Europa ohne Identität?: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2017 Heft 02 [1 ed.] 9783666800214, 9783525301814, 9783525800218


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Europa ohne Identität?: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2017 Heft 02 [1 ed.]
 9783666800214, 9783525301814, 9783525800218

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 2 | 2017 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

EUROPA

ohne Identität? Kardinal Reinhard Marx  »Schluss mit der Klassengesellschaft!«  Julia Schulze Wessel  Krise! Welche Krise?  Ulrike Guérot  Das Ende der

e­ uropäischen Friedenserzählung  Gesine Schwan  »Solidarität auf der primitivsten Ebene«  Franz Walter  Politische Prediger und Provokateure

War das KPD-Verbot verfassungswidrig?

Josef Foschepoth

Verfassungswidrig!

Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg 2017. Ca. 450 Seiten mit 38 Abbildungen, 14 Grafiken und 1 Tabelle, gebunden ca. € 40,– D ISBN 978-3-525-30181-4 Erscheint im September 2017

Der KPD-Prozess von 1951 bis 1965 war das größte und längste Parteiverbotsverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Zugleich ist er ein bislang völlig unterschätztes Schlüsselereignis der deutsch-deutschen Geschichte zwischen 1949 und 1969. Auf der Grundlage bislang unter Verschluss gehaltener Staatsakten ist Josef Foschepoth ein bahnbrechendes Buch gelungen. Es vermittelt eine Fülle neuer Erkenntnisse zur Wirkmächtigkeit des Nationalsozialismus, zur Entstehung eines neuen Nationalismus, zur notwendigen Unterscheidung von Kaltem Krieg und Kaltem Bürgerkrieg und nicht zuletzt zur Frage der Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.

www.v-r.de

EDITORIAL ΞΞ Matthias Micus / Marika Przybilla-Voß

Der »Brexit«, die Entscheidungsblockade beim Handelsvertrag CETA , die Wahlerfolge von Rechtspopulisten bei Europawahlen, die Unfähigkeit der Gemeinschaft zu gemeinsamem Handeln in der Flüchtlingskrise – diese wenigen Stichpunkte genügen, um zu veranschaulichen, dass die Europäische Union und mit ihr die Idee eines geeinten Europa in einer tiefen Krise stecken. Statt auf eine weitere Vertiefung der Zusammenarbeit setzen viele Mitgliedsstaaten auf Renationalisierung, nicht zuletzt auch, weil sie sich damit und mit der Kritik an Europa im Bund mit relevanten Teilen ihrer Bevölkerungen wähnen. Und dennoch: Die Werte, Normen und Ideen Europas, und mit ihnen Europa selbst, büßen auf internationaler Ebene keineswegs an Attraktivität oder Bedeutung ein. Ganz im Gegenteil strahlen sie Anziehungskraft und Hoffnung aus. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die vorliegende Ausgabe der INDES im Schwerpunkt mit Europa und den mit diesem Begriff wie Raum

verknüpften Vorstellungen, Werten und historischen Bezügen, mit den – gedachten wie manifesten – Gemeinsamkeiten nach innen und den Abgrenzungen nach außen, kurzum: den europabezogenen Identitäten. Was macht »Europa« aus? Gibt es gemeinsame Erzählungen, auf die sich in Krisen zum Zwecke der Stabilisierung inneren Zusammenhaltes berufen werden kann? Und gibt es eine benennbare europäische Idee? In diesem Zusammenhang stellt sich noch grundsätzlicher die Frage, wie Identifikationen mit Räumen und politischen Gebietseinheiten überhaupt entstehen? Wieso also fühlen sich zahlreiche Menschen, wenn auch vielleicht nicht in erster Linie als Europäer, so doch als Franzosen, Deutsche, Italiener? In Verbindung damit soll desgleichen eruiert werden, woran es Europa mangelt, wo seine Defizite liegen – und ob und inwiefern sich diese korrigieren lassen: durch mehr oder weniger Integration; durch die Akzeptanz pluraler, entlang der Nationalstaatsgrenzen sich unterscheidender Einstellungen zu Europa oder deren Überwindung; durch neue, attraktive Europa-Erzählungen. Aber welche wären das? Fragen über Fragen, deren Beantwortung in Anbetracht der internationalen Entwicklungen drängender denn je ist.

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INHALT

1 Editorial

ΞΞMatthias Micus / Marika Przybilla-Voß

>> INTERVIEW



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»Solidarität auf der ­primitivsten Ebene« ΞΞEin Gespräch mit Prof. Dr. Gesine Schwan über den Bedeutungsverlust des Nationalstaats, Facetten der europäischen Identität und Potenziale von Gemeinden

>> ANALYSE 21 Die Europäische Union



Eine demokratische Lagebeschreibung ΞΞEmanuel Richter

29 Gleichheit und Demokratie

Das Ende der europäischen Friedenserzählung und die Neubegründung Europas ΞΞUlrike Guérot

36 Polen, Europäische Union und Identität Fünf Thesen zu einem Land der Gegensätze ΞΞWeronika Priesmeyer-Tkocz

47 Angst essen Europa auf

Der Einfluss Europas auf die ­Präsidentschaftswahlen 2017 ΞΞDaniela Kallinich

53 Europäische Identitäten in der Krise Drei Länder im Vergleich ΞΞDennis Lichtenstein

61 Krise! Welche Krise?

Von der »Flüchtlingskrise« zur Krise der ­europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik ΞΞJulia Schulze Wessel

69 Kompetenz und ­Grenzüberschreitung Die supranationale Rechtsprechung vor Gericht ΞΞMarcus Höreth / Jörn Ketelhut

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81 Europa am Abgrund

Systemintegration ohne Sozialintegration ΞΞHauke Brunkhorst

88 »Brexit« und andere Krisen

Welche Erkenntnisse liefern uns Theorien europäischer Integration? ΞΞMarius Guderjan



>> INTERVIEW 98 »Schluss mit der K ­ lassengesellschaft!«

ΞΞEin Gespräch mit Kardinal Reinhard Marx über die Substanz der christlichen Botschaft und ihren Beitrag zur Lösung der ­europäischen Identitätskrise

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 114 Politische Prediger und Provokateure Vom Verschwinden der Intellektuellen und der konzeptionellen Entleerung der Politik ΞΞFranz Walter

123 Die Geburt des Kanzlerkandidaten Nachrichten vom Wahlkampf ΞΞKlaus Wettig

137 Demokratie heißt nicht Gleichberechtigung Politische Pionierinnen der Linken zwischen Kaiserreich und Republik ΞΞMargret Karsch

145 Unter dem Radar

Profitorientierte Wissenschaft mit ­unheimlichen Ansprüchen ΞΞFriederike Müller-Friemauth / Rainer Kühn

Inhalt

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SCHWERPUNKT: EUROPA

INTERVIEW

»SOLIDARITÄT AUF DER ­PRIMITIVSTEN EBENE« ΞΞ Ein Gespräch mit Prof. Dr. Gesine Schwan über den Bedeutungsverlust des Nationalstaats, Facetten der europäischen Identität und Potenziale von Gemeinden

In letzter Zeit ist immer wieder die Rede davon gewesen, dass sich Europa, die Idee Europas, in einer tiefgreifenden Krise befinde. Sehen Sie diese Krise auch? Wenn heute von Krise gesprochen wird, dann ist dies nicht die Krise der europäischen Idee, sondern eine Krise der politischen Institutionen der Europäischen Union gemeint. Von einer Krise der europäischen Idee als einer historischen Idee zu sprechen, macht in meinen Augen keinen Sinn. Die europäische Idee ist das normative Ziel einer politischen Konstruktion. Denn natürlich wird es auch in Zukunft ein geografisches Europa und Länder geben, die sich europäisch nennen, auch ohne die Europäische Union. Was dagegen zur Debatte steht, ist die politische Einheit der Europäischen Union, die als Wirtschaftsgemeinschaft begonnen hat. Diese politische Einheit umfasst alle Länder, die zur Europäischen Union gehören; sie begrenzt sich nicht auf die Euro-Länder und erstreckt sich nicht auf all jene Länder, die sich als europäisch verstehen, aber nicht zur EU gehören, wie die Ukraine oder Weißrussland. Worin besteht also die Krise der EU? Zunächst einmal: Die Krise besteht. Sie ist im Kern eine Krise der Solidarität, des Zusammenhalts in Europa, und qualitativ sehr viel ernster zu nehmen als sämtliche vorangegangenen Krisen, weil sie sich seit der Bankenkrise verschärft hat. Diese Krise hat viele Ursachen. Natürlich gab es immer Rivalitäten zwischen den Nationalstaaten – deswegen ist ja die Europäische Union auch gegründet worden. Aber vor dem ganzen Hintergrund der Globalisierung und der neoliberalen Wirtschaftspolitik mit ihrem Kernbegriff des Standortwett­bewerbs ist verstärkend neben die ohnehin bestehenden nationalen Unterschiede, Rivalitäten und Konflikte noch der ökonomische

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Wettbewerb zwischen den Nationalstaaten als Standorten für Kapitalinvestitionen getreten. Der Standortwettbewerb hat ganz massive Auswirkungen auch auf die Menschen: Die Gewerkschaften geraten in Konkurrenz zueinander, alle möglichen sozialpolitischen Errungenschaften, progressive Steuersätze, Lohnhöhen, rechtliche Schutzbestimmungen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen – all das steht unter Abwertungsdruck. Die aktuelle Verschärfung der Krise liegt also zum einen in der beschriebenen Politik und Kultur des Neoliberalismus begründet. Zum anderen hat die Globalisierung, eben weil sie sich unter neoliberalen statt keynesianischen Auspizien vollzieht, die Spaltung zwischen den europäischen Staaten zugespitzt – ebenso wie sich ja auch innerhalb jeder einzelnen Gesellschaft die soziale Schere öffnet. Hat die Politik versagt? Ich glaube, dass die deutsche Bundesregierung an ganz zentraler Stelle Verantwortung trägt für die Desintegration der Europäischen Union. Die Bundesregierung hat, anders als alle ihre Vorgänger, sehr eindeutig das kurzfristige nationale Interesse – richtiger: nicht das tatsächliche nationale Interesse, sondern das, wenn man so will, Regierungs-Wiederwahl-Interesse – zur Leitmaxime ihrer Europapolitik gemacht. Die Krise Griechenland 2010 etwa hätte ganz anders angepackt werden können, wenn es nicht die Wahl in NordrheinWestfalen gegeben hätte. Und ich glaube, dass Angela Merkel ganz anders als selbst Gerhard Schröder, der auch nicht gerade ein sentimentaler Europäer war, einen inneren Bezug zur eigentlichen europäischen Idee nie hatte und bis heute nicht hat. Sie hat gleichfalls keinen inneren Bezug zur Demokratie, selbst wenn das jetzt denunziatorisch klingen mag. Jedenfalls dann nicht, wenn Demokratie mehr sein soll als das Gewinnen von Wahlen. Wenn man unter Demokratie die öffentliche Diskussion von Alternativen und die Begründung politischer Entscheidungen versteht, dann hat die Merkel’sche Begründungsund Alternativlosigkeit die Demokratie systematisch unterminiert. Merkels Politikstil besteht darin, an kleinen Stellschrauben zu drehen, um Krisen die Spitze zu nehmen, sie ungefährlich zu machen. Auf diese Weise wird aber keine Krise wirklich gelöst oder auch nur in ihren historischen Dimensionen erkannt. Politik muss meiner Ansicht nach die Zukunft mit der Vergangenheit verknüpfen, sie muss die systemischen Zusammenhänge chronologisch und horizontal erfassen. Nichts davon ist auch nur ansatzweise bei Merkel vorhanden. Ebendieses Akteurshandeln hat in Kombination mit dem Neoliberalismus und einer entsolidarisierenden Globalisierungspraxis zu der ungewöhnlichen Art geführt, in der unter Merkel deutsche Dominanz exerziert wurde. Nicht demonstrativ, macho­mäßig oder gar chauvinistisch, doch sehr effektiv. Und

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Europa — Interview

vor allen Dingen so, dass außerhalb Deutschlands jeder den Oktroi einer bestimmten Wirtschaftspolitik bemerkt hat, die den anderen nicht gut getan hat, Deutschland dagegen schon. Deshalb wurde das in Deutschland auch kein relevantes Thema. Ist das nicht ein wenig kurz gegriffen, die Schuld für die Krise Europas Angela Merkel zuzuschreiben? Angela Merkel ist seit dem Herbst des Jahres 2005 verantwortlich für die Europapolitik. Wer praktisch zwölf Jahre hauptverantwortlich ist für die Wirtschaftspolitik und als Staatschefin die größte Macht besitzt, über den kann man nicht sagen: Die Krise kam zufällig und er oder sie hat damit nichts zu tun. Da spielt das eigene Zutun schon eine ganz entscheidende Rolle. Und deswegen glaube ich auch, dass Merkels Politik in Verbindung mit dem Festhalten ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble an einer nationalistischen und juristisch-autoritären Wirtschaftspolitik zugunsten deutscher Interessen die Europäische Union zerstört. Sie haben eingangs gesagt, von einer Krise der europäischen Idee könne eigentlich nicht gesprochen werden, Ihre letzten Äußerungen könnte man aber so verstehen, eine verbindende europäische Idee sei angesichts der Dominanz nationalegoistischer Wirtschaftsinteressen verloren gegangen. Was verstehen Sie denn darunter, unter der europäischen Idee? Und welche Bedeutung hat diese europäische Idee in Ihren Augen? Ich verwende den Begriff der europäischen Idee ungern. Er ist ein Singular, der mir nicht so viel sagt. Bei denen, welche die Europäische Union gegründet haben, verkörperte die europäische Idee wohl den Wunsch, in Europa kriegerische Konflikte durch die Zusammenlegung von kriegswichtigen Industrien, also Kohle und Stahl, zu überwinden. Und sie bedeutete nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus grenzüberschreitende Verständigung und Ausgleich. In den Römischen Verträgen etwa gibt es eine Präambel, die ganz ausdrücklich auf ökonomischen und sozialen Ausgleich zielt. Mit der europäischen Idee verband sich die Absicht, bei allen Entscheidungen immer die Auswirkungen auf die jeweils anderen Länder zu berücksichtigen und die zwischenstaatlichen Ungleichgewichte – politischer, aber auch wirtschaftlicher Art – so zu handhaben, dass die Kleineren sich nicht untergebuttert fühlten. In diesem Rahmen bewegte sich noch ganz eindeutig das Denken Helmut Kohls. Diese europäische Idee ist aber spätestens in den Krisen nach 2008 unter den sehr engstirnigen deutschen Dominanzpolitiken untergegangen, also irrelevant geworden. Gesine Schwan  —  »Solidarität auf der p­ rimitivsten Ebene«

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Wie konnte es dazu kommen? Bei der Politik ist es immer so: Politik besteht aus Handlungsweisen, die eingebettet sind in ein Institutionengefüge. Wenn Sie so wollen: politische Kultur und Institutionen; bei Montesquieu heißt der Unterschied: Natur (­Institutionen) und Prinzip (Kultur) der Regierungsweise. Natürlich besteht sie auch noch aus mehr; aber der Kern des Politischen wird durch diese beiden Kategorien gut erfasst. Dass nun mit Blick auf Europa die Institutionen unter dem Doppeldruck der Vereinbarung von fundamentalen Unterschieden, von unterschiedlichen Potenzialen, unterschiedlichen historischen Traditionen einerseits, der Anforderungen von Demokratie mit ihrem Gleichheitsprinzip »One person, one vote« andererseits mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert sind, leuchtet unmittelbar ein. Die Analogie von Europäischer Union und Nationalstaat war deshalb immer illusionär. Verglichen mit Letzterem zeichnet sich Europa insofern wenig überraschend von Anfang an durch Demokratiedefizite aus. Diese hat man durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments zu überwinden versucht. Aber die Vermittlung von zwei grundsätzlichen Konfliktlinien – die eine weltanschaulich-politisch, die andere national – ist eben schwierig. Wir haben zwar im Europäischen Parlament Fraktionen, wir haben aber keine europäischen Parteien und noch wenig, wenn auch jetzt wachsend, europäische Öffentlichkeit. Bei allen Abstimmungsprozeduren im Europäischen Parlament müssen für Mehrheiten die Abgeordneten von Parteien mehrerer Länder zusammengeführt werden. Obendrein wurde die europäische Komplexität dann noch einmal durch die Eurozone und die Einführung der gemeinsamen Währung gesteigert. Inwiefern? Man hat seinerzeit gedacht, dass die gemeinsame Währung das Verhalten prägen und quasi gesetzmäßig in eine gemeinsame Politik münden würde. Die nationalen Regierungen würden sich einander nähern. Das ist aber nicht geschehen; im Nachhinein zeigte sich, dass die Einführung des Euro ohne eine gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik auf tönernen Füßen stand. Deshalb gibt es unter den Fachleuten einen markanten Streit zwischen denen, die sagen: Die Eurozone ist eine Fehlkonstruktion, die gehört insgesamt abgeschafft. Vertreter der Linksparteien, aber etwa auch Fritz Scharpf und Joseph Stiglitz argumentieren so. Tatsächlich zeigen die Erfahrungen mit gemeinsamen Währungen in Wirtschaftsräumen mit großen regionalen Ungleichgewichten, dass man in irgendeiner Weise Ausgleichsmechanismen braucht. Diese Ausgleichsmechanismen sind europäisch viel schwieriger durchzusetzen als national, obwohl die ewigen Diskussionen um den

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Europa — Interview

Länderfinanzausgleich auf Meinungsverschiedenheiten und Konflikte auch im nationalstaatlichen Rahmen hinweisen. Warum ist nun aber die europäische Gründungsidee – gültig, wie Sie sagten, noch zu Zeiten Helmut Kohls – ausgerechnet im 21. Jahrhundert zusammengebrochen? Die institutionellen Defizite fielen etwa seit dem Jahrtausendwechsel zusammen mit einer Wirtschaftspolitiktheorie und -kultur, die Solidarität, wo immer sie konnte, dementiert und unterminiert hat als Mangel an Verantwortung. Statt Hilfe von woanders zu erwarten, sollte ein jeder lieber für sich selbst sorgen. Die Tatsache also, dass das fast unvermeidlich defizitäre europäische Institutionengebäude nun erstens auf eine Kultur und Wirtschaftspolitik traf, die Solidarität regelrecht programmatisch unterminiert hatte, und zweitens auf Personen in den Schaltzentralen, die aufgrund eines negativen Menschenbildes der Meinung waren, dass Menschen eigentlich nur unter Druck verantwortlich handeln und nicht freiwillig – das halte ich für die Quintessenz des Menschenbildes sowohl von Frau Merkel als auch von Herrn Schäuble –, diese Tatsache verbindet sich mit dem 21. Jahrhundert. Diese Sachen kamen jetzt zusammen: ein Institutionengefüge, das defizitär ist, eine global vorherrschende neoliberale Wirtschaftspolitik, die kulturelle Konsequenzen und Implikationen hatte, sowie handelnde Akteure, Entscheidungsträger, die mit Solidarität eigentlich nichts anfangen konnten. Man kann aber nun mal nicht zu Solidarität oder zur Gemeinsamkeit zwingen. Das heißt, ein wenig zugespitzt ausgedrückt: Mit ein bisschen gutem Willen ließe sich die Krise der europäischen Idee auch wieder überwinden? Wir hätten schon Griechenland, dieses kleine Land, viel früher ganz anders behandeln können. Wir hätten die Schulden im Jahr 2010 anders zuordnen können. Wir hätten vieles anders machen können, aber es ist nicht anders gemacht worden. Und ich habe relativ früh den Eindruck gehabt: Wenn diese Komponenten sich nicht verändern, dann geht die Desintegration immer weiter. Und sie ist ja auch weitergegangen. Das betrifft nicht nur den »Brexit«. Auch das Schengen-Abkommen wird mehr und mehr unterminiert. Anstelle eines gemeinsamen Projektes erleben wir auf der Ebene der nationalen Regierungen ideologische Desintegration. Wobei es einen großen Unterschied zwischen nationalen Regierungen und der Gesellschaft auf der Ebene von Kommunen, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen gibt; bei Letzteren sehe ich große solidarische Potenziale. Das ist demokratietheoretisch kompliziert, denn die nationalen Regierungen sind in Demokratien durch Wahlen legitimiert. Aber ich glaube, dass die Wettbewerbsmechanismen nationaler Wahlen, Gesine Schwan  —  »Solidarität auf der p­ rimitivsten Ebene«

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verbunden mit der Tat­sache, dass die täglichen Probleme eher in den Kommunen als auf der nationalen Ebene gelöst werden müssen, die nationalen Regierungen von dem Druck, die täglichen Probleme zu lösen, entbinden. Das trifft auf die Kommunen nicht zu. Sie setzen Ihre Hoffnungen zur Revitalisierung der europäischen Idee auf die Gemeinden und die kommunale Ebene? Auf der Ebene der nationalen Regierungen jedenfalls gibt es gegenwärtig kein positives gemeinsames Projekt. Ich glaube nicht, dass man die Sicherung der Grenzen und die Schließung der Balkanroute als ein positives, konstruktives Projekt bezeichnen kann. Das ist eher Solidarität auf der primitivsten Ebene der nationalen Sicherheitsbedürfnisse. Wenn ich von einem gemein­ samen Projekt spreche, dann im Sinne von etwas Konstruktivem, Positivem für die Zukunft und für ganz Europa. Und da sehe ich auf der Regierungsebene überhaupt nichts – das ist für mich auch ein Indiz für die aktuelle Desintegration. Der gemeinsame Markt war so ein positives Projekt, die gemeinsame Währung ebenfalls. Sicher, daneben wurden auch ökonomische Partikularinteressen verfolgt, das ist schon richtig. Dennoch waren das aufbauende, konstruktive Projekte. Jetzt dominieren die Tendenzen der Demontage und Abschottung. Beides kostet die Europäische Union in meiner Sicht ihre Zukunft. Wenn also ein gemeinsames Projekt der Kitt ist, der die europäische Struktur zusammenhält und auf eine gemeinsame Zukunft orientiert: Was wäre dann diesseits historischer Beispiele ein positives Projekt der Zukunft? Oh, da gibt es viele! Die Frage der Energieversorgung könnte ein solches Projekt sein, oder die Frage des Klimaschutzes. Ein gemeinsames Projekt könnte sein, die Armut zu bekämpfen, die Nachhaltigkeitsziele umzusetzen, auch die Verbreitung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit in der internationalen Politik. Selbst wenn der Sozialstaat eigentlich kein europäisches, sondern ein nationalstaatliches Phänomen ist. Aber die Grundidee eines glückenden menschlichen, sozialen und politischen Zusammenlebens, das sollte ein europäisches Projekt, eine europäische Vision sein. Und wenn man dann sieht, was alles an positiven, integrierenden Projekten auf der kommunalen Ebene besteht, auch gerade aus Anlass der Flüchtlingsaufnahme, welche Fülle an Fantasien und Initiativen, dann bestärkt dies meine Erfahrungen als Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, dass Menschen nicht dadurch zusammenkommen, dass sie Ansprüche für sich erheben und irgendwelche Renten ausgezahlt bekommen. Verbindend wirken vielmehr Projekte, die sie gemeinsam verfolgen. Ich habe zum Schluss an der Viadrina bei 5.000 Studierenden

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vierzig studentische Gruppen gehabt, die alles Mögliche auf die Beine gestellt haben, etwa die Komposition eines Riesenmusicals mit Tanzeinlagen und der Einbindung von Studierenden aus achtzig Nationen. Das hat die zusammengeschweißt. Oder wenn ich auf meine Jugendzeit schaue, 1943 geboren, Schülerin in den 1950er Jahren. In den 1960er Jahren habe ich studiert, und da gab es eine Chorbewegung in Europa, die hieß Jeunesses Musicales. Die haben alle möglichen Festivals veranstaltet, bei einem der Festivals in ­A ix-en-­­Provence war ich dabei. Dann haben wir einen Ausflug gemacht in einen kleinen Ort, der hieß Vaison-la-Romaine. Vaison-la-Romaine hat ein kleines Amphitheater, da sind wir mit zehn, fünfzehn Chören hingefahren und haben dann einfach zu singen angefangen – 1965, zwanzig Jahre nach Kriegsende. Wir hatten alle unsere Repertoires und haben uns mit sichtlichem Vergnügen gegenseitig unsere Lieder vorgesungen. Paneuropäisch, von Skandinavien bis Spanien. Wir schenkten uns gegenseitig etwas, weil wir uns mit Freude vorsangen und zuhörten. Für mich ist das der Inbegriff eines positiven, verbindenden Projektes. Natürlich darf man sich auch der schnöden Wirklichkeit des Konkurrenzdenkens und Profitstrebens nicht verschließen. Mich interessiert nicht, ob Einzelne mit Projekten für sich auch individuelle materielle Gewinne erzielen können. Ich lebe selbst gerne, ich trinke auch gerne Rotwein. Aber das Denken, dass ich der Beste sein muss, besser als jemand anderes, und dass ich das meiste bekommen muss und so weiter, das ist zerstörerisch. Trotz aller in Zeiten ökonomischer Globalisierung und zunehmender grenzüberschreitender Verflechtung erlittenen Steuerungsverluste sind die Nationalstaaten auch heute noch die dominanten Akteure der globalen Politik. Dennoch leiten Sie – wie viele andere auch – aus der Fortschreibung bestehender Trends ein Ende der nationalstaatlichen Zentralstellung im 21. Jahrhundert ab und dringen alternativ auf eine Stärkung transnationaler Zusammenschlüsse. Kann denn Europa den Nationalstaat tatsächlich ersetzen? Und wie sähe eine künftige europäische Identität anstelle der aktuellen Identifikation mit dem Nationalstaat aus? Also ich sage zwar, und das ist tatsächlich nicht sonderlich originell, dass der einzelne Nationalstaat aufgrund der Asymmetrien zwischen globaler Wirtschaft und nationaler Politik die Probleme nicht mehr lösen kann, die sich aus der Wirtschaftsdynamik ergeben. Ich sage aber ganz und gar nicht, dass der Nationalstaat abgeschafft gehören würde. Und ich weiß auch, dass sich die politische Wirksamkeit mit den kulturellen Zugehörigkeitsgefühlen nicht decken muss. Es wird weiterhin viele geben, die sich dem Nationalstaat kulturell zugehörig fühlen und die das gar nicht interessiert, was der Nationalstaat noch politisch kann. Mir geht es nun aber darum, dass demokratische Gesine Schwan  —  »Solidarität auf der p­ rimitivsten Ebene«

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Politik als institutionelle Ordnung, gewaltfreies Zusammenleben rechtsstaatlich und gerecht zu gestalten, gelingen können muss. Und das kann Politik nicht mehr allein auf nationalstaatlicher Grundlage. Es gibt Bereiche, die dem Nationalstaat vorbehalten bleiben können, auch in der Europäischen Union. Der Nationalstaat soll überhaupt nicht weggeschoben werden. De facto besitzt die übernationale Ebene im Übrigen auch jetzt schon eine ganze Reihe von Kompetenzen. Problematisch aber finde ich die Sicht, die Integration der Europäischen Union entweder durch die weitere Konzentration von politischer Entscheidungsmacht in Brüssel zu vertiefen oder durch Renatio­nalisierung zurückzudrehen. Das ist die Alternative zwischen Scylla und Charybdis. Jede Renationalisierung muss sowieso scheitern. Aber auch eine weitere Zentralisation in Brüssel halte ich für kontraproduktiv, weil das den guten Gedanken der Subsidiarität, der eben nicht nur die Nationalstaaten betrifft, sondern auch die Regionen und die Kommunen, unterminiert. Ich halte die Subsidiarität für ein gutes Prinzip. Und ich glaube an eine horizontale Integration durch Städtekooperationen, an eine Integration also ausgehend von den Kommunen. Das heißt was? In der EU ist im vorigen Jahr unter der niederländischen (nationalen!) Ratspräsidentschaft den Pakt von Amsterdam geschlossen worden, eine Zusammenarbeit von Städten, der EU-Kommission und von Nationalstaaten. Ziel ist auch eine stärkere, bessere und direktere Finanzierung der Gemeinden durch Brüssel. Wobei ich für eine Governance plädiere, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Also einen Verbund, der nicht die kommunalen Verwaltungen ersetzt, sondern Verständigungsprozesse von Politik und Zivilgesellschaft sowie Wirtschaft organisiert. Sodass einerseits die Integration der Gemeinden verstärkt wird und andererseits eine horizontale grenzüberschreitende Verständigung in Europa stattfinden kann. Das gibt es ja auch in diesen Verbindungen jetzt schon, und zwar wiederum anhand von konkreten Projekten, in denen die jeweiligen Akteure wechselseitig voneinander lernen können. Die Flüchtlingsintegration ist ein solches Projekt, ebenso die Einführung erneuerbarer Energien. Ich habe früher zahlreiche Energietrialoge moderiert. Wenn Sie etwa mit Polen zu tun haben, dann liegt es im Interesse der großen polnischen Konzerne, die Kohle weiter abzubauen. Jetzt habe ich gerade gehört, dass die polnischen Kohlekonzerne ähnlich wie die Atomkraftwerke in Frankreich offenbar an Kühlwassermangel leiden. Von daher erklärt sich, dass die immer mehr Strom in Deutschland kaufen, weil sie ihren Energiebedarf trotz großer Kohlevorhaben aufgrund der Restriktionen ihres Ökosystems nicht decken können. Wir haben schon vor Jahren

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mit polnischen Klimagruppen zusammengearbeitet. Und das ist natürlich eine hochspannende Sache, wenn sie dann plötzlich in so einer Gemeinde hören: Nein, wir wollen hier kein Atomkraftwerk um die Ecke, weil wir auch gar nicht wissen, wie die Entsorgung funktioniert, sondern wir wollen die erneuerbaren Energien fördern. Das zeigt, auf der Ebene der Gesellschaft herrscht viel mehr Bewegung als auf der Ebene der nationalen Regierungen. Auch frühere Regierungen setzten schon auf eine Industriepolitik, die nationale Macht vorgaukelt, aber seit Jahren immer weniger Zukunft hat und immer mehr Subventionierung verschlingt. Von den nationalen Regierungen in Polen wird das ganze grüne Denken als Quatsch abgetan. Auf der kommunalen Ebene aber werden die Probleme ganz anders angegangen als auf der Ebene des nationalen Prestiges. Und überhaupt: Wo werden denn die nationalen Regierungen noch ernst genommen? Für alles, was über die Innenpolitik hinausgeht, wo kann denn da, auch bei uns, die Bundesregierung eigentlich Lösungen anbieten? Nehmen wir TTIP: Das ist eine Sache, die von der Europäischen Union verhandelt wird. Wenn man begriffen hat, dass TTIP die globale Handelsarchitektur betrifft und damit eine demokratietheoretische Frage ist und keineswegs nur eine von Zöllen, wenn man das begriffen hat, dann wird auch TTIP ein Gegenstand eines europäischen Projektes. Ist das jetzt ein Plädoyer für ein wirtschaftsliberales Europa? Mit der Grundwertekommission der SPD haben wir zu TTIP eine Stellungnahme entwickelt und ausdrücklich gesagt: Ja, wir wollen den Freihandel. Aber wir müssen schauen, welche Implikationen bestimmte Prioritäten haben. Und wenn bei der Konstruktion von Entscheidungen die Unternehmen einen Vorrang vor politisch beschlossenen Gesetzen haben, dann ist das mit einer demokratischen Architektur nicht vereinbar. Und jetzt müssen sich die Europäer darüber klar werden, weil plötzlich von beiden Seiten, von rechts wie von links, Protektionismus gefordert wird, was Freihandel eigentlich heißt. Welche Vorstellungen von wirtschaftlicher Entwicklung haben wir? Wollen wir uns alle einschließen in kleine Mini­waben oder wollen wir uns öffnen? Aber was heißt das dann für Zugehörigkeiten? Was brauchen wir an Zugehörigkeiten, was an ordnungspolitischen Vorstellungen und gemeinsamen demokratiepolitischen Regelungen? Und was können wir dem Markt überlassen? Das alles muss man sich gründlich überlegen, erst recht in einer Situation raschen Wandels und tiefgreifender Umbrüche. Die Idee, dass der Freihandel Interessen verbindet, finde ich durchaus plausibel. Aber man muss schauen, wie unter den modernen, technologischen, arbeitsteiligen, finanzmarktmäßigen Bedingungen Freihandel konkret aussieht. Gesine Schwan  —  »Solidarität auf der p­ rimitivsten Ebene«

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Läuft Ihr Verständnis des Subsidiaritätsprinzips darauf hinaus, dass die lokale und die regionale Ebene das regeln sollen, was sie autonom regeln können? Und die übergeordnete nationalstaatliche Ebene ist für das zuständig, was die Gemeinden nicht leisten können, während Europa übernimmt, wozu der Nationalstaat nicht mehr in der Lage ist? Ist Ihre europäische Zielperspektive also eine Art von Bundes-Bundesstaat? Nein. Der klassische Satz für die Definition von Subsidiarität, dass jede Ebene das machen soll, was sie machen kann, ist im Gegenteil nicht sehr tauglich für die Beschreibung der Wirklichkeit. Denn was eine Gemeinde machen kann, hängt schlicht und einfach von ihren Finanzen ab. Und insofern kann sie viel mehr machen, wenn sie von Europa mehr Geld bekommt. Woran bemisst sich denn, was eine Gemeinde machen kann? Bemisst sich das am geografischen Wirkungskreis? Oder bemisst sich das an den intellektuellen, materiellen, ökonomischen Potenzialen? Auch die sind ja beeinflussbar. Das heißt, wenn die nationale spanische Regierung von Rajoy nicht erlaubt, dass zum Beispiel Barcelona Flüchtlinge aufnimmt, weil das aus politischen Gründen nicht gewollt ist, weshalb auch die Finanzmittel, die dafür vorhanden wären, nicht gegeben werden, dann kann man ja nicht sagen: Die Gemeinden können das nicht. Noch einmal: Woran bemisst sich, was die Gemeinden können? Woran bemisst sich, was der Nationalstaat kann? In der katholischen Soziallehre geht man von einer personalen Idee aus und sagt: Was ich als Individuum kann, das muss ich machen. Und erst danach kommt die Familie oder das Umfeld an die Reihe. Die Ressourcen sind persönliche Fähigkeiten. Aber in einem modernen Staat sind Ressourcen ganz stark Finanzen. Und insofern ist nicht das Kriterium, was die jeweilige Ebene leisten kann. Das Kriterium ist, dass die Gemeinden und Regionen der Ort sind, an dem sich das tägliche Leben der Menschen zum allergrößten Teil abspielt – wie sie wohnen, wo sie Arbeit haben, welche Schulen sie besuchen, welche Infrastruktur sie nutzen, wie umfangreich die Freizeitangebote sind. In ihrer politischen Orientierung und in ihren Verfassungen sind die Gemeinden sehr viel stärker als

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die nationale Ebene auf Verständigung aus, anstelle des scharfen Konflikts zwischen Mehrheit und Minderheit, Regierung und Opposition herrscht Ausgleich, Machtteilung, Konkordanz. Ich bin der Meinung, dass man die Gemeinden stärken und den Griff der nationalen Regierungen lockern muss. In den Gemeinden sind die Aktivpotenziale, da findet die Wertschöpfung statt. Als ich studierte, spielte die wirtschaftliche Wertschöpfungstheorie eine große Rolle. Der Adel sagte, das Land ist die Wertschöpfungsquelle. Dann kam das Bürgertum und sagte, die Arbeit ist die Wertschöpfungsquelle, die Verarbeitung dessen, was das Land bringt. Heute ist das kein Thema mehr, heute schafft das Wissen Werte, Kommunikation, die Organisation von Wissen und Offenheit. Weshalb Protektionismus Abschottung und eine Beeinträchtigung der Wertschöpfung bedeutet, weil man einfach auf viele Sachen nicht kommt, wenn man abgeschottet ist. Die Wertschöpfungsfrage ist sehr wichtig. Und ich glaube, dass die Wertschöpfungsfrage mittlerweile ihre Antwort findet in der konkreten Begegnung von Menschen. In Unternehmen werden nicht zufällig Gemeinschaftsorte wie Teeküchen immer wichtiger, wo man sich trifft, sich austauscht und Ideen entwickelt. Die Orte, wo man handfest und anschaulich die eigenen Erfahrungen austauschen kann und wo man auf neue Ideen kommt, das sind die Orte, wo die Musik spielt. Benjamin Barber hat schon vor zehn Jahren weitsichtig propagiert, dass die großen Metropolen in der Welt das Sagen haben werden. Aber warum soll die Gemeinde dieser Ort eher sein als der Nationalstaat? Wenn es darum geht, wo sich das alltägliche Leben der Menschen abspielt, dann ist das doch vielfach auch nicht die Gemeinde insgesamt, sondern das Viertel, die Straße, der Wohnblock. Auf der UN-Konferenz Habitat III in Quito haben sich die Städte und Gemeinden darüber beklagt, dass alle Programme, die durch den Filter der nationalen Regierungen hindurch müssen, die von deren Zustimmung und Zulassung abhängen, furchtbar schwierig sind, weil nationale Regierungen sich ständig ändern oder sich im Wahlkampfmodus befinden und daher nicht entscheiden. Eine solche Unterminierung von vernünftigen Entscheidungen können wir uns nicht mehr leisten, wenn wir weiterkommen wollen in dieser Welt. Und deswegen sage ich, dass die Städte, Kommunen und Regionen mehr Chancen bekommen müssen, mehr finanzielle Chancen, etwas zu machen. In Europa muss auf längere Sicht das gesamte Fördersystem vereinfacht werden. Ich habe schon als Universitätspräsidentin dieses gesamte Antragswesen furchtbar gefunden, eine Katastrophe, was man alles miteinander abstimmen Gesine Schwan  —  »Solidarität auf der p­ rimitivsten Ebene«

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musste. Aber wenn eine Gemeinde sich entwickeln will und schaut: Was habe ich für Potenziale, welche Unternehmen habe ich, welche ausgebildeten Arbeitskräfte, wo habe ich weiteres Ausbildungspotenzial, was sind kulturelle Traditionen, die ich beleben kann – dann reichen die besten Konzepte nicht, auch wenn sie noch so viele Arbeitsplätze schaffen und Engagementmöglichkeiten bieten. Wenn man von Europa Geld bekommen will, dann muss man völlig unübersichtliche Programme durchgehen, von denen auch die Vertreter der Europäischen Union meistens keine Ahnung haben. Sie geben das auch zu, weil die Programme so ausdifferenziert sind, dass die das gar nicht alles im Kopf haben können. Wenn Sie dann einen Antrag stellen wollen, können Sie den zum Beispiel bei Urban Innovative Action einreichen. Da können Sie etwas zur Kreislaufwirtschaft beantragen. Aber wenn Sie jetzt mit der Gemeinde nicht nur den Abfall regeln, sondern vielleicht auch noch die Energieeffizienz steigern wollen, dann müssen Sie drei Anträge stellen. Das können Sie aber gar nicht; jeder Antrag kostet mindestens 30.000 Euro, weil Sie einen Profi brauchen. Das können Sie nicht alleine. Und die Administration hat gar nicht genug Kräfte, das zu machen. Das geht doch nicht! Wenn ich merke, dass ich reihenweise Absagen von geeigneten Städten für einen gemeinsamen Antrag bekomme, die sich nicht beteiligen, weil sie nicht das Personal für das Antragsprozedere haben: Da stimmt doch etwas nicht! Und dann macht die EU eine Bestandsaufnahme und stellt fest, dass das Geld nicht abgerufen worden ist. Das wurde ja auch den Griechen immer vorgeworfen: Es hieß, die müssen ihre Verwaltung verbessern, das Geld wird gar nicht abgerufen. Na, wenn die Sache so kompliziert ist, dann rufen die das Geld nicht ab, natürlich nicht, weil sie mit Mühe und Not über die Runden kommen. Und in Brüssel jammern diejenigen, die den Irrsinn durchschauen, über die Sinnlosigkeit ihrer Tätigkeit. Die tüfteln mühsam die Verfahren aus und dann können die Leute das gar nicht in Anspruch nehmen. Das ist ja auch frustrierend und keine sinnvolle Beschäftigung. Dagegen anzugehen erscheint vielleicht wie frustrierendes Klein-Klein; aber wenn man realistisch sein und wirklich etwas umsetzen und nicht nur große Ideen propagieren will, dann kommt man um dieses Klein-Klein, um das Bohren der berühmten dicken Bretter nicht herum. Und dann merkt man auch, dass man es mit einem systemischen Problem zu tun hat. Aber wenn man Kompetenzen von der nationalstaatlichen Ebene auf die regionale oder lokale Ebene verschiebt: Kann man dann tatsächlich ausschließen, dass die Gemeinden am Ende nicht genauso konkurrenzbezogen agieren wie der Nationalstaat? Auch Gemeinden dürften doch angesichts der Begrenztheit

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Europa — Interview

der Finanzmittel versuchen, sich gegenseitig zu unterbieten, um möglichst hohe Zuteilungen zu erhalten, vollkommen egal, ob das auf Kosten der Gesamtverantwortung etwa für Umweltgesichtspunkte geht. Müsste für die von Ihnen gewünschten Ergebnisse nicht ganz im Gegenteil die Verantwortung auf noch höhere Ebenen als den Nationalstaat verlagert und statt einer Ermächtigung der Gemeinden so etwas wie eine einheitliche Weltregierung als gemeinsamer Rahmen angestrebt werden? Und ist dann nicht das zentrale Problem in diesem Zusammenhang, dass wir zwar neben den nationalstaatlichen auch festverankerte regionale und lokale Identitäten kennen, dass sich aber in der Vergangenheit allenfalls ganz rudimentär und immer noch sehr defizitär so etwas wie ein transnationales Selbstverständnis bspw. als Europäer herausgebildet hat? Es gibt kein optimales Institutionengefüge ohne jegliche Missentwicklungen. Natürlich gibt es einerseits eine starke Konkurrenz auch zwischen den Gemeinden. Und sicherlich ist grundsätzlich der Konkurrenzkampf härter, wenn die Ressourcen knapper sind. Andererseits gibt es auch einen anthropologisch angelegten Wunsch nach Kooperation. Insofern gibt es zwar Rivalitäten und Konkurrenz zwischen den Städten, aber eben auch Assoziationen. Jeder Arbeitgeberverband hat mit Rivalitäten der in ihm organisierten Unternehmen zu tun und besteht dennoch als gemeinsames Dach. Die Integration der widerstrebenden Kräfte erleichtert ein ernsthafter Gegner, etwa eine starke IG Metall, gegen den sich die Reihen schließen. Oder, auf einer höheren Ebene, der Staat, dem gegenüber Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften als Kampfgenossen die Tarifautonomie verteidigen. Die Summe der vielgestaltigen Gegnerschaften und Bündnisse ergibt unser demokratisches System von Checks and Balances. Und im Rahmen dieses Gesamtsystems sollten, das meine ich schon, die Gemeinden gestärkt werden, die sehr viel kooperativer und pro-europäischer agieren als die Nationalstaaten. Auch weil das nationale Machtpotenzial groß und stabil ist, während auf der kommunalen Ebene die Konstellation von Regierung und Opposition viel unübersichtlicher ist, sodass hier die Chance besteht, über politisch-kulturelle Konfliktlinien hinweg zusammenzuarbeiten, auch ohne gemeinsamen Feind. Wir leben in einer neuen Ära, wir können uns in der heutigen Welt nicht mehr gegen den gemeinsamen Feind des real-existierenden Sozialismus zusammenschließen. Wir müssen uns zusammenschließen ohne gemeinsamen Feind. Es sei denn, wir bezeichnen den Hunger als Feind, oder die Zerstörung der Umwelt oder dergleichen. Aber die Zeit der klar gegliederten Blockkonfrontation ist vorbei. Wir müssen uns zusammenschließen auf der gesamten Welt oder müssen zumindest zusammen agieren. Zusammenschließen ist vielleicht zu viel gesagt, aber zusammen agieren, ohne dass uns eine gemeinsame Feindschaft dabei Gesine Schwan  —  »Solidarität auf der p­ rimitivsten Ebene«

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hilft. Dazu brauchen wir das europäische Bewusstsein, das Solidaritätsbewusstsein, das auf Ebene der Kommunen, der Städte und der Regionen viel stärker ist als auf Ebene der Nationalstaaten. Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen? Gerade in der Flüchtlingsfrage, finde ich, wird das sehr deutlich. Während sich kein Staat in der Frage der Flüchtlingsverteilung der Politik nationalegoistischer Abschottung widersetzt, tun dies lauter Städte. Die sagen dann: Wir wollen aufnehmen! Wie jetzt bspw. Osnabrück, das fünfzig Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen wollte. Natürlich stößt man dann sofort auf ungemein komplex verästelte Bestimmungen, die etwa regeln, dass die Griechen die fünfzig Leute gar nicht so einfach nach Osnabrück weiterleiten können, weil die nationale griechische Ebene nicht mit der kommunalen deutschen, sondern nur mit der nationalen deutschen Ebene, also in diesem Fall dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dem BAMF, verhandeln darf. Aber allein die Tatsache, dass sich die kommunalen Entscheidungsträger in Osnabrück zusammensetzen und sagen, wir wollen hier fünfzig Flüchtlinge aufnehmen, ist eine Dynamik, ein Potenzial, das ich Gold wert finde und das man nicht einfach enttäuschen darf. Es ließen sich unzählige weitere Beispiele nennen, in Berlin etwa offene Häuser, wo sich die Leute gegenseitig Arabisch und Deutsch beibringen, und lauter ähnliche Sachen. Das sind alles Potenziale, deren Bedeutung sich vielleicht erst in zwanzig Jahren vollständig zeigen wird, wenn sich daraus Handelsbeziehungen und dergleichen ergeben. Statt diese Ressourcen freudig zu nutzen, verkomplizieren bei uns unzählige rechtliche Bestimmungen und ein ganz engmaschiges Rechtsnetz jede Initiative. Deren Funktion ist eigentlich Gerechtigkeit und Transparenz. In jungen Jahren hatte ich ein großes Vertrauen in die Funktionalität der überkommenen Systeme. Das habe ich nicht mehr, weil ich zu oft erlebt habe, dass wir uns mit Verordnungen, Regelungen, Hierarchien geradezu erdrosseln. Das darf nicht sein. Das muss man dann deutlich machen und andere Mechanismen finden. Und das muss man auch aussprechen. Da darf man auch keinen falschen Respekt haben, glaube ich. Sicher, man soll nicht polemisieren. Aber man muss die Dinge, die dysfunktional laufen, deutlich aussprechen. Aktuell ist es freilich bisweilen so weit gekommen, dass Sie nur noch mit Zynismus reagieren können, wenn Sie merken, dass eine gute Idee durch innere Systematiken pervertiert wird. Und das ist das Problem. Das bedeutet doch letztendlich nichts anderes als eine grundlegende Reform der gesamten europäischen Institutionenarchitektur. Sind die Europäer dazu in der

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Lage? Gibt es auch nur einen kleinsten gemeinsamen Nenner in dieser Frage? Setzt das alles nicht einen verbindenden, identitätsstiftenden Europäischen Geist voraus, der die europäischen Völker zusammenhält? Aber gibt es den überhaupt, und wenn nicht, wie könnte er geschaffen werden? Ich glaube schon, dass es ihn gibt. Und ich glaube, dass es in der gesamten Welt der freiwilligen Initiativen sehr viel gibt, insbesondere eben auf der kommunalen Ebene. Ich bin ganz klar eine Freundin der repräsentativen Demokratie; aber dennoch – oder gerade deswegen – sollten alle Gruppen und Interessierte diesseits der Entscheidungsebene so stark wie möglich einbezogen und zum Mitmachen und Mitgestalten eingeladen werden. Von Plebisziten und Volksentscheiden halte ich gar nicht viel, auch wenn mein Freund Hans-Jochen Vogel und meine Partei, die SPD, das z. T. anders sehen. Ich will vielmehr Unternehmen, Zivilgesellschaft und Politik zusammenbringen und konnte die Möglichkeiten dazu in ca. 45 Trialogen, die ich auf unserer »HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform« moderiert habe, studieren. Jede Seite folgt einer eigenen Logik: Die Unternehmen vertreten ein betriebswirtschaftliches, partikulares Marktinteresse, müssen aber erkennen, dass sie Regeln im Sinne des Corporate Citizenship beachten müssen; die Nichtregierungsorganisationen, die weitreichende Ziele mit idealistischem Elan verfolgen und über Wahlperioden weit hinausdenken, müssen ihren Eifer und ihre Rigorosität bremsen; und die Politik muss die verschiedenen Perspektiven in Richtung Gemeinwohl asymptotisch verbinden. Keine der Gruppen hat von vornherein recht. Deshalb müssen sie ihre Anliegen begründen. Wenn die Arbeitgeberverbände mit Blick auf die Flexibilisierung der Arbeitszeit sagen: Wir brauchen mehr Arbeitsvolumen und deswegen müssen wir jetzt flexibilisieren, damit die Leute nicht nur acht Stunden, sondern auch mal zehn oder zwölf Stunden arbeiten, dann sagen die anderen: Ja, aber das größere Arbeitsvolumen kann man aber auch anders organisieren, ohne die Gesundheit der eigenen Leute so kaputtzumachen, dass die dann nicht mehr arbeiten können. Dann müssen sich die Vertreter der gegensätzlichen Positionen treffen, zusammensetzen und schauen, worin das Problem eigentlich besteht, wie die Problemdefinition lautet. Worin besteht das Problem? Welche Rolle spielt die Gesundheit? Welche Rolle spielt die Vorstellung von Leben und Freizeit, welche Rolle ein gutes Leben? Das kann gelingen, aber es ist eine intellektuelle Anstrengung, die auch in den Universitäten heute nicht mehr besonders trainiert wird angesichts der extremen Spezialisierung bspw. in der Politikwissenschaft. Am Otto-Suhr-Institut hatten wir, als ich Dekanin war, 38 oder 40 Professuren. Aber denken Sie, die konnten sagen, wozu die Politikwissenschaft gut ist? Die haben völlig departementalisiert gearbeitet, Gesine Schwan  —  »Solidarität auf der p­ rimitivsten Ebene«

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aber zu den großen Fragen, dazu, was Politik eigentlich ist, in dem einen oder in einem anderen Verständnis, ja worin die unterschiedlichen Verständnisse begründet liegen: sehr wenig. Was ist denn aber nun in Ihren Augen der Europäische Geist, was zeichnet ihn aus, im Unterschied zu anderen Weltgegenden einerseits, als Bindeglied der ­Regionen und Nationalitäten, die zu Europa gehören, andererseits? Wobei da natürlich sofort die Frage im Raum steht: Wo fängt Europa an, wo hört es auf? Das Abendland im traditionellen Verständnis endete ja bekanntlich östlich auf Höhe der Elbe, weshalb noch Konrad Adenauer sagte, östlich der Elbe beginne Sibirien. Was also ist Europa? Ich glaube nicht, dass man den Europäischen Geist ohne eine eigene Wertentscheidung definieren kann. Jede Definition enthält eine Wertentscheidung, eine Grenzziehung, definitio est negatio. Das heißt, immer wird etwas negiert. Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, die Konzentrationslager gehören zum Europäischen Geist, würden Sie sagen: Die ist verrückt geworden. Das heißt, die Vorstellung von einem Europäischen Geist ist eine normative Vorstellung, wie Europa sein sollte. Aber natürlich auch gespeist aus der Geschichte, der empirischen Geschichte. Nun war Europa freilich keineswegs nur menschenrechtsorientiert, sondern auch totalitär, brutal, kriegerisch. Das alles wissen wir, und wenn wir jetzt zum Beispiel die Menschenrechte nehmen, dann sind die nun wahrhaftig nicht nur europäisch. Gleichwohl kann man sagen, es gibt starke kulturelle und regionale Unterschiede. Wenn ich also vom Europäischen Geist spreche, dann treffe ich eine klare normative Aussage. Ich sage: Wofür ich kämpfe, ist eine Vorstellung von politischem Zusammenleben, das große und historisch gewachsene kulturelle Unterschiede zur Kooperation bringen muss. Eine Vorstellung, die Pluralität demokratisch so fruchtbar gestaltet, dass das Individuum nicht auf der Strecke bleibt. Der Europäische Geist ist für mich das Bewusstsein der Vielfalt, mit der wir gemeinsam friedlich und demokratisch zurande kommen wollen. Das Bewusstsein, dass die Ökonomie nicht dominieren darf, das Bewusstsein, dass der Sozialstaat und Solidarität wichtig sind für menschliches Zusammenleben. Und das Bewusstsein, dass sich ein Kontinent zerstören kann, wenn er auf Gewalt setzt in der Austragung von Konflikten. Ich sehe eine große Chance für Europa, aus der Erfahrung der Brutalität gewaltmäßiger Konfliktaustragung zu intelligenteren, friedlicheren Formen des Zusammenlebens zu kommen und dafür auch in der Welt zu werben. Damit sage ich jetzt nicht, ich bin Pazifistin von vorne bis hinten, aber das ist meine Quintessenz. Und das ist meine Vorstellung von einem gelungenen Leben im Unterschied zu Gewalt und Krieg.

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Prof. Dr. Dr. h. c. Gesine Schwan, geb. 1943, Studium der Romanistik, Geschichte, Philosophie, Politologie an der Freien Universität Berlin u. Universität Freiburg. Von 1977 bis 1999 Professorin für Politikwissenschaft am Otto-SuhrInstitut, Freie Universität Berlin, von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O.; jetzt Präsidentin der HUMBOLDT-­VIADRINA Governance Platform, Berlin. 2004 und 2009 Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten. Seit 2014 Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Veröffentlichungen zu Demokratie und Governance, Politischer Kultur, Europa, Bildung, zur Sozialdemokratie und zu den normativen Grundlagen der Politik.

ANALYSE

DIE EUROPÄISCHE UNION EINE DEMOKRATISCHE LAGEBESCHREIBUNG ΞΞ Emanuel Richter

Unter dem Eindruck der vielen Krisen, denen sich die Europäische Union in den vergangenen Jahren ausgesetzt sah, hat sich die seit Jahrzehnten diskutierte Demokratiefrage der europäischen Integration verschoben. Zum Zeitpunkt der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979 und der Einführung einer Unionsbürgerschaft im Jahr 1992 konzentrierten sich die Hoffnungen noch auf eine nachträgliche, aber umfassende Demokratisierung des 1951 ins Leben gerufenen, supranationalen europäischen Einigungsprojekts. Die erkennbar werdende Staatsähnlichkeit der EU sollte nach dem Muster einer parlamentarischen Demokratie ausgestaltet und legitimiert werden. Neben der Volkswahl von Europaabgeordneten hoffte man auf eine sich allmählich ausprägende supranationale Parteienlandschaft, auf eine starke Präsenz des supranationalen Geschehens in den Medien und in der Öffentlichkeit sowie auf die wachsende Bereitschaft der europäischen Bevölkerung, sich politisch zunehmend mit der EU statt mit ihren jeweiligen Nationalstaaten zu identifizieren. Das Projekt einer nachträglichen demokratischen Legitimation, einer breiten öffentlichen Akzeptanz des staatsähnlichen Gebildes und der belastungsfesten Bürgerloyalität stieß jedoch auf unüberwindliche Grenzen. Eine freiwillig gesuchte Nähe der Bürgerinnen und Bürger zu dem neuen Machtgebilde kam nicht auf. Infolgedessen versuchte man mit allgemeinen öffentlichen Appellen an die Alternativlosigkeit des europäischen Einigungsprojekts, aber auch sehr konkret mit zentralen Anreizstrukturen wie der Unionsbürgerschaft, größere Bürgernähe und Transparenz zu schaffen, die Zusammengehörigkeit und Solidarität untereinander zu stimulieren. Entsprechende Kampagnen und Projekte fruchteten jedoch kaum. Vielmehr wurden ihre Misserfolge begleitet von strukturellen Defekten, die sich in das supranationale System einschlichen. Als sich in den 1990er Jahren herausstellte, dass

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der europäische Binnenmarkt, das tragende Instrument der supranationalen Einigungsdynamik, nicht für alle Beteiligten gleichmäßig verteilte Erfolge zeitigte, sondern zu einer Spaltung zwischen nord- und südeuropäischen Mitgliedstaaten und auch zwischen ost- und westeuropäischen Mitgliedstaaten führte und nur den exportorientierten Mitgliedstaaten großen ökonomischen Nutzen verschaffte, wurden die Grenzen des Zusammenhalts, der Solidarität, der Loyalität und des demokratischen Engagements der europäischen Bürgerinnen und Bürger für die supranationale Integration offenkundig. Die Griechenland-Krise steht symptomatisch für diesen Prozess der Ernüchterung und der Artikulation nationaler Vorbehalte gegenüber einer politisch starken, handlungsmächtigen und damit staatsähnlichen Union. Als schließlich auch noch im Jahr 2016 die Briten die im Lissabon-Vertrag von 2009 neu geschaffene Option des opt out nutzten, die eigentlich gar nicht als Anreiz zu ihrer Inanspruchnahme, sondern als symbolische Versicherung über die freiwillig gewählte Zusammengehörigkeit gedacht war, brachen die ursprünglichen demokratischen Erwartungen endgültig zusammen. Die öffentliche Bereitschaft zum demokratischen Einverständnis mit der EU erwies sich nicht nur als brüchig, sondern konnte sogar unversehens ins Gegenteil umschlagen: Demokratische Prozesse konnten auch völlig unerwartet zu einer Verweigerung der Zustimmungsbereitschaft zur europäischen Integration führen. Ein demokratischer Gewinn, nämlich die öffentliche Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger für das supranationale Geschehen, schien zwar erzielt, doch ließ er sich nicht mehr unversehens in Systemloyalität ummünzen. In dieser Ausgangslage stellt sich die demokratische Frage der europäischen Integration in neuem Licht dar, wozu die folgenden Ausführungen einige Klärungen beitragen sollen. DIE GRENZEN EINER DEMOKRATISCH LEGITIMIERTEN ­S TAATSÄHNLICHKEIT Die EU entspringt in ihrer ursprünglichen historischen Entwicklungslogik dem Versuch, die demokratische Legitimation des supranationalen Systems schrittweise durch nachträgliche Formen der bürgerschaftlichen Akzeptanzbeschaffung für die bereits in Gang gesetzten Kooperationsprozesse herzustellen. Allmählich ausgebaute repräsentative Mechanismen in Anlehnung an das Muster einer parlamentarischen Demokratie sollen das Einverständnis der Betroffenen mit ihrem Herrschaftsverband hervorbringen und gewährleisten. Von Anfang an war keine demokratische Verfügungsgewalt über das EU-­System als Ganzes vorgesehen. Weder gab es in der Gründungsphase oder zum Zeitpunkt entscheidender Weichenstellungen öffentliche

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Europa — Analyse

Grundsatzdebatten über das Für und Wider, noch gab es in den betroffenen Ländern Referenden über neue Vertragswerke oder markante Einigungsschritte. Lange Zeit fehlte auch jegliches bürgerschaftliche Interventionsrecht gegen die überaus eifrige supranationale Gesetzgebung. Die Staatsähnlichkeit gewann zwar an Konturen, aber die demokratische Infrastruktur hinkte durchweg der zunächst rasanten Entwicklungsdynamik hinterher.1 Die EU ist kein Ergebnis einer umfassenden politischen Selbstbestimmung, sondern ein zunächst aus Friedenserwägungen, später vor allem aus wirtschaftspolitischen Sachzwängen erwachsenes Regulierungssystem, dessen Herrschaftskompetenz rückwirkend demokratischen Legitimationsbedarf aufwirft. Dementsprechend gibt es jenseits der Fraktionen des Europäischen Parlaments keine Möglichkeit, eine gehaltvolle Opposition gegen die Eigendynamik des Integrationsgeschehens auszuüben und wirkungsvoll politische Alternativen geltend zu machen. Sobald einmal in einzelnen Mitgliedstaaten Referenden zu europäischen Grundsatzfragen stattfinden, wie anlässlich der Debatte über den Vertrag einer Verfassung für Europa 2005 in Frankreich und in den Niederlanden sowie 2008 in Irland, bleibt den Bürgerinnen und Bürgern als dezidiert kritische Willensbekundung nur ein pauschales »nein« zu allem – wie es in den Referenden auch tatsächlich geschehen ist. Anstatt eine differenzierte Opposition gegen einzelne Politikfelder der EU ausüben zu können, bleibt nur die Misstrauensbekundung gegen die gesamte polity.2 Auch das »Brexit«-Votum unterliegt dieser fatalen Einengung der Artikulation des Volkswillens auf die binären Optionen des »alles oder nichts«. 1  Vgl. Andreas Hofmann u. Wolfgang Wessels, Der Vertrag von Lissabon – eine tragfähige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, in: Integration, Jg. 31 (2008), H. 1, S. 3–20. 2  Vgl. Peter Mair, Political Opposition and the European Union, in: Government and Opposition, Jg. 42 (2007), H. 1, S. 1–17. 3  Vgl. Hubert Zimmermann u. Andreas Dür (Hg.), Key Controversies in European Integration, London 2012. 4  Europäische Kommission, Weißbuch zur Zukunft Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien, Brüssel 2017.

