und „West“ ............................432 5.4.5.2 Handelsintegration durch Europa-Abkommen ..............................433 5.4.5.3 Mitgliedschaft im Binnenmarkt ....................................................437
XIV
Inhalt
5.4.6 Direktinvestitionen...................................................................................... 439 5.4.6.1 Von der Staatswirtschaft zum Privateigentum an Produktionsmitteln ................................................................... 439 5.4.6.2 Standortvorteile und Markterschließung ....................................... 442 5.4.7 Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit ............................................... 446 5.4.8 Migrationsdruck aus Mittel- und Osteuropa? ............................................. 450 5.4.8.1 Zwischen Erwartung und Befürchtung ......................................... 450 5.4.8.2 Übergangsfristen bei der Freizügigkeit ......................................... 454 5.4.8.3 Entwicklung der Ost-West-Wanderungen .................................... 456 5.4.9 Finanzrahmen für die Erweiterung 2004..................................................... 459 5.5 Die „stille“ Erweiterung 2007 ................................................................................ 461 6 Die Kandidatur der Türkei 465 6.1 Annäherung zwischen der Türkei und der EU ....................................................... 465 6.2 Die „Zollunion PLUS“ mit der EU ........................................................................ 467 6.3 Politische Konflikte................................................................................................ 469 6.3.1 Politische Entwicklung in der Türkei.......................................................... 469 6.3.2 Nachbarn in der Ägäis ................................................................................ 471 6.3.3 Der Zypern-Konflikt ................................................................................... 472 6.3.4 Größe, Macht und Geopolitik ..................................................................... 474 6.4 Der Beitrittsprozess ................................................................................................ 475 6.4.1 Zur Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien.................................................... 475 6.4.1.1 Politische Kriterien ....................................................................... 476 6.4.1.2 Wirtschaftliche Kriterien .............................................................. 478 6.4.2 Wirtschaftliche Effekte einer Mitgliedschaft .............................................. 484 6.4.2.1 Zeithorizont und Entwicklungsdynamik ....................................... 484 6.4.2.2 Außenhandel der Türkei ............................................................... 487 6.4.2.3 Freizügigkeit ................................................................................. 489 6.4.2.4 Direktinvestitionen in der Türkei .................................................. 491 6.4.2.5 Die Türkei im EU-Haushalt .......................................................... 494 6.5 Mögliche Ergebnisse des Beitrittsprozesses........................................................... 496 7 Ausblick
499
Anhang: Meilensteine der Europäischen Integration
505
Literatur
511
Index
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Tabellen Tab. 1-1: Europäische Verträge in zeitlicher Reihenfolge...................................................... 31 Tab. 1-2: Stimmen in Parlament und Rat, EU-27(%) ............................................................. 45 Tab. 2-1: Vollendung des Binnenmarkt – Barrieren und Lösungen ....................................... 69 Tab. 2-2: Komparative Vorteile: Das Beispiel „Wein und Tuch“ .......................................... 72 Tab. 2-3: SITC – Standard International Trade Classification – Beispiel .............................. 73 Tab. 2-4: Erwartete Handelseffekte – Typologie der betroffenen Sektoren ........................... 88 Tab. 2-5: Intra-EU Exporte..................................................................................................... 95 Tab. 2-6: Keine Nutzung der Freizügigkeit: Gründe von Arbeitgebern und -nehmer .......... 108 Tab. 2-7: Ausländer-Anteil an den Erwerbspersonen (%) .................................................... 112 Tab. 2-8: Morphologie von Dienstleistungen ....................................................................... 118 Tab. 2-9: Wirtschaftsstruktur der EU-27 – Wertschöpfung der Branchen ( %) ................... 122 Tab. 2-10: Dienstleistungen im Unternehmenssektor der EU-25, 2002 ............................... 123 Tab. 2-11: Dienstleistungen, 2005( %) ................................................................................. 124 Tab. 2-12: Systematik: Dienstleistungen und Regulierung .................................................. 133 Tab. 2-13: Direktinvestitionen in der EU-15 im Zeitablauf ................................................. 163 Tab. 3-1: Kaufkraftverlust durch Inflation ........................................................................... 191 Tab. 3-2: Konjunktur und Staatsverschuldung 1970–1996 .................................................. 208 Tab. 3-3: Die Konvergenzkriterien für die Übernahme des Euro ......................................... 230 Tab. 3-4: Die Wirtschafts- und Währungsunion................................................................... 243 Tab. 3-5: Stand bei den Konvergenzkriterien zur Prüfung (1998) ....................................... 254 Tab. 3-6: Konvergenz 2012 .................................................................................................. 263 Tab. 3-7: Defizite in der Euro-Zone 2007 und 2011 ............................................................ 271 Tab. 3-8: Exportstärke der Euro-12 ...................................................................................... 277 Tab. 3-9: Leistungsbilanz (% BIP) ....................................................................................... 278 Tab. 3-10: Lohnstückkosten 1999 und 2008 ........................................................................ 279 Tab. 3-11: Realzins und seine Abweichung vom Durchschnitt ............................................ 285 Tab. 3-12: Verschuldung der öffentlichen Haushalte ........................................................... 298 Tab. 4-1: Erweiterung und Agrarsektor, 2007–2009 ............................................................ 318 Tab. 4-2: Kosten und Nutzen der EU-Agrarpolitik .............................................................. 323 Tab. 4-3: Ausgaben für Agrarpolitik 2010 ........................................................................... 327
XVI
Tabellen
Tab. 4-4: Morphologie von Regionen .................................................................................. 332 Tab. 4-5: Bevölkerung eines Landes in armen und reichen Regionen 2009 ........................ 354 Tab. 4-6: Entwicklung der Budgets für Regionalförderung im EU-Haushalt ...................... 364 Tab. 4-7: Formulierung überprüfbarer Ziele ........................................................................ 373 Tab. 4-8: Konvergenz-Typen europäischer Regionen .......................................................... 377 Tab. 4-9: Regionalförderung nach Regionstypen 2014–2020 .............................................. 381 Tab. 4-10: EU-Haushalt nach Ausgabekategorie, in %, Jahresdurchschnitte ...................... 386 Tab. 4-11: Einnahmen der EU nach Quellen ( % der Gesamteinnahmen) ........................... 389 Tab. 4-12: Nettozahler[–] und -empfänger [+] der EU-15 (1995–1999).............................. 392 Tab. 4-13: Nettosalden (jährliche Durchschnitte),1999–2003,2007–2013........................... 393 Tab. 4-14: Vorschlag der Kommission zum mittelfristigen Finanzrahmen 2014–2020 ...... 396 Tab. 5-1: Bevölkerung und Wohlstand in den Erweiterungsrunden .................................... 410 Tab. 5-2: Kapitel des Acquis für die Beitrittsverhandlungen ............................................... 413 Tab. 5-3: Von der Transformation zum globalen Wettbewerb............................................. 419 Tab. 5-4: Das wirtschaftliche Entwicklungsniveau der Beitrittskandidaten (2000) ............. 422 Tab. 5-5: Stationen der Erweiterung .................................................................................... 424 Tab. 5-6: Außenhandel des RGW (1970–1988) – Vor- und Nachteile ................................ 433 Tab. 5-7: Bedeutung des Handels mit MOEL für die EU-15 (1998) ................................... 435 Tab. 5-8: Exporte nach Faktorintensität (Anteil an allen Exporten in %) ............................ 439 Tab. 5-9: Bedeutung ausländischer Unternehmen 2001(Anteil in %) .................................. 441 Tab. 5-10: Wertschöpfung pro Beschäftigten in EU+12, 2008 ............................................ 441 Tab. 5-11: Direktinvestitionen in ausgewählten Ländern .................................................... 443 Tab. 5-12: Direktinvestitionen (Bestand) in ausgewählten Mitgliedsstaaten, 2003 (%) ...... 445 Tab. 6-1: Strukturwandel – Anteil der Sektoren an der Bruttowertschöpfung % ................. 479 Tab. 6-2: Produktion und Exporte der Türkei nach Technologieniveau .............................. 481 Tab. 6-3: Konstellationen wirtschaftlicher Entwicklung von EU und Türkei bis 2020 ....... 485 Tab. 6-4: Handelssaldo der Türkei mit der EU-27 ............................................................... 488
Abbildungen Abb. 1-1: Stufenschema der Europäischen Integration .......................................................... 15 Abb. 3-1: BIP – nominal und real......................................................................................... 186 Abb. 3-2: Gesamt- und Kerninflation 1991–2012 ................................................................ 187 Abb. 3-3: Inflation, Deflation, Des-Inflation ........................................................................ 187 Abb. 3-4: Zins und Risiko – 10-jährige Staatsanleihen ........................................................ 217 Abb. 3-5: Öffentliche und private Verschuldung 2011 ........................................................ 219 Abb. 3-6: Abwertung gegenüber der DM, 1965–1998 (1965=100) ..................................... 239 Abb. 3-7: Nominalzins, Inflation und Realzins im Euro-Raum ........................................... 283 Abb. 3-8: Minskys „instabile Finanzmärkte“ ....................................................................... 288 Abb. 3-9: Private (Brutto-) Verschuldung, Relation zum BIP, % ........................................ 295 Abb. 4-1: Erwerbtätige in der Landwirtschaft ...................................................................... 317 Abb. 6-1: Beschäftigte in der Schattenwirtschaft, Türkei 2010............................................ 482 Abb. 6-2: Exporte der Türkei nach Zielregionen (%) ........................................................... 488 Abb. 6-3: Direktinvestitionen – Bestand (Relation zum BIP, %) ......................................... 493
Abkürzungen Acquis AEU-V BIP BNE c.p. COREPER ECOFIN EFSF EFTA EG EGKS EG-V, EU-V EIB EPG ESM EU EU+10 EU+12 EU+2 EU-12 EU-15 EU-27 EU-6 EU-9 EuGH
Summe der in der EU vereinbarten Gesetze und Verträge Vertrag zur Arbeitsweise der EU; Teil des Vertrags von Lissabon; ehemals EG-Vertrag (siehe auch EU-V) Bruttoinlandsprodukt Bruttonationaleinkommen Ceteris paribus (Lat.: Alle anderen Faktoren bleiben unverändert) Comité des Représentants Permanents (Ausschuss der ständigen Vertreter des Rates) Economics and Financial Ministers (Treffen des Rats in der Zusammensetzung der der Wirtschafts- und Finanzminister) European Financial Stability Facility (Temporärer „Rettungsschirm“, siehe auch ESM) Europäische Freihandelszone Europäische Gemeinschaften (Kohle und Stahl, Atom, Wirtschaft) Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EG-Vertrag, EU-Vertrag; Teile des Vertrags von Nizza Europäische Investitionsbank Europäische Politische Gemeinschaft European Stability Mechanism (Permanenter „Rettungsschirm“, siehe auch ESFS) Europäische Union Die zehn am 1.5.2004 beigetretenen Länder Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern EU+10 plus Bulgarien, Rumänien Die im Jahr 2007 beigetretenen Mitglieder Bulgarien und Rumänien EU-9 plus Griechenland, Portugal, Spanien EU-12 plus Finnland, Österreich, Schweden EU-15 plus EU+12 Die sechs Gründungsmitglieder Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande EU-6 plus Dänemark, Großbritannien, Irland Europäischer Gerichtshof
XX EURATOM Euro-12 EU-V EVG EWG EWR EWS EZB FDI GAP GASP HVPI IFI ISPA KKP, KKS MOEL NAFTA NATO NRO PHARE RGW SAPARD WTO WWU
Abkürzungen Europäische Atomgemeinschaft Die 12 Länder, die den Euro zuerst eingeführt haben EU-Vertrag ; Vertrag von Nizza, abgelöst durch den Vertrag von Lissabon und die Unterteilung in EU-V und AEU-V (siehe auch EG-V) Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Währungssystem Europäische Zentralbank Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment) Gemeinsame Agrarpolitik Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik harmonisierte Verbraucherpreisindex International Financial Institutions Instrument for Structural Policies Pre-Accession Kaufkraftparität, Kaufkraftstandards Mittel- und osteuropäische Länder (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn) North American Free Trade Agreement (USA, Kanada, Mexiko) North Atlantic Treaty Organisation Nicht-Regierungsorganisationen Poland-Hungary: Action for Restructuring of Economies Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Special Accession Programme for Agriculture and Rural Development World Trade Organization Wirtschafts- und Währungsunion
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Europäische Institutionen und Prozesse Europa ist ein Prozess, eine Aktion, eine Unternehmung, etwas, das in Bewegung ist. Neben vielfältiger nützlicher Kooperation bietet die Europäische Union uns auch Schutz gegen unsere Dämonen.
Wenn kühnes Denken in provinzieller Verdrossenheit versinkt, … betreten die Wortführer einer nationalen Separation die Bühne, und der alte Wahnsinn greift von neuem um sich. Wer nicht erkennt, dass diese zerbrechliche Europakonstruktion auch seine Sicherheit erhöht, der hat noch nie existentielle Bedrohung erfahren. György Konrád, Karlspreisträger 2001
Die Europäische Union ist ein einzigartiges Gebilde, in dem – ehemals verfeindete – Nationalstaaten Gemeinsamkeiten entwickeln und den Ausgleich ihrer Interessen verhandeln. Nichts an dieser U1nion ist statisch, vielmehr wandelt und vergrößert sie sich ständig. In diesem dynamischen Prozess haben sich einige Grundsätze herausgebildet, an die sich alle Mitglieder halten sollten (Kapitel 1.1). Mittlerweile sind einige Institutionen installiert und haben immer weiter an Einfluss gewonnen, in denen die unterschiedlichen Akteure auf der europäischen Bühne ihre Rolle spielen. Im Kern geht es dabei um die Balance der Macht zwischen nationaler und europäischer Ebene – eine Macht, die bis zum Erlass von Gesetzen geht, die in die Nationalstaaten hineinwirken. Die zahlreichen Interessenskonflikte der unterschiedlichen Mitglieder und Gruppierungen werden nach expliziten oder impliziten Regeln ausgetragen (Kapitel 1.2). Die EU unterliegt nicht den vom Nationalstaat bekannten demokratischen Regeln der Machtkontrolle – ob sie deshalb undemokratisch genannt werden muss, ist umstritten (Kapitel 1.3).
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
1.1
Der europäische Integrationsprozess
1.1.1
Prinzipien europäischer Entwicklung
Methode Monnet: Folgt die Europäische Integration einem Plan? Wofür darf „Brüssel“ zuständig sein? Darf für mehr Effizienz von der Subsidiarität abgewichen werden? Das Ende des Zweiten Weltkriegs führte zu einem erneuten Versuch der Völker Europas, ihre Beziehungen ohne den Einsatz militärischer Mittel zu gestalten. Damit verbunden war auch die Einsicht, dass Verhandlungen und Kompromisse ebenso erforderlich sind, wie die – zumindest teilweise – Aufgabe nationaler Souveränität. So musste immer erneut eine Balance für die Verteilung der Entscheidungsmacht zwischen der nationalen und der internationalen Ebene gefunden werden. Die Entwicklung der Europäischen Integration verläuft jedoch nicht planmäßig und logisch: Es gibt offensichtlich keinen von vornherein vereinbarten „Bauplan“ des vereinten Europas, in dem die Themen, die Ziele und die gewünschte Gemeinsamkeit festgelegt sind. Vielmehr folgte die Integration der „Methode Monnet“, d.h. die Nationalstaaten bewegten sich in einzelnen kleinen Schritten dort gemeinsam voran, wo es in der jeweiligen historischen Situation für alle Beteiligten politisch annehmbar war. Dieses pragmatische Vorgehen, benannt nach dem französischen Europapolitiker Jean Monnet (Wessels, W., 2001), war sinnvoll, da die Pläne, Erwartungen und Ängste der Akteure in den Mitgliedsstaaten äußerst heterogen waren und es zu einem „Großen Entwurf“ keine Einigkeit und damit keinen gemeinsamen Fortgang der Integration gegeben hätte. „Methode Monnet“ “Europe will not be made all at once, or according to a single plan. It will be built through concrete achievements which first create a de facto solidarity. The coming together of the nations of Europe requires the elimination of the age-old opposition of France and Germany. Any action taken must in the first place concern these two countries.” Schuman Deklaration: Erklärung vom 9. Mai 1950 http://europa.eu/abc/symbols/9-may/decl_de.htm (16.3.12) Zögerliches Teilen der Macht Mit der fortschreitenden Integration Europas werden die Interessen nationaler Akteure berührt, und in der Diskussion in den Nationalstaaten wird auch die Angst vor einem „übermächtigen Brüssel“ formuliert. Da Institutionen im Allgemeinen die Tendenz haben, die eigene Wichtigkeit und Bedeutung dadurch zu stärken, dass sie immer mehr Kompetenzen an sich ziehen, wird dies auch den Organen der EU unterstellt. Es ist also eine ständige Aufgabe abzugrenzen, welche Bereiche aus Politik und Wirtschaft allein national geregelt werden, welche in Abstimmung mit der EU und welche allein von der EU entschieden werden sollen bzw. dürfen.
1.1 Der europäische Integrationsprozess
3
Im Grundsatz werden die Zuständigkeiten der EU im Artikel 5, Absatz 2 des EU-Vertrags (EU-V) – und damit einstimmig – festgelegt: „Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedsstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedsstaaten.“ Welche Kompetenzen jeweils vertraglich festgelegt wurden, folgte nicht so sehr einer sachlichen Logik, sondern vielmehr dem politischen Willen zur Abgabe nationaler Souveränität. Der ständige Konflikt besteht zwischen der Einsicht, dass ein Land in einem Verbund stärker sein kann und dem Wunsch, über die Geschicke des Landes ohne Abstimmung und Kompromisse mit anderen Staaten entscheiden zu können. Für die Abgrenzung zwischen der lokalen und der zentralen Ebene kann das Prinzip der Subsidiarität herangezogen werden. Es schreibt die Reihenfolge der Akteure vor, die für die Problemlösung zuständig sind. Zuerst sollte das betroffene Individuum für sich selbst aktiv werden. Familie und Nachbarn sind dann als Nächste zum Tätigwerden aufgefordert. Wenn diese keine Problemlösung erreichen können, sollen sie sich an die Gemeinde wenden. Nur wenn auch diese Instanz nicht ausreicht, sind die Region – z.B. das Bundesland – und danach die Zentralregierung hinzuzuziehen. In dieser Logik ist die EU die letzte Instanz, die zuständig sein sollte. Mit diesem Prinzip wird implizit auch der Grundsatz „Privat geht vor Staat“ aufgestellt. So wird eine stärkere Rolle entfernter und zentraler staatlicher Institutionen zurückgewiesen. Auf deutsche Initiative hin hat die EU das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Lissabon (Artikel 5, Absatz 3) verankert; zusätzlich erhalten die nationalen Parlamente das Kontrollrecht über die Einhaltung dieses Prinzips. Das Prinzip der Subsidiarität kann in einem Spannungsverhältnis zwischen der Stärkung der lokalen Handlungsebenen einerseits und der ökonomischen Effizienz anderseits stehen. So können Entscheidungen, die nahe an den Betroffenen gefällt werden, auf kurze Informationswege verweisen und die lokalen Präferenzen besser berücksichtigt werden. In den folgenden Fällen kann es jedoch effizienter sein, die Zuständigkeit an eine höhere, d.h. zentrale Ebene abzugeben:
Transaktionskosten: Die Vielfalt von Regeln in einem dezentralen System macht es für den Einzelnen schwierig, sich zu orientieren; eine zentrale Regelsetzung ist transparenter, daher leichter und mit geringerem Aufwand zu durchschauen. Dies trifft z.B. bei der Aufsicht über die Finanzmärkte oder bei Sicherheitsnormen für Produkte oder den Verbraucherschutz im grenzüberschreitenden Handel zu.
Positive Skalenerträge: Es kann günstiger sein, wenn staatliche Leistungen in größeren Einheiten erstellt werden; diese sollten dann nicht von jedem Nationalstaat, sondern von der EU bereitgestellt werden. Dies trifft z.B. bei grenzüberschreitender Transport- oder Energieinfrastruktur oder bei großen Forschungsgeräten zu. Zwischen dem Prinzip der Subsidiarität und der Nutzung von Größenvorteilen kann also ein Zielkonflikt bestehen.
Grenzüberschreitende externe Effekte: Die Aktivitäten in einem Staat können sich negativ auf die Wirtschaftssubjekte in einem angrenzenden Staat auswirken, wie dies z.B. bei der Umweltverschmutzung der Fall ist. Aber auch positive Effekte sind denkbar, wenn z.B. in einem Land ein attraktives Kulturangebot bereitgestellt wird, das auch für
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1 Europäische Institutionen und Prozesse die Bewohner des Nachbarlandes nutzbar ist. Auf der supranationalen Ebene können grenzüberschreitende externe Effekte besser berücksichtigt werden, wie das Beispiel der transeuropäischen Netze für Transport und Energie zeigt.
Die wirtschaftlichen Gesichtspunkte werden im EU-V aufgegriffen, indem Aktivitäten der EU dort als mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar gehalten werden, wo die Ziele „von den Mitgliedsstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“ (Artikel 5, Abs. 3 EU-V). Mit dem Vertrag von Lissabon wurde den nationalen Parlamenten das Recht eingeräumt, Gesetzesvorhaben der EU auf ihre Vereinbarkeit mit der Subsidiarität zu überprüfen und Einspruch einzulegen; allerdings ist die Durchsetzbarkeit eines Einspruchs schwierig, da die rechtlichen Begriffe im Vertrag nicht klar gefasst und die Reaktionszeiten kurz sind (Koch, J. and Kullas, M., 2010). Die Themenfelder, in denen die EU aufgrund der vertraglichen Ermächtigung tatsächlich Kompetenzen hat, können jedoch nicht immer schlüssig nach dem Subsidiaritätsprinzip bzw. der Effizienz begründet werden (Alesina, A., I. Angeloni, et al., 2002). Die europäische Agrarpolitik wird ohne Legitimation durch das Subsidiaritätsprinzip betrieben; diese Agrarwirtschaft könnte wie jede andere Branche den Kräften des Weltmarktes überlassen werden. Auch die Förderung regionaler Entwicklung durch die EU – zumal in Form kleinteiliger Unterstützung von Projekten in den benachteiligten Regionen – lässt sich nicht aus den oben genannten Kriterien für die Zuständigkeit einer zentralen Instanz ableiten (Kapitel 4.2.4). Allenfalls bei grenzüberschreitenden Infrastrukturvorhaben (Energie, Transport) mit Spillover-Effekten ist ein gemeinschaftliches Handeln gerechtfertigt; ausgerechnet hier bleibt jedoch die Gestaltungskompetenz der EU bisher schwach (Kapitel 2.3.5.3). Auch in der Forschungs- und Technologiepolitik könnte allenfalls bei sehr großen Projekten, wie z.B. physikalische Großanlagen und Weltraumfahrt, eine supranationale Kooperation begründet werden; tatsächlich aber werden detaillierte Vorgaben zur Förderung einzelner, auch kleiner, Projektverbünde gemacht. Die EU verfügt in einigen Bereichen, die besser zentral geregelt würden, nicht über Handlungskompetenz, da die Mitgliedsstaaten dort nicht bereit waren, diese abzugeben: So ist die Außen- und Sicherheitspolitik überwiegend national kontrolliert, das Luftkontrollsystem ist in einen „Flickenteppich“ von 27 Zuständigkeiten und technischen Systemen aufgeteilt und auch die langfristig orientierte Sicherung von Energielieferungen wird dominiert von bilateralen Verträgen einzelner Mitgliedsstaaten mit Drittstaaten. „Single European Sky“ kommt nicht voran Die EU versucht, den Flickenteppich der Flugleitung und -sicherung zu vereinheitlichen, indem sie die Mitgliedsstaaten dazu zwingen will, neun „Flugraumblöcke mit einheitlicher Technologie einzurichten (European Commission, 2011p). Dadurch könnten die Effizienz des Luftverkehrs sowie die Transportkapazität gesteigert und die Kosten gesenkt werden. Nationale Egoismen verhindern die Umsetzung der entsprechenden Richtlinie. Daher hat die Kommission im Dezember 2012 Verfahren vor dem EuGH angedroht („Single Sky …“, 2012)
1.1 Der europäische Integrationsprozess
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Andere Felder der politischen Gestaltung eines Gemeinwesens sind in nationaler Zuständigkeit verblieben, weil sich in ihnen national unterschiedliche gesellschaftliche Präferenzen ausdrücken, die im Rahmen einer EU-weiten „Harmonisierung“ nicht bewahrt werden könnten. Dazu gehörten auch die Fiskal-, Steuer-, Sozial- und Bildungspolitik sowie die angebotsseitigen Maßnahmen, die für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft wichtig sind. Die im Jahr 2008 ausgebrochene Wirtschaftskrise zeigt jedoch, dass auch in der Fiskalpolitik ein gewisses Maß an supranationaler Kompetenz erforderlich ist. Tatsächliche Zuständigkeiten der EU Aus diesem Prozess zögerlicher Teilung der Macht zwischen Nationalstaat und EU sind in den Themenfeldern, in denen die EU durch Vertrag Zuständigkeiten erhalten hat, drei Stufen der Zuständigkeiten hervorgegangen (AEU-V, Art. 3 bis 6): a.
Ausschließliche Zuständigkeiten der EU, d.h. die Mitgliedsstaaten haben keine nationale Macht mehr über die Ausgestaltung in diesen Themen.
b.
Geteilte Zuständigkeiten, d.h. die EU und die Mitgliedsstaaten teilen sich die Macht, was aber nicht zwingend eine jeweils gleich starke Rolle für beide Seiten beinhaltet.
c.
Die EU darf lediglich Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen durchführen, wohingegen die alleinige Zuständigkeit bei den Mitgliedsstaaten verbleibt.
Zu a): Ausschließlich zuständig ist die EU für die Regulierung jener Aspekte der Wirtschaft, bei denen grenzüberschreitende Effekte wirtschaftlichen Handelns zu erwarten sind. Dies wurde für die Zollunion, die Wettbewerbspolitik, die Währungspolitik für die Euro-Länder sowie für die gemeinsame Handelspolitik gegenüber Drittstaaten vereinbart. Bemerkenswert ist hierbei besonders, dass die Fiskalpolitik (Besteuerung und Staatsausgaben) nicht in die Zuständigkeit der EU fällt, obwohl die Krise der Staatsfinanzen offenbar über Ländergrenzen hinweg ausstrahlt und eine gemeinschaftliche Fiskalpolitik möglicherweise diese Probleme lösen könnte (Kapitel 3). Zu b): Geteilte Zuständigkeiten in der Sozial-, Arbeitsmarkt- und in der Regionalpolitik geben der EU lediglich die Möglichkeit, die Kommunikation zwischen den Mitgliedsstaaten anzuregen; die Gestaltung und Durchführung bleibt jeweils in nationaler Hand. Auch bei der Konzeption und dem Bau transeuropäischer Netze für Kommunikation, Verkehr und Energie darf die EU ihre Hilfe bei der Kommunikation und Planung einbringen – die Zuständigkeit und Mittel zum Bau dieser Anlagen haben die Staaten jeweils auf ihrem Territorium. In der Innen- und Rechtspolitik, „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ genannt, gibt es eine Zusammenarbeit bei der grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung, die jedoch keine Zuständigkeiten auf die europäische Ebene verlagert. Zu c): Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen der EU sind die schwächste Form der Zuständigkeit. Sie existieren zu den Themen Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus, allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport, Katastrophenschutz und Verwaltungszusammenarbeit. In allen anderen Bereichen besteht ausschließlich nationale Zuständigkeit.
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
Die Teilung und Verteilung von Kompetenzen ist ein ständiger Prozess, der trotz des Widerstands aus den Mitgliedsstaaten mit der Zeit dazu geführt hat, dass die Zuständigkeiten der EU zugenommen haben. Dies ist insbesondere dann ökonomisch rational, wenn Aufgaben zu erledigen sind, die durch Skalenerträge und Externalitäten geprägt sind. Eine Verlagerung staatlicher Aufgaben von der nationalen auf die europäische Ebene kann allerdings nicht nur nach wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit beurteilt werden. Ebenso zu klären sind die national unterschiedlichen Präferenzen der Völker, die demokratische Kontrolle über die Ausübung staatlicher Aufgaben und die Vergabe der Mittel. Dies mag am Beispiel der Sozialpolitik deutlich werden: Wie viel Besteuerung zur Umverteilung von Primäreinkommen gewünscht ist und wie die Balance zwischen individueller Verantwortung und staatlicher Fürsorge festgelegt werden soll wird in Großbritannien anders beantwortet als in Schweden. Ein einheitliches „europäisches Sozialmodell“ (Sapir, A., 2005; Busemeyer, M. R., C. Kellermann, et al., 2006) würde den Unterschieden in den Auffassungen der einzelnen Mitgliedsstaaten nicht gerecht. Weiterführende Literatur
Nugent, N. (2010). The Government and Politics of the European Union. Basingstoke.
Rosamond, B. (2009): New theories of European Integration, in: Cini, M., PerezSolorzano Borragan, N. (Ed.): European Union politics, Oxford.
Baldwin, R. E., Wyplosz, C. (2012): The Economics of European Integration, London [u.a.].
Pelkmans, J. (2006). European integration – Methods and economic analysis. Harlow et al., pp. 36–52.
Benz, A., C. Zimmer (2010). “The EU’s competences: The ‘vertical’ perspective on the multilevel system.” Living Reviews in European Governance 5(1).
1.1.2
Erweiterung versus Vertiefung
Die EU ist kein statisches Gebilde, sondern ein Konstrukt der zwischenstaatlichen Kooperation, das sich in ständiger Veränderung befindet. Bei der Entwicklung dieses dynamischen Gebildes können zwei Prozesse unterschieden werden:
Erweiterung, d.h. die Aufnahme zusätzlicher Mitglieder in den bestehenden „Club“, ohne dass gleichzeitig zwingend die Club-Regeln geändert werden.
Vertiefung, d.h. die Weiterentwicklung der Gemeinschaftlichkeit der EU, so dass mehr Entscheidungen nicht mehr im Nationalstaat, sondern „in Brüssel“ getroffen werden.
Beide Prozesse entfalteten sich bisher gleichzeitig und nebeneinander. Sie führen auch nicht zwingend zu einer „immer engeren Union“, sondern können auch Krisen und Rückschritte – sogar einen Zerfall der EU – enthalten.
1.1 Der europäische Integrationsprozess
1.1.2.1
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Spannungen bei Erweiterungen
Wie hat sich die EU durch die Aufnahme neuer Mitglieder verändert? Welche Kräfte und Interessen spielen bei der Entwicklung der EU eine Rolle? Europa ist in mehreren Erweiterungsrunden gewachsen: Nach der Gründung der EWG durch die EU-6 sind bisher 22 neue Mitglieder dazugekommen. Die Motive der einzelnen Länder für den Wunsch nach einer Mitgliedschaft, sind sowohl politische als auch wirtschaftliche: Die Sicherung des Friedens, die Stärkung der eigenen außenpolitischen Position durch Zusammenschluss sowie die positiven wirtschaftlichen Effekte einer Marktöffnung stehen dabei im Vordergrund. Eine gewisse Rolle mag bei einzelnen Interessengruppen bzw. Ländern auch die Hoffnung auf den Zugang zu Subventionen aus der europäischen Agrar- und Regionalpolitik gespielt haben. Für Länder mit geringerem Wohlstand sowie schwieriger politischer Vergangenheit sind Frieden und Prosperität immer noch die zentralen Versprechungen einer EU-Mitgliedschaft, für die sie bereit sind auch Anpassungslasten auf sich zu nehmen. Die jeweiligen Erweiterungen verliefen jedoch nicht ohne Spannungen und haben zu steigender Heterogenität von politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Präferenzen und Strukturen in der EU geführt. Weiterhin macht auch schon die Mitgliederzahl selbst eine Weiterentwicklung von Strukturen und Entscheidungsverfahren erforderlich (Kapitel 5.2). Diese Aspekte werden in den folgenden Beispielen verdeutlicht. Machtbalance und politische Befriedung in Europa Der Beitrittsantrag von Großbritannien, Irland, Dänemark und Norwegen wurde 1963 vom damaligen französischen Staatspräsidenten De Gaulle blockiert: Er stand einer Aufnahme Großbritanniens ablehnend gegenüber und kritisierte eine zu enge Bindung Großbritanniens an die USA (Dinan, D., 2005). Außerdem glaubte er, dass durch eine Erweiterung die Chance zu vertieften Beziehungen zwischen den bisherigen Mitgliedsländern gefährdet würde. Mit dem Beitritt eines weiteren großen Nationalstaates befürchtete er eine Konkurrenz zu der von ihm angestrebten französischen Vorherrschaft in (West-) Europa. Die Umwälzungen auf dem Balkan im Gefolge des Zerfalls Jugoslawiens sowie der Beitritt Österreichs im Jahr 1995 hatten die Position Deutschlands gestärkt, da es traditionell gute Beziehungen zum wieder entstandenen Kroatien sowie zu Österreich hat. Länder wie Großbritannien, Frankreich und Italien befürchteten, dass die Mitgliedschaft der mittel- und osteuropäischen Länder, die mit Österreich und Deutschland eng verbunden sind, zu einer Dominanz Deutschlands in der EU führen könnte. Damit würde auch die traditionelle „Achse Paris-Berlin“ geschwächt. Die Option auf eine Mitgliedschaft in der EU kann in den virulenten oder potenziellen Krisenherden Europas zu einer Befriedung und zu einer positiven politischen und wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Daher wurde Bulgarien und Rumänien, die unter den Folgen der Balkankriege besonders zu leiden hatten, auf der Ratssitzung in Helsinki 1999 eine Beitrittsoption angeboten, obwohl diese Länder damals von einer Beitrittsreife noch weit entfernt waren. Ebenso war und ist auf dem Balkan nicht nur die unmittelbare politische und
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
finanzielle Hilfe der EU von Nutzen; auch die gleichzeitig am Horizont aufscheinende Option einer EU-Mitgliedschaft ist für den Friedensprozess förderlich. Für eine Reform der Gesellschaftsstrukturen in der Türkei sowie für eine Stabilisierung und Weiterentwicklung der Wirtschaft eines Landes generell kann die Perspektive eines EUBeitritts hilfreich sein, da dadurch Tempo und Richtung der Entwicklung zu einem modernen und prosperierenden Nationalstaat günstig beeinflusst werden. Gleichzeitig kann die Türkei als Brücke zwischen den „westlichen“ Staaten und den „islamisch geprägten“ Ländern des Nahen und Mittleren Osten dienen. Ihre Mitgliedschaft wirft jedoch gleichzeitig auch Fragen unter den bisherigen Mitgliedsstaaten auf, die die Dominanz eines so großen und damit einflussreichen Landes befürchten (Kapitel 6). Wachsende Unterschiede im Wohlstand zwischen den Mitgliedern Waren die Gründungsmitglieder noch auf einem ähnlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstand, gemessen an ihrem BIP pro Kopf, so wuchsen durch den Beitritt der Süd-Länder (Spanien, Portugal, Griechenland) und besonders durch die Ost-Erweiterung die Heterogenität der Wirtschaftsstrukturen und die Einkommensdisparität. Nach den einfachen Überlegungen der ökonomischen Theorie der Integration ist ein Rückstand beim Einkommen (BIP pro Kopf) kein Argument gegen eine Mitgliedschaft, da das Land mit geringerem Wohlstand auch geringere Löhne haben wird und dies als Vorteil in der internationalen Arbeitsteilung auf freien Märkten nutzen kann: Arbeitsintensiv gefertigte Produkte dieser Länder können sich – zumal bei gleichzeitigem Zugang zu höherer Technologie und Produktivität – auf den Exportmärkten durchsetzen, und Arbeitskräfte mit geringeren Lohnansprüchen können sich in Ländern mit höherem Lohnniveau erfolgreich um Arbeit bewerben. Nach einer gewissen Anpassungszeit, so sagt die Theorie voraus, haben sich Kapital und Arbeit in den neuen und den alten Mitgliedsstaaten neu angeordnet und Löhne und Preise haben sind angeglichen. In dieser Sicht fehlen jedoch die Lasten und Kosten der Anpassung bei bestimmten Gruppen von Unternehmen und Arbeitnehmern. Weniger wettbewerbsfähige Unternehmen sind in ihrer Existenz bedroht oder müssen zumindest hohe Verlagerungskosten und Risiken tragen; Arbeitnehmer verlieren den Arbeitsplatz ohne Aussicht auf erneute Beschäftigung unter vergleichbaren Konditionen; Regionen verlieren strukturbestimmende Industrien, und Arbeitnehmer dürfen ihren Lohnkostenvorteil gar nicht ausspielen, da sie in den Hochlohnländern zu den dort geltenden Tarifen bezahlt werden müssen. Selbst wenn die Anpassung der Strukturen im Ergebnis zu einer höheren ökonomischen Effizienz führen sollte, aus der auch die Verlierer der Anpassung angemessen entschädigt werden könnten, so werden die „Früchte“ der wirtschaftlichen Integration später reif, während die Lasten schnell spürbar sind. Dies mindert die Akzeptanz für die internationale Öffnung der Märkte. Im politischen Prozess tritt also Widerstand tatsächlich oder vermeintlich negativ betroffener Gruppen gegen neue Mitglieder auf. Daher bestehen trotz der Versuche zu einer umfassenden Liberalisierung der Märkte immer noch Beschränkungen für grenzüberschreitenden Wettbewerb, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt.
1.1 Der europäische Integrationsprozess
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Aus Einkommensunterschieden ergeben sich auch Ansprüche auf Ausgleich zwischen „Arm“ und „Reich“, die in politischem „Kuhhandel“ zur Vereinbarung ökonomisch nicht effizienter Transfers führen können. Die Regionalpolitik der EU ist ein Beispiel für solche Prozesse (Kapitel 4.2.5.1). Auch die Vereinbarung von Marktschranken wie die zeitweise Begrenzung des Zugangs osteuropäischer Arbeitskräfte zu den Arbeitsmärkten im „Westen“ (Kapitel 5.4.8.1) zählt zu diesen politischen Kompromissen. Konflikt zwischen nationaler Eigenständigkeit und Mitgliedschaft In einzelnen Nationalstaaten besteht zwar grundsätzlich Zustimmung zur Mitgliedschaft, aber gegen einzelne geplante Regelungen werden an jenen Punkten Vorbehalte geäußert, wo die europäische Linie nicht mit der gesellschaftspolitischen Sicht der Bevölkerung im Nationalstaat übereinstimmt. Dann ist ein Kompromiss erforderlich, um den Fortgang der Europäischen Integration nicht insgesamt zu gefährden. Es werden in Zusatzprotokollen zum Vertrag Sondervereinbarungen für ein Land getroffen. Beispiele sind die Aufschiebung der Übernahme des Euro durch Großbritannien und des Schengener Abkommens durch Dänemark sowie die Möglichkeit für Großbritannien, sich nicht an der Weiterentwicklung der Sozialcharta von 1989 zu beteiligen. Auch die Möglichkeit Dänemarks, den Erwerb von Zweitwohnungen durch EU-Ausländer zu begrenzen, zählt zu diesen Konzessionen. Noch grundsätzlicher kann der Unterschied in der Strategie der nationalen Regierungen und der von ihnen vertretenen Bevölkerungen ausfallen, wenn die Regierung einen Beitritt befürwortet und beantragt, und die Bevölkerung in einem Referendum dies ablehnt, wie dies 1972 und 1994 in Norwegen der Fall war. Im Vorfeld des Beitritts war auch in Osteuropa ein deutliches Absinken der Zustimmung in der Bevölkerung zum geplanten Beitritt zu beobachten; letztlich wurde der Beitritt aber trotzdem in den Referenden angenommen. Heterogenität und „Überdehnung“ Durch die Aufnahme neuer Mitglieder steigt nicht nur der Umfang der EU, es werden auch mehr potenzielle Krisenherde in das Gebiet eingebunden bzw. rücken sie näher an die Grenzen der EU heran. In einer historischen Parallele zu vergangenen Imperien und dem derzeitigen außenpolitischen Ansatz der USA (Kennedy, P., 1989; Calleo, D. P., 1998) wird die Gefahr einer „Überdehnung“ der EU thematisiert: Das Überschreiten einer – nicht präzise definierbaren – kritischen Größe könnte das gesamte Gebilde unregierbar machen, so dass es nicht mehr im Stande sein könnte, Probleme zu lösen. Die EU ist jedoch kein Imperium mit zentralisiertem Herrschaftsanspruch, dessen Verteidigung es überfordern könnte. Vielmehr stellt sie eine neue Form der Verteilung von Macht und Koordination dar. Sie ist ein MehrEbenen-System der Regierung, das auf Konsens und Koordination in verteilten Strukturen ausgelegt ist (Bache, J., S. George, 2006:33–40). Für die EU sind also aus einem befürchteten „imperial overstretch“ keine überzeugenden Grenzziehungen ableitbar. Regionale „Interessenskreise“ Die Mitgliedsstaaten der EU haben gleichzeitig auch eine historisch gewachsene Einbindung in politische und ökonomische Beziehungen zu ihren Nachbarn, mit denen sie auch künftig intensivere wirtschaftliche Beziehungen haben dürften als mit anderen Ländern. Daraus er-
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
gibt sich, dass jeder Mitgliedsstaat eine Erweiterung der EU um jenes Land präferiert, mit dem es bereits engere Wirtschaftsbeziehungen pflegt, um diese im Rahmen des Binnenmarktes noch besser nutzen zu können. Dies wird an den folgenden Beispielen deutlich. Eine Süd-Erweiterung der EU, möglicherweise sogar unter Einschluss einiger nordafrikanischer Länder, könnte für Spanien, Italien und Griechenland als Mittelmeer-Anrainer ökonomische Vorteile bringen, die sie aus einer Ost-Erweiterung nicht ziehen können. Dagegen waren Deutschland und Österreich aus den gleichen Gründen eher an einer Mitgliedschaft Polens, Tschechiens und Ungarns interessiert. Griechenland sieht mehr wirtschaftliche Chancen in einer Mitgliedschaft Rumäniens und Bulgariens sowie enge politische Verbindungen zu Serbien und Zypern; es war daher an einer Aufnahme dieser Länder mehr interessiert als an einer Mitgliedschaft z.B. Polens. Die nordischen Mitgliedsländer Finnland und Schweden sehen mit den drei baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland gemeinsame Entwicklungen im Ostsee-Raum als attraktiv an; dies hat auch dazu geführt, dass Schweden seine Ratspräsidentschaft genutzt hat, um Lettland und Litauen gleichzeitig mit dem weiter entwickelten Estland den Kandidatenstatus von der EU zuerkennen zu lassen.
1.1.2.2
Vertiefung als Transfer von Souveränität
In welchen Dimensionen hat die EU eine Vertiefung erfahren? In welchem Verhältnis stehen Erweiterung und Vertiefung zueinander? Können einige Länder bei der Vertiefung vorangehen? Eine Vertiefung der Union findet z.B. dadurch statt, dass ein Politikbereich aus der nationalen in die europäische Zuständigkeit abgegeben wird. Ein anderer Schritt der Vertiefung wird vollzogen, wenn bei der Abstimmung im Rat nicht mehr Einstimmigkeit erforderlich ist, sondern eine (qualifizierte) Mehrheit für einen Beschluss ausreicht. Dann verfügt kein Mitgliedsstaat mehr über ein Veto und andererseits ist es möglich, dass Mitgliedsstaaten überstimmt werden und dann Beschlüsse ausführen müssen, gegen die sie gestimmt haben. Obwohl Konsens über die Problemlage besteht, ist die Abgabe von Macht „nach Brüssel“ unter den Mitgliedsländern umstritten. Zwar haben sich die Mitglieder auf das Ziel der „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (EU-V, Präambel) verpflichtet, wobei über die endgültige Richtung, in die sich der Vertiefungsprozess bewegen soll, kein Konsens besteht. Aber gleichzeitig wird der derzeitige EU-Vertrag als Stufe innerhalb dieser Entwicklung bezeichnet, womit klar ist, dass die Vertiefung noch nicht zu ihrem Ende gekommen ist. Offen gelassen wird im Vertrag jedoch, welche endgültige Gestalt dieses Europa annehmen sollte. Lediglich die Forderung nach einer offenen und transparenten Entwicklung der Union wird formuliert. In der Diskussion zur Integration Europas wird implizit häufig angenommen, dass „mehr Integration besser als weniger Integration“ sei. Entsprechend werden Mitgliedsstaaten mit einer abweichenden Auffassung über die künftige Richtung auch mit Begriffen wie „Bremser“ negativ belegt. Eine solche Zuschreibung verkennt jedoch, dass nur ein transparenter
1.1 Der europäische Integrationsprozess
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und offen geführter Dialog über die künftige Entwicklung zu einem von Allen akzeptierten Prozess führen kann. Die Vertiefungsschritte (Schulhoff, W., 1997:139 ff.; Baldwin, R.E., 1994:142ff.) bezogen sich auf engere innen- und außenpolitische Kooperation, gemeinschaftliche Steuerung der Wirtschaft sowie die Stärkung der Institutionen Parlament und Rat sowie deren Funktionsmechanismen. Vertiefung in kleinen Gruppen Da nicht zwingend alle Mitglieder eine zur Diskussion stehende Vertiefung positiv sehen, diese aber nur einstimmig beschlossen werden kann, sind weitere Vertiefungsschritte nur schwer möglich. Daher ist im EU-V (Artikel 20) die Möglichkeit einer „verstärkten Zusammenarbeit“ vorgesehen, nach der eine Teilgruppe der Mitgliedsstaaten gemeinsam vertiefende Aktivitäten vereinbaren darf, ohne dass damit die anderen Staaten gezwungen wären, sich diesen anzuschließen. Allerdings ist diese Option politisch umstritten, da diejenigen Staaten, die an einer Vertiefung nicht oder noch nicht Interesse haben, befürchten von einer „fortschrittlichen Ländergruppe“ unter Zugzwang gesetzt zu werden oder als „2. Klasse“ zurückzubleiben; daher wurde von dieser Option lange Zeit kein Gebrauch gemacht. In zwei Themenbereichen wird in jüngerer Zeit diese Option in Erwägung gezogen:
Die Schaffung eines europäischen Patents kam auch nach langjähriger Diskussion nicht zustande, weil zwei Länder anderer Auffassung waren. Im Jahr 2012 wurde das Vorhaben auf dem Weg der verstärkten Zusammenarbeit realisiert, der sich lediglich zwei von 27 Ländern (Spanien, Italien) nicht anschlossen.
Zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer haben sich 11 Mitgliedsstaaten der EU im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit im Januar 2013 zusammengeschlossen, während die anderen diese Steuer nicht einführen wollen.
Vertiefungsschritte zu einer „immer engeren Union“ Politische Vertiefung: Europäische politische Zusammenarbeit und gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (1986, 1992) eingeführt Schengener Abkommen zur gemeinsamen Grenzsicherung unterzeichnet (1997) Institutionelle Vertiefung: Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Europäischen Rat (1975) eingeführt Parlament gestärkt und Mehrheitsentscheidungen im Rat bei weiteren Themen vereinbart (1992, 2000, 2007) Gesetze nach dem „ordentlichen Verfahren“, d.h. mit gleichberechtigter Position von Rat und Parlament (2007) Wirtschaftliche Vertiefung: Gemeinsame Agrarpolitik (1962) vereinbart
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
Zollunion (1968) eingeführt Europäisches Währungssystem (EWS-I) (1979) eingeführt Binnenmarkt sowie wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt als Ziel in den Vertrag aufgenommen; Wettbewerbspolitik auch auf europäischer Ebene (1986) Einführung des Euro und damit Abschaffung einer nationalen Geldpolitik beschlossen (1992) Einführung des Euro als Zahlungsmittel (1999: Buchgeld, 2002: Bargeld) Eine zweite Teilgruppe hat sich unter den Mitgliedsstaaten herausgebildet, die sich enger koordiniert als die anderen und die mit Initiativen und Vorschlägen vorangeht: Die EuroGruppe (Kapitel 3.5.2). Eigentlich für eine Koordination der Fiskalpolitik der Euro-Länder eingerichtet, entwickelte diese Gruppe in der Finanzkrise eine starke Initiative, durch die sich einige Nicht-Euro-Länder unter Druck gesetzt fühlten. Nicht immer eine „immer engere Union“ Erweiterung und Vertiefung stehen in einem Spannungsverhältnis. Die Aufnahme (vieler) zusätzlicher Mitglieder vergrößert das Spektrum an Präferenzen und Interessen, so dass eine Einigung auf gemeinsame Ziele und Vorgehensweisen auf dem Weg der Einstimmigkeit oder qualifizierten Mehrheit schwerer wird. Vertiefung, d.h. der Übergang zu Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip, könnte also Erweiterungen erleichtern („Vertiefung vor Erweiterung“). Andererseits kann die Aufnahme neuer Mitglieder die einstimmige Verabschiedung neuer Verträge, in denen das Mehrheitsprinzip ausgedehnt wird, erschweren oder gar unmöglich machen („Erweiterung statt Vertiefung“). Mitgliedsstaaten wie Großbritannien, die eine Vertiefung der EU nicht wünschen, unterstützten daher eine Erweiterung, da dadurch vermeintlich die Fähigkeit zur Vertiefung gemindert würde. Darüber hinaus ist es auch denkbar, dass der historische Prozess hin zu einer immer weiter reichenden Vertiefung zumindest teilweise wieder umgekehrt wird: Die Rückübertragung von Zuständigkeiten, die bereits auf die supranationale Ebene übertragen worden waren, auf die nationale Ebene. Die Re-Nationalisierung von Teilen der gemeinsamen Agrarpolitik, der Rückzug aus dem Schengen-Abkommen, mit dem die Bewachung der Außen- und Binnengrenzen der EU geregelt wird sowie die Aufgabe der gemeinsamen Währung zugunsten einer nationalen Währung sind Beispiele dafür. Eine Rückverlagerung von Zuständigkeiten in den Nationalstaat muss nicht zwingend als Dis-Integration, d.h. als ein Scheitern des Integrationsprozesses, gesehen werden. Vielmehr kann es sich auch um eine Dezentralisierung handeln, die ein unerwünscht hohes Maß an Zentralisierung korrigiert. Der erzwungene oder freiwillige Austritt eines Mitgliedsstaates aus der EU dagegen, wie er für Griechenland oder Großbritannien diskutiert wird, stellt dagegen eine Dis-Integration dar. Weiterführende Literatur
Baldwin, R. E. (1997): Concepts and speed of an Eastern enlargement, in: Siebert, H. (Ed.): Quo Vadis Europe?, Tübingen, 73–95.
1.1 Der europäische Integrationsprozess
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Warleigh, A. (2002): Flexible Integration: Which model for the European Union?, Sheffield.
Kühnhardt, L. (2005): Erweiterung und Vertiefung: Die Europäische Union im Neubeginn, Schriften des Zentrum für Europäische Integrationsforschung, 62, Baden-Baden.
Ruiz-Jimenez, A., J. I. Torreblanca (2008). "Is there a trade-off between deepening and widening? What do Europeans think?" EPIN European Policy Institutes Network Working Paper (17).
Faber, A. (2007): Die Weiterentwicklung der Europäischen Union: Vertiefung versus Erweiterung?, in: Integration, 30, 2, 103–116.
1.1.3
Ziele und Entwicklungsstand der EU
1.1.3.1
Die Ziele der Europäischen Union
Welche Ziele verfolgt die EU? Sind diese Ziele gleichzeitig und spannungsfrei erreichbar? Die EU versteht sich als Wertegemeinschaft (EU-V, Artikel 2). Ihre Mitglieder haben sich im Verlauf der Integration Europas schrittweise auf gemeinsame Ziele (Artikel 3 EU-V) geeinigt, die unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und der Zuständigkeiten der EU erreicht werden sollen. Im Folgenden werden die Ziele mit wirtschaftlichem Bezug hervorgehoben. Als oberstes wirtschaftliches Ziel will die EU „das Wohlergehen ihrer Völker“ (EU-V, Artikel 3,1) fördern. Dazu errichtet sie einen Binnenmarkt, in dem zahlreiche Unterziele gleichzeitig verwirklicht werden und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden sollen: Ausgewogenes Wirtschaftswachstum, Preisniveaustabilität, soziale Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, Umweltschutz, regionaler Ausgleich, Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten und sozialer und technischer Fortschritt. Mit diesem Zielkatalog sind weder mögliche Zielkonflikte noch konkrete Ausgestaltungen angesprochen. Ob die Mittel zur Erreichung der jeweiligen Ziele der EU überhaupt zur Verfügung stehen, ist jeweils zu klären. Mit dieser Zielsetzung wird implizit angenommen, dass die Einführung eines Binnenmarktes und des Euro geeignete Mittel seien, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Darin findet das wirtschaftsliberale Element der europäischen Grundphilosophie seinen Ausdruck. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass eine gleichmäßige und konvergente Entwicklung der Mitgliedsstaaten, die auch einen Ausgleich regionaler und sozialer Ungleichgewichte einschließt (wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt), mit der Öffnung der Grenzen für wirtschaftlichen Austausch (Binnenmarkt) und dem Euro harmonieren könne. Dies ist jedoch in der ökonomischen Fachliteratur umstritten: So kann der Wettbewerb bei fortschreitender Integration dazu führen, dass die Teilhabe am Wohlstand für Regionen und soziale Gruppen nicht im gleichen Umfang möglich ist. Auch die EU selbst stellt diese Zielharmonie in Frage: Sie begründet die Förderung benachteiligter Länder und Regionen damit,
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
dass der Binnenmarkt zu einer Verstärkung der regionalen Disparitäten führe (Kapitel 4.2.5.1). Auffällig ist auch, dass die Vollbeschäftigung zu den wirtschaftlichen Zielen gehört, aber eine makroökonomische Steuerung der Konjunktur und des Wachstums auf fiskal- oder geldpolitischer Ebene nicht in die Zuständigkeit der EU fällt. Die Fiskal- und Steuerpolitik verbleibt in nationaler Hand, und die Geldpolitik, die mit dem Euro „vergemeinschaftet“ ist, trägt keine beschäftigungspolitische Verantwortung, sondern ist nur der Stabilität des Geldwertes verpflichtet. Mit diesem Zielbündel geht es lediglich um wirtschaftlichen und sozialen, nicht aber um politischen Fortschritt. Der Grund dafür, dass die Verträge diesen Aspekt der Integration ausklammern, liegt in der großen Unterschiedlichkeit der Auffassungen der nationalen Regierungen über die jeweils erwünschte politische Entwicklungsrichtung Europas. Die außen- und innenpolitischen Ziele umfassen eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit der Option auf eine gemeinsame Verteidigungspolitik und auf innereuropäischer Ebene die Einführung einer Unionsbürgerschaft, sowie eine gemeinsame Innen- und Rechtspolitik (Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts). Im Schengener Abkommen wurde die Aufhebung der Grenzen innerhalb der EU beschlossen, dafür sind aber Kontrollen an den Außengrenzen der EU vorzunehmen. Die Asyl- und Einwanderungspolitik soll gemeinschaftlich geregelt werden und für die grenzüberschreitende Bekämpfung der Kriminalität wurden bereits erste Regelungen und Institutionen geschaffen. Die Auflistung der Ziele schließt mit dem Hinweis in Absatz 6, dass die EU diese Ziele nur im Rahmen der ihr im Vertrag übertragenen Zuständigkeiten verfolgt; damit soll geklärt werden, dass die EU sich nicht mit dem Hinweis auf gesetzte Ziele zusätzliche Kompetenzen und Ressourcen aneignen darf.
1.1.3.2
Die Stufen der Integration Europas
Welche Stufen kann dieEuropäische Integration durchlaufen? Welche Integrationsstufe hat die EU erreicht? Die europäische Kooperation begann nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Bündelung der kriegswichtigen Ressourcen Kohle und Stahl in einer gemeinschaftlichen Organisation, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Wie und wohin es danach weitergehen sollte bzw. könnte war zwar in Visionen einzelner Vordenker umrissen, jedoch nicht als gemeinsamer Wille formulierbar. Die historische Entwicklung sowie künftig denkbare Pfade lassen sich vor dem idealtypischen Hintergrund einer stufenweisen wirtschaftlichen und politischen Integration beschreiben; diese Stufen werden im Folgenden in Anlehnung an das Phasenmodell von Balassa (1961) aufgezeigt. Entsprechend wird dann die bisherige Entwicklung der EU verortet.
1.1 Der europäische Integrationsprozess
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VS-EU: Vereinigte Staaten von Europa Föderaler Aufbau (mit starker Zentrale)
GUS-EU: Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Europas Starke Nationalstaaten, Vereinbarungen über gemeinsame Bereiche
WWU: Wirtschafts- und Währungsunion Vier Grundfreiheiten (Waren, Dienste, Arbeit, Kapital), Wettbewerbspolitik, einheitliche Währung und Geldpolitik
EFTA: Freihandelszone Europa Zollunion, Investorenschutz, Wettbewerb
Europa der Werte Europäisches Land, Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, (Aufklärung?, Christentum?)
Brasche, 2013 Abb. 1-1: Stufenschema der Europäischen Integration
Stufe 1: Europa als Wertegemeinschaft Die gemeinsamen Werte (Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie) sind die unverzichtbare und auch unstrittige Basis für eine Mitgliedschaft. Ebenso sind Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern Teil des Wertekanons (EU-V, Artikel 2). Doch alle zivilisierten Nationen bekennen sich dazu, so dass keine spezifisch europäischen Merkmale beschrieben sind. Strittig ist, ob der gemeinsame Geist der Aufklärung sowie der Bezug zur Religion einen zwingenden Kern Europas bilden, zumal wenn mit Religion ausschließlich das Christentum gemeint ist (Kapitel 5.2.2). Besonders in der Diskussion um den Beitrittsantrag der Türkei wurde in der Frage der Aufklärung und der Religion eine Grenzziehung zwischen Europa und Nicht-Europa versucht. Bedeutsam ist, dass die EU sich nunmehr eine vertragliche Grundlage dafür geschaffen hat, Mitgliedsstaaten, die diese gemeinsamen Werte verletzen, zu sanktionieren (EU-V, Artikel 7). Stufe 2: Europäische Freihandelszone bzw. Zollunion Eine schwach ausgeprägte wirtschaftliche Integration ist in einer Freihandelszone erreicht, wenn der grenzüberschreitende Handel mit Gütern zwischen den Mitgliedern der Freihandelszone zollfrei erfolgt. Allerdings hat jedes Mitgliedsland einer Freihandelszone seine eigenen Zölle gegenüber Drittstaaten. Um zu verhindern, dass Güter aus Drittstaaten durch die Grenze mit den geringsten Außenzöllen in die Zollunion eingeführt werden und dort dann
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
frei zirkulieren, muss für alle Importe mit hohem bürokratischen Aufwand das Herkunftsland dokumentiert werden. Um diesen Aufwand zu vermeiden, können Staaten eine Zollunion eingehen. Sie einigen sich darauf, die Handelsbeziehungen zu Drittstaaten durch einen gemeinsamen Außenzoll zu harmonisieren. Nicht-tarifäre Handelshemmnisse jedoch blieben in der Freihandelszone und in der Zollunion bestehen. Auch gibt es keinen freien Zutritt zu den Märkten für Arbeitskräfte, Kapital oder Dienstleistungen und eine „positive Integration“ (Tinbergen, 1954), d.h. eine aktive Unterstützung der Marktintegration, ist nicht vorgesehen. Eine Zollunion wurde zwischen den damaligen Mitgliedern der EWG 1959 geschlossen. Bisher einmalig ist die Vereinbarung einer Zollunion mit einem Nicht-Mitgliedsstaat, der Türkei, die im Jahr 1995 in Kraft trat (Kapitel 6.2). Stufe 3: Wirtschafts- und Währungsunion Der Binnenmarkt soll die noch bestehenden nichttarifären Handelsschranken beseitigen und die volle Freiheit von Arbeit, Kapital, Dienstleistungen und Gütern in der EU sicherstellen (Kapitel 2). Als Ergänzung zum Binnenmarkt soll der Euro Störungen wirtschaftlichen Handelns, die von Wechselkursschwankungen ausgehen können, beseitigen (Kapitel 3). Zur Flankierung der von Binnenmarkt und Euro freigesetzten Kräfte soll die Wettbewerbspolitik für das ungehinderte Wirken des Marktprinzips sorgen, indem sie Wettbewerbsbehinderungen wie Fusionen, Missbrauch von Marktmacht, Kartelle und Subventionen kontrolliert und unterbindet. Auch das Handeln des Staates als Nachfrager soll den Wettbewerbsregeln unterworfen werden (Kapitel 2.2.2). Diese Maßnahmen – ergänzt durch die Verpflichtung zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik – schaffen eine starke wirtschaftliche Integration. Eine Vergemeinschaftung eines Teils der Wirtschaftspolitik hat die EU mit der Einführung des Euro vollenden können: Für die Euro-Länder gibt es keine nationale Kompetenz mehr in der Geldpolitik. In anderen wirtschaftspolitischen Handlungsfeldern, wie der Fiskal-, Steuer-, Beschäftigungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik jedoch verbleibt die Kompetenz in den Nationalstaaten. Die Verpflichtung der jeweiligen nationalen Wirtschaftspolitiken auf eine gemeinschaftliche Orientierung wird durch Regelungen herbeigeführt, die den nationalen Regierungen als Richtschnur dienen. So werden die Mitgliedsstaaten auf eine enge Koordinierung der Wirtschaftspolitik verpflichtet und auch der einzelne Staat muss „Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ (AEU-V, Artikel 121) im Rat koordinieren. Der Rat hat zwar keine Entscheidungsbefugnis über die Wirtschaftspolitik in den einzelnen Ländern, verabschiedet jedoch eine Empfehlungen für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik jedes Landes und kann bei Verletzung dieser Grundzüge öffentlich „Empfehlungen aussprechen“, d.h. Alarm schlagen und damit die wirtschaftspolitische Position dieser nationalen Regierung einer verschärften internationalen Beobachtung anempfehlen. Dies dürfte nicht ohne Einfluss auf die Stellung des jeweiligen Landes an den internationalen Kapitalmärkten bleiben – Zinserhöhungen bei Kreditaufnahmen der Regierung sind mögliche Folgen. Über diese Einflussmöglichkeiten hinaus unterliegen die öffentlichen Haushalte der Nationalstaaten der Aufsicht der EU, wenn sie ein „übermäßiges Defizit“ nach der Definition des Vertrags aufweisen: Die Pläne zur Konsolidierung sind der EU vorzulegen und begrenzen
1.1 Der europäische Integrationsprozess
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die konjunkturpolitischen Handlungsmöglichkeiten drastisch. Die EU kann nach erfolgloser Abmahnung des Defizits sogar Sanktionen gegen einzelne Staaten verhängen. Diesen Stand hat die EU mit dem Vertrag von Maastricht (1992) erreicht. Allerdings blieb die so spezifizierte Wirtschafts- und Währungsunion unvollendet, da die Fiskalpolitik nicht einbezogen wurde. Stattdessen wurde eine Disziplinierung der nationalen Staatshaushalte durch die Finanzmärkte erwartet, die auf Unterschiede im Ausfallrisiko von Staatsanleihen mit Zinsdifferenzen (Spreads) reagieren sollten. Zusätzlich wurden Vorkehrungen getroffen, um ein Übergreifen der Verschuldung einzelner Mitgliedsstaaten auf andere Mitglieder zu unterbinden („No bail out Klausel“ sowie Stabilitätspakt). Diese Instrumente haben jedoch nicht gegriffen, was in der Euro-Krise ab 2008 letztlich zu erheblichen Ansteckungseffekten geführt hat (Kapitel 3). Stufe 4: Politische Union oder Staatenbund Mit fortschreitender wirtschaftlicher Integration stellt sich immer wieder die Frage, ob, und bei welchen Themen und nach welchen Verfahren nationale Entscheidungsmacht an eine Gemeinschaft abgegeben werden soll. Das Kontinuum reicht von der Teilung von Entscheidungsmacht in Koordinierungs- und Kommunikationsprozesse über die – widerrufbare – zwischenstaatliche Vereinbarung bis zur endgültigen Abgabe der Entscheidungsbefugnis an eine supranationale Einheit. Alle diese Verfahren sind bereits im Portfolio der EU enthalten. Von der wirtschaftlichen Integration führt ein fließender Übergang in die politische Integration. Welche Ausgestaltung diese letztlich erfahren soll, ist nicht eine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der politischen Willensbildung. „Heute ist es nicht möglich, sich in Straßburg auf ein radikales Programm zu einigen, weil die Mehrzahl der dort vertretenen Regierungen die Idee eines europäischen Bundesstaates ablehnt und Europa organisieren will als losen Staatenbund souveräner Völker“. Seit dieser Rede von Richard Nikolaus Graf Coudehove-Kalergi (1950) anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen im Jahr 1950 ist zwar das britische Weltreich untergegangen, aber die Bereitschaft in den Mitgliedsstaaten, den Nationalstaat zugunsten eines Föderalstaates zurückzudrängen, ist seitdem nicht größer geworden. So oszillieren die Visionen von der künftigen Entwicklung der EU auch heute noch zwischen den Stufen 4a und 4b. Stufe 4a: „Gemeinschaft unabhängiger Staaten Europas“ Wenn gemeinsames Handeln in wirtschaftlichen und politischen Fragen vertraglich vereinbart wird, aber die Entscheidungsautonomie für jede einzelne Entscheidungssituation bei den Mitgliedsstaaten verbleibt, entsteht eine Gemeinschaft von unabhängigen Nationalstaaten, die ihre Politiken zwar gemeinsam ausüben, die Entscheidungsmacht jedoch nicht endgültig „nach Brüssel“ abgeben wollen. Stufe 4b: „Vereinigte Staaten von Europa“ Sollten die Völker Europas bereit sein, die Verantwortung für immer mehr Politikbereiche auf die supranationale Ebene der EU-Institutionen zu transferieren, könnte ein föderales Gebilde der „Vereinigten Staaten von Europa“ entstehen, in dem die bisherigen Nationalstaaten
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
die Position von „Bundesländern“ bekämen und die EU-Institutionen zu einer „Zentralregierung“ transformiert würden.
1.1.3.3
Wo steht die EU heute?
Hat die EU ihre Integration bereits vollendet? Wo ist die Integration wie, wo wenig fortgeschritten? Wie kann der Stand der Integration gemessen werden? Der bisherige Stand des europäischen Integrationsprozesses lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die Wertegemeinschaft für die Mitgliedsstaaten ist festgeschrieben, wenn auch die Konkretisierung im Einzelfall zu diskutieren ist. Die Europäische Kommission und das Parlament reagieren auf drohende oder tatsächliche Verletzungen demokratischer Grundsätze zunehmend sensibel und mischen sich in die nationalen Prozesse ein, wie die Beispiele Ungarn und Rumänien seit dem Jahr 2011 zeigen. Wirksam scheint die Drohung mit dem Entzug von Subventionen zu sein.
Die wirtschaftliche Integration der Märkte ist unterschiedlich weit fortgeschritten. Freier Güter- und Kapitalverkehr sind weitgehend gesichert, während auf dem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt, bei der Privatisierung von Staatsbetrieben und beim internationalen Handel von Dienstleistungen noch erhebliche Rückstände im Vergleich zum angestrebten wirtschaftsliberalen Modell bestehen. Die Integration der Währung hat erstens nur einen Teil der Mitgliedsländer einbezogen – andere wollten oder konnten den Euro bisher nicht übernehmen –, und zweitens erweist sich der Euro zunehmend nicht als Stufe wirtschaftlicher und politischer Integration, sondern vielmehr als Kristallisationspunkt und Ursache eines möglichen Rückschritts im Integrationsprozess.
Die politische Integration hin zu einer eher bundesstaatlichen Konstruktion kommt nicht voran, da die Stimmung in den Mitgliedsstaaten eine Abgabe von nationaler Souveränität unmöglich macht. Dies zeigt sich in der laufenden Krise z.B. beim Bestimmen über den Staatshaushalt (Steuerpolitik, Fiskalpolitik, Festlegung der Prioritäten für Staatsausgaben), wo nur geringe Bereitschaft besteht, die nationale Kompetenz aufzugeben.
Anders als die Liberalisierung von Güter- und Kapitalmärkten ist die europäische Komponente in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kaum entwickelt, da einige Länder auch auf diesen Gebieten eine liberale, „anglo-sächsische Linie“ verfolgen, während andere eher einer sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Tradition verpflichtet sind. Den Zielen „Solidarität“ und „regionale Kohäsion“, zu denen auch das Teilen von Ressourcen zwischen den wohlhabenden und den ärmeren Mitgliedsstaaten beitragen könnte, ist die EU kaum näher gekommen. Zwar wurde unter dem Druck der Finanzkrise das Risiko auf mehr Schultern verteilt, doch geschah dies in Ad-hoc-„FeuerwehrAktionen“ der Regierungen, die sich nicht auf eine ausreichende Meinungsbildung innerhalb der Bevölkerung stützen konnten. Die Akzeptanz des europäischen Gedankens hat darunter gelitten.
1.2 Institutionen und Entscheidungen in der EU
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Die innen- und außenpolitische Integration, die eine Abgabe nationaler Kompetenzen an die supranationale Ebene voraussetzt, ist nur rudimentär entwickelt; eine weitergehende Vergemeinschaftung, wie z.B. ein europäisches Militär, wird auch von den Bürgern der einzelnen Staaten mehrheitlich abgelehnt.
Den Stand der Integration messen: Der EU-Integrationsindex Mit dem Hinweis darauf, dass der Begriff „Integration“ zwar häufig verwendet, aber nicht klar definiert würde, haben König und Ohr (2012) einen Index entwickelt, aus dem sie den Stand und die Entwicklung der Integration in den einzelnen Mitgliedsstaaten messen und vergleichen. Dazu unterteilen sie den Sachverhalt der Integration in Dimensionen
Ökonomische Integration – – –
Verflechtung (Handel, Migration, …) Homogenität (Einkommen, Arbeitskosten, Steuern, …) Konjunktursymmetrie
Institutionelle Integration – –
Teilnahme an weiteren Vereinbarungen (Schengen, Euro, EWS-II, …) Vertragstreue
Mit diesem Ansatz stellen die Autoren fest, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten bei der erreichten Integration gibt. So haben Belgien, Österreich, Niederlande, Frankreich und Deutschland ein hohes Maß an Integration erreicht, während Großbritannien und Griechenland deutlicher weniger integriert sind. Insgesamt wurde ein deutliches „Nord-Süd“-Gefälle festgestellt. Zwar weist der Integrationsindex für den Zeitraum 1999– 2010 einen leicht steigenden Wert auf, aber die Rangfolge der Länder ist nahezu stabil.
1.2
Institutionen und Entscheidungen in der EU
1.2.1
Das europäische Macht-Dreieck
Wie werden die Interessen von Nationen und Gemeinschaft verhandelt? Wie wird Macht in der EU begrenzt? Die EU hat sich im Verlauf ihrer Geschichte eine Reihe von Institutionen geschaffen, die ihre Politiken beschließen und zum Teil auch ausführen; die EU hat also sowohl legislative als auch exekutive Zuständigkeiten. Um verständlich zu machen, wie in der EU Entscheidungen getroffen werden, wie der Kampf um Macht und Einfluss geführt wird, welche Blockaden dabei drohen und welche möglichen Defizite im demokratischen Mechanismus Europas festzustellen sind, sollen die drei europäischen Institutionen Parlament, Rat und Kommission im Folgenden näher dargestellt werden.
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
Diese drei Institutionen bilden das Machtdreieck Europas. Sie vertreten jeweils einen spezifischen Teil des Interessens- und Entscheidungssystems aus den Mitgliedsstaaten sowie die supranationale Ebene. Sie stellen in ihrem Zusammenspiel ein aus Verhandlungen hervorgegangenes System dar, das als Rahmen für weitere Verhandlungen dient (Bolle, M., 2011). Dieses Konstrukt ist der Tatsache geschuldet, dass die EU weder rein zwischenstaatlich (Staatenbund), noch supranational (Bundesstaat) organisiert ist und auch keine durchgängige hierarchische Struktur aufweist. Im Nationalstaat spiegelt das Parlament (Legislative) den politischen Willen der wählenden Bürger wider und die Regierung (Exekutive) setzt diesen unter der Kontrolle durch das Parlament um. Für die Bürger bildet der Nationalstaat die Gemeinschaft, die die Grenze zwischen dem „Wir“ und dem „Ausland“ zieht. Die öffentliche Meinung, wie sie sich in den Medien artikuliert, – konzentriert sich auf inländische Themen und Ereignisse. Der Nationalstaat stiftet Identität für seine Bürger und verlangt Loyalität von ihnen. Diese Loyalität legitimiert der Staat durch das Versprechen von Gegenleistungen wie innere und äußere Sicherheit und Versorgung. In letzter Konsequenz kann der Nationalstaat von seinen – dann meist männlichen – Bürgern den Einsatz des Lebens verlangen. Auf der Ebene der Europäischen Union existiert keine analoge Aufgabenteilung von Parlament und Regierung. Vielmehr sind hier drei anders geartete Gruppen vertreten: 1.
Repräsentanten einer politischen Richtung, die in jedem Mitgliedsstaat aus direkten Wahlen in das Europäische Parlament gewählt wurden und sich dort zu politischen Fraktionen – nicht zu Ländergruppen – zusammenschließen.
2.
Vertreter des Nationalstaates im Europäischen Rat und Rat; sie sind Vertreter der Interessen ihres Landes auf der EU-Ebene – sie dürfen und sollen also Deutsche, Spanier, Esten usw. sein, wenn sie sich in der EU treffen.
3.
Vertretung Europas (Europäische Kommission), die allein dem Interesse der Europäischen Union verpflichtet ist und keinerlei spezielle Rücksichten auf politische Strömungen oder nationalstaatliche Interessen nehmen darf.
Dieses Machtdreieck bildet die Plattform, auf der verschiedene Interessen verhandelt werden: Mitgliedsstaaten, Interessengruppen, politische Richtungen und die gesamteuropäische Sicht. Nicht Teil dieses Geflechts ist die Europäische Zentralbank, die unabhängig von Länderinteressen und politischen Richtungen für die Stabilität des Geldwertes der gemeinsamen Währung sorgen soll (Kapitel 3). Weiterführende Literatur
Monar, J. (2011). The European Union’s institutional balance of power after the Treaty of Lisbon. The European Union after the Treaty of Lisbon – Visions of leading policymakers, academics and journalists. European Commission. Luxembourg: 108–112.
Rossi, L. S. (2011). A new inter-institutional balance: supranational intergovernemental method after the Treaty of Lisbon. The European Union after the Treaty of Lisbon – Visions of leading policy-makers, academics and journalists. European Commission. Luxembourg.
1.2 Institutionen und Entscheidungen in der EU
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Peterson, J., Shackleton, M., Eds. (2012). The Institutions of the European Union. The New European Union Series. Oxford.
Nugent, N. (2010). The Government and Politics of the European Union, part 3, Basingstoke.
1.2.2
Europäisches Parlament
Wen vertritt das Europäische Parlament? Welche Rechte hat das Europäische Parlament? Das Europäische Parlament (Artikel 14 EU-V; 223–234 AEU-V) wird von den Bürgern der Mitgliedsstaaten für jeweils fünf Jahre direkt gewählt. Jedes Land der EU kann eine näherungsweise bevölkerungsproportionale Anzahl von Mitgliedern des Parlaments wählen, wobei die größeren Länder weniger Stimmen erhalten als ihrem Bevölkerungsanteil entspräche und die kleineren dafür mehr. Die Parlamentarier repräsentieren nicht die Mitgliedsstaaten, sondern politische Richtungen. Sie bilden über die nationalen Grenzen hinweg politische Fraktionen, denen sie auch in Abstimmungen verbunden bleiben (Smith, J., 1999; Noury, A. G., G. Roland, 2002). Das Europäische Parlament befindet sich in einer stetigen Entwicklung: Von einer beratenden Versammlung hin zu einem machtvollen Gremium nach dem Vorbild eines nationalen Parlaments nach den Grundgedanken demokratischer Gewaltenteilung. Es hat jedoch nicht die volle Funktion der Legislative, über die ein nationales Parlament verfügt. Vielmehr kommen ihm lediglich Mitwirkungs- und Kontrollbefugnisse im Zusammenspiel mit den anderen beiden Gremien zu. Diese Befugnisse sind im Lauf der Zeit gewachsen und umfassen
Haushaltsrecht: Der Haushalt der EU wird in einem mittelfristigen Finanzplan beschrieben, und die jährlichen Budgets werden als Teil dieses Plans verabschiedet (Kapitel 4.3). Im mittelfristigen Finanzplan werden die Ausgabenschwerpunkte festgelegt. Dieser Plan kann nur mit einer mehrheitlichen Zustimmung des Parlaments verabschiedet werden. Beim Jahresbudget hat es das Recht, Änderungen vorzuschlagen und diese in einem Vermittlungsverfahren durchsetzen: Ohne mehrheitliche Zustimmung des Parlaments kann der jährliche Haushalt nicht verabschiedet werden. In Nationalstaaten gilt es als das wichtigste Recht des Parlaments, über die Finanzen zu beschließen. In der EU ist die Stellung des Parlaments in dieser Frage zwar stärker geworden, aber es muss die Macht mit dem Rat teilen.
Kontrolle der Kommission: Eine neue Kommission muss durch das Europäische Parlament akkreditiert, sein Präsident muss durch das Parlament gewählt werden. Damit kann das Europäische Parlament auf die Auswahl der Personen für die Kommission Einfluss ausüben. Außerdem hat die Kommission eine Berichtspflicht gegenüber dem Parlament; dieses kann der Kommission sogar das Misstrauen aussprechen und sie damit aus dem Amt entfernen. Das Europäische Parlament kann bei Missständen in der EU Untersuchungsausschüsse einrichten und Petitionen von Bürgern behandeln.
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1 Europäische Institutionen und Prozesse Teilnahme an der Rechtsetzung der EU (Kapitel 1.2.5): Bei der Rechtsetzung hat das Europäische Parlament eine Mitwirkung, die es auch zur endgültigen Ablehnung von Gesetzesvorschlägen nutzen kann. Im Verlauf der Zeit hat das Europäische Parlament eine wachsende Bedeutung erfahren und wird bei der Gesetzgebung einem herkömmlichen nationalen Parlament ähnlich. Es hat immer noch kein Recht, eine Gesetzesinitiative auf den Weg zu bringen; allenfalls kann es die Kommission auffordern, eine solche zu ergreifen.
Seine Macht kann das Europäische Parlament auf der europäischen Bühne also nur im Zusammenspiel mit den beiden anderen Gremien, dem Rat und der Kommission, ausüben. Es ist (noch) nicht in gleicher Art wie ein nationales Parlament der Ort politischer Diskussion, der Willensbildung und der Gestaltung in Ausübung des Wählerauftrags. Dies liegt auch daran, dass, der politische Diskurs im Europäischen Parlament nur schwach zu den nationalen Wählern rückgekoppelt ist: Eine intensive Diskussion der im Europäischen Parlament behandelten europäischen Themen findet keine starke Begleitung in der Öffentlichkeit der Nationalstaaten, weil die nationalen Medien diese Themen nur wenig oder vorrangig aus nationaler Perspektive aufgreifen. Weiterführende Literatur
Nugent, N. (2010). The Government and Politics of the European Union, ch. 11, Basingstoke
Scully, R. (2010): The European Parliament, in: Cini, M., Perez-Solorzano Borragan, N. (Ed.): European Union politics, Oxford, 162–175.
Hix, S., Scully, R. (Ed.) (2003): The European Parliament at fifty, Journal of Common Market Studies – Special Edition, 41
1.2.3
Europäischer Rat und Rat
Wen vertreten der Europäische Rat bzw. der Rat? Warum ist die Mehrheitsfindung im Rat so kompliziert geregelt? Die EU ist heute immer noch weitgehend ein Gebilde, in dem die Mitgliedsstaaten nach dem „Verfahren der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit“, oder auch intergovernemental, Vereinbarungen untereinander treffen. Dies ist gegeben, wenn die einzelnen Mitgliedsstaaten zwar die Entscheidungsmacht über ein Thema behalten haben, sich aber über die Regelungen zu diesem Thema einigen. Für das Einigungsverfahren sind „Spielregeln“ festzulegen. Erstens ist zu präzisieren, bei welchen Themen ein Land nicht mehr allein, sondern mit den anderen zusammen beschließen soll und zweitens ist – Thema für Thema – festzulegen, wie eine Mehrheit für den Beschluss definiert werden soll. Diese Spielregeln sind heftig umstritten und werden im Verlauf der Zeit auch ständig abgeändert, da sie beschreiben, wie viel Entscheidungsmacht ein Teilnehmer abzugeben hat und ob ein einzelnes Land von den anderen dominiert werden kann. Die Teilnehmer sind die Regierungschefs bzw. die Fachminister der Mitgliedsstaaten. Diese Regeln und ihre Entwicklung sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.
1.2 Institutionen und Entscheidungen in der EU
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Die Regierungen der Mitgliedsstaaten kommen in der EU in zwei „Konfigurationen“ zusammen: Die Regierungsspitzen (Europäischer Rat) bzw. die Fachminister (Rat, früher: Rat der Europäischen Union) aus den Nationalstaaten treffen sich in Brüssel oder Straßburg, um über Themen zu beraten und zu beschließen, die nicht mehr allein, sondern nur noch gemeinsam behandelt werden können. Im Rat werden – im Zusammenspiel mit dem Europäischen Parlament – Gesetze verabschiedet. Der „Europäische Rat“ (Artikel 15 EU-V; 235–236 AEU-V) besteht aus Treffen der Staatsund Regierungschefs sowie des Präsidenten der Kommission und tritt zweimal jährlich – bei Bedarf häufiger – zusammen. Den Vorsitz hat ein Mitgliedsstaat jeweils für sechs Monate. Entscheidungen fallen in der Regel im Konsens. Die Mitglieder des Europäischen Rates vertreten ihre nationalen Interessen auf der europäischen Ebene und orientieren sich in ihrer Politik an der Wirkung auf die Wähler zu Hause, von denen sie auch in der nächsten nationalen Wahl wieder gewählt werden wollen. Dieses Gremium gibt der EU wesentliche politische Impulse und nimmt zusätzliche Aufgaben, z.B. in der Wirtschafts- und Währungspolitik, wahr. Der „Rat“ (Artikel 15 EU-V; 237–243 AEU-V), auch Ministerrat genannt, besteht aus Treffen der Fachminister der nationalen Regierungen. Der Rat ist Teil des Gesetzgebungsmechanismus in der EU. Diese Macht musste er im Lauf der Entwicklung Europas mehr und mehr mit dem Europäischen Parlament teilen, das seinen Einfluss auf die Rechtsetzung ausweiten konnte (Kapitel 1.2.5). Der Rat sorgt auch für die Abstimmung der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedsstaaten. Zusammen mit dem Parlament übt der Rat die Haushaltshoheit aus. Die Organisation der Arbeit des Rates übernimmt die Ratspräsidentschaft, die alle sechs Monate zu einem anderen Mitgliedsstaat wechselt. Das Land der vorherigen sowie der nachfolgenden Präsidentschaft bildet mit dem Land, das den Vorsitz innehat, einen Verbund (Troika), um den Informationsfluss und die Kontinuität der Arbeit zu erleichtern. Als ständiger Apparat zur Unterstützung der Arbeit des Rates wurde ein „Ausschuss der ständigen Vertreter“ (COREPER, Comité des Représentants Permanents) eingerichtet, der aus Botschaftern und Beamten der Mitgliedsstaaten besteht. Dieser Beamtenapparat, der ständig in Brüssel präsent ist, ist für die Effizienz und Effektivität der Sitzungen des Rates entscheidend. Er bereitet die Beschlussvorlagen für die Sitzungen so weit wie möglich konsensfähig vor. Dabei sind Kompromisse und „Kuhhandel“ notwendige Elemente der Einigung unter Partnern mit unterschiedlichen nationalen Interessen. Lewis (2012) bezeichnet diesen Ausschuss als den Ort, an dem die „deals gemacht“ werden, wo die Entscheidungen des Rats de-facto vorgeformt werden. Da COREPER unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt, wird er als Ausdruck der Intransparenz der EU und der Herrschaft eines undurchsichtigen Apparats kritisiert. Themen, über die im COREPER keine gemeinsame Beschlussvorlage erarbeitet werden konnte, werden von den Ministern während der Sitzung des Rates entschieden. Finanzpolitische Entschlüsse werden vom Wirtschafts- und Finanzausschuss vorbereitet, in dem Staatssekretäre der Finanzministerien der Mitgliedsstaaten, Vertreter der nationalen Notenbanken sowie je ein Repräsentant der EU-Kommission und der EZB vertreten sind.
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
Die Mitglieder des Rates sind Delegierte nationaler Regierungen und sind bei ihren Entscheidungen ihren jeweiligen nationalen Parlamenten gegenüber politisch verantwortlich und an einer positiven Resonanz bei ihrer jeweiligen nationalen Wählerklientel interessiert. Wenn die Interessen und Ansichten der Ratsmitglieder aus den verschiedenen Mitgliedsstaaten voneinander abweichen, wird die Beschlussfassung schwierig:
Sollen alle Beschlüsse nur einstimmig getroffen werden, oder
sollen Abstimmungen zu Mehrheiten und Minderheiten führen können, in denen – wie in Demokratien üblich – die Minderheit unterliegt?
Wenn eine Mehrheit gewinnen kann: Wie ist dann die Mehrheit definiert, m.a.W. soll schon eine kleine Minderheit genügen, um eine Entscheidungsvorlage scheitern zu lassen und wer hat wie viele Stimmen dabei?
Um diese Fragen wurden bei der Weiterentwicklung der Europäischen Integration heftige Auseinandersetzungen geführt – letztlich gab es jedoch eine schrittweise Entwicklung hin zu Mehrheitsentscheidungen. Die Einstimmigkeit war die alleinige Regel unter den sechs Gründungsmitgliedern. Es reicht das „Nein“ eines einzigen Landes, um einen Beschlussvorschlag scheitern zu lassen. Dadurch ist jedem Land die Möglichkeit eines Vetos gegeben – unabhängig davon, ob es sehr klein oder sehr groß ist. Es können so nur Beschlüsse gefasst werden, mit denen jeder Mitgliedsstaat einverstanden ist, was die Harmonie fördert, aber die Entscheidungsfähigkeit dämpft und zur Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner führt. Je sensibler das Thema in den Augen einzelner Mitgliedsländer ist, desto geringer ist deren Bereitschaft, sich von einer Mehrheit überstimmen zu lassen. Bei einer einfachen Mehrheit hat jeder Mitgliedsstaat – unabhängig von seiner Größe – eine Stimme. Wenn mindestens die Hälfte aller Staaten zustimmt, wird ein Beschluss verabschiedet; im Grenzfall wird dieser von fast der Hälfte der Staaten abgelehnt. Es ist relativ leicht, eine solche Mehrheit zu organisieren, bzw. relativ schwierig, fast die Hälfte der Länder für ein „Nein“ zu mobilisieren („Sperrminorität“). Außerdem könnten in einer solchen Abstimmung viele kleine Staaten, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung der EU repräsentieren, sich gegen eine Gruppe von Ländern durchsetzen, die die überwiegende Mehrheit der EUBürger repräsentieren. Ein solcher Beschluss würde nicht so breit akzeptiert, wie es wünschenswert ist. Das grundlegende Problem besteht darin, dass jedes einzelne Land auf Einfluss verzichten muss, indem es auf sein Vetorecht verzichtet: Die Einführung bzw. Modifikation des Mehrheitsprinzips hat wiederholt zur Krise der EU geführt (Kasten „Krisen und Kompromisse“). Um die Zustimmung zu einer Beschlussvorlage auf eine möglichst breite Basis zu stellen, aber dabei ein Veto auszuschließen, wurden die Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit eingeführt. Für einen Beschluss wird verlangt, dass deutlich mehr als die Hälfte der Mitgliedsstaaten zustimmt; es ist dann einfacher, eine kleine Gruppe zusammenzustellen, die den Beschluss ablehnt („Sperrminorität“).
1.2 Institutionen und Entscheidungen in der EU
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Aber selbst wenn das Prinzip der qualifizierten Mehrheit akzeptiert wird, bleibt noch als Konfliktstoff, dass die Mitgliedsstaaten so ungleich groß sind. Daher sollte bei Abstimmungen gleichzeitig noch die Bevölkerungszahl berücksichtigt werden, indem jedes Land eine näherungsweise an seine Bevölkerungszahl gekoppelte Anzahl von Stimmen bekommt. Bei einer vollständig bevölkerungsproportionalen Verteilung könnten die kleineren Länder aber nur ein sehr geringes Stimmengewicht erhalten. Da sie dem nicht zustimmen wollten, wurden sie im Vertrag von Nizza (2000) besser gestellt, indem sie ein Stimmengewicht erhielten, das größer war als ihr Anteil an der EU-Bevölkerung. Damit wurde ein kompliziertes Verfahren geschaffen, in dem für einen Beschluss mit qualifizierter Mehrheit drei Kriterien heranzuziehen waren: 1. 2. 3.
Die Mehrheit der Länder (14 von 27 Ländern), die qualifizierte Mehrheit der Stimmengewichte (255 von 345 Stimmen, d.h. 73,91% der Stimmgewichte), und der Anteil der Bevölkerung der zustimmenden Länder an der Gesamtbevölkerung der EU muss mindestens 62% betragen.
Bei der Revision des Vertrags von Nizza im Reformvertrag von Lissabon (2007) konnte dieses Verfahren zwar vereinfacht werden, aber nur dadurch, dass auf Wunsch Polens eine Übergangsfrist bis 2014 bzw. 2017 eingeführt wurde. Bis November 2014 bleiben die Regelungen des Vertrags von Nizza in Kraft. Für die Zeit danach wird die Gewichtung der Stimmen im Rat aufgegeben, so dass jedes Land eine Stimme hat und außerdem noch die Größe des Landes – gemessen an der Bevölkerung – zählt. Beschlüsse werden nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit gefällt: 1. 2.
Es müssen 55% der Mitgliedstaaten zustimmen (15 von 27) und in den zustimmenden Ländern müssen mindestens 65% der EU-Bevölkerung wohnen. Eine Sperrminorität ist erreicht, wenn mindestens vier Länder gegen einen Vorschlag stimmen, in denen mindestens 35% der EU-Bevölkerung leben.
Bis Ende März 2017 kann ein Mitgliedsstaat im Einzelfall verlangen, dass eine Abstimmung nach den alten Regeln des Vertrags von Nizza abzulaufen hat. Außerdem kann die Anwendung des „Kompromisses von Ioannina“ verlangt werden, wenn eine Gruppe von Ländern, die es nicht schaffen eine Sperrminorität zu bilden, dennoch mit einem Mehrheitsbeschluss nicht einverstanden ist. Kann der Rat zu einem Thema mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, so fällt es einem Mitgliedsstaat möglicherweise schwer, diese für „sein“ Thema zu gewinnen. Dann findet oft ein politischer „Kuhhandel“ statt, bei dem in gegenseitigen Kompensationsgeschäften ökonomisch nicht immer optimale Ergebnisse erzielt werden. Es werden „Verhandlungspakete“ geschnürt, für die die Zustimmung einer Gruppe von Ländern mit dem Angebot zur Zustimmung bei einem anderen Thema, das dieser Gruppe wichtig ist, getauscht wird. Im Rat wird jedoch selten nach den im Vertrag vorgesehenen Regeln der qualifizierten Mehrheit abgestimmt. Stattdessen wird versucht, durch Verhandlungen und Kompromisse einen Konsens zu erreichen; allenfalls enthalten sich die Vertreter der Länder, die gegen ei-
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
nen Vorschlag sind der Stimme – was de-facto als ‚Ja‘ gezählt wird. Dadurch wurde in 70%– 85% dieser Abstimmungen zwischen 2004 und 2010 einstimmig entschieden (HayesRenshaw, F., 2012:80). Somit hängt der Einfluss eines Mitgliedsstaates im Rat nicht vorrangig von seinem Stimmengewicht ab, sondern von seinem Verhandlungsgeschick und seiner Kompromissfähigkeit sowie seinem sonstigen politischen Gewicht (Sidjanski, D., 2011:281). Krisen und Kompromisse „Luxemburger Kompromiss“ Zwar war der Übergang zum Verfahren der qualifizierten Mehrheit bereits beschlossen worden, seine anstehende erstmalige Anwendung führte jedoch 1966 zu einer ernsten Krise: Der französische Staatspräsident De Gaulle blockierte durch demonstratives Fernbleiben die EU („Politik des leeren Stuhls“). In einem gemeinsamen Beschluss wurde dann festgelegt, dass das neue Prinzip der qualifizierten Mehrheit gelten solle, aber dann nach dem Prinzip der Einstimmigkeit verfahren werden sollte, wenn ein einzelnes Mitgliedsland dies wünschte (Dinan, D., 2000:162, 332). Damit hatte die EU die Weiterentwicklung der Abstimmungsverfahren gerettet, indem sie einen Kompromiss fand, bei dem Frankreich sein Gesicht wahren konnte. „Kompromiss von Ioannina“ Ab 1.1.1995 kamen neue Mitgliedsstaaten dazu, somit wuchs auch die Anzahl der Stimmen im Rat. Es war zu klären, welche Stimmenzahl künftig für eine Sperrminorität gelten sollte. Spanien und Großbritannien plädierten für eine Beibehaltung der Anzahl der Stimmen, die eine Sperrminorität bilden kann. Dies käme einer Verschärfung der Anforderungen gleich, da künftig ein größerer Prozentsatz der Stimmen für eine qualifizierte Mehrheit erforderlich wäre. Länder, die eine Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen in der EU wünschten, lehnten dies ab. Auf der Ratssitzung von Ioannina wurde als Kompromiss vereinbart, dass der Rat versuchen wird, eine größere als die mindestens erforderliche Stimmenzahl für einen Beschluss zu erhalten (Geiger, R., 2000:682). Eine solche Klausel wurde auf Drängen Polens auch in den Reformvertrag (2007) übernommen (Erklärung Nr. 7, Vertrag von Lissabon). „Nizza oder Tod“ Im Vertrag von Nizza (2003) war dem künftigen Mitgliedsstaat Polen der gleiche Stimmenanteil wie Spanien zugewiesen worden, da es genau so groß war, wie Spanien. Beide Länder hatten aber einen deutlich höheren Anteil an Stimmen als ihrem Anteil an der Bevölkerung der EU entsprach. Dies sollte im Reformvertrag (2007) korrigiert werden. Mit der populistischen Formel „Nizza oder Tod“ drohte die polnische Regierung, die Verhandlungen deshalb vollständig scheitern zu lassen. Erst nach der Schaffung einer langen Übergangsfrist, nach der die alte Regelung noch bis 2017 gelten soll, lenkte Polen ein. Für die politische Gestaltung in der EU ist es auch wichtig, welche Kompetenzbereiche nach welcher Abstimmungsregel behandelt werden sollen. Bei einzelnen Themen wollen Mitgliedsstaaten die Option eines Veto behalten, während sie bereit sind, andere Themen nach dem Mehrheitsprinzip behandeln zu lassen; die Finanzen beispielsweise werden immer noch mit Einstimmigkeit verhandelt. Im Vertrag – und damit einstimmig – ist jeweils festgelegt, welches Thema mit welcher Mehrheitsregel entschieden wird. Im Laufe der Zeit fallen mit
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jeder Vertragsrevision mehr Themen unter die Mehrheitsregel statt unter die Regel der Einstimmigkeit. Im Reformvertrag wuchs die Anzahl der Politikbereiche, die im Rat mit qualifizierter Mehrheit behandelt werden, von 137 auf 181 an. Darüber hinaus können der Europäische Rat bzw. der Ministerrat beschließen, dass einige Themen, die noch einstimmig behandelt werden, künftig auch nach dem Mehrheitsprinzip behandelt werden – sofern die nationalen Parlamente dagegen keinen Widerspruch einlegen. Weiterführende Literatur
Lewis, J. (2010), The Council of the European Union, European Union politics, Oxford, 141–161.
Hayes-Renshaw, F. (2012), The Council of Ministers, The New European Union Series, Oxford, 68–95.
Nugent, N. (2010), The Government and Politics of the European Union, Basingstoke, ch. 9 and 10.
1.2.4
Europäische Kommission
Wie kommt die Kommission zu Stande und wem legt sie Rechenschaft ab? Welche Rechte hat die Europäische Kommission? Können die Mitglieder der Kommission „unabhängige Europäer“ sein? Die Europäische Kommission (Artikel 244–250 AEU-V) ist als europäischer Gegenpol zu den nationalstaatlichen Interessensvertretern im EU-Rat zu verstehen. Die wesentlichen Rollen der Kommission sind:
„Hüterin der Verträge“ gegenüber Vertragsverletzungen durch Regierungen, nationale Behörden und Unternehmen. So hat die Kommission ein Recht auf Auskunft gegenüber den Mitgliedsstaaten sowie das Klagerecht vor dem EU-Gerichtshof. Gegen Unternehmen kann sie Bußgelder bei Vertragsverletzungen verhängen.
„Unabhängige Europäerin“, deren Mitglieder von keiner nationalen Regierung Anweisungen anfordern oder entgegennehmen dürfen und damit auch nicht die Interessen eines Mitgliedsstaates vertreten dürfen, sondern das übergeordnete Interesse Europas vertreten sollen.
„Motor der Gemeinschaft“ durch alleiniges Initiativrecht zur Weiterentwicklung der Gesetze Europas, d.h. der Rat und das Parlament können Gesetze nur dann verabschieden, wenn diese von der Kommission in das Entscheidungsverfahren eingebracht worden sind. Nach dem Reformvertrag von Lissabon erhält der „Hohe Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik“ ebenfalls ein Initiativrecht. Außerdem verpflichtete sich die Kommission freiwillig, eine Gesetzesinitiative des Parlaments binnen drei Monaten aufzugreifen.
„Exekutive der Gemeinschaft“ bei der Durchführung solcher Maßnahmen, die der Rat der Kommission übertragen hat. Sie ist für die Durchführung der Gemeinschaftspoliti-
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1 Europäische Institutionen und Prozesse ken und der Programme verantwortlich, erlässt die Durchführungsverordnungen, die für die konkrete Umsetzung von europäischen Gesetzen nötig sind und ist auch für Rahmenund Aktionsprogramme der Gemeinschaft in den Bereichen Bildung, Forschung oder Kultur zuständig. Im Bereich des Wettbewerbsrechts erlässt sie Vollzugsmaßnahmen wie Bußgelder und Verbote gegenüber Unternehmen (Seifert, M., 2006).
Sie funktioniert als Gremium nach dem Kollegialprinzip, dem ein Präsident als „Primus inter Pares“ vorsteht. Zwar haben die einzelnen Mitglieder der Kommission ein „Portfolio“, d.h. sie sind für bestimmte Themen zuständig, die Beschlüsse werden jedoch gemeinsam im Gremium mit absoluter Mehrheit gefasst. Zur Unterstützung der Kommissionsmitglieder bei der inhaltlichen Arbeit dient der permanente Verwaltungsapparat der Kommission, der in thematisch zuständige Generaldirektionen unterteilt ist, die „ihrem“ Kommissionsmitglied zugeordnet sind. Wenn die Amtszeit einer Kommission abgelaufen ist, einigen sich die Regierungen der Mitgliedsstaaten auf einen neuen Präsidenten und ernennen danach gemeinsam auf Vorschlag eines jeden Mitgliedslandes die weiteren Mitglieder der Kommission. Das Gesamtteam muss sich beim EU-Parlament vorstellen und von diesem bestätigt werden. Bei der Installation der Kommission unter Leitung des Präsidenten Barroso im Jahr 2004 nutzte das Parlament seine Macht, um den Austausch von Personen auf der Liste der künftigen Kommissionsmitglieder durchzusetzen: Insbesondere der konservativ-katholische Kandidat Italiens, Rocco Buttiglione, wurde vom Parlament erfolgreich abgelehnt (Bache, J., S. George, 2006:214; Scully, R., 2010:166). Im Prinzip sind die einzelnen Mitglieder der Kommission oder die Kommission als Ganzes nicht abwählbar. Dies hat nach erheblichen Vorwürfen gegen Mitglieder der Kommission unter der Leitung von Jaques Santer zu dem Wunsch geführt, die Kommission der parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen. Im Vertrag von Lissabon (Artikel 234 AEU-V) wird dem Europäischen Parlament die Möglichkeit gegeben, die Kommission durch ein Misstrauensvotum aus dem Amt zu entfernen. Die Mitglieder der Kommission müssen mit dem Wechsel aus ihrem Heimatland in die Kommission ihre nationale Zugehörigkeit „vergessen“; sie nennen das Land, aus dem sie stammen „das Land, das ich am besten kenne“. Sie dürfen also in der Kommission nicht nationale Interessen vertreten oder Weisungen von einem, d.h. ihrem Mitgliedsstaat, annehmen. Damit kontrastiert, dass jedes Land Wert darauf legt, ein Kommissionsmitglied zu stellen. Neben dem damit verbundenen Prestige und den erhofften Einflussmöglichkeiten spielt für diesen Wunsch auch das Initiativrecht der Kommission eine Rolle: Die Staaten sehen in „ihrem“ Kommissar einen informellen Einflusskanal bei der Gesetzesinitiative. In der Praxis hat sich das Prinzip der Unabhängigkeit der Kommission von nationalstaatlichen Interessen bewährt. Ähnlich wie die Mitglieder der Europäischen Zentralbank, die meist aus Regierungsfunktionen kommen und von der Regierung für das neue Amt vorgeschlagen werden, orientieren sich auch die Kommissionsmitglieder an der Forderung nach Unabhängigkeit, wie es das neue Amt von ihnen erwartet, um sich Ansehen in der Öffentlichkeit und im Kollegium zu erwerben. Wie die folgenden Beispiele zeigen, funktioniert dies nicht immer reibungslos, da
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nationalstaatliche Akteure aus Regierung und Unternehmen versuchen können, zur Vertretung ihrer Interessen im Hintergrund Druck auf die Kommission oder einzelne Mitglieder auszuüben, um deren Handlungen und Entscheidungen zu beeinflussen,
Mitglieder der Kommission aus eigenem Antrieb die Interessen ihres Herkunftslandes vertreten könnten, z.B. weil sie dort nach ihrer Rückkehr weiter Karriere machen wollen.
Der Economist („In defence …“, Nov, 22nd 2007) meint sarkastisch: „ONE of the better jokes in Brussels is the oath sworn by European commissioners to be ‚completely independent‘ of their home countries.“ Allerdings greift es zu kurz, der Kommission nur die verbotene Berücksichtigung einzelner nationaler Interessen zu unterstellen, wenn sie auf den Druck aus den nationalen Regierungen eingeht: Schließlich sind es diese Regierungen, die im Ministerrat dann über die Vorlagen der Kommission abstimmen und die Kommission will politisch vernünftigerweise vorher sondieren, ob ihre Vorschläge die Chance auf eine Mehrheit haben. Unabhängige Kommission unter Druck Versuche zur Beeinflussung der Kommission finden naturgemäß im Verborgenen statt – allerdings finden sich in der Presse immer wieder Hinweise darauf, wenn auch die Verlässlichkeit dieser Meldungen kaum überprüfbar ist. Der ehemaliger Kommissar für Wettbewerbsfragen Karel van Miert berichtet über zahlreiche Versuche, Druck auf ihn auszuüben, z.B. eine wettbewerbswidrige Bevorzugung der einheimischen Industrie durch die jeweiligen Regierungen hinzunehmen (Miert, K. van, 2000) Im April 2002 soll der Kommissionspräsident Romao Prodi die für Spanien kritische Reform der Fischereipolitik allein aufgrund eines Anrufs des spanischen Ministerpräsidenten von der Tagesordnung der Kommission genommen haben („Prodis Kungelei“, 2002). Die aus Frankreich stammenden Kommissare Pascal Lamy und Michel Barnier sollen zum Schutz des französischen Konzerns EdF gegen den Rest der Kommission gestimmt haben („EdF kämpft …“, 2002). Der Vorwurf des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder an die aus Deutschland stammenden Kommissionsmitglieder Michaele Schreyer und Günter Verheugen: „...die haben vergessen, dass sie Deutsche sind...“ wurde von Verheugen mit dem Hinweis auf die nationale Neutralität der Kommission zurückgewiesen (SPIEGEL, Nr. 29/2002:44; DIE ZEIT, Nr. 31/2002:12). Wenn der BDI eine wichtige Rolle für einen deutschen EU-Kommissar in Wirtschaftsfragen fordert, wird offensichtlich keine nationale Neutralität zugrunde gelegt („BDI wirbt…“, 2003). Umstritten war im Mai 2007 die Bewerbung eines Kommissionsmitglieds um einen Parlamentssitz in seinem Herkunftsland Belgien. Zwar schließen sich ein solches nationales Mandat und die Mitgliedschaft in der Kommission gegenseitig aus, aber wenn die Wahrnehmung des Amtes des Kommissars während der Durchführung des Wahlkampfes ruht, so ist eine solche Doppelfunktion zulässig („EU commissioner …“, 2007).
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 äußerte der Generalsekretär der deutschen SPD in einem Fernsehinterview (Phoenix) sinngemäß, dass der Kandidat der SPD für die Nachfolge des Kommissars Verheugen am besten geeignet sei, die Interessen Deutschlands in der Kommission zu vertreten. Bis zum Vertrag von Nizza nominierten die großen Länder zwei Personen in die Kommission, die anderen je eine. Mit der Erweiterung auf 27 Mitglieder wächst der Umfang des Kollegiums – so wurde befürchtet – über die Grenze der Arbeitsfähigkeit hinaus und nicht für jedes Kommissionsmitglied findet sich dann ein sinnvolles Zuständigkeitsgebiet (Portfolio). In Nizza wurde daher vereinbart, dass ab 2005 jedem Land nur eine Person zusteht. Mit dem Reformvertrag sollte diese Regel bis zum Jahr 2014 gelten; danach sollte die Anzahl der Kommissionsmitglieder auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedsstaaten sinken; jedes Land sollte nach einem Rotationsprinzip eine Person in die Kommission entsenden dürfen. Allerdings wurde die Entscheidung über eine Verkleinerung der Kommission dem Rat überlassen. Dieser wich dem Konflikt um die Verkleinerung aus und entschied, dass jeder Mitgliedsstaat ein Kommissionsmitglied behalten darf. Weiterführende Literatur
Egeberg, M. (2010), The European Commission, European Union politics, Oxford, 125– 140.