Mittlerweile ist allerdings der einst kraftvolle Trend zur wachsenden Staatsähnlichkeit gebrochen. Es mehren sich Formen einer abgestuften Integration oder einer géometrie variable, die konzentrische oder sich überlappende Kreise der Kooperation zulässt, sodass sich die Mitgliedstaaten nicht allen Formen der Zusammenarbeit zum gleichen Zeitpunkt mit der gleichen Intensität anschließen müssen. Es mehren sich damit auch Tendenzen zu einer Desintegration.3 Das Leitbild der parlamentarischen Demokratie verliert an Überzeugungskraft. Damit wird zugleich deutlich, dass die supranationale Einigung nicht in einer unrevidierbaren, nicht steuerbaren Eigendynamik in Richtung der Staatsähnlichkeit verläuft, sondern vor alternativen Szenarien steht, die nach einem politischen Gestaltungswillen rufen. Jüngst hat die EUKommission in ihrem neuen Weißbuch zur Lage der EU fünf verschiedene Szenarien alternativer Entwicklungsverläufe der EU vorgestellt und damit erstmals von oben die Verfügbarkeit sehr unterschiedlicher Optionen der Integration verkündet.4 Die breite Angebotspalette wirkt ungewöhnlich offenherzig. Ob diese Vielfalt an Szenarien aber tatsächlich als Angebot für eine Emanuel Richter  —  Die Europäische Union

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öffentliche Kontroverse im Kreis der europäischen Bürgerschaft verstanden wird, bleibt höchst fraglich, denn wiederum kündigen sich erst einmal Gipfel­ gespräche über die Alternativen an statt öffentliche Informationsveranstaltungen oder Beratungsprozesse. Aber zumindest lässt sich ein Abrücken von dem Beharren auf einer supranationalen Eigendynamik erkennen, die lediglich der nachträglichen Legitimation durch öffentliche Wahlakte zum Europäischen Parlament und künstlich beförderter Identifikationsanreize bedarf, um das Siegel der Demokratiefähigkeit beanspruchen zu dürfen. Unter diesen Bedingungen schöpft die Legitimation der EU vor allem aus einer erfolgreichen Regulierung in Bereichen, die von der Bevölkerung als angemessene Rahmenordnung für die Sicherung ihres materiellen Wohlergehens wahrgenommen werden. Der stetige output an wirtschaftspolitischer Zweckerfüllung entbindet teilweise vom Anspruch auf demokratische Verfügungsgewalt, weil das System als eine technokratische Notwendigkeit bewertet wird, die im Sinne eines Pareto-Optimums einen größtmöglichen Nutzen für alle hervorbringt.5 Anstelle partizipativer Interventionsmöglichkeiten dominieren mittelbare demokratische Legitimationsformen: die in den einzelnen Nationalstaaten vollzogene Wahl der in Brüssel präsenten politischen Exekutiven, die Existenz von Organen wie dem Wirtschafts- und Sozialausschuss, öffentliche Hearings, einige Formen des Lobbying durch Nichtregierungsorganisationen oder die Möglichkeit, zumindest punktuell mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Auch das öffentliche Wirken substaatlicher Organisationen in Brüssel, wie zum Beispiel von regionalen oder kommunalen Büros und Vertretungen, trägt zur Festigung der repräsentativen Mechanismen einer funktionstüchtigen mittelbaren Demokratie bei.6 Bemerkenswerterweise gelingt es der EU besser, außenpolitisch als kraftvolle Hüterin der Demokratie in Erscheinung zu treten als in ihrer Innenperspektive. Denn in Gestalt der Kopenhagener Kriterien und der Standards für Beitrittsverhandlungen, aber auch in Form der Europäischen Nachbarschaftspolitik konfrontieren die supranationalen Akteure Drittstaaten mit anspruchsvollen Forderungskatalogen demokratischer Politikgestaltung, die teilweise gehaltvoller erscheinen als die eigens gepflegte demokratische Kultur. TRANSNATIONALE DEMOKRATIE UNTER DEN BEDINGUNGEN EINER ANHALTENDEN EU-KRISE Seit Längerem verharrt nun die EU im Krisenmodus. Dazu gehören Herausforderungen wie die Auswirkungen der weltweiten Banken- und Finanzkrise, das wachsende wirtschaftliche Gefälle innerhalb der EU, die Erschütterungen, die der gemeinsame Währungsraum des Euro erfahren hat, die

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5  Vgl. Fritz W. Scharpf, Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats, in: Gunnar Folke Schuppert u. a. (Hg.), Europawissenschaft, BadenBaden 2005, S. 705–741. 6  Christopher Lord u. Paul Magnette, E Pluribus Unum? Creative Disagreement about Legitimacy in the EU, in: Journal of Common Market Studies, Jg. 42 (2004), H. 1, S. 183–202.

drohende Staatspleite von Mitgliedstaaten und verstärkt die integrationsfeindlichen Ressentiments in der Bevölkerung, die populistischen Parteien und Bewegungen, mit dem unverhohlen propagierten Ziel einer EU-Auflösung, Auftrieb verschaffen. Im Moment der Krise drohen demokratische Leitbilder Schaden zu nehmen. Gefragt sind nämlich Institutionen und Mechanismen, die eine resolute Krisenbewältigung ermöglichen. In solchen Konstellationen schlägt die Stunde aktionsfreudig auftretender Exekutiven, während die Forderungen nach einer Demokratieverträglichkeit der trans- und supranationalen Gestaltungserfordernisse verblassen. Alle eilfertig getroffenen Maßnahmen geschehen immerhin im Namen und zum größtmöglichen Nutzen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Solange das Volk die entgrenzte, nicht mehr auf die Gesetzesherrschaft fokussierte, sondern auf die personalisierte Handlungskompetenz gestützte Verdichtung von Entscheidungskompetenz nicht als Bedrohung oder Fremdherrschaft wahrnimmt, sondern nur als eine Dienstleistung, die jedem Einzelnen als einem Betroffenen zuträglich ist, bleibt vermutlich ein vages legitimatorisches Einverständnis mit der Herrschaft der Exekutive erhalten. Solche Dynamiken lassen sich in der EU genauso beobachten wie in weiteren Feldern internationaler Krisenbewältigung. Die mit dem akuten Handlungsbedarf begründete Politikgestaltung führt zur Verselbstständigung transnationaler Expertenherrschaft. Diese Exekutivlastigkeit, die durch personalisierte Handlungskompetenz die demokratisch legitimierte Gesetzesherrschaft überlagert oder sogar außer Kraft setzt, gelangt in allen neueren Krisenkonstellationen der EU deutlich zum Ausdruck. Im Rahmen der globalen Finanz- und Eurokrise waren die entscheidungsfreudigen Regierungschefs gefragt, nicht hingegen die beratungsorientierten Parlamentarier auf europäischer und auf nationaler Ebene. Die europäischen Staats- und Regierungschefs missachteten bspw. gezielt das bestehende supranationale Gesetzeswerk, indem sie mit ihren Beschlüssen dessen No-Bailout-Klausel, die externe Eingriffe in den Staatshaushalt einzelner Mitgliedstaaten verhindern sollte, umgingen und indem sie zusätzlich noch Regelungen wie die verschiedenen Stabilisierungsmechanismen trafen, die als situationsbezogene Vereinbarungen in inhaltlichen Widerspruch zu den bestehenden EU-Verträgen traten. Bei der versuchten Bewältigung der Flüchtlingskrise wird die unvermittelte Entwertung der Gesetzesherrschaft zugunsten einer Expertenherrschaft noch deutlicher. Das Dublin- und das Schengen-Abkommen – jeweils mühselig ausgehandelte Verträge mit dem Ziel, den europäischen Zusammenhalt im Sinne des Schutzes der europäischen Bevölkerung zu gestalten – verloren unversehens ihre Verbindlichkeit zugunsten tagesaktuell erneuerter Vereinbarungen Emanuel Richter  —  Die Europäische Union

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unter den Staats- und Regierungschefs, die damit auf die jeweiligen Problemlagen reagierten. Alle exekutiven Eingriffe wurden mit einem akuten Handlungsbedarf begründet und legitimiert. Im Modus der Krisenbewältigung nähert sich die europäische Einigung dem Modell des Bündnissystems unter Großmächten an, in denen der Gestaltungsspielraum von politischen Führungspersonen das politische Geschehen bestimmt. Diese Führungspersonen sind einzeln und in ihrem nationalen Kontext demokratisch legitimiert; aber indem sie auf Krisengipfeln unter führenden Staats- und Regierungschefs politisch wegweisende Entscheidungen jenseits der nationalstaatlichen Entscheidungsebene treffen, entziehen sie sich der Bürgerschaft als ihrer demokratischen Legitimations- und Prüfungsinstanz. In Bezug auf die EU entwerten sie die Verbindlichkeit der Verträge und konterkarieren sämtliche Bemühungen, dem EU-System eine erweiterte demokratische Legitimation zu verschaffen. Die Souveränität des Volkes, das als unmittelbarer und symbolischer Urheber und Kontrolleur jeglicher politischen Herrschaft zu wirken hat, verblasst angesichts der Gipfeldiplomatie in der supranationalen und internationalen Arena. Insgesamt ist also die Tendenz zu beobachten, dass sich unter den Gesichtspunkten demokratischer Politikgestaltung der Abschied von dem ursprünglich angestrebten Europa der Bürger vollzieht. Die europäische Integration wird in einem politisch markanten Systemwandel ihrer ursprünglichen politischen Identitätsvisionen beraubt und zu einem von Exekutiven gesteuerten, stark reglementierenden Bündnis der Krisenbewältigung herabgestuft, dessen komplizierte finanz-, fiskal- und wirtschaftspolitische Maßnahmen zwar allen Bürgern notwendig erscheinen, aber leider auch unbegreiflich bleiben und sich als unbeeinflussbar darstellen. Wenn sich dennoch transnationale Ansprüche auf demokratische Mitgestaltung artikulieren, dann treten sie neuerdings eher in kritischer Haltung gegenüber dem bestehenden EU-System oder gar in Distanz zu ihm auf. Engagierte europäische Bürgerinnen und Bürger, die ein gutes Regieren jenseits des Nationalstaats einfordern, liebäugeln nicht mehr zwangsläufig mit der EU. Diese Tendenz lässt sich treffend anhand eines demokratischen Mechanismus aufzeigen, der sogar Bestandteil des EU-Vertragswerks geworden ist. In den Lissabon-Vertrag von 2009 wurde ein bürgerschaftliches Einspruchsrecht eingefügt: die in Artikel 11 niedergelegte europäische Bürgerinitiative. Deren Radius zur Mitgestaltung erschöpft sich zunächst einmal in dem mit hohen formalen Hürden versehenen Recht, der Europäischen Kommission die Befassung mit Themenvorschlägen für notwendige supranationale Rechtsakte aufzunötigen. Das ist ein extrem dürftiger Zugriff auf das reichhaltige Arsenal von Formen der direkten Demokratie und insgesamt eher ein hintergründiger

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Verweis darauf, welche Handlungsautonomie die Kommission tatsächlich besitzt. Bemerkenswerterweise hat die Bürgerinitiative dennoch bereits eine Reihe Initiativen und erfolgreich eingereichter Anträge hervorgebracht, deren Behandlung allerdings wiederum sehr bürgerfern zunächst einmal in die internen Gremien der EU-Kommission verlagert wird. Erstaunlich bleibt allerdings, dass dieses Instrument der Bürgerinitiative und der Einholung von zahlreichen unterstützenden Unterschriften aus mehreren Mitgliedstaaten beachtliche transnationale Mobilisierungseffekte hervorgerufen hat. Die Bürgerinitiative hat als die erstmalige Ermöglichung einer direktdemokratischen Intervention eine auffällige Bewegung unter europäischen Gruppen für bürgerschaftliches Engagement angestoßen, die sich von diesem Instrument offenkundig eine innovative, bislang unerreichte supra­ nationale Artikulationsform des europäischen Bürgerwillens versprechen. In erster Linie geht es natürlich um die jeweiligen Themen, deren Neuverhandlung eine transnational konstituierte Bürgerschaft von der Kommission einfordert. Dahinter scheint aber ein viel weiter reichender demokratischer Reflex auf: Den vornehmlich jungen Aktivisten aus zahlreichen Mitgliedstaaten geht es auch darum, sich als Bürgerinnen und Bürger mit einem gemeinsamen Anliegen, einem identischen Problem und einer nur interaktiv zu erlangenden Handlungskompetenz als wechselseitig aufeinander bezogene, demokratische Akteure wahrzunehmen.7 Wie andere europäische Protestbewegungen zeigen, etwa die großen transnationalen Demonstrationen der Jugend in Südeuropa gegen ihre Arbeits- und Perspektivlosigkeit, ist ihr Engagement nicht nur auf ein konkretes Anliegen gerichtet, sondern auch auf die Chance, durch das gemeinsame Handeln ihre Verbundenheit untereinander zum Ausdruck zu bringen. Diese »präsentistische« Form der Demokratie konzentriert sich jenseits aller konkreten Forderungen auf die »kollektiven politischen Praktiken 7  Vgl. Rudolf Hrbek, Die Europäische Bürgerinitiative: Möglichkeiten und Grenzen eines neuen Elements im EU-Entscheidungssystem, in: Integration, Jg. 35 (2012), H. 1, S. 35–50; Julian Plottka u. a., Bürgerbeteiligung gegen die Krise? Möglichkeiten und Grenzen der Europäischen Bürgerinitiative, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 25 (2012), H. 4, S. 17–28.

ohne jeden Herrschaftsanspruch«.8 Die gemeinsame Aktion wird genauso bedeutsam wie das thematische Vorhaben, und im Erkennen und Erfahren der Gemeinsamkeit konstituiert sich der demos. Mit einem solchen Gestaltwandel des demokratischen Engagements ist die Entwertung der Rahmenordnung verbunden, in der er sich vollzieht. Dass Bürgerinnen und Bürger Europas für gemeinsame Anliegen kämpfen, bringt sie nicht unbedingt dem Organgefüge der EU näher. Selbst die vor Kurzem entstandene Bewegung Pulse of Europe, die ein Bekenntnis zur europäischen Integration verficht und beachtliche Erfolge bei der Mobilisierung von Bürgerinnen und Bürgern vorzuweisen hat, hält sich im Hinblick auf das Einver-

8  Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014, S. 168.

ständnis mit den bestehenden Institutionen zurück und befürwortet lediglich die »Grundidee« der EU-Integration: Emanuel Richter  —  Die Europäische Union

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»An der rasanten Radikalisierung des politischen Lebens wirkt vieles bedrohlich. Nach Brexitvotum und Trump können wir aber nicht in Schockstarre verharren. […] Wir [die Initiatoren des Pulse of Europe, Anm. d. Verf.] wollen einen Beitrag dazu leisten, dass es auch danach noch ein vereintes, demokratisches Europa gibt – ein Europa, in dem die Achtung der Menschwürde, die Rechtsstaatlichkeit, freiheitliches Denken und Handeln, Toleranz und Respekt selbstverständliche Grundlage des Gemeinwesens sind! […] Wir sind überzeugt, dass die Mehrzahl der Menschen an die Grundidee der Europäischen Union und ihre Reformierbarkeit und Weiterentwicklung glaubt und sie nicht nationalistischen Tendenzen opfern möchte. Es geht um nichts Geringeres als die Bewahrung eines Bündnisses zur Sicherung des Friedens und zur Gewährleistung von individueller Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.«9 Im Hinblick auf die demokratischen Potenziale der europäischen Integration scheint es weniger denn je Sinn zu machen, nur nach Verbesserungsmöglichkeiten im Rahmen derjenigen Integrationsdynamik zu suchen, die durch die EU geprägt worden ist. Die Ausrichtung aller demokratischen Erwartungen auf das supranationale System verkennt demokratische Prozesse, die sich über diese Bezugsebene erheben. Die Forderung nach mehr Demokratie in der europäischen Integration kann sich also nicht länger in einem sehr konventionellen Forderungskatalog gegenüber dem bestehenden Organgefüge erschöpfen, der schon in der Vergangenheit nicht gefruchtet hat: mehr Rechte für das Europäische Parlament und für die nationalen Parlamente, mehr demokratische Einflussnahme auf die Zusammensetzung und auf die Befugnisse

9  Pulse of Europe, Über uns, URL: http://pulseofeurope.eu/ [eingesehen am 21.03.2017].

der Europäischen Kommission, größere europäische Öffentlichkeit. Stattdessen bleiben auffällige Basisbewegungen zu konstatieren, die sich zwar auch auf die demokratische Gestaltungsmächtigkeit des Volkes in den transnationalen politischen Arrangements berufen, aber sich keineswegs zwangsläufig auf die EU in ihrer heutigen Gestalt beziehen. Demnach gibt es Demokratisierungsbestrebungen und Politisierungswünsche, die sich im Moment und auf absehbare Zeit nicht plausibel auf die supranationale Integration projizieren lassen. Es könnte also sein, dass die Europäische Union gar nicht den probaten Rahmen für die Bestrebungen einer europäischen Bürgerschaft abgibt, einen angemessenen Rahmen für die Legitimation von und für das Einverständnis mit transnationaler Kooperation zu finden. Unter den Bürgerinnen und Bürgern Europas könnte es zur Konstituierung eines demos kommen, dem im Moment seiner Formation die geeignete polity abhandenkommt.

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Europa — Analyse

Prof. Dr. Emanuel ­Richter, geb. 1953, ist Professor für ­Politikwissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, letzte Buchveröffentlichung: Demokratischer Symbolismus – Eine Theorie der Demokratie, Berlin 2016.

GLEICHHEIT UND DEMOKRATIE DAS ENDE DER EUROPÄISCHEN FRIEDENSERZÄHLUNG UND DIE NEUBEGRÜNDUNG EUROPAS ΞΞ Ulrike Guérot

Die EU befindet sich in ihrer größten Legitimitätskrise seit Gedenken. Ihre Zukunft, ihr sprichwörtliches Überleben, zumindest in der bekannten Manier, steht zur Debatte – jetzt, wo der »Brexit« beschlossen ist und eine unvorhersehbare Eigendynamik entwickeln könnte. Erschwerend kommt die systemische Verfestigung rechtspopulistischer Parteien in zahlreichen EUMitgliedsstaaten hinzu. Ob sich die EU noch reformieren und das Vertrauen der europäischen Bürger wiedergewinnen kann – der Zuspruch zur EU ist unter die Fünfzig-Prozent-Marke gefallen1 – oder ob sie wieder, zum Beispiel in Form von Wachstum und Zukunftspolitiken, einen output, der sichtbar bei den Bürgern ankommt, zu erzeugen vermag, muss bezweifelt werden. Ob überhaupt die überfällige Fortentwicklung der EU und ihrer Institutionen von einem »offiziellen« Impuls ausgehen wird oder eher die inzwischen beträchtliche Dynamik der allsonntäglichen Demonstrationen von #­pulseofeurope eine politische Veränderung auslösen kann, ist die zweite Frage. Immerhin hat die EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker Anfang März 2017 fünf Szenarien zur Zukunft der EU vorgelegt, mit denen die euro1 

Vgl. Bruce Stokes, Euro­ skepticism beyond Brexit. Significant opposition in key European countries to an ever closer union, in: Pew Research Center, 07.06.2016, URL: http:// www.pewglobal.org/2016/06/07/ euroskepticism-beyond-brexit/ [eingesehen am 17.05.2017]. 2  Siehe Europäische Kommission, Weißbuch zur Zukunft ­Europas. Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien, Brüssel 2017, URL: https:// ec.europa.eu/commission/sites/ beta-political/files/weissbuch_ zur_zukunft_europas_de.pdf [eingesehen am 17.05.2017].

päische Krise überwunden und die Zukunft Europas gesichert werden sollen,2 die indes an Ambitionslosigkeit kaum zu überbieten sind. Weder finden sich dort Antworten auf die Frage, wie die EU das kolossale Missmanagement der Banken- und Eurokrise in den Griff bekommen und Europa sozial machen möchte; noch geht es im Kern um eine Verbesserung der Legitimation der politischen Prozesse der EU, gegen die doch aber die Populisten am laustärksten wettern. Auch Überlegungen, wie die EU bspw. ihre Handlungsfähigkeit in der Flüchtlingskrise verbessern will, sucht man vergebens. Die Älteren mögen sich an die Papiere der Kommission von Jacques Delors, die Einheitliche Akte, den Cecchini-Bericht oder das Binnenmarkt-Papier erinnern. Heute, so scheint es, erschöpft sich die europäische Idee in der »vertieften Zusammenarbeit« im Bereich der Elektromobilität. Fraglich ist, ob es überhaupt realiter fünf Szenarien sind. Das erste lautet: »weiter so wie bisher«. Das kann natürlich nur für etwas gelten, was stabil

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ist. Die EU kann das derzeit jedoch nicht von sich behaupten. »Zurück zum Binnenmarkt«, Szenario zwei, ist nicht minder unrealistisch: Soll der Euro rückabgewickelt werden? »Ein Markt, eine Währung« war bei dessen Einführung der Slogan. Szenario drei – »wer will, geht voran« – ist insofern kein neues Szenario, als differenzierte Integration schon nach den jetzigen Verträgen möglich, nur nie ernsthaft umgesetzt worden ist. Bleiben also noch Szenario vier und fünf: Die Staaten machen entweder wenig zusammen, aber das dafür richtig (zum Beispiel in den Feldern Sicherheit und Verteidigung); oder sie machen viel mehr zusammen, selbstverständlich auch endlich einmal richtig. Das wiederum ist wenig originell: Es übersieht nicht nur die schon jetzt greifbare Spaltung in EU 28 (bzw. bald EU 27) und Eurozone, sondern auch, dass vor allem Währung und Strategie, also Außen- und Sicherheitspolitik, zusammengehören – einfach weil Kriege viel Geld kosten. Währung hier, Sicherheit da: Das wird nicht gehen. Szenario fünf ist also die Frage nach dem Wesenskern der EU, den die EU seit Langem umkreist – die Frage, wer eigentlich der Souverän in Europa ist. Solange die Antwort gegeben wird, dass es letztlich die Nationalstaaten seien, werden Junckers Szenarien das bunte Papier nicht wert sein, auf dem sie gedruckt sind. Wo die Output-Legitimität nicht mehr gesichert ist, ist es vielleicht an der Zeit, sich der Input-Legitimität der EU neu zuzuwenden. Lange Jahrzehnte war sich die Politikwissenschaft einig,3 dass die EU als System sui generis gesetzt sei, dass multi-level governance die Funktionsweise der EU sein solle und dass die Übertragung klassischer demokratietheoretischer Paradigmen – Gewaltenteilung, Gleichheit bürgerlicher Rechte – auf die europäische Ebene weder gewünscht noch möglich sei. Die nationale Demokratie sei nicht Vorlage für die EU. Diese Diskussion indes scheint sich inzwischen zu verschieben. Nicht nur fordert eine neue Generation junger europäischer Thinktanks inzwischen europäische Demokratie statt europäische Integration,4 was eine nicht unerhebliche und nicht nur begriffliche Verschiebung ist. Auch aktuelle poli-

3  Vgl. dazu Ante Büssgen, Der Europa-Diskurs von Intellektuellen in Zeiten der Krise. Zu Robert Menasse und Hans-­ Magnus Enzensbergers Europa Essays 2010–2012, in: Peter Hanenberg u. Isabel Capeloa Gil (Hrsg.), Der Literarische Europadiskurs, Würzburg 2013, S. 193– 215; Gabriele Abels u. Annegret Eppler, Einleitung: Auf dem Weg zum Mehrebenenparlamentarismus?, in: Dies. (Hg.), Auf dem Weg zum Mehrebenenparlamentarismus? Funktion von Parlamenten im politischen System der EU, Baden-Baden 2011, S. 17–40. 4  Dieter Plehwe u. a., Time to go beyond interstate federalism – or something different? The response of new pro-European think tanks to the EU integration crisis. Discussion Paper, SP I 2016–202, November 2016, URL: https://bibliothek.wzb.eu/ pdf/2016/i16-202.pdf [eingesehen am 17.05.2017].

tische Entwicklungen deuten darauf hin, dass der Begriff des European citizenship vehement in die Debatte drängt und möglicherweise den Schlüssel zu einer grundlegenden europäischen Reform bietet, die allerdings weniger von den EU-Institutionen ausgehen und weit über das hinausreichen dürfte, was Letztere derzeit avisieren. Von verschiedenen Seiten ins Gespräch gebracht5 – und in der Tat keine neue Idee, sondern vielmehr schon ein Kerngedanke bei den europäischen Föderalisten der ersten Stunde6 – wird ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht für alle europäischen Bürger. »Eine Person, eine Stimme« wäre in

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Europa — Analyse

5  Neben Thinktanks wie European Alternatives wird dies bspw. auch bei den Jungliberalen mit Blick auf die Wahlkampfprogrammatik 2017 oder in den Foren des Europäischen Jugendparlaments diskutiert. 6  Vgl. dazu Ulrike Guérot, Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde, Berlin 2017.

der Tat der wichtigste Schritt für eine radikale Neubegründung europäischer Legitimität, sofern noch das Ziel besteht, in Europa eine politische Einheit zu begründen, welche die wirtschaftliche Einheit fundiert. Erst dann könnte das Europäische Parlament zum Sachwalter einer europäischen Demokratie werden, die ihren Namen verdient und deren Souverän die europäischen Bürger sind. Die Politikwissenschaft hat die weitreichende Wirkung von Wahlrechtsgleichheit für Gesellschaften gut durchforscht: In »Le Sacre du Citoyen«7 beschreibt der französische Soziologe Pierre Rosanvallon anschaulich die gesellschaftliche Wirkung des Gleichheitsversprechens, das am Ursprung jeder demokratischen Revolution zu finden sei. Das rechtliche Prinzip habe eine symbolische Wirkung und entfalte seine universalistische Integrationsmacht sukzessive, indem sich die Bürger als Einheit eines politischen Kollektivs fühlten. Genau das könnte nun auch den Weg zur Neubegründung eines politischen Körpers in Europa ebnen, der wiederum die Voraussetzung für jede Demokratie ist. Das individuelle, gleiche Wahlrecht war in den verschiedenen historischen Epochen immer auch Ausdruck einer gesellschaftlichen Modernisierung – nichts braucht Europa heute dringlicher als das. Meistens kommt mit Blick auf Europa der Einwand, dass dieses große Staaten, allen voran Deutschland, gegenüber kleinen Staaten wie Luxemburg oder Malta übervorteilen würde – denn bisher existiert im Europäischen Parlament (EP) eine Stimmengewichtung nach Nationalität. Im Abstimmungsverhalten sind die Deutschen jedoch keine homogene Größe; auf Wahlen gründend wäre das deutsche Votum nicht aggregiert, wie etwa die eine deutsche Stimme im Europäischen Rat, dem größten Hemmschuh auf dem Weg zur europäischen Demokratie, eben weil das Votum dort nicht politisch aufgefächert ist. Perspektivisch würde Wahlrechtsgleichheit ein Europäisches Parlament hervorbringen können, in dem das Politische in Europa endlich über die Nationalität gestellt wird. Dies ist natürlich auch das Begehren des EP. Aber das EP ist einerseits nicht der alleinige Gesetzgeber der EU, andererseits ist es nicht der Ort der europäischen Demokratie, gerade weil es nicht in allgemeiner und gleicher Wahl gewählt ist und mithin den Souverän Europas, die europäischen Bürger, nicht angemessen repräsentiert. Genau dies ist im Kern die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe und seiner berühmten »Solange«-Rechtsprechung: Solange das EP nicht »richtig demokratisch« sei, und zwar weil der politische Körper, aus dem es geformt werde, 7 

Vgl. Pierre Rosanvallon, Le Sacre du Citoyen. Histoire du suffrage universel en France, Paris 1992.

nicht gleich sei in den Modalitäten der Wahl, die europäischen Bürger dort also nicht nach dem Prinzip »eine Person, eine Stimme« repräsentiert würden, solange könne die legislative Gewalt nicht dem EP überantwortet werden. Ulrike Guérot  —  Gleichheit und Demokratie

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Aus diesem Grunde hat Karlsruhe im Zuge der Ratifizierung des Lissabonner Vertrages 2009 den Bundestag aufgefordert, eine Kontrollfunktion bezüglich des EP einzunehmen. Soll Karlsruhe aus dem »Solange«-Modus herauskommen, dann kann es konsequenterweise keinen anderen Weg geben, als das EP auf Dauer derart demokratisch zu machen, dass es keinen Hinderungsgrund mehr gibt, ihm perspektivisch das volle Legislativrecht zu gewähren. Wahlrechtsgleichheit wäre damit der erste Schritt zur europäischen Demokratie! Dies zu fordern, ist nicht radikal. Die ersten Vorschläge zu transnationalen Wahlkreisen und einem Abgeordneten pro rund einer Million Stimmen stammen von den europäischen Föderalisten der erste Stunde und wurden schon im »Hertensteiner Programm« von 1946 gemacht.8 Seit dem sogenannten European Electoral Reform Act von 1976, durch den 1979 die ersten Direkt­wahlen zum EP möglich wurden, arbeitet das EP an genau diesem Ziel: Wahlrechtsgleichheit.9 Ebenso versucht das EP seit der Einführung seiner Direktwahl, die europäische Staatsbürgerschaft materiell auszubuchstabieren. Der jüngste, parlamentsinterne Vorstoß war der Hübner-Leinen-­Report,10 der im November 2015 mit großer, überparteilicher Mehrheit vom EP angenommen worden ist und auf eine weitestgehende Vereinheitlichung der Wahl-

8  Vgl. dazu Frank Niess, Die Europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands, Frankfurt a. M. 2001, S. 155.

modalitäten in ganz Europa drängt, inklusive der lange angestrebten grenzüberschreitenden Wahlkreise. Ihm fehlt allerdings das zugleich sensibelste und zentralste Element: eine Person, eine Stimme. Genau dies aber wäre der Sprung in eine volle Föderierung Europas, ein Europäisches Abgeordnetenhaus, und der Startschuss für eine europäische Staatsbürgerschaft. Die Stimmengewichtung gehört, wie in allen föderalen Systemen der Welt, in eine zweite Kammer, über die dann im Detail nachzudenken wäre und die möglicherweise aus Vertretern der europäischen Regionen als konstitutiven Trägern eines neuen, nach-nationalen Europas bestehen könnte. In diese zweite Kammer könnten die europäischen Regionen je zwei Senatoren

9  Vgl. dazu die umfassende Studie von Olivier Costa, The ­History of European ­Electoral ­Reform and the Electoral Act 1976. Issues of Democratization and Political Legitimacy, hg. vom European Parliamentary Research Service, Luxembourg 2016, S. 36 ff., URL: http://www.politico. eu/wp-content/uploads/2016/10/ EPRS-Study-563516-HistoryEuropean-electoral-reform-1976Act-FINAL2.pdf [eingesehen am 17.05.2017].

entsenden, die einen europäischen Senat bilden; denn in Europa gibt es zunehmend Regionen, die aus dem politischen Körper der Nationalstaaten ausbrechen wollen, zum Beispiel Schottland angesichts des drohenden »­Brexits« oder auch Nordirland und Katalonien, wo ein Referendum über die Unabhängigkeit ansteht. Warum nicht diesen Trend für eine Neubegründung Europas nutzen, anstatt ihn zu bekämpfen? Dazu könnte man, wie schon jetzt in vielen Wahlprogrammen aufgeführt, einen europäischen Präsidenten direkt wählen, der eine einheitsstiftende Wirkung für das politische System in Europa hätte. Dabei geht es nicht um europäischen Zentralismus. Keineswegs zufällig ging es bei den »Federalist

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Europa — Analyse

10  Siehe Danuta Maria Hübner u. Jo Leinen, Draft report on a proposal for amendment oft the Act of 20th September 1976 concerning the election of the Members of the European Parliament by direct universal suffrage, 2015/2035 (INL), URL: http:// www.europarl.europa.eu/sides/ getDoc.do?pubRef=-%2F%2FEP %2F%2FNONSGML%2BCOMP ARL%2BPE-560.824%2B01%2B DOC%2BPDF%2BV0%2F%2FEN [eingesehen am 17.05.2017].

Papers«, aus denen das republikanisch-föderale System der USA hervorgegangen ist, nicht um die Machtbeschneidung der föderalen Ebene, sondern um Machtteilung, also um checks and balances. Europa soll viel Macht haben, nur eben nicht in einer Hand – wie heute jener des EU-Rates. Und diese Macht muss parlamentarisch auf europäischer Ebene legitimiert sein. Das politische System Europas wäre dadurch zugleich effizienter und entschlackt. Die zähen Debatten darüber, wie viele »Kompetenzen« die vermeintlich »souveränen« Nationalstaaten denn an die europäische Ebene abzugeben bereit wären, könnte man sich sparen: Sie führen in die Irre. Es geht nicht um »Kompetenzabgabe«, sondern um Gewaltenteilung in Europa. Mit einem solchen Zweikammer-System würden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Es könnte eine europäische Demokratie begründen und das Demokratiedefizit beheben; und der Stellenwert der Regionen im politischen System Europas würde erhöht, also die Entscheidungsgewalt und Autonomie im Sinne dezentraler, subsidiärer, partizipativer und bürgernaher Gestaltung von Politik gestärkt. Das klingt theoretisch, ist aber sehr konkret: Alle derzeitigen Rufe bspw. nach einem »europäischen Finanzminister« (oder einer »Eurozonenregierung«) kranken an der Tatsache, dass die Legitimität dafür im derzeitigen System der EU nicht gegeben ist. Wer würde ihn kontrollieren? Wem gegenüber wäre er rechenschaftspflichtig? Die Forderungen laufen also ins Leere, solange nicht klar ist, wem gegenüber eine »Eurozonenregierung« denn verantwortlich sein soll. Ein »Finanzministerrat« ist schließlich kein Parlament. Deswegen werden jetzt Forderungen nach einer Parlamentarischen Versammlung für die Eurozone erhoben,11 die, proportional nach Parteien zusammengesetzt, aus nationalen Parlamentariern bestehen soll, gemessen an der Bevölkerungsstärke des jeweiligen Landes. Das wären dann zum Beispiel dreißig Bundestagsabgeordnete, 25 aus der französischen Assemblée Nationale etc. Der Vorschlag hat seinen Charme, zielt er doch genau auf jenes notwendige politics tops nations ab, das auch der Forderung nach Wahl11  Siehe Thomas Piketty, For a democratic Euro-zone governement, in: Le ­Monde, 15.02.2017; Stéphanie Hennette u. a., Pour un traité de démocratisation de l’Europe, in: Le Monde, Le Blog de Thomas Piketty, URL: http://piketty.blog. lemonde.fr/2017/02/15/for-a-democratic-euro-zone-government/ [eingesehen am 17.05.2017].

rechtsgleichheit zugrunde liegt. Würde diese Parlamentarische Versammlung zum Beispiel über die Höhe griechischer Unternehmensbesteuerung abstimmen, so ergäbe sich sicherlich ein anderes Meinungsbild und ein differenzierteres Abstimmungsverhalten, als es eben ein Finanzminister im Rat haben kann, da das Votum politisch aufgefächert und nicht mehr national aggregiert würde. Bedenkt man dann noch, dass Deutschland rund 27 Prozent der Bevölkerung in der Eurozone vertritt, während Frankreich, Italien und Spanien zusammen fünfzig Prozent Ulrike Guérot  —  Gleichheit und Demokratie

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haben und Belgien, Griechenland und Portugal mit den anderen Ländern zusammen auf 23 Prozent kommen, dann kann man sich vorstellen, dass in einer solchen Parlamentarischen Versammlung der Eurozone andere Beschlüsse zum Euro zustande kämen als heute im EU-Finanzministerrat. Aus der Wahlrechtsgleichheit einerseits, der Koppelung von nationaler und europäischer Legitimität durch eine solche Parlamentarische Versammlung für die Eurozone, in der auf Dauer nationale Parlamente und EP verschmelzen würden, andererseits könnte sich eine große europäische Reform ergeben, deren Kern in der Verwirklichung einer europäischen Staatsbürgerschaft bestünde, und zwar durch die perspektivische Verwirklichung des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes für alle europäischen Bürger, eben beginnend mit Wahlrechtsgleichheit. Im realpolitisch ganz konkreten und gar nicht utopischen Raum bewegt sich der Vorschlag einer personalisierten EU-Unionsbürgerschaft für Briten, die der Vorsitzende der liberalen ALDE-Fraktion im EP, Guy Verhofstadt, fordert.12

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Europa — Analyse

12  Siehe o.V., EU citizenship for Britons?, in: The Connexion, 19.12.2016, URL: https://www.connexionfrance. com/French-news/Brexit/ EU-citizenship-for-Britons [eingesehen am 17.05.2017].

Briten, die das wünschen, sollen nach dem Austritt Großbritannien aus der EU die Möglichkeit erhalten, Unionsbürger zu bleiben. Vor allem für diejenigen Briten, die im europäischen Ausland gelebt oder gearbeitet und hier Renten­ ansprüche erworben oder gar eine Familie gegründet haben, ist das interessant. Mit der Initiative für eine europäische Staatsbürgerschaft wäre eine Schleuse geöffnet; denn was Briten zusteht, müsste konsequenterweise allen europäischen Bürgern zustehen. Ein schneller Gang zum EuGH dürfte eine Bewegung für das allgemeine Recht auf eine direkte und materiell angefütterte europäische Unionsbürgerschaft in Gang setzen. Dies wäre eine entscheidende Wegmarke, um das politische System in Europa von einer »Staaten­ union«, die im Wesentlichen über einen bloß indirekt legitimierten EU-Rat »regiert« wird, in eine wirkliche europäische Demokratie zu überführen, in der am Ende nur eins gelten kann: Die Bürger sind der Souverän des politischen Systems, vor dem Recht sind sie alle gleich, das Parlament entscheidet und es gilt Gewaltenteilung. Der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz ist der Sockel jeder Demokratie. Es wäre die große Reformation Europas! Die heutige Europäische Union ist nicht stabil. Ohne einen entscheidenden Schritt nach vorn wird sie in ihrer heutigen Form nicht zu erhalten sein. Den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz in Europa auf den Weg zu bringen, wäre also das politische Gebot der Stunde. Die normative, also rechtliche Gleichheit in Europa muss wichtiger sein als die Nationalität. 1992 wurde der Euro auf die Zeitschiene gesetzt und in drei Schritten zwischen 1994 und 2002 die Währungsunion geschaffen. Innerhalb von zehn Jahren wurden von Lappland bis zur Südspitze der Algarve sämtliche Geldautomaten mit Euros ausgestattet; jeder europäische Bürger hat eine IBAN bekommen. Sollte nicht möglich sein, in einem auf 10, 15, 25 Jahre angelegten Prozess dafür zu sorgen, dass wir von Tampere bis Thessaloniki Wahlrechtsgleichheit haben? Und dann einen europäischen Pass, eine europäische ID und eine europäische Steuernummer bekommen? Und zuletzt eine europäische Arbeitslosenversicherung und ein europäisches Bürgergeld? Warum eigentlich nicht? Es wäre das Ende von Europa als Elitenprojekt. Europa wäre bei den Bürgern angekommen und ein politisches Projekt, gegen das keine Rechtspopulisten mehr zu Felde ziehen könnten, mit dem Argument, die EU sei in ihren Strukturen illegitim und undemokratisch. Univ.-Prof. Dr. Ulrike Guérot, geb. 1964, ist ­Professorin für Europapolitik und Demokratie­ forschung an der Donau-Universität Krems mit den Forschungsschwerpunkten: Demokratie der EU-Institutionen, Mitgliedsstaaten, Populismus und die Rolle der europäischen Regionen.

Ulrike Guérot  —  Gleichheit und Demokratie

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POLEN, EUROPÄISCHE UNION UND IDENTITÄT FÜNF THESEN ZU EINEM LAND DER GEGENSÄTZE ΞΞ Weronika Priesmeyer-Tkocz

Der illiberale politische und gesellschaftliche Kurs der neuen polnischen Regierung hat die deutsche und europäische Öffentlichkeit bestürzt. Binnen weniger Monate hat sich Polen von einem Musterbeispiel der europäischen Integration zu einem Rebellen entwickelt, der die Grundwerte der EU – insbesondere Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus – infrage stellt und für eine Umgestaltung des europäischen Projektes gemäß der Vision eines Europas souveräner Staaten wirbt. Die Nationalisierung der öffentlichrechtlichen Medien, die sie zum Sprachohr der Regierung macht, die praktische Entmachtung des Verfassungsgerichts und eine Reihe weiterer, unter zweifelhaften Umständen verabschiedeter Gesetze und Reformen ließen die Alarmglocken bei der europäischen und transatlantischen Gemeinschaft läuten. Infolgedessen wurden – erstmals in der Geschichte der europäischen Integration – von der Europäischen Kommission erste konkretere Schritte zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit eines EU-Mitglieds angestrengt. Gleichzeitig verdeutlichen proeuropäische Bekundungen aus der polnischen Zivilgesellschaft, die tausende von Menschen auf den Straßen zu mobilisieren vermochte, dass die Entscheidungen der nationalkonservativen, rechtspopulistischen Regierung nicht widerspruchslos hingenommen werden. Dennoch hält die polnische Regierung unvermindert an ihrem Kurs fest, lässt sich von ihrem geradezu revolutionären Reformweg kaum abbringen. Dabei ist der polnische Kurswechsel nur die Spitze des (ost- und mitteleuropäischen) Eisberges. Ist auch Ungarn unter Viktor Orbán bereits in Richtung »illiberale Demokratie« abgedriftet, sind ähnliche politische aber auch wirtschaftliche Fehlentwicklungen in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, kurz: MOE-Ländern, zu beobachten. In Tschechien und der Slowakei machen sich populistische Tendenzen breit, Bulgarien und Rumänien scheinen im Kampf gegen die Korruption machtlos. Allesamt Entwicklungen, die Stimmen laut werden ließen, wonach sich die Europäische Gemeinschaft durch die EU-Osterweiterung mehr Probleme ins Haus geholt habe, als sie verkraften könne. Und auch und gerade die Entwicklung in Polen nährt diese Zweifel. Ist Polen in dieser Denkweise also für Europa verloren? Dieser

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Frage soll in fünf Thesen nachgegangen werden, die das Gegenteil beweisen könnten und dennoch zugleich auf die enorme Komplexität der polnischen Selbstbehauptung hindeuten. THESE 1: DER RECHTSKONSERVATIVE RUCK AUS GUTEM GRUND, ZUFALL UND GLÜCK. Der Sieg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)1 bei den Parlamentswahlen im November 2015 war alles andere als überraschend. Bereits seit Monaten, wenn nicht Jahren, zeichnete sich ab, dass die seit 2007 regierende Koalition aus liberalkonservativer Bürgerplattform (PO) und Bauernpartei ( PSL) abgewählt würde, dass ein Machtwechsel bevorstünde. Doch dass die PiS es schaffte, sich mit nur 37,5 Prozent der Stimmen die parlamentarische Mehrheit im Sejm zu sichern und in der Folge die Regierung allein zu stellen, war schon eine Sensation.2 Ebenfalls überraschend hatte sich bereits einige Monate zuvor der bis dato ziemlich unbekannte PiS-Kandidat Andrzej Duda gegen den bisherigen Präsidenten Bronisław Komorowski durchgesetzt, was den Erfolg der nationalkonservativen PiS und die Niederlage der liberalkonservativen PO nur mehr verstärkte. Mit dem Präsidenten an der Spitze, Beata Szydło als Regierungschefin und Jarosław Kaczyn´ski als im Hintergrund alle Stricke in der Hand haltendem Parteivorsitzenden3 übernahm die PiS das politische Zepter in Polen – und machte sich, ausgestattet mit dieser Machtfülle, ans Werk. 1  Eigentlich ist die PiS selbst ein Bündnis, das aus einer großen (PiS) und zwei Satellitenparteien (PR – Rechte der Republik, SP – Solidarisches Polen) besteht.

Die Gründe für die Abwahl der PO-PSL-Koalition und die Wahl der PiS sind seither aus verschiedenen Perspektiven vielfältig beleuchtet und umfassend analysiert worden. Dabei sind sich politische und wissenschaftliche Analyse zumeist dahingehend einig, dass eine Kombination von innenpoli-

2  Im Senat errang sie wegen des Mehrheitswahlrechts sogar 61 Prozent der Mandate.

tischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren ursächlich für den Ausgang der Wahlen im Jahr 2015 war. Dabei spielten, neben handwerklichen Fehlern und neoliberalen Fehlentscheidungen der vergangenen Regierung,

3  Zum Phänomen ­Kaczyn´ski vgl. Jadwiga Staniszkis, Ein infantiler Autokratismus. Kaczyn´ski, die PiS und Polens Weg nach Osten, in: ­Osteuropa, H. 1–2/2016, S. 103–108. 4  Vgl. Aleksander Hall, Schlechter Wechsel. Polen unter der Regierung der Partei »Recht und Gerechtigkeit«, Berlin 2016; Manfred Sapper u. Volker Welchsel (Hg.), Gegen die Wand. Konservative Revolution in Polen, Osteuropa, H. 1–2, Berlin 2016.

die Spaltung der politischen Landschaft sowie eine polarisierende, auf die Würde einer Nation hinweisende Rhetorik der PiS eine zentrale Rolle.4 Der PiS ist gelungen, ihre Wählerschaft zu überzeugen, dass trotz der positiven Wirtschaftszahlen und optimistischen Entwicklungsprognosen das Land einer »Ruine« gleiche, die von den Vorgängern ausgebeutet worden sei. Ein »guter Wechsel« (dobra zmiana), also eine Mischung aus nationalkonservativer Ideologie und sozialistischen Lösungen, sollte dem Land und deren Bevölkerung anstelle dessen zugutekommen. Ferner spielte die Zuspitzung der Flüchtlings- und Migrationskrise ausgerechnet im Sommer und Herbst 2015 eine große Rolle. Bilder von den Weronika Priesmeyer-Tkocz  —  Polen, Europäische Union und Identität

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Menschenströmen auf der Balkan-Route und die Belagerung des Budapester Bahnhofs lösten politisch verstärkt, Angst, Unsicherheit und das Gefühl des Bedrohtseins in der Gesellschaft aus. Die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grenzen für hunderttausende Flüchtlinge zu öffnen, wurde hierfür von den rechten Parteien nicht nur als kontroverser europapolitischer Alleingang der deutschen Bundesregierung und somit als Verletzung der europäischen Solidarität verhandelt, sondern, weitergehend, als akute Bedrohung der europäischen Sicherheitslage zugespitzt, die letztlich die »Islamisierung des christlichen Abendlandes« mit sich bringe. Der regierenden PO-PSL-Koalition wurde in diesem Zusammenhang vorgeworfen, sich dem deutschen Diktat unterworfen und das Wohlergehen des eigenen Volkes vernachlässigt zu haben.5 Ein weiterer Faktor für den Erfolg der PiS liegt im Wahlausgang selbst, der eine für die PiS äußerst glückliche Wendung genommen hatte: Da 16,9 Prozent der Stimmen auf Parteien oder Wahlbündnisse entfielen, welche die Sperrklausel nicht übersprangen, reichte der PiS zwar ein gutes, von einer absoluten Mehrheit aber noch weit entferntes Ergebnis, um nach Sitzen die absolute Mehrheit zu erringen. Neben dem Umstand, dass fast die Hälfte der Wahlberechtigten ihr Wahlrecht nicht wahrgenommen hatten, war es also ausgerechnet der Misserfolg der schwächsten Parteien, welcher der PiS eine absolute Mehrheit im Parlament sicherte. THESE 2: ILLIBERALER KURS MIT BLICK AUF EINE LANGFRISTIGE MACHTSICHERUNG. Die Aussage des liberalen Historikers Lord Acton aus dem 19. Jahrhundert, Macht korrumpiere und absolute Macht korrumpiere absolut, scheint auch auf die politischen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahre in Polen zuzutreffen. Kaum an der Macht, nahm die neue Regierung jedenfalls Kurs auf weitreichende Reformen, umfassende Umstrukturierungen und personelle Veränderungen, die helfen sollten, die erlangte Macht nicht nur zu stärken, sondern auch dauerhaft zu erhalten. Dieser Prozess spielt sich in Polen auf zwei Ebenen ab. Sozialpolitisch versuchte die Regierung, ihre Glaubwürdigkeit zu behaupten, indem sie Wahlversprechen durchsetzte und sehr schnell (und oft in fragwürdigen Verfahren) umfassende Maßnahmen entgegen dem neoliberalen Kurs der Vorgängerregierung durchdrückte – zu nennen sind hier u. a. die Einführung des »Kindergeld 500+«, die Absenkung des Renteneintrittsalters bei gleichzeitiger Rentenerhöhung, Lohnanpassungen, die Erhöhung der Steuerfreigrenze und weitere Investitionsvorhaben wie etwa ein forciertes Wohnungsbauprogramm. Das wachsende Loch in der Staatskasse – die

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Europa — Analyse

5  Vgl. Reinhold Vetter, ­ ezeitenwechsel. Polens Rechte G erobert die ganze Macht, in: Osteuropa, H. 1–2/2016, S. 19–36, hier S. 31 f.

Kosten für das Reformpaket entsprechen einem Drittel des jährlichen Staatshaushaltes – wird in diesem Zusammenhang als eine Notwendigkeit und Voraussetzung verteidigt, Gerechtigkeit im Land herzustellen. Und diese Strategie scheint aufzugehen. Die Unterstützung für die Regierungstätigkeit unter Beata Szydło ist innerhalb eines Jahres, von Januar 2016 bis Januar 2017, von vierzig auf fünfzig Prozent gestiegen; auch die PiS kann Umfragen zufolge ihr Wahlergebnis durchaus halten.6 Eine andere Dimension stellt der weitere Weg der Machtkonsolidierung, sowohl hinsichtlich des umfassenden Umbaus des Staates als auch der damit verbundenen politischen Rhetorik, dar, welcher die europäische Gemeinschaft zweifeln lässt, ob rechtsstaatliche, auf Gewaltenteilung und -verschränkung basierende Prinzipien in Polen noch gelten. Der Standpunkt der Regierung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die PiS habe von den Wählern das Mandat für die nächsten vier Jahre bekommen; als legitim gewählte Vertretung des Souveräns bestimme die Regierung, was Demokratie ausmache und welche Normen und Rechte verändert werden könnten, um die postkommunistischen Altlasten und Fehler der Vergangenheit zu beseitigen. Dazu gehörten neben der bereits erwähnten Nationalisierung der öffentlichen Medien und der Entmachtung des Verfassungsgerichts auch die Reform des Justizwesens, die einem Eingriff in die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter gleichkommt; ein neues Kommunalwahlgesetz mit dem die Wiederwahl der bisherigen Bürgermeister eingeschränkt werden soll;7 umfassende personelle Veränderungen in Ministerien und nachgeordneten Behörden sowie eine starke Kontrolle der NGOs, insbesondere im 6  Vgl. CBOS, Komunikat z badan´ Nr. 15/2017: preferencje partyjne w lutym u. CBOS, Komunikat z badan´ Nr. 18/2017: Stosunek do rządu w lutym, zit. nach o.V., Bewertungen der Demokratie, Politik, Parteien und Politiker, in: Polen-Analysen, Nr. 196, 07.03.2017, S. 7–13, hier S. 9. 7 

Dies u. a. deshalb, weil insbesondere die großen Städte noch immer Hochburgen der Opposition sind. 8  Vgl. Ireneusz Kamin´ski, Der Nationalkatholizismus und die Demokratie, in: Polen-Analysen, Nr. 193, 17.01.2017, S. 2–7, hier S. 3.

Hinblick auf deren Finanzierung. Mit dem Zugriff auf Legislative, Exekutive, Judikative, staatliche Medien, Zivilgesellschaft und mit einem sehr starken Rückenwind von der polnischen Kirche erhofft sich die Regierung, den eingeschlagenen Kurs uneingeschränkt durchzusetzen und sich damit gleichzeitig dauerhaften Einfluss in allen staatsrelevanten Bereichen zu sichern. Ideologisch begründet wird der Kurs dabei durch eine Mischung aus national-demokratischer Tradition der Zwischenkriegszeit, der Politischen Theologie von Carl Schmitt sowie dem nationalklerikalen Diskurs der jüngeren Zeit, der sich insbesondere in der Rhetorik des »richtigen«, moralisch begründeten Handelns im gesellschaftlichen und nationalen Interesse ausdrückt.8 Dessen Imperativ erlaubt nicht nur die Entscheidung, wer im Recht und wer im Unrecht ist, sondern lässt überdies zu, dass zum einen das »Wohlergehen des Volkes« über demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen steht, zum anderen ermöglicht es eine ebenso simple wie wirksame Rechtfertigung aller Umgestaltungsprozesse, die derzeit in Polen stattfinden. Weronika Priesmeyer-Tkocz  —  Polen, Europäische Union und Identität

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THESE 3: DIE GESELLSCHAFT ENTWICKELT SICH ABSEITS DER POLITIK – UND DAS IST EIN TEIL DES PROBLEMS. Dennoch: Die polnische Bevölkerung mit der PiS gleichzusetzen, wäre ein Fehlschluss. So ist die Mehrheit der Polen mutmaßlich deutlich liberaler, demokratischer und offener als der ideologische Kurs der Regierung. Immerhin haben über sechzig Prozent der Polen die neue Regierung nicht gewählt. Immerhin tragen in regelmäßigen Abständen tausende von Menschen ihren Protest gegen die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit und ihr Bekenntnis zu Europa auf die Straßen. Zudem entstand kurz nach dem Machtwechsel ein parteiübergreifendes »Komitee zur Verteidigung der Demokratie« ( KOD), das in mehreren Städten auch außerhalb Polens bis heute aktiv ist. In privaten Medien und dem regierungskritischen Teil der Öffentlichkeit ist die Unzufriedenheit mit dem politischen Kurs in Warschau deutlich zu spüren, im Internet und in sozialen Medien blühen alternative Berichterstattung, ­Fake-News-Bekämpfer und die Satire auf. Wöchentlich zieht die Kurzserie »Ucho prezesa« (dt.: Das Ohr des Vorsitzenden), die das Strippenziehen von Jarosław ­Kaczyn´ski aus dem politischen Hintergrund pointiert darstellt, Millionen Zuschauer an. Als Erfolg muss zumindest auch gelten, dass in jüngster Zeit die Unterstützung für die liberaldemokratischen Parteien wieder ansteigt. Dennoch weisen die oben genannten Beispiele auf Schwächen der demokratischen Strukturen in Polen hin, von denen die Kluft zwischen Gesellschaft und Politik das zentrale Problem ist – dies wiederum aus mehreren Gründen. Zum einen fehlt es in Polen an einer historisch verankerten Tradition eines dauerhaften zivilgesellschaftlichen Engagements, das auf der Überzeugung basiert, Teil des politischen Systems zu sein. Der Staat ist in der Bezugshierarchie ganz unten – nach Familie, Verwandten, Freunden, Nachbarn, Bekannten, Kirchengemeinde und Sportverein. Salopp formuliert, wird die Gesellschaft erst dann aktiv, wenn das Haus brennt. Menschen gehen zwar auf die Straßen, um gegen etwas zu protestieren – gegen zu

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niedrige Löhne, gegen Schließung der Fabriken, gegen Reformen der Regierung. Selbst die letzte proeuropäische Bekundung zum Europatag im Mai 2017, an der laut Auskunft der Stadt Warschau über 90.000 Demonstranten und Demonstrantinnen teilnahmen, war mit dem Protest gegen die europaskeptische Politik der Regierung verbunden. Hinzu kommt eine traditionell schwache Wahlbeteiligung, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten je nach Wahlgang (Kommunal-, Parlaments-, Präsidentschaftswahlen) lediglich zwischen 35 und 55 Prozent lag. Sich zu engagieren, wird in Polen zudem nicht als Teil des patriotischen Handelns gesehen; dieses drückt sich eher in Stolz auf die Erfolge der polnischen Sportler, dem gelegentlichen Hissen der Flagge oder dem Informationsbezug über die polnische Geschichte aus. Das regel­mäßige ehrenamtliche und unentgeltliche Engagement für die lokale Gemeinschaft wird hingegen nur von einer kleinen Minderheit (13 Prozent) umgesetzt.9 Nimmt die Zivilgesellschaft ihre kontrollierende und impulsgebende Rolle nicht ausreichend wahr, wird sie von politischen Fehlentwicklungen überrannt. Ähnlich schwach entwickeln sich auch die organisierten Interessenvertretungen in Polen. Seit Jahren haben politische Parteien, Gewerkschaften und andere Interessenverbände niedrige Mitgliederzahlen, die sich nicht nur auf die finanzielle Lage der Organisationen auswirken, sondern auch Ideenfindung und Innovationspotenzial hemmen. Selbst die Solidarnos´c´-Bewegung und -Gewerk9  Vgl. CBOS, Komunikat z badan´ Nr. 151/2016, Między patriotyzmem a nacjonalizmem, zit. nach o.V., Umfragen zu Patriotismus und Nationalismus, in: Polen-Analysen, Nr. 192, 06.12.2016, S. 7–11. 10  Siehe GUS, Związki zawodowe w Polsce w 2014 r. Notatka informacyjna, Warszawa, 13.07.2015, URL: http://www. forbes.pl/zwiazki-zawodowe-wpolsce-sa-niesprawne-skad-­taslabosc-,artykuly,198098,1,1.html [eingesehen am 02.05.2017].

schaft, die in den 1980er Jahren in ihrem Wunsch nach Veränderung fast zehn Millionen Mitglieder unterschiedlichster Hintergründe zusammengebracht hatte, verlor nach der Wende deutlich an Bedeutung. Heute sind lediglich 1,6 Millionen Polen in einer Gewerkschaft. Das macht gerade noch elf Prozent aller Arbeitnehmer und Abreitnehmerinnen aus und ist einer der niedrigsten Werte innerhalb der EU.10 Mangelt es jedoch an frischem Wind, betrachten viele Menschen die Interessengruppen als hermetisch geschlossene und korrupte »Freundeskreise«. Der Teufelskreis der Zivilgesellschaft schließt sich.

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Zu erklären sind diese Zahlen u. a. mit der sozioökonomischen Lage der polnischen Gesellschaft. In Deutschland ist es traditionell die Mittelschicht, insbesondere die ältere Generation, die sowohl über die finanziellen Mittel als auch die Zeit verfügt, ehrenamtlichen Tätigkeiten nachzugehen. Oft sind es auch junge Menschen, die dadurch während ihrer Schulzeit und ihres Studiums Erfahrungen für die berufliche Zukunft und das private Leben sammeln. In Polen dagegen ist sowohl die Mitte der Gesellschaft als auch die junge Generation relativ arm, beruflich überdurchschnittlich angespannt und unsicher, was die eigene Zukunft angeht.11 Nur diejenigen, die ein spezielles Anliegen haben, sich konkrete Vorteile erhoffen oder ihre Interessen gefährdet sehen, sind aktiv. Die sozioökonomische Lage ist auch der Schlüssel zum Verständnis, warum die polnische Gesellschaft so sehr gespalten ist und sich praktisch in Parallelwelten entwickelt. Die harten wirtschaftlichen Umbrüche nach 1989 teilten Polen schnell in Gewinner und Verlierer der Transformation: in diejenigen, die den Wohlstand aufbauen konnten und in diejenigen, die fast über Nacht ihre Existenzgrundlage vernichtet sahen.12 Erste Trennlinien zwischen dem wirtschaftlich starken Westen und dem strukturschwachen Osten, den dienstleistungsorientierten Städten und dem agrarisch geprägten Land, der anpassungsfähigeren jungen und mittleren sowie der desorientierten älteren Generation wurden deutlich. Der EU-Beitritt, insbesondere der Zugang zum europäischen Binnenmarkt, verstärkte nur diesen Trend, indem er zwar die wirtschaftliche Entwicklung des Landes beschleunigte, zugleich aber enorme sozioökonomische Disparitäten zwischen Ost- und Westeuropa offenbarte. Diejenigen, die sich in der neuen Realität zurechtfanden, konnten die Vorteile der europäischen Integration für sich nutzen und genießen. Für viele Polen jedoch kamen die Veränderungen zu schnell und waren mit zu großen Eingriffen in bisherige Lebensentwürfe verbunden. Die Besinnung auf die Rückkehr zu »traditionell polnischen« Werten, die auf Familie, Kirche und Patriotismus setzten, vergrößerte die Distanz progressiverer gesellschaftlicher Gruppen zu einer Politik, mit der sie sich nicht mehr identifizieren konnten. Eine wichtige Rolle spielt auch der allgemein schlechte Zustand der politischen Bildung, die seit 1989 von allen Regierungen vernachlässigt worden ist. Schulen und Universitäten liefern zwar Wissen und Inhalte, bauen aber bürgerliche Kompetenzen nicht aus. Der Vermittlung europäischer Werte, der Definition der Grenzen von Pluralismus, dem Ausbau der analytischen Fähigkeiten, der Erziehung in einer Kultur der Teilhabe, der Meinungsbildung, sowie der Förderung der Kultur des Diskurses und der multiperspektivischen

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11  Vgl. Weronika PriesmeyerTkocz, Weg vom Arbeiter- und Bauernstaat. Gibt es in Polen eine »middle class«?, in: Deutsches Polen-Institut (Hg.), Jahrbuch Polen 2013. Arbeitswelt, Wiesbaden 2013, S. 69–78. 12  Vgl. Andrzej Leder, Wer hat uns diese Revolution genommen?, in: Deutsches Polen-Institut (Hg.), Jahrbuch Polen 2017. Politik, Wiesbaden 2017, S. 59–72.

Betrachtung von Sachverhalten wurden konsequent kaum oder nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das wirkt sich auf das normative Verständnis der freiheitlichen Grundordnung aus. Im Gegensatz zu siebzig Prozent der deutschen Jugendlichen im Alter von 15–24 Jahren glaubt nur die Hälfte der jungen Polen, dass Demokratie das bestmögliche politische System sei.13 Die jungen Polen sind auch anfälliger für populistische Rhetorik und polarisierende Meinungsäußerungen. Bei den letzten Parlamentswahlen haben sich sechzig Prozent der jungen Menschen für rechtskonservative, nationalistische oder systemkritische Parteien entschieden.14 Die bereits in der Implementierungsphase befindliche Bildungsreform wird das Problem voraussichtlich noch vertiefen. Denn gesellschaftspolitisch soll der Fokus auf patriotische Erziehung und Vermittlung der glorreichen Zeiten der polnischen Geschichte gelegt werden. Das Problem der politischen Kultur wird in der Öffentlichkeit noch deutlicher. Die thematischen Auseinandersetzungen 13  Siehe Bertelsmann Stiftung, Love it, or leave it, or change it. Junge Europäer in Mittel- und Osteuropa bekennen sich zur EU, sehen aber Notwendigkeit der Reformen, Policy Brief Nr. 2/2017, S. 10. 14  Vgl. Mikołaj Winiewski u. a., Podłoże prawicowych preferencji wyborczych młodych Polaków, Centrum Badan´ nad Uprzedzeniami, Warszawa 2015, S. 2. 15  Nach Altersgruppen: 18 – 34 – 79  Prozent, 35 – 49 – 74  Prozent, über fünfzig – 65 Prozent; vgl. Spring 2016 Global attitudes Survey, Q10c, zit. nach Bruce Stokes, Euroskepticism Beyond Brexit, Significant opposition in key European countries to an ever closer EU, in: Pew Research Center, 07.06.2016, URL: http:// www.pewglobal.org/2016/06/07/ euroskepticism-beyond-brexit/ [eingesehen am 04.05.2017]. 16  Vgl. Europäische Kommission (Hg.), Eurobarometer 2016, Public opinion in the European Union, July 2016, S. 97 f. 17  Siehe Bertelsmann Stiftung, S. 11.

in der Politik und den Medien gleichen in ihrer Inszenierung oft der »Jerry Springer Show«: Fakten, Behauptungen und Andeutungen werden durcheinandergebracht, sachliche und persönliche Kritik wechseln sich ständig ab. Die Aussagen sollen polarisieren und die Gegenseite schmähen, getreu dem Motto: »Hauptsache, es fliegen die Fetzen«. Die Gesellschaft reagiert darauf vielfach mit Desinteresse und Rückzug ins Private. THESE 4: POLEN IST UND BLEIBT IM EUROPÄISCHEN INTEGRATIONSPROZESS FEST VERWURZELT. Der nationalkonservative Rechtsruck in Polen warf in Europa die Frage auf, ob nach dem »Brexit« auch der »Polexit« drohe. So besorgniserregend es klingt, so weit ist das Land von einem solchen Szenario entfernt. Und das ist wohl eines der wenigen Themen, die sowohl die PiS als auch die Opposition verbinden. Belegen lässt sich dies mit exemplarischen Umfrageergebnissen: So stehen die Polen der Europäischen Union gar deutlich positiver gegenüber als ihre deutschen Nachbarn (72 zu 50 Prozent); und je jünger die Befragten sind, desto optimistischer sind sie auch.15 Insgesamt sind die Polen deutlich stärker als die Deutschen oder ein statistischer Durchschnittseuropäer der Meinung, dass die EU viele Vorteile mit sich bringe und sie als eine demokratische, moderne und schützende Gemeinschaft zu betrachten sei.16 Nimmt man die jüngere Generation der 15–24-jährigen Polen stärker in den Fokus, stellt man fest, dass die Europäische Union für sie fast gleichermaßen eine Friedensgemeinschaft (76 Prozent) und ein wirtschaftliches Bündnis (72 Prozent) ist.17 Diese Einstellung korrespondiert mit der Gesamteinschätzung der EU durch die Jugendlichen in Europa und deutet darauf hin, dass Weronika Priesmeyer-Tkocz  —  Polen, Europäische Union und Identität

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die jungen Menschen Europa weniger aus der Perspektive der gemeinsamen Werte als vielmehr aus der Wohlstandsposition betrachten.18 Angesichts der hohen Arbeitslosenquote unter Jugendlichen in Europa, niedriger Löhne und der Kurzeitverträge für die »Generation Praktikum« sowie über zwei Millionen Polen, die ins EU-Ausland auf der Suche nach Arbeit gegangen sind, ist diese Entwicklung nachvollziehbar. Auch die rechtskonservative Regierung ist weit von der Infragestellung der Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union entfernt.19 Die Tatsache, dass die neugewählte Premierministerin Beata Szydło zu ihrer ersten Pressekonferenz die europäischen Flaggen aus dem Raum entfernen ließ, um sich vor einer rot-weißen Phalanx zu präsentieren, ist lediglich als Zeichen einer neuen patriotischen Imagepflege zu deuten. Auch die Wiederwahl von Donald Tusk, der gegen den Standpunkt der polnischen Regierung mit 27:1 Stimmen in seinem Amt als Präsident des Europäischen Rates bestätigt wurde, ist vielmehr im Kontext der innenpolitischen Auseinandersetzung mit der Opposition und der Abrechnung mit der vergangenen Regierungskoalition zu betrachten. In Wirklichkeit ist sich die polnische Regierung durchaus bewusst, dass ohne die Vorteile der europäischen Integration, die sich auch in Geld ausdrückt, der eingeschlagene Kurs nicht gelingen kann. Vor diesem Hintergrund ist die Regierung gezwungen, einen rhetorischen Spagat zu vollführen: innenpolitisch auf die EU schimpfen, außenpolitisch eine EU-moderate Haltung annehmen, um eigene Interessen zu wahren. THESE 5: FLUCHT UND MIGRATION – EINE HERAUSFORDERUNG, WELCHE DIE EUROPÄISCHE IDENTITÄT PRÄGT. Doch gibt es auch große Unterschiede zwischen den Polen und ihren westeuropäischen Nachbarn, insbesondere im Hinblick auf die Einschätzung, die Interpretation und den Umgang mit der Flüchtlingskrise. Schließlich ist nicht nur die polnische Regierung strikt gegen die Aufnahme von Flüchtlingen; auch die PO als größte oppositionelle Partei hat vor Kurzem ihre Position revidiert. Und auch weniger als die Hälfte der Polen sind der Meinung, dass ihr Land Hilfe für die Geflüchteten leisten solle. Das ist, Stand Sommer 2016, deutlich weniger als in Deutschland (82 Prozent) und liegt auch deutlich unter dem EU-Durchschnitt (63 Prozent).20 Viele Erklärungsfaktoren kommen hierfür zusammen. Erstens spielen insgesamt die Angst um die negativen Folgen des Zustroms von Flüchtlingen nach Europa und der damit assoziierte islamische Terrorismus und Fundamentalismus in der polnischen Debatte eine wichtige Rolle. Dieser im Ton negative, oft von Vorurteilen und Falschmeldungen geprägte

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18  Siehe Rita Lauter, Für Europa, aber anders, in: Zeit Online, 04.05.2017, URL: http:// www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-05/studie-junges-europa-tui-stiftung-yougov [­eingesehen am 16.05.2017]. 19  Vgl. Andriy Korniychuk, Polnische Überlegungen zu Europa, in: Polen-Analysen, Nr. 188, 04.10.2017, S. 2–6; Piotr Buras, Die neue europäische Frage in Polen, in: Deutsches Polen-Institut (Hg.), Jahrbuch Polen 2017, S. 157–166. 20  Siehe Europäische Kommission, S. 49.

Diskurs wurde in den letzten Jahren überwiegend von den rechten Parteien, der rechtskonservativen Regierung und auch der Katholischen Kirche geführt und in den staatlichen Medien, sozialen Netzwerken und im Internet popularisiert, bis er ein Teil einer wahrgenommenen »schrecklichen Wahrheit« geworden ist. Zum Zweiten spielen die begrenzten Erfahrungen mit der Integration verschiedener Kulturen und Religionen im ethnisch weitgehend homogenen Polen eine wichtige Rolle. Die positiven Beispiele der Integration sind nur einem begrenzten Kreis der direkt Involvierten bekannt, sind regional begrenzt und spielen sich leider meistens abseits der Öffentlichkeit ab. Hinzu kommt, dass der Unterschied zwischen Flucht, Asyl, Migration und Arbeitsbewegungen in der öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen wird. Ein infames Beispiel hierfür ist die Mär von einer Million ukrainischer Flüchtlinge, welche die polnische Regierung angeblich in den letzten Jahren aufgenommen habe. Dabei handelte es sich um eine deutlich geringere Anzahl ukrainischer Gastarbeiter, Saisonarbeiter, Studierender und Ukrainer mit polnischen Wurzeln, konkret um 123 Schutzsuchende und zwanzig Geflüchtete.21 Damit verbunden ist zum Dritten eine allgemein distanzierte Haltung gegenüber der Öffnung der Gesellschaft für Zuwanderer von außerhalb des christlichen Kulturkreises. So erklärte sich die polnische Regierung 2016 bereit, im Zuge der Verteilung der Geflüchteten auf europäische Staaten, neben alleinerziehenden Müttern nur syrische Christen aufzunehmen.22 In diesem 21  Siehe o.V., Kaczyn´ski pomylił się 50 tysięcy razy. Z Ukrainy przyjęlis´my nie milion, lecz 20 uchodz´ców, in: OKO. press, 07.11.2016, URL: https:// oko.press/kaczynski-pomylil-sie50-tysiecy-razy-ukrainy-przyjelismy-milion-20-uchodzcow/ [eingesehen am 02.05.2017]. 22  Siehe o.V., Uchodz´cy w Polsce. Kobiety z dziec´mi i chrzes´cijanie w pierwszej kolejnos´ci, in: http://telewizjarepublika.pl/, 07.01.2016, URL: http://telewizjarepublika.pl/uchodzcy-w-polscekobiety-z-dziecmi-i-chrzescijaniew-pierwszej-kolejnosci,28132. html [eingesehen am 02.05.2017]. 23  Ivan Krastev, Die Utopie vom Leben jenseits der Grenze, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2016.

Kontext spielen ebenfalls die mangelnden Kenntnisse der völkerrechtlichen Bestimmungen und Verpflichtungen der Staaten eine Rolle, wie auch das Gefühl, in der europäischen Debatte nicht ausreichend gehört oder einbezogen zu werden: »Angesichts des Zustroms an Migranten und der ökonomischen Unsicherheit fühlen viele Osteuropäer sich in ihrer Hoffnung getäuscht, der Beitritt zur Europäischen Union bedeute den Beginn des Wohlstands und eines von Krisen freien Lebens.«23 Mit diesem Satz bringt Ivan Krastev die Komplexität des Problems auf den Punkt. Und er verdeutlicht, dass die europäische Integration ein Prozess ist, der mit jeder Erweiterung der Gemeinschaft eine neue Wendung für alle Beteiligten nehmen kann. SCHLUSSBEMERKUNGEN Statt einer Zusammenfassung sollen hier nun fünf Reflexionen folgen, die den Diskurs über Polen, Europa und Identität vervollständigen helfen: Erstens: Die Sicherung der absoluten parlamentarischen Mehrheit durch die rechtskonservative Regierung in Warschau und der darauffolgende Weronika Priesmeyer-Tkocz  —  Polen, Europäische Union und Identität

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Systemumbau in Polen verdeutlichen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zwar den Kern der europäischen Integration ausmachen, doch gemeinsame Werte keine Selbstverständlichkeit sind. Vielmehr können sie bei günstigem Wind für politische Zwecke instrumentalisiert und missbraucht werden. Zweitens: Um die liberale Demokratie in Europa zu erhalten, muss die Europäische Union zu einem normativen Diskurs zurückkehren – jedoch nicht, um die Grundlagen des Zusammenlebens neu zu definieren, sondern um die Unstrittigkeit der gemeinsamen Werte zu bestätigen. Drittens: Die Europäische Union mit ihren 28 Mitgliedern ist nicht mehr die Ursprungsgemeinschaft von sechs Gründungsstaaten, die aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges und im Schatten des Kalten Krieges entstanden ist. Mit jeder Erweiterung verändern sich Machtverteilung, Handlungsspielräume sowie wirtschaftspolitische und sozioökonomische Interessen. Diese Veränderungen müssen von allen Seiten ernst genommen werden, um den Erfolg der europäischen Integration im 21. Jahrhundert zu sichern und fortsetzen zu können. Viertens: In diesem Zusammenhang dürfen auch sozio-kulturelle Unterschiede, Dämonen der Vergangenheit und Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten nicht auf die leichte Schulter einer top-down geführten Europäisierung genommen werden – insbesondere bei Herausforderungen, die den Zusammenhalt von Gesellschaften gefährden können. Fünftens: Proeuropäische Bekundungen und Aktionen sind wichtig, um eine positive Botschaft gegenüber den europaskeptischen und illiberalen Trends zu setzen. Dennoch bedarf es einer unabhängigen, generationsübergreifenden, kompetenzerweiternden politischen Bildung, um die europäischen Werte und Prinzipien dauerhaft im Bewusstsein und Handeln der Menschen zu verankern. Sie füllt die Lücken dort, wo schulische Bildung es nicht schafft. Sie erreicht Menschen, die sich längst jenseits des Ausbildungssystems befinden, und sie fördert das Vertrauen zwischen Staat, Gesellschaft und europäischer Gemeinschaft – die Grundlage einer liberalen Demokratie in Europa.

Dr. Weronika Priesmeyer-Tkocz, geb. 1979, ist seit 2009 Studienleiterin an der Europäischen ­Akademie Berlin. Ihren thematischen Schwerpunkt bilden aktuelle Aspekte der europäischen Integration, deutsch-polnische Beziehungen, Demokrati­ sierungs- und Transformationsprozesse mittel- und osteuropäischer Länder, europäische Politik in Richtung Osten sowie Good Governance.

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ANGST ESSEN EUROPA AUF DER EINFLUSS EUROPAS AUF DIE ­P RÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN 2017 ΞΞ Daniela Kallinich

Europa und die Europäische Integration standen im Mittelpunkt des französischen Präsidentschaftswahlkampfes 2017. Weit davon entfernt, reine Wahlkampfinszenierungen zu sein, verbanden sich mit diesen Themenkomplexen spezifische Weltbilder. Hatte bei den Wahlen 2012 noch die traditionelle Bipolarisierung zwischen linkem und rechtem Lager den politischen Wettbewerb bei dieser wichtigsten aller französischen Wahlen dominiert, stand in diesem Jahr die Auseinandersetzung zwischen der gemäßigten Mitte und den politischen Extremen im Vordergrund. Die Differenzen entzündeten sich dabei vor allem an den jeweiligen Haltungen zur Europäischen Integration, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Während der parteilose Kandidat der Moderaten, Emmanuel Macron, mit einem flammenden Plädoyer für Europa die Europhilen der gemäßigten Linken und Rechten sowie die traditionellen Zentristen hinter sich vereinen konnte, versuchten extreme Linke und Rechte, mit einem äußerst integrationskritischen Programm Wählerinnen und Wähler für sich zu gewinnen. Marine Le Pen, die Kandidatin des Front National (FN), zielte dabei zunächst auf eine Rückverlagerung von Kompetenzen auf Frankreich und versprach, die EU-Zugehörigkeit, dem britischen Vorbild folgend, sechs Monate nach den Wahlen einem Referendum zu unterwerfen. Erst im Hinblick auf den zweiten Wahlgang milderte sie ihre Strategie etwas ab. Auch Jean-Luc Mélenchon, der Gemeinschaftskandidat der extremen Linken, strebte einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) an. Damit manifestierte sich im diesjährigen französischen Präsidentschaftswahlkampf ein politisch-gesellschaftlicher Graben, an dem holzschnittartig die urbanen, globalisierungsfreundlichen und postmateriell orientierten Bildungseliten auf der einen Seite den häufig prekär beschäftigten, in der »France rurbaine« angesiedelten und von starken Abstiegsängsten geplagten Modernisierungsverlierern auf der anderen Seite gegenüberstehen.

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VON EINEM KONSENS WEIT ENTFERNT Auf der wirtschaftlichen Ebene dreht sich beim Konflikt zwischen Europagegnern und -befürwortern alles um die sozialen Sicherheiten bzw. deren Verlust, der durch die zunehmende europäische Integration drohe. Noch elementarer unterscheiden sich die Anhänger der konkurrierenden Gesinnungen in ihrer Beurteilung liberaler Werte und gesellschaftlicher Entwicklungen. Konkret äußert sich dies auf der kulturellen Ebene in konträren Einstellungen zu den Themen Ethnozentrismus, Autoritarismus und sexuelle Toleranz. Dies zeigt sich bspw. an Einstellungen gegenüber Migranten, Homosexuellen, der Todes­strafe oder eben Europa. Die fortschreitende Globalisierung wird dementsprechend als Chance oder Bedrohung interpretiert. Hieraus ergibt sich auch, dass sich die französischen Bürger auf einer »Universalismus-Skala« unterscheiden lassen; wobei Personen mit einem anti-universalistischen Profil politische Probleme entlang eines einfachen Schemas interpretieren: »wir« gegen »die«.1 Die Unterscheidung des »Anderen« erfolgt dabei zum Beispiel anhand der Nationalität oder Hautfarbe. Eines der wichtigsten ideologischen Standbeine des Front National ist folglich der National-Populismus: die Bevorzugung der Franzosen in Verbindung mit einer Ablehnung universellen Denkens.2 Studien haben gezeigt, dass die Ablehnung von Migranten, ein starker Nationalismus und ausgeprägte Xenophobie eng mit Europafeindlichkeit zusammenhängen. So verwundert kaum, dass Europaskeptizismus und die Stimmabgabe für den FN stark korrelieren.3 Schon in den 1980er Jahren zeigte sich eine zeitliche Synchronizität der einsetzenden Skepsis gegenüber der Europäischen Union und des Erstarkens des Front National. Bis dahin war die europäische Einigung trotz einigen politischen Streits in der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft relativ kritiklos bewertet worden. Spätestens mit dem Referendum im Kontext des Maastricht-Vertrags 1992 wurde jedoch deutlich, dass dieser scheinbare gesellschaftliche Konsens aufgebrochen worden und eine weitere Abgabe von Kompetenzen an die supranationale Ebene mit wachsenden Bedenken und sinkendem Vertrauen seitens der Bürger verbunden war.4 Seither ist das Thema Europäische Union in Frankreich alles andere als unumstritten. So ging das Maastricht-Referendum – wenn auch positiv –

1  Vgl. Daniel Boy u. Nonna Mayer, L’électeur a ses raison, Paris 1997, hier v.a. S. 139 ff. 2  Vgl. Pierre-­André Taguieff, Le nouveau ­national-populisme, Paris 2012. 3  Vgl. Céline Belot u.a., L’Europe comme enjeu clivant. Ses effets perturbateurs sur l’offre électorale et les orientations de vote lors de l’élection ­présidentielle 2012, in: Revue Française de Science Politique, H. 6/2013, S. 1081–1112, hier S. 1105.

denkbar knapp aus. Den EU-Verfassungsvertrag im Jahr 2005 lehnten die französischen Wahlbürger dann sogar mehrheitlich ab. Dieses zweite Referendum fiel in eine Phase, in der die öffentliche Meinung zwar tendenziell pro-europäisch war, jedoch zugleich massive Bedenken bzgl. der Folgen einer fortschreitenden Integration hatte.

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Europa — Analyse

4  Vgl. Céline Belot, Europe: De la confiance aux peurs, in: Pierre Bréchon u. Jean-­François ­Tchernia (Hg.), La France à  travers ses valeurs, Paris 2009, S. 305–309.

Doch nicht nur die Wähler, auch die Parteien zeigten sich in der Vergangenheit im Hinblick auf die Europa-Frage zerrissen.5 In der PS (Parti socialiste) und bei den Republikanern bzw. deren Vorgängerorganisationen UMP (Union pour un mouvement populaire) und RPR (Rassemblement pour la République), aber auch in allen anderen Parteien, kam es immer wieder zu Abspaltungen, Austritten und Gegeninitiativen – wenngleich heute von einem zähneknirschenden Elitenkonsens hinsichtlich des Wertes eines geeinten Europas ausgegangen werden kann. So haben sich PS und UMP 2005 unter großen Zerreißproben und bei abweichenden Non-Voten wichtiger Parteigrößen offiziell auf ein Oui festgelegt. Wie instabil dieser scheinbare Konsens allerdings ist, zeigten erst jüngst die Vorwahlen der Republikaner für die Präsidentschaftswahlen im November 2016. Einige Kandidaten traten mit Vorschlägen an, das Schengener Abkommen zur Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln bzw. gänzlich daraus auszutreten. Sie gingen damit auf Forderungen ein, die insbesondere vom rechten Rand in Reaktion auf den Zuzug Hunderttausender Geflüchteter nach Europa formuliert worden waren, und versuchten, ähnlich wie Nicolas Sarkozy schon 2007 und 2012, mit dem damit verbundenen Rechtsruck die Wähler des FN zu umwerben. DER POLITISCHE UND GESELLSCHAFTLICHE ORT ­E UROPABEZOGENER ÄNGSTE Begünstigt werden solche Strategien dadurch, dass gerade in Frankreich gegenüber der Abgabe von Entscheidungskompetenzen an inter- oder sup5  Christine Manigand, L’Europe? L’Europe!, in: Jean Garrigues u.a. (Hg.), Comprendre la Ve République, Paris 2010, S. 177–194, hier S. 177 f.

ranationale Organisationen Vorbehalte bestehen. Diese schlagen sich bspw. in einer verbreiteten skeptischen Haltung gegenüber der NATO nieder, in deren Kommandostruktur Frankreich erst 2007 zurückgekehrt ist – ein Schritt, der im Wahlkampf 2017 insbesondere von Marine Le Pen erneut zur Disposition gestellt wurde.

6  Vgl. Pascal Perrineau, Les élections européennes de juin 2009 en France: des élections de second ordre ou de reclassement?, in: Revue internationale de politique comparée, H. 4/2009, S. 653–670. 7  Vgl. o.V., Européennes 2014, comprendre le vote des Français, in: ipsos.fr, 25.05.2014, URL: http://m.ipsos.fr/decrypter-­ societe/2014-05-25-europeennes2014-comprendre-vote-francais [eingesehen am 10.03.2017].

Auch die Europawahlen 2014 verdeutlichen das skeptische Verhältnis der Franzosen zur EU: Als traditionelle Second-Order-Wahlen genießen sie bei den Bürgern nur wenig Aufmerksamkeit und verzeichnen eine Wahlbeteiligung von unter fünfzig Prozent.6 Bei Umfragen gaben damals 39 Prozent der befragten französischen Wähler an, ihre Wahlentscheidungen nach nationalen Gesichtspunkten und nicht anhand europäischer Fragestellungen zu treffen. Bei den befragten FN-Wählern war dieses Verhältnis umgekehrt: Für 58 Prozent von ihnen waren nationale Themen wichtiger als europäische.7 Häufig verkommen Europawahlen so zu nationalen Protestwahlen – wobei Teile der Wählerschaft das Ziel verfolgen, den Regierenden ihr Misstrauen Daniela Kallinich  —  Angst essen Europa auf

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auszusprechen. Gleichwohl haben europapolitische Fragen bei Wahlen in Frankreich zuletzt an Bedeutung gewonnen. Beobachter sprechen von einer Politisierung, die sich u.a. um die Fragen des Erhalts des Sozialstaates sowie der nationalen Souveränität dreht.8 Dergleichen Diagnosen korrespondieren mit den wahlentscheidenden Themen, wie sie 2014 abgefragt wurden: ­M igration, Kaufkraft, Krise der Eurozone und Arbeitslosigkeit.9 Anfang 2017 hielt eine Mehrheit der Franzosen (42 Prozent) die Zugehörigkeit zur EU für eine gute Sache, 24 Prozent für eine schlechte, ein Drittel stand der EU-­ Zugehörigkeit neutral gegenüber.10 Doch wie lassen sich Europafreundlichkeit und -skepsis in Frankreich erklären? Wie bereits am Beispiel der Parteien gezeigt, lassen sich die Einstellungen der Franzosen zu Europa nicht alleine anhand des klassischen politischen Rechts-links-Spektrums zuordnen. Vielmehr gibt es einen komplexen Zusammenhang teilweise quer zu den klassischen Politiklagern verlaufender Denkmuster, sozialer Indikatoren und anderer, sogenannter weicher Faktoren, die darüber hinaus unterschiedliche Dimensionen Europas betreffen. Zudem gilt es – so Pascal Perrineau11 mit Blick auf die individuellen Mentalitäten –, zwischen Europa-Ablehnung und EU-Skeptizismus zu unterscheiden. Während Erstere die europäische Integration prinzipiell infrage stellt, kapriziert sich Letzterer auf die Funktionsweise der Institutionen. Dabei gilt: Je höher die Stellung in der beruflichen Hierarchie, desto wahrscheinlicher ist ein freundliches Urteil zu Europa. Einfache Angestellte und Arbeiter hingegen sind eher skeptisch; nur ein Drittel von ihnen gilt als europhil. Auch das Haushaltseinkommen sowie der höchste Bildungsabschluss wirken sich – wie es so schön heißt – stark signifikant auf die Europafreundlichkeit aus. Unsicherheit, die intranquillité, die sich in der persönlichen und sozialen Situation und einem massiven Misstrauen sowie geringer Toleranz gegenüber der eigenen Umwelt ausdrückt, ist ein besonders eindrücklicher Indikator für Europaskepsis. Wer sich massiv unsicher fühlt und hochgradig misstrauisch ist, ist mit großer Wahrscheinlichkeit auch nachdrücklich europaskeptisch.12 Die Ängste, die im Zusammenhang mit der europäischen Integration geäußert werden, zielen typischerweise auf Befürchtungen ab, die nationale Identität und Kultur würde durch die Europäisierung aufs Spiel gesetzt: Frankreich verlöre an internationaler Bedeutung und mehr Migranten kämen ins Land. Obendrein besteht die Befürchtung, dass »mehr Europa« weniger sozialen Schutz bedeute.13 Damit wird deutlich, wie komplex das Europa betreffende Einstellungsgeflecht in Frankreich ausfällt:

50

Europa — Analyse

8  Vgl. Belot u.a., S. 1106. 9 

Vgl. o.V., Européennes 2014.

10  Vgl. o.V., En qu(o)i les Français ont-ils confiance aujourd’hui? Le baromètre de la confiance politique, Vague 8, janvier 2017, in: cevipof.fr, 01/2017, URL: http://www.cevipof.com/fr/ le-barometre-de-la-confiance-politique-du-cevipof/resultats-1/vague8/ [eingesehen am 10.03.2017]. 11  Siehe Pascal Perrineau zit. nach Nicolas Sauger u.a., Les Français contre l’Europe. Les sens du referendum du 25 mai 2005, Paris 2007, S. 17. 12  Vgl. Luc Rouban, Le clivage européen ou l’in tranquillité politique, in: cevipof.fr – Les enjeux, Mai 2014, H. 2, URL: https:// hal-sciencespo.archives-ouvertes. fr/hal-01006180/document [eingesehen am 10.03.2017]; Bruno Cautrès, La défiance vis-à-vis de l’Europe: le poids du pessimisme social, in: cevipof.fr – Les enjeux, Mai 2014, H. 3, URL: https:// hal-sciencespo.archives-ouvertes.fr/hal-01064764/document [eingesehen am 10.03.2017]. 13 

Vgl. Belot u.a., S. 1100.

»[…] le rapport à l’Europe combine en fait deux dimensions: une première dimension spécifique à l’Europe indépendante de l’axe gauche-droite et une seconde centrée sur les craintes sociales qui s’indexe sur l’axe gauche-droite.«14 Ganz generell ist die EU seit Beginn der 1990er Jahre für viele zu einer Art Projektionsfläche ihrer Ängste geworden; dies gilt – noch einmal – gerade für Menschen aus den unteren sozialen Schichten: »La France d’en bas«.15 So war es dann letztlich auch eine soziale Frage – vor allem das unter dem 14  Ebd., S. 1084. »[…] die Beziehung zu Europa kombiniert tatsächlich zwei Dimensionen: eine Dimension, die speziell auf Europa abzielt und unabhängig von der links-rechts-Achse ist, und eine zweite Dimension, die sich auf soziale Ängste fixiert und an der links-rechtsAchse ausrichtet.« 15  16 

Belot, S. 308.

Vgl. Sauger u.a., S. 67–69.

Stichwort des »polnischen Klempners« verhandelte Thema des befürchteten Anstiegs der Arbeitslosigkeit – und weniger die Ablehnung der Idee der europäischen Integration, die zum Scheitern des Referendums 2005 führte.16 RECHTS UND LINKS UNVERWECHSELBAR? Wenig überraschend schlagen sich die unterschiedlichen Weltsichten auch politisch nieder: Schon im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2012 führten generelle Ängste gegenüber Europa zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, einen extremen Kandidaten zu wählen – links wie rechts. Dabei ließ sich allerdings beobachten, dass ethnozentristische und xenophobe Ängste zu

Daniela Kallinich  —  Angst essen Europa auf

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einer FN-Tendenz, soziale Abstiegssorgen dagegen zu einem vote Mélenchon geführt haben.17 Im zweiten Wahlgang, in der Stichwahl, spielte dann 2012 die Einstellung zu Europa freilich keine nennenswerte Rolle mehr. Hier kam, in der Gegenüberstellung eines gemäßigt-linken und eines gemäßigt-rechten Kandidaten, wieder der klassische politische Richtungsstreit zum Tragen, der sich traditionell um Sozial- und Wirtschaftsthemen dreht.18 Der anhaltend enge Zusammenhang insbesondere zwischen Europaskepsis und der Wahl des Front National wird eindrucksvoll deutlich, wenn man die géographie du non des Maastricht- sowie des Verfassungsreferendums – also die landesweite geografische Verteilung der Nein-Stimmen bei diesen Abstimmungen – mit den Ergebnissen nationaler Wahlen vergleicht: Zwischen den Anti-EU-Hochburgen und den rechtsaffinen »Missionsgebieten« im Süden und Nordosten bestehen starke Überlappungen. Wobei die Hochburgen der Nein- und der Front-National-Wahl augenscheinlich insbesondere in solchen französischen Regionen liegen, die als zones fragiles bezeichnet werden. Dort sind Jugendarbeitslosigkeit, der Anteil von Schulabbrechern und Alleinerziehenden, niedrige Einkommen und hohe Einkommensunterschiede besonders stark vertreten.19 Diese Gebiete weisen die meisten Europagegner auf.20 So erscheint es wenig erstaunlich, dass die Einstellungen zu Europa, obwohl das Thema selbst von nur 18 Prozent der Franzosen als wahlentschei-

17  Vgl. Belot u.a., S. 1102. 18 

Vgl. Rouban.

19  Vgl. Christophe Guilluy, La France périphérique. Comment on a sacrifié les classes populaires, Paris 2014. 20  Vgl. URL: http://www.slate. fr/sites/default/files/photos/europhiles_euroscept%281%29.jpg [eingesehen am 10.03.2017].

dend betrachtet wurde,21 direkt und indirekt das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen 2017 beeinflusst haben. Europa spielt im Hinblick auf die klassische bipolare Lagerzuordnung zwar nur eine begrenzte Rolle, beeinflusst mittelbar über Empfindungen von Unsicherheit, Zukunftsangst, Fremdheitsgefühlen aber die Präferenz für entweder gemäßigte oder extreme – und

21  Siehe o.V., Presitrack, in: opinionlab, 07.03.2017, URL: http://opinionlab. opinion-way.com/opinionlab/832/627/presitrack.html [eingesehen am 10.03.2017].

namentlich rechtsextreme – Kräfte. Bislang hat sich dies noch nicht auf das Parteiensystem ausgewirkt, das sich in einer Übergangszeit zu befinden scheint, in welcher die Kräfteverhältnisse und Zuordnungsregeln neu verhandelt werden. Noch ist außerdem unklar, inwieweit sich die Wahl Emmanuel Macrons zum neuen Präsidenten auswirken wird. Einen ersten Hinweis auf die Persistenz der klassischen, auch durch das Wahlsystem begünstigten Bipolarisierung werden die Parlamentswahlen im Juni 2017 geben, wenn sich entscheidet, ob Macron auch eine parlamentarische Mehrheit über die Mitte hinweg hinter sich versammeln kann oder ob die alten Mehrheitsmuster ihre Bedeutung behalten. Die Unterscheidung zwischen extremen und moderaten politischen Kräften scheint aber – und dies zeigt die Präsidentschaftswahl 2017 eindrücklich – gemeinsam mit dem Europathema an Bedeutung zu gewinnen.

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Europa — Analyse

Daniela Kallinich, geb. 1985, ist Referentin in der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Sie forscht zu Parteien, Politik und Gesellschaft in Frankreich.

EUROPÄISCHE IDENTITÄTEN IN DER KRISE DREI LÄNDER IM VERGLEICH ΞΞ DENNIS LICHTENSTEIN

Seit Beginn der Eurokrise mehren sich Stimmen aus Politik und Gesellschaft, die ein neues Leitmotiv für die EU einfordern. Dazu gehören Demonstrationen von Pulse of Europe und der Democracy in Europe Movement 2025 ebenso wie Veranstaltungen der von der EU-Kommission ausgehenden Initiative »New Narrative for Europe«. Zuletzt hat EU-Kommissionspräsident Juncker mit seinem im März 2017 vorgelegten Weißbuch zur Zukunft Europas fünf mögliche Wege zur Wahrung der europäischen Einheit zur Diskussion gestellt. Jeder dieser Vorstöße zielt auf die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Identität ab, die sowohl die Loyalität der Bürger zur EU als auch die Solidarität zwischen den Ländern und ihren Bevölkerungen stärken soll. Rufe nach einer europäischen Identität haben in Krisenzeiten, in denen die zentralen Strukturen und Normen der Gemeinschaft als bedroht wahrgenommen werden,1 Konjunktur und gelten selbst als Krisensymptome. Seit der Eurokrise steckt die EU in einer Mehrfachkrise: Strenge Sparauflagen für die Krisenländer, Massenarbeitslosigkeit sowie die Niedrigzinspolitik der EZB stellen das an Euro und Binnenmarkt geknüpfte Wohlstandsversprechen

der EU sowie die Vereinbarkeit europäischer und nationaler Interessen infrage. Dazu haben Verteilungskämpfe und gegenseitige Anfeindungen etwa zwischen Deutschland und Griechenland dem Vertrauen und der Kooperationsbereitschaft zwischen den EU-Ländern geschadet. Wie fragil die Zusammenarbeit geworden ist, zeigte sich eindrucksvoll während der Flüchtlingskrise 2015 in offenen Konflikten um die Aussetzung des Schengener Abkommens und in der Verweigerung von Solidarität in der Flüchtlingsaufnahme. Während Konfrontationen mit Russland, der Türkei und den USA die Einheit der EU von außen zusätzlich unter Druck setzen 1 

Vgl. Uriel Rosenthal, Paul ’t Hart u. Michael T. Charles, The world of crises and crisis management, in: Uriel Rosenthal, Michael T. Charles u. Paul ’t Hart (Hg.), Coping with crises. The management of disasters, riots and terrorism, Springfield 1989, S. 3–33, hier S. 10.

und die Staatsreformen in Ungarn und Polen demokratische Prinzipien der EU von innen unterminieren, steht nach dem »Brexit«-Schock sogar der Austritt eines zentralen EU-Mitgliedslandes bevor. Vor dem Hintergrund von Unsicherheit und Veränderung zwingt die europäische Mehrfachkrise die Mitgliedstaaten und ihre Bürger, darüber zu diskutieren, wer sie sind und weshalb sie zusammengehören. In öffentlichen

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Auseinandersetzungen stehen die beiden Kernkomponenten europäischer Identität – die Zugehörigkeit zur EU und die Zusammengehörigkeit zwischen den EU-Ländern2 – zur Disposition und werden neu verhandelt. Werden sie in öffentlichen Auseinandersetzungen bestätigt, tragen sie zur Stabilisierung der Gemeinschaft bei und können die notwendige moralische Orientierung vermitteln, auf die es in der Krisenbewältigung ankommt. Da sie in öffentlichen Debatten mit Werten und Zielvorstellungen für die Gemeinschaft verknüpft sind, bieten sie außerdem ein Fundament für die künftige politische Ausgestaltung der EU und können Wege im politischen Krisenmanagement aufzeigen. NATIONALE KONSTRUKTIONEN EUROPÄISCHER IDENTITÄT Europäische Identität wird in der Forschung nicht als ein feststehender Rahmen gesellschaftlicher Werte verstanden, sondern als eine soziale Konstruktion, die einem kontinuierlichen Wandlungsprozess unterliegt.3 Als kollektive Identität der EU ist sie zunächst ein abstrakter Allgemeinbegriff, der in seiner inhaltlichen Offenheit einer Reihe verschiedener Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als Bezugspunkt dient. Indem die Akteure öffentlich europäische Themen diskutieren, Kritik an der EU üben, an europäische Werte appellieren oder im Namen Europas Forderungen erheben, artikulieren sie Vorstellungen über die Zusammenarbeit in der EU und laden den Begriff »europäische Identität« mit Bedeutung auf. In diesem Aushandlungsprozess kristallisiert sich aus den individuellen Identitätsbezügen – ähnlich wie im Prozess öffentlicher Meinungsbildung – eine »öffentliche Identität« heraus, die kollektiv diskutiert worden ist und über das Aggregat der Einzelidentitäten hinausgeht.4 Sie hat einen Verarbeitungsprozess durchlaufen und im Deutungswettkampf standgehalten. Aufgrund der anhaltenden Sprecherkonkurrenz bleibt das Resultat volatil. Die Konstruktion von Identität bezieht sich auf zwei Dimensionen: die Stärke der Identifikationen mit der EU und die inhaltlichen Deutungen der EU als eine bestimmte Art von Gemeinschaft.5 Die Stärke der Identifikationen zeigt an, inwieweit sich diejenigen, die sich zur EU äußern, mit der Gemeinschaft identifizieren oder sie ablehnen. Die Identifikationen entstehen nicht kontextlos, sondern sind eng mit der zweiten Dimension von Identität verbunden, den Deutungen der Gemeinschaft. Diese Deutungen sind vereinfachte Vorstellungsbilder der EU und beinhalten Ideen über gemeinsame Ziele, Werte und eine historische wie kulturelle Zusammengehörigkeit. Beispielsweise kann die EU über ihre Erfolge und Ziele in der Stabilisierung nationaler Demokratien und der Friedenssicherung als eine politische

54

Europa — Analyse

2  Vgl. Dennis Lichtenstein, Europäische Identitäten. Eine vergleichende Untersuchung der Medienöffentlichkeiten ost- und westeuropäischer EU-Länder, Konstanz 2014. 3  Vgl. Gerard Delanty u. Chris Rumford, Rethinking Europa. Social theory and the implications of Europeanization, London 2005; Thomas Risse, A Community of Europeans? Transnational Identities and Public Sphere, Ithaca 2010. 4  Vgl. Christiane Eilders u. Dennis Lichtenstein, Diskursive Konstruktionen von Europa. Eine Integration von Öffentlichkeits- und Identitätsforschung, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, Jg. 58 (2010), H. 2, S. 190–207. 5  Vgl. Viktoria Kaina, How to reduce disorder in european identity research, in: European Political Science, Jg. 12 (2013), H. 2, S. 184–196.

Wertegemeinschaft gedeutet werden. Über die Forderung, den europäischen Binnenmarkt leistungsfähiger und die EU wirtschaftlich zu einem starken Konkurrenten Chinas und der USA zu machen, wird die Gemeinschaft als ein freier Markt verstanden. Die Deutungen heben einzelne Aspekte der Gruppe selektiv hervor und blenden andere aus. Sie können strategisch eingesetzt werden, um zur Teilhabe an der Gruppe zu motivieren.6 Artikulationen europäischer Identität bekommen auf Ebene der Massenmedien eine genügend hohe Reichweite, um für die Bürger und Entscheidungsträger einer Gesellschaft wahrnehmbar zu werden und Anschlusskom6  Vgl. David A. Snow u. Robert D. Benford, Master Frames and Cycles of Protest, in: Aldon D. Morris u. Carol M. Mueller (Hg.), Comparative perspectives on social movements. Political opportunities, mobilizing structures, and cultural framings, Cambridge 1995, S. 133–155. 7 

Vgl. Andreas Hepp u. a., The Communicative Construction of Europe. Cultures of Political Discourse, Public Sphere and the Euro Crisis, ­Basingstoke 2016; Ruud Koopmans u. Paul Statham (Hg.), The making of a European public sphere. Media ­discourse and political contention, ­Cambridge  2010. 8  Vgl. Gergana Baeva, Nationale Identität als Medieninhalt. Theoretische Konzeption und empirische Messung am Beispiel Bulgariens, Baden-Baden 2014; Juan Díez Medrano, Framing Europe. Attitudes to European Integration in Germany, Spain, and the United Kingdom, Princeton 2003; Stefan Seidendorf, Europäisierung nationaler Identitätsdiskurse? Ein Vergleich französischer und deutscher Printmedien, Baden-Baden 2007. 9  Vgl. Dennis Lichtenstein u. Christiane Eilders, Konstruktionen europäischer Identität in den medialen Debatten zur EU-Verfassung. Ein inhaltsanalytischer Vergleich von fünf EU-Staaten, in: Publizistik, Jg. 60 (2015), H. 3, S. 277–303.

munikation zu ermöglichen. Die Medien sind daher ein zentrales Forum für die Konstruktion kollektiver europäischer Identität. In einer national segmentierten europäischen Medienöffentlichkeit, in der sich die Medien in erster Linie an ein nationales Publikum wenden, nationale Öffentlichkeitssprecher zu Wort kommen lassen und europäische Themen aus der jeweiligen nationalen Perspektive diskutieren,7 verdichten sich mediale Debatten auf Ebene der Länder. Daher liegt nahe, nicht von einer einzelnen länderübergreifend geteilten europäischen Identität auszugehen, sondern von national unterschiedlichen Konstruktionen europäischer Identität. Bisherige Untersuchungen der Medienöffentlichkeiten einzelner EU-Länder haben gezeigt, dass Identifikationen mit EU-Vorstellungen verbunden werden, die mit den jeweiligen nationalen Identitäten konsistent sind.8 Aus deutscher Sicht ist die EU eine Gemeinschaft, in der sich Deutschland politisch und wirtschaftlich entfalten kann, ohne unter Hegemonialverdacht zu stehen. Für Frankreich bedeutet sie eine Chance, in Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern in der Weltpolitik Einfluss zu nehmen und europäische Werte – die eigentlich als französische Werte empfunden werden – nach außen zu vertreten. Studien weisen aber auch darauf hin, dass sich die Perspektiven bezogen auf zwei Konfliktlinien unterscheiden.9 Während die Medienöffentlichkeiten in Deutschland und Frankreich bzgl. der politischen Integration eher Identifikationen mit dem Ziel der langfristigen Entwicklung der EU zu einem stark integrierten Bundesstaat enthalten, findet in den Medien Großbritanniens eher das Modell eines schwach integrierten Verbundes weitgehend souveräner Nationalstaaten Unterstützung. Bezogen auf den europäischen Binnenmarkt wird die EU in Deutschland und Frankreich eher als eine Chance begriffen, durch Marktregulierungen, die auf nationaler Ebene wenig effektiv wären, umwelt- und energiepolitische Standards durchzusetzen, während sich die Briten eher mit dem Ziel eines möglichst freien Binnenmarktes nach dem Vorbild des britischen Commonwealth identifizierten. Dennis Lichtenstein  —  Europäische Identitäten in der Krise

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IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN IN DER EUROKRISE Die Eurokrise hat eine neue Dynamik in die Konstruktion europäischer Identität gebracht. In einer Inhaltsanalyse von Identitätskonstruktionen in nationalen Printmedien, die einen starken Einfluss auf andere Massenmedien und die öffentliche Meinungsbildung haben und deshalb in ihren Ländern als Leitmedien gelten, wurde für die drei großen EU-Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien untersucht, wie sich diese Länder in der Eurokrise in ihren Identitätsdeutungen unterscheiden und inwieweit die Deutungen der EU mit Identifikationen oder Ablehnungen der EU verbunden sind. Ausgewählt wurden für Deutschland Der Spiegel und Die Zeit, für Frankreich Le Nouvel Observateur und Le Point sowie für Großbritannien The Economist und The Observer. Untersucht wurde die Berichterstattung zu vier Ereignissen in der Krise: 1) der mit Sparauflagen verbundene Schuldenschnitt für Griechenland am 1. November 2011; 2) der auf dem EUGipfel am 28. und 29. Juni 2012 beschlossene Europäische Stabilitätsmechanismus ( ESM), der zahlungsunfähigen Euro-Ländern gegen politische Auflagen Kredite gewährt; 3) die viel beachtete Bloomberg-Rede des damaligen britischen Premierministers David Cameron zur Zukunft der EU am 23. Januar 2013; und 4) die Europawahlen vom 22. bis 25. Mai 2014, die nach der weitgehenden Stabilisierung der Eurozone eine rückblickende Reflexion der Ereignisse nahelegen. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich für jedes Ereignis über sieben Wochen, inklusive der Ereigniswoche und drei Wochen Vor- und Nachberichterstattung. Analysiert wurden sämtliche Artikel, die in ihren Überschriften oder in ihrer Einleitung einen EU-Bezug aufwiesen. Der Reliabilitätskoeffizient nach Krippendorff liegt für die Codierung der Deutungen bei α = .75 und für die Codierung der Identifikationen bei α = .83. Die Befunde zeigen, dass angesichts des drohenden Zusammenbruchs der Währungsunion, der Auseinandersetzungen um Rettungspakete und der damit verbundenen Sparauflagen insgesamt ökonomische Deutungen der EU im Vordergrund stehen (vgl. Abb. 1). Neben der Deutung der EU als einer Währungsunion und dem Konflikt um die Marktregulierung wird dabei eine Konfliktlinie zur gemeinsamen Finanzpolitik sichtbar, die in Untersuchungen für die Zeit vor der Eurokrise keine Rolle gespielt hat. Demnach stehen sich Deutungen der EU als einer Gemeinschaft für ökonomische Stabilität und ökonomisches Wachstum gegenüber, die im Hinblick auf Haushaltskonsolidierung bzw. Austeritätspolitik und Ausgaben für Wachstumsimpulse mit gegensätzlichen Implikationen verbunden sind. Unterschiede in den Deutungen der EU zwischen den untersuchten Zeiträumen und Ländern spiegeln die Dynamik der Ereignisse im Verlauf der

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Europa — Analyse

Abbildung 1: Verteilung der Identitätsdeutungen zur EU

Eurokrise wider. Während des Schuldenschnitts für Griechenland 2011 und der Etablierung des ESM 2012 stand die Deutung im Vordergrund, die EU sei eine Gemeinschaft mit gemeinsamer Finanzpolitik. Sie war in Frankreich, das in der Eurokrise selbst unter Druck geriet und dessen Politiker Wachstumsimpulse befürworteten, stärker ausgeprägt als in den ökonomisch stabileren Ländern Deutschland und Großbritannien. In allen drei Ländern verlor diese Deutung aber mit wachsender Stabilität der Währungsunion an Relevanz. Der Konflikt um Regulierungen des europäischen Binnenmarktes war in den Medien im zeitlichen Umfeld von Camerons Rede zur Zukunft der EU besonders prominent. Die Identitätsdebatte in den Medien reagierte dabei auf Camerons Kritik an politischen Regulierungen, die Europa im globalen Wettbewerb schwächen würden, und auf sein Plädoyer für einen freien europäischen Markt, der zur britischen Handelsnation passe. Deutungen zur politischen Integration gewannen in Großbritannien ebenfalls zum Zeitpunkt der Cameron-Rede, die ein Plädoyer für eine schwache Integration war, an Relevanz. In den übrigen Ländern war ihr Anteil im Kontext der Europawahlen am stärksten ausgeprägt. Der politische Wettstreit wirkte damit dem ansonsten starken F ­ okus auf ökonomische Deutungen der EU entgegen. Da bei den Europawahlen 2014 Dennis Lichtenstein  —  Europäische Identitäten in der Krise

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zum ersten Mal Spitzenkandidaten aufgestellt wurden, um den Wert der ­Demokratie zu stärken, spielten in diesem Zeitraum in den Medienöffentlichkeiten von Frankreich und Großbritannien auch Deutungen der EU als einer politischen Wertegemeinschaft eine größere Rolle. In den deutschen Medien war diese Deutung in den Zeiträumen zum Schuldenschnitt für Griechenland und zum ESM stärker präsent, da diese Ereignisse mit Bezug auf die Werte Solidarität und Demokratie diskutiert worden waren. Die Deutungen der EU werden in den Ländern in unterschiedlichem Maße mit Identifikationen und Ablehnungen der EU in Verbindung gebracht. In Tabelle 1 sind für jede Deutung die Mittelwerte zwischen Identifikation (+1) und Ablehnung (–1) abgebildet; da neutrale oder ambivalente Wertungen nur in Ausnahmefällen codiert worden sind, zeigt ein Wert zwischen .09 und –.09 an, dass die Identifikation mit einer bestimmten Deutung umkämpft ist. Tabelle 1: Identifikationen mit der EU; dargestellt sind für die Identitätsdeutungen die Mittelwerte aus den Identifikationen und den Ablehnungen der EU, N in Klammern

Schuldenschnitt für Griechenland

ESM

Cameron Rede

D

F

GB

D

F

GB

D

F

GB

D

F

GB

Marktregulierung

.16 (306)

.31 (94)

–.19 (254)

.10 (299)

.41 (86)

.02 (172)

–.13 (275)

.04 (84)

–.11 (322)

–.08 (272)

.30 (94)

–.02 (319)

Finanzpolitik

–.23 (244)

.00 (233)

–.18 (381)

.–.12 (581)

.15 (253)

–.05 (271)

–.10 (107)

.17 (88)

.02 (57)

.09 (162)

.50 (46)

.19 (108)

Währung

–.29 (399)

–.18 (296)

–.53 (396)

.01 (468)

–.16 (103)

–.49 (227)

–.23 (100)

.00 (46)

–.25 (97)

–.19 (113)

.11 (95)

–.52 (124)

Politische Integration

.08 (316)

–.03 (94)

.06 (404)

.12 (367)

.19 (75)

–.21 (191)

.06 (122)

.06 (51)

–.04 (383)

.09 (362)

–.04 (178)

–.05 (398)

Politische Werte

–.05 (530)

–.12 (77)

–.12 (251)

–.07 (524)

.09 (47)

–.08 (135)

–.18 (133)

.53 (15)

.07 (214)

.01 (363)

–.32 (78)

–.19 (327)

Unter den ökonomischen Deutungen stößt die Währungsgemeinschaft fast durchgehend auf Ablehnung. Lediglich in Frankreich wird in den späteren Zeiträumen eine weniger kritische Haltung zum Euro deutlich. Für die EU als eine Institution für Marktregulierung zeigt sich vor allem im Zeitraum um den Schuldenschnitt für Griechenland ein Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich, die sich mit Marktregulierungen identifizieren, und Großbritannien, das Regulierungen weitgehend ablehnt. In Frankreich ist die Unterstützung für Regulierungen über die Zeit überwiegend konsistent. Die Deutung der EU als einer Gemeinschaft mit gemeinsamer Finanzpolitik ist

58

Europawahlen

Europa — Analyse

insbesondere in den Zeiträumen um den Schuldenschnitt für Griechenland und um die Verabschiedung des ESM relevant. Hier nehmen Deutschland und in der Tendenz auch Großbritannien eine ablehnende Position zur EU als einer Gemeinschaft für ökonomisches Wachstum ein und unterstützen damit die EU als Gemeinschaft für ökonomische Stabilität. Frankreich, das von der Eurokrise ebenfalls betroffen ist, nimmt im Zeitraum um die Einrichtung des ESM die entgegengesetzte Position ein. Auf der Deutungsebene der politischen Integration wird lediglich im Kontext des ESM-Gipfels ein Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich, die sich mit einer starken Integration identifizieren, und Großbritannien, das eine starke Integration ablehnt, sichtbar. In den übrigen Zeiträumen ist die Deutung in allen drei Ländern umkämpft – was auf eine starke Verunsicherung in Bezug auf das politische Europa hinweist. Auch die politische Werte­gemeinschaft ruft, anders als in Untersuchungen für die Zeit vor der Eurokrise, nahezu keine Unterstützung hervor, sondern ist in mehreren Ländern und Zeiträumen mit Ablehnung verbunden. In den Identitätskonstruktionen werden Werte wie Demokratie und Solidarität bezogen auf die EU infrage gestellt. Dieser Befund spiegelt den Streit um das Ausmaß von Solidarität, die Einsetzung nicht gewählter Expertenregierungen in einigen Krisenländern und den Druck vonseiten der EU auf die nationalen Haushalte der Länder wider. FAZIT Insgesamt lassen die drei großen EU-Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien in der Eurokrise eine starke Verunsicherung in ihren medialen Identitätskonstruktionen zur EU erkennen. Während die Idee der Währungsunion infolge der Krise mit einer Ablehnung der EU verbunden ist, motivieren Konflikte zur politischen Integration, zur Marktregulierung und zur Finanzpolitik in den Ländern nur stellenweise zu Identifikationen. Vielmehr sind die Positionen auf diesen drei Konfliktlinien bereits innerhalb der Länder umstritten. Das gilt auch für die Deutung der EU als einer politischen Wertegemeinschaft, die sich in Untersuchungen für die Zeit vor der Krise als ein zwischen den Ländern geteilter Kernbestand europäischer Identität erwiesen hat. Die Eurokrise ist daher eine Identitätskrise, in der keine Deutung der EU überzeugend genug ist, um die Gemeinschaft zu stabilisieren. Stattdessen droht die Verbindung zwischen den Ländern und dem Projekt Europa in einem narrativen Vakuum verloren zu gehen. Öffentliche Debatten zur Zukunft der EU können identitätsbezogene Konflikte zwischen den Ländern neu entfachen und dabei innerhalb der einzelnen Dennis Lichtenstein  —  Europäische Identitäten in der Krise

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Länder wieder verstärkt Identifikationen zu unterschiedlichen Identitätsinhalten auslösen. Bewegungen wie Pulse of Europe können dazu ebenso einen Beitrag leisten wie medial ausgetragene Kontroversen über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten oder eine EU, die sich vor allem auf den Binnenmarkt konzentrieren soll. Um außerdem auf einer übergeordneten Ebene Gemeinsamkeit zu stiften, die der Zusammenarbeit zwischen den Ländern in und nach der Krise eine Basis gibt, ist aber vor allem notwendig, die Idee der europäischen Wertegemeinschaft wieder zu stärken. Das kann über die Formulierung eines gemeinsamen Leitmotivs wie Demokratie, Sozialstaatlichkeit oder Freiheit geschehen, das auf der Ebene der EU vehement und etwa in Verhandlungen zur Flüchtlingskrise mit der Türkei glaubwürdig vertreten wird. Ein solches Leitmotiv muss Raum für national unterschiedliche und an die jeweilige nationale Identität anschlussfähige Narrative geben, die darstellen, wie und warum das jeweilige Land zur EU gehört. Das Leitmotiv Demokratie etwa kann auf der EU-Ebene durch eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und mehr Transparenz in der Arbeit der Institutionen plausibel gemacht werden. In Deutschland ist das Narrativ einer demokratischen EU als Garant für den Schutz demokratischer Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung attraktiv, in Frankreich die Erzählung von einem Europa der Bürger, die über Petitionen Einfluss nehmen können und Gehör finden. In Großbritannien werden das »Brexit«-Verfahren sowie die Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands entscheiden, ob das Narrativ einer demokratischen EU, die divergierende Interessen der Nationen und ihrer Regionen moderiert, von London auch nach dem eigenen Austritt anerkannt und positiv besetzt sein wird.

Dr. Dennis Lichtenstein, Jg. 1981, ist PostDoc am Lehrstuhl für Politische Kommunikation an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. In seiner Arbeit befasst er sich mit Identitätsund Krisenkonstruktionen in nationalen und europäischen Medienöffentlichkeiten. Derzeit forscht er zur Medienberichterstattung über die Euro- und Ukrainekrise. Aktuelle Publikation: Schweizer Konstruktionen europäischer Identität im Vergleich. Eine Analyse nationaler Mediendiskurse zu Erweiterungen und Vertiefungen der EU, in: Studies in Communication Science, Jg. 16 (2016), H. 1, S. 8–16.