Nugent, N. (2010): The government and politics of the European Union, Basingstoke, ch. 8.
Bauer, M. W., Heisserer, B. (2010): Die Reform der Europäischen Kommission. Modernisierungskonzepte aus vier Jahrzehnten im Vergleich, in: Integration, 33, 1, 21–35.
1.2.5
Gesetzgebung in der EU
Da sich politisches Handeln durch Gesetze legitimieren muss, liegt im Gesetzgebungsprozess der Schlüssel zur politischen Gestaltungsmacht. Auf europäischer Ebene werden zwei Arten von Recht unterschieden: Primärrecht und Sekundärrecht. Der „gemeinschaftliche Besitzstand“, auch Acquis Communautaire genannt, ist die Summe aller Verträge und der darauf gestützten Verordnungen und Richtlinien, d.h. das gesamte von der EU geschaffene Primärund Sekundärrecht. Zum Acquis zählen auch die rechtlichen Grundlagen für die von der EU durchgeführten sektoralen Politiken, insbesondere die Agrar- und Regionalpolitik (Vgl. Kapitel 4.1 und 4.2).
1.2.5.1
Die europäischen Verträge
Wie wird Primärrecht als Grundlage der EU geschaffen? Das europäische Primärrecht besteht aus den europäischen Verträgen, die durch die Staatsund Regierungschefs („Europäischer Rat“) einstimmig beschlossen werden. In meist langen Nachtsitzungen werden politisch brisante und strittige Themen in Kompromisse gegossen,
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denen sich die Vertreter aller Mitgliedsstaaten ohne Gesichtsverlust anschließen können. In den Verträgen werden u.a. auch die Themenbereiche festgelegt, für die die Gesetzgebungskompetenz ganz oder teilweise vom Nationalstaat an die EU abgegeben wird. Diese Verträge müssen nach den Regeln jedes Mitgliedsstaates – Parlamentsmehrheit oder Referendum – in diesem ratifiziert werden, um in Kraft zu treten. Für die Weiterentwicklung der EU ist es erforderlich, dieses Primärrecht zu verändern; dafür werden die bisherigen Verträge einstimmig abgeändert und ergänzt und treten nach Ratifizierung in den einzelnen Mitgliedsstaaten in Kraft. Sofern für die Ratifizierung ein (bindendes) Referendum in einem Mitgliedsstaat stattfinden muss, kann der Wille der Bevölkerung die von der Regierung bereits unter den Vertrag gesetzte Unterschrift wirkungslos machen. Nach der Ratifizierung wird die vorige Version außer Kraft gesetzt und durch die neue ersetzt. Die jeweils gültige Version wird nach der Stadt benannt, in der die Staats- und Regierungschefs die Änderungen des Vertrags unterschreiben (Vertrag von Rom, Nizza, etc.)(Tab. 1-1). Der Reformvertrag von 2007 stand von Anfang an unter keinem günstigen Stern. Die Europäische Union war im neuen Jahrtausend aufgebrochen, ihr nur noch schwer lesbares Vertragswerk textlich neu zu ordnen. Daher wurde unter der Zielsetzung einer Systematisierung und Vereinfachung des europäischen Rechts ein Prozess gestartet, der in seinem Verlauf eine neue Zielsetzung erhielt: Die Schaffung einer „Verfassung für Europa“. Die öffentliche Debatte in den Mitgliedsstaaten dazu war sehr kontrovers. Der Wunsch nach einem einfachen und grundlegenden Vertragswerk ohne Detailregelungen stand neben dem Versuch, den Inhalt aller bisherigen Verträge unter ein konsistentes Dach zu bringen. Auch sollten Lösungen für viele bisher ungelöste und strittige Themen im Verfassungstext enthalten sein: Von der Finalität Europas über den Gottesbezug und die Identität Europas bis zu den umstrittenen Abstimmungsregeln in Rat und Parlament. Die Bedeutung dieses Verfassungsvertrags wurde von Einigen als gering bezeichnet, da es sich nur um die redaktionelle Neufassung bestehender Verträge handele, während andere betonten, dass Europa ohne diese Verfassung nicht zukunftsfähig sei und erst durch sie eine Seele bekomme. Europäische Verträge in zeitlicher Reihenfolge Paris (EGKS) Rom („Gründungsverträge“: Europäische Atomgemeinschaft EURATOM und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG) 1967 Fusionsvertrag von Brüssel (Zusammenführung von Kommission und Rat der getrennten Gemeinschaften) 1986 Einheitliche Europäische Akte 1992 Maastricht (Vertrag über die Europäische Union, Vertrag über die Europäischen Gemeinschaften) 1999 Amsterdam (Ergänzungen und Änderungen zu Maastricht) 2003 Nizza Vertrag über die Europäische Union (EU-V) Vertrag über die Europäischen Gemeinschaften (EG-V) (2005) Rom („Verfassungsvertrag“, Ratifizierung in Frankreich und Niederlanden gescheitert) 2009 Lissabon („Reformvertrag“; 2007 unterzeichnet; 2009 Ratifizierung abgeschlossen; einige Übergangsfristen bis 2017) Vertrag über die Europäische Union (EU-V) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-V, ehem. EG-V). Jeweils beim Beitritt weiterer Länder werden die Verträge angepasst (Beitrittsverträge) 1951 1957
Tab. 1-1: Europäische Verträge in zeitlicher Reihenfolge
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Dem durchschnittlichen Bürger war es kaum möglich, sich in der Fülle der Informationen und Argumente zu orientieren und die Hintergründe einzelner Argumentationen zu durchschauen. Das zur Ratifizierung vorgelegte Papier scheiterte dann im Jahr 2005 in Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Das Nein der Bevölkerungen ist allerdings nicht allein auf die Inhalte der Verfassung zurückzuführen, sondern dürfte auch als Ventil für die zunehmende Frustration der Bevölkerung wegen der vermeintlichen oder tatsächlichen Folgen der Europäischen Integration gedient haben. Besonders die befürchteten wirtschaftlichen Folgen der Ost-Erweiterung und der Globalisierung mündeten in eine Ablehnung des Entwurfs. Der in der französischen Öffentlichkeit viel zitierte „polnische Klempner“ wurde im Jahr 2005 zur Symbolfigur dieses Protestes gegen eine angeblich neo-liberale EU. Dabei wurde nicht gesehen, dass die wirtschaftliche Ordnung der EU nicht erst durch die geplante Verfassung geformt wurde, sondern bereits der Maastrichter Vertrag 1992 mit dem Binnenmarkt und dem Euro das Wettbewerbsprinzips in der EU verschärfte. Nach dem Scheitern der Referenden war für zwei Jahre unklar, ob und wie dieser Prozess weitergetrieben werden sollte. Nach wiederum schwierigen Verhandlungen im Europäischen Rat konnte dieser im Dezember 2007 den Reformvertrag unterzeichnen. Das Ergebnis der öffentlichen Debatten und Abstimmungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten zur Annahme des Reformvertrags war lange nicht abzusehen – der Vertrag scheiterte dann im Referendum in Irland im Jahr 2008 (Millward Brown IMS, 2008). Dabei wurde sogar eine Einflussnahme des amerikanischen Geheimdienstes CIA zugunsten der Gegner des Vertrags behauptet. Nach einer „Denkpause“ übernahm die deutsche Ratspräsidentschaft die Aufgabe, den neuen Vertrag doch noch gültig werden zu lassen. Dabei waren widersprüchliche Hürden zu nehmen: Die Substanz des Vertrags, der bereits von 18 Mitgliedsstaaten ratifiziert worden war, sollte gewahrt bleiben und gleichzeitig mussten die Bedenken in Irland respektiert und ein Referendum in Großbritannien vermieden werden (Baldwin, R. E., Wyplosz, C., 2009:ch. 1; Sidjanski, D., 2011). Im Jahr 2009 war der Reformvertrag dann in allen Ländern ratifiziert und konnte in Kraft treten. Eine Voraussetzung für die Einigung waren lange Übergangsfristen für die Einführung des neuen Systems der doppelten Mehrheit im Rat. Weiterführende Literatur
Marhold, H. (2011): Von der Währungsunion zur (gescheiterten) Konstitutionalisierung der Europäischen Union – zehn Jahre Systemreform, ein Kapitel Integrationsgeschichte (1999–2008), in: Integration, 35, 1, 3–23.
Marchetti, A., Demesmay, C., Eds. (2010). Der Vertrag von Lissabon: Analyse und Bewertung. Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung (ZEI). BadenBaden.
European Commission (Ed.), (2011b). The European Union after the Treaty of Lisbon – Visions of leading policy-makers, academics and journalists. Luxembourg.
1.2 Institutionen und Entscheidungen in der EU
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Verordnungen und Richtlinien
Wie wird sekundäres Recht in der EU geschaffen? Inwiefern ist europäisches Recht in den Mitgliedsstaaten wichtig? Wer setzt sich bei Gesetzgebungsverfahren durch? Auf der Grundlage der Verträge werden u.a. zwei Arten von sekundärem EU-Recht mit Wirkung auf die Mitgliedsstaaten geschaffen (Artikel 288 AEU-V): 1.
Verordnungen: Sie haben im von der EU festgelegten Wortlaut sofortige Geltung als Gesetze in allen Mitgliedsstaaten.
2.
Richtlinien: Sie können auch als Rahmengesetze bezeichnet werden, die Vorgaben an die Mitgliedsstaaten bilden, nach denen diese ihre jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften (Gesetze, Verordnungen) in absehbarer Zeit so anzupassen haben, dass die in der EU-Richtlinie gesetzten Ziele auch auf nationaler Ebene gesetzlich gesichert sind. Da die Umsetzung der europäischen Richtlinien in nationales Recht nicht immer reibungslos abläuft, hat die Kommission das Recht zur Überwachung dieses Prozesses und kann in diesem Zusammenhang einen Mitgliedsstaat vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. Die Mitgliedsstaaten haben die Freiheit, über die Vorgaben der Richtlinie hinauszugehen und im nationalen Recht weiter gehende Regulierungen zu verankern („gold plating“); dies kann dazu führen, dass in jenem Mitgliedsstaat „Brüssel“ zu Unrecht für verschärfte Regulierungen verantwortlich gemacht wird (Schaefer, S., Young, E., 2006).
In den Verträgen wird für jedes Thema das Verfahren definiert, nach dem unter Beteiligung von Kommission, Rat und Parlament europäisches Sekundärrecht geschaffen wird. Dabei wird auch festgelegt, wie stark die Rolle von Rat bzw. Parlament ist. Hier zeigen sich zwei Konfliktlinien:
Der Kampf des Parlaments um mehr Einfluss bei der Gesetzgebung, wobei von der Hypothese ausgegangen wird, dass ohne Parlamentsbeteiligung das Gesetzgebungsverfahren auf einer schwachen demokratischen Basis stünde (Kapitel 1.3.1).
Die Ausdehnung des Mehrheitsprinzips im Rat auf mehr Themen: Wenn weniger Möglichkeiten für ein Veto bestehen, kann die EU handlungsfähiger werden.
Die Verabschiedung eines neuen Gesetzes erfolgt in der Regel nach dem „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ (Artikel 294 AEU-V). Dies entspricht dem Verfahren der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments nach Artikel 251 des EG-V von Nizza. Für ausgewählte Themen gibt es davon abweichende, „besondere Gesetzgebungsverfahren“. Damit ist das Verfahren, das dem Parlament die größten Mitwirkungsrechte gab, zum Regelfall geworden. Die Mitsprache des Parlaments in der Rechtsetzung hat über die Zeit zugenommen, indem erstens neue Verfahren eingeführt wurden, die das Parlament stärker beteiligen und zweitens, indem mehr Themengebiete nach den Verfahren entschieden werden müssen, die dem Parlament einen höheren Einfluss geben (Theurl, T. und Meyer, E., 2001). Mit dem Re-
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formvertrag werden die meisten Themen nach dem „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ entschieden. Das Verfahren durchläuft verschiedene Stufen, auf denen eine Einigung von Parlament und Rat versucht werden kann; ohne die Zustimmung beider Seiten kann es nicht verabschiedet werden. Der Ablauf ist näherungsweise wie folgt: 1.
Gesetzesvorschlag: Die Kommission nimmt das alleinige Initiativrecht wahr; nur sie darf einen neuen Gesetzesvorschlag formulieren und auf den Weg bringen. Darin findet die Rolle der Kommission als „Motor Europas“ ihren Ausdruck. Jedoch kann der Rat die Kommission auffordern, die Initiative in bestimmten Themenfeldern zu ergreifen und einen Gesetzesvorschlag zu erarbeiten. Den Inhalt des Vorschlags jedoch bestimmt allein die Kommission; im Durchlauf durch das jeweilige Verfahren können aber Rat und Parlament Änderungen einbringen; diese können so erheblich sein, dass sich der ursprüngliche Vorschlag in sein Gegenteil verkehrt, was das Initiativrecht aushöhlt.
2.
Erste Lesung: Einigung von Rat und Parlament auf die Formulierung des Gesetzesvorschlags, genannt Standpunkt, des Parlaments, andernfalls legt der Rat einen eigenen Standpunkt vor. Dieser geht in eine …
3.
Zweite Lesung: Der Standpunkt des Rates wird vom Parlament – – –
4.
Der Rat kann den geänderten Vorschlag des Parlaments – –
5.
annehmen – sofern die Kommission Einwände hatte – nur einstimmig die Änderungen (teilweise) ablehnen und dann den Vermittlungsausschuss anrufen.
Der Vermittlungsausschuss besteht je zur Hälfte aus Vertretern von Rat und Parlament. Er kann – –
6.
angenommen oder mit einfacher Mehrheit abgelehnt, worauf der Gesetzesvorschlag gescheitert ist, oder abgeändert und dann – unter Einbeziehung der Kommission – zur nächsten Runde an den Rat geschickt.
einen Kompromissvorschlag mit Mehrheit der Parlamentarier bzw. einer qualifizierten Mehrheit des Rates billigen, oder nach sechs Wochen ohne Einigung auseinandergehen: Der Gesetzesvorschlag ist dann endgültig gescheitert.
Dritte Lesung: Wird der Vorschlag im Vermittlungsausschuss innerhalb von sechs Wochen gebilligt, dann müssen das Europäische Parlament mit Mehrheit und der Rat mit qualifizierter Mehrheit diesen Vorschlag als Rechtsakt erlassen, um ihn Gesetz werden zu lassen.
Nach der Verabschiedung einer Richtlinie müssen die Gesetzgeber der Mitgliedsstaaten aktiv werden, um die Intention der Richtlinie im nationalen Gesetzeswerk abzubilden. Dabei kann es zu Verzögerungen und politischem Widerstand kommen, den die Kommission als Kont-
1.2 Institutionen und Entscheidungen in der EU
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rollorgan brechen kann: So wurde z.B. im Jahr 2012 die Bundesrepublik Deutschland von der Kommission mit Strafen bedroht, da sie bis dahin die Richtlinie zur Speicherung von Telekommunikationsdaten für die Verbrechensbekämpfung nicht in deutsches Recht übersetzt hatte. Die Kommission berichtet regelmäßig über die Verzögerungen und Fehler bei der Umsetzung der Richtlinien in nationales Recht (European Commission, 2011k). Europäisches Recht hat Vorrang vor den Gesetzen des Mitgliedsstaates. Es entwickelt sich durch die Verabschiedung neuer Gesetze ständig weiter. In der öffentlichen Diskussion entsteht der Eindruck, dass die überwiegende Mehrheit der Gesetze „in Brüssel“ gemacht würde. Dies geht auch zurück auf eine Äußerung des damaligen Präsidenten der Kommission, Jaques Delors, der 1988 meinte, binnen zehn Jahren würden 80% der Wirtschaftsgesetze in der EU gemacht werden. Diese Zahl wurde später als vermeintlich empirischer Befund weiter verwendet. Die tatsächliche Bedeutung der Vorgaben aus der EU für die bundesdeutsche Gesetzgebung ist nur schwer zu ermitteln; Messungen ergaben einen Anteil, der nicht einmal bei der Hälfte des „80%-Mythos“ liegen (Töller, A. E., 2008). Von einer Aushöhlung des Mitgliedsstaates als Gesetzgeber kann also nicht gesprochen werden. Ein erstarktes Parlament gestaltet Zwei Beispiele zeigen, wie stark das Parlament seinen politischen Gestaltungswillen durchsetzen kann, indem es die Kommission in den Verhandlungen dazu bringt, Gesetzesinitiativen so stark abzuändern, dass sie ihren ursprünglich intendierten Charakter völlig verändern: Herkunftsland-Prinzip bei Dienstleistungen („Bolkestein-Richtlinie“) Die Kommission wollte bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen – ähnlich wie es bei Gütern bereits gilt – das Herkunftsland-Prinzip einführen: Der Dienstleister könnte sich an den Vorschriften und Zulassungsvoraussetzungen seines Sitzlandes orientieren. Das Parlament hat nach vielen Protesten die befürchtete Verschärfung des Wettbewerbs in ihr Gegenteil verkehrt: Nun gelten die Vorschriften des Ziellandes für die Erbringer von Diensten, was für diese zu einer erheblichen Fragmentierung des Marktes führt (Kapitel 2.3.4.5). Verbraucherverträge Bei grenzüberschreitenden Geschäften können Unternehmen und Verbraucher wählen, nach welchem Recht sie den Verbrauchervertrag schließen wollen. Dies zwingt die Anbieter, sich in 27 unterschiedlichen Rechtsräumen zu bewegen. Die Kommission wollte das Recht des Anbieterlandes als verbindlich vorschreiben. Das Parlament meinte, es sei im Interesse der Verbraucher und der kleinen Anbieter, es bei der bisherigen Regelung zu belassen. Es hat sich im November 2007 damit durchgesetzt. Weiterführende Literatur
Generalsekretariat des Rates (2010), Leitfaden für das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, Luxemburg
Europäisches Parlament (2009), Mitentscheidung und Vermittlung – Ein Leitfaden zur Arbeit des Parlaments als Mitgesetzgeber nach dem Vertrag von Lissabon (DV\796687DE.doc).
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
Nugent, N. (2010), The Government and politics of the European Union, Basingstoke, pp. 307–322.
Warleigh-Lack, A., Drachenberg, R. (2009): Policy making in the European Union, in: Cini, M., Perez-Solorzano Borragan, N. (Ed.): European Union politics, Oxford, 209– 224.
1.2.6
Regieren im System der EU
Gibt es eine klare Hierarchie bei Entscheidungen zwischen Staaten und EU? Was ist einzigartig am politischen Rahmen der EU? Wie übt die EU auch dort Einfluss aus, wo sie keine Zuständigkeit hat? Mit dem Beginn der Annäherung ehemals verfeindeter Staaten in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Zusammenarbeit in „Gemeinschaften“ (Kohle und Stahl, Atomenergie, Wirtschaft) setzten sie einen Prozess in Gang, der seitdem die Art, wie nationale Regierungen ihre Verantwortung ausüben, kontinuierlich verändert. Einfach beschreibbar ist der Beginn dieses Prozesses, es ist der souveräne Nationalstaat. Für die gemeinsame Regelung politischer Themen haben unabhängige Staaten eine Vielzahl von Formen entwickelt. Diese Regelungen lassen sich danach unterscheiden,
wie viel nationale Souveränität auf Zeit oder unbegrenzt abgegeben wird und
ob sie bindend sind und es Sanktionsmöglichkeiten zu ihrer Durchsetzung gibt.
Mit aufsteigender Verbindlichkeit der Kooperation können die folgenden Stufen unterschieden werden: 1.
Erklärungen des gemeinsamen Willens, ein Ziel zu erreichen bei geringer Verbindlichkeit und ohne Sanktionsmechanismen (z.B. Weltklima-Protokolle, Erklärung zur Bekämpfung von Hunger und Armut in der Welt),
2.
die Zusicherung an andere Staaten, bei der Durchführung der nationalen Politik die Interessen der anderen Staaten zu berücksichtigen (z.B. die Verpflichtung der EUMitgliedsstaaten, in ihre Fiskalpolitik auch die Interessen der anderen EU-Mitglieder zu berücksichtigen),
3.
Verträge oder Vereinbarungen zwischen Staaten, teilweise mit Mechanismen zur Erzwingung der Einhaltung des Vertrags (z.B. „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ zur Begrenzung der Defizite im Staatshaushalt),
4.
Schaffung von Organisationen, in deren Rahmen sich unabhängige Staaten treffen, um bindende Beschlüsse zu fassen, aus denen sich jedes teilnehmende Land auch wieder zurückziehen kann (intergovernementale Zusammenarbeit, z.B. die Europäischen Verträge oder die WTO),
5.
Schaffung von Organisationen, die über den teilnehmenden Staaten stehen und an die bestimmte Aufgaben und Verantwortungen auf Dauer und ohne Eingriffsmöglichkeit
1.2 Institutionen und Entscheidungen in der EU
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abgegeben werden (Supranationalismus, z.B. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Zentralbank) 6.
teilweise oder vollständige Auflösung der Eigenständigkeit der teilnehmenden Staaten und Überführung in eine neue föderale Struktur mit einem Zentralstaat und – mehr oder minder selbständigen – Bundesstaaten (Föderalismus) (z.B. Vereinigte Staaten von Amerika).
Die politische Willensbildung in der Regierungsausübung und ihre demokratische Kontrolle sind für jede dieser Stufen neu zu justieren: Vertraut ist die Gewaltenteilung im unabhängigen Nationalstaat, während der schrittweise Transfer von Souveränität auf eine supranationale Ebene bzw. in eine international zusammengesetzte Bürokratie zu Legitimationsproblemen führen kann. Habermas (2011:48) sieht die Gefahr eines „postdemokratischen Exekutivföderalismus“. Ein ganz eigenes System: Mehr-Ebenen-Regierung kennzeichnend für die EU Die EU hat sich, gemessen an den oben aufgeführten Stufen, heterogen entwickelt und hat sowohl Elemente einer supranationalen, d.h. föderalen, nach der Gemeinschaftsmethode, als auch Elemente einer Regierungskooperation (intergovernmental). Ein Beispiel für eine supranationale Komponente ist die Geldpolitik, die von den Mitgliedsstaaten endgültig an die Europäische Zentralbank abgegeben wurde. Die Frage nach der Entscheidungsbefugnis lässt sich in kaum einem Politikfeld einheitlich und eindeutig beantworten – es gibt keine einfachen Hierarchien wie „oben = Brüssel“ und “unten = Mitgliedsstaat“. Vielmehr hat die EU die Gestalt eines „Mehr-Ebenen-Regierungssystems (Multi-level Governance)“ angenommen, wo Entscheidungen über viele Ebenen und auf viele Akteure verteilt werden: Von den lokalen und nationalen Parlamenten und Regierungen der Mitgliedsstaaten, über das Europäische Parlament, die Kommission und den Rat bis zu den verschiedenen Gerichtsinstanzen wirken viele Akteure an der Formulierung und Implementation von Gesetzen und deren Anwendung in der täglichen Politik mit. Keine Ebene – weder die lokale oder die nationalstaatliche noch die europäische – kann allein bestimmen. Außerdem sind nicht nur staatliche Akteure beteiligt, sondern auch Organisationen der Zivilgesellschaft auf der lokalen, nationalen und internationalen Ebene (Umweltschützer, Religionsgemeinschaften, Industrieverbände, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, etc.) mit beratender Funktion (Nugent, N., 2010:417–443). Dieses europäische Konstrukt der internationalen Kooperation wird als einzigartig und kennzeichnend für die Europäische Union bezeichnet. Wohin sich das mittlerweile entstandene gemischte System aus Nationalstaaten, supranationalen Organisationen, zwischenstaatlichen Organisationen und völkerrechtlichen Verträgen entwickeln wird, bleibt offen. „Soft law“: Intervention der EU trotz Kompetenzmangel Die Aufteilung von Macht und Zuständigkeiten zwischen nationaler und supranationaler Ebene, wie sie im europäischen Primärrecht angelegt ist, kennt im Grundsatz
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alleinige Zuständigkeit des Mitgliedsstaates,
gemeinsame, gemischte Zuständigkeit oder
alleinige Zuständigkeit der EU.
Die Fiskal-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik liegt in der Zuständigkeit des Nationalstaates – die EU hat kein Gestaltungs- oder Weisungsrecht. Um dennoch handeln zu können, hat die EU auf der Ratssitzung in Lissabon im März 2000 einen Politikprozess ohne Eingriffsrecht geschaffen: Die „Offene Methode der Koordination“. Dazu treten die Mitgliedsstaaten unter der Koordination durch die Europäische Kommission zu einem bestimmten politischen Themenbereich zusammen und durchlaufen die folgenden Stufen:
Festlegung von Leitlinien und eines Zeitplans,
Festlegung quantitativer und qualitativer Indikatoren und Benchmarks im Vergleich zu den Besten der Welt,
Umsetzung der Leitlinien in konkreter Ziele und Schritte zu ihrer Erreichung,
Selbstverpflichtung der teilnehmenden Staaten zur Durchführung geeigneter Maßnahmen in der nationalen und regionalen Politik,
Überwachung, Bewertung und gegenseitige Prüfung der Maßnahmen und des Grades der Zielerreichung im Rahmen eines Prozesses, bei dem alle Teilnehmer voneinander lernen wollen oder sollen („good practice“).
In einem gemeinsamen Prozess der Akteure auf allen Ebenen der Mitgliedsstaaten sowie der EU werden Ziele und Maßnahmen formuliert, die dann die autonome Politik im Nationalstaat „freiwillig lenken“ sollen. Der Druck zur Einhaltung der Selbstverpflichtung soll aus dem Gruppendruck (Peer Pressure) bei der transparenten Überprüfung der Zielerreichung kommen, was bis zum Anprangern des Landes führen kann, das die Ziele nicht energisch anstrebt oder erreicht (Name and Shame). Andere, harte Sanktionen stehen nicht zur Verfügung, sie wären auch nicht durchsetzbar, da dafür eine rechtliche Grundlage in den EUVerträgen fehlt. Beispiele sind die „Lissabon-2010-Strategie“ (Kapitel 2.4) sowie die „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“ (Nugent, N., 2010:297). „Lissabon-2010“ verfolgte das Ziel, die EU bis zum Jahr 2010 zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu machen, indem sich die Mitgliedsstaaten verpflichteten, ihre Aufwendungen für Innovation und Bildung zu steigern. Diese Strategie scheiterte, das Verfahren zur Erreichung dieses Ziels war offenbar ungeeignet. Es werden Analysen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Mitgliedsstaaten von der EU angefertigt und zusammen mit daran anschließenden Handlungsempfehlungen als „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“ veröffentlicht. Ihre Berücksichtigung bleibt im Belieben der einzelnen Mitgliedsstaaten. Weiterführende Literatur
Enderlein, H., Wälti, S., Zürn, M. (Ed.) (2010): Handbook on multi-level governance, Cheltenham, Northampton.
1.3 Institutionelle Probleme in der EU
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Diedrichs, U., Reiners, W., Wessels, W. (Ed.) (2011): The dynamics of change in EU governance, Cheltenham, Northampton.
The open method of coordination: governance after Lisbon, (2006): in: Journal of Contemporary European Research JCER, 2, 1 Special Issue.
1.3
Institutionelle Probleme in der EU
Der jeweils aktuelle Zustand der Europäischen Union ist Gegenstand von Kritik und Veränderungswünschen – die Weiterentwicklung der EU ist ein ständiger Prozess. Welche Themen zur Veränderung aufgerufen werden und welche Richtung diese Veränderung annehmen sollte, wird je nach Zielen und Interessenslage unterschiedlich gesehen. So unterscheiden sich die Sichtweisen z.B. in unterschiedlichen Ländern ebenso wie bei unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Entsprechend sind Verfahren, Richtung, Themen und (Zwischen-) Ergebnisse des Reformprozesses der EU das Resultat politischer Konsens- und Kompromissbildung.
1.3.1
Transparenz, Bürgernähe und Demokratie
Ist die EU transparent und demokratisch? Sollte das Europäische Parlament mehr Macht erhalten? Transparenz und Bürgernähe der EU gelten in den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten als gering. Dies liegt neben der räumlichen Entfernung zwischen dem Lebensraum der unterschiedlichen Völker Europas und der Zentrale in Brüssel und Straßburg auch an der schwachen Abdeckung europäischer Themen durch die Medien, die allenfalls dort mehr berichten, wo durch das Thema Europa auch nationale Interessen berührt scheinen. Das Verständnis für die Abläufe in der EU wird durch die hohe Komplexität der Problemstellungen, der Entscheidungsverfahren und der institutionellen Strukturen erschwert. Dazu kommt, dass der Rat und seine Vorbereitungsgruppe COREPER als gesetzgebendes Organ seine Sitzungen nicht öffentlich abhält und Papiere aus dem Innenleben des europäischen Apparates zum Teil nur schwer zugänglich und nur für Experten verständlich sind. Aber Transparenz und Beteiligung an politischer Gestaltung sind auch eine „Holschuld“: Doch viele Bürger interessieren sich nicht für EU-Fragen. Dies zeigte sich z.B. auch bei der Ablehnung des im Jahr 2000 von den Regierungschefs unterzeichneten Vertrags von Nizza durch die Bürger Irlands im Referendum von 2001. „Ich weiß nicht, worum es geht, ich interessiere mich auch nicht dafür und stimme vorsichtshalber mit ‚Nein‘“ (Sinnott, R., 2001). Ein weiteres Indiz für das geringe Interesse der Bürger ist die niedrige und weiter sinkende Beteiligung an Wahlen zum Europäischen Parlament, die im Gegensatz zur steigenden Macht dieses Organs steht (Jones, R.A., 2001:139). Unabhängig von einer objektiven Feststellung der Beteiligungsbarrieren und ihrer Ursachen bleibt entscheidend, dass die Bürger subjektiv „Europa“ für undurchschaubar und unver-
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ständlich halten. Ohne Transparenz gibt es aber keine Akzeptanz für die Europäische Integration. Es droht damit eine Abspaltung der „EU-Elite“, die die Integration vorantreiben möchte, von ihren nationalen Bevölkerungen, die die fortschreitende Integration mit Misstrauen sehen. Wenn nicht der weitere europäische Integrationsprozess über die Köpfe der Bürger hinweg organisiert werden soll, ist ein intensiverer politischer Dialog nötig, für den die Kommission allerdings auf der nationalen Ebene kein Mandat hat; hier sind die Medien, die öffentliche Meinung und die Gruppen der politischen Willensbildung im jeweiligen Mitgliedsstaat gefordert. Ohne Fortschritte dabei sollte nach Etzionis (2008) Auffassung die EU das Tempo ihrer Erweiterung und Vertiefung drosseln. Gegenüber der Kommission als dem „Motor Europas“ hatte sich in der europäischen Öffentlichkeit der Eindruck der Intransparenz und gar der „Vetternwirtschaft“ herausgebildet (Ausschuss unabhängiger Sachverständiger, 1999). Die durch den Vorwurf des Nepotismus gegen einzelne Mitglieder der Europäischen Kommission ausgelöste Krise führte zum Rücktritt der gesamten von Jaques Santer geführten Kommission im März 1999. Transparenz allein genügt nicht, wenn die EU ihren selbst gesetzten Anspruch, ein demokratisches, bürgernahes Gebilde zu sein, erfüllen soll. Darüber hinaus ist eine Organisation von Entscheidung und Verantwortung nach demokratischen Regeln erforderlich. Daher wiegt der Vorwurf eines Demokratiedefizits schwer. Zur Prüfung dieses Vorwurfs ist zu klären, welche Kriterien für das Bestehen demokratischer Strukturen und Verfahren herangezogen werden sollen. Häufig wird die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion, wie sie in demokratisch verfassten Nationalstaaten besteht, als Maßstab herangezogen. Für das einzigartige Gebilde der EU reicht dieses einfache Kriterium aber nicht aus. Im Folgenden werden die Positionen der Kritiker vorgestellt, und danach kommen diejenigen zu Wort, die die EU trotz der Kritik für demokratisch halten. Das Bestehen eines Demokratiedefizits wird begründet (Groeben, H. von der, 1987; Weiler, J. H. H., U. Haltern, et al., 1995; Galloway, D., 2001) mit:
invertiertem Regionalismus
Mangel an Gewaltenteilung
Mangel an Kontrolle der nationalen Regierungen
der Verletzung des „one man – one vote“ Prinzips.
Wenn Entscheidungen über wichtige Lebensbereiche nicht mehr auf der nationalen Ebene fallen, sondern im Europäischen Rat und im Europäischen Parlament, dann wiegt die Stimme jedes einzelnen Bürgers der EU nur noch weniger, da in diese Entscheidung mehr Stimmen eingehen („invertierter Regionalismus“). Damit sinkt die Entscheidungsmacht des einzelnen Bürgers, und auch die nationalen Werthaltungen gegenüber einzelnen Themen verlieren nun innerhalb eines vergrößerten Abstimmungsgebietes an Gewicht. Wenn man das demokratische Grundprinzip der Gewaltenteilung als Maßstab anlegt, dann ist die Rechtssetzung durch die Vertreter der nationalen Exekutive, den Rat, nicht demokratisch. Das Europäische Parlament ist nur gemeinsam mit dem Rat am Gesetzgebungsverfahren beteiligt. Außerdem kann das Parlament keine Gesetzesinitiative einbringen, dies ist der
1.3 Institutionelle Probleme in der EU
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Kommission vorbehalten. Die Möglichkeit des Europäischen Parlaments, über die nationalen Medien die europapolitische Willensbildung voranzutreiben und Einfluss auszuüben, ist sehr begrenzt, da europäische Themen nicht im Fokus der Medien in den einzelnen Staaten liegen. Die Bedeutung des Europäischen Parlaments leidet auch darunter, dass es keine Möglichkeit hat, den Rat aus dem Amt zu entfernen, wie es ein nationales Parlament mit der nationalen Regierung tun kann. Durch das Zusammenspiel von Legislative, Exekutive und Judikative auf der europäischen Ebene gewinnen die nationalen Regierungen an Einfluss, da sie maßgeblich die Verabschiedung von Gesetzen bestimmen und danach deren Umsetzung auf nationaler Ebene betreiben. Das heißt, nationale Regierungen können „über Bande spielen“, indem sie Gesetzesvorhaben, für die sie im Parlament zu Hause keine Mehrheit sehen, über die europäische Ebene auf den Weg bringen. Auch kommt es auch zum „Spiel der ‚gebundenen Hände‘“, wo zu Hause unpopuläre Maßnahmen nicht etwa als Ergebnis eigener Entscheidung, sondern als unvermeidliches Resultat der Mitgliedschaft in der EU dargestellt werden. Damit kann der Wählerwillen ausgehebelt werden und die parlamentarische Kontrolle der Regierung auf nationaler Ebene wird schwächer. Die Ergebnisse von Wahlen zum Europäischen Parlament und eine damit eventuell verbundene Verschiebung im politischen Spektrum bleiben für den Rat ohne Konsequenzen. Die politischen Richtungen, die sich bei Wahlen in einem Nationalstaat durchsetzen und den Mehrheitswillen der nationalen Wähler repräsentieren, müssen auf der Ebene des Rates nicht zum Tragen kommen, wenn die Mehrheiten im Rat bei einer anderen politischen Richtung liegen. Dies gilt besonders ausgeprägt für den Fall der einstimmigen Abstimmung im Rat, wo eine Regierung mit ihrer Auffassung eine Mehrheit durch Veto blockieren kann. Eine proportionale Repräsentierung der Wähler in ihrer Regierung ist dann nicht mehr gegeben. Die Stimmengewichtung im Rat und im Europäischen Parlament ist nicht proportional zu der Größe der jeweiligen heimischen Bevölkerung, so dass nicht jede Stimme eines Unionsbürgers gleiches Gewicht hat: Das demokratische Prinzip „one man – one vote“ ist damit verletzt. Allerdings wird ab 2015 mit dem Reformvertrag die Abstimmung im Rat mehr durch die Bevölkerungsverteilung bestimmt (Kapitel 1.3.2). Bisher sind keine tatsächlich europaweit aktiven Parteien als Plattform der europaweiten politischen Willensbildung entstanden; vielmehr wird die politische Diskussion in den Parteien, den Medien und der sonstigen Öffentlichkeit der einzelnen Mitgliedsstaaten immer noch stark um nationale Themen und aus nationaler Sicht geführt. Diese kritischen Positionen werden jedoch nicht von allen Fachleuten geteilt. Grundsätzlich wird das Bestehen eines Demokratiedefizits von Moravcsik (2002) in Abrede gestellt. Er verweist darauf, dass die EU zwar nicht nach dem herkömmlichen Modell der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion konstruiert sei, aber durch die folgenden Elemente eine Kontrolle von Macht („Checks and Balances“) gegeben sei:
Die Organe handeln nur nach einem engen Mandat, das in den Verträgen niedergelegt ist.
Ein fiskalischer Handlungsspielraum für die Ausgestaltung von Politik ist nicht gegeben bzw. ist sehr eng vorgegeben.
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
Die Anforderungen an das Erringen einer Mehrheit sind sehr streng.
Die Macht ist aufgeteilt und sowohl Parlament als auch Rat müssen bei der Rechtsetzung mitwirken.
Ein Element der Machtbegrenzung liegt auch in der Kontrolle des Europäischen Parlaments über die Kommission: Bei der Bildung einer neuen Kommission kann das Parlament die Ernennung von Kommissionsmitgliedern ablehnen und im Konfliktfall die gesamte Kommission durch ein Misstrauensvotum stürzen. Um der Kritik an dem Demokratiedefizit Rechnung zu tragen, ist in den Verträgen schrittweise die Position des Europäischen Parlaments gestärkt worden (Jones, R.A., 2001:168 ff., bes. Tabelle 5.16). Darin muss aber nicht zwingend auch eine Verbesserung der demokratischen Legitimation europäischer Entscheidungsprozesse innerhalb des gegebenen institutionellen Gefüges der EU gesehen werden. Das deutsche Bundesverfassungsgericht vertritt in seinem „Maastricht-Urteil“ von 1993 die Position, dass nur ein Staatsvolk demokratisch legitimiert wählen kann; dieses gibt es aber nach der Auffassung des Gerichts nur auf der nationalen, nicht aber auf der europäischen Ebene. Umstritten ist in der Literatur auch, ob das Prinzip von Mehrheit und Minderheit überhaupt auf die EU angewendet werden kann, da diese keine homogene Bürgerschaft darstelle, was die Voraussetzung dafür sei, dass eine Minderheit das Votum der Mehrheit ihrer Gruppe akzeptiere (Pollak, J., 2004). Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht verneint in seinem Urteil von 1993 zum Vertrag von Maastricht die Existenz eines europäischen Staatsvolkes, das legitimiert sei, ein Europäisches Parlament zu wählen. Eine Überwindung dieses Mangels halten Weiler u.a. (1995) für möglich, wenn die Volkszugehörigkeit durch eine Wertegemeinschaft der „Citizenship“ abgelöst wird, für die die nationale Zugehörigkeit in den Hintergrund tritt. Wenn die EU sich anscheinend von ihren Bürgern abkapselt, liegt dies auch daran, dass die EU sich mit Themen befasst, um die sich die Bürger nicht kümmern: Zentralbank, Verfassung, Wirtschaftsdiplomatie und technische Verwaltung. Auch auf nationaler Ebene gibt es eine Entfremdung zwischen den Bürgern und der politischen Klasse (Meny, Y., 2003). Die Teilhabe an der demokratischen Entscheidungsfindung setzt den mündigen, informierten und aktiven Bürger voraus: Dieses Idealbild ist bei nationalen Politikthemen genauso wenig erfüllt wie bei europäischen. Krisenintervention contra Demokratie? Zum vornehmsten Recht eines Parlaments in der Demokratie gehört die Entscheidung über den Haushalt und damit über die Besteuerung der Bürger und die Schwerpunkte der Staatsausgaben. Im Rahmen der Euro-Krise kam es seit dem Jahr 2011 in Deutschland zur Auseinandersetzung zwischen Parlament und Regierung um die Position des Parlaments bei weit reichenden Beschlüssen auf der Ebene der Regierungschefs der Euro-Gruppe. Insbesondere das Haushaltsrecht war berührt als es um Vergemeinschaftung von Schulden der Mitgliedsstaaten ging („Rettungsschirme“, „Euro-Bonds“ etc.). Das Verfassungsgericht hat das Parlament gestärkt und die Regierung verpflichtet, die Übernahmen großer finanzieller Verpflichtungen gegenüber der EU vom Parlament genehmigen zu lassen.
1.3 Institutionelle Probleme in der EU
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Noch weiter gehen Vorschläge für eine Verschiebung von Teilen des Budgetrechts auf die europäische Ebene (Fiskal-Union, Kapitel 3.8.3.4), bei der eine Aushöhlung der demokratischen Legitimation nur durch die vorherige Einführung einer politischen Union verhindert werden könnte. Weiterführende Literatur
Haltern, U. (2005): Europarecht und das Politische, Tübingen, bes. Kapitel 7
Bauer, H., Huber, P. M., Sommermann, K.-P. (2005): Demokratie in Europa, Tübingen
1.3.2
Dominanz der Großen über die Kleinen?
Können die Interessen von großen und kleinen Mitgliedsstaaten ausgewogen berücksichtigt werden? In der EU haben sich Länder zusammengefunden, die jeweils unterschiedliche Dinge besonders wichtig finden. Jedes Land hat eine starke nationale Identität, die sich auch in der Art niederschlägt, wie Institutionen aufgebaut sind und gesellschaftliche Probleme gelöst werden: So haben z.B. die kleinen nordischen Länder ein eher sozial geprägtes Gemeinwesen mit einer starken Wertschätzung für die Themen Umweltschutz und Gleichberechtigung, während z.B. Großbritannien einem eher liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell folgt. Frankreich hingegen legt besonderen Wert auf die Pflege von Sprache und Kultur und die Begrenzung der „Dominanz von Hollywood“ sowie auf eine starke Stellung des Staates in der Wirtschaft. Neben den auf Wertvorstellungen basierenden Unterschieden sind auch spezifische wirtschaftliche Interessenslagen festzustellen: So hat z.B. die Landwirtschaft für Frankreich, Dänemark und die Niederlande eine deutlich größere Bedeutung als für Deutschland, das wiederum besonders am Export von Maschinen und Fahrzeugen interessiert ist. Ob ein Land die Möglichkeit sieht, seine nationale Identität in der EU zu verteidigen, hängt auch von der Macht des Landes in den Abstimmungsprozessen ab. Damit kommt der Größe des Landes entscheidende Bedeutung zu, da sie in die Gewichtung der Stimmen in Parlament und Rat eingeht. Wenn die Stimmen pro Land proportional zu seiner Bevölkerungszahl zugewiesen würden, wären die kleinen Länder weitgehend ohne Einfluss. Bei Koalitionen und Kompromissbildungen hätten die kleinen Staaten den Eindruck, dass sie mit ihren wenigen Stimmen nur geringen Einfluss haben und von den „Großen“ dominiert würden. Wird dagegen den kleinen Ländern ein überproportionaler Anteil gewährt, sind die Bürger großer Länder weniger gut vertreten und das demokratische Prinzip der Gleichheit („one man – one vote“) wird verletzt. Bei Abstimmungen, bei denen jedes Land – unabhängig von seiner Größe – eine Stimme hat, können die kleinen Länder die großen Länder dominieren. Viele der Mitgliedsstaaten, die im Mai 2004 beitraten, sind klein. Damit verschärfte sich das Problem, dass bei entsprechender Koalitionsbildung die kleinen Staaten, die einen relativ geringen Anteil an der EU-Bevölkerung und EU-Wirtschaftskraft auf sich vereinigen, den großen Staaten und der überwiegenden Mehrheit der EU-Bevölkerung ihre politischen Vorstellungen bei Abstimmungen aufzwingen könnten. Auch daher gibt es einen Druck zur stärkeren Berücksichtigung demokratischer Prinzipien bei der Stimmenverteilung.
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1 Europäische Institutionen und Prozesse
Auf die Kritik an der nicht bevölkerungsproportionalen Stimmenverteilung in Parlament und Rat hat die EU reagiert. Im Vertrag von Nizza ist die Stimmenverteilung im Parlament näher an die Bevölkerungsproportionalität herangeführt worden, wenn auch große Länder deutlich unterrepräsentiert und kleine überrepräsentiert bleiben. In den vier größten Ländern leben 54% aller EU-Bürger, auf die aber nur 42% der Stimmen im Parlament entfallen, während die elf kleinsten Länder zwar nur über 6% der Bevölkerung aber über 14% der Stimmen verfügen. Der Reformvertrag von 2007 sieht maximal 750 Mitglieder vor. Jedes Land ist degressiv proportional vertreten, wobei mindestens sechs und höchstens 96 Sitze pro Land vorgesehen sind. Die Anteile der Ländergruppen unterschiedlicher Größe (Tabelle) haben sich dadurch aber nicht verändert. Nach dem Vertrag von Nizza verfügen die 54% der Bevölkerung aus den vier größten Ländern im Rat nur über 34% der Stimmengewichte und die 6% aus den kleinsten Ländern dagegen über 17%. Dafür kann bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit überprüft werden, ob auch die Mehrheit der europäischen Bevölkerung (62%) durch die zustimmenden Länder vertreten ist. Bevölkerungsreiche Länder können damit in Koalition mit wenigen anderen leichter eine Sperrminorität erreichen (Moberg, A., 2002; Tsebelis, G., Yataganas, X., 2002). Eine deutliche Änderung tritt nach 2014 mit dem Verfahren der doppelten Mehrheit ein, so dass im Rat letztlich die Größe des Landes entscheidet. Dann können die vier größten Länder bereits 54% der Stimmen auf sich vereinigen; es fehlen ihnen also nur noch 11% zur qualifizierten Mehrheit. Die Befürchtungen einer Dominanz der Großen findet jedoch in der tatsächlichen politischen Praxis wenig Begründung, da Länder nicht nach ihrer Größe Koalitionen in der Abstimmung eingehen, sondern nach ihrer Interessenslage. Dabei muss die Größe des Landes nicht zwingend eine Rolle spielen. Kleines Land – großes Land: Zweierlei Maß? Kleine Länder werden in politischen Prozess anders behandelt als große Länder, wie die Beispiele zeigen: Auf die Regierungsbeteiligung der rechtsgerichteten FPÖ von Jörg Haider im kleinen Österreich erfolgte eine scharfe Reaktion der Mitgliedsstaaten, während ähnlich problematische Entwicklungen in den großen Ländern Frankreich und Italien als nationale Angelegenheiten behandelt wurden. Die Kommission hielt sich in der – eigentlich anstehenden – Verurteilung der nationalen Wirtschaftspolitik Portugals im März 2001 zurück, da mit Irland bereits kurz vorher ein kleines Mitgliedsland gerügt worden war und der Eindruck vermieden werden sollte, dass die Einhaltung von Regeln eher von den Kleinen verlangt würde. Der Beitritt der Türkei zur EU würde diesem sehr großen Land einen erheblichen Einfluss in den Entscheidungsgremien geben; zusammen mit den Stimmen Deutschlands entstünde ein bedeutender Machtblock innerhalb der EU. Dies wird in einigen Mitgliedsländern abgelehnt (Kapitel 6.3.4). Ein weiteres Konfliktfeld, auf dem die Landesgröße eine Rolle spielt, ist die Geldpolitik im Rat der EZB (Kapitel 3.5). Hier hat jedes Land unabhängig von seiner Größe eine Stimme und die Entscheidungen fallen mit einfacher Mehrheit. Damit können kleine Länder Beschlüsse durchsetzen, die im Wesentlichen von den großen Ländern finanziert werden müssen.
1.3 Institutionelle Probleme in der EU
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Stimmen in Parlament und Rat, EU-27 (%)
Mitgliedsstaaten nach Größenklassen
Bevölkerung
Nizza (bis Nov. 2014) ParlaRat ment
Reformvertrag (ab Nov. 2014) ParlaRat ment
Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien
53,7
42,3
33,6
42,1
53,7
Spanien, Polen
16,8
13,8
15,6
14,0
16,8
23,3
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33,9
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100,0
100,0
Rumänien, Niederlande, Griechenland, Tschechien, Belgien, Ungarn, Portugal, Schweden, Bulgarien, Österreich Slowakei, Dänemark, Finnland, Irland, Litauen, Lettland, Slowenien, Estland, Zypern, Luxemburg, Malta EU-27
Nach dem Vertrag von Nizza gültig bis Nov. 2014; eigene darstellung; Quelle für ‚Rat‘ und ‚Bevölkerung‘ http://www.consilium.europa.eu/council/voting-calculator?lang=de (21.3.12). Tab. 1-2: Stimmen in Parlament und Rat, EU-27(%)
2
Der Europäische Binnenmarkt Die veraltete Abschließung der Länder Europas untereinander hat bisher nur künstliche Produktionsbeschränkungen mit sich gebracht und infolgedessen zu einer Stagnierung unseres Lebensstandards geführt. Jean Monnet, Karlspreisträger 1953
Wenn wir es nicht schaffen, in den nächsten 10 Jahren, aus dieser höchst erfolgreichen wirtschaftspolitischen Konstruktion Europa, auch eine sozialpolitisch erfolgreiche Europäische Union zu machen, inklusive die Massenarbeitslosigkeit in Europa abzubauen, dann wird Europa scheitern. Jean-Claude Juncker, Karlspreisträger 2006
Der markanteste Schritt zu mehr Gemeinsamkeit wurde auf den Märkten getan: Das Prinzip des freien grenzüberschreitenden Wettbewerbs für Arbeitskräfte, Kapital, Güter und Dienstleistungen wurde als Grundlage vereinbart. Damit gab sich die EU eine marktliberale Wirtschaftsverfassung, die gegen Widerstand in den einzelnen Mitgliedsstaaten durchgesetzt werden muss (Kapitel 2.1). Dafür hat die EU Umsetzungsprogramme verabschiedet und Regelungen zur Wettbewerbsüberwachung eingeführt, mit denen sie tief in die nationalen und auch staatlichen Marktprozesse eingreift, was immer wieder Konflikte provoziert (Kapitel 2.2). Der freie Warenverkehr ist in der EU durch den Abbau von Barrieren etabliert; er führt weltweite Bemühungen um Handelsliberalisierung konsequent fort (Kapitel 2.3.1). Die Freizügigkeit für Arbeitnehmer dagegen stößt auf Widerstand bei den Arbeitnehmern in den wohlhabenden Mitgliedsstaaten, die eine Konkurrenz durch Lohnsenkung befürchten (Kapitel 2.3.2). Auch die Selbständigen stoßen an den Grenzen auf erhebliche Barrieren (Kapitel 2.3.3). Die vom Staat beherrschten Dienstleistungen bieten der Liberalisierung und einer Öffnung für Wettbewerb am meisten Widerstand (Kapitel 2.3.4.4) und die an Netze gebundenen Dienstleistungsmonopole sind schon aus ihrer besonderen Situation heraus nur unter Schwierigkeiten in eine Wettbewerbssituation zu überführen (Kapitel 2.3.5). Kapital dagegen bewegt sich für Investitionen reibungsarm über die europäischen Grenzen, wohingegen die Finanzmärkte bisher kaum auf europäischer Ebene arbeiten. Es ist aber gerade dieser Bereich, der im Zuge der Finanzkrise als im besonderen Maße grenzüberschreitend identifiziert wurde; hier wäre eine europaweite Regulierung besonders wichtig (Kapitel 2.3.6). Die EU
48
2 Der Europäische Binnenmarkt
ergreift auch Initiativen zur Steigerung der globalen Wettbewerbsfähigkeit ihrer Mitglieder (Kapitel 2.4)
2.1
Mehr Wettbewerb durch Integration
Welches grundlegende Prinzip verfolgt der Binnenmarkt? Welche Wirkungen gehen von einer Beseitigung von Barrieren im Binnenmarkt aus? Welche Konflikte bei der Durchsetzung des Binnenmarktes bestehen in der EU? Die ökonomische Theorie behauptet, Wettbewerb sei als Prinzip anderen Formen der Organisation ökonomischen Handelns überlegen: Durch Wettbewerb würden die Faktorallokation und damit die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt optimiert. Die Basis für eine solche Weltsicht bildet das Modell des „vollkommenen Marktes“, in dem alle Teilnehmer vollständige Informationen haben, Zutritt und Austritt aus dem Markt für Anbieter unbeschränkt möglich ist und kein Teilnehmer Marktmacht besitzt, durch die er sich dem Wettbewerb entziehen oder seine Mitbewerber oder Kunden dominieren könnte. Auch wird implizit angenommen, dass die Infrastruktur für den Austausch von Gütern und Diensten, Kapital und Arbeit vorhanden ist. Ein optimal funktionierender Markt benötigt eine „gute“ Regulierung sowie neutrale und durchsetzungsstarke Institutionen zu deren Überwachung. Diese Voraussetzung wird idealtypischerweise als gegeben angenommen. Der vollkommene Markt dient als Referenzwelt für die Analyse der tatsächlichen Verhältnisse, die durch diverse „Marktunvollkommenheiten“ geprägt sind. Folgt man dem Modell des vollkommenen Marktes, dann hat das Prinzip des Wettbewerbs nicht nur innerhalb eines Nationalstaates, sondern auch beim Austausch über Ländergrenzen hinweg seine Gültigkeit. Auf der anderen Seite stellen Landesgrenzen Barrieren für freien Wettbewerb und Wirtschaftsaustausch dar. Beispiele für Barrieren, die durch die Politik auf der nationalstaatlichen oder europäischen Ebene errichtet wurden und von diesen Instanzen auch beseitigt werden könnten, sind u.a. (Emerson, M., M. Aujean, et al., 1988:21ff.):
Zölle, die die preisliche Wettbewerbsfähigkeit ausländischer Anbieter mindern sollen bzw. Mengenbeschränkungen für Importe, die einheimische Hersteller vor Konkurrenz schützen sollen,
Grenzformalitäten, die Zeitverzögerungen und Bürokratiekosten verursachen,
National spezifische technische Regulierungen und Normen, die zur Fragmentierung der Märkte führen und damit den ausländischen Anbieter zur Variantenvielfalt zwingen; sie verteuern den Außenhandel,
Begrenzung der Beschaffung im öffentlichen Auftragswesen auf Anbieter aus dem Inland,
2.1 Mehr Wettbewerb durch Integration
49
Staatliches Eigentum an Produktionsmitteln oder Monopole mit öffentlichem Auftrag verhindern den Marktzutritt für ausländische Anbieter; dies trifft besonders auf netzgebundene Dienstleistungen zu,
Beschränkungen der selbstständigen oder abhängigen Erwerbstätigkeit für ausländische Anbieter durch Zuwanderungsverbote, nationale Zulassungsvorschriften zu Berufen.
Wettbewerbsverzerrungen zu Gunsten einheimischer Anbieter durch Protektion und Subventionen,
Fiskalische Barrieren, die z.B. aus Unterschieden in den Steuersystemen resultieren können.
Davon sind natürliche Barrieren zu unterscheiden, d.h. solche, die nicht durch bewusste Eingriffe in den freien Wirtschaftsverkehr geschaffen wurden. Diese Barrieren können nicht durch Maßnahmen zur Förderung der Integration beseitigt werden:
Soziale und kulturelle Besonderheiten, wie Sprache und Unterschiede in den Vorlieben von Konsumenten auf regionalen oder nationalen Märkten,
Räumliche Nähe und Vertrautheit unter Marktteilnehmern, durch die ein wirtschaftlicher Austausch zwischen einigen Ländern kostengünstiger ist bzw. leichter fällt,
Informations-, Verhandlungs- und Vertragskosten in fremden Gesellschafts- und Rechtssystemen. Diese können dazu führen, dass der Marktzutritt für ausländische Anbieter schwieriger ist und daher eine Ausdehnung der wirtschaftlichen Aktivität über die Landesgrenzen hinaus unterbleibt.
Zur Überwindung solcher Barrieren und damit zur ökonomischen Integration kann eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen werden; dabei unterscheidet Tinbergen (1964:76) zwei Gruppen: „Negative Integration“ liegt vor, wenn Barrieren beseitigt werden und der grenzüberschreitende Wirtschaftsaustausch dann dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen wird, Beispiele für negative Integration sind das Verbot der Diskriminierung ausländischer Anbieter sowie die „vier Freiheiten“ für Arbeitskräfte, Kapital, Güter und Dienstleistungen im Binnenmarkt. Eine Maßnahme der „positiven Integration“ dagegen ist die aktive Unterstützung des grenzüberschreitenden Austauschs. Beispiele sind die Einrichtung von gemeinsamen Institutionen, die Harmonisierung von Produktstandards, die Herstellung eines funktionsfähigen Marktmechanismus durch Regulierung oder die Verbesserung der grenzüberschreitenden Infrastruktur. Auch die Europäische Arbeitsvermittlung, die Harmonisierung der Berufsausbildung und der Anerkennung der Ausbildungsabschlüsse oder die Einführung eines europaweit geltenden Patents gehören zu den Maßnahmen der positiven Integration. Beide Integrationstypen kommen im Binnenmarktprogramm zur Anwendung (Hix, S., 2005:235–270; Pelkmans, J., 2006). Maßnahmen der positiven und negativen Integration sind Ausdruck der Tatsache, dass Märkte nicht aus sich heraus funktionieren, sondern ein Regelwerk brauchen, in dessen Rahmen sie sich erst entfalten können (Egan, M. P., 2001). Dies gilt insbesondere für die Internationalisierung von bisher national regulierten Märkten. Dabei kann es also nicht um ein Minimum an Regulierung gehen, sondern vielmehr um „gute Regeln“, die ein reibungsarmes grenzüberschreitendes Funktionieren des Marktmechanis-
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2 Der Europäische Binnenmarkt
mus ermöglichen. An dem offensichtlichen Versagen der bisherigen Regulierungen der Finanzmärkte zeigt sich die Bedeutung dieses Themas. Aus einer zunehmenden wirtschaftlichen Integration sind zahlreiche ökonomische Effekte zu erwarten, auf die in den folgenden Kapiteln ausführlicher eingegangen wird. Erstens kann auf Unternehmensebene die Steigerung der Effizienz wirtschaftlichen Handelns daraus resultieren, dass Produzenten sich spezialisieren und Skalenerträge nutzen können, sofern ihnen dies auf ihrem zu kleinen einheimischen Markt nicht möglich war. Durch einen international einheitlichen Absatzmarkt können sie ihre mindestoptimale Betriebsgröße erreichen, wodurch Kosten und Preise sinken können (European Commission, 1997c; Scherer, F.M., Ross, D., 1990, Kapitel 4). Durch steigenden Wettbewerbsdruck werden auch die XIneffizienzen beseitigt, denn die einzelnen Unternehmen werden zur Nutzung aller firmeninternen Effizienzreserven gezwungen. Zweitens können die Kosten für die Beschaffungen des Staates sinken, wenn dieser auch auf Anbieter aus dem Ausland zurückgreift, wodurch die Staatsverschuldung und Steuerlast verringert werden können. Drittens können grenzüberschreitende Externalitäten, wie z.B. Umweltschäden oder die Nutzung von öffentlichen Infrastrukturen des Nachbarlandes, in einem integrierten Wirtschaftsraum besser geregelt werden. Das Recht der Verbraucher gegenüber dem Hersteller (z.B. Produkthaftung) sowie die Sicherheit von Zahlungen und Lieferungen im grenzüberschreitenden Handel, wie er z.B. durch E-Commerce an Bedeutung gewinnt, braucht transparente, einheitliche und einfach durchsetzbare Regeln, die nicht nur auf nationalstaatlicher Basis aufgestellt und überwacht werden können. Solche Externalitäten können in einem integrierten Wirtschaftsraum besser internalisiert werden. Auf eine einfache Formel gebracht, ist die Stimulierung von Wettbewerb das Ziel und die erwünschte Folge eines einheitlichen Wirtschaftsraums. Damit ist der Abbau sämtlicher Behinderungen und Verfälschungen der Marktkräfte eine Voraussetzung zur Realisierung des Binnenmarktes. Dabei wird unterstellt, dass sich aus verschärftem Wettbewerb ein geringeres Preisniveau durch eine Verringerung der Gewinnspanne der Unternehmen, ein höheres Wirtschaftswachstum, mehr Arbeitsplätze und Wohlstand ergeben. Wettbewerb wirkt zweischneidig Wie sehr sich eine geringe Wettbewerbsintensität in höheren Preisen niederschlagen kann, zeigt das Beispiel eines Discounters im Lebensmittelbereich. Dieser verkauft seine Produkte in Deutschland deutlich billiger als in Griechenland. Die starke Konkurrenz großer Lebensmittelketten prägt den Markt in Deutschland, während eine kleinteilige Struktur von Familienunternehmen in Griechenland vorherrscht. Der weitere Marktzugang großer Anbieter in Griechenland würde den Konsumenten nutzen, aber die kleinen Unternehmen vom Markt verdrängen („Wie Lidl…“, 2012). Neben den erwarteten positiven ökonomischen Effekten sind auch negative Nebeneffekte der Wettbewerbsintensivierung zu erwarten:
2.1 Mehr Wettbewerb durch Integration
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Die Marktintegration begünstigt besonders große Unternehmen, da diese steigende Skalenerträge nutzen können. Durch Fusionen steigen die Firmengröße und die Konzentration. Am Ende eines solchen Prozesses können sich sogenannte friedliche Oligopole oder sogar nicht angreifbare Monopole herausbilden, die nur geringe Wettbewerbsintensität aufweisen. Auch die Zusammenballung unkontrollierbarer internationaler Wirtschaftsmacht, die den Gestaltungsspielraum nationaler Politik unangemessen einschränkt, kann die Folge sein. Daraus leitet sich die Notwendigkeit einer flankierenden Politik zur Wettbewerbssicherung ab.
Gewinner-Verlierer-Muster des Wettbewerbs und die daraus resultierenden politischen und sozialen Spannungen sind zu berücksichtigen. Mit dem Druck zu häufigerem Wechsel des Arbeitsplatzes, Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt durch Zuwanderung und Betriebsverlagerungen sowie daraus resultierend geringeren Löhnen und daraus resultierenden Wirkungen auf Kaufkraft und Nachfrage ist ebenso zu rechnen, wie mit dem Verschwinden von Betrieben, die durch sinkende Stückerlöse unter die Rentabilitätsschwelle gedrückt werden. Die positiven und negativen Gesamteffekte des Wettbewerbs verteilen sich möglicherweise sektoral, regional und national ungleichmäßig; auch einzelne Berufs- und Qualifikationsgruppen können besonders negativ betroffen sein. Regierungen könnten versuchen, die wertschöpfungsstarken Branchen durch Subventionen und Industriepolitik in ihren nationalen Grenzen zu konzentrieren bzw. den Wettbewerbsdruck auf die bestehenden Firmen durch Intervention zu vermindern, um Wähler zu gewinnen. Da dies den im Binnenmarkt angestrebten freien Wettbewerb verfälschten würde, sind solche nationalen Hilfen generell verboten.
Die Anpassung der Unternehmen und Arbeitnehmer an die neue Wettbewerbslage wird schnell erforderlich und in der Wahrnehmung der Beteiligten als negativer Effekt der Marktöffnung wahrgenommen. Die möglichen positiven Effekte dagegen treten eher mit Verzögerung ein und sind nicht ohne weiteres als Resultat der Integration zu identifizieren. Daher besteht die Gefahr, dass gerade bei denen, die ihren Besitzstand in Gefahr sehen bzw. sich als Verlierer sehen, eine negative Bewertung des Binnenmarktes überwiegt. Sofern das Wirtschaftswachstum – auch durch die Effekte der Integration – groß genug ist, kann eine Kompensation der Anpassungslasten bei den Verlierern aus dem Zuwachs erfolgen; anderenfalls ist mit einer Verschärfung von Verteilungskämpfen und dem Aufbrechen sozialer Spannungen zu rechnen. Wenn sich die sozialen Probleme verschärfen, kann bei denen, die sich als Verlierern sehen, oder in der breiten Öffentlichkeit die politische Ablehnung der Europäischen Integration die Folge sein; dies wurde von Monti (2010:23, 30) so auch empirisch ermittelt. In der politischen Diskussion um die Ausgestaltung der nächsten Integrationsschritte treffen auch immer unterschiedliche gesellschaftspolitische Auffassungen über das soziale Gesicht Europas aufeinander: Die Einen wollen ein spezifisch europäisches Sozialmodell mit deutlicher Fürsorgepflicht von Nationalstaat und EU errichten, während Andere einen schlanken Staat und hohe individuelle Eigenverantwortung als Vorbild haben (Aust, A., 2004; Sapir, A., 2005; Monti, M., 2010:32–35). Für keines dieser beiden Leitbilder gibt es unter den Mitgliedsstaaten einen Konsens. In den Verträgen finden sich Elemente aus beiden Konzepten, wobei die Wettbewerbsorientierung, wie sie dem Binnen-
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2 Der Europäische Binnenmarkt
markt zugrunde liegt, dominiert. Die Zuständigkeit der EU in sozialen Belangen ist dagegen gering geblieben (Pelkmans, J., 2010a). Weiterführende Literatur
Baldwin, R. E., Wyplosz, C., (2012). Economics of European Integration. London, part II
Pelkmans, J. (2006): European integration – Methods and economic analysis, Harlow et al., chapter 12
Jovanovic, M. N. (2005): The economics of European integration, Cheltenham, Northampton, chapter 5
Sapir, A. (2011): European integration at the crossroads: A review essay on the 50th Anniversary of Bela Balassa’s theory of economic integration, in: Journal of Economic Literature, 49, 4, 1200–1229.
2.2
Den Binnenmarkt vollenden
2.2.1
Das Programm für ‚1992‘
Welche Motive und Triebkräfte standen hinter dem Binnenmarktprogramm? Welche Stationen durchlief das Programm und wann ist es vollendet? Die EU hatte sich das Ziel der wirtschaftlichen Integration zu einem einheitlichen, wettbewerbsorientierten Wirtschaftsraum gesetzt. Zwar war mit der Vollendung der Zollunion im Jahr 1968 im Prinzip der Handel mit Gütern in der damaligen EG frei und ohne Verzerrungen durch Zölle. Dennoch konnte von einem einheitlichen Markt nicht gesprochen werden:
Nicht-tarifäre Handelshemmnisse (Kapitel 2.3.1.2) im Warenhandel bestanden weiter,
die freie Bewegung des Faktors Arbeit war noch nicht möglich und
bei Dienstleistungen stand der Staat als monopolistischer Anbieter außerhalb jedes Wettbewerbs.
Im Kapitalverkehr wurden Unternehmen vor der Übernahme durch ausländisches Kapital geschützt, und die Anbieter von Finanzdiensten sahen sich einem durch vielfältige nationale Regulierungen fragmentierten Markt gegenüber;
zusätzlich wurden einheimische Anbieter durch Subventionen, protektionistische Maßnahmen und Diskriminierung gegenüber der ausländischen Konkurrenz bevorzugt.
Der Prozess der ökonomischen Integration Europas war damit Anfang der 80er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die Behauptung einer „Euro-Sklerose“ (Servan-Schreiber, J.J., 1970; Olson, M., 1996), in der Europa eine Wachstumsschwäche und ein technologischer
2.2 Den Binnenmarkt vollenden
53
Rückstand gegenüber den USA und den vier asiatischen „Tiger-Staaten“ (Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur) bescheinigt wurde, führte zur Besorgnis über einen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Rückstand Europas. Als mögliche Reaktionen auf die unbefriedigende Situation in Europa wurden Mitte der 80er Jahre unterschiedliche Strategien diskutiert. Eine treibende Kraft dieser Diskussion kam aus den großen, auf europäische Märkte konzentrierten Unternehmen (ERT-Round Table of European Industrialists, 1999): Da die europäische Großindustrie weniger konzentriert war als ihre Konkurrenten in Asien und den USA, wollten diese Unternehmen eine Stärkung ihrer Operationsbasis in Europa durch Beseitigung von innereuropäischen Barrieren (Cowles, 1995). Andere Unternehmen wollten eine Abschottung Europas gegenüber der globalen Konkurrenz („Fortress Europe“), um so die Probleme des globalen Wettbewerbsdrucks auszublenden und die sozialen Errungenschaften und hohen Löhne gegen sogenanntes Lohnund Sozialdumping zu verteidigen. Eine innereuropäische Öffnung von Märkten wurde dabei als Notwendigkeit akzeptiert. Globale Unternehmen dagegen waren gegen diese Abschottung und für eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Standorte durch Verbesserung der Angebotsbedingungen: Beseitigung von Wettbewerbshemmnissen sowie Deregulierung und Liberalisierung, verbunden mit einer Reduzierung der sozialen Leistungen. Der Visionär der Europäischen Integration – der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors – wollte Elemente beider Ansätze kombinieren: EU-weit sollten die gleichen Wettbewerbsvoraussetzungen auf den Märkten für Güter, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital durch Beseitigung von Schranken und Diskriminierungen sowie die Sicherung einer Wettbewerbsordnung gelten. Dies wollte er mit einer europaweiten Sicherung des sozialen Schutzes verbinden. Dazu sollten sich die Mitgliedsstaaten zu einer gemeinsamen Re-Regulierung verständigen, um ein Rennen um die niedrigsten Standards zu unterbinden (Ziltener, 2001, 2002; Aust, 2004). Er schuf den Anstoß für das „Binnenmarkt-Programm 1992“, mit dem der lang andauernde Prozess der ökonomischen Integration ab Mitte der 80er Jahre einen neuen Schub erreichte. Seine Vision lässt sich auf die griffige Formel „Ein Europa ohne Grenzen“ bringen. Auf dem Weg zur Vollendung dieser Vision wurden 280 Maßnahmen im Weißbuch zum Binnenmarkt durch die Europäische Kommission (1985) formuliert, durch deren Umsetzung bis 1992 der Binnenmarkt vollendet sein sollte. In der „Einheitlichen Europäischen Akte (EEA)“ von 1987 sowie im Maastrichter Vertrag von 1992 wurde der Binnenmarkt im Rechtsrahmen der EU verankert. Die Entwicklung zeigt, dass es sich bei der Umsetzung der Vision von einem einheitlichen Markt weniger um einen einmaligen Akt („Big Bang“), als vielmehr um einen andauernden Prozess handelt, der immer wieder neue Impulse braucht, aber auch stagniert oder gar Rückschritte erfährt. Seit dem Start des Binnenmarkt-Programms 1985 haben verschiedene Ereignisse und Einflüsse seine Entwicklung befördert bzw. behindert. Fördernd wirkte eine Verschiebung der politischen Prioritäten in vielen Mitgliedsstaaten der EU, wodurch die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Liberalisierung von staatlich reglementierten Dienstleistungen einen höheren Stellenwert erhalten haben. Damit gewann die Dienstleistungsfreiheit zusätzliche Dynamik, die sich wegen der Widerstände in den Nationalstaaten nur auf lange Sicht
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2 Der Europäische Binnenmarkt
durchsetzen dürfte. Ein weiterer Schub ergab sich Anfang der 90er Jahre durch den Fall des „Eisernen Vorhangs“. Die ehemaligen RGW-Länder wurden mit den Europa-Abkommen in wichtige Bereiche des Binnenmarktes eingebunden; sie haben durch ihren Beitritt im Jahr 2004 und 2007 den Binnenmarkt substantiell ausgeweitet (Kapitel 5.4). Als eher hemmend erweist sich eine Veränderung der politischen Präferenzen in einigen Mitgliedsstaaten, die nach einer langen Phase der Bereitschaft zur Öffnung und Liberalisierung der Märkte zunehmend Tendenzen zu einem Wirtschaftspatriotismus (EEAG, 2007b:133–147) zeigten; dies lässt sich z.B. am Widerstand gegen die Übernahme „nationaler Champions“ durch ausländisches Kapital feststellen (Kapitel 2.3.6.3). Eine besondere Situation stellt die finanzielle Stärke von Staatsfonds aus Drittländern dar, die durch den Erwerb von Unternehmen in sogenannten sensitiven Branchen möglicherweise politische Gefahren heraufbeschwören könnten (Röller, L. H., Véron, N., 2008). Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Jahr 2007 hat in den Bevölkerungen einiger Mitgliedsstaaten die Skepsis gegenüber einem integrierten Europa verstärkt und die Bereitschaft zur gemeinsamen Lösung europäischer oder gar globaler Probleme gemindert. Die Akzeptanz der wettbewerbsorientierten globalen Marktöffnung der EU liegt bei einer deutlichen Mehrheit der Bürger in den Mitgliedsstaaten vor und hängt nicht so sehr von deren objektiver Betroffenheit durch die Globalisierung ab als vielmehr von ihrer subjektiven Einschätzung der eigenen Betroffenheit (Gerhards, J., Hessel, P., 2008). Zu Stand und Perspektiven des Binnenmarktprogramms äußerte sich der von 1999 bis 2004 zuständige Kommissar Frits Bolkestein im Rückblick recht pessimistisch (Bolkestein, F., Gerken, L., 2007). Er sah zunehmenden Protektionismus und den Vorrang nationaler Interessen oder der Daseinsvorsorge, die Tendenz zu mehr statt weniger Regulierung, die wettbewerbsschädliche Harmonisierung von sozialpolitischen Normen auf „hohem Niveau“ und populistisch motivierte Markteingriffe der Kommission (Kapitel 2.3.4.5). Initiativen für den Binnenmarkt Die Weiterentwicklung des Binnenmarktes wird von der Europäischen Kommission in Form von Initiativen versucht. Dazu gehören u.a. der Aktionsplan für den Binnenmarkt von 1997, die Versuche, die Finanzdienstleistungen europaweit zu öffnen (2000–2005) und Aktivitäten zur Liberalisierung der Dienstleistungen, die sogenannte Bolkestein-Initiative (Pelkmans, J., 2010c). Als einen weiteren Schritt hat die Kommission im Jahr 2007 eine Vision für den Binnenmarkt im 21. Jahrhundert (Europäische Kommission 2007a) entwickelt, in der sie vorschlug, künftig nicht mehr nur wie bisher auf die Beseitigung von Handelshemmnissen zu setzen, sondern u.a.
stärker die Funktionsweise der Märkte zu verbessern,
die wachsende Heterogenität in der EU-27 beim Prinzip der wechselseitigen Anerkennung zu berücksichtigen,
die Öffnung der Netze bei netzbasierten Dienstleistungen voranzutreiben,
2.2 Den Binnenmarkt vollenden
die Globalisierung der Märkte in die EU-Regelungen mehr einzubeziehen und
die Bürger besser zu informieren.
55
Die Kritik von Mario Monti Im Jahr 20010 hat die Kommission dann eine neue Strategie für den Binnenmarkt angekündigt, die sich auf eine umfassende Analyse des ehemaligen Kommissars Mario Monti stützte (Monti, M., 2010). Darin wurden die folgenden Aspekte herausgearbeitet:
„Der Binnenmarkt ist unbeliebter denn je, obwohl er gleichzeitig aus dem Wirtschaftsgeschehen nicht mehr wegzudenken ist.“ (Monti, M., 2010:23),
Die Themen, die zur Förderung des Binnenmarktes einbezogen werden sollten, gehen über die vier Grundfreiheiten hinaus. Sie müssen auch die Wettbewerbspolitik, die Politik in den Bereichen Industrie, Verbraucherschutz, Energie, Verkehr, digitale Wirtschaft, Soziales, Umwelt, Klimawandel, Handel, Steuern und Regionen umfassen und sich sogar auf Politikfelder wie Justiz und Unionsbürgerschaft erstrecken.
Künftige Handlungsschwerpunkte sieht Monti (2010:38) in den folgenden Themenbereichen:
Konflikte zwischen wirtschaftlicher Freiheit und Arbeitnehmerrechten,
soziale Dienstleistungen im Binnenmarkt,
Nutzung des öffentlichen Auftragswesens für politische und soziale Ziele,
Koordinierung der unterschiedlichen Besteuerung in den Mitgliedsstaaten angesichts der voranschreitenden Marktintegration,
Konflikte zwischen der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und dem regionalen und sozialen Ausgleich,
Konflikte zwischen der Unterstützung von Industrien in der EU im globalen Wettbewerb und der Zurückdrängung der politischen Intervention in der Wirtschaft.
Es geht also auch darum, die politisch umstrittenen Themen anzupacken und den Blickwinkel über die bloße Beseitigung von Barrieren hinaus zu öffnen. Dabei ist – wie in der Vergangenheit – mit dem Widerstand von Akteuren zu rechnen, die bei der Verbesserung des Status quo Nachteile befürchten. Die Binnenmarktakte 2011 Im Anschluss an die öffentliche Diskussion zur Weiterentwicklung des Binnenmarktes hat die Kommission in zwei Stufen (2011 und 2012) eine Binnenmarktakte vorgelegt, in der sie zwölf Handlungsfelder zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes benennt. Sie beansprucht, dadurch „zur Ankurbelung des Wachstums und zur Stärkung des Vertrauens“ beitragen zu können (Europäische Kommission, 2012f; European Commission, 2012u).
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2 Der Europäische Binnenmarkt
Die Kommission will jedoch nicht nur die weitere Marktöffnung – auch gegen den Widerstand von Interessengruppen – durchsetzen, sondern startete auch verschiedene Initiativen, mit denen sich die EU angesichts des globalen Wettbewerbsdrucks besser platzieren solle (Kapitel 2.4). Weiterführende Literatur
Cowles, M. G. (1995): Setting the Agenda for a New Europe: The ERT and EC 1992, in: Journal of Common Market Studies, 33, 4, 501–526.
Dyson, K., Featherstone, K. (1999): The road to Maastricht: Negotiating economic and monetary union, Oxford.
Ziltener, P. (2001): Wirtschaftliche Effekte der europäischen Integration: Theoriebildung und empirische Forschung, in: MPIfG Working Paper, 01/7.
2.2.2
Die Flankierung des Binnenmarktes
2.2.2.1
Subventionskontrolle und Wettbewerbsaufsicht
Warum muss der Binnenmarkt durch eine Wettbewerbsaufsicht ergänzt werden? Kann der Eingriff in den Wettbewerb gerechtfertigt werden? Die Grundlage des Europäischen Binnenmarktes ist das Credo, dass Wettbewerb das beste Regelungsprinzip für die Wirtschaft sei und daher Eingriffe in den Wettbewerb abzulehnen seien. Die Maßnahmen des Binnenmarktes zielen im Grundsatz auf eine Verschärfung des Wettbewerbs, z.B. durch die Beseitigung von Handelshemmnissen, die Öffnung der Märkte für mehr Anbieter und die Vergrößerung der Transparenz über Preise. Damit entsteht die Aufgabe, das Prinzip Wettbewerb im privaten und öffentlichen Wirtschaftsleben tatsächlich durchzusetzen – auch wenn Gruppen von negativ Betroffenen ihren Einfluss dagegen gelten machen. Da Wettbewerb aber aus einzelunternehmerischer Sicht unbequem oder gar bedrohlich ist und aus nationaler Sicht zu vermeintlichen oder tatsächlichen Nachteilen im Vergleich zu einem anderen Land führen kann, haben sowohl Unternehmen als auch politische Akteure die Tendenz, sich dem Wettbewerbsdruck zu entziehen. Daher muss die EU zur Flankierung des Binnenmarkt-Programms eine Wettbewerbsaufsicht verfolgen, die eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Wirtschaftsaustauschs verhindert; nach einer weiten Interpretation kann bei nahezu allen den Wettbewerb beschränkenden oder ihn verfälschenden Handlungen, die innerhalb eines Nationalstaates erfolgen, auch eine zwischenstaatliche Wirkung vermutet werden (Schmidt, I., Binder, S., 1998; Schmidt, A., 2001). Versuche zur Rechtfertigung von Subventionen und Protektionismus Die folgenden Argumente werden in der öffentlichen Diskussion zur Rechtfertigung von Subventionen und Protektionismus vorgebracht; einige werden hier aufgeführt, ohne dass damit gesagt werden soll, dass diese auch zutreffen:
2.2 Den Binnenmarkt vollenden
57
1) Der Strukturwandel führt zu Anpassungshärten, die durch Beschränkung der Konkurrenz so lange abgefedert werden müssen, bis die einheimische Industrie ihre Wettbewerbsfähigkeit in dem umkämpften Markt (wieder) gewonnen hat bzw. bis der Umbau der Wirtschaftsstrukturen ohne zu große soziale Härten, wie z.B. Arbeitslosigkeit, bewältigt ist. 2) Die Öffnung der eigenen Märkte für Anbieter aus dem Ausland hilft diesen, ihre Beschäftigungsprobleme auf dem Rücken der inländischen Bevölkerung zu lösen; dies stellt einen unfairen Import von Arbeitslosigkeit dar. 3) Die Markterfolge der ausländischen Anbieter basieren auf „unfairem“ Wettbewerb, der aus niedrigen Löhnen, besserer Technologie oder niedrigen Standards bei Umweltschutz und Arbeitssicherheit resultiert. 4) Einer staatlichen Industriepolitik wird die Aufgabe zugewiesen, „nationale Champions“ zu schützen oder „strategische Industrien“ im Land aufrecht zu erhalten (z.B. Kohle, Luftfahrt, Schiffe, Landwirtschaft, Elektronik, Wehrtechnik). 5) Wenn ein Land einen Rückstand in wichtigen Technologiegebieten sieht, kann dies eine technologische Aufholjagd erfordern, während der die noch schwachen nationalen Firmen vom Konkurrenzdruck abgeschirmt werden (Infant Industry). Quellen: Dieckheuer, G., 2001, Kapitel 5; Meiklejohn, R., 1999a:25–31 Der AEU-V (Artikel 101–106) kennt vier Bereiche der Wettbewerbsverfälschung, die im Grundsatz verboten sind. Dies sind Kartelle als Vereinbarungen zwischen Wirtschaftssubjekten bzw. deren abgestimmtes Verhalten mit dem Ziel der Beschränkung des Wettbewerbs. Sie sind grundsätzlich verboten, außer wenn sie vom Verbot freigestellt sind. Ebenso gilt die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung auf einem Markt, durch den die Wettbewerber ohne sachlichen Grund behindert werden als Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht. Fusionen sind im AEU-V nicht explizit behandelt, können aber nach laufender Rechtsprechung durch die Herstellung einer dominanten Position einen Missbrauch darstellen. Die EU-Kommission behält sich weitgehende Prüfungsrechte und Einspruch gegen Fusionen vor. Besonders konfliktreich sind staatliche Beihilfen, die als Begünstigungen von Unternehmen definiert sind, mit denen diese ihre Wettbewerbsposition gegenüber nicht begünstigten Unternehmen verbessern können: Dies kann den grenzüberschreitenden Wettbewerb verfälschen und unterliegt daher einer Kontrolle durch die Kommission (Artikel 107– 109 AEU-V). Im Grundsatz sind nach EU-Recht Subventionen der Mitgliedsstaaten verboten, sofern sie sich nicht auf eine Genehmigung der Kommission berufen können. Unbeschadet dieser strengen Eingrenzung der Subventionen gewährt die EU selbst in erheblichem Umfang Regionalsubventionen (Kapitel 4.2.5). Der Eingriff der europäischen Wettbewerbsaufsicht gegen Subventionen und Protektion in den Mitgliedsstaaten wird in der öffentlichen Meinung häufig negativ reflektiert, wenn damit vermeintlich oder tatsächlich die Interessen nationaler Akteure verletzt werden. Ungeachtet dessen wird die These eines negativen Einflusses von Subventionen auf den Wettbewerb und damit auf die optimale Wirkung der Marktkräfte bestätigt (Nitsche, R., Heidhues, P., 2006).
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2 Der Europäische Binnenmarkt
Weiterführende Literatur
Pelkmans, J. (2006): European integration – Methods and economic analysis, Harlow et al., 242–266.
Jovanovic, M. N. (2005): The economics of European integration, Cheltenham, Northampton, 267–430.
Europäische Kommission (2011a), Anzeiger für staatliche Beihilfen, Bericht über staatliche Beihilfen der EU-Mitgliedstaaten – Herbstausgabe 2011 – KOM(2011) 848 endgültig, Brüssel.
European Central Bank ECB (2009a), Assessing global trends in protectionism, ECB Monthly Bulletin, 85–101.
Cini, M., McGowan, L. (2009), Competition Policy in the European Union, Houndmills.
Hölscher, J., Stephan, J. (2009): Competition and antitrust policy in the enlarged European Union: A level playing field?, in: Journal of Common Market Studies, 47, 4, 863– 889.
2.2.2.2
Staatliches Beschaffungswesen
Ist der Staat ein Vorbild für wettbewerbsorientiertes Verhalten? Müssen alle Staatsaufträge international ausgeschrieben werden? Hat sich die Gesetzgebung der EU durchgesetzt? Der öffentliche Sektor wird von den lokalen, regionalen und zentralen Dienststellen des öffentlichen Dienstes sowie von den Unternehmen im Eigentum der öffentlichen Hand gebildet. Sein Anteil an der Gesamtwirtschaft ist historisch gewachsen und daher in jedem Mitgliedsstaat unterschiedlich. Zu den Handlungsfeldern, in denen der öffentliche Sektor in den meisten Mitgliedsstaaten eine dominante Rolle einnimmt, gehören Bildung, Gesundheitswesen, Post, Wasser, Bahn und Strom (Kapitel 2.3.4.3; 2.3.5). Zur Erfüllung seiner Aufgaben kauft der öffentliche Sektor in erheblichem Umfang Rohstoffe, Güter und Dienstleistungen am Markt sowie vergibt Aufträge zur Durchführung von Arbeiten: Diese Käufe erreichten 1985 in der EU ca. 15% des BIP; im Jahr 2008 waren es etwa 18%. Damit ist der Staat einer der größten Marktteilnehmer, ohne dabei von vorn herein auch Marktbedingungen unterworfen zu sein. Vielmehr wird vermutet, dass der öffentliche Dienst sowie Unternehmen mit öffentlicher Leitung nicht so effizient arbeiten wie private Unternehmen, die im Wettbewerb stehen. Der Staat verhält sich auch in seiner Rolle als Nachfrager von Gütern, Diensten und Bauleistungen nicht immer wettbewerbsorientiert: Durch gesetzliche Vorschriften oder durch die Gestaltung der Verfahren konzentriert sich der Zugang zu diesen öffentlichen Aufträgen auf nationale oder lokale Anbieter („Hoflieferanten“). Das Ziel der Gesetzgebung der EU war es, diese „National Closed Shops“ durch die Einführung eines offenen, durch ein europaweites Ausschreibungssystem, durch transparentere
2.2 Den Binnenmarkt vollenden
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Vergabeverfahren sowie durch Überwachungs- und Strafvorschriften bei Verstößen für den EU-weiten Wettbewerb zu öffnen. Diese Regeln wurden auch auf diejenigen öffentlichen und privaten Unternehmen ausgedehnt, die „öffentliche Dienste“ erbringen: Wasser, Energie, Transport, Kommunikation. Ein besonderer Fall ist die Rüstungsindustrie, die als Hauptkunden den Staat ihres Sitzlandes hat: Sie wird bisher von den Wettbewerbsvorschriften ausgenommen. Auch Brennstoffe und Rohstoffe sind von der Ausschreibungspflicht ausgenommen. Zu den Tricks, mit denen nationale Beschaffungsbehörden die Konkurrenz benachteiligt haben, gehörten z.B. (Monti, M. (Ed.), 1996:35):
Aufteilung der Ausschreibung in viele kleine Lose, die dann nicht ausgeschrieben werden müssen. Mitte 2006 machte die Kommission einen Vorstoß, jene 90% der öffentlichen Aufträge, die wegen des geringfügigen Auftragsvolumens nicht EU-weit ausgeschrieben werden müssen, dem gleichen Verfahren zu unterwerfen, wie die großen Aufträge. Dies wurde von zahlreichen Stellen als unnötige Bürokratisierung zurückgewiesen. Ein Durchbruch in dieser Frage stellte das Urteil des EuGH vom März 2012 dar (C574/10), das eine europaweite Ausschreibung auch dann für erforderlich hält, wenn eine große Auftragssumme in mehrere kleinere Lose aufgeteilt wurde.
Vorgabe von typisch nationalen Standards oder Anforderung an Produkteigenschaften, auf die ein nationaler Anbieter ein Patent hat,
Höhere Anforderungen an die finanziellen oder technischen Leistungen bei ausländischen Anbietern,
Eine Ausschreibung mit extrem kurzen Fristen, die allenfalls von vorab informierten lokalen Anbietern eingehalten werden können,
Die ungerechtfertigte Deklaration der Beschaffung als „Notfall“, so dass eine freie Vergabe ohne Ausschreibung „ausnahmsweise“ zulässig ist,
Die Auftragsvergabe an Unternehmen, die ganz oder teilweise in öffentlichem Eigentum sind mit der Behauptung, in solchen Fällen sei eine Ausschreibung nicht erforderlich; dies ist jedoch nach einem Urteil des EuGH (C-26/03) rechtswidrig. Im Juli 2005 waren insgesamt 50 Vertragsverletzungsverfahren gegen deutsche Kommunen bei der Kommission anhängig, weil sie Aufträge ohne Ausschreibung an Unternehmen vergeben hatten, an denen sie beteiligt sind (Pressemitteilung der Kommission, IP/05/44, Brüssel, den 14. Januar 2005).
„Siemens hat in Frankreich den falschen Pass“ In die Vergabe von Aufträgen zur Verbesserung der Infrastruktur in Frankreich wird von der dortigen Regierung zugunsten einheimischer Firmen eingegriffen. Dies wurde von dem unterlegenen Bieter, dem „deutschen“ Unternehmen Siemens, als rechtwidrig bezeichnet. (Aus: Handelsblatt, 13.8.2012)
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2 Der Europäische Binnenmarkt
Gegen die Einführung des freien Warenverkehrs bestand erheblicher Widerstand der bisherigen „Platzhirsche“, die sich dem wachsenden Wettbewerbsdruck entziehen wollten. Besonders eng waren die Beziehungen zwischen staatlichen Monopolen, z.B. in der Telekommunikation, und ihren „Hauslieferanten“ für Endgeräte und sonstige technische Ausstattungen, die hinter dem Schutzzaun der nationalen Märkte nicht zu internationalen Wettbewerbern heranwachsen mussten und damit die Schwäche der europäischen Industrie gegenüber der Konkurrenz aus USA und Japan nicht überwinden konnten. Ähnliche Konstellationen waren z.B. in der Bahnindustrie zu beobachten, wo staatliche Eisenbahngesellschaften und national begrenzte Bahnproduzenten zusammenarbeiteten. Auch die Elektrizitätswirtschaft und das Bauwesen waren ähnlich strukturiert. In der Konsequenz konnten erhebliche Preisdifferenzierungen bei den Gütern und Diensten, die die Öffentliche Hand kaufte, aufrecht erhalten werden; so waren in den 80er Jahren die Preise einiger von der öffentlichen Hand eingekaufter Güter und Dienste in einigen Ländern der EU mehr als doppelt so hoch wie der jeweils niedrigste Preis für diese Leistung in der EU (European Commission, 1997f:62 f.). Die Pflicht zur Ausschreibung und Auswahl des ökonomisch günstigsten Anbieters gilt erst ab einem branchenabhängig unterschiedlich großen Auftragsvolumen. Auffällig ist, dass der Anteil der öffentlich ausgeschriebenen Aufträge, die unterhalb des Schwellenwertes liegen, in den einzelnen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich waren (European Commission, 1997f:119 f.). Dies kann auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen sein: Kleine Staaten oder solche mit stark ausdifferenzierten Zuständigkeitsebenen haben möglicherweise generell geringere Auftragsvolumina pro Auftrag zu verzeichnen oder es findet eine systematische Stückelung in kleine Lose statt, um die Pflicht zur EU-weiten Ausschreibung zu unterlaufen. So mussten im Jahr 2008 nur 20% aller öffentlichen Aufträge auch ausgeschrieben werden. Von der Auswahl der Anbieter nach reinen Leistungsgesichtspunkten darf dann abgewichen werden, wenn weitere Ziele der EU, wie z.B. die Einhaltung von Sozial-, Beschäftigungs-, Gleichstellungs- oder Umweltkriterien mit berücksichtigt werden: Unternehmen, die diese Ziele besser als ihre Konkurrenten erreichen, dürfen bevorzugt werden. Allerdings kann dadurch der grenzüberschreitende Wettbewerb unterlaufen werden; eine präzisere Festlegung des Vorgehens gemäß den politischen Kriterien in den einschlägigen EU-Richtlinien ist erforderlich. Eine interessante Frage wirft die Zusammenarbeit zwischen Kommunen und privaten Unternehmen in Form der Public-Private-Partnership (PPP) auf. Hier liegt eine enge und exklusive vertragliche Beziehung zwischen zwei Partnern vor, in der Leistung, die der Private in die PPP erbringen soll, beschrieben ist. Eine Ausschreibung dieser Leistung scheint hier also ausgeschlossen und die Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes sind vermeintlich nicht durchzusetzen (Single Market News, No 34, July 2003:14). Allerdings hat der EuGH (C27/03) im Januar 2005 festgelegt, dass auch bei einer PPP eine Ausschreibungspflicht besteht, da sonst der Wettbewerb umgangen würde. Aber auch ein deutsches Gericht hat die Pflicht zur öffentlichen Ausschreibung trotz einer PPP für erforderlich gehalten (Mai 2003, OLG Düsseldorf Az. Verg 67/02). Das engt den Handlungsspielraum der Kommunen bei der Gestaltung dieser Form der Zusammenarbeit erheblich ein. Daher versuchen die Kommunen,
2.2 Den Binnenmarkt vollenden
61
die Ausschreibungspflicht zu umgehen, indem sie Aufgaben wieder ausschließlich bei der Kommune ansiedeln („Re-Kommunalisierung“). Effizienzgewinne einer Privatisierung gehen so verloren. Die Öffnung des Marktes für öffentliche Aufträge verläuft langsam:
Noch nicht alle Mitgliedsstaaten haben die aus den EU-Richtlinien und Verordnungen resultierenden Anpassungen vorgenommen.
Es wird geschätzt, dass nur 2% aller ausgeschriebenen Aufträge international vergeben werden, und dass die öffentlichen Auftraggeber durch den internationalen Wettbewerb im Jahr 2008 ca. 8% des Auftragsvolumens einsparen konnten (Monti, M., 2010:90).
Der Anteil direkt importierter Leistungen an der Gesamtnachfrage der öffentlichen Hand liegt mit 7,5% deutlich unter dem Wert bei der Privatwirtschaft (19%). Allerdings wird ein Teil der Leistungen indirekt aus dem Ausland bezogen, z.B. über Vertriebsgesellschaften im Inland.
Die Lieferanten der öffentlichen Hand liegen räumlich eher gering entfernt, d.h. überwiegend im Inland.
Das europäische Vergaberecht ist so kompliziert, dass viele Unternehmen es nicht schaffen oder es für zu aufwändig halten, sich an den Ausschreibungsverfahren zu beteiligen. Besonders kleinere Unternehmen ohne Auslandserfahrung sehen sich vor hohen Hürden; auch Sprache, Rechtssysteme und die Dominanz lokaler Konkurrenten werden als Probleme für eine Beteiligung gesehen.
Der Zugang zu den Ausschreibungen öffentlicher Auftraggeber steht auch Unternehmen aus Drittländern offen; so haben z.B. chinesische Staatskonzerne sich erfolgreich um Bauaufträge in der EU beworben. Die Märkte für Aufträge der öffentlichen Hand in Drittländern sind für europäische Unternehmen aber oft nicht im gleichen Maße geöffnet. Die Kommission wollte den Zugang zum europäischen Markt daher von einer größeren Ausgewogenheit abhängig machen (IP/12/268). Im Wahlkampf um die französische Präsidentschaft im Jahr 2012 hat der damalige Amtsinhaber Nicolas Sarkozy sogar mit einem Boykott der Sitzungen im Rat gedroht („Politik des leeren Stuhls“), um zu erreichen, dass die Anbieter aus der EU bei öffentlichen Ausschreibungen gegenüber Nicht-EU-Bietern bevorzugt behandelt werden dürfen („Politik des…“, 2012). Weiterführende Literatur
Frenz, W. (2007): Handbuch Europarecht, Band 3: Beihilfe- und Vergaberecht, Heidelberg.
European Commission (2011t): Evaluation Report: Impact and Effectiveness of EU Public Procurement Legislation, Part 1+2, in: Commission staff working paper, SEC(2011) 853 final, 207.
62
2 Der Europäische Binnenmarkt
Kahlenborn, W., Moser, C., Frijdal, J., Essig, M. (2011): Strategic Use of Public Procurement in Europe – Final Report to the European Commission (MARKT/2010/02/C), Berlin, European Union.
Europe Economics (2011a): Estimating the benefits from the procurement directives, London.
Europe Economics (2011b): Taking stock of utilities procurement, London,
Strand, I., Ramada, P., Canton, E. (2011): Public procurement in Europe-Cost and effectiveness, PwC, London Economics, Ecorys.
Sylvest, J., Krober, R., Jurgens, O., Schermuly, S., Bendel, Y., Hauser, C., Kronthaler, F., Ludwig, U. (2011): Cross-border procurement above EU thresholds, Copenhagen.
2.2.3
Erwartungen an den Binnenmarkt
2.2.3.1
Zur Bestimmbarkeit von Effekten des Binnenmarktes
Welche methodischen Probleme sind bei der Evaluation der Wirkungen des Binnenmarktes zu berücksichtigen? Die Vollendung des Binnenmarktes war und ist ein Projekt, mit dem die EU große Erwartungen verbindet und das auch in der Öffentlichkeit der Nationalstaaten, bei Gewerkschaften und Industrieverbänden mit positiver und negativer Bedeutung belegt wird. Im Kontrast zu dieser Aufmerksamkeit stehen die nur geringen Möglichkeiten der Fachwissenschaften, die erwarteten Wirkungen vorab zu schätzen oder die eingetretenen Wirkungen nachzuweisen und zu dimensionieren. Der politische Diskurs zum Pro und Contra des Binnenmarktes kann also kaum auf der Grundlage gesicherten Wissens geführt werden. Die Ursachen für diese Wissenslücken liegen u.a. in der hohen Komplexität des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtsystems, das sich von der nationalen auf die inter- und supranationale Ebene erstreckt. Die Veränderungen, die durch die Vorbereitung und Umsetzung des Binnenmarktprojekts in diesem System ausgelöst werden, sind nur schwer von anderen, gleichzeitig wirkenden Einflüssen zu isolieren. Dazu gehören in Europa z.B. die Süd-Erweiterung in den 80er Jahren, der Beitritt der DDR zum Bundesgebiet 1990, die Nord-Erweiterung (Finnland, Schweden und Österreich) 1995 und der Zusammenbruch des „Ostblocks“ Anfang der 90er Jahre mit der anschließenden Öffnung dieser Länder für den Weltmarkt und der Mitgliedschaft von acht dieser Länder im Jahr 2004. Parallel zur wirtschaftlichen Integration Europas findet der Prozess der Globalisierung statt: Im Grundsatz wachsen Märkte seit mehr als 100 Jahren weltweit bzw. in regionalen Blöcken zusammen. Internationale Organisationen wie die WTO flankieren und betreiben diesen Prozess. Durch den verstärkten Einsatz von Informationstechnik – besonders durch das Internet – werden raumübergreifende Unternehmensprozesse leichter möglich. Die wirtschaftliche Integration der EU bettet sich in diese weltweite Tendenz ein – sie wird nicht nur durch den Binnenmarkt angetrieben.
2.2 Den Binnenmarkt vollenden
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Will man überprüfen, ob der Binnenmarkt zu mehr wirtschaftlicher Prosperität geführt hat, so können andere Einflüsse auf die wirtschaftliche Entwicklung Europas nicht ausgeblendet werden; dazu gehört der internationale Konjunkturzusammenhang, durch den Krisen in anderen Weltregionen sich auch in Europa auswirken können. Zu nennen sind der Börsenkrach im Oktober 1987, Währungskrisen in Argentinien (1998–2002), Mexiko (1995), Brasilien (1998/99), Asien (1997/98) und Russland (1998/99), der Zusammenbruch der „New Economy“ im Jahr 2001 sowie die weltweiten Turbulenzen auf den Finanzmärkten nach einem Einbruch im US-amerikanischen Immobilienmarkt im Jahr 2007. Auch rapide Veränderungen von Rohstoffpreisen oder durch Kriege ausgelöste Schocks wirken sich erheblich auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Aufgrund der großen Komplexität weltweiter Wirtschaftsverflechtungen können die Einflüsse einzelner Faktoren – und damit auch der Einfluss des Binnenmarktes – kaum zuverlässig herausgelöst werden. Die ökonomische Theorie der Integration ist nur wenig entwickelt. Sie beschäftigte sich zwar schon lange mit dem internationalen Handel (Außenhandelstheorie, Theorie der Zollunion). Die Zollunion war jedoch in der EG schon 1968, d.h. weit vor dem Binnenmarkt verwirklicht, und zur Wirkung der Aufhebung nicht-tarifärer Handelshemmnisse hatte die Wissenschaft nur wenig beizutragen. In der Handelstheorie dominierte die Sicht auf Nationalstaaten als Untersuchungseinheiten, während die Unterteilung nach Regionen und Branchen, die die Gewinner-Verlierer-Muster deutlicher abbilden kann, erst relativ spät zum Forschungsgegenstand wurde. Für die Folgen der Internationalisierung der anderen drei Grundfreiheiten Kapital, Arbeit und Dienstleistungen existieren Erklärungsansätze, die sich aber nicht auf eine jeweils breit akzeptierte theoretische Basis stützen können und zu einer Vielzahl, z.T. widersprüchlicher, Aussagen kommen. Auch ist die mögliche Wirkung einer Interaktion aller vier Grundfreiheiten bisher nur unzureichend erklärt bzw. untersucht worden. Ein Versuch, die Wirkung des Binnenmarktes festzustellen, ist der Vergleich mit einer gedachten Welt, in der das Binnenmarktprojekt nicht existiert (Counter Factual). Die Konstruktion einer solchen Vergleichswelt ist jedoch in der Tendenz willkürlich und kann auch die Komplexität des Untersuchungsfeldes nicht hinreichend berücksichtigen. Insbesondere reicht es nicht, anzunehmen, es hätte den Binnenmarkt nicht gegeben, aber die restliche Welt sei unverändert geblieben. Vielmehr müsste für eine Vergleichswelt ohne Binnenmarkt auch die Frage gestellt werden, welche anderen Mechanismen wohl installiert worden wären, um wechselseitigen Marktzugang zu erleichtern (Eichengreen, B., Boltho, A., 2008); das Maß an Willkür in der Modellierung wird in einem solchen Ansatz jedoch nicht kleiner. Eine ex ante-Abschätzung der erwarteten Wirkungen bleibt jedoch auf Annahmen zu alternativen Entwicklungen angewiesen. Eine ex post-Messung der Binnenmarktwirkungen versucht, die tatsächlich eingetretenen Wirkungen nach der Implementation festzustellen. Sie wird dadurch erschwert, dass die Effekte möglicherweise bereits im Vorfeld der Einführung des Binnenmarktes als Ankündigungs- und Vorzieheffekte eingetreten sind. Dies ist der Fall bei Unternehmen außerhalb der EU, die mit Fusionen, Allianzen und Direktinvestitionen ihre Produktionsstandorte bereits in die EU verlegt haben, bevor die durch den Binnenmarkt befürchtete Abschottung der EU gegenüber Drittländern („Fortress Europe“) greifen kann. Tatsächlich haben asiatische
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2 Der Europäische Binnenmarkt
und US-amerikanische Konzerne ihre „verlängerten Werkbänke“ frühzeitig, z.B. in Irland und Schottland, aufgestellt. Damit haben sie die bisherigen Importe von Gütern aus Drittländern durch Produktion in der EU ersetzt – der Handel mit Drittländern hat dadurch abgenommen. Wenn keine Binnenmarktwirkungen feststellbar sind, muss dies nicht die Wirkungslosigkeit des Binnenmarktes bedeuten, sondern kann an seiner verzögerten Implementation liegen. Wenn die Umsetzung noch Zeit braucht oder wenn die Statistik erst verspätet zur Verfügung steht, können mögliche Veränderungen auch erst zu einem späteren Zeitpunkt untersucht werden; dies trifft verstärkt auf Dienstleistungen zu. Im einfachsten Fall könnte man die Wirkung des Binnenmarktes durch die Entwicklung eines Indikators „vorher“ und „nachher“ vergleichen (inter-temporaler Vergleich): Wenn z.B. zwischen 1990 und 2000, d.h. seit Einführung des Binnenmarktes, das Wirtschaftswachstum zugenommen oder die Preisdifferenzierung abgenommen haben, könnte man dies als Beleg für die Wirksamkeit des Binnenmarktes halten. Es ist aber nicht gesichert, dass das Ergebnis ursächlich auf die Einführung des Binnenmarktprogramms zurückgeführt werden kann. Der Zeithorizont der Untersuchung von Binnenmarkteffekten entscheidet auch darüber, ob lediglich statische oder auch dynamische Effekte berücksichtigt werden. Kurzfristig betrachtet bleiben Produktionstechnologie, Spezialisierungsmuster und regionale Standorte der Unternehmen konstant, und der Einfluss des Binnenmarktes wird lediglich als Verstärkung oder Abschwächung von Handel oder Wirtschaftswachstum interpretiert. Anpassungen von Technologie, Veränderungen der räumlichen Verteilung von Kapital und Arbeit oder der Spezialisierung von Unternehmen erfordern Zeit, lösen aber möglicherweise erst die tiefgreifenden Veränderungen aus. Das Aggregationsniveau entscheidet mit über die Befunde: Je gröber das Untersuchungsfeld aufgeteilt wird, desto geringer sind die vermuteten oder nachgewiesenen Veränderungen durch den Binnenmarkt, da die einzelnen positiven und negativen Effekte nur saldiert verbucht werden. Wie das Beispiel zeigt, kann der Effekt sogar verschwinden: Einzelne Regionen prosperieren durch die Öffnung der Märkte, während andere negative Effekte hinnehmen müssen. Per Saldo können sich solche regionalen Verschiebungen auf der Ebene des Nationalstaates aufheben. Die Modelle für die Berechnung möglicher Integrationseffekte kommen zu deutlich unterschiedlichen Größenordnungen, da sie unterschiedliche Methoden und Daten verwenden sowie sich auf unterschiedliche Zeiträume beziehen. Es ist nicht auszuschließen, dass solche Methoden ausgewählt werden, die ein möglichst positives Ergebnis liefern; somit besteht die Gefahr der Beliebigkeit oder Willkür in den Aussagen (Tsoukalis, L., 1997:19, 69, 77; Ziltener, P., 2004). Die Interpretation der vorhandenen Studien muss im Lichte dieser methodischen Probleme und politischen Interessen erfolgen. Weiterführende Literatur
Pelkmans, J. (1980), Economic theories of integration revisited, JCMS 18 (4): 333–354.