60

Europa — Analyse

KRISE! WELCHE KRISE? VON DER »FLÜCHTLINGSKRISE« ZUR KRISE DER ­E UROPÄISCHEN FLÜCHTLINGS- UND MIGRATIONSPOLITIK ΞΞ Julia Schulze Wessel

Als im Jahr 2015 so viele Menschen wie lange nicht mehr die Grenzen zu verschiedenen Ländern der Europäischen Union übertraten, war schnell der Begriff der Flüchtlingskrise in der Welt. Und er hält sich – bis heute konstant – sowohl in den öffentlichen als auch in den wissenschaftlichen Debatten.1 Dabei verbindet sich mit diesem Begriff ein ganzes Füllhorn an Bildern: von überfüllten Aufnahmeeinrichtungen, von Auseinandersetzungen zwischen GrenzbeamtInnen, Militär und Polizei auf der einen und Geflüchteten sowie UnterstützerInnen auf der anderen Seite. Zugleich ruft der Begriff Bilder von erschöpften Bootsflüchtlingen an den Küsten Europas ebenso wie von versunkenen Booten und angespülten Leichen wach. Und er steht nicht zuletzt für die unkontrollierte Überwindung von Zäunen und Stacheldraht, für die Proteste an den Grenzen und für den selbst organisierten Aufbruch aus Ländern, in denen keine Lebensperspektive mehr zu erwarten war. Der Begriff der Krise ist in den letzten Jahren inflationär in Medien und Wissenschaft, in der öffentlichen Diskussion und in verschiedenen Gegenwartsdiagnosen genutzt worden. Wir sprechen von der Finanzkrise, von der Krise politischer Parteien, von der Krise der Demokratie – leben also offenbar in krisenhaften Zeiten. Im alten Griechenland wurde unter einer Krise ein entscheidender Wendepunkt verstanden, die Zuspitzung einer Situation, in der Entscheidungen getroffen werden müssen. Krise bezeichnet damit den 1  Vgl. etwa Klaus Geiger, Europa schlafwandelt in die nächste Flüchtlingskrise, in: Die Welt, 24.03.2017; Georg Meck, Lehren aus der Flüchtlingskrise, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.08.2016; Stefan Luft, Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen, München 2016. 2  Vgl. etwa Wolfgang Merkel, Gibt es eine Krise der Demokratie? Mythen, Fakten und Herausforderungen, Berlin 2013.

Scheitelpunkt einer Entwicklung, verweist auf eine ungewisse Zukunft. Krisenzeiten entziehen sich der Kontrolle und Beherrschbarkeit, sind insofern, zumindest diskursiv, von der Routine und Normalität unterschieden. Sie erfordern schnelles Handeln und Entscheiden, denn Krisen verweisen immer auch auf den Zeitdruck, der langwierige Aushandlungsprozesse zur Gefahr für den Bestand einer Ordnung werden lässt. Was jedoch ist genau gemeint, wenn von der Flüchtlingskrise die Rede ist? Was gerät warum in eine Krise und was genau ist bedroht oder steht vor einem entscheidenden Wendepunkt? Wenn man von der Krise der Demokratie spricht,2 wird damit eine Entwicklung angedeutet, die eine Transformation

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der Demokratie, ihre Auflösung, Neuerfindung und Genesung, ausgelöst haben könnte. Was aber wird verändert, transformiert oder herausgefordert, was gerät in Gefahr, kündigt einen Wendepunkt an oder ist zukunftsoffen, wenn der Begriff der Flüchtlingskrise Verwendung findet? Wenn unter Flüchtlingskrise eine Krise des Flüchtlings oder eine Krise der Flüchtlinge verstanden wird, so könnte das mindestens zweierlei bedeuten: Zum einen kann damit die Einsicht in die Begrenztheit tradierter rechtlicher Flüchtlingsdefinitionen benannt sein; zum anderen kann damit die sich zuspitzende Lebenssituation von Flüchtlingen in der Welt verstanden werden. DIE FLÜCHTLINGSKRISE ALS KRISE DES FLÜCHTLINGS Die Figur des Flüchtlings, so wäre das Argument, hat sich so entscheidend gewandelt, dass mit tradierten Flüchtlingseigenschaften auf neue fluchtauslösende Faktoren und Fluchtmotive nicht mehr adäquat zugegriffen werden kann. Die Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Flüchtlingsdefinition wird seit Jahren intensiv in der Flüchtlingsforschung geführt. Die im internationalen Recht verankerten Flüchtlingseigenschaften sehen die illegitime Verfolgung von Personen durch staatliche Akteure vor. Diese Flüchtlingsdefinition geht von schwachen Individuen aus, die einem machtvoll agierenden Staat gegenüberstehen und sich gegen dessen repressiven Zugriff nicht verteidigen können. Allerdings fliehen heute viele Menschen nicht mehr vor 3

zu starken Staaten, deren repressiver Politik sie ausgesetzt sind. Die heutigen Fluchtursachen liegen zunehmend im Versagen des staatlichen Schut-

3  Vgl. Matthew E. Price, Persecution Complex. Justifying Asylum Law’s Preference for Persecuted People, in: Harvard International Law Journal, Jg. 47 (2006), H. 2, S. 414–466.

zes und in Bürgerkriegen. Menschen fliehen also aus schwachen oder auch zerfallenden Staaten. Das verändert nicht nur die Flüchtlingsfigur, sondern auch das Verhältnis der aufnehmenden demokratischen Staaten den Ankommenden gegenüber. Denn noch nie in der Geschichte der abendländischen Welt4 ist Asyl allein aus Barmherzigkeit, Mitleid oder moralischer Verpflichtung gegenüber Notleidenden gewährt worden. Neben Solidarität, religiösen oder menschenrechtlichen Verpflichtungen hat es immer auch Interessen der asylgewährenden Aufnahmegemeinschaften oder -staaten gegeben.5 Flüchtlinge des Kalten Krieges konnten zum Beispiel als Bestätigung der Vorzugswürdigkeit der eigenen politischen Ordnung und als Überlegenheit freiheitlicher demokratischer Gesellschaften gelten. Sie repräsentierten die heroic victims,6 Kämpfer der Freiheit, die durch ihr mutiges politisches Handeln repressiven und diktatorischen Staaten die Stirn geboten hatten und illegitimer Verfolgung ausgesetzt gewesen waren.7 Fliehen Menschen dagegen aufgrund von ökonomischer Perspektivlosigkeit, Bürgerkrieg, Klimawandel oder Umweltzerstörung,

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4  Asyl hat es auch schon in anderen Kulturen ­gegeben, allerdings ist das Thema noch relativ unerforscht. 5  Von der antiken bis zur modernen Welt: Liza Schuster, Asylum and the Lessons of History. An Historical Perspective, in: Race and Class, Jg. 40 (2002), H. 2, S. 40–56. 6  Vgl. Diana Tietjens Meyers, Two Victim Paradigms and the Problem of ›Impure‹ Victims, in: Humanity, Jg. 2 (2011), H. 2, S. 255–275. 7  Vgl. Andrew E. Shakenove, Who is a refugee?, in: Chicago Journals, Jg. 95 (1985), H. 2, S. 274–284; Matthew E. Price.

können schwerlich konkret verantwortliche staatliche Akteure ausgemacht werden – wie wohl zumindest ein Teil der Verantwortung in den europäischen Aufnahmestaaten liegen dürfte. Das verändert die Symbolkraft und die instrumentelle Bedeutung der Flüchtlingsfigur für die europäischen Aufnahmestaaten. Die Fluchtursachen haben sich also entscheidend verändert, weshalb eine Krise des Flüchtlingsbegriffs durchaus plausibel ist und vermehrt diskutiert wird. FLÜCHTLINGKRISE ALS KRISE DER FLÜCHTLINGE Zum anderen kann der Begriff der Flüchtlingskrise auf die desaströse, sich zuspitzende Situation der geflüchteten Menschen selbst verweisen.8 So steigen nicht nur weltweit die Zahlen von Geflüchteten. Die meisten von ihnen sind die von Wissenschaft und Öffentlichkeit am wenigsten beachteten internally displaced persons, die über keinerlei Mittel verfügen, sich überhaupt auf den Weg zu machen. Haben sie die Möglichkeit, ihr Land zu verlassen, erstreckt sich ihre Flucht meist über Jahre und ist verbunden mit extremer Unsicherheit, ganz gleich, an welchem Ort sie sich aufhalten. Das gilt nicht nur für die Situation in den Herkunftsländern, sondern auch für die Lage in den Transit- und Ankunftsländern. Die meisten Menschen fliehen in benachbarte Regionen, da ihnen die Mittel für eine Weiterwanderung fehlen. Verfügen diese Länder über keine ausreichende Infrastruktur, um die Geflüchteten zu versorgen, kann das zu Spannungen im Land führen und/oder neue Wanderungsbewegungen auslösen. Auch sind die Wanderrouten von einem wachsenden System aus Lagern umgeben – von Transitlagern, deportation camps, Gefängnissen, Lagern von humanitären Hilfsorganisationen. In verschiedenen Regionen der Erde ist das Lager für manche Menschen die einzige Welt, die sie kennen. Die (sexuelle) Ausbeutung von Frauen, Männern und Kindern gehört zum Alltag in den Transitländern, in denen Geflüchtete oftmals für lange Jahre stranden und nicht weiterkommen. Da die Flucht nach Europa nur noch jenseits der rechtlichen Regeln erfolgen kann, sind Geflüchtete auf Schlepperund Hilfsorganisationen angewiesen, um nach Europa zu gelangen. Das 8  So der Vorschlag von Stefan Luft. 9  Martin Schulz, Das Mittelmeer ist die tödlichste Grenze der Welt, in: Vorwärts, 15.06.2015, URL: https://www. vorwaerts.de/artikel/schulz-mittelmeer-toedlichste-grenze-welt [eingesehen am 29.03.2017].

macht die Wege länger und gefährlicher. So gilt das Mittelmeer inzwischen als die »tödlichste Grenze der Welt«9 und 2016 als das Jahr mit den höchsten Todeszahlen. Aber selbst wenn es die Geflüchteten über die Mittelmeerroute geschafft haben, erwartet sie nicht die erhoffte Sicherheit. In den letzten Jahren hat sich die Situation in den Ankunfts- und Transitländern zugespitzt. Die Verzweiflung und Perspektivlosigkeit an den Rändern der EU, in den Auffanglagern Julia Schulze Wessel  —  Krise! Welche Krise?

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und den Transitzonen hält bis heute an. In den letzten zwei Jahren haben sich die Berichte über die schlechten, teils lebensbedrohlichen Zustände in Lagern und an Grenzzäunen gehäuft. Sie zeugen offenbar von einem qualitativen Bruch mit vorangegangenen Situationen. Denn oft war davon die Rede, dass solche Zustände mitten in Europa unvorstellbar seien. KRISE DER EUROPÄISCHEN FLÜCHTLINGS- UND ­MIGRATIONSPOLITIK Dass der Begriff der Flüchtlingskrise im Sinne einer der aufgeführten Bedeutungen gebraucht wird, erscheint angesichts des Kontextes, in dem er immer wieder auftaucht, eher abwegig. Denn der Begriff wird in erster Linie im Zusammenhang mit dem Kontrollverlust an den Grenzen, der Überforderung von Ämtern und Behörden, der schwierigen Situation in den Gemeinden, der angespannten gesellschaftlichen und politischen Stimmung sowie der hohen Zahl an Ankommenden in Deutschland 2015 und 2016 verwendet. Als ein Beispiel mag Innenminister Thomas de Maizière gelten. Er verwies Anfang Juli 2016 darauf, dass »die Flüchtlingskrise […] zwar nicht gelöst« sei, aber »ihre Lösung […] in Europa gut und in Deutschland sehr gut« vorankomme.10 Er sprach damit weniger die Situation der Geflüchteten selbst an, bezog sich auch nicht auf die bessere Unterbringung, auf die Öffnung der Zugänge zum deutschen Arbeitsmarkt oder die erfolgreiche Bekämpfung der Fluchtursachen. Sein Referenzpunkt war vielmehr das Abkommen mit der Türkei. Seit dessen Inkrafttreten, seit der Schließung der Balkanroute und den stärkeren Kontrollen an den EU-Außengrenzen waren die Zahlen ankommender Geflüchteter in der EU und insbesondere in Deutschland spürbar gesunken. Wenn der Krisenbegriff nicht die geflüchteten Menschen, sondern die Kontrolle über sie meint, dann stimmt etwas mit dem Begriff nicht. Wenn von Flüchtlingskrise die Rede ist, dann bezieht sich der Krisenbegriff nicht auf die geflüchteten Personen, sondern offenbar auf die Ausgestaltung der Flüchtlings- und Migrationspolitik der EU. Die Flüchtlingskrise ist demnach viel besser beschrieben als eine Krise der europäischen Flüchtlings- und ­Migrationspolitik. Denn im Jahr 2015 haben genau diejenigen Mechanismen versagt bzw. waren nicht eingerichtet, die seit vielen Jahren auf der zentralen Mittelmeerroute und in Europa gegriffen hatten: zum einen das System der Rückübernahme- oder anderer bilateraler Abkommen, welche die Rücknahme eigener Staatsangehöriger oder TransitmigrantInnen regeln, und zum anderen das Dublin-System, das die Hauptlast der Aufnahme den Ländern an den Außenrändern des Schengenraums aufbürdet.

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10  Eckart Lohse, »Gut in Europa, sehr gut in Deutschland«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.07.2016.

KRISE DER POLITIK DER RÜCKÜBERNAHMEABEKOMMEN Die Politik der Rückübernahmeabkommen und anderer bilateraler bzw. multilateraler Verträge zwischen EU-Ländern und afrikanischen bzw. asiatischen Staaten gehört zum langjährigen Kernbestandteil europäischer Migrationsund Flüchtlingspolitik. Diese Abkommen können als eines der migrationspolitischen Hauptinstrumente der EU gegen diejenigen gelten, die auf ungeregelten Wegen versuchen, das Territorium der EU zu erreichen.11 Die Politik der Rückübernahmeabkommen auch mit undemokratischen nordafrikanischen Ländern begann spätestens Anfang der 2000er Jahre. Seitdem wurde die Zusammenarbeit und Kooperation hinsichtlich der Migrationspolitik forciert. Die bekanntesten Beispiele aus dem beginnenden 21. Jahrhundert sind die Rückübernahmeabkommen zwischen Italien und Libyen. Zwischen diesen beiden Ländern gab es Verträge aus den Jahren 2000, 2003, 2008 und 2010, welche die Rücknahme von Flüchtlingen regelten, die italienisches Gebiet betreten hatten. Nach diesen Verträgen wurden alle, die auf ungeregelten Wegen in das Rechtsgebiet des italienischen Staates gelangten, nach Libyen abgeschoben – eine Praxis, die 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als illegal beurteilt worden ist. Mit den Rückübernahmeabkommen geht bis heute der Transfer finanzieller Mittel für den Grenzaufbau und die Mobilitätskontrolle in Drittländern einher, ebenso die Zusammenarbeit von Polizei und Grenzschutz aus Heimat- und Transitländern sowie deren Verpflichtung, (undokumentierte) Migranten wieder zurückzunehmen. Sie schließen zudem die Übertragungen der Grenzkontrollfunktionen auf Drittländer ein. Damit haben sich die einzelnen Länder der EU oder auch die EU insgesamt den ehemals auf ihrem Territorium entstehenden juristischen und öffentlichen Auseinandersetzun11  Vgl. Raffaella A. Del Sarto, Borderlands: The Middle East and North Africa as the EU’s Southern Buffer Zone, in: Dimitar Bechev u. a. (Hg.), Mediterranean Frontiers: Borders, Conflicts and Memory in a Transnational World, London 2010, S. 149–167, hier S. 160. 12 

Ebd. S. 151.

gen und Kämpfen mit Geflüchteten um Ein- und Ausschluss, um Aufnahme und Abweisung entzogen. Diese Auseinandersetzungen werden vielmehr, mit anderen Mitteln und unter anderen politischen, d. h. oftmals ganz undemokratischen Vorzeichen, in weit entfernt liegenden Drittländern geführt. Mit diesen Abkommen baut sich Europa seit Jahren eine, so Raffaella del Sarto, »buffer zone around the European Union«12; andere Länder dienen als »vorgelagerte […] europäische […] Grenzposten«13. In den Verhandlungen bieten die europäischen Länder den kooperierenden Drittstaaten zumeist als Gegenleistung ein freizügigeres Visa-

13  Gene Ray u. a., Wie Illegale gemacht werden. Das neue EU-Grenzregime, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 54 (2009), H. 7, S. 72–81, hier S. 75.

System für die eigene Bevölkerung an. Diese Gegenleistung zeigt sich in vielen Verhandlungen als ein wichtiges Entgegenkommen gegenüber solchen Ländern, die in die Rücknahme von Geflüchteten eingebunden sind. Die Kooperationen mit Drittländern sind eher als Anreizsystem denn als Julia Schulze Wessel  —  Krise! Welche Krise?

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repressive Aufnötigung zu verstehen. Gegenstand dieser Verhandlungen sind dann allerdings nicht nur das Rückübernahmeabkommen und die freieren ­Visa-Bestimmungen, sondern auch die Forderung nach einem neuen Grenzmanagement. Auf diese Weise wird die Logik der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik in die Drittländer übertragen. Die Rückübernahmeabkommen verweisen auf eine spezifische Entwicklung in der europäischen Migrationspolitik, die seit mittlerweile weit über einem Jahrzehnt systematisch verfolgt wird. So hielt etwa die durch Rückübernahmeabkommen relativ gesicherte Kooperation zwischen verschiedenen Staaten des nördlichen Afrika über Jahre die Zahl derjenigen in Europa vergleichsweise gering, die sich jenseits der geregelten Zugänge in Richtung Europa über das Mittelmeer aufgemacht hatten. Durch den Arabischen Frühling 2011 sind jedoch die Abkommen zwischen den afrikanischen Staaten und Ländern der EU oder der EU insgesamt zusammengebrochen oder außer Kraft gesetzt worden. Das rief schon Anfang des Jahrzehnts Schreckensszenarien hervor, wonach Europa mit einem kaum zu bewältigenden »Exodus biblischen Ausmaßes« konfrontiert werde, so der damalige italienische Innenminister.14 Bis heute ist die Situation in einigen nordafrikanischen Ländern instabil, Rückübernahmeabkommen können nicht geschlossen werden. Und noch immer führt eine der Hauptrouten über Libyen. Auch lag die Konzentration bei den Abkommen in den letzten Jahren in erster Linie auf dem afrikanischen Kontinent. Dadurch hatte es lange Zeit zum Beispiel mit der Türkei kein funktionierendes Abkommen gegeben. Die Verhandlungen wurden immer wieder unterbrochen und ausgesetzt.15 Da sich jedoch die Türkei zum zentralen Transitland entwickelte, auch durch den Bürgerkrieg in Syrien, gab es hier nicht die engen Kontrollmechanismen, die seit Jahren die anderen Routen abgesichert hatten. Das führte dann wiederum zu einer höheren Belastung an den EU-Außengrenzen, die eine Krise des Dublin-Systems zur Folge hatte. KRISE DES DUBLIN SYSTEMS Die mit der Asylrechtsänderung in Deutschland im Jahr 1993 eingeführte sogenannte Sichere-Drittstaaten-Regelung16 besagt, dass ein Flüchtling in

14  Heidrun Friese, Kein Land in Sicht, in: Der Tagesspiegel, 07.03.2011. 15  Vgl. Alexander Bürgin, European Commission’s agency meets Ankara’s agenda: why Turkey is ready for a readmission agreement, in: Journal of European Policy, Jg. 19 (2011), H. 6, S. 888–899, hier S. 888 ff.

Deutschland nur noch dann einen Antrag auf Asyl stellen kann, wenn er nicht über einen sogenannten sicheren Drittstaat eingereist ist. Da Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist, ist es legal auf dem Landweg nicht mehr zu erreichen, es sei denn man besitzt offizielle Einreisedokumente. Diese Regelung wurde in die sogenannte Dublin II-Verordnung von 2003

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16  Ruth Weinzierl, Flüchtlinge, Schutz und Abwehr in der erweiterten EU. Funktionsweise, Folgen und Perspektiven der europäischen Integration, BadenBaden 2005, S. 46 u. S. 69 f.

aufgenommen. Demnach ist derjenige Staat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, dessen Grenze von einem Drittstaatsangehörigen zuerst überschritten wurde, wodurch vor allem die Länder an den europäischen Außengrenzen zu Hauptaufnahmeländern geworden sind. Aufgrund der Restriktionen ist in den letzten Jahren die Zahl der anerkannten Asylbewerber in Deutschland und in der EU insgesamt stetig gesunken, während gleichzeitig die Hürden, legal in EU-Länder einzureisen, immer höher gelegt wurden. Die Einwohner vieler Länder können nur noch mit einem Visum nach Europa einreisen und die Liste visumspflichtiger Länder steigt weiter an. Fast alle Krisenregionen der Welt gehören dazu. Nicht zuletzt deshalb klagen die Mittelmeeranrainer seit Jahren über die zu hohe Belastung durch Flüchtlinge, die auf ihr Territorium gelangen. In die von den südlichen und östlichen Grenzen des Schengenraums entfernt gelegenen Länder gelangten hingegen lange Zeit immer weniger Flüchtlinge. Dennoch funktionierte dieser Mechanismus über Jahre, wenn er auch immer wieder zu Auseinandersetzungen innerhalb der EU führte. Dass es lediglich einem solch geringen Anteil der weltweiten Flüchtlinge überhaupt gelang, in EU-Staaten einzureisen, hängt eng mit der Effektivität der Rückübernahmeabkommen und anderer bilateraler Verträge zusammen.17 Die Situation 2015 war jedoch dramatischer als die zeitlich begrenzten Anstiege der letzten Jahre. Zum einen sahen sich auf einmal Länder mit Fluchtzuwanderung konfrontiert, die zuvor nicht im Fokus gestanden hatten. So übertraten durch die Flucht aus Syrien und die veränderten Routen immer mehr Geflüchtete auch die Grenzen der östlichen EU-Länder.18 Hatten schon Zeiten wie der Arabische Frühling zu Konflikten innerhalb der EU hinsichtlich der Frage geführt, ob eine gerechtere Verteilung von Geflüchteten auf die verschiedenen Länder denkbar und durchsetzbar wäre, so waren die Positionen angesichts des rasanten Anstiegs verhärteter als jemals zuvor. Die EU-Mitgliedstaaten reagierten nicht mit dem Versuch, eine Eini17  Vgl. Julia Schulze Wessel, Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flüchtlings, Bielefeld 2017, S. 162 ff. 18 

Vgl. Luft, S. 50 ff.

19  Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) GmbH (Hg.), Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Jahresgutachten 2017, Berlin 2017, S. 14.

gung über die gerechte Verteilung, eine Angleichung der Asylverfahren und die Kernpunkte einer gemeinsamen Flüchtlings- und Migrationspolitik zu erzielen, sondern sie kehrten zurück zu nationalstaatlicher Grenzsicherung, zu deren markantesten Materialisierungen der Grenzzaun in Ungarn gehört. Die Unmöglichkeit einer Schließung der EU-Außengrenze, das Durchlassen von Flüchtlingen ohne Registrierung durch die Länder an den Rändern der EU, die Aussetzung des Dublin-Verfahrens und die Eigeninitiative der Geflüchteten, wie zum Beispiel in Ungarn 2015, brachten die Brüchigkeit des Dublin-Systems und die »gravierenden Konstruktionsfehler«19 europäischer Flüchtlingspolitik zum Vorschein. Julia Schulze Wessel  —  Krise! Welche Krise?

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NACH DER KRISE Wenn man den Fokus von der Flüchtlingskrise auf die Krise der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik verschiebt, dann werden die Kontinuitäten der Politik sichtbar. Bereits kurz nach der Aussetzung der Dublin-­ Verordnung wurde eine an die Erfolge der letzten 15 bis 20 Jahre ansetzende Politik verfolgt – auch von der deutschen Bundesregierung. Das Abkommen mit der Türkei ist nur ein Baustein dieser Politik. Viele weitere Verhandlungen, auch auf dem afrikanischen Kontinent, sind Teil dieses Bildes.20 Und dennoch sprechen bis heute noch viele davon – sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft –, dass Angela Merkel ihren Kurs nicht geändert habe und an ihrer Politik vom September 2015 festhalte. Richtig ist, dass offenbar kein europäischer Konsens hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen zu finden ist. Jedoch besteht durchaus ein Konsens in der Abwehr und in der Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Diese Reduzierung ist bislang jedoch nur durch die Aufnahme tradierter Politiken erreicht worden, d. h. durch die Verschiebung des Problems an die Außengrenzen und in Herkunfts- und Transitländer, mit denen neue Mobilitätspartnerschaften ausgehandelt wurden. Das kurzzeitige Durchlassen Geflüchteter war die große Ausnahme in der Migrations- und Flüchtlingspolitik, welche die EU seit Jahrzehnten verfolgt. Die europäische Einigkeit besteht nicht und bestand auch noch nie in der gerechten Verteilung der ankommenden Menschen, sondern in der Abwehr und in dem Versuch, sie weit vor den territorialen Grenzen Europas zu halten. Seit der radikalen Umgestaltung des Asylrechts ist die Politik darauf ausgerichtet, die Auseinandersetzung um Einlass und Aufnahme nicht mehr auf dem eigenen Territorium stattfinden zu lassen. Anders als die amerikanische Regierung spricht kein Land der EU Einreiseverbote gegenüber anderen Ländern aus, sondern setzt auf die Ausweitung der Visa-Politik und auf Lösungen jenseits des eigenen Territoriums. Das scheint auch die beste Politik zu sein, um die Diskussionen in Europa zu beruhigen.

PD Dr. Julia Schulze Wessel, geb. 1971, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte, Technische Universität Dresden. Letzte Veröffentlichung: Grenzfiguren. Zur Politischen Theorie des Flüchtlings, transcript: Bielefeld 2017.

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20  Vgl. Christian Jakob u. a., Migrationskontrolle, URL: https://migration-control. taz.de/#de/countries/eu [eingesehen am 06.04.2017].

KOMPETENZ UND ­GRENZÜBERSCHREITUNG DIE SUPRANATIONALE RECHTSPRECHUNG VOR GERICHT ΞΞ Marcus Höreth / Jörn Ketelhut

Der in Luxemburg ansässige Europäische Gerichtshof ( EuGH), das oberste Rechtsprechungsorgan der EU, steht seit geraumer Zeit im Kreuzfeuer der Kritik. Sowohl von politik- als auch von rechtswissenschaftlicher Seite wird auf ihn geschossen. Martin Höpner, Fritz W. Scharpf und Dieter Grimm führen die Reihen seiner Kritiker an. Sie werfen dem EuGH vor, er würde seine Kompetenzen überschreiten und müsse in die Schranken gewiesen werden. Von einer entfesselten richterlichen Gewalt ist die Rede, welche die sozialen Standards der EU-Mitgliedstaaten ohne Not auf dem Altar der Marktliberalisierung opfere. Auch wenn nicht alle Wissenschaftler die harsche Kritik, die dem EuGH entgegenschlägt, teilen, so zeigt sich doch, dass die europäische Rechtsprechung mit Akzeptanzschwierigkeiten zu kämpfen hat. Die Kritik am EuGH ist im Übrigen nicht neu: Bereits in den 1980er Jahren hat der dänische Jurist Hjalte Rasmussen (1986) darauf hingewiesen, dass der EuGH »außer Rand und Band geraten« sei, sich zum heimlichen Herrscher der damaligen Europäischen Gemeinschaft entwickelt und die Grenzen der richterlichen Verantwortung bewusst überschritten habe.1 Rechtfertigen musste und muss sich der EuGH für sein Tun nicht, jedenfalls nicht im streng juristischen Sinne, also vor Gericht. Aber warum eigentlich nicht? Wagen wir doch ein solches Gedankenexperiment! Was wäre, wenn sich der EuGH in einem Gerichtsverfahren verantworten müsste? Wie würde die Anklage lauten? Welche Vorwürfe könnte man dem EuGH machen? Und wie müsste und könnte der EuGH verteidigt werden? Schließlich: Wie müsste das Urteil lauten? Wir stellen uns im Folgenden einen Ankläger vor, der den Schutz der nationalen Souveränität zur obersten Maxime erklärt hat, für den die mit1  Siehe Hjalte Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice. A Comparative Study in Judicial Policymaking, Dordrecht 1986.

gliedstaatlichen Regierungen die »Herren der Verträge« sind und der, ausgehend von einem klassischen Verständnis von Gewaltenteilung, Richtern ein Höchstmaß an Selbstzurückhaltung abverlangt. Ihm fiele nicht schwer, eine ganze Reihe von Vergehen zu identifizieren, derer sich der EuGH schuldig

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gemacht hat. Die Geschichte der rechtlichen Integration würde dadurch in einem ganz anderen Licht erscheinen: Sie sänge dann nicht mehr das Hohelied einer zivilisatorischen Glanztat – der Errichtung einer supranationalen Rechtsgemeinschaft –, sondern erschiene als Schurkengeschichte, als Erzählung einer dreisten Selbstautorisierung und Usurpation politischer Macht. Ist an diesem Vorwurf etwas dran? DIE ANKLAGE Dem EuGH wird Folgendes zur Last gelegt: Bereits in den 1960er Jahren entschloss sich der Gerichtshof, seine märchenhafte Abgeschiedenheit im Großherzogtum Luxemburg zu nutzen, um die ursprüngliche europäische Vertragsarchitektur grundlegend zu verändern und seine eigene Machtbasis sukzessive auszubauen.2 Er ging dabei sehr planvoll vor und handelte vorsätzlich; die sich langfristig auswirkenden politisch-institutionellen Implikationen seiner Rechtsprechung waren freilich nicht immer gleich zu erahnen, was wohl auch der Grund dafür war, dass die meist in recht kurzen Zeithorizonten denkende Politik die Rechtsprechung nicht als kritikwürdig empfand. In einer Reihe von Einzelentscheidungen löste der EuGH die Verträge, auf denen die europäische Einigung fußte, aus dem Deutungskontext des Völkerrechts und überführte sie in einen konstitutionell anmutenden Reflexions- und Interpretationsrahmen. Diese überraschende, von einigen wissenschaftlichen Beobachtern als »revolutionär«3 eingestufte Neukonfiguration der richterlichen Bezugssysteme schuf die Voraussetzung dafür, dass das europäische Recht – befördert durch den EuGH – in der Folgezeit ungehindert in die staatliche Sphäre vordringen und dort etablierte Normbestände sukzessive verdrängen konnte. So entstand eine dem demokratisch legitimierten mitgliedstaatlichen Recht übergeordnete »Verfassung«, die buchstäblich »errichtet« wurde durch Europarichter, die kaum einer namentlich kannte und die niemand für ihr Tun demokratisch legitimiert hatte oder auch nur zur Verantwortung hätte ziehen können. Seine Machtbasis errichtete der EuGH auf zwei Eckpfeilern (bzw. »Schurkenstreichen«): auf dem Prinzip der Direktwirkung (1963) und dem des Vorrangs (1964). Beide Grundsätze finden sich nicht in den Gründungsverträgen; sie sind vom EuGH auf dem Wege der richterlichen Rechtsfortbildung entwickelt worden.4 Direktwirkung bedeutet, dass Einzelne sich vor nationalen Gerichten unmittelbar auf das europäische Recht berufen können. Zunächst war dieser Grundsatz ausschließlich auf die in den Gründungsverträgen fixierten Bestimmungen beschränkt. Der EuGH beließ es aber nicht dabei: Einige Zeit später erstreckte er die Direktwirkung auch auf das abgeleitete Europarecht.

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2  Vgl. Eric Stein, Lawyers, J­udges, and the Making of a  Transnational Constitution, in: American Journal of Internatinal Law, Jg. 75 (1981), H. 1, S. 1–27. 3  Joseph H. H. Weiler, A Quiet Revolution. The European Court of Justice and Its Interlocutors, in: Comparative Political Studies, Jg. 26 (1994), H. 4, S. 510–534. 4  Vgl. Alec Stone Sweet, European Integration and the Legal System, in: Tanja A. Börzel u. Rachel A. Chichowski (Hg.), The State of the European Union. Bd. 6: Law, Politics, and Society, Oxford 2003, S. 18–47; Joseph H. H. Weiler, The Transformation of Europe, in: Yale Law Journal, Jg. 100 (1991), H. 8, S. 2403–2483.

Bei dem zweiten Eckpfeiler, auf dem die Macht des EuGH gründet – dem Vorrangprinzip –, handelt es sich um eine Kollisionsregel, die Auskunft gibt, wie auftretende Konflikte zwischen dem mitgliedstaatlichen und dem supranationalen Recht zu lösen sind. Sie spricht eine eindeutige Sprache: Nach Auffassung des EuGH genießt das Europarecht nämlich in allen Belangen absoluten Vorrang – selbst wenn der Streitfall, den es zu lösen gilt, eine Materie des nationalen Verfassungsrechts berührt. Das führt dazu, dass europäisches Recht, und d. h. eben auch Richterrecht, nationales Recht zwar nicht »bricht«, aber »verdrängt« – was im Ergebnis auf das Gleiche hinausläuft. Mit dem Grundsatz der Direktwirkung und dem des Vorrangs hat der EuGH sich selbst als ein supranationales Verfassungsgericht in Szene gesetzt,

das darüber entscheidet, ob innerstaatliche Normbestände mit denen des Europarechts (so wie der EuGH dieses interpretiert) kompatibel sind. Wirft man einen Blick in die Verträge, wird man eine solche Kompetenz dort nicht finden. Vielmehr ist der EuGH von den mitgliedstaatlichen Regierungen mit dem Zweck eingerichtet worden, das politische Handeln der supranationalen Organe zu überprüfen. Sein gesamtes Aufgabenprofil ist darauf ausgerichtet. Vor allem sollte die »Hohe Behörde« der Montanunion, später dann die Europäische Kommission überwacht werden, ob sie sich in den Grenzen der Verträge bewegt oder aus ihnen ausbricht. Lediglich das Vertragsverletzungsverfahren gestattet dem EuGH, zu prüfen, ob die Mitgliedstaaten ihren europarechtlichen Verpflichtungen nachgekommen sind. Offensichtlich wollte der EuGH aber höher hinaus; denn erst die »Konstitutionalisierung« des europäischen Rechts hat den richterlichen Aktionsradius des EuGH massiv erweitert. Durch sie ist das sogenannte Vorabentscheidungsverfahren in einen äußerst wirkungsvollen Mechanismus zur Durchsetzung des Europarechts umgewandelt worden. Seine Funktion bestand eigentlich darin, Einzelnen eine dezentrale, in den innerstaatlichen Rechtsweg eingebettete Rechtsschutzmöglichkeit gegenüber den Handlungen der supranationalen Organe zu gewähren. Ausgelöst durch die konstitutionelle Rechtsprechung des EuGH trat dieser Aspekt aber immer mehr in den Hintergrund. Heute stellt das Vorabentscheidungsverfahren de facto ein Instrument dar, das Individuen Rechtsschutz gegenüber dem vertragswidrigen Verhalten der Mitgliedstaaten gewährt und den EuGH befähigt, nationale Regelungen am Maßstab des höherrangigen europäischen Rechts zu prüfen.5 Man muss sich 5  Vgl. Karen J. Alter, ­Establishing the Supremacy of European Law. The Making of an International Rule of Law in Europe, Oxford 2001, S. 16.

klarmachen, was das im Einzelnen bedeuten kann: Im Rahmen des Vorab­ entscheidungsverfahrens kann der Staat von seinen eigenen Bürgern gewissermaßen verklagt werden, weil seine Autoritäten sich nicht an europarechtliche Vorgaben halten (denen die Repräsentanten des Staates möglicherweise Marcus Höreth / Jörn Ketelhut  —  Kompetenz und ­G renzüberschreitung

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gar nicht zugestimmt haben), sondern an demokratisch zustande gekommenes nationales Recht, das diesem EU-Recht entgegen steht. Der EuGH hat diese Konstellation – wie gesagt – vorsätzlich herbeigeführt, denn er hat die Basis seiner derzeitigen Macht selbst geschaffen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten konnten dieser Entwicklung, die sich getarnt in juristischer Argumentationskunst und der sachlich-technischen Sprache des Rechts hinter ihrem Rücken vollzog, wenig entgegensetzen.6 Zudem verhinderte die schwierige Mehrheitsfindung im EU-Ministerrat ebenso wie unter den Staats- und Regierungschefs ein entschlossenes und konzertiertes Vorgehen gegen die »Selbstautorisierung des Agenten«7. Der EuGH konnte somit über viele Jahrzehnte ungehindert an der Umsetzung seiner integrationspolitischen Agenda und dem Ausbau seiner eigenen Macht arbeiten. Unterstützung fand er bei den nationalen Gerichten. Insbesondere untere Instanzen gingen bereitwillig auf das von ihm unterbreitete Angebot ein, aktiv an der Entwicklung der supranationalen Rechtsordnung teilzuhaben. Sie erhielten dadurch die Möglichkeit, ihre eigene Stellung in der innerstaatlichen Gerichtshierarchie aufzuwerten und ihren richterlichen Handlungsspielraum zu erweitern. Die konstitutionellen Strukturen des Europarechts gestatten nämlich jeder rechtsprechenden Instanz, die mit dem EuGH über das Vorabentscheidungsverfahren verbunden ist, auf Kompe-

tenzen zurückzugreifen, die denen der Höchst- und Verfassungsgerichtsbarkeit in nichts nachstehen.8 Die Geschichte der rechtlichen Integration, die in der Europarechtslehre oder der politikwissenschaftlichen Forschung vielfach als zivilisatorische Großtat gefeiert wird, muss daher neu erzählt werden. Gewiss: Der EuGH hat zusammen mit den Gerichten der nationalen Ebene einiges bewegt, vieles aufgebaut – aber eben auch einiges zerstört. Zunächst einmal den Glauben,

6  Vgl. Anne-Marie Burley u. Walter Mattli, Europe Before the Court: A Political Theory of Legal Integration, in: International Organization, Jg. 47 (1993), H. 1, S. 41–76, hier S. 69 ff.

die Europäische Gemeinschaft bzw. die EU basiere auf dem Prinzip der Mitgliedstaaten als »Herren der Verträge«, die über Inhalt und Reichweite der von ihnen geschaffenen politischen Ordnung selbst entscheiden. Indem die Richter nicht nur Recht sprechen, sondern auch selbst neues Recht schaffen – Juristen nennen dies euphemistisch »Rechtsschöpfung« –, unterminieren sie auch den Grundsatz der Gewaltenteilung. Hinzu kommen die Angriffe des EuGH auf soziale Standards, die sich in den Mitgliedstaaten über viele Jahrzehnte hinweg etabliert haben und die von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen sind. So werden etwa die Rechte von Arbeitnehmern und Gewerkschaften in den Rechtssachen Viking, Rüffert und Laval systematisch untergraben.9 Der EuGH tritt immer mehr als Herold des Marktliberalismus in Erscheinung, während andere

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7  Marcus Höreth, Die Selbstautorisierung des Agenten. Der Europäische Gerichtshof im Vergleich zum U. S. Supreme Court, Baden-Baden 2008. 8  Vgl. Alter, S. 45 ff. 9  Zu diesen Urteilen und ihren Folgen vgl. Martin Höppner, Usurpation statt Delegation. Warum der EuGH die Binnenmarktintegration radikalisiert und warum er politischer Kontrolle bedarf, MPIfG Discussion Paper 08/12, Köln 2008.

Werte als nachrangig betrachtet werden. Doch sollten nicht demokratisch legitimierte Instanzen, zum Beispiel Parlamente, selbst über die Rahmenbedingungen der Gemeinschaft entscheiden, in der ihre Bürger leben wollen? Wie dem auch sei: Ob eine »Rechtsgemeinschaft«, die durch die Usurpation der Macht entstanden ist, diesen Namen verdient, ist fraglich. Ein supranationaler Gerichtshof, dessen Legitimationsressourcen auf wackligen Beinen stehen, und der sein Integrationsprogramm wie der sprichwörtliche »Elefant im Porzellanladen« umsetzt, wird auf Dauer dem europäischen Projekt einen Bärendienst erweisen. Aus all diesen Gründen wird beantragt, dem EuGH nicht mehr Folge zu leisten10, am besten das Gericht ganz zu stoppen11, oder aber ihm wenigstens ein hälftig mit nationalen Höchst- und Verfassungsrichtern besetztes Kompetenzgericht zur Seite zu stellen, das darüber zu wachen hat, dass die europäische Rechtsprechung den Rahmen des ihr in den Verträgen erteilten Mandats nicht überschreitet. DIE VERTEIDIGUNG Die Anklage kulminiert in der Forderung, den EuGH zu stoppen oder wenigstens seinen Urteilen nicht mehr zu folgen. Wir sollten jedoch wieder auf den Boden der Realität zurückkehren. Der EuGH sollte sich genauso wenig stoppen lassen wie das Bundesverfassungsgericht oder der Supreme Court in den USA. Damit Gerichte ihre Funktion als Streitschlichter und »Instanzen des letzten Wortes«12 wahrnehmen können, müssen sie vor derartigen Forderungen geschützt werden. Zwar hat der EuGH in den letzten Jahren tatsächlich Urteile gefällt, die politisch gewagt und juristisch nicht immer überzeugend waren. Urteils- und Richterschelte ist deshalb nichts Neues in Europa, und, solange sie im Rahmen bleibt, auch nichts Verwerfliches. In Erinnerung sei jedoch gerufen, dass das Gericht in der Vergangenheit Entscheidungen getroffen hat, die zwar von den 10  So Fritz W. Scharpf, »Der einzige Weg ist, dem EuGH nicht zu folgen« (Interview), in: Mitbestimmung, H. 7–8/2008, S. 18–23. 11  Siehe Roman Herzog u. Lüder Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2008. 12  Peter Graf Kielmansegg, Die Instanz des letzten Wortes. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung in der Demokratie, Stuttgart 2005.

Zeitgenossen kritisiert, doch zumeist auch zähneknirschend befolgt wurden. Im Nachhinein, einige Jahre später, wurde manch eines dieser kontroversen Urteile sogar als wichtige Präzedenzentscheidung gefeiert – von der Wissenschaft, aber auch von der Politik. Übrigens zu Recht: Schon in den 1960er Jahren begann der EuGH, aus den völkerrechtlichen Gemeinschaftsverträgen eine Verfassung zu zimmern, worauf auch die Anklage verweist. Eben dadurch hat sich der EuGH einerseits selbst zu einem Verfassungsgericht aufgeschwungen, das sich in kompetenzrechtlich vermeintlich exklusiv den Mitgliedstaaten zuzurechnende Belange eingemischt hat. Andererseits kann dies – wenn man es ernst meint mit dem Vereinigten Europa – kaum verurteilt werden, im Gegenteil. Bei den Marcus Höreth / Jörn Ketelhut  —  Kompetenz und ­G renzüberschreitung

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Europarechtsexperten ist es ein offenes Geheimnis, dass die europäische Integration ohne ein machtvolles supranationales Gericht schon längst kläglich gescheitert und speziell der europäische Binnenmarkt, als das im Grunde bis heute einzige wirklich erfolgreiche und auch tatsächlich funktionierende europäische Projekt, niemals zustande gekommen wäre.13 Daraus ergibt sich, dass die Anklage ganz grundsätzlich fehlgeleitet ist – denn der EuGH wird schon aus rein funktionalen Gründen mehr denn je benötigt. Es reicht daher, der Anklage einige generelle Argumente entgegenzuhalten, statt sich in der Diskussion einzelner Urteile zu verlieren, die naturgemäß nicht immer allen gleich gefallen können. Die sich an europarechtlichen Fragen entzündenden Streitfälle haben sich zuletzt in einer mitgliederstärkeren, heterogeneren und zunehmend differenzierteren EU gehäuft – nach dem inzwischen eingeleiteten »Brexit« werden die zentrifugalen Kräfte auch zukünftig eher zu- als abnehmen. Ohne die Streitschlichtungsinstanz in Luxemburg drohen die Rechtsgemeinschaft und mit ihr die Rechtseinheit Europas zu zerbrechen. Zudem werden auch das deutungsoffene primäre und sekundäre Recht weiterhin richterrechtlich konkretisiert und von ihren inneren Widersprüchen befreit werden müssen, damit die EU-Normen insgesamt ihre Steuerungswirkung nicht verlieren. Schließlich wird eine potente EU-Gerichtsbarkeit benötigt, damit die Bürger über das Vorabentscheidungsverfahren zu ihrem europäischen Recht kommen; denn häufig genug weigern sich die Mitgliedstaaten auch heute noch, die in Brüssel gefassten Beschlüsse (denen sie dort noch ausdrücklich zugestimmt haben!) konsequent in nationales Recht zu überführen. Nur ein starker EuGH kann hier gemeinsam mit den vorlegenden nationalen Gerichten Abhilfe schaffen. Letztlich liegt es im Interesse aller europäischen Bürger, dass dies so bleibt. Die Aufforderung, den EuGH zu stoppen, nährt im Übrigen politische und juristische Allmachtsfantasien, die einem Realitätstest nicht standhalten. Es ist faktisch undenkbar, dass sich die Mitgliedstaaten allesamt auf eine Ver-

13  Vgl. Höreth, Die Selbstautorisierung des Agenten, S. 248 ff.

tragsänderung einigen könnten, durch die der EuGH abgeschafft oder auch nur stark zurückgedrängt werden könnte. Schon ein einzelner Mitgliedstaat, und sei es Luxemburg als Heimatstaat des supranationalen Gerichts, könnte dagegen sein Veto einlegen. Viele Gegner des EuGH, die in europaskeptischer Perspektive immer wieder gerne die »Integrationsverantwortung« der 14

bundesdeutschen Verfassungsorgane betonen, setzen ihre Hoffnung deshalb ohnehin auf Karlsruhe.15 Doch das Bundesverfassungsgericht wird sich an einem solchen Kreuzzug gegen den EuGH sicher niemals beteiligen, zumal es zuletzt erstmals

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14  BVerfGE 123, 267, Leitsätze 2a und 2b. 15  Vgl. Roland Lhotta u. Jörn Ketelhut, Integrationsverantwortung und parlamentarische Demokratie: Das Bundesverfas­sungsgericht als Agent des »verfassten politischen Primärraums«?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 40 (2009), H. 4, S. 864–888.

selbst den EuGH um eine Vorabentscheidung ersucht und ihn damit institutionell gestärkt hat.16 Das Gericht in Karlsruhe weiß nur zu gut, dass ein offener Konflikt mit dem EuGH beiden Gerichten schaden würde. Gerichte sind Streitschlichter, das ist ihre Funktion, hierfür sind sie eingesetzt worden. Führen ihre Urteile indessen zu (neuem) Streit, dann haben sie ihre Funktion nicht erfüllt – und über den höchsten Gerichten Deutschlands und der EU steht ja keine Instanz mehr, welche die Macht des »letzten Wortes« hätte. Gerichte aber, die ihre Funktion als Streitschlichter nicht mehr erfüllen können, verlieren ihre Glaubwürdigkeit und Autorität und sind letztlich nutzlos. Zudem wissen die Karlsruher Richter, dass der EuGH zum Beispiel in seiner besonders scharf kritisierten Mangold-Entscheidung17 ironischerweise im Grunde nur das getan hat, wozu er bereits vor Jahrzehnten im »Solange I«Urteil18 vom Bundesverfassungsgericht aufgefordert worden war: Er, der EuGH, baute auch im Fall Mangold den europäischen Grundrechtsschutz weiter aus, indem er aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und diversen völkerrechtlichen Verträgen rechtsvergleichend das Verbot der Altersdiskriminierung als »allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts« herausfilterte. Soll Karlsruhe jetzt den EuGH dafür kritisieren, dass dieser sich die damalige Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts noch immer zu Herzen nimmt? Anzunehmen ist daher, dass zukünftig zwar durchaus das eine oder andere kritische Signal aus Karlsruhe nach Luxemburg gesendet werden könnte – aber darauf zu hoffen, dass der EuGH durch Karlsruher Richterrechts-Containment gestoppt werden könnte bzw. sollte, zeugt von einer Naivität, die erstaunen muss. Doch auch die alternative Forderung der Anklage nach einem zur Hälfte 16 

BVerfGE 134, 366.

mit mitgliedstaatlichen Verfassungsrichtern besetzten »unabhängigen Gerichtshof für Kompetenzfragen«19 ist abwegig. Zwar kann man dem Vorschlag

17  EuGH-Entscheidung vom 22.11.2005 (C-144/04). 18 

BVerfGE 37, 271 ff.

zur Errichtung eines sich primär mit Kompetenzfragen beschäftigenden gemeinsamen Verfassungsgerichts eine gewisse Folgerichtigkeit nicht absprechen. Wenn sowohl die Legislative (EU-Parlament und EU-Ministerrat) als auch die Exekutive (EU-Kommission und Europäischer Rat) der EU inso-

19  Zum Folgenden vgl. Ulrich Everling, Zur verfehlten Forderung nach einem Kompetenzgericht der Europäischen Union, in: Gerda Müller u. a. (Hg.), Festschrift für Günter Hirsch, München 2008, S. 63–74. 20  Vgl. Marcus Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, Baden-Baden 1999, S. 314.

fern »gemischt« zusammengesetzt sind, als supranationale und mitgliedstaatliche Akteure gemeinsam an einem Strang ziehen müssen: ­Warum geht das dann nicht auch in der EU-Judikative? Eine solche gemischte Gerichtsinstanz könnte theoretisch noch am ehesten die Glaubwürdigkeit genießen, um unter Berücksichtigung und Abwägung aller maßgeblichen Werte und Interessen Grenzlinien der EU zu bestimmen und dadurch die richtige Balance zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten relativ objektiv festzulegen.20 Zudem würde es zur Logik europäischer Gewaltenteilung Marcus Höreth / Jörn Ketelhut  —  Kompetenz und ­G renzüberschreitung

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passen, wenn auch innerhalb der Judikative supranationale und mitgliedstaatliche »­a mbitions« im Sinne der berühmten Formel von James ­Madison: »Ambitions must be made to counteract ambition«, gegeneinander anträten und sich wechselseitig in Schach hielten, wie dies ebenso bei den anderen beiden Gewalten beobachtet werden kann. Allerdings sprechen die überzeugenderen Argumente gegen diese Option: Wenn die Richter des EuGH zukünftig in ein gesondertes, paritätisch besetztes Kompetenzgericht eingebunden werden sollten, dann wäre dies zum einen ein Affront gegen diese Richter, da man ihnen damit signalisieren würde, dass sie es bisher bei Kompetenzstreitigkeiten an der nötigen Unparteilichkeit und Fairness haben fehlen lassen, was unzweifelhaft ihre Autorität auf Dauer schwächen würde. Zum anderen wäre vor dem Hintergrund der Mehrebenen-Zusammensetzung des Richterkollegiums die Gefahr groß, dass sich von beiden Akteursgruppen – also entweder von den nationalen oder aber von den europäischen Richtern ausgehend – eine Entscheidung im Kompetenzgericht blockieren ließe. Absurd erscheint die Errichtung eines gesonderten Kompetenzgerichts aber auch deshalb, weil jede EuGH-Entscheidung, die ja letztlich als Rechtsakt gilt, als Überschreitung von Unionskompetenzen identifiziert und zum Gegenstand einer Überprüfung durch das Kompetenzgericht werden könnte. Jede vor dem EuGH unterlegene Partei wird versucht sein, das Kompetenzgericht anzurufen, um überprüfen zu lassen, ob der EuGH selber in den Grenzen seiner Kompetenzen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts geblieben

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ist. Damit würde ein Kompetenzgericht zur Superrevisionsinstanz nicht neben, sondern über dem EuGH.21 Doch wozu bräuchte man noch ein weiteres Gericht auf EU-Ebene? Ein letztes Argument bezieht sich auf die notwendige Unabhängigkeit eines solchen Kompetenzgerichts, wie sie auch beim EuGH eingefordert wird (Art. 253 Abs. 1 AEUV ). Man muss wohl annehmen, dass sich die nationalen Richter im Kompetenzgericht in erster Linie als Hüter ihrer eigenen Verfassungen betrachten werden und nicht als Hüter der europäischen Verträge. Sie wären insoweit doch wieder befangen und besäßen jene geforderte richterliche Unabhängigkeit bei Kompetenzstreitigkeiten gerade nicht. Beide Forderungen der Anklage, das »Stoppen« des EuGH sowie die Schaffung eines gemischt besetzten Kompetenzgerichts, sind daher zurückzuweisen. DAS URTEIL Anklage und Verteidigung haben ihre Argumente vorgebracht. Wie wird man dem EuGH nun gerecht? Wie ist sein Handeln zu beurteilen? Muss der EuGH angesichts wiederholter, nicht länger hinzunehmender Kompetenzan-

maßungen in die Schranken gewiesen werden, so wie es die Anklage fordert, oder ist er, ganz im Sinne der Verteidigung, von sämtlichen Vorwürfen freizusprechen und stattdessen für sein entschlossenes Vorgehen beim Aufbau einer supranationalen Rechtsgemeinschaft zu loben? Fest steht: Der EuGH hat einen maßgeblichen Beitrag zum Fortgang des europäischen Integrationsprozesses geleistet. Im Wesentlichen ist es sein Verdienst, dass die EU heute über eine Rechtsordnung verfügt, die der eines Bundesstaats im Hinblick auf Verbindlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit ihrer Normbestände in nichts nachsteht. Mehr noch: Durch die Rechtsprechung des EuGH sind viele der in den Gründungsverträgen festgelegten Ziele überhaupt erst Wirklichkeit geworden. Dieser Umstand relativiert den Vorwurf der Selbstermächtigung. Selbst wenn der EuGH in der beanstandeten Art und Weise gehandelt hätte, wäre er dabei nicht von Machthunger, sondern von der Sorge um die Zukunft des europäischen Projekts angetrieben worden. Ohne eine expansive Auslegung der supranationalen Normbestände, die sich eben nicht am Schutz der nationalen Souveränität orientiert, sondern die Effektivität des EU-Rechts zur obersten Maxime erhebt, hätte die ökonomische Integration in Gestalt der Zollunion und des EU-Binnenmarktes angesichts der doch erheblichen Vollzugsdefizite auf mitgliedstaatlicher Seite kaum umgesetzt werden können. Der EuGH musste einschreiten, da die Regierungen ihre Verpflichtung, die gemeinschaftlich gefassten Beschlüsse sach- und fristgerecht in nationale Gesetzgebung zu überführen, vielfach vernachlässigt hatten.

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21  Vgl. Franz C. Mayer, Die drei Dimensionen der europäischen Kompetenzdebatte, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Jg. 61 (2001), H. 2, S. 609–640.

Regelmäßig sind bei den Interventionen des EuGH auch die Rechte des Einzelnen gestärkt worden. An dieser Stelle sei nur daran erinnert, dass der EuGH seit den 1970er Jahren die Gleichbehandlung von Männern und Frauen

im Erwerbsleben vorangetrieben hat. Ihm ist zu verdanken, dass die Maßnahmen zum Abbau geschlechtsspezifischer Diskriminierungen nicht nur auf dem Papier existieren, sondern für die Menschen in den Mitgliedstaaten juristische Realität geworden sind. Auch wenn derzeit beim EuGH durchaus eine marktliberale Schlagseite konstatiert werden kann und sich mit Blick auf viele der supranationalen Regelungsbereiche die Frage stellt, ob beim gegenwärtigen Integrationsstand weiterhin eine expansive Auslegung des EU-Rechts geboten ist, sollte man jedoch von »außen«, d. h. von politischer Seite, auf Interventionen gegenüber dem EuGH verzichten. Die Anträge der Anklage, die darauf abzielen, dem EuGH eine Kontrollinstanz, bspw. in Gestalt eines Kompetenzgerichts, beizuordnen, sind daher zurückzuweisen: Ein solches Unterfangen würde den EuGH in seiner Autorität massiv beschädigen und somit der EU mehr schaden als nutzen. Man könnte aber über einen Vorschlag nachdenken, der die Autonomie supranationaler Rechtsprechung weitgehend schont und gewissermaßen »endogen« ansetzt. So könnte man für die Einführung abweichender Voten beim EuGH plädieren; denn auf diese Weise würde es dem Gericht leichter fallen, Recht zu sprechen, das mit der ständig wandelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit korreliert und dadurch seine Legitimation erhöht.22 Momentan fällt es dem EuGH noch außerordentlich schwer, von lange etablierten Rechtsprechungslinien abzuweichen und seine – nach außen hin immer einstimmig ergangene – Rechtsprechung zu korrigieren. Unter den aktuellen Bedingungen – so das Kalkül der Richter – müsste eine solche hin und her schwankende Rechtsprechung die Rechtsadressaten verunsichern, was unbedingt zu vermeiden ist. Also bleibt der EuGH dogmatisch bei Prinzipien stehen, die vor Jahrzehnten entwickelt wurden und zur damaligen Zeit auch richtig waren – und fällt daraufhin möglichst Urteile, die sich rechtslogisch zwingend aus diesen früheren Präzedenzentscheidungen ergeben. Das schafft normative Sicherheit, mögen sich die außerrechtlichen Umstände noch so sehr ändern und eine Rechtsprechungskorrektur folglich angezeigt sein lassen. Wenn sich der EuGH unter den jetzigen Bedingungen 22  Vgl. Marcus Höreth, Richter contra Richter: Sondervoten beim EuGH als Alternative zum ›Court Curbing‹, in: Der Staat, Jg. 50 (2011), H. 2, S. 191–221.

seiner nach außen hin stets einvernehmlich verkündeten Urteilspraxis zu fundamentalen Korrekturen einmal etablierter Rechtsprechungslinien veranlasst sieht, löst dies aber umso größere normative Verunsicherung aus, weil die Rechtsadressaten damit schlicht nicht rechnen und sich darauf nicht Marcus Höreth / Jörn Ketelhut  —  Kompetenz und ­G renzüberschreitung

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rechtzeitig einstellen können. Dem Rechtsprechungsschwenk drohen daher massive Legitimationsprobleme. Ganz anders verhält es sich dort, wo Gerichte mittels Sondervoten mögliche Rechtsprechungsschwenks der Zukunft gewissermaßen intellektuell vorbereiten und der Gemeinschaft der Verfassungsinterpreten zur Diskussion stellen – wie in den USA , wo sich der US Supreme Court bei aller Betonung des Prinzips der stare decisis schon häufig zu dramatischen Rechtsprechungskorrekturen veranlasst sah (gerade im Bereich der Marktordnung!), die sich aber zumeist bei vorangegangenen Urteilen zu ähnlich gelagerten Fällen in abweichenden Voten angekündigt hatten. Für den EuGH wäre dies ebenfalls eine gute Option. Minderheitenmeinungen zeigen der (europäischen) Öffentlichkeit an, dass es zu bestimmten zentralen Rechtsproblemen (zum Beispiel EU-Grundfreiheiten vs. nationale Sozialstandards) unterschiedliche Auffassungen gibt. Eine Minderheitenmeinung kann sich in naher Zukunft durchsetzen. Darüber kann dann in der Fachöffentlichkeit, aber auch in den Medien und in der erweiterten Öffentlichkeit diskutiert werden. Kommt dann später tatsächlich der Schwenk in der Rechtsprechung, dann kommt er erstens nicht gänzlich unerwartet und ist zweitens durch die vorangegangene Debatte vorab diskursiv legitimiert worden. Möglicherweise würden die Mitgliedstaaten als »Herren der Verträge« durch eine entsprechende Primärrechtsänderung, nach der beim EuGH Sondervoten zugelassen werden, ein effizientes Instrument schaffen, durch das der EuGH selbst die von ihm erzeugte neoliberale Schlagseite seiner Binnenmarktrechtsprechung ein Stück weit auszubalancieren vermag. Ganz ohne Druck von außen – und zur Besänftigung seiner schärfsten Kritiker.

Prof. Dr. Marcus Höreth, geb. 1968, ist Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Regierungslehre und Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, TU Kaiserslautern. Letzte Buchpublikation: Die komplexe Republik. Staatsorganisation in Deutschland, Kohlhammer Verlag: Stuttgart 2016. Dr. Jörn Ketelhut, geb. 1972, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der TU Kaiserslautern.

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EUROPA AM ABGRUND SYSTEMINTEGRATION OHNE SOZIALINTEGRATION ΞΞ Hauke Brunkhorst Die Weltwirtschaftskrise, die im September 2008 ausbrach, war der Offenbarungseid. Nachdem die Rettung bankrotter Geldhäuser und die größten Konjunkturprogramme der Geschichte die Bankenkrise in den fragilen Zustand der Latenz zurückversetzt hatten, mussten sich die Staaten die Steuergelder, die sie bei der Bankenrettung verbraucht hatten, von denselben Banken leihen.1 Das Resultat war der strange non-death of neoliberalism: die Rückkehr zu Austerität, Deregulierung und Steuersenkung, mal im Zeichen des globalen Freihandels, mal im Zeichen des nationalen Protektionismus, dessen 1  Vgl. Claus Offe, Europa in der Falle, Berlin 2016; Craig ­Calhoun, What Threatens Capitalism Now?, in: Immanuel Wallerstein u. a. (Hg.), Does Capitalism Have a Future?, Oxford 2013, S. 132–161, hier S. 141 ff. 2  Siehe Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016. Zur Wiederkehr der Ungleichheit: Richard Wilkinson u. Kate Pickett, The Spirit Level. Why Greater Equality Makes Societies Stronger, New York 2010; Silke van Dyk, »Die soziale Frage in der (Post-) Wachstumsökonomie«, Vortrag, Europa-Universität Flensburg, 07.02.2017 (Power-Point).

sich schon Ronald Reagan ausgiebig bedient hatte, bevor er zum Propheten des globalen Freihandels wurde. Die Zinserträge, die ihr Krise und Zusammenbruch versüßten, steckte die Finanzwirtschaft, die längst die Realwirtschaft durchdrungen und umstrukturiert hatte, gleich wieder in hoch spekulative Finanzprodukte, während Kindergärten und Schulen leer ausgingen und die säkulare Stagnation den sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsschichten besiegelte.2 In Europa kam es zu einer Kumulation multipler Krisen. Diese sind weder nationale noch globale, sondern europäische Krisen. Ohne die jetzige Verfassung der europäischen Institutionen und die Integration von nationalem und transnationalem Recht wären sie nicht ausgebrochen (wie zum Beispiel die Eurokrise oder die griechische Staatsschuldenkrise) oder sie hätten einen ganz anderen Verlauf genommen (wie die sogenannte Migrationskrise). Folglich können sie auch nur durch einen radikalen Verfassungswandel überwunden werden.3

3  Vgl. Claus Offe u. Ulrich K. Preuss, Citizens in Europe, Colchester 2016. 4  Das war absehbar: vgl. Claus Offe, The European Model of ›­Social‹ Capitalism: Can it ­Survive European Integration?, in: The Journal of Political Philosophy, Jg. 11 (2003), H. 4, S. 437–469. Zur globalen Vervielfachung der Ungleichheitsfolgelasten: Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016.

In der Eurozone wurde die Weltwirtschaftskrise zur sozialen Krise Europas. Da die Mittel für Abwrackprämien, verlängertes Kurzarbeitergeld und Bankenrettungen von den Nationalstaaten allein aufgebracht werden mussten, verteilten sich die Folgelasten nicht nur zwischen den sozialen Klassen, sondern – innerhalb des einheitlichen Währungsraumes – auch zwischen den ökonomisch starken und schwachen Nationen höchst ungleich.4 Während die Arbeitslosenzahlen im reichen Deutschland niedrig blieben und sich wenige Jahre nach Ausbruch der Krise – bei steigenden Gewinnen, stagnierenden Löhnen und einem breiten Niedriglohnsektor – im Bereich von Vollbeschäftigung bewegen, ist im armen europäischen Süden vor allem

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die Jugendarbeitslosigkeit in die Höhe geschnellt und bedroht nun schon seit Jahren eine ganze Generation mit dem sozialen Tod. Die ungerechte Verteilung der Lasten ist in das Verfassungsrecht fest einbetoniert worden.5 Während horizontale Ungleichheiten zwischen Geschlechtern, sexuellen Orientierungen, Religionsgemeinschaften und Ethnien weiter verringert werden – was ein großer, vom europäischen Antidiskriminierungsrecht verstärkter Fortschritt ist –, wachsen die vertikalen Ungleichheiten ins Unermessliche, was ein mindestens ebenso großer, durch das europäische Wettbewerbsrecht verstärkter und durch die ungleichen Lebensbedingungen der Eurozone beschleunigter Rückschritt ist.6 Der massive Rückbau sozialer Gleichheitsrechte macht aus Bürgern Kun-

5  Vgl. John Erik Fossum u. ­ ugustín José Menéndez, The A Constitution’s Gift. A Constitutional Theory for a Democratic European Union, Lanham 2011. Zur Genealogie: Hauke Brunkhorst, Das doppelte Gesicht Europas. Europa zwischen Kapitalismus und Demokratie, Berlin 2014.

den mit Rechten7 und alle Fortschritte horizontaler Emanzipation wieder zunichte, indem er die Emanzipation von allen Frauen, allen Homosexuellen und allen Ethnien in marktkonformes Empowerment für die Gewinner des

6  Zur Unterscheidung horizontaler und vertikaler Ungleichheit/ Emanzipation: Nachtwey.

Wandels transformiert.8 7 

DAS EURO-REGIME ALS VERFASSUNG EUROPAS Die schwarze, jüdische, vorbestrafte, wohnungslose Homosexuelle in der Peripherie von Paris, Brüssel oder Mailand, aber auch in Baltimore oder New York, hat dagegen wenig von ihren Rechten: Denn sie kann sich dem misogynen, rassistischen, antisemitischen und homophoben Milieu, das die schlecht bezahlte, aber schwer bewaffnete lokale Polizei des Ghettos ebenso prägt wie die meisten seiner depravierten Bewohner, nicht entziehen. Ihre neu gewonnene Freiheit hat keinen »fairen Wert« im Sinne von John Rawls.9 Hoch signifikant sind diesbezüglich die Urteile des Europäischen Gerichtshofs. In Sachen horizontaler Emanzipation sind sie fast durchgängig progressiv – in Sachen vertikaler Emanzipation fast durchgängig regressiv. Während französische Obdachlose in Belgien Anspruch auf Sozialhilfe haben, sind lettische Arbeiter, die für lettische Unternehmen auf schwedischen Baustellen tätig sind, von schwedischen Lohnabschlüssen und schwedischen Arbeitsbedingungen ausgeschlossen und drücken auf den schwedischen Arbeitsmarkt. Dies ist nur ein Beispiel für die deregulatorische Abwärtsspirale, jene zahlreichen races to the bottom, bei denen es darum geht, wer als erster die soziale Differenz in die Höhe, die der demokratischen Selbstbestimmung auf den Nullpunkt und die Menschenrechte mit den Geflüchteten aus dem Land treibt.10 Kurz: Horizontale Emanzipation ohne vertikale Emanzipation ist Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit. Vertikale Emanzipation ohne horizontale Emanzipation ist Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Beides

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Europa — Analyse

Ebd., S. 116.

8  Siehe Alexander Somek, Europe: From ­emancipation to empowerment, London School of Economics, LEQS Paper Nr. 60, London 2013. 9  Vgl. John Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt a. M. 2003, S. 230 ff.; vgl. hierzu auch Hauke Brunkhorst, Selbstbestimmung durch deliberative Demokratie, in: Leviathan, Jg. 45 (2017), H. 1, S. 21–34. 10  Vgl. Sonja Buckel u. Lukas Oberndorfer, Die lange Inkubationszeit des Wettbewerbs der Rechtsordnungen – Eine Genealogie der Rechtsfälle Viking/Laval/Rüffert/Luxemburg aus der Perspektive einer materialistischen Europarechtstheorie, in: Andreas Fischer-Lescano, Florian Rödl u. Christoph Schmid, Europäische Gesellschaftsverfassung. Zur Konstitutionalisierung sozialer Demokratie in Europa, Baden-Baden 2009, S. 277–296; Alexander Somek, Sozialpolitik in Europa: Von der Domestizierung zur Entwaffnung, in: Europarecht, Beiheft, H. 1/2013, S. 49–68, hier S. 64 ff.

ist gleichermaßen undemokratisch, denn (moderne) Demokratie ist die »Herrschaft Beherrschter«11, und zwar ausnahmslos aller jeweils Beherrschten. Demokratische Emanzipation ist deshalb vertikal und horizontal oder gar nicht. Der Kampf zwischen armen und reichen, entwickelten und unterentwickelten Nationalstaaten um Wettbewerbsvorteile ist heute an die Stelle sozialstaatlich institutionalisierter Klassen- und Verteilungskonflikte getreten.12 Claus Offe nennt den Kampf um Wettbewerbsfähigkeit treffend das »hidden curriculum«13 Europas. Da jeder Rückfluss der Gewinne des exportstarken 11  Christoph Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat – Das vergessene Spannungsverhältnis von Parlament, Demokratie, und Bundesstaat, in: Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, München 1997, S. 97.

Nordwestens in den importabhängigen Süden durch das Unionsverfassungsrecht und die Interessen der großen Banken blockiert wird, ist die demokratische Solidarität Europas schon verbraucht, noch ehe sie sich über den Kontinent ausbreiten konnte. Anfang der 1990er Jahre gab es noch zwei halbwegs solidarische Optionen: Der Lehre des Ordoliberalismus zufolge sollte die Gemeinschaftswährung

12  Vgl. Offe, The European Model of ›Social‹ Capitalism, S. 463; Offe, Europe entrapped. Does the EU have the political capacity to overcome its current crisis?, in: European Law Journal, Jg. 19 (2013), H. 5, S. 595–611. 13 

Offe, The European Model of ›Social‹ Capitalism, S. 463.

14 

Henrik Enderlein, »Grenzen der europäischen Integration? Herausforderungen an Recht und Politik.« Paper presented at Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin, 25.–26. November 2011. 15 

Offe, Europa in der Falle, S. 16.

16  Vgl. Fritz Scharpf, Demokratische Politik in Europa, in: Dieter Grimm u. a. (Hg.), Zur Neuordnung der Europäischen Union. Die Regierungskonferenz 1996/97, Baden-­Baden 1997, S. 65–91, hier S. 82. 17  So auch Offe, Europa in der Falle. 18  Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981.

erst eingeführt werden, nachdem annähernd gleiche Lebensbedingungen vorausgesetzt werden konnten; und die Option eines sozialen Europas nach Jaques Delors sah vor, den Euro zusammen mit einer Europäischen Wirtschaftsregierung einzuführen, die demokratisch legitimiert und mächtig genug wäre, solche vergleichbaren Bedingungen herzustellen. Stattdessen lief der zwischen Deutschland und Frankreich ausgehandelte Kompromiss aber auf die schlechteste aller Möglichkeiten hinaus. So bekamen wir, was niemand wollte: unter extrem ungleichen Lebensbedingungen eine Gemeinschaftswährung ohne demokratische Legislative und ohne gewählte Regierung.14 Dadurch verwandelte sich die Eurozone noch am Tag ihrer Gründung in »ein missgebildetes System aus neunzehn Staaten ohne eigene Zentralbank und einer Zentralbank ohne Staat«15. Der Euro war trotzdem erfolgreich, aber dieser Erfolg hatte einen hohen Preis. Er hat die Integration der Eurozone praktisch irreversibel gemacht. Wer raus will, muss mit einer doppelten – einer ökonomischen und moralischen – Katastrophe rechnen.16 Die Geldpolitik der Zentralbank hat die Schwachen und die Starken auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet. Das ist zwar auch für die Schwachen unter den gegenwärtigen Bedingungen ein Fortschritt – ihre Schwäche wird dadurch aber zugleich verewigt.17 Das soziale Band des Euro-Regimes, das Europa heute zusammenhält, ist keines, das aus sozialen Kämpfen und Interaktionen geflochten ist, sondern aus Technologien und Systemimperativen. Das Regime des Euro ist der seltene Fall einer fast reinen Form der Systemintegration ohne Sozialintegration.18 Das Euro-Regime ist eine hochspezialisierte, geldpolitisch vereinseitigte und technische Regierung aus Bankern und Richtern, deren Gesetzgebung Hauke Brunkhorst  —  Europa am Abgrund

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noch im Augenblick der Entscheidung mit zumeist irreversiblen und weitreichenden Folgen exekutiert wird – und zwar durch einfache Mehrheit des Direktoriums oder des Gouverneursrats, gleichsam »whatever it takes«. Die zuständigen Gerichte können derartige Entscheidungen später kaum noch revidieren, sondern allenfalls minimal modifizieren. Damit ist das Regime des Euro zusammen mit dem immer schon hegemonialen Wettbewerbsrecht und der Priorität des Privateigentums zur fast ehernen, nur durch einstimmigen Beschluss aller Gliedstaaten änderbaren Verfassung Europas geworden. Es hat Demokratie und Menschenrechte an den Rand gedrängt – ohne dass das, trotz der Affinität dieses Regimes zu den Interessen der herrschenden Klassen Europas, die sozialen Akteure wirklich gewollt hätten. SOZIALE SPALTUNG IN DER EUROPÄISCHEN POSTDEMOKRATIE Obwohl niemand die hoch defizitäre, rein technische, mithin postdemokratische Form seiner Institutionalisierung gewollt hatte, erwies sich der Euro als die Währung, die besser als jede andere zur finanzwirtschaftlich angetriebenen Globalisierung und ihren Siegern passte19 – in den guten Zeiten der Riesengewinne aus Riesenblasen, in denen auch für die Verlierer ein paar Kamellen abfielen, ebenso wie in den schlechten Zeiten, in denen, nachdem die Blase geplatzt war, die Sieger mit dem Geld der Verlierer vom Staat, den sie Jahrzehnte lang gemobbt hatten, gerettet werden mussten, während es den Verlierern an den Kragen ging. Die vor vierzig Jahren in Chile und Argentinien, in England und den USA begonnene, durch das Euro-Regime massiv verstärkte Kolonialisierung

nahezu aller Lebensbereiche durch Geld und Macht hat fast das gesamte soziale, politische, kulturelle und familiale Leben den funktionalen Imperativen des Marktes unterworfen.20 Auch wer nicht unter seinem direkten Kommando steht, muss sich, wie exemplarisch die öffentlich-rechtlichen Medien, assimilieren. Wen das Schicksal in die immer breiter werdenden Banlieues der reichen, urbanen Zentren zwingt, der muss lernen, mit wachsender Anomie, kollektiver Depression, unerträglicher Ungleichheit und der kompletten Exklusion im sozialen Wohnungsbau unter den Brücken zurechtzukommen. Wer es in eines der Parlamente der Eurozone schafft, lebt besser. Aber auch er oder sie muss jetzt »Wege finden«, den aus den Zeiten früherer Souveränität verbliebenen Rest »parlamentarischer Mitbestimmung so (zu) gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist«21. Das sagte die Bundeskanzlerin nicht in Deutschland, sondern im krisengebeutelten Portugal, im, wie sich vielleicht

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Europa — Analyse

19 

Vgl. Calhoun, S. 141.

20  Siehe Jürgen Habermas, Im Sog der Technokratie, Berlin 2013. 21  Angela Merkel zit. nach Stephan Löwenstein, Suche nach Konsens bei Euro-Rettung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.09.2013.

22  Jürgen Habermas, Rettet die Würde der Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.11.2011, URL: http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/ euro-krise-rettet-die-wuerdeder-demokratie-11517735.html [eingesehen am 20.03.2017]. 23  Richtig gesehen bei Nachtwey, S. 208 ff. Ein verzweifelter Ruf in der Wüste: Habermas, Rettet die Würde. 24  Das ist die brasilianische Konstellation aus Überinklusion der oberen und Unterinklusion der unteren Klassen: vgl. hierzu Marcelo Neves, Zwischen Subintegration und Überintegration: Bürgerrechte nicht ernstgenommen, in: Kritische Justiz, Jg. 32 (1999), H. 4, S. 557–577. 25 

26 

Siehe Offe, Europa in der Falle. Statistiken zit. nach Van Dyk. 27  Nachtwey.

28 

Vgl. Offe u. Preuss.

29  Mit Korrelationen, die direkte Kausalität vermuten lassen: Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt a. M. 2015. Für die USA: Jonathan Rodden, ›Red‹ America is an illusion. Post­industrial towns go for Democrats, in: Washington Post, 14.02.2017. 30  Dabei kommt es nur selten zur Artikulation einer wirklichen Oppositionsperspektive; eine seltene Ausnahme ist: KlausDieter Frankenberger u. a., »Dann müssten wir Europäer tun, was wir längst hätten tun sollen«. Ein Gespräch mit Außenminister Sigmar Gabriel über Trump und die Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.02.2017.

zugespitzt formulieren lässt, portugiesischen Protektorat; es war aber auch an das eigene Parlament adressiert. Da bleiben für die »Würde der Demokratie«22 nur noch die Straße und der Park: Occupy Wall Street!23 Das Regime des Euro hält Europa paradoxerweise zusammen, indem es den Kontinent sozial und politisch spaltet. Die reichen Länder werden immer reicher und die armen immer ärmer. Die Reichen haben nur noch Rechte, die Armen nur noch Pflichten.24 Und doch sind reiche und arme Länder aneinandergekettet, bis dass der Tod sie scheidet. Das ist die Falle, in der Europa sitzt.25 Und während der ökonomische Überlebenskampf der Staaten untereinander immer bedrohlicher wird, geht auch die Schere zwischen den sozialen Klassen immer weiter auf. Es ist wirklich so, wie Occupy Wall Street behauptet: Die obersten zehn Prozent Europas sind die Gewinner, während alle nachfolgenden sozialen Klassen an Einkommen und Vermögen verloren haben.26 Die oberen vererben Reichtum und Status an ihre Kinder, die unteren vererben nur noch die Hoffnungslosigkeit.27 Das Projekt des sozialen Europa und seiner Sozialstaaten ist nicht nur in eine ökonomische und soziale, sondern mit Blick auf die Demokratien und ihre Parteiensysteme auch in eine tiefe politische Krise geraten. Auch diese ist ebenso wie die anderen eine europäische Krise, die sich, wenn überhaupt, nur europäisch lösen lässt.28 Die wachsende soziale Ungleichheit hat die Wahlbeteiligung in den unteren Schichten einbrechen lassen und die sozialdemokratischen und linken Parteien um ihre Mehrheitsfähigkeit gebracht. Ebenjene Parteien sind aus Not und Opportunismus dem Trend gefolgt und von Wahl zu Wahl immer weiter nach rechts gerückt, bis sie von den neokonservativen Parteien nicht mehr zu unterscheiden waren.29 In der Folge ist die politische Differenzierung von links und rechts ebenso kollabiert wie die von Regierung und Opposition. Freilich: Wo es keine erkennbaren Alternativen zwischen links und rechts mehr gibt, macht das Wählen nur noch für diejenigen Sinn, deren Interessen von der Einheitspartei der rechten Mitte, die vom Nordwesten aus Europa und seine Staaten regiert, sowieso schon vertreten werden. Die Opposition aber verschwindet. Wenn Fernsehreporter einen Vertreter der Opposition um eine Stellungnahme zur Regierungspolitik bitten, fragen sie gleich einen des kleineren Partners der Großen Koalition, am besten einen Minister. Die Internalisierung der Opposition in die Regierung ist der Anfang vom Ende der Demokratie.30 Was von innen die Demokratie zerstört, trifft von außen ins Herz der Menschenrechte. Wie im Bereich der Wirtschaft, so hat die freie Konkurrenz um Standortvorteile ebenfalls migrationspolitisch ein europäisches race to the bottom entfacht, diesmal im unerbittlichen Wettbewerb um den höchsten Zaun Hauke Brunkhorst  —  Europa am Abgrund

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und das schäbigste, von Folterknechten verwaltete Auffanglager in den Bürgerkriegsgebieten und Diktaturen südlich unserer gemeinsamen Grenze.31 Wenn eine Landesregierung wie jene des nördlichsten Bundeslandes nichts anderes tut, als die hierzulande gültigen Menschenrechte zu verteidigen, und sich weigert, Asylsuchende bei Nacht und Nebel in menschenrechtsfreie Zonen abzuschieben, die unser Innenminister nur mit Stahlhelm und schusssicherer Weste betritt, droht der Berliner Hegemon ihr mit dem Entzug der Bundesmittel. Wenn nach dem Berliner Attentat Ende 2016 die übrigen Attentate des Jahres aufgezählt werden, erwähnen Regierungs- und Mediensprecher das zweitgrößte Attentat, das im Sommer München in Schrecken versetzte, gar nicht erst – war es doch ein Rechtsradikaler, der »nur« Türken ermordet hat. Diese Krise der Menschenrechte, die immer die Rechte der Anderen sind, ist, um im Sprachbild zu bleiben, das Ende vom Ende der Demokratie. EUROPA BRAUCHT EINE ECHTE LINKE OPPOSITION Mittlerweile hat die radikale Rechte ihre Chance ergriffen und den riesigen leeren Raum links von der Mitte besetzt. Ihr Siegeszug erklärt sich übrigens nicht aus einer Wählerwanderung der vormals linken Industriearbeiter der postindustrial towns nach rechts. Früher Kommunist, jetzt Front National ist ein übles Gerücht, das von der »Alt-Right«-Propaganda wirksam verbreitet und von den neokonservativen und neoliberalen Eliten und Medienkonzernen dankbar aufgegriffen worden ist. Wie Studien aus dem Rust Belt der USA und aus Frankreich zeigen, erklärt sich der Aufstieg der radikalen Rechten erstens aus der immer weiter sinkenden Wahlbeteiligung der abgestürzten ehemaligen Arbeiterklasse in den Städten und der hochmobilen urbanen Jugend, die überwiegend links eingestellt ist, aber kaum noch wählen geht. Trotzdem hat Hillary Clinton mit dem denkbar schlechtesten Wahlkampf in den Städten des Rust Belt eine überwältigende Mehrheit eingefahren. Gleichzeitig sind jedoch, zweitens, bei erstmals wieder steigender Wahlbeteiligung, die hoch sesshafte, überwiegend weiße Landbevölkerung des Rust Belt und die Arrivierten in den Einfamilienhäusern des nicht verelendeten Grüngürtels der Städte in großer Zahl von den Demokraten zu den Republikanern abgewandert.32 So oder so: Die politische Klasse reagiert auf die Herausforderungen von links und rechts asymmetrisch. Sie passt sich, und das gilt grosso modo für alle Parteien des Deutschen Bundestags, nach rechts an und schlägt nach links zu. Ihre oppositionslos-technokratische Herrschaft über den Kontinent kommt dem autoritären Liberalismus, der spätestens 2016 die Welt verändert hat, sehr nahe.33 Ob sich das in Zukunft ändert, bleibt abzuwarten.

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Europa — Analyse

31  Zum race to the bottom vgl. Hauke Brunkhorst, Für eine demokratische Neugründung Europas. Die »Flüchtlingskrise« als Rückkehr des Verdrängten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 9/2016, S. 63–74. 32  Siehe Rodden. Ä ­ hnliche Ergebnisse für Frankreich zusammengefasst und treffend analysiert im Leitartikel von Rudolf Walter, Vom Feuilleton verwurstet, in: die tageszeitung, 21.02.2017. Zum Wählerpotenzial des Front National und zu den Wählerwanderungen, die ihn stark gemacht haben: Sebastian Chwala, Der Front National. Geschichte, Programm, Politik und Wähler, Köln 2015, S. 88 ff. 33  Exemplarisch für Holland: Servaas Storm, Euroland: Will the Netherlands be the next domino to fall?, in: Institute for New Economic Thinking: Blog, URL: https://www.ineteconomics.org/perspectives/blog/ euroland-will-the-netherlandsbe-the-next-domino-to-fall [eingesehen am 21.02.2017].

Während die großen Koalitionen in Brüssel, Berlin, Amsterdam und Paris sich nach rechts anpassen und beide Partner gleichermaßen etwa in Wien aktuell heimlich alternative Bündnisspläne schmieden, reagieren sie auf jede politische Regung von links mit der unverhohlenen Härte der Hegemonialmacht. Die im Januar 2015 gewählte linke Regierung Griechenlands, die sich der Gängelung des Landes durch die Banken des Nordens widersetzte, wurde exemplarisch bestraft und gedemütigt.34 Anfang Juli 2015 drohte der Präsident der Zentralbank dem Land unverhohlen harte ökonomische Konsequenzen an, falls das griechische Parlament nicht noch in derselben Nacht die Gesetze beschlösse, die ihm von den »In34  Siehe Offe, Europa in der Falle.

stitutionen« – faktisch einer Art Besatzungsbehörde – diktiert wurden. Nur wenige Tage zuvor hatte Jean-Claude Juncker spät nachts in einer Hotellobby den Reportern von ARTE erklärt, eine Regierung, die so weit links stehe wie

35  Vgl. Jürgen Gerhards u. Holger Lengfeld, Wir, ein europäisches Volk? Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischen Bürger, Wiesbaden 2013; Lengfeld, Die Kosten der Hilfe. Europäische Fiskalkrise und die Bereitschaft zur Zahlung einer europäischen Solidaritätsteuer. Arbeitsberichte des Instituts für Soziologie der Universität Leipzig, Nr. 64 (Dezember 2014), URL: http://www. qucosa.de/fileadmin/data/qucosa/ documents/15811/64,lengfeld.pdf [eingesehen am 05.03.2017]. 36  Occupy Wall Street ist dafür ebenso ein Exempel wie die globale Ausbreitung der de-institutionalisierten Protestbewegungen in den Parks vieler großer Städte (vgl. Nachtwey). Aber auch Bernie Sanders’ völlig unerwarteter Erfolg im Zuge seiner Präsidentschaftskandidatur in den USA ist ein zumindest schwacher Indikator, dass für die Zusammenführung der disiecta membra von Sozial- und Kulturkritik auch ein Weg durch die Institutionen existiert.

die griechische, sei in der Eurozone weder wähl- noch denkbar. Vielleicht aber ist Donald Trump Europas letzte Chance. Mit ihm und seiner Partei, deren Phänomenologie an Kants »Volk von Teufeln« erinnert, kehrt die außenpolitische Krise, die in Europa Erinnerungen an die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts weckt, auf den Kontinent zurück. Plötzlich sieht sich der Kontinent im Zangengriff zwischen Russland und einer neuen, angelsächsischen Union der Mays, Johnsons, Trumps und Bannons. Nicht erst seit dem »Brexit« wächst das Solidaritätsbewusstsein der Europäer. Je mehr sie der politischen Klasse misstrauen, desto eher scheinen sie einander zu vertrauen.35 Das könnte uns Europäer vor die Alternative stellen, Kaczyn´skis riskantem Weg in die europäische Atommacht, den er Merkel vorgeschlagen, aber an Marine Le Pen adressiert hatte, zu folgen – oder doch noch die Idee eines sozialen Europa zu erneuern, um nicht nur zu retten, was noch zu retten ist, sondern stattdessen vielleicht zum ersten Mal die Errungenschaften der sozialen (vertikale Emanzipation) mit denen der kulturellen Moderne (horizontale Emanzipation) dauerhaft zusammenzuführen.36 Dazu aber bedürfte es einer wahrhaft demokratischen Regierung Europas, die stark genug wäre, der Erpressungsmacht des Kapitals und den Entscheidungsträgern im Weißen Haus, die Europa faktisch einen Handelskrieg erklärt haben, etwas anderes entgegenzusetzen als kleinlaute Marktkonformität. Ein Drittes wird es nicht geben.

Prof. Dr. Hauke Brunkhorst, geb. 1945, ist Professor für Soziologie an der Europa-Universität Flensburg. Letzte Buchveröffentlichung: Das doppelte Gesicht Europas – Zwischen Kapitalismus und ­Demokratie, Berlin 2014.

Hauke Brunkhorst  —  Europa am Abgrund

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»BREXIT« UND ANDERE KRISEN WELCHE ERKENNTNISSE LIEFERN UNS THEORIEN EUROPÄISCHER INTEGRATION? ΞΞ Marius Guderjan

Am 25. März 2017 feierten 27 Regierungschefs, dem Anlass entsprechend groß inszeniert, auf dem Kapitol in Rom den 60. Geburtstag der Römischen Verträge und damit des Bestehens der Europäischen Gemeinschaft. Kurz darauf, am 29. März, richtete die britische Premierministerin Theresa May einen Brief an Donald Tusk, den Präsidenten des Europäischen Rates, der unter Berufung auf Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union offiziell Großbritanniens Absicht erklärte, aus der Europäischen Union auszutreten. Laut Vertrag sind zwei Jahre vorgesehen, um die Austrittsverhandlungen abzuschließen; eine Verlängerung ist nur möglich, wenn alle Mitgliedsländer zustimmen.

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Der europäische Integrationsprozess ist seit den kräftezehrenden Verhandlungen, die zur Verabschiedung des ­Lissabon-Vertrages im Jahr 2007 geführt haben, ins Stocken geraten. Statt Visionen zur zukünftigen Gestaltung der gemeinsamen Beziehungen zu entwickeln und diese auch umzusetzen, befindet sich die EU in einem fortlaufenden Modus des Krisenmanagements. Seit 2008 halten die negativen Auswirkungen der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise an und stellen Staaten wie Griechenland, Irland, Italien, Portugal oder Spanien vor enorme soziale, wirtschaftliche und politische Herausforderungen. Folglich wird der Sinn einer Währungsunion vermehrt angezweifelt. Die Ein- und Durchreise mehrerer hunderttausend Menschen, vor allem aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Ländern des afrikanischen Kontinents, die 2015 ihren Höhepunkt fand, hat zudem klare Grenzen in der Zusammenarbeit der europäischen Länder aufgezeigt. Darüber hinaus fordern rechts-­autoritäre Regierungen in Ungarn und Polen die europäische Werte­ gemeinschaft heraus, und die Sicherheit der EU scheint durch internationalen Terrorismus sowie durch Nachbarstaaten wie Russland oder die Türkei bedroht. Bereits vor diesen Ereignissen ließen sich eine Renationalisierung staatlicher Interessen – besonders Deutschland hat sich hier zugunsten eigener Interessen umorientiert – und ein Aufkommen europaskeptischer Strömungen beobachten. Diese Entwicklungen haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt und wirken sich lähmend auf eine Weiterentwicklung der EU aus. Dem erwähnten Brief Mays an Tusk war in Großbritannien ein Referendum vorausgegangen, in dem am 23. Juni 2016 knapp 52 Prozent der Wählerinnen und Wähler für den Austritt aus der EU stimmten. Der »Brexit« wird sich wahrscheinlich nicht nur allein auf Großbritannien negativ auswirken, sondern stellt auch für die EU ein Desaster dar.1 Obwohl ein Wahlsieg des Europa-Gegners Geert Wilders und seiner Partei für Freiheit in den Niederlanden verhindert werden konnte und Marie Le Pen als Kandidatin des Front National bei den Präsidentschaftswahlen 1  Vgl. Martin Rhodes, Brexit – A Disaster for Britain and for the European Union, in: Hubert Zimmermann u. Andreas Dür (Hg.), Key Controversies in European Integration, London 2016, S. 252–258.

unterlag, haben sie zusammen mit den gleichgesinnten Formationen AfD, FPÖ, UKIP und Co. den europapolitischen Diskurs bereits nachhaltig geprägt.

Der »­Brexit« könnte nun anderen EU-Ländern als Vorbild dienen, es Großbritannien entweder gleich zu tun oder wenigstens günstigere Mitgliedschaftsbedingungen für sich auszuhandeln, wenn nicht gar zu erpressen. Dieser Marius Guderjan  —  »Brexit« und andere Krisen

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Beitrag soll daher erörtern, wie aus der Sicht gängiger Theorien europäischer Integration die augenscheinliche Integrationskrise und das anstehende Ausscheiden eines gewichtigen Mitgliedstaates zu bewerten sind. THEORIEN EUROPÄISCHER INTEGRATION Europäische Integration umschreibt im Allgemeinen die Entwicklung wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen Mitgliedstaaten und Institutionen der EU im Rahmen eines gemeinsamen Regierungssystems. Theorien europäischer Integration befassen sich demzufolge mit der Bildung und der Ausgestaltung gemeinschaftlicher Institutionen, Regeln und Politiken, um Aussagen über zukünftige Entwicklungen und Entscheidungen treffen zu können. Sie dienen nicht nur der Ursachenforschung, sondern versuchen überdies, die Natur des politischen Systems und zunehmend auch die damit einhergehenden sozialen und politischen Auswirkungen zu erfassen.2 Somit stellen Integrationstheorien einen Zusammenhang zwischen der Ausbildung eines neuen politischen Systems und den transformativen Entwicklungen in seinen Mitgliedstaaten her.3 Traditionell lassen sich die verschiedenen Ansätze zur Analyse europäischer Integration in zwei Lager teilen: die Intergouvernementalisten, die davon ausgehen, dass vornehmlich nationale Regierungen über den Werdegang der EU bestimmen; und die Supranationalisten, für die der Integrationsprozess eine Eigendynamik entwickelt hat, die maßgeblich außerhalb nationaler Kontrolle liegt. Beide Lager bieten in sich stimmige Erklärungsansätze; doch lässt sich weder die eine noch die andere Position durch reale Gegebenheiten vollständig bestätigen. Zudem haben sich mittlerweile neuere theoretische Ansätze etabliert, die sich mit der Rolle von nationalen Identitäten und der innerstaatlichen Politisierung des Integrationsprozesses befassen. Daher ist eine Kombination verschiedener Ansätze besser geeignet, den realen Gegebenheiten auf den Grund zu gehen, als sich exklusiv auf eine Denkrichtung zu beschränken. Die folgenden Ausführungen reflektieren die Relevanz intergouvernementalistischer, neo-funktionalistischer und post-funktionalistischer Integrationstheorien im Kontext der jüngsten Krisen und des neuartigen Falles eines EU-Austritts. Auch wenn die EU oft auf ihre föderalen Merkmale hin untersucht wird und ein föderaler Superstaat von namhaften Vordenkern propagiert worden ist – nicht zuletzt von Jean Monnet, Altiero Spinnelli und

2  Vgl. Antje Wiener u. Thomas Diez, European Integration Theory, Oxford 2009.

Joschka Fischer –, sieht dieser Beitrag davon ab, ein föderales Erklärungsmodell zu erörtern. Der kritische Stand des aktuellen Integrationsprozesses und der »Brexit« scheinen föderale Thesen eher zu widerlegen – bis hin zu

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Europa — Analyse

3  Vgl. Dimitris N. Chryssochoou, Theorizing European Integration, London 2001, S. 11.

Überlegungen, die davon ausgehen, die EU ähnele umso weniger einer Föderation, je weiter der Integrationsprozess voranschreite.4 4  Gründe hierfür seien institutionelle, territoriale und politische Fragmentierung und Differenzierung; vgl. Phillip Genschel u. Markus Jachtenfuchs, More integration, less federation: The European integration of core state powers, in: Journal of European Public Policy, Jg. 23 (2016), H. 1, S. 42–59. 5  Vgl. Alex Stone Sweet u. Wayne Sandholz, Integration, Supranational Governance, and the Institutionalization of the European Polity, in: Brent F. Nelsen u. Alexander Stubb (Hg.), The European Union – Readings on the Theory and Practice of European Integration, ­Basingstoke 2015, S. 229–249, hier S. 232. 6  Vgl. Andrew Moravcsik, The Choice for Europe, in: ebd., S. 215–228, hier S. 219. 7  Hierzu Christopher J. Bickerton u. a., The New Intergovernmentalism: European Integration in the Post-Maastricht Era, in: Journal of Common Market Studies, Jg. 53 (2015), H. 4, S. 32–47. 8  Der Vertrag über ­ tabilität, Koordinierung und S Steuerung in der Wirtschaftsund Währungsunion.

EINE INTERGOUVERNEMENTALE PERSPEKTIVE Die Entscheidung, der Union den Rücken zu kehren, bestätigt zunächst intergouvernementalistische Erwartungen, wonach Mitgliedstaaten souverän ihr eigenes Schicksal lenken. Regierungen können sich der Integrationslogik widersetzen und im Extremfall aus der Gemeinschaft austreten, falls diese auf fundamentale Weise den eigenen Interessen entgegensteht.5 Die EU ist demnach weder der Auswuchs einer föderalen Vision noch das Produkt unkontrollierbarer Dynamiken, sondern sie spiegelt den Willen nationaler Regierungen wider, die sich von wirtschaftlichen Interessen, internationalen Machtverhältnissen und bestehenden Verpflichtungen leiten lassen.6 Vertreter des New Intergovernmentalism7 betonen außerdem, dass seit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht erhebliche wirtschaftliche, finanzielle und diplomatische Kompetenzen auf die europäische Ebene verlagert worden seien, die sich supranationalen Gemeinschaftsverfahren ent­ zögen. Demnach erkennen Mitgliedstaaten zwar den Mehrwert gemeinsamen Handels an, sind aber nur unter Vorbehalt bereit, weitere Hoheitsrechte an supranationale Institutionen abzugeben. Folglich gewinnen unverbindlichere intergouvernementale Entscheidungsverfahren und Koordinationsmechanismen an Bedeutung, in denen der Europäische Rat und der Ministerrat eine zentrale Stellung einnehmen. Wegweisende Maßnahmen wurden während der Eurokrise vom Europäischen Rat beschlossen, auch die Rettung Griechenlands wurde in informellen Treffen der Euro-Gruppe verhandelt. So tragen der Europäische Fiskalpakt8 und der Europäische Stabilitätsmechanismus deutlich intergouvernementale Züge.9 Der Ausbau intergouvernementaler Entscheidungsfindungsprozesse fördert die hegemoniale Stellung starker Mitgliedstaaten, allen voran der Bun-

9  Auch Uwe Puetter, The New Intergovernmentalism – the Next Phase in European Integration, in: Hubert Zimmermann u. Andreas Dür (Hg.), Key Controversies in European Integration, London 2016, S. 55–63. 10  Vgl. Frank Schimmelfennig, What’s the News in ›New Intergovernmentalism‹? A Critique of Bickerton, Hodson and Puetter, in: Journal of Common Market Studies, Jg. 53 (2015), H. 4, S. 723–730.

desrepublik. Dennoch lassen sich Argumente ins Feld führen, die einer intergouvernementalistischen Leseart widersprechen. Auch wenn nationale Regierungen weiterhin sensible und prägende Entscheidungen dominieren und dabei nicht an supranationale Abstimmungsverfahren gebunden sind, bringen sie gemeinsam verpflichtende Beschlüsse hervor. Die Kommission mag, zumindest was das aktuelle Krisenmanagement betrifft, an Bedeutung verloren haben; dafür wurde jedoch die EZB mit Kompetenzen ausgestattet, die ehemals in nationalstaatlicher Zuständigkeit lagen.10 Der »Brexit« wiederum bestätigt die intergouvernementalistische Perspektive. Schon während des Referendums wurde eine Vielzahl von Gründen Marius Guderjan  —  »Brexit« und andere Krisen

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angeführt, weshalb das Vereinigte Königreich im Falle eines Austrittes günstige oder ungünstige Konditionen zu erwarten habe. Brexiteers sehnen sich nach Unabhängigkeit und werben damit, die »Ketten der Brüsseler Tyrannei zu sprengen«, um endlich wieder einst verlorengegangene Entscheidungsbefugnisse zurückzuerlangen. So träumt die britische Regierung u. a. von der baldigen Freiheit, neue Wirtschaftsbündnisse zu schließen, vornehmlich mit den USA und den Ländern des Commonwealth. Die hierfür notwendigen Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU sowie die daraus folgenden Beschlüsse werden unter intensiver Mitwirkung aller Mitgliedstaaten geführt. François Hollande, Angela Merkel und Donald Tusk haben bereits angekündigt, kein neues Handelsabkommen auf den Weg zu bringen, solange keine Klarheit über Großbritanniens Austrittsbedingungen herrscht. Am Ende der zweijährigen Auseinandersetzung müssen 27 nationale und diverse regionale Parlamente einem neuen Abkommen zustimmen, sonst droht 2019 ein abruptes Ende der bestehenden Handelsvereinbarungen. Dabei werden die politischen und wirtschaftlichen Interessen einflussreicher Länder und deren wechselseitige Abhängigkeiten sowohl die multilateralen als auch die bilateralen Beziehungen prägen. Reformen der Vertragsarchitektur, Krisenbewältigung und Erweiterungsrunden der EU – in diesem besonderen Fall eine »Verkleinerungsrunde« – bleiben weiterhin in der Hand der Mitgliedstaaten. EINE NEO-FUNKTIONALISTISCHE PERSPEKTIVE Welche Erkenntnisse bietet uns hingegen eine neo-funktionalistische Betrachtungsweise angesichts der jüngsten Entwicklungen? Maßgeblich auf den Ideen von Ernst Haas11 aufbauend, geht dieser Ansatz davon aus, dass sich die Zuständigkeitsbereiche der EU kontinuierlich aus einer funktionalen Notwendigkeit – einem funktionalen Spillover – heraus erweitern, sich aber nicht automatisch vollziehen, sondern von nationalen und supranationalen Akteuren befördert werden müssten. Erstere würden ihre Erwartungen und Loyalitäten im Zuge politischer Opportunitätserwägungen (politischer Spillover) der EU anpassen, während gleichzeitig supranationale Akteure ihre eigenen Ambitionen und Tätigkeitsfelder ausdehnten (kultivierter Spillover). Die unvorhergesehenen Konsequenzen, die supranationale Institutionen mit sich bringen, führten sodann zu einem zunehmenden Kontrollverlust der Mitgliedstaaten.12 Staaten würden de facto souverän bleiben, doch die wachsende Bedeutung transnationaler Beziehungen beschränke nationale Handlungsspielräume und erhöhe die Kosten für Alleingänge. Regierungen würden daher ihre Aktivitäten allmählich den europäischen Gegebenheiten

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Europa — Analyse

11  Siehe Ernst B. Haas, The Uniting of Europe: Political, Social, and Economic Forces, 1950–1957, Stanford 1958. 12 

Vgl. Wiener u. Diez, S. 10.

anpassen und dabei ihre autonomen Befugnisse stückweise aufgeben.13 Demensprechend habe sich ein Trend entwickelt, der auf die sukzessive Überführung der übertragenen Kompetenzen von intergouvernementalen in supranationale Verfahren hinauslaufe. In der Tat sind seit Anfang der 1990er Jahre die Kompetenzen der EU, etwa im Bereich des Binnenmarktes, stetig angewachsen und erlauben der Kommission, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten maßgeblich zu flankieren. Im selben Zeitraum wuchsen aufgrund des gemeinsamen Kapitalmarkts europäische Banken in einem Ausmaß, das die finanziellen Rettungskapazitäten einzelner Länder in Zeiten finanzieller Krisen längst übersteigt. Um der Eurokrise entgegenzuwirken, wurde von der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank das Konzept einer Bankenunion ausgearbeitet, welche die Bankenaufsicht von der nationalen auf die europäische Ebene überführt hat, womit sich die neo-funktionalistische Spillover-Logik bestätigt.14 Damit einhergehend wurden 2010 die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität ( EFSF) und 2012 der daraus folgende Europäische Stabilitätsmechanismus ( ESM) mit einer permanenten Kapitaleinlage der EuroStaaten ausgestattet, aus welcher diesen im Bedarfsfall bis zu 500 Millionen Euro bereitgestellt werden können. Im Gegenzug werden seither die öffentlichen Haushalte potenzieller Empfängerländer von der EU beaufsichtigt und bei Verstoß gegen die gemeinsamen Defizitauflagen quasi-automatisch sanktioniert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Zuge der Eurokrise finanzielle Kernbereiche nationaler Souveränität innerhalb der Eurozone in einem zuvor ungekannten Umfang auf der europäischen Ebene integriert worden sind.15 Auch der »Brexit« verdeutlicht die unvorhersehbaren Konsequenzen europäischer Integration, die tief in die Mitgliedstaaten hineinwirken. Die Auflösung der bestehenden Beziehungen stellt sowohl das antragsstellende 13 

Vgl. Sweet u. Sandholz.

14  Vgl. Derek Beach, A stronger, more supranational Union, in: Hubert Zimmermann u. Andreas Dür (Hg.), Key Controversies in European Integration, London 2016, S. 46–55, hier S. 46 ff.

Land als auch die Gemeinschaft vor eine komplexe Herausforderung, deren Ausgang noch unklar ist. Bislang ist fraglich, wie viel von der angestrebten Kontrolle die britische Regierung tatsächlich wiedererlangen kann – und zu welchem Preis. Seitens der EU wurde bereits angekündigt, Großbritannien eine abschließende Austrittsrechnung in Höhe von vierzig bis sechzig Milliarden Euro zu stellen, die sich aus ausstehenden Beitragszahlungen des bis 2020 geltenden mehrjährigen Finanzrahmens, Investitionszusagen und

15  Vgl. Frank Schimmelfennig, European Integration in the Euro Crisis: The Limits of Postfunctionalism, in: Journal of European Integration, Jg. 36 (2014), H. 3, S. 321–337, hier S. 325 ff.

weiteren personellen Ansprüchen zusammensetzt. Hinzu kommen weitere Kosten für die notwendigen Staatsbediensteten und Agenturen, die Aufgaben übernehmen, die bislang von europäischen Beamten übernommen worden sind. Marius Guderjan  —  »Brexit« und andere Krisen

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Großbritannien will einen möglichst barrierefreien Zugang zum gemeinsamen Markt, sich zugleich aber weitestgehend der Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs entziehen und die Niederlassungsfreiheit einschränken – beides fundamentale Bestandteile des europäischen Binnenmarktes. Diese Ziele lassen sich aus funktionalen Zwängen heraus kaum in Einklang bringen. Denn damit einheitliche Handels-, Arbeits- und Produktstandards festgelegt, überwacht und vollzogen werden können, bedarf es einer gemeinsamen und bindenden Rechtsprechung. Dringlich sind diese Anliegen nicht nur für international agierende Unternehmen, sondern besonders für im Königreich lebende EU-Bürgerinnen und -Bürger, britische Auswanderinnen und Auswanderer auf dem europäischen Festland und insbesondere für die Bewohnerinnen und Bewohner der irischen Insel. Ein »Great Repeal Act« soll den »European Communities Act« aus dem Jahr 1972 ersetzen und die Gesamtheit des gültigen EU-Rechts, die Acquis Communautaire, in britisches Recht überführen, womit die Wirkung europäischer Gesetzgebung zunächst nicht aufgehoben würde. Obwohl die britische Regierung einen hard Brexit anstrebt, ist aber noch unklar, welche Gestalt die wirtschaftlichen und politischen Vereinbarungen annehmen werden. Dennoch dürfte davon auszugehen sein, dass sich die Auswirkungen vergangener und zukünftiger funktionaler Verflechtungen nicht gänzlich lösen lassen und auch weiterhin mit Verpflichtungen für Großbritannien verbunden sein werden. Das würde zumindest die funktionale Spillover-Logik bestätigen – wobei betont werden muss, dass SpilloverEffekte keine Automatismen sind. Unter bestimmten Bedingungen bauen Mitgliedstaaten ihre gegenseitigen Verpflichtungen aus – zum Beispiel um einer politischen Krise zu begegnen –; sie sind aber auch in der Lage, zurückliegende Entscheidungen zu revidieren und sich aus den gemeinschaftlichen Verpflichtungen zurückzuziehen.16 Nichtsdestotrotz lassen sich auch politische und kultivierte Spillover belegen. Bisher haben sich die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten deutlich zum europäischen Projekt bekannt – nicht zuletzt beim Jubiläum der Römischen Verträge – und sich für eine geschlossene Position gegenüber Großbritannien ausgesprochen. Doch obliegt es nicht allein den nationalen Regierungen, die neuen Beziehungen zu gestalten. Der Europäische Rat wird zwar die richtunggebenden Positionen einstimmig beschließen; und dem Ministerrat kommt eine Schlüsselrolle in den darauffolgenden Verhandlungen zu. Beide Institutionen sind aber auf das technische und rechtliche Wissen sowie auf die personellen Ressourcen der Europäischen Kommission angewiesen, die den Großteil der Stellungnahmen und Beschlüsse ausarbeiten wird. Der

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Europa — Analyse

16  Vgl. Phillipe C. Schmitter, Neo-Functionalism, in: Antje Wiener u. Thomas Diez, European Integration Theory, Oxford 2009, S. 45–73, hier S. 57.

Chefunterhändler der Kommission, Michel Barnier, ein ehemaliger französischer Außenminister, wird zumindest in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen eine entscheidende Rolle spielen. Schließlich: Obwohl das Europäische Parlament an diesem Verfahren eher marginal beteiligt sein wird, muss das finale Austrittsabkommen letztlich von seinen Mitgliedern verabschiedet werden; und es hat bereits seine Bedingungen für eine Zustimmung veröffentlicht, in denen es vor allem um die Rechte der EU-Bürgerinnen und -Bürger sowie um die Einhaltung bestehender Verpflichtungen geht. EINE POST-FUNKTIONALISTISCHE PERSPEKTIVE Intergouvernementalistische und neo-funktionalistische Perspektiven stellen nationale und europäische Eliten ins Zentrum ihrer Erklärungsmodelle. Um die Ursachen hinter dem Aufkommen anti-europäischer Bewegungen zu erklären, die im äußersten Fall zum Austritt eines Landes führen können, bedarf es jedoch Ansätzen, die sich mit der innerstaatlichen Politisierung europäischer Integration beschäftigen.17 Liesbet Hooghe und Gary Marks18 führen eine post-funktionalistische Sichtweise ins Feld, die uns hilft, das Wechselspiel inner- und außenpolitischer Dynamiken besser zu verstehen, und die über eine utilitaristische Analyse hinausgeht, indem sie die Überlagerungen nationaler und internationaler Identitäten in den Vordergrund rückt.19 In der Vergangenheit hatte das Thema »Europa« kaum Relevanz im nationalen Parteienwettstreit und nur geringen Einfluss auf das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger. Dieser Zustand hat sich indes in den letzten 15 Jahren geändert. Dies hat sich auch in einer Reihe von Referenden in Dänemark, 17  Vgl. Hanspeter Kriesi, The Politicization of European Integration, in: Journal of Common Market Studies, Annual Review 2016, S. 703–722.

Frankreich, Irland, den Niederlanden und Großbritannien gezeigt, in denen die Wählerinnen und Wähler vermeintlich gegen die EU gestimmt haben. Die Politisierung Europas ist dabei am stärksten in Ländern ausgeprägt, in denen traditionalistische und nationalistische Populisten erfolgreich im innerstaatlichen Parteienwettbewerb mitwirken, ebenso dort, wo sich die

18  Siehe Liesbet Hooghe u. Gary Marks, A Postfunctionalist Theory of European Integration: From Permissive Consensus to Constraining Dissensus, in: British Journal of Political Science, Jg. 39 (2009), H. 1, S. 1–23. 19 

Siehe auch Sara B. Hobolt, Ever closer or ever wider? Public attitudes towards further enlargement and integration in the European Union, in: Journal of European Public Policy, Jg. 21 (2014), H. 5, S. 664–680.

meisten Menschen trotz einer tiefgreifenden Transnationalisierung primär mit ihrem Herkunftsland und nicht mit Europa identifizieren. Besonders diejenigen, die sich exklusiv ihrer nationalen Identität verschreiben und andere Zugehörigkeiten ablehnen, lassen sich schwerlich von einem europäischen Gemeinschaftsgefühl vereinnahmen. Polarisierende Politiker nutzen diesen Umstand für sich und machen die EU für soziale Ungleichheiten und Spannungen verantwortlich, die angeblich durch den Verlust nationaler Souveränität – vor allem über Einwanderungspolitik und Grenzkontrollen – verursacht würden. Anstatt sich deutlich zu Europa zu bekennen, schrecken etablierte Parteien angesichts dessen häufig davor zurück, den Integrationsprozess Marius Guderjan  —  »Brexit« und andere Krisen

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aktiv zu propagieren und zu gestalten, weshalb ambitionierte Vorhaben keine Mehrheiten finden.20 Auch der britische Euroskeptizismus ist kein neues Phänomen, sondern mindestens so alt wie die bald endende Mitgliedschaft Großbritanniens selbst – wobei hier die 48 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die für einen Verbleib gestimmt haben, nicht vergessen werden sollten. Dennoch konnte selbst die pro-europäische Labour-Regierung unter Tony Blair sich nie dazu durchringen, sich innenpolitisch für die EU starkzumachen. Um negative Schlagzeilen der mächtigen, anti-europäischen Boulevardpresse zu vermeiden, halten sich selbst europafreundlich gesinnte Politiker im Vereinigten Königreich oft bedeckt. So hatte auch David Cameron, der den Nutzen der EU zumindest aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten nie wirklich anzweifelte, gehofft, die europaskeptischen Hardliner innerhalb seiner Partei würden nach genügend Zugeständnissen mit ihrem banging on about Europe aufhören. Leider verkalkulierte er sich und initiierte ein Referendum, das er verlor und das ihn daraufhin das Amt des Premierministers kostete. Noch kurz zuvor hatte er der Union ein paar halbgare Ausnahmeregelungen für Großbritannien abringen können; doch ist sehr fraglich, inwieweit es den »Brexit«-Befürwortern tatsächlich um die EU selbst ging. Neben der Abschaffung der Fremdbestimmung durch die EU haben die EU-­Gegner, allen voran die UK Independence Party ( UKIP), für ihr großes Ziel mit einer einwanderungsfeindlichen Kampagne geworben. »Osteuropäische Einwanderer und Flüchtlinge bedrohen die britische Kultur, nehmen Arbeitsplätze weg und nutzen das Sozialsystems aus«, so der Tenor. Zudem bot sich manchem (nicht zu Unrecht) frustrierten Wähler bzw. mancher frustrierter Wählerin durch das Referendum die einmalige Möglichkeit, den politischen Eliten in Großbritannien und Europa eins auszuwischen. Der »Brexit« zeigt damit deutlich, wie emotionale, symbolische und identitätsgebundene Konflikte zu einer Renationalisierung der Europapolitik führen und die Handlungsstrategien einzelner Länder und der Gemeinschaft auch in Zukunft bestimmen könnten. Auch wenn viele Entscheidungen abseits der Öffentlichkeit verhandelt werden: Die Auflösung und die Neustrukturierung der Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien sind für den Zusammenhalt der EU von großer symbolischer Bedeutung. Daher werden die europäischen Verhandlungsführer alle Anstrengungen unternehmen, damit der »Brexit« anti-europäischen Bewegungen nicht als Vorbild, sondern als Abschreckung dient. Vielleicht gilt auch für eine post-funktionalistische Sichtweise: In Krisenzeiten wächst die Gemeinschaft zusammen und eine europäische Identität gewinnt

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20  Hooghe u. Marks nennen dies einen constaining dissensus: »[…] the mobilization of exclusive national identity among mass publics is likely to raise the heat of debate, narrow the substantive ground of possible agreement and make key actors, including particularly national governments, less willing to compromise. Several observers have noted an intensification of national stubborness in European negotiations. As European multi-level governance has become more closely coupled, so leaders have less room to manoevre.« Dies., S. 22.

an Bedeutung. Immerhin hat die EU in europaweiten Umfragen nach dem britischen Referendum wieder an Zustimmung gewonnen.21 FAZIT Die Reflektion von Integrationstheorien wird im Laufe der nächsten zwei »Brexit«-Verhandlungsjahre und darüber hinaus ein spannendes Unterfangen bleiben. Wo der Intergouvernementalismus die Rolle der nationalen Regierungen in der Gestaltung der zukünftigen Beziehungen hervorhebt, kann sich der Neo-Funktionalismus zugutehalten, dass Großbritannien weiterhin funktional mit der EU verflochten sein wird und die europäischen Institutionen ihren Teil dazu in den Verhandlungen beitragen werden. Selbst der intergouvernementalistische Vordenker Andrew Moravcsik hat in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung ausgeführt, er glaube »nicht, dass die Briten die Union wirklich verlassen werden. Wie auch immer das Arrangement mit der EU am Ende aussehen wird: London will etwa 95 Prozent des Bestehenden beibehalten […]. Es ist fast lustig, was uns der Brexit lehrt: Die Europäische Union ist so wichtig – selbst wenn die EU-Staaten sie auflösen wollten, wä21  Siehe etwa Isabell Hoffmann, Brexit lässt die Zustimmung zur Europäischen Union deutlich steigen, in: Bertelsmann Stiftung, flashlight europe, 21.11.2016, URL: https:// www.bertelsmann-stiftung.de/ fileadmin/files/user_upload/ EZ_flashlight_europe_DT.pdf [eingesehen am 03.04.2017]. 22  Andrew Moravcsik zit. nach Thomas Kirchner (Interview mit Andrew Moravcsik): »Die EU wird traditionell unterschätzt«, in Süddeutsche Zeitung, 29.03.2017, URL: http://www. sueddeutsche.de/politik/andrewmoravcsik-die-eu-wird-traditionell-unterschaetzt-1.3439644 [eingesehen am 03.04.2017]. 23  Vgl. Schimmelfennig, European Integration.

ren sie gezwungen, sie wieder zu gründen.«22 Richtungsweisende Entscheidungen und Reformen werden seit jeher zwischen nationalen Regierungen verhandelt und hängen insbesondere in Zeiten der Krise von den Mitgliedstaaten ab. Doch die Krisenbewältigung trägt ebenfalls neo-funktionalistische Züge, da Entscheidungen entpolitisiert und aus dem öffentlichen Streit herausgehalten wurden, wodurch u. a. Referenden vermieden werden konnten.23 Lange Zeit galt das Narrativ des europäischen Erfolgsmodells, das einen ehemals von Kriegen geprägten Kontinent auf beeindruckende Weise über Jahrzehnte hinweg vereinte. Aktuelle Krisen und der »Brexit« stellen diese Deutung infrage, teilweise zu Recht, teilweise zu Unrecht. Im Sinne einer post-funktionalistischen Betrachtung hängen weitere integrative Schritte mehr denn je von der Unterstützung der europäischen Bürgerinnen und Bürger ab. Wie diese weiterhin gesichert werden kann, um die Daseinsberechtigung der EU zu erhalten und den gemeinsamen Herausforderungen zu begegnen, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Dr. Marius Guderjan, geb. 1982, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich Politik am Großbritannien-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises Deutsche Englandforschung (ADEF) und hat 2016 »The Future of the UK: Between Internal and External Divisions« herausgegeben.