Pelkmans, J. (2011): The Case for ‘more Single Market’, in: CEPS Policy Briefs, 234.
2.2 Den Binnenmarkt vollenden
65
Grimwalde, N., Mayes, D. G., Wang, J. (2011): Estimating the effects of integration, in: Jovanovic, M. (Ed.): International handbook on the economics of integration, Vol. III: Factor mobility, agriculture, environment and quantitative studies, Cheltenham, Northampton, 259–284.
Badinger, H., Breuss, F. (2011): The quantitative effects of European post-war economic integration, in: Jovanovic, M. (Ed.): International handbook on the economics of integration, Vol. III: Factor mobility, agriculture, environment and quantitative studies, Cheltenham, Northampton, 285–315.
2.2.3.2
Erwarteter wirtschaftlicher Nutzen
Mit welchen Ansätzen wurden die Wirkungen des Binnenmarktes vor seiner Einführung abgeschätzt? Über die wirtschaftlichen Effekte, die sich insgesamt aus der Einführung des Binnenmarktes ergeben könnten, hat die Kommission im Vorfeld der Einführung des Binnenmarktes (exante) ein umfangreiches Studienvorhaben „The cost of Non-Europe“ durchgeführt (Emerson, M. et al., 1988). Die Autoren der Studien haben versucht, aus den vermuteten Wirkungen des Binnenmarktes auf der Mikro- und Makroebene ein zusätzliches Wachstum mit entsprechenden Arbeitsplatzeffekten abzuleiten. Auf der mikroökonomischen Ebene wurde Folgendes erwartet (Checcini, P., 1988; Emerson, M. et al., 1988, Abb:125, Tab. 10.1.1):
Für Unternehmen ergeben sich, je nach Unternehmensgröße und Exportanteil, direkte Kostensenkungen durch den Wegfall von Bürokratiekosten und Zeitersparnis an den Grenzen sowie durch verringerte Entwicklungs- und Produktionskosten bei europaweit einheitlichen Standards.
Die Nutzung von steigenden Skalenerträgen und Spezialisierungsvorteilen in einem vergrößerten Absatzgebiet ermöglicht günstigere Stückkosten und damit geringere Preise.
Bei steigendem Wettbewerbsdruck unter den Anbietern können die Verbraucherpreise bei steigender Auswahl sinken; dies dürfte auch den Spielraum für Preisdifferenzierung verringern.
Die Innovationsrate kann steigen, wenn die Unternehmen Produkt- und Prozessinnovationen einsetzen, um Kosten zu senken und sich am Absatzmarkt besser behaupten zu können; das kann einen positiver Gesamteffekt auf die Wachstumsrate und die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie auslösen.
Die Effekte auf der einzelwirtschaftlichen Ebene werden von den Autoren zu makroökonomischen Effekten aggregiert. Die Begründungen für das dabei ermittelte zusätzliche Wachstumspotenzial sind:
Geringere Kosten bei Unternehmen steigern die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft.
66
2 Der Europäische Binnenmarkt
Die Liberalisierung des öffentlichen Auftragswesens senkt Staatsausgaben, vermindert dadurch den Kreditbedarf des Staates und ermöglicht dadurch Zinsensenkungen.
Sinkende Importpreise steigern die Binnennachfrage.
Sinkende Exportpreise vergrößern die Exporte und damit die Produktion und den Arbeitskräfteeinsatz.
Die Produktion steigt wegen steigender Skalenerträge und Spezialisierungsvorteilen.
Steuern können bei steigendem Wachstum und sinkenden Kreditkosten gesenkt werden.
Modellrechnungen prognostizierten, dass das europäische Sozialprodukt im Verlauf von sechs bis zehn Jahren durch die Einführung des Binnenmarktes zusätzlich um bis zu 6% wachsen könnte; die Zahl der Arbeitsplätze dürfte jedoch anfangs sinken und längerfristig nur in geringerem Maß steigen, da durch den Binnenmarkt die Wettbewerbsintensität steigt und arbeitssparende Rationalisierungen durchgeführt werden. Aufgrund der zahlreichen methodischen Probleme bleibt eine solche Schätzung jedoch mit erheblichen Unsicherheiten behaftet und kann auch langfristige Wirkungen nicht erfassen (Bretschger, L., 1997, Kapitel 2.3). Die Studien erwiesen sich später als überoptimistisch und thematisierten die Existenz möglicher Verlierer kaum, was auch darauf zurückgeführt werden kann, dass sie das geplante Binnenmarkt-Projekt auch „vermarkten“ wollten. Die regionalen Effekte einer wirtschaftlichen Integration sind erst später in den Blick der wissenschaftlichen und politischen Diskussion um den Binnenmarkt gerückt; lange war die räumliche Dimension der Effekte ohne Beachtung geblieben. Besonders der Forschungszweig der „ökonomischen Geografie“ hat diese regionalen Effekte thematisiert (Krugman, P., 1991, 1998). Als Folge des Binnenmarktes können verstärkte regionale Disparitäten erwartet werden. Auch in der politischen Diskussion wurden die möglichen negativen Effekte der Wirtschafts- und Währungsunion von den – vermeintlichen – Verlierern thematisiert und genutzt (Kapitel 4.2.2.5 und 4.2.5.1). Weiterführende Literatur
European Commission (1990), One market, one money: An evaluation of the potential benefits and costs of forming an economic and monetary union, European Economy.
European Commission (1991), The economics of EMU: background studies for European economy, No 44 ‘One market, one money’, European economy, special edition, Luxembourg.
European Commission (1996f:54–68): The 1996 Single Market review: Background information for report to the Council and European Parliament, Brussels.
European Commission (1996e): Economic evaluation of the Internal Market, European Economy, reports and studies, 4, Brussels.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
2.3
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Die „Vier Grundfreiheiten“
Welche Themen wurden (nicht) in das Binnenmarktprogramm einbezogen? Mit welchen grundsätzlichen Ansätzen sollte der Binnenmarkt verwirklicht werden? In der Diskussion um die Vollendung des Binnenmarktes bis 1992 wurde auf die „Vier Grundfreiheiten“ Bezug genommen, die schon in den Römischen Verträgen von 1957 formuliert wurden. Sie sind im AEU-V (Artikel 26,2) wie folgt definiert: „Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“. Die Grundidee besteht darin, eine Schlechterstellung von Wirtschaftssubjekten aus einem EUMitgliedsland gegenüber inländischen Wirtschaftssubjekten für unzulässig zu erklären (Diskriminierungsverbot). Im dritten Teil des AEU-V (Artikel 28–66) sind die „Vier Grundfreiheiten“ im Einzelnen geregelt, und es werden jeweils spezifische Maßnahmen zur Herstellung der Grundfreiheiten abgeleitet. Der Produktionsfaktor Arbeit sieht sich grenzüberschreitenden Barrieren gegenüber, die von mangelnder Information über fehlende Regelungen zur Anerkennung von Ausbildung und Ansprüchen an Sozialversicherungen bis zur Diskriminierung von Ausländern reichen. Auch eine Marktregulierung, die per se für ein ordnungsgemäßes Funktionieren eines Marktes erforderlich ist, kann zur Fragmentierung des Marktes entlang nationaler Grenzen führen; dies ist z.B. bei Zulassungsverfahren zu Berufen gegeben. Diese Diskriminierung kann sowohl intendiert, als auch ein verdeckter Nebeneffekt sein. Als Grundregel ist daher die Diskriminierung von selbständigen und abhängigen Erwerbspersonen aus dem EU-Ausland verboten. Zusätzlich sind Maßnahmen der positiven Integration vorgesehen, wie sie z.B. in der Bereitstellung von Informationen oder der Verbesserung von Regulierungen bestehen (Kapitel 2.3.2). Auch beim Produktionsfaktor Kapital, d.h. bei Investitionen und Finanzdienstleistungen, sind Diskriminierungen verboten und nationale Regulierungen, die wie eine Barriere wirken, sollen abgebaut werden (Kapitel 2.3.6). Der Output in Form von Gütern (Kapitel 2.3.1) oder Dienstleistungen (Kapitel 2.3.4.4) konnte grenzüberschreitend nicht ebenso wie im Inland gehandelt werden, da die Marktzulassung von ausländischen Produkten durch Zulassungshürden oder Mengenbeschränkungen erschwert wurde. Bei Dienstleistungen war dort überhaupt kein Wettbewerb möglich, wo der Staat selbst monopolistischer Anbieter war oder wo EU-Ausländern die Erbringung von Leistungen erschwert oder gar verwehrt wurde. Eine besondere Situation ist bei den netzgebundenen Dienstleistungen gegeben, die nur nach einschneidenden Veränderungen der Rahmenbedingungen für Wettbewerb geöffnet werden können (Kapitel 2.3.5). Neben einem generellen Diskriminierungsverbot sollten zur Vollendung des Binnenmarktes erstens die staatlichen Regelungen zum Marktzutritt angepasst und zweitens diejenigen Dienstleistungsbereiche, in denen staatlich geregelte Monopole den Markt beherrschten, durch Privatisierung für den Wettbewerb geöffnet werden. Dies bedeutet eine tiefgreifende Umstrukturierung wesentlicher Teile der Dienstleistungswirtschaft, bei der zudem soziale Aspekte berührt werden.
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2 Der Europäische Binnenmarkt
Die oben genannten Veränderungen dienen dem Ziel der Wettbewerbsintensivierung in der Wirtschaft; dies kann aber nur erreicht werden, wenn alle Akteure sich dem Wettbewerb stellen. So ist eine Flankierung des Binnenmarktes durch Wettbewerbsaufsicht, Subventionsabbau und wettbewerbsgerechtes Verhalten des Staates als Nachfrager unerlässlich (Kapitel 2.2.2). Die Strukturierung der Grundfreiheiten im Vertrag lässt eine überschneidungsfreie Zuordnung von Sachverhalten und Problemlagen aus einzelnen Wirtschaftssektoren oder Tätigkeiten nicht zu; z.B. sind beim Erbringen von Dienstleistungen auch Fragen der Niederlassungsfreiheit und der Freizügigkeit berührt und mit dem Verkauf von Waren oft auch darauf bezogene, anschließend zu erbringende, Dienstleistungen. Ausgeklammert aus dem Wettbewerb im Binnenmarkt bleiben weiterhin
der Agrarmarkt (Kapitel 4.1), der im Rahmen der „Gemeinsamen Agrarpolitik“ außerhalb von Wettbewerbsregeln quasi-planwirtschaftlich organisiert ist, obwohl er im Vertrag als Teil des Binnenmarktes bezeichnet wird,
die Systeme der sozialen Sicherung (Rente, Arbeitslosigkeit, Gesundheit), die allein in nationaler Zuständigkeit organisiert und finanziert werden.
alle Leistungen, die nicht am Markt mit dem Ziel der Gewinnmaximierung erbracht werden, wie z.B. staatlich finanzierte Bildung oder staatliche Gesundheitsversorgung, da dort definitionsgemäß keine grenzüberschreitende Marktverzerrung stattfinden kann.
Leistungen im Bereich Kultur, die in nationaler Hoheit verbleiben.
das Steuersystem, zu dessen Harmonisierung oder Vergemeinschaftung es keine politische Mehrheit gibt.
der Dienstleistungsbereich Verkehr, für den im Vertrag eine geteilte Zuständigkeit in ausgewählten Bereichen gesondert geregelt wird (Artikel 90–100, AEU-V).
Diese Regelungsbereiche, die für den grenzüberschreitenden Wirtschaftsaustausch relevant sind, wurden nicht in das Binnenmarktprogramm aufgenommen, da über ihre Europäisierung keine Einigung erzielt werden konnte. Einige Mitgliedsstaaten wollten in diesen Feldern ihre Handlungskompetenz nicht teilen oder gar ganz abgeben. Auffällig ist außerdem, dass die EU einerseits im Binnenmarkt den Wettbewerb als Regelungsprinzip verankert und Verstöße gegen den freien Wettbewerb zu unterbinden versucht und gleichzeitig in anderen Bereichen erhebliche Staatsinterventionen betrieb bzw. betreibt: Die gemeinsame Politik für Kohle und Stahl sowie die gemeinsame Agrarpolitik. In der Regional- und Strukturpolitik subventioniert die EU mehr oder minder erfolgreich den Ausgleich zwischen prosperierenden und weniger wohlhabenden Regionen. Die folgenden Abschnitte behandeln die einzelnen Grundfreiheiten, wobei Ergebnisse der Einführung des Binnenmarktes überwiegend für die EU-12 bzw. EU-15 dargestellt werden, da für die neuen Mitglieder, die 2004 beitraten, noch keine ausreichenden Daten und Studien vorliegen. Außerdem handelt es sich bei den mittel- und osteuropäischen Ländern aus dieser
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
69
Zehnergruppe um Transformationsländer mit speziellen Entwicklungsbedingungen; diese werden daher separat diskutiert (Kapitel 5.4). Vollendung des Binnenmarkt – Barrieren und Lösungen Produktionsfaktoren
Barrieren (nicht „natürlich“)
Allgemeine Lösung
Erwerbspersonen (abhängig oder selbst- Kapital ändig) Ungleiche und fragAnerkennung von mentierte VorschrifAbschlüssen, Recht ten und Aufsichten zur Erwerbstätigkeit, auf Finanzmärkten, Transfer von Sozialnationale Vorbehalte leistungen, Familiengegen „ausländische“ mitglieder Übernahmen
Output Güter
Dienstleistungen
Nicht-tarifäre Handelshemmnisse, mengenmäßige Beschränkungen, Zulassungsmodalitäten
Staatliches Monopol, Zugangsvorschriften. Netzbindung
Diskriminierungsverbot
Transparenz und Privatisierung und Anerkennung erleichVereinheitlichung der Harmonisierung, tern, Vermittlung, Wettbewerb, AbSpezifische Lösungen Finanzplätze und wechselseitige AnerRegulierung des grenzung der DaRegulierungen kennung seinsvorsorge Transfers von Sozialleistungen Flankierung des Binnenmarktes: – Überwachung der Einhaltung aller Regeln durch die Kommission – Wettbewerbsaufsicht (Kartellverbot, Missbrauchsaufsicht, Subventionskontrolle) – Staat muss sich als Anbieter und Nachfrager wettbewerbsoffen verhalten (Privatisierung, EU-weite Ausschreibungen von Staatsaufträgen) Funktion der Märkte verbessern: – Infrastruktur für Transport von Gütern, Diensten etc. – „gute“ Regulierung zur Verbesserung der Marktfunktion, z.B. auf Finanzmärkten oder bei digitalen Leistungen Eigene Darstellung Tab. 2-1: Vollendung des Binnenmarkt – Barrieren und Lösungen
2.3.1
Freier Warenverkehr
2.3.1.1
Erklärung des Außenhandels
Welche Positionen nehmen Wirtschaftsakteure zum Außenhandel ein? Für wen ist es vorteilhaft, Handel zu treiben? Welche Typen von Warenaustausch sind zu unterscheiden? Warum werden – vermeintlich oder tatsächlich – gleichartige Waren grenzüberschreitend gehandelt? Die Mitgliedsstaaten der EU haben ihre Grenzen für den Außenhandel mit den andern Mitgliedsländern seit 1957 in der Zollunion, die 1968 vollendet wurde, weitgehend geöffnet. Im Rahmen des Binnenmarkt-Programms war jedoch vorgesehen, den Außenhandel innerhalb der EU noch freier als bisher zu gestalten, indem auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse beseitigt werden. Bevor die Einzelheiten dieses Programms dargestellt werden, soll grundsätzlich angesprochen werden, ob und warum ein Land überhaupt seine Grenzen für Güter aus
70
2 Der Europäische Binnenmarkt
dem Ausland öffnen sollte. Dazu wird ein kleiner Exkurs in die Denkwelt der Handelstheorie unternommen, um die wesentlichen Begriffe und Argumentationen zu vermitteln. Es sei darauf hingewiesen, dass zum freien Warenverkehr nur die „anfassbaren“ Güter zählen; der Handel mit Dienstleistungen wird in der Grundfreiheit der Dienstleistungen behandelt. Warum die Grenzen für Handel öffnen? Wenn sich auch die Grundsatzfrage nach dem „Ob“ der Liberalisierung innerhalb der EU nicht mehr stellt, so fließen doch unterschiedliche Positionen zum Handel offen oder verdeckt in die weitere politische Gestaltung ein. Importe werden in der öffentlichen Debatte immer wieder als Bedrohung heimischer Arbeitsplätze bezeichnet: Wäre es nicht für ein Land am besten, wenn es die im Inland verbrauchten Güter auch selbst herstellt oder bestenfalls Güter exportiert, aber nicht importiert? Diese Frage wurde schon im Merkantilismus diskutiert, wo der Herrscher im Import von Waren den Abfluss von Reichtum in die Taschen – möglicherweise verfeindeter – Fürsten sah. Auch in der heutigen Debatte um die Globalisierung und die Beziehungen von Entwicklungs- und Industrieländern wird von den Einen auf die für alle positive Rolle eines freien Warenhandels hingewiesen, während Andere diesen als Ausdruck von Machtungleichgewichten ansehen (Bhagwati, J., 2002, 2004; Krugman, P., 1996; Stiglitz, J., 2004). Aber auch innerhalb der Industrieländer haben die unterschiedlichen Akteure in dieser Frage jeweils unterschiedliche Sichtweisen und Interessen:
Die Unternehmen wollen dort ihre Vorprodukte einkaufen und ihre Produkte verkaufen, wo sie sich den besten Ertrag versprechen. Dabei spielt die Landesgrenze aus der Sicht eines einzelnen Unternehmens nur dann eine Rolle, wenn sich daraus zusätzliche Kosten oder Hemmnisse ergeben.
Die Konsumenten wollen gemäß ihrer Präferenzen Produkte und Dienstleistungen einkaufen. Kaufentscheidend können der Preis, die Qualität und die Beschaffenheit sein; aber auch eine große Auswahl unter ähnlichen Gütern oder Produkteigenschaften wird gesucht. Im Allgemeinen interessieren die Konsumenten sich nicht für die Anteile unterschiedlicher Herkunftsländer am Gesamtprodukt, sofern die gewünschte Eigenschaft des Produkts gegeben ist.
Die Regierung eines Landes ist vorrangig an ihrer Wiederwahl interessiert und orientiert sich daher an den möglichen unerwünschten, kurzfristig sichtbaren Effekten des Handels: Wenn z.B. viele Konsumenten ausländische Produkte bevorzugen, müssen die einheimischen Produzenten Arbeitskräfte entlassen, was die öffentlichen Kassen belastet und politisch unerwünscht ist. Die Chancen der Wiederwahl würden dadurch geschmälert.
Interessengruppen versuchen Politik und Öffentlichkeit im Sinne ihrer Auftraggeber zu beeinflussen. Dies kann dazu führen, dass auf einzelnen Märkten ein „Schutzzaun“ aus Zöllen, Einfuhrkontingenten, Subventionen oder anderen Maßnahmen errichtet wird, durch den ausländische Anbieter vom einheimischen Markt ferngehalten werden. Bei-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
71
spiele sind die Landwirte, die die Öffnung der europäischen Märkte für Produkte aus Drittländern behindern. Absolute und komparative Vorteile als Rechtfertigung für Handel Angesichts der Widerstände gegen Importe soll geklärt werden, ob und warum es überhaupt vorteilhaft sein kann, die Grenzen für Warenaustausch zu öffnen. Dazu wird die gesamtwirtschaftliche Sicht auf den Außenhandel im Lichte der Theorie des internationalen Handels dargestellt, die absolute und komparative Vorteile des Außenhandels unterscheidet (Krugman, P., Obstfeld, M., 1997; Dunn, R.M., Ingram, J.C., 1996; Dieckheuer, G., 2001; Breuss, F., 2004). Ein Land kann absolute Vorteile bei der Produktion eines Gutes aufweisen, wie es bereits von dem Ökonomen Adam Smith 1776 dargestellt wurde: Es verfügt z.B. über Bodenschätze oder Produkte, die ein anderes Land nicht hat oder stellt diese billiger her als andere Länder. Durch eine Spezialisierung auf die Produktion dieser Güter kann es dann den Überschuss gegen solche Güter aus dem Ausland tauschen, die es selbst nicht erzeugen kann. Diese Theorie ist allerdings nicht ausreichend, um das Geschehen im internationalen Handel zu erklären: Wie könnten und warum sollten solche Länder, die bei keinem Produkt über absolute Vorteile verfügen bzw. die bei allen Produkten über einen absoluten Vorteil verfügen, mit anderen Ländern in Austausch treten? Darauf gab David Ricardo 1817 mit der „Theorie der komparativen Vorteile“ eine erste Antwort. Komparative Vorteile hat ein Land, wenn das Faktoreinsatzverhältnis bei der Produktion zweier Güter besser ist als in einem anderen Land. Dabei kann ein Land bei beiden Gütern einen geringeren absoluten Faktoreinsatz haben als das andere Land. Für jedes Land ist es dann von Vorteil, sich auf das Produkt zu spezialisieren, bei dem es das günstigere Faktoreinsatzverhältnis hat. Dabei wird nicht gefragt, warum ein Land günstiger produzieren kann als ein anderes, sondern die Existenz von unterschiedlichen Produktivitäten wird vorausgesetzt und es wird ausschließlich auf der Basis von Mengen (Arbeitsstunden, Liter, Ballen) argumentiert, wobei Löhne und Preise unberücksichtigt bleiben. Ein einfaches Zahlenbeispiel soll diesen Zusammenhang verdeutlichen (Tab. 2-2 nach Dunn, R.M., Ingram, J.C., 1996:14 ff.). Nehmen wir an, dass sowohl Großbritannien als auch Portugal Wein und Tuch produzieren. Großbritannien kommt in der Produktion beider Güter mit weniger Arbeitseinsatz aus: Es kann eine Einheit Wein mit 2 Arbeitsstunden herstellen, während Portugal dafür 3 Stunden braucht. Für einen Ballen Tuch braucht Großbritannien nur 4 Arbeitsstunden, während Portugal für die gleiche Menge 10 Stunden benötigt. Wir sehen aus dem Einsatzverhältnis des Produktionsfaktors Arbeit bei der Produktion beider Güter, dass in Großbritannien statt einer Einheit Wein auch eine halbe Einheit Tuch mit dem gleichen Faktoreinsatz erzeugt werden könnte, während in Portugal mit dem Verzicht auf eine Einheit Wein nur eine Drittel Einheit Tuch zusätzlich zu Stande käme. Das heißt, dass Tuch in Großbritannien – gemessen in Einheiten Wein – billiger als in Portugal produziert werden kann. Wenn sich nun in Portugal die Arbeitskräfte mehr auf Weinproduktion (+100 Stunden) und in Großbritannien auf Tuchherstellung (+50 Stunden) konzentrieren, dann gibt jedes Land
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2 Der Europäische Binnenmarkt
etwas Output bei einem Gut auf und gewinnt bei dem anderen dazu. In der Summe beider Länder ist der Output von Wein und Tuch durch die Umschichtung des Faktoreinsatzes gemäß den relativen Vorteilen gestiegen. Durch Handel zwischen beiden Ländern können die Überschussmengen ausgetauscht werden. Nach der Theorie der komparativen Vorteile ist Handel also von Vorteil für alle daran beteiligten Länder – mit einer Verweigerung der Grenzöffnung für ausländische Produkte schadet sich ein Land. Diese Argumentation liegt dem Gedanken der Handelsliberalisierung zugrunde, wie er von der Welthandelsorganisation (WTO) sowie im Binnenmarkt der EU verfochten wird. Komparative Vorteile Großbri- zusamPortugal tannien men a) Std. Arbeit pro Output-Einheit Wein 3 2 Tuch 10 4 Wein : Tuch 0,33 0,50 b) Verschiebung des Arbeitseinsatzes zwischen Wein und Tuch Wein +100 –50 Tuch –100 +50 c) Veränderung des Output wegen b) Wein 33,3 -25,0 8,3 Tuch –10,0 12,5 2,5 Nach: Dunn, R.M., Ingram, J.C., 1996:17 f. Tab. 2-2: Komparative Vorteile: Das Beispiel „Wein und Tuch“
Im Zuge der Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile der Globalisierung (Stiglitz, J., 2004) verstärkt sich die Kritik an der Theorie der komparativen Vorteile. Es wird behauptet, dass
die Handelspartner in unterschiedlichem Maße profitieren, da insbesondere die noch wenig wettbewerbsfähigen Industrien der Entwicklungs- bzw. Transformationsländer dem Wettbewerbsdruck nicht standhalten könnten und
die Annahme einer Anpassung durch Faktormobilität zu optimistisch ist und deshalb die Anpassungslasten in Form von Arbeitslosigkeit oder regionalen Ungleichgewichten nicht berücksichtigt werden.
Bisher wurde der Fall betrachtet, dass zwei Länder zwei unterschiedliche Güter, z.B. Wein und Tuch, miteinander handeln. Ein Blick in die Statistik zeigt jedoch, dass
über 3000 unterschiedliche Güter miteinander ausgetauscht werden, was den Überblick über den Handel und seine Strukturen erheblich erschwert,
auch gleichartige Güter, z.B. Tuch gegen Tuch, gehandelt werden, was auf den ersten Blick widersinnig wirkt, da dadurch ja vermeidbare Transportkosten entstehen.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
73
Um dieses Phänomen zu erklären, kann auf die Definition von Gütern in der Statistik des internationalen Handels (SITC – Standard International Trade Classification, UN) zurückgegriffen werden. Dort werden die über 3000 handelbaren Güter einer vierstufigen hierarchischen Systematik zugeordnet, in der gleichartige Waren zu Gruppen zusammengefasst werden (Hoeppner, D., 2003). Dies soll an einem Auszug aus SITC verdeutlicht werden (Tab. 2-3). Section 7: Machinery and transport equipment Division 78: Road vehicles (including air-cushion vehicles) Group 781: Motor cars and other motor vehicles principally designed for the transport of persons (other than motor vehicles for the transport of ten or more persons, including the driver), including station wagons and racing cars Subgroups 781.1 – Vehicles specially designed for travelling on snow; golf cars and similar vehicles 781.2 – Motor vehicles for the transport of persons, n.e.s. Group 782 – Motor vehicles for the transport of goods and special-purpose motor vehicles Group 783 – Road motor vehicles, n.e.s. Group 784: Parts and accessories of the motor vehicles of groups Subgroups 784.1 – Chassis fitted with engines, for the motor vehicles 784.2 – Bodies (including cabs), for the motor vehicles 784.3 – Other parts and accessories of the motor vehicles Basic headings 784.31 – Bumpers, and parts thereof 784.32 – Other parts and accessories of bodies (including cabs) 784.33 – Brakes and servo-brakes and parts thereof 784.34 – Gearboxes 784.35 – Drive-axles with differential, whether or not provided with other transmission components 784.36 – Non-driving axles, and parts thereof 784.39 – Other parts and accessories Group 785 – Motor cycles (including mopeds) and cycles, motorized and non-motorized; invalid carriages Group 786 – Trailers and semi-trailers; other vehicles, not mechanically-propelled; specially designed and equipped transport containers Source: United Nations Statistics Division: Standard International Trade Classification, Revision 3, (SITC, Rev.3), http://unstats.un.org/unsd/cr/registry/regcst.asp?Cl=14&Lg=1 Tab. 2-3: SITC – Standard International Trade Classification – Beispiel
Je tiefer die Systematik gegliedert ist, desto homogener sind die Produkte, die auf der Hierarchiestufe zusammengefasst werden, aber desto größer und damit unübersichtlicher ist auch die Datenmenge. Bei einer Aggregation steigt die Heterogenität in den Kategorien: So enthält die Untergruppe 781.1 mit Snowmobilen und Golfwagen nur Sonderfahrzeuge, während sie in der Gruppe 781 mit allen Fahrzeugen zum Personentransport zusammengefasst wird. Jedoch enthält die Abteilung 78 für Straßenfahrzeuge sowohl fertige Fahrzeuge als auch Teile dafür und Motorräder und Anhänger. Die Sektion 7 für Maschinen und Transportausrüstungen ist noch heterogener. Das Aggregationsniveau spielt bei einer Untersuchung des Handels und der Interpretation der Ergebnisse eine wichtige Rolle: Will man nicht in der Vielzahl der Informationen den Überblick verlieren, muss stärker zusammengefasst
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2 Der Europäische Binnenmarkt
werden – fasst man stärker zusammen, so werden letztlich „Äpfel und Birnen“ zusammengefasst. Je nach dem Erkenntnisinteresse der Untersuchung sind z.B. auch Zusammenfassungen von Gütern nach ihrem Technologiegehalt oder nach ihrer Arbeitsintensität üblich. Nachdem klar ist, wie die Informationen über den Außenhandel in einer hierarchischen Güterklassifikation dargestellt werden, kann die Art des Handels bestimmt werden: Es wird also gefragt, ob unterschiedliche („Wein gegen Tuch“) oder gleichartige Güter („Tuch gegen Tuch“) getauscht werden. Der Austausch unterschiedlicher Güter, d.h. solcher Güter, die in unterschiedlichen Gruppen der Klassifikation der Gütersystematik verbucht werden, wird in Übertragung des englischen Begriffs „inter industry trade“ inter-industrieller Handel genannt. Mit „industry“ wird die Branche bezeichnet. Diese Art des Handels verweist darauf, dass die Länder in der Produktion mehr oder minder spezialisiert sind, da sie absolute oder komparative Vorteile bei bestimmten Produkten haben. Dies wurde am Beispiel von Portugal und Großbritannien bereits von Ricardo verdeutlicht und kann auf aktuelle Handelsbeziehungen zwischen Ländern mit reichlichen und kostengünstigen Arbeitskräften einerseits und Hochtechnologieländern andererseits übertragen werden. So produziert Vietnam Schuhe und Textilien in arbeitsintensiven Verfahren und tauscht dafür in Deutschland Fahrzeuge und Maschinen ein, die kapital- und technologieintensiv hergestellt werden. Vom Typ inter-industriell ist also im Wesentlichen der Handel zwischen hoch und niedrig entwickelten Ländern bzw. zwischen Rohstoff besitzenden und Rohstoff verarbeitenden Ländern. Eine zweite Ursache für interindustriellen Handel kann in Skalenerträgen liegen, die die Spezialisierung innerhalb eines integrierten Marktes vorantreiben und zur Konzentration von einzelnen Industrien führen, die dann von ihrem Standort aus länderübergreifenden Handel mit einem Produkt treiben. Der überwiegende Teil des Handels findet aber innerhalb der Gruppe der hoch industrialisierten Länder statt, die nicht unterschiedliche Güter, sondern weitgehend gleiche oder ähnliche Güter austauschen. Dieser Typ von Warenaustausch wird intra-industrieller Handel genannt, weil Im- und Exporte aus der gleichen Kategorie der Warensystematik stammen (Stone, J., Hyun-Hoon, L., 1995; Aturupane, C. et al., 1999; Amiti, M., 1998; Brenton, P., 1999b). Die dabei in Austausch tretenden Länder unterscheiden sich bezüglich ihres technologischen Entwicklungsstands und ihres Pro-Kopf-Einkommens und somit in den Präferenzen der Konsumenten nur wenig. Warum treiben sie dann überhaupt Handel, statt die jeweilig gleichen Güter im eigenen Land herzustellen und zu verkaufen? Zur Erklärung dieses Phänomens muss die bisher bei der Betrachtung des inter-industriellen Handels stillschweigend gemachte Annahme vollkommener Märkte aufgegeben werden. Berücksichtigt man die folgenden Unvollkommenheiten des Marktmechanismus, so wird deutlich, warum intraindustrieller Handel wirtschaftlich Sinn macht:
Wenn die Mobilität von Arbeit eingeschränkt ist oder das Angebot an Spezialisten auf dem lokalen Arbeitsmarkt begrenzt ist, muss die Produktion jeweils dort stattfinden, wo die benötigten Arbeitskräfte verfügbar sind. Wenn dadurch keine lokale Konzentration stattfindet, sondern an räumlich verteilten Produktionsstandorten ein ähnliches Güterspektrum erzeugt wird, werden von dort aus dann ähnliche Güter grenzüberschreitend gehandelt.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
75
Wenn Güter zwar homogen zu sein scheinen, weil sie aus der gleichen Branche („industry“) stammen, aber in der Wahrnehmung des Konsumenten sich unterscheiden (z.B. französische Autos gegenüber deutschen Autos), dann führen die Präferenzen für das jeweils „ausländische“ Erzeugnis zu intra-industriellen Handelsbewegungen. Analoges gilt, wenn die Konsumenten eine Präferenz für die Auswahl unter einem vielfältigen Angebot haben und dort bevorzugt einkaufen, wo eine breite Palette in- und ausländischer Produkte angeboten wird („preference for choice“).
Der Absatz von Produkten ist vorrangig in solchen Ländern möglich, in denen der Geschmack und die Kaufkraft der Bevölkerungen vergleichbar sind (preference similarity). Deshalb treiben Länder ähnlicher Produktionsstruktur miteinander Handel mit ähnlichen Produkten. Sie werden wenig inter-industriellen Handel miteinander treiben.
Bei der Messung des intra-industriellen Handels sind allerdings auch statistische Effekte zu berücksichtigen: Wenn die verwendete Klassifikation der Güter nicht tief genug gegliedert ist, dann stammen Im- und Exporte zwar aus der gleichen Güterklasse der Handelsstatistik, aber es handelt sich dennoch um unterschiedliche Güter (Breuss, 2004:133). Dies ist z.B. der Fall, wenn Erzeugnisse unterschiedlicher Fertigungsstufen zusammengefasst werden: Die Kategorie „Fahrzeuge“ enthält sowohl Vorprodukte und Fahrzeugteile als auch fertige Fahrzeuge. Um diese Heterogenität in den Griff zu bekommen und die Zusammensetzung von Im- und Exporten zutreffend zu charakterisieren, wird der intra-industrielle Handel in zwei Typen aufgespalten: Den horizontalen und den vertikalen intra-industriellen Handel. Dazu wird gefragt, ob Im- und Exporte den gleichen Umsatzwert pro Stück (Unit Value) haben. Es wird angenommen, dass ähnliche Unit Values nur bei ähnlichen Produkten auftreten: Dieses ist horizontaler intra-industrieller Handel. Deutlich unterschiedliche Unit Values dagegen sind der Beleg dafür, dass innerhalb der gleichen Güterklasse qualitativ Unterschiedliches ausgetauscht wird. Der Handel mit Gütern aus der gleichen Kategorie aber mit deutlich unterschiedlichen Unit Values wird vertikaler intra-industrieller Handel genannt. Die Grenzziehung zwischen ähnlichen und unterschiedlichen Unit Values ist willkürlich; sie wird in empirischen Untersuchungen bei 15% Preisunterschied bei Im- und Exporten gesetzt. Wenn die Preisrelationen außerhalb dieser Grenze liegen, wird der Handel als vertikaler, innerhalb dieser Grenze als horizontaler Handel bezeichnet. Der vertikale intra-industrielle Handel spielt besonders bei zunehmender internationaler Verflechtung von Produktionsstandorten bei der „Lohnveredlung“ eine Rolle, wie an den folgenden Beispielen deutlich wird:
Die arbeitsintensive Fertigung von Kfz-Teilen (Kabelbäume etc.) wird von Deutschland in Billiglohnländer verlagert, z.B. nach Polen, das dafür in Deutschland fertige PKW kauft. Sowohl Kfz-Teile als auch fertige Kfz werden bei entsprechend hoher Aggregation in einer Kategorie zusammengefasst, wobei aber die Stückumsätze der beiden Handelsströme sich unterscheiden.
In Griechenland maschinell entworfene und zugeschnittene Stoffteile werden in Bulgarien zu Kleidungsstücken zusammengenäht, die danach in Griechenland einer Endkontrolle unterworfen und für den Versand nach Großbritannien fertig gemacht werden.
76
2 Der Europäische Binnenmarkt
Aus den verschiedenen Handelstypen lassen sich drei Gruppen bilden, denen die Handelsströme zugeordnet werden. Der inter-industrielle Handel zwischen den Ländern der EU-12 nahm seit Mitte der 80er Jahre ständig ab, wogegen der Anteil beider Arten des intraindustriellen Handels stieg; entsprechend nahm auch der numerische Wert des GLI zu. Nach den bisherigen Erklärungen für Handelsbeziehungen kann noch nicht begründet werden, warum bestimmte Länder bevorzugt miteinander Handel treiben, wenn die gleichen ökonomischen Konstellationen auch gegenüber anderen Ländern bestehen. Hierfür wird im „Gravitationsansatz“ das Kriterium der „Nähe“ herangezogen (Brenton, P., 1999b:27 ff.; Schumacher, D., Trübswetter, P., 2000; Baldwin, R.E., 1994; Schumacher, D., 2003):
Geringe Entfernungen halten die Transportkosten niedrig,
die Sprache ist vertraut (Melitz, J., Toubal, F., 2012) und es hat sich ein ähnliches Rechts- und Regelungssystem herausgebildet, was Kommunikation und Verhandlungen erleichtert,
die kulturelle Nähe hilft, den Geschmack der Kunden zu treffen,
im Verlauf einer gemeinsamen Geschichte sind wirtschaftliche, politische und persönliche Beziehungen gefestigt worden, auf deren Grundlage Geschäftsbeziehungen leichter möglich sind,
Vertrauen gegenüber dem Land des Handelspartners stärkt die wirtschaftlichen Beziehungen (Guiso, L.et al., 2005).
Intra-industrieller Handel Zur Messung des intra-industriellen Handels wird der Grubel-Lloyd-Index (GLI) eingesetzt (Grubel, H., Lloyd, P.J., 1975; Krugman, P. , Obstfeld, M., 1997:138 ff.; Brülhart, M., 1998): GLIj = (Xj + Mj – Xj – Mj) / (Xj + Mj) mit: X Exporte M Importe j Industriezweig Der GLI nimmt den Wert Null an, wenn die Arbeitsteilung in einem Industriezweig zwischen dem exportierenden Land und seinen Handelspartnern vollständig ist, d.h. wenn die exportierten und importierten Güter vollkommen unterschiedlich sind („Maschinen gegen Textilien“). Entsprechend zeigt der Wert 1 an, dass Ex- und Importe sich aus den gleichen Gütern zusammensetzen. Das absolute Niveau des GLI wird vom Aggregationsniveau der Handelsdaten mit bestimmt. Diese Elemente der „Nähe“ sind geeignet, die Transaktionskosten zwischen Geschäftspartnern zu senken, so dass es wirtschaftlich attraktiver ist, mit „nahen“ Ländern Handel zu treiben. Empirisch lässt sich dieser Effekt z.B. an der Entwicklung des Handels zwischen den Beitrittsländern in Mittel- und Osteuropa und den bisherigen Mitgliedsstaaten der EU zeigen:
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
77
Deutschland und Österreich haben intensive Handelsbeziehungen mit Polen, Tschechien und Ungarn entwickelt, während Bulgarien mit Griechenland enger zusammenarbeitet. Ebenso ist zwischen den baltischen Staaten und Finnland sowie Schweden ein engerer Marktaustausch nachweisbar. Perspektivwechsel: Globale Unternehmensnetzwerke (Global Value Chain) Die Handelstheorie der Wirtschaftswissenschaften konzentrierte sich anfangs auf die Begründung für eine Beseitigung von Handelsschranken, wie sie im Merkantilismus von den Fürsten errichtet wurden. Die Theorie absoluter bzw. komparativer Handelsvorteile will zeigen, dass alle am Handel beteiligten Länder von einer Öffnung ihrer Grenzen profitieren: Eine „Win-win-Situation“. Dieses vorherrschende Paradigma wurde und wird immer wieder in Frage gestellt. Kritiker der Globalisierung und des freien Handels verweisen darauf, dass nicht alle Länder in gleichem Maße profitieren; vielmehr seien es die wirtschaftlich starken Länder, die die armen Länder auch durch freien Handel dominieren. Außerdem erweitert sich die herkömmliche Sicht auf den Handel, die den wirtschaftlichen Austausch zwischen Nationalstaaten untersuchen, durch die Betrachtung von „globalen Wertschöpfungsketten“, in denen in Netzwerken von miteinander kooperierenden Unternehmen Produkte hergestellt und vertrieben werden (Gereffi, G., 2001, 2006; Baldwin, 2006a; Grossman, G. M., E. Rossi-Hansberg, 2006). Wenn durch „offshoring“ die Wertschöpfung an verschiedenen Orten der Welt stattfindet und die Zwischenprodukte zur Weiterverarbeitung in einem Unternehmensnetzwerk weitergereicht werden, entsteht statistisch gesehen grenzüberschreitender Handel. Dieser Veredelungshandel umfasst schätzungsweise 25% des gesamten Handels. Wegen der weltweiten Verteilung der Wertschöpfung konkurrieren nunmehr Arbeitskräfte weltweit gegeneinander. Weiterführende Literatur
Krugman, P., Obstfeld, M. (1997): International economics: Theory and policy, New York.
Falvey, R. E. (Ed.) (1998): Recent developments in international trade theory, The International library of critical writings in economics, 185, Cheltenham.
Gereffi, G., Fernandez-Stark, K., Psilos, P. (2011), Skills for Upgrading: Workforce Development and Global Value Chains in Developing Countries, Durham, NC.
Sturgeon, T. J., Biesebroeck, J. v., Gereffi, G. (2008): Value chains, networks, and clusters: Reframing the global automotive industry, in: ITEC Working Paper Series, 08-02, March, 37.
Coe, N. M., Dicken, P., Hess, M. (2008), Global production networks: realizing the potential, Journal of Economic Geography, 271–295.
78
2 Der Europäische Binnenmarkt
2.3.1.2
Abbau von Handelshemmnissen
Worin bestehen und wie wirken nicht-tarifäre Handelshemmnisse? Reicht es für den freien Handel aus, ein Importgut nicht zu diskriminieren? Zahlreiche Barrieren behindern den wettbewerbsorientierten Güteraustausch Internationaler Handel soll zwar zum Vorteil aller Beteiligten sein, aber dennoch gibt es eine Vielzahl von Barrieren für den freien, grenzüberschreitenden Güteraustausch. Die lange Tradition der Behinderung des freien Güteraustauschs durch einzelne Staaten, soll die „eigenen“ Industrien vor der ausländischen Konkurrenz schützen. Hier soll zwischen Behinderungen an der Grenze und denen im Innenland unterschieden werden:
An der Grenze: – – – – – – –
Zölle und Beschränkungen der Mengen, die zur Ein- bzw. Ausfuhr zugelassen werden (Quoten), verzerren die Marktpreise, Forderung der Einhaltung einheimischer technischer Produktstandards durch importierte Waren, Mangel an Transport- und Lagerkapazitäten, Anti-Dumping-Zölle auf Importe, die angeblich unfair erzeugt und zu billig sind, Zu geringe Abfertigungskapazitäten der Behörden für Importe, Korruption, Bürokratische Anforderungen,
Hinter der Grenze im Land: – – – – –
Subventionierung von einheimischen Produzenten, Mangel an Transport- und Lagerkapazitäten, Korruption, Bürokratische Anforderungen, Mangel an Labor- und Testkapazität, um Produkte zu zertifizieren.
Nicht zu Handelsbarrieren im engeren Sinne zählen kulturelle Faktoren, bestehende, z.T. historisch gewachsene Handelsbeziehungen sowie die Präferenzen der Kunden für vertraute einheimische Produkte. Diese können jedoch auch die Handelsströme beeinflussen. Um die Senkung oder Beseitigung einiger dieser Handelsbarrieren wird in der Welthandelsorganisation WTO gerungen; besonders um die Senkung oder gar Beseitigung von Zöllen und Mengenbeschränkungen drehen sich die Verhandlungen. Nicht-tarifäre Handelshemmnisse sind in der EU verboten In der EU sind die Gütermärkte zwischen den EU-Mitgliedsstaaten weitgehend offen, wenn auch eine vollständige Freigabe immer noch nicht gelungen ist. Diese Öffnung erfolgte in mehreren Stufen über einen langen Zeitraum. Im Jahr 1958 wurde eine Zollunion zwischen den Mitgliedsstaaten vereinbart, die 1968 vollständig umgesetzt war. Damit durften innerhalb der EU keinerlei Zölle mehr erhoben werden und außerdem mussten alle EU-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
79
Mitgliedsstaaten gegenüber Drittländern einen einheitlichen Außenzoll erheben. Die an den Außengrenzen erzielten Zolleinnahmen stehen der EU, nicht den Mitgliedsstaaten, zu. Es dürfen aber auch keine anderen, zollgleichen finanziellen Belastungen beim Grenzübertritt eines Gutes erhoben werden, auch wenn diese nicht Zölle genannt werden. Weiterhin sind mengenmäßige Ein- oder Ausfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedsstaaten verboten (Artikel 28–33, AEU-V). Allerdings war auch nach der Einführung der Zollunion und dem Verbot anderer Beschränkungen der Handel zwischen den EU-Mitgliedsländern noch nicht frei von Barrieren, da jedes Land das Recht behielt zu entscheiden, welche Vorgaben die einzelnen Produkte erfüllen müssen, um in dem Land rechtmäßig in Verkehr gebracht zu werden. Dazu zählen z.B. technische Vorschriften, Normen und Standards sowie Sicherheitsauflagen. Diese Regulierungen können sich von Land zu Land für ein und dasselbe Produkt unterscheiden. Dadurch werden die Produzenten zur Herstellung von Produktvarianten für die verschiedenen Märkte der einzelnen Zielländer gezwungen. Sie haben dann höhere Kosten und können weniger Skalenerträge nutzen. In der Konsequenz könnten Produzenten auf den Zugang zu ausländischen Märkten verzichten bzw. die Käufer könnten sich dazu veranlasst sehen, eher einheimische Substitutionsprodukte nachzufragen. Diese nationalen Unterschiede wirken wie nichttarifäre Handelshemmnisse (NTH). Sie verzerren die Handelsströme, die wegen dieser Barrieren anders fließen als sie es bei unverfälschtem grenzüberschreitendem Wettbewerb täten. Der Anteil des Warenhandels, der vor 1992, d.h. vor der Einführung der Binnenmarktvorschriften von solchen Barrieren betroffen sein konnte, wurde mit 79% des innereuropäischen Handels angegeben. Selbst nach der Implementierung des Binnenmarktes waren im Jahr 1995 noch 46% des Handels von Barrieren betroffen (European Commission, 1998a, Kapitel 19 und Tab. 1.3, 1.4). Diese nicht-tarifären Handelshemmnisse sind im Binnenmarkt verboten. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist sogar jede Regelung staatlicher Stellen, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell, gewollt oder ungewollt zu behindern, verboten (Geiger, R., 2000:232 f.). Damit ist jede offene oder verstecke Diskriminierung von Importware verboten, wie sie z.B. durch das Verlangen von Echtheitszertifikaten oder das Setzen von Quoten für einheimische Lieferungen bei öffentlichen Aufträgen gegeben sein kann. Aber sogar dann, wenn einheimische und ausländische Waren unterschiedslos den gleichen Vorschriften unterworfen werden und somit ausländische Ware nicht diskriminiert wird, kann eine verbotene Handelsbeschränkung vorliegen, wie die beiden Beispiele zeigen:
Das deutsche Reinheitsgebot für Bier darf nicht den Import von andersartig hergestelltem Bier behindern.
Vorschriften für den Mindestalkoholgehalt in Likör dürfen nicht zum Importverbot von schwächerem, französischem Likör führen („Cassis-de-Dijon“-Urteil, EuGH, 20.2.79, C-120/78).
80
2 Der Europäische Binnenmarkt
Darin findet das von der Rechtsprechung entwickelte, weiter gehende Beschränkungsverbot seinen Ausdruck: Die Mitgliedsstaaten müssen es hinnehmen, wenn in anderen Mitgliedsstaaten andere Vorschriften gelten. Es gilt der Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung: Was in einem EU-Land für den Markt zugelassen ist, darf auch in allen anderen Mitgliedsländern verkauft werden. Der Artikel 30 verpflichtet die Regierung eines Mitgliedsstaates dazu, alle zulässigen und erforderlichen Maßnahmen gegen die Störung des freien Warenverkehrs zu ergreifen. In seinem „Erdbeer-Urteil“ (C-265/95, 9.12.1997) sieht der EuGH die französische Regierung als zu nachsichtig gegenüber französischer Bauern an, die mit ihren Aktionen Lieferungen von Obst und Gemüse aus Spanien an der Grenze gewaltsam verhindert hatten. Die französische Polizei ist verpflichtet, den spanischen Erdbeer-Lieferungen den Transportweg auf den französischen Markt frei zu machen. Dazu wurde 1998 die EU-Regulierung 2679/98 verabschiedet, in der die Regierungen der Mitgliedsstaaten sich verpflichten, ernsthafte Behinderungen des grenzüberschreitenden Güterverkehrs nicht nur zu melden, sondern auch unverzüglich zu beseitigen. Dazu zählen auch Demonstrationen des Missfallens in der Bevölkerung – z.B. weil es Bedenken gibt gegen eine möglichen Umweltgefährdung oder den Verlust von Arbeitsplätzen. Ob und wie gut die Beseitigung solcher Hindernisse durch die nationalen Regierungen funktioniert, wurde im Jahr 2005 evaluiert. Es zeigten sich noch erhebliche Defizite bei der Beseitigung von Störungen des Handelsverkehrs. (GHK, Technopolis, 2007). Nur bei „zwingenden Gründen“ können Bestimmungen des Ziellandes die Einfuhr von Waren begrenzen. Artikel 36 AEU-V benennt abschließend die Ausnahmefälle nichtwirtschaftlicher Art: Schutz von öffentlicher Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, Gesundheit, Leben, Kulturgütern oder Eigentum (Patente, Geschmacksmuster etc.). In der Rechtsprechung des EuGH werden nur Maßnahmen im Allgemeininteresse, wie Umwelt- und Arbeitsschutz anerkannt (Geiger, R., 2000:234 ff.). Der Mitgliedsstaat, der sich auf einen dieser Ausnahmetatbestände berufen will, trägt die Beweislast dafür, dass sich dahinter keine verschleierte Handelsbeschränkung oder Diskriminierung ausländischer Anbieter versteckt. Die Verhältnismäßigkeit der Anwendung muss gewahrt sein: Wenn z.B. eine Produktkennzeichnung ausreicht, darf kein Verkaufsverbot verhängt werden. Cannabis ist kein frei handelbares Gut Die niederländische Grenzstadt Maastricht hat Coffee-Shops, in denen Niederländer geduldet Cannabis konsumieren, geschlossen, um den Zustrom eigens zum Drogenkonsum anreisender Touristen einzudämmen. Ab Mai 2012 darf nach einem Beschluss der niederländischen Regierung Cannabis nur noch an Personen mit niederländischem Pass verkauft werden. Dies ist mit dem freien Binnenmarkt vereinbar, da es sich bei Cannabis nicht um ein legal gehandeltes Gut handelt. (C 137/09, Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 15. Juli 2010).
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
2.3.1.3
81
Vereinheitlichung technischer Standards
Wofür können technische Standards sinnvoll sein? Warum stellen Sicherheitsstandards ein Handelshemmnis dar? Was sagt das CE-Zeichen aus, und worin besteht sein Nutzen? Funktioniert die wechselseitige Anerkennung? Die Leistung, die ein Produkt vollbringt, kann auf vielfältigen technischen Konzepten beruhen, für die eine Vielzahl von Materialien zum Einsatz kommen kann. Generell kann jedes Unternehmen seine Innovationskraft hier für eine Lösung einsetzen, mit der es hofft, die Konkurrenz schlagen zu können. Diese Vielfalt der Lösungen ist einerseits ein Element des Wettbewerbs und andererseits eine Herausforderung bei solchen Produkten, deren Marktzutritt von einer behördlichen Genehmigung abhängt. Diese wird dann benötigt, wenn der Konsument vor Gefahren geschützt werden soll, die er nicht selbst einschätzen kann. Weiterhin ist die Vielfalt der technischen Lösungen dann unerwünscht, wenn die Kompatibilität des Produkts mit anderen Produkten oder Komponenten gewünscht wird. In solchen Fällen ist es sinnvoll, dass sich die Hersteller auf einen gemeinsamen technischen Standard – zumindest für die Schnittstellen der Produkte mit einem übergeordneten System – einigen. Standards haben auch den Effekt einer Marktvergrößerung: Sobald ein Standard in vielen Ländern festgelegt ist, können die Produzenten mit einem Produkt einen wesentlich größeren Markt bedienen, ohne dass sie Varianten herstellen müssten; sie können damit eher Skalenerträge erzielen. Standards sind daher auch für den Binnenmarkt von Bedeutung (EXPRESS, 2010; European Commission, 2011r; Swann, G. M. P., 2000):
Sicherheitsstandards, die von nationalen Behörden mit Gültigkeit innerhalb des Landes spezifiziert werden, können ausländische Anbieter behindern.
Produktstandards, wie sie von privaten Organisationen der Industrie auf freiwilliger Basis vereinbart werden können, haben das Potenzial zur Öffnung des Binnenmarktes für mehr Wettbewerb.
Trotz des Diskriminierungs- und Beschränkungsverbots im innergemeinschaftlichen Warenhandel fließt dieser nicht ungehindert; in der Praxis gibt es immer wieder erhebliche Probleme. Diese liegen auch in den technischen Produktvorschriften, die der Sicherheit und dem Schutz des Verbrauchers dienen sollen, wie z.B.
Sicherheits- und Gesundheitsauflagen (Steckdosen, Abschaltung von Gaskochern, Warnsignale an Maschinen usw.),
Verpackungsvorschriften (Zwingende Informationen auf der Verpackung, Inhaltsangaben),
Zulassungsverfahren für Arzneimittel,
82
2 Der Europäische Binnenmarkt
Inhaltsvorschriften (Reinheitsgebot beim deutschen Bier, Hartweizen in italienischer Pasta usw.),
sicherheitsrelevante Bauvorschriften.
Wenn nun die Sicherheitsstandards des Herstellerlandes im Zielland nicht bekannt oder nicht anerkannt sind, so kann das Produkt nicht grenzüberschreitend verkauft werden. Die einfachste Lösung wäre der Grundsatz, dass ein Produkt, das in einem Mitgliedsstaat legal in Verkehr gebracht wurde, auch in alle anderen legal eingeführt werden darf. Allerdings könnte sich daraufhin ein unerwünschter Wettlauf um die niedrigsten Standards entwickeln: Das Land mit den niedrigsten Schutzanforderungen wäre der beliebteste Ort für die Produktion bzw. Zulassung, und von dort könnten Produkte dann frei in der EU zirkulieren. Stattdessen wurden für die Probleme mit den national unterschiedlichen Standards drei Lösungen in der EU entwickelt (European Commission, 1998a; Pelkmans, J.et al., 2000; Egan, M.P., 2001; Pelkmans, J., 2003:19, 26): 1.
Harmonisierung der Standards („Alter Ansatz“)
2.
Harmonisierung der Zulassungsverfahren und Bescheinigung der Konformität mit den europäischen Sicherheitsstandards sowie das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung („Neuer Ansatz“)
3.
Zentralisierung der Zulassung in einer europäischen Behörde
Beim „alten Ansatz“ versuchte die EU nach Artikel 114 und 115 AEU-V eine Harmonisierung bei den Produkten durch detaillierte Vorschriften durchzuführen: Die sicherheitstechnischen Anforderungen an jedes davon erfasste Produkt sowie die Testverfahren zu deren Überprüfung werden durch die EU in allen Einzelheiten festgelegt; sie gelten dann europaweit. Es werden also die technischen Spezifikationen eines Produktes festgelegt, durch die seine Sicherheit gewährleistet werden soll. Dieses Verfahren ist jedoch so langwierig und aufwändig, dass sich in den 80er Jahren zahlreiche Fälle aufstauten. Die lange Dauer war auch auf zahlreiche verdeckte Interessen von Herstellern in verschiedenen Ländern zurückzuführen, die versuchten, diejenigen technischen Lösungen durchzusetzen, von denen sie sich den größten Vorteil versprachen. Angesichts der erforderlichen Einstimmigkeit gerieten die Lösungen zu detailliert und kompliziert (Pelkmans, J., 2006:81). Außerdem behinderte die Festlegung der technischen Lösungen den Wettbewerb durch Technik sowie die rasche Einführung neuer Technologien, da andere technische Lösungsansätze nicht zulässig waren. Ein neues Vorgehen für die Mehrzahl der Produkte wurde erforderlich. Nur in einigen Branchen (Autos, Nahrungsmittel, Arzneimittel und Chemieprodukte) schreibt die EU noch einheitliche Spezifikationen nach dem Verfahren der Harmonisierung vor. Der „neue Ansatz“ verzichtet auf die Harmonisierung der detaillierten technischen Sicherheitsvorschriften für jedes einzelne Produkt. Stattdessen werden die Sicherheitsanforderungen in allgemeiner Form formuliert und für alle Länder der EU als verbindlich festgelegt. Daraufhin kann jeder Hersteller die technischen Spezifikationen, mit denen er die Anforderungen erfüllen will, selbst festlegen. Das Ergebnis wird also in Form eines hohen und EUeinheitlichen Sicherheitsniveaus festgelegt; die technischen Konzepte und Verfahren zur Erreichung dieses Sicherheitsniveaus werden nicht mehr vorgeschrieben, sondern liegen in der
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
83
Hand des herstellenden Unternehmens. Weiterhin gilt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der Grundsatz, dass ein Produkt in der gesamten EU verkauft werden darf, wenn es in einem der EU-Länder legal in Verkehr gebracht wurde („wechselseitige Anerkennung“). Die Grundlage für die nationale Zulassung bilden in der Regel nationale Normen, wie die DIN in Deutschland (Hartlieb, B., 2003). Um sicher zu stellen, dass nicht in einzelnen Ländern zu geringe Sicherheitsanforderungen gelten, die dann das Sicherheitsbedürfnis in anderen Ländern verletzen, wurden Mindeststandards für Gesundheitsschutz und Sicherheit bei den zulassungspflichtigen Produkten festgelegt. Diese wurden von den internationalen Normungsorganisationen CEN (European Standardization Committee), CENELEC (European Electrotechnical Standardization Committee), ETSI (European Telecom Standards Institute) entwickelt. Die europaweit gültigen Normen EN ( European Norms) mit detaillierten technischen Beschreibungen dienen dafür als Maßstab. Alternativ dazu konnten auch einfachere Verfahren zur Anwendung kommen, wenn von dem Produkt nur ein geringes Gefährdungspotenzial ausgeht. Für Test und Zertifizierung von Produkten stellt EOTC (European Organization for Testing and Certification) die institutionelle Infrastruktur dar. Sobald ein Produkt die europaweit einheitlichen Tests erfolgreich durchlaufen hat, wird ihm seine „Europäische Konformität“ mit dem CE-Zeichen bescheinigt; es stellt kein Güte- oder Qualitätssiegel dar, sondern bescheinigt die Konformität des Produkts mit den europäischen Sicherheitsstandards (Conformité Européenne). Die bisherigen Fortschritte bei der Etablierung europaweiter Standards waren zu Beginn allerdings nicht zufriedenstellend. So ist der Zeitbedarf für die Verabschiedung einer Norm durch die CEN von 4,5 Jahren im Jahr 1995 auf acht Jahre im Jahr 2001 angestiegen (Europäische Kommission, 2001a). Dieser Zeitverlust führte nicht nur zu steigenden Kosten für die Normungsorganisationen, die überwiegend von privaten Beiträgen getragen werden, sondern behinderte auch den raschen Marktzugang der produzierenden Unternehmen. Weiterhin entwickeln die nationalen Behörden laufend neue Zulassungsvorschriften, z.B. für neue Produkte, die dann erst wieder auf der europäischen Ebene nach dem neuen Verfahren behandelt werden müssen. Um dieses ständige Nachwachsen neuen Regelungsbedarfs zu begrenzen, hat die EU in einer Richtlinie (98/34) festgelegt, dass nationale Regulierer die Europäische Kommission vorher über geplante neue Regulierungen informieren müssen. Diese kann dann die neue Regulierung verbieten oder selbst zu diesem Thema tätig werden, indem eine Regulierung gleich auf europäischer Ebene erlassen wird. Ein schlauer Trick: CE = Chinese Exports Im Europäischen Parlament wurde im November 2007 darauf hingewiesen (P-5938/07), dass ein Zeichen auf Produkten aufgetaucht sei, das optisch genau dem europäischen CEZeichen entspräch, jedoch nicht „Conformité Européenne“, sondern „Chinese Exports“ bedeute. Dies wurde als Irreführung der Verbraucher bezeichnet. Offensichtlich hat die EU versäumt, ihr CE-Zeichen gegen irreführenden Gebrauch schützen zu lassen.
84
2 Der Europäische Binnenmarkt
Mit der Festsetzung von Europa-Normen, deren Überwachung in nationaler Verantwortung liegt, verlagerte sich das Problem auf eine höhere Stufe: Es ist nicht sicher, dass die Testund Überwachungsverfahren in allen Ländern vergleichbar sind. Die nationalen Behörden haben das Recht, sich darüber zu informieren, ob das Importprodukt, das nach anderen Testverfahren und Vorschriften zugelassen wurde, auch tatsächlich den europaweit vorgeschriebenen Sicherheitsstandards entspricht. Zwar sollen auch die jeweiligen nationalen Standards bei den Testverfahren wechselseitig anerkannt werden, aber in der Praxis tritt häufig auch das Problem auf, dass die nationalen Behörden nicht einschätzen können, ob sie sich auf die Prüfberichte aus anderen Ländern verlassen können. Es besteht sogar der Verdacht, dass einzelne nationale Behörden entweder unfähig sind oder in böswilliger Absicht die Anerkennung verzögern oder gar verweigern (Europäische Kommission, 1999a:6 f.; European Commission, 2002i). Wenn der Exporteur auf die Entscheidung nicht lange warten kann, muss er stattdessen die für den Export vorgesehenen Produkte an die jeweiligen nationalen Vorschriften anpassen. Dies bringt zusätzliche Kosten und Zeitverluste für den Exporteur mit sich, da er z.B. die Dokumentation anpassen, unterschiedliche Ersatzteile für den Service vorhalten, Änderungen an Verpackung und Beschreibungen vornehmen sowie Tests und Nachweise für die Zulassung in jedem Land erneut erbringen muss. Damit gehen die vom Binnenmarkt-Programm angestrebten Skalenerträge durch die Fragmentierung des Marktes in Produktvarianten verloren. Die Kommission hat daher vorgeschlagen, die Beweislast für europäische Konformität umzukehren, so dass künftig der Mitgliedsstaat, der den Verkauf eines anderswo zugelassenen Produkts verwehren will, die Berechtigung dafür nachweisen muss. Im Frühjahr 2007 hat die Kommission Richtlinienentwürfe dazu vorgelegt („Binnenmarkt für das 21ste Jahrhundert“), denen EU-Parlament und Rat als Gesetzgeber weitgehend gefolgt sind. Damit traten ab dem Jahr 2010 erhebliche Erleichterungen im innereuropäischen Warenverkehr in Kraft. Im Bausektor ist die Dominanz nationaler Sicherheitsvorschriften auch bei bestehendem CE-Zeichen besonders ausgeprägt. Damit wird in der Praxis dem Geist des Binnenmarktes zuwider gehandelt. Eine europaweite Befragung von Unternehmen (Europäische Kommission, 2001a) erbrachte, dass viele Unternehmen mit der geltenden nationalen und europäischen Rechtslage unzufrieden sind und ein erhebliches Einsparungspotenzial durch eine verbesserte Praxis bei der Regulierung des internationalen Warenhandels sehen. Der durch eine Beseitigung aller Normungsprobleme zusätzlich ausgelöste Handel dürfte nach einer Modellrechnung allerdings nicht mehr als 1,8% des BIP ausmachen. Für bestimmte biotechnologisch hergestellte oder auf die Verwendung in der Landwirtschaft zielende Arzneimittel wurde die Europäische Zulassungsbehörde EMEA (Evaluation of Medicinal Products) gegründet. Im Sommer 2001 hat die Kommission eine Weiterentwicklung des Rechtsrahmens für die Arzneimittelzulassung in Angriff genommen, da die wechselseitige Anerkennung nicht funktioniere, sondern die Ausnahmen zur Regel gemacht würden: Die nationalen Behörden finden nach Auffassung des Europäischen Verbandes der Arzneimittelhersteller zu oft Gründe, trotz der bereits in einem Mitgliedsland erfolgten Zulassung noch eine jeweilige nationale Zulassung zu fordern. Eine Lösung könnte darin bestehen, dass alle Arzneimittel bei der Europäischen Arzneimittelbehörde in London zugelassen
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
85
werden; gegen diesen als zentralistisch bezeichneten Ansatz gibt es jedoch Widerstand aus den Mitgliedsstaaten. Zusammenfassung und Überblick über die Schritte zur Handelsintegration Die Schritte zur Handelserleichterung im Binnenmarkt versuchten jeweils die Mängel der vorhergehenden Regelung zu beseitigen: 1.
Zollunion, d.h. Wegfall der Zölle innerhalb der EU sowie einheitlicher Außenzoll,
2.
Erleichterung des Marktzugangs durch Harmonisierung von Standards scheitert,
3.
Wechselseitige Anerkennung der Zulassungen durch nationale Behörden, basiert auf gemeinsamen Mindeststandards für Sicherheit (CE-Zeichen),
4.
Überprüfung der Zulassung durch die Behörden anderer Mitgliedsstaaten stößt auf Kommunikationsprobleme und Vertrauensmangel,
5.
Einführung einer Infrastruktur zur Verbesserung der Kommunikation der Behörden.
Weiterführende Literatur
European Commission (2011r): Impact assessment, in: Commission staff working paper, SEC(2011) 671 final.
European Commission (2011s): A strategic vision for European standards: Moving forward to enhance and accelerate the sustainable growth of the European economy by 2020, in: Communication from the Commission, COM(2011) 311 final.
EXPRESS (2010): Standardization for a competitive and innovative Europe: a vision for 2020 (EXP 384 final), Expert panel for the review of the European standardization system.
2.3.1.4
Erwartete Handelseffekte des Binnenmarktes
Wie werden sich die Handelsströme durch den Binnenmarkt verändern? Welche Maßnahmen werden Unternehmen bald, welche erst später ergreifen? Mit welchen Indikatoren können die Effekte des Binnenmarktes auf den Handel gemessen werden? Wie wurde die Betroffenheit einzelner Branchen und Länder vor der Vollendung des Binnenmarktes eingeschätzt? Durch die Vollendung des Binnenmarktes werden innerhalb der EU nicht-tarifäre Handelsschranken beseitigt. Dadurch dürften verschiedene Effekte eintreten, die die Handelsbeziehungen zwischen den Ländern verändern. Analog zur Beseitigung von Zöllen wird angenommen, dass zusätzlicher Handel geschaffen wird und Handel zwischen Ländern umgelenkt wird (Allen, C. et al., 1998:443 ff.):
86
2 Der Europäische Binnenmarkt
Handelsschaffend wirkt der Ersatz eigener Produktion durch Importgüter, die aus dem EU-Ausland oder Drittländern eingeführt werden. Wenn der steigende Wettbewerbsdruck zu sinkenden Preisen führt, kann sich außerdem der Konsum von Gütern – auch von importierten – vergrößern.
Handelsumlenkung findet statt, wenn die EU-Mitgliedsstaaten mehr Güter aus dem EUAusland statt aus Drittländern einführen: Die EU ist ein regionaler Handelsblock, der den Handel innerhalb des Blocks vor dem Handel mit Drittländern bevorzugt. Dies führt zur Umlenkung von Handelsströmen, wie sie sich bei völlig freiem Welthandel ergeben würden, zu Gunsten der Mitglieder im Handelsblock. (Kokko, A. et al., 2005).
Also kann vermutet werden, dass das Handelsvolumen steigt und dass die EUMitgliedsstaaten füreinander als Handelspartner an Bedeutung gewinnen: Der Anteil des innereuropäischen Handels am gesamten Warenaustausch und der Anteil importierter Güter am inländischen Verbrauch müsste zunehmen (Sapir, A. 1996). Die ökonomische Regel des einen Preises (William Stanley Jevons) behauptet, dass sich durch Wettbewerb im Idealfall ein einziger Preis für ein Gut einstellt, von dem es nur noch aufgrund von „natürlichen“ Einflüssen wie Entfernungen und Transportkosten Abweichungen gibt. Entsprechend müssten sich bei der Vollendung des Binnenmarktes die Preise der handelbaren Güter EU-weit angleichen. Die Entwicklung der Preisdifferenzierung kann daher als Indikator für das Funktionieren des Marktmechanismus herangezogen werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass durch Einflüsse wie regionale Konsumentenpräferenzen, wirtschaftliche Macht im Vertriebssystem, staatliche Preisregulierung, Marktsegmentierung, Marktzutrittsschranken oder Anbieterkartelle der Marktmechanismus gestört werden kann. Auch die Notwendigkeit zur räumlichen Nähe zwischen Anbieter und Nachfrager, wie sie z.B. bei personenbezogenen Dienstleistungen gegeben sein kann, schränkt die Handelbarkeit und damit den Preisausgleich ein. Aber selbst bei homogenen Produkten, die durch steigende Skalenerträge und geringe Marktzutrittsbarrieren charakterisiert sind, dürfte der Binnenmarkteffekt auf die Preisdifferenzierung gering sein, da schon vorher Wettbewerb möglich war. Dieses Ergebnis trifft auf solche Märkte zu, auf denen weiterhin das Zusammenspiel von Anbietern die mögliche Wettbewerbsintensität dämpft. Bei der Untersuchung der Preisdifferenzierung ist zu berücksichtigen, dass die Steuern und Abgaben auf einzelne Produktgruppen in den Mitgliedsstaaten sich stark unterscheiden; sie können die Streuung und deren Entwicklung beeinflussen. Es ist zu erwarten, dass sich die Vollendung des Binnenmarktes im Zeitablauf unterschiedlich auswirkt, da nicht alle Unternehmen die Anpassung sofort und schnell durchführen und außerdem bestimmte Anpassungsmaßnahmen zuerst ergriffen werden (Dierx, A. et al., 2002:14 ff):
Kurzfristig steigt durch Marktreaktionen die Wettbewerbsintensität, und neue Anbieter treten auf den Markt, wodurch Preisdifferenzierung und Gewinnspannen zurückgehen.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
87
Mittelfristige Veränderungen des Verhaltens von Unternehmen werden zu beobachten sein, was sich in Effizienzsteigerungen und steigender Internationalisierung niederschlägt.
Langfristig wird die Organisation von Unternehmen sich ändern und dadurch eine Spezialisierung und Konzentration auf bestimmte Produkte und Standorte durch die Verlagerung von Firmen eintreten.
In einer ex ante-Studie, d.h. vor der Einführung des Binnenmarktes, hat die Kommission versucht, die Effekte des Binnenmarktes auf den Außenhandel zwischen den Mitgliedsstaaten abzuschätzen (Buigues, P. et al., 1991). Untersucht wurde erstens, welche Branchen wohl besonders von der Integration des Binnenmarktes betroffen sein dürften und zweitens, wie gut die vom Binnenmarkt betroffenen Branchen in den einzelnen Ländern auf den steigenden Wettbewerbsdruck vorbereitet wären. Dabei hat sich die Studie auf den Handel mit Industriegütern konzentriert, da diese 97% aller Exporte ausmachen. Dem Untersuchungsansatz liegen die folgenden Thesen zu den ökonomischen Wirkungsmechanismen im Binnenmarkt zugrunde:
Wenn der Internationalisierungsgrad in einer Branche bereits hoch ist, dann sind durch die weitere Öffnung des Binnenmarktes keine erheblichen Auswirkungen mehr zu erwarten, da die Marktintegration augenscheinlich bereits stattgefunden hat. Der Grad der bisherigen Öffnung wird durch den Anteil des Imports aus der EU am gesamten inländischen Verbrauch von Gütern einer Branche gemessen (Handelsintensität).
Wenn die nicht-tarifären Handelshemmnisse bisher hoch waren, wird deren Abbau durch die Binnenmarktregelungen auch zu erheblicher Steigerung des internationalen Wettbewerbsdrucks durch steigende Importe und Exporte in den entsprechenden Branchen führen.
In Branchen, in denen das Ausmaß der Preisdifferenzierung bisher hoch war, werden die Preise sich europaweit annähern, was in bisherigen Hochpreisländern zu erheblichem Anpassungsdruck führen wird. In den offenen Branchen ist dies in den 80er Jahren bereits vollzogen worden, während in den bisher stärker abgeschotteten Branchen die Preisunterschiede zwischen Ländern höher sind als es sich durch Transportkosten erklären lässt.
Das Potenzial für steigende Skalenerträge dürfte noch nicht ausgeschöpft sein und wird sich besonders in solchen Branchen entfalten, wo produktionstechnische Größenvorteile noch stärker genutzt werden können.
Aus den Kriterien „schwacher bzw. starker Internationalisierungsgrad“ und „geringe bzw. hohe Preisdifferenzierung“ lassen sich vier Gruppen bilden (Tab. 2-4).
88
2 Der Europäische Binnenmarkt Erwartete Handelseffekte Typologie der betroffenen Sektoren Preisdifferenzierung
Internationalisierungsgrad
gering
hoch
Gruppe 3 (+) Gruppe 2 (++) 7,3% 4,4% Gruppe 1 (/) Gruppe 4 (+) Stark 6,1% 35,8% (++) = deutliche, (+) = einige, (/) = geringe Auswirkungen erwartet; die Zahlen geben den Anteil der Gruppe an der gesamten Beschäftigung an. Zusammenstellung nach: Buigues, P. et al., 1991, Schaubild 2.1 sowie Tab. 2.1. Schwach
Tab. 2-4: Erwartete Handelseffekte – Typologie der betroffenen Sektoren
Die Autoren der Studie vermuteten, dass die Branchen, die in den einzelnen Gruppen zugeordnet werden, von der Vollendung des Binnenmarktes unterschiedliche stark betroffen sein werden. Gruppe 1: Hochtechnologie und öffentliche Beschaffung – Staat bremst Handel Die Branchen wie Datenverarbeitungs- und Fernmeldeeinrichtungen sowie Medizintechnik waren zum Untersuchungszeitpunkt noch stark von öffentlichen Auftraggebern (Großrechner in öffentlichen Einrichtungen, Endgerätemonopol der Post, öffentliches Gesundheitswesen) abhängig, aber die europäischen Hersteller waren gegenüber den US-amerikanischen und japanischen Anbietern nicht leistungsfähig. Die Konkurrenz hatte bereits Preisdifferenzierungen deutlich verringert. Im Binnenmarkt könnten durch Fusionen und Bündelung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten Größenvorteile genutzt werden. Was durch die Autoren im Jahr 1991 noch nicht absehbar war, ist die weitgehende Entwicklung des Marktes für Informationstechnik. In der Gruppe 1 arbeiteten insgesamt 6% aller Industriebeschäftigten. Gruppe 2: Öffentliche Beschaffung und reglementierte Märkte – noch abgeschirmt Die Branchen Herstellung von Anlagen zur Energieerzeugung, Schienenverkehrsmittel und pharmazeutische Produkte waren durch nationale Standards und die Dominanz des Staates als Nachfrager stark abgeschirmt; das drückt sich in der niedrigen Importquote und der hohen Preisdifferenzierung aus. In dieser Gruppe dürfte der Binnenmarkt deutliche Auswirkungen haben, wenn die wettbewerbsfähigsten Anbieter zum Zuge kommen und sich durch Fusionen eine neue Industriestruktur bildet. In der Gruppe 2 arbeiteten fast 5% aller Industriebeschäftigten. Gruppe 3: Reglementierte Märkte – bereits offen Bei Branchen wie Schiffbau sowie Produktion elektrischer und elektronischer Geräte bestand bereits starke Konkurrenz aus Drittländern, durch die die Preisunterschiede weitgehend aus-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
89
geglichen wurden. Der Handelsverkehr innerhalb der EU war relativ gering und dürfte wegen der geringen Wettbewerbsfähigkeit europäischer Produzenten gegenüber Schwellenländern auch nur wenig zunehmen. In der Gruppe arbeiteten gut 7% aller Industriebeschäftigten. Gruppe 4: Durchschnittlich offene Märkte Die vierte Gruppe umfasste eine Vielzahl unterschiedlicher Branchen (Vorprodukte, Halbfertigwaren, Konsumgüter, Anlagen), bei denen die Internationalisierung bereits hoch war; allerdings war die Preisdifferenzierung noch erheblich. Wenn die noch bestehenden technischen und bürokratischen Handelsschranken fallen, können Vertriebswege optimiert werden, wodurch die Preise sich weiter angleichen dürften. Die Gruppe 4 war die umfangreichste: In ihr arbeiteten fast 36% aller Industriebeschäftigten. In einem nächsten Schritt haben die Autoren anhand von Branchendaten der einzelnen Länder vierzig Branchen identifiziert, die einer dieser vier Gruppen zugeordnet werden konnten. Mit dieser Klassifikation wurde – je nach Land – ein unterschiedlicher Anteil der Industriebeschäftigten erfasst: In Portugal arbeiteten 68% aller Beschäftigten in einer der vier Gruppen, in Deutschland 57%, während der Anteil in Spanien, den Niederlanden und Dänemark unter 50% lag (Buigues, P. et al., 1991, Tabelle 3.2). Mit der obigen Gruppierung haben die Autoren dargestellt, welche Branchen aufgrund welcher Konstellationen von der Vollendung des Binnenmarktes betroffen sein dürften. Wie gut die Branchen in den einzelnen Ländern dem durch den Binnenmarkt verschärften Wettbewerbsdruck standhalten dürften, beschreiben sie mit dem Indikator der „Wettbewerbsposition in der Ausgangslage“, d.h. vor der Vollendung des Binnenmarktes. Die Wettbewerbsposition wird durch vier Teilindikatoren beschrieben, die feststellen, ob die Branche in dem jeweiligen Land im Außenhandel besser (+1), durchschnittlich (0) oder schlechter (–1) positioniert ist als im Durchschnitt der EU: Indikatoren der Wettbewerbsposition 1.
Exportüberschuss mit den anderen Mitgliedsländern
2.
Exportüberschuss mit Drittländern
3.
Spezialisierung bei Exporten
4.
Spezialisierung bei der Produktion.
Zu 1. und 2.: Exportüberschuss eines Landes mit den anderen Mitgliedsländern bzw. mit Drittländern Wenn ein Land einen überdurchschnittlichen Exportüberschuss mit den anderen Mitgliedsländern bzw. mit Drittländern, gemessen als Verhältnis des Wertes von Ex- zu Importen, erzielt, so gilt dies als Indikator für Wettbewerbsstärke in der EU bzw. auf dem Weltmarkt. Entsprechend sind die beiden ersten Indikatoren die EU-interne bzw. EU-externe Deckungsrate.
90
2 Der Europäische Binnenmarkt
Zu 3. und 4.: Spezialisierung bei Exporten bzw. in der Produktion Wenn ein Land eine überdurchschnittliche branchenspezifische Spezialisierung aufweist, so gilt dies als Stärke, da in der Spezialisierung Vorteile ausgeschöpft werden können. Die Spezialisierung wird durch die Indikatoren „Exporte in die Mitgliedsländer“ (Exportanteil der Branche im Land im Verhältnis zum Exportanteil dieser Branche im Durchschnitt aller EULänder) und „Produktion“ (Anteil der Branche an der Produktion in einem Land im Vergleich zum Anteil der Branche in der EU insgesamt) dargestellt. Aus den Werten der vier Teilindikatoren eines Landes wird ein aggregierter Gesamtwert gebildet, der in der Gesamtnote von –4 (sehr schlechte Wettbewerbslage) bis +4 (sehr gute Wettbewerbslage) reicht. Die Extremwerte (–4, –3, +3, +4) werden interpretiert, während die durchschnittlichen Noten (–2 bis +2) keine eindeutige Bewertung zulassen. Es wird angenommen, dass aus einer guten Wettbewerbsposition in der Ausgangslage die möglichen Schocks bei der Einführung des Binnenmarktes gut bewältigt werden können – et vice versa. Für jedes Land ergibt sich ein Profil aus der Verteilung der Beschäftigten über die Branchen mit unterschiedlichen Noten:
Ausgewogen: Die Länder Großbritannien, Frankreich, Belgien und Spanien weisen eine relativ gleichmäßige Verteilung über die Notenskala auf, haben also sowohl Nachteile für einzelne Branchen zu befürchten, als auch Stärken vorzuweisen.
Gewinner: Eine Konzentration der Beschäftigung in gut positionierten Branchen weisen Deutschland und Italien auf.
Extrem: Wegen einer Häufung sowohl in gut als auch in schlecht bewerteten Branchen müssen sich Dänemark, die Niederlande und Irland auf eine starke Differenzierung der Wirkungen einstellen.
Indifferent: Überdurchschnittlich viele Beschäftigte in durchschnittlich positionierten Branchen lassen für Griechenland und Portugal die Erwartungen relativ offen.
Die Zuordnung von Branchen aus einzelnen Mitgliedsländern in diese Typisierung lässt also Schlüsse darüber zu, ob das entsprechende Land eher zu den Gewinnern oder den Verlierern des Binnenmarktes im Bereich Handel gehören dürfte. Diese Einschätzung beeinflusst die politischen Verhandlungen der jeweiligen Mitgliedsländer über die Ausgestaltung des Binnenmarktes sowie eventuelle kompensierende Politiken.
2.3.1.5
Tatsächliche Handelseffekte des Binnenmarktes
Welche Indikatoren sind geeignet, die Wirkung des Binnenmarktes auf den Handel zu belegen? Haben sich die Erwartungen an den freien Warenverkehr erfüllt? Seit dem geplanten Termin für die Vollendung des Binnenmarktes, dem Jahr 1992, wurde in zahlreichen Studien versucht, die im Warenverkehr tatsächlich eingetretenen Effekte festzustellen und sie mit den erwarteten Effekten zu vergleichen. Nicht für alle erwarteten Effekte
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
91
liegen empirische Ergebnisse vor, zumal auch die mittel- und längerfristigen Anpassungen noch mehr Zeit brauchen, bis sie einem Messversuch zugänglich sind; bei Breuss (2004, Kapitel 12.4) findet sich dazu ein guter Überblick. Unter den frühen Studien ragen die umfangreichen Arbeiten im Auftrag der Kommission heraus, die im Jahr 1996 eine Zwischenbilanz zu den Wirkungen und zum Entwicklungsstand des Binnenmarktes in zahlreichen Einzelstudien sowie in einer Zusammenfassung vorgelegt haben (European Commission, 1996e; Monti (Ed.), 1996). Sapir (1996) hat den Ansatz der ex ante-Studie von Buigues, P. et al. (1991) aufgegriffen und erste Effekte analysiert. Allerdings ist das Jahr 1996 bei mittel- und längerfristigen Wirkungszusammenhängen bzw. wegen der verzögerten Implementation von Maßnahmen des Binnenmarktes noch zu früh, um den vollen Umfang der Wirkungen abbilden zu können. Zum 10-jährigen Bestehen des Binnenmarktes im Jahr 2002 hat die Kommission erneut Arbeiten dazu vorgelegt. Im Folgenden sollen zu vier Indikatoren empirische Ergebnisse aus verschiedenen Studien und damit verschiedenen Zeitspannen berichtet werden:
Gewinnspannen
Preisdifferenzierung
Handelsverflechtung
Spezialisierung.
Zu: Gewinnspannen Eine Steigerung der Wettbewerbsintensität und eine dadurch ausgelöste Verminderung der Gewinnspannen sowie eine Steigerung von Produktivität und Innovationsaktivitäten haben Griffith u.a. (2006) sowie Allen u.a. (1998) vor allem für diejenigen Branchen nachgewiesen, die von der Einführung des Binnenmarktes besonders betroffen waren. Zu ähnlichen Ergebnissen kam die Kommission (European Commission, 1996e, Kapitel 5) in ihrer Evaluierung. Die Gewinnspannen von Unternehmen gingen nach einer Untersuchung von Sauner-Leroy (2003) zwischen 1989 und 1993 zurück, da der steigende Wettbewerbsdruck die Preise schneller sinken ließ als die Stückkosten. Anschließend gelang es den Unternehmen, ihre Effizienz zu steigern und die gut laufende Konjunktur half, die Preissenkungen zu beenden, so dass die Gewinnspannen wieder stiegen. Zu: Preisdifferenzierung Die Befunde für den Zeitraum 1980 bis 1993 (European Commission, 1997h:131 ff.) zeigen vor der Vollendung des Binnenmarktes erwartungsgemäß eine höhere Streuung der Preise (Variationskoeffizient) für die nicht-handelbaren Güter bzw. Dienste im Vergleich zu den handelbaren sowie eine niedrigere Streuung in den Märkten, in denen die Handelsverflechtung, gemessen als innereuropäische Importdurchdringung, höher ist. Die Teilregion der EU6 zeigt die geringste Streuung, die im Untersuchungszeitraum auch nicht mehr zurückging, während die EU-12 sowie EU-15 nach dem Hinzukommen weiterer Mitglieder ein rasch abnehmendes Niveau der Preisdifferenzierung aufweisen, das allerdings noch nicht das geringe
92
2 Der Europäische Binnenmarkt
Niveau der EU-6 erreicht hat. Daraus kann geschlossen werden, dass sich nach längerer Mitgliedschaft im Binnenmarkt das Gesetz des einen Preises soweit durchgesetzt hat, wie es angesichts von Transportkosten und noch bestehenden Handelshemmnissen möglich ist. Auch für den Zeitraum 1991 bis 2005 stellen Ilzkovitz, F. et al. (2007:38 ff.) eine weiter fortschreitende Konvergenz der Preise fest. Diese Entwicklung kann als Beleg für das Funktionieren des Binnenmarktes bei den Preisen angesehen werden. Das Gesamtergebnis setzt sich aus unterschiedlichen Entwicklungen in einzelnen Produktkategorien zusammen. Die Preise für Konsumgüter haben sich europaweit in diesem Zeitraum mehr angenähert, während bei Ausrüstungsgütern nur geringe Preisunterschiede bestanden, so dass hier keine weitere Annäherung stattfand. Barrieren wie Sprache, Informationsaufwand, Handelbarkeit und noch bestehende Regulierung entscheiden darüber, ob es sich für den Käufer lohnt bzw. machbar ist, grenzübergreifende Preisunterschiede auszunutzen. Seit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder im Jahr 2004 hat sich die Preisdifferenzierung weiter verringert, da einerseits auf die Preise in die EU-15 ein verschärfter Wettbewerbsdruck einwirkt und andererseits der Aufholprozess in den neuen Mitgliedsstaaten dort das vorher niedrigere Preisniveau anhebt (Dreger, C., Kholodilin, K., 2007). Insgesamt gab es noch im Jahr 2010 unter den 27 EU-Mitgliedsstaaten solche, in denen das Preisniveau hoch war und solche, in denen die Lebenshaltungskosten deutlich geringer waren als im Durchschnitt der EU-27. Für den Endverbrauch eines Haushalts musste in Dänemark 143% des EU-27 Preisdurchschnitts ausgegeben werden, während in Polen 60% des Durchschnitts ausreichten (Kurkowiak, B., 2012). Dabei spielten auch unterschiedliche Mehrwertsteuersätze eine Rolle. Eine Untersuchung der Europäischen Kommission (2001c) im Marktsegment der Unterhaltungselektronik zeigt, dass auch bei diesen vermeintlich homogenen Produkten noch erhebliche Preisdifferenzen zwischen den Mitgliedsländern bestehen, wobei sich keine einheitlichen Muster zeigen: Ein Land kann den höchsten Preis in einer Produktkategorie der Unterhaltungselektronik und den niedrigsten in einer anderen aufweisen. Auch gibt es keinen klaren Zusammenhang zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen in einem Land und dem Preisniveau. Selbst in ein und derselben Produktkategorie – in diesem Beispiel Fernsehgeräte – streuen die Preise europaweit erheblich. Dies liegt u.a. daran, dass in wohlhabenden Ländern die Produkte mit höherer Qualität bzw. bekannteren Markennamen bevorzugt werden. Auch ist die Preisdifferenzierung in den Euro-Mitgliedsländern geringer, was als ein Resultat der gemeinsamen Währung interpretiert werden kann (Imbs, J., Mumtaz, H., O. Ravn, M. et al., 2010). Am Beispiel des Gutes Waschmaschine, das von wenigen Herstellern in alle europäischen Länder exportiert wird, zeigt Fischer (2012), dass die Unternehmen ihre Marktmacht nutzen, um Preisdifferenzierung zu betreiben. Dies führt dazu, dass Waschmaschinen in relativ armen Ländern (Griechenland) teurer sind als in Deutschland. Dies kann auf Unterschiede in der Wettbewerbsintensität zurückgeführt werden.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
93
Da die regionalen Preisunterschiede innerhalb eines Landes erheblich geringer sind als die zwischen Ländern, scheint es immer noch Spielraum für Preiskonvergenz zu geben. Entscheidend für die Unterschiede scheint die Marktmacht und die Struktur des Handels zu sein: Wo kleine Händler dominieren und große Supermärkte nicht Fuß gefasst haben, ist das Preisniveau höher. Auch durch die Etablierung von attraktiven Marken kann Marktmacht entstehen, die überdurchschnittliche Preise zulässt. Auf dem Markt für frisches Obst und Gemüse spielt erwartungsgemäß die Nähe zum Erzeuger für die Preisunterschiede die wichtigste Rolle; entsprechend sind ein regional und saisonal gehäuftes Angebot bzw. die Transport- und Lagerkosten die wichtigste Erklärung für Preisunterschiede in diesem Segment (European Commission, 2001c). Auf dem Markt für Automobile war es die EU selbst, die das Prinzip des freien Wettbewerbs im Binnenmarkt durch die Freistellung vom Kartellverbot beim Handel mit Automobilen bis Mitte 2002 erheblich eingeschränkt hatte. Die Autohersteller durften ein exklusives Händlernetz unterhalten und damit den Wettbewerb im Handel, wie er z.B. durch unterschiedliche Vertriebswege ausgeübt werden könnte, ausschalten. Dies trug dazu bei, dass für ein identisches Auto innerhalb Europas starke Preisunterschiede bestehen blieben, die auch nicht durch unterschiedliche Steuersätze erklärt werden konnten (Degryse, H., F. Verboven, et al., 2000). Zu: Handelsverflechtung Der empirische Befund zur Entwicklung der Handelsverflechtung der Mitgliedsstaaten für die Jahre 1986 bis 1992 (Sapir, 1996, Tab. 1:465) ist auf den ersten Blick widersprüchlich: Unabhängig von der vorherigen Stärke der Handelshemmnisse wurde in allen Sektoren Handel erzeugt, d.h. einheimische Produktion wurde durch Importe aus der EU und aus Drittstaaten ersetzt. Zu erwarten war ein starker Anstieg des Handelsanteils vor allem in den Marktsegmenten, in denen die Handelshemmnisse vorher hoch waren und umgekehrt. Aber auch dies ist nicht der Fall; vielmehr stieg der Handel im Segment mit hohen Handelshemmnissen nur unterdurchschnittlich an, während in dem Segment mit mittelgroßen Hemmnissen der Anstieg besonders markant war. Dieser empirische Befund kann die Voraussagen also nicht bestätigt. Dafür gibt es zwei Erklärungen:
Das Binnenmarkt-Programm war in den bisher stark abgeschotteten Märkten zum Untersuchungszeitpunkt 1992 noch nicht implementiert, während es in dem Marktsegment mit mittleren Handelshemmnissen bereits wirkte.
Die Importbeschränkungen für Nicht-EU-Länder fielen im Untersuchungszeitraum wegen WTO-Vereinbarungen weg, so dass die Importe aus Drittländern – nicht die aus der EU – den Anstieg im mittleren Segment ausmachten. Dieser Befund zeigt auch, dass die Befürchtungen einer „Festung Europa“, die sich gegenüber Drittländern abschottet, sich nicht erfüllt haben.
In einer Studie für die EU-Kommission wurde für das Jahr 1994 ein Anstieg des innereuropäischen Handels um 4–5% auf den Einfluss des Binnenmarktprogramms zurückgeführt (European Commission, 1998c).
94
2 Der Europäische Binnenmarkt
Der Außenhandel der EU-27 ist mittlerweile innereuropäisch dominiert: Zwei Drittel aller Exporte der EU-27 gehen in einen anderen Mitgliedsstaat. Mit zunehmender globaler Verflechtung, wie sie sich z.B. in der wachsende Bedeutung der Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China zeigt, ging bis 2011 der Anteil des Inner-EU-Handels wieder zurück. Aber auch die krisenbedingt sinkende Nachfrage aus den EU-27-Ländern führt zu der Verschiebung der Exportgewichte. Nachbarschaft strukturiert Handelsströme Einige EU-15-Länder haben ihre Exportmärkte stärker außerhalb der EU, während andere überwiegend Intra-EU-Handel betreiben. Diese Unterschiede sind auch auf traditionelle Verbindungen (Großbritannien – Common Wealth; Spanien – Lateinamerika) sowie auf die Passfähigkeit der Spezialisierung der Exportindustrie mit den spezifischen Bedarfen in den Partnerländern zurückzuführen. Auch bei den neuen Mitgliedern erreichen die EU-27-Länder sehr unterschiedliche Anteile am Export: Malta schickt 40% seiner Exporte in die EU-27, während die Tschechische Republik und die Slowakei mit 84% ihrer Exporte von den Abnehmern in der EU-27 abhängen. Diese Unterschiede in der Verflechtung machen die einzelnen Länder auch unterschiedlich verwundbar durch die wirtschaftliche Entwicklung in ihren jeweiligen Abnehmerländern – sie sind eine mögliche Quelle für asymmetrische Nachfrageschocks. In den Inner-EU-Handelsbeziehungen spielen die großen Länder als Abnehmer eine dominierende Rolle: 20% aller Exporte gehen nach Deutschland, 13% nach Frankreich und 9% nach Großbritannien. Aber unabhängig von der absoluten Größe zeigen sich bevorzugte Partnerschaften im Handel, die sich aus der räumlichen Lage und aus der historischen und kulturellen Nähe der Länder erklären lassen (UNCTAD Datenbank „Merchandise trade matrix 2010“):
„Baltischer Raum“: Schweden, Dänemark, Finnland und die drei baltischen Staaten
„Historische Mitte“: Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen, Niederlande, Belgien, Ungarn
„Süd-Schiene“: Italien, Spanien, Portugal, Griechenland
„Alte Nachbarn“: Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Zypern
„Getrenntes Paar“: Slowakei, Tschechische Republik
Die starke Stellung Belgiens und der Niederland als Abnehmerländer dürfte als statistisches Artefakt zustande kommen: Lieferungen an Abnehmer, die dann die Waren über die großen Häfen weitersenden, werden als Importe verbucht.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
95
Intra-EU-27 Exporte Anteil am gesamten Export % 1999 2004 2008 2011 69
69
67
64
Großbritannien
61
59
56
51
Finnland
65
58
56
56
Italien
64
62
59
56
Schweden
63
59
60
56
Irland
67
63
63
58
Deutschland
66
65
63
59
Frankreich
65
66
64
61
Griechenland
67
64
65
50
Spanien
74
74
70
67
Dänemark
71
71
70
66
Österreich
76
74
72
71
Portugal
84
80
74
74
Belgien
79
77
77
72
Niederlande
82
80
79
78
Luxemburg
88
90
88
81
Malta
49
49
40
41
Bulgarien
57
62
60
63
Litauen
74
67
60
61
Slowenien
74
68
68
71
Lettland
78
77
69
66
Zypern
58
67
69
68
Estland
86
80
70
66
Rumänien
73
75
71
71
Polen
82
80
78
78
Ungarn
85
83
78
76
Tschechische Republik
88
87
85
83
Slowakei
89
87
85
85
EU- 27 EU -15
Neue Mitglieder
EUROSTAT-Datenbank [ext_lt_intratrd] (21.8.2012) Tab. 2-5: Intra-EU Exporte
Trotz dieses Anstiegs der innereuropäischen Verflechtung durch Handel bleiben die Gütermärkte überwiegend national bestimmt (Home Bias). Auch wenn man Landesgröße, Transportkosten und Entfernung berücksichtigt, richten sich Käufer überproportional an heimische
96
2 Der Europäische Binnenmarkt
Produzenten (Nitsch, V., 2000; Balta, N., Delgado, J., 2009). Dass die Bedeutung von ehemaligen Grenzen als Handelsbarriere auch dann fortdauert, wenn die Grenzen verschwunden sind, haben Nitsch und Wolf (2010) für den Handel zwischen den alten und neuen Bundesländern Deutschlands gezeigt. In verschiedenen Studien wird die Existenz des Grenzeffekt auch für den Handel innerhalb der EU-15 sowie zwischen den EU-15 und den neuen Mitgliedsstaaten aus Mittel- und Osteuropa nachgewiesen (Cheptea, A., 2010, 2012; Pacchioli, 2011). Ghemawat (2011:42–62) entdeckt an der Grenze zwischen USA und Kanada das „Geheimnis des fehlenden Handels“: Die Handelsaktivitäten sind über die Landesgrenze hinweg deutlich geringer als innerhalb des Landes. Darin zeigen sich die beschränkten Möglichkeiten einer positiven oder negativen Integration von Gütermärkten. Zu: Spezialisierung Es ist zu erwarten, dass die Vollendung des Binnenmarktes die Spezialisierung von Unternehmen auf bestimmte Märkte verstärken wird. Der empirische Befund von Sapir (1996) stützt diese These nach Branchen jedoch nicht: Vielmehr ist die Spezialisierung zwischen 1987 und 1992 fast konstant geblieben. Auch andere Studien (Veugelers, R., u.a., 2002) kommen zu dem Ergebnis, dass eine Zunahme der Konzentration nach Branchen und Regionen nicht empirisch nachzuweisen ist. Dies Ergebnis, das den Vorhersagen der Theorie widerspricht, könnte darauf zurückzuführen sein, dass entweder die Märkte schon vor der Vollendung des Binnenmarktes liberalisiert waren oder dass die geringe Mobilität beim Faktor Arbeit die Anpassung der Strukturen behindert. Weiterhin wird darauf verwiesen, dass der Binnenmarkt bis 1992 noch nicht voll implementiert war, so dass seine Wirkung zu dem Zeitpunkt noch nicht messbar war. Dies trifft besonders auf Schlüsselsektoren von hohem nationalem Interesse (Telekommunikation, Rüstungsindustrie, Energieerzeugung, Banken und Versicherungen, Luftfahrt) zu.
2.3.1.6
E-Commerce nicht grenzüberschreitend
Kann der Warenhandel das Internet Grenzen problemlos überwinden? Ist das „28. Recht“ eine Lösung? Mit der Verbreitung des Einkaufens über das Internet hat sich eine neue technische Möglichkeit eröffnet, die es den Verbrauchern ermöglichen kann, eine höhere Preistransparenz zu gewinnen und die Produkte auch im Ausland günstiger einzukaufen. Allerdings entwickelt sich der inländische E-Commerce wesentlich stärker als der grenzüberschreitende. Unternehmen versuchen, ihre Strategie zur Preisdifferenzierung entlang von Landesgrenzen durchzusetzen, indem sie Kunden nur innerhalb ihres Sitzlandes beliefern. Dazu dient z.B. die Weigerung, ausländische Kreditkarten zur Zahlung zu akzeptieren. Das InternetHandelshaus Ebay hat sich bei der Kommission über solche Praktiken beschwert; diese will gegen diese ungesetzlichen Praktiken vorgehen („EU will Kunden im Internet stärken“, Handelsblatt, 23.9.08). Auch scheitert ein grenzüberschreitender Kaufversuch in 80% der Fälle an der Weigerung der Website, dieses Geschäft abzuwickeln; stattdessen wird der potenzielle Käufer an einen Anbieter aus seinem Sitzland verwiesen. Der Grund für die Beschränkung der Händler auf das jeweilige Land liegt in der Fragmentierung der Regulierungen für Verbraucherschutz, Recycling und Zivilrecht im Handel: Jedes der 27 Mitgliedslän-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
97
der hat seinen eigenen Rechtsrahmen. Der Händler müsste sich in all diesen nationalen Rahmenbedingungen bewegen, was die Transaktionskosten erheblich erhöhen würde. Außerdem sind die Vorschriften über geistiges Eigentum unterschiedlich und auch die Abwicklung von grenzüberschreitenden Zahlungen war bis vor kurzem aufwändiger. Darüber hinaus haben nicht alle Regionen ausreichenden Zugang zur digitalen Infrastruktur (Monti, M., 2010:52– 54; Copenhagen Economics, 2010; European Commission, 2009g; European Commission, 2011c). Die Vorschläge der EU-Kommission zielen darauf ab, den Rechtsrahmen für Verbraucher zu vereinheitlichen oder – da dies wahrscheinlich von den Mitgliedsstaaten nicht akzeptiert würde – ein separates „28. Recht“ als europaweit einheitlichen Rechtsrahmen zu schaffen, der wahlweise von den Käufern und Verkäufern zugrunde gelegt werden könnte. Dies ist ein Beispiel für „positive Integration“; sie wird aber erst mit der Herausbildung eines grenzüberschreitenden Marktes durch Anpassung der Regulierung wirksam. Was nicht durch Regulierung beseitigt werden kann, ist das Misstrauen der potenziellen Käufer gegenüber ausländischen Anbietern, bei denen sie sich nicht auf die Einhaltung der Verträge, die Zuverlässigkeit bei Zahlungen und bei der Abwicklung von Reklamationen verlassen wollen. Durch Methoden wie Zertifizierung ließe sich die Reputation ausländischer Anbieter steigern.
2.3.1.7
Vertragsverletzungsverfahren im freien Warenverkehr
Welche Verstöße gegen den freien Warenverkehr wurden beanstandet? Die Kommission behandelt Beschwerden bezüglich der Verletzung der Verträge und kann, sofern der Mitgliedsstaat die beanstandete Praxis nicht ändert, auch den EuGH anrufen. Die Auswahl einiger Fälle zeigt, dass es den Mitgliedsstaaten häufig noch schwer fällt, den freien Warenverkehr in vollem Umfang zu realisieren. Deutschland wird von der Kommission beschuldigt, bei Bauprodukten zusätzlich zum CEZeichen noch deutsche Kennzeichnungen zu verlangen, was den freien Warenverkehr behindere (IP/12/648, 21. Juni 2012). Die geplante deutsche Verordnung zur Rücknahme von Pfandflaschen, die Händler berechtigte, nur die eigenen Flaschen zurückzunehmen, wurde als Behinderung ausländischer Anbieter gerügt (IP/04/1274, 20. Oktober 2004). Dänemark darf die Produkthaftung nicht abweichend von der EU-Richtlinie regeln, selbst wenn diese Regelung den Verbraucher scheinbar besser stellt (IP/04/919, 15. Juli 2004). Deutschland hat per Gesetz die Organisation CMA einrichten lassen, die das Gütesiegel „Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch“ vergab, um den Absatz deutscher Agrarprodukte zu heben. Dies verstieß nach einem Urteil des EU-Gerichtshofs (C-325/00) gegen den freien Warenverkehr, da das Siegel geeignet ist, ausländische Anbieter zu diskriminieren. Griechenland verlangt, dass importierte Softdrinks ein besonderes Etikett mit dem Richtpreis in Englisch und Griechisch tragen; diese Preisauszeichnung kann aber auch der Einzelhandel z.B. durch Aushang vornehmen.
98
2 Der Europäische Binnenmarkt
2004 beschlagnahmten die französischen Behörden aus der Slowakei eingeführte Pflanzenschutzmittel mit der Begründung, dass diese Mittel nicht den französischen Vorschriften entspräche. Da die fraglichen Mittel jedoch den vorgeschriebenen Prüfungen und Kontrollen im Herkunftsland unterzogen worden waren und die Kommission über die Beschlagnahmung nicht rechtzeitig informiert worden war, liegt eine unzulässige Beschränkung des freien Warenverkehrs vor (IP/05/864, 7. Juli 2005). Griechenland erhebt im innergemeinschaftlichen Handel eine Abgabe auf Arzneimitteleinfuhren für die Kontrolle der Qualität und Sicherheit der Arzneimittel durch die Nationale Arzneimittelorganisation (EOF). Dies stellt eine unzulässige zollähnliche Abgabe dar. In den Niederlanden dauert die Zulassung von generischen Pflanzenschutzmitteln und Parallelimporten von Pflanzenschutzmitteln wie Pestiziden und Fungiziden für den Einsatz in der Landwirtschaft, die in einem anderen Mitgliedsstaat rechtmäßig hergestellt und/oder in Verkehr gebracht werden, ein bis zwei Jahre. Eine Dauer von 45 Tagen wäre angemessen. Gegenwärtig muss jeder nicht-belgische Rollstuhlhersteller seine Produkte, wenn sie über die Sozialversicherung erstattungsfähig sein sollen, über einen belgischen Händler vertreiben und einen Notfallplan für die Bereitstellung von Ersatzstühlen/Ersatzteilen vorlegen, für den Fall, dass der Händler gewechselt wird. Diese Anforderungen müssen belgische Hersteller nicht erfüllen (IP/00/1204, 24. Oktober 2000).
2.3.2
Freizügigkeit für Arbeitnehmer im Binnenmarkt
Der Binnenmarkt eröffnet für abhängig Beschäftigte aus anderen Mitgliedsstaaten im Rahmen der Freizügigkeit die Möglichkeit, sich den Ort ihrer Beschäftigung auch im EUAusland zu suchen, ohne dass sie dabei gegenüber Inländern diskriminiert werden dürfen. Auch Familienangehörigen stehen aus der Freizügigkeit abgeleitete Rechte zu. Selbständige genießen die Niederlassungsfreiheit, wenn sie in einem anderen Mitgliedsstaat einen Geschäftssitz einrichten wollen (Kapitel 2.3.3) und die Dienstleistungsfreiheit, wenn sie grenzüberschreitend Dienstleistungen anbieten wollen (Kapitel 2.3.4). Die legale Zuwanderung von Personen aus Drittstaaten fällt unter nationale Gesetzgebung und ist nicht Teil der hier behandelten Freizügigkeit von Arbeitnehmern. Auch die legale und illegale Migration zwischen der EU und Drittstaaten, die sich aus der Globalisierung ergibt (European Commission, 2005m:139–164, 2008h:ch. 2; Brücker, H. et al., 2006; OECD, 2011b:39–137) oder die Suche nach Asyl fallen nicht unter die von der EU geregelte innereuropäische Freizügigkeit für Arbeitnehmer; sie werden im Folgenden nicht behandelt.