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INTERVIEW

»SCHLUSS MIT DER ­KLASSENGESELLSCHAFT!« ΞΞ Ein Gespräch mit Kardinal Reinhard Marx über die Substanz der christlichen Botschaft und ihren Beitrag zur Lösung der europäischen Identitätskrise

Herr Kardinal Reinhard Marx, wir befinden uns inmitten des Lutherjahres 2017, in dessen Zentrum die 500-Jahr-Feier der Reformation steht. Was für die Evangelische Kirche ein Hochamt darstellt, ist für die Katholiken eher kein Anlass zum Feiern, sondern die wiederkehrende Erinnerung an ein traumatisches Spaltungsereignis. Dennoch beteiligt sich die Katholische Kirche an den Feierlichkeiten. Wie begründen Sie diese Haltung der Katholischen Kirche, auch theologisch? Ich würde zunächst unterscheiden wollen zwischen dem Feiern und dem Gedenken der Reformation. Ich bin sehr froh darüber, dass die Evangelische Kirche uns eingeladen hat, das Reformationsgedenken gemeinsam zu gestalten. Zum ersten Mal wurde im Rahmen einer Jubiläumsfeier der Reformation ein besonderer Akzent auf die Ökumene gesetzt, statt, wie historisch üblich, diesen Anlass als Abgrenzung gegen den Anderen inklusive direkter Schuldzuweisungen zu zelebrieren. Man kann die Reformation und das, was in der Reformation auf beiden Seiten in einem ständigen Wechsel von Aktion und Reaktion geschehen ist, nicht einfach auf die Gestalt Martin Luthers und die Spaltung der Kirche reduzieren. Die Reformation ist vielmehr ein vielschichtiges europäisches Ereignis, ein Weltereignis, das bis heute nachwirkt. Schließlich ist im Zuge der Auseinandersetzungen ab 1517 vieles in Gang gekommen, was Europa im Gesamten und Deutschland im Besonderen geprägt hat. Dies gilt nicht nur für religiöse Veränderungen, sondern weiterwirkend bis in die Gegenwart auch für das gesellschaftliche Feld. Und dies betrifft natürlich auch die Katholische Kirche. Wir können uns selbst, als Katholische Kirche, gar nicht verstehen ohne die Reformationsepoche, ohne die damaligen Ereignisse und Auseinandersetzungen. Das auf die Reformation folgende Zeitalter der Konfessionalisierung umfasst viele Jahre bitterer Erfahrungen für beide Seiten, die Europa zutiefst gespalten und in etliche verheerende Kriege

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geführt haben. Der Umgang beider Konfessionen mit dem, was auf die Reformation folgte, macht heute ein gemeinsames Gedenken unumgänglich. Das ökumenische Reformationsgedenken ist also ein zwangsläufiges Resultat der interkonfessionellen Konfliktgeschichte? Zwangsläufig ist historisch gar nichts, der geschichtliche Verlauf ist vielmehr grundsätzlich offen. Wir haben manchmal – falsch verstanden – hegelianisch im Kopf: Was sich durchsetzt, ist im Recht. Die Geschichte musste so verlaufen, wie sie verlaufen ist. Das stimmt so ja nicht! Möglich scheint mir etwa – ein sicherlich kühner Gedanke –, dass im Herbst des Mittelalters, im Heraufkommen der Renaissance, der Keim der Veränderung bereits im Aufgehen begriffen war, dass jedenfalls das gesamte Abendland vor einem Aufbruch stand, dessen Weiterführung durch die der Reformation folgenden Verwerfungen nicht mehr gemeinsam gelingen konnte, sondern nur in Abgrenzung zueinander, was letztlich zu einer Verengung auf beiden Seiten geführt hat. Diese Verengung und Pauschalisierung, etwa dergestalt: Die Katholische Kirche hatte ein Problem, Luther hat es gelöst und die Katholische Kirche hat es bis heute nicht begriffen, die ist, das lässt sich 500 Jahre nach der Reformation heute auf der Habenseite festhalten, Gott sei Dank Geschichte. Anstelle dieser sehr einfachen Schablonen, die sowohl an die Gestalt Martin Luthers wie auch an die Ereignisse der Reformation angelegt worden sind, wird heute viel tiefer geschaut, was hier wirklich geschehen ist. Und, ganz wichtig, was vielleicht besser hätte nicht geschehen sollen, was stattdessen auch hätte passieren können, eben eine Weitung und Vertiefung des Christentums auf einen christlichen Humanismus hin. So viel Neubesinnung und daraus folgende Einigkeit ruft natürlich auch Kritiker auf den Plan, die in der Betonung der Einigkeit andererseits einen Mangel an notwendiger Differenz erkennen und eine Anbiederung an eine womöglich dem Zeitgeist näher stehende Evangelische Kirche fürchten. Wäre statt ökumenischer Einheitssoße nicht mehr Abstand vonnöten – auch weil durch Abgrenzung die eigene Bedeutung, der Eigen-Sinn und damit letztlich auch die institutionelle Bestandslegitimation betont werden? Es kann nicht darum gehen, eine Einheitssoße über irgendetwas zu gießen. Und wenn die persönliche Beziehung zwischen den beiden formal höchsten Amtsträgern in Deutschland eine gute ist, bedeutet das nicht, dass Heinrich Bedford-Strohm katholisch oder ich evangelisch geworden wäre. Wir haben kein Bild von Ökumene, an dessen Ende die eine uniforme Einheitskirche steht. Schon die Katholische Kirche selbst kennt ja vielfältigste Riten, Kardinal Reinhard Marx  —  »Schluss mit der K­ lassengesellschaft!«

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Liturgien und Traditionen. Da gibt es eine natürlich gewachsene und lange eingeübte Pluralität. Wir haben etwa die lateinischen Kirchen, und wir haben die unierten Kirchen. Wir haben eine weltkirchliche Situation, die eine Fülle von ­Liturgien, theologischem Denken und Frömmigkeitsstilen pflegt. Denken Sie allein an die speziellen Vorstellungen von Frömmigkeit und religiösem Leben in den verschiedenen Ordensgemeinschaften. Zugleich kann und darf Ökumene nie bedeuten, alles über einen Leisten zu schlagen, nach Meinungsumfragen oder nur im Blick auf andere weltliche Interventionen zu agieren. Das heißt, dass die Katholische Kirche ihren eigenen Traditionen treu bleiben soll … … und ihren eigenen Weg beschreitet. Aber wichtig ist auch, dass man nicht in der Tradition, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, verhärtet, sondern das eigene Denken und Handeln beständig entlang dem Kern des Glaubens, dem Kern des Evangeliums, neu justiert und öffnet für das Wirken des Geistes. Zur Verkündigung des Evangeliums gehört schließlich auch dazu, die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten. Entscheidend ist in meinen Augen die Gestalt Jesu von Nazareth. Was macht sein Handeln aus, was sind seine Worte, wie können wir uns an ihm orientieren? Das ist der Punkt, der nicht verhandelbar ist. Über das Christusereignis müssen wir uns immer neu vergewissern. Andere Traditionen, etwa im Kirchenrecht, der Liturgie und des spirituellen Lebens, verändern sich stärker in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen. Wenn aber im Jahr 500 der Kirchenspaltung nicht zusammenwachsen soll, was einst zusammengehörte, wenn die alte protestantische Abspaltung mehr ist als nur ein Flügel einer, wie Sie es sagten, vielfältigen Katholischen Kirche: Müsste dann nicht jenseits der Ökumenebestrebungen, der Abrüstung von Streitigkeiten und der herausgestellten Fähigkeit, aufeinander zuzugehen, die eigene katholische Identität sichtbarer herausgestellt werden, gerade in einer Zeit europaweiter Säkularisierung? Weil es um die Zukunft und die öffentliche Rolle der Katholischen Kirche dann, wenn alles verwischt und verschwimmt, ja beliebig erscheint, schlecht bestellt sein dürfte? Das klingt jetzt fast nach einer Marketingstrategie. Ich sehe das nicht als die drängendste Frage an. Das Christentum und mit ihm die christlichen Kirchen sind ja nicht einfach zu verstehen als religiöse Vereine, die sich über Rekrutierungserfolge definieren würden. Vielmehr müssen wir uns fragen: Was ist unser Auftrag, was unsere Sendung? Die Antwort jedenfalls kann nicht lauten: Um die Spaltung der christlichen Kirche zu beenden, sollten

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wir zuvorderst versuchen, uns im Stile von Koalitionsverhandlungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu verständigen. Die Kirchen sind keine politischen Parteien, die wechselseitig ausreichend verzichtbare Verhandlungsmasse vorhalten, die dann einen Kompromiss ermöglicht. Wenn es also eine Einheit oder eine größere Einheit geben soll, dann kann diese nur in einem gemeinsamen Weg auf Christus zu bestehen. Das heißt, gemeinsam das zu tun, was Sie einfordern, die eigene Identität, das charakteristisch Christliche in diese Gemeinschaft hineinzutragen. Die drängendste Frage dabei ist: Was ist unsere christliche Botschaft, die wir in die säkulare, plurale, offene Gesellschaft hineingeben, in der wir leben? Trotz der bestehenden Unterschiede, etwa im sakramentalen Leben, sollten wir diese Botschaft nicht gegeneinander, sondern gemeinsam im Sinne des Evangeliums formulieren. Natürlich haben wir diesbezüglich in Deutschland eine besondere Situation durch die nahezu ausgeglichene Größe der katholischen und evangelischen Bevölkerungsteile. Das gibt es in vielen anderen Ländern so überhaupt nicht. Die Katholische und die Evangelische Kirche stemmen sich also Hand in Hand gegen den fortschreitenden Verlust von Glaubensbeständen? Wir stehen, so glaube ich, vor einer zentralen Herausforderung: Können wir neu erkennen, was der wesentliche Punkt des christlichen Glaubens ist? Können wir diesen neu formulieren, auch gemeinsam? Was ist der Kern, worum geht es in der Botschaft Jesu von Nazareth, im Bekenntnis zum Tod und zur Auferstehung Christi? Ich glaube, wenn wir uns gemeinsam bemühen, das zu verdeutlichen, dass wir dann auch Wege zueinander finden werden. Die Ökumene zielt nicht auf das Abschleifen der Profile, sondern auf gemeinsame Bemühungen, das christliche Profil zu stärken und deutlich zu machen, wofür das Christentum eigentlich steht. Ökumene verstehe ich als einen Erneuerungsaufruf an beide Kirchen, in die Tiefe zu gehen. Es gibt ein schönes Wort von Tomásˇ Halík, einem Religionsphilosophen aus Prag, der in der kommunistischen Zeit im Geheimen zum Priester geweiht worden ist. Auf die Frage, wie es mit der Zukunft des Christentums in Europa aussehe, schreibt er in einem Essay: »Als Alexander Solschenizyn gefragt wurde, was nach dem Kommunismus käme, antwortet er: Eine sehr, sehr lange Zeit der Heilung. Meine Antwort auf die Frage, was jener Zeit folgen wird, in der es so viele Gläubige und Nichtgläubige für leicht hielten, über Gott zu reden, lautet: Ich erwarte eine sehr, sehr lange Reise in die Tiefe. Und ich setze meine Hoffnungen darauf.« Auch ich glaube wirklich, dass wir vor dieser Herausforderung stehen. In den Worten Kardinal Lustigers, die ich gern und häufig Kardinal Reinhard Marx  —  »Schluss mit der K­ lassengesellschaft!«

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durchaus zur Verwunderung manches Gläubigen zitiere: »Das Christentum in Europa steckt noch in den Kinderschuhen, seine große Zeit liegt noch vor uns.« Wir müssen die Vorstellung überwinden, man könne bloß versuchen, mit Mühe und Not das einigermaßen zu verteidigen, was noch übrig ist. Das ist eine Art »Reconquista-Mentalität«: zurückerobern, was verloren ging. Aber das ist nicht meine Zukunftsvorstellung. Und vor dieser Aufgabe stehen Katholiken wie Protestanten, stehen alle christlichen Kirchen. Gefordert ist nicht der einfache Kompromiss zur Wiedererlangung von Attraktivität, nötig ist ein ernstes Neubuchstabieren und eine Vertiefung der Substanz der großen christlichen Botschaft – jenes Kerns, der sich von anderen Religionen unterscheidet. Kann die christlich-konfessionelle Differenz heute, im Angesicht akuter konflikthafter Aufladungen im Verhältnis zwischen den Religionen auch lehrreich sein? Wenn schon nicht als detailgenaue Blaupause, so doch als teils warnendes, teils vorbildhaftes Beispiel für die Frage, wie Religionen, die sich trennen oder getrennt nebeneinander existieren und Reibungspunkte haben, miteinander umzugehen vermögen? Ebendas haben mein evangelischer Amtskollege Bedford-Strohm und ich selbst immer wieder unterstrichen: Wäre das nicht ein Zeichen nach all den konfessionellen Auseinandersetzungen bis hin zu den blutigen Kriegen, die wir in Deutschland und ebenso etwa in England und den Niederlanden erlebt haben – Konflikten und Kriegen, die nicht nur religiöse Ursachen hatten, aber mit der Religion Dynamik und Schwungkraft bekommen und so viel Blut und so viele Tränen gekostet haben? Schaffen wir es, jetzt zu zeigen, dass man Vielfalt annehmen und trotz einer Vielfalt ganz unterschiedlicher Ausdrucksformen in einer Gesellschaft friedlich zusammenleben kann? Das wird eine Kernfrage der Zukunft unserer Gesellschaften überhaupt sein: Ist es möglich, eine Gesellschaft zu organisieren, in der Differenz und Vielfalt nicht nur ausgehalten, sondern im Rahmen dessen, was von den Menschen und Grundrechten her vorgegeben ist, auch respektiert und toleriert, vielleicht sogar als Reichtum erkannt werden? Da gibt es manche, die das heute bezweifeln, die das ganze Projekt einer differenzierten, pluralen und offenen Gesellschaft, in der es unterschiedliche Weltanschauungen und Religionen, Gläubige und Nicht-Gläubige gibt, infrage stellen. Und wenn wir als Christen vor diesem Hintergrund sagen, uns verbindet im Tiefsten etwas Gemeinsames und wir können mit den Unterschieden, die noch da sind, die man auch nicht alle überwinden kann, auch nicht alle überwinden muss, gut im Respekt voreinander leben, dann ist das ein gutes Zeichen.

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Wenn Sie vom Kern des Christlichen und von der großen christlichen Botschaft sprechen, über die Klarheit bestehen würde: Zeigt nicht schon der Blick alleine auf die Katholische Kirche und noch einmal begrenzt auf Europa bereits hier erheblich divergierende Interpretationen dieses von Ihnen hervorgehobenen Kerns, die sich in konträren weltlichen Gestaltungsforderungen niederschlagen? Sie selbst jedenfalls begründen Ihre auch politisch relevanten Wortmeldungen vielfach aus dem Wesen des Christentums und des christlichen Menschenbildes heraus. Was wäre dann aber das Wesen des Christlichen? Dieses Wesen ist nicht einfach gegeben, darüber muss man immer wieder neu reden. Natürlich haben wir ganz unverrückbar das Glaubensbekenntnis, und wenn wir durch die Kirchengeschichte hindurchgehen, ist ganz unzweifelhaft, was die Kirche im Glauben bekennt und auch lehramtlich formuliert. Das sind Dinge, die man nicht unterlaufen kann, etwa durch Relativierung. Aber man kann durch neue Erkenntnisse vieles erweitern, angeleitet von der Frage, was eigentlich im Tiefsten gemeint ist. Ein solch frommer Papst wie ­Johannes  XXIII. hat einmal gesagt, dass wir vielleicht gerade erst zu verstehen beginnen, was das Evangelium uns sagen will. Der Glaube vermittelt sich nicht über eine vermeintliche abgeschlossene Allwissenheit, sozusagen die christliche Wahrheit als ein System; es geht vielmehr um eine große Abenteuerreise des Geistes! Dies natürlich nicht ohne Fundament. Wir Christen haben das Fundament in der Person Jesu Christi, im Evangelium, wir haben die große Glaubensgeschichte, die Wirkungsgeschichte der Kirche. Aber es muss auch weitergehen. Zwei Elemente der biblischen Botschaft schätze ich diesbezüglich als zentral für die christliche Verkündigung ein: Das eine ist der Auszug aus Ägypten, mit dem der Historiker Heinrich August Winkler nicht zufällig seine »Geschichte des Westens« beginnen lässt. Der Exodus gehört zu den wesentlichen Grundlagen des christlichen Selbstverständnisses. Auf diese Bedeutung weist auch der bekannte Ägyptologe Jan Assmann in seinem sehr anregenden Buch »Exodus« hin. Diese Weltsicht hat Europa und so auch den »Westen« zutiefst geprägt. Diese biblische Botschaft lautet, dass die Welt kein Kreislauf ist. Und die Götter sind nicht irgendwie Teil der Welt. Gott ist, ganz im Gegenteil, gerade kein Teil der Welt. Aber er hat eine Beziehung zur Welt, er ist der Schöpfer. Und er hat ein Projekt vor Augen, das Projekt von Recht und Gerechtigkeit, Güte und Erbarmen: Exodus, die Befreiung aus einem Sklavenhaus, die Stiftung eines neuen Bundes, einer neuen Gesellschaft. Gott lässt sich auf die Geschichte der Menschen ein und treibt sie voran. Auf welches Ziel hin? Auf das Ziel von Recht, Gerechtigkeit und der Gemeinschaft aller Menschen, versinnbildlicht im Berg Zion, zu dem alle Völker pilgern, Kardinal Reinhard Marx  —  »Schluss mit der K­ lassengesellschaft!«

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und auf Heilung und Versöhnung hin. Schon die ersten Sätze der Bibel sind ja eine, vielleicht die größte Revolution: Jeder Mensch ist willkommen, alle sind verwandt über Adam und Eva in der einen Menschheitsfamilie. Das ist mehr, als die Französische Revolution hervorgebracht hat, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Glauben, ihrem Geschlecht und ihrer Hautfarbe Bild Gottes sind. Schluss mit der Klassengesellschaft! Das ist das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass das eingetragen wird. Nun hat sich das Volk Gottes der Kirche zweifellos oft unterhalb dieses Niveaus bewegt. Aber es wurde doch nicht bestritten. Insofern handelt es sich um ein Projekt, das durch die Geschichte hindurchgeht. Das ist das eine. Das andere ist, dass Gott selbst sich durch seinen Sohn Jesu von Nazareth vollständig und unmittelbar auf die Welt einlässt, sich durch das Christusereignis in die Geschichte der Menschen hinein verschenkt, die Wunden der Welt heilt. Angst, Gewalt, Tod, Sünde haben nicht das letzte Wort. Vielleicht ist es nicht immer leicht, die Radikalität zu vermitteln, die dahintersteckt. Das sind also die wesentlichen Punkte: einerseits der Exodus und das Projekt Gottes mit der Welt, die in der ganzen biblischen Botschaft enthalten sind; andererseits die Konzentration dieser Geschichte im Leben und Sterben und in der Auferstehung Jesu von Nazareth. Ist das nicht reichlich abstrakt? Ist dergleichen an der katholischen Basis präsent? Die christliche Botschaft wird an jedem Sonntag sakramental gefeiert, nicht nur symbolisch; an jedem Sonntag ist diese neue Welt schon da, ist sie schon Wirklichkeit geworden. Die Menschen hören in der Heiligen Messe die Worte Jesu: Das ist mein Leib – für euch; mein Blut – vergossen für alle! Immer wieder werden wir an diesen zentralen Aufbruch erinnert, aber eben auch ermuntert, das zu leben. Das gibt dem Ganzen eine ungeheure Dynamik auf ein Ziel hin. Unser christlicher Auftrag ist von daher, in dieser Kultur das wirklich Zentrale des christlichen Glaubens zur Sprache zu bringen. Und mit Blick auf die Katholische Kirche umfasst dieser Auftrag auch, die umrissene Glaubenssubstanz öffentlich sakramental zu feiern. Wirklich zu feiern, in der Eucharistie, die für uns das Zentrum darstellt, das Fest des Todes und der Auferstehung Jesu, der neuen Welt. Da habe ich keine Sorge, dass das auch in Zukunft unersetzbar bleibt. Aber wir dürfen uns nicht in Nebensächlichkeiten verlieren und uns nur noch auf ein bloßes Kulturchristentum beschränken. Helfen diese Glaubensmaximen aber konkret? Sie wirken auch außerhalb der Kirche und beraten u. a. den Papst in europäischen Fragen. Jüngst waren Sie bei

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einem Treffen europäischer Staatschefs mit dem Papst, der den in vielen politischen Fragen tief gespaltenen Politikentscheidern, unter ihnen Viktor Orbán, ein vertieftes Verständnis von Europa vermitteln sollte. So etwas ist doch eine gute Chance. Ich glaube, vor zehn Jahren wäre das nicht möglich gewesen, dass alle, auch die protestantischen Staatsoberhäupter und Regierungschefs, einer gemeinsamen Audienz beim Papst zugestimmt hätten. Da merkt man auch ein gewisses Momentum, unabhängig von der Zahl praktizierender Christen, einen Bedarf an Selbstvergewisserung in diesen turbulenten Zeiten. Niemand hat perfekte Antworten, aber die Kirche will mitgehen und Antworten ermöglichen, sie will auch gerade das große Projekt Europa mitgestalten. So hatte Papst Franziskus schon zuvor die europäischen Institutionen besucht, bevor er im Anschluss einzelne europäische Länder bereiste. Und dann hat der Papst in seiner Rede vor den Staats- und Regierungschefs gerade nicht gesagt, es müssten jetzt alle ein christliches Europa wiederaufbauen; er hat die Pluralität anerkannt, als er sagte: Wir Christen wollten mithelfen, das europäische Projekt zu schützen und zu gestalten. Europa sei ein Bezugspunkt der Humanität für alle Menschen, alle Menschen seien gleich an Würde. Alle Menschen und jeder Einzelne! Und diese normativen Grundlagen Europas könnten wir nicht verstehen ohne das Christentum und die biblische Botschaft. So weit Papst Franziskus. Deshalb müssen die Kirchen zu Angriffen auf Europa Stellung beziehen. Da muss die Kirche sagen, das ist die große Tradition Europas, die man vom Christentum, meiner Ansicht nach, nicht trennen kann. Das hat das Abschlussbild aller Regierungschefs mit dem Papst unter dem »Jüngsten Gericht« von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle für mich bewegend zum Ausdruck gebracht. Aber die Kirchenleitungen in den einzelnen Ländern reagieren doch auf die zeitgenössischen Herausforderungen sehr unterschiedlich. Wenn etwa als Beispiel herangezogen wird, wie sich die Katholische Kirche in Deutschland zur Flüchtlingsfrage positioniert und wie die polnische Katholische Kirche damit umgeht, dann sind die innerkatholischen Divergenzen unübersehbar. Ich will jetzt nicht einzelne Länder anschauen und kritisieren, das steht mir nicht zu. Aber wir haben den Papst und dessen recht unmissverständliche Botschaft. Damit hat die Katholische Kirche eine Orientierung. Und dann haben wir natürlich die konkreten Situationen vor Ort. Und da glaube ich schon, dass auch innerhalb der Katholischen Kirche neu gesucht und neu diskutiert werden muss: Was ist eigentlich unser Auftrag in dieser Gesellschaft oder in der Gesellschaft insgesamt? Wie stehen wir zur offenen Gesellschaft, wie zur Kardinal Reinhard Marx  —  »Schluss mit der K­ lassengesellschaft!«

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pluralen Demokratie? Die Kirche ist auch immer in die sie jeweils umgebenden Gesellschaften eingebunden; die Fragen der Menschen, der Gläubigen, der Priester können sie nicht kalt lassen. Und gerade in Osteuropa ist es für viele sehr schwer geworden, diese ganze Wucht der politischen, wirtschaftlichen und auch kulturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte einigermaßen zu verarbeiten. Das dürfen wir, glaube ich, nicht unterschätzen. Und wir merken ja selbst bei uns, dass auch christliche Stimmen lauter werden, die in eine nationale Enge und eine eher homogene Gesellschaft zurückwollen. Jede Überheblichkeit anderen gegenüber unterlassend, bleibt die Frage für mich: Was ist mein Auftrag? Was ist die Aufgabe der Kirche? Wir müssen dafür eintreten, dass es für Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen, für Gläubige und Nichtgläubige, Wege gibt, in einer Gesellschaft zusammenzuleben. Wenn wir das nicht tun, denke ich, wird Religion wieder zu einem falschen Differenz- und Abgrenzungsmerkmal, so wird der Samen ausgestreut für zukünftige Konflikte. Wir gewärtigen doch heute zwei Tendenzen: zum einen den Säkularismus, über den viele Bischöfe klagen oder schon immer geklagt haben. Zum anderen aber besteht aktuell die Gefahr einer neuen Instrumentalisierung der Religion. Und dazu kann auch das Christentum, wie wir aus der Geschichte wissen, benutzt werden. Hinzu kommt, dass religiöse Identität und Tiefe vielfach durch ein oberflächliches religiöses Patchwork ersetzt wurden, was sich in bestimmten Symboliken und Begriffen wie dem sogenannten christlichen Abendland ausdrückt, wo Nation und Religion schlicht identifiziert werden oder sogar neue Kreuzzüge verbal vorbereitet werden.

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Wenn Sie sagen, man müsse die jeweiligen Spezifika in den Ländern beachten: Ist das nicht ein Blickwinkel, der für die Kirche eigentlich vollkommen irrelevant sein müsste, zumal sie nicht auf Mehrheiten zu schauen braucht und die praktisch-politischen Kompromisszwänge und Umsetzbarkeitshindernisse von der Kirche als einer ideellen Gemeinschaft ignoriert werden können? Anleitend für sie sind vielmehr die von Ihnen genannten Prinzipien des christlichen Glaubens, ist die Gottes- und Nächstenliebe. Wie weit reichen aber diese Prinzipien, wenn auf der einen Seite Leute wie Sie in der Flüchtlingsfrage weit über die Position auch linker Politikerinnen und Politiker hinausgehen, indem selbst wirtschaftliche Fluchtmotive als berechtigt anerkannt werden, und auf der anderen Seite auch Christen auf nationale Abschottung drängen? Abschottung kann keine kirchenamtliche Position sein, das ist ganz klar. Aber natürlich kann ich auch nicht einfach mit dem Finger schnippen – und schon sind durch eine grundsätzliche prinzipielle Ausrichtung auf die Gottes- und Nächstenliebe sowie die Geschwisterlichkeit aller Menschen sämtliche Probleme gelöst. Aber im Sinne des barmherzigen Samariters dürfen wir nicht vor allem fragen, was aus uns wird, wenn wir jemandem helfen. Sondern: Was wird aus dem Hilfsbedürftigen, wenn wir tatenlos vorübergehen? Jesus verändert den Blickwinkel. Er erklärt nicht, wie das Problem zu lösen ist, sondern er appelliert, nicht vom eigenen möglichen Nachteil auszugehen, der einem durch das Helfen selbst entstehen kann, sondern die Folgen bei dem sehen zu können, dem die Hilfe versagt wird. Das ist der neue christliche Weg. Damit habe ich zwar noch nicht alle Probleme gelöst, aber ich kann Leitlinien des Umgangs entwickeln, an denen ich persönlich bis

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heute festhalte: Jede und jeder, der an unsere Grenze kommt, wird erstens menschenwürdig behandelt, bekommt zweitens ein faires Verfahren und wird drittens nicht zurückgeschickt in eine Situation von Krieg und Verfolgung. Viertens müssen wir alles tun, damit die Grenze Europas keine Grenze des Todes ist und, wie in den vergangenen Jahren, jedes Jahr tausende Menschen den Tod im Mittelmeer finden. Und das Fünfte ist vielleicht das Entscheidende: Was tun wir, um in den Fluchtländern die Situation so zu verbessern, dass Menschen ihre Heimat nicht verlassen müssen? Es ist gut, dass etwa Afrika endlich stärker in den Blick genommen wird. Das ist ja auch in unserem Interesse, wie damals der Marshall-Plan. Der Begriff wird ja heute wieder von der Politik aufgegriffen. Einen nicht unerheblichen Teil des eigenen Bruttoinlandsproduktes haben die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebracht, auch um eine neue Friedens- und Sicherheitsidee umzusetzen. Heute dagegen wird fast nur noch über Militärausgaben gesprochen! Also: Was können wir tun, damit Menschen in ihrer Heimat bleiben können? Was wird investiert? Wie können Länder entwickelt werden? Das müsste ein gemeinsames Weltprojekt, ein gemeinsames europäisches Projekt werden. Und da kann eigentlich kein Christ sagen, das sei ihm egal. Was aus diesen Menschen wird, darf einem Christen nicht egal sein! Dafür müssen wir kämpfen. Obwohl das Gros der Flüchtenden Kulturen entstammt, in denen Christen diskriminiert, bisweilen gar verfolgt werden? Papst Franziskus hat diesbezüglich ein bemerkenswertes Zeichen gesetzt. In Mailand war kürzlich ein großer Gottesdienst, und da ist er vorher in ein Neubaugebiet gefahren mit Wohnblöcken und hat dort zwei christliche und eine muslimische Familie besucht. Fertig, ohne Worte, ein Zeichen! Das ärgerte natürlich manchen Konservativen, auch in kirchlichen Kreisen, wo über den Zustrom von Muslimen geklagt wird – als entscheidendes Kennzeichen des Menschen wird hier nicht sein Menschsein gesehen, sondern seine Religionszugehörigkeit. Unvorstellbar eigentlich, was für einen Rückschritt das darstellt! Das heißt nicht, dass wir nicht auch nüchtern schauen, was es in der Religion für Gefährdungen gibt. Aber Menschen zu kategorisieren nach ihrer Religion und dann zu sagen, deswegen bist du für mich kein Thema, weil du Muslim bist, weil du katholisch bist, weil du Jude bist, das darf nicht sein. Dagegen anzugehen, ist auch und gerade eine Aufgabe des Christentums, der christlichen Ökumene, die in dieser Hinsicht als Vorbild fungieren kann, weil sie die Kategorisierung nach protestantisch und katholisch aufhebt. Auch deshalb denke ich, dass das Christentum zukünftig noch viel wichtiger wird, als manche im Augenblick vermuten.

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Was kann denn das Christliche bzw. die Katholische Kirche leisten, um die Identitätskrise Europas aufzulösen, bestehende europäische Identitätsunsicherheiten zumindest abzumildern? Zum einen wohnt der Kirche natürlich eine gewisse Kraft der Erinnerung inne. Sie lebt mit einer großen Geschichte und ist auch eine Institution, die nicht im »Zeit-Geist-Tempo« geht. Das geschichtliche Erbe an positiven Zeugnissen kann man für eine europäische Erzählung fruchtbar machen, wenn es nicht nostalgisch verklärt wird im Sinne der angeblich guten, alten Zeiten. Und dann ist da natürlich die Verkündung der großen Botschaft: Die Katholische Kirche hat nichts anderes zu verkünden als die Freiheitsgeschichte Gottes mit den Menschen – eine Hoffnungsgeschichte, die unvergleichlich ist. Der christliche Gott ist ein Gott, der leidenschaftlich in die Welt verliebt ist und das deutlich macht an dieser Geschichte Jesu von Nazareth, die wir immer wieder erzählen und für die wir einstehen müssen. Das ist unser Beitrag für das, was Europa sein kann und sein wird und was noch immer von den mehr als zwei Dritteln der Menschen in Europa, die Christen sind, geteilt wird. Wir können diesen Kontinent und das, wie in den letzten Jahrhunderten in Europa gelebt und gewirkt wurde und was wir auch an Zukunftsfantasien im Kopf haben, ohne die Bibel, ohne das Christentum nicht verstehen. Wir müssen uns dazu verhalten, letztlich unabhängig davon, ob jemand gläubig ist oder nicht. Ich kann nicht aussteigen aus dieser Geschichte und sagen: Ich nehme ein weißes Blatt und denke mir ein neues Projekt Europa aus. Das ist nicht möglich, weil die Menschen alle mit ihren Lebensgeschichten hineinkommen. Und die überwältigende Zahl dieser Lebensgeschichten ist weiterhin – stärker oder schwächer – vom christlichen Glauben geprägt. Insofern stehen wir hier vor der großen Aufgabe, das christliche Fundament Europas deutlich zu machen und daran festzuhalten, dass Europa, wie der Papst es sagt, ein Projekt der Freiheit, der verantwortlichen Freiheit ist und das christliche Menschenbild der Kern der europäischen Lebensweise. Warum sollte Gott Mensch werden, wenn er sich nicht für die Menschen interessiert? Radikaler kann ich doch mein Interesse an den Menschen, und zwar an allen Menschen, nicht zum Ausdruck bringen. Oder wie Benedikt XVI. es einmal schlicht und schön gesagt hat: Wenn Gott Mensch wird, dann ist es gut, ein Mensch zu sein. Lassen Sie uns abschließend in die politischen Niederungen eintauchen. Eigentlich sollten sich Kirchenvertreter parteipolitisch zurückhalten, so haben Sie es 2013 gegenüber der Zeit geäußert. Und jetzt nimmt man Sie sehr deutlich mit Ratschlägen an Christen wahr, welche Parteien nicht zu wählen seien, ganz konkret die AfD. Zugleich aber gibt es keine Partei, die sich radikaler für den Lebensschutz Kardinal Reinhard Marx  —  »Schluss mit der K­ lassengesellschaft!«

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einsetzt und die den Kampf für Familien und für die Ehe ähnlich massiv postuliert, nachdem die Unionsparteien diese Positionen geräumt haben. Ist das ein Indiz dafür, dass auch die Katholische Kirche klassische Forderungen sukzessive aufgibt, etwa mit Blick auf die Haltung zur Homosexualität? Es gibt keine Partei, die alle moraltheologischen Positionen der Kirche ins Strafgesetzbuch übernehmen würde – und das ist ja auch gar nicht wünschenswert. Ich glaube, manche haben, auch bei uns, nicht verstanden, was Sache des Staates ist in einer offenen Gesellschaft und was Sache der Kirche. Es kann nicht Forderung der Kirche sein, alle unsere Überzeugungen spiegelbildlich in Gesetze zu übernehmen. Das ist eine Entwicklung, die bereits in der Freiheitsgeschichte der Moderne angelegt ist, grundgelegt bereits in der mittelalterlichen Tradition des Dualismus von Staat und Gesellschaft. Dennoch wurde noch jahrhundertelang der ganze Bereich der Familie der Religion überlassen. In einer pluralen Gesellschaft aber geht das nicht. Das musste die Katholische Kirche in einem schmerzhaften Lernprozess erkennen. Heute würden wir einen Kampf wie jenen gegen die staatliche Ehescheidung gar nicht mehr führen; auch wenn es immer welche geben wird, die solche Lernprozesse gern zurückschrauben wollen. Es gibt einige Freiheitsbereiche, da muss sich der einzelne Gläubige vor Gott verantworten, nicht aber vor dem Staat, Stichwort: Homosexualität. Da sind die Diskussionen in manchen Bereichen der Weltkirche leider noch nicht auf dem Stand, den wir in der Gesellschaft Gott sei Dank inzwischen erreicht haben. Aber deswegen sagen wir trotzdem nicht, dass eine homosexuelle Beziehung mit der Ehe zwischen Mann und Frau gleichzustellen ist. Man könnte sogar sagen, der Staat überschreitet seine Kompetenz, wenn er die Ehe neu definiert. Und natürlich ist die Abtreibung für die Kirche eine Tötung menschlichen Lebens – und ist deshalb nicht erlaubt. Gleichzeitig fragen wir uns sehr intensiv, wie man verhindern kann, dass es überhaupt zu Abtreibungen kommt. Wir haben als Kirche gelernt, das ist nicht nur eine Frage des Strafrechts. Es geht ja vor allem um die Frauen und die Kinder; man muss die Frauen gewinnen und helfen, damit Menschen Ja sagen zum Kind. Das bleibt durchaus eine Aufgabe. Aber so klar, wie Sie es jetzt suggerieren, sind doch Staat und Kirche, zumal in Deutschland, nicht geschieden. Die Liste solcher parallelen Wechselwirkungen mit je eigenen Gesetzlichkeiten ließe sich fortsetzen. Die Positionen der Kirche, das habe ich deshalb ausgeführt, bleiben hier ganz klar. Auf der Ebene des Staates müssen darüber die Parteien miteinander diskutieren – und Christen müssen für sich eine

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Abwägung vornehmen. Zugleich müssen wir aber immer wieder genau hinschauen: Was ist gesetzlich zu regeln, wo muss der Staat noch unterstützen, wo die Freiheitsentscheidungen der Einzelnen respektieren, die verschiedenen Religionen, Glaubensüberzeugungen oder auch keinem Glauben oder keiner Weltanschauung folgen? Da kann es dann auch immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten und Streit kommen. Und es ist kein Geheimnis, dass es katholische Positionen, sehr klare katholische Positionen gibt, die in den letzten Jahren politisch unter Druck geraten sind. Ich habe die Thesen zu Ehe und Lebensschutz genannt. Da versuchen wir, unsere Argumente weiterhin in die öffentlichen Debatten einzubringen. Aber wenn Parteien versuchen, bestimmte Versatzstücke dieser Unzufriedenheit zu mischen mit anderen Themen wie dem Nationalismus, dann gilt es, wachsam zu sein. Da sehe ich schon einen Versuch, bestimmte Punkte einfach für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Aber letztlich muss jeder sein eigenes Gewissen befragen. Deswegen sage ich auch nichts zu Parteien, sondern ich nenne nur Kriterien, wo für einen Christ Grenzen überschritten werden. Wenn etwa eine bestimmte Volksgruppe oder eine bestimmte Nation überhöht wird oder wenn ganze religiöse Gruppen unter Generalverdacht gestellt werden, da muss ich sagen: Vom christlichen Standpunkt aus ist das inakzeptabel. Nochmals, ich kann und möchte niemandem, auch keinem Christen, seinen politischen Standpunkt verbieten und sagen, was er oder sie wählen soll. Aber ich muss als Bischof Punkte setzen und verkünden, von denen ich der Überzeugung bin, dass ein Christ sie betrachten und abwägen sollte, bevor er sein Kreuzchen in der Wahlkabine macht. Also hat Hans Joas Unrecht, wenn er sagt, Kirchen seien keine Moralagenturen, Kirchen sollten sich auf die Verbreitung des Glaubens und die Weckung von Begeisterung konzentrieren, aber es gehe sie eigentlich nichts an, wie ihre Gläubigen denken und leben? Beides ist wichtig! Aus der christlichen Lebensweise entsteht natürlich auch ein moralischer Impetus. Ich kann nicht sagen, von Moral hat Jesus überhaupt nicht gesprochen. Aber das Erste ist nicht eine moralische Wirkung. Das Erste ist, dass wir eine kollektive Befreiungserfahrung machen. In der Osternacht sage ich oft, wir empfinden uns als Menschen, die aus dem Schiffbruch gerettet wurden. Das Schiff sehen wir noch, wie es untergeht. Wir aber sind am Strand, wir haben es geschafft. Wir leben! Daraus ergibt sich eben auch eine neue Lebensweise. Joas hat aber sicherlich Recht, wenn er sagt, dass wir das Christentum nicht auf Moral reduzieren dürfen. Denn dann wäre das doch eine fürchterlich langweilige Geschichte. Aber das hat Kardinal Reinhard Marx  —  »Schluss mit der K­ lassengesellschaft!«

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auch die Aufklärungsphilosophie mitbewirkt, die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft betrachten wollte, den ganzen Bereich der religiösen Erfahrung, der Liturgien auf den Kernpunkt Ethik reduzieren wollte. So ist eine gewisse Schieflage entstanden. Salopp formuliert: Religion ist Ethik und das ganze andere Zeug mit Weihrauch und Brimborium, das braucht es nicht. Und da sage ich ganz klar: Nein, das führt zu einer Verarmung der Religion und infolgedessen auch zu einer Abkehr von der Religion. Nochmals: Ein wesentlicher Grund der Abkehr von der Religion kann diese Reduzierung auf das Moralische sein. Schließlich braucht niemand unbedingt eine Religion, um zu hören, dass er seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst. Nein, Religion sollte immer, mit Niklas Luhmann gesprochen, auch etwa Rauschhaftes haben. Auch etwas Festliches, eine Erfahrung der Befreiung, der Hoffnung, der Liebe. Das ist in der Katholischen Kirche sicher besonders stark. Erst gestern, bei einem Gottesdienst zur Altarweihe, war das wieder zu erleben: Die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt, es wurde viel gesungen, Weihrauch und Weihwasser und alles immer in Bewegung. Da wurde Weihrauch mit großen Flammen entzündet auf dem Altar, und die Kinder, die guckten staunend mit weit aufgerissenen Augen. Und anschließend ging es weiter: Da wurde der Schweinsbraten gebracht und die Blasmusik spielte auf. Das war ein einziges Fest. Und da konnte man etwas von der wirklichen katholischen Fülle erleben. Eine neue Lebensweise und das Fest, das gehört für mich untrennbar zusammen, und das ist auch die Zukunft der Kirche. Vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führten Michael Lühmann und Matthias Micus.

Kardinal Reinhard Marx, geb. 1953, ist seit 2008 Erzbischof von München und Freising und seit 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Von 1989 bis 1996 war er Direktor des Sozialinstituts Kommende in Dortmund, von 1996 bis 2002 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät in Paderborn, bevor er Bischof von Trier wurde. Marx gehört zu einer Gruppe von Kardinälen, die Papst Franziskus bei der Reform der Römischen Kurie beraten, und ist Koordinator des 2014 neu errichteten Wirtschaftsrates im Vatikan. Gemäß seines bischöflichen Wahlspruchs »Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit« ist die Verbindung von Freiheit und Verantwortung ein bestimmendes Thema seines Wirkens. Er ruft Christen dazu auf, die plurale Gesellschaft aus dem Geist des Evangeliums heraus selbstbewusst mitzugestalten, und betont die Relevanz der christlichen Soziallehre für Gesellschaft, Staat und Wirtschaft. Marx ist ein entschiedener Verfechter der europäischen Idee und engagiert sich für eine menschenwürdige Behandlung und die Unterstützung von Flüchtlingen.

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

POLITISCHE PREDIGER UND PROVOKATEURE VOM VERSCHWINDEN DER INTELLEKTUELLEN UND DER KONZEPTIONELLEN ENTLEERUNG DER POLITIK1 ΞΞ Franz Walter

Historiker haben häufig darauf hingewiesen,2 dass Transformationsprozesse nur schwer konstruktiv zu steuern sind, wenn die großen gesellschaftlichpolitischen Herausforderungen sich in einem engen Zeitraum überschneiden oder »verschürzen«3. Diese Konstellation interessiert hier. Denn in ihr entfaltet sich der Moment, den Anführer fundamental orientierter sozialer Bewegungen brauchen – die Schöpfer und Apostel eines neuen Denkens, die Idole einer aufgewühlten Jugend, die Prediger revolutionärer Ideen, die Magier des großen Wortes, die Feuerköpfe der befreienden Tat, aber auch die Frontideologen der Gegenrevolte.4 Dieser Typus hat uns interessiert. Er war nie Held von Geburt aus. Seine Ausstrahlung hielt kaum ein Leben lang. Er war angewiesen auf den richtigen Moment, wenn die bisherigen Legitimationsgrundlagen zerbrachen, traditionelle Deutungsmuster nicht mehr überzeugten, überkommene Institutionen nicht mehr trugen, bewährte Alltagsroutinen bedrohlich ins Rutschen gerieten. Dann kamen die neuen Heilande

1  Bei diesem Text handelt es sich um leicht variierte Auszüge aus der Einleitung des Buches »Rebellen, Propheten, Tabubrecher. Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. und 21. Jahrhundert«, das im Juni 2017 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist. 2  Siehe Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001, S. 153; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849– 1914, München 1995, S. 1294.

mit ihren Erlösungsversprechen zum Zuge. Zuvor hatte man sie, soweit überhaupt wahrgenommen, oft als schräge Sonderlinge abgetan. Und war der historische Moment vorbei, erlosch auch wieder ihre Strahlkraft; es wurde einsam um sie. Späteren Generationen war kaum noch verständlich zu machen, warum diese Figuren eine begrenzte Zeit so begeistern konnten, was so faszinierend an ihren Reden und geistigen Ergüssen gewesen sein sollte. Nach Jahren wirkte das meiste nicht selten lediglich skurril und exaltiert. DER KURZE FRÜHLING DER CHARISMATIKER Charismatiker treten gern in der Pose des Wunderheilers auf, da sie in schwierigen Zeiten Hoffnungen wecken und Anhänger sammeln. Doch spätestens

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3  Reinhart Koselleck, Krise, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617–650, hier S. 640. 4  Den Versuch, eine derartige Situation zu skizzieren, unternahm u. a. schon William H. Friedland, For a Sociological Concept of Charisma, in: Social Forces, Jg. 43 (1964), H. 1, S. 18–26, hier S. 18.

wenn das Mirakel ausbleibt, werden sie als Scharlatane von den sodann enttäuscht-wütenden Anhängern mit Schimpf und Schande aus der Gemeinschaft vertrieben. Der warme Zauber des Anfangs und die kalte Ernüchterung im Abgang bilden eine offenkundig unvermeidliche komplementäre Einheit im charismatischen Auftritt der Politik. Die historische Sendung des Politpropheten findet kaum ihren erfolgreichen Schlussakt. Das politische Pfingsten geht jäh in den prosaischen Alltag über. Die Aura des Charismatikers schwindet dann, seine Ausstrahlung verblasst rasch, zerfällt schließlich. Der Zauber währt nur eine kurze Zeit. Es will partout nicht gelingen, dem charismatischen Flair Kontinuität und Dauer zu geben. Der Prophet und seine Jünger erschlaffen. Zurück bleibt Desillusionierung. Solche Heilspropheten begaben sich in der Vergangenheit bevorzugt auf die Suche nach jungen Anhängern. Denn Erwachsene mit geronnenen Weltbildern waren kein fruchtbarer Acker für die Demiurgen eines neuen Glaubens, einer radikalen Abkehr vom Alten. Daher priesen die Ideenstifter der neuen Wege den »gärenden Most« der Jugend, welche noch formbar und tief zu imprägnieren war. Mit dem Anschluss an ihre Meister durften sich die jugendlichen Jünger zu den Auserwählten, zu einer exklusiven Elite und Avantgarde rechnen. Bezahlen mussten sie das mit absoluter Hingabe, ja Unterwerfung gegenüber der jeweiligen Kultfigur.5 Dass ein solches Verhältnis zu mindestens seelischem Missbrauch einlud, wird dort, wo der Binnenraum von lebensreformerischen Kleingemeinschaften und erzieherisch-politischen Kaderzirkeln ausgeleuchtet wird, deutlich. Daher überwiegt in der Literatur nicht zu Unrecht die Kritik an den pathologischen, unzweifelhaft gefährlichen Zügen von Meister-Jünger-Gesellungsformen. Und fraglos sind Beispiele und Belege dafür, wie herrschsüchtige Gurus ihre Anhänger seelisch gebrochen haben, nicht gering. Doch nicht alles aus deren Normendepot geriet unweigerlich und stets in das trübe Gewässer von Manipulationen und Pervertierung des ursprünglichen Anliegens. Die Energie, die in diesen Zirkeln freigesetzt wurde, die Werteverbindlichkeit, die Überzeugung von einer spezifischen Mission, dann das Ethos, Botschaft und Handlungsweise zusammenzubringen und für den eigenen Alltag zur Regel zu erheben, haben gerade in besonderen historischen Situationen ungewöhnliche Leistungen hervorgebracht. 5  Vgl. ebenfalls Almut-­Barbara Renger, Meister-Jünger- und Lehrer-Verhältnisse in der Religionsgeschichte, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, S. 311–323.

DER INTELLEKTUELLE: EIN AUSLAUFMODELL? Zwiespältig fiel ebenfalls häufig die Rolle der unmittelbar politischen Intellektuellen und Theoretiker aus. Sie gaben sozialen Protesten und Bewegungen, die nach amorphem und oft spontanem Aufbruchsbeginn um konzeptionelle Franz Walter  —  Politische Prediger und Provokateure

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Ideen und Verbindlichkeiten rangen, eine spezifische Semantik und in die weite Zukunft reichende Sinnzusammenhänge. Ihnen fiel die Aufgabe zu, aus Erfahrungsfragmenten eine kohärente Erzählung über den Ausgang, die Entwicklung und das große Finale der sozialen und politischen Strömung, der sie sich als Kreateure und Wächter des Überzeugungskanons anempfahlen, zu konstruieren. Das verlieh Bewegungen, wie jener der um bessere soziale Bedingungen kämpfenden Arbeiter, erst spezifische Gestalt, eindeutigen Inhalt und prononciertes Selbstbewusstsein6, das stellte die Partei, die sich hierauf sattelte, auf eine beträchtliche Dauer, die narrationslosen Zusammenschlüssen regelmäßig abging. Aber nicht selten kam über die Intellektuellen und Theoretiker zudem ein ordentlicher Schuss Dogmatismus, programmatischer Verbohrtheit und chiliastischer Endzielwahn in die ursprünglich ideologisch ungenauen und elastischen Sozialbewegungen wie Parteien hinein. Die Zuschreibung »Intellektueller« hat mittlerweile ihre frühere Aura eingebüßt. Besonders erregt jedenfalls zeigt sich das Publikum nicht mehr, wenn in einer Veranstaltung oder Sendung ein Diskutant als Intellektueller, Querdenker, kritischer Mahner angekündigt wird. Die Pose des »J’accuse«, welche die Intellektuellen seit den Zeiten Émile Zolas bevorzugt einnahmen,7 war irgendwann in den 1980er Jahren und spätestens mit der Installation von Internetforen abgenutzt. Im Netz stieß man schließlich Tag für Tag millionenhaft auf zornige, chronisch anklagende User. Die kritische, mindestens misstrauische Haltung, die einst couragierten Außenseitern vorbehalten war, ist seither zur vorherrschenden Attitüde geworden, zum rhetorischen Alltagsreflex des Mainstreams. Der anonyme Blogger hat die früheren Stars der Gruppe 47 ersetzt. Die klassischen Intellektuellen reüssierten demgegenüber in Zeiten, als sie denjenigen mit Erfolg ihre Stimme anbieten konnten, die sich zur eigenen wirksamen gesellschaftlichen Artikulation nicht befähigt sahen. Die Intellektuellen lebten in der Rolle des Sprechers der Sprachlosen auf. Sie waren somit angewiesen auf einen Bedarf an Repräsentation. Und daher ist es sicher kein Zufall, dass die Intellektuellen zeitgleich mit der Idee und den Institutionen der (demokratischen) Repräsentation in die Krise gerieten. Beide Seiten, die intellektuellen Vordenker und die aushandlungsfähige parlamentarische Repräsentativität, gedeihen auf einem Sockel an Unmündigkeit, auch an geringer Komplexität. Je deutlicher und in sich homogener die Interessendivergenzen organisiert waren, je klarer der Gegensatz von links und rechts, von konservativ und progressiv ausfiel, desto einfacher hatten es parlamentarische Vertretungen, gesellschaftliche Konfliktklagen zu bündeln und zu repräsentieren. Umso leichter fiel es auch intellektuellen Kadern, sozial benachteiligten

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Perspektiven — Analyse

6  Vgl. schon Alfred Meusel, Die Abtrünnigen, in: ­Kölner Vierteljahresheft für Soziologie, Jg. 3 (1923–24), S. 152 ff., hier S. 152. 7  Zur eigentlichen Autorenschaft der Formel »J’accuse« vgl. genauer Rolf-Bernhard Essig, Der offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass, Würzburg 2000, S. 173 ff.

Gruppen die Ursachen für ihr Übel zu deuten, große Ziele vorzugeben, eine leuchtende Zukunft in prallen Wortschöpfungen auszumalen. ZWIESPÄLTIGKEITEN DER EXPERTOKRATIE Doch für die einfachen Erklärungen und Zuspitzungen sind nun die dramatisierenden Lautsprecher von rechts zuständig. Und zur Ausdeutung der vorherrschenden gesellschaftlichen Unübersichtlichkeiten sind nicht mehr die klassischen Intellektuellen gefragt, sondern je nach Problemaktualität die jeweils dafür ausgewiesenen Experten. Insofern war es gewiss auch nicht zufällig, dass im Zentrum der Bürgerproteste zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert gegen großstädtische Bahnhofsbauten und Startbahnerweiterungen auf Flughäfen sowie kleinstädtischer Initiativen gegen Windräder und Stromtrassen nicht die »Reflexionseliten« aus den Kultur- und Geisteswissenschaften standen, sondern vielmehr Ingenieure, Techniker, Informatiker, Geografen, Biologen, Chemiker, kurz: Experten, die sich zur Avantgarde des Vetos aufgeschwungen hatten.8 Hier eröffnete sich ihnen ein thematisch klar begrenztes Feld, dem sie ihre spezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten zuführen konnten. Mit ihrem fachlich eingehegten Kohärenzdenken passten die Technikexperten bestens in Initiativen, die aus einem Punkt entstanden waren und sich darauf strategisch konzentrierten.9 Bemerkenswert ist dabei, mit welcher Distanz, ja schroffen Ablehnung viele aus dieser Gruppe, wie wir aus empirischen Befragungen wissen, intermediären Strukturen und Einrichtungen gegenüberstehen, die doch für die Funktionsfähigkeit einer hochkomplexen Gesellschaft in einem demokratischen Verfassungsstaat schwerlich entbehrlich sind. Die institutionellen Vermittlungs- und Zwischenebenen wirken auf die Professionals von Technik und 8  Siehe hier und auch im Folgenden Stine Marg u. a. (Hg.), Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen?, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 301 ff. 9  Ausführlicher bei Martin Baethge u. a., Das Führungskräfte-Dilemma. Manager und industrielle Experten zwischen Unternehmen und Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1995, S. 239. 10  Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014, S. 52.

Technokratie lediglich als Fremdkörper für fachgeleitete Entscheidungen. Das ist im Übrigen keine neue Erscheinung, sondern gehörte bereits nach 1918 zu den belastenden Mentalitätsfaktoren für die damals neuen parlamentarischen Demokratien in Europa, die einhergingen mit dem »Aufstieg einer neuen bestimmenden Sozialfigur – des Experten«, der ganz davon überzeugt war, »mit seinem Wissen das Leben der Menschen optimieren und die Gesellschaft ordnen zu können«.10 Politik hat diesem Denken zufolge in weiser Voraussicht Probleme zu lösen, bevor solche überhaupt erst entstehen können. Politik soll sich nicht mit Reparaturtätigkeiten begnügen, sondern sich zur rationalen Gestalterin einer widerspruchsfreien Zukunft aufschwingen. Politik muss bewusst und aktiv antizipieren, nicht erst nach langer Passivität und nur auf Druck verspätet reagieren. Doch solche Antizipations- und Expertenfixierungen warfen und Franz Walter  —  Politische Prediger und Provokateure

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werfen erhebliche Selbstbegründungsprobleme der Demokratie auf. Denn recht besehen geht es dabei um eine vermeintlich wissenschaftlich fundierte und daher dem Meinungs- oder Interessenstreit enthobene Herrschaftstechnik im Verfassungsstaat. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn und die demokratische Willensbildung aber gehen nicht unbedingt zusammen. Die rationale Expertise müsste in der »wissenschaftlichen Demokratie« – dem »postideologischen Bevormundungsstaat«11, wie Tony Judt ein solches System abschätzig qualifizierte – zwingend den Primat vor der oft irrationalen Willensäußerung des Volkes bekommen. Im Konzeptionalismus der Fachleute hat der Zufall, das Unvorhergesehene, das Überraschende gebannt zu sein; insofern dürfen im Grunde unvorhergesehene subjektive Dissidenz, Autonomie, Eigensinn, die Freiheit zum Nein nicht zugelassen werden. Freilich sorgt die negative Dialektik etatistischer Zukunftsplanung regelmäßig dafür, dass in Problemlösungen lange ignorierte Folgeprobleme keimen. Denn das ist die Tücke der Moderne: Ihr Rationalisierungs- und Optimierungsanspruch gebärt stets nicht-intendierte Problemlagen.12 Auch und gerade streng berechnete Problemlösungen produzieren neue Konstellationen und dadurch neue Schwierigkeiten, die in der jeweiligen Gegenwart nicht absehbar sind. Bedürfnisse, Werte, Lebensziele der Individuen ändern sich – nicht zuletzt eben durch die Resultate ehrgeiziger Modernisierungsprojekte – und stehen dann quer zu den ambitiös gesteuerten Entwürfen, da »die Bedingungen unserer bisherigen Erfahrung seit der Industrialisierung und seit der Technifizierung nie hinreichen, um kommende Überraschungen und Neuerungen vorauszusehen. Der Fortschritt produziert seit dem 18. Jahrhundert zwar eine Nötigung zur Planung, deren Zielbestimmungen aber infolge ständig neu hinzutretender Faktoren dauernd umdefiniert werden müssen. Der Fortschrittsbegriff erfasst genau jene Erfahrung unserer eigenen, unserer Neuzeit, die immer wieder unvorhersehbare Neuheiten gezeitigt hat, die gemessen an aller Vergangenheit schwer oder gar nicht vergleichbar sind.«13 Und: Je pluralistischer sich eine Gesellschaft entwickelt, desto weniger passt die Konsistenz einer in sich stimmig gezeichneten Zukunftsblaupause auf die Vielfältigkeit der Einzelnen. Dies ist bekanntlich die Ambivalenz des Fortschritts schlechthin und ein ständiger Nährboden für keineswegs unplausible konservative Skepsis und Einreden.

11  Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006, S. 430. 12  Hierzu ausführlicher Franz Walter, Baustelle Deutschland, Frankfurt a. M. 2008, S. 79 ff.

DER FORTSCHRITT FRISST SEINE KINDER An den Bruchstellen der Fortschrittserfahrungen in der Moderne entzündeten sich soziale Bewegungen, entwickelten sich Biografien und Ideen. Die sozialistische Arbeiterbewegung war – und darin lag in ihrer Geschichte Licht und

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Perspektiven — Analyse

13  Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 178.

Schatten zugleich – Zögling der Fortschrittserwartungen, ja des Fortschrittsdeterminismus der damaligen Zeit und ihrer maßgeblichen theoretischen Stichwortgeber. Allerdings war der spätere sozialdemokratische Besitzanspruch auf die progressive Idee historisch unangemessen, da der Fortschritt die nachgerade klassische Kampfparole des frühen Liberalismus bereits seit den Jahren der Aufklärung bildete. Reinhart Koselleck hat präzise dargelegt, dass es sich bei der Philosophie des Fortschritts, jenem »linearen Achsenbegriff« des 19. Jahrhunderts, um die »Ideologie des aufsteigenden Bürgertums« handelte.14 Aber er weist ebenso darauf hin, dass die Eigentümerschaft über das Fortschrittsversprechen zu wechseln pflegt, nämlich von avancierten früheren Aufsteigern zu neuen, jetzt ambitioniert nach vorn preschenden Schichten. Insofern lässt sich die Geschichte der Fortschrittsbewegungen stets auch als Historie des »Sich-Verzehrens« erzählen. Im selben Maße, wie die Fortschrittsforderungen und das Aufstiegsbegehren Erfolge zeitigen, verlieren ihre ursprünglichen Trägergruppen an Antrieb. Sie kommen an, sind saturiert, taugen demzufolge nicht mehr als Motoren kraftvoller Fortschrittlichkeit. Wir finden das vielfach ganz besonders in der Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums, gewissermaßen als Sinn- und Positionskrise sowie Entstehungsort jugendlicher Bewegtheiten gegen überlieferte Konventionen, die keinen befriedigenden Ausdruck für neue Sozialisations- und Orientierungsbedürfnisse mehr bieten.15 Unzweifelhaft waren jedenfalls etwa der »Wandervogel« und die Lebensreformbewegungen16 um die Wende vom 19. zum 14  Hierzu Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Frankfurt a. M. 2010, S. 205. 15  Vgl. Ulrich Linse, Die Jugendkulturbewegung, in: Klaus Vondung (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 119–137. 16  Zu den Lebensreformbewegungen vgl. auch Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegungen im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006; Kai Buchholz u. a. (Hg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Darmstadt 2001; Eva Barlösius, Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1996.

20. Jahrhundert Produkte einer ihrer selbst nicht mehr sicheren Bildungsbürgerlichkeit. Die humanistisch gebildeten Bürger, die noch bis in die 1860er Jahre unbestritten den das Selbstverständnis prägenden Nukleus der bürgerlichen Klasse insgesamt ausgemacht hatten, litten am wachsenden Bedeutungsverlust gegenüber den gewerblichen Bürgern aus der Industrieproduktion. Innerhalb der deutschen Mandarins verstärkten sich infolgedessen die Distanz gegenüber der Moderne und der Argwohn gegen den Kapitalismus, die Urbanität, die Technik, den arbeitsteiligen Fortschritt insgesamt. Lebensphilosophische Traktate zirkulierten, reformpädagogische Experimente kamen auf, eine jugendbewegte Kultur jenseits der großstädtischen Lebensformen entwickelte sich. Man klagte über die Mechanisierung, die Rationalisierung, die seelische Entleerung durch den alles beherrschenden Ökonomismus. Man fürchtete die Auflösung der Halt stiftenden Ordnungen, die Zerstückelung von Zusammenhängen, die Entbindung aus sozialen Zusammengehörigkeiten. Die Lebensreformer jener Jahre wollten wieder verknüpfen, was zerrissen worden war, wollten zur Symbiose bringen, was die neue Zeit atomisiert hatte. Franz Walter  —  Politische Prediger und Provokateure

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»Ganzheitlichkeit« lautete die Zauberformel der Lebensphilosophen des bildungsbürgerlichen Reformalltags. Gemeinschaften zu gründen, galt als integrales Projekt auf dem Weg dorthin. Die Eigenschaften und Fähigkeiten der in der Moderne von sich selbst entfremdeten Menschen sollten wieder zusammengefügt und ausbalanciert werden – wie in den guten Zeiten, vor dem industriegesellschaftlichen Sündenfall.17 Das entlud sich allerdings nicht in einen aggressiven Generationen- oder gar Klassenkonflikt. In der Freideutschen Jugend sammelten sich keine frustrierten, gesellschaftlich blockierten Gruppen mit militanten kämpferischen Oppositionsneigungen. Auffällig war vielmehr, wie harmonisch die frühen »Wandervogel«-Zugehörigen mit Eltern und Lehrern ihres Milieus kooperierten, diese auch als Paten für die rechtsförmige Vereinsbildung brauchten. Das Gros der »Wandervögel« kam aus liberal geführten Häusern und Oberschulen, hatte nicht unter Kadavergehorsam oder Drill zu leiden. Dergleichen biografische Hintergründe finden wir ebenso vielfach bei Aktivisten der 68er-Emeuten. ALLES ODER NICHTS: DAS WEIMARER JUNGBÜRGERTUM ALS ANTILIBERALE AVANTGARDE Anders lagen die Verhältnisse in der Zeit der bündischen Jugendbewegung in den 1920er und frühen 1930er Jahren, deren Aktivisten sich schon rein äußerlich von der Vorgängergeneration des »Wandervogels« unterschieden.18 Der romantische Lebensreform-Look war verschwunden; Uniformen, martialische Marschgebärden, kriegerische Radikalität in Sprache, Kleidung und Auftritt verdrängten die tagträumerische Naturschwärmerei und dilettierende Poesie. Im Vergleich mit der ersten Jugendbewegung im späten Wilhelminismus suchte die Nachfolgekohorte, die in der Weimarer Republik die Bühne betrat, einen anderen, sehr viel härteren, enorm rigiden kollektivistischen Ausdruck. Während die Wandervögel noch von »innerer Freiheit« sprachen und unbeaufsichtigten Räumen der Autonomie zustrebten, sehnten sich diejenigen, die zwischen 1902 und 1913 geboren worden waren, in den 1920er Jahren nach stärkerer Bindung und disziplinierter Gefolgschaft dem jeweiligen »Führer« gegenüber. Die Krise des protestantischen Bürgertums war durch den Sturz der Monarchie und die horrenden Sparverluste während der Hyperinflation elementar. Der im Wilhelminismus groß gewordene Teil des deutschen Bürgertums hatte wohl seine Selbstdeutung und seine exklusive Erwartung, auch

17  Vgl. Ulrich Linse, Antiurbane Bestrebungen in der Weimarer Republik, in: Peter Alter (Hg.), Im Banne der Metropolen, Göttingen 1993, S. 314–344; auch Ders., Der Wandervogel, in: Étienne François u. Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 531–548.

die nationalistische Hybris, hatte das Sonderbewusstsein von der deutschen Sendung aus den Kaiserreichsjahren in die neue Republik mit hinüberzunehmen versucht, ohne aber die Risse und Ungereimtheiten des eigenen elitären

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Perspektiven — Analyse

18  Vgl. Rüdiger Ahrens, Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015.

Anspruchs auch nur einigermaßen glaubwürdig übertünchen zu können. Je stärker die Grundlagen der einst hochrangigen Position ins Rutschen gerieten, desto starrer hielt der Großteil der Bildungsbürger an den überlieferten Attitüden und Regeln fest – die damit jedoch ihrer Überzeugungskraft nur noch mehr verlustig gingen. Die Jugend dieses Bildungsbürgertums, der keinesfalls mehr die beruflich und sozial rosigen Perspektiven der Wandervogelkohorte winkten, empfand die Leere der Rhetorik der älteren Generation ihrer Klasse klar und illusionslos. Ihr fehlte jetzt ganz der pausbäckige Glaube des 19. Jahrhunderts an die Unvermeidlichkeit des unentwegten Fortschritts, den sinnhaften Verlauf der Geschichte, die wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Wie oft in solchen historischen Momenten wuchs aus diesem Stimmungshumus ein dezisionistisches Verlangen. Nicht schwatzen, sondern handeln, hieß es jetzt in der bürgerlichen Jugend. Nicht debattieren, nicht finassieren, nicht diplomatisieren, sondern die zugespitzte Entscheidung, das Alles oder Nichts erzwingen. Gute Zeiten für einen dezenten, reflektierten Liberalismus sind solche historischen Momente nicht. Der Liberalismus war zwar, gerade in Deutschland in seiner Entstehungszeit, eng mit dem Bildungsbürgertum verknüpft.19 Doch für die Vermutung, dass akademische Bildung die probate Voraussetzung schlechthin für nüchterne politische Klugheit und liberal-tolerante Gesinnung sei, liefert die Geschichte deutscher Jungbildungsbürgerlichkeit kaum überzeugende Belege. Im jugendlichen Bildungsbürgertum machte sich im 19. und 20. Jahrhundert, als die sozialen Gefüge ins Wanken gerieten, überkommene Normen und Maßstäbe nicht mehr einleuchteten und nicht mehr wie zuvor Richtungen des Verhaltens vorgaben, ein entschiedener Anti-Liberalismus breit, oft dazu im Gestus provokativ schmähender Anti-Bürgerlichkeit. Politiker und Denker von Maß und Mitte fanden in solchen Momenten kein Gehör. Es waren andere Figuren, die sich dann des Zulaufs und Zuspruchs erfreuten. POLITISCHE ENTHEMMUNG UND KONZEPTIONELLE LEERE Das galt paradoxerweise erst jüngst auch wieder für diejenigen Liberalen in der Politik, die sich in Gestalt der Freien Demokraten in bundesrepublikanischen Zeiten gerne als die Partei von Maß und Mitte etikettierten, nicht zu19  Vgl. Dieter Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1985, S. 95–121.

letzt, um im Zentrum der parlamentarischen Regierungsbildung zu stehen. Doch zugleich haben ihre Exponenten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die politische Technik des Tabubruchs am stärksten in der bundesdeutschen Politik kultiviert und mit Aplomb in das Parteienspektrum hineingeführt, womit sie sich immerhin und dabei mit Recht auf den linksliberalen Ralf Dahrendorf beziehen konnten, der Anfang der 1960er Jahre geschrieben Franz Walter  —  Politische Prediger und Provokateure

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hatte, dass Tabus unfrei machen, »denn sie beschneiden das elementare Recht, Fragen zu stellen«20. Mittlerweile ist der kalkulierte Verstoß gegen Reglements und Codes durch Formationen weit rechts von der Mitte bekanntermaßen geradezu Usus der politischen Praxis geworden; aber auch Parteien der Linken setzen von Fall zu Fall den demonstrativen Bruch, die überrumpelnde und provokative Aktion als sicheres Medium der Aufmerksamkeitsakquise ein. Damit werden zugleich zivilisierende Tabus – auch solche existierten schließlich – fortgenommen, die zuvor unterschwellige Aggressionen, Ressentiments, Destruktionstriebe einigermaßen im Zaum gehalten und Gesellschaften dadurch entlastet haben. Nicht zufällig folgen auf kulturrevolutionäre Zeiten der systematischen Traditionsbrüche verlässlich Phasen des Ruhebedarfs, des konservativen Stabilitätsverlangens. Der Tabubruch muss fortwährend in Gang gesetzt und weitergetrieben werden. Das macht ihn als politisches Instrument zwar anfangs rasch erfolgreich, im weiteren Verlauf aber hochgefährlich. Der Trieb zur Eskalation – die nicht mehr beherrschbare Verschärfung des Regelbruchs und der Attacken – ist dieser Strategie inhärent. Denn die Politik der Provokation erfordert kompromisslose Konsequenz. Der jeweils nächste Regelverstoß muss noch um eine zusätzliche Volte unverschämter und maßloser ausfallen, sonst verpufft er.21 Ebendas aber entgrenzt Politik, enthemmt und radikalisiert sie, wirkt nach innen wie außen zerstörerisch. Will man nicht bis zur explosiven Endstufe fortschreiten, wird man jedoch unweigerlich erkennen, dass der Köcher mit politischen Rezepten leer ist. Ernüchterung, Genierlichkeiten über den eigenen vorangegangenen Rausch, pure Ratlosigkeit sind die Folgen. Für die Politik ist das ein riesiges Problem. Denn der überraschende Coup, der Akt der provozierenden Überrumpelung, garantiert das jähe Interesse von Medien und elektrisiert das Publikum. Aber was folgt dann? Wie erhält man die Aufmerksamkeit, ohne der (auto-)destruktiven Dynamik des Eskalationszwangs bzw. einer Trivialisierung der Methode durch einfallslosen Dauergebrauch zu verfallen? Überhaupt: Was ist, wenn der charismatische Moment vergeht, wenn die Magie des Anfangs und der Rausch des Aufbruchs verfliegen? Was wäre hierauf eine Antwort, die befriedigt?

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

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20  Ralf Dahrendorf, Politik im Garten der Tabus, in: magnum, H. 36 (Juni)/1961, S. 58 u. S. 73. 21  Vgl. Rainer Paris, Der Wille des einen ist das Tun des Anderen. Aufsätze zur Machttheorie, Velbrück 2015, S. 62.

DIE GEBURT DES KANZLERKANDIDATEN NACHRICHTEN VOM WAHLKAMPF ΞΞ Klaus Wettig

Als die volljährigen Deutschen – 1949 in den drei Westzonen die über 21-Jährigen – nach der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 zur Wahl des ersten Bundestages aufgerufen wurden, bewarben sich keine Kandidaten auf das Amt des im Grundgesetz in Art. 67 vorgesehenen Regierungschefs: des Bundeskanzlers. Die zwölfjährige Zwangspause der NS-­Diktatur hatte zahlreiche Politikerkarrieren beendet: durch Tod in KZ-Haft oder Krieg, durch Emigration und durch den Untergang der Weimarer Parteien. Nur die SPD und die KPD konnten mit Wiedergründungen an ihre Traditionen anknüpfen. Während bei der KPD jede Personalisierung in Richtung eines Kanzlerkandidaten ausschied, herrschte bei der SPD eine andere Lage. Im Wiedergründungsprozess organisierte sich die SPD um den charismatischen ehemaligen Reichstagsabgeordneten Kurt Schumacher, der seit seiner Wahl zum Vorsitzenden der West-SPD 1946 die Partei straff führte und auf sein Programm verpflichtete. Seine unermüdliche Reisetätigkeit hatte ­Schumacher zum Impresario der Plätze und unzerstörten Säle gemacht, was ihn von möglichen Konkurrenten des nichtsozialdemokratischen Lagers, bürgerlich genannt, deutlich unterschied. Gegenüber den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten – den neuen Landesvätern, die samt und sonders den Besatzungsmächten ihr Amt verdankten, inzwischen aber erste Landtagswahlen gewonnen hatten – konnte er seine Führung sichern. Person und Programm Schumachers waren in der SPD unbestritten. Ganz sicher war er der bekannteste Politiker Trizonesiens, wie die drei Westzonen im Nachklang zu einem Karnevalsschlager damals genannt wurden; doch war er auch der populärste? Hier sind Zweifel angebracht. Geradezu verehrt wurde Schumacher im sozialdemokratischen Lager. Der hagere, von seiner elfjährigen KZ-Haft gezeichnete Mann verkörperte den Durchhaltewillen und die Leidensgeschichte der Sozialdemokraten in der NS-Diktatur. Sein Anspruch, dass nur die SPD unbefleckt die Nazi-Zeit überstanden habe, dass sie deswegen die berufene Partei für den Aufbau der neuen Demokratie sei, wurde zum Credo der wiedergegründeten Partei. »Nach Hitler wir« – diese Hoffnung sollte sich nun erfüllen. Und wer wollte sich diesem Anspruch widersetzen?

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Zu den Vorteilen Schumachers gehörte die Medienwelt der Nachkriegsjahre. Die Nachkriegspresse war eine Lizenzpresse, in der die SPD gut vertreten war. Die durch ihre Kollaboration mit der NS-Diktatur von der Zeitungsproduktion bis Ende 1949 ausgeschlossenen Altverleger konnten das Meinungsklima nicht bestimmen. In den Rundfunkanstalten bestand ein beachtlicher SPD-Einfluss, vor allem im NWDR, der die gesamte Britische Zone abdeckte:

die heutigen Bundesländer Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Fernsehen existierte noch nicht. Trotz dieser Startvorteile gelang der SPD am 14. August 1949 jedoch kein Wahlsieg. Man kann es ein Unentschieden zwischen der SPD und der Union nennen, die seinerzeit als CDU noch keine gemeinsame Partei gebildet hatte und in Bayern ohnehin als CSU auftrat: 29,2 Prozent erhielt die SPD, 31 Prozent schaffte die Union. Aus diesem Ergebnis allein ließ sich der Auftrag zur Regierungsbildung nicht herleiten; doch neben der Union vereinigten die kleineren bürgerlichen Parteien hinreichend Stimmen auf sich, sodass mit ihnen eine Koalition unter Führung der Union möglich schien. Mit den Freien Demokraten ( FDP) und ihren 11,9 Prozent sowie der Deutschen Partei (vier Prozent, 17 Mandate) war eine Mehrheit für die Kanzlerwahl erreichbar. Für diese Parteien schied die SPD mit ihrem mutmaßlichen Kanzlerkandidaten Schumacher als Koalitionspartner aus. Nicht jedoch die Union, wenn sie einen Kandidaten für eine bürgerliche Regierung vorschlagen könnte. Dass dies Konrad Adenauer sein würde, war zunächst nicht sicher, doch setzte sich Adenauer letztlich gegen andere Tendenzen und Personen in der Union durch. Die Kanzler-Republik war geboren und damit auch der Kanzlerkandidat für die Zukunft. Dass der erfolgreiche Bundeskanzler Konrad Adenauer die Union in den Bundestagswahlkampf führen würde, stand 1953 niemals infrage, es fehlte lediglich an der Akzentuierung, dass es auf den Kanzler ankomme. Jede Stimme für die Unionsparteien würde eine Kanzlerstimme sein. Die SPD setzte nichts dagegen. Kurt Schumacher war 1952 verstorben, sein langjähriger Stellvertreter Erich Ollenhauer führte nun die Partei. Als Kanzlerkandidat wurde er nicht angesehen, schon gar nicht dafür nominiert. Aufgrund ihrer Tradition als Programmpartei war der SPD jede Personalisierung fremd, obwohl sie inzwischen in der lokalen und regionalen Politik personalisiert auftrat. Der Verzicht auf einen Kanzlerkandidaten erwies sich 1953 als Fehler, dessen Wiederholung 1957 viel zur erneuten Niederlage der SPD beitrug. Erst in der Schlussphase wurde Erich Ollenhauer vom sozialdemokratischen Wahlkampfleiter Fritz Heine als Kanzlerkandidat ausgerufen, was harsche Kritik auslöste – nach der Wahl.

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Die SPD erreichte 1957 zwar einen Zugewinn, doch das Ausmaß der Wahlniederlage, das sich im Ergebnis der Union ausdrückte, erzwang jene Reformen, die zum ersten Kanzlerkandidaten der SPD führten. Eine Siebener-Kommission entschied sich im Vorfeld der Bundestagswahl 1961 für Willy Brandt, den damals jüngsten und erfolgreichsten SPD-Politiker. Als er 1960 nominiert wurde, gab es auf dem Parteitag mit Carlo Schmid noch den Kanzlerkandidaten der Herzen, der aber nobel für Willy Brandt plädierte. Willy Brandt führte als Kanzlerkandidat und Kanzler die SPD über vier Wahlen von Erfolg zu Erfolg. Schließlich, 1972, mit 45,8 Prozent zum besten Ergebnis der SPD-Geschichte. Seitdem ist die Wahl eines Kanzlerkandidaten in der SPD entschieden. Entweder tritt der amtierende SPD-Kanzler wieder an, oder ein SPD-Parteitag wählt den Kanzlerkandidaten. Nur Willy Brandt trat mehrfach als Kanzlerkandidat an, keiner seiner Nachfolger vermochte dieses. Wer die Wahl nicht gewann, verzichtete auf eine Wiederholung. Auffällig bleibt bei der SPD, dass die Suche nach einem Kanzlerkandidaten immer holprig verläuft und sich außerhalb der innerparteilichen Ordnung vorbereitet. Bei der Union gestaltete sich die Kandidatenfrage einfacher. Meist konnten ihre Kandidaten aus dem Amt des Bundeskanzlers antreten. Wenn sie es nicht verteidigten oder gewinnen konnten, bedeutete dieses Scheitern einen empfindlichen Karriereknick, wenn nicht gleich ganz das Ende der politischen Karriere (Kiesinger, Barzel, Strauß, Stoiber). Nur Helmut Kohl schaffte nach seinem Scheitern 1976 einen zweiten Anlauf, wenn auch 1982 über den Koalitionsbruch der FDP. Der/die Kanzlerkandidat/in hat viel zur Klarheit beim Wählervotum beigetragen, freilich mit der Kanzlerkandidatur von Guido Westerwelle für die FDP im Jahr 2002 auch eine Politposse ausgelöst – 7,4 Prozent lautete da-

mals das FDP-Ergebnis. Die Konkurrenz der Kanzlerkandidaten bescherte uns erstmals 2002 das Fernsehduell der Kandidaten: Stoiber gegen Schröder. Schon im Bundestagswahlkampf 1961 hätte dieses Duell stattfinden sollen, als die SPD für Willy Brandt die TV-Konfrontation mit Konrad Adenauer forderte: Der 85-jährige Kanzler sollte gegen den 48-jährigen Herausforderer stehen. Dieses ­Duell musste die CDU/CSU vermeiden, also wurde die Forderung abgelehnt. Auch Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger lehnten die TV-Diskussion mit Brandt ab. Stattdessen gab es Parteivorsitzenden-Runden, in denen Willy Brandt 1965 nicht punkten konnte, da die Vorsitzenden von CDU und CSU gegen ihn standen und der FDP-Vorsitzende Erich Mende sie unterstützte. Erst 1969 gab es eine Verschiebung: Denn erstmals argumentierten SPD und FDP auf identischer Linie. Klaus Wettig  —  Die Geburt des Kanzlerkandidaten

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Auch Willy Brandt und Helmut Schmidt hielten die CDU/CSU-Kandidaten auf Distanz: Direkte Konfrontation mit Barzel, Kohl und Strauß gab es nicht. Die Antwort von Helmut Kohl kam prompt: keine Diskussion mit Hans-­Jochen Vogel (1983), Johannes Rau (1987), Oskar Lafontaine (1990) und Rudolf Scharping (1994). Auch Gerhard Schröder blieb 1998 das Studio verschlossen, denn Helmut Kohl setzte auf den Kanzlerbonus, den er durch den Herausforderer nicht gefährden mochte. Erst Gerhard Schröder akzeptierte 2002 dieses Format und punktete damit gegen den Herausforderer Edmund Stoiber. Auch 2005 konnte er die Herausforderin Angela Merkel auf Distanz halten; jedenfalls ließ sich das Misslingen der SPD-Kampagne nicht auf das Kanzlerduell zurückführen. Als Bundeskanzlerin bestand Merkel dann gegen den SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier, fiel jedoch gegen den neuen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück leicht zurück, der im Kanzlerduell seinen besten Wahlkampfauftritt hatte. Seit dem historischen TV-Duell Nixon–Kennedy hat sich die Kandidatenkonfrontation inzwischen zu einem internationalen Format entwickelt, das sorgfältig ausgelotet zu einem Ereignis jeden Wahlkampfes geworden ist. Die Beschreibung des Nixon–Kennedy-Duells in »The Making of the President« wurde zum Lehrstück der Wahlkampfplaner und ließ ein neues Wahlkampfelement entstehen.1 KOALITIONSWAHLKÄMPFE, LAGERWAHLKÄMPFE 1949 trat noch jede Partei für sich an. Zwar hatten sich im Anschluss an die Allparteien-Regierungen auf Länderebene, die 1945/46 von den Besatzungsmächten eingesetzt worden waren, nach den ersten Landtagswahlen Koalitionen gebildet; doch waren diese noch vom Modell der Konzentration aller politischen Kräfte auf den Wiederaufbau geprägt – nur die Kommunisten warf man sehr bald heraus. Für die Regierungsbildung aufgrund einer breiten Koalition bestanden 1949 mehrere Optionen. Auch eine Weimarer Koalition aus SPD, der Zentrumsnachfolgerin CDU und der FDP, der Erbin der liberalen

Parteien, wäre denkbar gewesen. Dagegen standen jedoch die drei wichtigsten politischen Führer der Gründungszeit: der ehemalige Zentrumspolitiker Konrad Adenauer sowie der einstige Linksliberale Theodor Heuss, die beide eine bürgerliche Regierung anstrebten, und der Sozialdemokrat Kurt Schumacher, der ausschließlich eine SPD-geführte Bundesregierung für möglich hielt. Da die SPD knapp hinter der CDU/CSU lag, eröffnete sich ein Handlungsraum für eine bürgerliche Koalition, die Adenauer mit Unterstützung der FDP und der nationalkonservativen niedersächsischen Regionalpartei Deutsche Partei (DP) schließlich auch erreichte.

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1  Theodore White, The Making of the President 1960, New York 1961.

Die Regierungsparteien CDU/CSU, FDP und DP einigten sich für den Bundestagswahlkampf 1953 auf einen Lagerwahlkampf, dessen wichtigstes Ziel in der Verteidigung der Regierungsmehrheit und daneben im Gewinn einer hohen Zahl von Wahlkreisen bestand. Die SPD sollte aus den Wahlkreisen vertrieben werden. Man entschied, den jeweils aussichtsreichsten Parteikandidaten zu unterstützen, und zog dafür den eigenen Kandidaten zurück. Da ab 1953 die Zweitstimme galt, konnte mit der Zweitstimme die Partei des Herzens unterstützt werden. Die Absprachen gelangen 1953 nahezu perfekt: Allein in Niedersachsen nahmen die Gemeinschaftskandidaten der SPD 13 Wahlkreise ab. Das 1953er-Modell funktionierte 1957 nur noch mit Einschränkungen. Die FDP hatte sich 1956 gespalten; ihr Ministerflügel verband sich im Bündnis mit der DP zur DP/ FVP (Freie Volkspartei), die Wahlkreisabsprachen mit der CDU erreichte und darüber mit dem Schwerpunkt Niedersachsen Wahlkreisgewinne der SPD verhinderte. Mit den Lagerwahlkämpfen war dann erst einmal Schluss. 1961 griffen SPD und FDP die seit 1957 mit absoluter Mehrheit regierende CDU/CSU an –

wobei der FDP-Wahlkampf von gleichzeitiger Distanz zur SPD bestimmt war. Es war ein Anti-Adenauer-Wahlkampf; doch bei einer Niederlage der CDU/ CSU wollte die FDP nur mit der Union koalieren, auf keinen Fall aber mit

der SPD. Diese Konstellation bestimmte auch den Wahlkampf 1965: Die SPD sah sich den Regierungsparteien CDU/CSU/FDP gegenüber, die nun wieder als Lager antraten. Auf den ersten Blick überraschend war deshalb 1966 der Zerfall der von Bundeskanzler Ludwig Erhard geleiteten Bundesregierung, der auch für eine SPD/FDP-Regierung Chancen bot. Die schließlich gebildete Große Koalition

leitete den politischen Wandel der FDP ein, der nach der Unterstützung ­Gustav Heinemanns (SPD) durch die Liberalen bei der Wahl zum Bundespräsidenten 1969 zu einem hinkenden Lagerwahlkampf führte. Die FDP griff die Große Koalition an und machte deutlich, dass sie bei ausreichender Mandatszahl eine Koalition mit der SPD abschließen könnte, während sich die SPD langsam aus der Großen Koalition löste, ohne sie zu brechen. Der 1969 gebildeten sozialliberalen Koalition blieb angesichts der kompromisslosen Opposition der Union keine andere Wahl, als 1972, 1976 und 1980 einen Lagerwahlkampf zu führen. Obwohl SPD und FDP gegen die von dem Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß angeführte Union 1980 einen klaren Wahlsieg errangen, beendete die FDP 1982 mit ihrem Koalitionswechsel das sozialliberale Bündnis, das auf Länderebene noch eine begrenzte Fortsetzung fand, bevor sich dann in den 1980er Jahren überall in schwarz-gelben Klaus Wettig  —  Die Geburt des Kanzlerkandidaten

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Koalitionen die historische CDU-FDP-Zusammenarbeit wiederholte. Lediglich die CSU in Bayern verzichtete aufgrund ihrer absoluten Mehrheiten auf eine Kooperation mit der FDP. Nur zaghaft bildete sich auf der Gegenseite ein rot-grünes Lager, weil die SPD mit einer Zusammenarbeit zögerte. Die Hessen-Koalition machte 1985

den Türöffner, ohne dass danach schon von einem politischen Lager hätte gesprochen werden können. Erst im Zuge weiterer Koalitionen der SPD mit den Grünen auf Länderebene bildete sich ein sozialökologisches rot-grünes Projekt heraus, das 1998 die Abwahl der CDU/CSU-FDP-Regierung unter Helmut Kohl erreichte. Die folgenden sieben Jahre waren ein kurzes Jahrzehnt für Rot-Grün; nur auf der Länderebene existierte Rot-Grün weiter, doch die Auffächerung des Parteiensystems beendete die Chancen der klassischen Lagerkonstellation. Der von vornherein aussichtslose rot-grüne Lagerwahlkampf 2013 unterstrich das Ende dieses Modells, ohne dass 2017 erkennbar wäre, wie eine Neuauflage linker Lagerpolitik, erweitert nunmehr um DIE LINKE, mehrheits- und regierungsfähig werden könnte. MIT ODER OHNE WERBEAGENTUR Das Produkt gewinnt, nicht die Werbeagentur. Aus dieser einfachen Erkenntnis folgt, dass die interessanteste Kampagne und die kreativste Werbung ein schlechtes Produkt nicht zum Erfolg führen können. Kurzfristige Marktgewinne sind zwar möglich, doch schon mittelfristig entscheidet die Produktqualität über den Erfolg. Die gestaltende Werbeagentur kann Produktkorrekturen verlangen, doch niemals ein neues Produkt kreieren. Auf politische Parteien angewandt bedeutet dies, dass Agenturen helfen können. Wenn jedoch die Partei nicht hören will oder kann, fällt jeder Agenturrat durchs Rost. Durch Agenturen gestaltete Wahlkämpfe fehlten in der Gründungszeit der Bundesrepublik. Wir finden viel Eigenbau. Den Parteien verbundene Werbebüros lieferten die Zuarbeit für Plakate, Anzeigen und Broschüren – und so sahen die Produkte dann auch aus. Vieles erinnerte an den Werbestil der Weimarer Republik und der Nazizeit, Zitate früherer Werbemittel waren nicht selten. Außerdem setzte mancher Werber seine mit dem Kriegsende nur kurz unterbrochene Karriere fort. Nicht übersehen werden darf, dass die damaligen technischen Möglichkeiten die Gestaltung begrenzten. Der Buchdruck war im Farbdruck dem heutigen Offsetdruck weit unterlegen, auch größere Formate für das später beliebte Großflächenplakat konnten nur aufwendig, d. h. teuer, gedruckt werden. Das Angebot an Großflächen war begrenzt, erst allmählich entdeckten

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Werbefirmen diesen Markt; an die neuen Angebote von mobilen Großflächen, Ganzstellen und City-Lights war noch nicht zu denken. Tagesszeitungen druckten allenfalls eine Auszeichnungsfarbe, die im Tiefdruck produzierten Illustrierten entwickelten sich nur langsam zu farbigen Produkten. Schwarz war also die beherrschende Wahlkampffarbe; nur die Plakate konnten mit Farben aufwarten, aber auch hier waren dies selten mehr als zwei. In dieser Eigenbau-Welt fällt kein besonderer Gestalter auf. Auch die SPD schuf keinen eigenen Stil, obwohl sie schon am Sitz in Hannover 1949 hauseigene Grafiker beschäftigte, die mit dem Umzug nach Bonn 1950 zu einer Werbegruppe zusammengeschlossen wurden – Werbeabteilung genannt. Hier wurden die Werbemittel des Parteivorstandes entworfen, an denen sich auch die regionale SPD orientierte: Das rautenförmige SPD-Logo wurde verwandt, die Farbe Rot verlangte die Parteitradition. Die Roten warben mit Rot. Die SPD-Werbung für die Bundestagswahlkämpfe 1953 und 1957 gilt als Schulbeispiel für misslungene Wahlkampagnen. Die Vielfalt der Motive sowie ihre Gestaltung lösten schon im Wahlkampf Kopfschütteln aus und wurden von Wahlanalytikern zu den Gründen für die Wahlniederlagen gerechnet. Erst mit dem Bundestagswahlkampf 1961, als Willy Brandt zum ersten Mal als Kanzlerkandidat antrat, veränderte sich der altbackene Stil der SPD. Brandts Berater sorgten für Korrekturen und in der Baracke nutzte ein

junger Journalist – Karl Garbe – seine Chance. Die Vielfalt verschwand, der Wahlkampf wurde zentrierter. Die Gestaltung orientierte sich an der Schweizer Typografie, die sich an die von den Nazis aus Deutschland vertriebenen Bauhaus-Typografen anlehnte. Für das Partei-Logo wurde eine serifenlose Antiqua (Grotesk-Schrift) gewählt und statt Rot wurde nun Blau zur Grundfarbe. Die nach dem Godesberger Reformparteitag einsetzende Modernisierung der SPD fand erstmals im werblichen Auftritt ihren Ausdruck. Freilich gab es Widerstand: Vielerorts wurde das Rauten-Logo weiter benutzt, und auf dem Karlsruher Parteitag 1964 musste der Brandt-Berater Klaus Schütz die Farbe Blau rechtfertigen. Alles in allem aber setzte sich der neue Kurs in der SPD-Werbung durch, zumal er mit besseren Wahlergebnissen verbunden war. Deutliche Kritik am fortbestehenden Eigenbau gab es dann 1965, als Wahlerwartungen und Ergebnis deutlich auseinanderfielen, während die CDU mit Ludwig Erhard ein sehr gutes Ergebnis erzielte. Erhard wäre auch bei einer kreativeren, weniger hausbackenen Werbung von Willy Brandt kaum zu schlagen gewesen, doch bot die misslungene Kampagne einen Anlass, die hauseigene Werbung und den verantwortlichen Wahlkampfleiter, Herbert Wehner, anzugreifen. Trotz Anti-Wehner-Papiers und zahlreichen kritischen Anmerkungen Klaus Wettig  —  Die Geburt des Kanzlerkandidaten

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zum Wahlkampf konnte die SPD-Führung die Angriffe zunächst einfangen. Schlechte Landtagswahlergebnisse machten nach der Bildung der Großen Koalition 1966 jedoch bald deutlich, dass ein Neuanfang gesucht werden musste. 1969 gab es diesen neuen Anlauf. Zwei Kritiker der SPD-Werbung, Harry Lorenz und Harry Walter – die doppelten Harrys –, die aus der kommerziellen Werbung kamen, gründeten in Abstimmung mit der SPD die Agentur ARE , die nun über mehrere Bundestagswahlen bis einschließlich 1980 die Wahlkämpfe der SPD gestaltete und auch zahlreiche Landtagswahlkämpfe übernahm. 1969 zog mit ARE umfassende Professionalität in die SPD-Wahlkämpfe ein. Die SPD war plötzlich auf Augenhöhe mit der Union, ihr 1969 und 1972 sogar überlegen. Kandidat und Programm fanden eine kongruente Werbung. Zum Werbegeschäft gehört der Agenturwechsel. Neue Vorstände, neue Führungen, neue Tendenzen verlangen eine andere Präsentation. So endete auch die SPD-Zusammenarbeit mit ARE. Eine Antwort auf die neuen sozialen Bewegungen musste gefunden werden, vor allem auf den frischen, unbelasteten Auftritt der Partei Die Grünen. Der neue Bundesgeschäftsführer Peter Glotz warb, auf der Suche nach einer neuen SPD-Identität, mit GGK Frankfurt eine Agentur ein, die diesen Kurs werblich gestalten sollte. GGK leistete Beachtliches, scheiterte mit Peter Glotz freilich an Erdschwere und am Traditionalismus der SPD, sodass man für 1987 zum Quasi-Eigenbau zurückkehrte und ein Kleinstunternehmen den Wahlkampf für den Kanzlerkandidaten Johannes Rau gestalten ließ. 1990 änderte sich dieser Stil nur geringfügig, obwohl die neue Agentur RSCG Butter&Rang – später nur Butter –, die durch einen bemerkenswerten

Europawahlkampf der SPD 1989 ihr Können gezeigt hatte (»Wir sind Europa«), die führende Agentur war. Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine sorgte für provinziellen Einfluss, was der Kampagne nicht bekam. Eine lupenreine Butter-Kampagne hätte das Ergebnis freilich nur geringfügig zu verbessern geholfen, denn der unklare SPD-Kurs gegenüber der deutschen Einheit und eine brillante Unions-Kampagne wären durch eine noch so kreative Wahlwerbung nicht auszugleichen gewesen. Was Butter leisten konnte, zeigte die Agentur 1994, als die SPD sich mit dem Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping deutlich erholte und die schwarzgelbe Koalition lediglich einen knappen Vorsprung erkämpfte. Nur die Patzer des Kandidaten Scharping und die lustlose Kampagnenleitung des SPD-Wahlkampfleiters Günter Verheugen retteten Helmut Kohl damals die Kanzlerschaft. Mit dem Führungstrio Lafontaine–Schröder–Müntefering kam vier Jahre später, 1998, neuer Schwung in den SPD-Wahlkampf. Kanzlerkandidat Gerhard Schröder brachte die Agentur Odeon Zwo mit, die ihm in Klaus Wettig  —  Die Geburt des Kanzlerkandidaten

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Niedersachsen 1994 und 1998 zur absoluten Mehrheit der Sitze verholfen hatte; die Stelle der ausgewechselten Agentur Butter nahm KNSK ein, eine in der kommerziellen Werbung erfahrene Agentur. Auf KSNK 2002 folgte schließlich 2005 und 2009 wieder Butter, was als Ausdruck risikofreier Professionalität angesehen werden kann. Eine vertraute Agentur macht das Geschäft überschaubar, die bekannten Turbulenzen der SPD-Führung minderten auch aufseiten der Agenturen die Risikofreude, eine derart schwierige Kampagne zu übernehmen. Risikofreude stand nie im Zentrum der CDU-Kampagnen, aber die Union setzte seit 1953 auf professionelle Werbung und ihr gelangen mit durchaus durchschnittlichen Agenturen außerordentliche Erfolge – wobei schon 1957 (»Keine Experimente«) die Union mit ihrer Agentur einen Treffer landete. In späteren Jahren lieferte die Agentur Coord von Mannstein solide Kampagnen und gute Ergebnisse. Solidität rangierte vor Kreativität, was die Unionswähler offensichtlich schätzten. Im Bericht über die Werbeagenturen der Bundestagswahlkämpfe darf Baum, Mangs, Zimmermann ( BMZ) nicht vergessen werden, die 1969 das altbackene Image der FDP veränderten. Plötzlich passte zum sozialliberalen »Freiburger Programm« der FDP ein unkonventioneller Werbestil. Die FDP wurde zur Pünktchenpartei F.D.P. und vermittelte durchschlagend: »Wir schaffen die alten Zöpfe ab«. Sie hat dieses Versprechen nicht einhalten können, seitdem schwankt die Zustimmung zur FDP. Die Erfindung von BMZ konnte die FDP nicht dauerhaft mit Leben füllen. NEGATIVE CAMPAIGNING Negative campaigning heißt eine Wahlkampfform, die in den Vereinigten Staaten seit Langem zum Standard jedes Wahlkampfes gehört – gleich, ob es um die Präsidentschaft geht oder um einen Senatorensitz. Auch bei den zahlreichen anderen Wahlämtern besitzt die Negativkampagne Bedeutung, die den Konkurrenten ausleuchtet und vor keiner Indiskretion zurückschreckt. Genutzt werden die Veröffentlichung von Krankenakten, Recherchen zu außerehelichen Beziehungen usw. Jedenfalls zeigen die US-Wahlkämpfe der vergangenen fünfzig Jahre, dass keine Skandalisierungsgelegenheit ausgelassen wurde. Es hat sich sogar ein eigenes Medien-Gewerbe mit Parallelorganisationen entwickelt, die als Necpacs – negative political action comittees – auf diese Kampagnen spezialisiert sind, traditionell ihren Schwerpunkt in der kommerziellen TV-Werbung hatten und inzwischen die sozialen Medien nutzen. Im Rückblick auf die Wahlkämpfe der Bundesrepublik findet sich nichts Vergleichbares, obwohl es die negative Kampagne auch bei uns gibt. Zu

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erinnern ist an die Hirtenbriefe der katholischen Bischöfe gegen die SPD, die erst ab 1965 zu einem ausgewogenen Ton fanden, auch an Kampagnen der Union, vor allem der CSU, welche die SPD als fünfte Kolonne Moskaus bezeichneten, als Agenten der kommunistischen Sowjetunion – eine Strategie, die zum letzten Mal 1980 unter dem Label »Freiheit statt Sozialismus« gefahren wurde. Aus dem Wahlkampf 1953 bleibt eine Behauptung Adenauers in Erinnerung, mit der er zwei SPD-Abgeordneten vorwarf, Geld aus der DDR empfangen zu haben – den verleumderischen Vorwurf nahm er nach der Wahl zurück. Adenauer war ohnehin mit solchen Attacken nicht zimperlich, zu denen 1961 auch der Angriff auf Willy Brandt wegen dessen außerehelicher Geburt gehörte. Der als gefährlicher Konkurrent eingeschätzte Brandt war stets ein beliebtes Objekt des negative campaigning. 1969 plakatierte die CSU gegen Brandt Zitate aus dessen Exilschriften, mit denen die nationale

Unzuverlässigkeit des SPD-Kandidaten belegt werden sollte. Auch Herbert Wehner bot wegen seiner KPD-Vergangenheit immer wieder Angriffsflächen. 1972 überboten sich die Wirtschaftsverbände in ihrem negative campaigning gegen die Wirtschaftspolitik der SPD: Ganzseitige Zeitungsanzeigen warnten vor einer Rückkehr der SPD zu marxistischen Wirtschaftspositionen. Die Kampagne muss Hunderttausende gekostet haben, wurde von der SPD jedoch nach dem Wahlkampf als wirkungslos eingestuft. Sie habe vor allem die sozialdemokratische Anhängerschaft mobilisiert. Selbstverständlich antwortete auch die SPD. Ein entschlossenes negative campaigning traf aber nur Franz Josef Strauß, der mit seinem politischen Programm und seinen unkontrollierten Auftritten ein erstklassiges Ziel bot. Zuweilen musste Strauß auch gar nicht angegriffen werden, weil er sich mit seinen Ausbrüchen selbst schadete. Hinter ihm standen alle Unionspolitiker zurück, negative campaigning lohnte sich nicht. Das gilt selbst für die täppischen Auftritte in Helmut Kohls Anfangsjahren als Bundeskanzler. Die Darstellung des Kohl-Porträts als Birne, in Übernahme der historischen Karikatur von Karl X. aus Le Charivari von 1835, setzte sich nicht durch. Und an Angela Merkel reiben sich selbst die Kabarettisten und Karikaturisten. Negative Campaigning könnte im Wahljahr 2017 sicher Sahra Wagenknecht treffen, die Spitzenfigur der LINKEN, oder die AfD-Vertreter von Alexander Gauland bis Frauke Petry. Hier zögern die Konkurrenten, und das öffentlichrechtliche Fernsehen hilft diesen Politikern bei ihrer Promotion. Bleibt noch anzumerken, dass es bereits vor einem halben Jahrhundert Versuche zu einem Abkommen über fairen Wahlkampf gegeben hat. Solche Ansätze blieben Episode, weil man sich über Fairness und Unfairness im konkreten Fall nicht verständigen konnte. Das Abkommen von 1965 blieb ein Unikat. Klaus Wettig  —  Die Geburt des Kanzlerkandidaten

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DIE PARALLELAKTIONEN Sehr treffend hat H.W. Kitzinger2 den Begriff »Parallelaktionen« aus Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« übernommen, um die vielfältigen Aktionen einzuordnen, die während eines Wahlkampfes von Personen oder Organisationen unternommen werden, welche die Wahl einer Partei oder eines Kandidaten zu befördern versuchen. Für die erste Bundestagswahl 1949 lässt sich diese parallele Werbung für eine Partei oder ihre Kandidaten nur schwach feststellen: Die Verbändedemokratie war gerade geboren und der lobbyistische Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestages musste noch seine Rolle finden. Nur der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe sorgte für eine Orientierung auf die Unionsparteien, wie auch in den folgenden Wahlen bis 1965. Zur Entwicklung der Bundesrepublik gehört mit wachsender wirtschaftlicher Stärke und zunehmender Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialverfassung durch die Verfassungsorgane auch die Parallelaktion der Wirtschaftsverbände bei Bundestagswahlen. Die Kandidaturen von Verbandsvertretern, weniger von Unternehmern, in den Wahlkreisen für die CDU/CSU und die FDP steigen an. Steht ein Wahlkreis nicht zur Verfügung, genügt auch ein

sicherer Landeslistenplatz. Selbstverständlich ist die Unterstützung durch die Verbandspolitik und die Verbandsmedien, wozu auch negative campaigning gegen die SPD-Kandidaten gehört. Beliebt ist der Fragebogen des Verbandes an die Kandidaten, die bei der erwarteten Antwort den SPD-Kandidaten stets in Schwierigkeiten bringt. Im Unterschied zur Weimarer Republik sind die Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes als politische Einheitsgewerkschaften zur politischen Neutralität verpflichtet, weshalb es von ihrer Seite aus keine offene Unterstützung gibt – was jedoch die Unterstützung der Gewerkschaftskandidaten nicht ausschließt, die sich überwiegend bei der SPD finden. Nur verdeckte Aufrufe leisten sich der DGB und manche Einzelgewerkschaft: »Für einen besseren Bundestag« lautet der häufige Aufruf, der Sympathie für die SPD erkennen lässt, aber in seiner Breitenwirkung deutlich hinter den Wirt-

schaftsverbänden zurücksteht. Ihm fehlt es an Strenge und Eindeutigkeit. Dass eine Parallelaktion auch eine aggressive Seite haben kann, zeigt die Kampfaktion des Speditionswesens 1969, die durch frühmorgens zuzustellende Eilbriefe dazu aufrief, gegen die Verkehrspolitik des SPD-Verkehrsministers Georg Leber zu revoltieren. DIE WAHLKAMPFFINANZIERUNG Ohne Moos nichts los, das trifft auch auf Wahlkämpfe zu. Nur selten sorgt die Metakommunikation für hinreichende Mobilisierung, für eine

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2  Vgl. H.W. Kitzinger, Wahlkampf in Westdeutschland, Göttingen 1960, S. 132 f.

Wahlbeteiligung, die als ausreichende Legitimation angesehen werden kann. Also müssen die Parteien mit gekaufter Kommunikation für die Beteiligung an der Wahl, für ihre Wahl werben. Die Meinungen über den dafür notwendigen finanziellen Einsatz gehen auseinander; empirisch lässt sich kein Beweis dafür liefern, dass ein hoher Wahlkampfetat den Wahlerfolg garantiert. Im Gegenteil finden sich einige Beispiele dafür, dass trotz eines üppigen Budgets die Wahl verloren ging – freilich desgleichen Beispiele, die den Zusammenhang von fehlendem Geld und schlechtem Abschneiden zeigen. Vielfach belegt ist aber der rasche Aufstieg von Parteien in besonderen Situationen, ohne dass dieser von einem intensiven Wahlkampf mit gekaufter Kommunikation begleitet gewesen wäre. Zu erinnern ist an die Wahlerfolge der NPD 1967/68, der Grünen 1978 oder der Republikaner 1984. Standard ist jedoch der Wahlkampf, wie er seit 1949 von der CDU/CSU und der SPD organisiert wird: mit beachtlichem Mitteleinsatz auf der zentralen Ebene und ergänzenden Initiativen in den Wahlkreisen, deren Wahlkämpfe die zentral finanzierten Aktionen beeinflussen. In den ersten Jahrzehnten war die Union der SPD bei der Wahlkampffinanzierung deutlich überlegen. Die Wirtschaftsnähe der Union ließ die Spenden fließen. Damit korrespondierte die Wirtschaftsferne der SPD, die Wirtschaftsspenden zur seltenen Ausnahme machte. Auch in den Wahlkreisen fanden wir diese Situation. Auffällig waren bei einigen Bundestagswahlen Unternehmer als Wahlkreiskandidaten, die ihre finanziellen Möglichkeiten in ihre Wahlkämpfe einbrachten. Zu nennen sind hier die Unternehmer Elmar Pieroth (CDU), Philip Rosenthal (SPD) und Rudolf Werner (CDU). Trotz außerordentlichem Etat gelang den CDU-Kandidaten der Wahlkreisgewinn nicht, was Philip Rosenthal erreichte, doch nur mit einem Ergebnis, das sich im Durchschnitt der SPD-Ergebnisse bewegte.3 Die mehrfach veränderte Parteiengesetzgebung trägt seit den 1980er Jahren dazu bei, dass wir über die Spenden an die politischen Parteien Genaueres wissen. Einige Großunternehmen bedenken heute auch die SPD, und die einst wirtschaftsfernen Grünen erhalten Spenden von ökologisch orientierten Unternehmen – wenn auch in geringem Umfang. Ein Dunkelfeld sind weiterhin die Spenden unterhalb der Veröffentlichungsgrenze von 10.000 Euro: Sie erreichen bei der CDU/CSU und bei der FDP eine beachtliche Höhe. Es darf vermutet werden, dass sie überwiegend aus der Wirtschaft stammen. 3  Klaus Wettig, Rosenthals Wahlkampf, Berlin 2008.

Die SPD kann bei den Wahlkampfspenden indes nicht mithalten, da ihr nahestehende Verbände wirtschaftlich nicht potent genug sind oder, wie die Klaus Wettig  —  Die Geburt des Kanzlerkandidaten

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Einheitsgewerkschaften, nicht spenden dürfen. Allenfalls profitieren die Kandidaten aus ihren Reihen von den gewerkschaftlichen Ressourcen. DIE DEMOSKOPIE »Ach, wie war es doch vordem ohne Demoskopen so bequem«, könnten heute die Wahlkampfplaner seufzen, da die ersten Wahlkämpfe in der Bundesrepublik noch ohne Beratung durch Meinungsforscher organisiert waren. Dem Institut für Demoskopie in Allensbach gebührt der Ruhm, die Politikberatung der Meinungsforschung erschlossen zu haben. Die Aktivitäten des Ehepaars Elisabeth Noelle-Neumann und Erich Peter Neumann, der von 1961 bis 1965 auch dem Bundestag für die CDU angehörte, brachten Allensbach ins Geschäft bei der Union, die ab 1953 für ihre Kampagnen intensiv Umfrageergebnisse nutzte. Wie bei der Professionalisierung der Wahlwerbung hinkte die SPD auch bei der Demoskopie hinterher. 1957 wurden Emnid und DIVO beschäftigt, jedoch mit geringem Einfluss auf die SPD-Kampagne. Erst 1961 gewannen die Demoskopen auch bei den Sozialdemokraten an Einfluss. Schließlich wirkte die SPD als Pate bei der Gründung von infas, das unter seinem umtriebigen Chef Klaus Liepelt4, der gleichzeitig der SPD angehörte, für ein gutes Jahrzehnt zur Agentur der SPD wurde. Liepelt nahm auf zahlreiche Kampagnen der SPD Einfluss und gewann durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen

und seine Wahlanalysen im Fernsehen an Renommee. Das zur Bundestagswahl 1965 startende Institut landete einen ersten großen Beratungserfolg mit der Landtagswahl 1966 in Nordrhein-Westfalen, als die SPD überraschend 100 von 200 Sitzen gewann. Dass Rat jedoch nicht immer geschätzt wird, erfuhr Liepelt, als infas mit seiner Analyse der Folgen des Mehrheitswahlrechts für die SPD dieses Projekt der Großen Koalition 1968 zerstörte. Im Markt der Institute hielt sich Allensbach und wurde zum Dino; auch Emnid ist bei politischen Umfragen immer wieder dabei. Andere sind längst verschwunden, wie die Wickert-Institute Illereichen. An die Stelle von infas ist Infratest getreten, vor allem in der Fernsehpräsenz; neu sind die Forschungsgruppe Wahlen und Forsa. Jedenfalls gilt seit gut fünfzig Jahren das Diktum Rudolf Wildenmanns: »Wahlkampf beginnt mit Demoskopie«.

Klaus Wettig war Europaabgeordneter und hat zahlreiche Wahlkämpfe für die SPD organisiert, u. a. die Europawahlkämpfe 1984 und 1989. Als Lehrbeauftragter ­unterrichtete er Wahlsoziologie an der Universität Göttingen. Mit Peter Lösche analysierte er in jedem Bundestagswahljahr von 1990 bis 2005 die Wahlen dieser Jahre.

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4  Siehe Fritz Sänger u. Klaus Liepelt, Wahlhandbuch 1965, Frankfurt a. M. 1965; Klaus Liepelt, Thesen zur Wählerfluktuation, Frankfurt a. M. 1968.

DEMOKRATIE HEISST NICHT GLEICHBERECHTIGUNG POLITISCHE PIONIERINNEN DER LINKEN ZWISCHEN KAISERREICH UND REPUBLIK ΞΞ Margret Karsch

Der Sexismus, die Denunziationen, der beleidigende Ton, den der im November 2016 gewählte US-Präsident Donald Trump gegenüber seiner Konkurrentin Hillary Clinton im Wahlkampf anschlug: All das ist nichts Neues für politische Akteurinnen, heute wie damals. Und immer noch gelten für Frauen und Männer unterschiedliche Regeln – wäre Clinton so aufgetreten wie Trump: Es hätte ihr geschadet, nicht genutzt. Politics is still a man’s game. Dennoch besitzt die Tatsache, dass mit Clinton zum ersten Mal beinahe eine Frau US-Präsidentin geworden wäre, emanzipatorische Wirkung.1 Geschlecht ist eine Konstruktion; aber so weit, dass wir die zweigeschlechtliche Ordnung und die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern ignorieren könnten, ist die Welt noch nicht. WIDERSTANDSVORBILDER Die Politikerinnen der Weimarer Republik waren allesamt Pionierinnen. Wohl kaum eine von ihnen bezeichnete sich als »Feministin«. Aber als Pionierinnen sind sie feministische Vorbilder – für alle, die Räume betreten wollen, die ihnen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Nationalität, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Sexualität, ihres sozialen Milieus oder anderer Kategorisierungen verschlossen sind. Unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit und den von ihnen vertretenen Auffassungen zeigten die Frauen im Deutschen Reichstag und in anderen politischen Institutionen, dass sie verstanden, als Interessenvertreterinnen zu denken und zu handeln. Allein dadurch ermutigten sie andere, sich politisch zu engagieren. Nach der nahezu vollständigen Entmündigung von Frauen noch im Deutschen Kaiserreich musste allein das schon revolutionär wirken und auf den Widerstand der herrschenden Kräfte stoßen, die ihre Pfründen verteidigten. 1  Vgl. Jeffrey A. Karp u. ­Susan A. Banducci, When politics is not just a man’s game: Women’s representation and political engagement, in: Electoral Studies, Jg. 27 (2008), H. 1, S. 105–115.

Ein bis heute internationales Vorbild innerhalb der politischen Linken ist Rosa Luxemburg (1871–1919), geboren im Königreich Polen. 1889 drohte ihr die Verhaftung, weil sie Mitglied einer marxistischen Gruppe war. Sie floh in die Schweiz, studierte Philosophie, Staats- und Rechtswissenschaften,

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promovierte 1897, zog nach Berlin und trat in die SPD ein. Wegen ihrer pazifistischen Reden saß sie mehrmals im Gefängnis. 1916 versammelte sie gemeinsam mit Karl Liebknecht die Kriegsgegner innerhalb der SPD im »Spartakusbund«, der sich 1917 der USPD anschloss und Ende 1918 in der neugegründeten KPD aufging. Die KPD forderte die »völlige rechtliche und soziale Gleichstellung der Geschlechter«. Im März 1919 wurden Luxemburg und Liebknecht in Berlin von der Garde-Kavallerie-Schützen-Division ermordet. Luxemburg stand in engem Austausch mit ihrer älteren Freundin Clara Zetkin (1857–1933), die zu den einflussreichsten sozialistischen bzw. kommunistischen Politikerinnen ihrer Zeit gehörte. 1889 hatte Zetkin die Abhandlung »Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart« veröffentlicht, in der sie herausarbeitete, dass das kapitalistische System Frauen von der »Haussklaverei« in die »Lohnsklaverei« gebracht habe und ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit verhindere. Zetkin forderte die völlige Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie das Ende der ungerechten, von Männern bestimmten Strukturen – und zwar weltweit. Zeitlebens setzte sie sich für die internationale politische Zusammenarbeit ein und ging davon aus, dass die Einführung des Sozialismus die Unterdrückung von Frauen beenden würde. Luxemburg wiederum hob in ihrer Analyse »Frauenwahlrecht und Klassenkampf« aus dem Jahr 1912 hervor, dass das Frauenwahlrecht eine gemeinsame Angelegenheit von Frauen und Männern des Proletariats sei; denn es würde Millionen Frauen ein Mitspracherecht bei der Gestaltung des Staates einräumen und infolgedessen die progressiven Kräfte des revolutionären Sozialismus stärken. Sie betonte darüber hinaus, dass der Kapitalismus u. a. auf der unbezahlten Arbeit der Frauen in Haushalt und Fürsorge basiere – was bis heute als unbezahlte care work kritisiert wird, die Ungerechtigkeit zementiere. ZWEIERLEI FRAUENRECHTLERINNEN Damit stellten Luxemburg und Zetkin die Systemfrage. Und deshalb lehnten sie auch ab, zusammen mit den bürgerlichen Streiterinnen für Frauenrechte in die gemeinsame Schublade »Frauenrechtlerin« gesteckt zu werden. Tatsächlich unterschlägt diese Bezeichnung oft den Einsatz für einen weltweiten, grundlegenden sozial-ökonomischen Wandel: Wohl noch weniger als damals denken heute Menschen bei der Verwendung des Begriffs »Frauenrechtlerin« an die damalige – in vielen Ländern freilich unverändert aktuelle – Situation von Frauen in Lohnarbeit und das verbreitete Elend der Arbeiterfamilien, einschließlich der Kinder, auf deren Ausbeutung das hohe Tempo der industriellen Revolution basierte. Arbeitszeiten von zwölf bis 14 Stunden waren die Regel und wurden in manchen Branchen trotz der harten körperlichen

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Arbeit sogar überschritten. Frauen und Kinder erhielten geringere Löhne als Männer. Und obwohl 1898 die Hälfte der Frauen im berufstätigen Alter außer Haus arbeiteten, galt als selbstverständlich, dass diese Frauen zusätzlich die – körperlich ebenfalls anstrengende – Hausarbeit inklusive Putzen, Waschen und Pflege von Kranken übernahmen. Es liegt auf der Hand, dass es für Arbeiterinnen und Dienstmädchen besonders schwer war, Zeit für Weiterbildung oder politisches Engagement für menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu finden. Der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) und seine bürgerlichen Mitglieder dagegen kämpften vorrangig für das Recht auf Bildung und Erwerbstätigkeit als Weg zur Unabhängigkeit. Noch um die Wende zum 19. Jahrhundert waren ideologische Schriften populär, die vorgeblich christlich oder wissenschaftlich argumentierten, dass Frauen nach Gottes Willen oder aufgrund geringerer Hirngröße und schwächerer Physis Männern per se unterlegen seien.2 Erst 1909 durften Frauen deutschlandweit studieren, bis zur Zulassung in den jeweiligen Berufen vergingen weitere Jahre. Viele gesellschaftlich engagierte, bürgerliche Frauen hatten lange gezögert, die ihnen radikal anmutende Forderung nach dem Frauenwahlrecht zu vertreten und damit in Reichweite erscheinende Fortschritte beim Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit aufs Spiel zu setzen. Nur wenige wagten, die Menschenrechte für alle zu fordern, darunter das Stimmrecht und das Recht auf Eigentum, wie es etwa die Publizistin Hedwig Dohm (1831–1919) bereits 1876 getan hatte.3 Doch seit Ende der 1890er Jahre formierte sich eine breite Front von Politikerinnen und Politikern für allgemeine, direkte, gleiche und geheime Wahlen. Der aus Sicht der Zeitgenossinnen und -genossen »radikale« Flügel des 1894 gegründeten bürgerlichen Dachverbands »Bund deutscher Frauen­ vereine« ( BDF) hatte nicht nur die Debatten über Prostitution und Sexual­ moral, Verhütung und Abtreibung befördert, die für Arbeiterinnen existenziell waren, sondern auch solche über das Frauenstimmrecht. Wortführerinnen waren bspw. Lina Morgenstern (1830–1909), Minna Cauer (1841–1922), Marie 2  Vgl. u. a. Paul J.A. Möbius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Halle 1900; Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, Wien 1903. 3  Siehe Hedwig Dohm, Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauenfrage. Zwei Abhandlungen über Eigenschaften und Stimmrecht der Frauen, Berlin 1876.

Stritt (1855–1928), die wegen ihres Eintretens gegen den 1873 eingeführten § 218 den BDF-Vorsitz abgeben musste, zudem Anita Augspurg (1857–1943), Lida Gustava Heymann (1868–1943) und Helene Stöcker (1869–1943). Unabhängig von ihrer politischen Färbung – von den proletarischen bis zu den bürgerlichen und konfessionellen Vereinen – riefen schließlich alle Frauenverbände im Vorfeld der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung auf, sich an den Wahlen zu beteiligen und so den Alltag und die Zukunft der Republik zu gestalten. Margret Karsch  —  Demokratie heißt nicht Gleichberechtigung

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Neunzehn Millionen Erstwählerinnen waren zur Stimmabgabe berechtigt, fast neunzig Prozent der Wählerinnen beteiligten sich an den Wahlen. Als die verfassungsgebende Versammlung am 6. Februar 1919 in Weimar eröffnet wurde, waren 41 Frauen unter den Abgeordneten. Das entsprach einer Quote von beinahe zehn Prozent – ein Anteil, der erst wieder im deutschen Bundestag von 1983 erreicht wurde.4 Viele Parlamentarierinnen waren prominent: die BDF-Vorsitzende Gertrud Bäumer (1873–1954), die in der sozialen Fürsorge engagierte Marie Baum (1874–1964) und die für die Rechte von Dienstmädchen und Prostituierten eintretende Marie-Elisabeth Lüders (1878–1966) von der DDP; Helene Weber (1881–1962), Mitglied im Zentralvorstand des Katholischen Deutschen Frauenbundes, und Marie Zettler (1885–1950), ebendort Landessekretärin, vom Zentrum; Margarete Behm (1860–1929) von der DNVP, bekannt für ihren Einsatz für Heimarbeiterinnen; die USPD-Agitatorinnen Luise Zietz (1865– 1922) und Lore Agnes (1876–1953), die sich für die Organisation von Dienstbotinnen und Arbeiterinnen einsetzten; und die Sozialdemokratinnen Minna Bollmann (1876–1935), Helene Grünberg (1874–1928) und Elfriede Ryneck (1872–1951), die alle auch als politische Rednerinnen auftraten, sowie deren Parteikolleginnen Clara Schuch (1879–1936), deren besonderes Anliegen der Kampf gegen die hohe Säuglingssterblichkeit war, Johanna Tesch (1875– 1945), die führend im Verband für Haus- und Büroangestellte mitarbeitete, und Marie Juchacz (1879–1956), die am 19. Februar 1919 als erste Frau vor einem deutschen Parlament sprach und noch im selben Jahr die Arbeiterwohlfahrt gründete. Einige von ihnen wurden später wegen ihres Engagements für Menschenrechte von den Nationalsozialisten misshandelt und ermordet. LUISE ZIETZ UND DIE MÖGLICHKEITEN PROGRESSIVER POLITIK So anerkannt diese Frauen damals wegen ihrer Arbeit in der Öffentlichkeit auch waren: In der von Männern dominierten Politik und Kultur konnten sie nur innerhalb eines geschlechtsspezifischen Rahmens agieren, den auszuweiten viel Kraft erforderte. Manchen verlangte ihre soziale Herkunft noch zusätzliche Anstrengungen ab, da sie sich den Zugang zu Brot und Bildung erst mühsam verschaffen mussten. Das zeigt das Beispiel von Luise Zietz, geborene Körner. Zietz stammte aus einer armen Arbeiterfamilie, in der sie schon als Kind hart mit anpacken musste und oft hungerte. Mit 14 Jahren zog sie zu Hause aus, um sich ihren Unterhalt selbst zu verdienen – erst als Dienstmädchen in Hamburg und dann als Fabrikarbeiterin, bis sie sich zur Kindergärtnerin hocharbeitete. 1885 heiratete sie den Hafenarbeiter Carl Zietz; das Paar trennte sich jedoch später wieder.