2.3.2.1
Einkommensdifferenzen als Wanderungsgrund
Warum gehen Arbeitskräfte in ein anderes Land, bzw. warum bleiben sie zu Hause? Inwieweit kann das Einkommen als Wanderungsgrund betrachtet werden? Zur Erklärung der grenzüberschreitenden Wanderung von Arbeitskräften können zahlreiche kulturelle, soziale und ökonomische Determinanten herangezogen werden (Bauer, T., Zimmermann, K.F., 1999a:13 ff.; Alecke, B., Untiedt, G., 2001a:44 ff. und bes. Übersicht A.1;
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
99
European Commission, 2001a, Annex 1; Krieger, H., 2004; Burda, M., 1995). Hier sollen Differenzen im Einkommen zwischen Herkunfts- und Zielland im Vordergrund stehen. Dabei kann der Begriff des Einkommens in vielfältigen Varianten konkretisiert werden:
Werden von der Einkommensdifferenz noch die Kosten der Wanderung abgezogen, so ergibt sich das Nettoeinkommen als Bezugsgröße.
Die Dimension Zeit führt zu zwei weiteren Unterscheidungen beim Einkommen: Erstens kann das heutige mit dem künftig erwarteten Einkommensniveau verglichen werden und zweitens kann das kumulierte restliche Lebenseinkommen abgeschätzt werden; es wird also betrachtet, wie viel eine Person in ihrem restlichen Erwerbsleben insgesamt zuhause oder in einem anderen Land verdienen könnte.
Das relative Einkommen bezeichnet das Einkommen einer Person oder eines Haushalts im Vergleich zu den Einkommen der „Nachbarn“; es beschreibt die Einordnung in das soziale Umfeld. Eine hohe Position auf der sozialen Einkommens- und damit Rangskala wird möglicherweise höher bewertet als ein hohes absolutes Einkommen bei niedrigem Rang.
Wenn eine wanderungswillige Person allein ihre Einkommensposition bewertet bleibt unberücksichtigt, dass sich das Familieneinkommen bei einer Wanderung möglicherweise auch dadurch ändert, dass der Partner keine neue, adäquate Beschäftigung findet.
Diese Aspekte sollen im Folgenden kurz erläutert werden. Im einfachsten Fall wird die Entscheidung zur Wanderung nur fallen, wenn sich dadurch das derzeitige Nettoeinkommen erhöht, d.h. nach Abzug der Mobilitätskosten muss das Einkommen im Zielland höher sein als es bei Verbleib zu Hause wäre. Dabei wird von einem Arbeitsmarkt mit vollkommener Konkurrenz sowie dem Fehlen von Mobilitätsbarrieren wie Sprache, Kultur, Heimatliebe, Freizeitangebot, Umweltbedingungen, ausgegangen. Eine Erweiterung dieses einfachen Modells berücksichtigt nicht nur die augenblicklich erzielbaren Löhne, sondern das Lebenseinkommen, das sich bei den künftig zu erwarteten Löhnen zu Hause und im Zielland ergeben könnte. Die Person zieht dann in die Region, in der sie in ihrem restlichen Erwerbsleben das höchste kumulierte Nettoeinkommen erzielen könnte. So kann bei positiver Erwartung für die künftige wirtschaftliche Entwicklung zu Hause ein Verbleib trotz augenblicklich noch hoher Lohnunterschiede rational sein. Wenn die Wanderung mit erheblichem Aufwand – wie Verkauf des Hauses im Herkunftsland und Aufbau eines neuen Lebens für die Familie im Zielland – verbunden ist, steigt das Risiko der Entscheidung, da diese Aufwendungen bei einer Rückwanderung nicht wiedergewonnen werden können (Sunk Cost). Diesem Ansatz zu Folge nimmt die Wahrscheinlichkeit der Wanderung mit dem Alter ab, da in der restlichen Lebensarbeitszeit nur noch ein geringerer Rückfluss aus der Wanderung zu erwarten ist, so dass die Rendite aus der Wanderung mit dem Alter sinkt. Bei höherer Bildung nimmt die Wanderungswahrscheinlichkeit zu, da aufgrund der höheren Bildung die Risiken der Wanderung besser abgeschätzt werden können, die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, für Qualifizierte geringer und die Wahrscheinlichkeit, ein überdurchschnittliches Einkommen im Zielland zu erzielen, höher ist.
100
2 Der Europäische Binnenmarkt
Lohnunterschiede allein können Wanderungsanreize nicht erklärten, da alternativ dazu Einkommen auch aus Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder Schwarzarbeit erzielt werden kann. Die Angleichung von Erwerbseinkommen und Ersatzeinkommen, zumal in den unteren Lohngruppen, kann erklären, warum diese Personengruppe auch bei Arbeitslosigkeit relativ wenig mobil ist. Arbeitslos zu Hause zu bleiben kann finanziell attraktiver sein als die risikoreiche Arbeitsuche in einer anderen Region. Dies kann z.B. die relativ geringe innerstaatliche Wanderung, z.B. zwischen Nord- und Süditalien, erklären. Wanderung findet – unabhängig von den regionalen Lohnunterschieden – oft innerhalb von „Migranten-Netzwerken“ statt, wo „Pionier-Migranten“ die Kosten, Unsicherheiten und Risiken für weiteren Nachzug verringern, da sie mit Informationen und materieller Unterstützung den Anfang im neuen Land leichter machen. Dies kann auch die regionale Konzentration der Zuwanderung aus einzelnen Herkunftsländern („China-Town“, „Klein-Istanbul“) erklären (Rindoks, A., Penninx, R., Rath, J., 2006; European Commission, 2011d:263). Eine an sich rationale Entscheidung zur Abwanderung aus einer Region, in der der betreffende Mensch keine Arbeit findet in eine prosperierende Region kann auch durch Unterschiede in den Immobilienpreisen zwischen Herkunfts- und Zielregion erschwert werden: Wenn in der Herkunftsregion das Wohneigentum nur zu Preisen veräußert werden kann, für die in der prosperierenden Zielregion kein adäquater Ersatz gefunden werden kann, hemmt dies die Mobilität. Dies wird am Beispiel Großbritanniens deutlich („Down and …“, 2001). In die Abschätzung von Kosten und Nutzen einer Wanderung geht auch der ökonomische Nutzen des Verbleibens im bisherigen Lebensumfeld ein. Er besteht in sogenannten InsiderVorteilen, die als soziales Kapital in der Arbeitswelt sowie als firmenspezifisches Wissen aufgebaut wurden, in freizeitbezogenen Kriterien sowie in der Einbettung in ein unterstützendes soziales Umfeld (Fischer, P.A. et al., 2001; David, Q., Janiak, A., Wasmer, E., 2008). Zu den Insider-Vorteilen zählen alle Quellen des Einkommenserwerbs, was besonders in Ländern bzw. Regionen mit ausgeprägter Schattenwirtschaft auch Schwarzarbeit einschließt. Diese Vorteile kumulieren sich über die Zeit, so dass die Wanderungswahrscheinlichkeit mit zunehmendem Alter auch wegen der kumulierten Insider-Vorteile abnimmt. Der Verlust dieses Nutzens kann als Teil der Wanderungskosten bezeichnet – wenn auch schwer beziffert – werden. Berücksichtigt man nicht nur das wanderungswillige Individuum, sondern bezieht man dessen familiären Kontext mit ein, so erklären sich einige Muster von Wanderung bzw. Verbleiben. Die steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen führt dazu, dass die Entscheidung über regionale Mobilität des einen Partners immer auch die berufliche Entwicklung und das Einkommen des anderen Partners betrifft. Das Resultat kann der Verzicht auf Wanderung oder auch die Auflösung von Familien sein. Eine andere Sicht ergibt sich aus dem Wunsch, das Risiko für das gesamte Familieneinkommen zu diversifizieren: In der Konsequenz kann ein Familienmitglied zur Arbeit in einer anderen Region entsandt werden. Regionale Unterschiede beim Lohn bzw. beim Familieneinkommen können zwar als wichtiges Wanderungsmotiv gelten, aber nicht zwingend ist der Vergleich der absoluten Einkommen entscheidend: Personen bzw. Haushalte sehen ihre Position zu Hause im Vergleich zu ihren Nachbarn, was auch bei geringem absolutem Einkommen dennoch einen guten sozia-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
101
len Rang bedeuten kann. Wenn dieser Rang im Ausland trotz eines höheren absoluten Einkommens nicht erreicht werden könnte, würde Abwanderung zu einem Abstieg auf der sozialen Vergleichsskala führen und daher unterbleiben. Allenfalls Saisonarbeiten werden in einem solchen Kontext übernommen, wie es das Beispiel polnischer Gymnasiallehrer zeigte, die in Deutschland Obst pflückten. Sollen sich Einkommensunterschiede tatsächlich auf die Mobilität von Arbeitskräften auswirken, ist es eine Bedingung, dass Lohnunterschiede auf beiden Seiten des Arbeitsmarktes auch wirklich zur Geltung gebracht werden können. Dazu müssten die einheimischen und die zugewanderten Arbeitskräfte das Recht haben, untereinander in Lohnkonkurrenz zu treten. Dies wird jedoch in den reichen Ländern der EU durch Mindest- und Tariflöhne unterbunden. In diesen modellhaften Überlegungen zu Wanderungsentscheidungen wird vorausgesetzt, dass die potenziellen Migranten sich ausschließlich nach einem „rationalen“ Maximierungskriterium richten und die außerdem erforderlichen Daten wie das künftige Einkommen, die Wanderungskosten und das Risiko, im Zielland arbeitslos zu sein, zuverlässig abschätzen können. Dabei wird außer Acht gelassen, dass so weit gehende Entscheidungen von Menschen meist auf unzureichender Datengrundlage getroffen und stark von Gefühlen beeinflusst werden. Weiterführende Literatur
Hooghe, M., Trappers, A., Meuleman, B., et al. (2008): Migration to European countries. A structural explanation of patterns, 1980–2004, in: International Migration Review, 42, 2
Zimmermann, K. F. (Ed.) (2005): European migration – what do we know?, Oxford.
Straubhaar, T., Dima, G. (1993): Ursachen der Migration aus ökonomischer Sicht, in: Kälin, W., Moser R. (Ed.): Migrationen aus der Dritten Welt: Ursachen, Wirkungen, Handlungsmöglichkeiten, Bern, Wien, Stuttgart, 93–122.
2.3.2.2
Wirkungen der Arbeitskräftewanderung
Welche Wirkungen können von Wanderungen ausgehen? Wie sind unterschiedliche Länder und Personengruppen von Wanderungen betroffen? Nach der Sicht schlichter ökonomischer Theoriebildung ist Wanderung sowohl für das Nutzen maximierende Individuum als auch für die Gesamtwirtschaft positiv, da sie eine Verbesserung des Faktoreinsatzes bedeutet und Preissignale des Arbeitsmarktes aufnimmt. In einer differenzierenden Betrachtung ist zu berücksichtigen, dass die Wirkungen nicht gleichmäßig verteilt sind, sondern sich bei einzelnen Bevölkerungs- und Beschäftigtengruppen konzentrieren können. Größenordnung und Dauerhaftigkeit der Effekte im Herkunfts- und Zielland hängen auch von der zeitlichen Struktur der Migration ab:
102
2 Der Europäische Binnenmarkt
Temporäre Migranten, wie z.B. Grenzpendler, nutzen die Differenzen zwischen den Löhnen und versuchen, die hohen Lebenshaltungskosten im Zielland zu vermeiden. Sie transferieren einen großen Teil des Einkommens nach Hause, was dort die verfügbare Kaufkraft erhöht, wodurch inflationäre Tendenzen verstärkt werden können, wie sich in der polnischen Region Oppeln zeigte (Musial, J., 2002).
Permanente Migranten verlegen den Lebensmittelpunkt auf Dauer ins Zielland und auch die Familie zieht nach. Diese Personen können wegen der Lebenshaltungskosten nicht auf Dauer einheimische Löhne unterbieten; ihre Kaufkraft entfalten sie überwiegend im Zielland und sie nehmen die Infrastruktur und andere Staatsleistungen in Anspruch.
Entsandte Arbeitnehmer sind und bleiben Mitarbeiter ihres Arbeitgebers im Heimatland und werden auf Zeit von ihm in ein anderes Land zur Erfüllung von Aufgaben für ihren Arbeitgeber geschickt. Sie unterliegen also den Lohn- und Arbeitsregeln ihres Herkunftslandes. Somit könnten sie die Löhne des Ziellandes unterbieten, was generell politisch unerwünscht ist.
Quasi-Selbständige sind Personen, die ihren Status als Arbeitnehmer aufgegeben haben, um im Zielland – meist für begrenzte Zeit – ihren Status als „selbständig“ zu deklarieren; so fallen sie nicht unter die Schutzgesetze für abhängig Beschäftigte und können ihre Arbeitskraft zu geringeren Löhnen und ohne soziale Absicherung anbieten. Dies spielte während der Übergangsfristen für die Freizügigkeit der mittel- und osteuropäischen Länder eine gewisse Rolle: Bauhandwerker konnte so in den EU-15 Ländern arbeiten.
Die beiden letztgenannten Gruppen fallen nicht unter die EU-Regulierung der Freizügigkeit. Im Herkunftsland (Katseli, L. T., Lucas, R. E. B., Xenogiani, T., 2006) kann neben einer Entlastung des Arbeitsmarktes durch Abwanderung (potenziell) arbeitsloser Personen auch ein Verlust von knappen Arbeitskräften eintreten: Der „Brain-Drain“ lässt die Herkunftsregion möglicherweise unter ein kritisches Niveau der Faktorausstattung mit Humankapital geraten, wodurch sie ihr endogenes Entwicklungspotenzial einbüßt (Straubhaar, T., 2000a). Die Abwanderung könnte auch zur Erhöhung der einheimischen Löhne führen, was die Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Industrie beeinträchtigen könnte. Auch die im Ausland gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse der Rückkehrer sowie deren Kapital können zur Entwicklung des Herkunftslandes beitragen; vorausgesetzt es kommt zu einer erwerbsorientierten und investiven Orientierung der Rückkehrer. Viele Rückkehrer kehren jedoch – wenn überhaupt – erst mit dem Erreichen des Rentenalters zurück und nutzen ihr Kapital für die Einrichtung eines „modernen“ Eigenheims mit importierten Konsumgütern. Im Zielland tragen die Zugewanderten zur Produktion und zum Wirtschaftswachstum bei. Wenn sie komplementär zum einheimischen Arbeitskräfteangebot sind, tragen sie zur Wohlstandsmehrung bei, während sie bei substitutivem Einsatz und nach unten starren Löhnen die Arbeitslosigkeit der Inländer vergrößern oder zur Lohnsenkung beitragen könnten. Allenfalls bei den gering qualifizierten einheimischen Arbeitskräften besteht eine Substitutionskonkur-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
103
renz, da die ausländischen Arbeitskräfte aufgrund ihrer Bereitschaft, zu geringeren Löhnen zu arbeiten, zu Beschäftigungen mit niedrigen Anforderungen an Qualifikation und Sprache besseren Zugang haben als zu Arbeitsplätzen mit höheren Anforderungen. In diesem Segment des Arbeitsmarktes üben sie eine Lohnkonkurrenz aus, die sich zur Umgehung von Mindestlöhnen auch auf dem Schwarzmarkt für Arbeit entfaltet. Einfache Dienstleistungen im Haushalt, Fleischverarbeitung, Reinigung und Bautätigkeiten sind Beispiele dafür. Generell lässt sich feststellen, dass die Einwanderer eher in einen Verdrängungswettbewerb mit bereits hier lebenden Migranten treten, während die einheimischen Arbeitskräfte die besser bezahlten Tätigkeiten einnehmen (D’Amuri, F., Peri, G., 2010; Brücker, H., Jahn, E. J., 2010; European Commission, 2008h:132–142). Zuwanderer können auch die makroökonomischen Konstellationen im Zielland beeinflussen, wenn sie mit einer hohen Konsumquote zum Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage beitragen. Andererseits nehmen sie aber auch staatliche Leistungen wie Krankenversorgung, Kindergärten und Bildung in Anspruch, zu deren Finanzierung sie aufgrund des geringen Einkommens nicht oder erst nach längerer Aufenthaltsdauer kostendeckend beitragen (Sinn, H.-W. et al., 2001). Die befürchtete Einwanderung in die großzügigen Sozialsysteme einiger Mitgliedsstaaten ist eine populäre, aber empirisch nicht gestützte Befürchtung (Boeri, T., 2010; Giulietti, C., Guzi, M., Kahanec, M., et al., 2011). Sowohl die Herkunfts- als auch die Zielländer innereuropäischer Wanderungen haben alternde und einige sogar schrumpfende Bevölkerungen. Durch die Zuwanderungen jüngerer Menschen kann eine entstehende Bevölkerungslücke teilweise geschlossen werden. Ob dieser Entlastungseffekt tatsächlich eintreten kann, hängt neben der Größenordnung der Wanderungen auch von der Qualifikationsstruktur der Zuwanderer und ihrer Familienmitglieder und der Integration in reguläre Beschäftigung ab. Spiegelbildlich dazu kann sich in den Herkunftsländern durch die Abwanderung das demografische Problem verstärken.
2.3.2.3
Regelung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer
Unter welchen Voraussetzungen dürfen Arbeitnehmer in anderen Mitgliedsstaaten arbeiten? Wie versucht die EU die Mobilität zu fördern? Ein Ausgleich von Lohndifferenzen durch Wanderungen von Arbeitskräften und ihren Familien setzt voraus, dass im Nationalstaat der Bewegungsfreiheit ausländischer Arbeitskräfte keine Hindernisse entgegenstehen. Die Beseitigung solcher Hürden ist Ziel der Freizügigkeit im Binnenmarkt. Natürliche Migrationsbarrieren wie Sprache und Kultur können aber nicht politisch beeinflusst werden. Prinzipiell ist bereits seit 1968 für EU-Bürger die Beschäftigung in allen Mitgliedsstaaten möglich. Die Freigabe der nationalen Arbeitsmärkte war jedoch auch unter den Gründungsnationen der EU nicht reibungslos und in einem Schritt möglich. Vielmehr wurden am Anfang Übergangsphasen und Sicherheitsmaßnahmen vereinbart (European Commission, 2001a):
104
2 Der Europäische Binnenmarkt
Noch 1961 durften die Mitgliedsstaaten auf dem Arbeitsmarkt Inländern den Vorrang bei der Arbeitsvermittlung vor EU-Ausländern einräumen, so dass nur dann, wenn sich kein geeigneter einheimische Bewerber finden ließ, die Arbeitserlaubnis an einen EUAusländer gegeben werden konnte. Für die Grenzregionen (in beide Richtungen je 50 km) galten besondere Regelungen.
Im Jahr 1964 wurde der Vorrang für Inländer aufgehoben. Der gleiche Zugang zum Arbeitsmarkt galt jedoch nur für Jobs, die von der Arbeitsverwaltung vermittelt wurden, d.h. die freie Arbeitsuche war verboten.
Erst 1968 wurde die Freizügigkeit für alle Arbeitnehmer eingeführt und damit auch das Recht, sich selbst eine Arbeit im EU-Ausland zu suchen. Allerdings bestand noch bis 1992 die Sicherheitsklausel, nach der die nationale Regierung die Kommission ersuchen konnte, die Arbeitsvermittlung auszusetzen, wenn es auf dem einheimischen Arbeitsmarkt Probleme gab.
Bei der Aufnahme der zehn neuen Mitglieder im Jahre 2004 wurden Übergangsfristen von bis zu sieben Jahren festgelegt, in denen für die Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedsstaaten die Freizügigkeit eingeschränkt werden konnte (Kapitel 5.4.8.2).
Nach den europäischen Verträgen (Artikel 20, AEU-V) hat jeder Bürger eines Mitgliedsstaates das Recht, sich ohne spezifischen Aufenthaltszweck in der EU aufzuhalten. Weiterhin legt Artikel 45, AEU-V fest, dass alle Personen aus den Mitgliedsstaaten bei Beschäftigung, Entlohnung und sonstigen Arbeitsbedingungen gleich behandelt werden müssen; sie haben das Recht zur Aufnahme einer Tätigkeit. Eine Einschränkung gilt für die Arbeiten „in der öffentlichen Verwaltung“, was jedoch nicht den gesamten öffentlichen Dienst umfasst, sondern lediglich die Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten wie die der Polizei oder des Militärs (Europäische Kommission, 2002f:20ff.; Thienel, K., Böhm, T., 2006). Zur freien Arbeitsplatzwahl in einem anderen EU-Mitgliedsland sind nicht nur EU-Bürger berechtigt, sondern auch deren Familienangehörige – auch wenn diese aus Drittstaaten stammen. Zum Schutz der Familie haben Familienangehörige in absteigender Linie im Alter unter 21 Jahren ein aus der Freizügigkeit des Arbeitnehmers abgeleitetes Zuzugs- und Aufenthaltsrecht, sowie das Recht zur Arbeitsaufnahme. Die Kinder des ausländischen Arbeitnehmers haben das Recht auf Schulbesuch sowie auf soziale Vergünstigungen wie Kindergeld, Fahrpreisermäßigung etc. Das Recht der Familienangehörigen ist durch Rechtsprechung des EuGH konkretisiert und bestärkt worden (Carrera, S., 2004). Zur Arbeitsuche darf sich ein Arbeitnehmer in jedem Land der EU aufhalten; er hat dabei jedoch noch nicht den sozialen Status eines Arbeitnehmers und damit auch nicht den Zugang zu den Sozialsystemen, d.h. er kann auch keine soziale Unterstützung beanspruchen. Mit der Aufnahme einer legalen Arbeit erhält die Erwerbsperson aus einem anderen EUMitgliedsland den Status eines Arbeitnehmers. Diesen Status behält sie auch, nachdem sie arbeitslos wurde; dies schließt z.B. das Recht zur Teilnahme an Fortbildung und den Anspruch auf Sozialhilfe ein (Sinn, H.-W. et al., 2001:156; Mei, van der, 2003).
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
105
Artikel 46 und 48 AEU-V verpflichtet daher die europäischen Gesetzgeber Parlament und Rat dazu, Maßnahmen zu erlassen, die helfen die Freizügigkeit tatsächlich herzustellen. Dazu gehören
Zusammenarbeit der Arbeitsverwaltungen,
Beseitigung von nationalen und zwischenstaatlichen Rechtsvorschriften, die die Freizügigkeit behindern,
Unterstützung der Vermittlung freier Stellen,
Sicherung des Transfers von Ansprüchen aus Sozialversicherungen.
Entsprechend Artikel 47 AEU-V soll der Austausch junger Arbeitskräfte gefördert werden, wozu auch die Anerkennung von Diplomen zählt. Die Informationen über die Details der Berufsausbildung in den einzelnen Ländern bei einzelnen Berufen soll die Vergleichbarkeit der Ausbildungen verbessern, um potenziellen Arbeitgebern die Personalauswahl auch unter Bewerbern aus einem anderen EU-Land zu erleichtern. Um die Transparenz über Arbeitsangebote und -möglichkeiten in den Mitgliedsstaaten zu erhöhen, hat die EU in Zusammenarbeit mit nationalen Arbeitsverwaltungen den Informations- und Vermittlungsdienst EURES in Leben gerufen, der 1993 seine Arbeit aufnahm. Hier wird Orientierungswissen zum Leben, Arbeiten und Studieren in den einzelnen Mitgliedsländern angeboten sowie eine Vermittlung von offenen Stellen betrieben. Die Zahl der freien Stellen lag 2006 bei fast einer Million, es sind ca. 100.000 Lebensläufe gespeichert und über 5500 Arbeitgeber registriert. Etwa 11 % der EURES-Nutzer kommen aus Polen, es folgen die Herkunftsländer Frankreich, Deutschland und Italien. Am meisten gesucht werden Vermittlungen für Hotel-, Catering- und Personaldienstleistungen sowie in Computer- und ingenieurtechnischen Berufen. Eine systematische Bewertung der Aktivitäten von EURES ist wegen fehlender Daten kaum möglich (EPEC, 2010). Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die Einkommensunterschiede, die einen wesentlichen Wanderungsanreiz darstellen, nicht in der Regelung zur Freizügigkeit erfasst werden. Der Zwang zur Gleichbehandlung ausländischer und einheimischer Arbeitskräfte bei Lohn und Arbeitsbedingungen stellt einen erheblichen Eingriff in die Preisbildung am Markt dar, wodurch letztlich die einheimischen Arbeitnehmer vor Konkurrenz aus dem EUAusland geschützt werden. Der in diesem Zusammenhang häufig benutzte Begriff des „Sozialdumping“ suggeriert, dass diese Konkurrenz verwerflich sei – ein analoger Schutz bei Produkten oder Kapital wird jedoch nicht in Erwägung gezogen (Pelkmans, J., 2010a).
2.3.2.4
Wanderungen in der EU
Welche Wanderungen sind tatsächlich zu beobachten? Wird das europäische Recht auf Freizügigkeit genutzt? In globaler Perspektive wandern Millionen von Menschen innerhalb von Ländern, besonders aus ländlichen Regionen in die großen Städte sowie von ärmeren in prosperierende Länder
106
2 Der Europäische Binnenmarkt
auf der Suche nach Lebensunterhalt und einer Verbesserung ihrer Perspektive (Stalker P., 2000; Global Commission on International Migration, 2005). Damit kontrastiert die geringe Wanderungsintensität innerhalb der EU. Angesichts erheblicher regionaler Unterschiede in der Arbeitslosenquote und bei den Löhnen wäre zu erwarten, dass nach der Herstellung der Freizügigkeit mehr Arbeitnehmer innerhalb der EU auf der Suche nach Arbeit und höherem Einkommen in einen anderen EU-Mitgliedsstaat abwanderten. Die Ausschöpfung der hypothetischen Mobilitätspotenziale in der EU bleibt jedoch weit unter dem Niveau, das aus einer einfachen ökonomischen Überlegung zur Wirkung von unterschiedlichen Löhnen und Arbeitsmarktlagen zu erwarten wäre. Es ist also zu fragen, ob die geringe Wanderungsintensität darauf zurückzuführen ist, dass der Binnenmarkt noch Hemmnisse enthält, die eine höhere Mobilität von Arbeitskräften verhindern, oder ob es andere Kräfte gibt, die einer räumlichen Mobilität entgegenstehen. Anwerbung von „Gastarbeitern“ In den Jahren des „Wirtschaftswunder“, die vom Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet waren (1955–1970), wanderten zahlreiche „Gastarbeiter“ aus den peripheren Ländern Europas in die industriellen Kernländer, um diejenigen Arbeiten zu übernehmen, für die bei starkem Wirtschaftswachstum nicht genug einheimische Kräfte vorhanden waren; vor allem schwere, schmutzige und gefährliche Arbeiten (Kohlebergbau, Müllbeseitigung, Bauarbeiten) sowie einfache Montagetätigkeiten in der Industrie wurden von ausländischen Arbeitskräften übernommen (Bade, K.J., 2000). Da es die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten der EU noch nicht in dem heutigen Rahmen gab, und da auch Arbeitskräfte von außerhalb der damaligen EU gewonnen werden sollten, wurden über Anwerbevereinbarungen Arbeitskräfte aus Italien, Griechenland, Portugal, Spanien und der Türkei in die prosperierenden Industrieländer geholt. Der Anteil der „Gastarbeiter“ an der gesamten Beschäftigung stieg in den EU-9-Ländern von 3% im Jahr 1960 auf 8% im Jahr 1973 (Molle, W., 2006; Werner, H., 2001). Aber mit der Rezession 1973 endete in Deutschland die aktive Anwerbung. Die Beschäftigung der ausländischen Arbeitskräfte war in weit stärkerem Maß als die der deutschen von konjunkturellen Einflüssen geprägt, da sie eher in der Randbelegschaft angesiedelt waren und daher als Konjunkturpuffer dienen konnten. Die „Gastarbeiter“ wurden als Erste arbeitslos, und viele von ihnen gingen dann zurück in ihre Herkunftsländer, um im nächsten Aufschwung zurückzukehren (Brasche, U. u.a., 1984:31; Brasche, U., Schultz, S., 1982). Die Migranten aus der Türkei dagegen bildeten – unterstützt durch umfangreichen Familiennachzug – Gemeinschaften in Deutschland, d.h. eine Rückwanderung bei Arbeitslosigkeit fand nicht im gleichen Maß statt, wie z.B. bei den Südeuropäern, was auch auf die damalige innertürkische politische Situation (Militärdiktatur) zurückzuführen war (Werner, H., 2001). Kaum Zuwanderung nach der Süd-Erweiterung Die am deutlichsten dem Binnenmarkt zurechenbaren Migrationsbewegungen sind diejenigen, die nach der Süd-Erweiterung“ (Spanien, Portugal und Griechenland) möglich wurden. Aus diesen Ländern waren in den 60er und 70er Jahren, d.h. vor deren Beitritt, „Gastarbeiter“ in die europäischen Kernländer gekommen. Nach dem Beitritt in den 80er Jahren und
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
107
nach dem Ende der sechsjährigen Übergangsfristen für die Einführung der vollen Freizügigkeit hat sich statt der nun möglichen Zuwanderung die Tendenz zur Abwanderung fortgesetzt (Kraus, M., Schwager, R., 2000; Bauer, T., 2000). Erstens haben sich die Arbeitsmigranten von der verbesserten politischen und wirtschaftlichen Perspektive in den Heimatländern leiten lassen und zweitens sind die von den „Gastarbeitern“ in den 70er Jahren eingenommenen Arbeitsplätze durch den Strukturwandel weggefallen, in sogenannte „Billiglohnländer“ verlagert worden oder durch den Einsatz moderner Produktionstechniken sind die Arbeitsanforderungen an jenen Arbeitsplätzen so weit gestiegen, dass sie von vielen Migranten mit ihrer oft geringen Qualifikation nicht mehr erfüllt werden konnten. Bei steigender Arbeitslosigkeit ist für Migranten der ersten Generationen die Rückwanderung eine attraktive Alternative. Mobilität innerhalb der EU gering In den USA reagieren die Arbeitskräfte auf Arbeitslosigkeit mit Abwanderung in Regionen mit Arbeitsplätzen, in der EU dagegen eher mit einem Verlassen des Arbeitsmarktes und einem Rückzug in die sogenannte „stille Reserve“ der Arbeitskräfte, deren Wunsch nach Arbeit nicht mehr statistisch erfasst wird (Puga, D., 1999:320, Fn. 17). Die regionale Mobilität ist in der EU viel geringer als in den USA (Janiak, A., E. Wasmer, 2008:23; Delacroix, A., Wasmer, E., 2006). In der EU ist trotz wachsender Unterschiede in den regionalen Arbeitslosenquoten eine Wanderung von Arbeitskräften in Regionen mit geringerer Arbeitslosigkeit und damit ein Ausgleich der Arbeitslosenquoten kaum zu beobachten; eine Ausnahme stellt Großbritannien dar. Auch innerhalb der Länder der EU, so z.B. in Italien, ist die Migration sogar rückläufig (OECD, 1999:113; Faini, R., 1999a). Die vergleichsweise höchste Mobilität weisen die jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräften sowie die gering Qualifizierten auf, bei denen die Sprache bei der Arbeitsausübung eine geringere Rolle spielt. Auch ein Wechsel des Arbeitgebers findet in den Mitgliedsstaaten der EU deutlich seltener statt als in den USA: In der EU sind nur 15% der Beschäftigten kürzer als ein Jahr beim derzeitigen Arbeitgeber, während dieser Anteil in den USA mehr als doppelt so hoch ist (Europäische Kommission, 2002a:26). Für diese geringe Mobilität werden neben einer relativen Angleichung der Löhne sowie rechtlichen Hürden in der EU zwei weitere Gründe angeführt:
Sprachunterschiede bilden eine Barriere, die die Verdienstmöglichkeiten in einem anderen Sprachraum deutlich behindert. Dies zeigt sich darin, dass zwischen 50 Staaten innerhalb der USA 2,5% der Bevölkerung über eine Grenze ziehen, während dies zwischen den englisch- und französischsprachigen kanadischen Provinzen nicht einmal auf 0,4% der Bevölkerung zutrifft. Noch geringer ist die grenzüberschreitende Mobilität in den EU-27 mit 0,3% (Fuchs-Schündeln, N., Bartz, K., 2010; „Mobile moans“, 2012:66).
Die Kosten beim Verkauf eines Hauses sind in den USA geringer als in Europa; außerdem gibt es nationale Unterstützungsprogramme für billigen Wohnraum. Dies erklärt die Mobilitätsdifferenzen zur Hälfte (Rupert, P., Wasmer, E., 2009).
Die wesentlichen rechtlichen Hürden zur Arbeitsmigration wurden zwar schrittweise aufgehoben, jedoch ist die freie Mobilität von Arbeitskräften immer noch beeinträchtigt. Dies liegt an einer Vielzahl von Gründen, wie die folgenden Quellen zeigen.
108
2 Der Europäische Binnenmarkt
Die Europäische Kommission (2001i:10–12) weist noch acht Jahre nach der „Vollendung des Binnenmarktes“ (1992) auf erhebliche Hürden hin. Dazu gehören u.a.
Unterschiede in den Rechten der sozialen Sicherung (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter) sowie Schwierigkeiten bei der Übertragung erworbener (Sozial-) Ansprüche in andere Mitgliedsstaaten,
Probleme bei der Anerkennung gleichwertiger Ausbildungsabschlüsse und Berufsprüfungen,
rechtswidrige Behinderungspraktiken in einzelnen Ländern der EU (Kapitel 2.3.2.5),
mangelnde Transparenz über Arbeitsmöglichkeiten im Ausland,
die Verbindlichkeit von Löhnen des Ziellandes – auch für billigere ausländische Arbeitskräfte (Kapitel 2.3.2.4).
Zum zehnten Jahrestag des Binnenmarktes hat die Europäische Kommission (2002i) Befragungsergebnisse veröffentlicht, die die wesentlichen Gründe dafür enthalten, dass Unternehmen und Arbeitnehmer sich immer noch auf einen nationalen Arbeitsmarkt orientieren. Der wichtigste Grund liegt für Unternehmen darin, dass der lokale oder nationale Arbeitsmarkt für sie ergiebig genug ist; weniger wichtig sind die Hindernisse, an deren Beseitigung die EU mithelfen kann (Informationen, Beurteilung der Berufsabschlüsse). Für Arbeitnehmer stellen die Lösung aus der familiären Bindung und die Überwindung der Sprachhürde entscheidende Hindernisse dar. Allgemeine Informationen und Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche wären allenfalls für jeden Fünften hilfreich. Keine Nutzung der Freizügigkeit: Gründe von Arbeitgebern und -nehmer Arbeitgeber Arbeitnehmer Bereits EU-Ausländer eingestellt 20 EU-Ausland gearbeitet bzw. studiert Keine Einstellung, weil… Plane oder Pläne verworfen, weil… – Nationaler Arbeitsmarkt hinreichend 45 – Familiäre Gründe – Informationen fehlen 15 – Sprachschwierigkeiten – Sprachkenntnisse fehlen 13 – Unzureichend informiert – Berufsabschlüsse nicht bekannt 11 – Schwierigkeiten Arbeitsplatz zu finden – Bewerber familiengebunden 4 Will nicht Angaben in % aller Nennungen, Mehrfachnennungen der Gründe möglich Europäische Kommission (2002i:31, 39)
6 61 29 20 18 16
Tab. 2-6: Keine Nutzung der Freizügigkeit: Gründe von Arbeitgebern und -nehmer
Personen aus den neuen, in den Jahren 2004 und 2007 beigetretenen, Mitgliedsstaaten aus Mittel- und Osteuropa versprachen sich von einer Wanderung vor allem bessere Familieneinkommen sowie bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Freunde und Familie verlassen zu müssen zählte zu den wesentlichen Gründen gegen die Suche eines neuen Arbeitsplatzes in einem anderen Land der EU. Als wesentliche Hürden im Zielland sahen sie die Sprachbarriere sowie Probleme am Arbeitsmarkt (European Commission, 2008h:Kapitel 3).
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
109
Das Jahr 2006 war zum „Europäischen Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer“ erklärt worden, in dem zahlreiche Initiativen zur Beseitigung rechtlicher Mobilitätshürden gestartet werden sollten. Dennoch musste ein Mitglied des Europäischen Parlaments, Alain Lamassoure (2008) eine sehr ernüchternde Bilanz über die bisherigen Erfolge der Freizügigkeitsregelungen ziehen. Diese lassen nach seiner Auffassung in der Praxis noch keinen Europäischen Binnenmarkt für Arbeitnehmer erkennen. Arbeitskräfte – können sie mobil sein? „Die Mobilität der Bürger ist ein Hauptziel des europäischen Aufbauwerks. Zwanzig Jahre nach der Einheitlichen Europäischen Akte, die den Grundsatz der Freizügigkeit verankert hat, bleibt das Problem jedoch falsch gestellt, falsch verstanden und falsch behandelt. Hier hinkt das europäische Recht einer sich sehr schnell entwickelnden Realität hinterher.“ (Lamassoure, A., 2008:16) Die rechtlichen und administrativen Hürden sind nur ein Aspekt bei der Realisierung von Mobilität. Die Situation und Regelungen auf dem Arbeitsmarkt sind entscheidend, wenn auf der Suche nach einem höheren Einkommen ein anderes EU-Mitgliedsland aufgesucht wird. Wenn in vielen Mitgliedsstaaten ein gesetzlicher oder tariflicher Mindestlohn die Löhne nach unten begrenzt und diese auch noch höher ansetzt als es die Beschäftigungen mit geringer Produktivität zuließen, dann kann sich keine Lohnspreizung herausbilden. Damit existieren auch geringere Lohndifferenzen und weniger Wanderungsanreize für die Arbeitskräfte in den unteren Lohn- und Qualifikationssegmenten. Aber auch wenn erhebliche Lohndifferenzen zwischen Herkunfts- und Zielland bestehen, können die wanderungswilligen Arbeitskräfte ihre Bereitschaft, für weniger Lohn zu arbeiten als die Einheimischen, nicht am Arbeitsmarkt des Ziellandes einbringen: Auf den Arbeitsmärkten der europäischen Mitgliedsstaaten besteht in der Regel kein Lohnwettbewerb, da die Löhne und die Arbeitsbedingungen des Ziellandes gelten. Durch gesetzliche Mindestlöhne bzw. durch die Verhandlungsmacht der Interessensvertreter von Beschäftigten und Arbeitgebern sind Lohnsenkungen oder untertarifliche Beschäftigung (bisher) weitgehend ausgeschlossen. Das gilt auch für diejenigen Arbeitskräfte, die nicht unter Nutzung der Freizügigkeit, sondern im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit von ihren Arbeitgebern auf Zeit entsandt wurden: In der Entsende-Richtlinie (RL 96/71/EG; Europäische Kommission, 2006c, 2007i) wird bestimmt, dass sie nach den Mindestkonditionen des Ziellandes behandelt werden müssen. Damit können sie nur dann zu niedrigeren Löhnen ihre Arbeitskraft anbieten, wenn die derzeitigen Marktlöhne über den Mindest- oder Tariflöhnen liegen, d.h. wenn eine Lohndrift besteht. Auch kann die Bereitschaft, zu ungünstigen Zeiten zu arbeiten, den Marktzutritt unterstützen.
110
2 Der Europäische Binnenmarkt
Lohnkonkurrenz führt zu sozialen Unruhen „British jobs for British workers“ Die Freizügigkeit für entsandte Arbeitnehmer hat z.B. im Verlauf der ökonomischen Krise im Frühjahr 2009 in Großbritannien zu wilden Streiks gegen die Vergabe von Arbeitsplätzen an EU-Ausländer unter dem Motto „British jobs for British workers“ geführt. Ausgelöst wurden die Proteste durch die Entscheidung des Ölkonzerns Total, Bauaufträge für eine ostenglische Raffinerie an ein italienisches Unternehmen zu vergeben, das italienische und portugiesische Arbeitskräfte einsetzen wollte („Neue Hürden…“, 2009; „Wilde Streiks …“, 2009; „Discontents, wintry, …“, 2009). Nach erneuten wilden Streiks im Mai 2009 hat das Unternehmen zugesagt, die EU-ausländischen Arbeitnehmer durch Briten zu ersetzen (Vucheva, E., 2009). Frankreichs Schlachter attackieren Konkurrenten aus Deutschland Frankreichs Fleischindustrie warf der deutschen Konkurrenz vor, Zeitarbeiter aus Rumänien, Polen und Ungarn als Dauerarbeitskräfte zu beschäftigen und so „Sozialdumping“ zu betreiben. Da es in dem Sektor aber keine Mindestlöhne wie in Frankreich gebe und die Beschäftigten deutlich niedrigere Löhne bekämen als deutsche Arbeitskräfte, sorge dies für Wettbewerbsverzerrungen, heißt es in einer Beschwerde Frankreichs an die EUKommission. Die Anwendung des Gesetzes zur Arbeitnehmerüberlassung sei nicht im Einklang mit den EU-Richtlinien. Brüssel möge in Berlin darauf hinwirken, dass die Kontrollen verstärkt würden. („Frankreichs Schlachter …“, 2011) Wenn im Zielland kein Mindestlohn besteht, können Migranten auch nach den – im Zweifel niedrigeren – Tarifen des Heimatlandes entlohnt werden und damit Lohnkonkurrenz ausüben. Da Migranten im Allgemeinen die Sprache des Ziellandes weniger beherrschen und dort noch nicht über Insider-Vorteile verfügen, sind sie damit in vielen Tätigkeiten ihres wesentlichen Wettbewerbsvorteils, der Bereitschaft für geringeren Lohn zu arbeiten, beraubt. Es besteht also im Binnenmarkt zwar das Recht der Freizügigkeit, aber eine Lohnkonkurrenz ist nahezu ausgeschlossen. Damit sind Arbeitnehmer mit hohen Einkommen aus den wohlhabenden Ländern zu Lasten der ärmeren aus den neuen Mitgliedsstaaten geschützt, wie auch im Urteil C-346/06 (3. April 2008) von EuGH festgehalten wird (Pelkmans, J., 2006:197– 198; Pelkmans, J., 2010a; Berthold, N., Neumann, M., 2003). Die starken Widerstände in Teilen der einheimischen Bevölkerungen gegen Zuwanderung sind nicht so sehr in der Befürchtung verschärfter Konkurrenz bei Lohn und Arbeitsplatz zu sehen, sondern vielmehr in der Ablehnung von „Überfremdung“, die aus einer Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung resultiert (Card, D., Dustmann, C., Preston, I., 2012).
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
111
Nur wenige EU-Ausländer in der Bevölkerung und auf dem Arbeitsmarkt Will man den Nettoeffekt bisheriger Wanderungen auf die Bevölkerung messen, indem man z.B. den Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung darstellt, stößt man auf methodische Probleme (Münz, R., 2004): So ist z.B. nicht einheitlich definiert, welche Person statistisch als Ausländer zu betrachten ist. Bezieht man sich auf die Staatsbürgerschaft, so zählen alle nicht eingebürgerten, aber möglicherweise seit Generationen im „Gast“-Land integrierten Personen als Ausländer. Bezieht man sich auf den „Migrationshintergrund“, so werden auch Staatsangehörige als Ausländer definiert. Die nicht gelöste Frage, die dabei mitschwingt, ist die nach der Grenze zwischen „Uns“ und den „Fremden“, wie sie in der Wahrnehmung vieler Bürger zur Klärung der eigenen Identität eine Rolle spielt. Die „Fremden“ werden daher häufig auch dazu aufgefordert, ein für erforderlich gehaltenes Maß an Integration oder gar Assimilation zu leisten, das aus einem Ausländer einen Inländer werden lassen könnte. Außerdem ist völlig offen, wie viel Zeit vergehen muss, bis die Herkunft nicht mehr zur Kennzeichnung einer Person herangezogen werden kann. Für eine empirische Darstellung bleibt daher nur der Rückzug auf die in der amtlichen Statistik verwendeten Abgrenzungen, die allerdings nicht europaweit einheitlich sind. Die rechtlich garantierte Freizügigkeit innerhalb der EU sowie die immer noch hohen Einkommensdifferenzen zwischen verschiedenen Ländern und Regionen haben nicht dazu geführt, dass Bürger aus den weniger wohlhabenden Ländern Europas einen nennenswerten Anteil der Bewohner anderer Mitgliedsstaaten ausmachen (Tab. 2-7): In den EU-27 stammen im Jahr 2010 2,5% der Wohnbevölkerung aus einem anderen Mitgliedsstaat und 4,0% aus einem Drittland. Der Anteil der EU-Ausländer war in Belgien, Zypern, Irland, Großbritannien, Deutschland und Österreich überdurchschnittlich hoch lag, aber immer noch unter 7%; Luxemburg stellt einen Sonderfall dar, da in diesem kleinen Land die internationalen Behörden der EU sowie die Finanzinstitutionen einen unverhältnismäßig großen Anteil ausmachen (Vasileva, K., 2011; European Commission, 2011d:249). In den meisten EUMitgliedsstaaten machen die EU-Ausländer einen deutlich geringeren Anteil aus als die Menschen aus Drittstaaten. In einigen Ländern stammen die Migranten zu größeren Anteilen aus ehemaligen Kolonien oder Gebieten, zu denen intensivere politische oder wirtschaftliche Beziehungen bestanden, wie dies z.B. bei Frankreich und Algerien, Deutschland und Polen oder Großbritannien und Pakistan der Fall ist (Dustmann, C., Frattini, T., 2011:34). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat in den wiedererstandenen baltischen Staaten jede siebte Person die russische Staatsangehörigkeit und wird daher statistisch als Ausländer gezählt. Kumuliert über die Jahre seit 1990 hat sich besonders in Deutschland durch die „Aussiedler“, in Griechenland, Spanien und Österreich durch die Öffnung des „Ost-Blocks“ und den Zerfall Jugoslawiens eine deutliche Erhöhung der Zahlen ergeben. Für den offiziellen Arbeitsmarkt wird nur ein Teil dieser Wanderungen unmittelbar wirksam, weil – je nach Land – ein Teil der Personen im Rahmen der Familienzusammenführung kommt (Guardia, N. D., Pichelmann, K., 2006:11 ff.).
112
2 Der Europäische Binnenmarkt Ausländer – Anteil an den Erwerbspersonen (%) 2005
2010
EU-27
Extra-EU
gesamt
EU-27
Extra-EU
gesamt
EU-27
2
4
6
3
5
7
Finnland
1
1
2
1
1
2
Niederlande
2
2
4
2
2
4
Portugal
1
3
4
1
4
5
Schweden
3
2
5
3
3
5
Dänemark
1
2
3
2
3
6
Frankreich
2
3
5
2
3
6
Vereinigtes Königreich
2
4
6
4
4
8
Belgien
6
2
8
7
3
9
Deutschland
4
6
9
4
6
9
EU-15
Griechenland
1
6
7
2
8
10
Italien
1
4
5
3
6
10
Österreich
4
7
11
5
7
11
0
10
3
13
Irland Spanien Luxemburg
3
8
11
5
11
16
42
3
45
45
4
49
0
0
0
0
EU+10 Polen
0
Litauen
0 1
1
1
Ungarn
1
0
1
1
0
1
Tschechische Republik
0
0
1
1
1
1
Slowenien
0
0
0
Malta
2
Lettland
2
2
2
3 16
0
16
Estland
1
18
19
1
18
18
Zypern
7
7
14
13
9
22
Bulgarien
1
0 2
0
0
Rumänien Slowakei 0 0 Erwerbspersonen: Erwerbstätige + Arbeitslose; EU-27: Nicht-Staatsangehörige aus einem anderen EU-27 Land; Extra-EU: aus einem Land außerhalb der EU. EUROSTAT-Datenbank, 23.8.2012 [tgipe120], [tgipe120] Tab. 2-7: Ausländer-Anteil an den Erwerbspersonen (%)
Unter der Regelung der „entsandten Arbeitnehmer“ kamen im Jahr 2009 ca. 200 Tsd. Personen aus Polen, aber auch 170 bzw. 160 Tsd. Personen aus Deutschland und Frankreich in andere EU-Mitgliedsstaaten zur Arbeit (European Commission, 2011d:258). Es handelt sich bei diesem Personenkreis also nicht überwiegend um die Suche nach einer besser bezahlten Arbeit, sondern eher um die Begleitung von Exporttätigkeiten der Unternehmen.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
113
Unter den Arbeitsmigranten, die in der letzten Zeit in ein Land der EU-15 gegangen sind, arbeiten diejenigen aus den EU-15 eher in hochqualifizierten Berufen, während diejenigen aus den neuen Beitrittsländern (2004, 2007) eher in handwerklichen, industriellen und einfachen Berufen tätig sind. Dieser Befund wird auch dadurch erklärt, dass aus den neuen Mitgliedsstaaten eher geringer Qualifizierte abwandern, während es eher die höher Qualifizierten sind, die innerhalb der EU-15 wandern (European Commission, 2011d:270–272). Weiterführende Literatur
European Commission (2012a), Migrants in Europe — A statistical portrait of the first and second generation, Luxembourg
European Commission (2011d), Employment and Social Developments in Europe 2011, Luxembourg, esp. ch. 6
Dustmann, C., Frattini, T. (2011), Immigration: The European Experience, IZA Discussion Paper
Pedersini, R., Pallini, M. (2010), Posted workers in the European Union, Dublin
2.3.2.5
Vertragsverletzungen der Freizügigkeit
Ist die grenzüberschreitende Arbeitsaufnahme problemlos möglich? Welche Verstöße gegen die Freizügigkeit werden gerügt? Die Vertragsverletzungsfälle zur Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Studenten zeigen, dass die Durchsetzung des Rechts im Einzelfall auf Widerstand oder Unkenntnis der Behörden stößt: Frankreich verlangte von ausländischen Studenten eine bestimmte Form der Krankenversicherung und erkannte z.B. eine Versicherung über die Eltern oder private Versicherung im Heimatland nicht an. Dies führte dazu, dass sich diese Studenten doppelt versichern mussten, um in Frankreich studieren zu können. Für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis verlangten die französischen Behörden neben dem Pass bzw. Personalausweis zusätzliche Dokumente, wie z.B. Geburts- und Heiratsurkunden – manchmal auch in französischer Übersetzung. Diese Forderungen sind nach den EU-Richtlinien nicht zulässig. Einige deutsche Bundesländer erkannten nur Hochschuldiplome an, die von einer Einrichtung verliehen wurden, die einer deutschen Hochschule vergleichbar ist; außerdem muss ein dreijähriges Studiums absolviert worden sein, wobei an der verleihenden ausländischen Hochschule mindestens ein Jahr absolviert worden sein musste. Diese Anforderungen verstoßen nach Auffassung der Kommission gegen den AEU-V, da es reicht, wenn das Diplom nach den Vorschriften der verleihenden Einrichtung erteilt wird und diese ein Kontrollsystem hat. Frankreich verlangt von ausländischen Krankenhausverwaltern, dass sie mindestens 27 Monate Zusatzausbildung durchlaufen, auch wenn sie bereits über einen entsprechenden Ausbil-
114
2 Der Europäische Binnenmarkt
dungsabschluss verfügen, mit dem sie in einem andern Mitgliedsland diesen Beruf ausüben dürfen. Österreich, Frankreich und Dänemark wollten die Anzahl ausländischer Studenten – besonders in aufwändigen Studiengängen wie Medizin – beschränken. Dies hat die Kommission zur Intervention veranlasst, da damit die Freizügigkeit beschränkt würde (Pressemitteilung IP/07/776, 24.1.2007). Die Kontrollen bezüglich der entsandten Arbeitnehmer, die die Einhaltung der Vorschriften des Ziellandes durch die Verwaltungen sicherstellen soll, werden von der Kommission als zu restriktiv gerügt. Dadurch würde die Freizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigt (Pressemitteilung IP/07/817, 13.6.2007). Im Profisport ist die Beschränkung der Anzahl ausländischer Spieler nicht zulässig, da damit die Freizügigkeit eingeschränkt wird. Dieses Urteil des EuGH vom Dezember 1995 in der Rechtsache C-415/93 („Bosman-Urteil“) hat die Zusammensetzung der professionellen Fußball-Liga verändert.
2.3.3
Niederlassungsfreiheit im Binnenmarkt
2.3.3.1
Die Regelung der Niederlassung in der EU
Ist die grenzüberschreitende Niederlassung problemlos möglich? Was kann die Kommission zur Erleichterung von Niederlassungen tun, wenn die Regulierung in den Mitgliedsstaaten erfolgt? Die Niederlassungsfreiheit behandelt das Recht natürlicher und juristischer Personen, in anderen EU-Ländern selbstständig erwerbstätig zu werden und in diesem Zusammenhang ein Unternehmen zu gründen, z.B. als Einzelunternehmen, Agentur, Zweigniederlassung oder Tochterunternehmen. Prinzipiell war dies bereits seit 1968 für EU-Bürger möglich. Jedoch wurde die Gründung eines Unternehmens in einem anderen Mitgliedsland durch die Unterschiede in den nationalen Vorschriften behindert. Dazu zählen z.B. Zulassungsvorschriften für freie Berufe (Rechtsanwälte, Ärzte, Architekten, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer Ingenieure, Unternehmensberater etc.). Daher bestimmt der AEU-V (Artikel 49–55), dass Beschränkungen der freien Niederlassung im Grundsatz unzulässig sind. In diesem Wirtschaftssegment werden Regelungen nicht allein vom Staat erlassen, sondern auch durch die privaten Berufsverbände. Als Ausnahme bleibt (Artikel 51 AEU-V) der Ausschluss von hoheitlichen Tätigkeiten, die die Ausübung öffentlicher Gewalt – z.B. Justiz, Polizei, Militär – einschließen, jedoch ist damit keineswegs der gesamte öffentliche Dienst gemeint. Vorschriften gelten dann als diskriminierend und sind daher generell unzulässig, nach denen (Geiger, 2000:296 ff.) z.B.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
115
unmittelbare Verbote oder Behinderungen verfügt werden, wie ein Verbot der selbstständigen Tätigkeit für Ausländer, besondere Genehmigungsanforderungen für Ausländer oder das Verbot Grundstücke zu kaufen,
die Mitgliedschaft in einer berufsständischen Kammer oder einem Sportverband EUausländischen Anbietern verwehrt wird,
eine verstecke Diskriminierung praktiziert wird (verfälschende und schädliche sprachliche Übertragung ausländischer Firmennamen, höhere Steuersätze).
Die Niederlassungsfreiheit ist besonders bei den freien Berufen von Bedeutung. Deren wirtschaftliches Gewicht ist empirisch nur ungenau bestimmbar, da keine einheitlichen Statistiken existieren. Es handelt sich überwiegend um anspruchsvolle Tätigkeiten, für die hohe Anforderungen an die formale Qualifikation gestellt werden (Paterson, I. et al., 2003). Zur Sicherung der Niederlassungsfreiheit gilt das Diskriminierungsverbot von EUAusländern: So dürfen z.B. einem Rechtsanwalt, Arzt, Zahnarzt oder Wirtschaftsprüfer weder die Einrichtung einer Zweitniederlassung verwehrt werden, noch Beiträge zur Sozialversicherung abverlangt werden, wenn er schon im Land des Erstsitzes versichert ist. Besonders bei den Befähigungsnachweisen, die als Voraussetzung zur Zulassung in bestimmten Berufen erforderlich sind, muss die Gleichwertigkeit der in einem anderen Land erworbenen Nachweise geprüft werden, und die Gelegenheit zum Nachweis eventuell noch fehlender Qualifikationen muss gegeben werden. Über das Diskriminierungsverbot hinaus ergibt sich aus dem AEU-V das Gebot der Förderung grenzüberschreitender Tätigkeit durch aktive Beseitigung von national beeinflussten Regulierungen („positive Integration“). Die Kommission geht von der Hypothese aus, dass die Fragmentierung des europaweiten Marktes durch nationale Regulierungen des Marktzugangs eine Marktzutrittsbarriere für EU-Ausländer darstellt, deren Beseitigung die gleichen positiven Effekte hervorbringen würde, wie dies auf dem Gütermarkt der Fall ist (European Commission, 2004a; 2005b). Allerdings ist ein angemessenes Maß an Regulierung im Prinzip nützlich und erforderlich, um das im Bereich der freien Berufe vermutete Marktversagen durch asymmetrische Informationen zu kompensieren. Der Anbieter von Diensten ist dem Nachfrager überlegen, da letzterer die Qualität der Leistung und die Höhe des gerechtfertigten Preises nicht einschätzen kann. Außerdem handelt es sich bei Dienstleistungen, wie sie in freien Berufen erbracht werden, um ein „Vertrauensgut“, das vor seiner Erbringung nicht beurteilt werden kann – lediglich die Reputation des Dienstleisters gibt einen Hinweis auf die erwartbare Qualität. Die Anbieter könnten versuchen, eine zu umfangreiche und zu teure Leistung zu erbringen und den Marktzutritt für neue Anbieter durch die Selbstorganisation der Berufsgruppe sehr stark zu beschränken, um den Wettbewerbsdruck gering zu halten (Fritsch, M. et al., 2001). Als Schutz vor den negativen Folgen des Marktversagens kann der Marktzugang gesteuert werden, indem Anbieter zertifiziert werden oder durch Lizenzvergabe deren Zahl beschränkt wird. Darüber hinaus kann es eine Vorgabe der Tarife in Gebührenordnungen geben, die ebenfalls den Wettbewerb beschränkt.
116
2 Der Europäische Binnenmarkt
Wie viele Apotheken soll es geben? Durch das deutsche Apothekengesetz wird die Zahl der Apotheken, die von einem einzelnen Apotheker betrieben werden dürfen, begrenzt. So soll auch unterbunden werden, dass große Gesellschaften mit zahlreichen Filialen sich auf dem Markt etablieren können. Diese Beschränkung wurde als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit vor den EuGH gebracht. Der hat allerdings das deutsche Gesetz bestehen lassen und dies mit dem Gewinnstreben angestellter Apotheker begründet (Urteil C-172/07 vom 19. Mai 2009). Die Sicherheit der medizinischen Versorgung hat also Vorrang vor dem Streben nach freien Märkten. Offen bleibt allerdings, ob sich vom Inhaber geführte Apotheken sich tatsächlich mehr am Wohl des Kunden als am Profit orientieren. Die Kommission zielt nicht auf die Abschaffung von Regulierungen, sondern auf deren Reduzierung auf ein für erforderlich gehaltenes Maß. Wenn die Unterschiede in den nationalen Regulierungen der freien Berufe groß sind, können verschiedene Lösungen angewandt werden:
Rechtsangleichung durch Harmonisierung,
automatische Anerkennung der Zertifikate des Herkunftslandes,
Festlegung von Ausgleichsmaßnahmen bei unzureichender Qualifikation, wie z.B. eine „Einarbeitungszeit“ oder das Absolvieren von zusätzlichen Kursen,
Einführung eines einheitlichen, europaweit gültigen „Berufsausweises“,
Harmonisierung der Beschreibung der Ausbildungsabschlüsse zur besseren Vergleichbarkeit der Qualifikation („Bologna Prozess“).
Rat und Parlament haben die Möglichkeit Richtlinien zu erlassen, um die Niederlassungsfreiheit herzustellen. Dies betrifft insbesondere die Verbesserung der gegenseitigen Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und Befähigungsnachweisen; hierzu wird in der Richtlinie 2005/36/CE im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH die Anerkennung der beruflichen Qualifikation in 800 freien Berufen neu geregelt, um die grenzüberschreitende Niederlassung und das Erbringen von Dienstleistungen zu erleichtern. Sie konsolidiert und aktualisiert die bestehenden Regeln zur Anerkennung von Berufsqualifikationen, um eine größere Liberalisierung der Erbringung von Dienstleistungen, einen stärkeren Automatismus der Anerkennung von Qualifikationen und eine größere Flexibilität bei der Aktualisierung der Richtlinie zu erreichen. Die Kommission (European Commission, 2011e) hat in einer Evaluation die begrenzte Wirksamkeit dieser Richtlinie festgestellt und daher im Jahr 2011 eine Initiative zur Weiterentwicklung dieser Richtlinie gestartet, um die Niederlassungsfreiheit in der Praxis voranzubringen.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
2.3.3.2
117
Vertragsverletzungen der Niederlassungsfreiheit
Welche Verstöße gegen die Niederlassungsfreiheit werden gerügt? Gegen die vertraglich zugesicherte Niederlassungsfreiheit verstießen einzelne Mitgliedsstaaten z.B. in den folgenden Fällen: Kapitalgesellschaften, die z.B. in den Niederlanden unter wesentlich einfacheren Bedingungen gegründet werden können als in Deutschland („Billig-GmbH“), wurden in Deutschland nicht als vertragsfähig und klagebefugt anerkannt; vielmehr wurde verlangt, dass in Deutschland nochmals eine Gesellschaft nach deutschem Recht gegründet werden müsse. Dies hat der EU-Gerichtshof als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit verurteilt (EuGH, 5.11.2002, C-208/00) und der deutsche Bundesgerichtshof hat im März 2003 sich dieser Auffassung angeschlossen. Die Forderung der niederländischen Handelskammer an eine britische „Billig-GmbH“, ihre Herkunft als ausländische Gesellschaft in ihrer Namenswahl deutlich zu machen, wurde vom EU-Gerichtshof als nicht vereinbar mit dem Binnenmarkt verworfen (EuGH, 30.9.2003, C-167/01). Die Europäische Kommission hat gegen Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Luxemburg und Österreich Klage eingereicht, weil sie nur ihren eigenen Staatsangehörigen den Zugang zum Notarberuf gestatten. Nach Auffassung der Kommission verstößt das Staatsangehörigkeitserfordernis gegen die in Artikel 43 EG-V verankerte Niederlassungsfreiheit und kann nicht mit Artikel 45 EG-V, der eine Ausnahme für mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbundene Tätigkeiten vorsieht, begründet werden (IP/07/915, 27.6.2007). Der EuGH hat diese Auffassung bestätigt (IP/12/291, 22. März 2012) Die höhere Besteuerung von Darlehen, die von ausländischen Muttergesellschaften an ihre Tochtergesellschaften in Deutschland vergeben wurden (§8a KStG), verstößt gegen europäisches Recht (EuGH, 12. Dez. 2002, C-324/00).
2.3.4
Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt
2.3.4.1
Definition und Beschreibung von Dienstleistungen
Welche Merkmale zeichnen Dienstleistungen aus? Sind Dienstleistungen (international) handelbar? Unter dem Begriff Dienstleistungen wird eine heterogene Vielfalt von Aktivitäten zusammengefasst; eine einheitliche Definition existiert nicht. Für die folgenden Betrachtungen der Dienstleistungen im Binnenmarkt sollen daher einige Überlegungen vorangestellt werden, die zum Verständnis der Problematik der Dienstleistungsfreiheit in der EU wichtig sind. Die folgenden Strukturdimensionen, in denen Dienstleistungen definiert und von anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten abgegrenzt werden können, liegen den zahlreichen Statistiken zu Dienstleistungen zugrunde.
118
2 Der Europäische Binnenmarkt
Merkmal Zielgruppe Berufe Tätigkeitsinhalt Sektor, Branche Stellung des Erbringers Eigene Zusammenstellung.
Morphologie von Dienstleistungen Ausprägungen Personen – Unternehmen Erlernt – ausgeübt; Landwirt, …, Schlosser, …., Friseur, …, Banker, …, Planen, herstellen, reparieren, Dienst erbringen, … Primär – sekundär – tertiär; Landwirtschaft – Produktion – Dienstleistungen, Staat Privates Unternehmen – öffentliche Hand
Tab. 2-8: Morphologie von Dienstleistungen
In einer Morphologie von Dienstleistungen sind die folgenden Strukturierungskriterien zu unterscheiden:
Nach der Zielgruppe werden Dienstleistungen in personen- bzw. unternehmensbezogen unterteilt. Der Empfänger ist im ersten Fall eine Privatperson, die z.B. Leistungen wie Bildung, Gesundheitsdienste, Unterhaltung, Transport oder Sicherheit in Anspruch nimmt. Die Präferenzen und die Kaufkraft der Konsumenten steuern die Struktur und das Volumen der Nachfrage nach diesen Dienstleistungen. Im zweiten Fall ist es ein Unternehmen, das die Dienste in seinen eigenen Leistungserstellungsprozess einbindet; dies sind z.B. Marketing, Beratung, Bildung, Logistik, Informationsverarbeitung oder Reinigung. Die gleiche Leistung kann sowohl von Personen als auch von Unternehmen in Anspruch genommen werden. Unternehmensbezogene Dienstleistungen werden also für andere Industrie- und Dienstleistungsunternehmen angeboten und können sich nur in Abhängigkeit von deren Nachfrage entfalten, so dass ein Rückgang von Arbeitsplätzen in der Industrie nur bedingt durch Arbeitsplätze in den Dienstleistungen kompensiert werden kann.
Die erlernten oder ausgeübten Berufe (z.B. Führungskraft, Handwerker, Bürokraft, Techniker, Ingenieur, Wissenschaftler, Hilfskraft, Bauarbeiter) beschreiben durch Ausbildung und Tradition festgelegte Qualifikationen von Personen. Einige Dienstleistungsberufe wie z.B. Büroberufe, werden in allen Bereichen einer Wirtschaft ausgeübt, während andere weitgehend in einer Branche konzentriert sind (z.B. Lehrer im Bildungswesen).
Erwerbstätige verrichten unterschiedliche Tätigkeiten (z.B. Planen, Herstellen, Informieren, Verteilen, Führen, Beraten etc.) – auch mehrere parallel mit unterschiedlichen Anteilen am gesamten Zeitbudget. Tätigkeiten sind, wie es auch bei Berufen der Fall ist, über die unterschiedlichsten Branchen gestreut (z.B. ist Informieren ein Bestandteil fast aller Tätigkeiten in allen Branchen).
Die Zuweisung von Unternehmen wird nach dem Schwerpunkt ihrer Produktion zu den drei Sektoren (Landwirtschaft, Industrie, Dienstleistungen) bzw. Branchen (z.B. Landund Forstwirtschaft, Fischerei; Produzierendes Gewerbe; Handel, Gastgewerbe und Verkehr; sonstige Dienstleistungen) vorgenommen. Innerhalb der Branchen, die nicht zu den Dienstleistungen gezählt werden, werden allerdings auch Dienstleistungstätigkeiten erbracht (z.B. Schulung im Maschinenbau).
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
119
Nach der Stellung des Erbringers werden private oder öffentliche Dienstleistungen unterschieden, wobei der Begriff des „Öffentlichen Dienstes“ einen Bereich zusammenfasst, in dem traditionsgemäß staatliche Stellen als Produzenten von Gütern und Diensten auftreten. In öffentlicher Hand waren und sind in vielen Ländern vor allem die Dienstleistungen Bahn und Nahverkehr, Post und Telekommunikation, Energieerzeugung und -verteilung sowie Wasserwirtschaft. Bei einigen Diensten, z.B. bei Bildung und Gesundheit, können ein öffentliches und ein privatwirtschaftliches Angebot nebeneinander bestehen. Für eine Aufteilung der Dienstleistungen zwischen Staat oder privaten Anbietern gibt es keine allgemein akzeptierte Regel. In den Mitgliedsländern der EU sind unterschiedliche Strukturen und Traditionen bei dieser Aufteilung festzustellen. Die Veränderung dieser Eigentümerstrukturen berührt erhebliche wirtschaftliche und politische Interessen und stößt entsprechend auf Widerstand; ihre Neuordnung ist das Kernelement der Durchsetzung des freien Dienstleistungsverkehrs im Binnenmarkt (Kapitel 2.3.4.3).
Zu den Eigenschaften und Eigenheiten von Dienstleistungen, die diese von der Produktion materieller, „anfassbarer“ Güter unterscheiden, zählen folgende:
Die räumliche Nähe von Anbieter und Nachfrager im Moment der Leistungserstellung ist beispielsweise bei ärztlicher Diagnostik, beim Schneiden von Haaren oder bei der Nutzung des touristischen Angebots eines Badestrands erforderlich. Bei anderen Diensten ist vom Funktionsablauf her eine räumliche Trennung denkbar, aber der Charakter der Leistung erfordert persönlichen Kontakt, wie z.B. bei der Unternehmensberatung. Jedoch verändert sich die Notwendigkeit zur Nähe durch die Informationstechnologie, die neue Vertriebswege und räumliche Verteilungen wie z.B. E-Commerce, InternetBanking, Fern-Operieren etc. entstehen lässt. Dadurch eröffnen sich neue Optionen der Internationalisierung, wie die Verlagerungen einzelner Funktionen in Billiglohnländer. Beispiele dafür sind Programmierung sowie „Back-Office“-Funktionen, die für amerikanische Unternehmen in Indien durchgeführt werden.
Dienstleistungen werden im Moment ihrer Erzeugung auch „verbraucht“, so dass sie nicht gelagert werden können, wie dies am Beispiel des Personentransports oder der inneren Sicherheit deutlich wird; sie sind daher auch nicht transportierbar.
2.3.4.2
Entwicklung und Bedeutung von Dienstleistungen
Warum gibt es einen Trend zur „Dienstleistungsgesellschaft“? Wofür sind marktbestimmte Dienstleistungen wichtig? Drei-Sektoren-„Theorie“ Mit der Entwicklung kapitalistischer Wirtschaften geht ein langfristiger Trend zur Verschiebung der Gewichte zwischen primärem Sektor (Landwirtschaft), sekundärem Sektor (Industrie) und dem tertiären Sektor (Dienstleistungen) einher: Die Bedeutung von Landwirtschaft und Industrie geht zurück, während das wirtschaftliche Gewicht der Dienstleistungen zunimmt. Diese Beobachtung wird auch als „Drei-Sektoren-Theorie“ bezeichnet, obwohl hier
120
2 Der Europäische Binnenmarkt
keine Theorie, d.h. kein Erklärungsversuch von Zusammenhängen, vorliegt, sondern ein empirischer Sachverhalt. Es werden verschiedene Erklärungen dieser Verschiebung zum „dritten Sektor“ (Tertiarisierung) diskutiert (Pohl, H.-J., 1970; Meißner, W., Fassing, W., 1989; Klodt, H. et al., 1997; Knottenbauer, K., 2000; Wölfl, A., 2005; Schettkat, R. , Yocarini, L., 2006). Dabei wird besonders verwiesen auf 1.
steigende Einkommen mit Verschiebungen der Endnachfrage hin zu Dienstleistungen,
2.
Trennung von Dienstleistungen und Produktion und
3.
geringere Produktivität von Dienstleistungen im Vergleich zur Produktion von Gütern, die Ressourcen zu den Dienstleistungen verschieben.
Zu: Steigende Einkommen Mit steigendem Einkommen werden in den privaten Haushalten mehr, meist hochwertige Dienstleistungen nachgefragt, da sie nach der Befriedigung der Grundbedürfnisse noch Mittel für Reisen, Kommunikation, Unterhaltung o.ä. zur Verfügung haben. Da dem Staat in vielen Gesellschaften eine stärkere Rolle für gesellschaftliche und besonders für soziale Vorsorge zugewiesen wurde, wuchs der öffentliche Sektor durch ein vermehrtes Angebot von Bildung, Gesundheit und Altersversorgung überproportional an. Eine alternde und wohlhabende Bevölkerung dürfte künftig zusätzlich Dienstleistungen aus dem Bereich Gesundheit und Soziales nachfragen. Zu: Trennung In der Produktion von Gütern spielen Dienstleistungen dann eine wachsende Rolle, wenn Industriebetriebe flankierende Dienstleistungen als zusätzliches Angebot in Verbindung mit dem Verkauf eines Produkts erbringen (Finanzierung eines Autokaufs, Schulung des Personals nach dem Kauf einer Maschine). Innerhalb der güterproduzierenden Industrie werden auch Tätigkeiten mit Dienstleistungscharakter ausgeübt, wie z.B. Buchhaltung, Transport und Logistik, Beratung oder Reinigung. Diese Tätigkeiten werden in Produktionsstatistiken nicht gesondert als Dienstleistungen ausgewiesen. Wenn Industrieunternehmen ihre Organisation ändern, indem sie diese Aufgaben an spezialisierte Dienstleistungsunternehmen auslagern, dann wächst bei unverändertem Tätigkeitsspektrum der Dienstleistungssektor statistisch an. Mittlerweile werden mehr als die Hälfte der Dienstleistungen, die ein Unternehmen benötigt, auf diese Weise – allerdings überwiegend bei lokalen Anbietern – zugekauft (Alajääskö, P., 2006; European Commission, 2004b:25). Ein weiterer Grund für das Anwachsen des Dienstleistungssektors liegt in der Globalisierung. Sie findet ihren Ausdruck auch in einer veränderten Arbeitsteilung zwischen Ländern mit hohen und niedrigen Lohnstückkosten. Besonders einfache Fertigungs- und Montagearbeiten werden verlagert, während unternehmensbezogene Dienstleistungsarbeiten wie Forschung und Entwicklung, Design, Beratung, Finanzierung und Marketing in den ursprünglichen Industrieländern verbleiben. Dadurch ändert sich aus der Sicht der abgebenden Länder deren Wirtschaftsstruktur hin zu einer „Dienstleistungsökonomie“.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
121
Zu: Arbeitsproduktivität Beim Erbringen von Dienstleistungen können die Anbieter sich nicht so stark auf Maschinen stützen, wie dies bei der Erzeugung von Gütern der Fall ist; vielmehr sind Dienstleistungen vornehmlich auf immaterielles und geistiges Kapital wie die spezifische Qualifikation des Personals, die Unternehmensorganisation, Beziehungen und Netzwerke angewiesen. Für die Steigerung der Arbeitsproduktivität der Dienstleistungen steht weniger kapitalintensive Rationalisierungstechnologie zur Verfügung als für die Produktion materieller Güter. Entsprechend steigt die Produktivität im Dienstleistungssektor langsamer als in der Produktion. Dieser vergleichsweise geringere Anstieg in den Dienstleistungen wird auch als „cost disease“ bezeichnet (Baumol, W. J., Blinder, A.S., 1999). Statistische Messung von Dienstleistungen Um die Entwicklung der Dienstleistungen für verschiedene Länder sowie im Zeitablauf vergleichen zu können, ist es erforderlich, das Produktionsergebnis von Dienstleistungen zu messen. Dies stößt jedoch auf methodische Probleme: Der Output kann nicht direkt gemessen werden. Daher wird in den Statistiken stattdessen der Input gemessen, d.h. es wird erfasst, wie viel Faktoreinsatz zur Erbringung der Dienstleistung erbracht wurde (Stille, F. et al., 2003:44 ff.; Wölfl, A., 2003), wie die folgenden Beispielen zeigen:
Die Polizei bietet Sicherheitsdienstleistungen im Inland an, deren Output nicht beziffert werden kann; stattdessen werden die Personal- und sonstigen Kosten für die Polizei gemessen.
Ein Friseur sorgt für „Verschönerung“; das Ergebnis wird durch die Kosten des Friseurbesuchs erfasst.
Eine Lehrveranstaltung vermehrt die intellektuelle Leistungsfähigkeit bei den Teilnehmenden, die nicht als Ergebnis beziffert wird. Stattdessen werden die Kosten für Lehrpersonal, Räume etc. gemessen.
Aus dem gleichen Grund ist es nicht möglich, die Produktivität bei Dienstleistungen als Verhältnis von Input zu Output zu messen. Werden die Kosten für den Input erhöht, wird dies als Erhöhung des Outputs verbucht. Somit erscheinen Lohnerhöhungen im Dienstleistungsbereich statistisch als Produktionserhöhungen. Das statistische Gewicht der Dienstleistungen kann daher besser durch die Zahl der Beschäftigten beschrieben werden, wobei eine Bereinigung um Teilzeitarbeit erforderlich wäre, die aber aufgrund der Quellenlage nicht immer möglich ist. Gewicht der Dienstleistungen heute Die Land- und Forstwirtschaft trug 1999 in der EU-27 nur noch 2,5% zur Wertschöpfung bei, und auch die Industrie erreichte nur noch gut ein Fünftel (Tab. 2-9). Zusammen mit der Baubranche (5,6%) erreichten die herstellenden Branchen 28% der gesamten Wertschöpfung, die Dienstleistungen dagegen trugen 70% bei. Die öffentliche Hand erbringt Dienste wie Sicherheit oder öffentliche Verwaltung, dominiert aber auch in Dienstleistungsbereichen wie Gesundheit und Bildung. Innerhalb von zehn Jahren hat sich der Akzent weiter hin zu
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2 Der Europäische Binnenmarkt
Dienstleistungen entwickelt, wenn die Daten von 2009 auch bereits Auswirkungen der Krise zeigen, die besonders zu Einbrüchen in der Industrie geführt hat. Wirtschaftsstruktur der EU-27 – Wertschöpfung der Branchen (%) Branche NACE 1999 Land- u. Forstwirtschaft, Fischerei A, B 2,5 Industrie C–E 22,5 Bau F 5,6 Handel, Hotels, Restaurants, Transport, Kommunikation G–I 21,6 Finanzierung, Dienstleistungen für Unternehmen J, K 25,7 Öffentliche Verwaltung, Bildung, Gesundheit, sonstige L–P 22,3 Dienstleistungen, private Haushalte Gesamtwirtschaft EU-27 A–P 100,0 EUROSTAT 2011c:48
2009 1,7 17,9 6,3 20,9 29,2 24,0 100,0
Tab. 2-9: Wirtschaftsstruktur der EU-27 – Wertschöpfung der Branchen ( %)
Über den Markt erbrachte Dienstleistungen (Tab. 2-10) tragen zusammen fast die Hälfte der gesamten Wertschöpfung in den EU-25 bei. Der Handel macht fast ein Drittel dieses Sektors aus. Das Transportwesen erwirtschaftet 12% und die Kommunikationsbranche (Post und Telekommunikation) 7% der Wertschöpfung. Dienstleistungen für Unternehmen, wie Beratung, Ingenieurleistungen, Personalvermittlung oder Reinigung erreichen 19% der Wertschöpfung des Unternehmenssektors. Andere – meist hochwertige – Dienste wie Datenverarbeitung sowie Forschung und Entwicklung machen 6% aus. In der EU ist ein Teil dieser Aktivitäten Gegenstand intensiver politischer Diskussionen über die weitere Entwicklung im Binnenmarkt: Post und Telekommunikation sowie Bahnverkehr stehen unter dem Druck zur Privatisierung. Der Luftverkehr soll weltweit liberalisiert werden und Unternehmensdienstleistungen sollen von Schranken befreit werden, die das EU-weite, grenzüberschreitende Angebot dieser Dienstleistungen behindern. Die Verflechtung zwischen den marktbestimmten Anbietern von Dienstleistungen und der Gesamtwirtschaft sind erheblich (Rubalcaba-Bermejo, 1999:143 ff.; Europäische Kommission, 2003b:18): Fast die Hälfte dieser Dienste wird im Sektor ihrer Erzeugung verbraucht. Die Industrie nimmt 29% dieser Dienstleistungen ab; darin zeigt sich die Wirkung des Outsourcing von Dienstleistungstätigkeiten aus der Industrie. Das Baugewerbe, Gastgewerbe und Grundstücks- und Wohnungswesen (12%) bilden zusammen mit dem Öffentlichen Sektor (11%) die anderen Endkunden der Dienstleister.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“ Dienstleistungen im Unternehmenssektor der EU-25 Anteile an der Wertschöpfung 2002 Branche NACE Anteil Handel G 31 Fahrzeuge G (50) 5 Großhandel G (51) 14 Einzelhandel G (52) 12 Beherbergung, Gaststätten H + 63.3 6 Verkehr, Nachrichten I 19 Landverkehr I (60) 6 Schifffahrt I (61) 1 Luftfahrt I (62) 1 Sonstige Verkehrshilfsleistungen I (63), 4 o.63.3 Post, Telekommunikation I (64) 7 Banken, Versicherungen J* 11 Grundstücke, Vermietung, unternehmensbezogene K 33 Dienstleistungen Grundstück- u. Wohnungswesen K (70) 7 Vermietung v. Sachen K (71) 2 Datenverarbeitung K (72) 5 Forschung, Entwicklung K (73) 1 Unternehmensbezogene Dienstleistungen K (74) 19 Rechts-, Steuer-, Wirtschaftsberatung, MarktK (74.1) 7 forschung Architektur- und Ingenieurbüros K (74.2+3) 4 Werbung K (74.4) 1 Personalvermittlung, Zeitarbeit K (74.5) 2 Wach-, Sicherheitsdienste K (74.6) 1 Reinigung v. Gebäuden, Verkehrsmitteln K (74.7) 1 Sonstige Unternehmensdienstleistungen K (74.8) 2 Zusammen G-K 100 Zusammengestellt aus EUROSTAT, 2006a, EUROSTAT Datenbank-Abfrage Dez. 2006, Abweichungen in den Summen durch Rundung Tab. 2-10: Dienstleistungen im Unternehmenssektor der EU-25, 2002
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Land
2 Der Europäische Binnenmarkt Dienstleistungen 2005 Anteil an der… Bruttowert- Erwerbsschöpfung tätigkeit
EU-15 Belgien 75 Dänemark 74 Deutschland 69 Finnland 68 Frankreich 77 Griechenland 74 Irland 60 Italien 71 Luxemburg 83 Niederlande 74 Österreich 68 Portugal 73 Schweden 71 Spanien 67 Vereinigtes Königreich 75 EU+10 Estland 67 Lettland 74 Litauen 61 Malta 74 Polen 65 Slowakei 62 Slowenien 62 Tschechische Republik 59 Ungarn 65 Zypern 77 EU+2 Bulgarien 60 Rumänien 51 Kandidatenland Türkei 59 Statistisches Bundesamt, 2006a:50, 187.
74 73 68 69 72 65 66 65 81 76 67 58 76 65 77 60 62 57 68 53 56 54 56 63 71 57 37 46
Tab. 2-11: Dienstleistungen, 2005( %)
Die quantitative Bedeutung der Dienstleistungen ist in der Europäischen Union hoch, wenn auch in den einzelnen Mitgliedsstaaten von deutlich unterschiedlichem Gewicht (Tab. 2-11). Zwei Drittel bis drei Viertel aller Erwerbstätigen der EU-15 arbeiteten im Jahr 2005 in diesem Sektor. In Ländern mit einer größeren industriellen Basis (Deutschland, Finnland, Irland, Österreich) oder einem größeren Anteil der Landwirtschaft (Spanien, Griechenland) war der Anteil der Dienstleistungen etwas geringer. In den weniger entwickelten Volkswirtschaften der neuen Mitgliedsstaaten spielen Landwirtschaft und/oder Industrie eine insgesamt noch größere Rolle: So erreichen die Dienstleistungen in Polen, Slowakei, Slowenien
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
125
und der Tschechischen Republik nur Anteile von ca. 55% der Erwerbstätigkeit. Besonders gering ist dieser Anteil in Rumänien. Auch das Kandidatenland Türkei beschäftigt nur knapp die Hälfte seiner Erwerbstätigen mit der Erbringung von Dienstleistungen. Die Rolle des Staates als Anbieter von Dienstleistungen unterscheidet sich in den Mitgliedsstaaten: So betrugen 1999 die über den Markt erbrachten Dienste in Deutschland über 50% des BIP und die vom Staat erbrachten zusätzlich fast 20%; nur 23% des BIP wurden in der Industrie erwirtschaftet. In anderen Mitgliedsländern ist diese Struktur bei einer z.T. markanten Streuung ebenso anzutreffen: Luxemburg hat mit 66% den höchsten Anteil an marktbestimmten Dienstleistungen, während Dänemark mit 23% den höchsten staatlichen Anteil bei Diensten hat. Neben der Spezialisierung von einzelnen Ländern finden in der Aufteilung zwischen Markt und Staat bei Dienstleistungen auch gesellschaftspolitische Präferenzen bezüglich der Rolle des Staates in der Gesellschaft ihren Ausdruck (Kapitel 2.3.4.3). Weiterführende Literatur
Jansson, J. O. (2006): The economics of services: development and policy, Cheltenham.
Rubalcaba, L. (2007): The European service economy – new challenges and policy implications, Cheltenham.
Eickelpasch, A. (2012): Industrienahe Dienstleistungen – Bedeutung und Entwicklungspotenziale, Bonn.
Jensen, J. B. (2011): Global trade in services: Fear, facts, and offshoring, Washington D.C.
2.3.4.3
Dienstleistungen zwischen Staat und Markt
Sollte der Staat Dienstleistungen anbieten? Warum wandelt sich die Auffassung von der Rolle des Staates bei Dienstleistungen? Warum wird gegen Privatisierung Widerstand geleistet? Die Auffassungen zur Rolle des Staates als Anbieter von Dienstleistungen wandelt sich im Zeitablauf: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in vielen europäischen Staaten die Auffassung vor, dass „wichtige“ Industrien in die Hände des Staates gelegt und nicht von den Kräften des Marktes bestimmt werden sollten. Dafür werden unterschiedliche Gründe angeführt, wie
allgemeines Misstrauen gegen den Markt als politisch nicht leicht beeinflussbarer Regelungsmechanismus der Gesamtwirtschaft,
Sicherheit der Versorgung mit Rohstoffen und Gütern des Grundbedarfs,
hohe Anforderungen an die Sicherheit des Betriebs oder der Leistungserstellung, die unter dem Druck, Gewinne zu erzielen, vernachlässigt würden,
126
2 Der Europäische Binnenmarkt
Gewährleistung des Zugangs zu bestimmten Leistungen für alle Bevölkerungsgruppen unter sozialen Gesichtspunkten,
Versagen des Marktes wegen Defekten im Marktmechanismus.
Das weltweite Umfeld war geprägt von der Systemkonkurrenz zwischen den beiden Machtblöcken, die sich um die Führungsnationen Vereinigte Staaten von Amerika und Sowjetunion gruppiert hatten; in einigen Ländern West-Europas existierten starke sozialistische oder kommunistische Parteien, zu deren Weltbild eine starker Einfluss des Staates auf die Wirtschaft zur „Bändigung des Marktes“ gehörte. Als Konsequenz waren – mit Unterschieden in den einzelnen Ländern – erhebliche Teile der Wirtschaft und insbesondere der Dienstleistungen in staatlichem Eigentum oder wurden durch staatliche Reglementierung gesteuert (Parker, D., (Ed.), 1998). Neben den Grundstoffsektoren wie Landwirtschaft, Kohle und Stahl betraf dies z.B. Post und Telekommunikation, Bahnverkehr, Flughäfen und Fluggesellschaften, Sparkassen als Banken mit öffentlichem Auftrag, Wasserversorgung, öffentlicher Nahverkehr, Bildung und Gesundheit, Wohnungswesen und Infrastruktur. In einigen Ländern und Branchen gab bzw. gibt es in diesen Bereichen ein staatliches Monopol. Seit den 80er Jahren hat sich die vorherrschende Auffassung von der Rolle des Staates in der Wirtschaft hin zu einer liberalen Grundauffassung gewandelt; in diesem Zusammenhang wird auch die Überführung des staatlichen Eigentums an Produktionsmitteln in privates Eigentum und damit in die Sphäre von Markt und Wettbewerb betrieben. Diese Veränderung der Grundauffassung resultierte auch daraus, dass
Krisen und Stagnation der sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaaten in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts das Vertrauen in den Staat als Unternehmer erschütterten,
das Leitmodell der staatlichen Aufsicht über Wirtschaft und Gesellschaft mit dem offenbaren Misserfolg und Untergang der Sowjetunion an Anziehungskraft verlor und die Transformation des ehemaligen „Ost-Blocks“ (Kapitel 5.4.2) und Chinas eine große Privatisierungswelle auslösten,
die hohen Staatsdefizite durch Privatisierungserlöse begrenzt werden sollten, wobei dieser Effekt des „Verkaufs des Tafelsilbers“ nur einmal genutzt werden kann,
die Globalisierung transnationale Allianzen und Fusionen erfordert, die durch nationale oder staatliche Akteure nicht hergestellt werden können.
Von der wirtschaftsliberalen Grundauffassung in der EU, die ihren Ausdruck auch in der Einrichtung des Binnenmarktes gefunden hat, ging ein zusätzlicher Druck zur Privatisierung auf die Mitgliedsstaaten aus. Einige vollzogen die liberale Wende auf nationaler Ebene aufgrund der dort herrschenden Präferenzen, während andere sich gegen die Initiativen der Kommission zur Liberalisierung zur Wehr setzen. Als Ergebnis dieses gesellschaftspolitischen Richtungsstreits wird die Einführung von Wettbewerb bei kommunalen Dienstleistungen (CEEP, 2001; Bardt, H. und W. Fuest, 2007) in die Entscheidung des Mitgliedsstaates gestellt. Auch die Vorgaben des AEU-V (Artikel 106) machen einen Kompromiss: Sie lassen den Mitgliedsstaaten zwar das Recht, Dienstleistungen als staatliche Monopole zu
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
127
führen oder Unternehmen für die Daseinsvorsorge (Kapitel 2.3.5.2) zu subventionieren, verpflichten diese aber gleichzeitig, den grenzüberschreitenden Handel und Wettbewerb nicht zu beeinträchtigen. Diese Tendenz zu „mehr Markt“ erfordert eine neue Grenzziehung zwischen den eindeutig dem Staat bzw. eindeutig dem Markt zurechenbaren wirtschaftlichen Aktivitäten. Eine solche Grenze existiert jedoch nicht zweifelsfrei, da sie auch durch gesellschaftspolitische Vorstellungen und Werte mit bestimmt wird. Die Frage, welche Dienstleistungen in öffentlicher Hand bleiben sollen und welche voll oder teilweise privatisiert werden sollen, wird letztlich politisch entschieden (Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi, 2002). Dazu gibt es in einzelnen Mitgliedsstaaten unterschiedliche Auffassungen: Während z.B. Großbritannien eine liberale Linie verfolgt, gibt es in Frankreich und Italien erheblichen Widerstand gegen den Abbau des öffentlichen Sektors. Auch in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbände) bestehen dazu unterschiedliche Positionen, die z.T. zu erheblichen Konflikten führen. Die Privatisierung in sicherheitsrelevanten Branchen ist strittig, wenn unterstellt wird, dass das Streben nach Profitmaximierung zur Vernachlässigung von Sicherheitsaspekten führt. Allerdings ist Sicherheit kein Widerspruch zu verstärktem Wettbewerb, wenn geeignete Mechanismen greifen. Dazu zählen erstens das Streben des Anbieters nach Erhalt seiner Reputation durch Vermeiden „schlechter Nachrichten“ und zweitens ein breites Spektrum gesetzlicher Auflagen für alle Anbieter, die von der Haftung für Schäden bis zur Durchsetzung einer engmaschigen Regulierung und Aufsicht reichen, wie dies z.B. bei „Billigfliegern“ oder dem Betrieb von Industrieanlagen geschieht. Außerdem bleibt anzumerken, das der Staat als Anbieter von Dienstleistungen nicht automatisch Sicherheit garantiert: Der Zerfall der auch sicherheitstechnisch veralteten Bahninfrastruktur in Großbritannien unter den jeweiligen Regierungen mit den daraus resultierenden Unfällen mag als Hinweis dienen. Kritik am Staat als Unternehmer In staatlich gesteuerter Produktion agieren „Beamten-Manager“, die nicht an Gewinn oder Verlust beteiligt sind, aber bei betriebswirtschaftlichen Entscheidungen Rücksicht auf politische Interessen nehmen müssen: Dies macht z.B. bei Entlassungen aus Staatsbetrieben vor einer politischen Wahl schwer durchsetzbar. Darüber hinaus können die Haushaltsrisiken, die in missglücktem unternehmerischem Handeln für die öffentliche Hand liegen, erhebliche Ausmaße annehmen. Dies wurde z.B. im Jahr 2002 beim Zusammenbruch der „Bankgesellschaft Berlin“ und im Jahr 2007 bei der Verwicklung der sächsischen Landesbank in riskante Immobilienfinanzierungen deutlich. Unternehmen in öffentlichem Eigentum können nicht in Konkurs gehen, wodurch der Wettbewerb mit privatwirtschaftlichen Unternehmen im gleichen Marktsegment verzerrt werden kann. Andere aus- und inländische Anbieter haben keinen Zutritt zum Markt des Monopolisten. Monopolisten – besonders jene in der Hand des Staates – wird vorgeworfen, weniger effizient zu arbeiten als sie es unter Wettbewerbsbedingungen tun müssten. Dies führt zu einer unangemessenen Belastung des Verbrauchers bzw. Steuerzahlers.
128
2 Der Europäische Binnenmarkt
In den folgenden drei Fällen besteht weitgehend Konsens über die Grenzen des Marktes als Regelungsmechanismus, woraus aber nicht immer folgt, dass Privatisierung – zumindest von Teilfunktionen – unmöglich sei bei: 1.
hoheitlichen Aufgaben,
2.
Marktversagen und
3.
sozialen Zielen.
Zu 1.: Hoheitliche Aufgaben Unbestritten ist, dass der Staat die alleinige Zuständigkeit für die so genannten hoheitlichen Aufgaben hat. Hier übt der Staat legitimierten Zwang aus, indem er dem Bürger mit Geboten, Verboten und Erlaubnissen gegenübertritt und die Mittel zu ihrer Durchsetzung anwendet. Dazu gehört die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols zur Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit (Polizei, Justiz, Militär). Solche Aufgaben dürfen nicht privatisiert werden. Die Privatisierung von nicht-hoheitlichen Teilfunktionen innerhalb der hoheitlichen Aufgaben, z.B. Reinigungsdienste in Gefängnissen, ist auch in Deutschland in der Erprobung. Die Nutzung privater Sicherheitsdienste, bis hin zu kämpfenden Truppen, zeigt, dass die Grenze zwischen den verschiedenen Aufgaben fließend sein kann. Zu 2.: Marktversagen Die Grenzen des Marktmechanismus liegen im Marktversagen. Die ökonomische Theorie grenzt Marktversagen eindeutig von dem Sachverhalt eines unerwünschten Marktergebnisses ab. Folgende Fälle können unterschieden werden (Donges, J.B., Freytag, A., 2001; Blankart, C.B., 1994:53–77; Fritsch, M. et al., 2001):
Vollständiges Marktversagen bei „öffentlichen Gütern“, bei denen sich kein Preis und damit kein Angebot bildet, da bei der Nutzung keine Rivalität besteht und ein Ausschluss der Nichtzahler von der Nutzung nicht möglich oder nicht sinnvoll ist (Deichbau, Straßenbeleuchtung).
Partielles Marktversagen bei fehlender oder „asymmetrischer“ Information der Nachfrager; diese können dann die Qualität der Angebote nicht einschätzen und vergleichen und auch nicht beurteilen, welcher Preis angemessen ist, z.B. bei medizinischen Leistungen. Bei Dienstleistungen kann diese Asymmetrie besonders ausgeprägt sein, wenn der Kunde die Aufgabe vorher nicht genau beschreiben kann („Verschönerung“ beim Friseur, Leistungen einer Software; Verwaltung von Vermögen) oder wenn er nicht einmal nach dem Konsum der Dienstleistung beurteilen kann, wie gut die Leistung tatsächlich war (Beratung von Unternehmen, Taxifahrt in einer fremden Stadt , ärztliche Leistung). Es liegen dann „Vertrauensgüter“ bzw. „Erfahrungsgüter“ vor, für die vielfältige Varianten des Marktversagens möglich sind: Der Erbringer kann eine schlechte Leistung erbringen, zu viel verlangen, zu viel Leistung erbringen oder eine Leistung in Rechnung stellen, die er nicht erbracht hat (Dulleck, U., Kerschbamer, R., 2006; Dulleck, U., R. Kerschbamer, et al., 2011).
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
129
Marktprozesse können zu „kurzsichtiger“ Reaktion der Nachfrager führen, die sich erst auf lange Sicht als nicht optimal erweist, deren Korrektur aber später nicht mehr möglich ist, z.B. langfristiger Aufbau einer Alterssicherung oder Investition in Bildung. Hierbei spielt auch die Präferenz der Menschen für gegenwärtige Belohnung eine Rolle.
Bei „meritorischen Gütern“ fragen die Konsumenten gemäß ihrer eigenen Präferenzen weniger nach als es unter gesellschaftlichen Kriterien wünschenswert oder optimal wäre, z.B. bei Impfungen, bei sogenannter niveauvoller Kultur oder bei Bildung). Offen bleibt allerdings, wer den Umfang des gesellschaftlich wünschenswerten Konsums definieren kann; hier besteht bei staatlicher Festlegung die Gefahr des Paternalismus, d.h. der Bevormundung durch den „väterlichen“, vermeintlich besser wissenden Staat.
Allerdings folgt aus der Existenz von Marktversagen nicht zwingend, dass ein staatliches Angebot in diesem Marktsegment erfolgen muss, so dass Privatisierung zu unterbleiben habe. Vielmehr sind auch bei privater Leistungserbringung unterschiedliche „Reparaturen“ des Marktdefektes denkbar (Donges, J.B., Freytag, A., 2001). Bei asymmetrischen Informationen können neutrale Testinstitute („Stiftung Warentest“, Rating-Agenturen) oder ein Feedback durch die Kunden selbst (Bewertung im Internet) zur Verbesserung der Informationssituation beitragen. Durch Regulierung kann die Bereitstellung und die Verständlichkeit von Informationen erzwungen werden. Die Vergabe von Lizenzen an und die Aufsicht über Dienstleister sowie die Regulierung ihrer Tätigkeit kann die Wirksamkeit des Marktmechanismus unterstützen; die Notwendigkeit und zugleich Schwierigkeit dieses Vorgehens zeigt sich bei der Regulierung der Finanzindustrie (Kapitel 2.3.6.4). Zu 3.: Soziale Ziele Wenn kein Marktversagen vorliegt, wird gemäß der ökonomischen Theorie angenommen, dass der Preis die tatsächlich erwünschte Nachfrage spiegelt und das Angebot gemäß der Gewinnmaximierungsregel auf diesen Preis reagiert. In einer solchen Welt des funktionierenden Marktes können jedoch Effekte eintreten, die aus außerökonomischen Gründen als nicht optimal und als unerwünscht eingestuft werden, z.B. wenn sozial schwache Personen, die nicht über genug Kaufkraft verfügen, sich unverzichtbare Dinge nicht leisten können. Mit Sozialleistungen, z.B. Transferzahlungen, die sich an der Einkommenssituation der Person und ihres Haushalts orientieren und in jedem Mitgliedsstaat nach den dort geltenden Regeln behandelt werden, wird dieses Problem angegangen. Diese Leistungen stellen keinen Eingriff in den Marktwettbewerb der Anbieter dar, da gezielt die „armen“ Nachfrager subventioniert werden. Somit sprechen soziale Gesichtspunkte nicht zwingend gegen Privatisierung. Umstritten ist Privatisierung auch wegen offener oder verborgener Interessen einzelner Gruppen am Fortbestehen staatlichen Unternehmertums. Während staatliche Unternehmen höhere Löhne zahlen und aus politischen Gründen weniger geneigt sind Entlassungen vorzunehmen, führt der Wettbewerbsdruck nach der Privatisierung häufig zu diesen befürchteten Maßnahmen (Trotman, R., 1997); daher werden Gewerkschaften und Beschäftigte Privatisierungen aus ihrer Interessenslage heraus mit Skepsis betrachten. Auch ist nicht auszuschließen, dass die politische Klasse ehemalige Politiker in öffentlichen Unternehmen mit attraktiven Positionen versorgen will („Elefanten-Friedhof“).
130
2 Der Europäische Binnenmarkt
Privatisierung ist nicht immer effizient Auch bei einer grundsätzlichen Überlegenheit privat geführter über staatlich geführte Unternehmen bleibt dennoch der empirische Befund von Privatisierungen, die nicht zu den erwünschten Verbesserungen geführt haben. In einzelnen Fällen war die Leistung des Unternehmens nach der Privatisierung für den Kunden schlechter und wurde weniger effizient erbracht als vorher. Ein häufig genanntes Beispiel ist die Privatisierung der britischen Bahn. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass erstens der britische Staat ein weitgehend vernachlässigtes Bahnsystem privatisiert hat und zweitens durch die gesetzten Rahmenbedingungen Fehlanreize gegeben wurden und ein Funktionieren des neuen Konstrukts kaum reibungsarm möglich war (Weidauer, M., 2005; Wolmar, C., 2005; Gómez-Ibáñez, J. A., Rus, G. (Eds.), 2006). Hier handelt es sich um das Scheitern einer schlecht organisieren Privatisierung – nicht um den Nachweis, dass Privatisierung von netzbasierten Unternehmen unterbleiben solle. Das besondere Problem netzbasierter Dienstleistungen wird ausführlich im Kapitel 2.3.5 behandelt. Arbeitnehmern und ihre Vertreter gegen Privatisierung Wenn Arbeitnehmer gegen eine Verschlechterung ihrer Position kämpfen, so ist dies ökonomisch rational. Allerdings haben sich in einigen Unternehmen Privilegien entwickelt, deren Verteidigung weit über den Kampf um angemessene Löhne hinausgeht, wie an den folgenden Beispielen gezeigt wird: 1) Beim französischen staatlichen Monopolist der Elektrizitätswirtschaft, EdF, hat der Betriebsrat ein Prozent des Umsatzes, das sind etwa 400 Mio. Euro pro Jahr, für seine Arbeit zur Verfügung. Dies ist ein Privileg, das nach der Privatisierung kaum beizubehalten sein dürfte („Der 400-Millionen …“, 2003). 2) Die Dockarbeiter in den staatlichen griechischen Häfen wehrten sich wiederholt mit Streiks gegen Privatisierung, da sie um ihre generösen Löhne fürchteten, die sie sich gegen die Regierung erstritten hatten – sie können bis 120.000€ pro Jahr verdienen („Dockarbeiter legen…“, 2008). 3) Die Gewerkschafter griechischer Staatskonzerne haben in erheblichem Maße Gelder für eigene Vergnügungen verbraucht und gegen die Privatisierung gekämpft, um diese Privilegien beibehalten zu können (Höhler, G., 2012a). Weiterführende Literatur
Megginson, W. L., Netter, J. M. (2000): From state to market: A survey of empirical studies on privatization, in: Journal of Economic Literature, 39, 2, 321–389.
OECD (2003e): Privatising state-owned enterprises – an overview of policies and practices in OECD countries, Paris.
2.3.4.4
Dienstleistungen im Binnenmarkt
Dürfen Dienstleistungen grenzüberschreitend erbracht werden? Gibt es einen funktionierenden EU-weiten Dienstleistungsmarkt?
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
131
Unternehmensbezogene Dienstleistungen sind in weit geringerem Maße als die Güterproduktion dem internationalen Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Es wird angenommen, dass durch Wettbewerb die Produktivität steigen und entsprechend die Kosten sowie die Preise für Endkunden und Unternehmen sinken dürften. Es wird darüber hinaus angenommen, dass durch eine Liberalisierung der unternehmensbezogenen Dienstleistungen auch die Kunden von Dienstleistern stärker wachsen, weil sie effizienter werden und sich besser mit anderen Unternehmen vernetzen können (Barone, G., Cingano, F., 2011; Francois, J., Hoekman, B., 2010). Bei haushalts- und personenbezogenen Dienstleistungen könnte mehr Wettbewerb zu geringeren Preisen bzw. besseren Leistungen führen. Daher strebt die Europäische Kommission an, auch Dienstleistungen den Regeln des Binnenmarktes zu unterwerfen, wie sie schon für den freien Warenverkehr gelten. Allerdings ist bei Dienstleistungen der Widerstand von Interessengruppen besonders hoch, so dass der Binnenmarkt in diesem Bereich auch zwanzig Jahre nach dem Zieljahr 1992 noch nicht vollendet werden konnte. In den Fällen, wo ein grenzüberschreitendes Angebot, d.h. die Internationalisierung von Dienstleistungen, wirtschaftlich sinnvoll ist, gibt es verschiedene Strategien, die auch von der WTO in GATS (General Agreement on Trade in Services), den Vereinbarungen zum internationalen Dienstleistungshandel, beschrieben sind (WTO, 2010:10)
Modus 1: Grenzüberschreitende Lieferung von Dienstleistungen. Der Anbieter erbringt von seinem heimischen Standort aus Dienstleistungen, ohne dabei die Grenze zu überqueren und ohne eine Niederlassung im Land des Kunden zu haben. Dies ist der Fall, wenn ein Architekt im Inland einen Plan für einen ausländischen Kunden zeichnet und per Internet verschickt, wenn eine Versicherungspolice ins Ausland verkauft wird oder wenn eine Maschine aus der Ferne gewartet wird.
Modus 2: Konsum der Dienstleistung in Ausland. Der Kunde reist zum Anbieter von Dienstleistungen, wie es z.B. beim grenzüberschreitenden Einkauf im Einzelhandel, bei im Ausland eingekauften medizinischen Dienstleistungen oder im Tourismus gegeben ist.
Modus 3: Der Dienstleister errichtet eine Niederlassung im Land des Kunden. Von ausländischen Unternehmen betriebene Krankenhäuser oder Bankfilialen, der Kauf oder Aufbau eines Vertriebsnetzes, die Gründung einer Tochtergesellschaft oder eines Joint Venture, die Kooperation mit Partnerorganisationen, z.B. im Franchising oder als Lizenznehmer, sind Beispiele dafür.
Modus 4: Präsenz natürlicher Personen auf Zeit. Der Anbieter lebt als Selbständiger auf Zeit im Ausland oder entsendet sein Personal für begrenzte Zeit in das Land, in dem die Kunden bedient werden. Dies kann z.B. ein Architekt zur Bauaufsicht oder ein Projektmitarbeiter sein.