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4  Vgl. Margret Karsch, Feminismus. Geschichte – Positionen, Bonn 2016, S. 75.

Die Lektüre des Bestsellers »Die Frau und der Sozialismus« (1879) von August Bebel ließ Luise Zietz laut eigener Aussage zur Sozialistin werden. Bebel stellte Frauen und Männer in seiner Schrift als gleichwertig vor – damals noch eine Ausnahmemeinung. »Geistige« Ungleichheiten begründete er mit der Herrschaft der Männer und den materiellen Unterschieden, etwa den geringeren Löhnen für ihre Arbeit. Bebel argumentierte entschieden gegen die auch bei vielen Parteikollegen vorherrschende Ansicht, dass Lohnarbeit von Frauen wider »die weibliche Natur« sei, Familien zerstöre und die Löhne senke. Dass die 1789 erklärten »Menschenrechte«, etwa das Recht auf Eigentum und politische Teilhabe, auch für Frauen gelten sollten: Darüber herrschte noch lange keine Übereinstimmung. 1912 gründete sich in Weimar gar ein »Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation«, der von völkischen Vereinen Unterstützung erhielt. Zietz trat in die Hamburger SPD ein und erwarb sich als Rednerin im Rahmen von politischen Auseinandersetzungen wie dem Hafenarbeiterstreik im Winter 1896/97 hohes Ansehen. Sie rief vor allem Arbeiterinnen und die Ehefrauen der Arbeiter, aber auch Angestellte, auf, sich gewerkschaftlich zu organisieren und für ihre Rechte zu streiken. Bald reiste sie für ihre Reden durch das ganze Reich. Obwohl Frauen bis 1908 die Mitgliedschaft in politischen Organisationen verboten war, gehörte Zietz ab 1900 zu den einflussreichsten Personen der sozialdemokratischen Frauenbewegung. Ohne dass sie zu Gewalt oder Straftaten aufgerufen hätte, wurde sie 1906 zu einer Haftstrafe von drei Monaten verurteilt, weitere drohten beständig. Neben ihren Reden schrieb Zietz auch Lehrbroschüren, wie Frauen sich am besten politisch mobilisieren ließen, Aufklärungsartikel über die rechtliche Lage und über Missstände im Mutter-, Säuglings- und Kinderschutz, schließlich Sozialreportagen. Außerdem nahm sie regelmäßig an den Parteitagen teil, bei denen Frauen immer noch Ausnahmeerscheinungen darstellten. Zwischen 1890 und 1913 erhielten hier lediglich drei Frauen Rederecht: Rosa Luxemburg, Clara Zetkin – und eben Luise Zietz. Ab 1911 war Zietz wohnhaft in Berlin, 1917 schloss sie sich der USPD an; von 1919 bis 1920 vertrat sie die Partei in der Deutschen Nationalversammlung, von 1920 bis zu ihrem Tod 1922 im Deutschen Reichstag. Sie starb infolge eines Herzinfarkts. Zietz sprach als Abgeordnete vor allem zu gleichstellungs-, sozial- und bildungspolitischen Fragen, bei denen es für Arbeiterinnen und Arbeiter angesichts der damaligen Rechtslage viel zu gewinnen gab. In anderen Bereichen war es für Frauen noch weitaus schwerer, sich Gehör zu verschaffen. Vom aktiven und passiven Wahlrecht für Frauen hatten sich die organisierten Politikerinnen sicherlich konkrete Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen Margret Karsch  —  Demokratie heißt nicht Gleichberechtigung

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versprochen, da die Frauen unter den Reichstagsabgeordneten über die Parteigrenzen hinweg Allianzen bilden konnten. Doch waren die Spielräume für fortschrittliche Veränderungen und weibliche Einflussnahme begrenzt. Die Wählerinnen stimmten mehrheitlich für die konservativen und christlichen Parteien, deren Frauenideal die Hausfrau und Mutter war. Um gewählt zu werden, war es wegen des reinen Verhältniswahlrechts für die Kandidatinnen und Kandidaten zudem entscheidend, auf einem der oberen Listenplätze zu stehen. Die Platzierung wiederum hing vom Rückhalt in der Partei ab – und eben der fehlte Neulingen oft, zumal sie als Frauen auf zusätzliche Vorurteile stießen. Das galt vor allem in den bürgerlichen Parteien. Persönliche Schmähungen und Frauenfeindlichkeit standen auf der Tagesordnung. Die wenigsten Parlamentarier waren in der Lage, die Frauen unter den Abgeordneten als gleichberechtigte Kolleginnen zu betrachten – schließlich galt die hierarchische Geschlechterordnung außerhalb des Parlamentssaales nahezu uneingeschränkt. Selbst auf die Unterstützung ihrer Parteikollegen konnte Zietz deswegen nicht zuverlässig zählen. Den Parlamentarierinnen gelang dennoch, ein paar sogenannte Frauengesetze durchzusetzen: zum Beispiel 1922 das Gesetz zur Zulassung von Frauen als Rechtsanwältinnen und Richterinnen sowie das Jugendwohlfahrtsgesetz, das etwa die Einrichtung von Jugendämtern regelte; 1924 das Gesetz zu Mindestlöhnen und Sozialversicherung für Heimarbeiterinnen; 1926 das Gesetz zur Milderung der Strafe für Abtreibung – statt des schweren Arrests mit Arbeitspflicht im Zuchthaus kamen Frauen nun bloß ins Gefängnis. 1927 wurden das Gesetz für Mutterschutz und Wöchnerinnenfürsorge sowie das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten verabschiedet, das die Strafe für Prostitution aufhob, sofern diese nicht gewerbsmäßig betrieben wurde. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg war das Frauenstimmrecht in der Verfassung verankert worden; doch da Gleichberechtigung in der politischen Kultur kein anerkannter Wert war, schlossen die Gesetze insbesondere verheiratete Frauen weiterhin von elementaren Grundrechten wie vom Recht auf Eigentum aus, und die ungleiche Ressourcenverteilung zwischen den Geschlechtern erschwerte den Wandel der Machtverhältnisse. SEXUALITÄT ALS EXISTENZIELLE FRAGE Sexualität scheint eine Privatangelegenheit zu sein, doch ihre Gestaltung und ihr Raum hängen wesentlich mit den jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnissen zusammen. Das Wissen über Schwangerschaft und Verhütungsmethoden war weder im Deutschen Kaiserreich noch in der Weimarer Republik frei zugänglich, sondern wurde von unterschiedlichen Instanzen kontrolliert.

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Der Staat und seine Anhängerschaft propagierten vor dem Ersten Weltkrieg und in den Jahren danach ein Frauenbild, das sich am Ideal der monogamen, heterosexuellen Hausfrau und Mutter orientierte. Nationalisten beschworen die Größe des Volkes und diffamierten Geburtenkontrolle als Sabotage. Obwohl eine hohe Kinderzahl gerade für die Ärmeren in der Arbeiterschaft Hunger und Not bedeutete, lehnten auch führende Sozialdemokraten es als unnatürlich ab, deshalb die Zahl der Geburten zu beschränken, und plädierten stattdessen für eine Konzentration auf den Klassenkampf: Im Sozialismus würde sich das Problem schon von selbst lösen, so die Argumentation, denn der höhere Wohlstand, die staatliche Gesundheitsversorgung und die Bildungseinrichtungen schüfen bessere Lebensbedingungen für alle. Solche Zukunftsvisionen boten freilich keine Lösung für die unmittelbaren existenziellen Probleme, die das Leben von Frauen bedrohten: Ungewollte Schwangerschaften und Geburten schränkten die Arbeitsfähigkeit von Heimund Fabrikarbeiterinnen ein und führten oftmals zum Arbeitsplatzverlust. Da soziale Absicherungen fehlten, bedeutete das die Abhängigkeit vom Einkommen und Wohlwollen des Partners oder der Familie, bisweilen gar unfreiwillige Prostitution. Alleinstehende berufstätige bürgerliche Frauen liefen ebenfalls Gefahr, in die Armut abzurutschen. Abtreibung war verboten und wurde bestraft. Manche Ärzte – und später Ärztinnen – nahmen illegale Abtreibungen vor; doch nicht immer waren es ausgebildete Medizinerinnen oder Mediziner, die Schwangerschaften heimlich in den Hinterzimmern mit ihren Gerätschaften, Pillen und Salben abbrachen. Der Vorgang war daher mit einem hohen Risiko für die Frau verbunden. Zwar gibt es keine genauen Zahlen zu den geheimen Schwangerschaftsabbrüchen, aber angesichts des schlechten Zugangs zu Verhütungsmitteln ist davon auszugehen, dass die Abtreibungen, und insbesondere die wiederholten, eine häufige Todesursache von Frauen waren – zumal sie außerdem das Sterberisiko bei den folgenden Geburten erhöhten. Die Vorstellung von einer grundlegenden Wesensverschiedenheit der Geschlechter prägte noch die Weimarer Republik. Beide Geschlechter hatten sexuelle Bedürfnisse; zu dieser Erkenntnis waren Teile der Gesellschaft gekommen, aber für Frauen war Geschlechtsverkehr wegen der möglichen Folgen zumindest teilweise angstbesetzt. Deswegen forderten viele Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung schon seit Jahrzehnten den Zugang zu Verhütungsmitteln und die Legalisierung sowie Professionalisierung von Abtreibung. Zumal sexuelle Enthaltsamkeit zwar vor ungewollter Schwangerschaft schützte, aber nicht vor sexueller Gewalt. Vergewaltigung in der Ehe galt nicht als Straftat, und insbesondere Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen waren sexuellen Margret Karsch  —  Demokratie heißt nicht Gleichberechtigung

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Übergriffen ihrer Arbeitgeber und Vorarbeiter oft schutzlos ausgeliefert. Selbst wenn es zur Gerichtsverhandlung kam und die Tat nachgewiesen wurde, so konnten die Täter häufig ihre Tat verharmlosen und wurden freigesprochen, während den Frauen die Verantwortung dafür zugewiesen und sie als unmoralisch diffamiert wurden. UNGLEICHE MACHTVERTEILUNG ZWISCHEN DEN ­G ESCHLECHTERN Die Weimarer Republik war eine Demokratie, die Frauen – unter Beteiligung von Frauen – von wesentlichen Grundrechten ausschloss. Auch wenn das Wahlrecht die Vorbedingung für weitere langfristige Erfolge war, so ließen die politischen Vertreterinnen und Vertreter zunächst keine weiteren Veränderungen der staatlichen Geschlechterordnung zu. Auch vielen Wählerinnen und Wählern schien es, als sei mit dem Wahlrecht das wichtigste frauenpolitische Ziel erreicht, alles Weitere würde sich nun von selbst regeln. Weder die bürgerlichen noch die linken Parteien traten in besonderer Weise für Frauenrechte ein. Die wohl berühmtesten linken Politikerinnen dieser Zeit – Luxemburg, Zetkin und Zietz, die sich alle vorübergehend der USPD anschlossen –, waren vom Ersten Weltkrieg geprägt und für ihre pazifistische, sozialistische oder kommunistische Haltung bekannt. Sie kritisierten zwar in Reden oder Schriften die rechtliche Benachteiligung von Frauen, betrachteten die Gleichstellung der Geschlechter jedoch nicht als Etappenziel für die Lösung

5  Zu den Einflussfaktoren zur Erklärung der politischen Beteiligung von Frauen vgl. Beate Hoecker (Hg.), Handbuch politische Partizipation von Frauen in Europa, Opladen 1998.

der auf dem Kapitalismus basierenden Probleme. In ihren Augen musste die Auseinandersetzung als politischer Kampf geführt werden, die Umwälzung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse würde zugleich die herrschende Geschlechterordnung beenden. Frauen, die in der Zwischenkriegszeit ausschließlich für Frauenrechte eintraten, machten dagegen keine große politische Karriere. Denn nicht nur ­sozio-ökonomische Faktoren wie Bildung, Erwerbsarbeit, Einkommen und Zivilstand beeinflussen die politische Partizipation. Entscheidend sind darüber hinaus zum einen institutionelle Faktoren wie das Regierungs-, Parteien- und Wahlsystem, die wiederum gesellschaftlich geprägte Karrieremuster und Nominationspraktiken hervorbringen. Zum anderen werden Beteiligungsmuster durch die jeweilige politische Kultur mit ihren Werten, Einstellungen, Normen – und insbesondere eben Geschlechterstereotypen – beeinflusst.5 Die Geschichtsschreibung muss sich anstrengen, um den Ausschluss von Frauen nicht einfach zu reproduzieren, sondern die zweigeschlechtliche Ordnung zu reflektieren. Denn nur dann lässt sich auch die Gegenwart verstehen und auf eine gerechtere Zukunft hinarbeiten.

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Dr. Margret Karsch, geb. 1974, arbeitet als Journalistin und Autorin in Stockholm. Von 2007 bis 2011 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin des BerlinInstituts für Bevölkerung und Entwicklung. Sie hat Deutsche und Niederländische Philologie, Politikwissenschaft sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaften an den Universitäten in Göttingen, Granada und Groningen studiert und zum Diskurs um »Lyrik nach Auschwitz« promoviert.

UNTER DEM RADAR PROFITORIENTIERTE WISSENSCHAFT MIT ­UNHEIMLICHEN ANSPRÜCHEN ΞΞ Friederike Müller-Friemauth / Rainer Kühn

Der Streit der Fakultäten gehört seit jeher zum Kernbestand von Wissenschaft. Doch wo hört sein legitimer Bereich auf? Dürfen wissenschaftliche Krähen einer anderen ein Auge aushacken? Zumindest dürfen sie darauf hinweisen, wenn Wissenschaft gegen ein vielleicht Profit versprechendes, gleichwohl haltlos-prophetisches Heilsprojekt eingetauscht wird. I. Paradigmenwechsel fordert man nicht ein – sie geschehen. Zur Geltung verholfen wird ihnen nicht per Akklamation im Triple-A-Journal der jeweils zuständigen Scientific Community, sondern sie vollziehen sich einfach, sofern sie im zeitgeistigen sozialen Kontext größere Resonanz erzeugen können als das bisherige Angebot. Das aktuell Verblüffende: Nicht immer bekommt Wissenschaft die Verschiebungen ihrer fundamentalen Tektonik noch mit. Was sagt das über die jeweilige Disziplin? Handelt es sich um aktive Ignoranz, welche die umstürzenden Veränderungen in ihrem Bereich verharmlost oder ignoriert? Oder um den berühmten »blinden Fleck«, der nicht erlaubt, die große différance, also die große Verschiebung, wahrzunehmen? Der im Folgenden präsentierte Change ist diesbezüglich prinzipieller Art: eine bemerkenswerte Verschiebung vom Kognitiven ins Ökonomische, weg vom Erforschen und Verstehen (Sinnanalyse), hin zum Plausibilisieren und Impulse-Setzen (Sinnproduktion). Das funktioniert mithilfe effektiver Sinnstiftungen durch geistige Nudges: durch die verhaltensökonomisch fundierte Kommunikationstechnik des sanften »Schubsens«, wodurch Handeln nicht verboten, sondern Verhalten nahegelegt wird und Individuen oder Kollektive in eine gewünschte, zumeist als gut oder optimal ausgewiesene Richtung1 1 

Grundkonzept bei Richard H. Thaler u. Cass R. Sunstein, ­Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin 2011 [2008]. Entsprechende Normentheorie bei Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin 2015.

»geschubst« werden sollen. Der Blick geht dabei in Richtung des materiellen Ertrags: Textproduktivität und Handlungsanstöße treffen auf smarten Geschäftssinn. Science goes entrepreneurial. Wir zeichnen diese Wende in Richtung Corporate Science entlang der groben Linien historisch, motivational, macht- und interessenpolitisch nach, illustrieren den Trend und spekulieren abschließend, ob es sich um eine

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atemberaubende Ahnungslosigkeit in Bezug auf den theoretischen Preis dieses Paradigmenwechsels handelt oder um eine bemerkenswerte Blindstelle im zeitgenössischen wissenschaftlichen Selbstbild (und das alles »für ein paar Silberlinge mehr«). II. Die Idee einer Corporate Science ist so alt wie das Abendland. Ihre erste Ausprägung war eng verbunden mit der griechischen Hierokratie, der Herrschaft der hellenistischen Priester; denn das Grundkonzept funktionierte damals nur sakral, qua Deutungsmacht über die Zeit. Als grundlegende, durchaus lukrative Herrschaftsbegründung via Zugriff auf Zukunft gilt das Orakel von Delphi, wo zum einen Wissensbestände bewahrt und zum anderen mithilfe von Berichterstattern aus anderen Stadtstaaten Informationen angehäuft wurden. Das entscheidende Merkmal war aber ein anderes: Die Priesterkaste im Apollon-Tempel setzte der zahlungskräftigen und zukunftsinteressierten Kundschaft nicht einfach Weisheiten vor, sondern die Antwort-Suchenden mussten den Erkenntnisprozess aktiv mitgestalten. Bereits vor der Beratung wurden sie in der Wartehalle mit »metakognitiven«, also der Selbstreflexion förderlichen, Sinnsprüchen geprimed 2 (»Erkenne dich selbst«, »Nichts im Übermaß« etc.) und anschließend von den Priestern mit mehrdeutigen Antworten bezaubert. Letztendlich hat jeder seine Wahrheit selbst konstruiert. Insgesamt ist diese, im fünften und frühen vierten vorchristlichen Jahrhundert entwickelte, Form der Erkenntnisgewinnung in vielerlei Hinsicht repräsentativ dafür, wie sich die Hellenen mit Neuem, Schwierigem, Beklemmendem und Unbegreiflichem auseinandersetzten. Vor allem machten sie sich ihre Vorgehensweise – reflexiv-metakognitiv – bewusst. Und auch, wenn man nicht immer letzt- oder endgültige Antworten fand, verschaffte man sich zumindest Klarheit über das jeweilige Nicht-Wissen, die eigene Ratlosigkeit und (im Extremfall) die Sinnlosigkeit der Welt. Kunst, Geistesleben und all das, was wir heute Wissenschaft nennen, bewegten sich in erstaunlichem Maß auf der Höhe der Zeit – aufgrund eines außergewöhnlichen Niveaus der Selbstbeobachtung und -reflexion. Insofern lässt sich das Orakel von Delphi als erster Thinktank der westlichen Welt verstehen, mit effektiver Wissens- und Deutungsmacht ausgestattet und zudem mit einem gewinnbringenden Geschäftsmodell3 versehen. Der Erfolg dieser Unternehmung beruhte gerade darauf, dass es sich bei den Rat-

2  Priming (engl.: bahnen, vorbereiten) bedeutet, dass mithilfe eines Reizes implizite (gewünschte) Gedächtnisinhalte aktiviert werden, sodass infrage stehende Phänomene vor dem Hintergrund strategisch katalysierter Vorinformationen gedeutet werden. »Man sieht, was man sieht« – und zwar in vorab festgelegten Grenzen.

schlägen des delphischen Paradigmas in hohem Grade um ein selbstreflektiertes Geschehen handelte; um ein »sammelndes Innehalten«, und gerade nicht um einen konkreten Rat; eher um eine Erwägung, einen Ratschluss,

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3  Vgl. dazu Friederike Müller-Friemauth, No Such Future, Offenbach 2013, S. 21 f.

entwickelt in innerem Dialog4. Eine Empfehlung aber, die man sich aus Überzeugung selbst gibt, ist wohl das Effektivste, was in puncto Steuerung möglich ist. Intellektuelles Invest in diesem Feld lohnt sich also und verspricht in Zeiten von Globalisierung und weltumspannender Kommunikationstechnologien eine Macht, von der Minervas Eule nicht zu träumen gewagt hätte. Das überzeitliche psycho-polit-ökonomische Motiv ist damit gesetzt. III. Über das kirchliche Ratschlagswesen im Mittelalter (»consilium et auxilium«) bis hin zur Moderne lässt sich eine exorbitant ansteigende Beratungsnachfrage konstatieren – eine »Epoche der metastasierenden Konsultationsbedürfnisse«5. Eine nachvollziehbare Entwicklung, da in komplexen Zeiten Sinngebung allein durch Erfahrung und rückgreifenden Bezug auf Kontinuität nicht mehr möglich ist. Allerdings ist die Sakralversion des delphischen Orakels durch eine säkulare zu ersetzen und Zeitmacht anders, nämlich mentaltechnisch zu begründen. Zudem geht es heute sachlogisch weitaus brisanter zu: Politik wird in steigendem Maße aufgrund gezielter Falschinformationen inszeniert, Regierungen berufen sich häufig auf »alternative Fakten« und die Unternehmensführung in Welt-Konzernen bewegt sich entlang des Gleichnisses von den blinden Männern und dem Elefanten (jeder, der den Elefanten abtastet, kommt zu einem anderen Schluss; alle haben recht und unrecht zugleich) – für globale Führungsansprüche keine guten Voraussetzungen. Kaum verwunderlich: Je ambivalenter und mehrdeutiger die Welt ist, desto stärker reüssieren Experten für das Paradoxe und Undenkbare.6 Gemäß ihrem Ursprung werden heute selbstredend säkulare Nachfolgeinstitutionen für Del4  Vgl. dazu Thomas Macho, Was tun? Skizzen zur Wissensgeschichte der Beratung, in: Thomas Brandstetter, Claus Pias u. Sebastian Vehlken (Hg.), Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft, Zürich 2010, S. 59–86, hier S. 60 f. 5  Ebd., S. 82. 6  So bearbeitet die zeitgenössische soziologische Organisationstheorie bspw. statt unüberschaubarer Alternativen-Kaskaden und Kontingenz mittlerweile »Kontingenzeskalationen«; vgl. Günther Ortmann, Management in der Hypermoderne. Kontingenz und Entscheidung, Wiesbaden 2009.

phi erfunden, die ihre traditionelle selbstreflexive Kernkompetenz dadurch nachweisen, dass sie nicht Politik oder Wirtschaft neu konstruieren, sondern zur Führung von Führungen umdeuten. Das Sakrale wird ersetzt durch modernisierte Versionen eines kontrollierten, »metakognitiven« Beobachtens des eigenen Denkens, unterstützt von Verhaltensökonomik, Kybernetik und Neuro-Sciences. Im Ergebnis präsentieren sich damit – auch als Reaktion auf das rechtspopulistische Elite-Bashing – kollektiv bindende Entscheidungen nicht mehr als autoritativ getroffene Vorgaben (was nützlicherweise die nach wie vor entscheidenden Machteliten abschottet), sondern lediglich als Richtungsweisungen, die den endgültigen Beschluss scheinbar nur vorbereiten, tatsächlich aber vorprogrammieren. Bürger und Konsumenten mental angeführt per zwanglosem Zwang des verhaltensökonomischen Arguments: eine postdemokratische Vision libertärpaternalistischen Regierens, die Foucaults Hypothese vom Neoliberalismus Friederike Müller-Friemauth / Rainer Kühn  —  Unter dem Radar

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als sozialem Testverfahren, von heute aus betrachtet, präzise bestätigt. Maßgeblich die in der Zukunftsbranche hochgejazzten »Superprognostiker« und »Superintelligenzen«7 leisten derzeit intensive Schützenhilfe. (Laut Nick Bostrom bspw. sollen künftig KIs, also Künstliche Intelligenz-Maschinen, das Verhalten von Menschen beobachten, ihre Schriften analysieren und die Lehren daraus in einer Art Menschmodul speichern, das dann bei strategisch wichtigen Fragen mitentscheidet. Ein smartes Label dafür gibt es auch schon: »Indirekte Normativität«.) IV. Vor dem Hintergrund dieses Grobprofils wird das Aufkommen zeitgeistig orientierter Thinktanks verständlich. Der Begriff war zu Zeiten seiner Erfindung Mitte des letzten Jahrhunderts militärisch besetzt (Expertenwissen von Militärorganisationen und Regierungen, von engl.: battle tank, Panzer). Heute mäandert er immer mehr in Richtung »Organisationen für praxisrelevante Wissenserzeugung« – wobei die Bedeutung von Organisation relativ wird: Gemeint sein kann ein Konzernbereich genauso wie eine Beratungsagentur oder ein (vermeintlich) bloßes Netzwerk. Diese Zwitter-Wissenschaft ist nicht neu, denn Wissenschaft oszilliert immer schon zwischen einerseits erkenntnisorientierten Wahrheits- und Wissenssuchern und andererseits externen Zielgruppen, wie etwa den antiken Geistlichen, die sich für die Erkenntnisse aus eigenen Motiven interessieren (»Priestertrug«). Mit der Zeit professionalisierten sich die modernisierungsaffinen Thinktanks allerdings unbemerkt entlang einer ganz anderen Grenze: derjenigen von »seriousness and informality«8. Inzwischen etabliert ist das Organisationsmuster der Kollaboration zwischen seriösen System-Akademikern, den Peers, und weniger bekannten informellen Mitgliedern diverser Diskurs-­Szenen (Industrielle, Unternehmer, Stiftungsmitglieder), die keine Inhalte-schaffenden Funktionen innehaben, also keine ernstzunehmenden Wissens-Nuggets beisteuern, aber oft anwesend sind und mit (Netzwerk-)Kapital punkten. Auf diese Weise entstand eine Institutionalisierungslogik, der zufolge Thinktanks einerseits Kollektive von themeninteressierten Individuen ausbilden und andererseits mithilfe dieser »Multiplikatoren« das intern konstruierte Diskursprofil umgehend strategisch entlang praktischer Problemfelder organisieren. Schließlich will man Einfluss nehmen: Themen setzen, beraten und auf diesem Wege Handlungsperspektiven verschieben oder nahelegen. Und selbstredend Profit machen.9 Die Folge: Der frühe und bis heute beeindruckende Anspruch, nicht nur qua inhaltlicher, sachlogischer Auseinandersetzung mit der Welt, sondern

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7  Philip E. Tetlock u. Dan Gardner, Superforecasting: The Art and Science of Prediction, New York 2015; Nick Bostrom, Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution, Berlin 2016 [2014]. 8  Virginia Campbell, How RAND Invented the Postwar World. Satellites, System Analysis, Computing, the Internet – Almost All the Defining Features of the Information Age Were Shaped In Part at the RAND Corporation, in: American Heritage’s Invention & Technology, Jg. 20 (2004), S. 50–59, hier S. 51. 9  Die Autoren haben mit dieser neuartigen Form von Thinktanks Bekanntschaft beim sogenannten deutschen »Netzwerk Zukunftsforschung« gemacht, dessen Zugang der damalige Gatekeeper explizit nach den Kriterien Kundenschutz/Konkurrenzabwehr organisierte; O-Ton: »Wir sind offen für alles, aber nicht für jeden«.

immer auch über Metakognition Erkenntnisfortschritt zu organisieren und neue Wissensgehalte durch mitlaufende Selbstreflexion zu erschließen (»Erkenne dich selbst«), zerfällt heute in ein banal-vulgäres Top-Down-Modell, in dem sich zunehmend die Spindoktoren und Thinktank-Manager in der ersten Reihe wähnen: Als Riege moderner Vorher-Seher, die zugleich als intellektuelle Nudger agieren, reichen sie ihr Wissen an strategische Akteure (lobbyistische Multiplikatoren) weiter; diese wiederum traktieren damit ihre Stakeholder, welche die öffentliche Meinung beeinflussen sowie letztlich Politik zur Reaktion drängen. Und durch die Verteilung dieser spätmodernen Episteme auf die Schultern mehrerer heterogener Wissens(weiter)träger ist es möglich, den Vorwurf eines ideologischen Bias von vornherein zu konterkarieren. So lassen sich Ideen »launchen«, ohne dass dies einzelnen Akteuren und Institutionen wie Universitäten, Hochschulen, Wirtschafts- oder anderen Bildungsorganisationen zugeschrieben werden könnte (noch dazu geht es ja zumeist explizit um Langfristperspektiven). So funktioniert Stealth Thinking. V. Zahlreiche (häufig, aber nicht immer) parteipolitisch gebundene Thinktanks im Ausland praktizieren dieses Modell seit Jahren erfolgreich. Ein Beispiel dafür ist etwa das Schweizerische Gottlieb Duttweiler Institut (GDI): Es promotet die Abenddämmerung von Wissenschaft, propagiert eine Gesellschaft, »die keine zentralen Organisationen mehr braucht«, holt sich Flankenschutz von prominenten Journalisten wie Robert Kaplan, der eine globale Anarchie voraussieht (»Vergessen Sie Politikwissenschaften«), oder Parag Khanna, Geostratege und Ex-Berater der amerikanischen Regierung, der einen Mix aus Singapurs rigidem Durchgriff und schweizerischer Direktdemokratie unter dem Label »Direkte Technokratie« bewirbt10. Wahrlich, es gibt doch noch Neues unter der Sonne! Einer eingehenden Betrachtung wert erscheint indes das Frankfurter »Zukunftsinstitut«. Sein Gründer, Matthias Horx, betreibt hier seit Jahren eine moderne, mentaltechnisch professionalisierte Zukunftsberatung, die mit ­Science-Esoterik und forciertem Code bedeutungsschwanger im Wind der 10 

Sämtlich unter URL: http:// www.gdi.ch/de/trend-news [eingesehen am 09.04.2017].

11  Zur psychopolitischen Konstitution dieses Instituts vgl. Friederike Müller-Friemauth, Von der Vermarktung des Glücks. Die Zunft der Zukunftsdeuter, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 1 (2012), H. 2, S. 98–106.

Trends und Moden segelt.11 Ein wesentlicher Grund für den Erfolg von Thinktank-Geschäftsmodellen war, wie skizziert, die von Beginn an unmittelbare Verquickung von Unternehmertum mit Wissenschaft. Solange diese Kombination jedoch vor allem Anspruch und Behauptung war, blieb das Geschäftsmodell notorisch umstritten. Nun ergibt sich allerdings eine andere Situation: Denn auch vonseiten der Wissenschaft wird versucht, die Vertriebsstrukturen zu optimieren – und neuerdings auf kommerzielle Thinktanks zurückgegriffen, um die eigene Friederike Müller-Friemauth / Rainer Kühn  —  Unter dem Radar

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Markt-Performance zu steigern. Die Entrepreneure unter den Wissensarbeitern erwachen: Sollte nicht auch für Geistiges ein Stück vom Kuchen der globalen Ökonomie abzubekommen sein? Adept solch unternehmerisch-ambitionierter Wissenschaftsverkaufe ist etwa Dirk Baecker, seines Zeichens Luhmann-Schüler an der Privat-Universität Witten/Herdecke und Management-Soziologe mit einem Faible für die »Next Society«. Gemeinsam mit dem Frankfurter Zukunftsinstitut hat er eine »Trendstudie« mit dem bezeichnenden Titel »Digitale Erleuchtung. Alles wird gut« erstellt, die (für 190 Euro zzgl. MwSt.) exklusiv über das Institut verkauft wird. Was genau bietet dieses instruktive Joint Venture? VI. Die 123-seitige Hauptstudie ist eine Artikelsammlung von Mitarbeitern und geistigen Freunden des Instituts, Dirk Baeckers 17-Seiten-Beilage »Digitalisierung als Kontrollüberschuss von Sinn« die wissenschaftliche Legitimation. Der Eingangsartikel der Hauptstudie präsentiert den roten Faden durch das Gesamtwerk: »Digitale Erleuchtung: Von Verblendung zu Erkenntnis«. (Muss

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hervorgehoben werden, dass die Verblendung nicht die Institutsmitglieder, sondern nur die geistig Minderbemittelten des Rests der Welt betrifft?) Die Beiträge12 beanspruchen, digitale Funktionsweisen erschließen und Digitalisierung »deshalb (!) mit ›Sinn‹ besetzen« (S. 7) zu können – folge diese doch einer »universellen Dramaturgie« bzw. »zyklisch-evolutionären Prinzipien«, also einem »systemischen Prozess des Seins, Vergehens und Werdens« (S. 8), der letztlich ins »Golden Age« (S. 10) führe: »Die befreite, ›erleuchtete‹ Digitalisierung der Zukunft versteht die Technologie vernetzter Computer als einen Möglichkeitsraum für kundenzentrierte und ganzheitliche Innovation. Sie definiert im Verhältnis Kunde – Prozess – Technologie einen neuen Omega-Punkt. Und erzeugt dadurch neuen Nutzen und Sinn im Verhältnis von Kunden zu Produkten und von Prozessen zur Umwelt: zum Markt, zur Gesellschaft. […] Omega misst sozusagen die Wahrscheinlichkeit für einen zukünftigen echten Komplexitätsgewinn. In Teilhard de Chardins Zukunfts-Eschatologie steht Omega für den Punkt der zukünftigen Konversion des Göttlichen mit der Liebe und den Menschen. […] im Sinne einer lebenswerten Zukunft ist etwas dran. Digitalität erzeugt Verbindungen, die Menschen, Märkte und Dinge in Beziehung bringt. Damit kann eine höhere Integration unseres Lebens entstehen« (S. 23 f.) – bspw. mithilfe der »Kreativmetaphysik« des US-Informatikers David Gelernter, die es im Digitalzeitalter zu beherrschen gelte (S. 51). Oder mit der »Digital ­Literacy«, einer digitalen Kompetenz, welche die mentale Leistungsfähigkeit steigere. Allein schon die Internet-Nutzung vermindere »die Symptome und die Entwicklung von Demenz. Wer sich also bewusst und intensiv auf digitale Aktivitäten wie Web-Browsing und E-Mail-Kommunikation einlässt, stärkt die Effektivität seiner Hirnfunktionen nachhaltig« (S. 51). Erleuchtung durch Extrem-Surfen und Turbo-Shoppen im Netz? Genau das: Gefordert wird ein »cyberhumanistischer Paradigmenwechsel« (S. 60), denn Digitalisierung »erlöst Komplexität« (S. 24). Das Ganze wird professionell gepimpt mit gängigen systemtheoretischen Versatzstücken, die Liebhaber des ansatztypischen Jargons so faszinieren: Tautologieaffinität, Paradoxieverliebtheit sowie Begeisterung für Konstruktivistisches, ohne Rücksicht auf (Verständnis-)Verluste zumeist verdenglischt (»Flow Perception trainieren«, »Mindset by Design«, 12  Die Seitenangaben im Folgenden beziehen sich auf unterschiedliche Artikel in der Hauptstudie.

»Kybern-Ethik«, »Shadowing mit Devices«, »Ende der Monokausalitis« etc.). Den eigentlichen wissenschaftlichen Teil liefert auf fachlich-systemtheoretische Art aber erst Dirk Baecker13 – also »Digitale Erleuchtung« minus Esoterik und Denglisch. Was bleibt, ist die gattungsspezifische, natürliche Widerstän-

13  Seitenangaben im ­Folgenden aus dessen oben ­genannter Beilage.

digkeit des Menschen gegenüber der Maschinenlogik – hier jedoch nicht spirituell gefasst, sondern systembiologisch überhöht. So werde aktuell deutlich, Friederike Müller-Friemauth / Rainer Kühn  —  Unter dem Radar

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»dass dem Kontrollüberschuss der Computer und ihrer Netzwerke […] eigene Kontrollversuche der Menschen, der sozialen Situationen, der kulturellen Reflexion entgegengesetzt werden. Menschen werten ihre unverwechselbare Körperlichkeit, ihre Verletzlichkeit, aber auch ihre Fähigkeiten in Extremsituationen auf, […] entdecken unter dem Stichwort ›agiles Management‹ neue Spontaneitätspotenziale, und kulturelle Reflexion feiert das dezidiert Unprogrammierbare.« (S. 13 f.) Der Code für diese Feier des Widerständigen lautet »Netzwerk«, die zentrale »Denkfigur« dafür »Komplexität«. Beides zusammen ergebe eine neue »Kulturform«, »ephemere Ordnung« und »offene Ökologie«, die Heterogenes gerade »übergreift und genau darin ihren sie absichernden Sinn ergreift«: »Körper und Bewusstsein, Mensch und Maschine, Technik und Natur, Kultur und Gesellschaft, aber auch Mann und Frau, Kunst und Kultur, Markt und Unternehmen, Politik und Öffentlichkeit und so weiter« bildeten traditionell jeweils rhetorische Dualismen aufeinander nicht reduzierbarer Elemente. Künftig aber, so wird nahegelegt, hätten wir solche unterkomplexen Differenzen nicht mehr nötig. Sich auf das Übergreifen von Heterogenem »einzulassen und dies zu pflegen, könnte die Kultur der nächsten Gesellschaft auszeichnen« (S. 14–16, Herv. d. Verf.). Anstatt also – wie in der Wissenschaft seit 2.500 Jahren üblich – zu unterscheiden, wird entdifferenziert. Anstatt zu analysieren und zu zergliedern, lautet die Parole der Zeit jetzt, sich von Komplexität »faszinieren« zu lassen, »sich darauf einzulassen« und diesen mentalen shift zu »pflegen«. Mit der Luhmann’schen Systemtheorie Vertraute reiben sich fassungslos die Augen: War das Anliegen dieses Großtheoretikers nicht das exakte Gegenteil? Hat er nicht stets dafür geworben, dass die »Bewegungsmöglichkeit« von Wissenschaft gerade auf »den Unterscheidungen« beruht, »die an einer gegebenen Formuliertheit des Wissens angebracht werden können – also etwa sachorientierter Objektivität versus Subjekt oder Geschichte versus Vernunft oder Handeln versus Wissen oder Geist versus Materie«?14 Berief er sich nicht immer wieder auf George Spencer Browns Formenkalkül und den darin enthaltenen Imperativ für Erkenntnisgewinn: »Draw a distinction«? Anders formuliert: Hat hier der neue, profitorientierte Beratungsunternehmer Baecker den Ansatz des wissenschaftlich-redlichen Soziologen Baecker un-heimlich gekapert und dem Akademiker die Rolle eines Weltbild-Legitimierers zugewiesen? (Zugegeben: In den Geistes- und Sozialwissenschaften müssen bekanntlich seit jeher die Lehrer vor ihren Schülern in Schutz genommen werden – Popper zum Trotz konnte Hegel nichts für Hitler; und im Gegensatz zu Eric Weitz ist Marx nicht für Stalin verantwortlich …)

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14  Niklas Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien 1996, S. 55 (Herv. i. O.).

Für Baecker ist Luhmanns Konzept die Speerspitze des geistigen Fortschritts, woraus er die Konsequenz zieht: »Nur zögerlich folgen die Naturwissenschaften dem Beispiel der Soziologie. Nicht einmal die Erforschung ähnlich komplexer und möglicherweise ebenfalls reflexiver Gegenstände, des Gehirns, der Sprache und des Bewusstseins, kann dazu motivieren, sich auf diese Komplexität begrifflich einzulassen« (S. 3). Wie kann ein systembiologisch Argumentierender ausblenden, dass es die moderne Physik war, die vor ca. 100 Jahren Relativität, Probleme mehrwertiger Logik, Rekursivität (»Eigenwerte«), Komplementarität, Unschärfe und Gleichzeitigkeit in der Wissenschaft aufgebracht hat? Eine grotesk-absurde Text-Liaison. Wichtiger aber: Welche Art von Wissenschaftszukunft deutet sich in solch disruptiver Entrepreneurial Science an? (Sie firmiert hier lediglich als Beispiel – in Deutschland freilich als das bislang unverschämteste.) Springt hier eine genuin kalifornische Idee, mit Unternehmertum und Technik lasse sich jedes Problem lösen, auf Wissenschaft über und wird als Wissensfortschritt verkauft? VII. Wissenschaft mit offen zu Markte getragenem Geschäftssinn ist ein neuartiges Phänomen. In der europäischen Geschichte ist konsiliarisches Wissen bislang skeptisch beäugt worden. Erkenntnis sollte (ver-)wert(ungs-)frei sowie berechenbar sein – nicht im strikt mathematischen Wortsinn, sondern im Sinne qualitativ überprüfbarer Validität. Die allgemeine Verunsicherung durch kontingenzbedingten Orientierungsverlust scheint jedoch ein Niveau erreicht zu haben, das den erneuten Glauben an smarten »Priestertrug« befeuert – oder doch zumindest die öffentliche Akzeptanzschwelle steigen lässt, unterhalb derer man bereit ist, auch zwielichtige Wissensbestände zuzulassen. Und nicht zuletzt scheint die Wissenschaft selbst derart verunsichert, dass ihr die Urteilsmaßstäbe offenbar abhandenkommen.15 Echos auf das beobachtete Unternehmen haben wir jedenfalls bislang keine wahrgenommen. Die Protagonisten des Stealth Thinking fliegen derzeit (noch) unterhalb des Radarschirms. Ist es nicht mehr von Bedeutung, wenn Paradigmen interpretatorisch umgedreht, absurde Disziplinenvergleiche angestellt oder anti-wissenschaftliche 15  Details und Konsequenzen daraus in Friederike Müller-Friemauth u. Rainer Kühn, Ökonomische Zukunftsforschung. Grundlagen – Konzepte – Perspektiven, Wiesbaden 2017, S. 184 ff. 16 

Luhmann, S. 55 f.

Haltungen wie De-Analyse oder der offene Rückbau von Differenzierungskompetenz gefordert werden? Zumindest scheint es der öffentlichen Aufmerksamkeit kein gesteigertes Interesse wert zu sein. Vielmehr läuft die Konzentration auf Newness (Verlautbarungen über Anderes, Neues, Unerhörtes) der »lebenslangen, an Ernsthaftigkeit und Strenge kaum zu überbietenden Reflexion« der Geistestradition namens Europa16 klammheimlich den Rang ab. Friederike Müller-Friemauth / Rainer Kühn  —  Unter dem Radar

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Wollen wir einen solchen Wissenschaftskapitalismus? Liegt die aktuelle Toleranz, die Thinktanks entgegengebracht wird, welche die gesellschaftliche Agenda nicht mehr nur begleiten, sondern mitbestimmen, bloß an der Ignoranz der Beobachter, die nicht wahrhaben wollen, dass das Narrenschiff Kurs aufs Riff genommen hat? Oder handelt es sich um eine Art von institutionalisierter Selbstaufgabe (Resignation vor den komplexen Verhältnissen)? Sind womöglich gar die (autopoietisch-besinnungslos) vor sich hin taumelnden Wissenschaftssysteme selbst schuld? Wir können diese Fragen nicht beantworten, finden aber, sie müssen gestellt werden. Nota bene: Damit meinen wir etwas Anderes als die derzeit wohlfeile Beschwerde über gesellschaftlich abstinente Wissenschaftler, die in postfaktischen Verhältnissen allein den Erhalt ihrer Fördermittel im Auge behalten und sich ansonsten ihrer (behaupteten) gesellschaftlichen Verantwortung entziehen. Was wir thematisieren, ist vielmehr eine Wissenschaftswelt, in der Universitäten ihre Ausbildung und Beratungsunternehmen ihre Erkenntnisse wie Sauerbier anbieten. Yale oder Harvard sind bereits seit geraumer Zeit eher Ausdruck kapitalistischer Wissensverhältnisse als Gegengewichte dazu. Die Entrepreneurial University gibt es längst. Und Consultancies ziehen im Verbund mit Privat-Unis nun nach. Derweil wird im herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb zeitgemäßes Wissen immer stärker in eingegrenzten, häufig gesponserten, gut finanzierten Enklaven produziert, zunehmend seltener jedoch an den sozialwissenschaftlichen Fundamenten. Wäre eine moderne, analytisch treffende Rechts-LinksUnterscheidung (in Zeiten, in denen Politiker der »Linken« versuchen, den Rechtspopulisten Wähler abzujagen) nicht hilfreich? Wo bleiben die Beiträge der Philosophen zu Methoden der Komplexitätsbewältigung – ein wohl unstrittig ur-philosophisches Feld? Und wenn geschäftstüchtige Platzhirsche einer bestimmten Wissenschaftsschule die Grundfesten dieser Schule ad absurdum führen: Wäre es nicht hilfreich, wenn die Peers aufwachten und statt auf »exit« oder »loyalty« auf »voice« umschalteten? VIII. Wissenschaftler müssen nicht Politiker spielen, aber sie sollten ihren (immer noch zumeist staatlich finanzierten) Job machen – andernfalls darf sich niemand wundern, wenn sich die Priesterkaste neu erfindet. Scheinheiliges Gejammer über die Abwicklung von Sozial- und Geisteswissenschaften verbietet sich damit übrigens auch: Über die ethische Pflicht der Wissenschaft, gegen herrschende Verhältnisse auf die Straße zu gehen, lässt sich streiten – über Funktion und Auftrag von Wissenschaft, ihre Grenzen kontrolliert zu erweitern, nicht.

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Derzeit ist in der bezeichneten Richtung eine selektive Institutionalisierung bereits deutlich erkennbar: Aus Sicht der Berater haben externe Wissenschaftsspezialisten den Vorteil, Innovationen mit der Brille hoher methodischer Kompetenz und akademischer Reputation »zusatzwertig« begleiten zu können – ein Support an epistemischer Autorität, die ein Unternehmen von sich aus nur schwer aufbauen kann. Damit leisten Wissenschaftler einen wichtigen Beitrag für die zukunftsorientierte Stabilisierung der aktuellen Leistungserbringung und für den Ausbau neuer Geschäftsfelder in der globalen Wissensökonomie. Aus Sicht der Kunden hingegen bietet Stealth Thinking praktische Anleitungen, ganz unautoritär: Vorstellungen, die wir uns von einem unbekannten, noch nicht durchschauten Thema machen sollen, werden in Form von Personen, Schriftstücken und Tagungspraktiken auf Dauer gestellt. An diesen Vorstellungen orientieren sich wiederum nach neuen Maßstäben suchende Akteure (etwa aus der Wirtschaft) in ihrem Handeln, während alternative, ebenso mögliche Handlungsweisen unsichtbar (überdeckt) werden. Solche Materialisierungen von Wissens-Nudges, etwa im Umkreis von Thinktanks, machen bestimmte Interaktionen wahrscheinlicher als andere. Mit traditioneller Forschung haben diese unternehmerischen Mentalstrategien nichts mehr zu tun: Denn hier wird nicht bloß Wissen generiert, sondern gleichzeitig (und maßgeblich) eine scheinbar daraus folgende Handlungsorientierung mitbefördert. Solche Erkenntnis akquiriert von vornherein aktives Beteiligungskapital beim Rezipienten, der zum Knowledge-User mutiert. Im Vergleich zu dieser Hacked Science ist das Humboldt’sche Bildungsideal pure Romantik; im Trump-Sprech: Science for Pussies. Bloß: Gemäß aktueller sozialforscherischer Einschätzung handelt es sich um einen Paradigmenwechsel, mit dem die meisten Europäer nicht einverstanden sein dürften – sollte er ihnen erst einmal klar werden.

Prof. Dr. Friederike Müller-Friemauth, geb. 1965, ist Ko-Gründerin und wissenschaftliche Zukunftsforscherin. Sie hat eine Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Innovationsmanagement an der FOM, Hochschule für Oekonomie und Management, inne. Dr. Rainer Kühn, geb. 1962, ist Gründer einer Foresight-Beratung und freier Publizist. Als Systemtheoretiker ist er spezialisiert auf sozialwissenschaftliche Zeitdiagnostik.

Friederike Müller-Friemauth / Rainer Kühn  —  Unter dem Radar

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

BEBILDERUNG

Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Dr. Lars Geiges, Julia Bleckmann, Jöran Klatt, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen. Konzeption dieser Ausgabe: Danny Michelsen, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 71,– D / € 73,– A / SFr 88,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D / € 43,– A; Einzelheftpreis € 20,– D / € 20,60 A. Inst.-Preis € 133,– D / € 136,80 A. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen.

Zum Bildkonzept: Europas Politik wirkt oftmals fern. Mit offenem Blick lassen sich jedoch Spuren in zahlreichen Alltagsgegenständen der europäischen Bürgerinnen und Bürger nachzeichnen: Aus Richtwerten, Normen sowie Verordnungen entspringen über Ländergrenzen hinweg Muster der Konformität. Auf Basis von Wiederholung und Einheitlichkeit summieren sich bildliche Zeugnisse einer politisch angestrebten Homogenität. Zudem erlaubt ein kulturell ähnlicher Nährboden der Mitgliedsländer eine Gegenständlichkeit europaweiter Einheitlichkeit. Die in dieser Ausgabe abgebildeten Sammlungen und visuellen Potpourris transportieren überdies einen visuellen Reiz: Nebst EU-weiter Konformität zeugen die Abbildungen von einer aparten Vielfalt regionaler Originalität. Julia Bleckmann Covermotiv: quälgeist / photocase.de S. 4: jala / photocase.de S. 14: cydonna / photocase.de

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Christoph Johannes Ploß

Die „New Commonwealth Society“ Ein Ideen-Laboratorium für den supranationalen europäischen Integrationsprozess

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Anhand der New Commonwealth Society (NCS) zeigt Christoph Ploß, dass die supranationalen Wurzeln des europäischen Integrationsprozesses nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tiefer liegen, als es ein Großteil der Forschung bisher vermutet hat. Bereits 1932 gründete der walisische Politiker Lord David Davies zusammen mit Völkerrechtlern, Politikern und Diplomaten die NCS. Ihr Ziel: eine Rechtsordnung mit einer über den Nationalstaaten stehenden Instanz zu schaffen, um dadurch Frieden und Wohlstand in der Welt zu gewährleisten. Die NCS unterstützte anfangs den Völkerbund und wollte ihn mit ihrer Rechtsphilosophie institutionell stärken. In der Folgezeit konzentrierte sich die NCS zunehmend auf den europäischen Kontinent und entwickelte konkrete Vorstellungen zur Einigung Europas, die auch Einfluss auf die europäischen Integrationsbemühungen in der Nachkriegszeit hatten.

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Öffentlich?

polar befasst sich im neuen Heft mit der Zukunft der Räume, die wir als »öffentlich« bezeichnen: mit den Orten, an denen unterschiedliche soziale Gruppen und Weltanschauungen aufeinandertreffen. In den Blick kommt dabei digitale Raum des Netzes, in dem die Filter Bubble der Algorithmen unsere Aufmerksamkeit lenkt. Zugleich ist in dessen Anonymität ein Raum für Propaganda wie für blanken Hass entstanden – es findet eine extreme Polarisierung der politischen Diskurse statt. Hinzu kommt eine massive Gefährdung analoger Räume, die bislang der sozialen Begegnung dienten. Vor diesem Hintergrund fragt polar auch nach dem Zustand einer europäischen Öffentlichkeit in ihrer Verzahnung mit den nationalen Politiken und ihren je speziellen Interessen und Perspektiven. 2017. 192 Seiten. ISBN 978-3-593-50731-6. Auch als E-Book erhältlich Einzelausgabe: 12,– €. Jahresabonnement mit 2 Ausgaben: 24,– €. campus.de/polar

campus.de

Sicherheit für Generationen Herausforderungen der neuen Weltordnung 110 Seiten, 2017 ISBN 978-3-428-15264-3, € 19,90 Titel auch als E-Book erhältlich

Der Sammelband skizziert den Diskurs über die neue sicherheitspolitische Ausrichtung Deutschlands im Rahmen seiner Bündnisse unter der viel zitierten »Neuen deutschen Verantwortung«. Er bringt angesehene Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zusammen, die die bevorstehenden globalen Herausforderungen analysieren sowie Lösungsvorschläge für ein handlungsfähiges Deutschland und die Sicherheit kommender Generationen unterbreiten.

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AUS DEM INHALT

Florian Hahn (Hrsg.)

Florian Hahn: Einleitung: Herausforderungen der neuen Weltordnung I. Die Welt im Wandel Michael Stürmer: Wendezeiten – Krisenzeiten – Vorkriegszeiten Carlo Masala: Herausforderungen einer multipolaren Welt James D. Bindenagel: Die USA: Eine Schutzmacht im Wandel? Saskia Hieber: Chinas globaler Gestaltungsanspruch Margarete Klein: Russland – Rückkehr als Großmacht? Reinhard Meier-Walser: Neue Regionalmächte Iran, Saudi-Arabien, Türkei II. Neue Gefahren für unsere Ordnung Guido Steinberg: Internationaler Terrorismus Arne Schönbohm: Bedrohung im Cyber-Raum Markus Kaiser: Hybride Bedrohungen oder der Kampf von Innen (Fake News) Maximilian Terhalle: Strategische Prioritäten. Nukleare, konventionelle und intellektuelle Erfordernisse deutscher Sicherheitspolitik Benedikt Franke: Graue Nashörner und schwarze Schwäne: Sicherheitspolitische Herausforderungen jenseits der aktuellen Debatte III. Weichenstellungen für die Sicherheit von morgen Markus Söder: Sicherheit und solide Staatsfinanzen – Zwei Seiten derselben Medaille Géza Andreas von Geyr: Generationenverantwortung im Weißbuch 2016 Holger Mey: Sicherheit durch Technologie und Innovation – Der Beitrag der Wirtschaft Markus Ferber: Was die EU für unsere Sicherheit leisten kann Klaus Naumann: Die NATO: Ein Bündnis für die Zukunft? Thomas Silberhorn: Entwicklungspolitik als Beitrag zur Sicherheit

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21.06.2017 17:24:10

Alexander N. Krylov (Hrsg.)

Handbuch zur Europäischen Wirtschaftsethik Business Ethics: Expectations of Society and the Social Sensitisation of Business Das Handbuch eröffnet einen umfassenden Überblick über die wichtigsten praktischen sowie theoretischen Entwicklungen und Themen der gegenwärtigen europäischen Wirtschaftsethik. Im Fokus stehen dabei Kernfragen nach den ethischen Anforderungen der Gesellschaft und der sozialen Sensibilisierung der Wirtschaftsprozesse. Mit den aktuellen ethischen Auseinandersetzungen in weltwirtschaftlichen Kontexten eröffnen sich dem Leser zugleich nationale wirtschaftsethische Spezifika mehrerer, u. a. auch osteuropäischer Länder. Darüber hinaus werden spezielle Problemfelder wie Werbung, Marketing und Government Relations behandelt. Die Beiträge des Bandes wurden von mehr als 50 Autoren bekannter Forschungseinrichtungen aus zehn europäischen Ländern sowie den USA in englischer und deutscher Sprache verfasst. Darunter befinden sich solch renommierte Wissenschaftler wie Kenneth J. Arrow, Norman E. Bowie, George G. Brenkert und Peter Ulrich sowie Praktiker aus Medien, Wirtschaft und Politik.

2016, 636 S., 10 s/w Abb., 8 Tab., geb., dt./engl., 79,– €, 978-3-8305-3431-0

Alexander N. Krylov (Hrsg.)

Handbuch zur Europäischen Wirtschaftsethik Business Ethics: Expectations of Society and the Social Sensitisation of Business BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG Markgrafenstraße 12–14 | 10969 Berlin Tel. 030 84 17 70-0 | Fax 030 84 17 70-21 www.bwv-verlag.de | [email protected]

Frankreich verstehen

Henrik Uterwedde

Frankreich – eine Länderkunde 2017. 196 Seiten. Kart. 16,90 € (D), 17,40 € (A) ISBN 978-3-8474-2078-1 eISBN 978-3-8474-1056-0

Frankreich ist Deutschlands wichtigster Partner in Europa. Aber trotz aller Nähe gibt es immer wieder Auseinandersetzungen und gegenseitiges Unverständnis. Warum hat Frankreich in vielen Bereichen einen anderen Weg eingeschlagen als Deutschland?

Wo liegen die Unterschiede, wo die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern? Dieses Buch liefert unentbehrliche Grundlagen, erläutert Zusammenhänge und bietet Erklärungen, um unser Nachbarland und seinen schwierigen Wandel zu verstehen.

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VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT

Etienne B Eti Balibar lib

Europa: Krise und Ende?

Mario Candeias, d Alex l Demirović ((Hrsg.))

Europe - what‘s left ?

aus dem Französischen übersetzt von Frieder Otto Wolf

Die europäische Union zwischen Zerfall, Autoritarismus und demokratischer Erneuerung

2016 - 276 Seiten - 24,90 € ISBN: 978-3-89691-842-0

2017 - 343 Seiten - 33,00 € ISBN: 978-3-89691-850-5

Finanzkrise, Eurokrise, „Flüchtlingskrise“, Schuldenkrise, Grexit, Brexit, Rechtspopulisten gewinnen Wahlen: Die Krisen in Europa überlagern sich und sie sind auch eine Krise der Europäischen Union. Der große französische Theoretiker Étienne Balibar spitzt in Europa: Krise und Ende? sein eingreifendes Denken auf die zentrale Frage zu: Wie kann diese Krise zum Ausgangspunkt eines demokratischen Neubeginns der europäischen Politik gemacht werden? Balibar greift in die aktuellen Debatten ein und vermittelt eine realitätstüchtige Perspektive.

Die Europäische Union ist seit einigen Jahren enormen Verwerfungen ausgesetzt: Banken- und Wirtschaftskrise, Eurokrise, Grexit, Brexit, austeritätspolitische Ausrichtung, Zusammenbruch der Dublin- und Schengen-Regelungen. Nationalistische und etatistische Regierungen, autoritär-populistische Parteien und die Regierungsmethode des Ausnahmezustands bedrohen die Demokratie. Von der Seite der Linken gibt es neben viel Skepsis gegenüber der EU zahlreiche Initiativen, die eine neue Demokratisierung von unten anstoßen wollen. Die Beiträge des Bandes analysieren die Krisendynamiken und loten die Möglichkeiten linken Handelns aus.

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Vandenhoeck & Ruprecht

Franz Walter bietet eine Retrospektive auf politische Auseinandersetzungen der letzten 100 Jahre Franz Walter

Rebellen, Propheten und Tabubrecher Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. und 21. Jahrhundert 2017. 397 Seiten, gebunden € 35,– D ISBN 978-3-525-30185-2 eBook: € 27,99 D / ISBN 978-3-647-30185-3

Franz Walter blickt zurück auf den langen Weg sozialer Bewegungen und Parteien in Deutschland, ihre Ideologien und charismatischen Anführer. Er fragt danach, was eine Politik permanenter Tabubrüche in den Demokratien anrichtet, ob im 21. Jahrhundert wieder mit Wellen jugendlichen Protests zu rechnen ist. Er erkundet den Wechsel von Hochgefühl und Depression in der sozialdemokratischen Geschichte sowie die Häutungen der Konservativen. Mit Blick auf die 1970er, 1990er Jahre und die Krisen der Gegenwart zeichnet der Autor ein Bild steten politischen Wandels zwischen Aufbruch und Ernüchterung.

www.v-r.de