Diese vier Modi werden so nicht unmittelbar in den europäischen Regelungen zur Dienstleistungsfreiheit aufgegriffen, sie werden jedoch in unterschiedlichen Abschnitten des AEU-V implizit behandelt. Die Internationalisierung von Dienstleistungen setzt voraus, dass Erbringer und Empfänger ungehinderten wirtschaftlichen Austausch miteinander haben können. Diesem stehen jedoch
132
2 Der Europäische Binnenmarkt
natürliche Barrieren entgegen, die sich aus dem Charakter der Internationalität selbst ergeben: In anderen Ländern werden nicht nur andere Sprachen gesprochen, sondern auch Kultur und Werte sowie die Umgangsformen, Geschäftspraktiken und Rechtssysteme sind unterschiedlich. Gerade bei Dienstleistungen spielt jedoch die „Chemie“ zwischen den Geschäftspartnern eine wichtige Rolle, so dass die Anpassung an „das Fremde“ eine besondere Anstrengung erfordert. Auch die oft erforderliche persönliche Nähe zwischen Dienstleister und Kunde macht die aufwändige Überwindung von Distanzen – z.B. durch Reisen oder die Errichtung von Niederlassungen – erforderlich und stellt damit einen Kostennachteil für Ausländer dar. Die daraus möglicherweise resultierenden Barrieren stellen eine Herausforderung für das private Unternehmertum dar; deren Beseitigung kann nicht Gegenstand politischer Maßnahmen der EU sein kann. Anders verhält es sich mit denjenigen Barrieren, die aus Regelungen oder Normen von staatlichen oder berufsständischen Organisationen entspringen und ausländische Anbieter gewollt oder ungewollt benachteiligen. Außerdem ist der Staat als Anbieter von Dienstleistungen ein ultimatives Hindernis für die Einführung von grenzüberschreitendem Wettbewerb, wenn diese Dienste auch als Marktleistung erbracht werden könnten. Die Beispiele zeigen, dass dies Hindernisse entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Dienstleistungen relevant sind (Europäische Kommission, 2002c, 2004c, bes. Kapitel 4):
Das Erfordernis, eine Niederlassung in einem Mitgliedsstaat zu gründen, wenn man dort Dienstleistungen erbringen will, z.B. bei Radiosendern.
Nationale, oft auch staatliche, Monopole, die den Zutritt weiterer Anbieter ausschließen, z.B. Postdienste und Energieversorgung.
Quantitative Zugangsbeschränkungen, z.B. Vorschriften, die nur einen Optiker je 10 Tsd. Einwohner, einen Schornsteinfeger pro Bezirk oder eine Fahrschule je 15 Tsd. Einwohner zulassen.
Vorschriften für Anbieter grenzüberschreitender Dienstleistungen, die Auflagen erfüllen sollen, obwohl sie vergleichbare bereits im Heimatland erfüllt haben; dazu zählt die Anerkennung heimischer Qualifikationen als Äquivalent für den Meisterbrief in Deutschland.
Beschränkungen für Werbung für einzelne Berufe wie Ärzte, Wirtschaftsprüfer und Ingenieure, was sogar als Verbot von Sachinformationen wirken kann.
Das Verbot von Fernsehwerbung zu bestimmten Zeiten für bestimmte Zielgruppen (Schutz von Kindern).
Teilnehmer aus anderen Mitgliedsstaaten müssen höhere Eintrittspreise für Kultur- oder Sportveranstaltungen, für den Besuch eines Museums oder die Nutzung des Nahverkehrs zahlen.
Für eine Fährpassage, für den Abschluss einer Versicherung, für die Nutzung von Sportanlagen oder für das Anmieten eines PKW zahlen Inländer günstigere Preise.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
133
Für die Liberalisierung und Regulierung von Dienstleistungen gibt es wegen der großen Heterogenität dieses Feldes in der EU keine einheitliche, durchgängige Strategie. Vielmehr existieren zu den unterschiedlichen Segmenten des Dienstleistungsmarktes jeweils spezifische Regulierungen. Pelkmans (2006:127) schlägt die folgende Einteilung der gesamten Dienstleistungen vor (Tab. 2-12):
Nicht handelbare Dienste, bei denen es weder eine Beschränkung des grenzüberschreitenden Handels noch des Wettbewerbs geben kann, so dass eine Zuständigkeit der EU zur Regulierung nicht gegeben ist. Dazu gehören z.B. kommerziell erbrachte Dienste, die die Anwesenheit des Dienstleisters beim Kunden voraussetzen sowie vom Staat erbracht Dienste.
Handelbare Dienste, die nicht reguliert werden, so dass auch die EU hier keine Kompetenzen hat. Dazu gehören Tourismus, Beratung, Test und Zertifizierung, einfache Reinigung, Datenverarbeitung, Logistikdienste, Marktforschung, etc.
Handelbare Dienste, die Regulierungen unterliegen und für die die EU – zumindest teilweise – zuständig ist (Kapitel 2.3.4.5). Ein Teil dieser Dienste ist netzgebunden (Post, Telekommunikation, Gas, Strom, Bahn, Luftverkehr), so dass grenzüberschreitender Wettbewerb nur durch besondere Regulierungen ermöglicht wird (Kapitel 2.3.5). Dienste für Unternehmen in dieser Kategorie sind z.B. Werbung, Industriereinigung, Personaldienste, Autovermietung, Zertifizierung von regulierten Produkten und grenzüberschreitender Handel. Für Konsumenten erbrachte Dienste, die reguliert werden, sind z.B. Bildungs- und Gesundheitsdienste, Hotel und Gaststätten sowie Unterhaltung.
Dienste der Finanzindustrie (Banken, Versicherungen, Anlage) nehmen eine Sonderstellung ein. Hier besteht eine umfangreiche Regulierung in jedem einzelnen Mitgliedsstaat, jedoch wird derzeit um eine neue Regulierungsarchitektur zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU gerungen (Kapitel 2.3.6.4; 2.3.6.5). Systematik: Dienstleistungen und Regulierung handelbar
nicht reguliert
reguliert nicht netzwerk-basiert
für Unfür Konsumenten ternehmen Nach Pelkmans, J. 2006:127
Finanzdienste
Tab. 2-12: Systematik: Dienstleistungen und Regulierung
netzwerkbasiert
nicht handelbar
134
2 Der Europäische Binnenmarkt
Die EU und die einzelnen Mitgliedsstaaten haben also bei denjenigen Dienstleistungen einen Auftrag zur Regulierung, die 1.
grenzüberschreitend erbracht werden können und
2.
über den Markt in einer kommerziellen Beziehung zwischen Dienstleister und Kunden erbracht werden und
3.
wo ein Bedarf an Regulierung gesehen und bereits politisch durchgesetzt wurde, weil z.B. die Sicherheit des Kunden durch staatliche Maßnahmen gesichert werden soll oder die Marktstruktur keinen Wettbewerb entstehen lässt.
Der rechtliche Rahmen, der im Grundsatz die Beseitigung der Barrieren gegen eine selbständige Tätigkeit in den Dienstleistungen vorsieht, ist in den Artikeln 56 bis 62 des AEU-V zu finden. In Artikel 57 AEU-V werden Dienstleistungen als Leistungen gegen Entgelt definiert, die selbständig in gewerblicher, kaufmännischer, handwerklicher oder freiberuflicher Tätigkeit von einer natürlichen oder juristischen Person erbracht werden. So fallen z.B. Hochschulen, die sich aus Studiengebühren finanzieren und Gewinn anstreben, unter die Regelungen der Dienstleistungsfreiheit, nicht aber staatliche Hochschulen, die aus Steuern finanziert werden und keinen Gewinn erzielen dürfen. Es handelt sich auch dann nicht um eine Dienstleistung, wenn diese in einer beweglichen Sache, wie z.B. Tonträger, Film, Druckschrift „verkörpert“ ist bzw. in Sachkapital oder Schutzrechten gebunden ist. Für diese Fälle greifen die Regelungen des freien Waren- oder Kapitalverkehrs. Sollte es um die Errichtung einer Niederlassung gehen, in der Dienstleistungen erbracht werden sollen, dann sind darauf die Regeln zur Niederlassungsfreiheit anzuwenden. Das Erbringen von Diensten in unselbstständiger Tätigkeit fällt unter die Regelungen der Freizügigkeit. Bank- und Versicherungsdienste sind im AEU-V im Kapitel zum freien Kapitalverkehr abgedeckt; sie sind meist mit Aspekten der Niederlassungsfreiheit verknüpft. Verkehrsdienstleistungen fallen nicht unter die Bestimmungen der Dienstleistungsfreiheit, sondern werden im AEU-V separat behandelt. Ausnahmen von der Dienstleistungsfreiheit sind zulässig, wenn z.B. die Planbarkeit und Finanzierbarkeit des öffentlichen Gesundheitswesens durch grenzüberschreitende, freie Arztwahl gefährdet werden kann; diese Einschränkung hat der Gerichtshof bestätigt, wenn auch das grenzüberschreitende Erbringen von Gesundheitsdiensten in der Regel möglich sein soll (Europäische Kommission, 2003a). Diese Regelung gilt vor dem Hintergrund
des Artikel 168 AEU-V, der das Gesundheitswesen in nationaler Zuständigkeit belässt,
der Rechtsprechung des EuGH, der hingegen bei wirtschaftlicher Tätigkeit im Gesundheitssektor Regeln des freien Dienstleistungsverkehrs für gültig erklärte.
Mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder im Jahr 2004 wurde befürchtet, dass ein erheblicher „Gesundheitstourismus“ in die preiswerten neuen Mitgliedsstaaten einsetzen und das Gesundheitswesen in den EU-15 gefährden könnte. Diese Befürchtungen sind jedoch bisher weitgehend gegenstandslos (Kapitel 5.4.7). Als neuer Typ von Barrieren für grenzüberschreitende Dienstleistungen können sich unterschiedliche technische Standards bei der Online-Abwicklung von öffentlichen Ausschreibungen, bei elektronischen Unterschriften und Rechnungen, bei der Verifizierung von Do-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
135
kumenten und bei der Abwicklung des Zahlungsverkehrs entwickeln („Digitale Barrieren“) (Meier-Pesti, K., Trübenbach, C., 2009; European Commission, 2009g; 2010e). Monti (2010:52) sieht eine Reihe von Hindernissen für die Verwirklichung eines „digitalen Binnenmarktes“, wie zersplitterte Online-Märkte, den Anforderungen nicht entsprechende Vorschriften über geistiges Eigentum, mangelndes Vertrauen, fehlende Interoperabilität sowie einen Mangel an Hochgeschwindigkeits-Infrastruktur und digitaler Kompetenzen. Das zusätzliche Wachstumspotenzial, das aus einem digitalen Binnenmarkt erschlossen werden könnte, wird auf bis zu 4% – kumuliert über zehn Jahre – geschätzt (Copenhagen Economics, 2010). Die Daten zu grenzüberschreitenden Aktivitäten bei Dienstleistungen in der EU zeigen, dass
die Intensität des Dienstleistungshandels der EU-25 mit Drittstaaten (Relation „Export+Import/BIP (in %)“ mit 3,3% wesentlich geringer ist als bei Gütern, wo sie 9,4% betrug (EUROSTAT, 2006b:113),
die Offenheit der Märkte für den Handel mit Dienstleistungen (Relation „Export+Import/Wertschöpfung (in %)“, (ECB Task Force, 2006:56) erhebliche Unterschiede für die Mitgliedsstaaten aufweist,
ausländische Direktinvestitionen in Dienstleistungsmärkte in der EU-15 deutlich zugenommen haben, was insbesondere auf die Freigabe der Telekommunikation zurück geht (ECB Task Force, 2006:42),
die Inhalte des Dienstleistungshandels vorrangig aus „sonstigen Unternehmensdienstleistungen“, „Transport, Logistik“ und „Tourismus“ bestehen (EUROSTAT 2006a:122),
Exportüberschüsse bei fast allen Dienstleistungen erzielt werden. Eine Ausnahme machen hier Tourismus und Lizenzen: Dort haben viele Mitgliedsstaaten eine negative Handelsbilanz (EUROSTAT 2006a:122).
Ein paradoxes Ergebnis: Inländerdiskriminierung Das Verbot der Ausländerdiskriminierung schließt nicht aus, dass jedes Land eigene Regulierungen für den Zugang von Anbietern zu bestimmten Dienstleistungsmärkten aufstellt. Diese gelten zwar für In- und Ausländer gleichermaßen, so dass formell keine Ausländerdiskriminierung vorliegt. Aber in der Rechtsprechung des EuGH hat sich ein „allgemeines Beschränkungsverbot“ (Monopolkommission, 2001a) durchgesetzt, das die freie, unbehinderte Erbringung von Dienstleistungen auch für Ausländer ermöglichen soll: Dadurch kann eine Regelung, die Inländern auferlegt wird, als unangemessene Hürde für ausländische Anbieter eingestuft werden. Am Beispiel des „Meisterbriefes“ und des Zwangs zum gebührenpflichtigen Eintrag in die Handwerksrolle lässt sich zeigen, dass nationale Regulierung zu einer Inländerdiskriminierung führen kann. Der EuGH kam in seinem Urteil vom 3.10.2000 zu dem Schluss, dass es einem ausländischen Dienstleistungsanbieter ohne Meisterbrief nicht zuzumuten sei, sich gegen relativ hohe Gebühren in die Handwerksrolle eintragen zu lassen und sich zusätzlich unter hohem bürokratischen Aufwand eine Ausnahmegenehmigung zu besorgen. Es muss ihm daher gestattet sein, auch ohne Meisterbrief Dienstleistungen in Deutschland zu erbringen. Ähnlich wurde im Dezember 2003 vom
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2 Der Europäische Binnenmarkt
EuGH entschieden (C-215/01). Damit werden an einen ausländischen Anbieter geringere Anforderungen gestellt als an einen inländischen, was als Inländer-Diskriminierung kritisiert wird. Im Dezember 2005 hat das deutsche Bundesverfassungsgericht den Meisterzwang für verfassungswidrig bezeichnet, da er die deutschen Anbieter gegenüber ausländischen benachteilige (1 BvR 1730/02). Weiterführende Literatur
WTO (2010): Measuring trade in services – a training module produced by WTO/OMC, World Trade Organization, Washington D.C. (Definitionen, Messmethoden und Statistiken zu den verschiedenen Aspekten des Dienstleistungshandels)
2.3.4.5
Liberalisierung gescheitert: Die Bolkestein-Richtlinie
Warum wurde das Herkunftsland-Prinzip bei Dienstleistungen nicht realisiert? Hätte der Vorschlag von Kommissar Bolkestein zu „Lohn- und Sozialdumping“ geführt? Ist die Dienstleistungsrichtlinie in der Praxis wirksam? Auch lange nach der für das Jahr 1992 geplanten Vollendung des Binnenmarktes hat die Kommission noch ein Potenzial zur Steigerung der grenzüberschreitenden Aktivitäten bei Dienstleistungen gesehen, dessen Ausschöpfung sie für wirtschaftlich und sozial erstrebenswert hielt. Dazu hat sie im Jahr 2000 eine „Binnenmarktstrategie für den Dienstleistungssektor“ verabschiedet, in der sie sich vornahm, alle unzulässigen Beschränkungen abzubauen. Da die Beseitigung der Barrieren für ein grenzüberschreitendes Angebot an Dienstleistungen eine erhebliche politische und wirtschaftliche Anstrengung bedeutet, war es sinnvoll, vorab abzuschätzen, welche wirtschaftlichen Wirkungen von einer Liberalisierung zu erwarten sind. Dieses Vorhaben stößt jedoch auf bisher nicht überwindbare methodische und statistische Hindernisse: Es ist zurzeit nicht möglich, aussagefähige Daten über die Kosten, die die Barrieren verursachen, anzubieten (European Commission, 2004c:17). Für einige Aspekte und ausgewählte Bereiche der Dienstleistungen liegen jedoch Studien vor, die einen erheblichen Effekt vermuten lassen, der sogar mit dem der Güterverkehrsfreiheit gleich gesetzt werden kann:
Der grenzüberschreitende Handel mit unternehmensbezogenen Diensten könnte ohne Barrieren um ein Drittel und das Wirtschaftswachstum könnte um 1,8%-Punkte höher sein (Kox, H. et al., 2004a)
Copenhagen Economics (2005) schätzte den Wachstumseffekt auf 0,6%-Punkte und die Zunahme der Beschäftigung auf 0,3%-Punkte.
Binnenmarkt bei Dienstleistungen unvollendet Die Europäische Kommission legte einen Bericht zum Stand des Binnenmarktes bei den Dienstleistungen vor und verwies auf erhebliche Mängel bei der Öffnung. Auch im Bericht über die Umsetzung der Binnenmarktstrategie in den Jahren 2003–2006 kam sie zu dem ernüchternden Befund: „Für den Dienstleistungssektor, d. h. 53,6% der europäischen Wirt-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
137
schaft, gibt es noch keinen echten Binnenmarkt.“ (Europäische Kommission, 2000b, 2002c, 2004a:12). Im Jahr 2004 folgte nach einer Wirkungsanalyse (European Commission, 2004c) der Entwurf der „Bolkestein-Richtlinie“ (Delgado, J., 2006b): Die Dienstleistungsfreiheit sollte dadurch durchgesetzt werden, dass insbesondere
administrative Anforderungen für die Gründung einer Niederlassung vereinfacht werden, indem jedes Land eine einzige Anlaufstelle für alle Genehmigungen anbietet,
die Zulassungsverfahren für Dienstleister zu Hause und im EU-Ausland vereinfacht werden,
die Behörden der Mitgliedsstaaten bei der Genehmigung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen besser zusammenarbeiten,
für die Erbringung der Dienstleistung – mit wenigen Ausnahmen – die Bedingungen des Herkunftslandes gelten sollten.
Dieser Entwurf stieß auf den Protest von Gewerkschaften und Unternehmen, z.B. aus der Bauindustrie (deWitte, B., 2007). Der Widerstand in Frankreich und Deutschland gegen die vermeintliche oder tatsächliche Konkurrenz aus den neuen Mitgliedsstaaten war besonders stark. Es wurde mit dem Argument der Verhinderung von sogenanntem Sozial- und Lohndumping gegen eine Liberalisierung gekämpft. Befürchtet wurde, dass Anbieter von Dienstleistungen dann zu den Bedingungen ihres Herkunftslandes, d.h. auch zu den möglicherweise niedrigeren Lohn- und Sozialstandards, in anderen Mitgliedsländern Wettbewerbsvorteile haben und dadurch eine Anpassung der Löhne und Sozialleistungen aller Länder auf das niedrigste gemeinsame Niveau erzwingen. Anzumerken ist hier die irreführende und polemische Verwendung des Begriffs Dumping, mit dem richtigerweise nur der Verkauf unter den Herstellungskosten bzw. unter den Preisen im Herkunftsland bezeichnet wird. Der günstigere Preis eines ausländischen Konkurrenten ist nicht zwingend auf Dumping zurückzuführen; er kann auch auf legitimen Wettbewerbsvorteilen beruhen. Der Anbieter von Dienstleistungen darf sich mit seinem Personal (entsandte Arbeitnehmer), auch wenn es aus Drittstaaten kommt, frei in der EU bewegen. Damit wurde ein Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen in den teureren Mitgliedsstaaten befürchtet, auch wenn die Mitgliedsstaaten durch die Entsende-Richtlinie die Möglichkeit haben, nationale Tariflöhne auch für die entsandten Arbeitnehmer von EU-Unternehmen verbindlich zu machen. Im Bereich des Arbeitsrechts jedoch war das Zielland-Prinzip durch die BolkesteinRichtlinie nicht in Frage gestellt worden, aber die Gewerkschaften befürchteten, dass der EuGH durch seine Rechtsprechung dies aushöhlen könnte. Im Gegensatz zu dieser Befürchtung hat in einem Konflikt zwischen einer schwedischen Gewerkschaft und einem lettischen Bauunternehmen das Gericht jedoch das Zielland-Prinzip angewandt (C-341/05). In der Auseinandersetzung mit dem Parlament und dem Rat und unter dem öffentlichen Druck konnte die Kommission jedoch ihren Kurs der radikalen Liberalisierung – vor allem im Bereich der kommunal erbrachten Dienste – nicht durchsetzen. Die Bolkestein-Richtlinie wurde in mehreren Schritten verwässert und nach langem Ringen um einen Kompromiss Ende 2006 vom Europäischen Parlament angenommen. Darin ist das umstrittene Prinzip umgedreht worden: Nunmehr gilt das Zielland-Prinzip. Damit ist es nicht gelungen, diese
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2 Der Europäische Binnenmarkt
Dienstleistungen ähnlichen Wettbewerbsbedingungen zu unterwerfen, wie sie bei Gütern im Binnenmarkt bestehen. DeBruijn, R., et al., (2006) schätzen, dass sich der mögliche wirtschaftliche Wohlfahrtseffekt von 0,7%-Punkten zusätzlichen Wachstums um die Hälfte verringert. Die Richtlinie wird von der Kommission in einem Handbuch zusammenfassend erläutert (European Commission, 2007l). Ein Problem besteht in der mangelnden grenzüberschreitenden Kommunikation bei der Übersetzung der Richtlinie in nationales Recht und bei der „gelebten Praxis“:
Nationale Aufsichtsbehörden stimmen sich nicht untereinander über die Regulierung der einzelnen Dienstleistungen ab. Zur Verbesserung hat die Kommission 2009 das Netzwerk IMI (Internal Market Information System) geschaffen. Damit sollen die Sachbearbeiter in den nationalen Behörden ihren Ansprechpartner in einem anderen EU-Land einfacher finden.
Unternehmen haben oft Schwierigkeiten, in der Vielfalt nationaler zuständige Stellen ihre Ansprechpartner für Zulassungsfragen bei Dienstleistungen zu finden. Zu Verbesserung sollte jeder Mitgliedsstaat einen „einheitlichen Ansprechpartner“ (“Point of Single Contact”) installieren, der als elektronisch basierte Kommunikation zwischen Unternehmen und Aufsichtsbehörden funktionieren soll (E-Government). Hierbei handelt es sich um „Behördenlotsen“, die den potenziellen Dienstleister aus dem Ausland auf seinem Weg zu den gegebenenfalls erforderlichen Genehmigungen führt; eine Konzentration der Genehmigungen in einer Hand ist damit nicht verbunden. Eine Liste der Ansprechpartner in den einzelnen Mitgliedsstaaten wird unter www.eu-go.eu/ angeboten.
Die Übertragung der im Jahr 2006 erlassenen EU-Richtlinie in nationales Recht sowie die Anwendung dieses neuen Rechts in der Praxis der Mitgliedsstaaten liegt wie immer in diesen Fällen in der Verantwortung jedes Mitgliedsstaates. Die Eingriffsmöglichkeiten der Kommission sind hier begrenzt und bestehen im Wesentlichen aus der Drohung mit Sanktionen bei starken Verzögerungen. Um die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht zu beschleunigen und um in deren tatsächliche Anwendung Transparenz zu bringen, wurde ein Prozess der „wechselseitigen Evaluation“ erfunden, der auf dem Prinzip des Peer Review aufbaut (European Commission, 2011f, 2011g). Die spezifischen Anforderungen zur Erleichterung grenzüberschreitender Dienstleistungen wurden zusammengetragen und für ausgewählte Sektoren (Groß- und Einzelhandel, Bauund Immobiliendienste, Tourismus, Dienstleistungen für die Ernährungsindustrie, Freie Berufe, unternehmensbezogene Dienstleistungen und private Bildungsdienste) vertieft untersucht. Anfangs hatte jeder Mitgliedsstaat eine Eigenevaluation zur Transposition der Richtlinie in nationales Recht anzufertigen; diese wurde zuerst auf Sitzungen von je fünf Staaten und dann im Plenum aller 27 diskutiert. Das Ergebnis lässt sich aus der Sicht der Unternehmen zusammenfassen (BUSINESSEUROPE, 2011) als „Es ging voran, es bleibt aber noch viel zu tun“:
Gute Fortschritte gab es bei der Vereinfachung bei Genehmigungsverfahren und bei der Abschaffung belastender und ungerechtfertigter Anforderungen an nationale und fremde
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
139
Anbieter von Dienstleistungen. Wiederholt werden jedoch nationale Zulassungsvorschriften beibehalten und durch „öffentliches Interesse“ gerechtfertigt.
Die Anerkennung von ausländischen Berufsqualifikationen und die unterschiedliche Interpretation europäischen Rechts stellen nach wie vor Hindernisse dar.
Die „Einheitlichen Ansprechpartner“ existieren zwar, sind aber wenig bekannt und werden wenig genutzt; ihr fremdsprachliches Angebot beschränkt sich auf Englisch. Sie decken nicht immer alle erforderlichen Bereiche ab, antworten nicht immer schnell genug und verlangen z.T. Gebühren.
Die Kommunikation mit den Behörden kann nicht immer über das Internet und oft nur in der Landessprache vollzogen werden.
Die Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie wurden in einer Studie auf der Basis der bisherigen, unvollständigen Implementierung in den Mitgliedsstaaten abgeschätzt (Monteagudo, J., Rutkowski, A., Lorenzani, D., 2012). Ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,3%– 1,5% wurde für die ersten Jahre ermittelt, das bei vollständiger Implementierung sich verdoppeln dürfte. Weiterführende Literatur
Breuss, F., Fink, G., Griller, S. (Ed.) (2008): Services liberalisation in the internal market, Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Europaforschung (ECSAAustria), 6, Wien, New York.
Rambøll Management Consulting (2010): Implementation of the services directive, Study for the European Parliament, Brussels.
European Commission (2011f): Towards a better functioning Single Market for services – building on the results of the mutual evaluation process of the Services Directive, in: Communication from the Commission, COM(2011) 20 final.
European Commission (2011g): On the process of mutual evaluation of the Services Directive, in: Commission staff working paper, SEC(2011) 102 final.
2.3.5
Wettbewerb bei netzgebundenen Dienstleistungen
Kann auch bei netzgebundenen Dienstleistungen das Prinzip des Binnenmarktes durchgesetzt werden, ohne andre Ziele zu verletzen? Welche Strategien sind dafür denkbar? Sind die bisherigen Ergebnisse ermutigend? Die Einführung von mehr Wettbewerb in einem offenen Binnenmarkt für Dienstleistungen ist ein Ziel, das in einer besonderen Gruppe von Dienstleistungen mit Widersprüchen und Widerständen behaftet ist. Es sind diejenigen Dienstleistungen, die auf der Grundlage eines Netzes erbracht werden (Schienenverkehr, Telekommunikation sowie Elektrizitäts-, Gasund Wasserverteilung und Postdienste etc.). Auf diesen Märkten kann aus verschiedenen Gründen Wettbewerb nicht über die freie Konkurrenz mehrerer Anbieter hergestellt werden.
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2 Der Europäische Binnenmarkt
„Natürliches Monopol“: Ein Netz kann in der Regel aus wirtschaftlichen Gründen nur einmal existieren, solange es für alle Dienstleistungen ausreichend groß ist. Jeder zusätzliche Nutzer trägt also zur Senkung der fixen Stückkosten bei und verringert damit die gesamten Stückkosten. Somit ist der Preis geringer als er beim Aufbau weiterer Netze sein könnte. Der Eigentümer des Netzes hat ein „natürliches“ Monopol und die Gesellschaft erhält die Dienstleistungen billiger als bei einer Vervielfachung des Netzes. Ein solches Monopol widerspricht dem Ziel der Herstellung von Wettbewerb. Staatseigentum: Viele netzbasierte Dienstleistungen liegen aus historischen Gründen in der Hand des Staates, der definitionsgemäß als Anbieter kein Marktteilnehmer wie jeder andere ist: Das staatliche Unternehmen kann nicht in Konkurs gehen, muss den Marktzutritt neuer Anbieter nicht fürchten und muss beim Management des öffentlichen Unternehmens nicht im gleichen Maße wie ein privates Unternehmen auf die Effizienz und die Rendite achten. Vor der Öffnung für den Wettbewerb liegt also die Privatisierung ehemals staatlich erbrachter Dienstleistungen, die jedoch auf zahlreiche Vorbehalte stößt. Soziale Ziele: Über Netze werden Dienstleistungen wie Stromversorgung oder Personentransportdienste angeboten, die zum „Grundbedarf“ der Bevölkerung erklärt werden. In einem rein privatwirtschaftlich organisierten Markt würde die Verfügung über diese Dienste ausschließlich von der Zahlungsfähigkeit abhängen, wodurch soziale und gesellschaftspolitische Ziele möglicherweise verletzt würden. Unterstützt der Staat die Bereitstellung sozial oder gesellschaftspolitisch motivierter Dienstleistungen finanziell, so besteht die Gefahr einer Verzerrung des Wettbewerbs. Technische Kompatibilität: Bei der Öffnung von netzbasierten Dienstleistungen für Anbieter aus dem europäischen Ausland muss die Netzinfrastruktur angepasst und erweitert werden, was zwischen den Ländern koordiniert werden muss. Dies kann den Interessen der lokalen „Platzhirsche“ zuwider laufen. So muss z.B. für den grenzüberschreitenden Bahnverkehr die Signal- und Sicherheitstechnik vereinheitlicht werden: Es gewinnt das Land, dessen installierte Technik zum europäischen Standard erklärt wird. Probleme und Lösungsansätze zu diesem Themenkomplex werden in den folgenden Kapiteln dargestellt.
2.3.5.1
Organisation von Wettbewerb in Netzen
Ist ein „natürliches“ Monopol günstiger als ein Polypol? Ist es möglich, bei einem „natürlichen“ Monopol Wettbewerb einzuführen? Das Netz begründet ein „natürliches“ Monopol“ (Tirole, J., 1995:42 ff., Scherer, F.M., Ross, D., 1990; Pelkmans, J., 2001:139 ff.), da seine Errichtung hohe Fixkosten bindet, während die variablen Kosten der Nutzung im Vergleich dazu gering sind. Daher sinken die totalen Stückkosten bei steigender Nutzung. Es liegen „subadditive Kosten“ vor, d.h. die Gesamtkosten sind geringer, wenn nur ein Unternehmen die Leistung anbietet. Die Konsequenz aus dieser Konstellation ist, dass nur ein einziges Netz wirtschaftlich betrieben werden kann, mit dem der Dienst für alle Nutzer erbracht werden kann. Außerdem ist der „NetzwerkEffekt“ zu berücksichtigen, nach dem der Nutzen des Netzes für jeden einzelnen Nutzer da-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
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durch steigt, dass mehr Teilnehmer ans Netz angeschlossen sind, wie z.B. beim Telefon (European Commission, 1999a:85 ff.). In diesem Fall ist ein Monopol volkswirtschaftlich günstiger als ein Polypol, da seine Preise geringer sind als sie im Polypol sein könnten. Allerdings verhält sich ein Monopolist nicht zwingend wie ein Unternehmen, das unter Wettbewerbsdruck steht; er kann Extraprofite erzielen und muss nicht auf seine Effizienz achten, um Kosten zu sparen. Durch Wettbewerb könnten die Monopolpreise sinken und die Qualität des Angebots steigen. Wettbewerb kann aber nicht entstehen, solange neue Anbieter von Diensten nicht über das Netz des Konkurrenten verfügen können, da sie ein eigenes Netz nicht wirtschaftlich sinnvoll aufbauen können. Darüber hinaus könnte der bisherige Monopolist einen Marktzutritt bekämpfen, indem er den Preis zumindest kurzfristig unter die Grenzkosten senkt. Die Netze für Strom, Gas, Telefon und Eisenbahn befanden sich in den meisten Mitgliedsländern im Eigentum eines einzigen Anbieters, der entweder ein Staatsunternehmen war oder eine gesetzlich geregelte Monopolposition hatte. Die Herausforderung bei der Privatisierung liegt darin, auf diesen Märkten Wettbewerb entstehen zu lassen, ohne dass lediglich das staatliche durch ein privates Monopol ersetzt würde. Die Ausgestaltung des Prozesses der Liberalisierung und Privatisierung entscheidet darüber, ob ein System von Akteuren entsteht, das zu einem reibungsarmen und optimalen Marktgeschehen führt, und das sowohl eine effiziente als auch quantitativ und qualitativ hochwertige Versorgung mit den entsprechenden Gütern und Diensten sicherstellt. Die folgenden Vorgehensweisen sind im Prinzip möglich; sie werden im Folgenden erläutert. Wettbewerb in netzgebundenen Dienstleistungen: Strategien 1: Wettbewerb um das Netz 2: Wettbewerb im Netz 2.1 Privater Netzeigentümer vermietet an viele Nutzer („Unbundling“) 2.2 Privater Netzeigentümer und Betreiber mit reguliertem Zugang 2.3 Netz beim Staat und viele Nutzer 2.4 Verhandelter Netzzugang („Verbände-Vereinbarung“) 3: Netze vervielfachen – „natürliches“ Monopol aufgehoben Strategie 1: Wettbewerb um das Netz Wenn das Netz nur von einem Anbieter genutzt werden kann oder soll, dann entsteht Wettbewerb nicht durch das Marktverhalten mehrerer Anbieter, sondern durch die Vergabe einer zeitlich befristeten Lizenz zur Nutzung des Netzes an einen Anbieter von Diensten in einem Wettbewerb um die Lizenz, z.B. bei Bus- oder Bahnlinien oder der Lizenz zur Nutzung einer Funkfrequenz (UMTS). Der Wettbewerb findet hier bei der Auswahl des besten Anbieters statt. Er kann als Preiswettbewerb gestaltet werden, bei dem eine genau definierte Leistung ausgeschrieben wird. Gewinner ist der Bewerber, der die höchste Lizenzgebühr bietet, sofern die ausschreibende Stelle davon ausgeht, dass der Betrieb gewinnbringend gestaltet werden könnte. In Fällen von Daseinsvorsorge, die nicht kostendeckend angeboten werden kann, gewinnt der Bieter, der den geringsten Zuschuss fordert. Die Alternative ist der Konditio-
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2 Der Europäische Binnenmarkt
nenwettbewerb, bei dem zu einem gegebenen Zuschuss bzw. einer gegebenen Lizenzgebühr das beste Leistungsangebot (z.B. höchste Taktfrequenz bei einer Buslinie) gemacht wird. Wichtig ist hierbei, dass die Ausschreibung so gestaltet wird, dass tatsächlich alle potenziellen Bewerber zu gleichen Bedingungen teilnehmen können und die Zeitdauer der Lizenzvergabe angemessen ist. Bei zu kurzer Dauer hat der Betreiber kaum Interesse an Investitionen und dem Aufbau einer stabilen Marktposition, und bei zu langer Dauer rückt eine Erneuerung des Wettbewerbs in zu weite Ferne, so dass der Gewinner sich nicht wettbewerbsorientiert verhalten muss und die Konditionen des Betriebs für lange Zeit festgeschrieben sind. Strategie 2: Wettbewerb im Netz Im Unterschied zur Strategie 1 ist es auch möglich, das Netz durch mehr als einen Betreiber nutzen zu lassen; dann ist allerdings zu regeln, wie der Ex-Monopolist als „Platzhirsch“ und die neuen Betreiber in einen fairen Wettbewerb zueinander treten können. Dabei kommt es auf die Regelung der Netznutzung an, für die unterschiedliche Vorgehensweisen denkbar sind. 2.1 Privater Netzeigentümer vermietet an viele Nutzer („Unbundling“, vertikale Desintegration) Die Übergabe des Netzes an einen privaten Eigentümer, der nicht selbst Dienste auf diesem Netz anbietet und die Netznutzung an beliebige Betreiber gewinnbringend vermietet, vermeidet Interessenskollisionen: Der Netzeigentümer kann sich gegenüber anderen Netznutzern neutral verhalten. Er finanziert sich aus den Nutzungsgebühren und ist daher daran interessiert, das Netz leistungsfähig und attraktiv zu halten. Wettbewerb entsteht unter der Vielzahl der Anbieter um die Kunden. 2.2 Privater Netzeigentümer und Betreiber mit reguliertem Zugang Sollte das Netz in der Hand eines privaten Eigentümers sein, der gleichzeitig auch konkurrierend mit anderen Anbietern Dienste auf diesem Netz anbietet, dann kann Wettbewerb um den Endkunden entstehen. Der freie Zugang zum Netz des Ex-Monopolisten für alle konkurrierenden Anbieter von Diensten wird gesetzlich abgesichert; diese müssen für die Nutzung des Netzes einen angemessenen Preis an den Ex-Monopolisten bezahlen. Aber der Interessenskonflikt behindert neue Wettbewerber, denn der Netzeigner hat kein Interesse daran, sein Monopol aufzugeben, sondern wird durch politische Gestaltung in diese Situation gebracht. Er wird also versuchen, die auftretenden Konkurrenten beim Marktzugang zu behindern. Die Konkurrenten sind auf angemessene Preise und Konditionen für ihren Zugang zum Netz des Ex-Monopolisten angewiesen, der die Tendenz haben könnte, die Preise für die Nutzung zu hoch anzusetzen oder z.B. in der Telekommunikation die Freischaltung von Kunden des Konkurrenten zu verzögern. Beim Bahntransport könnte neben zu hohen Nutzungsgebühren auch die Behandlung von Engpässen auf den Gleisen zu Lasten der Konkurrenten geregelt werden. Welcher Zug erhält Vorfahrt und damit Pünktlichkeit auf begehrten Strecken zur Hauptverkehrszeit? Die Deutsche Bahn AG musste erst durch Gerichtsurteil dazu gebracht werden, die Fahrpläne ihrer Konkurrenten in das Bahninformationssystem einzubinden. Der
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
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vertikal integrierte Ex-Monopolist muss die volle Transparenz der Buchhaltung für die Teilbereiche Netz und Betrieb im Unternehmen gewährleisten, so dass eine verbotene Quersubventionierung des Dienstes aus anderen Geschäftszweigen des Monopolisten überprüft werden kann. Außerdem muss der Betreiber des Netzes die volle Geheimhaltung über die Daten der Mitbewerber sicherstellen, die ihm im Zusammenhang mit der Anmietung der Netznutzung bekannt werden. Dafür wäre eine zumindest organisatorische Trennung der Unternehmensteile erforderlich; auch die Managemententscheidungen im Netzbereich dürfen nicht vom Vorstand des Gesamtunternehmens beeinflusst werden. Da der Ex-Monopolist mit dem neuen Anbieter Preise und Konditionen nicht allein angemessen aushandeln kann und die Einhaltung der „Spielregeln“ überwacht werden muss, wird als „Schiedsrichter“ eine Regulierungsbehörde geschaffen. Sie braucht Unabhängigkeit von politischem Einfluss und wirtschaftlichem Druck und die Ausstattung mit Befugnissen, Instrumenten und Kenntnissen zur Erfüllung ihrer Aufgaben. Sie muss ihre Aufsicht im Übergang zum Wettbewerb angemessen ausüben und darf den ehemaligen Monopolisten, der sich als Anbieter am Markt platzieren will, nicht benachteiligen, um neuen Anbietern mehr Chancen zu eröffnen. Sie muss z.B. die Vorgaben zur Daseinsvorsorge durch Universaldienste durchsetzen und so das „Rosinenpicken“ der privaten Anbieter verhindern. Offen bleibt bei dieser Strategie, ob die Regulierungsbehörde die einzelnen Preise der Netzbetreiber vorab genehmigen soll, oder ob sie nur bei offensichtlichem oder angezeigtem Missbrauch tätig werden solle. Die Einzelgenehmigung von Preisen würde erstens einen erheblichen bürokratischen Aufwand voraussetzen und zweitens auf der Basis nachgewiesener Kosten der Netzbetreiber erfolgen, die damit nur einen geringen Anreiz zur Kostensenkung hätten. Eine Regulierungsbehörde einzuschalten ist die am weitesten verbreitete Strategie in der EU; sie wird auch von der Europäischen Kommission bevorzugt, da diese sich so Einfluss auf die Mechanismen und die Praxis der Liberalisierung verspricht. Die Industrie dagegen befürchtet das Entstehen eines zentralistisch ausgerichteten „Wasserkopfes“, der die Rationalisierungsvorteile der Privatisierung wieder aufzehren könnte, zumal wenn die Kosten der Regulierung der Industrie in Rechnung gestellt werden. Außerdem verfestigt sich dadurch die nach Auffassung der zu regulierenden Industrie ohnehin zu hohe Regulierungsdichte in Europa. 2.3 Netz beim Staat und viele Nutzer Es ist auch denkbar, dass das Netz in der Hand des Staates liegt, da der Wettbewerb ja auf dem Netz ausgetragen wird: Freier Netzzugang zu fairen Konditionen ist für alle Betreiber gewährleistet. Diese Variante haben die Niederlande gewählt, wo der Staat bereits über das Stromnetz verfügte und zusätzlich im Herbst 2004 das Gasnetz von privaten Eigentümern gekauft hat, um den Wettbewerb im Gasverkauf zu intensivieren. Der Staat finanziert das Netz vor und refinanziert sich durch Gebühren der Netznutzer. Die Probleme dieses Modells liegen darin, dass der Staat bereit und im Stande sein muss, immer ausreichend und innovativ in Netze zu investieren und diese kostengünstig zu managen. Angesichts defizitärer öffentlicher Kassen und des Widerspruchs zwischen Management und Beamtentum sind hier Zweifel angebracht; der schlechte Zustand des staatlich betriebenen Wasser- und Bahnnetzes in Großbritannien ist ein Beispiel dafür.
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2 Der Europäische Binnenmarkt
Eine eher „unkonventionelle“ Variante dieses Ansatzes entstand, als Teile der Infrastruktur nicht in das Eigentum des Staates des Sitzlandes übergingen bzw. verblieben, sondern von fremden Staaten als Investoren aufgekauft wurden. Dies ist z.B. bei Vattenfall gegeben: Das Unternehmen ist einer der großen Spieler auf dem deutschen Strommarkt – im Eigentum des schwedischen Staates. Auch die Übernahme von Teilen des deutschen Stromnetzes durch ein Unternehmen des niederländischen Staates (TENNET) gehört dazu. 2.4 Verhandelter Netzzugang („Verbände-Vereinbarung“) Bei der Erzeugung und Verteilung von Strom und Gas existierten in Deutschland regionale Monopole privater Unternehmen, die auf der Grundlage staatlicher Konzessionen und Aufsicht die Leistung aus einer Hand anboten. Die Einführung von Wettbewerb setzte die Nutzung der Netze durch fremde Anbieter voraus, die dafür an den lokalen Monopolisten eine Nutzungsgebühr zu zahlen hatten. Diese Gebühr sollte in einer Selbstregulierung festgelegt werden: Die Verbände von Netzeignern und Dienstanbietern sollten über die Preise und Modalitäten der Netzöffnung und -nutzung und verhandeln und darüber eine verbindlichen Vertrag („Verbände-Vereinbarung“) schließen. Es wurde angenommen, dass sich auf diesem Weg der „richtige“ Marktpreis für die Nutzung des Netzes ergeben würde. Allerdings könnte in einer solchen Konstellation auch ein „friedliches“ Oligopol zu Lasten der Verbraucher entstehen oder sonstige wettbewerbsfeindliche Regelungen könnten abgesprochen werden. Daher sollte die Einhaltung der Wettbewerbsregeln durch das Kartellamt überwacht werden. Dieses Vorgehen setzt voraus, dass die Behörde über genügend Kapazität und Informationen verfügt und zeitnah reagieren kann. Die erhofften Rationalisierungsgewinne könnten dann durch den Kontrollaufwand aufgezehrt werden. Da es sehr lange dauerte, bis in Deutschland die „Verbände-Vereinbarung“ im Strombereich verabschiedet war und angesichts der relativ geringen Kapazitäten des deutschen Kartellamts hat die Kommission nach längerer Auseinandersetzung eine Regulierungsbehörde als zwingendes europaweites Modell durchgesetzt, so dass die Strategie der „VerbändeVereinbarung“ als deutscher Sonderweg nur für kurze Zeit und ohne Erfolg verfolgt wurde. Strategie 3: Netze vervielfachen Durch technologischen Wandel oder neue Marktangebote kann sich die Ausgangslage, das natürliche Monopol, grundlegend verändern. Dies war bei der Telekommunikation der Fall, wo das Mobilnetz als zusätzliches Netz neben dem alten Festnetz in den Markt für Sprachund Datenübertragung trat bzw. das Breitbandkabel das Telefonieren auch über das Internet möglich machte. In einer solchen Konstellation kann Wettbewerb auch ohne regulierenden Eingriff bestehen; lediglich während der Übergangsperiode muss der Staat den neuen Anbietern helfen, einen „fairen“ Marktzugang zu erhalten. Im Mobilfunk haben die Anbieter anfangs jeweils ein eigenes Funknetz installiert und damit die Situation des natürlichen Monopols aufgehoben. Da jedoch Aufbau, Unterhalt und Modernisierung eines Netzes im Mobilfunk Fixkosten verursacht und gleichzeitig jedes einzelne Netz noch Kapazität frei hat, ist es wirtschaftlich effizienter, ein gemeinsames Netz zu betreiben. Wenn dies in privater Regie geschieht, besteht die Gefahr, dass die Unternehmen sich absprechen und überhöhte Netzentgelte verlangen.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
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Unter dem wachsenden Wettbewerbs- und Kostendruck im Telekommunikationssektor entwickelte sich die Tendenz, das Netz durch Outsourcing an einen eigenständigen Betreiber abzugeben, wobei dieser für mehrere Dienstanbieter gleichzeitig tätig werden kann. Dadurch kann der Netzbetreiber Spezialisierungsvorteile und Skalenerträge erzielen und so die Kosten senken („Netzbetreiber geben …“, 2007; „Sharing the…“, 2009). Somit entsteht aus unternehmerischer Entscheidung ein Modell, wie es in der Strategie 2.1 beschrieben ist. Parallel dazu realisieren einige Anbieter Kooperationen bei der Netzinfrastruktur, indem sie Antennenstandorte gemeinsam nutzen („Mobilfunker teilen…, 2009). Auch bei der Post haben verschiedene private Anbieter ein gemeinsames Zustellnetz eingerichtet („Eine Allianz …“, 2009). Die Europäische Kommission, die für die Überwachung des Wettbewerbs in grenzüberschreitenden Geschäften zuständig ist, hat bisher einer internationalen Zusammenarbeit der Unternehmen bei den Netzen verboten. Die anstehende Modernisierung der Netze mit dem Aufbau sehr schneller Verbindungen auch in bisher wenig erschlossenen Gebieten sehr kapitalintensiv ist und die Möglichkeiten der einzelnen Telekommunikationsunternehmen übersteigt, sieht die Kommission die geplante Zusammenarbeit nunmehr als möglich an („Ein Anschluss …“, 2013). Es könnte also ein einheitliches Netz in Europa entstehen, das im Eigentum privater Anbieter liegt. Weiterführende Literatur
Levi-Faur, D. (Ed.) (2011): Handbook on the politics of regulation, Cheltenham, Northampton.
Buigues, P., Meiklejohn, R. (2011): European economic integration and network industries, in: Jovanovic, M. (Ed.): International handbook on the economics of integration, Vol. II: Competition, spatial location of economic activity and financial issues, Cheltenham, Northampton, 45–76.
Ricketts, M. (2008): Economic regulation: principles, history and methods, in: Crew, M. A., Parker, D. (Ed.): International handbook on economic regulation, Cheltenham, Northampton, 34–62.
Demsetz, H. (1968): Why regulate utilities?, in: Journal of Law and Economics, 11, 1, 55–65.
2.3.5.2
Daseinsvorsorge unter Wettbewerbsdruck
Können auch in privaten netzgebundenen Dienstleistungen gesellschaftspolitische Ziele verfolgt werden? Ist die Daseinsvorsorge eine soziale Leistung? Eine weitere Beschränkung für das Wirken der Marktkräfte ist durch das Ziel gegeben, die Daseinsvorsorge (Europäische Kommission, 2002d; Uplegger, S., 2005) sicher zu stellen. Dazu ist ein Eingriff in den Wettbewerb von der EU akzeptiert, der jedoch nicht – so viel sei hier vorweg genommen – zwingend als staatliche Leistungserstellung erfolgen muss.
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2 Der Europäische Binnenmarkt
In ihrem Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Europäische Kommission, 2003c:8) definiert die Kommission wie folgt: „Der Begriff ‚Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse‘ … wird in Artikel 16 und Artikel 86 Absatz 2 des Vertrags verwendet. Er ist weder im Vertrag noch im abgeleiteten Recht näher bestimmt. In der Gemeinschaftspraxis herrscht jedoch weitgehende Übereinstimmung dahingehend, dass er sich auf wirtschaftliche Tätigkeiten bezieht, die von den Mitgliedsstaaten oder der Gemeinschaft mit besonderen Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden und für die das Kriterium gilt, dass sie im Interesse der Allgemeinheit erbracht werden. Das Konzept der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse umfasst daher insbesondere bestimmte Leistungen der großen netzgebundenen Wirtschaftszweige wie des Verkehrswesens, der Postdienste, des Energiesektors und der Telekommunikation. Der Begriff gilt jedoch auch für jede sonstige wirtschaftliche Tätigkeit, die mit Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft ist.“ Von Bedeutung sind dabei die folgenden Aspekte:
Die Betonung des „wirtschaftlichen Interesses“, das auf über den Markt erbrachte Leistungen abzielt und solche, die ohne Entgelt oder Gewinnabsicht erbracht werden oder für den grenzüberschreitenden Handel unerheblich sind, werden von der EU nicht behandelt.
Es existiert keine verbindliche Definition oder Liste der Dienste, da die Mitgliedsstaaten sich nicht auf eine solche einigen konnten. So wehren sich z.B. in Deutschland die Kommunen, die mit Monopolen in den Bereichen Müll, Energie und Wasser zum Teil erhebliche Gewinne erwirtschaften, gegen einen Zwang zur Privatisierung. Die Kommission hat klargestellt, dass die Mitgliedsstaaten selbst entscheiden können, was sie als Leistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ansehen (Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/00/1022 vom 20.9.2000).
Die Zielgruppe der Daseinsvorsorge ist die „Allgemeinheit“, womit alle Bewohner des Landes erfasst werde – unabhängig von ihrem Wohnort und ihrer sozialen Lage.
Es wird eine „Gemeinwohlverpflichtung“ formuliert, mit der die Anbieter zu Leistungen und Konditionen verpflichtet werden, die sie aus rein unternehmerischen Überlegungen so nicht anbieten würden.
Die besondere Stellung von netzgebundenen Dienstleistungen wird hervorgehoben.
Einen Versuch zur Begriffsabgrenzung nimmt Neergaard (2009) vor, indem sie ein Kontinuum von marktbestimmten bis zu hoheitlichen Bereichen aufspannt:
Dienstleistungen, die vom Markt bestimmt werden, d.h. über Angebot und Nachfrage auf dem Markt erbrachte Dienstleistungen, an denen kein allgemeines, öffentliches Interesse besteht
Dienstleistungen von allgemeinem, öffentlichem, Interesse („Öffentlicher Dienst“) –
in wirtschaftlichem Zusammenhang, d.h. über Angebot und Nachfrage auf dem Markt erbrachte Dienstleistungen
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“ – –
147
nicht in wirtschaftlichem Zusammenhang erbrachte bzw. erbringbare Dienstleistungen in einer „Grauzone“
Hoheitliche Aufgaben, Nicht-Unternehmen (Stiftungen, Vereine etc.).
Den einzelnen Kategorien lässt sich nicht zweifelsfrei eine Liste von Tätigkeiten zuordnen. In Abhängigkeit von ihrer Organisation können soziale Dienste, Gesundheitsdienste und Bildungsdienste unter jede dieser Kategorien fallen. Wenn eine Dienstleistung traditionell im Öffentlichen Dienst erbracht wird, bedeutet dies keineswegs, dass dies nicht auch über den Markt organisierbar wäre oder gar, dass es sich hier um eine hoheitliche Aufgabe handelte (Kapitel 2.3.4.3). Vor der Liberalisierung der netzbasierten Dienstleistungen waren auch die marktbasierten Dienste politisch gesteuert, so dass gesellschaftspolitische Ziele bei der Verteilung und der Preisbildung einfließen konnten. Privatwirtschaftlich agierende Dienstleister dagegen sind bei ihrem Angebot auf Gewinnerzielung aus und bieten deshalb Leistungen, die bei Standardpreisen keinen Gewinn abwerfen, entweder nicht an oder nur zu kostendeckenden, d.h. „zu hohen“ Preisen. So könnte z.B. die Zustellung von Post in dünn besiedelten Räumen ganz unterbleiben oder das Porto müsste erheblich höher sein als in Ballungsgebieten. Diese Marktergebnisse werden von der EU für unerwünscht erklärt. Sie will vielmehr sicherstellen, dass bestimmte Dienste in einer bestimmten Qualität allen Verbrauchern und Nutzern im gesamten Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates unabhängig von ihrem geografischen Standort und unter Berücksichtigung der landesspezifischen Gegebenheiten zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung gestellt werden. Das Ziel wird durch die Einführung einer Gemeinwohlverpflichtung in den privaten Marktprozess erreicht. Die Erfüllung der Gemeinwohlverpflichtung erfolgt über die Verpflichtung des Anbieters, eine Universaldienstverordnung zu befolgen. Sie „… legt für die einzelnen Wirtschaftszweige Verpflichtungen zur Erbringung bestimmter Dienste zu genau definierten Bedingungen fest, die flächendeckende Versorgung eingeschlossen. In einem liberalisierten Marktumfeld wird mit der Universaldienstverpflichtung gesichert, dass der betreffende Dienst für jedermann zu einem erschwinglichen Preis zugänglich ist und die bestehende Dienstequalität beibehalten bzw. gegebenenfalls verbessert wird.“ (Europäische Kommission, 2003c:18; European Commission, 1999a:168 ff.). Beispiele sind die Universaldienste in der Telekommunikation und bei der Post, die den Zugang zu Telefon und Post auch für dünn besiedelte und entlegene Regionen auf einem Mindeststandard festlegen. Sie beschreiben genau, welche Leistungen – unabhängig von der Kostendeckung – von den Dienstleistern erbracht werden müssen (Post-Universaldienstleistungen vom 15. Dezember 1999; EU-Richtlinie 2002/22/EG vom 7. März 2002 Universaldienstrichtlinie). Offen bleibt dabei allerdings, wie die Erschwinglichkeit sowie die Qualität der Dienstleistung definiert werden könnte. Hinzuweisen ist ferner darauf, dass die Adressaten dieses Anspruchs nicht etwa speziell sozial schwache Personen sind, sondern alle Bürger in den Genuss dieser Leistungen kommen sollen – also auch die wohlhabenden Bewohner einer Villa am Waldrand außerhalb der Stadt. Wird der Preis aus sozialen Gründen niedrig gehal-
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2 Der Europäische Binnenmarkt
ten, kommt es – wie bei vielen Subventionen – zu erheblichen Streuverlusten, da alle Nutzer von diesem einheitlichen, subventionierten Preis profitieren würden, also auch diejenigen mit ausreichendem eigenem Einkommen. Daher kann auch der Auffassung von Broß (2003) nicht gefolgt werden, der einen Widerspruch zwischen dem Sozialstaatsprinzip des deutschen Grundgesetzes und dem Wettbewerbsgebot des Binnenmarktes sieht. Durch diese staatlich auferlegten Universaldienstverpflichtungen entstehen einem privatwirtschaftlichen Unternehmen zusätzliche Kosten, zu deren Finanzierung die EU den Mitgliedsstaaten verschiedene Wege zur Auswahl lässt (Europäische Kommission, 2003c:30–31, 60 ff.). Dazu zählen:
Subventionen oder Steuervergünstigungen aus dem Staatshaushalt, so dass der „Besteller“ der Daseinsvorsorge – nicht der Empfänger – diese auch bezahlt (Befreiung von der Mehrwertsteuer bei Lieferung von Post „in der Fläche“),
Ausschließliche Rechte, z. B. ein gesetzliches Monopol, für die Leistungserbringer, so dass sie einen kostendeckenden Preis am Markt durchsetzen können, ohne befürchten zu müssen, dass Wettbewerber durch Marktsegmentierung ihnen die lukrativen Kunden abwerben („Rosinenpicken“),
Erhebung eines einheitlichen Preises beim Endkunden ungeachtet beträchtlicher Kostenunterschiede bei der Erbringung der betreffenden Leistung, so dass durch die Mischkalkulation eine Quersubventionierung der kostenintensiven durch die kostengünstigen Nutzer entsteht. Meist wird ein einheitlicher Preis in der Gemeinwohlverpflichtung vorgeschrieben, da ansonsten das Unternehmen durch Preisdifferenzierung für einzelne Nutzergruppen höhere als „erschwingliche Preise“ verlangen könnte.
Die Mitgliedsstaaten müssen sicherstellen, dass die Ausgleichszahlungen, die für das Funktionieren einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse unerlässlich sind, keine Überentschädigung darstellen: Es darf höchstens der Zusatzaufwand erstattet werden – darüber hinaus gehende Beträge stellten eine verbotene Subvention dar. Die Abgrenzung zwischen erlaubter und verbotener Subvention führt immer wieder zu Streit mit den nationalen Regierungen. Als unerlässliche Voraussetzung einer wirksamen Kontrolle in diesem Bereich gilt die auf transparente Weise getrennte Verbuchung der Aufwendungen und Erlöse: Am Markt erbrachte Leistungen müssen von den im Rahmen der Daseinsvorsorge erbrachten Leistungen unterschieden werden können. Dies stellt besondere Anforderungen an das Rechnungswesen der Unternehmen, die Aufgaben der Daseinsvorsorge übernehmen; diese werden in der „Transparenzrichtlinie“ (80/723/EWG vom 25.6.1980, geändert 2005) spezifiziert. Die Höhe der Ausgleichszahlung kann auch dadurch festgestellt werden, dass eine spezifizierte Leistung ausgeschrieben wird. Die Kosten des Unternehmens, das sich in einem fairen und transparenten Bieterwettbewerb als günstigstes durchgesetzt hat, gelten dann als angemessen (Europäische Kommission, 2002d:32 ff.). Der Europäische Gerichtshof hat im Jahr 2003 in seinem „Altmark-Urteil“ (C-280/00) die Grundlagen geklärt (Europäische Kommission, 2010a:32; Thouvenin, J.-M., 2009). Die Ausgleichszahlung der öffentlichen Hand an
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
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ein Unternehmen stellt dann keine staatliche Beihilfe dar, wenn die folgenden vier Kriterien ausnahmslos erfüllt sind:
Erstens muss das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssen klar definiert sein.
Zweitens sind die Parameter, anhand derer der Ausgleich berechnet wird, zuvor objektiv und transparent aufzustellen.
Drittens darf der Ausgleich nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken („Überkompensation“).
Viertens sind die zusätzlichen Kosten entweder durch Ausschreibung des Auftrags zu ermitteln oder auf der Grundlage der Kosten zu bestimmen, die ein durchschnittliches, gut geführtes, angemessen ausgestattetes Unternehmen zu tragen hat.
Im Weißbuch, das die Schlussfolgerungen der Europäischen Kommission (2004b) zur öffentlichen Diskussion um das Grünbuch zusammenfasst, hat die Kommission ihre wettbewerbsorientierte Haltung zum Komplex der Daseinsvorsorge nochmals bekräftigt und bleibt damit im Konflikt mit den Regierungen und Interessengruppen, die ihren Wunsch nach Schutz ihres Bereichs vor dem „kalten Wind des Wettbewerbs“ mit dem Argument der Daseinsvorsorge begründen.
2.3.5.3
Beispiel: Elektrizität
Welche Strukturen haben sich auf dem Strommarkt nach der Liberalisierung herausgebildet? Warum funktioniert der Binnenmarkt für Elektrizität (noch) nicht? Charakteristika des Strommarktes Elektrische Energie kann nicht in großen Mengen gespeichert werden, so dass zum Zeitpunkt des Bedarfs die richtige Menge erzeugt, über längere Distanzen transportiert und an die einzelnen Abnehmer verteilt werden muss. Auf den Strommärkten wird ein erhebliches Umsatzvolumen erzielt und die Energiekosten bilden, je nach Branche, einen erheblichen Anteil der Produktionskosten, so dass günstige Energiekosten auch ein Wettbewerbselement für die Industrie darstellen. Auch private Haushalte können profitieren, wenn die Energiepreise für sie selbst sinken bzw. wenn die Preise für Güter und Dienste des Endverbrauchs mit geringeren Energiekosten belastet werden. Im Geist des Binnenmarktes soll der Wettbewerb auch auf den Strommärkten für Kosten- und damit Preissenkungen sorgen. Der Markt für Elektrizität erfüllt die Merkmale eines natürlichen Monopols, so dass Wettbewerb ist nur möglich ist, wenn
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2 Der Europäische Binnenmarkt
die Anbieter von Strom sich dem Wettbewerb zu fairen Bedingungen aussetzen, d.h. als private Unternehmen am internationalen Markt operieren,
konkurrierende Anbieter über das Leitungsnetz des lokalen Monopolisten zu fairen Bedingungen verfügen können,
der grenzüberschreitende Handel nicht von nationalen Monopolen und mangelhafter Leitungskapazität behindert wird und
die Endkunden ihre Anbieter auch wegen relativ geringer Preisvorteile wechseln.
Strom: Probleme der Infrastruktur in der EU Erzeugung und Verteilung von Strom fand bzw. findet in den meisten Mitgliedsstaaten der EU durch nationale oder regionale Monopole statt. Deren vertikale Integration erstreckte sich auf alle Ebenen der Wertschöpfung, auf die Ein- und Ausfuhr von Brennstoffen und auch auf den Bau und Betrieb von Erzeugungs- sowie Verteilungsanlagen der Elektrizität. In einigen Regionen hängt eine Vielzahl von Arbeitsplätzen von der Energieerzeugung ab, was zu einer starken Verteidigung des Status quo durch lokale Interessengruppen führen kann. Die Grenzen für den Transport von Elektrizität über Leitungen sind in der EU-27 im Prinzip offen. Strom sucht sich naturgesetzlich den Weg des geringsten Widerstandes – unabhängig von einer Landesgrenze. Sobald der Stromtransport einen Leitungsabschnitt überlastet, muss ein weiterer Zufluss unterbunden werden, wozu Kraftwerke abgeschaltet werden müssen. Dadurch erleiden die entsprechenden Betreiber einen Verdienstausfall. So entstehen auch grenzüberschreitende Effekte, die nach einer EU-weiten Koordination verlangen, wie am Beispiel Deutschlands klar wird: Der von Windkraftanlagen an der norddeutschen Küste erzeugte Strom kann derzeit wegen fehlender Leitungskapazität nicht auf deutschem Boden zu den Verbrauchern im Süden gebracht werden – er sucht sich seinen Weg daher über Polen und die Tschechische Republik. Dort müssen wegen Überlastung der Leitungen immer wieder Kraftwerke abgeschaltet werden. Eine gemeinsame Planung des Leitungsbaus ist erforderlich („Deutscher Windstrom …“, 2012). Der Bedarf an Investitionen im Stromsektor zur Sicherung künftiger Versorgung und zur Einrichtung eines europäischen Marktes für Strom kann nur gedeckt werden, wenn die folgenden Probleme gelöst werden:
Modernisierung veralteter und unzureichender Erzeugungs- und Netzkapazitäten,
Anpassung der Infrastruktur an den politisch gewollten Ausstieg aus der Atomenergie sowie die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien,
Beseitigung von Engpässen im Netz für grenzüberschreitende Stromdurchleitung
Beschleunigung von Genehmigungsverfahren,
Überwindung der Blockaden bei der Investitionsentscheidung in Erzeugung und Verteilung, die in der ungewissen Weiterentwicklung auf dem Energiesektor sowie in der Asymmetrie von Nutzen und Aufwand liegen, da Investitionen in Netze nicht zwingend
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
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zu Gewinnen bei den Investoren, sondern auch bei ausländischen Erzeugern liegen können,
Koordination und Moderation der Abstimmung von Planungen und Investitionsentscheidungen unter einer Vielzahl privater und öffentlicher Akteure aus verschiedenen Ländern,
Regulierung des Marktverhaltens der oligopolistischen Anbieter zur Sicherung eines freien Wettbewerbs.
Die Rolle der EU im Stromsektor Beim Strommarkt liegen grenzüberschreitende externe Effekte sowie Asymmetrie von Nutzen und Lasten zusätzlicher Investitionen vor. Außerdem können die Pläne national agierender Investoren nur dann wirtschaftlich geprüft werden, wenn die Investitionen in anderen Ländern einbezogen werden. Dazu wäre eine internationale Koordination erforderlich. Somit sind Kriterien erfüllt, die auch nach dem Subsidiaritätsprinzip ein Handeln auf zentraler Ebene, d.h. durch die EU, sinnvoll machen (European Commission, 2011h:22). Jedoch hat die EU beim Bau der Energieinfrastruktur weder Entscheidungskompetenz noch ausreichend Mittel für Investitionen. Vielmehr ist es öffentliches und privates Kapital in den einzelnen Mitgliedsstaaten, das vorwiegend nach nationalen Bedarfen eingesetzt wird. Die Kommission wagte im Jahr 2003 einen Vorstoß zur Verlagerung der Entscheidung über den Netzausbau auf die gemeinschaftliche Ebene („Brüssel will …“, 2003). In der Konsequenz hätte dann die Kommission die privaten Unternehmen anweisen können, Investitionen ins Netz vorzunehmen. Damit wollte die Kommission die Versorgungssicherheit sicherstellen, die nach dem Black-out in Italien im Sommer 2003 auch in Europa offenbar nicht garantiert ist. Dieser Vorstoß stellte jedoch eine von den Verträgen nicht gedeckte Ausweitung der Kompetenzen der EU dar; eine Mehrheit dafür war weder im Rat noch im Europäischen Parlament zu erreichen. Da eine zentrale Entscheidungsbefugnis der EU nicht besteht, versucht sie zumindest eine Koordination der unterschiedlichen beteiligten Parteien. Die Europäische Kommission stützt sich dabei auf eine Übertragung von Zuständigkeiten zur Koordination und Planung im Bereich transeuropäischer Netze aus den Europäischen Verträgen (Artikel 170, 171, 194, AEUV). Zur Moderation und Unterstützung der Kommunikation der verschiedenen „Mitspieler“ aus Regierungen, Regulierungsbehörden, Netzbetreibern, Versorgungsunternehmen, Energiehändlern, Strombörsen sowie Verbrauchern hat die Kommission im Jahr 1998 ein „Florenz Forum“ ins Leben gerufen, auf dem regelmäßig gemeinsam nach Lösungen für Fragen des transnationalen Strommarktes gesucht wird. Außerdem haben sich Teile der Industrie in internationalen Vereinigungen zusammengeschlossen, um die Koordination und Kommunikation sowie die Vertretung ihrer Interessen zu bündeln. Dazu zählen z.B. ENTSO-E (European Network of Transmission System Operators for Electricity) für die Netzinfrastruktur oder CEER (Council of European Energy Regulators) für die Regulierungsbehörden. Diese Dachorganisationen stellen auch Ansprechpartner für die EU dar. ENTSO-E ist verpflichtet,
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2 Der Europäische Binnenmarkt
eine Langfristplanung für Energieinfrastruktur zu erstellen, die die Pläne der nationalen Investoren und die europäischen Bedarfe enthalten soll. Die nationalen Regulierungsbehörden wurden verpflichtet, bei ihrer Arbeit den Nutzen des Europäischen Binnenmarktes für Energie mit zu berücksichtigen. Grundlegende Regulierungen für die Öffnung der Strommärkte hat die EU im Jahr 2003 verabschiedet. So müssen die staatlichen und staatlich geschützten privaten Monopole im Strombereich gemäß der Richtlinie 2003/54/EC (2003) privatisiert und entflochten werden, und es wurde eine schrittweise Öffnung der Netze für grenzüberschreitenden Handel mit Strom verfügt (Richtlinie 2003/1228/EC). Der Prozess der Liberalisierung ist in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich vorangekommen, jedoch ist nach Auffassung der Kommission noch kein funktionierender Binnenmarkt entstanden. Nach wie vor bestehen Probleme, für die sowohl weitere gesetzliche Regelungen für erforderlich gehalten werden, als auch zusätzliche Bemühungen der Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung. Hierzu zählen die Entstehung einer wettbewerbsorientierten Marktstruktur im Inland, der Zugang zu den Netzen sowie die Erleichterung des grenzüberschreitenden Handels mit Strom. In den Fortschrittsberichten der Kommission (European Commission, 2005d, Europäische Kommission, 2005b; European Commission, 2011h, 2011i) wird der Entwicklungsstand als unbefriedigend bezeichnet, was auch darin seinen Ausdruck findet, dass die Kommission gegen 25 Mitgliedsstaaten wegen ungenügender Umsetzung der Richtlinien aus dem „Zweiten Energie-Paket“ vorging (European Commission, 2011i:3). In dem „Dritten Energie-Paket“ wurden die bisherigen Regulierungen ergänzt und erweitert. Marktstruktur in den Mitgliedsstaaten Eine Voraussetzung für Wettbewerb wird in der Struktur des Angebots gesehen: Eine hohe Marktkonzentration, wie sie in Monopolen oder Oligopolen gegeben ist, ermöglicht unangemessen hohe Preise. Andererseits ist auf den Strommärkten vieler Mitgliedsstaaten diese Marktstruktur zum einen historisch bedingt, zum anderen darauf zurückzuführen, dass bei der Stromerzeugung mit Großanlagen erhebliche Investitionsmittel aufzuwenden sind, Widerstände gegen neue Kraftwerke bestehen, Genehmigung und Bau neuer Anlagen erhebliche Zeit beanspruchen und die Privatisierung staatlicher Anbieter vielfältige Interessen verletzt. Nach der Liberalisierung wird die Stromerzeugung in vielen Mitgliedsstaaten von inländischen, häufig staatlich dominierten, Oligopolen beherrscht. In Deutschland bildete sich ein „friedliches Oligopol“ aus vier dominierenden Anbietern, die untereinander wenig Preiswettbewerb betreiben und bei steigenden Gewinnen die Strompreise erhöht haben. Eines dieser vier Unternehmen ist ein ausländischer Staatsbetrieb. Neue Anbieter haben durch Preiswettbewerb versucht, Kunden vom bisherigen „Platzhirsch“ abzuwerben. Da diese Strategie nur aufgeht, wenn die dadurch verursachten Anfangsverluste bald durch Gewinne kompensiert werden, sank die Zahl der Wettbewerber wieder: Von ca. 150 Unternehmen, die einen Markteintritt versuchten, haben nur wenige dies erfolgreich durchgehalten (European Commission, 2005d:41; Monopolkommission, 2007a). Durch die Förderung erneuerbarer Energien (Wind, Sonne) in Deutschland entsteht eine neue Gruppe meist kleiner Stromanbieter, die zu gesetzlich gewährten, attraktiven Konditionen
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
153
ihre Überschüsse in das Netz einspeisen dürfen. Sollten sie einen größeren Marktanteil erreichen, könnte sich der Wettbewerb intensivieren. Vertikale Marktschließung und langfristige Verträge Für einen schärferen Wettbewerb fehlt es auch an einem hinreichend großen und flexiblen Angebot von Dritten: Es sind nur begrenzte Mengen an Strom auf dem freien Markt verfügbar, da die Beziehungen zwischen Erzeugern und Verteilern auf sehr langfristigen Verträgen beruhen; für den Handel sind keine freie Mengen verfügbar. Da die Strommärkte kaum liquide sind, basiert die Preisbildung auf den Spotmärkten, z.B. der Energiebörse in Leipzig, auf geringen Mengen und wird daher von kurzfristigen, manipulierbaren Schwankungen in der Erzeugung beeinflusst. So wurde der Vorwurf an die Stromerzeuger erhoben, sie würden durch die Stilllegung von Kapazitäten die Preise am Spotmarkt in die Höhe treiben, um diese dann als Referenzpreis für den Stromhandel heranzuziehen (European Commission, 2005d:37 f., 47 f.) Die Bundesnetzagentur kritisierte Mangel an Transparenz und die Gefahr von Manipulation an den Strombörsen. In Frankreich wird der Verdacht der Manipulation des Strompreises im Großhandel untersucht („EU durchsucht…“, 2009). Freier Netzzugang im In- und Ausland Angesichts der Netzbindung der Stromverteilung bleibt das Netz selbst der kritische Punkt bei der Liberalisierung: Die Eigentümer des Netzes könnten sich durch unangemessen hohe Nutzungspreise gegen die Konkurrenz abschirmen. Wie kann erstens der „faire“ Zugang der konkurrierenden Anbieter zum Netz gewährleistet werden und zweitens die Beseitigung von Engpässen bei der Leitungskapazität im grenzüberschreitenden Handel sichergestellt werden? Mit der Elektrizitätsrichtlinie 2003/54/EC wurden die Stromunternehmen verpflichtet, Vorsorge für freien und fairen Netzzugang zu schaffen, indem sie die Erzeugung, den Transport und die Verteilung von Strom trennen. Die grundlegenden Elemente der neuen Entflechtungsregelung sind (Vermerk der GD Energie und Verkehr zur Richtlinie 2003/54/EG): 1. Rechtliche Entflechtung des Übertragungsnetz-/Fernleitungsnetzbetreibers (ÜNB/FNB) und des Verteilernetzbetreibers (VNB) von anderen Tätigkeiten, die nicht mit der Übertragung/Fernleitung und der Verteilung zusammenhängen. 2. Funktionale Entflechtung des ÜNB/FNB und des VNB, um seine Unabhängigkeit innerhalb des vertikal integrierten Unternehmens zu gewährleisten. 3. Entflechtung der Rechnungslegung: Anforderung, für die ÜNB-/FNB- und VNBTätigkeiten getrennte Rechnungen zu führen. Die Kommission (European Commission, 2007a, 2007b) hat die Diskussion um diese Strategie 2007 nochmals verstärkt: Durch das strikte „Unbundling“ von Stromerzeugern und verteilern sollten alle Interessenskonflikte beseitigt werden (Klees, A., Langerfeldt, M. (Eds.), 2005). Die Kommission wollte die Stromunternehmen notfalls gesetzlich zwingen, sich von ihren Netzen zu trennen und diese an reine Netzunternehmen zu verkaufen. Da diese Trennung in sieben von achtzehn analysierten EU-Mitgliedsstaaten bereits vollzogen war
154
2 Der Europäische Binnenmarkt
(Gómez-Acebo & Pombo Abogados, S. L., Charles Russell LLP, 2005), stieß der Vorschlag vorrangig dort, wo dadurch eine erhebliche Veränderung der Industriestruktur erzwungen würde, auf Widerstand. Mit dem Vorschlag großer Stromanbieter, ihre Netze grenzüberschreitend in einer eigenen Gesellschaft zusammenzufassen und so deren Nutzung zu koordinieren, versuchten diese, den Vorstoß der Kommission zu kontern („Strom soll …“, 2007). Im März 2009 haben sich Kommission, Rat und Parlament darauf geeinigt, dass eine strikte Trennung von Netz und Erzeugung nicht mehr verpflichtend sein soll. Vielmehr dürfen auch integrierte Konzerne existieren, die dann allerdings die beiden Geschäftsbereiche klar trennen müssen und auch nicht in anderen EU-Mitgliedsstaaten Stromunternehmen aufkaufen dürfen, die Netz und Erzeugung trennen („EU legt…“, 2009). Diese Abschwächung der Trennung von Netz und Betrieb ist auch auf die erfolgreiche Arbeit der starken Lobby der Industrie zurückzuführen. Grenzüberschreitende Engpässe im Netz Die Netze sind in der Vergangenheit von nationalen Versorgern in deren Einzugsbereich aufgebaut worden und haben damit den Kapazitätsbedarf zur EU-weiten Durch- und Weiterleitung noch nicht berücksichtigt. Die Öffnung dieser Netze für Konkurrenten zu wirtschaftlich akzeptablen Bedingungen sowie die strategische Weiterentwicklung des EU-weiten Netzwerks zur Vermeidung von Engpässen für die grenzüberschreitende Durchleitung von Strom muss gewährleistet sein, um in einem liberalisierten Markt Wettbewerb entstehen zu lassen. Eine Reihe von Engpässen ist längst bekannt, z.B. zwischen Deutschland und den Niederlanden, Dänemark sowie Frankreich, Spanien und Frankreich oder Österreich und der Tschechischen Republik. Die Engpässe werden auch dadurch verschärft, dass sehr alte vertragliche Rechte an den Leitungen bestehen, die bis zu 70% der Kapazität dieser Leitungen blockieren (European Commission, 2005d:44). Eine neue Herausforderung an die Netzinfrastruktur entstand mit der „Energiewende“ und der damit verbundenen dezentralen Energieerzeugung aus Wind, Wasser und Sonne. Die Standorte der Erzeugung und der Nutzung liegen z.T. weit auseinander und brauchen neue bzw. verstärkte Übertragungskapazitäten („Energiewende endet …“, 2012). So muss z.B. in Norwegen erzeugter Strom aus Wasserkraft rasch und in großem Umfang nach Deutschland gelangen können, was derzeit wegen Leitungsengpässen nicht möglich ist. Auch die Pläne, aus der nordafrikanischen Wüste Strom nach Europa zu leiten (DESERTEC Foundation), setzen entsprechende Kapazitäten voraus. Die Beseitigung von Engpässen bei der Übertragung durch entsprechende Investitionen wurde zwar 2002 von den Mitgliedsstaaten beschlossen, aber bisher nicht realisiert, da Aufwand und Nutzen asymmetrisch verteilt sind. Die bisher lokal aktiven Stromanbieter und Netzbetreiber haben kein eigenes Interesse daran, in die Netzinfrastruktur zu investieren, wenn sie damit ihren Wettbewerbern die Tür zum „eigenen“ Markt öffnen (European Commission, 2011h:13). Darüber hinaus verdienen die Netzinhaber bisher an der Vermarktung der Engpässe sehr gut. Außerdem müssen hierzu transnationale politische Entscheidungen gefällt und aufwändige Genehmigungsverfahren mit zahlreichen Zuständigkeiten auf lokaler und nationaler Ebene durchlaufen werden.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
155
Öffnung für grenzüberschreitenden Handel Im Prozess der Marktöffnung für ausländische Anbieter wurde ein Prozentsatz des Inlandsverbrauchs als Mindestgrenze für die Öffnung vorgeschrieben (30% bis 2000, 35% bis 2003); bis 2007 sollte die Liberalisierung des Strommarktes abgeschlossen sein. Der vorgeschriebene Prozentsatz wurde von vielen Mitgliedsstaaten schon mehr als erfüllt: Deutschland, Finnland, Schweden und Großbritannien haben bereits im Jahr 2000 eine 100%-ige Öffnung realisiert. Frankreich dagegen hat seine Märkte nicht weiter geöffnet als zur Erfüllung der EU-Vorgaben notwendig war. Bis 1999 war der Anteil des grenzüberschreitenden Stromhandels am gesamten Verbrauch mit 8% noch gering; der Anstieg auf 11% im Jahr 2005 stellte keinen qualitativen Sprung dar, und auch bis 2011 änderte sich daran nichts wesentliches. Der mit weitem Abstand größte Nettoexporteur war im Jahr 2000 Frankreich, gefolgt von Deutschland, Österreich und Schweden. Es gibt in der EU nur ein Land, das einen so hohen Anteil seiner Erzeugung per Saldo exportiert: Das ist Frankreich, das seinerseits seinen Strommarkt für Importe nur widerstrebend öffnet (Europäische Kommission, 2001b:20, Tab. 5). Mit der Verordnung Nr. 1228/2003 (EG) wurde für den grenzüberschreitenden Stromhandel festgelegt, dass die Nutzungspreise transparent und einheitlich vereinbart werden müssen und ein Verfahren für das Engpassmanagement von den Mitgliedsstaaten eingeführt werden muss. Dabei sollen einzelne Anbieter weder bevorzugt noch diskriminiert werden, und die Regelungen sollen wirtschaftliche Anreize für Investitionen in knappe Leitungswege enthalten. Der Fortgang der Öffnung der Strommärkte in Europa wurde besonders durch das Festhalten der französischen Regierung an einem erheblichen Staatseinfluss auf den Stromproduzenten EdF gebremst. Besonders gegen den Wettbewerb beim Stromangebot für private Haushalte hatte die französische Regierung – im Rat unterstützt von der deutschen Regierung – so erfolgreich Widerstand geleistet, dass die Freigabe bis 2008 aufgeschoben wurde. So treten Monopolisten mit weitgehend geschlossenen Heimatmärkten auf liberalisierten Auslandsmärkten in den Wettbewerb. Wenn durch diesen asymmetrischen Verlauf der Öffnung ein Staatsmonopolist einen Vorteil haben kann, darf die Importmenge aus diesem Land bis zur Höhe der „Gegenseitigkeit“ begrenzt werden, um die Symmetrie bei der Marktöffnung zu wahren. Was allerdings bleibt, ist der Vorteil, der von solchen Monopolisten durch die grenzüberschreitende Kapitalverflechtung der Stromproduzenten errungen werden kann: Durch den Kauf ausländischer Erzeuger kann der Zugang zum Eigentum an Erzeugungs- und Verteilungskapazität und damit zu den Märkten „unfair“ erlangt werden. Dies hat zum Streit zwischen Spanien und Italien mit Frankreich und Deutschland geführt, als sich das mit EdF verflochtene deutsche Stromunternehmen EnBW in deren nationale Stromerzeuger einkaufen wollte. Im Jahr 2005 wurde dann zwischen Italien und Frankreich ein wechselseitiger Marktzugang „Zug um Zug“ unter staatlicher Aufsicht vereinbart. Preise und Anbieterwechsel als Indikator für Wettbewerb Die Preise für Strom unterliegen zahlreichen Einflüssen und es ist methodisch schwierig, die Wirkung der Liberalisierung zu isolieren. Jedoch wird in einer Studie von Copenhagen Economics (European Commission, 2005d, Technical Annex:18) nachgewiesen, dass bei größe-
156
2 Der Europäische Binnenmarkt
rer Marktöffnung die Preise zurückgehen. Die Preisentwicklung hängt jedoch auch stark von den Rohstoffpreisen sowie den Steuern und Abgaben für Energie und von der Umweltpolitik ab. Wegen der erheblichen Schwankungen der Weltmarktpreise für Energie und der CO-2Abgabe sind die Preise wieder stark gestiegen. Es bleibt der Verdacht, dass die immer noch hohe Marktkonzentration und daraus resultierende Macht zu überhöhten Preisen führt (Schwarz, H.-G., Lang, C., 2006; Hirschhausen, C. v. et al., 2007). Bei funktionierendem Wettbewerb auf freien Märkten wird erwartet, dass Preisdifferenzen zwischen verschiedenen Ländern verschwinden. Diese sind jedoch in der EU immer noch hoch – sie betragen bei Industriekunden in einigen Fällen sogar 100% – gehen jedoch insgesamt zurück (Europäische Kommission, 2005b:5). In den Jahren 2009 und 2010 ging in einigen Regionen, die ihre Kooperation im Stromsektor etabliert hatten, die Preisdifferenzierung deutlich zurück (European Commission, 2011i:5). Durch die Freigabe hatten zuerst die großen Abnehmer die Möglichkeit, ihren Anbieter frei zu wählen; seit 2004 können dies alle Kunden. Noch ist die Zeit der Liberalisierung so kurz, dass vor allem die privaten Haushalte noch keine Pläne zum Anbieterwechsel realisieren konnten; bis 1999 hatte erst 1% der Privatkunden tatsächlich einen preiswerteren Anbieter gewählt. Für spätere Zeitpunkte gibt es keine umfassenden Daten, aber die Wechselhäufigkeit dürfte kaum zugenommen haben (European Commission, 2011i:10). Die Wettbewerbsintensität im gewerblichen Bereich hat zugenommen: Bis 2005 haben z.B. in Deutschland 41% der Großkunden, 7% der kleinen und mittleren Unternehmen und 5% der Haushalte und Kleinstunternehmen ihren Stromlieferanten gewechselt. Mit weiter steigenden Preisen stieg 2007 nochmals die Zahl der Wechsler stark an. Die größten Fortschritte haben hier Großbritannien sowie die Nordischen Länder gemacht (European Commission, 2005d, Technical Annex:38). Allerdings behindern auch die vertikal integrierten Konzerne den Wechsel der Kunden, z.B. durch Informationszurückhaltung oder gezielte Kundenansprache (European Commission, 2005d:41). Ab Juli 2007 sollten Strom- und Gasmarkt in der gesamten EU vollständig liberalisiert sein, so dass auch private Haushalte ihren Anbieter frei wählen können. Allerdings hatten zu diesem Stichtag noch zahlreiche Länder Rückstände bei der Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht. So wurden z.B. in Spanien die Preise für Strom und Gas staatlich festgelegt und in Frankreich waren die Preise der Ex-Monopolisten EdF und GdF bis 2010 so stark subventioniert, dass konkurrierende Anbieter kaum Kunden gewinnen konnten (ERGEG, 2007). Die Kommission geht gegen Verstöße vor, wenn auch der EuGH die Preisregulierung auf nationalen Märkten unter einigen Bedingungen zugelassen hat. Trotz der Bemühungen um mehr Wettbewerb hat sich aber letztlich durch Fusionen eine Oligopolstruktur auf den europäischen Strommärkten eingestellt. (“Power games…, 2009). Die drei größten Anbieter eines Landes beherrschen ca. zwei Drittel des Strommarktes (European Commission, 2011i:7). Auch in Deutschland können die vier großen Anbieter durch ihre Marktmacht den Wettbewerb behindern (Monopolkommission, 2009a). Werden die Gewinne der Stromanbieter als Indikator herangezogen, so kann für Deutschland nach wie vor eine geringe Wettbewerbsintensität festgestellt werden (Leprich, U., Junker, A., 2010; Becker, P., 2011).
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
2.3.6
157
Freiheit des Kapitalverkehrs
Neben dem „Produktionsfaktor Arbeit“ soll sich auch Kapital ungehindert in der EU bewegen können; dies herzustellen ist Ziel der Kapitalverkehrsfreiheit, wie sie in den Europäischen Verträgen behandelt wird. Dazu gehören sowohl Direktinvestitionen als auch die Finanzindustrie mit ihrem Angebot an Finanzdienstleistungen; beides wird in den folgenden Abschnitten behandelt.
2.3.6.1
Dimensionen und Regelung der Kapitalverkehrsfreiheit
Für welche Arten von Kapital gilt die Verkehrsfreiheit? Wie wirkt sich die Freiheit für Investoren im Binnenmarkt aus? Privates Produktionskapital ist das konstitutive Element kapitalistisch organisierter Volkswirtschaften. Die Organisation von globalen Kapitalströmen über Börsen, Banken, Versicherungen und Hedgefonds in vielfältigen „innovativen Finanzprodukten“ soll eine optimale Allokation von Kapital sicherstellen, d.h. das Kapital verteilt sich nach dem maximalen Profit auf seine möglichen Verwendungszwecke. Grenzüberschreitende Bewegungen von Kapital können erhebliche gesamtwirtschaftliche Auswirkungen haben: Zu- und Abfluss von Kapital kann den Wechselkurs und damit den Außenhandel sowie die Zinsen eines Landes erheblich beeinflussen. Deshalb war die Kontrolle von Kapitalbewegungen das Ziel von Regierungen – auch der EU-Mitgliedsstaaten. Eine politische Steuerung der internationalen Kapitalströme wird auch heute noch gefordert, um die – tatsächlich oder vermeintlich – negativen Auswirkungen der Globalisierung zu dämpfen. Im Rahmen des Europäischen Binnenmarktes wurde der grenzüberschreitende Kapitalverkehr schrittweise von Beschränkungen befreit. Bereits in den Jahren 1960 und 1962 wurden die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, aber die Mitgliedsstaaten haben die Freigabe unterschiedlich schnell umgesetzt: Deutschland, die Niederlande und Großbritannien hatten schon lange ein nur geringes Niveau von Beschränkungen. Tatsächlich vollständig freigegeben wurde der Kapitalverkehr in vielen Mitgliedsstaaten erst in der Mitte der 80er Jahre (European Commission, 1996c). Im AEU-V (Art. 63–66) wird festgelegt, dass im Grundsatz weder innerhalb der EU noch gegenüber Drittstaaten der Zahlungs- und Kapitalverkehr beschränkt werden darf. Damit liberalisiert der AEU-V beim Kapital – anders als bei Arbeitskräften – auch das Verhältnis zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und Drittländern. Allerdings darf der Rat befristete Ausnahmen beschließen, wenn z.B. schwerwiegende Turbulenzen auf den internationalen Kapitalmärkten die wirtschaftliche Stabilität der EU bedrohen. Die unterschiedlichen Behandlungen von Kapitalverkehr und -erträgen nach In- und Ausländern, wie sie in nationalen Steuergesetzen vorgeschrieben sein können, bleiben wegen der Hoheit der Nationalstaaten über ihre Steuergesetze zwar möglich, aber die Grenzziehung zwischen der legitimen nationalen Ausgestaltung des Steuerrechts und der Diskriminierung von Ausländern mit Mitteln des Steuerrechts ist immer wieder strittig und Anlass zu Gerichtsverfahren vor dem EuGH. Viele verschiedene Arten der Kapitalbewegung (Anhang zur Richtlinie 361/1988) fallen unter die Freiheit des Kapitalverkehrs in der EU, so u.a.:
158
2 Der Europäische Binnenmarkt
Direktinvestitionen, sei es in bestehende oder neue Unternehmen, mit dem Ziel der Beeinflussung der Geschäftstätigkeit des Unternehmens,
Portfolioinvestitionen, die mit dem Ziel der Gewinnmaximierung, auch als kurzfristiges Engagement, getätigt werden,
Immobilieninvestitionen, z.B. in landwirtschaftlich genutzte Flächen, privat oder gewerblich genutzte Gebäude,
Geschäfte mit Wertpapieren aller Art
Zahlungen im Zusammenhang mit Versicherungen,
Kredite, Bürgschaften etc.
Damit deckt die Kapitalverkehrsfreiheit sowohl Investoren als auch die Aktivitäten der Finanzindustrie ab. Grenzüberschreitende Zahlungsströme als Gegenleistung für den Warenverkehr sind in den Bestimmungen zum Warenverkehr geregelt; auch sie dürfen nicht beschränkt werden. Hier ergab sich wegen der hohen Bankgebühren im innereuropäischen Zahlungsverkehr, die auch nach der Einführung des Euro von den Geschäftsbanken nicht gesenkt wurden, Handlungsbedarf für die EU-Kommission: Mit der EG-Verordnung 2560 vom 19.12.2001 wurden die Gebühren an jene des innerstaatlichen Zahlungsverkehrs angepasst, was zu deren weitgehenden Senkung führte (European Commission, 2006g). Bis zum Jahr 2010 wurde ein „Einheitlicher Euro-Zahlungsraum (SEPA)“ vollendet, in dem der geldüberschreitende Geldtransfer erleichtert und den nationalen Bedingungen angepasst wurde; die vollständige Umsetzung steht noch aus (Deutsche Bundesbank, 2012a; European Commission, 2011l). Das grenzüberschreitende Angebot von Finanzdienstleistungen wird auch in den Regelungen zur Dienstleistungsfreiheit und zur Niederlassungsfreiheit behandelt. Die Regulierung der jeweiligen Anbieter bleibt aber bisher überwiegend in nationaler Kompetenz. Die für den freien Kapitalverkehr wichtigen Aspekte werden also in unterschiedlichen Abschnitten des AEU-V und zum Teil auch national, nicht europäisch, geregelt.
2.3.6.2
Direktinvestitionen im Binnenmarkt
Wie erklärt das OLI-Paradigma Direktinvestitionen? In welcher Beziehung stehen Direktinvestitionen und Handel zueinander? Welche Wirkungen können von Direktinvestitionen ausgehen? Durch die Freigabe von Investitionen können die Unternehmen ihre Produktionsstandorte innerhalb der EU ohne Rücksicht auf Landesgrenzen wählen. Sie tätigen Direktinvestitionen in bestehende oder neue Unternehmen im Ausland, wenn es ihnen um den Einfluss auf deren Geschäftstätigkeit geht. Diese können verschiedene Formen annehmen, wie der Aufbau eines neuen Unternehmens, der Aufkauf eines bestehenden Unternehmens oder Zusammenschlüsse und Joint Ventures mit Eigentümern von Unternehmen im Zielland. Mit Direktinvestitionen (FDI) wird in der Regel eine langfristig wirksame Bindung des Investors an das Unter-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
159
nehmen eingegangen. Davon sind Portfolio-Investitionen zu unterscheiden, die als eher kurzfristige Finanzanlagen getätigt werden, ohne dass dabei Einfluss auf die Geschäftsführung gesucht würde. Dieser Typ von Investition gilt als volatil, d.h. das Kapital kann schnell wieder abgezogen werden, was für das Land, aus dem es plötzlich abfließt, erhebliche Probleme bedeuten kann. Von der OECD wird die Grenze zwischen Direktinvestitionen und anderen Formen von Kapitaleinsatz bei einem Anteil von 15% des Eigenkapitals gewählt (OECD, 1996); diese Grenze ist willkürlich und für statistische Zwecke aus pragmatischen Gründen gewählt, da über die Absichten der einzelnen Investoren bezüglich der Beherrschung des Unternehmens keine verlässlichen Daten vorliegen. Eine allgemeine Theorie der Direktinvestitionen existiert nicht. Stattdessen wird hier das „OL-I-Paradigma“ von Dunning (2001) herangezogen, um die Entscheidung für eine Direktinvestition auf der Unternehmensebene zu beschreiben. Es geht davon aus, dass der Schritt ins Ausland für den Investor sich aus der Abwägung zweier Optionen ergibt: Entweder Produktion im eigenen Unternehmen im Inland, was mit geringeren Transaktionskosten (Koordination, Vertrauen, Verhandlungen, etc.) verbunden ist, oder Verlagerung der Arbeiten in ein Unternehmen im Ausland, mit geringeren Kosten für Transport, Arbeitskraft etc., aber höheren Kosten für Koordination, Überwindung kultureller Schranken und Auseinandersetzung mit anderen Regulierungen. Die Verlagerung lohnt sich nur, wenn die folgenden Kriterien erfüllt sind:
Ein firmenspezifischer Vorteil gegenüber konkurrierenden Unternehmen existiert und soll kommerziell genutzt werden (Ownership advantage). Dieser kann z.B. in einem Patent oder einem (temporären) Monopol an einer Technologie bestehen, wobei den wissensbasierten Vorteilen größere Bedeutung zukommt als dem materiellen Kapital (Markusen, J.R., 1995).
Als Standort (Location) für die Leistungserstellung ist ein anderes Land besser geeignet als der ursprüngliche Unternehmensstandort, wenn es z.B. niedrigere Löhne hat, über bestimmte Ressourcen verfügt oder weniger Transportkosten entstehen. Dem stehen Barrieren gegen Auslandsinvestitionen gegenüber (Verbote, Diskriminierungen, fremde Sprachen und Kulturen), die die Kommunikation mit ausländischen Unternehmen und Kunden erschweren können. Auch die Rechts- und Steuersysteme bleiben unterschiedlich und die Überwindung der Entfernung verursacht Aufwand.
Die Nutzung des Vorteils sollte innerhalb des eigenen Unternehmens, ggf. im Ausland, erfolgen (Internalisation) und nicht z.B. als Lizenz oder innerhalb einer Kooperation an ein anderes, ausländisches Unternehmen weiter gegeben werden.
Wenn die Vorteile geringer sind als die Transaktionskosten der Verlagerung, dann tätigt das Unternehmen keine Direktinvestitionen, sondern bedient den Auslandsmarkt aus heimischer Produktion durch Export. Für eine systematische Darstellung von Direktinvestitionen schlägt die UNCTAD (2011:91) die folgenden beiden Determinanten im Zielland vor:
Politische Rahmenbedingungen (Stabilität, Regeln für Marktzutritt und -austritt, Wettbewerbspolitik, Regeln für ausländische Investoren, Handelspolitik)
160
2 Der Europäische Binnenmarkt Bedingungen für Unternehmertum (Förderung von Investitionen, Regulierung, Korruption, Bürokratie, Lebensbedingungen für ausländische Fachkräfte)
Auf der Grundlage dieser Determinanten unterscheidet UNCTAD drei Motive von Unternehmen für Direktinvestitionen und die dafür wichtigen Einflussgrößen:
Markterschließung (Marktgröße und -wachstum, Wohlstandsniveau, landesspezifische Konsumentenpräferenzen)
Ressourcenzugang (Verfügbarkeit von Rohstoffen, qualifizierte und preiswerte Arbeit, Infrastruktur für Transport und Kommunikation, Innovation, Cluster)
Rationalisierung (Kosten und Produktivität, Marktzugang über regionale Vereinigungen)
Zwischen den beiden Grundfreiheiten Handel und Direktinvestitionen bestehen Wechselbeziehungen, so dass der Binnenmarkt hier vielfältige gesamtwirtschaftliche Anpassungsbewegungen auslösen dürfte, die sich z.T. wechselseitig aufheben können (European Commission, 1998e:13–34; Dunning, H.J., 1997a; 1997b):
Direktinvestitionen sind handelsflankierend: International verflochtene Gütermärkte erfordern teilweise auch begleitende Investitionen, z.B. zum Aufbau von Service- und Vertriebsnetzen, und steigern damit die Direktinvestitionen. Dunning (1997b:198 ff.) fasst verschiedene Studien zu dem Ergebnis zusammen, dass die handelsflankierenden Direktinvestitionen zugenommen haben, wenn auch der statistische Nachweis dieses Zusammenhangs nicht immer gelingt.
Direktinvestitionen sind handelsersetzend: Der erste Schritt der Internationalisierung von Unternehmen, der Verkauf der Produkte im Ausland, kann durch die Verlagerung der Produktion ins Ausland abgelöst werden. Ebenso werden möglicherweise bisher im Inland gefertigte Exportgüter nunmehr billiger im Ausland hergestellt. Dann ersetzen die Direktinvestitionen bisherige Handelsströme zulasten der einheimischen Produktion.
Wenn das ins Ausland verlagerte Produktionsvolumen über die Nachfrage im Produktionsland hinausgeht und preisgünstig exportiert werden kann, können Direktinvestitionen handelsschaffend sein. Dies gilt auch für die Verlagerung der – meist arbeitsintensiven – Vorleistungen ins Ausland und den Import der Halbfertigwaren für die Endmontage im Inland („verlängerte Werkbänke“ oder auch „Lohnveredlung“).
Die freie Standortwahl in der EU für Direktinvestitionen kann zu Marktkonzentration führen, wenn Unternehmen Größenvorteile suchen und dadurch Kapital an ausgewählten, für die jeweilige Branche günstigen Standorten konzentrieren. Dies ist bei innereuropäischen Direktinvestitionen in „informationsintensive Branchen“ nachgewiesen und bei Direktinvestitionen aus Drittländern in den Branchen Finanzdienstleistungen (London), Pharmazie (Großbritannien, Frankreich) und Automobil (Spanien) (Dunning, H.J., 1997a:203 f.).
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
161
Durch Direktinvestitionen ergeben sich positive und negative Wirkungen auf das Ziel- und das Herkunftsland (Vaidya, 2006:93ff.; European Commission, 2012o:167). Unter anderen sind die folgenden Effekte zu erwarten, die z.T. erhebliche Anpassungslasten für einzelne Beschäftigtengruppen, Branchen oder Regionen auslösen können:
Ressourcentransfer (Kapital, Technologie, Knowhow) mit möglichen SpilloverEffekten in andere Unternehmen des Landes, seien es Zulieferer, Kunden oder Unternehmen im gleichen Marktsegment, die durch den ausländischen Investor unter Wettbewerbsdruck geraten. Ein Transfer von Wissen kann auch durch Zusammenarbeit und den Arbeitsplatzwechsel von Beschäftigten zustande kommen. Diese Effekte sind besonders in Transformationsländern ein wichtiger Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung.
Beschäftigungseffekte: Arbeitsplatzschaffung kann eine Folge der zusätzlichen Investitionen sein, aber auch Arbeitsplatzvernichtung durch Rationalisierung. Eine Steigerung des Lohnniveaus und Verlagerung von Arbeitsplätzen aus dem Herkunftsland des Investors ist zu erwarten. Allerdings wurde für Deutschland empirisch nachgewiesen, dass Unternehmen, die ins Ausland expandieren auch im Inland weniger Arbeitsplätze abbauen als nur im Inland aktive, vergleichbare Unternehmen (Becker, S. O., Mündler, M.A. , 2007).
Produktivitäts- und Wachstumssteigerung: Als qualitative Begleiteffekte von Direktinvestitionen kann ein Transfer von Qualifikation, Technologie und Marktzugang auftreten, der sowohl in den Unternehmen als auch bei ihren Zulieferern auf längere Sicht zu einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit beiträgt. Durch die gestiegene Produktionsmenge, höhere Effizienz und steigenden Wettbewerbsdruck kann das Wachstum gesteigert werden, aber um den Preis höherer Anpassungslasten, z.B. in Form des Untergangs nicht wettbewerbsfähiger Unternehmen. Für weniger entwickelte Länder sowie die Transformationsländer Mittel- und Osteuropas stellt FDI eine Chance zum „Upgrading“, d.h. zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur und des Wirtschaftswachstums dar.
Über die tatsächliche Wirkung der internationalen Direktinvestitionsströme gibt es kaum aussagekräftige Studien. Dem stehen z.T. heftige Emotionen in Politik und Bevölkerung gegenüber: In den Ländern des Kapitalexports wird über einen Verlust an Arbeitsplätzen geklagt, während in den empfangenden Ländern der wachsende Einfluss ausländischer Kapitaleigner kritisiert wird. Die Entwicklungen in einzelnen Ländern zu bestimmten Zeitabschnitten werden von so vielen Einflüssen gleichzeitig bestimmt, dass die Isolierung des Faktors Direktinvestitionen methodisch kaum gelingt. Der 1996 von der Kommission unternommene Versuch, die bisherige Wirkung der Einführung der Kapitalverkehrsfreiheit auf Handel und Direktinvestitionen zu evaluieren, stieß nicht nur auf die bekannten methodischen Probleme, sondern darüber hinaus auf Schwierigkeiten bei der Beschaffung hinreichend tief gegliederter Daten für Auslandsinvestitionen. Eine Restrukturierung der europäischen Industrie zur Nutzung von Skalenerträgen und Lohnunterschieden innerhalb der EU war (noch) nicht statistisch nachweisbar (European Commission, 1996e: 95; 1998e; Dunning, H.J., 1997b). Die EU-Mitgliedsstaaten haben viel mehr Direktinvestitionen angezogen als ähnlich entwickelte Länder. Die Kommission hält es für „nicht unplausibel“, dass dies auf das Binnenmarktprogramm zurückzuführen sei. Außer-
162
2 Der Europäische Binnenmarkt
dem verweist die Kommission auf ökonometrische Schätzungen, aus denen dem Binnenmarkt eine erhebliche Steigerung der Direktinvestitionen zugeschrieben wird (European Commission, 1996e:95ff.). Dunning (1997a, 1997b) zieht aus seinen Untersuchungen zu den Wirkungen des Binnenmarktes auf die Direktinvestitionen einige vorsichtige Schlüsse für die ersten Jahre des Binnenmarktes:
Direktinvestitionen erfolgten verstärkt in technologie- und informationsintensiven Branchen.
Der Beitritt der „peripheren“ Länder Griechenland, Spanien und Portugal hat nur zu geringfügigen Verlagerungen arbeitsintensiver Industrien geführt.
Der wesentliche Einfluss des Binnenmarktprogramms auf Direktinvestitionen erfolgt über die Variablen Marktgröße, Agglomerationseffekte und Einkommenshöhe.
Die Schwierigkeiten eines fundierten Nachweises sind auch darauf zurückzuführen, dass
die Anpassungen von den Unternehmen Schritt für Schritt mit den einzelnen Investitionsentscheidungen, d.h. über einen längeren Zeitraum vollzogen werden,
die Globalisierung auch Standorte außerhalb der EU in den Blickpunkt rückt, so dass die Veränderungen nicht allein innerhalb der EU stattfinden, und
die Anpassungen innerhalb der grob zusammenfassenden statistischen Aggregate ablaufen und daher wegen des hohen Aggregationsniveaus der Daten nicht erfasst werden können.
Seit 1990 hat sich der Bestand an Direktinvestitionen in den Mitgliedsstaaten der EU-15 (Tab. 2-13) deutlich vergrößert; die internationale Verflechtung hat sich in zwanzig Jahren vervierfacht. Irland und Belgien sind die Länder mit dem größten ausländischen Kapitalstock in Relation zum BIP, während in Griechenland, Italien und Deutschland nur unterdurchschnittlich wenig ausländisches Kapital akkumuliert ist. An diesen Unterschieden zeigen sich sowohl die Unterschiede in der Offenheit der Volkswirtschaft als auch in der Attraktivität für externe Produzenten. So bot Deutschland mit seiner starken Stellung von nicht an der Börse notierten Familienunternehmen lange Zeit wenig Möglichkeiten für ausländische Investoren, während in Griechenland die schwache Industriebasis und die wenig attraktiven Standortbedingungen für den geringen Zustrom verantwortlich sein dürften. Irland hat seine Entwicklung als europäische Produktionsbasis für internationale Konzerne genommen und hat in diesem Zusammenhang gezielt Investoren angeworben.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
163
Direktinvestitionen in der EU-15 im Zeitablauf Relation zum BIP (%) Bestand
Zufluss 1)
1990
2000
2010
2001
2010
Griechenland
6,0
11,1
11,6
0,7
0,5
Italien
5,3
11,2
16,2
1,3
0,9
Deutschland
6,5
14,4
21,3
4,9
1,1
Finnland
3,7
19,9
35,9
5,4
1,0
Frankreich
7,8
29,4
40,8
3,5
1,2
Österreich
6,7
16,2
43,8
2,6
2,3
12,7
26,9
45,5
5,7
1,9
Spanien Dänemark
6,8
46,0
45,9
10,7
1,1
Portugal
13,6
27,4
48,8
4,1
2,2
Großbritannien
20,1
29,7
51,6
4,4
2,6
Niederlande
23,3
63,3
76,1
11,8
1,8
5,2
38,0
76,2
6,4
1,5
Irland
78,9
130,3
119,6
19,8
10,1
Belgien
28,8
83,9
192,0
27,5
15,9
Schweden
EU 10,5 27,5 44,9 5,4 1) Durchschnitt aus drei Jahren. Daten zusammengestellt aus UNCTADstat Datenbankabfrage, 30.11.2012
2,2
Tab. 2-13: Direktinvestitionen in der EU-15 im Zeitablauf
2.3.6.3
Widerstand gegen Direktinvestitionen
Aus welchen Motiven speist sich der Widerstand gegen Direktinvestitionen? Sind die Maßnahmen der Kommission zur Öffnung der Märkte für ausländische Investoren erfolgreich? Dem freien Kapitalverkehr in Form von Direktinvestitionen stellt sich in der EU immer wieder ein „Wirtschaftspatriotismus“ (Würmeling, J., 2006) entgegen, der sich zusammen mit den Aversionen gegen die Globalisierung verstärkt hat. Hinter diesem tatsächlichen oder vermeintlichen Patriotismus stehen verschiedene Motive:
Die trügerische Sicherheit, die sich Arbeitnehmer und Bürger von einem Kapitaleigner aus dem eigenen Land versprechen, wohingegen Kapital tatsächlich kein „Vaterland“ hat. Dies kann sich auch mit einer allgemeinen Ablehnung von ausländischem Einfluss im eigenen Land verbinden,
Der Wunsch der Regierungen, über das Schicksal von „wichtigen“ privaten Unternehmen im eigenen Land mit entscheiden zu können, um durch Industriepolitik die Strukturentwicklung und die Beschäftigung zu beeinflussen,
Der Widerstand des Managements gegen eine Aufgabe seiner Eigenständigkeit bei einer ausländischen Übernahme.
164
2 Der Europäische Binnenmarkt
Keines dieser Motive hält einer Prüfung der wirtschaftlichen Rationalität stand und widerspricht dem Ziel des Binnenmarktes, durch grenzüberschreitenden Wettbewerb ein optimales Wirtschaftsergebnis zu befördern. Diese Ablehnung einer Aktivität ausländischen Kapitals drückt sich z.B. darin aus, dass
die Herstellung eines tatsächlich freien Zugangs für Fusionen oder Übernahmen im Gesetzgebungsverfahren um die Übernahme-Richtlinie im Rat von nationalen Interessen blockiert und die „Goldene Aktie“ verteidigt wurde,
aus Angst vor Machtverlust und „Überfremdung“ der Übergang des Eigentums an den Produktionsmitteln in die Verfügungsgewalt ausländische Eigner rechtswidrig behindert wird,
die Beseitigung steuerlicher Regelungen, nach denen ausländische Kapitaleigner schlechter gestellt werden als einheimische, abgelehnt oder verzögert wird.
Einige Beispiele sollen die Interessen und Stimmungen illustrieren, da sich hier auch die öffentliche Meinung über Nutzen oder Gefahr der Marktintegration in der EU ausdrückt und formt. Diese Stimmungen wiederum können die Abstimmungen von Bevölkerungen über neue Europäische Verträge oder die Aufnahme neuer Mitglieder entscheidend beeinflussen. Auf die Öffnung der Märkte reagieren multinationale Unternehmen mit Fusionen und Übernahmen von Konkurrenten aus anderen Ländern, um Skalenerträge auszuschöpfen. Gegen die – möglicherweise auch feindliche Übernahme – sind nicht nur beim unterlegenen Management Widerstände zu beobachten, sondern auch bei Gewerkschaften und lokalen oder nationalen Regierungen. Somit bestand die Notwendigkeit, die Übernahme auf europäischer Ebene zu regeln. Dabei war auch zu klären, ob das Management besondere Rechte zur Abwehr einer Übernahme erhalten sollte. Bei der Einigung über die Richtlinie zur Verschmelzung von Unternehmen war von deutscher Seite besonderer Wert auf die Beibehaltung der deutschen Regelungen zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer gelegt worden, was auf die Ablehnung anderer Mitgliedsstaaten stieß. Die Kommission war viele Jahre um eine Weiterentwicklung der Übernahme-Richtlinie bemüht, stieß aber auf den Widerstand aus verschiedenen Mitgliedsländern auf jeder Stufe, die der Richtlinien-Entwurf nehmen muss (Berglöf, E., Burkart, M., 2003). So versuchte Deutschland im Mai 2001 überraschend, die Verabschiedung der Übernahme-Richtlinie zu blockieren, um mehr staatlichen Einfluss auf Unternehmensübernahmen zu behalten. In diesem Zusammenhang hat sich Deutschland im Jahr 2002 auch über den neuen Entwurf beschwert und eine Besserstellung skandinavischer Länder behauptet: Diese dürften bestimmte Vorrechte behalten, aber die in Deutschland üblichen Schutzmechanismen sollten beseitigen werden („Bolkestein bietet …“, 2002; „Übernahmekodex erzürnt“, 2002). Im Oktober 2003 wurde von der Kommission ein Kompromissvorschlag eingebracht, bei dem es letztlich den nationalen Gesetzgebern überlassen bliebe, ob sie entsprechende Schutzmechanismen zulassen wollen. Der Rat konnte sich erst Ende 2004 – nach 20 Jahren Verhandlungen – auf die Richtlinie 2004/25/EG einigen. Sie enthält harmonisierte Regeln für das Übernahmeverfahren und Vorschriften für den Schutz der Minderheitsaktionäre. Die Europäische Kommission (2004q:3)
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
165
nannte das Ergebnis eine enttäuschende Mindestregelung mit Optionsklauseln und sah darin einen Rückschritt für die Wirtschaftsreform, da der Kompromiss keine sinnvolle Harmonisierung der wichtigsten Bestimmungen erbracht habe. Viele Mitgliedsstaaten haben die Möglichkeiten der Richtlinie genutzt, um den Schutz der nationalen Industrie aufrecht zu erhalten. Damit hat die EU vor nationalen Interessen kapituliert und ein konsequente Öffnung des Binnenmarktes in diesem Bereich aufgegeben. Ein spezielles Hindernis gegen den freien Kapitalverkehr stellen Vorschriften einiger Länder dar, nach denen die Anteilseigner gegen den Verkauf von Aktien bzw. gegen die (feindliche) Übernahme bestimmter Unternehmen Maßnahmen ergreifen können. Die „Goldene Aktie“ oder das Mehrfachstimmrecht sichern ihrem Inhaber besondere Rechte, z.B. als die Stimmenmehrheit oder ein Vetorecht. Diese Regelung wird auch bei der Privatisierung getroffen, um dem Staat auch als Minderheitsaktionär mehr Einfluss auf das Unternehmen zu sichern. Die EU-Kommission stuft diese Regelungen als Behinderungen des freien Kapitalverkehrs ein und will sie abgeschafft wissen. Dabei verweist sie auch auf Forschungsergebnisse, nach denen solche besonderen Rechte sich negativ auf das Ergebnis des Unternehmens auswirken (OXERA, 2005; European Commission, 2005n). Auch der Europäische Gerichtshof hat solche Rechte immer wieder als Verstoß gegen den AEU-V eingestuft:
So kann sich der Volkswagen-Konzern in Deutschland auf das niedersächsische „VWGesetz“ berufen, nach dem das Stimmrecht eines beliebig großen Aktienanteils auf 20 % begrenzt ist, für eine Sperrminorität 20 % ausreichen und das Land Niedersachsen als Anteilseigner zwei Mitglieder in den Aufsichtsrat entsenden darf. Damit kann das Bundesland eine Übernahme des Unternehmens blockieren. Die Kommission hielt diese Regelung für unvereinbar mit dem EU-Recht des freien Kapitalverkehrs und der EuGH hat diese Auffassung bestätigt (C-112/05, Urteil vom 23.10.2007). Im Herbst 2011 hat die Kommission auch die von Deutschland eingeführten Änderungen des VW-Gesetzes als unzureichend gerügt und ein erneutes Verfahren vor dem EuGH angestrengt.
In Frankreich erhielt der Staat (Dekret von 1993) eine Sonderaktie der Gesellschaft Elf-Aquitaine, die den Erwerb von Anteilen oder Stimmrechten bei Überschreitung bestimmter Schwellenwerte von der vorherigen Genehmigung des Wirtschaftsministers abhängig macht und diesem die Möglichkeit gibt, gegen Entscheidungen über die Abtretung der Aktiva oder deren Verwendung als Sicherheit Widerspruch einzulegen. Dies ist vom EuGH als vertragswidrig verworfen worden (C-483/99, Pressemitteilung des EuGH vom 4.6.2002, CJE/02/49).
In Portugal ließ das Gesetz es zu, den Anteil, den ausländische Investoren an einem privatisierten Unternehmen halten dürfen, auf 25% zu begrenzen und stellte den Verkauf von mehr als 10% des stimmberechtigten Kapitals an einen Ausländer unter ministeriellen Genehmigungsvorbehalt. Beide Regelungen hat der EU-Gerichtshof als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verworfen (C-367/98; C-171/08).
In Italien waren sogenannte strategisch wichtige Unternehmen vor der Übernahme aus dem Ausland geschützt. Die Kommission hat ein Verfahren gegen Italien angestrengt, das dann unter der neuen Regierung von Mario Monti – dem ehemaligen Kommissar für Wettbewerbsfragen der Europäischen Kommission – im Frühjahr 2012 einlenkte.
166
2 Der Europäische Binnenmarkt
Gegen die Übernahme eines Unternehmens durch ausländische Bieter wurde nicht nur die „Goldene Aktie“ eingesetzt, sondern weitere Strategien, mit denen die Kapitalmehrheit „im Lande“ gehalten werden soll, kamen zum Tragen:
Das polnische Parlament hat im Herbst 2004 der Regierung verboten, die PKO-Bank, die noch in polnischem Staatsbesitz war, an ausländische Investoren zu verkaufen. Eine solche Beschränkung verstößt eindeutig gegen die Regeln des Binnenmarktes. Das Argument, mit dem Abblocken des ausländischen Investors dessen marktbeherrschende Stellung in Polen verhindern zu wollen, durfte von der Regierung nicht herangezogen werden, da die wettbewerbsrechtliche Prüfungsinstanz, die Europäische Kommission, diese Konstellation genehmigt hatte (Pressemitteilungen der Kommission, IP/05/1299, 18.10.2005; IP/06/277, 8.3.2006).
In der französischen Regierung wurden im Jahr 2005 Pläne diskutiert, eine Liste von „strategisch wichtigen“ Industriesektoren zu schaffen, bei denen die Übernahme der Mehrheit durch Ausländer verboten werden sollte (Les Echos vom 29.8.2005). Die Kommission nannte diese Pläne unvereinbar mit dem europäischen Recht – sie wurden daraufhin nicht weiter verfolgt.
Ebenso gab es in Italien Widerstand gegen die internationale Übernahme von Banken. Dabei kam es sogar zu gesetzwidrigen Handlungen durch den damaligen Vorsitzenden der italienischen Zentralbank mit dem Ziel, die Geschäftsbanken in italienischen Händen zu lassen. Die Kommission begann im Frühjahr 2005 dagegen vorzugehen (Pressemitteilung der Kommission, IP/05/1595, 14.12.2005).
Der Versuch des Energiekonzerns EON, den spanischen Versorger ENDESA zu kaufen, wurde lange Zeit von der spanischen Regierung blockiert, die eine nationale Fusion bevorzugte. Diese Aktivitäten wurden durch die Aufsicht der Kommission letztlich vereitelt.
Gegen die im Steuerrecht liegenden Behinderungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs kann die EU nur schwer vorgehen, da das Steuerrecht in der Hoheit der Mitgliedsstaaten verblieben ist. Sie verfolgt jedoch Regelungen z.B. in Österreich und Deutschland, da in diesen Ländern Dividendenzahlungen an ausländische Unternehmen höher besteuert werden als an inländische; dies sei diskriminierend (Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/07/1152 vom 23 Juli 2007). Der EuGH hat (C-284/09, 20.10.2011) die Auffassung der Kommission gestützt und diese Diskriminierung im deutschen Steuerrecht verboten.
2.3.6.4
Regulierung der Finanzmärkte
Warum brauchen Finanzmärkte Regulierung? Existiert ein einheitlicher Finanzmarkt in der EU? Die Finanzindustrie hat in einer kapitalistischen Wirtschaft eine Schlüsselstellung. Gleichzeitig sind die Funktionsprinzipien und Produkte der Finanzindustrie schwer durchschaubar und widersprüchlich. Auch die Behandlung des Finanzsektors in den Wirtschaftswissenschaften (Werner, R., 2011) sowie in der staatlichen Regulierung ist voller Ungereimtheiten: Einer-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
167
seits wird postuliert, Finanzmärkte seien „effizient“ und rational funktionierend, andererseits werden Marktversagen und systemische Risiken in der Finanzindustrie gesehen und daraus die Notwendigkeit einer engen staatlichen Regulierung dieser Märkte abgeleitet. Im folgenden Abschnitt soll daher nicht allein die Europäische Integration der Finanzmärkte im engeren Sinne behandelt werden, bei der es darum geht, nationale Grenzen für Anbieter und Nachfrager von Finanzdienstleistungen zu beseitigen. Vielmehr sollen die Strukturen und Funktionen der Finanzindustrie hier soweit skizziert werden, dass einige Krisenursachen und die Diskussion zur Regulierung der Finanzindustrie in der EU verständlich werden. Auf die auch für den interessierten Laien gut erschließbare Einführung von Pilbeam (2010) sowie Valdez und Molyneux (2013) stützen sich die folgenden Ausführungen im Wesentlichen. Das Finanzsystem Auf dem Markt für Kapital und Finanzdienstleistungen ist in den einzelnen Ländern eine Vielzahl unterschiedlicher Institutionen tätig wie z.B. öffentliche oder private Banken, Sparkassen, Versicherungen, Wertpapierhäuser, Investmentgesellschaften, öffentliche oder private Vermögensverwaltungen, Pensionskassen, Wagniskapitalgesellschaften und Börsen. Ihnen gemeinsam ist die Vermittlung zwischen Anbietern von und Nachfragern nach Kapital. Sie unterscheiden sich in ihren Geschäftsfeldern und in ihrem Geschäftsmodell, das jeweils in unterschiedlichem Maße Risiken beinhaltet und sich an unterschiedliche Kundengruppen richtet. Der Kontakt findet entweder direkt zwischen Anbietern und Nachfragern von Kapital auf dem Markt statt oder wird über Finanzintermediäre, z.B. Banken, vermittelt. Ein Teil der Finanzgeschäfte wird mit maßgeschneiderten Produkten für bestimmte Kunden „over-thecounter“ (OTC) abgewickelt, während andere eher standardisiert sind und über Börsen organisiert werden. Die Trennung der einzelnen Finanzintermediäre nach ihrem Risikoniveau könnte dafür genutzt werden, die riskanten von den weniger riskanten Finanzgeschäften organisatorisch zu trennen, um so den risikoscheuen Teilnehmern eine sichere Plattform anzubieten. Dieser Gedanke liegt der Trennung der Banken in Geschäfts- und Investmentbanken zugrunde. Angesichts der internationalen Verflechtung der gesamten Finanzbranche über alle Typen von Intermediären hinweg hat sich allerdings eine Ansteckungsgefahr entwickelt, die eine Abschirmung und Eindämmung von Risiken in einzelne Organisationstypen von Finanzintermediären kaum noch zulässt (Pericoli, M., Sbracia, M., 2003; Zedda, S. et al., 2012; Forbes, K. J., 2012). Zur Ansteckung kommt es, wenn ein Finanzinstitut in grundlegende Schwierigkeiten gerät und es seine Verbindlichkeiten gegenüber anderen Finanzinstituten nicht mehr bedienen kann: Es kommt zu Kreditausfällen und Abschreibungen, die wiederum andere Institute gefährden können. Da auf dem Inter-Bankenmarkt sehr große Umsätze kurzfristig getätigt werden, kann dafür jeweils keine Prüfung der Kreditwürdigkeit des Geschäftspartners vorgenommen werden; die Prüfung wird durch Vertrauen ersetzt. Sobald das Vertrauen erschüttert wird, brechen diese Geschäftsbeziehungen und damit ein wichtiger Teil des Finanzsystems zusammen. Der unerwartete Bankrott der Investmentbank Lehman’s im Jahr 2008 war ein solches Ereignis. Außerdem verlagern die Finanzinstitute ihre Aktivitäten zunehmend in sogenannte Schattenbanken, die ihre Geschäftstätigkeit legal außerhalb der strengen Regulierung und Be-
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2 Der Europäische Binnenmarkt
richtspflicht der Banken abwickeln, wo sie Risiken nach eigenem Ermessen eingehen können. Da diese Schattenbanken aber mit den anderen, regulierten Finanzinstitutionen eng verflochten sind, droht ein Überschwappen der Risiken auch auf regulierte Institute. Die Finanzindustrie hat eine Schlüsselstellung Die Finanzindustrie wird für die Krise verantwortlich gemacht und „banker bashing“ ist populär geworden (Johnson, S., Kwak, J., 2011). Unabhängig davon bleibt jedoch festzuhalten, dass die Finanzindustrie, hier im Folgenden verkürzt als Banken bezeichnet, für das Funktionieren einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft wesentliche, unverzichtbare Funktionen hat: Kredite bereit zu stellen, Risiko zu streuen, Fristentransformation durchzuführen und Transaktionskosten zu senken. Außerdem stellt die Finanzindustrie in einigen Ländern eine große Anzahl gut bezahlter Arbeitsplätze bereit. Diese Aspekte werden im Folgenden kurz erläutert. Zu: Kreditversorgung Geschäftsbanken versorgen Konsumenten und Investoren mit Krediten für Anschaffungen, z.B. für langlebige Konsumgüter, Immobilien oder Investitionen. Die Kredite schöpfen sie aus Mitteln, die sie sich bei der Zentralbank gegen Zins und ein Pfand auf Zeit ausleihen. Darüber hinaus nehmen sie Spareinlagen von Haushalten ins Depot und nehmen Kredite am Kapitalmarkt auf, um ein größeres Kreditvolumen auszureichen. Im Prinzip können Banken unbegrenzt Kredite schaffen, solange sie diese mit Sicherungsmaßnahmen abdecken können. Diese Sicherung wird durch die Regulierung vorgegeben; dazu zählt z.B. ein bestimmter Anteil von Eigenkapital. Auch untereinander verleihen Banken kurzfristig erhebliche Summen auf dem Geldmarkt (Inter-Banken-Markt), um Spitzen in ihrem Liquiditätsbedarf auszugleichen. Diese Kreditgeschäfte basieren auf dem Vertrauen der Banken untereinander. Eine Verknappung oder Kürzung der Kreditversorgung kann Unternehmen der realen Wirtschaft in Finanzierungsprobleme stürzen, auch wenn die Unternehmen wirtschaftlich stabil sind (Kreditklemme). Das reibungslose Funktionieren der Banken als Quelle von Fremdkapital ist für die gesamte Wirtschaft daher von entscheidender Bedeutung. Der Untergang einer einzelnen Bank kann wegen ihrer Verflechtung mit anderen Banken sowie wegen des plötzlich verlorenen Vertrauens zwischen Banken zum Zusammenbruch des gesamten Geldmarktes führen. Die Wirkung des Zusammenbruchs einer Bank unterscheidet sich also vom Zusammenbruch eines Unternehmens der Realwirtschaft grundlegend: Eine Bank kann das gesamte Wirtschaftssystem zum Einsturz bringen, während bei einer Schließung eines „normalen“ Geschäftsbetrieben zwar die Kapitaleigner, Lieferanten und Beschäftigten betroffen sind, aber der Marktanteil wird reibungsarm von den Konkurrenten übernommen wird. Zu: Risikostreuung und Fristentransformation In der Finanzindustrie treffen – vereinfacht gesehen – zwei Marktseiten mit unterschiedlichen Präferenzen zusammen: Die Anbieter von Sparkapital, die risikoscheu sind und ihre Spareinlagen meist mit kurzer Kündigungsfrist wieder verfügbar haben wollen und die Investoren als Nachfrager von Krediten, die ein unternehmerisches Risiko in großvolumigen Projekten mit langer Laufzeit eingehen wollen. Die Bank kann die Spareinlagen zu Investiti-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
169
onskrediten transformieren, da sie erstens aus dem ständigen Zu- und Abfluss von Spareinlagen ein längerfristig verfügbares Kreditvolumen ableiten kann und zweitens über ihr Eigenkapital und eine am Risiko orientierte Zinspolitik die ausfallenden Kredite kompensieren kann. Darüber hinaus signalisieren die Banken dem Sparer die Sicherheit der Einlagen durch den Einlagensicherungsfonds der Banken; dieser Mechanismus existiert jedoch nur in einigen Ländern sowie dort nur für begrenzte Beträge und nur für die Probleme einer einzelnen Bank – nicht des gesamten Finanzsystems. Hier soll nicht verkannt werden, dass einige Privatanleger bereit sind, hohe Risiken einzugehen und ihre Ersparnisse sehr langfristig, z.B. für die Altersversorgung, anlegen. Diese Differenzierung wird für den hier angestrebten Überblick nicht weiter verfolgt. Durch die Nutzung externer Ratings und bankeigener Bewertungen des Risikos von Krediten sowie durch die „Verpackung und Bündelung“ von Kreditrisiken in neuen Finanzprodukte (Securitisation) versprach die Finanzindustrie, Risiken besser beherrschbar zu machen. Die Krise hat allerdings offen gelegt, dass die Ratings nicht immer zuverlässig waren und die globale Streuung des Risikos nicht Probleme gelöst, sondern neue geschaffen hat: Die weltweite Ansteckung mit „toxischen Wertpapieren“. Ein markantes Beispiel für die Fehleinschätzung von Risiken durch die Finanzindustrie ist das Verschwinden von Zinsdifferenzen (Spreads) zwischen den langfristigen Staatsanleihen verschiedener Euro-Mitgliedsstaaten. Auch die Regierungen wirtschaftlich schwächerer Länder wie Griechenland und Spanien erhielten erhebliche Kreditsummen zu den gleichen niedrigen Zinsen wie z.B. Deutschland. Wenn der Investor den Kredit nicht bei der Bank, sondern bei einer Vielzahl von kleinen, kurzfristig orientierten Sparern einsammeln und verlängern müsste, hätten alle beteiligten Seiten einen erheblichen Aufwand aus der Prüfung des potenziellen Geschäftspartners, der Kommunikation sowie von Vertragsabschluss und -überwachung. Durch die Bündelung über die Bank wird dieser Aufwand der Geschäftsanbahnung und –tätigkeit (Transaktionskosten) erheblich geringer. Zu: Finanzindustrie als Standortfaktor Die Anbieter von Finanzdienstleistungen haben in einzelnen Ländern ein großes wirtschaftliches Gewicht. So ist z.B. in Großbritannien die Zahl der Arbeitsplätze in der Finanzindustrie von 0,8 Mill. (1981) auf über 1,0 Mill. angestiegen; diese erwirtschaftete im Jahr 2007 ca. 7% des Bruttoinlandprodukts (Pilbeam, K., 2010:11). Damit war die Finanzbranche mehr als doppelt so stark gewachsen wie die gesamte britische Wirtschaft; sie erwirtschaftete einen Handelsüberschuss von 3% des BIP. Finanzzentren (City of London; Wall Street, New York; Frankfurt/M.; Tokyo; Shanghai; Hongkong) treten untereinander in globalen Wettbewerb. Dafür müssen sie eine breite Produktpalette anbieten und ein hohes Volumen umsetzen, um jederzeit Liquidität für viele unterschiedliche Finanzierungsbedarfe und Finanzprodukte bereitstellen zu können. Dabei verschaffen auch die Sprache sowie die Zeitzonen dem Finanzplatz London eine Vorzugsposition: Bevor die Märkte in Asien schließen, hat die Arbeit in London begonnen, und wenn der Abend in London aufzieht, können die Geschäfte an der Wall Street fortgeführt werden.
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2 Der Europäische Binnenmarkt
Weitere Kriterien für einen attraktiven Finanzplatz stellen die Rahmenbedingungen dar: Sicherheit und Rechtsschutz müssen im Umgang mit Banken und Finanzprodukten gelten und durchsetzbar sein. Die „angemessene“ staatliche Regulierung der Finanzindustrie stellt einen Balanceakt zwischen Sicherheit und unternehmerischer Freiheit dar: Wenn die Regulierung die Finanzgeschäfte zu sehr einschränkt, werden die Gewinnaussichten der Finanzintermediäre im Vergleich zu anderen Standorten beschnitten. Ist die Regulierung dagegen zu „lasch“, ist mit systemgefährdenden Krisen und entsprechenden wirtschaftlichen Verlusten zu rechnen. Eine Regulierung, die die Interessen der Finanzindustrie respektiert, soll sicherstellen, dass diese Unternehmen nicht in Länder mit geringeren Regulierungsanforderungen abwandern (Regulatory Arbitrage); damit drohen sie, um strengere Regulierung abzumildern („Hannover-Rück droht …“, 2012; „Warten auf …“, 2010). „Alte“ Industrie gegen „moderne“ Dienstleistungen Die Bedeutung der Finanzindustrie für Arbeitsplätze und Exporte von Dienstleistungen führt dazu, dass einzelne Regierungen eine schärfere Regulierung als Antwort auf die Krise bremsen oder blockieren; die ohnehin gegenüber Europa skeptische Haltung der Briten liegt auch in der großen Bedeutung ihrer Finanzindustrie begründet. Wie in jeder Spezialisierung, so liegt auch im Schwerpunkt auf der Finanzindustrie sowohl eine Stärke, als auch ein Risiko: So lange dieser Wirtschaftszweig prosperiert, ist sein Beitrag zur Wertschöpfung erheblich und nicht einfach durch andere Aktivitäten zu ersetzen. Wenn dann allerdings eine Krise diese Branche erfasst, zeigt sich die besondere Verwundbarkeit durch Spezialisierung. Wurde noch vor einigen Jahren Deutschland mit seiner Orientierung an industrieller Entwicklung und Fertigung als „altmodisch“ bezeichnet, so fokussiert die Diskussion in Großbritannien nunmehr auf die Wiedereinführung einer herstellenden Industrie, die zugunsten der Dienstleistungen lange vernachlässigt wurde und aus dem Land abgewandert war. Reicht die bisherige Sicht auf Finanzmärkte als effiziente Märkte aus? Die Wirtschaftswissenschaften haben den Finanzen und dem Finanzsektor wenig Raum in den grundlegenden Lehrbüchern eingeräumt. Zwei (Ein-) Sichten erklären diese Vernachlässigung. Erstens, so wurde angenommen, seien Finanzgeschäfte als Handhabung von Schulden und Forderungen gesamtwirtschaftlich nicht von Bedeutung, da diese sich innerhalb einer (geschlossenen) Volkswirtschaft zu Null saldieren: Die Schulden des Einen sind die Forderungen des Anderen. Diese vereinfachte Sicht wird jedoch offensichtlich den tatsächlichen Problemen nicht gerecht. Auch bei wieder gut laufenden Geschäften sehen sich hoch verschuldete Unternehmen sowie private und öffentliche Haushalte zu einem Abbau ihrer Schuldenlast gezwungen, so dass sie aus dem laufenden Einkommen einen Primärüberschuss zur Schuldentilgung erwirtschaften. Dies kann erhebliche gesamtwirtschaftliche Auswirkungen haben (Kapitel 3.2.4.3). Zweitens, so wurde behauptet, kommen Finanzmärkte mit ihrer schnellen Reaktion und dem umfassenden Informationsangebot dem Ideal des vollkommenen Marktes nahe und funktionieren weitgehend effizient und rational zur Optimierung von Gewinn und Nutzen. Dazu gehört auch, dass die umfassend informierten Akteure die Risiken und Erträge korrekt be-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
171
werten können und sie entsprechend in künftige Kaufentscheidungen von Wertpapieren einpreisen (Pilbeam, K., 2010:235–255; Frydman, R., Goldberg, M., 2011). Kurse und Preise auf Finanzmärkten können daher nicht falsch sein – Blasenbildungen auf Vermögensmärkten gibt es in einer solchen Welt nicht. Für die effiziente Preisbildung gibt es im Modell unterschiedliche Annahmen über die zugrunde gelegte Informationsdichte:
„Schwache Effizienz“ besteht, wenn die gegenwärtigen Preise von Wertpapieren alle Informationen aus vergangenen Preisen enthalten. Niemand kann dann durch die Auswertung der Preise der Vergangenheit „den Markt schlagen“, d.h. höhere Gewinne aus künftigen Kurssteigerungen erzielen.
„Mittlere Effizienz“ umfasst alle Informationen, die auch bei schwacher Effizienz vorliegen. Zusätzlich wird angenommen, dass die Kurse sich auch durch die Auswertung aller weiteren öffentlich zugänglicher Informationen über die wirtschaftliche Lage von Unternehmen und der Gesamtwirtschaft bilden.
Die „starke Effizienz“ basiert auf den Informationen der mittleren Effizienz und zusätzlich sind auch alle privaten Insider-Informationen öffentlich zugänglich. Bei dieser Informationsverteilung kann niemand mehr ein Wertpapier mit größerem Gewinn handeln als alle anderen Marktteilnehmer.
Die Schwachstellen der Theorie effizienter Finanzmärkte werden mittlerweile breit diskutiert (Quiggin, J., 2010:Ch 2; Prasch, R. E., 2011; Keen, S., 2011). Wesentliche Kritikpunkte liegen in der Behandlung der Zukunft, in der Vernachlässigung zirkulärer und kumulativer Prozesse („Aufschaukeln“) und in der Unterstellung rationalen Entscheidungsverhaltens anstelle psychologisch basierter Erklärungsansätze. Zu: Zukünftige Erträge Der „richtige“ heutige Preis eines Vermögensgegenstandes (Aktie, Anleihe, Immobilie etc.) wird über den diskontierten Wert der künftigen Nettorückflüsse bestimmt. So wird z.B. der kumulierte Strom der künftigen Nettoeinnahmen aus der Vermietung einer Immobilie auf den heutigen Barwert abgezinst, um den „richtige“ Kaufpreis eines Hauses zu bestimmen. Dabei werden auch künftige Risiken in die Abschätzung der Nettoerträge einbezogen. Somit ist der rationale und effiziente Finanzmarkt implizit auf die Kenntnis der Zukunft angewiesen, was bekanntlich unerfüllbar ist. An die Stelle von Kenntnis treten dann Prognosen, die jedoch einer Vielzahl von psychologischen Einflüssen unterliegen (Gier, Angst, Optimismus etc.). Zu: „Aufschaukeln“ Es sind nicht nur die erwarteten künftigen Gewinnaussichten, sondern auch die Annahmen über die Erwartungen anderer Marktteilnehmer, die die Kaufentscheidungen und damit die Kurse bestimmen. Wenn ein potenzieller Käufer glaubt, dass eine Vermögensart (z.B. Aktien, Immobilien, Gold) von einer großen Zahl anderer potenzieller Käufer hoch bewertet wird, dann wird er diesen kaufen. Es geht dabei nicht um die künftigen Erträge (Mieteinnahmen, Zinseinnahmen, Dividenden etc.) sondern um die Mehrung des Vermögens aus
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2 Der Europäische Binnenmarkt
künftigen Kurssteigerungen. Bei gleichgerichteten Erwartungen und entsprechenden Kauforders einer großen Zahl von Marktteilnehmern kommt es zu Kurssteigerungen, die die bisherigen Erwartungen bestätigen und weitere Käufe auslösen. Dieser Vorgang kann sich bis zur Bildung einer Vermögensblase fortsetzen, ohne dass die Marktteilnehmer dies als Fehlentwicklung wahrnehmen. Erwartungen können sich jedoch schnell ändern, was dann zu einem kumulativen Prozess in Richtung sinkender Kurse führt. Zu: Psychologische Erklärung von Finanzmärkten In einer Theorie effizienter Marktentscheidungen an Finanzmärkten werden die Erwartungsbildung und dieser Entscheidungen unter Unsicherheit einbezogen. Die herrschende „Effizienzhypothese der Finanzmärkte“ basiert auf Arbeiten von Eugene Fama und wurde für lange Zeit zum dominierenden Modell rationalen Verhaltens. Im Gegensatz dazu haben einige Wirtschaftswissenschaftlern, insbesondere aus der verhaltensorientierten Finanzwissenschaft, psychologisch begründete Verhaltensmuster, wie
Herdenverhalten,
Furcht und Gier,
Risikoaversion und
Selbstüberschätzung bei kognitiver Dissonanz
zur Erklärung des Entscheidungsverhaltens auf Finanzmärkten herangezogen (Shiller, R., J., 2002; 2005; Bruce, B., 2010; Baker, H. K., Nofsinger, J. R. (Eds.), 2010; Wilkinson, N., Klaes, M., 2012). Auf den Vermögensmärkten kommt es auf Grund der oben genannten psychologischen Effekte immer wieder zu spekulativen Übertreibungen mit anschließenden Zusammenbrüchen, sogenannten „Boom-Bust-Zyklen“. Regulierung: Balance zwischen zu viel und zu wenig Sicherheit Folgt man der Theorie rationaler und effizienter Finanzmärkte, so könnte man die staatliche Aufsicht über die Finanzindustrie auf ein Minimum begrenzen. Im Kontrast zur herrschenden Hypothese effizienter Finanzmärkte steht jedoch die Tatsache, dass kaum eine Branche so starker staatlicher Regulierung und internationaler Aufsicht unterliegt wie die Finanzindustrie. Wie wird dies begründet? Generell ist bei Marktversagen eine Korrektur des unzureichenden Marktmechanismus erforderlich. Marktversagen in der Finanzindustrie wird in den folgenden Aspekten gesehen (Pilbeam, K., 2010: 459–468):
Informationsdefizite und Informationsasymmetrie: Einige Marktteilnehmer verfügen nur über unzureichende Informationen und Kenntnisse und können daher ihre Entscheidungen nicht immer auf einer soliden Grundlage treffen. Dies trifft z.B. auf die meisten Sparer zu, die über die Vertrauenswürdigkeit einer Bank oder das Risikoniveau eines Finanzprodukts nicht kompetent urteilen können. Auch können besser informierte Teilnehmer am Marktgeschehen (Insider) die anderen durch ihren Informationsvorsprung übervorteilen; daher sind einige Nutzungen von Insider-Wissen sogar bei Strafe verboten.
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
173
Spillover Effekte und systemisches Risiko: Die Finanzindustrie stellt eine Infrastruktur für den Zahlungsverkehr und die Finanzgeschäfte eines Landes zur Verfügung. Ihr reibungsloses Funktionieren ist eine Voraussetzung für das Funktionieren der Wirtschaft insgesamt. Probleme einzelner Finanzintermediäre können in den gesamten Finanzsektors und über die Landesgrenzen hinaus ausstrahlen. Diese systemischen Risiken können bis zum Zusammenbruch des Wirtschaftssystems führen.
Moral hazard: Da der Untergang einzelner Unternehmen der Finanzindustrie die gesamte Branche und sogar die gesamte Wirtschaft schwer in Mitleidenschaft ziehen kann, kann jedes einzelne Unternehmen davon ausgehen, dass es vom Steuerzahler unterstützt und gerettet werden wird. Besonders große und mit anderen Finanzinstituten stark verflochtene Banken gelten als „zu groß und zu verflochten, um unterzugehen“ („Too big to Fail“, „Too Entangled to Fail“). Diese Situation verleitet jene Institute dazu, große Risiken einzugehen um höhere Profite erzielen zu können. Es ist nachgewiesen, dass große Banken tatsächlich riskantere Geschäfte tätigen (Barrell, R., et al., 2010).
Für die genannten Probleme sind Regulierungen zu finden, die einerseits hinreichend sicher sind und andererseits der Finanzindustrie genug unternehmerischen Spielraum lassen, um den Optimierungsprozess bei der Vermittlung zwischen Kapitalanbietern und –nachfragern im Wettbewerb zu gestalten. Es geht um das Setzen von Rahmenbedingungen, unter denen die Entscheidungen im täglichen Geschäftsbetrieb nicht zu stark von Bürokraten in Aufsichtsbehörden dominiert werden. Es geht also nicht um viel oder wenig, sondern um „gute“ Regulierung. Bei der Regulierung der Finanzmärkte handelt es sich um ein komplexes und kompliziertes Geflecht von Regeln und Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene. Pilbeam (2010:462) weist auf Maßnahmen hin, die die zuständigen nationalen Gesetzgeber und die zuständigen staatlichen Stellen ergreifen können; dazu gehören u.a.:
Lizenzierung von Finanzinstituten, um nur zuverlässigen Anbietern den Marktzutritt zu gewähren und eine Mindestsicherheit zu gewährleisten.
Festlegung von Veröffentlichungsvorschriften, um Transparenz über die wirtschaftliche Lage von Anbietern herzustellen.
Verpflichtung zur Bereitstellung von Ausfallsicherheiten, z.B. für Spareinlagen (Einlagensicherungsfond der Banken) oder einer Mindestausstattung mit Eigenkapital (Eigenkapitalquote, Leverage).
Begrenzung der Geschäftstätigkeit auf bestimmte Risikoklassen von Finanzgeschäften bei Instituten, die sich an die weniger informierte Allgemeinheit wenden.
Verbraucherschutzvorschriften mit Transparenzvorschriften und Haftungsregelungen, die den Schwächeren vor der „unfairen“ Verfolgung der Eigeninteressen der besser Informierten abschirmen sollen.
Hier ist wieder zu betonen, dass die existierenden Regulierungen immer für bestimmte Finanzaktivitäten und/oder Finanzintermediäre formuliert sind. Generell gilt, dass die Regulie-
174
2 Der Europäische Binnenmarkt
rungsdichte dann höher sein sollte, wenn einzelne Aspekte des Marktversagens besonders ausgeprägt sind. Da Regulierung auch als Restriktion für einen risiko- und gewinnorientierten Finanzakteur wirken, besteht der Anreiz für die Anbieter von Finanzdienstleistungen, sich definitorisch aus dem Zugriffsbereich der Regulierung zu entfernen. Die Kreativität und Innovationskraft der Finanzanbieter führt zur Erfindung von Institutionen und Produkten, die von der bisherigen Regulierung nicht oder nur schwächer erfasst werden. So entstehen sogenannte Schattenbanken. Sie handeln legal aber außerhalb der Regulierung; zu diesen Schattenbanken gehören z.B. Geldmarktfonds und Hedgefonds. Immer wenn die Regulierung strengere Regeln erlässt, verlagert die Finanzindustrie ihre Geschäftstätigkeit in den „Schatten“; weshalb seit der Finanzkrise ein wachsender Anteil der gesamten Finanztransaktionen in Schattenbanken abgewickelt wird (Pozsar, Z., T. Adrian, et al., 2010; Schrooten, M., 2012). Die Europäische Kommission hat zum Problem der Schattenbanken im Jahr 2012 eine öffentliche Anhörung durchgeführt, um daraus Impulse für eine Anpassung der Regulierung zu entwickeln (European Commission, 2012c; 2012d). Zwischen dem Regulierer und den Regulierten findet also ein Wettlauf statt, in dem auch politische Macht und die Organisation von Interessen der Finanzbranche in Lobbys eine erhebliche Rolle spielen. Da die Materie kompliziert ist, muss der Gesetzgeber bei der Neuformulierung der Regulierungen auf Sachverstand aus der Finanzindustrie zurückgreifen und unterliegt somit der Gefahr des „Regulatory Capture“: Die zu Regulierenden schreiben sich ihre Regeln selbst (Igan, D., Mishra, P., Tressel, T., 2009; Haar, K., Pohl, C., Rowell, A., et al., 2009; Croley, S. P., 2011). Der relative geringe Fortschritt bei der Anpassung der Finanzmarktregulierung an die Lehren aus der Finanzkrise ist auch auf den erheblichen Einfluss der Lobby zurückzuführen. In der EU war vor der Krise die Regulierung der Finanzindustrie in nationaler Zuständigkeit von insgesamt 40 Institutionen. Als Reaktion auf die Krise sollen nun sowohl neu institutionelle Strukturen geschaffen als auch bessere Regulierungen erlassen werden (Kapitel 3.8.3.3). Für die Länder der EU wurden neue Regulierungsinstitutionen und -verfahren auf der internationalen Ebene beschlossen, die sich im Europäischen Systems der Finanzaufseher (ESFS) als Kommunikationsplattform der europäischen und nationalen Aufsichtsbehörden abstimmen (Quelle: BaFin-Website). Dazu gehören auch:
Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA),
Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge (EIOPA),
Europäische Wertpapier und Marktaufsichtsbehörde (ESMA),
Europäische Ausschuss für Systemrisiken (ESRB) zur Beobachtung der Entwicklung und zur Analyse daraus möglicherweise erwachsender Risiken für das gesamte Finanzsystem.
Diese Einrichtungen erhielten jedoch nicht supranationale Kompetenzen, da die Hoheit zur Regulierung der Finanzindustrie immer noch in nationaler Kompetenz verbleibt; die Regie-
2.3 Die „Vier Grundfreiheiten“
175
rungen der Mitgliedsstaaten waren nicht bereit, die Macht in diesem Bereich abzugeben. Nur in extremen Krisenlagen – die einmütig im Rat von allen Mitgliedsstaaten als solche bezeichnet werden müssen – gibt es besondere Durchgriffsrechte. Ob die neuen Institutionen und Verfahren geeignet sind, künftige Finanzkrisen besser zu handhaben oder gar zu verhindern, bleibt abzuwarten. Im Sommer 2012 zeichnete sich eine politische Mehrheit im Rat dafür ab, die Bankenaufsicht weitgehend bei der EZB zu konzentrieren; damit wäre die Bankenaufsicht vergemeinschaftet und die neu geschaffene EBA überflüssig. Der Widerstand einzelner Länder gegen diesen Plan war hoch: Deutschland wollte seine Sparkassen, die sich satzungsgemäß nicht an riskanten Geschäften beteiligen dürfen, von der supranationalen Aufsicht ausnehmen und Großbritannien war gegen eine Dominanz der Institutionen des Euro in der Finanzbranche, da Großbritannien mit seiner eigenen Währung nicht in den Entscheidungsgremien vertreten ist. Auch wurden Einwände gegen eine Bündelung der Verantwortung bei der EZB geäußert, da diese dann in einen Konflikt zwischen der Wahrung der Geldwertstabilität und der Stabilisierung von Banken geraten könnte. Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes (Winter 2012) zeichnete sich ein Ergebnis ab, nach dem nur die großen, systemrelevanten Banken von der supranationalen Instanz beaufsichtigt werden und die Aufsichtsgremien bei der EZB so besetzt werden, dass beide Funktionen – die der Geldpolitik und die der Bankenaufsicht – unabhängig voneinander aber in einem Hause ausgeübt werden können. Die konkrete Ausformung war zu diesem Zeitpunkt noch offen (Beck, T. (Ed.), 2012; Beck, T., Gros, D., 2012).
2.3.6.5
Integration der Finanzmärkte in der EU
Gibt es einen grenzenlosen Markt für Finanzdienste in der EU? Auf der europäischen Ebene kommt ein weiteres Ziel der Regulierung der Finanzindustrie hinzu: Die Öffnung der Grenzen für die Anbieter von und Nachfrager nach Finanzdienstleistungen. Noch sind die Marktanteile grenzüberschreitender Dienstleistungen geringer als sie bei ungehindertem Wettbewerb sein könnten. Auch wenn die Freiheiten des Kapitalverkehrs im Prinzip gewährleistet sind, so bleibt der „Marktplatz für Kapital“ fragmentiert, da Banken, Versicherungen und Börsen national organisierte Akteure sind, und auch die Regulierung und Aufsicht der Finanzwirtschaft national erfolgt. Durch die Freigabe des Kapitalverkehrs in den 80er Jahren hätten nach einer Hypothese der Kommission (Monti, M. (Ed.), 1996:62 ff.) die langfristigen Zinsen sinken müssen, da der Wettbewerb im Kreditmarkt zunehmen kann. Bis zur Zwischenbilanz 1996 aber hat die Erleichterung des EU-weiten Bankbetriebs entgegen dieser Erwartung nicht zur Senkung der langfristigen Kreditzinsen geführt; dies wird von der Kommission auf verschiedene Faktoren zurückgeführt. So seien durch strengere Sicherheitsauflagen zusätzliche Kosten entstanden, die eine Zinssenkung unmöglich machten. Auch hat die EU-weite Ausdehnung des Geschäftsbetriebs mehr Kunden mit schlechteren Risiken ins Portfolio gebracht bzw. die Abschätzung des Kundenrisikos durch die Internationalisierung verteuert. Da die Banken nicht über eine Senkung von Zinsen, sondern durch eine Ausweitung der Produktpalette (Econo-
176
2 Der Europäische Binnenmarkt
mies of Scope) und eine Verbesserung des Service konkurrieren, sei eine Zinssenkung gar nicht zu erwarten gewesen. Als zentrales Argument gegen den Vollzug von Zinssenkungen im Wettbewerb werden die bis Ende 1998, d.h. bis zur Einführung des Euro, noch bestehenden Wechselkursrisiken bezeichnet: Sie sind in den Zinsen eingepreist. Allerdings erwartete die Kommission mit dem Euro dann eine Senkung der Zinsen. Entgegen dieser Annahme blieben aber auch nach 1999 die Zinsen weiterhin unterschiedlich, da viele Kreditkunden sich nicht international orientieren und Unterschiede in der Bonität in den Mitgliedsstaaten zu Zinsunterschieden nach wie vor beitragen. Mit dem „Aktionsplan Finanzdienstleistungen“ hat die Kommission im Mai 1999 in einer Vielzahl von Bereichen Veränderungen angestoßen; diese umfassen auf Firmenkundenmärkten u.a. die Themen der integrierten Wertpapier- und Derivatmärkte in Europa, der EUweiten Beschaffung von Risikokapital, den einheitlichen Jahresabschluss von Unternehmen nach dem International Accounting Standard (IAS) und die Regelungen von Unternehmensübernahmen. Für Privatkunden sollen u.a. Verbraucherinformation und Transparenz verbessert und Regressverfahren geklärt werden. Diese Maßnahmen, die in der „Markets for Financial Instruments Directive“ (MIFID) als Richtlinie gefasst wurden, konnten wie geplant bis 2007 auf der nationalen Ebene implementiert werden. Gerade im Marktsegment der Bankkunden mit relativ kleinen Anlage- bzw. Kreditbeträgen existierte noch kein europaweit integrierter Markt, so dass die Banken noch Spielräume für Preisdifferenzierung zwischen den einzelnen Ländern haben. In einer Studie zum Wechsel der Bankverbindungen hat eine Expertengruppe im Auftrag der Kommission die folgenden Hemmnisse ermittelt: Informationsasymmetrie und mangelnde Transparenz bei den Preisen, Verwaltungsaufwand, Produktkopplung sowie Kontoschließungsgebühren. Bei der Eröffnung eines Bankkontos haben die Verbraucher nach den Ermittlungen der Gruppe Probleme aufgrund von hinderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Informationsbarrieren, Unsicherheiten hinsichtlich der anzuwendenden Vorschriften, kommerziellen Entscheidungen der Banken und Kontoschließungsgebühren (Heinemann, F., Joop, M., 2002; IP/07/765, 5. Juni 2007). Die Kosten der Kapitalbeschaffung für Unternehmen und Privathaushalte hängen auch von den Preisen ab, die die Finanzintermediäre für ihre Dienste erzielen. Der grenzüberschreitende Wettbewerb unter diesen Dienstleistern soll für bessere Leistungen bei geringen Preisen sorgen. Dazu müssen die entlang nationaler Grenzen fragmentierten Märkte in die EU-weite Integration einbezogen werden. Dieses Ziel verfolgte die Europäische Union mit ihrer Strategie für die Finanzdienstleistungen. Die Kommission (European Commission, 2006l, Annex II:4 ff.) sieht den wirtschaftlichen Nutzen integrierter Finanzmärkte
in einer Unterstützung von Handel und Direktinvestitionen und den daraus resultierenden positiven Effekten,
steigendem Wettbewerb unter den Finanzdienstleistern mit sinkenden Finanzierungskosten für Großunternehmen,
2.4 Strategien der EU für Wettbewerbsfähigkeit
besserem Zugang von kleinen und mittleren Unternehmen zu Finanzmitteln,
besseren und günstigeren Finanzprodukten für Konsumenten und Privathaushalte.
177
Als aggregierter Effekt integrierter Finanzmärkte könnte das BIP um bis zu 1%-Punkt höher ausfallen. Weiterführende Literatur
Gortsos, C. V. (2011): European financial integration: economic aspects, the existing legal framework and the way ahead, in: Jovanovic, M. (Ed.): International handbook on the economics of integration, Vol. I: General issues and regional groups, Cheltenham, Northampton, 394–425.
2.4
Strategien der EU für Wettbewerbsfähigkeit
Bestand ein wirtschaftlicher Rückstand der EU? Kann die EU die Mitgliedsstaaten auch ohne Zuständigkeit koordinieren? Warum sind der „Lissabon-Prozess“ und die Strategie „Europa 2020“ wenig erfolgreich? Die Attraktivität der EU für die Bevölkerung der Mitgliedsstaaten und der Bewerberländer liegt in dem Versprechen von „Frieden und Wohlstand“ (EU-V Artikel 1,3). Der Wohlstand in den Mitgliedsstaaten ist auch Resultat der wirtschaftlichen und politischen Integration. Andererseits wird die wirtschaftliche Situation in der EU immer wieder für unbefriedigend gehalten: Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in vielen – vor allem den großen – Mitgliedsstaaten sowie der Rückstand im Wachstum von Output und Produktivität im Vergleich zu den USA und den „Asiatischen Tigern“ gelten als Beleg für eine Schwäche Europas. Bereits in den 80er Jahren wurde „Euro-Sklerose“ gegenüber den Vergleichsregionen diagnostiziert. Damals war das Binnenmarkt-Programm der Lösungsvorschlag für das Problem: Mehr Wettbewerb auf größeren Märkten, weniger Staatsintervention, eine einheitliche Währung sowie Liberalisierung, Privatisierung und Entbürokratisierung waren Ausdruck eines wirtschaftsliberalen Credo, das mit der in dieser Zeit vorherrschenden Abwendung vom Keynesianismus in der Fiskalpolitik und der Übernahme angebotspolitischer Konzepte der Wirtschaftspolitik einher ging. Aber offenbar hat dieses Programm nicht zu den erwünschten Ergebnissen geführt, so dass die Problemdiagnose zur Jahrtausendwende – d.h. zwanzig Jahre später – nach wie vor gültig schien. Neben dem gesamtgesellschaftlichen Verlust aus Arbeitslosigkeit, drohte auch eine generelle Enttäuschung über den Nutzen der EU-Mitgliedschaft daraus zu resultieren. Diese Enttäuschung ist nahe liegend, da die Lasten aus dem Strukturwandel in einer globalisierten Welt für Viele sofort spürbar sind und die Angst vor dem künftigen persönlichen wirtschaftlichen Abstieg schüren. Die Versprechungen einer besseren Zukunft dagegen, für die jetzt die Härten der Liberalisierung in Kauf genommen werden mussten, wirkten kaum noch glaubhaft. Damit drohte eine Legitimationskrise der EU – wenn nicht des gesamten kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.
178
2 Der Europäische Binnenmarkt
Als Antwort auf diese Lage schuf die EU im Jahr 2000 eine neue ehrgeizige Initiative, den „Lissabon-Prozess“. Die EU sollte bis 2010 die wettbewerbsfähigste Region der Welt werden und den wirtschaftlichen Rückstand zu den USA damit mehr als aufgeholt haben. Als Folge dessen wurde auch eine deutliche Verringerung der Arbeitslosigkeit versprochen. Mit diesen Initiativen griff die EU Themenfelder auf, die weit über ihre Zuständigkeit und Ressourcen hinausgingen. Sie initiierte die Diskurse „Lissabon 2010“ und „Europa 2020“ und versuchte dadurch die Mitgliedsstaaten zu koordiniertem Handeln zu bringen. Zu: Rückstand Europas Die Analysen zum wirtschaftlichen Erfolg wiesen für die 90er Jahre zu Gunsten der USA ein höheres BIP/Kopf, eine höhere Produktivität sowie eine höhere Erwerbsbeteiligung nach – vor allem der Frauen. Außerdem war die Arbeitslosigkeit insgesamt geringer und die Ausgaben für Forschung und Entwicklung lagen höher (Sapir, A. et al., 2003; O’Mahony, M., Ark, B.v. (Eds.), 2003). Auf den zweiten Blick relativiert sich allerdings die US-amerikanische Überlegenheit beim Output: Amerikaner arbeiten deutlich mehr Stunden im Jahr, aber erzeugen pro Stunde nicht mehr als die Europäer. Möglicherweise haben die Europäer also eine höhere Präferenz für Freizeit und die Amerikaner für Einkommen (Blanchard, O., 2004). Die Zurückhaltung der Europäer bei der Arbeitszeit kann auch auf die höhere Besteuerung zurückzuführen sein, die ein zusätzliches Einkommen weniger attraktiv macht. Die geringere Arbeitslosigkeit und höhere Erwerbsbeteiligung in den USA konnte neben dem höheren Wirtschaftswachstum auch auf die weniger ausgeprägten sozialen Sicherungssysteme zurückzuführen sein, die zusammen mit einer Flexibilität der Löhne nach unten dafür sorgen, dass die Zeiten der Arbeitslosigkeit kurz bleiben und notfalls auch Arbeiten zu sehr geringen Löhnen an anderen Orten und in anderen Berufen angenommen wurden. Die Anpassungslast lag in den USA eher auf dem vom Strukturwandel betroffenen Arbeitnehmer, während in den Ländern Europas mit sozialdemokratischer Tradition eine dauerhafte Verdrängung aus dem Erwerbsprozess in die sozialen Sicherungssysteme stattfand. Angesichts dieser Unterschiede wird eine einfache Kopie des „Erfolgsmodells USA“ häufig abgelehnt, da es das typische „europäische Sozial- und Wirtschaftsmodell“ (European Commission, 2004m; Sapir, A., 2005; Busemeyer, M. R. et al., 2006; Berthold, N., Neumann, M. J. M., 2006a) zerstören würde und das anglo-sächsisches Wettbewerbsmodell zur Norm machte. Ein zweiter Blick: Rückstand versus Spekulationsblase Bei der Vorbereitung und Umsetzung der „Lissabon-Initiative“ sind jedoch grundsätzliche Fragen aufgetreten:
Besteht überhaupt ein wirtschaftlicher Rückstand gegenüber den USA oder handelt es sich um ein anderes Wirtschafts- und Sozialmodell?
Welche Strategien sind zur Steigerung des wirtschaftlichen Erfolgs für Europa geeignet?
Damit wird die auf nationaler Ebene geführte Debatte um den richtigen Weg zur Vollbeschäftigung und um die angemessene Balance zwischen sozialem Zusammenhalt und Solida-
2.4 Strategien der EU für Wettbewerbsfähigkeit
179
rität einerseits und Wettbewerb sowie Anpassungsdruck andererseits auf die europäische Ebene gehoben. Der europäische Weg eines starken Sozialstaates und der damit verbundenen hohen Besteuerung führt zwar möglicherweise zu weniger Sozialprodukt pro Kopf, aber zu einem Lebenszuschnitt mit mehr Freizeit und mehr sozialer Absicherung. Im Licht der derzeitigen Wirtschaftskrise ist auch zu hinterfragen, inwieweit der lange Jahre andauernde wirtschaftliche Erfolg der USA („Great Moderation“) nicht auf eine kreditfinanzierte Aktien- und Immobilienblase zurückzuführen ist, bei der die Auslandsverschuldung der USA stark stieg und die heimische Sparquote dramatisch sank (Barwell, R., Burrows, O., 2011; Blanchard, O., DellAriccia, G., Mauro, P., 2010; Quiggin, J., 2010). Zu: Wirtschaftspolitische Strategien Über die richtigen Strategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Schaffung von Arbeitsplätzen wird gestritten. Vergröbert lässt sich die keynesianische Nachfragepolitik, die den Staatshaushalt zur Stimulierung bzw. Dämpfung der Nachfrage einsetzen will der Angebotspolitik gegenüberstellen, die auf die „Kräfte des Marktes“ setzt, den intervenierenden Staat aus der Wirtschaft zurückdrängen will, auf eine Verbesserung der Rahmenbedingungen setzt und eine Verstetigung der Fiskal- und Geldpolitik anstrebt (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 1997, Ziff. 292 ff.; Pätzold, J. Baade, D., 2008). In den einzelnen Mitgliedsstaaten haben sich zu unterschiedlichen Zeiträumen unterschiedliche Positionen durchgesetzt – es gibt keine einheitliche Linie dazu in der EU. Aber selbst, wenn sich die Mitgliedsländer in der Strategie einig wären: Die Fiskalpolitik ist in nationaler Hand geblieben, so dass die EU weder Kompetenzen noch Budget für eine Nachfragesteuerung hat, und die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank verfolgt nicht das Ziel einer Unterstützung der Konjunktur – was sie angesichts divergierender Inflationsraten in Euro-Land auch kaum erreichen könnte. Ein zweiter Diskussionsstrang behandelt die Funktionsfähigkeit der Arbeitsmärkte einschließlich der Anreize für die Aufnahme einer gering bezahlten Beschäftigung. Der Forderung an den Einzelnen nach einer Flexibilisierung seines Arbeitsmarktverhaltens zu Lasten seiner sozialen Sicherung stehen fördernde Ansätze gegenüber, die den Staat zu vor- und versorgenden Maßnahmen bei Qualifizierung, Vermittlung und Einkommensersatz verpflichten. Auch diese Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken liegen in nationaler Kompetenz. Es besteht ein Wettbewerb verschiedener Modell in der EU, wo z.B. Dänemark, Niederlande und Großbritannien auf Erfolge durch Flexibilisierung verweisen können, während Deutschland und Frankreich nur zögernd ihre Arbeitsmärkte öffnen, was mit höherer Arbeitslosigkeit einhergeht. Inwiefern die Erfahrungen eines Landes auf ein anderes übertragbar sind, bleibt umstritten. Zur Halbzeit (2005) wurde eine ernüchternde Zwischenbilanz gezogen (Kok, W. and High Level Group, 2004): Die Ziele sind bisher kaum erreicht und der Rückstand zu den USA und zu Asien steigt. Die zum Teil altbekannten Handlungsvorschläge verweisen auf die von den Evaluatoren identifizierten Lücken:
180
2 Der Europäische Binnenmarkt
Wissensgesellschaft: Die EU muss für Forscher attraktiver werden, d.h. die besten Köpfe sollen sich für Europa, nicht für die USA entscheiden; Forschung und Entwicklung sowie der Gebrauch moderner Informationstechnologien müssen verstärkt werden.
Binnenmarkt: Die Vollendung des Binnenmarktes, die für 1992 geplant war, wird angemahnt; besonders bei den Dienstleistungen. Die Verwässerung der „BolkesteinRichtlinie“ zeigt allerdings, wie schwer die Umsetzung dieser Maßnahmen ist.
Klima für Unternehmer: Abbau der Bürokratie und Erleichterung von Selbständigkeit bleiben „Dauerbrenner“.
Arbeitsmarkt: Die bereits beschlossenen Maßnahmen sollen umgesetzt, ältere Arbeitnehmer länger im Erwerbsprozess gehalten und das lebenslange Lernen verstärkt werden.
Mit dem Versprechen, „einen Gang höher zu schalten“ (European Commission, 2006h) wurde ein Neustart versucht. Die Kommission erkannte die Notwendigkeit, bei den Bürgern dafür Akzeptanz zu schaffen. Über die staatlichen Maßnahmen auf den verschiedenen Ebenen hinaus ist es die Privatwirtschaft, die mit ihren Ausgaben für Forschung und Entwicklung und mit ihren globalen Investitionsentscheidungen über die weitere Entwicklung des „Standortes Europa“ entscheidet; hierauf kann die nationale und europäische Politik nur begrenzt einwirken. Der Konjunkturaufschwung seit 2006 in den lange Zeit wachstumsschwachen Mitgliedsstaaten wie Deutschland und Frankreich hat die Bilanz verbessert – die Effekte weiterer Bemühungen zur Erreichung der Ziele von Lissabon werden darin kaum zu isolieren sein. Mit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 brach die Konjunktur in den meisten Mitgliedsstaaten zusammen und erreichte auch nach fünf Jahren nicht überall wieder das Niveau der Vor-Krise. Das ehrgeizige „Lissabon-Ziel“ wurde auch daher unerreichbar. „Europa 2020“ – ein neuer Versuch Für den Zeitraums nach 2010 wurde bis zum Zieljahr 2020 ein neues Programm formuliert: „Europa 2020“. Als Prioritäten für diese Dekade wurde eine „intelligente, nachhaltige und integrative Wirtschaft für Europa“ gefordert. Es wurden Zielindikatoren in den fünf Bereichen Beschäftigung, Innovation, Bildung, soziale Integration und Klima/Energie formuliert, die bis zum Jahr 2020 von den 27 Mitgliedsstaaten erreicht sein sollen. Ebenso wie bei der „Lissabon-Strategie“ sind auch für die Erreichung dieser Ziele die politischen Akteure in den Mitgliedsstaaten zuständig. Es hängt von ihnen ab, welche Anstrengungen sie dafür unternehmen. Die EU bleibt in der Rolle eines Moderators nach der „Offenen Methode der Koordinierung“. Europa 2020: Die Prioritäten Die Europäische Union möchte die Krise überwinden und zu einer wettbewerbsfähigeren Wirtschaft mit mehr Beschäftigungsmöglichkeiten beitragen (Europäische Kommission, 2010c). Dazu strebt sie die Schaffung von intelligentem, nachhaltigem und integrativem Wachstum an:
2.4 Strategien der EU für Wettbewerbsfähigkeit
181
intelligent – durch wirksamere Investitionen in Bildung, Forschung und Innovation;
nachhaltig – durch eine entschlossene Ausrichtung auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft und eine wettbewerbsfähige Industrie;
integrativ – durch die vorrangige Schaffung von Arbeitsplätzen und die Bekämpfung von Armut“.
Sie hat dafür fünf Ziele formuliert:
Beschäftigung – 75 % der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren sollten in Arbeit stehen.
Innovation – 3 % des BIP der EU sollten für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden.
Klimawandel – Die „20/20/20“-Klimaschutz-/Energie-Ziele sollten erreicht werden.
Bildung – Der Anteil der Schulabbrecher sollte auf unter 10 % abgesenkt werden, und mindestens 40 % der 30–40-Jährigen sollten einen Hochschulabschluss oder einen vergleichbaren Abschluss haben.
Armut – Die Zahl der armutsgefährdeten Personen sollte um 20 Millionen sinken.
Da die EU weder eigene Mittel hat noch die Kompetenzen hat, um den Mitgliedsstaaten die Maßnahmen zur Erreichung der Ziele aufzutragen, greift sie wiederum zur offenen Methode der Koordinierung der Mitgliedsstaaten. Die Kommission schlug in ihrem Haushaltsentwurf vor, die Mittel der EU-Regionalförderung in der nächsten Förderperiode 2014–2020 in den Dienst dieser „Europa 2020“-Ziele zustellen, was jedoch problematisch sein kann, da die Regionalförderung ursprünglich Ziele verfolgt, die nicht zwingend mit der Strategie „Europa 20202 vereinbar sein müssen (Kapitel 4.2.7).
3
Die gemeinsame Währung Als die Währungsunion vor mehr als einem Jahrzehnt auf den Weg gebracht wurde, hielten das viele für eine Illusion. Die großen Visionäre haben sich am Ende des Jahrhunderts als die eigentlichen Realisten erwiesen. Währungen waren in der Geschichte schon immer mehr als nur ein Zahlungsmittel; sie waren und sind stets auch ein Stück gemeinsamer Identität und Kultur und ein Gradmesser politischer, wirtschaftlicher und sozialer Stabilität. Und: Stabilität ist nicht alles, aber ohne Stabilität ist alles nichts. Der Euro, Karlspreisträger 2002 (Entgegengenommen von Wim Duisenberg)
Der Euro wird „… den Gemeinsamen Binnenmarkt nicht ‚krönen‘, sondern aufs schwerste gefährden, ja möglicherweise zum schwersten Rückschlag der Europäischen Integration … führen“. Hankel, W., Nölling, W., Schachtschneider, K. A., Starbatty, J. (1998:18)
Mehr als jedes andere europäische Projekt war die Einführung des Euro mit hohen positiven und negativen Erwartungen besetzt. Nach seiner scheinbar reibungslosen Einführung wird seit dem Ausbruch der Krise nicht nur ein Scheitern des Euro für möglich gehalten, sondern es wird dem Euro sogar das Potenzial zugeschrieben, das Ende der Europäischen Union herbeizuführen. Der Diskurs über den Euro unter Fachleuten und in der Öffentlichkeit war und ist kontrovers. Die Sichten wechseln je nach theoretischer Basis und aktuellen Ereignissen. Die laufenden Entwicklungen an den Kapitalmärkten und in der Politik verändern die Lage bzw. reagieren auf Veränderungen. Ziel dieses Kapitels ist es, die Orientierung in dem komplexen Feld zu erleichtern. Es zeichnet die Entwicklung des Euro nach, die von der konzeptionellen Diskussion über seine Einführung bis zum Auftreten von Ungleichgewichten und der Krise reicht. Der Blick auf den andauernden Prozess wird hier einer Augenblicksaufnahme vorgezogen, da es eine einzige gültige Sicht nicht gibt: Der Versuch, die Geschehnisse um den Euro zu verstehen, ist nicht abgeschlossen.
184
3 Die gemeinsame Währung
Zu Beginn des Kapitels werden einige unverzichtbare Grundlagen der Volkswirtschaftslehre dargestellt: Dies sind erstens monetäre Aspekte wie Inflation, Wechselkurs, Zins und Geldpolitik und ihre Wechselwirkung (Kapitel 3.1) und zweitens die Frage der Verschuldung privater und öffentlicher Haushalte und deren Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Lage (Kapitel 3.2). Dabei werden über das herkömmliche Lehrbuchwissen hinaus auch andere Sichten auf die Kreditschöpfung und die Rolle der Zentralbank sowie die gesamtwirtschaftliche Wirkung von Schulden einbezogen. Im nächsten Schritt werden das Grundkonzept der Wirtschafts- und Währungsunion und seine Entstehung dargestellt. Dazu gehören der wissenschaftliche Diskurs über die optimale Konstruktion ebenso wie das letztlich politisch gewählte Konzept der Konvergenz (Kapitel 3.3 und 3.4). Das Ergebnis dieses historisch einmaligen politischen Prozesses ist ein Konstrukt mit Stärken und Schwächen: Die Wirtschafts- und Währungsunion als Rahmen für Fiskal- und Geldpolitik (Kapitel 3.5). Die verbleibenden Abschnitte folgen dem zeitlichen Verlauf bis hin zur Krise. Die Einführung des Euro nach dem Konzept der Konvergenz schien in den ersten Jahren im Großen und Ganzen erfolgreich zu verlaufen, wenn auch einige Warnsignale wie das Scheitern des Stabilitätspaktes nicht ernst genommen wurden (Kapitel 3.6). Nicht beachtet wurden auch die sich aufbauenden gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten. Zu den Themen Wettbewerbsfähigkeit und Realzinsen werden einige Grundlagen dargestellt, da diese nicht zu den üblicherweise vermittelten volkswirtschaftlichen Themen gehören (Kapitel 3.7). Der von den meisten nicht erwartete Ausbruch der Krise erzwang einen erneuten Blick auf das gesamte Konstrukt der Wirtschafts- und Währungsunion. Nach Begründungen für immer wiederkehrende Krisen (Kapitel 3.8.1) werden einige der häufig diskutierten Ursachen für die derzeitige Krise erörtert und durch einen Ablauf der Ereignisse in eine „Erzählung“ über die Krise gebracht. Aus der Vielzahl von Ursachen folgt auch ein breites Spektrum von Rettungsvorschlägen. Diejenigen, die aus derzeitiger Sicht die größte politische Realisierungschance haben, werden auf ihre Erfolgsaussichten und Nebenwirkungen hin untersucht (Kapitel 3.8.3). Weiterführende Literatur
Dyson, K., Featherstone, K. (1999): The road to Maastricht: Negotiating economic and monetary union, Oxford.
Apel, E. (1998): European monetary integration: 1958–2002, London.
Ungerer, H. (1997): A concise history of European monetary integration: From EPU to EMU, Westport, London.
Steinherr, A. (Ed.) (1994): Thirty years of European monetary integration, London, New York.
3.1 Inflation und Geldpolitik
3.1
Inflation und Geldpolitik
3.1.1
Inflation und Deflation
185
Die Geldpolitik liegt bis zur Einführung des Euro in der Hoheit jedes Mitgliedsstaates; mit der Übernahme des Euro geht sie an die Europäische Zentralbank über. Um diesen einschneidenden Wechsel der geldpolitischen Kompetenz beurteilen zu können, werden hier zuerst einige allgemeine Aspekte der Geldpolitik aufgegriffen; ein Abriss zur Europäischen Zentralbank wird in Kapitel 3.5 gegeben.
3.1.1.1
Ursachen von Inflation und Deflation
Was ist Inflation und wie kommt es dazu? Warum soll Inflation vermieden werden? Wenn Inflation negativ ist, warum ist deren Gegenteil ebenfalls unerwünscht? Die vorrangigen Ziele der Geldpolitik in der Europäischen Union sind es, die Volkswirtschaft mit Liquidität zu versorgen und die Stabilität des Geldwertes zu sichern, d.h. die Entstehung einer unerwünscht hohen Inflation zu vermeiden. Implizit schließt dieses Ziel auch ein, dass keine Deflation entstehen soll. Die weitgehende Entwertung des Geldes ist ein Problem, das die Funktion des gesamten kapitalistischen Wirtschaftssystems grundlegend in Frage stellt. Nach einigen Phasen der Hochinflation hat sich diese Gefahr in das historische Gedächtnis der Deutschen eingeprägt, was zu der Bereitschaft beigetragen hat, für die Vermeidung von Inflation auch Opfer zu bringen. Definition und Messung Inflation wird als die Verteuerung von Gütern des Endverbrauchs definiert. Zur Messung wird der „Warenkorb“ des Verbrauchs eines typischen Haushalts festgestellt und der Gesamtpreis für diesen Einkauf zu einem Zeitpunkt wird ermittelt. Kostet der Einkauf des gleichen Warenkorbs ein Jahr später 10% mehr, so spricht man von einer 10%igen jährlichen Inflation. Die Kaufkraft des Einkommens sinkt um die Inflationsrate. Wenn das Preisniveau um einen Wert steigt, bedeutet dies nicht zwingend, dass alle Güter im Warenkorb um diesen Wert teurer werden; vielmehr können sich die relativen Preise unterschiedlich entwickelt haben: Pizza ist 5% billiger geworden, während Autoreifen im Preis um 12% gestiegen sind. Bei der Angabe von Werten ist immer zu klären, ob es sich um „laufende“ – auch nominale Werte genannt – handelt oder um „reale“ Werte. Nominale Werte können „eindrucksvoll“ steigen, ohne dass damit ein tatsächlicher Anstieg materiellen Reichtums verbunden sein muss: Ein Anstieg des Einkommens kann auch einen Verlust bedeuten, wenn das Preisniveau stärker steigt als das Einkommen. Die Abb. 3-1 zeigt für die EU-27 diesen Zusammenhang; allerdings ist auch der nominale Einbruch des BIP im Jahr 2009 wegen eines gleichzeitig rückläufigen Preisniveaus (Deflation) in realen Größen nicht ganz so scharf.
186
3 Die gemeinsame Währung BIP/Kopf in EU-27 – nominal und real Veränderung zum Vorjahr in %
8,0 6,0 4,0 2,0 0,0 -2,0 -4,0
nominal
-6,0
real
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
-8,0
EUROSTAT-Datenbank, 28.12.12, [nama_gdp_p, nama_gdp_c] Abb. 3-1: BIP – nominal und real
Zur Messung der Inflation in der EU wurde eine in allen Mitgliedsstaaten anzuwendende Definition und Methode entwickelt: Der „harmonisierte Verbraucherpreisindex“ (HVPI). Damit werden Unterschiede in der nationalen Statistik ausgeschaltet und so die Inflationsentwicklung in den einzelnen Ländern international vergleichbar gemacht. Die Statistik bildet zusätzlich eine Untergruppe dieses Warenkorbs, indem sie alle Güter herausnimmt, deren Preise saisonal oder aus anderen Gründen in kurzer Zeit stark schwanken; dazu zählen z.B. Energie und frisches Gemüse. Die daraus ermittelte Inflationsrate wird „Kern-Inflation“ genannt. Diese Inflationsrate soll eine Information über den mittelfristigen Verlauf des Preisanstiegs liefern, da sie die kurzfristigen Auf- und Abschwünge herausfiltert (Abb. 3-2). Inflationsmessung: Blind gegenüber Vermögensblasen Nach dieser international üblichen Definition von Inflation sind die Preise von Vermögenswerten wie Gold, Aktien, Anleihen, Grundstücke etc. nicht berücksichtigt: Der Warenkorb enthält nur Güter des Endverbrauchs. Daher werden inflationäre Entwicklungen von Vermögenspreisen (Vermögensblasen) statistisch nicht erfasst – Öffentlichkeit und Politik werden durch die Inflationsrate nicht über diesen Aspekt von Inflation informiert. In der öffentlichen Diskussion ist nach der Einführung des Euro der Begriff der „gefühlten Inflation“ aufgetaucht. Damit wird thematisiert, dass die Wahrnehmung der Konsumenten und die amtliche Statistik nicht übereinstimmen müssen (Kapitel 3.6.3.2).
3.1 Inflation und Geldpolitik
187
Inflationsraten im Euro-Raum Gesamt- und Kerninflation 5 4 3 2 Gesamt
1
Kern
0
1991Jan 1991Oct 1992Jul 1993Apr 1994Jan 1994Oct 1995Jul 1996Apr 1997Jan 1997Oct 1998Jul 1999Apr 2000Jan 2000Oct 2001Jul 2002Apr 2003Jan 2003Oct 2004Jul 2005Apr 2006Jan 2006Oct 2007Jul 2008Apr 2009Jan 2009Oct 2010Jul 2011Apr 2012Jan 2012Oct
-1
EZB-Datenbank (20.12.2012); Konsumentenpreise, jährliche Änderung; mit bzw. ohne volatile Güter
Abb. 3-2: Gesamt- und Kerninflation 1991–2012
Unter Deflation wird das Gegenteil der Inflation verstanden: Das Preisniveau sinkt, d.h. „alles wird billiger“. Besonders im Zusammenhang mit tiefen Rezessionen oder Krisen kann es dazu kommen, wie das Beispiel Japans zeigt. Von der Deflation zu unterscheiden ist die Des-Inflation als der Rückgang der Preissteigerungsrate von einem hohen auf einen niedrigeren Wert von Inflation (Abb. 3-3). Inflation, Deflation, Des-Inflation
Inflation
Ziel: Nahe bei, aber unter 2% / Jahr
0 Deflation
Preisniveauänderung (%)
+
Brasche, 2013
Abb. 3-3: Inflation, Deflation, Des-Inflation
Zeit
188
3 Die gemeinsame Währung
Wie entsteht Inflation? Für die Entstehung der Inflation kann es verschiedene Gründe geben; Inflationsbekämpfung muss jeweils klären, welche Ursachen vorliegen. Die Quellen von Inflation auf dem Gütermarkt lassen sich in vier Gruppen einteilen; ergänzend wird die Aufblähung von Vermögenspreisen behandelt, die nicht zur der „offiziellen“ Definition von Inflation gehört: 1.
Eine Nachfrage am Gütermarkt, die das Angebot übersteigt und so den Unternehmen einen Spielraum für Preiserhöhungen gibt,
2.
importierte Inflation: Die Kostensteigerung bei Vorleistungen (Rohstoffe, Vorprodukte), die in die Preise von Endprodukten überwälzt werden,
3.
Lohnkosten (Lohn-Preis-Spirale),
4.
staatlich beeinflusste Preiserhöhungen.
Zu: 1. Übernachfrage am Gütermarkt Eine inflationstreibende Übernachfrage am Gütermarkt besteht, wenn die Produktionskapazitäten ausgelastet sind und die Nachfrage das maximale Angebot übersteigt. Die Produzenten können in einer solchen Situation Preiserhöhungen durchsetzen. Zu klären ist jeweils im konkreten Fall, welche der Nachfragekomponenten (Konsum-, Investitions-, Staats- oder Auslandsnachfrage) besonders zu der Übernachfrage beitragen. Eine der möglichen Ursachen für einen Anstieg der Nachfrage kann in einer zu großen Geldmenge gesehen werden: Wenn die Zentralbank viel Geld zu geringen Zinsen zur Verfügung stellt, dann können Konsumenten mehr Güter auf Kredit kaufen und Investoren mehr Kapital leihen, um mehr Maschinen zu kaufen. Dieser Zusammenhang wird in der Quantitätstheorie des Geldes behandelt (Kapitel 3.1.2). Vermögen, Kredite und Nachfrage Eine andere Ursache für Inflation kann im Vermögenseffekt liegen, bei dem eine Erhöhung der Kurse an Vermögensmärkten (Börse, Immobilien, Rohstoffe, Gold etc.) bei den Haushalten das Gefühl gewachsenen Reichtums auslösen; dieser „gefühlte Reichtum“ reizt dann zusätzlichen Konsum an, der das laufende Einkommen sogar übersteigen kann. Diese Entwicklung war in der Internetblase (bis 2001) sowie in der Immobilienblase (bis 2007) zu beobachten. Der Geldpolitik wird bei der Entstehung von Vermögensblasen eine Mitschuld gegeben, wenn sie mit einer „Liquiditätsschwemme“ aus „billigem Geld“ die Nachfrage nach Vermögenswerten und damit deren Kurse über ein „rational begründbares Maß“ hinaus steigert. Eine weitere Quelle überschießender Nachfrage liegt in der Kreditschöpfung durch die Banken (Deutsche Bundesbank, 2010:53–75). Solange eine Bank als solvent gilt und das Risiko des Kreditausfalls daher als gering eingeschätzt wird, kann sie sich am Kapitalmarkt fast beliebige Mengen an Mitteln ausleihen und diese dann als Kredite an Endkunden weiterreichen; über 95% der Kredite in Großbritannien werden durch Kreditschöpfung „aus dem Nichts“ generiert (Ryan-Collins, J.et al., 2011; Werner, R., 2011:28). Zusätzlich haben „innovative“ Finanzinstrumente wie die Verbriefung (Securitisation) von Forderungen den
3.1 Inflation und Geldpolitik
189
Kreditschöpfungsspielraum der Banken vergrößert (Pilbeam, K., 2010:16–17). Dies funktioniert so, dass die Banken Kredite „gebündelt“ und weiterverkauft haben, so dass die Risiken aus diesen Krediten aus der Bilanz ausgelagert waren und das dadurch frei werdende Eigenkapital dafür genutzt werden konnte, neue Kredite zu vergeben. Weiterhin sind große Kapitalsammelstellen, wie Versicherungen, auf der Suche nach höherer Rendite dazu übergegangen, die von ihnen angesammelten Beiträge auch in direkter Kreditvergabe an Unternehmen anzubieten – sie agieren dann wie Banken, ohne auf die Versorgung mit Zentralbankgeld angewiesen zu sein. Die zusätzlichen Kredite treiben dann die Nachfrage nach Gütern sowie nach Vermögenswerten in die Höhe, was deren Kurs steigert und damit über den Vermögenseffekt auch den Konsum anregt. Zu: 2. Importierte Inflation Die Preissteigerungen können auch aus den Beziehungen zum Ausland resultieren: Eine importierte Inflation entsteht aus der Erhöhung der Preise importierter Güter, die nicht kurzfristig durch andere Güter ersetzt werden können. Die gestiegenen Preise gehen dann unmittelbar (Konsumgüter) oder mittelbar (Rohstoffe) in das Preisniveau ein. Die „ÖlpreisSchocks“ der 70er Jahre, die Preisspitzen für Obst und Gemüse nach einem Frosteinbruch im Mittelmeerraum im Jahr 2002 oder die Erhöhung der Rohstoffpreise 2010 sind Beispiele dafür. Die Preiserhöhung bei Importgütern kann auch aus einer Abwertung der heimischen Währung resultieren, wenn ein nur schwer ersetzbares Importgut dadurch im Inland teurer wird. Die Kunden aus anderen Ländern können ihre Nachfrage nach einheimischen Gütern stark variieren; dies hängt nicht nur mit der Attraktivität der Exportgüter zusammen, sondern vor allem mit der Konjunktur in den Zielländern. Am Beispiel der Exporte Deutschlands in die mittel- und osteuropäischen Länder sowie nach China lässt sich zeigen, dass die Spezialisierung der deutschen Exportindustrie (Fahrzeuge, Maschinen, Chemie, Pharmazie) genau zum Bedarf dieser im Aufbau befindlichen Länder passt. Die Auslandsnachfrage könnte in einer deutschen Hochkonjunktur zu einer Übernachfrage und damit zu Inflation in Deutschland beitragen. Zu: 3. Lohn-Preis-Spirale Löhne gehen ebenso wenig wie Rohstoffe oder Vorleistungen unmittelbar in die Berechnung des Preisniveaus des Warenkorbs für Endverbraucher ein. Eine (Preis-)Lohn-Preis-Spirale entsteht, wenn höhere Löhne zu Kostensteigerungen führen, die in die Preise überwälzt werden, was dann die Arbeitnehmer erneut zu Forderungen nach einem Inflationsausgleich bringen kann. Ob nun die Arbeitnehmerseite diese Spirale in Gang gesetzt hat oder zuerst die Kaufkraft durch Inflation gesunken ist, ist zwar Gegenstand öffentlichen Streits, aber für die Sache unerheblich, da es um die Durchsetzbarkeit von Forderungen am Arbeitsmarkt sowie um die Überwälzbarkeit von Kosten in die Preise, d.h. um Marktmacht, geht. Der mögliche Zusammenhang zwischen den Lohnkosten und den Preisen ist in jenen Branchen stärker, in denen die Lohnkosten einen größeren Anteil an den Gesamtkosten ausmachen und wo die Arbeitskräfte nicht kurzfristig durch Rationalisierungsmaßnahmen ersetzt werden können.
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3 Die gemeinsame Währung
Zu: 4. Staatlich beeinflusste Preise Die administrierte Inflation beschreibt diejenigen Elemente der Kosten- und Preissteigerung, die auf Erhöhung von Steuern, z.B. für Energie, oder auf die Preise unter staatlichem Einfluss (Fahrpreise, Arzneimittel, Krankenversicherung, Mieten etc.) zurückführen.
3.1.1.2
Folgen von Inflation und Deflation
Negative wirtschaftliche Effekte Eine nach innen stabile Währung mit einer niedrigen und nur wenig schwankenden Inflationsrate wird für erstrebenswert gehalten. Die ökonomische Begründung dafür liegt in den negativen Effekten höherer Inflation. Die Erwartung einer bevorstehenden Inflation und deren Beschleunigung können sich bereits heute auf das Handeln der Wirtschaftssubjekte auswirken:
Arbeitnehmer fordern bereits heute höhere Löhne für die Zukunft.
Bei Vertragsabschlüssen, für die auch Zahlungen in der Zukunft anfallen (Arbeits-, Miet-, Ratenkaufverträge etc.), wird die erwartete Inflation bereits „eingepreist“ (FisherEffekt; Krugman, P., Wells, R., 2009a:268).
Wenn die Erwartung einer Inflation sich aufgrund entsprechender historischer Erfahrungen verfestigt hat, dann die Preissteigerungen durch ihre Vorwegnahme künftig herbeigeführt: Es liegt eine sich selbst erfüllende Prophezeiung vor. Dadurch kann es zu einer „Inflationsgewöhnung“ kommen, die nur schwer wieder abzubauen ist. Eine glaubwürdig inflationsstabile Geldpolitik ist für die Erwartung auch künftig stabiler Preise wesentlich. Das Vertrauen in die Zentralbank als Garant der Preisstabilität ist also eine notwendige Bedingung für Preisstabilität. Das Inflationsniveau, das die Wirtschaftssubjekte für die Zukunft erwarten, kann an den Marktzinsen für langfristige Anlagen abgelesen sowie aus Befragungen ermittelt werden (European Central Bank ECB, 2010b:85–98). Wenn die künftige Inflationsrate nicht sicher abgeschätzt werden kann, vermischt sich in der Wahrnehmung der Wirtschaftssubjekte die Veränderung des Preisniveaus mit der Bewegung der relativen Preise; Preise vermitteln damit schlechtere Informationen für Marktentscheidungen für Investoren und Konsumenten. Eine hohe Volatilität der Inflationsraten verunsichert Produzenten in ihrer Planung, so dass sie deshalb Kapazitäten brach liegen lassen; Wachstum und Arbeitsplätze entwickeln sich daher schlechter als es anhand bestehender Kapazitäten möglich wäre. Wird eine anhaltende Geldentwertung befürchtet, dann schichten Anleger ihr Vermögen in solche Formen um, die sie für inflationsstabil halten. Diese „Flucht in die Sachwerte“ wie Immobilien oder Gold führt zu einem Abfluss von Kapital aus produktiver Verwendung und möglicherweise damit zu einer suboptimalen Allokation. Hohe Inflation führt zur Entwertung von Forderungen und damit zur teilweisen Enteignung; es wird Vermögen von Gläubigern an Schuldner umverteilt. Insbesondere gesellschaft-
3.1 Inflation und Geldpolitik
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liche Gruppen mit begrenzter Verhandlungsmacht, wie Rentner und „kleine“ Sparer, werden bei langfristigen Verträgen durch Inflation teilweise enteignet. Allenfalls eine Vorwegnahme von künftig erwarteter Inflation in heutigen Vertragsabschlüssen („Indexierung“) kann dies kompensieren. Der Preis für die „Versicherung gegen Inflation“, z.B. durch Index-Bonds, besteht in höheren Kosten sowie in einer chronischen Verfestigung der Inflationserwartung. Das „historische Gedächtnis“ von Nationen kann zu einer ausgeprägten Abneigung gegen Inflation führen, die sich in der Verankerung einer konsequenten Inflationsbekämpfung in den Gesetzen und Institutionen ausdrückt. Die Deutschen werden hier als Beispiel angeführt: Wegen einer zweimaligen vollständigen Geldentwertung nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg wird ihnen eine „Inflationsaversion“ zugeschrieben. Sie sind daher auch eher bereit für die Sicherung des Geldwertes wirtschaftliche Härten in Kauf zu nehmen („Stabilitätskultur“). Da andere Mitgliedsstaaten der EU zum Thema Inflation eine andere, d.h. entspanntere, Einstellung haben, treten immer wieder – auch im Zentralbankrat der EZB – Konflikte über den richtigen geldpolitischen Kurs auf. Die Vernichtung von Kaufkraft durch Inflation zeigt das Zahlenbeispiel (Tab. 3-1): Liegt die Geldentwertung bei den von der EZB geduldeten 2% pro Jahr, dann haben 100 € nach 10 Jahren nur noch einen realen Wert von 82 €. Steigt die Inflationsrate auf 5%, dann bleiben nach 10 Jahren real nur noch 60 € übrig. Bei 5% Inflation bleiben nach 20 Jahren von 100 € nur noch 36 € an Kaufkraft übrig. Kaufkraftverlust durch Inflation Initialwert 100 € (nominal) Inflation (%) 1% 2% 5% Jahr
10%
Realer Wert in €
1
99
98
95
90
5
95
90
77
59
10
90
82
60
35
15
86
74
46
21
20
82
67
36
12
Eigene Darstellung. Tab. 3-1: Kaufkraftverlust durch Inflation
Inflation und Konjunktur Zwischen dem Inflationsdruck und der Konjunkturlage im Inland gibt es – außer bei der importierten Inflation – einen Zusammenhang: In der Hochkonjunktur (Boom) ist sowohl die Kapazitätsauslastung hoch als auch die Arbeitslosigkeit geringer. In einer solchen Konstellation können die Produzenten höhere Preise für ihre Produkte durchsetzen und die Arbeitnehmer höhere Löhne – die Inflationsgefahr ist damit im Boom höher als in der Rezession. Im Boom ist eine restriktive Geldpolitik erforderlich, um die Inflation zu begrenzen. Die Zentralbank wird die Leitzinsen erhöhen bzw. die Geldmenge verringern um damit die kre-
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3 Die gemeinsame Währung
ditgetriebene Nachfrage zu dämpfen. Als unerwünschter aber unvermeidbarer Nebeneffekt sinken die Nachfrage und damit auch die Produktion und damit verbunden die Zahl der Arbeitsplätze. Offenbar liegt ein Zielkonflikt zwischen Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung vor. Aus dieser Sicht entstand die Illusion, die Wirtschaftspolitik könnte aus einer „geldpolitischen Speisekarte“ wählen: „Etwas mehr Inflation und dafür weniger Arbeitslosigkeit – oder umgekehrt“. Schmerzhafte Wiederherstellung von Preisstabilität Wie ökonomisch kostspielig und schmerzhaft die Reduzierung eines zu hohen Inflationsniveaus (Des-Inflation) sein kann, zeigte sich in den USA in den 80er Jahren, als die Inflationsraten nach beharrlichem Anstieg Werte von über 15% pro Jahr erreichten. Der damalige Präsident der Zentralbank FED (Federal Reserve), Paul Volcker, erhöhte die Zinsen dramatisch, drosselte damit die Konjunktur bis zu einer tiefen, drei Jahre dauernden, Rezession und verursachte so hohe Arbeitslosigkeit und andere wirtschaftliche Verluste. Dieses Vorgehen war der Preis für einen anschließend wieder stabilen Geldwert (Goodfriend, M., King, R. G., 2004). Höhere Inflation als Lösung? Allerdings gibt es zwei Aspekte, die eine „etwas höhere“ Inflationsrate von 4% bis 6% als „Lösung“ in der Schuldenkrise erscheinen lassen. Erstens werden bei Inflation die in nominalen Werten definierten Schulden leichter tragbar, wenn das nominale Einkommen künftig steigt und damit die Relation zwischen laufendem, nominalen Einkommen, aus dem der Schuldendienst geleistet wird, und dem Schuldendienst günstiger wird. Zweitens kann bei Inflation der Reallohn leichter gesenkt werden: Wenn die Preise schneller steigen als die Nominallöhne, sinken die Reallöhne und der Faktor Arbeit wird relativ günstiger und damit mehr nachgefragt; es können dadurch also mehr Arbeitsplätze entstehen. Für diesen „Trick“ muss man allerdings annehmen, dass die Arbeitnehmer der „Geldillusion“ unterliegen: Sie müssen sich an den Nominallöhnen orientieren. Wenn das so ist, dann kämpfen sie nicht um steigende Nominallöhne. In beiden Fällen wird die mögliche positive Wirkung jedoch nicht in vollem Umfang eintreten, wenn sich die Erwartung auch künftig hoher Inflation einstellt. Diese Erwartung wird zu steigenden Zinsen und damit geringeren Investitionen führen. Außerdem ist bei überdurchschnittlicher Inflation mit einer Abwertung der Währung zu rechnen, was ebenfalls zu höheren Zinsen führt. Der vermeintliche Vorteil einer teilweisen Enteignung von Gläubigern durch Inflation wird dadurch geschmälert. Auch Deflation birgt Gefahren Wenn eine höhere Inflation negative wirtschaftliche Effekte hervorbringt, dann darf nicht einfach geschlossen werden, dass deren Gegenteil, die Deflation, positiv oder wünschenswert sei. Wenn das Preisniveau zurückgeht, d.h. wenn der nominale Wert, der für einen Warenkorb bezahlt werden muss, sinkt, dann kann dies die Verbraucher dazu veranlassen, Anschaffungen zu verschieben: „Morgen ist es billiger als heute, lass uns noch abwarten“. Dadurch sinkt die Nachfrage in einer Volkswirtschaft, was weiteren Druck auf die Preise ausübt. Weiterhin bleiben die Schulden aus der Vergangenheit, die als nominaler Wert festgelegt sind, in
3.1 Inflation und Geldpolitik
193
unveränderter Höhe bestehen. Da bei sinkendem Preisniveau auch die künftigen nominalen Einkommen zurückgehen werden, verschlechtert sich die Relation zwischen laufenden Einkommen und Zahlungsverpflichtungen aus Schulden; die Tragfähigkeit der Schulden kann gefährdet sein. Da ein Land die Zone der Deflation meist nach einer Phase mit schwacher Konjunktur erreicht, hat die Zentralbank bereits die Zinsen weit – bis nahe Null – gesenkt. Ein weiterer geldpolitischer Impuls zur Erhöhung der Nachfrage bis zur Steigerung des Preisniveaus ist somit nicht möglich. Daher versucht z.B. Japan die fehlende private Nachfrage durch die Erhöhung der kreditfinanzierten Staatsnachfrage zu ersetzen.
3.1.2
Geldpolitische Stabilisierung der Preise
Kann die Zentralbank die Geldmenge steuern? Kann über die Geldmenge die Inflation verhindert werden? Mit welchen Instrumenten kann die Geldpolitik die Inflation im erwünschten Rahmen halten? Die Geldpolitik versucht, die Inflation im erwünschten Rahmen zu halten; dieser liegt für die Europäische Zentralbank „nahe bei, aber unter 2,0% pro Jahr“. Dazu haben sich unterschiedliche Auffassungen entwickelt, die davon ausgehen, dass
es einen engen Zusammenhang zwischen der Menge an Zentralbankgeld und der gesamtwirtschaftlichen Güternachfrage gibt,
die Zentralbank im Stande ist, das Volumen der Kredite, die in einer Wirtschaft vergeben werden, zu steuern.
Beide Voraussetzungen sind jedoch so nicht (immer) gegeben, was die Instrumente der Zentralbank stumpf werden lässt. Dies zeigt sich u.a. daran, dass die Übertragung geldpolitischer Impulse in die reale Wirtschaft gar nicht oder nicht wie erwartet funktioniert (siehe unten). Die beiden vorherrschenden geldpolitischen Richtungen schlagen vor,
sich auf die Bereitstellung der „richtigen“ Geldmenge (Geldmengensteuerung) zu konzentrieren – die erwünschte Inflationsrate stelle sich als deren Folge ein,
zu versuchen, die erwünschte Inflationsrate direkt anzusteuern (Inflation Targeting), indem die Zentralbank die Zinsen für ihre Geldvergabe an Geschäftsbanken entsprechend steuert.
Zu: Geldmenge und Güternachfrage Nach der Quantitätstheorie des Geldes wird der Menge an Zentralbankgeld, die im Kreislauf verfügbar ist, die entscheidende Rolle zugewiesen. In dieser Sicht wird nicht auf das verfügbare Einkommen, sondern auf das verfügbare Geld abgestellt. Eine zusätzliche Geldmenge führt danach zu zusätzlicher Nachfrage auf den Gütermärkten – und umgekehrt. Es
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3 Die gemeinsame Währung
wird also angenommen, dass die verfügbare Liquidität danach drängt, ausgegeben zu werden. Im Unterschied zur Quantitätstheorie, in der Geld nur als Zahlungsmittel dient, ist in der Theorie der Liquiditätspräferenz Geld außerdem ein Bestandteil des Vermögensportfolios. Zusätzliches Geld kann demnach auch indirekt zu einer Vergrößerung der Güternachfrage führen: Wenn die Anleger vorher ein optimal zusammengesetztes Portfolio hatten, in das von der Zentralbank zusätzliches Geld gegeben wurde, dann besteht ein Geldüberschuss. Die Anleger versuchen daraufhin, das überschüssige Geld in festverzinsliche Wertpapiere (Anleihen) umzutauschen. Dadurch entsteht eine Übernachfrage nach Anleihen, die den Anleihekurs steigert und so die Verzinsung der Anleihen senkt. Diese Zinssenkung setzt sich am Kapitalmarkt durch, so dass auch die Nachfrage nach Investitionsgütern sowie nach kreditfinanzierten Konsumgütern steigt. Weist man der Geldmenge die entscheidende Rolle bei der Steuerung der Güternachfrage zu, dann werden andere Einflüsse auf die Nachfrage vernachlässigt. Erstens tragen die Erwartungen der Haushalte und Unternehmen über ihre künftige Einkommensentwicklung, die Entwicklung der Vermögen sowie die Nachfrage aus dem Ausland zur tatsächlichen Nachfrage bei. Zweitens hängt die Nachfrage nach Investitionsgütern stark vom Kreditvolumen ab, das nicht von der Zentralbank allein, sondern maßgeblich im Finanzsystem generiert wird (Kapitel 3.1.1.1). Die Europäische Zentralbank (EZB) betont, dass es keine eindeutige und feste Beziehung zwischen Geldmenge und Zins einerseits und den zu beeinflussenden gesamtwirtschaftlichen Größen wie Inflation und Wirtschaftswachstum andererseits gibt, bzw. dass eine solche Beziehung nicht hinlänglich bekannt und stabil sei. Zu: „Inflation Targeting“ Da der Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflation empirisch nur schwach ausgeprägt ist (Teles, P., Uhlig, H., 2010), haben Zentralbanken sich in jüngerer Zeit eher an der erwünschten Inflationsrate statt am Wachstum der Geldmenge orientiert. Sie ziehen alle verfügbaren gesamtwirtschaftlichen Informationen heran, um den künftigen Verlauf der Inflation zu prognostizieren. Je nach erwartetem Verlauf kann der Leitzins als „Preis des Geldes“ variiert werden. Mit einer Verringerung des Leitzinses sollen Kredite der Geschäftsbanken an Endkunden verbilligt und damit die kreditfinanzierte Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern angeregt werden. Eine Erhöhung des Leitzinses soll die umgekehrte Wirkung entfalten. Mit der Beeinflussung der Inflationsrate hat die Geldpolitik auch Einfluss auf den Wechselkurs. Bei einer im Vergleich zu anderen Ländern überdurchschnittlichen Inflation oder bei unterdurchschnittlichen Zinsen fließt Kapital in Währungszonen mit höherer Verzinsung. Die Währung, aus der Kapital abfließt, wird verstärkt angeboten und die Währung des Ziellandes verstärkt nachgefragt; dies führt zu einer Abwertung der weniger begehrten Währung. Damit stehen inflationsstabilere Währungen unter einem ständigen Aufwertungsdruck – et vice versa (Kapitel 3.1.3.2). Da die Zentralbank die Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nicht direkt beeinflussen kann, muss sie die geldpolitischen Impulse über aufeinander folgende Stufen in
3.1 Inflation und Geldpolitik
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die Realwirtschaft vermitteln. Die Transmission geldpolitischer Impulse verläuft über verschiedene Kanäle. Die EZB unterscheidet zwei Stufen der Transmission (European Central Bank ECB, 2000; 2008a:63–66): Stufe 1: Der Marktzins ändert sich Die Veränderung des Leitzinses oder der Geldmenge wirkt zuerst auf das Finanzsystem, d.h. auf den Marktzins, auf die Preise für Vermögenswerte, auf den Wechselkurs und damit auf die Möglichkeiten der Privatwirtschaft, Kredite zu bekommen. Es wird angenommen, dass eine Veränderung des Leitzinses sich rasch im kurzfristigen Zinssatz am Geldmarkt widerspiegelt, während die Reaktion der langfristigen Zinsen durch zahlreiche andere Faktoren mit beeinflusst wird; dazu zählen insbesondere die erwartete künftige Inflation sowie das Ausfallrisiko von Krediten. Bei steigenden Zinsen sind die abdiskontierten Werte künftiger Erträge aus heutigen Anlagen geringer sowie die Fremdkapitalkosten von Unternehmen höher; aus beiden Gründen dürfte der Kurs von Aktien bei einer Zinserhöhung fallen. Werden auch die künftigen Zahlungsausfälle wegen einer Erhöhung der Kreditkosten als höher eingeschätzt, können bei einer Zinserhöhung auch die Kurse von Unternehmensanleihen fallen, da der zu zahlende Zins eine höhere Risikoprämie enthält. Die Leitzinserhöhung wirkt auch auf die Zinsen der Banken im Endkundengeschäft durch, sofern diese nicht auf andere Finanzierungsmöglichkeiten ausweichen können; hier wäre an Direktfinanzierung über die Finanzmärkte unter Umgehung der Banken (Investmentfonds) sowie an Kreditaufnahme im Ausland zu denken. Stufe 2: Der Zins beeinflusst die Endnachfrage Die Veränderungen im Finanzsystem beeinflussen dann die tatsächlichen Ausgaben von Investoren und Konsumenten, d.h. die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und damit die Entwicklung des Preisniveaus. Die einzelnen Arten gesamtwirtschaftlicher Ausgaben reagieren unterschiedlich: Die Staatsausgaben sowie die Auslandsnachfrage sind weniger zinselastisch und kapitalintensive Branchen sind stärker von einer Verteuerung der Fremdkapitalzinsen betroffen als personalintensive. Auch Erwartungen an die künftige Konjunkturentwicklung können die Wirkung des Zinses neutralisieren oder verstärken: Vor einem Aufschwung wird auch bei höheren Zinsen investiert, während in eine aufziehende Rezession hinein auch bei gesunkenen Zinsen nicht zusätzlich investiert wird. Die Reaktion der Ausgaben auf eine Vermögensänderung hängt von der Vermögensverteilung in der Bevölkerung ab: Bei breit gestreutem Aktienbesitz kann ein starker Kursanstieg zu einem deutlichen Zusatzkonsum führen, sofern der Anstieg für dauerhaft gehalten wird. Voraussetzungen und Grenzen der Transformation Es wird angenommen, dass die Impulse der Zentralbank von den Geschäftsbanken an die Endkunden weitergegeben werden und mit einer Verzögerung von bis zu zwei Jahren auch
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3 Die gemeinsame Währung
auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durchschlagen. Allerdings gibt es eine Reihe von Gründen, aus denen der Zusammenhang zwischen Liquiditätsversorgung der Volkswirtschaft durch die Zentralbank und Nachfrage nach Geld und Gütern nicht so eng ist, wie es in der Theorie erwartet wird:
Im Zuge der sogenannten Finanzinnovationen sind Banken für ihre Kreditvergabe weniger auf Zentralbankgeld angewiesen: Die Verbriefung (Securitisation), d.h. der Verkauf von Forderungen aus Kreditgeschäften, sowie deren leichterer Zugang zu den Finanzmärkten zur Mittelbeschaffung gibt den Banken zusätzliche Spielräume (European Central Bank ECB, 2010b) – auch wenn die Zentralbank den Geldumlauf verknappen will.
Wenn die Wirtschaftssubjekte sich in einer negativen Wirtschaftslage sehen und bald eine Zinserhöhung erwarten, werden sie zusätzlich von der Zentralbank in Umlauf gebrachtes Geld nicht für Konsum oder Investitionen ausgeben, sondern eine hohe Präferenz für Liquidität haben (Liquiditätsfalle) und dieses zusätzliche Geld daher horten.
Außerdem hat die laufende Wirtschaftskrise demonstriert, dass an entscheidenden Übergangsstellen des Geldflusses Störungen in der Transmission entstehen können (European Central Bank ECB, 2010a: 59–74, bes. Chart 1): Auf dem Geldmarkt leihen sich Banken untereinander kurzfristig Geld, um Abweichungen des tatsächlichen Liquiditätsbedarfs von der Planung auszugleichen. Mit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman’s im August 2008 ist das Vertrauen der Banken untereinander verschwunden und der Inter-Banken-Geldmarkt war eingefroren, was zu systemgefährdenden Liquiditätsengpässen geführt hat. Ein anderer Auftrag – andere Ziele Im Unterschied zur EZB hat in den USA die Zentralbank FED neben der Inflationsbekämpfung auch noch den Auftrag, die wirtschaftliche Entwicklung mit ihrer Geldpolitik zu unterstützen (Ruckriegel, K., Seitz, F., 2002). Im Jahr 2012 hat die FED diskutiert, ob sie nicht ein kombiniertes Ziel anstreben sollte: Eine Inflationsrate von nicht mehr als 3% und eine Arbeitslosenquote von nicht mehr als 7%. Damit hätte die Zentralbank explizit die Verantwortung für die Lage am Arbeitsmarkt, und die Grenze zwischen Geldpolitik und Fiskalpolitik würde verwischt („Die FED auf neuen Wegen“, Handelsblatt 15.11.2012) Weiterführende Literatur
Werner, R. (2011): Economics as if banks mattered – A contribution based on the inductive methodology, in: The Manchester School, 25–38.
European Central Bank ECB (2010b): Monetary policy transmission in the Euro area, a decade after the introduction of the Euro, in: ECB Monthly Bulletin, 5, May, 85–98.
Kuttner, K. N., Mosser, P. C. (2002): The monetary transmission mechanism: Some answers and further questions, in: FRBNY Economic Policy Review, May, 15–26, siehe bes. Abb:16
Europäische Zentralbank (2011a): Die Geldpolitik der EZB, Frankfurt/M.
3.1 Inflation und Geldpolitik
197
European Central Bank ECB (2008b): The implementation of monetary policy in the Euro area – general documentation on Eurosystem monetary policy instruments and procedures, Frankfurt/M.
3.1.3
Wechselkurs
3.1.3.1
Der „richtige“ Wechselkurs
Wie kann ein Wechselkurs festgelegt werden? Hilft der „Big Mac“ bei der Feststellung des „richtigen“ Wechselkurses? Hatte Deutschland ein Problem mit dem Wechselkurs? Das Geld eines Landes gilt in der Regel nur innerhalb der Landesgrenzen als Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel. Wenn nun grenzüberschreitende Geschäfte getätigt werden, dann leistet der Käufer Zahlungen mit einer Währung, die der Empfänger in seinem Land nicht verwenden kann. Daraus folgt die Notwendigkeit, die fremde Währung gegen die eigene einzuwechseln. Bei diesem Wechsel will keine der beiden Seiten einen wirtschaftlichen Nachteil erleiden. Um beurteilen zu können, ob der Umtausch „fair“ ist, muss erstens das Verhältnis festgelegt werden, in dem die nationalen Währungen gegeneinander getauscht werden: Ein Wechselkurs wird benötigt – aber wie wird der „richtige“ Kurs festgelegt? Zweitens ist es wichtig abzuschätzen, ob der Wechselkurs auch in der Zukunft stabil bleiben wird, oder ob das Umtauschverhältnis sich voraussichtlich verändern wird. Solche Auf- oder Abwertungen haben sowohl für die einzelnen Wirtschaftssubjekte als auch für die Volkswirtschaften erhebliche Konsequenzen. Für die Festlegung des Wechselkurses gibt es eine Vielzahl von Systemen (Dieckheuer, G., 2001:233 ff.; Pilbeam, K., 2010, ch. 12). Er kann z.B. „amtlich“ festgelegt und bei Bedarf angepasst werden oder er wird aus dem Angebot und der Nachfrage auf dem Devisenmarkt ermittelt; dort spielen der internationale Güterhandel und spekulative Vermögensbewegungen für Angebot und Nachfrage an Währungen die wichtigste Rolle:
Wurde z.B. ein Exporteur in der Währung des ausländischen Kunden bezahlt, so muss er diese in seine nationale Währung umtauschen, um seine Arbeitskräfte und einheimischen Lieferanten bezahlen zu können.
Weitere Motive, ausländische Währungen zu kaufen oder zu verkaufen, sind erstens die Optimierung des Vermögensportfolios, das nach den Vorstellungen des Anlegers einen bestimmten Anteil anderer Währungen enthalten sollte und zweitens die Verlagerung eines Teils des Vermögens in „sichere“ ausländische Anlageformen (Gold, Rohstoffe). Spekulative Transaktionen können den Wechselkurs am Devisenmarkt kurzfristig stark beeinflussen.
Ein hoher Bestand an Liquidität kann zwischen Ländern mit hohen Zinsdifferenzen im „Carry Trade“ transferiert werden und so zu kurzfristigen, starken Schwankungen des Wechselkurses führen, die nicht durch ökonomische Fundamentaldaten erklärbar sind (Brunnermeier, M. K., Nagel, S., Pedersen, L. H., 2008).
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3 Die gemeinsame Währung
Da der Wechselkurs am Devisenmarkt – zumindest kurzfristig – von spekulativen Bewegungen verzerrt werden kann, ist die Frage zu beantworten, welcher Kurs die Stärke einer Währung mittel- bis langfristig zutreffend abbilden würde. Dazu macht die KaufkraftparitätenTheorie einen Vorschlag (Dieckheuer, G., 2001:293 ff.): Es wird das Verhältnis der Kaufkraft zweier Währungen anhand des Vergleichs der Preise eines Warenkorbs in beiden Währungen herangezogen, um auf dieser Basis den Wechselkurs zu bestimmen. Kostet z.B. ein Warenkorb in Deutschland 100 € und die gleiche Gütermenge und -zusammensetzung in den USA 118 US-$, so ergibt sich anhand dieser Kaufkraftparität (KKP) ein Wechselkurs von 1 € pro 1,18 US-$ bzw. 0,85 € pro 1 US-$. Es wird unterstellt, dass früher oder später der Wechselkurs sich in der Nähe der Kaufkraftparität einstellt. Auch für den internationalen statistischen Vergleich der Kaufkraft ist die Umrechnung verschiedener Währungen nach der Kaufkraftparität besser als ein Vergleich nach dem Devisenkurs. Allerdings bleibt jeweils zu prüfen, ob für die Vergleichsländer überhaupt ähnlich zusammengesetzte Warenkörbe existieren; dieser hängt auch vom Entwicklungsstand eines Landes ab. Die Weltbank koordiniert die Erstellung von einheitlichen Daten nach der Kaufkraftparität für 150 Länder in ihrem „International Comparison Programme“. (Turbulente) Änderungen des Wechselkurses Die Ermittlung der „richtigen“ Wechselkursänderung aus der Inflationsdifferenz eines – mehr oder minder komplexen – Warenkorbes kann allerdings die tatsächlichen Wechselkursturbulenzen nicht befriedigend erklären. So waren die Währungsturbulenzen in der europäischen Nachkriegszeit häufig und schwerwiegend, was durch Inflationsdifferenzen nicht hinreichend erklärt werden konnte (Kapitel 3.4.3.2). Burgernomics Mit einem radikal auf den Big Mac-Hamburger vereinfachten Warenkorb stellt die Zeitschrift ECONOMIST Berechnungen des „richtigen“ Wechselkurses nach der Kaufkraftparität an, indem sie unterstellt, dass dieses homogene Produkt in verschiedenen Ländern der Welt den gleichen Preis erzielen müsste: Weicht der Wechselkurs davon ab, kann auf Über- bzw. Unterbewertung der jeweiligen Währung geschlossen werden, wie das folgende Beispiel zeigt: Preis für einen Big Mac-Hamburger – in US-$ 3,22 – in € 2,94 Wechselkurse ($/€; 31.1.2007) – Devisenkurs 1,30 – Big Mac-Kurs 1,10 Ergebnis: Der € war am Devisenmarkt im Vergleich zu seiner Kaufkraft um 19% überbewertet (1,30/1,10). Die Überbewertung stieg im Juli 2007 auf 22%. Quellen: ECONOMIST, div. Ausgaben; siehe auch Ong, L. L., 2003 sowie Parsley, D. C., Wei, S.-J., 2004; siehe auch Clements, K. W., Y. Lan, et al., 2010).
3.1 Inflation und Geldpolitik
199
Weiterführende Literatur
Jarchow, H.-J., Rühmann, P. (2002): Monetäre Außenwirtschaft, II. Internationale Währungspolitik, Stuttgart.
DeGrauwe, P. (2009): Economics of monetary union, Oxford.
OECD, EUROSTAT (2006b): Eurostat-OECD methodological manual on purchasing power parities, Paris.
The International Comparison Program (ICP) (World Bank) http://siteresources.worldbank.org/ICPEXT/Resources/ICP_2011.html
Pilbeam, K. (2010): Finance and financial markets, Houndsmill, ch. 11.9, ch. 12
3.1.3.2
Wechselkurse, Inflation und Handel
Wer profitiert von einer Abwertung? Ist Inflation eine gute Export- und Wirtschaftsförderung? Fürchten alle Exporteure eine Aufwertung? Eine Änderung des Wechselkurses ist auch immer eine – oft nicht vorhergesehene – Änderung der Geschäftsgrundlage für den internationalen Handel, wie aus der Sicht von Unternehmen mit grenzüberschreitenden Geschäften deutlich gemacht werden kann. Wenn der Preis auf der Basis des „alten“ Wechselkurses kalkuliert wurde, ergeben sich bei Auf- bzw. Abwertungen erhebliche Veränderungen der ursprünglichen Geschäftsgrundlage, wie das folgende (fiktive) Beispiel zeigt. (Fiktives) Beispiel: Aufwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar Ein Maschinenbauunternehmen in Deutschland nimmt von einem US-amerikanischen Kunden den Auftrag zum Bau einer kundenspezifischen Anlage an. Es kalkuliert Kosten von 90.000 € und einen Gewinnaufschlag von 10% (10.000 €). Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beträgt der Wechselkurs 1 € für einen US-$. Es wird ein Festpreis von 100.000 US-$ vereinbart. Die Anlage soll in sechs Monaten ausgeliefert und dann sofort in US-Dollar bezahlt werden. Wie entwickelt sich die wirtschaftliche Situation der beiden Partner, wenn zwischen Vertragsabschluss und Auslieferung der € gegenüber dem US-$ um 10% aufwertet? Der US-amerikanische Kunde zahlt den vereinbarten Betrag (100.000 US-$). Der Lieferant tauscht die erhaltenen US-$ zuhause in Euro ein. Wegen der zwischenzeitlichen Aufwertung des Euro um 10% erhält er pro US-Dollar nicht mehr 1 €, sondern nur noch 0,90 €, m.a.W.: Die vereinbarte und gezahlte Summe von 100.000 US-$ ergibt jetzt nur noch 90.000 €. Damit wurde der Gewinn des Unternehmens durch das „Erstarken“ des Euro aufgezehrt. Wenn der Euro um einen höheren Betrag aufwertet, macht der Lieferant sogar einen Verlust.
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3 Die gemeinsame Währung
Um unliebsame Folgen einer Abwertung auszuschalten, kann der Verkäufer eines „Starkwährungslandes“ die erwartete Abwertung der schwachen Währung des Kunden durch einen entsprechend höheren Preis ausgleichen oder die Fakturierung in seiner eigenen Währung vereinbaren. Mit beiden Strategien wälzt er das Risiko auf den Kunden ab und wird dadurch für diesen teurer. Stattdessen können auch Kurssicherungsgeschäfte (Hedging) getätigt werden, in denen das Währungsrisiko am Kapitalmarkt versichert wird. Dies verursacht zusätzliche Kosten, die entweder den Gewinn des Herstellers schmälern oder den Preis für den Kunden erhöhen. Es werden also nur diejenigen internationalen Geschäfte getätigt, deren geplante Profitrate groß genug ist, um auch bei einer negativen Währungsentwicklung noch eine akzeptable Rendite zu ermöglichen. Weiterhin dürften sich Unternehmen aus Produktbereichen zurückziehen, in denen der Preis wichtiger ist als Qualität und sich auf „anspruchsvolle“, weniger preiselastische, Produkte konzentrieren. Auch die Senkung der Produktionskosten durch Verlagerung von arbeitsintensiven Teilen der Wertschöpfung in Länder mit geringeren Lohnkosten, durch Verhandlungen mit den Beschäftigten über geringere Lohnanstiege können helfen, den Druck aus einer starken Währung aufzufangen. Alle diese Maßnahmen haben letztlich die Industrie in Deutschland gestärkte: Sie konnte ihre Stellung als „Exportweltmeister“ auch mit einer starken D-Mark halten. Die Anpassungslasten dafür trugen insbesondere die geringer qualifizierten Arbeitnehmer durch Verlust von Arbeitsplätzen sowie alle Beschäftigten durch Lohnzurückhaltung. Starke Wechselkursschwankungen wirken sich auf einzelne Unternehmen sowohl im Export von Endprodukten als auch im Import von Vorleistungen aus und können sich sogar gegeneinander aufheben. An den Beispielen zeigt sich auch, dass die Diversifizierung über verschiedene Währungsräume hinweg hilfreich sein kann. Reaktionen auf Ab- und Aufwertungen: Beispiele aus Unternehmen Nach dem partiellen Zusammenbruch des EWS (1992) haben Schwachwährungen gegenüber der D-Mark und dem Französischen Franc zum Teil drastisch abgewertet (aus: „When strength …“, 1996). Der französische Autohersteller Peugeot verlor nach eigenen Angaben pro %-Punkt Abwertung der Lira bzw. des Pfund 35 Mio. FF bzw. 140 Mio. FF seiner Profite. Daimler hat alle Profite in Italien durch die Abwertung verloren und das Unternehmen Grohe 20% seiner Profite. Im Gegensatz dazu hat FIAT gewonnen und auch der britische Hersteller von Gartenausrüstungen Hozelock verbuchte durch die Abwertung steigende Gewinne in Deutschland und Frankreich zu Lasten seiner deutschen Mitbewerber. Es gibt jedoch auch kompensierende Entwicklungen: Deutsche Lieferanten konnten gegenüber den italienischen Abnehmern hohe Preissteigerungen durchsetzen, da der Absatz der italienischen Produzenten wegen der Abwertung der Lira boomte. Der italienische Produzent von Motorradhelmen, Nolan, verkaufte zwar ein Drittel seiner Produkte nach Deutschland, bezog aber sein Rohmaterial nach der Abwertung teurer aus den Niederlanden, so dass sich die Vor- und Nachteile der Lira-Abwertung gegenseitig aufhoben. Die Abwertung des US-Dollar gegenüber dem Euro im Jahr 2007 löste ähnliche Effekte aus (aus: „Neue Weltmacht“, 2007):
3.1 Inflation und Geldpolitik
201
Lufthansa hat zwar in Nordamerika 227 Mio. weniger eingenommen als bei einem DollarKurs wie im Vorjahr, doch unter dem Strich lag die Belastung nur bei netto 28 Mio. Euro, weil knapp ein Viertel der Kosten in Dollar abrechnet wurde (Flugbenzin und Leasingraten). Adidas erwirtschaftet etwa ein Drittel seiner Umsätze in Nordamerika. Da ein großer Teil seiner Produkte von asiatischen Zulieferern kam, die in Dollar abgerechnet wurde, blieb der Verlust begrenzt. ThyssenKrupp kaufte Rohstoffe für die Stahlproduktion nunmehr billiger, da sie in Dollar gehandelt wurden. Auch wurden einige Produkte in den USA hergestellt, so dass Währungsschwankungen für das US-Geschäft nicht ins Gewicht fielen. Abwertung des Euro gegenüber dem US-Dollar im Jahr 2012 Nachdem der Euro gegenüber dem US-Dollar in einem Jahr um 11% abgewertet hatte, konnten deutsche Konzerne bis zur Hälfte ihrer Umsatzsteigerung diesem Effekt zurechnen. Wenn ein großer Teil des zusätzlichen Exports aus europäischer Produktion stammt, ist ein positiver Effekt auf die Unternehmenserträge zu verzeichnen, die jedoch durch Kosten der für diesen Umsatzanteil überflüssigen Währungsabsicherung (Hedging) geschmälert wurden. Auf- und Abwertungen haben nicht nur einzelwirtschaftliche, sondern auch gesamtwirtschaftliche Effekte. Das Gesamtvolumen des internationalen Handels dürfte bei großer Volatilität der Währungen geringer sein als bei stabilen Wechselkursen oder bei Verkäufen innerhalb des gleichen Währungsgebiets (European Commission, 1995a). Die Vorteile internationaler Arbeitsteilung sowie mögliche Skalenerträge für exportierende Unternehmen werden nicht ausgeschöpft. Abwertung zur Exportförderung Die Exporte aus dem Aufwertungsland werden teurer und die aus dem Abwertungsland billiger. Entsprechend dürfte durch eine Aufwertung die Zahl der auf den Export gestützten Arbeitsplätze abnehmen – analog nimmt bei einer Abwertung die Zahl der entsprechenden Arbeitsplätze zu. Hierin liegt auch die Versuchung, durch eine gezielte Abwertung „Arbeitslosigkeit zu exportieren“. Die Kaufkraftparität zwischen zwei Währungen ändert sich dann, wenn sich die Inflationsraten in beiden Ländern unterscheiden: Man kann davon ausgehen, dass in einem Land mit höherer Inflationsrate die Währung abgewertet werden wird, um die Unterschiede in der Kaufkraftentwicklung auszugleichen. Die eine Abwertung auslösende Inflation kann durch eine „Politik des reichlichen Geldes“ von der Zentralbank angeregt werden. Damit werden die Produkte des abwertenden Landes im Ausland billiger, was die Exporte und damit auch die Zahl der Arbeitsplätze zu steigern hilft. Gleichzeitig werden ausländische Güter im Inland teurer, so dass Importe von Vorleistungen und Konsumgütern durch heimische Produkte ersetzt werden. Für die einheimischen Produzenten steigen jedoch die Kosten für importierte Vorleistungen, was ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit sinken lässt und den Inflationsdruck weiter steigert. Eine solche Politik zur Unterstützung der heimischen Produktion wird von den Wählern honoriert, sofern ihnen kurzfristige Erfolge bei
202
3 Die gemeinsame Währung
Arbeitsplätzen wichtiger sind als die Geldwertstabilität; diese Präferenzen hängen auch mit der „Stabilitätskultur“ in einem Land zusammen. Besonders Länder, die an eine hohe Inflation gewöhnt sind, können – zumindest kurzfristig – von Abwertungen profitieren, während exportstarke aber preisstabile Länder von solchen Aktionen ihrer Konkurrenzländer negativ betroffen sind, da ihre Währung im Gegenzug aufwertet. Auf Dauer jedoch ist Abwertung zur Exportsteigerung für die Volkswirtschaft schädlich, da die eigentlichen Ursachen einer Exportschwäche nicht bekämpft werden, so dass die Tendenz entsteht, eine weitere Abwertungsrunde zu starten. Auch kann eine „Inflationsmentalität“ entstehen, in der die Wirtschaftssubjekte die künftig erwartete Inflation in ihre Pläne aufnehmen und so zu einer chronischen Stabilisierung der künftigen Inflation beitragen. Die Gewerkschaften werden dann Lohnforderungen zum Ausgleich des Kaufkraftverlustes stellen. Dadurch geht die durch die Abwertung gewonnene preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wieder verloren (Börsch-Supan, A., Schnabel, R. (Eds.), 1998:221 ff.). Auch bezahlen die abwertenden Länder einen zusätzlichen Preis: Höhere Zinsen, die den Vermögensverlust aus einer Abwertung kompensieren sollen (Kapitel 3.1.3.3). Wenn diejenigen Länder, die von der unfreiwilligen Aufwertung ihrer Währung negativ betroffen sind, ihrerseits ihre Währung abwerten, kann es zu einem „Abwertungswettlauf“ kommen, der letztlich keinem Land einen Vorsprung verschaffen kann, da der Abwertungseffekt relativ ist, d.h. nur im Vergleich zu anderen Ländern wirkt. Außerdem kann es durch ständige Unsicherheit über den künftigen Wechselkurs zu starken Währungsturbulenzen kommen, die wiederum die makroökonomischen Rahmenbedingungen verschlechtern. Nicht nur der Preis zählt In der bisherigen Argumentation wurde unterstellt, dass der Außenhandel überwiegend vom Preis abhängt. Diese einfache Annahme muss jedoch in zweierlei Hinsicht modifiziert werden. Erstens spielt die Konjunktur im Zielland eine erhebliche Rolle für den Export: Wenn die wirtschaftliche Lage in den Ländern der ausländischen Kunden sich verschlechtert, importieren sie weniger. Zweitens ist auch die Preiselastizität der Nachfrage auf einzelnen Teilmärkten verschieden, so dass auf Preisveränderungen, wie sie durch Änderungen des Wechselkurses ausgelöst werden, je nach Marktsegment unterschiedlich reagiert wird. Die D-Mark hat gegenüber anderen Währungen, so auch gegenüber dem US-Dollar, lange Zeit einen Stabilitätsvorsprung gehabt, der zu kräftigen Aufwertungen der D-Mark führte; dies war im Jahr 1995 ausgeprägt (Deutsche Bundesbank, 1997a:43–62; European Commission, 1995a). Zu erwarten war daher ein Rückgang der deutschen Exporte in die USA. In empirischen Untersuchungen zeigte sich jedoch, dass der Einfluss der D-Mark-Aufwertung auf die deutschen Exporte nicht eindeutig war, was folgende Ursachen hat:
Es gibt ein Time Lag zwischen der Bestelltätigkeit und der Auslieferung und es gibt längerfristige vertragliche Bindungen zwischen Lieferant und Abnehmer, so dass die Handelsvolumina nicht sofort auf die Veränderung des Wechselkurses reagieren.
3.1 Inflation und Geldpolitik
203
Wenn die Einschätzung herrscht, dass die Währungsschwankung nur kurzzeitig auftritt, sind die Anpassungskosten relativ hoch und die Anpassung unterbleibt daher innerhalb einer gewissen Schwankungsbandbreite und erwarteter Schwankungsdauer.
Die Exporteure machen Preiszugeständnisse (Pricing to Market) und nehmen eine Verschlechterung ihrer Gewinne in Kauf um Marktanteile zu halten anstatt die Verkaufspreise beizubehalten (Exchange Rate Pass-Through). Diese Strategie ist besonders dann vorteilhaft, wenn die Aufwertung als vorübergehend eingeschätzt wird und die Kosten für ein späteres Zurückgewinnen der Marktanteile hoch sind.
Importeure und Exporteure haben sich durch entsprechende Finanzierungsinstrumente gegen Wechselkursschwankungen versichert und reagieren daher wenig empfindlich.
Der Preis ist für die Nachfrage nicht entscheidend, da für die Kaufentscheidung Gesichtspunkte wie Qualität, Service, langfristige Projektplanung etc. wichtiger sind.
Lucke (1998, 2004) hat die Reaktion der ausländischen Nachfrage nach deutschen Industriegütern auf Schwankungen des Wechselkurses nach den beiden Komponenten „Preiselastizität der Nachfrage“ und „Konjunkturabhängigkeit der Käufer im Zielland“ unterschieden. Sie hat festgestellt, dass die deutschen Unternehmen ihre Exportpreise an den Wechselkurs der D-Mark bzw. des Euro angepasst haben, so dass sie auf Aufwertung oder auf schwache Auslandskonjunktur mit Preissenkungen reagiert haben. Der Verlust an Erlösen wurde mit verschiedenen Strategien kompensiert; dazu zählt auch die relativ ausgeprägte Zurückhaltung der deutschen Gewerkschaften in dieser Zeit: Die deutschen Arbeitnehmer haben die Folgen der starken D-Mark durch Einbußen beim Lohnzuwachs mitgetragen. Die Anpassungen in den einzelnen Branchen sind von deren Besonderheiten mit geprägt: Im Kraftfahrzeugmarkt ist die Elastizität deutlich; hier haben die Produzenten Absatzverluste durch Preiszugeständnisse gemildert und zum Ausgleich mehr billige Vorprodukte, z.B. aus Polen, eingesetzt. Der Maschinenbau reagiert nur schwach auf Änderungen von Wechselkurs und Konjunktur, da es sich hier oft um Sonderfertigungen mit hohem Innovationsgrad und langfristiger Planung von Aufträgen handelt, bei denen die nicht-preisliche Wettbewerbsfähigkeit hoch ist. Die Hersteller von Kraftwerksanlagen sind in einer ähnlichen Lage wie der Maschinenbau. Die chemische Industrie dagegen reagiert zwar stark auf Wechselkurse und Konjunktur, versucht aber Preiszugeständnisse durch die globale Verteilung der Produktion zu vermeiden. In der Unterhaltungselektronik wurden Umsatzeinbrüche durch Preiszugeständnisse und die Nutzung billigerer Vorprodukte gemildert; die Nachrichtentechnik, die vorrangig als Investitionsgut eingesetzt wird, dagegen ist weniger preisreagibel. Die Branche EDV-Anlagen und Büromaschinen ist von ständigem Preisverfall gekennzeichnet; die Hersteller reagieren daher auch sehr stark auf Preisschwankungen. Das Fazit dieser Untersuchung ist: Erstens ist die Auslandskonjunktur wichtiger für den Export als der Wechselkurs und zweitens hängen die Reaktionen der Nachfrager bzw. Produzenten von den Eigenheiten des jeweiligen Marktes ab.
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3.1.3.3
3 Die gemeinsame Währung
Wechselkurse und Zinsen
Wie beeinflussen sich Wechselkurs und Zins? Sind die Reaktionen der Kapitalmärkte auf Abwertungserwartungen immer angemessen? Eine Abwertung scheint eine einfache Lösung für mangelnde Wettbewerbsfähigkeit im Außenhandel zu sein: Die Preise der heimischen Güter sinken im Ausland und der Absatz steigt dadurch. Diese vermeintlich hilfreiche Medizin, die auch mit einer überdurchschnittlichen Inflation einhergehen kann, hat jedoch eine erhebliche Nebenwirkung. Abwertungen verändern nicht nur die Preise im Außenhandel, sondern vernichten auch Vermögen. Der ausländischen Eigentümer von Forderungen oder sonstigem Vermögen in der Währung des Abwertungslandes erleidet einen Verlust in Höhe des Abwertungssatzes. Die Anleger reagieren daher auf die Erwartung einer Abwertung. Erstens verlangen Anleger in einer abwertungsverdächtigen Währung einen Risikoausgleich für den befürchteten Vermögensschaden, indem sie eine höhere Rendite bei Anlagen in dieser Währung verlangen. Dies führt zu steigenden Zinsen für Fremdkapital und damit sinkenden Investitionen und verringerten Wachstumschancen. Die Zinsunterschiede (Spreads) zwischen Anleihen in inflationsgeneigten Ländern (u.a. Italien, Griechenland) und preisstabilen Ländern wie Deutschland vor der Einführung des Euro zeigen diesen Zusammenhang deutlich (Sinn, H.-W., 2010b:7). Zweitens können Anleger ihr Kapital aus einer abwertungsverdächtigen Währung abziehen, wodurch die Nachfrage nach der abwertungsverdächtigen Währung sinkt und folglich auch deren Kurs sinken lässt: Die Prognose einer Abwertung hat sich durch die Reaktion der Wirtschaftssubjekte selbst erfüllt. Die Abwertung durch Kapitalflucht kann in ihrem Ausmaß zu einem Overshooting führen. Als z.B. die internationalen Anleger im Jahr 1997 erwarteten, dass die Währungen der südostasiatischen Staaten bald abwerten würden, zogen viele gleichzeitig ihr Kapital ab, wodurch die Abwertung wesentlich drastischer ausfiel als es aufgrund der ökonomischen Lage angemessen erschien (Hunter, C., G. et al., 1999; Horn, G. A., Schrooten, M., 1999). Im Jahr 2012 zogen die Anleger und Sparer erhebliche Summen von griechischen Banken ab als der Ausstieg Griechenlands aus dem Euro drohte. Diese Kapitalbewegungen sind mit den Mitteln des Internet-Banking reibungsarm und schnell realisierbar: Die Umschichtung von einheimischen Geldanlagen in Fonds mit starkem ausländischem Anteil am Portfolio reicht dafür aus („Bank-run with a mouse klick“).
3.1.3.4
Interne Abwertung
Ist innerhalb eines Währungsgebietes eine Abwertung möglich? Wenn ein Land, das Mitglied einer Währungsunion ist, gegenüber anderen Ländern dieser Währungsunion seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit verliert, kann es diesen Nachteil nicht mit einer Abwertung kompensieren. Aber das Land könnte seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Währungsunion dadurch wieder herstellen, dass es eine „interne Abwertung“ durchführt.
3.2 Verschuldung
205
Die Kosten, also auch die Lohnkosten, müssen gesenkt und die Produktivität erhöht werden. Die Inflationsrate in dem Land muss geringer sein als in Konkurrenzländern, so dass die Löhne und Preise für Güter und Dienstleistungen weniger stark steigen als in den Konkurrenzländern der Währungsunion. In einem Land, das in der Vergangenheit eine überdurchschnittlich hohe Inflationsrate hatte, reicht eine Rückführung der Inflation auf geringere Werte nicht aus: Das Preisniveau selbst muss sinken, d.h. eine Deflation ist erforderlich. Dies trifft jedoch auf erheblichen Widerstand bei den Betroffenen, da die Löhne meist schneller sinken als die Preise, so dass ein realer Verlust an Kaufkraft eintritt. Da eine wirtschaftliche Erholung meist erst mit zeitlicher Verzögerung eintritt, werden zuerst nur die persönlichen Einbußen spürbar. Zweitens würden aufgrund der „Geldillusion“ und der „Risikoaversion“ nominale Rückgänge des Einkommens selbst dann als negativ wahrgenommen, wenn die Kaufkraft gleich bliebe. Eine interne Abwertung wird in sinkenden effektiven realen Wechselkursen abgebildet, bei denen sich die Kaufkraft der Konkurrenzländer gegenüber dem „Abwertungsland“ erhöht – wie es auch bei einer Abwertung des nominalen Wechselkurses der Fall ist. Die sozialen Kosten einer internen Abwertung können hoch sein und bis zu starken Unruhen und gesellschaftlicher Instabilität führen; sie stellen eine der möglichen Konsequenzen des Beitritts zu einer Währungsunion für nicht hinreichend wettbewerbsfähige Länder dar. Außerdem bleiben bei einer internen Abwertung die in nominalen Werten definierten Schulden unverändert, so dass sich die Schuldenlast im Vergleich zu den neuen, geringeren Einkommen erhöht. Die Tragbarkeit der Schulden kann dadurch (weiter) gefährdet werden. Weiterführende Literatur
Chinn, M. D. (2006): A Primer on Real Effective Exchange Rates: Determinants, Overvaluation, Trade Flows and Competitive Devaluation, in: Open economies review, 17, 115–143.
European Commission (2012m): Scoreboard for the surveillance of macroeconomic imbalances, in: European economy, occasional papers, 92, pp. 10–12.
3.2
Verschuldung
Wann sind Schulden von Haushalten, Unternehmen oder Staaten ein Problem? Welche Wirkungen gehen von Verschuldung aus: Auf Einzelne und auf das System? Wachsende Staatsverschuldung ist ein Problem, das in den meisten Demokratien auftritt. Außerdem sind auch die privaten Haushalte und Unternehmen in vielen Ländern sehr hoch verschuldet. Das Thema der Verschuldung ist nicht neu: Reinhart und Rogoff (2009) berichten über 800 Jahre Verschuldung, während Graeber (2012) sogar auf 5000 Jahre zurückblickt. Woher kommt diese Tendenz zur Verschuldung kommt und welche Auswirkungen hat ein nicht mehr nachhaltiger Schuldenstand? Grundsätzlich bringt die Überschuldung von
206
3 Die gemeinsame Währung
Staat, Unternehmen und Haushalten Spillover-Effekte mit sich, so dass die Finanzprobleme durch Ansteckung auf andere Länder übergreifen. Bis zum Ausbruch der Wirtschaftskrise wurde das Thema der Verschuldung öffentlicher und privater Haushalte in der Wirtschaftstheorie und –politik zu wenig beachtet. Bei Unternehmen und Haushalten wurde Verschuldung als individuelles mikroökonomisch definiertes Problem angesehen, das man durch die Abschätzung des erwartbaren Ausfallrisikos vor der Kreditvergabe sowie durch einen dem Risiko angepasster Zinssatz in den Griff zu bekommen meinte. Wenn das Ausfallrisiko eintritt, dann dient die Insolvenzordnung zur Abwicklung. In der Gesamtwirtschaft – zumal in der vereinfachten makroökonomischen Modellwelt – spielten Schulden vermeintlich gar keine Rolle: Die Schulden der Einen werden als die Forderungen der Anderen angesehen; per Saldo heben sie sich zu Null auf. Außerdem wurden Forderungen und Verbindlichkeiten als Teil des Finanzsystems identifiziert, das nach den herkömmlichen Annahmen perfekt funktionieren soll und daher nicht vertieft berücksichtigt werden muss. Nur wenige Wissenschaftler haben frühzeitig auf die Bedeutung der privaten Verschuldung hingewiesen, die das Volumen der öffentlichen Verschuldung in einigen Ländern deutlich übersteigt (Roxburgh, C. et al., 2010; Keen, S., 2011; Pilbeam, K., 2010:235–256; Koo, R. C., 2008). In den wohlhabenden Industrieländern wurden Staatsschulden überwiegend als Wachstumshemmnis oder als unfaire Lastverteilung zwischen den Generationen thematisiert; Staatsbankrotte wurden allenfalls bei weniger entwickelten Volkswirtschaften außerhalb Europas für möglich gehalten und der Fürsorge des IWF überlassen. Seit 2007, d.h. mit dem Ausbruch der Immobilienkrise in den USA, rückt die Einsicht in den Vordergrund, dass eine hohe Verschuldung letztlich das gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftssystem eines Landes sowie über Ansteckungseffekte die gesamte Europäische Union erschüttern kann. Insbesondere der Zusammenhang zwischen dem Finanzsystem und den öffentlichen Haushalten sowie der Realwirtschaft wurde bisher zu wenig gewürdigt. Im Folgenden werden zum Thema Verschuldung einige Aspekte herausgegriffen, die für das Verständnis der „Euro-Krise“ wichtig sind:
Ursachen der Verschuldung von Privaten und Staat
Nachhaltigkeit und Grenzen der Verschuldung
Gesamtwirtschaftliche Folgen (zu) hoher Verschuldung
3.2.1
Ursachen der Staatsschulden
Warum verschulden sich so viele Staaten immer mehr? Die öffentliche Hand kann zur Finanzierung ihrer Aktivitäten nicht nur die laufenden Einnahmen verwenden, sondern auch Kredite aufnehmen. Das Defizit des öffentlichen Haushalts beschreibt die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben eines Jahres, während die Kumulation der noch nicht zurückgezahlten Kredite aus der Vergangenheit als Schuldenbe-
3.2 Verschuldung
207
stand bezeichnet wird. Gewöhnlich werden beide Größen in Relation zum BIP eines Landes gesetzt, um sie international vergleichbar zu machen. Die Entstehung der hohen Schuldenbestände in vielen EU-Mitgliedsstaaten hat verschiedene Ursachen. Steigende Ansprüche an den Staat – auch bei schwachem Wachstum Staatsschulden entstehen, wenn die Nachfrage der Bürger oder einzelner Interessengruppen nach staatlichen Leistungen steigt, ohne dass ihre Zahlungsfähigkeit oder -bereitschaft für diese Leistungen entsprechend mithält. Mit dieser Nachfrage sehen sich Politiker als Anbieter staatlicher Leistungen konfrontiert und sind dann im Wettbewerb um Wählerstimmen bemüht, ihr Angebot jeweils dieser Nachfrage anzupassen. Dabei wird die Finanzierung über Schulden als politisch weniger konfliktreichen Variante der Steuererhöhung meist vorgezogen. Staatliche Leistungen werden eher in Zeiten der Hochkonjunktur politisch beschlossen, da dann eine Finanzierung leicht(er) möglich erscheint. Diese Leistungen werden aber als Ansprüche gesetzlich festgeschrieben, ohne dass dabei eine Kopplung an die Konjunkturlage und die daraus resultierenden Steuereinnahmen vorgenommen würde bzw. werden kann. So lassen sich z.B. das öffentliche Gesundheits- oder Bildungswesen oder die Justiz nicht sinnvoll gemäß der Konjunkturlage aus- und abbauen. Besonders in den Jahren des „Wirtschaftswunders“ wurden in Deutschland sozialpolitische Programme beschlossen, die zu Zahlungsverpflichtungen unabhängig von der Konjunktur und damit der Kassenlage führten; dazu zählen z.B. Arbeitslosengeld, die Verringerung des Renteneintrittsalters, finanzielle Unterstützung von Familien und Sozialhilfe. Einige Zahlungen aus diesen Ansprüchen wachsen bzw. sinken z.T. antizyklisch und stellen damit einen im Grundsatz erwünschten „automatischen Stabilisator“ der Konjunktur dar: Die Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung wachsen in der Rezession und sinken in der Hochkonjunktur. Andere Zahlungen dagegen gewinnen im Zuge langfristiger Strukturveränderungen der Gesellschaf an Gewicht: Mit wachsendem Anteil von (Früh-) Rentner an der Erwerbsbevölkerung wachsen die Zahlungsverpflichtungen auch unabhängig von den Einnahmen des Staates. Die Abschaffung nicht (mehr) aus Einnahmen finanzierbarer staatlicher Leistungen stößt in der Regel auf erhebliche Proteste der Betroffenen und ihrer Lobbyisten, was die Wiederwahl der Regierung gefährden kann. Diese Quelle der Staatsverschuldung ist also eng mit dem Kampf um die politische Macht verbunden, wobei die langfristige ökonomische Sicht ebenso wie das übergeordnete Interesse der gesamten Gesellschaft meist nachrangig bleiben. Vielmehr setzen sich diejenigen Gruppeninteressen durch, die über starken Einfluss auf den parlamentarischen Prozess verfügen; sei es direkt über Lobbyisten oder indirekt über die „veröffentlichte Meinung“ (European Commission, 2008d:140). Kleine Gruppen sind dabei auch deshalb durchsetzungsstark, weil sie ihre Ressourcen auf ein Hauptinteresse konzentrieren, das für sie zentral ist.
208
3 Die gemeinsame Währung
Schuldenabbau im Aufschwung blieb aus Eine zweite Quelle für Staatsverschuldung liegt in einem asymmetrischen Verhalten des Staates im Konjunkturzyklus (Tab. 3-2): Zur Erhöhung der Gesamtnachfrage sind im Abschwung höhere öffentliche Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung als automatische Stabilisatoren erwünscht oder werden als Konjunkturprogramme zusätzlich getätigt (Deficit Spending); auch eine Anregung der Konsumnachfrage durch Steuersenkungen kann versucht werden – mit entsprechenden Belastungen für den Staatshaushalt. Die Finanzierung dieser antizyklischen Politik über Verschuldung ist im Prinzip nach dem Gedanken der keynesianischen Konjunktursteuerung gerechtfertigt. Das Gegenstück dazu, der Abbau von Schuldenbeständen in der Hochkonjunktur, unterbleibt jedoch in vielen Ländern, da die Politik die Ausgaben nicht im erforderlichen Umfang zurückfährt bzw. Steuererhöhungen als unpopulär unterlässt. In der Konsequenz häufen sich über mehrere Konjunkturzyklen hinweg Schulden an. Im Zeitraum 1979 bis 1996 haben sich nur Luxemburg und Großbritannien regelgerecht, d.h. symmetrisch, verhalten: Im Boom hat Großbritannien die Relation der „Staatsschulden zum BIP“ um 30% gemindert und in der Rezession ist diese Kennziffer nur um 4,5% gewachsen. Die größte Gruppe bilden Länder, die in Boom und Rezession gleichermaßen die Kennziffer „Staatsschulden zum BIP“ wachsen ließen, d.h. sie haben immer neue Schulden gemacht. Für Griechenland, Belgien und Italien hatte das bis 1996 zur Kumulation von Staatsschulden geführt, die das BIP eines Jahres deutlich überstiegen. Dieses Verhalten verstößt nicht nur gegen das Konzept keynesianischer Nachfragepolitik, sondern macht auch die Erfüllung des Konvergenzkriteriums „Staatsverschuldung“ schwer bzw. unmöglich. Konjunktur und Staatsverschuldung 1970–1996 Boom 1) Rezession 1) Stand 1996 2) Schulden aus der Rezession im Boom voll abgebaut Luxemburg –23,2 4,2 6,4 Großbritannien –30,0 4,5 54,8 Schulden aus der Rezession im Boom teilweise abgebaut Finnland –8,5 51,6 58,7 Spanien –0,3 54,3 69,6 Schweden –6,8 54,4 77,7 Schulden auch im Boom vermehrt Frankreich 9,2 26,5 56,2 Deutschland 18,5 23,6 60,7 Portugal 12,3 38,1 65,6 Österreich 17,6 32,8 70,0 Dänemark 6,3 51,2 70,2 Irland 3,5 19,5 72,8 Niederlande 5,7 31,2 78,5 Griechenland 41,5 52,7 111,8 Italien 23,1 62,5 123,7 Belgien 8,0 58,3 130,0 1) Veränderung der Relation „Staatsschulden/BIP“ in % 2) Relation „Staatsschulden/BIP“ in % Ende 1996 Nach: European Commission, 1997n, Table 1 Tab. 3-2: Konjunktur und Staatsverschuldung 1970–1996
3.2 Verschuldung
209
Schocks und strukturelle Verwerfungen Eine dritte Ursache hoher Schuldenbestände in der EU singuläre oder strukturelle Ereignisse sein, die zu Defiziten führen. Beispiele dafür sind z.B. die Finanzierung der deutschen Einigung nach 1989 oder die Beseitigung der Schäden nach Naturkatastrophen. Auch die aufholende Entwicklung in der Transformation der mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten erforderte erhebliche staatliche Investitionen und soziale Ausgaben, die aus den laufenden Einnahmen nicht zu decken waren. Ein aktueller Fall ist die geplatzte Immobilienblase in Spanien und Irland nach dem Jahr 2009, die den Staatshaushalt mit einer unvorhergesehenen und extrem hohen Summe für die Sanierung der Banken belastet hat. Auch die Ausrichtung der Olympiade durch Griechenland im Jahr 2004 war wegen der vielfachen Überschreitung des Budgets ein „Schock“ für den griechischen Staatshaushalt. Entscheidend für die weitere Entwicklung der Staatsschulden ist in solchen Fällen, ob der so entstehende „SchuldenSockel“ in der Folgezeit abgebaut wird; hier treten wieder die politischen Widerstände gegen Kürzungen von Staatsausgaben oder Steuererhöhungen auf. Spekulationsblasen, Rettung von Banken und Staatsverschuldung Eine vierte Quelle exzessiver Staatsschulden kann in geplatzten von Spekulationsblasen liegen, die das Eigenkapital der Banken aufzehren und den Staat veranlassen, sich zur Rettung „seiner“ Banken zu verschulden. Dies hat die vorher relativ soliden Staatsfinanzen von Irland und Spanien in nicht mehr am Kapitalmarkt finanzierbare Defizite bzw. Schulden gebracht. Weiterführende Literatur
Buchanan, K. M., Wagner, R. E. (1977): Democracy in deficit – The political legacy of Lord Keynes, New York.
Scherf, W. (2011): Öffentliche Finanzen – Einführung in die Finanzwissenschaft, Konstanz, München.
Blankart, C. B. (2011): Öffentliche Finanzen in der Demokratie, München.
Reinhart, C. M., Reinhart, V. R., Rogoff, K. S. (2012): Public debt overhangs: Advanced-economy episodes since 1800, in: Journal of Economic Perspectives, 26, 3, 69– 86.
3.2.2
Nachhaltigkeit von Staatsschulden
Wie viel Staatsverschuldung ist tragbar? Sind alle Staatschulden in der Statistik enthalten? Öffentliche Schulden sind nicht per se negativ zu bewerten (Scherf, W., 2010). Es kommt aber darauf an, ob sie als nachhaltig bezeichnet werden können. Dies ist dann gegeben, wenn Zinszahlung und Tilgung immer, d.h. auch in der Zukunft, gewährleistet sind. Dieser Aspekt kann anhand einiger Verschuldungsgründe beleuchtet werden. Kreditfinanzierte öffentliche Investitionen gelten als nachhaltig, wenn sie über die Laufzeit der Nutzung hinweg genug
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3 Die gemeinsame Währung
Erträge abwerfen, um den Schuldendienst abzudecken. So wird u.a. der kreditfinanzierte Bau von öffentlicher Infrastruktur begründet. Problematisch ist diese Sicht jedoch dann, wenn die Lebensdauer der Infrastruktur geringer ist als die Laufzeit der Finanzierungen, wie es angesichts der Umweltschäden an Infrastrukturbauten der Fall ist, oder wenn in sich entleerenden Regionen eine überdimensionierte Infrastruktur errichtet wird. Neben öffentlichen Investitionen in „Hardware“ könnten auch Ausgaben für Bildung und Forschung als „Zukunftsinvestition“ bezeichnet werden, da von qualifizierten Bürgern und Innovationen die künftige Wirtschaftsentwicklung abhängt. Selbst die Ausgaben für konsumtive und soziale Zwecke könnten als „Investition in den sozialen Frieden“ verstanden werden, die alternativ fällige Ausgaben für die innere Sicherheit ersetzen sollen. Da es methodisch schwer fällt, den künftigen gesellschaftlichen Ertrag von Staatsausgaben zu ermitteln, ist die Grenze zwischen investiven öffentlichen Ausgaben und anderen Ausgaben nicht klar zu ziehen – das Argument der Investition kann also für eine Vielzahl von staatlichen Ausgaben bemüht werden. Für die Nachhaltigkeit einer Staatsschuld sind drei Faktoren wichtig (Scherf, W., 2011:432– 435; Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose, 2012:62–63):
Wirtschaftswachstum und Steueraufkommen,
Zinsniveau und
künftige Zahlungsverpflichtungen (implizite Staatsschulden).
Wenn die Wirtschaft stark wächst, so sinkt das Volumen der Leistungsverpflichtungen des Staates (Arbeitslosengeld etc.) und das Steueraufkommen steigt. Die Bedienung der heute eingegangenen nominalen Schulden aus einem künftigen, gestiegenen Steueraufkommen wird „leichter“, d.h. die Relation zwischen Schuldenstand und BIP sinkt. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass ein (zu) hoher Schuldenstand das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen kann. Wenn die Wirtschaftssubjekte erwarten, dass der Staat bald die Steuern erhöhen muss, um seine Schulden zu bedienen, geben sie bereits jetzt weniger aus, um sich auf die künftige Steuererhöhung vorzubereiten (Ricardianische Äquivalenz). Der zweite Faktor ist das Zinsniveau, zu dem die Schulden aufgenommen bzw. refinanziert werden. Bei geringen Zinsen ist der Schuldendienst geringer als bei hohen Zinsen. Die Zinsen werden langfristig vereinbart und spiegeln die Erwartungen der Entwicklung des allgemeinen Zinsniveaus und vor allem die Einschätzung des Risikos eines Zahlungsausfalls wider. Da es für Jahrzehnte undenkbar war, dass ein Land der Euro-Zone seine Schulden nicht mehr bedienen kann, wurde das Ausfallrisiko von Staatsanleihen mit Null angesetzt – erst mit dem Ausbruch der Finanzkrise fingen die Kapitalgeber wieder an, Länderrisiken zu differenzieren, was sich an größeren Spreads zeigte. Da auslaufende Staatsanleihen nur dann zurückgezahlt werden können, wenn der Staatshaushalt einen Überschuss ausweist, müssen in der Regel die ausgelaufenen Kredite verlängert, d.h. durch erneute Kredite ersetzt werden (Refinanzierung). Diese Refinanzierung des Schuldenbestandes kann für hochverschuldete Länder wirtschaftlich untragbar werden, wenn die Zinsen ansteigen: Die Zinslast steigt dann selbst bei konstantem Kreditvolumen.
3.2 Verschuldung
211
Künftige Zahlungsverpflichtungen bleiben unbeachtet In der Statistik werden nur die bereits aufgenommenen und noch nicht getilgten Kredite erfasst (explizite Staatsschulden). Darüber hinaus ist bereits heute bekannt – aber nicht in der staatlichen Buchhaltung abgebildet, dass die demografische Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten den Anteil alter Menschen an der Bevölkerung in (fast) allen europäischen Ländern deutlich ansteigen lässt. Daraus ergeben sich zusätzliche Leistungsansprüche an Rentenund Gesundheitssysteme, die von einer schrumpfenden Zahl von Beitragszahlern bedient werden müssen. Sollte die Produktivität den Rückgang der Anzahl der Beitragszahler nicht kompensieren können bzw. sollten die Zahlungen nicht deutlich gekürzt werden, so kann die Lücke zwischen Leistungsempfang und Beitragsaufkommen nur durch Kredite geschlossen werden. Ein zusätzlicher Anspruch an den Staatshaushalt kann sich auch aus Bürgschaften oder aus „Öffentlich-Privaten-Partnerschaften“ ergeben. Die Verpflichtungen einzelner Mitgliedsstaaten im Rahmen der Rettungsschirme gegenüber anderen Euro-Ländern oder der Bankrott von Unternehmen, die Infrastrukturprojekte zusammen mit dem Staat finanziert und gebaut haben, lösen zwar Zahlungsverpflichtungen aus, sind aber nicht in der Statistik enthalten. Transparenz unerwünscht? Im Jahr 2012 verhandelten Europäisches Parlament, Kommission und Rat über die Behandlung impliziter Staatsschulden in der Statistik. Das Volumen wird auf mehrere 100 Milliarden Euro geschätzt. Die Vertreter der Regierungen, vor allem Italiens, Portugals, Frankreichs und Deutschlands, leisteten Widerstand gegen die Offenlegung der impliziten Schulden. Eine Transparenz, so der Abgeordnete des EP, Sven Giegold (2012) scheint unerwünscht. Die statistische Berücksichtigung der künftigen Leistungsansprüche würde also die expliziten um die impliziten Staatsschulden erhöhen. Positive Haushaltssalden in naher Zukunft werden daher erforderlich, um Vorsorge für in der Zukunft liegende Lasten treffen zu können und nicht bereits überschuldet in eine Zeit zu gehen, in der nur zwischen zwei politisch unangenehmen Möglichkeiten gewählt werden kann: Einen Teil der Staatsausgaben über zusätzliche Kredite zu finanzieren oder die Ausgaben für Gesundheits- und Alterssicherung zu beschneiden; letzteres dürfte aus politischen Gründen kaum durchsetzbar sein (Oksanen, H., 2003; Galasso, V., Profeta, P., 2004; European Commission, 2006c, 2006p). Weiterführende Literatur
Lejour, A. M., Lukkezen, J., Veenendaal, P. (2011): Sustainability of government debt in the EMU, in: Meeusen, W. (Ed.): The economic crisis and European integration, Cheltenham, Northampton.
Wyplosz, C. (2007): Debt Sustainability Assessment: The IMF Approach and Alternatives, in: HEI Working Paper, 03.
Moog, S., Raffelhüschen, B. (2011): Ehrbare Staaten? Tatsächliche Staatsverschuldung in Europa im Vergleich, in: Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, 115, Dezember.
212
3 Die gemeinsame Währung European Commission (2012g): The 2012 ageing report: Economic and budgetary projections for the 27 EU member states (2010–2060), European Economy, 2, Brussels.
3.2.3
Private Verschuldung
Ist die Verschuldung von Haushalten oder Unternehmen (immer) abzulehnen? Gibt es einen Unterschied zwischen einzel- und gesamtwirtschaftlicher Sicht bei der Privatverschuldung? Sollen Schulden als Netto- oder Brutto-Werte berücksichtigt werden? Nicht nur die öffentliche Hand verschuldet sich, sondern auch private Haushalte und Unternehmen finanzieren Konsum und Investitionen teilweise über Kredite. Dies ist in einzelwirtschaftlicher Sicht des Kreditnehmers rational, wenn z.B. die Profitrate aus den Investitionen höher ist als die Kapitalkosten, wenn bei Inflationserwartung eine Beschaffung vorgezogen wird (Flucht in Sachwerte) oder wenn die die Finanzierung per Kredit über die Dauer der Nutzung verteilt werden soll. Auch die Überbrückung eines temporären Ausfalls des Einkommens – z.B. bei Arbeitslosigkeit oder bei Bildungsmaßnahmen – kann Anlass für einen Kredit sein. Der Kreditgeber ist bereit, Kapital zu verleihen, wenn er dabei eine Nettoverzinsung erreichen kann, die zumindest der durchschnittlichen Profitrate entspricht und wenn die Bonität des Schuldners in den Zinsen enthalten ist und die zu stellenden Sicherheiten das erwartete Risiko abdecken. In dieser einzelwirtschaftlichen Sicht auf Kredite wird eine Balance zwischen Cashflow und Zahlungsverpflichtungen unterstellt: Zins und Tilgung können jederzeit aus dem Einkommen oder aus dem Verkauf von Vermögen geleistet werden. Zur Beurteilung der Nachhaltigkeit der Verschuldung ist daher nicht die Brutto-, sondern die Nettoverschuldung heranzuziehen, indem die zur Abdeckung des Schuldenbestandes mobilisierbaren Vermögenswerte gegengerechnet werden; Daten zur Nettoverschuldung sind jedoch nicht verfügbar. Da Kreditbeziehungen sich immer auf zukünftige wirtschaftliche Lagen beziehen, d.h. auf Prognosen und Erwartungen aufbauen, können einzelne Verträge auch scheitern: Der Kreditnehmer kann Zins und Tilgung gar nicht, nicht im vollen Umfang oder nicht im vereinbarten Zeitrahmen leisten. Wenn dann das verbliebene Vermögen nicht zur Deckung der Schulden ausreicht, treten die rechtlichen Regelungen zur Insolvenz in Kraft. Ein ausfallender Kredit berührt lediglich zwei Parteien – nicht das gesamte System. Betrachtet man die private Verschuldung jedoch nicht aus einzel-, sondern aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, so ändert sich die Einschätzung: Eine massenhafte Verschuldung kann die Stabilität des Finanzsystems gefährden, wenn dieses für einen gleichzeitigen Ausfall vieler Kredite nicht hinreichend vorgesorgt hat. Zu einem starken Anstieg des Kreditvolumens kann es kommen, wenn (über-) optimistische Haushalte und Unternehmen ihre künftige Einkommens- bzw. Ertragslage überschätzen oder sich von historisch niedrigen Kreditzinsen zur Investition in riskante Anlagen verleiten lassen und die Finanzinstitute das sich dadurch kumulierende Risiko unterschätzen. Wenn die Erwartungen oder gar die tatsächliche Lage sich verschlechtern, sind meist auch die zuvor als Sicherheiten angebotenen Vermögenswerte
3.2 Verschuldung
213
nicht mehr ausreichend, da Notverkäufe deren Kurse sinken lassen. In einer solchen Lage ist es nicht sinnvoll, die bisherigen Vermögen mit den Bruttoschulden aufzurechnen, um so die Nettoverschuldung als Bezugsgröße für die Systemrisiken heranzuziehen. In letzter Konsequenz können viele einzelne Insolvenzen zu einer Systemkrise führen (Kapitel 3.2.4 und 3.8.1). Häufig sind private Spekulationsblasen im Immobiliensektor angesiedelt, da die Banken bereit sind, Kredite gegen das vermeintlich sichere Pfand der Immobilie zu gewähren.
3.2.4
Gesamtwirtschaftliche Folgen hoher Verschuldung
Wenn sich Unternehmen oder private Haushalte einen Kredit besorgen, so scheint dies ausschließlich ein einzelwirtschaftliches Phänomen zu sein: Der Kreditnehmer legt seine Zahlungsfähigkeit dar und bietet ggf. Sicherheiten an und die Bank bewertet das Risiko eines Kreditausfalls und legt entsprechend einen Zins als Preis für den Kredit fest. Die gesamtwirtschaftliche Sicht ergibt sich jedoch nicht einfach aus der Summe aller Kreditverträge, sondern erfordert die Berücksichtigung von positiven Rückkopplungsprozessen und Verflechtungen zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft sowie zwischen Finanzwirtschaft und Staat. Außerdem sind die Verflechtungen in der Finanzindustrie grenzüberschreitend, so dass die Probleme in einem Land zu einer Ansteckung auch in anderen Ländern führen. Wenn hohe Schulden kumuliert sind, führt deren Bedienung und Abtragung zwar zu einer Beeinträchtigung des Wirtschaftswachstums, aber eben auch zur Bewältigung der von den Schulden ausgelösten Krise.
3.2.4.1
Verschuldung und Ansteckung
Auf wen kann sich ein Verschuldungsproblem auch noch auswirken? Sind Schulden ein nationales Problem? Inwiefern sind Staat und Banken „Schulden-Zwillinge“? Finanzindustrie ist weltweit verflochten Diese Verschuldung ist wegen ihrer Gefährdung des Bankensystems kein privates, sondern ein allgemeines, systemisches Risiko. Nach dem Platzen der Spekulationsblase steht ein nicht mehr werthaltiges Vermögen einem Schuldner gegenüber, der nicht mehr im Stande ist, die Kredite zu bedienen; diese können jedoch nicht im erforderlichen Maße abgeschrieben werden, da das Eigenkapital der Banken dafür nicht ausreicht und der Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, die Schulden – zumal aus anderen Mitgliedsstaaten – auf die Schultern künftiger Generationen von Steuerzahlern zu verlagern. Die Banken und andere Finanzinstitutionen sind zudem weltweit untereinander verflochten:
Sie geben und nehmen Kredite untereinander, um ihre Eigengeschäfte zu finanzieren und sind daher auf die Sicherheit ausstehender Kredite von anderen Partnern im Finanzsystem angewiesen. Durch die Verbriefung von Krediten (Immobilien, Autos, Studentendarlehen etc.) wurde das Risiko weltweit gestreut, was allerdings beim Platzen einer Kreditblase entsprechend weltweit zu erhöhtem Abschreibungsbedarf und damit zum Zusammenbruch von Finanzinstitutionen führte.
214
3 Die gemeinsame Währung Banken leihen sich am Inter-Bankenmarkt oder auch Geldmarkt untereinander kurzfristig erhebliche Beträge, um ihre Liquiditätsüberschüsse bzw. -defizite auszugleichen. Diese Geschäfte werden nicht nach sorgfältiger Prüfung des Geschäftspartners, sondern auf Vertrauensbasis abgeschlossen. Als beim Zusammenbruch der Bank Lehman’s in den USA im Jahr 2008 dieses Vertrauen erschüttert wurde, kam der Verkehr am Geldmarkt schockartig zum Erliegen, was dann die befürchteten Probleme auslöste oder bestehende verstärkte.
Aufgrund dieser Verflechtung im Finanzsystem wurden große Finanzinstitute als zu groß, um unterzugehen (Too Big to Fail) bezeichnet, was dann auf kleinere, mit anderen eng verflochtene, Finanzinstitute ausgedehnt wurde, die „zu verflochten sind, um unterzugehen“ (Too Entangeled to Fail) (Blinder, A. S., 2009). Die Banken leiden in einigen Ländern unter ihrer Vergabe von Krediten, die nach dem Platzen der Immobilienblase nicht mehr einbringbar sind und zu erheblichen Abschreibungen zwingen. Dies kann Banken in die Insolvenz treiben, was dann die Forderungen anderer Finanzinstitute an diese Bank wertlos macht und einen international wirksamen Schneeball-Effekt der Herabstufung von Vermögenswerten auslösen kann. Staatsbankrott ist international ansteckend Die Staatsverschuldung oder gar einen Staatsbankrott könnte man als nationales Problem betrachten. Tatsächlich ergeben sich daraus zahlreich grenzüberschreitende Effekte (Spillover Effekte), die den Schaden internationalisieren:
Die hohe Staatsverschuldung eines Landes kann sich auf andere Euro-Länder auswirken, wenn die Verschuldung das Inflationsniveau erhöht und die EZB daraufhin das für alle Länder geltende Zinsniveau erhöht und damit kontraktiv auf deren Konjunktur einwirkt.
Wenn sich an den Finanzmärkten aufgrund der Probleme eines hoch verschuldeten Staates Misstrauen auch gegen andere, verschuldete Staaten, entwickelte, steigen dadurch die Zinsen für Staatsanleihen. Dies verteuert die Kosten der (Re-) Finanzierung nicht nur für den betroffenen Staatshaushalt, sondern auch für andere Länder und verstärkt so das Problem.
Da wegen der internationalen Verflechtung des Finanzsystems und wegen der Abhängigkeit der Staaten von den Banken für ihre Kreditversorgung ein ungeordneter Staatsbankrott zu nicht abschätzbaren Schäden führen kann, haben die überschuldeten Staaten die Möglichkeit, die anderen Länder zur „Rettung“ zu drängen; dies wurde von Mayer (2010: 51) zutreffend als „Bailout Erpressung“ bezeichnet.
3.2 Verschuldung
215
Wann droht Ansteckung (wirklich)? Zyperns Banken sind eng mit dem Bankensystem Griechenlands verflochten. Die Banken Zyperns waren spätestens ab dem Jahr 2012 – auch der Probleme Griechenlands – unterkapitalisiert und baten um Hilfen der EU. Befürworter von Hilfen verwiesen auf die erneute Ansteckung Griechenlands bei einem Bankrott Zyperns, während Gegner der Hilfen diese Gefahr nicht als so groß einschätzten. Da es sich um die Abschätzung zukünftiger Ereignisse handelt, ist die tatsächliche Gefahr nicht eindeutig abschätzbar. Vorsichtige Akteure bevorzugen dann die frühzeitige Gewährung von Hilfen („Schäuble sieht …“, 2013). Banken und Staat als „Schulden-Zwillinge“ Zwischen dem Staatshaushalt und den Geschäftsbanken besteht eine wechselseitige Abhängigkeit:
Banken kaufen große Mengen an Staatsanleihen und sind damit für die Kursentwicklung dieser Papiere wichtig.
Von Regierungen des Sitzlandes wird erwartet, dass sie die Banken im Notfall stützen.
Diese Verflechtung hat sich in der Krise als problematisch erwiesen, wie im Folgenden dargelegt wird. Der Staat erhält seinen Zugang zu frischen Krediten in erheblichem Maße über die Banken, die Staatsanleihen aufkaufen. Aus der Sicht einer Bank war dies lange Zeit ein gutes Geschäftsmodell: Sie nahm z.B. Spareinlagen an und kaufte damit Staatsanleihen aus Ländern mit höherem Zins (Griechenland, Italien, Spanien etc.). Diese Papiere galten lange Zeit als absolut sicher und mussten – im Unterschied zu anderen Forderungen – von den Banken nicht mit Eigenkapital hinterlegt werden. Diese Staatsanleihen konnten von den Banken im Offenmarktgeschäft bei der EZB hinterlegt werden und ergaben so einen weiteren Zugang zum Zentralbankgeld, mit dem die Geschäftsbanken wiederum ihr Geschäftsvolumen mit der Privatwirtschaft ausdehnen konnten. Mit dem Aufbrechen der Schuldenkrise in einigen Staaten galten Staatsanleihen nicht mehr als sicher; seitdem ist es für die Banken weniger reizvoll, Staatsanleihen in ihr Portfolio zu nehmen. Dadurch sinkt die Nachfrage nach diesen Papieren, ihr Kurs fällt und folglich steigen die Zinsen, die der Staat für Kredite zahlen muss. Dies stellt die Tragfähigkeit der Staatsschulden zusätzlich in Frage. Die Banken wiederum sehen den Staat ihres Sitzlandes – auch wenn dies so nicht formell zugesichert ist – als die letzte Rettungsinstanz an, die beim drohenden Zusammenbruch einer Bank diese durch die Injektion von Eigenkapital oder die Aussonderung von Toxic Assets in staatliche Abwicklungsinstitutionen (Bad Bank) retten wird, um den Zusammenbruch des Finanzsystems im Land zu verhindern und die zahlreichen Arbeitsplätze in der Finanzindustrie zu retten. Banken haben aufgrund dieser impliziten Versicherung günstigeren Zugang zu Krediten am internationalen Kapitalmarkt und könnten außerdem dazu neigen, höhere Risiken einzugehen (Moral Hazard). Allerdings ist in Krisenländern wie Irland das Geschäftsvolumen der Banken im Vergleich zum gesamten Staatshaushalt so groß, dass der Rettungsversuch zum Untergang des Staatshaushalts geführt hat.
216
3 Die gemeinsame Währung
Diese Symbiose zwischen Staat und Banken hat zur wechselseitigen Verschlechterung der Situation geführt, als der Versuch einiger Regierungen, die Banken in ihrem Land vor dem Zusammenbruch zu bewahren, sie selbst in erhebliche zusätzliche Verschuldungen trieb, so dass deren Kreditwürdigkeit weiter abnahm und das Zinsniveau für Staatskredite weiter erhöhte. Andererseits gerieten Banken durch Abschreibungen auf Staatsanleihen an den Rand ihrer Eigenkapitalabsicherung – einige brachen zusammen, was die Instabilität des Finanzsystems offen legte und zu einer Kreditverknappung (Credit Crunch) auch für wirtschaftlich gesunde Unternehmen der Realwirtschaft führte (Sachverständigenrat, 2011, Textziffern 226–250, bes. Schaubild 37:138). Ein Lösungsvorschlag für die Lösung der problematischen Verbindung von Staat und Banken wird in der europäischen Banken-Union gesehen (Kapitel 3.8.3.4).
3.2.4.2
Staatsbankrott und Zinsen
Kann ein Staat illiquide und insolvent sein? Wie ist das Zusammenspiel von Zinsen und Staatsbankrott? Bei der Unterscheidung von Illiquidität und Insolvenz ist die Analogie zum Unternehmen hilfreich. Ein Unternehmen ist illiquide, sobald es seine Zahlungsverpflichtungen nicht fristgerecht in voller Höhe erfüllen kann. Es ist insolvent, wenn die Summe der Verbindlichkeiten das verfügbare Vermögen übersteigt. Die verbliebenen Vermögensgegenstände werden dann verwertet, um die Gläubiger anteilig zu befriedigen – das Unternehmen wird aufgelöst. Illiquide ist ein Staat, sobald er seine Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllen kann. Bankrott ist ein Staat, wenn er seine Schulden nicht mehr durch derzeitige oder künftige Einnahmen abdecken kann oder will. Hier zeigt sich, dass die Analogie zwischen Unternehmen und Staat nur begrenzt gilt: Für Staaten ist der Zustand der Insolvenz nicht eindeutig definierbar, da immer Vermögen in der Form von öffentlichen Bauten, Staatsunternehmen, Land, Inseln, Rohstoffen oder Kunstschätzen vorhanden ist. Außerdem kann ein Staat in der Zukunft auf Steuereinnahmen als Anteil an der künftigen Wertschöpfung der Unternehmen und Bürger rechnen (Balcerowicz, L., 2010). Für Buiter (2006:693) ist ein Staat solvent, solange der Nominalwert seiner Schulden kleiner ist als der Gegenwartswert aller seiner künftigen Haushaltsüberschüsse abzüglich der Zinszahlungen. Der Staatsbankrott wird politisch erklärt, sobald die Bevölkerung nicht mehr bereit ist, die Härten zu tragen, die aus der Bedienung von Krediten und aus der Erfüllung von Sanierungsauflagen der Kreditgeber resultieren. Dabei spielt auch eine Rolle, ob die Verteilung der Lasten innerhalb der Gesellschaft als fair und ausgewogen angesehen wird. Die zahlreichen Demonstrationen und die Abwahl von Regierungen in der Euro-Zone seit dem Ausbruch der Krise zeigen dies. Sobald die Sparauflagen die Basisversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln erschweren, können Unruhen das Land bis hin zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung destabilisieren und so die Bedienung der Kredite letztlich unmöglich machen.
3.2 Verschuldung
217
Zinsen und Insolvenzrisiko schaukeln sich gegenseitig auf Die Zinsen, die ein Staat für seine Kredite zahlen muss, sollten – wie üblich – das allgemeine Zinsniveau, die Erwartung der Zinsentwicklung über die Laufzeit des Kredits, die Erwartung über die Entwicklung des Wechselkurses sowie das Ausfallrisiko widerspiegeln. Da das Ausfallrisiko länderspezifisch ist, unterschieden sich die Zinsen der jetzigen Euro-Länder vor der Einführung des Euro voneinander (Abb. 3-4). Die Differenz zwischen den Zinsen eines Landes den Zinsen des Landes mit den besten Aussichten wird Spread genannt. Die Regierung Griechenlands zahlte deutlich mehr Zinsen als die Deutschlands. Auch Italien und Frankreich sowie Spanien und Portugal mussten noch in den 80er Jahren mit hohen Zinsen für ihre höherer Inflation und häufigen Abwertungen bezahlen. Mit der Aussicht auf die Übernahme des Euro verschwanden die Spreads fast vollständig; alle Zinsen näherten sich dem Niveau Deutschlands. Die Finanzmärkte haben die Risiken unterschiedlicher Schuldnerstaaten nicht mehr differenziert: Entweder, weil sie daran glaubten, dass die Mitgliedsstaaten ihre Bemühungen und die Verpflichtung zur Konvergenz politisch und wirtschaftlich auch nach dem Beitritt zum Euro durchhalten würden, oder weil sie mit einer Vergemeinschaftung der Schulden zwischen den Mitgliedsstaaten rechneten – trotz anderweitiger Vorkehrungen im Europäischen Vertrag. Nach dem Ausbruch der Finanzkrise haben die Anleger wieder länderspezifische Risiken in ihren Zinsforderungen abgebildet: Die Spreads stiegen für die als kritisch angesehenen Länder Griechenland, Portugal und Irland wieder deutlich an. Auch Italien und Spanien mussten einen – wenn auch geringeren – Anstieg ihrer Zinsen hinnehmen. Lediglich Österreich und die Niederlande, die schon seit langer Zeit ihre Währung an die D-Mark gekoppelt hatten, behielten das Vertrauen der Anleger. Zins und Risiko
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1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
5
EUROSTAT-Datenbank (27.12.2012), EMU convergence criterion bond yields [irt_lt_mcby_a]
Abb. 3-4: Zins und Risiko – 10-jährige Staatsanleihen
218
3 Die gemeinsame Währung
Das Verschwinden der Spreads nach der Übernahme des Euro bis zum Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Hypothese der „effizienten Finanzmärkte“ (Kapitel 2.3.6.4). Die starke Verbilligung der Kredite ermöglichte einigen Ländern den Aufbau einer erheblichen Verschuldung, die einen Immobilienboom (Irland, Spanien) bzw. öffentlichen und privaten Konsum (Griechenland) finanzierte. Wann ein Staat den Zustand erreicht, dass seine Schuldenlast als zu hoch bewertet werden muss, ist nicht eindeutig festzulegen. Spätestens aber, wenn die Finanzmärkte beginnen, die Nachhaltigkeit der Verschuldung zu bezweifeln, werden sie die Risikoprämie, d.h. den Zinsaufschlag, den sie bei erneutem Kredit verlangen, erhöhen. Dadurch kann eine Spirale aus nicht mehr tragbarer Zinslast, erhöhter Risikoeinstufung und weiter steigenden Zinsen in Gang gesetzt werden, an deren Ende die befürchtete Unfähigkeit steht, die Schulden zu tragen („Sich selbst erfüllende Prophezeiung“). Weiterführende Literatur
Aßmann, C., Boysen-Hogrefe, J. (2012): Determinants of Government Bond Spreads in the Euro Area: In Good Times as in Bad, Kiel.
Deutsche Bundesbank (2011a): Renditedifferenzen von Staatsanleihen im Euro-Raum, in: Monatsbericht, Juni, 29–47.
Favero, C. A., Missale, A. (2012): Sovereign spreads in the eurozone: which prospects for a Eurobond?, in: Economic Policy, 27, 70, 231–273.
3.2.4.3
Schulden-Deflation-Spirale und Wachstum
Sind Schulden gesamtwirtschaftlich mit Forderungen zu verrechnen? Welche Wirkung kann von einem Schuldenabbau ausgehen? Eine hohe Verschuldung privater und öffentlicher Haushalte birgt nicht nur die Gefahr von Systemkrisen, sondern kann auch die Erholung der Konjunktur behindern, wenn Unternehmen, Haushalte und der Staat selbst bei guter Einnahmeentwicklung einen Teil der Mittel nicht als Ausgaben zurück in den Wirtschaftskreislauf geben, sondern zur Sanierung ihrer Bilanzen, d.h. zum Abbau von Schulden verwenden müssen. Auf diese „Schulden-DeflationSpirale“ hat bereits Fisher (1933; auch Shiller, R., J., 2010) im Zusammenhang mit der Großen Depression hingewiesen. Koo (2008) hat diese – zwischenzeitlich fast vergessenen – Einsichten auf die japanische Bilanz-Rezession nach dem Zusammenbruch des japanischen Immobilienmarktes im Jahr 1993 angewandt. Mit der derzeitigen Finanzkrise führt die bestehende Überschuldung zu ähnlichen kontraktiv wirkenden, Schuldenreduktionen (Shiller, R., J., 2010; Keen, S., 2011). Im herkömmlichen Kreislaufmodell einer Volkswirtschaft werden die Stromgrößen eines Jahres dargestellt, aus denen sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ergibt (Krugman, P., Wells, R., 2009b:174–182). In dieser Betrachtung wird die Bedeutung der Schulden und ihrer Veränderung nicht deutlich. Eine Schuldentilgung findet statt, wenn aus den laufenden Einkommen ein Teil für die Rückzahlung von bestehenden Schulden verwendet wird und
3.2 Verschuldung
219
keine Defizite eingegangen werden. Damit stehen für die laufende Nachfrage des Jahres weniger Mittel zur Verfügung, während der Bestand an Schulden schrumpft. Das Wachstum ist wegen der ausfallenden Nachfrage geringer. Dieser Prozess kann als negativer Multiplikator aufgefasst werden, der einen kontraktiven Impuls auf die Wirtschaft ausübt – die Wirtschaft schrumpft und das Preisniveau kann sinken (Deflation). Als Resultat des Schuldenabbaus kann sich durch Schrumpfung des BIP und Deflation sogar die Relation zwischen den nominalen Schuldenbeständen und dem BIP verschlechtern, so dass die Tragfähigkeit der Schulden aus dem künftigen BIP sich trotz oder wegen des Schuldenabbaus verschlechtert. Die Herausforderung besteht darin, die Schulden so weit zu reduzieren, dass das Wachstum wieder anspringen kann. Dazu sind viele unterschiedliche Wege denkbar, die allerdings weder ökonomisch noch politisch eindeutig und leicht gangbar sind: Verminderung der realen Schulden durch Inflationierung, Streichen von Schulden (Haircut), Umschichtung der Schulden auf einen leistungsfähigen Träger etc. In welchem Maß die Verschuldung in den EURO-12-Ländern fortgeschritten ist, zeigt Abb. 3-5. Deutlich wird dabei, dass die Verschuldung des Privatsektors vor allem in Ländern mit einer Immobilienblase die Verschuldung des öffentlichen Sektors deutlich übersteigt. Dies trifft auch auf Länder wie USA oder Australien zu. Dies bleibt so lange unkritisch, wie die mit den Krediten finanzierten und abgesicherten Vermögen, z.B. Immobilien, werthaltig bleiben und die Kredite bedient werden können. Die Verschuldung des privaten Sektors ist ein Hinweis auf die Verwundbarkeit des Finanzsystems. Verschuldung (Relation zum BIP) 2011 Griechenland Italien Portugal Irland Belgien Frankreich Deutschland
Öffentlich
Privat
Österreich Spanien Niederlande Finnland 0
50
100
150
200
EUROSTAT, Datenbankabfrage, 30.10.12, tipsgo10 Abb. 3-5: Öffentliche und private Verschuldung 2011
250
300
350
400
450
220
3 Die gemeinsame Währung
Weiterführende Literatur
Keen, S., Materialien und Anlaysen; http://www.debtdeflation.com/blogs/ .
Ahearne, A., Wolff, G. B. (2012): The debt challenge in Europe, in: Bruegel Working Paper, 02/2012.
Ueda, K. (2012): Deleveraging and monetary policy: Japan since the 1990s and the United States since 2007, in: Journal of Economic Perspectives, 26, 3, Summer, 177– 202.
Roxburgh, C., Lund, S., Wimmer, T., Amar, C., Atkins, C., Kwek, J.-H., Dobbs, R., Manyika, J. (2010): Debt and deleveraging: The global credit bubble and its economic consequences, McKinsey Global Institute.
Shiller, R., J. (2010): Irving Fisher, Debt Deflation and Crises.
Koo, R. C. (2011): The world in balance sheet recession: causes, cure, and politics, in: real-world economics review RWER, 58, 19–37.
3.3
Eigene oder gemeinsame Währung?
Die Wirtschaftsunion mit dem Binnenmarkt und den flankierenden Politiken, wie sie im Maastrichter Vertrag von 1992 beschlossen wurde, hat zum Abbau von Barrieren und damit zur Verschärfung des grenzüberschreitenden Wettbewerbs geführt. Bestehen blieben der Wechselkurs als Scharnier im grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Austausch sowie die nationale Hoheit über Staatsausgaben und Steuereinnahmen (Fiskalpolitik) ebenso über Zinsen und Geldmenge (Geldpolitik). Bei diesem Stand der Integration war zu fragen, ob die Wirtschaftsunion zu einer Wirtschafts- und Währungsunion weiterentwickelt werden sollte, indem eine gemeinsame Währung eingeführt würde. Zur monetären Integration gab es bereits zahlreiche Versuche (Ungerer, H., 1997; Dyson, K., Featherstone, K., 1999). Eine eigene Geldpolitik und eine eigene Währung geben dem Nationalstaat Instrumente zur Steuerung der Wirtschaft an die Hand. Im Land selbst, besonders bei Rezessionen und Arbeitslosigkeit, zur Bekämpfung unerwünscht hoher Inflation und der nominalen Entwertung hoher Schuldenbestände von Privaten und Staat kann die politische Verfügung über die Geldpolitik hilfreich sein. Auf der internationalen Bühne können Geld- und Währungspolitik – tatsächliche oder vermeintliche – Problemlösungen bereitstellen: Beim Verlust der preislichen Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Ausland kann die Währung abgewertet werden. Auch kann die Zentralbank als „Letzte Kreditquelle“ (Lender of Last Resort) dienen, wenn nationale Banken oder die Regierung keine Kredite am freien Kapitalmarkt zu wirtschaftlich tragbaren Bedingungen mehr bekommen. Ein Verzicht auf diese Instrumente durch den Beitritt zu einer Währungsunion mit gemeinsamer Geldpolitik muss also durch Vorteile an anderer Stelle aufgewogen werden – sofern dies überhaupt möglich ist.
3.3 Eigene oder gemeinsame Währung?
221
Eine Währungsunion zwischen entwickelten, aber unterschiedlichen Ländern wurde in Europa ohne historische Vorerfahrung konzipiert und umgesetzt. Die Fachwissenschaft hat zu den Voraussetzungen und Erfolgsaussichten kontrovers diskutiert. Neben Befürwortern der Währungsunion gab es auch ein breites Spektrum an Kritik am Konzept. In Deutschland haben 1992 und 1998 zwei große Gruppen von Fachleuten Manifeste gegen die (zu frühe) Einführung des Euro publiziert (Ohr, R., 2012:26; Cooper, R., 1994:72–81; Bagus, P., 2010:Fn 12; Jonung, L., Drea, E., 2009). Auch von führenden US-amerikanischen Wissenschaftlern, wie Milton Friedman, wurde das Konzept der gemeinsamen Währung skeptisch gesehen und gar deren baldiger Untergang vorausgesagt. Kritisiert wurde u.a., dass
eine gemeinsame Währung nur mit einer gemeinsamen Fiskalpolitik stabil gehalten werden kann,
die Fiskalpolitik durch die 3%-Defizit-Grenze des Stabilitätspaktes nicht genug Raum für antizyklische Maßnahmen hat,
die Länder, die den Euro übernehmen durften, keinen optimalen Währungsraum bilden, da die wirtschaftliche Situation der „starken“ Mitglieder zu unterschiedlich von den „schwachen“ ist („Peripherie gegen Zentrum“),
die einheitliche Geldpolitik bei unterschiedlichen Inflationsraten pro-zyklisch wirkt.
Gegen die – nach ihrer Meinung – zu frühe Einführung des Euro klagten vier Personen vergeblich vor dem deutschen Verfassungsgericht; nachdem sie aber diese Klage verloren hatten, entstand fälschlicherweise der Eindruck, der Euro sei in seiner Konzeption vom obersten deutschen Gericht gebilligt worden (Hankel, W. et al., 1998). Der Schritt von der Wirtschafts- zur Währungsunion sowie deren Ausgestaltung waren und sind nicht ausschließlich fachlich zu begründen: Es handelt sich um ein politisches Projekt, mit dem die Einigung Europas vorangetrieben sowie Kriege und Spaltung in Europa endgültig überwunden werden sollten. Dabei haben der Wunsch Deutschlands nach mehr politischer Integration und der Wunsch Frankreichs nach einer Rückgewinnung geldpolitischen Einflusses gegenüber einer in Europa übermächtigen deutschen Bundesbank zusammengewirkt (Eichengreen, B., 1993; Feldstein, M., 1997; Abelshauser, W., 2010; Bagus, P., 2010; Wyplosz, C., 2006).
3.3.1
Erwartungen an eine gemeinsame Währung
Sollte auf die Vorteile einer eigenen Währung verzichtet werden? Ist die Autonomie über Geld- und Währungspolitik wichtig? Welche Vor- oder Nachteile hat eine gemeinsame Währung? Die Einführung einer gemeinsamen Währung und damit der Verzicht auf nationale Geldund Währungspolitik sind nur dann sinnvoll, wenn die Vorteile einer nationalen Währung durch die gemeinsame Währung mehr als aufgewogen werden. Die Bilanzierung der Vorund Nachteile ist jedoch nicht einfach möglich und mit zahlreichen Unsicherheiten über die möglichen wirtschaftlichen Effekte behaftet. Die Fachwissenschaft hat dazu (noch) keine
222
3 Die gemeinsame Währung
klare Antwort gefunden – die Realität der Krise jedoch stellt einige Nachteile der gemeinsamen Währung zurzeit deutlich heraus. Im politischen Entscheidungsprozess zur Einführung des Euro konnte jedoch allenfalls auf den damals verfügbaren Wissensstand zurückgegriffen werden. Einige der damaligen Überlegungen der Kommission (European Commission, 1990, 1991) sollen hier vorgestellt werden. Die Kommission hatte von der Einführung des Euro vor allem in den folgenden Bereichen erhebliche überwiegend positiv bewertete Auswirkungen erwartet. Auswirkungen auf Effizienz und Wachstum Mit dem Wegfall des Wechselkursrisikos kann auch der diesbezügliche Risikoaufschlag auf die Zinsen wegfallen, was das Wachstum begünstigt. Die Umtauschkosten bei Devisentransaktionen entfallen, wodurch der grenzüberschreitende Wirtschaftsaustausch im Binnenmarkt unterstützt wird. Die Opportunitätskosten einer Devisenvorratshaltung entfallen, und durch die Vergrößerung der langfristigen Transaktionssicherheit können eine Ausweitung des internationalen Kapitalverkehrs und damit mehr Wettbewerb auf dem Kapitalmarkt mit der Folge niedrigerer Zinsen erwartet werden. In dieser Sicht kann der Euro als Vollendung des Binnenmarktes verstanden werden, da dem dort angestrebten freien wirtschaftlichen Austausch keine Schranken durch Währungsturbulenzen auferlegt sind. Auswirkungen auf die Preisstabilität Die gemeinsame unabhängige Zentralbank soll konsequent Preisstabilität als Ziel verfolgen, so dass dies dann auch in denjenigen Mitgliedsstaaten greift, die bisher weniger Wert auf Preisstabilität gelegt haben („Stabilitätsexport“). Der Euro soll mehr Preistransparenz herstellen und durch verschärften internationalen Wettbewerb den Spielraum für internationale Preisdifferenzierung verringern. Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen Die Notwendigkeit, übermäßige Defizite und Schulden abzubauen wird die Handlungsfähigkeit nationaler Regierungen einschränken. Mit dem Wegfall des Wechselkurses als außenwirtschaftlichem Instrument hat der öffentliche Haushalt zusätzliche makroökonomische Anpassungslasten zu tragen. Der sich verschärfende internationale Standortwettbewerb führt dazu, dass sich die Besteuerung verringert. Durch die Zusammenfassung der in nationaler Währung operierenden Finanzmärkte entsteht ein größerer Markt für Staatsanleihen, der damit auch liquider ist und so für Anleger attraktiver. Auswirkungen auf Regionen Neben diesen Bereichen erwartete die EU-Kommission, dass die Einführung des Binnenmarktes und des Euro sich in den Regionen und Ländern unterschiedlich auswirken würden, so dass Ausgleichsmaßnahmen für erforderlich gehalten wurden (Delors, J., 1989a:17). Da der verschärfte Wettbewerb auf größer gewordenen Märkten zu Agglomerationseffekten führen dürfte, war zu erwarten, dass sich Verlierer- und Gewinner-Regionen herausbilden (Ka-
3.3 Eigene oder gemeinsame Währung?
223
pitel 4.2.2). Ein Ausgleich dieser Unterschiede könnte zwar theoretisch durch Mobilität der Arbeitskräfte und des Kapitals erfolgen, aber angesichts relativ geringer internationaler Arbeitsmobilität im Binnenmarkt war dadurch nicht mit nennenswertem Ausgleich zu rechnen. Als Alternative galt ein Finanzausgleich durch Zahlungen an benachteiligte Regionen, der offiziell als Hilfe zur Herstellung größerer Wettbewerbsfähigkeit deklariert wird, aber von Empfängerländern auch als Transfer zur Kompensation von Einkommensunterschieden (miss-) verstanden wird (Kapitel 4.2.5.1). Weiterführende Literatur
DeGrauwe, P. (2009): Economics of monetary union, Oxford. (pros and cons of EMU).
Beetsma, R., Giuliodori, M. (2010): The macroeconomic costs and benefits of the EMU and other monetary unions: An overview of recent research, in: Journal of Economic Literature, 48, 3, September, 603–641.
3.3.2
Asymmetrische Schocks
Welche Ausprägungen können asymmetrische Schocks haben? Könnten Geldpolitik und Wechselkurs hilfreich sein, um Schocks abzufangen? Ökonomische Schocks sind plötzlich auftretende, zeitweilige oder dauerhafte Veränderungen der Nachfrage oder des Angebots, die die bisherigen Pläne und Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte sowie makroökonomische Variable stören können. Symmetrische Schocks treten flächendeckend in allen betrachteten Ländern gleichzeitig und in der gleichen Richtung auf. Asymmetrisch sind Schocks, wenn ihre Wirkung nicht flächendeckend, sondern selektiv in einzelnen Ländern, Regionen oder Branchen auftritt oder wenn die Richtung des Schocks sich in den betrachteten Ländern unterscheidet. Symmetrische Schocks: Kein Problem für eine Währungsunion Für die Einführung einer gemeinsamen Währung sind symmetrische Schocks nicht wesentlich, da darauf eine gemeinsame Geldpolitik mit gleicher Wirkung für jedes Land reagieren könnte, wie an dem folgenden Beispiel deutlich wird: Wenn in den Ländern einer Währungsunion die Nachfrage zurückgeht und in der unterausgelasteten Wirtschaft daher die Arbeitslosigkeit steigt, dann könnte eine für alle Länder einheitliche expansive Geldpolitik helfen. Problematisch wäre die Reaktion auf den symmetrischen Schock eher bei nationalen Währungen: Wenn eines der Länder eine Abwertung herbeiführt, kann es einen Teil seiner Arbeitslosigkeit über steigende Exporte in die anderen Länder verlagern, was einen Abwertungswettlauf auslösen könnte, der letztlich keinem Land mehr einen Vorteil bringt (DeGrauwe, P., 2009:20–21). Bei einer expansiven Fiskalpolitik in nur einem der Länder dürften „Verluste“ auftreten, da ein Teil der zusätzlichen Nachfrage sich auf Importgüter richtet und so dem Land zugutekommt, das keine kreditfinanzierten Zusatzausgaben getätigt hat.
224
3 Die gemeinsame Währung
Asymmetrischer Nachfrageschock bei eigener Währung: Die Lösung von Mundell In einem Land mit eigener Währung kann der Wechselkurs bei einigen Schocks eine hilfreiche Rolle als Anpassungsmechanismus spielen, wie am folgenden Beispiel eines asymmetrischen Nachfrageschocks gezeigt werden kann. Angenommen, es tritt eine plötzliche Veränderung im Geschmack der Konsumenten auf: Sie fragen mehr deutsche Produkte nach und dafür weniger französische; wegen der ungleichen Verteilung des Schocks zwischen beiden Ländern wird er asymmetrisch genannt. Mundell (1961) stellt dar, wie der Wechselkurs den beiden Volkswirtschaften helfen kann, diesen Schock zu verarbeiten: Es ist zu erwarten, dass in Frankreich weniger produziert wird und damit die Arbeitslosigkeit steigt; außerdem wird mehr aus Deutschland importiert. In Deutschland dagegen steigt die Produktion, um die steigende Nachfrage nach deutschen Produkten aus dem Inland und für die zusätzlichen Exporte nach Frankreich zu befriedigen. Dadurch sinkt die Arbeitslosigkeit in Deutschland und es kann zu steigenden Löhnen kommen. Wenn die Kapazitäten in Deutschland vor dem Schock bereits gut ausgelastet waren und nicht schnell genug erhöht werden können, dann wird es in Deutschland inflationären Druck geben. Wie könnte eine Lösung für beide Länder aussehen? Eine Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Franc würde deutsche Produkte in Frankreich verteuern und damit die Exporte aus Deutschland nach Frankreich dämpfen. Darauf sinkt die Produktion in Deutschland, wodurch der inflationäre Druck nachlässt. Französische Produkte werden durch die Abwertung des Franc im Vergleich zu deutschen Produkten billiger und damit wettbewerbsfähiger: Ihre Produktion steigt und die Arbeitslosigkeit in Frankreich sinkt. Damit hat die Anpassung des Wechselkurses beiden Ländern geholfen, die negativen makroökonomischen Auswirkungen des Nachfrageschocks zu verarbeiten. Asymmetrische Schocks: Geldpolitik keine Lösung Kritisch dagegen sind asymmetrische Schocks in einer Währungsunion, da eine gemeinsame Geldpolitik keine länderspezifischen Wirkungen entfalten kann, wohingegen die Wirtschaftspolitik in einem Nationalstaat – zumindest in einigen Fällen – die Möglichkeit hätte, die Wirkungen von Schocks durch den Einsatz landesspezifischer geld- und währungspolitischer Instrumente zu mildern. Der Verlust dieses Instruments kann zu Anpassungslasten in einigen Ländern der Währungsunion führen, die u.a. Forderungen nach Kompensation durch Fiskaltransfers nach sich ziehen könnten. Asymmetrische Schocks umfassen eine Vielzahl von Phänomenen, für die jeweils unterschiedliche Anpassungen geeignet scheinen; keineswegs jedoch ist immer die Geldpolitik geeignet, so dass deren Wegfall auch kein neues Problem aufwerfen kann (OECD, 1999:93; Patterson, B., Amati, S., 1998).
Landesweite Schocks der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage – –
Ein kurzzeitiger Rückgang, wie er z.B. durch den Rückgang der Exporte ausgelöst wird, könnte durch expansive geldpolitische Maßnahmen bekämpft werden. Eine dauerhafte Änderung kann durch Geldpolitik begleitet werden; z.B. in der frühen Phase der Wiedervereinigung Deutschlands durch kontraktiv Politik.
3.3 Eigene oder gemeinsame Währung?
Branchen- oder regionenspezifische Nachfrageschocks –
225
Auf zeitweise (Rückgang des Fleischverbrauchs nach Ausbruch von Tierseuchen) oder permanente (Veränderung des Geschmacks) sektorspezifische Nachfrageschocks kann die Geldpolitik genauso wenig reagieren, wie auf regional oder sektoral konzentrierte Nachfrage- oder Angebotsschocks (Naturkatastrophen, Konzentration schrumpfender Branchen in einer Region). Geldpolitik könnte allenfalls die Probleme überdecken, indem sie z.B. zu einer Abwertung beiträgt, die vorübergehend die preisliche Wettbewerbsfähigkeit im Export verbessert.
Angebotsschocks –
–
Als Reaktion auf einen zeitweisen Anstieg der Ölpreise, einen dauerhaften Anstieg der Löhne oder einen dauerhaften Verlust der Wettbewerbsfähigkeit kann die Geldpolitik nicht reagieren, außer wenn es um die Dämpfung aufkommender Inflation geht. Generell sind entsprechende Reformen der Angebotsbedingungen, etwa durch eine Steigerung der Produktivität oder eine Senkung der Reallöhne, erforderlich.
Wenn sich die Auswirkungen des Schocks auf einen Wirtschaftssektor oder eine Region konzentrieren, sind Maßnahmen der Geld- oder Währungspolitik ungeeignet, da deren Wirkung nicht auf ausgewählte Sektoren oder Regionen konzentriert werden kann. Die Einführung einer gemeinsamen Währung ist in diesen Fällen also kein Nachteil. Alternative Anpassungsmöglichkeiten? Bei landesweit wirkenden Schocks könnten Geld- und Währungspolitik eine Lösung anbieten. Deshalb ist zu fragen, ob in der Währungsunion alternative Instrumente zur Verfügung stehen, da die Geldpolitik vergemeinschaftet und eine Währungsanpassung definitionsgemäß nicht mehr möglich ist. Generell sind drei Handlungsbereiche zu prüfen (European Commission, 1997n; Patterson, B., Amati, S., 1998):
Die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte durch Lohnsenkung sowie Abwanderung in andere Berufe, Branchen oder Regionen,
die Verlagerung der Produktion innerhalb der Währungsunion,
die Kompensation durch Fiskaltransfers,
der Einsatz fiskalpolitischer, expansiver Instrumente.
Bei kurzzeitigen asymmetrischen Schocks auf der Nachfrage- oder Angebotsseite, die mit steigender Arbeitslosigkeit einhergehen, ist nicht mit einer schnellen Senkung der Löhne zu rechnen, da diese in der Regel für einige Zeit vertraglich gebunden sind und Arbeitskräfte Kündigungsschutz haben. Auch werden die Gewerkschaften eine Rolle als „Schockabsorber“ nicht übernehmen. Die Wanderung von Arbeitskräften in andere Länder und/oder Berufe mit besseren Arbeitsmarktaussichten ist kein kurzfristig wirkendes Instrument, zumal die Wanderungsintensität im Binnenmarkt ohnehin gering ist.
226
3 Die gemeinsame Währung
Wenn die Arbeitskräfte in einem Land knapp oder teuer sind oder ein Rohstoff teurer als in einem anderen Land (z.B. Elektrizität), können Unternehmen ihren Standort verlagern. Darüber entscheiden sie meist nicht kurzfristig, da die Realisierung einer Verlagerung hohe Kosten auslöst, die nicht mehr einbringbar sind (Sunk Cost). Außerdem spielen für die Standortentscheidung viele Faktoren eine Rolle, so dass der zu bewältigende Schock für die Unternehmen nicht im Vordergrund stehen muss. Wirtschaftliche Probleme in einem Mitgliedsstaat der EU führen zum Blick über die Grenzen auf den – tatsächlich oder vermeintlich – großen Wohlstand anderer Länder in der EU. Besonders in Gesellschaften mit einem sozialistisch-egalitären Wertesystem werden dann Ansprüche an internationale „Solidarität“ gestellt, die als Transfer von den „Reichen“ zu den „Armen“ verstanden wird. Diese Aufbesserung des Haushalts durch den EU-Nachbarn wird jedoch nicht mit einer Mitsprache über die Haushaltsführung verbunden, die als Einmischung in nationale Hoheitsrechte zurückgewiesen wird. Die Begründung für die Forderung reicht bis zu dem Vorwurf, die Wohlstandsdifferenz sei unfair und zu Lasten des Ärmeren zustande gekommen. Die Fiskalpolitik kann relativ schnell durch Subventionen und Nachfragstützung zum Ausgleich von kurzzeitigen Nachfrageschocks wirksam werden, wenn auch die Vorbehalte gegen deren Wirksamkeit zu beachten sind. Bei langfristigen Nachfrageschocks sowie bei Angebotsschocks ist sie dagegen ungeeignet. In den meisten Mitgliedsstaaten der EU stößt sie außerdem and die Grenzen der zulässigen Defizite bzw. Schulden. Weiterführende Literatur
Patterson, B., Amati, S. (1998): Absorption asymmetrischer Schocks, European Parliament, DG IV, Working paper, Economic Affairs Series, ECON 104 DE.
OECD (1999): EMU: Facts, challenges and policies, Paris.
DeGrauwe, P. (2009): Economics of monetary union, Oxford.
Praussello, F. (2011): Asymmetric shocks and monetary disintegration: the case of the Eurozone, in: Jovanovic, M. (Ed.): International handbook on the economics of integration, Vol. I: General issues and regional groups, Cheltenham, Northampton, 360–377.
3.4
Die Konvergenzkriterien für den Euro
3.4.1
Konvergenz statt „optimaler Währungsraum“
Welchen Ländern soll es gestattet werden, den Euro zu übernehmen? Sollte ein „optimaler Währungsraum“ Voraussetzung für den Euro sein? Sind die Konvergenzkriterien eine geeignete Entscheidungsgrundlage?
3.4 Die Konvergenzkriterien für den Euro
227
Die zentrale Diskussion bei der Konzipierung der Währungsunion behandelte die Frage, welches Land unter welchen Voraussetzungen den Euro einführen sollte. Dabei können stark vereinfacht zwei Positionen unterschieden werden: 1.
Ähnlichkeit vor der Übernahme des Euro
Wirtschaftliche Konvergenz als „Ähnlichkeit“ der Ökonomien wird als Voraussetzung einer einheitlichen Währung betrachtet, da sonst von den Unterschieden in einzelnen Größen unterschiedlicher Druck auf einzelne Länder ausgehen könnte, auf den diese nicht mehr mit einer darauf zugeschnittenen Geldpolitik sowie mit Wechselkursanpassungen reagieren könnten. Die Theorie des optimalen Währungsraums wurde zur Beurteilung vorgeschlagen. 2.
Absicherung gegen Ansteckung und Disziplinierung durch Märkte
Die Mitglieder der Euro-Zone sollten gegen das Überschwappen von makroökonomischen Problemen aus anderen Mitgliedsstaaten durch Regeln im Vertrag geschützt werden, und die Märkte sollten die einzelnen Regierungen so disziplinieren, dass diese keine unangemessene Wirtschaftspolitik verfolgen. Keine der beiden Sichten hat sich bei der Konstruktion der Währungsunion vollständig durchgesetzt. Die für erforderlich gehaltene wirtschaftliche und gesellschaftliche Ähnlichkeit der Mitgliedsstaaten war nicht gegeben; vielmehr unterschieden sie sich z.B.
in realwirtschaftlichen Größen, wie dem Wohlstandsniveau oder den Arbeitslosenquoten,
in institutionellen Regelungen, wie dem Steuersystem und der Organisation der Zentralbank,
in der Wirtschaftsstruktur, d.h. im Anteil einzelner Branchen an der Gesamtwirtschaft,
in der konjunkturellen Lage,
in der „Governance“, d.h. in der Fähigkeit angemessene Regulierungen gesetzlich zu verankern und in der täglichen Praxis durchzusetzen,
im gesellschaftlichen Klima, wie es sich z.B. im Verhältnis der Tarifvertragsparteien und der Stärke von Lobbygruppen bei der Reform der Gesellschaft zu erkennen gibt,
in der Wettbewerbsfähigkeit, wie sie z.B. im Technologiegehalt der Produkte oder in den Aufwendungen für Forschung und Entwicklung zum Ausdruck kommt,
in Vorlieben für bestimmte wirtschaftspolitische Linien sowie in Grundauffassungen, z.B. über die Bedeutung einer „Stabilitätskultur“ und damit über die Bereitschaft, für die Vermeidung der Inflation auch unbequeme wirtschaftspolitische Maßnahmen zu ergreifen, oder in der Haltung zur Umverteilung von Einkommen über Sozialsysteme,
in monetären Größen, wie Inflationsraten, Zinsniveaus und Volatilität des Wechselkurses.
228
3 Die gemeinsame Währung
Alle diese Faktoren können dazu beitragen, dass ein Land sich mehr oder minder gut wirtschaftlich entwickelt und im internationalen Wettbewerb Erfolg hat. Entsprechend kann für jedes Land eine unterschiedliche Geld- und Wechselkurspolitik gewünscht bzw. gebraucht werden. Um die Frage, welcher Mitgliedsstaat wann den Euro einführen muss bzw. darf, entspannte sich in Vorbereitung des Maastrichter Vertrags (1992) eine intensive wissenschaftliche Diskussion. Stark vertreten war die Auffassung, dass sich die Länder so „ähnlich“ sein müssen, dass von den verbleibenden Unterschieden keine erheblichen Spannungen ausgehen. Solche Länder nennt Mundell (1961) einen „optimalen Währungsraum“. In dieser Theorie werden drei Aspekte hervorgehoben: 1.
Symmetrie von makroökonomischen Schocks: Wenn wirtschaftliche Verschiebungen in allen Ländern gleichzeitig, in die gleiche Richtung und mit gleicher Intensität auftreten, dann kann eine einheitliche Geldpolitik alle Länder unterstützen, indem z.B. die Zinsen angepasst werden.
2.
Flexibilität der Arbeitsmärkte: Der Schock in einer Region, wie z.B. der Niedergang einer in dieser Region wichtigen Branche, kann dann durch die Wanderung von Arbeitskräften zwischen Branchen und Regionen aufgefangen werden.
3.
Starke Handelsverflechtung: Eine einheitliche Währung ist dann besonders nützlich, wenn zwischen den Ländern vorher sowohl erhebliche Währungsturbulenzen bestanden als auch ein großer Teil der Produktion grenzüberschreitend gehandelt wurde und daher von diesen Turbulenzen betroffen war.
Mundell (zitiert in DeGrauwe, P., 2006b:714) hat allerdings abweichend von seiner Theorie auch zu bedenken gegeben, dass in einer Welt mit freiem Kapitalverkehr die Wechselkurse nicht nur ein hilfreiches Instrument sein müssen, sondern selbst die Quelle von Schocks sein können, wenn sie durch Währungsspekulationen stark beeinflusst werden. Eine Währungsunion würde dann diese Störungsquelle beseitigen. Diese Sicht hat sich im Verlauf der Konzipierung des Euro durchgesetzt. Länder können sich auf ihre Teilnahme an der Währungsunion vorbereiteten, indem sie z.B. ihre Regulierung des Arbeitsmarktes flexibler machen; so erfüllen sie auch die Kriterien des optimalen Währungsraums besser. Durch einen Beitritt kann sich die Handelsverflechtung vergrößern und die größeren, weil integrierten Kapitalmärkte können zum Ausgleich von Zinsschocks beitragen (DeGrauwe, P., 2006b:715–719; Mongelli, F. P., 2008; Bofinger, P., 1994). Ob die Theorie des optimalen Währungsraums tatsächlich die Auswahl der Euro-Teilnehmer hätte leiten können, ist zu bezweifeln, da der größte Teil der bisher aufgetretenen Schocks in der EU branchen- oder regionenspezifisch war. Es lässt sich also kein Gebiet abgrenzen, innerhalb dessen eine eigene Währung geeignet ist, durch Anpassung des Wechselkurses asymmetrische Schocks abzufangen. Da die Schocks vor der Einführung des Euro nicht entlang von Staatsgrenzen verliefen, fällt bei einer Vereinheitlichung der Währung auch kein Instrument zur Reaktion auf asymmetrische Schocks weg – der Euro schmälert also nicht die
3.4 Die Konvergenzkriterien für den Euro
229
bisherige Fähigkeit der Länder, sich auf Schocks einzustellen (Patterson, B., Amati, S., 1998:15). Ist Deutschland ein „optimaler Währungsraum“? Am Beispiel Deutschlands mit seinen wirtschaftlich unterschiedlich starken Regionen bzw. Bundesländern lässt sich die hypothetische Frage stellen, ob das Bundesgebiet einen optimalen Währungsraum für die D-Mark darstellte, oder ob nicht die Einführung eines „Mecklenburg-Talers“ und „Bayern-Talers“ nach der Währungstheorie besser gewesen wäre als die gemeinsame Währung. Innerhalb der Bundesrepublik Deutschland wird mit dem Bund-Länder-Finanzausgleich in erheblichem Maße Wohlstand umverteilt. Die Teilnehmer an der Währungsunion der EU wurden nicht auf der Grundlage wirtschaftswissenschaftlicher Theorien bestimmt. Vielmehr hat sich die EU in einem politischen Auswahlverfahren auf einige monetäre und fiskalische Kriterien sowie die institutionellen Vorgaben zur Zentralbank als Zugangsschranke geeinigt. DeGrauwe (2009:145) führt die Konvergenzkriterien auf den Druck Deutschlands zurück, das verhindern wollte, dass die EuroMitglieder ihre Tradition der hohen Inflation auf den Euro übertragen; gemeint war hier insbesondere Italien. Konvergenz bei realwirtschaftlichen Kriterien, wie Wachstumsraten oder Arbeitslosenquoten, wurde nicht berücksichtigt, was als grundlegender Fehler der Währungsunion bezeichnet wurde (Wyplosz, C., 2006:216; Schmidt, C., Straubhaar, T., 1995). Die Konvergenzkriterien sind im Artikel 140, Absatz 1 AEU-V sowie im Protokoll Nr. 13 festgelegt. Sie enthalten als finanzpolitische Kriterien das laufende Defizit und den Schuldenstand der öffentlichen Hand, und als monetäre Kriterien die Inflationsrate, die langfristigen Zinsen, die Teilnahme am EWS sowie die Stabilität des Wechselkurses (Tab. 3-3). Es lässt sich ein ökonomischer Zusammenhang der Konvergenzkriterien wie folgt konstruieren: Geldwertstabilität als oberstes Ziel kann nur mit einem geringen Defizit und einem geringen Schuldenbestand erreicht werden, sonst könnten die Regierungen versucht sein, ihre nominale Schuldenlast durch Inflation real zu verringern, was letztlich zu einer Zinssteigerung mit entsprechender Dämpfung von Investitionen führen würde. Niedrige langfristige Zinsen sowie stabile Teilnahme am EWS beweisen das bisherige Vertrauen der Finanzmärkte in die teilnehmenden Währungen. Deshalb ist von ihnen nach dem Beitritt zum Euro auch keine negative Ansteckung zu befürchten. Die strikte Erfüllung der Kriterien wird als „Eintrittskarte zum Euro-Club“ anerkannt. Voll Misstrauen wurden allerdings in der öffentlichen Diskussion die Fragen gestellt, ob erstens die „Eingangskontrolle“ auch streng genug sei und ob zweitens nach Erlangen der Mitgliedschaft weiterhin Disziplin bei der Konvergenz garantiert sei. Auf die einzelnen Kriterien sowie auf ausgewählte Fragen dazu wird in den folgenden Kapiteln eingegangen.
230
3 Die gemeinsame Währung Die Konvergenzkriterien für die Übernahme des Euro Prüfung zur Übernahme Nach der Übernahme
Fiskalische Kriterien Staatsverschuldung
Defizit
Begrenzung auf 60% des BIP Begrenzung auf 60% des BIP (Muss nicht nur von den Euro-Ländern, sondern von allen Mitgliedsstaaten eingehalten werden) Begrenzung auf 3% des BIP Begrenzung auf 3% des BIP; Sanktionen durch Stabilitäts- und Wachstumspakt (Muss nicht nur von den Euro-Ländern, sondern von allen Mitgliedsstaaten eingehalten werden)
Monetäre Kriterien Inflation
Nicht mehr als 1,5%-Punkte über den Inflation im Durchschnitt der Euro-Mitdrei stabilsten Ländern gliedsstaaten von EZB geldpolitisch auf unter 2% begrenzt Wechselkurs und EWS Zwei Jahre Teilnahme am EWS Existiert nicht mehr; Wechselkurs des Euro gegenüber DrittlänKeine willentliche Abwertung dern durch Marktkräfte bestimmt Langfristige Zinsen Nicht mehr als 2%-Punkte über dem Wird nicht mehr beobachtet; Erwartungen Niveau der drei inflationsstabilsten Län- der Marktteilnehmer entscheiden über Zinsder differenzen Nachrichtlich: Institutionelle Voraussetzung Unabhängigkeit der nationalen Zentral- Unabhängige Europäische Zentralbank banken von den Regierungen (EZB) mit alleiniger Zuständigkeit für die Geldpolitik; Verbot der direkten Finanzierung von Staatshaushalten durch die EZB Eigene Darstellung. Tab. 3-3: Die Konvergenzkriterien für die Übernahme des Euro
Diskutiert wurde, ob alle Kriterien gleichrangig sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Denkbar ist, dass sie aufeinander aufbauen, wenn z.B. ein ausgeglichener Staatshaushalt als Voraussetzung für niedrige Zinsen und geringe Inflation angesehen wird. Allerdings kann auch ein Widerspruch zwischen den Kriterien gesehen werden, wenn die Inflation prozyklisch bekämpft wird und in der dadurch vertieften Rezession die Steuereinnahmen sinken, aber die obligatorischen Staatsausgaben steigen: In der Konsequenz gäbe es dann einen Zielkonflikt zwischen Defizit und Inflation. In der öffentlichen Diskussion wurde der Verdacht geäußert, dass die Konvergenzkriterien nicht streng gehandhabt würden, da erstens die Regierungen die Sanierung der Staatshaushalte als politisch zu „unbequem“ vernachlässigen könnten und zweitens kein Land durch den Ausschluss von der Teilnahme am Euro verärgert werden sollte. Daher verlangte die skeptische Öffentlichkeit danach, dass die Kriterien gleichrangig sein sollten und alle gleichzeitig zu erfüllen seien, um das Vertrauen in die Werthaltigkeit der neu zu schaffenden Währung nicht schon vor ihrer Geburt zu beschädigen. „Der EURO wird stark wie die Mark“ war aus diesem Grund ein Slogan der Bundesregierung (BMF (Hrsg.), 1994). Auch die Deutsche Bundesbank als bisheriger Garant für die Stabilität der D-Mark betonte, dass grundsätzlich alle Kriterien gleichrangig seien und keines aufgeweicht werden dürfe, um die Teilnehmerzahl am Euro zu erhöhen (Deutsche Bundesbank, 1995a:104). Diese Sicht nahm
3.4 Die Konvergenzkriterien für den Euro
231
auch der Europäische Rat im Dezember 1995 in Madrid ein: „Eine strikte Anwendung der Konvergenzkriterien bei der Beurteilung, welcher Mitgliedsstaat die notwendigen Bedingungen für die Einführung der einheitlichen Währung erfüllt, wird Vertrauen in die neue Währung schaffen und sowohl die breite Öffentlichkeit als auch die Märkte davon überzeugen, dass sie stark und stabil sein wird“. Weiterführende Literatur
Beetsma, R., Giuliodori, M. (2010): The macroeconomic costs and benefits of the EMU and other monetary unions: An overview of recent research, in: Journal of Economic Literature, 48, 3, 603–641, ch. 2.
Corsetti, G. (2008): A modern reconsideration of the theory of optimal currency areas, in: European economy, economic papers, 308.
DeGrauwe, P. (2009): Economics of Monetary Union. Oxford, ch. 2 and 5
Franzmeyer, F. (Ed.) (1994): Das Konvergenzproblem: Wirtschaftspolitik im Europa von Maastricht, DIW Sonderhefte, 151, Berlin.
3.4.2
Fiskalische Konvergenz
Eine zentrale Forderung im AEU-V ist ein Staatshaushalt ohne übermäßige Staatsverschuldung oder Defizite (Artikel 126 AEU-V). Diese „solide Haushaltsführung“ müssen alle Mitgliedsstaaten, nicht nur diejenigen, die den Euro bereits übernommen haben, einhalten. Die ökonomische Logik hinter dem Verbot zu hoher Schulden behauptet, dass die Schulden zu Inflation führten. Die schuldenfinanzierte Übernachfrage des Staates könne auf die Preise durchschlagen (Hahn, H. J. (Ed.), 1993). Auch könne die Regierung versuchen, durch Druck auf die Notenbank zu einer Lockerung der Geldpolitik und damit zu einer Steigerung der Inflation zu kommen, um so den realen Wert der staatlichen Schuldenlast zu mildern. Weiterhin sei nicht auszuschließen, dass die weniger zinselastische staatliche Kreditnachfrage zu Zinssteigerungen führe, wodurch private Investoren vom Kapitalmarkt verdrängt würden (Crowding out) und die Investitionen sinken könnten (Gale, W.G., Orszag, P.R., 2002; Faini, R., 2006).
3.4.2.1
Grenzen für Defizit und Schuldenstand
Warum ist Haushaltsdisziplin in der Währungsunion wichtig? Ist die Definition der Haushaltsdisziplin sinnvoll? Nach Artikel 126 AEU-V müssen die Mitgliedsstaaten ständig, d.h. auch unabhängig vom Euro-Beitritt, Haushaltsdisziplin wahren. Diese wird nach den folgenden Referenzwerten (Artikel 126 sowie Protokoll Nr. 12) festgestellt:
Das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen darf 3% und
das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen darf 60%
232
3 Die gemeinsame Währung
nicht überschreiten. Diese Werte sind wissenschaftlich nicht begründet und willkürlich gewählt. Rechnerisch ist die Staatsschuldenquote bei einem Defizit von 3% nur konstant zu halten, wenn das Wirtschaftswachstum 5% beträgt (Scherf, 2011:433); dies ist ein ehrgeiziges Wachstumsziel. Die fiskalische Konvergenz könnte anhand dieser Kriterien formal und automatisch geprüft werden; dies haben die Mitgliedsländer als Unterzeichner des Maastrichter Vertrags jedoch nicht gewollt. Vielmehr wurde ein Entscheidungsprozess über die Erfüllung der fiskalischen Konvergenz festgelegt, der dem Rat einen gewollten politischen Ermessensspielraum lässt. Zuerst prüft die Kommission, ob eine erhebliche und dauerhafte Überschreitung der Grenzwerte vorliegt und legt dem Rat eine Stellungnahme vor. Der Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit, ob ein übermäßiges Defizit besteht. Wenn Defizit oder Schuldenstand vom Rat als „übermäßig“ im oben genannten Sinne bezeichnet werden, wird ein Verfahren in Gang gesetzt, das bei der Androhung von Strafe das einzelne Land zur Haushaltsdisziplin zurückbringen soll. Es kann eine Geldbuße von 0,2% bis 0,5% des BIP des „Sünders“ verhängt werden. Der Rat entscheidet mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der gewichteten Stimmen – aber unter Ausschluss des „Sünders“. Entscheidungen im Rat sind immer für politischen „Kuhhandel“ und damit für eine Verwässerung der Kontrolle anfällig. Die Defizit- und Schuldengrenzen gelten auch für die fiskalische Konvergenzprüfung zum Euro-Beitritt: Ein Land darf nur dann dem Euro beitreten, wenn der Rat kein übermäßiges Defizit festgestellt hat. Der politische Gestaltungsspielraum bei den finanzwirtschaftlichen Konvergenzkriterien hat in der öffentlichen Diskussion zu Misstrauen und Ablehnung geführt und den Verdacht genährt, dass letztlich auch „Schwachwährungsländer“ aus politischen Gründen nach einer einmaligen Anstrengung zur Konsolidierung dem Euro beitreten werden, aber danach die Haushaltsdisziplin nicht durchhalten würden und damit die Stabilität der neuen Währung gefährden könnten. Der vermeintlich oder tatsächlich bestehende Mangel an rigorosem Urteil des Rates über die öffentlichen Haushalte spielte auch in den innenpolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland eine Rolle, da die „starke Mark“ aufgegeben werden sollte. Die Vereinbarung eines „Stabilitäts- und Wachstumspaktes“, mit dem über die Regelungen und Sanktionen des Artikel 126 hinaus die Haushaltsdisziplin abgesichert werden sollte, geht auf deutsche Initiative zurück (European Commission, 1997n; Deutsche Bundesbank, 1997f). Der Widerstand Frankreichs gegen eine weitere Dominanz der deutschen „Stabilitätsversessenheit“ in der europäischen Politik, die in der Vergangenheit als „Diktatur der Bundesbank“ beklagt wurde, führte dazu, dass dem ursprünglich geplanten Stabilitätsziel noch ein Wachstums- und Beschäftigungsziel zur Seite gestellt wurde. Der Einstieg in eine europäische Dimension der Beschäftigungspolitik ist also auch auf diesen Kompromiss zurückzuführen (Schatz, K.-W., 2001). Allerdings wurde in den folgenden Jahren die Wachstumsdimension nicht ausgebaut. Flankierend zu den Konvergenzkriterien für Defizit und Schuldenstand hat der Maastrichter Vertrag zwei weitere Sperren gegen den unersättlichen Finanzbedarf der öffentlichen Hand errichtet:
Die öffentliche Hand darf keinen bevorzugten Zugang zu Finanzmitteln bei der Notenbank oder anderen Finanzierungsinstitutionen haben (Artikel 124, 125 AEU-V), son-
3.4 Die Konvergenzkriterien für den Euro
233
dern muss sich wie andere Nachfrager auch am Kreditmarkt zu den dort erreichbaren Konditionen mit Krediten versorgen. Damit muss der jeweilige Staat im Falle einer starken Verschuldung den Rückgang der eigenen Bonität auch mit höheren Zinsen bezahlen bzw. in Zeiten knappen oder teuren Kapitalangebots seine Kreditaufnahme reduzieren.
Letztlich könnten einzelne Mitgliedsstaaten dem Problem des Moral Hazard unterliegen, indem sie sich unverantwortlich hoch verschulden, weil sie erwarten, dass die Gemeinschaft sie aus einer „Verschuldungsfalle“ befreien werde. Um dies auszuschließen, wurde eine „No Bail Out“-Klausel in den AEU-V (Artikel 125) aufgenommen (Eichengreen, B., Wyplosz, C., 1998). Es wurde angenommen, dass die Finanzmärkte die Regierungen disziplinierten, indem sie bei höherem Verschuldungsgrad auch höhere Zinsen als Risikoprämie forderten und so zu hohe Verschuldung mit anschließendem Staatsbankrott verhinderten. Die Reaktionen der Finanzmärkte können auch zu langsam oder zu spät und dann abrupt erfolgen, so dass die Forderung nach Haushaltsdisziplin nicht als überflüssig angesehen wurde (Delors, J., 1989a:20). Allerdings haben die Finanzmärkte die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht differenziert, sondern alle EuroMitgliedsstaaten auf dem gleichen Risiko- und Zinsniveau eingestuft. Von einem drohenden Zusammenbruch der Staatsfinanzen eines Euro-Mitglieds geht jedoch eine erhebliche Ansteckungsgefahr auf die anderen Volkswirtschaften aus, da es zu Turbulenzen im Finanzsektor käme. Es war schon damals zweifelhaft, ob eine Hilfe tatsächlich unterbliebe – die Finanzkrise zeigt, dass Staatschulden tatsächlich auf verschiedenen Wegen „vergemeinschaftet“ werden.
Schulden: „Blinde Flecken“ bei der Einführung des Euro Private Verschuldung Im Vertrag wird nur die Verschuldung des Staates behandelt. Eine hohe Verschuldung privater Unternehmen und Haushalte kann jedoch auch das gesamte Finanzsystem destabilisieren, wie die Krise in Spanien und Irland gezeigt hat. Diese Möglichkeit war jedoch nicht im Fokus des Vertrags bei der Schaffung des Euro-Rahmens. Ansteckung und Staatsbankrott Nicht im Fokus der Diskussion um die Einführung einer gemeinsamen Währung war die Ansteckung, die von Problemen überhöhter Staatsverschuldung in einem Land auf andere Länder ausgehen kann; ein Staatsbankrott war außerhalb des Denkraums. Die Krise hat seit dem Jahr 2010 dieses Problem jedoch als zentrale Gefahr offenbart, als für einige Länder die Schulden nicht mehr tragbar waren. Weiterführende Literatur
European Commission (1993a): Stable money – sound finances. Community public finance in the perspective of EMU, European Economy, 53, Luxembourg.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2007): Staatsverschuldung wirksam begrenzen, Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, Wiesbaden.
234
3 Die gemeinsame Währung Spahn, H. (1997a): Schulden, Defizite und die Maastricht-Kriterien: Eine theoretischempirische Bestandsaufnahme, in: Konjunkturpolitik, 1, 1–15.
3.4.2.2
Stabilitäts- und Wachstumspakt
Warum wurde eine zusätzliche Vereinbarung zur Schuldenbegrenzung für erforderlich gehalten? Mit den vertraglich festgelegten Grenzen für Schuldenstand und Defizit schien die potenzielle Gefährdung des Geldwertes durch höhere Staatsverschuldung eines Landes bereits gebannt, so dass eine weitergehende Absicherung durch die fiskalischen Konvergenzkriterien eigentlich überflüssig war. Der politische Prozess hat jedoch seine eigene Dynamik entfaltet und den fiskalischen Kriterien eine besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen, was zur Einführung einer weiteren „Schutzmauer“ führte, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt. Er sollte die Tendenz zu immer höherer Staatsverschuldung aufhalten. Der Pakt ist nicht Bestandteil des Vertrags, sondern Teil des europäischen Sekundärrechts, d.h. er kann jederzeit mit den üblichen Mehrheiten geändert werden. Dieser Pakt wurde im Lauf der Zeit und besonders mit dem Ausbruch der Krise wiederholt reformiert, da er offenbar seine Funktion nicht erfüllen konnte. In seiner ursprünglichen Fassung sollte der Stabilitäts- und Wachstumspakt die noch bestehenden Spielräume und Unbestimmtheiten des Defizitverfahrens nach Artikel 104 EG-V beseitigen:
Die Mitgliedsstaaten verpflichteten sich, die zeitlichen Spielräume der Artikels 103 und 104 nicht voll zu nutzen, sondern sofort zu reagieren und Informationen zur Verfügung zu stellen. Außerdem sollte der Ausnahmetatbestand der „... schweren Rezession...“ nicht exzessiv genutzt werden. Die Gründe für jeweilige Entscheidungen von Kommission und Rat sollten veröffentlicht werden (Entschließung des europäischen Rates von Amsterdam 1997 über den Stabilitäts- und Wachstumspakt).
Um auch in der Rezession, in der die „automatischen Stabilisatoren“ wirken, nicht die Defizitgrenze zu überschreiten, verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten, in der Hochkonjunktur ausgeglichene oder gar positive Haushalte vorzulegen. Auf dem Weg zu diesem Ziel muss jeder Mitgliedsstaat jährlich ein „Stabilitätsprogramm“ aufstellen, in dem er die einzelnen Maßnahmen sowie die Prognosen über Steuereinnahmen und Staatsausgaben veröffentlicht. Die Mitgliedsstaaten, die den Euro noch nicht eingeführt haben, unterliegen einer ähnlichen Berichts- und Rechenschaftspflicht: Sie müssen ein Konvergenzprogramm vorlegen. Die Einhaltung dieser Programme wird vom Rat überwacht, der bei einer Gefährdung der Zielerreichung den entsprechenden Mitgliedsstaat schon in einer „Frühwarnung“ zum Gegensteuern auffordern kann – weitergehende Interventionsmöglichkeiten in die Fiskalpolitik hat die EU jedoch nicht (VO 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung).
In Artikel 104 EG-V wurden zwei unbestimmte Formulierungen benutzt, nach denen ein Überschreiten der Grenzwerte zulässig ist, wenn es „ausnahmsweise und vorübergehend“ erfolgt. Konkret muss entweder ein „außergewöhnliches Ereignis, das sich der
3.4 Die Konvergenzkriterien für den Euro
235
Kontrolle des Mitgliedsstaates entzieht“ vorliegen, oder ein scharfer Konjunktureinbruch mit einem Rückgang des BIP um 2% hat stattgefunden (VO 1467/97 über die Beschleunigung der Verfahren).
Weiterhin wurden für die einzelnen Schritte nach Artikel 104 (3–11) zur Rüge und Korrektur eines übermäßigen Defizits Fristen definiert, um zu verhindern, dass ein übermäßiges Defizit durch Verschleppung des Verfahrens ohne Sanktion bleibt. Auch das Strafmaß wurde in einem „Bußgeldkatalog“ festgesetzt, da der Vertrag (Artikel 104 (11)) hier nur von „angemessener Höhe“ spricht. Danach kann eine Geldbuße in Höhe von mindestens 0,2% bis maximal 0,5% des BIP verhängt werden.
In diesem Verfahrensablauf ist wiederum das Zusammenspiel von Kommission und Rat wichtig: Die Kommission macht die Analysen und stellt gegebenenfalls den Sachverhalt einer Verletzung des Paktes anhand der Datenlage fest. Die Bewertung der Daten und die Entscheidung über die Einleitung von Maßnahmen liegen aber beim Rat und damit in den Händen eines politisch entscheidenden Gremiums, in dem Länderinteressen in Kompromissen zum Ausgleich gebracht werden. Dieser politische Gestaltungsspielraum ist gewollt – ein Automatismus in der Einleitung von Sanktionen war zwar in der Diskussion, wurde aber letztlich nicht installiert. Bei aller Präzisierung bleiben dennoch grundlegende Fragen der „Schuldenbremse“ für alle Mitgliedsstaaten sowie des Stabilitäts- und Wachstumspaktes für die Euro-Länder offen
Pro-zyklische Wirkung: Ist es makroökonomisch sinnvoll, dass Länder, die bisher auch in Zeiten der Hochkonjunktur keine Haushaltsüberschüsse angesammelt haben und bereits nahe an der Obergrenze der fiskalischen Kriterien liegen, in einen konjunkturellen Abschwung hinein zusätzliche fiskalische Sparanstrengungen unternehmen müssen, was kontraktiv wirkt und den Abschwung verstärken würde?
Geldstrafe vergrößert Schulden: Kann ein Land, das bereits stark verschuldet ist, noch zusätzlich eine nicht unerhebliche Geldstrafe an die EU bezahlen, ohne dadurch seine Problemlage weiter zu verschärfen?
Politischer „Kuhhandel“: Der Pakt ist entstanden, weil die Durchsetzung der fiskalischen Disziplin, die im Vertrag festgelegt ist, als nicht gesichert galt. Ist dann zu erwarten, dass im politischen Verhandlungsprozess im Rat Sanktionen auf der Grundlage des Paktes gegen (mächtige) Mitgliedsstaaten mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden?
Demokratie und Budget: Kann der erhebliche Eingriff in die nationale Fiskalpolitik, wie er durch den Pakt auferlegt werden kann, auf Dauer ohne politische Rechenschaft vollzogen werden? Die Maßnahmen werden von der politisch unabhängigen Kommission ausgelöst und greifen nach Verabschiedung im Rat in die Haushalte einzelner Mitgliedsstaaten ein, ohne dass deren Parlamente gefragt werden; die Folgen dieses Eingriffs werden von den Wählern ihrer Regierung angelastet (DeGrauwe, P., 2006b). Ein nationales Parlament kann sich im Grundsatz immer gegen die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen entscheiden.
236
3 Die gemeinsame Währung Zwang zur Rettung: Bei drohendem Staatsbankrott und daraus resultierenden Ansteckungseffekten sind alle Regeln defacto außer Kraft, wenn der „Sünder“ mit seinem Untergang drohen kann. Die anderen Mitgliedsstaaten sind dann gezwungen, die Schulden auf ein tragbares Maß zu reduzieren, auch wenn dies gegen den Buchstaben der Verträge verstoßen mag.
Das Misstrauen, das letztlich zur Einführung des Paktes führte, hat sich bewahrheitet: Die Staatsschulden waren nicht zu begrenzen und auch die späteren Reformschritte des Paktes konnten dies nicht verhindern (Kapitel 3.6.3.4). Weiterführende Literatur
Blumenwitz, D., Schöbener, B. (1997): Stabilitätspakt für Europa: Die Sicherstellung mitgliedsstaatlicher Haushaltsdisziplin im Europa- und Völkerrecht, Frankfurt/M. u.a.
Brunila, A., Buti, M., Franco, D. (Ed.) (2001): The Stability and Growth Pact – the architecture of fiscal policy in EMU, Basingstoke.
European Central Bank ECB (2008c): Ten years of the stability and growth pact, in: Monthly Bulletin, 10, 53–65.
Allen, F., Carletti, E., Corsetti, G. (Ed.) (2011): Life in the Eurozone with or without sovereign default?, Philadelphia.
3.4.3
Monetäre Konvergenz
3.4.3.1
Konvergenzkriterium: Inflation
Warum wurde eine „Stabilitätskultur“ angestrebt? Das oberste Ziel der gemeinsamen Geldpolitik in Europa ist die Stabilität des Geldwertes, d.h. die Vermeidung von Inflation. Diese strikte Inflationsorientierung wurde in der EU besonders stark von den Deutschen vertreten und politisch durchgesetzt; dies ist auch darauf zurückzuführen, dass Deutschland zweimal eine vollständige Entwertung aller Geldvermögen erlebt hat, was zu einer „kollektiven Inflationswachsamkeit“ geführt hat, die auch als „Stabilitätskultur“ in die institutionellen Regelungen der Geldpolitik Eingang fand. Die „Härte“ der D-Mark wurde von der Bundesbank durchgesetzt, was in den wirtschaftlich verbundenen Nachbarländern einerseits mit Bewunderung aufgenommen wurde und andererseits als „Diktatur der BuBa“ kritisiert wurde. Denn durch das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands in Europa waren die anderen Länder gezwungen, die gleiche strikte AntiInflationspolitik zu verfolgen, um ihre Wirtschaft vor höheren Zinsen und entsprechenden Wachstumseinbußen und ihre Währung vor einem Abwertungsdruck an den Devisenmärkten und daraus folgenden Vermögensverlusten zu schützen. In der Diskussion um die Einführung einer gemeinsamen Währung hat daher auch die Furcht vor einem „weichen“ Euro dominiert. Es wurde davon ausgegangen, dass nur Länder mit geringer Inflation mit ihrem Beitritt die Härte des Euro diesem gefährden würden. Dies war
3.4 Die Konvergenzkriterien für den Euro
237
besonders deshalb politisch umstritten, da einige Mitgliedsländer, z.B. Griechenland und Italien, in der Vergangenheit deutlich höhere Inflationsraten aufgewiesen hatten und damit auch innenpolitisch andersgegangen waren als Deutschland; es wurde ihnen vorgeworfen, nicht über eine „Stabilitätskultur“ nach deutschem Maßstab zu verfügen. Das Bundesverfassungsgericht hat 1993 entschieden, dass der Beitritt Deutschlands zum Euro dann verfassungsgemäß sei, wenn der Euro in eine „Stabilitätsgemeinschaft“ eingebettet würde (BVerfG 89, 155, Leitsätze). Dies ist nach der Auffassung des Gerichts durch die Konvergenzkriterien gegeben. Das Konvergenzkriterium gilt als erfüllt, wenn ein Mitgliedsstaat eine während des letzten Jahres vor der Prüfung gemessene durchschnittliche Inflationsrate aufweist, die um nicht mehr als 1,5 Prozentpunkte über der Inflationsrate jener – höchstens drei – Mitgliedsstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben. Das Kriterium beschreibt also nicht einen absoluten Wert für die höchstens zulässige Inflationsrate, sondern hebt auf den „Gleichschritt“ der Mitgliedsländer ab. Dahinter steckt die Annahme, dass Länder mit stark voneinander abweichenden Inflationsraten nicht spannungsfrei in einer gemeinsamen Währung bleiben können: Erstens müssten Inflationsdifferenzen nach der Theorie der Kaufkraftparität des Wechselkurses Druck in Richtung von Auf- bzw. Abwertungen auslösen, und zweitens kann eine einheitliche europäische Geldpolitik nach der Einführung des Euro nicht auf individuelle Inflationsraten einzelner Länder eingehen, sondern muss für den gesamten Euroraum konzipiert werden. Weiterführende Literatur
Häder, M., Niebaum, H. (1997): EWU und Stabilitätskultur aus institutionenökonomischer Sicht, in: Wirtschaftsdienst, 77, 2, 94–98.
Steuer, W. (1997): Gibt es eine europäische Stabilitätskultur?, in: Wirtschaftsdienst, 77, 2, 86–93.
3.4.3.2
Konvergenzkriterium: Wechselkurs und EWS-I
Was drückt sich in der spannungsfreien Teilnahme am EWS aus? Darf ein Land vor der Übernahme des Euro seine Währung abwerten? Stabile Wechselkurse dokumentieren Konvergenz Der Wechselkurs einer Währung ist erstens eine mögliche „Waffe“ im Handel mit anderen Ländern: Durch eine Abwertung kann ein Land sich – zumindest vorübergehend – Vorteile verschaffen. Zweitens ist der Wechselkurs, wie er sich am Markt bildet, ein Indikator für das Vertrauen des internationalen Kapitals in die wirtschaftliche Stabilität eines Landes: Bei hohem Vertrauen wird die Währung nicht abgestoßen, so dass es nicht zu einer Abwertung kommen muss. Für die künftigen Mitglieder in der Währungsunion werden beide Ursachen für eine Abwertung nicht akzeptiert. Sie müssen ihre Konvergenz auch dadurch zeigen, dass sie in den letzten Jahren einen stabilen Wechselkurs aufwiesen und vor allem dürfen sie nicht von sich aus gegen Währungen anderer EU-Mitglieder abgewertet haben. Aber auch jene
238
3 Die gemeinsame Währung
Mitgliedsstaaten der EU, die den Euro noch nicht eingeführt haben, müssen sich um die Stabilität des Wechselkurses ihrer Währung bemühen. Vorige Stabilisierungsversuche (EWS) waren erfolglos Diese Bemühungen um stabile Wechselkurse durch eine gemeinsame Währungspolitik werden in der europäischen Nachkriegsgeschichte schon länger verfolgt. Die jeweiligen Lösungsansätze wurden jeweils für die Lösungen von Problemen ihrer Zeit entwickelt. Als das von US-Amerika dominierten Bretton Woods System in den siebziger Jahren zusammenbrach schwankten die Wechselkurse der Währungen frei und z.T. spekulativ-turbulent gegeneinander. Daraufhin versuchten die Europäer, innerhalb Europas eine Zone der Währungsstabilität zu bilden: Die Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen sollten durch entsprechende Wirtschaftspolitik sowie durch Interventionen der Zentralbanken am Devisenmarkt in einem engen Korridor zueinander gehalten werden. Dieses System hat sich nicht bewährt, und es kam immer wieder zu starken Währungsturbulenzen (Abb. 3-6). Der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und der sein französischer Kollege, Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing, propagierten daraufhin das „Europäische Währungssystem“ (EWS), das im März 1979 in Kraft trat. Für jeweils ein Währungspaar wurde ein bilateraler Kurs festgelegt, um den die beiden Währungen nur in einer Bandbreite von +/- 2,25% schwanken sollten; für die italienische Lira war von vornherein ein weiterer Korridor (+/- 6%) vorgesehen. Drohte eine Währung ihren Korridor aufgrund von Marktkräften zu verlassen, sollten die Notenbanken durch koordinierte Devisenmarktinterventionen gemeinsam die Stabilität der Wechselkurse sichern: Die abwertungsbedrohte Währung wurde aufgekauft und so ihr Überangebot vom Markt abgeschöpft, während die aufwertungsverdächtige Währung aus den Devisenreserven der Notenbanken auf den Markt geworfen wurde. So sollten Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten derart beeinflusst werden, dass sich das vorherige Gleichgewicht für die einzelnen Währungen wieder einstellen würde. Flankierend sollte durch die Koordination der nationalen Wirtschaftspolitiken, besonders durch antiinflationäre Politik, Zinspolitik und Kapitalverkehrskontrollen eine Stabilisierung der Wechselkurse unterstützt werden: Wenn die wirtschaftlichen Fundamentaldaten keinen Ab- oder Aufwertungsdruck erzeugen, muss auch am Devisenmarkt gar nicht erst interveniert werden. Eine Änderung der vereinbarten bilateralen Wechselkurse sollte nur im Konsens der beteiligten Regierungen erfolgen, womit auch keine einseitige Abwertung zur Stützung des heimischen Exports mehr erlaubt war. Andererseits war es auch wichtig, die Wechselkurse der einzelnen Währungen rasch zu korrigieren und an die Marktverhältnisse anzupassen (Realignment), um für mögliche Spekulationen gegen einzelne Währungen keinen Spielraum einzuräumen. Diese Anpassungen fanden jedoch aus politischen Gründen nicht immer schnell genug statt, so dass es wegen erheblicher Fehlspezifikationen einzelner Wechselkurse (Misalignment) zu Spekulationsattacken gegen Währungen kam, denen die Notenbanken letztlich machtlos gegenüberstanden.
3.4 Die Konvergenzkriterien für den Euro
110
239
Abwertung gegenüber der DM, 1965-1998 (1965=100)
100 90
AT
80
NL
70 AT=Österreich
60
ES=Spanien
50
F=Frankreich
40
F
IT=Italien NL=Niederlande
30 UK ES IT
20 1965-02 1966-07 1967-12 1969-05 1970-10 1972-03 1973-08 1975-01 1976-06 1977-11 1979-04 1980-09 1982-02 1983-07 1984-12 1986-05 1987-10 1989-03 1990-08 1992-01 1993-06 1994-11 1996-04 1997-09
10
UK=Großbritannien
Bundesbank-Datenbank; Devisenkurse der Frankfurter Börse, 18.04.2012 Abb. 3-6: Abwertung gegenüber der DM, 1965–1998 (1965=100)
Die Schwankungen der Wechselkurse blieben erheblich (Abb. 3-6): Für die Deutsche Mark gab es überwiegend eine Tendenz zur Aufwertung, was für die Exporteure Wettbewerbsnachteile mit sich brachte. Besonders ausgeprägt war dies bei den großen europäischen Handelspartnern Italien, Großbritannien und Frankreich, deren Währungen von 1965 bis 1998 auf weniger als 30% des Ursprungswertes abwerteten. Österreich und die Niederlande dagegen haben sich in den 80er Jahren für eine Kopplung ihrer Währungen an die D-Mark entschieden (Ohr, R. und Schmidt, A., 2001; Steinherr, A. (Ed.), 1994). Während der Maastrichter Vertrag mit der geplanten Einführung des Euro verhandelt wurde (1990/91), war das EWS erfolgreich, d.h. die Währungen schwankten nur wenig gegenüber dem festgelegten Kurs. In den Jahren 1992/93, verbunden mit dem drohenden Scheitern des Maastrichter Vertrags in Dänemark und Frankreich, kam es zu starken Turbulenzen im EWS ( Buiter, W. et al., 1998). Das Britische Pfund und die Italienische Lira kamen so stark unter Abwertungsdruck, dass sie das EWS verlassen mussten und die Spanische Peseta, der Portugiesische Escudo sowie das Irische Pfund werteten im Jahr 1992 stark ab. Als 1993 erneut erheblicher Abwertungsdruck auf einigen Währungen lastete, beschloss der Rat der Finanzminister, die Bandbreite, um die die Währungen schwanken durften, von +/- 2,25% auf +/- 15% zu erweitern (Caporale, G. et al., 1995; Jarchow, H.-J., 1996). Das EWS war mit der Öffnung der Bandbreite auf 30% als Ansatz zur Begrenzung von Wechselkursschwankungen letztlich gescheitert. Die Spekulationen gegen einzelne Währungen waren auch nicht mehr mit deren Fundamentaldaten zu erklären, was sich u.a. daran zeigte, dass Frankreichs Franc unter Druck geriet, obwohl das Land eine geringere Inflationsrate hatte als Deutschland. Dieser Sachverhalt stützte das Argument, dass nur noch die Abschaffung des Wechselkurses und eine einheitliche Währung Ruhe vor Spekulationen gegen Währungen schaffen könnten.
240
3 Die gemeinsame Währung
Ein neuer Versuch: EWS-II Parallel zur Vorbereitung der gemeinsamen Währung wurde ein modifiziertes EWS (EWSII) geschaffen (Deutsche Bundesbank, 2005e:76–82); es trat Anfang 1999 in Kraft. Als eines der Konvergenzkriterien wurde festgelegt, dass ein Land vor seinen Beitritt mindestens zwei Jahre spannungsfrei am Europäischen Währungssystem (EWS) teilgenommen haben muss. Dieses Kriterium soll darüber Auskunft gegeben, ob die nationale Wirtschaftspolitik in letzter Zeit für die internationalen Kapitalmärkte so glaubwürdig und stabil war, dass bereits vor der Teilnahme am Euro keine Spekulationsbewegungen gegen die Währung aufgetreten sind. Dazu sind die normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des EWS seit mindestens zwei Jahren gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedsstaates einzuhalten. Insbesondere darf das Land nicht von sich aus gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedsstaates abgewertet haben. Dies bedeutet den Verzicht auf einen „Abwertungswettlauf in den letzten zwei Jahren vor dem Beitritt zum Euro; damit ist es auch nicht möglich, einen möglichst niedrigen Wechselkurs für den Beitritt zum Euro herbeizuführen. Die Wechselkurse der Währungen der EU-Mitgliedsstaaten, die den Euro (noch) nicht übernommen haben, muss gegenüber dem Euro relativ stabil bleiben: Es wurde für jede Währung ein offizieller Leitkurs gegenüber dem Euro festgelegt, um den sie um +/- 15% abweichen darf. Daraus ergeben sich für den Wechselkurs jeder Währung gegenüber dem Euro obere und untere Grenzwerte, deren Einhaltung durch die Wirtschafts- und Finanzpolitik des Landes gesichert werden soll: Bei der Verfolgung einer „konvergenten“ Wirtschaftspolitik entstehen keine Spannungen für den Wechselkurs. Wenn diese Bandbreiten nicht mehr gesichert sind, d.h. wenn an den Devisenmärkten eine größere Auf- oder Abwertung gegenüber dem Euro sich einzustellen droht, dann müssen die Zentralbanken der Länder zusammen mit der EZB intervenieren, indem sie aus ihren Devisenbeständen die schwache Währung kaufen und die starke Währung verkaufen. Um eine Intervention überflüssig zu machen kann auch der Leitkurs der entsprechenden Währung vorher angepasst werden. Diese Anpassung erfordert Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten und die Beteiligung der EZB, so dass eine politisch motivierte Wechselkursmanipulation ausgeschlossen ist. Die Währungen der Länder, die den Euro nicht übernommen haben, dürfen untereinander frei schwanken. Weiterführende Literatur
Thieme, H. J., Michler, A. (1998): Geld- und Währungspolitik, in: Klemmer, P. (Ed.): Handbuch Europäische Wirtschaftspolitik, München, 735–798.
Buiter, W. H., Corsetti, G. M., Pesenti, P. A. (1998): Interpreting the ERM crisis: Country-specific and systemic issues, Princeton studies in international finance, 84, Princeton.
Dyson, K., Featherstone, K. (1999): The road to Maastricht: Negotiating economic and monetary union, Oxford.
Abelshauser, W. (2010): Eine kurze Geschichte der Europäischen Währungsunion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 43, 25. Okt., 39–45.
Steinherr, A. (Ed.) (1994): Thirty years of European monetary integration, London, New York.
3.4 Die Konvergenzkriterien für den Euro
3.4.3.3
241
Konvergenzkriterium: Zinsen
Was drückt sich in den langfristigen Zinsen aus? Warum ist das Zinskriterium „relativ“ formuliert? Die kurzfristigen Zinsen können von der Zentralbank durch geldpolitische Maßnahmen verändert werden – diese Zinsen sind nicht Gegenstand der Konvergenzprüfung. Langfristige Zinsen bilden sich an den Kapitalmärkten. Zinsen sind Kosten für Investitionen: Je höher der Zins, desto geringer das Investitionsvolumen. Außerdem stellen sie auch Kosten für die Kreditaufnahme des Staates dar: Je höher der Zins, desto schwerer wiegen Neuverschuldung und bei Umschuldungen auch der Schuldenbestand im Staatshaushalt; steigende Zinsen engen den finanziellen Handlungsspielraum des Staates ein und können am Kapitalmarkt zur Verdrängung privater Kreditnachfrage durch den Staat (Crowding Out) führen, da die staatliche Kreditaufnahme weniger zinsreagibel ist als die private. So kann ein staatliches Defizit zinstreibend und damit investitionssenkend sein und als Wachstumsbremse wirken (Kähler, J. und Korn, O., 1995). Außerdem galten Staaten in der Vergangenheit als Schuldner bester Bonität. Bei langfristigen Krediten enthalten Zinsen auch eine Prämie, mit der die Kapitalgeber erwartete Risiken kompensieren wollen. Bei starken Unterschieden in den Inflationsraten zwischen den Ländern entstehen Auf- bzw. Abwertungserwartungen gegenüber einer Währung mit der Folge, dass das Land, gegen das eine Abwertungserwartung besteht, auch höhere Zinsen am Kapitalmarkt zahlen muss. Auch der mögliche Ausfall eines Kredits führt zu höheren, dieses Risiko kompensierenden, Zinsen. Dies gilt auch für die Kreditaufnahme von Staaten, wie sie sich in dem Spread, d.h. in der Spreizung der Zinsen einzelner Länder gegenüber dem sichersten Land zeigten (Kapitel 3.2.4.2, Abb. 3-4). Langfristige Zinsen bilden sich aus Zukunftserwartungen von Investoren und Sparern über Kurse und Renditen am Markt. In diesem Sinn sind Differenzen in den langfristigen Zinsen auch ein Indikator für unterschiedliches Vertrauen des Kapitals in die jeweiligen Länder. Das Konvergenzkriterium für den Zins zeigt nach der Auffassung der Autoren des EG-V die „... Dauerhaftigkeit der von dem Mitgliedsstaat erreichten Konvergenz und seiner Teilnahme am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems, die im Niveau der langfristigen Zinssätze zum Ausdruck kommt“. Im Protokoll über die Konvergenzkriterien wird spezifiziert, „dass im Verlauf von einem Jahr vor der Prüfung in einem Mitgliedsstaat der durchschnittliche langfristige Nominalzinssatz um nicht mehr als 2 Prozentpunkte über dem entsprechenden Satz in jenen – höchstens drei – Mitgliedsstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben. Die Zinssätze werden anhand langfristiger Staatsschuldverschreibungen oder vergleichbarer Wertpapiere unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Definitionen in den einzelnen Mitgliedsstaaten gemessen“.
242
3 Die gemeinsame Währung
Die langfristigen Zinsen zeigen also, ob die Kapitalmärkte an die bisherige Konvergenz des jeweiligen Landes glauben. Länder wie Frankreich, die in der Vergangenheit immer wieder als abwertungsgefährdete Anlageländer eingestuft wurden, mussten im Prüfungszeitraum unter dem „Elefantengedächtnis der Devisenmärkte“ leiden: Trotz vergleichsweise geringerer Inflation war das Zinsniveau höher als in Deutschland. Das Zinskriterium ist relativ formuliert, d.h. es kommt auf die Differenz zu den „Besten“ an, nicht auf einen absoluten Wert der Zinsen, da Kapitalbewegungen zwischen Ländern und damit Änderungen der Wechselkurse nicht von der absoluten Höhe der Zinsen, sondern von Zinsdifferenzen ausgelöst werden. Die Referenzländer für das Zinskriterium sind diejenigen mit den geringsten Inflationsraten, nicht diejenigen mit den niedrigsten Zinsen. Darin drückt sich der Zusammenhang von Inflation und Zins als Risikoprämie bei überdurchschnittlicher Inflationserwartung aus.
3.5
Die Wirtschafts- und Währungsunion
Welche Elemente umfasst die Wirtschafts- und Währungsunion – welche fehlen? Binnenmarkt und Euro zusammen bilden die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU); sie ist Ergebnis vieler politischer Kompromisse, ist nicht zwingend voll funktionsfähig und beruht nicht auf einem konsistenten Konzept. Bereits im Delors-Bericht (Delors, J., 1989a:16– 20) wurden vier grundlegende Elemente für eine WWU angeführt: 1.
Ein Binnenmarkt mit den vier Grundfreiheiten
2.
Eine Wettbewerbspolitik und andere Maßnahmen, die den Marktmechanismus stärken
3.
Gemeinsame Maßnahmen zum Ausgleich struktureller und regionaler Ungleichgewichte
4.
Koordination der makroökonomischen Politik, insbesondere der Haushaltspolitik
Diese Elemente wurden dann auch im Maastrichter Vertrag (1992) umgesetzt und bilden den Kern der WWU. Insgesamt ist daraus ein „Bauplan“ zu erkennen, der eine Verteilung der Zuständigkeiten auf die gemeinschaftliche und auf die nationale Ebene enthält (Tab. 3-4).
3.5 Die Wirtschafts- und Währungsunion
243
Die Wirtschafts- und Währungsunion Ziele, Instrumente, Zuständigkeiten Verantwortlichkeit und Politiken Ziel(e), Maßnahmen Geldpolitik EU: Europäische Zentralbank (EZB); unabhängig von Preisstabilität (Inflation nicht über 2%) Regierungen und nationalen Bedarfen und Einflüssen; Geldmenge und (kurzfristiger) Leitzins keine Finanzierung von Staatshaushalten National: keine Zuständigkeit; Umsetzung der EZBPolitik im nationalen Rahmen Fiskalpolitik EU: keine Zuständigkeit, aber „Euro-Gruppe“ zur Dialog der Mitgliedsstaaten zur Koordination der FisKommunikation eingerichtet. kalpolitik organisieren. Obergrenzen für Defizit und Schulden der Mitglieds- Übergreifen von Staatsschulden verhindern staaten (Maastricht-Kriterien) Keine Übernahme von nationalen Staatsschulden Verbot der Finanzierung von Staatsschulden durch EZB National: Parlamente und Regierungen Makroökonomische Konjunkturstabilisierung Steuern und Staatsausgaben festlegen Politische Ziele erfüllen Koordination mit EU; Berichtspflicht Steuern: Umverteilung; Anreize; Widerstand Grenzen durch Stabilitäts- und Wachstumspakt beach- Ausgaben: Erfüllung der Wähler-Präferenzen ten (Defizit, Schuldenstand) Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit EU: Keine Zuständigkeit, aber Funktionieren von grenzüberschreitendem Wettbewerb Wettbewerbspolitik, u.a. Verbot von Subventionen im Binnenmarkt sichern („Industriepolitik“) Durch die Organisation von „Benchmarking“ die MitgGemeinschaftliche „Visionen“ organisieren („Lissabon liedsstaaten zu mehr und gemeinsamen Anstrengungen bringen 2010“, „EU 2020“, …) Über die Vergabe von EU-Subventionen in der RegioKohäsionsfonds auf Wettbewerbsfähigkeit orientieren nalförderung Einfluss nehmen National (Landesspezifisch): In den einzelnen Mitgliedsstaaten ergibt sich aus einem Löhne in Tarifhoheit; nur im öffentlichen Dienst durch landesspezifischen Mix vieler Faktoren die internatioden Staat beeinflussbar; Klima zwischen den Tarifver- nale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. tragsparteien (Korporatismus oder Klassenkampf) Politische Gestaltung unter vielen „Mitspielern“ Bereitschaft zu Strukturwandel Gruppeninteressen „Gute Regulierung“ für die Wirtschaft Innovationsförderung, Bildung Eigene Darstellung in Anlehnung an Baldwin, R. E., D. Gros, 2010:1–3 Tab. 3-4: Die Wirtschafts- und Währungsunion
3.5.1
Geldpolitik der EZB
Welches Ziel verfolgt die EZB? Warum, wodurch und von wem soll die EZB unabhängig sein? Warum darf die EZB für den Staat kein Geld drucken? Hat die EZB in der Krise ihr Konzept verlassen? Die Stabilitätskultur der Deutschen dominiert Die „Stabilitätskultur“ war und ist in den Kandidatenländern für den Euro unterschiedlich ausgeprägt; so hatten z.B. Italien und Griechenland eine höhere Inflationsrate, die sie wegen
244
3 Die gemeinsame Währung
der damit verbundenen Beeinträchtigung der Konjunktur nicht konsequent bekämpft haben. Eine Gewöhnung an starke Geldentwertung fand ihren Ausdruck auch in der Indexierung von Löhnen in Italien („Scala Mobile“), die Inflation vermeintlich schmerzlos machte. In Deutschland dagegen ist aufgrund historischer Erfahrungen mit der Geldentwertung eine hohe Präferenz für Stabilität des Geldwertes in der Bevölkerung verankert – dies hat sich auch im institutionellen Rahmen und der Politik einer stabilitätsorientierten, unabhängigen Zentralbank ausgedrückt. Die im europäischen Vergleich niedrigen Inflationsraten Deutschlands wirkten auf die Kapitalmärkte der Nachbarländer: Die Länder mit höheren Inflationsraten müssen höhere Zinsen in Kauf nehmen; wollen sie dies vermeiden, sind sie gezwungen, die Stabilitätsorientierung der Deutschen zu kopieren. Diese Situation wurde als die „Diktatur der Bundesbank“ beklagt. Ebenfalls unterschiedlich war der Auftrag an die jeweiligen nationalen Zentralbanken: Einige hatten ausschließlich die Aufgabe, die Inflation zu bekämpfen, während andere auch die Regierung in ihrer Wirtschaftspolitik – also bei der Schaffung von Arbeitsplätzen – unterstützen sollten. Letztere Zentralbanken waren entsprechend starkem politischem Einfluss ausgesetzt, d.h. in ihrer Geldpolitik nicht unabhängig von „ihrer“ Regierung. Bei der Konzipierung der europäischen Geldpolitik haben sich die Deutschen mit ihrem Konzept einer unabhängigen, nur der Preisstabilität verpflichteten Zentralbank nach harten politischer Auseinandersetzungen durchgesetzt (Dyson, K., Featherstone, K., 1999; Scheller, H. K., 2006; Görgens, E. et al., 2008). Hintergrund war die Befürchtung in der Bevölkerung, die stabile D-Mark für eine inflationsgeneigte Währung aufgeben zu müssen. Damit wurde nicht nur die nationale Verfügung über die Instrumente der Geldpolitik aufgegeben, sondern darüber hinaus waren alle gezwungen, künftig mit einer Geldpolitik zu leben, die mehr Gewicht auf Inflationsbekämpfung legte. In bisherigen Hochinflationsländern führte dieser „Stabilitätsimport“ zu Anpassungslasten, da sie zur Bekämpfung der Inflation den Zins erhöhen musste, was sich negativ auf die kreditgetriebene Nachfrage und in deren Folge negativ auf die Zahl der Arbeitsplätze auswirkte. Die Geldpolitik der EZB konnte bei ihrer Entstehung durch drei wesentliche Merkmale beschrieben werden: 1.
Geldwertstabilität wahren
2.
Unabhängigkeit
3.
Keine Staatsschulden finanzieren
Zu 1: Geldwertstabilität Die Stabilität des Geldwertes wird am Grenzwert von 2% Inflation im Durchschnitt aller Euro-Länder festgemacht. Bei drohender Überschreitung der Grenze interveniert die EZB mit ihren geldpolitischen Instrumenten (Europäische Zentralbank, 2004b). Da die EZB dabei nicht auf die Situation in einzelnen Ländern eingehen kann und darf, kommt es zu einer „One-Size-Fits-All“ Geldpolitik, die möglicherweise für kein Land vollständig zur wirtschaftlichen Situation passt. Dies kann zu Ungleichgewichten im Euro-Raum beitragen (Kapitel 3.7.2).
3.5 Die Wirtschafts- und Währungsunion
245
Der Auftrag der EZB ist es nicht, die Konjunktur zu stützen, d.h. sie darf auch um den Preis von Arbeitsplätzen die Stabilität des Geldwertes sichern. Dies unterscheidet ihren Auftrag z.B. von dem an die US-amerikanische FED, welche auch zum Wirtschaftswachstum beitragen soll (Ruckriegel, K., Seitz, F., 2002). Die FED diskutierte seit dem Jahr 2012 sogar die Aufnahme einer Arbeitslosenquote von unter 7% in ihren geldpolitischen Zielkatalog; sie würde dann noch stärker die Bekämpfung der Inflation gegen die Stärkung der Konjunktur abwägen. Zu 2. Unabhängigkeit Die Unabhängig der EZB von Regierungen und anderen Gruppen wurde aufgrund von historischen Erfahrungen eingeführt. Diese soll die Beeinflussung durch nationale Interessen ausschließen. Auch die vermeintlich oder tatsächlich bestehende Wahl zwischen Stabilität und Arbeitsplätzen soll zugunsten von Preisstabilität entschieden werden. In der Literatur wird nachgewiesen, dass Länder mit einer unabhängigen Zentralbank auch mehr Preisstabilität aufweisen (Ehrmann, M., Fratzscher, M., 2008; Berger, H., J. et al., 2010; European Commission, 1997n:7–10, Fn. 5). Die Unabhängigkeit der EZB hat vier Dimensionen (Europäische Zentralbank, 2008a:24– 27): 1.
Institutionelle Unabhängigkeit, die in den Verträgen und Satzungen verankert ist, gibt der EZB auch alle Befugnisse, die sie zur Erfüllung ihres Auftrags braucht
2.
Personelle Unabhängigkeit, die in einer langen Amtszeit der Mitglieder des EZB-Rates gesichert werden soll; m.a.W.: Ein Mitglied des EZB-Rates übernimmt die Position meist am Ende einer langen Karriere, kann nicht entlassen werden und muss bei der Amtsausübung keine Rücksichten mehr auf eine anschließende berufliche Position nehmen. Durch die wechselseitige Kontrolle der EZB-Ratsmitglieder (Peer Pressure) wird die Einhaltung der Unabhängigkeit kontrolliert.
3.
Finanzielle Unabhängigkeit hat die EZB, da sie über alle Finanzmittel für ihre Tätigkeit selbst verfügt.
4.
Demokratische Legitimität einer nicht dem Wähler verpflichteten Institution soll durch Erfüllung von Transparenz und Berichtspflicht hergestellt werden.
Ob diese Unabhängigkeit tatsächlich glaubwürdig besteht kann bezweifelt werden, wenn die öffentliche Diskussion um die Besetzung von Führungspositionen in der EZB an der Nationalität von Bewerbern festgemacht wird. Außerdem wird z.B. in Frankreich kritisiert, dass die Mitglieder der Zentralbank zwar wesentlichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung haben, aber keiner demokratischen, d.h. politischen, Kontrolle unterliegen (Haan, J. d., Eijffinger, C. W. S., 2000). Der Start der EZB war von einem politischen Streit um den ersten Präsidenten belastet, dessen Wahl Zweifel an der Unabhängigkeit der neuen Institution wecken konnte. Eine lebhafte Kontroverse entzündete sich auch an der Frage, ob die EZB als neu geschaffene Einrichtung über passende Instrumente verfüge und diese auch richtig einsetze. Dabei wurde besonders
246
3 Die gemeinsame Währung
der Aspekt der Konjunkturbeeinflussung, der gar nicht zum „Pflichtenheft“ der EZB gehört, als Maßstab angelegt. Sogar im Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung vom Oktober 2002 wurde das Anliegen an die EZB formuliert, durch niedrige Leitzinsen zu mehr Wachstum beizutragen, und aus der französischen und der italienischen Regierung kam die Forderung an die EZB nach einer wachstumsorientierten Geldpolitik, für die Preisstabilität nicht alleine wichtig sein dürfe („Paris greift …“, 2004; „Rom und …“, 2004). Auch im französischen Wahlkampf 2007 wurde die EZB wiederholt wegen ihrer angeblich zu restriktiven Geldpolitik massiv kritisiert. Im Juni 2009 griff die deutsche Kanzlerin Merkel die EZB wegen ihrer Politik zur Bewältigung der Finanzkrise öffentlich an („Merkel criticises…“, 2009). Bei der Suche nach einem neuen Präsidenten für die EZB wurde im Jahr 2011 lebhaft öffentlich diskutiert, ob „ein Italiener“ geeignet sei, die Stabilitätsorientierung der EZB zu verkörpern; auch für die Nachfolge auf die Position des Chefvolkswirts der EZB wurde von der deutschen Politik eine Person aus Deutschland präferiert. Damit wurde unterstellt, dass das Leitungspersonal der EZB die Interessen des Heimatlandes vertreten würde, was den Statuten klar widerspräche. Zu 3. Staatsschulden finanzieren Der EZB ist es außerdem verboten, einer Regierung bevorzugten Zugang zum Kapitalmarkt zu gewähren, d.h. Staatsschulden direkt zu finanzieren. Regierungen sind für ihren Kreditbedarf an die Finanzmärkte verwiesen, die die Kreditkonditionen marktgerecht setzen und so die Regierungen bei der Verschuldung disziplinieren sollen. Diese Regel schließt jedoch nicht aus, dass die EZB legal Staatsanleihen an der Börse aufkaufen kann; dies tat sie auch in der Finanzkrise, um – wie sie meinte – die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte wieder herzustellen. Mit den Erfahrungen der Finanzkrise sind am ursprünglichen Konzept der EU-Geldpolitik vier Kritikpunkte anzumerken: 1.
Die Inflationsmessung basiert auf einem Warenkorb von Gütern des Endverbrauchs und schließt Preisentwicklungen bei Anlagen (Anleihen, Aktien, Gold, Immobilien etc.) nicht ein – eine Inflation bei Vermögen („Vermögensblasen“) kann also nicht identifiziert werden.
2.
Nicht als Aufgabe der EZB beschrieben ist die Sicherung der Stabilität des Finanzsystems als Ganzes, z.B. durch die Bereitstellung von großen Beträgen an Liquidität in Krisenzeiten; die Existenz eines solchen Problems war bis zum Ausbruch der Krise im Jahr 2007 nicht im Fokus der Wissenschaft oder der Politik.
3.
Die Trennung von Geld- und Fiskalpolitik sowie das Verbot, Staatsschulden zu finanzieren konnten in der Finanzkrise nicht aufrecht erhalten werden; diese „Grenzüberschreitung“ der Geldpolitik wird kritisch gesehen.
4.
Die Zentralbanken anderer Länder dürfen „ihrem“ Staat dann Geld leihen, wenn dieser vorübergehend vom Zugang zu den Finanzmärkten abgeschnitten ist. Ein solcher Staat kann daher niemals illiquide werden. Diese Funktion des „Lender of Last Resort“ darf die EZB nicht ausüben, so dass in der Finanzkrise die Zahlungsunfähigkeit von Regie-
3.5 Die Wirtschafts- und Währungsunion
247
rungen der Euro-Zone für möglich gehalten wurde. Der EZB-Präsident Mario Dragi hat dann im Sommer 2012 überraschend öffentlich angedeutet, dass die EZB unbegrenzt Staatsanleihen am Kapitalmarkt kaufen würde (Kapitel 3.8.3.2). Die Macht der kleinen Mitgliedsstaaten Ein spezielles Problem in der internen Organisation der EZB und in dem Abstimmungsmechanismus im EZB-Rat wurde in der Erweiterung der EU auf 27 Mitglieder gesehen. Nach dem Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, Artikel 10 ist festgelegt, dass jedes Mitgliedsland einen Vertreter in den Zentralbankrat entsendet, wo jedes Mitglied eine Stimme hat. Beschlüsse werden mit der einfachen Mehrheit der Mitglieder getroffen. Bei maximal fünfzehn Mitgliedern war dieses Verfahren noch überschaubar. Steigt durch die Erweiterung die Zahl der Mitglieder auf bis zu 27, so ist eine Entscheidungsfindung im Konsens kaum noch möglich. Die dann noch zahlreicheren kleinen Mitgliedsländer könnten hypothetisch gemeinsam die Geldpolitik dominieren, obwohl sie nur einen kleinen Teil des gesamten Wirtschaftsraums repräsentieren (DeGrauwe, P., 2006b). Auch wurden Vorbehalte gegen die geringere „Stabilitätskultur“ in den neuen Beitrittsländern aus Mittel- und Osteuropa geäußert, die dazu führen könnte, dass die EZB insgesamt ihr Ziel der Inflationsvermeidung nicht strikt genug verfolgte, sondern die geldpolitischen Präferenzen der Transformationsländer stärker in die Entscheidungen des EZB-Rates einfließen ließe. Auch wird die offizielle Sicht, nach der die Mitglieder des EZBRates ausschließlich europäische und nicht regionale oder nationale Interessen vertreten würden, in Frage gestellt (Hefeker, C., 2006). Der Rat der Staats- und Regierungschefs hat die Regeln für den EZB-Rat mit einem einstimmigen Beschluss (2003/223/EG) im März 2003 so geändert, dass Sitz und Stimmen auf die Länder nach ihrer wirtschaftlichen Größe aufgeteilt werden. Die Präsidenten der Zentralbanken der großen Länder erhalten einen Sitz, während die der kleineren Länder sich in einem Rotationssystem bei der Wahrnehmung des Stimmrechts abwechseln müssen. Damit würde implizit eine Stimmengewichtung nach der Größe des Landes eingeführt. Dieses Verfahren sollte eingeführt werden, sobald mindestens 15 Länder den Euro eingeführt hätten und nochmals differenziert, sobald 22 Länder dabei wären (European Central Bank ECB, 2003b; Belke, A., Styczynska, B., 2006). Allerdings beschloss der EZB-Rat im Dezember 2008, den Beginn des Rotationssystems zu verschieben, bis 18 Länder den Euro eingeführt hätten (EZB/2008/29). Damit werden die Abstimmungen zu den Maßnahmen in der Krise im EZBRat nach wie vor mit einfacher Mehrheit und bei gleichen Stimmen für große und kleine Länder getroffen. Also können große Länder, die erhebliche Anteile an den möglichen Verlusten der EZB zu tragen haben, von kleinen Ländern in die Minderheitsposition gebracht werden. Die EZB und die Krise In der Krise hat die EZB ihre Politik und den Instrumenteneinsatz verändert. Damit ist die Befürchtung verbunden, dass sich die EZB von ihrem ursprünglichen Konzept entfernt und die Inflation in der EU künftig nicht mehr konsequent genug bekämpfen wird. Zu den kritisierten Aspekten gehören (Kapitel 3.8.3):
248
3 Die gemeinsame Währung
Der Aufbau großer Liquidität im Rahmen der „unkonventionellen“ Geldpolitik, die sich am Ende der Krise inflationstreibend auswirken könnte.
Vergabe von Notkrediten an unterkapitalisierte Banken, die besser von den Regierungen ihrer Länder übernommen oder abgewickelt werden sollten. Außerdem übernimmt die EZB – und damit die Mitgliedsstaaten als ihre Eigner – dadurch ein erhebliches Insolvenzrisiko.
Übernahme der Bankenaufsicht, wodurch sich ein Interessensgegensatz zwischen Schonung der Banken und Bekämpfung der Inflation ergeben kann.
Indirekte Staatsfinanzierung und Übernahme der Funktion eines Lender of last resort, so dass sich die Grenze zwischen Fiskal- und Geldpolitik verwischt und die EZB in einen Konflikt zwischen Stützung der Konjunktur und Bekämpfung von Inflation geraten kann.
Ob die EZB nach der Überwindung der Krise zu ihrer ursprünglichen Konzeption zurückkehren wird, ist offen. Allerdings resultiert aus den o.g. Veränderungen nicht zwingend die Gefahr einer Geldentwertung in der Zukunft.
3.5.2
Fiskalpolitik in der WWU
Ist die Fiskalpolitik ein geeignetes Instrument zur Konjunktursteuerung? Welche Konflikte ergeben zwischen Nationalstaat und EU bei der Defizitbegrenzung? Nehmen die Euro-Länder eine besondere Stellung ein? Die Fiskalpolitik wird hier im Zusammenhang mit der Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, also im Sinne keynesianischer Konjunkturpolitik thematisiert. Im Fokus ist das Defizit des Staats, das nach den Regeln des EU-Vertrags auf 3% des BIP zu begrenzen ist. Dem nationalen Staatshaushalt kommt bei Fehlen einer eigenen Geldpolitik besonders dann Bedeutung zu: Wenn die Inflation im Land vom Durchschnitt der Euro-Zone abweicht oder die Arbeitslosigkeit hoch ist, dann bleibt der Regierung nur noch die Fiskalpolitik zur Bekämpfung dieser unerwünschten wirtschaftlichen Lagen. Dabei stößt sie aber schnell an Grenzen: 1.
Wenn keine Rücklagen gebildet wurden sind auch keine Mittel für Ausgabeerhöhungen verfügbar – es sei denn, das zulässige Defizit ist noch nicht ausgeschöpft.
2.
Ausgabenkürzungen stoßen auf den Widerstand von Interessengruppen und sind politisch nur schwer durchsetzbar
3.
Viele Arten von Steuern und Staatsausgaben können nicht sinnvoll im Konjunkturverlauf variiert werden, da die dort finanzierten Aufgaben im Boom und in der Rezession gleichermaßen erfüllt werden müssen. Beispiele dafür sind die öffentliche Verwaltung, die Institutionen der Justiz und der inneren Sicherheit, das Bildungs- und Gesundheitswesen oder die Feuerwehr.
3.5 Die Wirtschafts- und Währungsunion 4.
249
So können nur die Investitionen des Staates als „Konjunkturpuffer“ fungieren; die Investitionen des Staates machen jedoch nur einen kleinen Teil der gesamten Staatsnachfrage aus.
Die Finanzierung und Durchführung der Fiskalpolitik liegt ausschließlich in den Händen der nationalen Regierungen, die EU hat hierfür weder Mittel noch Zuständigkeit. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Mitgliedsstaaten nicht bereit waren, die Bestimmung über ihre Haushalte sowie die Gestaltung ihrer Politiken der supranationalen Ebene zu übergeben. Angesichts der Notwendigkeit, die Gestaltung von Politik durch Steuern und Staatsausgaben zur demokratischen zu legitimieren wäre ein Transfer der Budgetrecht in die EU auf heutigen Stand auch nicht demokratisch legitimiert. Allerdings hat die EU mit der Begrenzung von Defizit und Staatsschulden (Kapitel 3.4.2) sowie mit der Forderung, die Fiskalpolitik im gemeinschaftlichen Interesse zu gestalten, den Spielraum der nationalen Regierungen eingeschränkt. Wegen der grenzüberschreitenden Ausstrahlung von nationalen Konjunkturlagen und fiskalpolitischen Maßnahmen hat die EU zwei Gruppierungen geschaffen, in denen die nationalen Politiken abgestimmt werden sollen:
Erstens treffen sich im Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN) alle 27 Mitgliedsstaaten zum Dialog auf europäischer Ebene. Außerdem sind alle Länder verpflichtet, vorab ihre Haushaltslage und -pläne an die EU-Kommission zu berichten, die Korrekturen anmahnen kann, wenn sie Gefahren für die Haushaltsdisziplin sieht („Europäisches Semester“) (Breuss, F., 2011; European Commission, 2008d:138–141).
Zweitens bilden die Mitglieder des Rates, die aus einem Euro-Land kommen, innerhalb des Rates eine besondere Gruppe: Die Euro-Gruppe. Sie wurde durch Beschluss des Europäischen Rates im Jahr 1997 installiert und später im Vertrag von Lissabon (2009) verankert. Ihr gehören die Finanzminister der Euro-Länder, das für Wirtschaft und Finanzen zuständige Mitglied der Europäischen Kommission und der Präsident der Europäischen Zentralbank an. Die Euro-Gruppe wird von einem Präsidenten geführt. Ihre Aufgabe ist die Entwicklung gemeinsamer Positionen zu wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen und das einheitliche Auftreten der Euro-Länder nach außen bei der Kommunikation der gemeinsamen Sicht.
Die Umsetzung fiskalpolitischer Maßnahmen bleibt eine Domäne der nationalen Politik. Eingriffsrecht hat die EU im Bereich der Fiskalpolitik genauso wenig wie die Möglichkeiten zu finanziellen Hilfen.
3.5.3
Förderung der Wettbewerbsfähigkeit
Wie wirkt sich die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit eines Landes auf die WWU aus? Ungehinderter, grenzüberschreitender Wettbewerb auf freien Märkten gehört zu den Grundlagen des Europäischen Binnenmarktes. Nach diesem Konzept werden Unterschiede zwischen Ländern durch Marktkräfte ausgeglichen, indem z.B. Preise und Löhne sich an die Wettbewerbslage anpassen und Arbeit und Kapital dorthin wandern, wo sie die höchste Ren-
250
3 Die gemeinsame Währung
dite bzw. die höchsten Löhne erzielen. Durch Innovation und Spezialisierung soll der Wettbewerb dann für alle Teilnehmer das beste erreichbare Ergebnis hervorbringen. Insofern bleibt offen, ob jedes Land sich in diesem Wettbewerb erfolgreich positionieren kann, d.h. ob es wettbewerbsfähig ist. Hierbei handelt es sich um ein vages Konzept, für das viele Indikatoren und Definitionen diskutiert werden (Kapitel 3.7.1). Ein Mangel an internationaler Wettbewerbsfähigkeit wird z.B. an einem hohen Handelsbilanzdefizit festgemacht: Die Unternehmen eines Landes schaffen es nicht, auf dem Weltmarkt so viel abzusetzen, wie aus dem Ausland eingeführt wird, d.h. es gibt einen Mangel an wettbewerbsfähigen Produkten und Dienstleistungen. Die Ursachen dafür können vielfältig sein; sie liegen – sofern sie einer politischen Gestaltung zugänglich sind – im Einflussbereich nationaler Politiken, wie die folgenden Beispiele zeigen:
Die Steuern für Unternehmen sind zu hoch und führen zur Verlagerung von Investitionen ins Ausland.
Das Bildungssystem hat nicht genügend qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt.
Hohe Korruption, eine schlecht funktionierende Justiz und starke Bürokratisierung machen unternehmerisches Handeln aufwändig und wenig attraktiv.
Die Löhne sind zu hoch und das Klima zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ist angespannt.
Die Industriestruktur ist von Strukturwandel negativ betroffen und das Innovationstempo ist gering.
Subventionen für „alte“ Strukturen oder Schutzvorschriften zugunsten von eingesessenen Unternehmen erschweren den Markzutritt für neue Anbieter.
Innerhalb der WWU wirkt sich ein geringe Wettbewerbsfähigkeit nicht nur auf das entsprechende Land aus, sondern trägt auch zu Ungleichgewichten zwischen den Mitgliedsstaaten bei: Defizite und Überschüsse im Außenhandel führen zu Finanzierungsströmen zwischen den Ländern, die zur Instabilität des Gesamtsystems beitragen können (Kapitel 3.7, 3.8.2.3). In allen Feldern, die zur Beeinflussung der Wettbewerbsfähigkeit geeignet sind, liegt die Optimierungskompetenz bei den Akteuren des jeweiligen Landes. Die EU überwacht die Einhaltung eines ungehinderten grenzüberschreitenden Wettbewerbs, indem sie z.B. Subventionen und Marktmacht kontrolliert. Da die meisten europäischen Mitgliedsstaaten nicht – oder nicht für lange Zeit – auf geringe Löhne als Wettbewerbsvorteil setzen können, ist für alle die Innovation ein Wettbewerbsfaktor. Da Forschung und Bildung als Quellen von Innovation in nationaler Hoheit liegen, und der Etat der EU für Forschungskooperationen verschwindend gering ist, versucht die EU, einen Benchmarking-Prozess zu organisieren: Die Mitgliedsstaaten setzen sich zusammensetzen und verständigen sich auf eine gemeinsame Vision und die zu ihrer Erreichung erforderlichen Maßnahmen. Danach soll jedes Land für sich die versprochenen Maßnahmen zur Innovationsförderung umsetzen und darüber berichten – eine Verbindlichkeit bestand jedoch nicht. Dieses Verfahren, das unter dem Namen „Lissabon
3.5 Die Wirtschafts- und Währungsunion
251
2010“ versuchte, die Europäische Union bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu machen, ist jedoch gescheitert (Kapitel 2.4).
3.5.4
Widersprüche im Konzept der WWU
Inwiefern führt die Konstruktion der WWU zu Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten? Die Gesamtkonstruktion der WWU enthält einige Widersprüche und Mängel, die ihr reibungsloses Funktionieren infrage stellen: 1.
Geld- und Fiskalpolitik liegen nicht in einer Hand, da die Geldpolitik auf der Ebene der EU geregelt wird, während die Fiskalpolitik national entschieden wird. Allerdings wird die nationale Fiskalpolitik von den Grenzen der Verschuldung im Maastrichter Vertrag in ihrem Handlungsspielraum erheblich begrenzt.
2.
In allen andern Bereichen, die für Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit – und damit auch für das Entstehen von Ungleichgewichten zwischen den Mitgliedsstaaten – verantwortlich gemacht werden können, hat die EU keine oder nur wenige Einflussmöglichkeiten. Es sind ausschließlich nationale Politiken, die darüber entscheiden.
3.
In den Zeiten der Vorbereitung auf die „Eingangsprüfung“ kann die EU über die Konvergenzkriterien weit reichende Zielvorgaben für die nationale Wirtschaftspolitik machen, während nach dem Beitritt zum Euro nur noch die Grenzen für das Defizit vorgegeben werden – eine wieder einsetzende Divergenz bei den anderen Kriterien kann von der EU nicht sanktioniert werden.
4.
Da Strukturreformen und Abbau von Schulden gewöhnlich auf den Widerstrand der Wähler stoßen, unterliegen nationale Regierungen der Versuchung, zum Erhalt ihrer Macht die schmerzlichen Anpassungsmaßnahmen zu verschieben. Dieses Vorgehen wird dadurch unterstützt, dass die Länder mit der Unterstützung der anderen Mitgliedsstaaten – entgegen aller Regeln – rechnen können (Moral Hazard).
Eine stärkere Differenzierung der Wettbewerbsfähigkeit (Kapitel 3.7.1) wirkt sich folgendermaßen aus:
Es entstehen Handelsbilanzungleichgewichte und, spiegelbildlich („saldenmechanisch“) eine Verschuldung der Defizitländer bei den Überschussländern; die Überschussländer finanzieren also ihre Handelserfolge in der Erwartung, dass die gewährten „Lieferantenkredite“ zurückgezahlt werden.
Es entstehen starke Unterschiede im Lebensstandard innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten sowie zwischen ihnen. Auf nationaler Ebene führen diese Unterschiede entweder zu Abwanderung in die prosperierenden Regionen oder zu mehr oder minder umstrittenen Ausgleichszahlungen innerhalb des Landes. Zwischen den Mitgliedsstaaten dagegen ist kein Ausgleich vorgesehen – sieht man von der Regionalförderung ab – und er wäre auch politisch nicht akzeptiert.
252
3 Die gemeinsame Währung
Die Attraktivität der EU bestand und besteht gerade für weniger wohlhabende Länder in dem Versprechen, durch die Mitgliedschaft Frieden und Wohlstand zu erlangen. Die Erwartungen an den künftigen Lebensstandard orientieren sich also an den wohlhabenden Mitgliedsstaaten. Bestehende Rückstände oder gar wieder wachsende Ungleichgewichte führen wegen geringer Mobilität in der EU (Kapitel 2.3.2.4) kaum zur Wanderung von Arbeitskräften in andere EU-Mitgliedsstaaten, sondern zu finanziellen Ausgleichsforderungen an die Gemeinschaft, die sich ja in den Verträgen auch zur Solidarität bekennt. Ob und wie durch eine Vergemeinschaftung der Fiskalpolitik die Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abgebaut werden könnten oder ob ein erheblicher fiskalischer Transfer über die Landesgrenzen hinaus in den „Zahler-Ländern“ politisch akzeptiert würde, muss hier offen bleiben. Teilen und Solidarität ist ein schwieriger Prozess, der allenfalls durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb eines Landes unterstützt wird. Zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten ist ein ausgeprägtes „Wir-Gefühl“ jedoch nicht vorhanden. Nicht zuletzt die politische Akzeptanz bei den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten sowie die demokratische Legitimation einer Verlagerung des Budgetrechts auf eine supranationale Ebene stellen ungelöste Probleme dar.
3.6
Die Einführung des Euro
3.6.1
Konvergenzprüfungen und erste Beitritte
Für die Entscheidung zur Einführung des Euro, d.h. für den Übergang auf die dritte Stufe, ist im Vertrag ein Verfahren vorgeschrieben (Artikel 121 EG-V), in das verschiedene Institutionen des EU-Machtsystems einbezogen werden. Dabei hat die politische Ebene aus den Mitgliedsstaaten, also der Rat, das letzte Wort. In jeweils einem eigenen Konvergenzbericht haben die Kommission und das Europäische Währungsinstitut (EWI) als Vorläuferorganisation der EZB am 25. März 1998 den Stand der Konvergenz dargestellt. Sie berichteten dem Rat,
inwieweit die Mitgliedsstaaten bei der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion ihren Verpflichtungen bereits nachgekommen waren,
ob die nationalen Zentralbanken (mittlerweile) unabhängig von der Regierung waren,
wie es um die Erfüllung der Konvergenzkriterien stand.
Der Rat entschied anschließend nach Anhörung des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit darüber, welche Mitgliedsstaaten den Euro einführen durften. Die öffentliche Diskussion beschäftigte sich intensiv mit der Befürchtung, dass die Konvergenzkriterien aus politischen Gründen vom Rat nicht „eng und strikt“ ausgelegt würden, um eine möglichst große Teilnehmergruppe zu erreichen.
3.6 Die Einführung des Euro
3.6.1.1
253
Die Konvergenzprüfung der ersten Gruppe
Bei welchen Konvergenzkriterien war die Einhaltung schwierig? Welche „Tricks“ wurden bei der Prüfung angewandt? War die Erfüllung der Eingangsprüfung glaubwürdig? Insgesamt fiel die Bewertung der Konvergenz bei den Kriterien Inflation, Wechselkursstabilität und EWS-Teilnahme sowie langfristige Zinsen positiv aus, während beim Defizit und dem Schuldenstand Probleme sichtbar wurden (Tab. 3-5). Konvergenz bei Inflation Im Verlauf der Anstrengungen der nationalen Notenbanken und Regierungen zur Vorbereitung der Konvergenzprüfung – unterstützt durch eine zeitweise schwache Konjunktur – ist eine starke Konvergenz (fast) aller nationalen Inflationsraten „nach unten“ gelungen; nur Griechenland konnte das Ziel nicht erreichen, was angesichts seiner zuvor überdurchschnittlichen Inflationsrate auch nicht zu erwarten war. Die Inflationsraten waren zeitweise so niedrig und stabil, dass in der wirtschaftspolitischen Diskussion bereits über das endgültige verschwinden der Inflationsgefahr spekuliert wurde (Brinner, R. E., 1999); diese Diskussion wurde bis 2001 noch verstärkt durch die Entwicklung in den USA, wo für einige Zeit ein starkes und gleichzeitig inflationsfreies Wirtschaftswachstum beobachtet und das Zeitalter einer „New Economy“ propagiert wurden. Mit der Rückkehr der Gefahr von Stagflation, das ist Inflationsdruck bei gleichzeitig stagnierender Wirtschaft, im Jahre 2001 sowie mit dem Einbruch der Aktienkurse an den „Neuen Märkten“ wurde diese Diskussion jedoch weitgehend gegenstandslos. Zur Erreichung des Konvergenzkriteriums bei der Inflation haben die nationalen wirtschaftspolitischen Akteure auch die öffentlichen Investitionen gedrosselt, um den Druck auf die Preise zu mindern. Dies hat auch Kritik ausgelöst, in der behauptet wird, dass die Maßnahmen zur Inflationsdämpfung für den Euro-Beitritt die Konjunktur und das Wachstum beschädigt hätten und daher zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit in der EU beigetragen hätten.
254
3 Die gemeinsame Währung
Stand bei den Konvergenzkriterien zur Prüfung (1998) Inflation Defizit Schulden Zins 2) 1) 3) 4) Grenzwert 2,7 7,8 –3,0 60,0 Belgien 1,4 5,7 –2,1 122,2 Dänemark 1,9 6,2 0,7 65,1 Deutschland 1,4 5,6 –2,7 61,3 Finnland 1,3 5,9 –0,9 55,8 Frankreich 1,2 5,5 –3,0 58,0 Griechenland 5,2 9,8 –4,0 108,7 Großbritannien 1,8 7,0 –1,9 53,4 66,3 Irland 1,2 6,2 0,9 Italien 1,8 6,7 –2,7 121,6 Luxemburg 1,4 5,6 1,7 6,7 Niederlande 1,8 5,5 –1,4 72,1 Österreich 1,1 5,6 –2,5 66,1 62,0 Portugal 1,8 6,2 –2,5 Schweden 1,9 6,5 –0,8 76,6 Spanien 1,8 6,3 –2,6 68,8 1) HVPI-Preissteigerung 2) Langfristiger Zinssatz 3) Haushaltsüberschuss + bzw. -defizit des Staates in % des BIP 4) Bruttoverschuldung des Staates in % des BIP Ohne Wechselkurskriterium. Nach: Europäisches Währungsinstitut, 1998:29 Markierung: Kriterium nicht erfüllt Tab. 3-5: Stand bei den Konvergenzkriterien zur Prüfung (1998)
Konvergenz bei Zinsen Die Bemühungen der Kandidatenländer zur Übernahme des Euro erzeugte Vertrauen der Kapitalmärkte in diese Länder, so dass die Spreads fast vollständig verschwanden: Alle Zinsen näherten sich einem niedrigen, gemeinsamen Niveau. Hierbei handelte es sich aber eher um einen „Überschuss an Vertrauen“ (Artus, P., Bourguinat, H., 1994:148–151), wie sowohl die realwirtschaftliche als auch die finanzielle weitere Entwicklung zeigte (Kapitel 3.2.4.2). Konvergenz bei Defiziten Das Defizitkriterium konnten einige Staaten zum Zeitpunkt der Prüfung nur einhalten, weil sie sogenannte Einmal-Effekte nutzten, die nicht auf eine nachhaltige Konsolidierung des Staatshaushalts hinweisen, sondern z.T. den Eindruck einer „kreativen Buchführung“ erwecken (Europäisches Währungsinstitut, 1998; Koen, V., van den Noord, P., 2006; Gordo Mora, L., Nogueira Martins, J. N., 2007):
Italien verringerte das Defizit durch eine rückzahlbare „Europa-Sondersteuer“ um 0,6Prozentpunkte.
In Deutschland versuchte die Regierung, die Bundesbank zu einer Umbewertung der Goldreserven der Zentralbank zu „überreden“. Dies hätte den Gewinn der Zentralbank,
3.6 Die Einführung des Euro
255
der dem Staatshaushalt zufließt, erhöht und das Defizit verringert. Die Bundesbank wehrte sich jedoch erfolgreich gegen eine Vereinnahmung durch die Politik.
Eine einmalige Zahlung der France Telecom an den französischen Staatshaushalt als Gegenleistung für die Übernahme von künftigen Pensionsverpflichtungen reduzierte das Defizit momentan um 0,5-Prozentpunkte, erhöhte aber die Staatsausgaben in der Zukunft um die zusätzlichen Pensionszahlungen.
Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland und Großbritannien wiesen öffentliche Investitionen aus, die geringer waren als die Defizite. Diese Länder hatten durch eine Kürzung der investiven Staatsausgaben erforderliche Ausgaben nur in die Zukunft verlegt.
Ohne diese Einmal-Effekte hätten Italien und Frankreich den Grenzwert von 3% überschritten. Außerdem war im Prüfungsjahr 1997 das Zinsniveau insgesamt niedrig, was zu einer Entlastung der Länder mit hohem Schuldenstand beitrug. Am anderen Ende der Skala lagen Dänemark, Irland und Luxemburg, deren Staatshaushalte im Jahr 1997 sogar Überschüsse auswiesen. Als einziges Land hat Griechenland das Defizit- und Schuldenkriterium nicht erfüllt. Darüber hinaus wurde der Verdacht geäußert, dass auch die vom Statistischen Amt der EU (EUROSTAT) bereitgestellten Daten zu den Konvergenzkriterien nicht in allen Ländern korrekt ermittelt wurden, um die Position dieser Länder zu schönen. Das ehemalige deutsche Mitglied im Präsidium des EU-Rechnungshofes, Bernhard Friedmann, hatte einen solchen Verdacht im Oktober 2001 der Presse in einem Gespräch mitgeteilt („Rechnungshof zweifelt …“, 2001). Für Griechenland hat sich später ein solcher Verdacht erhärtet (Kapitel 3.6.1.2). Übergangsprobleme bei den Defiziten im Staatshaushalt Während der Vorbereitung der potenziellen Euro-Länder auf die Konvergenzprüfung geht von der Anpassung an die Kriterien möglicherweise ein erheblicher makroökonomischer Einfluss auf einzelne Länder aus. Besonders die Maßnahmen zur Eindämmung von Inflation und Staatsdefizit können kurzfristig kontraktiv wirken, während ein wachsendes Vertrauen der internationalen Kapitalmärkte in die Stabilität einer Währung zu sinkenden Zinsen und damit mittelfristig zu expansiven Impulsen führen kann. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Korrekturen auch ohne Beitritt zum Euro erforderlich gewesen sein könnten, um eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung nicht zu behindern. In der öffentlichen Diskussion, die die Einführung des Euro begleitete, kam den fiskalischen Kriterien besonderes Gewicht zu: Die ohnehin mit Misstrauen betrachteten Schulden der öffentlichen Hand wurden zum Symbol und Gradmesser für die Solidität und Verlässlichkeit der Partnerländer, die eine neue stabile Währung schaffen wollten. Mit großer Aufmerksamkeit wurde daher erstens verfolgt, wie die Schuldenkriterien definiert und gemessen wurden und zweitens, wie der Entscheidungsprozess aussah, an dessen Ende das positive oder negative Urteil über einen potenziellen Teilnehmer gesprochen wurde. Zur Einhaltung der Grenzen bei der Staatsverschuldung haben die Regierungen verschuldeter Länder Anstrengungen unternommen und ihren Bürgern Sparmaßnahmen und Steuererhö-
256
3 Die gemeinsame Währung
hungen „zugemutet“, die nur mit Verweis auf die Konvergenzkriterien im Land durchsetzbar waren. Die Konsolidierung der Staatshaushalte zur Erfüllung des Defizit- und Schuldenkriteriums führte – zumal in Zeiten mit geringem Wachstum – zu weiteren konjunkturellen Einbrüchen und verschärfte damit durch prozyklische Politik das Problem der Arbeitslosigkeit zumindest für eine Anpassungszeit, was z.B. in Frankreich zu innenpolitischen Spannungen und Streiks führte (Volz, J., 1995). Zu hinterfragen ist auch, ob im Sinne der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen eine Schuldenreduktion auch ohne den Druck der Konvergenzkriterien erforderlich geworden wäre – aber möglicherweise ohne Euro-Beitritt politisch nicht durchsetzbar war. Die Schuldenstandsquote stellte das deutlichste Problem bei einer strikten Konvergenzprüfung dar. Nur Finnland, Frankreich, Luxemburg und Großbritannien lagen überhaupt unter der 60%-Marke. Die meisten anderen lagen geringfügig über dem Wert, wenn auch die Tendenz z.B. bei Frankreich und Deutschland in den letzten Jahren deutlich in die falsche, d.h. steigende, Richtung zeigte. Die Länder mit zu großem Schuldenstand haben zu dessen Abbau nur eine Möglichkeit: Die drastische Reduzierung neuer Schulden, d.h. künftiger Defizite. Wie aus den Konvergenzprogrammen dieser Länder im Jahr 1998 zu entnehmen war, waren aber die dort geplanten Sparbemühungen kaum geeignet, eine zügige Rückführung des Schuldenstandes zu erreichen. Im Licht der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung und der Diskussion um die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes erweisen sich die Befürchtungen um eine nachhaltige Haushaltssanierung als berechtigt. Drei Länder wiesen 1997 Werte auf, die weit jenseits der 60%-Grenze lagen: Belgien und Italien mit je 122% sowie Griechenland mit 108%; auch von „vorübergehend“ oder „hinreichend rückläufig“ ist in den Daten und Plänen dieser Länder nichts zu sehen. Die Teilnahme der beiden EU-Gründungsmitglieder Belgien und Italien an der ersten Runde der EuroEinführung wurde in der Entscheidung des Rats aus politischen Gründen dennoch befürwortet. Die Bewertung der Lage war in den Berichten von EWI und Kommission beim Schuldenund Defizitkriterium äußerst unterschiedlich. Das EWI hat die Kriterien strikt ausgelegt und deren gleichzeitige Erfüllung zum Maßstab gemacht; besonderer Wert wurde auf die vermutete Dauerhaftigkeit der erreichten Konvergenz, insbesondere bei der Lage der öffentlichen Haushalte, gelegt: Einmal-Aktionen wurden nicht als Beitrag zur Dauerhaftigkeit anerkannt. Dabei wurden auch zukünftige Risikofaktoren wie die Überalterung der Bevölkerung thematisiert. Die Lage wurde im Gesamtzusammenhang als kohärentes Bild untersucht. Auch wurden Vorschläge für die Vorgehensweise beim künftigen Schuldenabbau gemacht, wo insbesondere eine Konsolidierung zu Lasten der Investitionen abgelehnt wurde. Die Kommission hat sich auf die voneinander isolierte Beschreibung der Situation bezüglich der einzelnen Kriterien beschränkt. Die Haushaltslage wurde rein formal ausschließlich auf die Existenz bzw. Nicht-Existenz einer Ratsentscheidung zum exzessiven Defizit beurteilt. Außerdem werden positive Entwicklungen beim bisherigen Schuldenabbau betont sowie optimistische Prognosen zur künftigen Haushaltsentwicklung abgegeben. Trotz einer unterschiedlichen Interpretation bei der Beurteilung des Konvergenzstandes kamen beide Berichte zu dem Schluss, dass elf Mitgliedsländer für die Teilnahme am Euro in Frage kämen. Von den damals 15 Mitgliedsstaaten führten folgende den Euro nicht ein:
3.6 Die Einführung des Euro
257
Griechenland, das keines der Konvergenzkriterien erfüllen konnte,
Schweden, das als einziges Land die Unabhängigkeit seiner Zentralbank nicht hergestellt hatte, was auch darauf zurückzuführen ist, das es nicht am Euro teilnehmen wollte,
Großbritannien und Dänemark, die aufgrund von Sondervereinbarungen im Maastrichter Vertrag das Recht hatten, (noch) nicht an der gemeinsamen Währung teilzunehmen („Opt-out“ Klausel) – eine Option, die dem politischen Prozess geschuldet war: Die Einstimmigkeit beim Maastrichter Vertrag wäre sonst nicht erreichbar gewesen.
Mit seinem Beschluss vom Mai 1998 empfahl auch der Rat die Teilnahme der elf Länder am Euro; gleichzeitig wurden die Wechselkurse der entsprechenden Währungen zum Euro unwiderruflich festgelegt. Der Rat hat sich beim Schuldenkriterium ebenso wie die Kommission bei der Beurteilung der Staatsfinanzen der Kandidaten darauf zurückgezogen festzustellen, dass kein Ratsbeschluss nach Artikel 104 (Übermäßiges Defizit) vorliegt. Zusammenfassende Bewertung Blickt man auf das in den Konvergenzprozessen Erreichte, so könnte man die Entscheidung zur Einführung des Euro in diesen elf Ländern als insgesamt erfolgreich bezeichnen: Kam es doch darauf an, eine stabile, d.h. inflationsfreie Währung zu installieren. Diesem Ziel dienen alle Kriterien. Damit könnte man das Ziel als erreicht beurteilen, wenn auch einige Konvergenzkriterien (noch) nicht problemlos erfüllt waren. Die Absicherung dieses erreichten Standes an Konvergenz wurde einem institutionellen Rahmen anvertraut: Die neu geschaffene, unabhängige Europäische Zentralbank sollte künftig die Inflation im Euro-Raum zu begrenzen und die Überwachung von Staatsdefiziten sollte durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt geleistet werden. Das Scheitern der Schuldenbegrenzung wurde nicht für möglich gehalten bzw. in der politischen Diskussion ausgeblendet.
3.6.1.2
Fragwürdige Aufnahme Griechenlands
Hätte Griechenland den Euro einführen dürfen? Griechenland konnte, obwohl die Politik und die öffentliche Meinung im Land einen Beitritt zum Euro anstrebten, den Euro nicht einführen. Ministerpräsident Kostas Simitis setzte die Wende hin zu einer ökonomischen Konsolidierung, z.B. durch Senkung der Staatsausgaben und Bekämpfung der Inflation, fort. Dies fand bei verschiedenen Wahlen die Zustimmung der Bevölkerung, obwohl mit der Wirtschaftspolitik Opfer verbunden waren. Insgesamt war der Fortschritt Griechenlands bei der Anpassung an die Konvergenzanforderungen beeindruckend (Europäische Zentralbank, 2001a:84 ff.), so dass auch die bisherige Feststellung eines übermäßigen Defizits durch den Rat aufgehoben werden konnte. Das Beitrittsgesuch vom März 2000 wurde positiv entschieden, so dass Griechenland ab 1.1.2001 Mitglied des Euro-Raums wurde. Wie sich allerdings im Jahr 2004 nach einem Regierungswechsel in Griechenland herausstellt, waren die von Griechenland gemeldeten Daten zum Staatsdefizit nicht korrekt: Das
258
3 Die gemeinsame Währung
nach den Kriterien von EUROSTAT definierte Defizit hatte in allen vergangenen Jahren deutlich höher gelegen als es das Konvergenzkriterium zuließ (EUROSTAT, 2004). Mit der Finanzkrise von 2008 und dem erneuten Regierungswechsel in Griechenland wurde eine weitere erhebliche Lücke im Staatshaushalt deutlich, die in der offiziellen griechischen Statistik nicht enthalten war (European Commission, 2010a). Griechenland hätte demnach nicht den Euro übernehmen dürfen. Da weder die Buchstaben des Vertrages für eine solche Situation eine Regelung vorsehen, noch der politische Willen für eine scharfe Sanktion im Kreis der Mitgliedsländer gegeben war, wurde lediglich ein Verfahren wegen des immer noch zu hohen Defizits eröffnet (Europäische Kommission, 2004r). In den Jahren nach der Übernahme des Euro zeigte sich, dass die griechische Wirtschaft und Gesellschaft für die Konsequenzen einer einheitlichen Währung nicht vorbereitet waren.
3.6.2
Pre-Ins und EWS-2
Warum haben nicht alle befähigten Länder den Euro eingeführt? Wie soll eine „unfaire“ Abwertung verhindert werden? Im Grundsatz muss jeder Mitgliedsstaat den Euro einführen und sich demzufolge auch bemühen, die Konvergenzkriterien zu erfüllen. Dennoch ist die politische Realität bunter als der Vertrag es vorsieht – die drei Länder Großbritannien, Dänemark und Schweden haben den Euro bisher noch nicht eingeführt und werden dies wahrscheinlich auch in absehbarer Zeit nicht tun. Da die Einführung des Euro von vornherein als Prozess angelegt war, den die einzelnen alten und auch später die neuen Mitgliedsländer unterschiedlich schnell durchlaufen würden („Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“), ist auch die Zeit, in der zwei Gruppen von Mitgliedern existieren, geregelt. Die „Outs“ – im EU-Jargon freundlicher die Pre-Ins oder auch „Mitgliedsstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt“ (AEU-V, Artikel 139, 140) genannt – unterliegen nicht den Strafen bei zu hohem Defizit, entscheiden nicht im Zentralbankrat mit und übernehmen natürlich nicht das Euro-Bargeld. Mit dem Start des Euro haben die Pre-Ins an politischen Einflussmöglichkeiten verloren, da sie erstens an Entscheidungen über den geldpolitischen Kurs nicht beteiligt sind und sich zweitens der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN) am Vorabend seiner Sitzungen ohne die Vertreter der Pre-Ins zu informellen Abstimmungsgesprächen trifft, auf denen möglicherweise wichtige Entscheidungen vorab abgesprochen werden. Die Existenz einer Ländergruppe, die zwar dem Binnenmarkt, nicht aber dem Euro angehört, wirft für die EU das alte Problem möglicher Wechselkursturbulenzen auf. Um dieses gering zu halten und um zu vermeiden, dass ein Abwertungskampf der Pre-Ins gegen die EuroLänder ausbricht, hat der Ministerrat im Juni 1997 in Amsterdam beschlossen, die Pre-Ins über ein System fester Wechselkurse an den Euro zu koppeln; Vorbild dabei war das EWS-I (Kapitel 3.4.3.2). Im neue EWS-II gilt eine Bandbreite von +/- 15% um den festgelegten Kurs zum Euro; damit wird auf die Fixierung von bilateralen Wechselkursen zwischen den Währungen der Pre-Ins verzichtet, so dass diese sich gegeneinander verändern können, ohne dadurch Interventionen der Zentralbanken auszulösen (Deutsche Bundesbank, 2005e).
3.6 Die Einführung des Euro
259
Übernahme des Euro nach 2002 Nach der Einführung des Euro mit einer „Startgruppe“ haben weitere Mitgliedsstaaten nach ihrer Erfüllung der Konvergenzkriterien und nach entsprechender Befürwortung durch die Europäische Zentralbank und den Rat zwischen 2007 und 2011 den Euro als Währung übernommen: Slowenien, Zypern, Malta, die Slowakei und Estland. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise bekamen Slowenien und Zypern so große Finanzierungsprobleme, dass sie einen Antrag auf Unterstützung stellen mussten. Beide Länder sind jedoch nicht wegen des Euro in diese schwierige Lage geraten.
3.6.2.1
Großbritannien, Dänemark und Schweden
Könnte Großbritannien die Konvergenzkriterien erfüllen? Warum erhielt Dänemark besondere Rechte? Wie erreicht Schweden es, den Euro nicht einführen zu „dürfen“? In den drei Mitgliedsstaaten aus der Gruppe der EU-15, die den Euro (bisher) nicht eingeführt haben, waren jeweils spezifische Ausgangslagen und Gründe dafür ausschlaggebend. Großbritannien hatte im Protokoll Nr. 25 zum Maastrichter Vertrag ausgehandelt, dass es nur nach Wunsch und nach Zustimmung des britischen Parlaments den Euro übernehmen wird; das Land kann aber jederzeit seine „Aufnahmeprüfung“, die nach den üblichen Regeln durchzuführen ist, beantragen. Damit gelten für Großbritannien die Regeln für ein „Ausnahmeland“. Der Hintergrund für diese Entwicklung ist die ausgeprägte Skepsis in breiten Kreisen der britischen Bevölkerung gegenüber dem Euro, dessen Vor- und Nachteile für das Land aber nicht prinzipiell anders einzuschätzen sind als auch für andere Mitgliedsstaaten (Browne, A., 2001; Temperton, P., 2001; Layard, R. et al., 2002). Die britische Öffentlichkeit jedoch war und bleibt quer durch alle politischen Lager mehrheitlich gegen den Euro, so dass es für die jeweilige Regierung riskant ist, sich mit einer Pro-Euro-Linie zu stark zu exponieren; es gibt sogar eine starke Fraktion für einen Austritt aus der EU (Kapitel 5.3.1). Die britische Industrie dagegen drang zeitweise auf einen Beitritt, um die Nachteile aus einem starken Pfund bzw. aus Wechselkursschwankungen ausschalten zu können, und es wird auch befürchtet, dass die ausländischen Investoren sich verunsichert fühlen könnten und die Direktinvestitionen zurückgehen. In seiner Rede auf dem Weltwirtschaftsforum 2013 in Davos erklärte der Premierminister Cameron, sein Land werde den Euro niemals übernehmen. Dänemark hat gegenüber der EU schon lange ein besonderes Verhältnis: Dort ist die Haltung weit verbreitet, eine Einmischung der großen Länder in das kleine Dänemark abzulehnen. Den Dänen sind Themen wichtig sind, die es auf der europäischen Bühne nicht gut vertreten sieht (Petersen, N., 1996). Da die dänische Verfassung in wichtigen Fragen der europäischen Politik ein Referendum vorschreibt, ist in der direkten Demokratie die EuropaSkepsis der Bevölkerung wichtiger als die pro-europäische Haltung der politischen Klasse. In einem Referendum hatte das dänische Volk die Ratifizierung des Vertrags von Maastricht 1992 abgelehnt und ihn damit fast zum Scheitern gebracht. Erst mit dem Protokoll Nr. 26
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3 Die gemeinsame Währung
zum Maastrichter Vertrag wurde Dänemark das Recht eingeräumt, den Euro gar nicht einzuführen und nur auf eigenen Antrag künftig hin eine „Aufnahmeprüfung“ ablegen zu müssen. Ohne diese Rücksichtnahme auf die nationalen Besonderheiten wären die Zustimmung Dänemarks zum Maastrichter Vertrag zum zweiten Mal und damit der gesamte Vertrag gescheitert. Eine zweite Volksabstimmung zur Einführung des Euro in Dänemark am 28.9.2000 erbrachte wiederum ein mehrheitliches Nein. Dänemark ist währungspolitisch schon lange mit der Euro-Zone durch das EWS verbunden, wo die Dänenkrone die eng gefasste Bandbreite von +/- 2,25% ohne Probleme einhält. In der Finanzkrise 2008 hat sich in Dänemark die Stimmung gegenüber einer Übernahme des Euro jedoch gewandelt, da die dänische Krone erheblich unter Abwertungsdruck geriet und nur durch eine Intervention der Notenbank in die Devisenmärkte und durch eine deutliche Anhebung des Zinses in ihrer Parität zum Euro gehalten werden konnte. Da wichtige politische Entscheidungen über die Reaktionen auf die Finanz- und Euro-Krise im engeren Kreis der Euro-Länder gefällt werden, wollte die dänische Regierung in einem erneuten Referendum 2011 die Haltung der Bevölkerung zur Übernahme des Euro erfragen, hatte aber angesichts der Krise davon Abstand genommen. In Schweden, das erst 1995 der EU beitrat, kam es 1997 zur Entscheidung des Parlaments gegen eine sofortige Teilnahme am Euro, da auch die Öffentlichkeit ablehnend eingestellt war. Vor einem Beitritt muss Schweden dem EWS-II beitreten und die Unabhängigkeit seiner Zentralbank gesetzlich verankern. Im Konvergenzbericht 2006 wird Schweden wiederum die Erfüllung der Konvergenzkriterien bescheinigt, jedoch ist weder die Unabhängigkeit der Zentralbank hergestellt worden, noch die Teilnahme am EWS gegeben. Daher empfiehlt die Kommission, Schweden zurzeit nicht in den Euro aufzunehmen (European Commission, 2012h:27). Bereits im September 2003 hatte die Bevölkerung Schwedens in einem Referendum den Euro mit deutlicher Mehrheit abgelehnt, so dass dieses Land auch ohne eine im Vertrag verankerte Ausnahmegenehmigung die gemeinsame Währung wohl auf lange Zeit nicht einführen wird. Da Schweden relativ unbeschadet durch die Finanzkrise gekommen ist, lehnt eine deutliche Mehrheit den Euro für Schweden ab. In einer unabhängigen Evaluation wird die Geldpolitik der schwedischen Zentralbank als insgesamt erfolgreich bezeichnet: Die Inflation ist gering und das Wirtschaftswachstum wird durch die Geldpolitik unterstützt (Giavazzi, F., Mishkin, F. S., 2006; Alho, K. E. O., 2011).
3.6.2.2
Die Transformationsländer und der Euro
Sollten die Transformationsländer den Euro schnell übernehmen? Ist die EZB mit 27 Mitgliedern noch arbeitsfähig? Wie weit sind die neuen Mitgliedsstaaten mit der Konvergenz vorangekommen? Der lange politische Prozess in der EU um die Einführung einer gemeinsamen Währung begann in den 70er Jahren mit dem Werner-Plan und war noch nicht abgeschlossen, als sich der „Ost-Block“ mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion für den globalen Wirtschaftsaustausch öffnete und auch die Frage der politischen Neuorganisation Europas auf die Tagesordnung drängte. Die beiden Prozesse verbanden sich und die Frage war zu klären, wie
3.6 Die Einführung des Euro
261
schnell und unter welchen Bedingungen die neuen Mitgliedsstaaten den Euro übernehmen sollten. Die Konvergenzkriterien wurden als Maßstab dafür beibehalten. Mit dem Beitritt der acht mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) im Jahr 2004 sowie mit Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 kamen erstmals Transformationsländer hinzu. Zusammen mit Malta und Zypern standen nun zwölf neue Kandidaten für die Konvergenzprüfung und anschließende Übernahme des Euro an. Bei den Transformationsländern, die den Übergang aus dem Wirtschaftssystem der zerfallenen Sowjetunion in eine jeweils neu zu definierende Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft zu bewältigen haben, stellt sich die Frage nach dem Tempo der Übernahme des Euro anders als bei den bisherigen Mitgliedsstaaten (Bolle, M. (Ed.), 2004; Bolle, M., Pamp, O., 2006; Onorante, L., 2006). Die Anstrengungen zur Erfüllung der Konvergenzkriterien können die Bewältigung der Transformation beeinflussen – positiv und negativ. Auch aus der Sicht des Euro-Raums ist zu klären, ob eine frühzeitige Übernahme des Euro durch die MOEL diesen destabilisieren könnte. Die Konvergenzkriterien verlangen eine geringe Inflation. Beim Übergang von einer Planwirtschaft in die Marktwirtschaft kann es aber aus verschiedenen Gründen zu einem vorübergehenden inflationären Schub kommen:
Wenn Güter des Grundbedarfs wie Lebensmittel, Wohnungen und Energie vorher hoch subventioniert waren, steigen deren Preise dann auf das Marktniveau, während ehemals so genannte Luxusgüter wie Unterhaltungselektronik und Fahrzeuge am Weltmarkt nunmehr deutlich billiger zu kaufen sind – per Saldo kann sich die Inflationsrate zumindest kurzzeitig deutlich erhöhen.
Eine Übernachfrage auf dem Gütermarkt, die sich aus raschem Wachstum bzw. aus einem Defizit im Staatshaushalt speist, kann die Preise treiben.
Wenn in der Industrie nach einer Öffnung für den Weltmarkt und der Herstellung internationaler Wettbewerbsfähigkeit durch Produktivitätssteigerungen die Löhne der Industriearbeiter steigen, dürfte es auch den Arbeitskräften im Dienstleistungsbereich und dem Staatssektor gelingen, Lohnsteigerungen durchzusetzen, so dass es zu einer lohnkosteninduzierten Inflation kommen kann (Balassa-Samuelson-Effekt).
Die Konvergenzprüfung verlangt zwar eine Dämpfung der Inflation, aber eine zu rasche oder starke Begrenzung des Preisauftriebs durch restriktive Wirtschaftspolitik kann das aufholende Wachstum unerwünscht bremsen. Damit wäre auch der Spielraum zur Unterstützung sozial schwacher Gruppen der Gesellschaft geschmälert. Andererseits trifft eine hohe Inflation gerade diese gesellschaftlichen Gruppen empfindlich, da die Kaufkraft ihrer Transfereinkommen sinkt, ohne dass eine diese Gruppen Verhandlungsmacht für einen Inflationsausgleich hätten. Hier gibt es also eine Abwägung zwischen rascher Übernahme des Euro und der Unterstützung der Transformation. Aus Sicht des Euro-Raums ist eine höhere Inflation in einem Mitgliedsstaat weniger problematisch, da die Zentralbank nicht die Aufgabe hat, die Situation einzelner Länder geldpolitisch zu berücksichtigen – diese müssen vielmehr die Kosten der höheren Inflation selbst tragen, indem z.B. die preisliche Wettbewerbsfähigkeit des Landes sinkt. Außerdem sind die Wirtschaften der Transformationsländer relativ klein,
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3 Die gemeinsame Währung
so dass deren Inflation kaum auf den gesamten Euro-Raum durchschlagen kann (Schweickert, R., 2001; Deutsche Bundesbank, 2001a). Der Staat kann sich durch die Transformation veranlasst sehen, ein höheres Defizit in Kauf zu nehmen, um z.B. die Infrastruktur zu verbessern, Zeit für die Privatisierung von Staatsbetrieben zu gewinnen, soziale Sicherungssysteme aufzubauen oder die Folgen der Transformation für ausgewählte Gruppen der Gesellschaft abzufedern. Eine Begrenzung oder rasche Rückführung von Defiziten zur Erfüllung der Konvergenzkriterien erschwert die Erfüllung dieser Aufgaben und kann zu Frustrationen in der Bevölkerung und politischer Destabilisierung führen. Andererseits kann gerade ein wenig verschuldeter Staatshaushalt zu positiven Erwartungen an die wirtschaftlichen Perspektiven beitragen und so das Wachstum unterstützen. Allerdings gilt auch für die neuen EU-Mitgliedsländer bereits vor der Übernahme des Euro das sanktionsbewehrte Verbot, übermäßige Defizite einzugehen; dies begrenzt ihren fiskalischen Spielraum. Die Fixierung des Wechselkurses durch die Mitgliedschaft im EWS-II verwehrt einem Transformationsland eine Abwertung auch dann, wenn der Wechselkurs wegen transformationsbedingt vorübergehend hoher Inflation korrigiert werden sollte, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen: Negative Folgen für die Exporte wären zu erwarten. Andererseits kann gerade eine frühzeitige Aufgabe der eigenen Währung eventuelle Spekulationen gegen diese Währung und daraus resultierende Störungen beenden. In der öffentlichen Meinung in den MOEL (European Commission, 2006r) sind die Gruppen derer, die für sich persönlich Vor- bzw. Nachteile vom Euro erwarten, ungefähr gleich groß. Befürchtet wird u.a. ein starker Anstieg der Inflation und weniger als 40% erwarten eine Verbesserung bei Zinsen, Staatsverschuldung und Wachstum. Zwei Drittel der Befragten sehen durch den Euro die Position Europas in der Welt gestärkt. Eine Stärkung der Identität Europas nach innen sehen nur die Bewohner weniger Länder der MOEL. Eine Ausnahme bildet Slowenien, das den Euro im Jahr 2007 eingeführt hat: Hier überwogen die positiven Einschätzungen deutlich. Stand der Konvergenz Über den Stand der Konvergenzkriterien in den Ländern, die den Euro noch nicht übernommen haben, geben die Konvergenzberichte der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank (European Commission, 2012h; European Central Bank ECB, 2012a) Auskunft. Die Situation im Jahr 2012 ist aus Tab. 3-6 ersichtlich.
Das Kriterium der Inflation wird nur von Bulgarien und der Tschechischen Republik erfüllt, die anderen Länder weisen deutlich höhere Werte als erlaubt aus. Insgesamt ist die Teuerungsrate in diesen Ländern sehr volatil.
Gegenüber allen Ländern liegt ein Beschluss des Rates vor, in dem ein zu hohes Defizit gerügt wird. Seit der Verabschiedung des Beschlusses hat sich die Situation in allen Ländern – außer in Litauen – entspannt, wenn auch noch nicht von einer nachhaltig reduzierten Neuverschuldung ausgegangen werden kann.
3.6 Die Einführung des Euro
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Das Defizit bewegt sich in einigen Ländern an der Grenze des Höchstwertes von 3,0% (Tschechische Republik, Polen, Rumänien) oder darüber (Litauen).
Der Schuldenstand fast aller Länder liegt unterhalb des Referenzwertes von 60%, nur Ungarn weist eine deutliche Überschreitung auf.
Am EWS-II nehmen nur Lettland und Litauen teil; einige Länder haben ihre Währung über andere Mechanismen an den Euro gekoppelt.
Kräftige Abwertungen (Ungarn, Rumänien, Tschechische Republik) weisen auf Probleme mit der Währungsstabilität hin – das Konvergenzkriterium ist nicht erfüllt.
Die langfristigen Zinsen liegen bei Ungarn und Rumänien deutlich über dem Referenzwert, was als Konsequenz der in den anderen Parametern offenbar gewordenen wirtschaftlichen Probleme zu verstehen ist.
Die institutionellen Regelungen zur Zentralbank hat noch kein Land vollständig umgesetzt.
Als wirtschaftlicher „Problemfall“ fällt Ungarn mit hoher Inflation, hohem Schuldenstand, erheblicher Abwertung und hohen Langfristzinsen deutlich aus der Gruppe heraus. Aber auch in Rumänien bestehen kritische Werte bei Inflation, Wechselkursstabilität und Zinsen. Insgesamt wird es stark vom weiteren Einfluss der Finanzkrise auf diese Länder abhängen, wie gut sie die Konvergenzkriterien in der Zukunft erfüllen können. Konvergenz 2012 Defizit SchulEWS-II den Mitglied